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Herausgegeben von
Theo Vogler
in Verbindung mit
Erster Halbband
Für Jeschecks Wirken in Wort und Schrift, seinen Einsatz für die
humanitären und sozialen Ziele des Strafrechts wird der siebzigste
Geburtstag keinen Einschnitt bedeuten. Seinen Freunden und Mitstrei-
tern, seinen Kollegen, Mitarbeitern und Schülern ist dieser Tag aber
ein Anlaß, ihm Hochachtung und Dankbarkeit für sein reiches bisheriges
Lebenswerk zu bezeugen und Glück für viele Jahre zu wünschen.
ERSTER HALBBAND
Grundfragen
S. A. Strauss, Pretoria
Liability for a so-called "mere omission" and the duty to rescue in
South African Law .............................................. 515
Arztrecht
Paul Bockelmann, München
Die Dokumentationspflicht des Arztes und ihre Konsequenzen .... 693
ZWEITER HALBBAND
Kriminalpolitik
Mare Aneel, Paris
Directions et directives de politique erimineUe dans le mouvement
de reforme penale moderne ...................................... 779
Kriminologie
Rechtsvergleichung
Bibliographie
Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck ... . .... . ....... 1507
RUDOLF LEIBINGER
Mit diesen wenigen Bemerkungen ist nur ein kleiner Ausschnitt aus
dem breiten Forschungsspektrum des Jubilars angedeutet. Dankens-
werterweise gibt die zu seinem 65. Geburtstag erschienene Auswahl
seiner Schriften einen Einblick in die Schwerpunkte seiner Forschungs-
interessen. Gleichzeitig dokumentiert sie überzeugend die Gründe, die
seinem wissenschaftlichen Werk eine weit über die Grenzen reichende
Ausstrahlungskraft verliehen haben. Der Stoff wird vollständig, mit
großer Zuverlässigkeit und in einer verständlichen Form aufbereitet.
Die Entscheidung ist in klarer Gedankenführung entwickelt, die von
einer Mißverständnisse ausschließenden Sprache getragen wird. Schwie-
rige Probleme werden auf einfache Grundpositionen reduziert und
erst von hier aus in den Einzelfragen unter ausgiebiger Auswertung
der bestehenden Rechtsprechung entfaltet.
Zwei Leitlinien der wissenschaftlichen Argumentation lassen sich
verfolgen. Zum einen die Ablehnung einer nur der systematischen
Folgerichtigkeit verpflichteten Problemlösung: "Entscheidend hat im-
mer die Sachfrage zu bleiben, während Erfordernisse der Systematik
als nachrangig zurücktreten müssen" (Lehrbuch, S.156). Damit geht
Hand in Hand eine Kontrolle der Ergebnisse an den Erfordernissen
der praktischen Strafrechtspflege. Ebenso wie bei seinem Lehrer Eduard
Kern bleibt immer gegenwärtig, daß die praktische Bewährung ein
wichtiger Prüfstein für die Richtigkeit des Ergebnisses ist und letzt-
lich nur ein durch Gerichte umsetzbares Recht das Forschungsinteresse
zu befriedigen vermag. Es soll daran erinnert werden, was Jescheck
in diesem Zusammenhang über die Entwicklung der Verbrechenslehre
sagte (Lehrbuch, S.I72): "Es besteht weniger die Gefahr, daß sie von
außen durch neue Systemgedanken aus den Angeln gehoben werden
könnte, als daß sie sich durch mangelnden Kontakt mit der Praxis
selbst aufhebt." Um selbst die Verbindung zur Strafrechtspraxis nicht
zu verlieren, nahm er schon bald nach seiner Berufung nach Freiburg
als Mitglied eines Strafsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe die
richterliche Tätigkeit im Nebenberuf wieder auf; er war bei seinem
Ausscheiden im Jahre 1978 der dienstälteste Oberlandesgerichtsrat der
Bundesrepublik.
Die Darstellung in seinen Werken verzichtet auf verletzende Kritik
und Polemik, will nur durch die Geschlossenheit und Folgerichtigkeit
der Argumentation überzeugen. Zwar wird der eigene Standpunkt mit
Entschiedenheit behauptet, doch fehlt nie die Bereitschaft, sich über-
zeugen zu lassen und sich die Vorläufigkeit eigener Forschungsergeb-
nisse zu vergegenwärtigen. Schwerlich kann diese Einstellung besser
ausgedrückt werden als durch eine eigene Bemerkung Jeschecks, wo-
nach keine Lehre vom Verbrechen mehr sein kann als ein vergäng-
licher Entwurf, der später widerlegt werden wird.
8 Rudolf Leibinger
keit erfüllt. Seine besondere Aufmerksamkeit galt von jeher der Unter-
richtung der Studenten. Durch die Schaffung neuer Lehrveranstaltungen,
wie der "Einführung in die strafrechtliche Praxis", bemühte er sich,
Interesse und Freude am Universitätsstudium zu wecken. Auch die
"Fälle zum Strafrecht" sind aus Kollegbeilagen entstanden. Im Herbst-
semester 1969 hielt er als Gastprofessor Vorlesungen an der New York
University School of Law, im Sommersemester 1977 an der Univer-
site 11 de Droit et des Sciences Economiques et Politiques in Paris.
Ohne selbst eine Schule zu bilden, hat Jescheck zahlreiche Schüler, die
heute im In- und Ausland lehren, wissenschaftlich geprägt.
Den Anforderungen akademischer Selbstverwaltung wurde er auch
dadurch gerecht, daß er im Studienjahr 1963/64 als Dekan der Rechts-
und Staatswissenschaftlichen Fakultät vorstand und im Studienjahr
1965/66 als Rektor die Gesamtverantwortung für die Albert-Ludwigs-
Universität trug. In der Max-Planck-Gesellschaft hat er als Vorsitzen-
der der Geisteswissenschaftlichen Sektion, in der Europäischen Wis-
senschaftsstiftung als Mitglied des Exekutivausschusses in zentralen
Bereichen der Wissenschaftsorganisation mitgearbeitet.
Angesichts dieser riesigen Arbeitslast muß es schon verwundern, daß
man J escheck nie nervös oder gehetzt sehen konnte. Eine übervolle
Sprechstunde wurde ohne Hast und mit Gleichmaß auch über die Mit-
tagszeit hinaus weitergeführt; jeder Besucher konnte mit einem auf-
merksamen Zuhörer rechnen. Viele haben Betreuung, Förderung und
Anteilnahme, auch im persönlichen Bereich, erfahren. Sein Sinn für
Gerechtigkeit im täglichen Leben und seine noble Menschlichkeit als
Vorgesetzter schufen eine Atmosphäre des Vertrauens, die die Grund-
lage für eine gedeihliche Zusammenarbeit ist. Bei der Organisation und
Abwicklung der großen wissenschaftlichen Veranstaltungen, Kurato-
riumssitzungen und Kongresse konnte man immer die Ruhe und die Be-
sonnenheit dessen spüren, der sicher ist, das ihm Mögliche getan zu ha-
ben. Unermüdlicher Fleiß, Organisation des Arbeitsablaufes und Kon-
zentration auf das Vordringliche allein können diese Arbeitsleistung nicht
erklären. Sie gründet in äußerster Pflichterfüllung durch einen Mann,
dem es wichtig geworden ist, ein Stück dazu beizutragen, daß es auf
dieser Welt etwas gerechter und menschlicher zugehe. Zu gedenken ist hier
aber auch der Ehefrau Liselotte Jescheck, die ihrem Mann in einer glück-
lichen Familie nicht nur als Gesprächspartnerin zur Seite stand, sondern
ihm durch die Übernahme vielfältiger Verpflichtungen die Konzentration
auf seine Arbeit ermöglichte. Die sprichwörtliche Gastfreundschaft des
Hauses J escheck hat entscheidend dazu beigetragen, daß unzählige aus-
ländische Wissenschaftler bei ihrem Studienaufenthalt in Freiburg Ge-
borgenheit verspürten. Dieser Stil wurde auch für die übrigen Insti-
10 Rudolf Leibinger
Hans-Heinrich Jescheck
in der Großen Strafrechtskommission
I.
11.
Schon in der 2. Sitzung der Kommission Ende Juni 1954, als in der
vorgezogenen Diskussion um die Grundlagen der Reform die erste
Grundsatzfrage der Strafzwecke und der auf ihnen basierenden Straf-
zumessung diskutiert wurde, wies J escheck zunächst darauf hin, daß
Hans-Heinrich Jescheck in der Großen Strafrechtskommission 13
in den romanischen Ländern eine neue Schule am Werke sei, die Strafe
durch Zweckrnaßnahmen ersetzen wolle, bekannte sich zwar selbst zur
Schuldstrafe, regte aber an, einen Grundsatz mit folgendem Wortlaut
an die erste Stelle zu setzen: "Die Strafe ist das unentbehrliche Mittel
des Staates, die soziale Ordnung durch Bewährung des Rechts zu ge-
währleisten!." Jeder Kenner sieht, daß damit ein Kernbegriff ins Spiel
gebracht wurde, der als "Verteidigung der Rechtsordnung" in dem
reformierten Allgemeinen Teil des StGB, vor allem in den §§ 47 Abs. 1
und 56 Abs.3, heute eine beträchtliche Rolle spielt. Noch ein zweiter
Punkt in Jeschecks Stellungnahme erwies sich später als von großer,
fruchtbarer Bedeutung. Anders als der Referent Mezger, der vorge-
schlagen hatte, auf der "Grundlage" der Schuld des Täters die weiteren
Strafzwecke zum Zuge kommen zu lassen2 , schlug Jescheck demgegen-
über zu formulieren vor: "Die Strafe soll der Schuld des Täters ent-
sprechen. In diesem Rahmen hat das Gericht bei der Bemessung der
Strafe zu erwägen, welche Mittel nötig sind, um den Verurteilten zu
einem gesetzmäßigen und geordneten Leben zu führen." Zur Begrün-
dung erklärte er: "Die Schuldstrafe ist keine absolute Größe, sondern
ein Rahmen 3 ." Hier wird, wenn auch nicht zum ersten Male, klar
postuliert, was der Bundesgerichtshof später mit der berühmt geworde-
nen und heftig umstrittenen "Spielraumtheorie" zur Grundlage seiner
Strafzumessungslehre gemacht hat. In diesem Sinne hat die Kommis-
sion auch zunächst einstimmig votiert'. Bemerkenswert an Jeschecks
Vorschlag war weiter, daß er als Strafzweck nur die Spezialprävention,
nicht aber auch die Generalprävention nannte. Stattdessen schwebten
ihm gegenüber der Gruppe der gefährlichen und der angehenden Ge-
wohnheitsverbrecher Zweckrnaßnahmen im Sinne von Liszts vor. Das al-
les aus nachträglicher Sicht eine damals ausgesprochen moderne Position.
Dasselbe gilt für Jeschecks Stellungnahme, als es in der 3. Sitzung um
das Problem des ein- oder zweispurigen Reaktionssystems ging. Hier
setzte sich J escheck im Anschluß an das Referat Eberhard Schmidts, der
sich mit Verve für ein einspuriges System gegenüber gefährlichen Ge-
wohnheitsverbrechern ausgesprochen hatte S , aber im Gegensatz zur
Mehrheit der Kommission6 , hinsichtlich der vorher von ihm genannten
! 1. 44; hier wie im folgenden bezeichnen die römischen Ziffern die Proto-
kollbände der Kommission in ihrer Vollbesetzung, die arabischen Ziffern die
entsprechenden Seitenzahlen.
2 1. 33.
3 1. 44.
, I. 111 mit 342; später ist man allerdings wieder, wie jetzt auch § 46 Abs. 1
S.1 StGB, zum Begriff "Grundlage" zurückgekehrt; XII. 472; vgl. auch
Jescheck selbst, XII. 53.
5 I. 354.
8 I. 357, 111.
14 Eduard Dreher
7 1. 6l.
S I. 94.
8 1. 358.
Hans-Heinrich Jescheck in der Großen Strafrechtskommission 15
In der 12. Sitzung der Kommission hielt Jescheck sein zweites Referat,
und zwar zu dem in der modernen Industriegesellschaft höchst aktuellen
Thema, ob Sonderrnaßnahmen gegen juristische Personen vorgesehen
werden sollten 20 • Er ging dabei von der außerordentlichen sozialen Be-
deutung der Personenverbände in unserer Zeit aus, prüfte die damals
vorhandenen Möglichkeiten des Vorgehens gegen juristische Personen
im Verwaltungsrecht und im Bereich der Ordnungswidrigkeiten und
kam zu dem Ergebnis, daß weitere Sanktionen zweckmäßig seien. Er sah
sich in übereinstimmung mit der Kommission, wenn er nicht nur
echte Kriminalstrafen im Rahmen eines Schuldstrafrechts für ausge-
schlossen hielt, sondern auch unmittelbare Geldbußen, da auch das
Ordnungswidrigkeitenrecht mit Schuldgesichtspunkten durchsetzt sei. In
den USA habe man sich allerdings, so erklärte J escheck im Rahmen
einer rechtsvergleichenden Betrachtung, kurzerhand über solche Ge-
sichtspunkte hinweggesetzt. Der Supreme Court habe dort in einer be-
rühmten Entscheidung pragmatisch erklärt, wenn man Körperschaften
aufgrund der überholten Theorie, daß sie keine Straftat begehen könn-
ten, von jeder Strafe freistellen wollte, "so würde man tatsächlich die
einzige Möglichkeit aus der Hand geben, um diesen Bereich wirksam
unter Kontrolle zu halten und gegen Mißbräuche vorzugehen2!." Dem-
gegenüber empfahl der Referent über Einziehung und Mehrerlösabfüh-
rung hinaus Maßregeln gegen juristische Personen, Personengesellschaf-
ten und Vereine des bürgerlichen Rechts unter der Voraussetzung, daß
Bevollmächtigte solcher Vereinigungen Zuwiderhandlungen begingen,
die durch eine vorsätzliche oder fahrlässige Aufsichtspflichtverletzung
der dafür zuständigen Organe ermöglicht wurden. Bei den Zuwider-
handlungen müsse es sich um Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten
handeln, die im Rahmen der Verbandstätigkeit begangen werden. Als
Maßregeln, die keinen repressiven Charakter tragen, sondern reine
Sicherungsmaßregeln sein sollten22 , schlug Jescheck vor allem die Geld-
sanktion als wirksamste Reaktion vor, und zwar nicht nur im Sinne der
Ahndung von Ordnungswidrigkeiten, sondern auch und in erster Linie
zu Sicherungszwecken, ferner das Verbot, bestimmte Tätigkeiten auszu-
üben und als schärfste Maßregel die Auflösung des Verbandes. Gerecht-
fertigt sah Jescheck solche Maßregeln mit einem Hinweis auf Welzel
grundsätzlich darin, daß der Verband, dem das Gesetz die innere Frei-
heit seiner Organisation einräume, zur Rechenschaft gezogen und in
seiner äußeren Betätigungsmöglichkeit beschnitten werden dürfe und
solle, wenn dem Verband die innere Freiheit fehle, geeignete Persön-
lichkeiten in die Verantwortung zu stellen. Zur gesetzgeberischen Lö-
20 1. 295.
2! 1.297.
22 I. 321.
sung schlug Jescheck eine Vorschrift im Allgemeinen Teil des StGB für
die Straftaten der Organe und Bevollmächtigten vor sowie für die Ord-
nungswidrigkeiten eine entsprechende Vorschrift im OWiG.
Es ist hier nicht der Ort, im einzelnen zu schildern, wie die überaus
sorgfältige und interessante Diskussion zu diesem Thema in der Kom-
mission und in der späteren Gesetzesarbeit verlief. Es genügt, auf die
geltenden §§ 14, 73 Abs.3, 75 StGB und die §§ 9, 29, 30, 88 OWiG hinzu-
weisen. Dem Kenner wird dann deutlich werden, inwieweit Gedanken-
gut lesehecks Eingang in das geltende Recht gefunden hat.
Schon dieser Überblick über seine damalige Stellungnahme zu den
kriminalpolitischen Grundsatzfragen der Reform zeigt nicht nur, wie
schon längst vor dem Alternativ-Entwurf und den beiden Strafrechts-
reformgesetzen die später im Mittelpunkt stehende Problematik mit
ihrem Pro und Contra durchgreifend diskutiert wurde, sondern auch,
wie es gerade der Jubilar war, der sich als Wegbereiter späterer Ent-
scheidungen des Gesetzgebers hervortat.
Bevor ich zu weiteren Referaten lesehecks komme, möchte ich noch
einige seiner Diskussionsäußerungen zu Problemen des Allgemeinen
Teils wiedergeben. Im dogmatischen Bereich ist zunächst bemerkens-
wert, daß J escheck der vom Bundesjustizministerium vorgeschlagenen
Vorschrift zustimmte, wonach als Anstifter auch bestraft werden sollte,
wer vorsätzlich einen anderen zu dessen Tat bestimmt und dabei irrig
angenommen habe, der Täter habe bei der Begehung vorsätzlich gehan-
delt. Er sagte dazu: "Es handelt sich darum, daß jemand, der lediglich
glaubt, Anstifter zu sein, in Wirklichkeit einen Tätererfolg erzielt. Dies
rechtfertigt es m. E., mit dem argumentum a maiore ad minus die ...
Gleichstellung vorzunehmen 23 ." Die Vorschrift wurde in etwas abge-
änderter Form als § 32 in den E 1962 aufgenommen, wurde aber als zu
perfektionistisch nicht Gesetz. Dennoch hielt Jescheck bis zur 2. Auflage
seines Lehrbuchs an dem in der Kommission eingenommenen Stand-
punkt fest. Doch in der 3. Auflage meinte er, darin eine "Verletzung des
Analogieverbots" zu sehen, und schloß sich der inzwischen herrschend
gewordenen Gegenmeinung in dieser umstrittenen Frage an2 \ die der
Gesetzgeber wegen ihrer geringen praktischen Bedeutung ungeklärt ge-
lassen hat25 • Ich sehe in Jeschecks Haltung keinen Mangel. Gerade der
gute Jurist muß elastisch sein und gelegentlich auch den Mut zum
Standpunktwechsel haben.
23 11.98.
2' Lehrbuch, 3. Aufl. 1978, S. 534 f.; vorher schon SchwZStr.91 (1975), S.32;
anders aber noch 2. Aufl. 1972, S. 499.
25 BT-Drucks. V!4095, S. 13.
Hans-Heinrich Jescheck in der Großen Strafrechtskommission 19
Bei der Erörterung des Notstandes setzte sich Jescheck dafür ein, auf
eine gesetzliche Regelung des Irrtums über den rechtfertigenden Not-
stand zu verzichten und lediglich den Irrtum über den entschuldigenden
Notstand ausdrücklich zu regeln und dabei klarzustellen, daß auch der
Irrtum nur entschuldigen könne, wenn er unverschuldet seF6. Der Ge-
setzgeber ist später dieser Meinung gefolgt. Bei der Diskussion um die
Problematik des Versuchs legte Jescheck Wert darauf, daß Versuch und
Vorbereitung klar voneinander abzugrenzen seien und der Bereich des
Versuchs nicht zu weit ausgedehnt werde. Den irrealen Versuch wollte
er nur in den Fällen des abergläubischen von der Strafbarkeit ausneh-
men. Für den Rücktritt eines Tatbeteiligten wollte er es genügen lassen,
wenn dieser seinen eigenen Tatbeitrag rückgängig mache 27 •
Ein weiteres und zwar ausgesprochen eigenwilliges Referat hielt
Jescheck zum Thema der Erfolgsdelikte 28 • Er unterschied dabei zwischen
den beiden Gruppen der erfolgsqualifizierten und der erfolgsbegrün-
deten Delikte. Entgegen seiner Mitreferentin, der Bundesrichterin Else
KofJka, plädierte er unter Hinweis u. a. auf Radbruch für Abschaffung
der ersten Gruppe, die ein Fremdkörper in unserem Recht sei. Bei An-
wendung der für die Idealkonkurrenz geltenden Regeln würden sich
dann die Höchststrafen für die bisherigen erfolgsqualifizierten Delikte
nur in einer praktisch durchaus akzeptablen Weise ändern. Der Folge,
daß die Mindeststrafen beträchtlich sinken würden, könne man durch
Einführung von besonders schweren Fällen bei den Grunddelikten be-
gegnen, wobei man den Eintritt des verschuldeten besonderen Erfolges
als Beispielsfall anführen könne. Jescheck räumte ein, daß Volksüber-
zeugung und Tradition, jedenfalls in den Fällen von schwerer Körper-
verletzung mit Todesfolge, für die Beibehaltung dieser erfolgsqualifi-
zierten Delikte sprechen könnten. Doch sei das ein Restbestand der alten
einfachen Erfolgshaftung und lasse sich auch gesetzgeberisch befriedi-
gend ausgleichen. Auch den Einwand, "daß der Maßstab der individuel-
len Voraussehbarkeit des Erfolges bei objektiv gefährlichem Verhalten
des Täters viel zu milde sei und den Rechtsschutz nicht genügend ge-
währleiste", hielt Jescheck nicht für durchschlagend, da der Unterschied
zwischen Adäquanz- und Fahrlässigkeitsbetrachtung praktisch nicht
sehr bedeutsam sei. Allerdings gebe es in ausländischen Rechtsordnun-
gen zahlreiche erfolgsqualifizierte Delikte, die aber wie auch bei uns
sämtlich auf die überholte kanonische Versari-Lehre zurückgingen. Für
den Fall, daß man sich doch dafür entscheiden sollte, erfolgs qualifizierte
Delikte beizubehalten, so solle man nicht die Fahrlässigkeitskonstruk-
!O 11.160.
27 11.194.
28 II. 246.
20 Eduard Dreher
2g II. 255.
30 11.356.
31 II.283.
Hans-Heinrich Jescheck in der Großen Strafrechtskommission 21
32 11. 292.
33 11. 299.
34 II.307.
22 Eduard Dreher
nen, daß sich J escheck in der Diskussion gegen ein gewichtiges Argu-
ment zur Wehr setzte, das in der Debatte aufgetaucht war. Es handelte
sich darum, daß in Gesetzen außerhalb des Strafrechts an Verurtei-
lungen zu Freiheitsstrafe in bestimmter Höhe wegen vorsätzlicher
Taten bestimmte Rechtsfolgen geknüpft werden wie z. B. der Verlust
des Amtes nach dem Beamtenrecht. Bei einer Einheitsstrafe wegen
einer Mischung aus vorsätzlichen und fahrlässigen Taten wäre nicht
erkennbar, welche Strafe für eine oder mehrere Vorsatztaten ausge-
sprochen worden ist. Jescheck meinte, man solle derartige Vorschriften,
die wegen ihrer automatischen Wirkung verfehlt seien, beseitigen35 •
Man bezweifelte die Realisierbarkeit dieses Vorschlags. In der Tat
gibt es in einer ganzen Reihe von Gesetzen, z. B. in § 48 Nr.2 Solda-
tenG, Vorschriften der geschilderten Art. Aber schon im StGB selbst
in seiner geltenden Fassung gibt es z. B. in § 48 Abs. 1 S. 1 und in § 66
Abs.l Nr.l Vorschriften, welche die Feststellung erforderlich machen,
ob einer Strafverbüßung oder ob Vorverurteilungen in bestimmtem
Maß vorsätzliche Taten zugrundeliegen. Das wäre beim System der
Einheitsstrafe dann nicht möglich, wenn sich die Vorverurteilungen in
gewissen Fällen sowohl auf vorsätzliche als auch auf fahrlässige Taten
gründeten. Das war auch eine der Schwierigkeiten, die letztlich dazu
führten, daß die Einheitsstrafe trotz ihrer grundsätzlichen Vorzüge von
der Kommission mit Mehrheit abgelehnt wurde 36 und sowohl der E 1962
als auch das geltende Recht am Gesamtstrafenprinzip festgehalten
haben. Der zweite Grund für dessen Beibehaltung war der, daß die
prozessualen Schwierigkeiten, die bei der Anfechtung des Schuld-
spruchs nur hinsichtlich einzelner Taten auftreten, beträchtlich sind, da
die Anfechtung den gesamten Strafausspruch mit ergreift, die Zulas-
sung einer teilweisen Vorvollstreckung höchst problematisch erscheint
und beim Erfolg einer Teilrevision der gesamte Strafausspruch neu
überprüft werden muß, was ohne ein Eingehen auf das Schuldrnaß in
den nicht angefochtenen Fällen kaum möglich ist. Ein in der Kommis-
sion gemachter Vermittlungsvorschlag, der die genannten Schwierig-
keiten durch besondere Regelungen beseitigen wollte und vom Ministe-
rium noch einmal durchformuliert worden war37, fand nach einer ein-
gehenden Diskussion, an der sich auch J escheck mehrmals beteiligte,
im Ergebnis keine Mehrheit38 • Eine gewisse Genugtuung mag der
Jubilar darin finden, daß sich auch der Alternativ-Entwurf zum System
der Einheitsstrafe bekannt hat, ohne allerdings in seiner sehr summa-
rischen Begründung erkennen zu lassen, ob seine Verfasser die geschil-
35 11.319.
38 H.358.
37 UI. 31!.
38 111. 24, 133.
Hans-Heinrich Jescheck in der Großen Strafrechtskommission 23
derten Schwierigkeiten gesehen haben und auf welche Weise sie sie
ausräumen wollten39 •
Bei der Erörterung der Verjährung in der 25. Sitzung der Kommis-
sion gab Jescheck eine Erklärung ab, die festgehalten zu werden ver-
dient. Sie lautete: "Die Gefahr, daß Gesetze geschaffen werden, die die
Verjährungsfrist rückwirkend verlängern, halte ich nicht für sehr groß.
Käme es einmal zu einem solchen Gesetz, so sollte man nicht zögern,
ihm die Anwendung zu versagen, weil es auch prozessuale Rechtsposi-
tionen gibt, die nicht durch einen Federstrich des Gesetzgebers rück-
wirkend wieder beseitigt werden dürfen40 ." Das war am 24.6.1954.
Nicht nur Juristen wissen, wie es später tatsächlich gekommen ist.
Ein weiteres Referat hielt J escheck zu dem politisch gewichtigen wie
juristisch komplizierten Thema "Räumliche Geltung, Ort der Tat", ein
Thema, das den Fachmann des internationalen Strafrechts besonders
reizen mußteu. Mit Recht hob er gleich eingangs hervor, daß die
"Regelung des Strafrechtsanwendungsrechts kein bloß juristisch-techni-
sches Problem" sei, sondern "vom Gesetzgeber grundsätzliche Entschei-
dungen sowohl über die Stellung des einzelnen zum Staat als auch über
die Stellung des Staates in der Völkergemeinschaft" fordere. Sachlich
gehe es, auch wenn ein enger Zusammenhang bestehe, nicht um die
prozessuale Frage des Umfangs der eigenen Strafgerichtsbarkeit, son-
dern um materielles Rechtsanwendungsrecht. Auszugehen sei vom
Grundsatz der Gleichheit der souveränen Staaten, der jedes politische
Vorrecht verbiete, weiter vom Grundsatz der Arbeitsteilung. Aus den
sich anbietenden Anknüpfungspunkten wie Staatsgebiet, Staatsange-
hörigkeit, Schutz des eigenen Staates und seiner Angehörigen sowie
Schutz überstaatlicher Kulturgüter ergäben sich die bekannten Lö-
sungsprinzipien, nämlich Territorialprinzip, aktives Personalprinzip,
Schutzprinzip, passives Personalprinzip und Universalprinzip. Aus der
Art, wie diese Prinzipien aufzustellen und zu kombinieren seien, er-
wüchsen die schwierigen juristischen und politischen Probleme. Ent-
gegen dem seit 1940 geltenden aktiven Personalprinzip schlug J escheck
in übereinstimmung mit dem Bundesjustizministerium die Rückkehr
zum Territorialprinzip vor. Sehr eindrucksvoll deckte er den Zusam-
menhang der 1940 eingeführten Regelung mit den nationalsozialisti-
schen Zielen auf, "mit dem trübsten Kapitel unserer Geschichte". Mit
dem Täterstrafrecht sei das Personalprinzip nicht zu begründen. Hinter
seiner scheinbaren Einfachheit seien schwierige Fragen verborgen. Das
3D AE AT, 2. Auf!. 1969, S. 123 f.
40 11.348.
41 Die Frage des interlokalen Strafrechts, für die das Ministerium beson-
dere Vorschläge ausgearbeitet hatte, wurde bei der Behandlung des Themas
bewußt ausgeklammert.
24 Eduard Dreher
erledigt habe oder wenn die Tat nach dem Tatortrecht verjährt sei
oder das notwendige Verfolgungsverlangen oder die Zustimmung zur
Verfolgung fehlten.
J escheck wandte sich dann noch dem Problem zu, ob ein Schutz der
eigenen Staatsangehörigen gegenüber Auslandstaten erforderlich sei,
wie das die Sachbearbeiter des Ministeriums mit folgender Formulie-
rung vorgeschlagen hatten: "Das deutsche Strafrecht gilt für Taten, die
im Ausland gegen einen Deutschen begangen werden." Gegenüber die-
ser weiten Ausdehnung hatte J escheck nicht nur völkerrechtliche Be-
denken, sondern auch solche unter dem Gesichtspunkt des Schuldstraf-
rechts, da es hier um Taten von Ausländern gehen könne, welche
deren Strafbarkeit nach deutschem Recht aus ihrem eigenen nicht ken-
nen. Der Referent schlug daher unter Übernahme eines Gedankens
aus dem österreichischen Strafgesetzentwurf vor, die gedachte Vor-
schrift auf Taten zu beschränken, die ein Deutscher mit Wohnsitz oder
gewöhnlichem Aufenthaltsort in Deutschland im Ausland gegen einen
Deutschen begehe. Am Schluß seines Referats regte J escheck für die Be-
stimmung des Ortes der Tat folgende Vorschrift an, die sich in ihrem
Abs.2 um eine Lösung der äußerst komplizierten Teilnahmeprobleme
bemüht: (1) "Eine Tat ist an jedem Ort begangen, an dem der Täter oder
Teilnehmer gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln
sollen, oder an dem der Erfolg eingetreten ist." (2) "Erfolg der Teil-
nahme ist auch die Begehung der Tat. Ist die Tat im Ausland begangen,
so ist es für die Strafbarkeit der Teilnahme erforderlich, daß die Tat
nach deutschem Strafrecht eine als Verbrechen oder Vergehen mit
Strafe bedrohte Handlung darstellt."
An J eschecks Referat schloß sich eine ausgiebige Debatte an, bei der
nur wenige Kommissionsmitglieder für die Beibehaltung des aktiven
Personalprinzips eintraten, die Ausgestaltung des passiven Personal-
prinzips unter Kombination mit den übrigen Prinzipien hingegen sehr
kontrovers diskutiert wurde 43 • Die dazu von der Kommission beschlos-
sene GrundvorschriftU deckt sich im wesentlichen mit der heutigen
Fassung des § 7 StGB. Im Endergebnis aber kann gesagt werden, daß
das System der heute geltenden §§ 3 bis 7 und 9 in seinem Gerippe auf
J es checks Vorschläge zurückgeht.
Noch einmal hatte er in der Voll kommission zu referieren, und zwar
im Zusammenhang mit seinem zweiten Referat über das Problem der
Androhung von Zuchthaus und der wahlweisen Androhung von Zucht-
haus und Gefängnis 45 • Da diese Themen inzwischen überholt sind, soll
hier nur festgehalten werden, daß J escheck von seiner nach wie vor
ablehnenden Grundhaltung gegenüber der Zuchthausstrafe her sehr
restriktive Thesen aufstellte, mit denen er sich auch bei der Kommis-
sion durchsetzte.
III.
Die Beratung des Besonderen Teils des Entwurfs fand, um die Arbeit
zu straffen, zunächst in drei Unterkommissionen statt. Jescheck gehörte
der dritten an46 • Dort referierte er zunächst über das Thema "Zwei-
kampf" 47. Die Unterkommission folgte seinem Vorschlag, die gesamten
bisherigen Vorschriften darüber ersatzlos wegfallen zu lassen und da-
mit die allgemeinen Vorschriften über Körperverletzung und Tötungs-
delikte zur Anwendung zu bringen, wobei man davon ausging, daß die
Schlägermensur entsprechend BGHSt 4, 24 weiterhin straflos bleiben
werde. Auch die Vollkommission und der Gesetzgeber sind später die-
sen Vorschlägen gefolgt. Das zweite Referat betraf das Thema "Hand-
lungen gegen ausländische Staaten; Störungen der Beziehungen zum
Ausland"48. Zu diesem für die auswärtigen Beziehungen nicht unwich-
tigen Thema machte Jescheck Vorschläge, die zur Grundlage für die
Beschlüsse der Unterkommission und der späteren §§ 480 ff. E 1962 wur-
den. Sie sind leider deshalb ohne Wirkung geblieben, weil die so
wichtige Reform aus einem Guß nicht zustande kam und die geltenden
§§ 102 ff. StGB nach ihrer Neugestaltung durch das 3. StÄG keiner
durchgreifenden Überprüfung durch den Gesetzgeber mehr unterzogen
wurden. So ist das bedauerliche Ergebnis, daß z. B. dem Generalsekre-
tär der Vereinten Nationen, wenn er die Bundesrepublik besucht, ent-
gegen den Vorschlägen Jeschecks der besondere strafrechtliche Schutz
fehlt, den der Botschafter auch des unbedeutendsten Landes nach gel-
tendem Recht genießt.
Das dritte Thema, zu dem der Jubilar in der Unterkommission refe-
rierte, trug den Titel "Verfahrensrechtliche Auswirkungen des Beleidi-
gungsrechts"49. Es ging dabei um zwei Hauptpunkte. Einmal um die
Einführung eines selbständigen Feststellungsverfahrens, das es dem,
der durch eine ehrenrührige Behauptung betroffen ist, erlaubt, gegen
jeden, der die Behauptung aufgestellt oder verbreitet hat, aber straf-
rechtlich, etwa wegen einer Amnestie, nicht belangt werden kann, bei
Vorliegen eines berechtigten Interesses die Feststellung zu beantragen,
daß der Inhalt der Behauptung unwahr oder nicht erweislich sei. Ent-
gegen dem späteren Votum der Kommission hat sich der E 1962 gegen
die Aufnahme einer entsprechenden Vorschrift in das StGB entschieden
und sich für eine einheitliche Regelung der Materie in der StPO aus-
gesprochen50 • Das Anliegen ist dann nicht weiter verfolgt worden. Der
zweite Punkt betraf die Möglichkeit des Ausschlusses der Öffentlichkeit
in der Hauptverhandlung bei gewissen Verfahren, wenn die öffentliche
Erörterung von Angelegenheiten des Privat- und Familienlebens, durch
die Interessen der Allgemeinheit nicht berührt werden, eine Bloßstel-
lung des Betroffenen besorgen läßt. Das Problem, das nicht unmittelbar
zum StGB gehört, hat inzwischen mit der Neufassung des § 172 GVG
durch das EGStGB eine allgemeine befriedigende Regelung auch im
Sinne J eschecks gefunden.
Das letzte Referat, das er in der Unterkommission hielt, hatte das
Thema "Strafrechtlicher Schutz völkerrechtlicher Normen"51. Es ging
dabei um zwei Gruppen von Fällen, und zwar einmal um Delikte gegen
die Menschlichkeit, womit die bereits in den §§ 220 a, 234 a und 241 a
StGB enthaltenen Tatbestände des Völkermords, der Verschleppung
und politischen Verdächtigung gemeint waren. Die zweite Gruppe zog
in zahlreichen neuen Tatbeständen die strafrechtlichen Konsequenzen
aus den vier Genfer Rotkreuzabkommen von 1949, denen die Bundes-
republik Deutschland 1954 beigetreten ist. Es ist hier nicht der Ort,
diese Tatbestände, die nur im Fall kriegerischer Auseinandersetzungen
zu gelten hätten, die einzelnen Vorschläge und Erläuterungen Jeschecks
zu diesem überaus komplexen Thema sowie dessen ausführliche Dis-
kussion in der Unterkommission zu erörtern. Man hat im E 1962 davon
abgesehen, diese nur für den Verteidigungsfall vorgesehenen Vor-
schriften in das StGB selbst aufzunehmen. Doch ist es ein Mangel,
wenn es der deutsche Gesetzgeber bis heute unterlassen hat, die straf-
rechtlichen Folgerungen aus den Genfer Abkommen zu ziehen. Sollte
das einmal geschehen, so werden Jeschecks Referat und seine Vor-
schläge von 1957 von großem Nutzen sein.
Damit sind sämtliche Referate geschildert, die der Jubilar in der
Kommision gehalten hat. Bei den Beratungen des Besonderen Teils
des Entwurfs in der Vollkommission und bei dessen gesamter zweiter
Lesung wurden die Kommissionsmitglieder davon entlastet, selbst
Referate halten zu müssen. Die Diskussionen zu den einzelnen Themen
wurden jeweils durch Vorschläge und Ausführungen der Sachbearbei-
ter des Ministeriums eingeleitet. Die Arbeit der Kommissionsmitglie-
der, zu denen jetzt auch so hervorragende Juristen wie der Bremer
Generalstaatsanwalt Dünnebier und der Leiter der strafrechtlichen Ab-
teilung des Niedersächsischen Justizministeriums Wilkerling gehörten,
50 E 1962, 312 f.
51 3.490,532.
28 Eduard Dreher
Bei der Erörterung der Sexualdelikte setzte sich J escheck dafür ein,
bei der Vornahme von sexuellen Handlungen in Anstalten an Insassen
durch Betreuer lediglich darauf abzustellen, daß diese ihre Stellung in
der Anstalt ausnützten57 • Hingegen wandte er sich gegen eine Vor-
schrift, wonach bestraft werden sollte, wer einen anderen, der infolge
eines Arbeits- oder Lehrverhältnisses oder als Bewerber um eine
Arbeits- oder Lehrstelle von ihm abhängig ist, durch Drohung mit
einem empfindlichen Nachteil für seine Stellung oder Bewerbung dazu
nötigt, sich zum außerehelichen Beischlaf mißbrauchen zu lassen. Da-
mit würde "geradezu die ganze Breite und Vielfalt des Lebens in den
Bereich" der Strafbarkeit einbezogen. Es handle sich um ein Gebiet,
das sich nicht für die kriminalrechtliche Erfassung eigne 58. Die Kom-
mission sprach sich denn auch mit deutlicher Mehrheit gegen eine der-
artige Vorschrift aus 5D • Bei der Abstimmung über die Frage, ob es bei
der Strafbarkeit der Homosexualität auch unter erwachsenen Männern,
jedenfalls in der Form beischlafsähnlicher Handlungen, bleiben solle,
eine Frage, die bei der Bekanntheit der Problematik und nach den
Erörterungen in der Unterkommission nur noch kurz in der Vollkom-
mission diskutiert wurde, gehörte Jescheck zu den 8 Mitgliedern, die
für Beibehaltung votierten; 9 stimmten dagegen8o • Jescheck erläuterte
das später dahin, daß er nicht für die Einführung einer derartigen
Vorschrift wäre, daß er aber gegen die Preisgabe einer seit Jahrzehn-
ten geltenden Norm sei61 • Er hielt auch eine Strafbestimmung zum
Schutze gegen homosexuelle Cliquen bildung im öffentlichen Dienst für
erforderlich62 • Auch gehörte er zu den 11 Kommissionsmitgliedern,
welche die Strafbarkeit des Ehebruchs aufrechterhalten wollten;
9 stimmten für Straflosigkeit63 • Jescheck setzte sich auch für eine Vor-
schrift ein, nach der unter Strafe gestellt werden sollte, wer ein Kind,
für das ihm die Personensorge zusteht, in der Absicht verläßt, sich
seiner zu entledigen64 • Hingegen wandte er sich gegen eine Vorschrift
im Sinne des später auch durch das 4. StrRG aufgehobenen § 170 c
StGB, da es sich hier um eine Durchsetzung rein ethischer Pflichten
handle und es nicht Aufgabe des Strafrechts sein könne, auch noch
weit über die bürgerliche Rechtsordnung hinauszugehen 65 • Ebenso
;7 VIII. 218.
58 VIII. 225.
59 VIII. 226.
66 VIII. 409.
67 IX. 33, 451 (§ 390 Abs. 3).
88 IX.33.
69 IX. 137.
70 IX. 145.
Hans-Heinrich Jescheck in der Großen Strafrechtskommission 31
71 IX.189.
72 IX. 193.
73 XIII. 64 f.
74 XIII. 111.
75 XIII. 631.
32 Eduard Dreher
IV.
Mit diesem sowohl für den Juristen als auch für den Menschen auf-
schlußreichen Zitat möchte ich meine Schilderung vom Wirken des
Jubilars in der Großen Strafrechtskommission schließen. Freilich konn-
te auch diese Schilderung nicht mehr als einen gedrängten Ausschnitt
bieten. Wollte man Jeschecks sämtliche Äußerungen wörtlich zusam-
menstellen, die er in mehr als fünf Jahren in den 143 Kommissions-
sitzungen tat, so würden sie allein schon eine stattliche Broschüre
füllen. Doch meine ich, mit der Wiedergabe aller von ihm gehaltenen
Referate in ihren maßgeblichen Gedankengängen und mit der von mir
getroffenen Auswahl seiner Diskussionsbeiträge einen plastischen Ein-
druck nicht nur von der intensiven Mitarbeit Jeschecks in der Kom-
mission vermittelt, sondern auch ein anschauliches Bild von ihm selbst
gegeben zu haben. Es ist das Bild eines Mannes und Juristen, der schon
vor dreißig Jahren eine auch später nie verlassene, sehr ausgeprägte
Grundhaltung eingenommen hat. Kriminalpolitisch läßt sie sich wohl
wie folgt beschreiben: J escheck bekennt sich zum Schuldstrafrecht, aber
er fügt ihm einen starken spezialpräventiven Akzent hinzu. Um es
weniger technisch zu sagen: Es geht ihm im Strafrecht vor allem um
den Menschen. Der Mensch, der Strafe verdient hat, soll damit sinnvoll
behandelt, Gefahren, die von ihm auch für ihn selbst ausgehen, sollen
abgewendet oder gemildert werden. Dem Vollzug von Strafen und
Maßregeln kommt entscheidende Bedeutung zu. Das haben nicht erst
die Verfasser des Alternativ-Entwurfs erkannt. Darin liegt auch der
Grund, daß J escheck in der Kommission so häufig mit Eberhard
Schmidt und Sieverts an einem Strange gezogen hat.
Zu diesem kriminalpolitischen Grundkonzept gesellt sich, eng mit ihm
verbunden, eine besondere sozialethische Komponente. Es war sehr
bezeichnend für den Jubilar, als er bei der Erörterung der unterlasse-
nen Hilfeleistung folgende Äußerung tat: "Es ist doch so, daß der § 330 c
StGB eine neue Richtung in unserem Strafrecht eröffnet hat; er war
eine Art Schrittmacher für die Begründung und strafrechtliche Aner-
kennung sozialer Pflichten. Dieser Gedanke sollte unbedingt erhalten
bleiben81 ." Diese sozialethische Grundeinstellung war es auch, die
Jescheck vor rund dreißig Jahren noch dafür eintreten ließ, die Straf-
barkeit von intensiver Homosexualität zwischen Männern und von
Ehebruch beizubehalten. Er sah in der Freigabe Gefahren für die all-
gemeine sozialethische Grundhaltung. Anderseits trat er schon damals
für die später auch erfolgte Streichung von Vorschriften wie den
§§ 143,170 c StGB ein.
81 IX. 372.
Psychoanalyse und Soziologie frei macht in der Absicht, bei dem Ver-
such einer Neuformulierung des rechtlichen Schuldbegriffs wieder
stärkeres Gewicht auf Wesen und Bedeutung des Normativen zu legen.
Daraus folgt, daß die Strafrechtslehre sich künftig in stärkerem Maße
auf die Erkenntnisse sowohl der Rechtsanthropologie als auch der
Rechtsphilosophie im Ganzen stützen sollte. Nur langsam scheint sich
die überzeugung durchzusetzen, daß ein Neuaufbau der Rechtswissen-
schaft ohne entschiedenen Rekurs auf rechtsphilosophische und ethische
Einsichten nicht möglich ist. Was die Rechtsanthropologie anlangt, so
ist von ihrer wissenschaftlichen Basis aus schon in früher Zeit im Ver-
antwortlichmachen des Täters für seine Tat eine wichtige anthropolo-
gische Vorgegebenheit zur Beurteilung menschlichen Tuns und Las-
sens in der Welt des Rechts gesehen worden. Wer über die Grundver-
fassung der menschlichen Natur nachdenkt, findet sich unentrinnbar
mit dem Problem der Schuld konfrontiert. Schuld, dem Tier fremd,
gehört zur Auszeichnung menschlichen Wesens. Es handelt sich um
einen "anthropologischen Grundbefund, der aus dem Ganzen der
menschlichen Wirklichkeit nicht wegzudenken ist" (H. RyjJel). Die
Schuld ist vielfacher Betrachtung fähig. Denn sie reicht in verschiedene
Bereiche menschlicher Existenz herein. Spricht man doch seit langem
von religiöser, metaphysischer, sittlicher und rechtlicher Schuld. Hier
soll vornehmlich von Schuld in ihrer Beziehung zur Welt des Rechts
die Rede sein. Dabei wird nicht verkannt, daß von der Frühzeit bis zur
Gegenwart Bildung und Geltung des rechtlichen Schuldgedankens in
mehr oder weniger starkem Maße auch von der Vorstellung einer
religiösen oder sittlichen Schuld mitbestimmt worden sind.
Denn ohne ein solches Verantwortlichmachen des Täters für seine als
Störung der Ordnung und des Friedens anzusehende unrechte Tat
würde der Bestand der Rechtsgemeinschaft gefährdet. Die anthropolo-
gische Bedeutung der langen geschichtlichen Erfahrung, daß sich ein
Störer der Rechts- und Friedensordnung vor dem Forum der Rechts-
gemeinschaft für sein Tun und Lassen verantworten muß, wird nicht
geschmälert, wenn in früheren Zeiten der Menschheitsgeschichte noch
nicht von einer "Schuld" des Täters die Rede ist. Bis die Rechtsgemein-
schaft Wesen und Voraussetzung einer dem Einzelnen vorzuwerfenden
Schuld im Hinblick auf seine unrechte Tat in voller Tragweite erfaßt
hat, bedurfte es einer jahrhundertelangen Entwicklung. In der Frühzeit
der Strafrechtsgeschichte sah man jede Störung der geltenden religiö-
sen oder rechtlichen Grundordnung als ein durch Sanktionen, vor allem
durch Strafen zu ahndendes Unrecht an. In jener frühen Epoche der
Sippen, Stämme und Völker war in erster Linie der u. U. auch auf Zu-
fall beruhende äußere Erfolg der Tat, und nicht die innere Einstellung
oder der Wille des Täters wesentlicher Anknüpfungspunkt für die
Verhängung von Strafen. Neuere rechtshistorische Forschung lehrt je-
doch, daß selbst in jenen frühen Zeiten, als noch das Erfolgsstrafrecht
vorherrschte, der Gedanke einer persönlichen Verantwortlichkeit des
Täters bereits im Keim vorhanden war. Die Idee eines gegenüber dem
Täter zu erhebenden sittlich-rechtlichen Schuldvorwurfs gelangte erst
unter Einfluß des Christentums zur vollen Entfaltung. Für das Christen-
tum standen menschliche Schuld und Sünde in enger Verbindung. "Die
Schuld abzuleugnen ... , das ist christlichem Glauben nicht möglich"
(H. Mayer). Ein tieferes Verständnis der hohen Bedeutung der Schuld
für Wesen und Handeln des Menschen ist der Naturrechtslehre des
17. und 18. Jahrhunderts zu danken. Sie hat wesentlich zur Humanisie-
rung des Strafrechts beigetragen, indem sie den rechtlichen Schuldvor-
wurf in engere Beziehung zur Anerkennung des Menschen als sittliche
Person setzte. Der deutsche Naturrechtslehrer Samuel Pufendorf
knüpfte bei Formulierung seines strafrechtlich bedeutsamen Schuld-
begriffs an das soziale Verantwortlichmachen des Rechtsbrechers an.
Er ging davon aus, daß jener als ein "freies" Wesen sein Verhalten
nach den Normen der Sittlichkeit und des Rechts ausrichten könne. Er
nannte jedoch auch einzelne Fälle, in denen, wie etwa beim Lebens-
notstand, der gegen den Täter zu erhebende Schuldvorwurf vermindert
oder ausgeschlossen ist.
Wenden wir uns dem heute von der Strafrechtsdogmatik gebildeten
Schuldbegriff zu, so ist seine Entfaltung zu einem wichtigen Fundament
des Strafrechtssystems eine bedeutende geistige Leistung, die sowohl
seitens der Rechtsphilosophie und Jurisprudenz als auch seitens der
Gesetzgebung und Rechtsprechung erbracht worden ist. Die Bemühun-
40 Thomas Würtenberger
IV.
8 LK, 10. Aufl., Rdn. 27 f. vor § 211. Daß der Selbstmordforscher Ringel,
auf den sich Jähnke in erster Linie beruft, dessen Konsequenzen für ganz
verfehlt hält, bezeugt Roxin, Dreher-Festschrift, 1977, S. 353. - Zutr. Jähnkes
kriminologische Bemerkungen, Rdn. 50 vor § 211.
Neue Wege zu einer Gesamten Strafrechtswissenschaft 55
Vgl. Friedrich Hacker, Versagt der Mensch oder die Gesellschaft?, 1964;
~t
dazu der Ver/. (Anm.2), S. 42 f. Nach Hacker wird in Reno und Las Vegas die
Ordnung in den Spielbanken durch Polizeibeamte im Dienst und Sold ver-
brecherischer Organisationen aufrecht erhalten.
Neue Wege zu einer Gesamten Strafrechtswissenschaft 59
44 Hierzu Ricoeur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, 1969, S.383
(zit. nach Knapp S. 199): "Man muß Freud die gleichen Fragen stellen wie man
sie Dilthey, Max Weber, Portmann stellt, nicht solche, wie man sie einem
Physiker stellt."
45 Zitiert bei Knapp (Anm. 40), S. 179.
46 Portmann (Anm. 22), S. 570, 572, 578 ff., 589 f.
62 Richard Lange
läßt"54. An die Stelle der Addition von Faktoren tritt die krimino-
valente Konstellation 55 als "sinnvoller Zusammenhang mit Straffäl-
ligkeit ". Wesentlich dafür sind vor allem die "schwer zu fassenden, mit
der spezifischen Lebensweise verbundenen ,Haltungen' ".
Die Querschnittanalyse muß durch die Frage nach der Tat im Le-
benslängsschnitt ergänzt werden. Besonders anschaulich und eindrucks-
voll waren hier "Zwillings"paare von H- und V-Probanden. In zahl-
reichen Fällen waren beide durch gleichschweres Flüchtlings- und
Vertriebenenschicksal, durch Schwierigkeiten im Elternhaus, durch
körperliche Benachteiligungen im Leistungsbereich oder durch Ge-
fährdung im Freizeitbereich in gleicher Weise belastet. Bei Angehö-
rigen der H-Gruppe führte dies zur Kriminalität, während die der
Vergleichsgruppe sozial festen Fuß faßten oder behielten. Überall
"drängte sich die Überlegung auf, ob die kausale Bedeutung äußerer
Fakten ... nicht letztlich relativiert werden muß zugunsten ,innerer
Fakten', wie z. B. grundlegender Haltungen im Zusammenhang mit
bestimmten Relevanzbezügen und einer entsprechenden Wertorientie-
rung"56. Hiermit erschließen sich "Grundintentionen einer Persönlich-
keit" und ihr "Wertgefüge"; beides ist überaus schwer zu erforschen,
durch keine allgemeinen Erfahrungsregeln zu erfassen, aber von her-
vorragender Bedeutung für Prophylaxe, Prognose und eventuelle
Maßnahmen 57 • So kommt Göppinger der Sache nach, ohne es beim
Namen zu nennen, zu einer anthropologischen Ganzheitsbetrachtung,
das heißt vor allem, daß letztlich jeder aus seiner eigenen und ein-
maligen Persönlichkeit heraus beurteilt werden muß. Zugleich wird
die unüberschreitbare Grenze sichtbar, vor der hier die Wissenschaft
steht: individuum est ineffabile. Wie die Naturwissenschaft ist auch
die Wissenschaft vom Menschen an der Grenze ihrer Objektivierbar-
keit angekommen.
Eine bewußte Auseinandersetzung mit dem Strafrecht ("Form und
Inhalt im Strafrecht") unternimmt der Psychiater Luthe 58 zur Klärung
der Stellung des psychiatrischen Sachverständigen: ihn interessiert
der psychopathologische Zusammenhang zwischen dem Verlust der in-
neren Freiheit und ganz bestimmten Abnormitäten59 . Dabei geht es
um die Frage der menschlichen Selbstbestimmbarkeit. Erkennbar ist
jedoch nur das naturgesetzlich Determinierte. Freiheit ist das Nicht-
64 (Anm. 58), S. 11 f.
65 (Anm. 47), S. 7.
66 Dazu der Verf., ZStW 86 (1974), S. 1.
67 (Anm. 47), S. 398.
68 (Anm. 58), S. 17,26.
s'
68 Richard Lange
lität der Störung73 . Die Idee einer strukturierenden Aktivität des In-
dividuums tritt der tabula-rasa-Theorie entgegen, die heute im Zeit-
alter der Soziologie noch vorherrscht und von der aus die Gesellschaft
für alles "verantwortlich", das Individuum gerade noch Träger von
Engrammen ist74 .
Diese Gegenüberstellung beleuchtet die außerordentliche Bedeutung
der von Luthe vorgeführten Wissenschaftsrichtungen und seiner eige-
nen Theorie für die Kriminologie, der alle diese Gedankengänge bis-
her fremd sind. Aber auch psychiatrische Grundbegriffe werden um-
gekehrf 5 • Nicht mehr: die psychische Krankheit hebt die Schuldfähig-
keit auf, sondern: was die Schuldfähigkeit aufhebt, ist psychische
Krankheit. Das wird an Fallbeispielen dargetan76 .
In seinem Nachwort 77 weist Witter eindrucksvoll darauf hin, daß
Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit durch die Ausbreitung einer
neuen Mythologie - der Psychoanalyse - gefährdet werden und wie
sehr durch die unsachgemäße Begleitdiskussion von Prozessen in den
Massenmedien die im Recht um sich greifende Verunsicherung noch
gesteigert wird. Die Kompetenz des Sachverständigen muß daher auf
wirklich wissenschaftlich begründbare Aussagen beschränkt werden.
An entscheidender Stelle, wir sahen es, beruft sich Luthe auf Pop-
pers Falsifikationsmethode. Für die Bahnung neuer Wege in der Kri-
minologie ist jedoch noch weit bedeutsamer Poppers Entwurf des
Menschen und seiner Welt.
Bereits der Titel seines mit dem Gehirnforscher Eccles gemeinsam
erarbeiteten Buches "Das Ich und sein Gehirn"7s verrät alles: Das Ge-
hirn gehört dem Ich und nicht umgekehrt. Das aktive psychophysische
Ich ist für Popper der Programmierer des Gehirns, das sein Instru-
ment ist. Die Seele ist der Steuermann (Plato). Sie ist nicht, wie Hume
und William J ames behaupten, die Gesamtsumme oder das Bündel
oder der Strom ihrer Erlebnisse: das hieße Passivität7u . Das Ich spielt
irgendwie auf dem Gehirn wie ein Pianist auf dem Klavier oder der
Fahrer auf den Kontrollinstrumenten des Autos 80 . Ecc1es stimmt da-
mit überein81 . Doch betonen beide die Interaktion oder Wechselwir-
kung des Ich mit der "Maschinerie des Gehirns" 82. Mit Kant sagt Pop-
per: Das "moralische Gesetz" betrifft unser Ich und damit die mensch-
liche Freiheit. Menschen sind keine Maschinen83 • Das mußte gesagt
werden, weil der Behaviorismus den Menschen durch ein Ratten-
und Maschinenmodell darzustellen versucht84 und weil eine biolo-
gistische Auffassung unsere Aktivitäten als vom Gehirn selbst aus-
gelöst sieht85 • Auch und gerade moderne Forschungsrichtungen sind
also über de La Mettrie nicht hinausgekommen, ganz zu schweigen
davon, daß Freud bis in seine letzte Zeit hinein der Seele eine
chemische Existenz zuzuschreiben versuchte8!. Besonders eindrucks-
voll faßt der Gehirnforscher Eccles die Konsequenzen der dualistischen
Leib-Seele-Hypothese87 zusammen. Ihre Hauptkomponente ist, daß
dem selbstbewußten Geist Vorrang zugesprochen wird. Er ist aktiv
damit beschäftigt, nach Hirnereignissen zu suchen, die gegenwärtig
in seinem Interesse liegen: die Operationen der Aufmerksamkeit. Doch
er verkörpert auch das integrierende Agens, indem er die Einheit der
bewußten Erfahrung aus der Vielfalt der Hirnereignisse aufbaut. So-
gar noch wichtiger ist, daß ihm die Rolle zugeteilt ist, Gehirnereig-
nisse gemäß seinem Interesse oder Wunsch aktiv zu modifizieren, und
die Abtastaktion, mittels derer er sucht, kann als eine aktive Rolle
bei der Selektion spielend betrachtet werden88 • Im abschließenden
Dialog XII der beiden Forscher ist es Eccles, der die Vorrangigkeit
des Selbst über das Gehirn betont, während Popper hier an die
Grenze der Erklärung erinnert: Wir können niemals Erklärungen
beibringen, die im Sinne einer Letzt-Erklärung ganz befriedigend
sind89 • Insbesondere der Evolutionstheorie und ihrer These von der
natürlichen Auslese steht er ziemlich kritisch gegenüber 9o • In gewis-
sem Sinne könne man sagen, daß sich der Mensch durch die Schaffung
der darstellenden Sprache selbst geschaffen habe 91 •
Damit schließt Popper den Kreis seines eigenen Entwurfs der
menschlichen WeltV2 •
auf den sich Popper vielfach bezieht, hat bei den Melanesiern das
Recht als eigenes, vom Religiösen streng geschiedenes Gebilde erlebt.
Für die Historikerin Ricarda Huch ist das Recht ein Urphänomen des
Menschen.
Die heutige Situation der "gesamten Strafrechtswissenschaft" ist
paradox: Die Rechtsdogmatik anerkennt in maßgeblichen Vertretern
die Anthropologie. Als einer der ersten spricht J escheck 1957 vom
Bilde des Menschen in der Strafrechtsreformlll . Die Kriminologie, die
Wissenschaft vom Menschen im Konflikt mit seiner im Staat verfaß-
ten Gesellschaft, nimmt von der Anthropologie so gut wie keine No-
tiz. Das wird naturgemäß in der Anthropologie beklagt; so von Wür-
tenberger mit Blick auf die Kulturanthropologie l12• Auch er sieht einen
Schwerpunkt für die anthropologische Forschung in der Sprachphilo-
sophie.
Bei seinem überblick über die kriminologische Forschung bei uns,
der sich durch Reserve gegenüber der unkritischen übernahme ame-
rikanischer Forschungsrichtungen auszeichnet, stellt Kaiser m ein -
inzwischen verstärktes - Eindringen der Soziologie fest, dessen Pro-
blematik hier zu behandeln warI". Auch der Umbruch in der Psycho-
logie, den Kaiser registriert, dauert offenbar an. Wenn man der Ein-
führung von Erwin Roth ll5 folgt, so herrscht hier Neopositivismus 1l8 ,
die naturwissenschaftliche Methode des Messens ll7 , und ihr Gegen-
stand beschränkt sich auf das Verhalten" 8 • Sie ist also eine Psychologie
133 Vgl. die Beiträge (Anm. 125), insbes. den von Eibl-Eibesjeldt.
Neue Wege zu einer Gesamten Strafrechtswissenschaft 77
134 Und zwar als "mächtiger Hebel der Entwicklung", seit Stalin auch für
den Kommunismus; dort allerdings denaturiert und als Machtinstrument
mißbraucht.
135 Anm. 109.
wovon sie spricht. Es geht um das Ganze, die Wirklichkeit des Men-
schen l40 • Haeckels Satz muß umgekehrt werden: Die Anthropologie
ist nicht ein Teil der Biologie, sondern die Biologie ist ein Teil der
Anthropologie.
I.
greifen des Staates in das wirtschaftliche und soziale Leben. Der Staat
beginnt mit dem systematischen Einsatz des Strafrechts, um Verletzun-
gen der Verwaltungsordnung mit einer Sanktion zu ahnden. Seitdem
hat das nicht-kodifizierte Strafrecht immer größeren Umfang angenom-
men. Dabei hat der ab 1926 in Portugal verwirklichte Typus des autori-
tär-korporativen Staates9 mit seinen tiefen Eingriffen in das Gemein-
schaftsleben und der Hervorbringung einer zahlreichen, komplexen
und widersprüchlichen nicht-kodifizierten strafrechtlichen Gesetzgebung
seine Rolle gespielt. Diese interventionistische Linie erfuhr zunächst im
Zweiten Weltkrieg - als Auswirkung der erforderlichen Sicherstel-
lung der Versorgung und Kontrolle der Preise - sowie später in den
Kolonialkriegen eine außergewöhnliche Potenzierung. Es ist daher kein
Wunder, daß Portugal als eines der ersten nicht-sozialistischen Länder
in Europa den Versuch unternommen hat, dieses Strafrecht verwal-
tungsspezifischen Charakters durch seine Teilkodifikation gesetzgebe-
risch zu bewältigen. Es handelt sich um die Gesetzesverordnung Nr.
41204 vom 24.7.1957 über "Verstöße gegen die öffentliche Gesundheit
und die Wirtschaftsordnung". Jedoch gelang diesem Gesetz weder eine
Eindämmung der nicht-kodifizierten strafrechtlichen Gesetzgebung auf
dem wirtschaftlich-sozialen Sektor - die Lage spitzte sich sogar noch
weiter zu - noch ein Beitrag dazu, die Anwendung der Gesetze sicherer
zu machen10.
Die im Zeitpunkt des Umsturzes vom 25. April 1974 fast chaotische
Lage dieser Gesetzgebung mußte sich während der revolutionären
Phase noch verschlechtern. Zu verweisen ist auf die politische Tatsache
der Revolution als solche, den von ihr bewirkten Umsturz der sozio-
ökonomischen Strukturen sowie schließlich auf die nachfolgend relativ
lange Zeitspanne mangelnder Festlegungen auf politischem, wirtschaft-
lichem und sozialem Gebiet. Aber heute stehen wir vor einer neuen
Situation, die das Ergebnis der tiefen Änderungen ist, die die portugie-
sische Rechtsordnung erfahren hat und die unmittelbar das Gebiet des
Strafrechts betreffen. Diese Lage erlaubt und verlangt eine Klärung
der Problematik des nicht-kodifizierten Strafrechts verwaltungsspezi-
fischen und insbesondere wirtschaftlich-sozialen Charakters.
Die 1982 revidierte Verfassung von 1976 hat in der Tat die Grund-
lagen eines materiellen, sozial und demokratisch geprägten Rechts-
staates geschaffen und unter Beachtung der Grundrechte der Menschen
und der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte des Bürgers
das für Portugal verbindliche politische, wirtschaftliche und soziale
Modell festgelegtl l ; und dieser Sicht hat die Verfassung ausdrücklich
auch die für das Strafrecht wesentlichen Konsequenzen entnommen.
Auf der anderen Seite hat die Gesetzesverordnung Nr. 232179 vom 24.7.
1979 - später revidiert und geändert durch die Gesetzesverordnung
Nr.433/82 vom 27.10.1982 - das Ordnungswidrigkeitenrecht in die
portugiesische Rechtsordnung eingeführt und das entsprechende Rah-
mengesetz geschaffen l2 • Ferner wurde am 23.9.1982 ein neues Straf-
gesetzbuch verkündet, das als Ersatz für das Strafgesetzbuch von 1886
am 1. 1. 1983 in Kraft trat l3 • Schließlich folgte am 21.1. 1984 die Gesetzes-
verordnung Nr.28/84, mit der bei gleichzeitiger Aufhebung der schon
angeführten Gesetzesverordnung Nr.41204 gewissermaßen ein neu es
Rahmengesetz für das Wirtschaftsstrafrecht geschaffen wurde u .
III.
Als sich in den 60er Jahren die Absicht einer globalen Reform des
portugiesischen Strafrechts zu verwirklichen beginnt, führt Eduardo
Correia die Ansicht von Eb. Schmidt über das Wesen und den kriminal-
politischen Sinn des Ordnungswidrigkeitenrechts in die wissenschaft-
liche Auseinandersetzung ein, um die vollständige Eliminierung der
Übertretungen zu befürworten und diese Materie mit der des Verwal-
tungsstrafrechts zu verknüpfenlu. Diese Linie erfuhr einen besonderen
IV.
Würden wir die Lehren, die - wie die bundesdeutsche, portugiesische
und neuerdings auch die italienische Doktrin - dem Thema eine sorg-
fältige Aufmerksamkeit geschenkt haben, nach dem heutigen Problem-
stand des Verwaltungsstrafrechts befragen, so wäre mit einer weit-
gehend vorherrschenden Beurteilung zu rechnen. Sie lautete, daß der
Bereich, den die strafrechtliche Lehre bis zum Ende des Zweiten Welt-
krieges als Verwaltungsstrafrecht bezeichnete, im wesentlichen dem
entspricht oder sogar nichts anderes ist als das, was heute Ordnungs-
widrigkeitenrecht genannt wird 24 •
Ich glaube indessen nicht, daß eine derartige These im Lichte der be-
schriebenen Entwicklung der portugiesischen Rechtsordnung als folge-
richtig akzeptiert werden dürfte. Ich meine vielmehr, daß die wesentli-
che Identifikation des Verwaltungsstrafrechts mit dem Ordnungswidrig-
keitenrecht fehlgeht, weil das Ordnungswidrigkeitenrecht Problemen,
Besorgnissen und Bestrebungen entspricht, die sich von den Gesichtspunk-
ten unterscheiden, die für die Lehre des Verwaltungsstrafrechts maß-
geblich waren. Zusammengefaßt: ich stehe auf dem Standpunkt, daß
das Ordnungswidrigkeitenrecht weder Abkömmling noch Erbe eines
schon dahingegangenen Verwaltungsstrafrechts ist und auch nicht in
dessen heutiger Gestalt auftritt, sondern als negative Grenze gegen-
über einem Verwaltungsstrafrecht anzusehen ist, das sich fortentwickelt
und unter der Bezeichnung Nebenstrafrecht erneuert hat. Wir werden
sehen, ob diese Antithese gelten kann.
Es ist bekannt, daß Eb. Schmidt bei der sofort nach dem Zweiten
Weltkrieg befürworteten Autonomie des Ordnungswidrigkeitenrechts
gegenüber dem Strafrecht drei verschiedenen Anliegen gerecht werden
wollte: 1. der kriminal politischen (oder sogar allgemeiner: der sozial-
politischen) Forderung, dem Strafrecht eine große Zahl von Rechtsver-
24 In der deutschen Lehre Jescheck (Anm.2, 1978), S.44 und zuletzt Ja-
kobs, Strafrecht, AT, 1983, S. 41 f. In der italienischen Lehre Dolcini/Paliero,
L'illecito amministrativo (Ordnungswidrigkeit) nell' ordinamento della Re-
pubblica Federale di Germania ... , Rivista italiana di diritto e procedura
penale 1980, S. 1134; dies., I principi generali dell'illecito amministrativo ... ,
ebendort, S. 1154. In der portugiesischen Lehre Correia (Anm. 18, 1963), I,
S.27 und ff.
88 J arge de Figueireda Dias
V.
Vielleicht ist der Grund bereits angegeben, warum ich der herrschen-
den Lehre widerspreche, wenn sie im Ordnungswidrigkeitenrecht den
legitimen Nachfolger des Verwaltungsstrafrechts erblickt. Um das mir
auferlegte Vorhaben zu erreichen, kann ich mich jedoch nicht mit die-
ser negativen Beweisführung begnügen. Es muß vielmehr versucht wer-
den, die Beziehungen zwischen diesen beiden Rechten auf positive
Weise zu bestimmen. Die Voraussetzung dafür ist eine Stellungnahme
zur Grundfrage der materiellen Autonomie des Ordnungswidrigkeiten-
rechts gegenüber dem Strafrecht. Diese Frage ist trotz ihrer komplexen
Natur sowohl in der deutschen als auch in der portugiesischen Lehre
bis heute so ausführlich behandelt worden, daß mir gestattet sein wird,
mich dazu in knappen und fast apodiktischen Bemerkungen zu äußern.
Da die behauptete Autonomie, wie bereits vermerkt, auf drei ver-
schiedenen Grundlagen beruht, müßte sich wohl jede dieser Grundlagen
für die Autonomiefrage als tragfähig erweisen. Freilich ist sicher, daß
die Lage im Hinblick auf die erste jener Grundlagen - also die Be-
urteilung der Möglichkeit, im Bereich der materiellen Rechtswidrigkeit
zwischen kriminalrechtlichem Unrecht und Ordnungsunrecht zu unter-
scheiden - darüber entscheidet, ob die Frage der Autonomie letztlich
bejaht oder verneint werden muß. Ein Teil der Lehre - in Deutschland
heutzutage vielleicht die vorherrschende Richtung - hält eine mate-
rielle oder "qualitative" Unterscheidung für undurchführbar, weil das
Vorhandensein eines ethisch indifferenten Unrechts nicht angenommen
werden kann3!. Und in der Tat: Zum einen ist das ganze Recht "Werk"
oder Verwirklichung der Freiheit und hat deshalb Anteil am Bestand
des sozialethischen Seinsollens; andererseits hat das ganze Recht einen
eminent historischen Charakter; weiter noch ist das Rechtsgewissen der
Gemeinschaft als Ausdruck selbständiger und das gesetzliche System
transzendierender Werte die Grundlage der möglichen Verwirklichung
allen Rechts 3z • Aus dieser Sicht bleibt kein Raum für die Anerkennung
eines "ethisch indifferenten" Unrechts.
Es scheint mir aber, daß hieraus nicht sofort auf die Unmöglichkeit
der materiellen Unterscheidung zwischen kriminalstrafrechtlichem Un-
recht und Ordnungsunrecht geschlossen werden darf. Auszugehen ist
davon, daß sich die Ansicht der ethischen Indifferenz - wie es in der
deutschen Lehre wenigstens zum Teil von Michels vorgeschlagen wurde 33
- nicht unmittelbar auf das Unrecht bezieht (das von einer schon er-
folgten Rechtswertung ausgeht), sondern auf das entsprechende Ver-
halten. Nichts von dem Gesagten stellt sich der Unterscheidung zwi-
schen Verhaltensweisen in den Weg, denen vor und abgesehen von
ihrer Wertung als Unrecht ein weiterreichender sittlicher, kultureller
oder sozialer Unwert entspricht oder nicht entspricht. Das Verhalten ist
unabhängig von seinem gesetzlichen Verbot im ersten Fall axiologisch
bedeutsam, im zweiten Fall jedoch axiologisch neutral. Das im Ord-
nungswidrigkeitenrecht axiologisch Neutrale betrifft nicht das Unrecht,
sondern das von seinem gesetzlichen Verbot geschiedene Verhalten als
solches; unbeschadet davon hat die einmal vorgenommene Verknüpfung
mit einem gesetzlichen Verbot zur Folge, das Verhalten als tauglichen
Gegenstand der rechtlichen Wertung zu begründen.
Ich meine, daß ich an dieser Ansicht, die ich 1969 entwickelt habe34 ,
festhalten und sie als normative Grundlage der Unterscheidung zwi-
schen kriminalstrafrechtlichem Unrecht und Ordnungsunrecht, die ich
lieber als materielle denn als "qualitative" Unterscheidung bezeichnen
möchte, heranziehen kann. Sie hindert nicht, die Notwendigkeit hinzu-
tretender Unterscheidungskriterien anzuerkennen, darunter sogar von
Kriterien bloßer "Quantität", wenn sich diese in Qualität verwandelt 35 ,
das heißt immer dann, wenn die axiologische Bedeutsamkeit eines Ver-
haltens aus der Tatsache folgt, daß es sich dabei quantitativ nicht um
eine reine Bagatelle handelt.
übrigens bestehen in der neuen portugiesischen Rechtsordnung gute
Gründe, die mich auf dem Weg dieser Unterscheidung bestätigen. Einer-
seits wird die Regelung des Rechtswidrigkeitsirrtums und des Verbots-
irrtums, die das Strafgesetzbuch (Art. 16 und 17) und das Ordnungs-
widrigkeitengesetz (Art. 8 und 9) enthalten, erst verständlich, wenn die
Unterscheidung zwischen axiologisch bedeutsamem und axiologisch neu-
tralem Verhalten akzeptiert wird38 • Zum anderen sehe ich diese Unter-
33 (Anm.30), S.43. Ich sage zum Teil, weil jede Unterscheidung bei Mi-
chels auf jene andere zwischen formeller und materieller Rechtswidrigkeit
zurückgeführt wird. Genau deshalb erscheint das Unrecht des Nebenstraf-
rechts bei Michels - abweichend von meiner im Text folgenden Darlegung
- seiner Struktur nach auf die reine Zuwiderhandlung, also auf ethisch
neutrales Verhalten zurückgeführt.
34 Vgl. die - obgleich in einem anderen Zusammenhang stehenden, näm-
lich auf das Problem des Unrechtsbewußtseins gemünzten - Darlegungen
in meiner Schrift (Anm. 32, 1978), S. 397 ff.
35 In übereinstimmung mit der sogleich von Eb. Schmidt (Anm.25), S. 37 f.
vertretenen Sicht. Ausführlich hierüber Mattes (Anm. 15), Band 2, S. 85 ff.
38 In der Tat schließt nach den Vorschriften des Strafgesetzbuchs das
Fehlen des Unrechtsbewußtseins die Schuld aus, wenn der Irrtum nicht vor-
werfbar ist, während der Irrtum über Verbote, deren Kenntnis vernünfti-
gerweise nötig ist, damit der Täter zum Bewußtsein des Unrechts gelangen
kann, den Vorsatz ausschließt. Im Strafgesetzbuch ist somit die Lösung ver-
92 J orge de Figueiredo Dias
ankert, die ich in meiner oben genannten Monographie (Anm. 32, 1978) be-
fürwortet hatte und zusammenfassend in meinem Artikel über "Schuld und
Persönlichkeit" in ZStW 95 (1983), S. 246 f., 252 ff. dargestellt habe. Diese Lö-
sung wurde von Hüner!eld (Anm.l, 1981), S. 149 ff., 198 f., 239 ff. sowie
(Anm.5), S. 1003 f. und von Raxin in einem im April 1983 in Caimbra ge-
haltenen Vortrag als positiv beurteilt. Die Veröffentlichung des Vortrags
von Raxin "Acerca da problematica do direito penal da culpa" erfolgt in dem
entsprechenden Jahresband des Boletim da Faculdade de Direito und steht
bevor.
Das Ordnungswidrigkeitengesetz bestimmt seinerseits, daß der Verbots-
irrtum den Vorsatz ausschließt. Diese Regelung enthält jedoch keinerlei Wi-
derspruch im Verhältnis zu der Regelung im Strafgesetzbuch. Der Gesetz-
geber hat vielmehr lediglich in Rechnung gestellt, daß im Ordnungswidrig-
keitengesetz infolge der axiologischen Neutralität der dort sanktionierten
Verhaltensweisen die Kenntnis des Verbots "vernünftigerweise unerläßlich
ist, damit der Täter sich des Unrechts bewußt werden kann". Vgl. in diesem
Sinn Hüner!eld (Anm. 1, 1981), S. 198, 240 f. und (Anm.5), S. 1004; Figueireda
Dias (Anm.4), S. 332.
37 Diesen Gesichtspunkt habe ich besonders in meinem Artikel "Os novos
rumos da politica criminal e 0 direito penal portugues do futuro", Revista
da Ordern dos Advagados 43 (1983), S. 13 ff. erläutert. Zweifel jedoch bei
Casta Andrade (Anm.3), S. 110. über diesen und den im Text folgenden
Punkt Figueireda Dias (Anm. 4), S. 328 f.
38 Insgesamt hierzu ausführlich das Gutachten Nr.4/81 der Verfassungs-
kommission (Berichterstatter: Mendes) , in: Pareceres da Comissäo Consti-
Vom Verwaltungsstrafrecht zum Nebenstrafrecht 93
VI.
Die Zwischenbilanz der bisherigen Erörterung läßt sich in einer dop-
pelten Schlußfolgerung zusammenfassen: 1. Verwaltungsstrafrecht und
Ordnungswidrigkeitenrecht sind materiell verschiedene und nicht
wesentlich verknüpfte Realitäten. Mit der Einführung des Ordnungs-
widrigkeitenrechts werden von diesem neuen Recht solche Verhaltens-
weisen erfaßt, die zwar axiologisch neutral sind, nach dem Verständnis
des Gesetzgebers jedoch zu verbieten und mit Geldbußen zu sanktionie-
ren sind, wobei es keinen Unterschied macht, ob die fraglichen Fälle bis
dahin dem Justizstrafrecht oder eher dem Verwaltungsstrafrecht zuge-
ordnet wurden. Genau in diesem Sinn bezeichnet das Ordnungswidrig-
keitenrecht eine "negative Grenze" gegenüber dem ganzen, auch das
Verwaltungsstrafrecht einbeziehenden Strafrecht. 2. Ist das Nebenstraf-
recht im oben angedeuteten Sinn Verwaltungsstrafrecht, so ist es mate-
riell kein Ordnungswidrigkeitenrecht, sondern echtes Strafrecht.
Die hier aber sofort auftauchende Frage lautet: Ist auf diese Weise
nicht die Möglichkeit vertan, eine spezifische Problemstellung des Ne-
benstrafrechts aufzuweisen? Ist es mit anderen Worten nicht so, daß
dieses Recht keinerlei Autonomie besitzt, die über die formale Selb-
ständigkeit einer verstreuten Gesetzgebung außerhalb des Strafgesetz-
buchs hinausginge? Oder ist es noch möglich, das Verwaltungsstrafrecht
bei einem erneuten Durchdenken seines traditionellen dogmatischen
Verständnisses und seiner Vorzüge für die heutige Lage dem Justiz-
strafrecht als speziellen Bereich im Rahmen des Strafrechts gegenüber-
zustellen? Das sind die Fragen, die ich jetzt behandeln möchte.
tucional, Band 4 (1983), S.205 (zu dem von der Kommission in der Kontinui-
tät ihrer Spruchtätigkeit hier erreichten äußersten Punkt vgl. ebendort,
S. 241, Fn. 7).
39 Dies wird von einem Teil der deutschen Lehre durchaus anerkannt:
Maurach/Zipj, Strafrecht, AT, I, 5. Aufl., 1977, S.17 f.; Müller-Dietz, Strafe
und Staat, 1973, S. 49; Jakobs (Anm. 24), S. 44.
40 Grundlegend hierzu die Entscheidungen Nr. 159 (Boletim do Ministerio
da Justi!;a 292, S.247) und Nr. 164 (Anhang zum Diario da Republica vom
31. 12. 1974, S. 78).
94 J orge de Figueiredo Dias
VII.
1. Voraussetzung für die Frage nach einer spezifischen Rechtsgeltung
oder nach einer besonderen Art der Rechtsgeltung des Verwaltungs-
strafrechts ist das Verständnis der Rechtsgeltung des Staates, dem das
Verwaltungsstrafrecht angehört. Ist die Art, wie sich der Staat dem
Recht gegenüberstellt, von einer Beschaffenheit, daß das Verwaltungs-
strafrecht als autonome Materie gedacht werden kann?
Wenn vom Staat46 ausschließlich gefordert wird, daß er sich dem Recht
als formaler Rechtsstaat gegenüberstellt, scheint mir eine bejahende
Antwort auf die gestellte Frage nicht möglich. Da hier eine totale Be-
herrschung der Form über den Inhalt besteht, erkennen sich der Staat
und seine Rechtsordnung nicht durch Inhalte materieller Sinngebung
begrenzt, sondern nehmen die Rechtsgeltung irgendwelcher durch das
formelle Schema der Gesetzlichkeit bestimmter Inhalte an und sehen
von den materiell rechtlichen Intentionen ab, die das Gesetz leiten. Von
diesem Standpunkt aus müßte gesagt werden, daß das Verwaltungs-
strafrecht lediglich ganz einfach Strafrecht sein könnte.
Wenn der Staat im Unterschied dazu die formale Legalität gering-
schätzt oder sogar bekämpft, wenn er seine Bindung an Recht und Ge-
setz leugnet oder sich nicht an das Gesetz, sondern nur an die Verwirk-
lichung der Zwecke und die Inhalte gebunden fühlt, die seine ideolo-
gische Zielsetzung vorschreibt, dann verliert das Rechtsproblem als sol-
ches seine Autonomie - und dies auch dann noch, wenn sich ein der-
artiger Staat als ein "Sozialstaat", jedoch nicht als "sozialer Rechts-
staat" bezeichnen kann41 • In diesem Fall verwandelt sich das Strafrecht
gewissermaßen in eine polizeiliche Verwaltungsordnung, und dies in dem
Sinne, daß der Bruch der Bindung an das Recht die Steuerung der gan-
zen staatlichen Ordnung durch pragmatische, zweckmäßige, technologi-
sche, auf die Wohlfahrt oder auf sonstige materielle Inhalte gerichtete
Intentionen bestimmt.
Eine relative Verselbständigung des Verwaltungsstrafrechts im Straf-
recht ist nur im Rahmen eines materiellen, sozial und demokratisch ge-
prägten Rechtsstaates verständlich. Ich meine damit jeden Staat (aber
nur ihn), der einerseits auf Bindung an das Recht und sogar an die
strenge Legalität seiner formalen Festlegung besteht, das verfassungs-
mäßige Zustandekommen der Gesetze und die Einhaltung der Grund-
rechtsgarantien beachtet; andererseits kommt es aber darauf an, daß
sich der Staat in diesem Rahmen von Erwägungen materieller Gerech-
tigkeit leiten läßt, um alle (wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen)
Bedingungen der freien Entfaltung der menschlichen Person zu för-
dern. In diesem Zusammenhang ist das Vorhandensein zweier relativ
selbständiger Bereiche der Tätigkeit des Staates gut verständlich: Der
eine Tätigkeitsbereich betrifft den Schutz der spezifisch persönlichen
(obgleich nicht "individuellen") Wirkungssphäre des Menschen und
wird in erster Linie durch die persönlichen Grundrechte bestimmt; der
andere Tätigkeitsbereich betrifft den Schutz der auf die Gemeinschaft
bezogenen Wirkungssphäre des Menschen und wird vor allem durch
seine Grundrechte und Grundpflichten wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Charakters (oder im weitesten Sinne ausgedrückt: durch
seine "sozialen Grundrechte") gebildet.
Es handelt sich im ganzen um den Typus eines Staates, der - als Bei-
spiel kann auf die Lage nach der geltenden portugiesischen Verfassung
verwiesen werden48 - ohne Verzicht auf eine spezifisch normative und
axiologische Intentionalität deshalb doch nicht seine Bindung an das
Recht im Rahmen einer demokratischen Legalität bricht. Freilich kann
auf dem Betätigungsfeld der sozialen Aufgaben des Staates, wo die
fragliche Intentionalität stärker vernehmbar ist, die Notwendigkeit be-
stehen und anzunehmen sein, daß in einigen Punkten die traditionellen
Forderungen des formellen Rechtsstaates, was die Einschränkung der
Strafgewalt betrifft, geändert werden müssen. Damit sind aber das er-
wählte Feld des Verwaltungsstrafrechts und der rechtspolitische An-
satz benannt, bei dem seine Autonomie ohne Widerspruch denkbar ist.
50 Wie Mattes (Anm. 15), Band 2, S. 143 ff. ausführlich gezeigt hat. Vgl.
ebenfalls Tiedemann (Anm. 23), S. 101 ff.
51 Tiedemann (Anm.23), S. 113 ff.; ders. (Anm. 10), 1976, Band 2, S. 50 ff.,
141 ff.
52 Diese Auffassung, zu der die deutsche öffentlich-rechtliche Lehre so viel
beigetragen hat, ist in Portugal im Gutachten Nr. 16179 der Verfassungskom-
mission (Berichterstatter Dias) erörtert worden. Vgl. Pareceres (Anm.38),
Band 8 (1980), S. 205.
53 Tiedemann (Anm. 23), S. 110 ff., 113 ff.
Vom Verwaltungsstrafrecht zum Nebenstrafrecht 99
Andrade, A nova lei (Anm. 56), versucht jetzt eine eingehende Bestimmung
der Rechtsgüter im Wirtschaftsstrafrecht über einen Weg, der weitgehend
mit der hier vertretenen Linie übereinstimmt.
59 Dagegen Mattes (Anm. 15), Band 2, S. 101 ff. Im Text versuche ich ver-
ständlich zu machen, daß der Mensch als für das ganze Recht "sozialisierter"
Mensch seine Persönlichkeit als persönliches Sein und als auf die Gemein-
schaft bezogenes Sein entfaltet. Vgl. Tiedemann (Anm. 23), S. 107.
80 Ohne daß es für die übereinstimmung mit dem Text notwendig ist,
zum Bestehen oder Nichtbestehen eines der Verfassung vorangehenden und
höheren (geschlossenen) "Wertsystems" Stellung zu nehmen. Vgl. bereits Fi-
gueiredo Dias (Anm. 36), S. 255 Anm. 20.
81 Grundsätze der Strafrechtspflege, in: BettermannjNipperdeyjScheuner,
Die Grundrechte II-2, Berlin, 1959, S. 911.
Vom Verwaltungs strafrecht zum Nebenstrafrecht 101
6l Es ist mir bewußt, daß hier zum Verständnis ein Gesamtüberblick über
die Wertordnung der Verfassung erforderlich wäre. Allerdings muß ich mir
hier eine Rechenschaft versagen über die umfangreichen Ausarbeitungen
durch Lehre und Rechtsprechung, die ihren Grund darin hatten, daß sich
die portugiesische Verfassung von 1976 nicht mit einer Klausel oder Begriffs-
bestimmung sozialer Rechtsstaatlichkeit begnügte, sondern eine lange Liste
von sozialen Grundrechten verankert hat; vgl. jedenfalls Vieira de Andrade
(Anm. 11, 1978), S. 97 ff., 198 ff.; Games Canatilha (Anm. 11, 1983), S. 97 ff.,
512 ff.; Miranda (Anm. 11, 1978), S. 303 ff. Ich begnüge mich damit zu betonen,
daß eine derartige Tatsache für das von mir behandelte Problem größte
Bedeutung haben kann und als Ausgang für feststellbare Entwicklungen in
der portugiesischen Strafrechtslehre in Betracht kommt.
102 J orge de Figueiredo Dias
Mitglied der Gemeinschaft" - und hier ist der Staat an die positive Auf-
gabe gebunden, die Befriedigung der Interessen zu fördern, die aus den
Grundsätzen und Zielen der Gestaltung der sozialen Gemeinschaft ent-
stehen.
VIII.
Vor dem Hintergrund des Verständnisses der spezifischen Rechtsgel-
tung des Verwaltungs- und Nebenstrafrechts müßten nunmehr die be-
sonderen dogmatischen Konsequenzen erörtert werden, die es hier zu
erkennen gilt: Zum Beispiel im Hinblick auf die zeitliche Geltung der
Gesetze, die Bestimmbarkeit und die Bildung der Tatbestände, die
Pflichtdelikte und die abstrakten Gefährdungsdelikte, die Anerkennung
der Verantwortlichkeit der juristischen Personen, die Irrtumsregelung,
die Schuld und die Prävention zum Zwecke der Auswahl und Zumes-
sung der Strafe und vieles andere mehr. Aber eine solche Aufgabe
würde deutlich die Grenzen überschreiten, die der vorliegende Beitrag
zu beachten hat.
Ich muß also schließen und versuchen, die wichtigsten Ergebnisse aus
den vorstehenden Betrachtungen zusammenzufassen. Das Verwaltungs-
strafrecht ist in seiner gegenwärtigen Gestalt nicht mit dem Ordnungs-
widrigkeitenrecht identisch: Dieses bildet eher eine negative, normative
Begrenzung, indem es sich auf einen Bereich erstreckt, zu dem Verhal-
tensweisen gehören, die sich unabhängig von den sie betreffenden Ver-
boten als axiologisch neutral erweisen. Demgegenüber hat es das Ver-
waltungs- oder Nebenstrafrecht mit einem für sich genommen sozial-
ethisch bedeutsamen Verhalten zu tun und gehört zum Strafrecht. Die-
ser sozialethischen Relevanz entspricht aber in ihrer rechtlichen Umset-
zung eine besondere Artung, die eine (relative) Verselbständigung des
Verwaltungs- oder Nebenstrafrechts gegenüber dem Justiz- oder Kern-
strafrecht gestattet83 •
Diese besondere Wesensart gründet sich auf die ebenfalls besondere
Resonanz, die den Aufgaben der sozial ethischen Gestaltung der Ge-
meinschaft im Rahmen des materiellen Rechtsstaates entspricht. Sie
stellt sich in einer gesetzlichen Ordnung der Rechtsgüter dar, deren
spezifische Eigenart die verfassungsrechtliche Wertordnung der sozialen
Grundrechte und der Wirtschaftsordnung zum Maßstab hat. Die so zu-
standekommende gesetzliche Ordnung gewinnt deshalb eine relative
Autonomie gegenüber der Rechtsgüterordnung des Kernstrafrechts, die
ihrerseits an der verfassungsrechtlichen Wertordnung der persönlichen
Grundrechte orientiert ist. Die relative Unterscheidung zwischen Kern-
83 Ich nähere mich damit - wenn nicht in der Begründung, so doch we-
nigstens in der Schlußfolgerung - der von Lange, JZ 1956, S. 77 f. angedeu-
teten und besonders von Michels (Anm. 30), S. 23 ff., begründeten Dreiteilung.
Vom Verwaltungs strafrecht zum Nebenstrafrecht 103
8 H.Mayer.
• Hierzu Betti, Ergänzende Rechtsfortbildung als Aufgabe der richter-
lichen Gesetzesauslegung, Festschrift für Raape, 1948, S.379; Germann, Pro-
bleme und Methoden der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1967, S. 135 ff.; Larenz, Me-
thodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 351 ff.; Schwalm, Der
objektivierte Wille des Gesetzgebers, Festschrift für Heinitz, 1972, S. 47.
10 Vgl. etwa grundlegend Esser, Grundsatz und Norm, 3. Aufl. 1956, S. 69 ff.;
Larenz (Fn. 9).
11 Generalklauseln in bonam partem pflegen kaum so erbittert bekämpft
zu werden. Vgl. etwa Naucke, über Generalklauseln und Rechtsanwendung
im Strafrecht, 1973; Class, Generalklauseln im Strafrecht, Festschrift für Eb.
Schmidt, 1961, 2. Auf!. 1971, S. 122; Lenckner, JuS 1968, 249.
12 Bemerkenswert m. E., daß die frühere Warnung Welzels, LB, 7. Auf!.
1960, § 5 11, vor der Unbestimmtheit des "zu schnellen Fahrens" in § 315 a
(anders bei "Gefährdung des sittlichen Wohls" in § 170 b) in späteren Auf-
lagen nicht mehr aufrechterhalten wurde (vgl. LB, 11. Aufl. 1969, § 5 111) und
auch von der Literatur kaum aufgegriffen worden ist (anders § 11 11 1 der
1. Auf!. meines AT).
13 Bemerkenswert der Versuch von Naucke, Der Nutzen der subjektiven
Auslegung im Strafrecht, Festschrift für Engisch, 1969, S.274; ferner ders.,
Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 1964, S. 191 ff., mit dem Versuch, Art. 103
II GG in Richtung subjektiver Methode auszulegen.
Dogmatik und Gesetzgeber. Vier Beispiele 107
tationsmethode übergeht l4 • Tut man dieses mit der h. L., und läßt man
dann auch noch die alleräußerste Grenze der Wortbedeutung als Aus-
legungsgrenze zu 1., so darf man sich nicht wundern, wenn das Ana-
logieverbot, jedenfalls was die Rechtspraxis betrifft, ganz in Zweifel
gezogen wird16 •
Wenn also auch im Strafrecht die Bedeutung der richterlichen Rechts-
fortbildung und auch die Bedeutung dogmatischer neuer Ansätze 17
zugenommen haben, freilich stets behindert durch Art. 103 II GG und
§ 1 StGB, so ist es kaum verwunderlich, wenn unterhalb dieser Grenze,
also bei Meidung des Gefahrenfeldes extensive Interpretation/Analo-
gie, der Glaube an die Verbindlichkeit gesetzgeberischer Formulie-
rungskünste zunehmend geschwunden ist. Man bewegt sich, solange das
Analogieverbot und der Bestimmtheitsgrundsatz nicht drohen, in
Rechtsprechung und Dogmatik zunehmend "freier". Und der histo-
rische Gesetzgeber, sein Wollen bei der Formulierung von Vorschrif-
ten, die 1975 oder noch später in Kraft getreten sind, interessieren
kauml8 •
Kaum noch findet man heute in Abhandlungen Hinweise auf die
Begründung des E 62, auf die Sitzungsberichte 19 und Niederschriften!O
der Großen Strafrechtskommission, und 1. und 2. Schriftlicher Bericht
des Sonderausschusses21 interessieren schon gar nicht. Wer sich bei der
Auslegung von Vorschriften des AT hierauf oder bei Auslegungsfra-
gen im BT auf die umfangreichen Gesetzesmaterialien, oder bei der
Auslegung von Vorschriften, die aus den verschiedenen Alternativ-
entwürfen übernommen sind, auf die dortigen Begründungen bezieht,
14 Diese ist denn auch ganz h. M., Nachweise bei Baumann, AT, 8. Aufl.
1977, § 13 12 b; Jescheck, AT, § 17 IV 2; Maurach/Zipf, AT, Bd. 1, 6. Aufl. 1983,
§ 9 11 2. Vgl. gegen die "Vieldeutigkeit" der Berufung auf die ratio legis aber
Stratenwerth, AT, 3. Aufl. 1981, § 3 III, Rn. 100. Zusammenfassend vgl. jetzt
Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983.
15 Ebenfalls ganz herrschende Rechtsprechung, vgl. BGHSt. 4, 148; 10, 160;
26, 96. Hier fehlt es nicht an Gegenstimmen in der Lit., vgl. die Nachweise
bei Jescheck, AT, § 17 IV 5; zur eigenen Auffassung Baumann, MDR 1958.394.
13 Vgl. dazu grundlegend Sax, Das strafrechtliche Analogieverbot, 1953;
Arthur Kaufmann, Analogie und Natur der Sache, 2. Aufl. 1982. Weitere
Nachweise Jescheck, AT, § 1511 2 und § 17 IV 3; Baumann, AT, § 1211 3 und
m.
17 Man denke nur an die neueren objektiven Zurechnungslehren, an die
Formel vom Schutzbereich der Norm ete.
18 Zur eigenen Warnung für Studenten, die historische Methode nicht
außer acht zu lassen, vgl. Baumann, AT, § 13 I 2 b. Bei Jescheck, AT, § 17 IV
1 Verbindung von historischer und teleologischer Methode, also Betonung der
Bedeutung für die Ermittlung des Zwecks der Vorschrift.
19 In ZStW ab Bd. 66 (1954).
20 Im Bundesanzeiger sowie in 14 Bänden gesondert publiziert.
!1 1. Schriftl. Bericht, BT-Drucks. V/4094; 2. Schriftl. Bericht, BT-Drueks.
V/4095.
108 Jürgen Baumann
22 Man denke etwa an die Entstehung des EGStGB vom 2.3. 1974, kri-
tisch dazu besonders die Aufsatzreihe von Dencker, Zielinski, Dornseifer,
Siegert, Britsch, Schöne, Armin Kaufmann, Strafrechtsreform im Einfüh-
rungsgesetz?, JZ 1973, 144, 193, 267, 308, 351, 446, 494; weitere Nachweise
Baumann, AT, § 5 I 2 e; vgl. auch ders., Strafrechtsreform ohne Gesamtparla-
ment, ZRP 1974,77.
23 So waren bei der Arbeit am EG bei manchen Sitzungen nur einige
wenige Ausschußmitglieder anwesend, sehr in der Minderzahl gegenüber
den Vertretern des Ministeriums und zumeist wohl auch weniger sachver-
ständig. Zu den 17 Sitzungen der "Arbeitsgruppe" (aus den 3 Fraktionen)
und den 10 Sitzungen (!) des Sonderausschusses vgl. dessen Bericht BT-
Drucks. 7/1261 sowie 7/1232.
24 Die aber oft auch ehrlich als solche offengelegt werden, vgl. etwa
Max Güde bei der 2. Lesung des 1. und 2. StrRG im Bundestag am 7.5.1969:
"... und auch zu dem Kompromiß (zwischen E 62 und AE, AT 1966) geführt
hat, den die jetzige Vorlage darstellt"; Prot. der 230. Sitzung, S.12 717.
25 Man denke im Bereich des Strafrechts nur an die in letzter Minute vor-
genommene Ersetzung der "Bewährung der Rechtsordnung" (vgl. § 47 in der
Vorlage des Sonderausschusses) durch die "Verteidigung der Rechtsordnung",
nachdem wohl klar geworden war, daß der erstere Begriff zu schwammig
und zu vieldeutig war. Als ob der letztere insoweit besser wäre!
Dogmatik und Gesetzgeber. Vier Beispiele 109
2. Analogieverbot im AT
a) Man sollte meinen, daß bezüglich des Analogieverbots in malam
partem der Grundgesetzgeber in Art. 103 II GG und der Gesetzgeber
in § 1 StGB klar gesprochen haben. Wenn hier auf die "Strafbarkeit"
abgehoben wird, so ist eben diese und nicht etwa die Verfolgbarkeit
gemeint43 • Und klar müßte eigentlich auch sein, daß andererseits
"Strafbarkeit" alle materiell rechtlichen Voraussetzungen der Strafbar-
keit meinen muß, gleich, ob sie nun im AT oder BT geregelt sind, und
gleichgültig auch, wie sie dogmatisch einzuordnen wären. Wir können
kaum vermuten, daß der Parlamentarische Rat und später der Gesetz-
geber zu § 1 StGB besonderen Respekt vor dem jeweiligen dogmati-
schen Streit über die Einordnung verschiedener Erscheinungen des
materiellen Rechts (im System der Straftat) gehabt haben. Verschie-
bungen zwischen AT und BT sowie dementsprechende Gewichtsver-
änderungen dürften dem Gesetzgeber höchst gleichgültig gewesen
b) Um so erstaunter ist man über den Streit, der sich bei einem so
klaren Ausspruch des Gesetzes ergeben hat. Es ist zwar h. M., daß das
Analogieverbot auch für die Vorschriften im AT des StGB gilt45 . Aber
diese ist nicht unbestritten. Schon früher 46 wunderte ich mich, als ich
im "Maurach"47 fand, daß das Analogieverbot nicht für Vorschriften
des AT gelte 48 • Also keine Garantie hinsichtlich Rückwirkung, Be-
stimmtheit und Analogieverbot etwa für die Frage des Umfangs der
Versuchsbestrafung? Doch kaum vernünftig, hier, bei größerem Wir-
kungsbereich der Regelungen im AT, einen geringeren Umfang der
Geltung der Grundsätze des § 1 StGB anzunehmen.
J escheck49 nimmt insofern einen vermittelnden Standpunkt ein, als
es bei ihm heißt: "Auch die Vorschriften des AT, soweit diese eine
den Strafwürdigkeitsgehalt einer Norm unmittelbar betreffende Re-
gelung enthalten, binden den Richter, so daß zu Lasten des Angeklag-
ten nicht davon abgewichen werden darf. Soweit die allgemeinen Leh-
ren dagegen wirklich Gewohnheitsrecht sind ... , können sie auch nicht
an der Garantiefunktion teilnehmen". Lassen wir sowohl das Problem
der "allgemeinen Lehren" als auch das der Bindungswirkung stän-
diger höchstrichterlicher Rechtsprechung 50 beiseite, und damit auch das
(m. E. anders zu entscheidende) Problem des strafrechtlichen Gewohn-
heitsrechts - was das Gesetzesrecht des AT betrifft, und darum geht
es hier beim Verhältnis Gesetz/Dogmatik, kann doch kaum gezweifelt
werden, daß § 1 StGB auch für die Vorschriften des AT gilt, die die
"Strafbarkeit bestimmen".
61 Ohne hier die Diskussion um BVerfGE 25, 269 und die Rechtsnatur der
Verfolgungsverjährung neu beleben zu wollen. Vgl. dazu die Lit. Angaben
bei Dreher/Tröndle (Fn.48).
52 Zur eigenen Ansicht der Ausweitung aller 4 Grundsätze des § 1 StGB
auf Prozeßvoraussetzungen (de lege ferenda) Baumann, AT, § 12 I 2 b, § 13
11 3. Vgl. auch bezüglich des Rückwirkungsverbots ähnlich Jescheck, AT, § 15
IV 4 (weitere Nachweise bei Baumann a. a. 0.).
53 Die u. a. in hervorragender Weise der Rechtssicherheit dient. Ich denke
hier an frühere Diskussionen an der Martin-Luther-Universität Halle-Wit-
tenberg, in einer Zeit, in der in der DDR zwar noch das StGB von 1871 galt,
aber die West-Kommentare nicht benutzt werden durften und eigene (DDR)
dogmatische Lit. kaum vorhanden war. Die daraus folgende Zersplitterung
der Rechtsprechung und die Rechtsunsicherheit waren gewichtige Argumente
in jeder Dogmatik-Diskussion.
54 Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Straf-
rechtssystem, 1904; ferner ders., Festgabe für Frank, Bd. 1, 1930, S.158.
55 Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959; ihm
folgend Gallas, ZStW 67 (1955), S. 8; Welzel, LB, S. 200, usw.
68 Vgl. die Nachweise bei Jescheck, AT, § 59 11; Baumann, AT, § 16 11 4 b;
Roxin, ZStW 74 (1962), S. 547; Stree, in: Schönke/Schröder, vor §§ 13 ff. Rn. 139,
wonach von der h. L. allenfalls das "Verhalten" noch als gemeinsamer Ober-
begriff anerkannt wird (so auch Jescheck, AT, § 23 IV 1).
Für den Rechtsanwalt als Beschuldigten ist klar62 , daß er trotz sei-
ner Anwaltseigenschaft zu diesem Personenkreis gehört, wie umge-
kehrt der Anwalt des Privatklägers nach § 378 StPO oder des Neben-
klägers nach § 397 I StPO wegen der Nichtnennung von Privat- und
Nebenkläger in §§ 177, 178 GVG nicht zu diesem Personenkreis gehört,
Maßnahmen also unzulässig sind83 . Die Verteidiger des Beschuldigten
sind nach dem klaren Wortlaut des GVG ebenso wie die Vertreter der
Staatsanwaltschaft und die Beisitzer und Laienrichter nicht irgendwel-
chen Zwangsmaßnahmen64 unterworfen.
62 BVerfG NJW 80, 1678: er kann nicht sein eigener Verteidiger sein.
83 H. M., vgl. Kleinknecht/Meyer, 36. Auf!. 1983, § 177 Rn. 3. Umgekehrt
kann, weil der Zeuge genannt ist, gegen den Rechtsanwalt des Zeugen nach
§§ 177,178 vorgegangen werden, BVerfGE 38,105.
U Dahingestellt (aber zu verneinen I), ob während der Hauptverhandlung
dem Hausrecht.
85 BGH NJW 1977, 437, jedenfalls für Extremfälle und unter Beachtung
des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.
86 OLG Hamm JMBl. NRW 1980, 215: ..... nicht von vornherein rechtlich
unmöglich" .... "Bei schwersten Dauerstörungen ist dem Gericht das Recht
zuzuerkennen, den Verteidiger gern. §§ 176, 177 GVG aus dem Sitzungssaal
entfernen zu lassen."
G7 Vgl. zu diesen Entscheidungen Greiser, JA 1983, 431; Wolf, NJW 1977,
1063.
88 OLG Karlsruhe NJW 1977, 309; gebilligt BVerfGE 34, 138. Vgl. auch die
früheren Entscheidungen BVerfGE 15, 234; 28, 21, über die Zurückweisung
von Anwälten.
89 So Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, 22. Aufl.., § 176 GVG Anm.3 c bb, wo-
rauf sich der BGH in NJW 1977,437 auch beruft.
70 Greiser, Störungen und Sabotageversuch in der Hauptverhandlung,
JA 1983, 429, 431, allerdings mit dem Bedauern, daß unklar bleibe, wann
ein "Extremfall" oder eine "schwerste Dauerstörung" vorliegen soll.
116 Jürgen Baumann
nung aus dem Sitzungssaal. Der mittlere Bereich weise eine Lücke
auF1 • Nun, Lücken müssen eigentlich durch den Gesetzgeber geschlos-
sen werden und das um so mehr, als eine Rechtsunsicherheit gerade
in diesem Bereich (Schutz des Angeklagten 72 ) unerträglich ist. Gegen
die Rechtsprechung im "Extrembereich" ist aber auch noch geltend
zu machen, daß gerade die Spezialregelung in §§ 138 a ff. StPO ein wei-
teres Argument gegen Maßnahmen nach §§ 177,178 GVG liefert, könn-
ten doch die Vorschriften über die Ausschließung eines Verteidigers
durch Maßnahmen der Sitzungspolizei unterlaufen werden73 •
Also contra legern Entscheidungen, die Rechtsunsicherheit in einem
besonders empfindlichen Bereich geschaffen haben und zusätzlich die
Gefahr eines Unterlaufens der Regelung der §§ 138 a ff. StPO schaffen.
Wäre eine Verweigerung der Rechtsprechung in diesem Bereich, ge-
stützt auf den klaren Wortlaut des Gesetzes, nicht besser gewesen,
mit der Folge, daß der Gesetzgeber ähnlich wie bei §§ 138 a ff. StPO tätig
geworden wäre 74 ?
III. Nutzanwendung
A.
Bei der Frage, ob ein ausländisches Rechtsgut - d. h. ein Rechtsgut,
dessen Träger ein Ausländer oder ein ausländischer Staat ist 1 - durch
eine Strafnorm der Bundesrepublik Deutschland geschützt ist, geht es
um den tatbestandlichen Schutzbereich der jeweiligen Strafvorschrift2 •
Deren Untersuchung kann eine normimmanente Selbstbegrenzung auf
den Schutz inländischer Rechtsgüter, aber auch eine Ausdehnung des
Schutzbereichs der Norm durch die Tatbestandsfassung oder durch sie
erweiternde Sondervorschriften auf ausländische Rechtsgüter ergeben3 •
Soweit dies nicht schon aus dem klarstellenden Wortlaut der Straf-
vorschrift selbst oder aus solchen den Straftatbestand gezielt erwei-
ternden Sondervorschriften hervorgeht4, ist es durch Auslegung der
Strafvorschrift zu ermitteln5 • Dabei besteht Einigkeit darüber, daß
Individualrechtsgüter ohne Rücksicht darauf geschützt sind, ob sie
einem inländischen oder einem ausländischen Rechtsgutträger zuste-
hene. Das Problem stellt sich praktisch also nur bei Strafnormen, die
"öffentliche" Rechtsgüter (des Staates oder der Allgemeinheit) schüt-
B.
Die Fragestellung, ob die tatbestandliche Auslegung von Straf-
normen zum Ausschluß oder zur Einbeziehung fremder öffentlicher
Rechtsgüter führt, ist längst über die "klassischen" Beispiele der
Staatsschutzdelikte i. w. S. (§§ 81-101 a, 105 -109 k StGB) einerseits und
der Straftaten gegen ausländische Staaten (§§ 102 -104 a StGB) ande-
rerseits hinausgewachsen; sie hat in den letzten Jahrzehnten immer
weitere wichtige Materien des Strafrechts erfaßt, über die verdienst-
11 Vgl. einerseits Jescheck, AT (Fn.2), S.129 und 141; Vogler (Fn.3), in:
Geburtstagsgabe für Grützner, 1970, S. 149, 150; andererseits Gehler, Theorie
des Strafanwendungsrechts, in: Geburtstagsgabe für Grützner, 1970, S. 110,
116, und ders., IntStrR (Fn. 8), Rdnr. 123.
12 Die (unbestritten notwendige) Trennung der beiden Materien (tat-
bestandlicher Schutzbereich und internationaler Geltungsbereich der Straf-
norm) hat daher - wie im Blick auf unsere späteren Erörterungen in Ab-
schnitt B III und IV bemerkt sei - auch nichts damit zu tun, ob das Ubiqui-
tätsprinzip des § 9 StGB beispielsweise bei Distanzdelikten (hier etwa bei
§§ 145 d, 164 StGB) sowie bei Anstiftung und Beihilfe (hier etwa zu § 154
StGB) neben dem ausländischen auch einen inländischen Tatort bereitstellt,
da der Tatort nichts über den tatbestandlichen Ausschluß oder Einschluß
fremder (öffentlicher) Rechtsgüter aussagt; vgl. dazu Gehler, IntStrR (Fn.8),
Rdnr. 240 und 783.
124 Hans Lüttger
13 Vgl. Oehler, IntStrR (Fn.8), Rdnr. 232 ff. und 779 ff.; Tröndle, in: Leip-
ziger Kommentar, 10. Aufl. 1978 (im folg.: LK), Vor § 3 Rdnr. 25 - 40; Reschke
(Fn.1), S. 175 ff.; Sandweg, Der strafrechtliche Schutz auswärtiger Staats-
gewalt, Diss. Berlin, 1965, S. 70 ff.
t« Vgl. von Weber (Fn. 1).
15 Vgl. Jescheck, Straftaten gegen das Ausland, in: Festschrift für Rittler,
1957, S.275, 277; Oehler, Strafrechtlicher Schutz ausländischer Rechtsgüter,
insbesondere bei Urkunden, in der Bundesrepublik Deutschland, JR 1980,485.
18 Vgl. vorerst nur die §§ 102 ff. StGB und dazu Jescheck (Fn. 15).
17 Vgl. BVerfGE 1, 299, 312; 10, 234, 244; und besonders 11, 126, 130 - 131.
- Grundlegend dazu mit zahlreichen weiteren Nachweisen Schwalm, Der
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 125
Ein krasses Beispiel für ein Ausscheren aus diesen Grundsätzen ist
die Auslegung der §§ 102 - 104 a StGB durch einen Teil der Rechts-
lehre. Zwar ist bei den Straftaten gegen ausländische (früher: be-
freundete) Staaten das geschützte Rechtsgut seit jeher umstritten ge-
wesen; die Lehre hat stets geschwankt, ob hier die ausländischen
Staaten selbst (in ihren Organen, Repräsentanten und Symbolen) ge-
schützt seien oder ob das eigene (deutsche) Interesse an ungestörten
Beziehungen zum Ausland das geschützte Rechtsgut seP8. Und auch
anläßlich der Einführung der heutigen §§ 102 ff. StGB durch das
3. StÄG 19 hat es Stimmen im Gesetzgebungsverfahren gegeben, die wei-
terhin vom Schutz freundschaftlicher internationaler Beziehungen der
Bundesrepublik Deutschland sprachen20 • Indessen kommt es auf alles
dies nicht entscheidend an; maßgebend ist in erster Linie, ob in der
Neufassung des Gesetzes selbst der Wille, ausländische Rechtsgüter
zu schützen, Gestalt angenommen hat. Dies ist in der Tat der Fall:
Die neue Abschnittsüberschrift "Straftaten gegen ausländische Staa-
ten" gibt bereits die Deliktsrichtung an; die in den §§ 102 - 104 StGB
umschriebenen ausländischen Tatobjekte (Organe, Vertreter und Ho-
heitszeichen) repräsentieren in völkerrechtlicher Sicht den ausländi-
schen Staat, so daß die in §§ 102 ff. StGB vertypten Tathandlungen sich
gegen den ausländischen Staat richten!l; dem Umstand, daß der aus-
ländische Staat selbst durch die Tat verletzt ist, trägt schließlich das
in § 104 a StGB normierte Erfordernis eines Strafverlangens der aus-
ländischen Regierung Rechnung. Es ist nicht zu sehen, auf welche
andere Weise die Intention des Gesetzes, ausländische Rechtsgüter
zu schützen, in der Gesetzessprache noch deutlicher hätte zum Aus-
druck kommen können22 . Dennoch finden sich auch unter der Neufas-
objektivierte Wille des Gesetzgebers, in: Festschrift für Heinitz, 1972, S. 47 ff.
- Wenn Nagler, Die Widersetzlichkeit gegen die ausländische Staatsgewalt,
in: Festgabe für Heilborn, 1931, S. 31, 36, gerade für unseren Bereich eine
solche Anknüpfung an die positiv-rechtliche Regelung abgelehnt hat, so ist
dies nur noch von historischem Interesse.
18 Vgl. die Nachweise über die ältere Lit. bei Jescheck (Fn. 15). - Die ver-
einzelte ältere Lehre, daß die Vorläufer der heutigen §§ 102 ff. StGB "Delikte
gegen den Frieden" enthalten hätten (so Gerland, Feindliche Handlungen
gegen befreundete Staaten, VDStB, Bd.l, 1906, S.113, besonders S.158, 167,
205 - 206, 209), wird zum heutigen Recht nicht mehr vertreten; vgl. hiergegen
von Weber (Fn. 1), S. 277 ff., und Jescheck (Fn. 15).
19 Vgl. 3. StÄG vom 4. August 1953 - BGBL 1953, Teil I, S. 735 ff.
20 Die durch das 3. StÄG (Fn. 19) eingeführten §§ 102 - 104 a StGB gingen
auf den unerledigten Rest des Entwurfs eines (1.) StÄG 1950 zurück: (vgl.
Dreher, Das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz, JZ 1953, 421). Vgl. daher aus
den Materialien zu beiden Gesetzen BT-Druck:s.I/1307, besonders S.39; Ver-
handlungen des Deutschen Bundestages, 265. Sitzung vom 12. März 1953,
1. WP, S. 13016 (BMJ Dehler).
21 Vgl. Reschke (Fn. 1), S. 109 - 110.
22 Vgl. dazu statt vieler Dreher, JZ 1953,421,426 - 427.
126 Hans Lüttger
sung des Gesetzes noch einzelne Stimmen, die den §§ 102 ff. StGB ein
ausländisches Rechtsgut absprechen und nach wie vor nur ein inlän-
disches Rechtsgut - das Interesse an ungestörten Beziehungen zum
Ausland - anerkennen23 • Die h. M. ist dem - wie wir meinen: aus
zwingenden Gründen - nicht gefolgt; sie nimmt entweder an, daß
durch die §§ 102 ff. StGB nur ausländische Rechtsgüter - die auslän-
dischen Staaten in ihren Organen, Repräsentanten und Symbolen -
geschützt seien 24 , oder sie geht von einer Mehrheit von Rechtsgütern
aus, indem sie neben diesen ausländischen Schutzgütern auch das
erwähnte nationale Rechtsgut bejaht 25 • Darauf wird noch zurückzu-
kommen sein.
Die Frage, ob in anderen weniger deutlichen Fällen die Anknüpfung
an den Wortlaut der positiv-rechtlichen Regelung zu kurz gekommen
ist, werden wir - im Verein mit anderen methodischen Fragen - bei
den angekündigten Beispielen der §§ 132 a, 152, 184 und 264 StGB er-
örtern, die sämtlich einen ausdrücklichen "Auslandsbezug" enthalten.
Hier ging es zunächst nur darum, an einem schon "klassischen" und
vielerörterten Beispiel die grundsätzliche Problematik sichtbar zu
machen, die sich bei einer (unstatthaften) Vernachlässigung der Fin-
gerzeige des Gesetzes selbst einstellt.
II.
23 Vgl. Sandweg (Fn.13), S. 56 - 58, 74 - 80; Preisendanz, 30. Aufl. 1978, Vor
§ 102; Blei, Strafrecht 11, Besonderer Teil, 12. Aufl. 1983 (im folg.: BT), § 120,
S.471; Schmidhäuser, Strafrecht, Besonderer Teil, 2. Aufl. 1983 (im folg.: BT),
20. Kap., S. 222.
24 Vgl. Dreher, JZ 1953, 421, 426 - 427; Dehler, Die Grenzen des aktiven
Personalitätsprinzips im internationalen Strafrecht, in: Festschrift für Mez-
ger, 1954, S. 83, 97; Maurach/Schroeder, Strafrecht, Besonderer Teil, Teilbd.2,
6. Aufl. 1981 (im folg.: BT 2), § 89 IV 1, S.288; DreherjTröndle, 41. Aufl. 1983,
Vor § 102 Rdnr.2; Dehler, IntStrR (Fn. 8), Rdnr. 232.
25 Vgl. Jescheck (Fn. 15); Willms, in: LK, Vor § 102 Rdnr. 1; Rudolphi, in:
Systematischer Kommentar, 1982 (im folg.: SK), Vor § 102 Rdnr.2; Lackner,
15. Auf!. 1983, Vor § 102. - Ähnlich, aber mit Vorrang des inländischen
Rechtsgutes Eser, in: Schönke/Schröder, 21. Auf!. 1982, Vor § 102 Rdnr.2;
Dtto, Grundkurs Strafrecht, Die einzelnen Delikte, 1977 (im folg.: BT), § 86 I,
S. 401. - Wieder anders Arzt/Weber, Strafrecht, Besonderer Teil, LH 5, 1982,
All, S. 10. - Endlich Reschke (Fn.l), S.181, der zusätzlich als 3. Rechtsgut
noch die Individualrechtsgüter der angegriffenen ausländischen Repräsen-
tanten als geschützt ansieht; vgl. hiergegen statt vieler BT-Drucks.I/1307,
S.39.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 127
29 Vgl. allgemein Blei, Strafrecht I, Allg. Teil, 18. Auf!. 1983 (im folg.: AT),
§ 24 II u. III, S. 89 ff.; Maurach/Zip!, AT 1 (Fn. 10), § 19 II A 1, S. 251 ff. - Für
die Frage, ob nur inländische oder auch ausländische Rechtsgüter durch eine
Strafnorm geschützt sind, gilt nichts anderes: Dies ist für jede Strafnorm
gesondert zu prüfen; vgl. insbesondere Nowakowski, Anwendung des inlän-
dischen Strafrechts und außerstrafrechtliche Rechtssätze, JZ 1971, 633, 634;
Oehler (Fn. 15), JR 1980, 485 ff.; Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdnr. 23.
30 Vgl. statt vieler Maurach/Zip!, AT 1 (Fn. 10), § 19 II A 3, S. 257 ff. - Die
Frage, ob dann beide Rechtsgüter gleichrangig nebeneinander stehen oder ob
eines dieser Rechtsgüter dem anderen im Range nachgeordnet ist (dazu
Maurach/Zip!, a. a. 0.), braucht hier nicht weiter verfolgt zu werden.
31 Den Begriff "Rechts gut" verstehen wir wie Jescheck, AT (Fn.2), S.6
und S. 205 ff.
32 Vgl. dazu statt vieler Rudolphi, Die verschiedenen Aspekte des Rechts-
gutsbegriffs, in: Festschrift für Honig, 1970, S. 151, 152 - 154.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 129
41 Vgl. dazu statt vieler Jescheck (Fn.36); Willms, in: LK, Vor § 102 Rdnr. 1.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 131
sätzliches Rechtsgut der §§ 102 ff. StGB ist42 ; sein Schutz ist in den
§§ 102 - 104 a StGB unmittelbar angelegt und deshalb nicht nur eine
sog. Reflexwirkung des Strafschutzes für die ausländischen Rechts-
güter43 •
Wie schon mehrfach angedeutet, werden auch diese Fragen bei der
späteren Erörterung unserer angekündigten Beispiele eine erhebliche
Rolle spielen; es ging vorerst vor allem darum, ihre grundsätzliche
Bedeutung für unser Thema darzutun, die weit über die ausgewählten
Fälle hinausgeht.
III.
9'
132 Hans Lüttger
58 Oehler hat die von ihm in: Festschrift für Mezger (Fn.24), S.99, gege-
bene (weitere) Begründung, der deutsche Gesetzgeber könne nicht Gehorsam
gegenüber ausländischen Normen verlangen, in seinen späteren Schriften -
soweit ersichtlich - nicht wiederholt. Es geht hier in der Tat ja auch nicht
um Gehorsam gegenüber ausländischen Normen, sondern gegenüber deut-
schen Strafgesetzen, die ggf. ein ausländisches Rechtsgut in ihren Schutz ein-
beziehen; im Ergebnis ebenso Nowakowski, JZ 1971,633,634.
59 Vgl. etwa: OLG Düsseldorf NJW 1982, 1242, 1243.
60 Vgl. z. B. BGHSt.22, 275, 285; 29, 85, 89; von Bubnoff, in: LK, § 113
Rdnr.7.
134 Hans Lüttger
Noch deutlicher wird dies bei der innerdeutschen Rechts- und Amts-
hilfe in Strafsachen nach dem RHG 82 • Bei ihr wird in Kauf genommen,
daß Gerichtsorganisation und Strafverfahren der DDR bei weitem
nicht den rechtsstaatlichen Vorstellungen unseres Grundgesetzes ent-
sprechen; und dennoch ist Rechts- und Amtshilfe - freilich unter den
sehr engen Voraussetzungen der §§ 1, 2 RHG - zulässig 83 • Auch hier
führt mithin nicht etwa "mangelnde Vertrauenswürdigkeit" der Justiz
der DDR zu einem generellen Ausschluß aktiver Unterstützung ihrer
Strafverfahren durch Leistung von Rechtshilfe 84, mag auch die Recht-
sprechung des Bundesverfassungsgerichts zu einer Reduzierung auf
seltene Fälle geführt haben 85 •
Auch im materiellen Strafrecht findet sich keine Stütze für die er-
örterte These. So schützen die §§ 102 -104 a StGB keineswegs nur "ver-
trauenswürdige" Staaten88 , sondern alle ausländischen Staaten, mit
denen die Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen
unterhält, auch wenn es sich dabei um kommunistische Staaten oder
um Diktaturen handelt 87 • Und in einem Strafverfahren wegen Mein-
eids - also bei einem Straftatbestand, der hinsichtlich des geschützten
öffentlichen Rechtsgutes "neutral" abgefaßt ist - hat der Bundes-
gerichtshof es abgelehnt, den Begriff "Gericht" i. S. des § 154 StGB da-
tisierung; seine Anwendung muß auch die Umstände des konkreten Falles
und die Art der erbetenen Rechtshilfe berücksichtigen; vgl. dazu Vogler
(Fn. 77), § 73 IRG Rdnr. 10 und 11. In der Praxis haben sich bereits Fallgestal-
tungen ergeben, in welchen aus diesem Grunde die Ablehnung des konkreten
Rechtshilfeersuchens als unzulässig mit der allgemeinen Begründung, die
Justiz des ersuchenden Staates biete derzeit keine Gewähr für die Einhal-
tung der international anerkannten Mindestregeln eines rechtsstaatlichen
Verfahrens, schlicht rechtsfehlerhaft war; vgl. dazu Vogler, a. a. 0., § 73 IRG
Rdnr.l0.
82 Vgl. Gesetz über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Straf-
sachen vom 2. Mai 1953 - BGBL 1953, Teil I, S. 161 ff.; in der jetzt geltenden
Fassung abgedruckt bei Kleinknecht/Meyer, 36. Aufl. 1983, Anh. D 1.
83 Vgl. BVerfGE 11, 150, 158 ff.; 37, 57, 64 ff.; eingehende Darstellung bei
Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, 23. Aufl. 1979 (im folg.: LR), 5. Bd., vor und zu
§§ 1, 2 RHG. - Allgemein zum Strafrechtssystem der DDR Jescheck, Straf-
recht und Strafrechtsanwendung in der sowjetisch besetzten Zone Deutsch-
lands, 1962.
84 Von einer derartigen Folgerung ist aus gesamtdeutschen Erwägungen
ganz bewußt abgesehen worden; vgl. Schäfer, in: LR, Vor § 1 RHG Rdnr.6
und 8 a.
85 Vgl. Schäfer, in: LR, Vor § 1 RHG Rdnr. 19, mit Nachweisen. Es bleiben
aber die übernahme eines Verfahrens aus der DDR und die Durchführung
eines neuen Verfahrens nach Verurteilung in der DDR gemäß §§ 10 ff. RHG.
88 Daß die §§ 102 ff. StGB ausländische Rechtsgüter schützen, ist oben Ab-
schnitt B I dargetan.
87 Vgl. dazu Jescheck (Fn. 15), Festschrift für Rittler, S.275, 282. - Ein
Regulativ liegt (nur und erst) in dem prozessualen Erfordernis der Ermäch-
tigung zur Strafverfolgung durch die Bundesregierung nach § 104 a StGB.
138 Hans Lüttger
von abhängig zu machen, ob das (fremde) Gericht, vor dem der Eid
geleistet worden war, nach rechtsstaatlichen Grundsätzen zusammen-
gesetzt gewesen sei und ob es nach solchen Grundsätzen amtiert habe88 •
In der Sache läuft dies auf eine Ablehnung der These vom Ausschluß
wegen präsumtiven Mangels an Vertrauens- und Schutzwürdigkeit
hinaus, denn der dort entschiedene Fall hätte sich dafür geradezu an-
geboten 89 • Auch sonst läßt sich im materiellen Strafrecht eine pau-
schale Diskriminierung der öffentlichen Rechtsgüter fremder Staaten
auf den bloßen "Verdacht" mangelnder Vertrauenswürdigkeit hin
nicht nachweisen. Die Vertreter dieser Lehre bemühen sich auch gar
nicht, diesen von ihnen propagierten Grundsatz aus dem geltenden
Recht abzuleiten. Die von ihnen als Begründung angeführte praktische
Schwierigkeit, daß der Richter in concreto die "Vertrauens- oder
Schutzwürdigkeit" kaum feststellen könne, rechtfertigt aber nicht die
weitergehende Schlußfolgerung, daß deshalb der Strafschutz ohne
Rücksicht auf die wirkliche Lage schon "auf Verdacht" von Rechts
wegen generell ausgeschlossen sei. Die befremdlichen Konsequenzen
dieser Lehre zeigen sich schließlich darin, daß hier gestandene Rechts-
staaten mit demselben Mißtrauen behandelt werden wie weltweit be-
rüchtigte Unrechtssysteme.
Aus alledem folgt: Einen Rechtsgrundsatz des Inhalts, daß fremde
öffentliche Rechtsgüter der hier in Rede stehenden Art wegen prä-
sumtiv mangelnder Vertrauenswürdigkeit der fraglichen Staatstätig-
keit und nicht feststellbarer Schutzwürdigkeit jener Rechtsgüter un-
besehen90 generell aus dem Strafschutz eliminiert seien, gibt es eben-
sowenig, wie es derartige generelle Schranken im Recht der inter-
88 Vgl. BGH GA 1955, 178 ff., betr. ein Gericht der DDR. - In einer Reihe
von Verfahren wegen falscher Verdächtigung gegenüber fremden Behörden
hat die Rechtsprechung die sich dort aufdrängende Frage nach der "Ver-
trauenswürdigkeit" der fremden Staatstätigkeit und der "Schutzwürdigkeit"
des fremden öffentlichen Rechtsgutes - und zwar zumeist durch ein Rekur-
rieren auf das nach einer verbreiteten Ansicht von § 164 StGB zusätzlich
geschützte Individualrechtsgut (vgl. dazu die Nachweise in Fn.42) - still-
schweigend übergangen; vgl. BGH NJW 1952, 1385, betr. eine Dienststelle
der Besatzungsbehörden; BGH JR 1965, 306 f., betr. eine polnische Dienst-
stelle; OLG Celle HESt. 1, 42, 45, betr. eine Dienststelle der Besatzungsmacht;
OLG Köln NJW 1952, 117, betr. die Volkspolizei der DDR.
89 Die Rechtsprechung hat vielmehr statt dessen betont, daß die Strafbar-
keit gerade hier mit Rücksicht auf besondere Konfliktslagen aus anderen
Erwägungen - insbesondere wegen Rechtfertigungsgründen - entfallen
könne; vgl. BGH GA 1955, 178 ff., betr. Meineid; ferner die bei Dreher/
Tröndle, § 34 Rdnr.22, mitgeteilte unveröffentlichte Entscheidung des BGH
vom 25. Juni 1953 - 5 StR 699/52 -, betr. Urkundenfälschung. - Grund-
legend Schroeder, Zur Strafbarkeit der Fluchthilfe, JZ 1974, 113 ff., mit zahl-
reichen Nachweisen.
90 Zu einem differenzierenden anderen Lösungsversuch vgl. unten Ab-
schnitt B 111 3.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 139
91 Vgl. Binding (Fn. 62); dazu Jescheck, Gehler und Niewerth wie Fn. 62.
92 Vgl. statt vieler BVerfGE 14, 245, 252; Jescheck, AT (Fn.2), § 12 III 2,
S. 86 f.
93 Vgl. dazu oben zu und mit Fn. 64 - 65.
94 Vgl. dazu Gehler und Schröder wie Fn. 62.
95 Vgl. zum Grundsatz von der gesetzlichen Bestimmtheit der Straftat-
bestände statt vieler BVerfGE 26, 41, 42 - 43; eingehende übersicht über die
Rspr. des BVerfGs bei Leibholz/Rinck, 6. Auf!. ab 1979, Art. 103 GG, Anm. 20;
ferner Jescheck, AT (Fn.2), § 15 III 3, S. 107 f., mit zahlreichen Nachweisen
aus der strafrechtlichen Literatur.
96 Vgl. Binding, Tröndle, Gehler und Schröder wie Fn. 62.
140 Hans Lüttger
einer Norm mit dem Grundgesetz vorauszugehen hat97 , wird die ganze
Frage schon aus methodischen Gründen gegenstandslos, wenn die
Auslegung des Strafrechts eine Lage, die das Eingreifen der Verfas-
sung heraufbeschwört, gar nicht erst entstehen läßt.
Da auch wir - wenngleich aus anderen (strafrechtlichen) Gründen -
nicht zu einer uneingeschränkten Einbeziehung fremder öffentlicher
Rechtsgüter kommen werden, brauchen wir uns auch zur Abstützung
unserer eigenen Ansicht mit dieser (verfassungsrechtlichen) pauschalen
Radikallösung nicht weiter zu befassen.
97 Vgl. dazu BVerfGE 50, 142, 152 - 153, mit zahlreichen Nachweisen. -
Zu einem Fall von methodisch verfehlter umgekehrter Prüfungs-Reihenfolge
vgl. Tröndle, in: LK, § 1 Rdnr. 51.
98 Vgl. Oehler, JR 1980, 485 ff.; ders., Urteils anmerkung, JR 1980, 381 f.;
ders., IntStrR (Fn.8), Rdnr. 233 - 240, 778 - 788, insbesondere Rdnr.233 und
778. Die Formulierungen schwanken im einzelnen; der Text folgt wörtlich
der Definition Oehlers, in: JR 1980, 485.
99 Vgl. Oehler, IntStrR (Fn. 8), Rdnr. 233.
100 Vgl. hierzu und zu den im Text folgenden Beispielen jeweils die Stel-
lungnahmen Oehlers in den bei Fn.98 bezeichneten FundsteIlen. - Wegen
der Rechtsgüter, die durch die im Text aufgezählten Strafnormen geschützt
sind, muß hier summarisch auf die Literatur verwiesen werden, ohne daß
wir auf bestehende Kontroversen eingehen können.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 141
1{J5 Vgl. beispielsweise zu §§ 153 ff., 145 d, 164 StGB OLG Düsseldorf NJW
1982, 1242 f.; zu § 164 StGB ferner BGHSt. 18,333 f.; zu § 170 b StGB BGHSt.
29, 85 ff.; zu § 370 AO OLG Hamburg JR 1964, 350 ff., und BayOLG JR 1980,
514 ff.; zu § 140 StGB BGHSt. 22, 282 ff.; zu §§ 271 ff. und 277 ff. StGB BGHSt.
18,333 - 334, und BayObLG NJW 1980, 1057 f.
106 Vgl. Rehbinder, Fragen an die Nachbarwissenschaften zum sog. Rechts-
gefühl, JZ 1982, 1 ff., mit zahlreichen Nachweisen.
107 SO Z. B. in JR 1980, 381, und in IntStrR (Fn. 8), Rdnr. 233.
108 Vgl. die Erörterungen Oehlers in IntStrR (Fn. 8), Rdnr. 778 und 779 a. E.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 143
könnte der Zusatz dem Kernsatz der Definition nicht die nötige Be-
stimmtheit geben, da er allenfalls eine - zwar nützliche, aber eben
nur - allgemeine Wertung erlaubt, mit deren Hilfe sich konkrete
Grenzlinien nicht finden lassen. Im Bemühen um ein korrektes Ver-
ständnis wollen wir jedoch auch die letztgenannte Deutungsmöglich-
keit berücksichtigen.
Eine kurze Bemerkung zur Anwendung dieser Lehre auf einige von
ihr erfaßte öffentliche Rechtsgüter mag das bisher Gesagte verdeut-
lichen: Bei der Rechtspflege (§§ 153 ff., 145 d, 164 StGB) läßt sich wegen
ihrer spezifischen Ausformung gewiß eine "enge Verbundenheit mit
der deutschen Rechtsorganisation" feststellen, so daß dieses Rechtsgut
nicht auf eine fremde Rechtspflege übertragbar ist 109 , wenngleich Gehler
die für die Struktur unserer Rechtspflege maßgeblichen Prinzipien nur
sehr knapp angedeutet hat 110 ; wir lassen daher offen, ob hier Raum
für Grenz- und Zweifelsfälle bleibt 111 • - Bei den Steuerforderungen
und den Leistungen der Sozialkassen (§ 370 Abs. 1 - 5 AO; § 170 b StGB)
läßt Oehler "die enge Verbundenheit" mit der deutschen Souveränität
bzw. Finanzhoheit als Ausschlußgrund genügen112 • Damit reduziert sich
aber die Verbundenheit dieser Rechtsgüter mit den deutschen staat-
lichen und sozialen Verhältnissen (und damit der Kernsatz der Defi-
nition) bereits auf eine Art von "Ursprungs-Zertifikat". Der Zusatz zur
Definition läuft hier ersichtlich leer, denn es ist schwerlich darzutun,
wodurch sonst diese Forderungen und Leistungen sich "inhaltlich" von
den entsprechenden fremden Rechtsinstituten unterscheiden würden. -
Bei den Rechtsgütern "öffentliche Ordnung, innere Sicherheit und Ge-
meinschaftsfriede" (§§ 111, 124 -127, 129, 129 a, 131 StGB), die Oehler
ebenfalls als nicht übertragbar bezeichnet 113 , müßte die Definition je-
doch zum gegenteiligen Ergebnis führen: Hier beschränken sich die
Besonderheiten der Rechtsgüter auf ihre "Lokalisation" und den darin
liegenden Bezug auf die staatlichen Verhältnisse der Bundesrepublik.
Es ist schon schwer, darin eine Verbundenheit "mit den Eigenarten des
109 Vgl. Gehler, IntStrR (Fn. 8), Rdnr.234. - Hingegen hat Gehler, a. a. G.,
Rdnr.782, ohne Rücksicht auf die Definition die Verknüpfung der Rechts-
pflege mit der Souveränität als Ausschlußgrund genügen lassen; darüber so-
gleich im Text.
110 Vgl. Gehler, IntStrR (Fn. 8), Rdnr. 234 und 782.
111 Solche Grenz- und Zweifelsfälle können nicht auftauchen, wenn man
die Verknüpfung der Rechtspflege mit der Souveränität als Ausschlußgrund
genügen läßt (so Gehler, IntStrR [Fn. 8], Rdnr.782), wohl aber, wenn man
die im Text geschilderte Definition zugrunde legt (so Gehler, a. a. G., Rdnr.
234), denn es gibt auch der deutschen Rechtsstruktur sehr eng verwandte
Rechtspflegesysteme, bei denen es ohne Herausarbeitung der als maßgeblich
erachteten Strukturprinzipien schwer fällt, zu sagen, daß das Rechtsgut
"Rechtspflege" einer Übertragung auf sie "inhaltlich" nicht fähig wäre.
112 Vgl. Gehler, JR 1980,486; ders., IntStrR (Fn. 8), Rdnr. 236 und 786.
113 Vgl. Gehler, IntStrR (Fn. 8), Rdnr. 237 und 781.
144 Hans Lüttger
4. Wenn wir richtig sehen, haben wir damit das Feld derjenigen Leh-
ren abgesteckt, welche die Frage nach dem Strafschutz für fremde
öffentliche Rechtsgüter durch Ausschlußgründe einengen wollenll8 ; wir
haben sie sämtlich verworfen. Damit ist jedoch für unser Problem noch
nichts verloren: In einem primär mit dem Strafschutz für nationale
Rechtsgüter befaßten Strafrechtssystem kommt es gar nicht (so sehr)
darauf an, in welchen Fällen eine Erstreckung des Strafschutzes auf
fremde Rechtsgüter ausscheidet, sondern vielmehr darauf, ob Krite-
rien vorliegen, die umgekehrt ihren Einschluß begründen117 • Anders
ausgedrückt: Auch wenn (negativ) kein solcher Ausschlußgrund vor-
liegt, bedarf es noch (positiv) der Suche nach einem Einbeziehungs-
grund. Dieser anderen Seite unseres Themas wollen wir uns nunmehr
zuwenden.
114 Hier zeigt sich auch die Gefahr, daß die als Differenzierungsmethode
gedachte Lehre (Fn. 102) zu einem Pauschalurteil über öffentliche Rechtsgüter
wird.
115 Vgl. dazu BVerfGE 50, 142, 164 - 166.
116 Nicht hierhin gehört die Lehre Nowakowskis, JZ 1971, 633, 634, welche
die Frage nach dem "Wesensgehalt" der inländischen Rechtsgüter und nach
dem "Sinngehalt" der entsprechenden ausländischen Rechtsgüter erst ins
Spiel bringt, nachdem festgestellt ist, daß die jeweilige Strafvorschrift über-
haupt ausländische Rechtsgüter in den nationalen Strafschutz einbezieht.
117 Vgl. oben Abschnitt B III 1.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 145
IV.
In Rechtsprechung und Lehre gibt es eine Reihe von Theorien, die
sich bei "neutral" abgefaßten Straftatbeständen um die Aufstellung
von Kriterien für den Einschluß fremder Rechtsgüter in den natio-
nalen Strafschutz bemühen. Sie betreffen gelegentlich nur einzelne
Strafnormen oder bestimmte Gruppen von Strafvorschriften; in ande-
ren Fällen fehlt ihnen eine solche gegenständliche Beschränkung. Öfter
sind in diesen überlegungen fremde Individualrechtsgüter und fremde
öffentliche Rechtsgüter verbunden; unser Augenmerk gilt aber vor-
nehmlich den letzteren, wie es der Begrenzung unseres Themas ent-
spricht.
127 Vgl. z. B. BGHSt.21, 277, 281; 29, 85, 88; OLG Saarbrücken NJW 1975,
506,507; OLG Stuttgart NJW 1977, 1601, 1602; BayObLG NJW 1980, 1057.
128 Vgl. Doehring, Die allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Fremden-
rechts und das deutsche Verfassungsrecht, 1963, S. 19 ff.; Bleckmann, Grund-
gesetz und Völkerrecht, 1975, S. 342.
128 Vgl. Schnitzer, Art. "Fremdenrecht", in: StTupp!Schlochauer, Wörter-
buch des Völkerrechts (WVR), 1. Bd. 1960, S.566, 568; Doehring (Fn. 128),
S. 81; Bleckmann (Fn. 128), S.344; VerdrosslSimma, Universelles Völkerrecht.
2. Aufl. 1981, S. 587; Seidl-Hohenjeldern, Völkerrecht, 5. Aufl. 1984, Rdnr. 1199;
Jescheck (Fn.5), Festschrift für Maurach, S.579, 583 = in: Beiträge, S.615,
618 - 619; ders., AT (Fn.2), § 18 III 8, S.141; Vogler, NJW 1977, 1866, 1867;
Lackner, Vor § 3 Arun.5; Hettinger, Die völkerrechtliche Verpflichtung der
Staaten zur Bestrafung einzelner und das materielle Strafrecht der Bundes-
republik Deutschland, jur. Diss. München, 1965, S. 40 ff.; mit anderer Begrün-
dung auch Reschke (Fn. 1), S. 136 ff.
130 Vgl. zum Verhältnis zwischen völkerrechtlichem Fremdenrecht und
Art.25 GG allgemein Doehring und Bleckmann wie Fn.128, passim; ferner
Doehring, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik
Deutschland, VVDStRL, Bd.32, 1974, S.7 ff.; Bleckmann, Allgemeine Grund-
rechtslehren, 1977, S. 90 ff.
lSl Vgl. dazu OLG Karlsruhe NJW 1978, 1754, 1756; eingehend zum Ver-
hältnis zwischen Art.25 GG und Art. 3 GG Doehring und Bleckmann wie
Fn. 128 und 130, passim; vgl. zu verfassungsrechtlichen Fragen des Eigentums-
schutzes für Ausländer auch Reschke (Fn. 1), S. 136 ff.
132 Vgl. Jescheck, Vogler und Lackner wie Fn.129; Tröndle, in: LK, Vor
§ 3 Rdnr. 24; Eser, in: SchönkejSchröder, Vor § 3 Rdnr. 15 und 22.
10'
148 Hans Lüttger
133 Vgl. Wengler, Völkerrecht, Bd.lI, 1964, S.1054. Wengler verlangt für
das Eigentum fremder Staaten in völkerrechtlicher Sicht sogar einen - an
Person und Eigentum von Diplomaten orientierten - verstärkten Schutz;
das kann hier auf sich beruhen.
m Vgl. Dahm, Völkerrecht, Bd. I, 1958, S. 506.
135 Vgl. Schröder, Urteilsanmerkung, JR 1964, 351, 353; Jescheck, AT
(Fn.2), § 18 III 8, S.141; Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdnr.37; Reschke (Fn.1),
S. 139 ff., mit weiteren Einzelheiten.
138 Vgl. zu ähnlichen Formeln im Völkerrecht etwa BVerfGE 15, 25, 34;
16, 27, 33; 46, 342, 367; Verdross/Verosta/Zemanek, Völkerrecht, 5. Aufl.. 1964,
S.149.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 149
sprechung derartiges auch nur versucht hätte; sie hat vielmehr zur
Bejahung ganz summarische Beurteilungen genügen lassen137 • Dies mag
daran liegen, daß der hohe Anspruch jener Floskel in der Praxis gar
nicht erfüllbar ist; eben dies zeigt aber die erste Schwäche der Formel
an. - Für besonders mißlich halten wir so dann die Wendung von den
"zivilisierten Staaten"; sie hat hier zentrale Bedeutung, weil es der
Formel zufolge nur auf die Gemeinsamkeiten dieser "zivilisierten"
Staaten ankommen soll, während die Befindlichkeiten anderer - eben
"nicht zivilisierter" - Staaten per definitionem unerheblich sein sol-
len. Damit stellt sich unentrinnbar die Frage, nach welchen Kriterien
zu beurteilen ist, welche Staaten als "zivilisiert" anzusehen wären:
Soll es auf die Erreichung eines Mindeststandes "kultureller" Ent-
wicklung ankommen und wie soll dieser angesichts der gravierenden
Unterschiede in den Kulturen der Völker bestimmt werden? Soll die
"rechtliche Struktur" der Staaten maßgeblich sein und was soll dann
angesichts der Vielfalt der staatlichen Systeme und der Unbegrenzt-
heit der Anknüpfungspunkte einer solchen rechtlichen Bewertung als
unverzichtbarer "Mindeststandard" gelten? Soll auch der organisato-
rische, wirtschaftliche oder soziale Entwicklungsstand eine Rolle spie-
len und wie weit muß dann ein Staat "entwickelt" sein, um "zivili-
siert" zu heißen? Sollen schließlich auch junge Staaten am "Zivilisa-
tionsgrad" alter Staaten gemessen werden, was immer dies bedeutet?
Und wie sollen endlich Strafgerichte feststellen, ob ein Staat solchen
oder anderen Mindestanforderungen genügt, ohne in unvertretbare
Pauschalurteile mit allen ihren (auch politischen) Implikationen ab-
zugleiten? Wir müssen nicht erst beweisen, daß solche Fragen schlicht
unlösbar sind. Es sollte zu denken geben, welches Schicksal der in
Art. 38 Abs. 1 lit. c der Satzung des IGH138 verwendete Begriff "civilized
natiOns" erlitten hat: Es besteht heute weithin Einigkeit darüber, daß
dieser historisch erklärbare Begriff antiquiert ist, daß die dort impli-
zierte Unterscheidung zwischen zivilisierten und anderen Staaten hin-
fällig ist und daß die Formel von den "civilized nations" entweder
leer läuft oder ein Synonym für alle souveränen Staaten - namentlich
die Mitglieder der UNO - ist 13o • Jedenfalls täuscht die hier bespro-
chene Formel mit ihrem Rekurs auf die "zivilisierten Staaten" eine
137 Vgl. z. B. BGHSt. 18, 333, 334; 21, 277, 281. - Daß umgekehrt zur Ver-
neinung der Formel die negativ ausfallende Prüfung einzelner Auslands-
rechte genügen soll, ergibt sich z. B. aus OLG Saarbrücken NJW 1975, 506,
508; BGHSt. 29, 85, 89.
138 Vgl. Statut des Internationalen Gerichtshofs i. d. F. vom 26. Juni 1945
- BGBl. 1973, Teil 11, S. 505 ff.
139 Vgl. statt vieler Verdross/Verosta/Zemanek (Fn.136); Kimminich, Ein-
führung in das Völkerrecht, 2. Auf!. 1984, S. 243 ff.; Billib, Die allgemeinen
Rechtsgrundsätze gemäß Art. 38 I c des Statuts des Internationalen Gerichts-
hofs, jur. Diss. Göttingen, 1972, S. 45 ff., mit Nachweisen.
150 Hans Lüttger
Differenzierung vor, die nicht realisierbar ist; das ist ihre zweite
Schwäche.
Auf Bedenken stößt auch die Methode, mit der die Rechtsprechung
feststellt, ob ein von den zivilisierten Staaten "anerkanntes Rechtsgut"
vorliegt. In den Entscheidungen, die sich damit näher befassen, dient
als Kriterium hierfür der Umstand, ob das betreffende Rechtsgut in
den ausländischen Staaten strafrechtlich geschützt ist 140 . Gelegentlich
hat die Rechtsprechung sogar darauf abgestellt, ob Unterschiede in
der Ausgestaltung der materiellrechtlichen Tatbestände und Besonder-
heiten in den Verfahrensvoraussetzungen - verglichen mit dem deut-
schen Strafrecht - bestehenl41 ; andere Entscheidungen haben solche
Unterschiede für nicht maßgeblich erklärt H2 • Geblieben ist jedoch das
Grundkonzept: Das Vorhandensein von Strafnormen bedeutet Aner-
kennung der Rechtsgüter durch den ausländischen Staat; das Fehlen
solcher Strafnormen bedeutet Nichtanerkennung143 • Dies ist aber alles
andere als selbstverständlich; um das zu erläutern, wollen wir ver-
gleichsweise vom deutschen Recht ausgehen und dann weiterfragen:
In der deutschen Rechtsgüterlehre ist es ein altes Problem, ob Rechts-
güter erst durch das Strafrecht geschaffen werden oder ob Rechtsgüter
Werte (Interessen, Zustände, Funktionseinheiten) sind, die dem Straf-
recht vorgegeben sind und durch dieses lediglich - und zwar nur unter
bestimmten Voraussetzungen - einen besonderen Schutz beigemessen
erhaltenl44 • Wir folgen der letztgenannten, heute überwiegend vertre-
tenen Auffassung, die auch das Bundesverfassungsgericht praktiziert
hat, als es erörterte, wann ein (dort: in der Verfassung) vorgegebenes
Rechtsgut mit außerstrafrechtlichen Mitteln geschützt werden darf und
wann es mit den Mitteln des Strafrechts geschützt werden muß145. Das
heißt aber: Die Pönalisierung von Angriffen ist nicht der Existenz-
grund eines Rechtsgutes; das Fehlen einer schützenden Strafnorm ist
allein kein Beweis für seine Nichtexistenz; Existenz und "Anerken-
nung" eines Rechtsgutes können sich nicht nur in strafrechtlichen
140 VgI. z. B. OLG Saarbrücken NJW 1975, 506, 508; OLG Stuttgart NJW
1977, 1601, 1602; OLG Frankfurt NJW 1978, 2460; BGHSt.29, 85, 89 (sämtlich
zu § 170 b StGB); ferner BGHSt. 21,277,282 (zur StVO).
141 VgI. OLG Saarbrücken NJW 1975, 506, 508; OLG Stuttgart NJW 1977,
1601, 1602; OLG Frankfurt NJW 1978,2460; BGHSt. 29, 85, 89.
142 VgI. BGHSt. 21,277,282; OLG Karlsruhe NJW 1978, 1754, 1756.
146 Zur Rechtsgüterlehre in ausländischen Rechten kann hier nur auf die
Literatur-Nachweise bei Jescheck, AT (Fn.2), S. 203 ff., und S.206, Anm.11,
verwiesen werden.
147 Zur Rechtsvergleichung betr. Verwaltungsstrafrecht und Ordnungs-
widrigkeitenrecht vgl. Mattes, Untersuchungen zur Lehre von den Ordnungs-
widrigkeiten, 1. Halbbd., 1977, S. 183 ff.
152 Hans Lüttger
Denkbar ist weiter, daß die Formel nur eine andere Umschreibung
für die schon behandelte Formel von den "allen zivilisierten Staaten
gemeinsamen Rechtsgütern" sein soll. Daß daraus jedoch kein Schluß
auf die Einbeziehung fremder Rechtsgüter in den nationalen Straf-
schutz gezogen werden kann, haben wir soeben eingehend dargetan.
Im Zusammenhang mit dem hier in Rede stehenden Schutzaspekt
könnte die Formel schließlich dahin zu verstehen sein, daß es sich um
(fremde) Rechtsgüter handele, die auch deutschen Strafschutz verdien-
ten; dann wäre die Formel inhaltsgleich mit der nunmehr zu erörtern-
den letzten Version. Eine eigenständige, zum Ziel führende Bedeutung
ist jedenfalls nicht zu erkennen.
151 Zu den (übrigens nicht immer scharf von den "staatlichen" Rechts-
gütern abgrenzbaren) "überstaatlichen Gemeinschaftswerten" rechnen zahl-
reiche Rechtsgüter, bei denen eine solche "Internationalisierung" geradezu
absurd wäre; vgl. die Aufzählung bei Maurach/Zip! (Fn. 149). - Zu den (nur
teilweise durch die Gesetzeslage überholten) Folgen einer solchen "Inter-
nationalisierung" bei dem Rechtsgut "Sicherheit des Straßenverkehrs" vgl.
Lackner, Urteilsanmerkung, JR 1968, 268 ff. (zu BGHSt. 21, 277 ff.).
152 Vgl. OLG Saabrücken NJW 1975, 506, 507, und OLG Karlsruhe NJW
1978, 1754, 1755.
153 Daran ändert es nichts, daß diese Wendungen in der Rspr. vornehmlich
an Individualrechtsgütern erprobt worden sind, die wir bereits mit Hilfe
völkerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Erwägungen aus dem Anwen-
dungsbereich der besprochenen Formeln herausgenommen haben (vgl. oben
Abschnitt B IV 1 a); denn sie sind nicht expressis verbis hierauf beschränkt
worden und haben prinzipielle Bedeutung auch für solche öffentlichen Rechts-
güter, welche die Rspr. - wie erörtert - als "allgemein anerkannte Rechts-
werte" ansieht.
154 Hans Lüttger
sehe Frage l5 \ von der erst darzutun ist, ob und welche Rolle sie bei
dieser Auslegung spielt; m. a. W.: ob mit ihrer Hilfe fremde Rechts-
güter in den (primär für nationale Rechtsgüter geltenden) Strafschutz
einbezogen werden können. Dabei stehen hier gar nicht die anerkann-
ten vielfältigen Verflechtungen zwischen Kriminalpolitik und Straf-
recht zur Debatte: Es geht nicht um die Verknüpfung der Kriminal-
politik mit den Allgemeinen Lehren des Strafrechts155 • Es geht auch
nicht um den Einfluß der kriminalpolitischen Frage des Strafschutz-
bedürfnisses auf die teleologische Auslegung der Merkmale eines
Straftatbestandes, dessen geschütztes Rechtsgut schon feststeht 156 • Da
wir sämtliche erörterten Formeln für die Einbeziehung fremder Rechts-
güter abgelehnt haben, ist unsere Ausgangslage eine andere: Es geht
um die Frage, ob aus dem kriminalpolitischen Grunde der "Schutz-
würdigkeit" bzw. des "Schutz-verdienens" ein fremdes Rechtsgut in
den nationalen Strafschutz einbezogen werden kann, für dessen Ein-
schluß sonst kein Anhalt besteht. Diese Frage ist eindeutig zu ver-
neinen: Wenn die Strafbarkeit im Gesetz selbst nicht mehr angelegt
ist, kann dieser Mangel durch noch so gewichtige kriminalpolitische
Gründe nicht überspielt werden I57 • Die Bestimmung der schutzwürdi-
gen Werte ist eine Aufgabe des Gesetzgebers, der damit die "Straf-
zone" festlegt l58 ; nur er kann daher ein hinsichtlich schutzwürdiger
ausländischer Rechtsgüter bestehendes Vakuum schließen I59 ; wollte der
Richter derartiges unternehmen, so würde er in den Kompetenzbereich
des Gesetzgebers einbrechenl60 • In der Sache läge dann nicht mehr
Auslegung, sondern unzulässige Analogie vor, denn dies wäre eine
Ausdehnung der Strafzone über den vom gesetzlichen Tatbestand ge-
zogenen Rahmen hinaus auf eine vom Gesetz nicht geregelte Materie;
mangels gesetzlicher Grundlage für die Kriminalisierung wäre es
unzulässige freie Rechtsfindung. Art. 103 Abs.2 GG verbietet dies un-
zweideutig.
Rein vorsorglich wollen wir anfügen, daß wir auch Bedenken da-
gegen hätten, bei der Suche nach dem geschützten Rechtsgut solchen
kriminalpolitischen Erwägungen dann eine (auch nur) unterstützende
Rolle zuzubilligen, wenn die (sonstige) Auslegung eines Straftatbestan-
des den Einschluß fremder Rechtsgüter immerhin als möglich, jedoch
nicht als sicher erscheinen ließe. Erwägungen über die Schutzwürdig-
keit fremder öffentlicher Rechtsgüter sind seit jeher ein Beispiel für
den zeitlichen Wandel der Anschauungen und für ihre Abhängigkeit
von politischen Wertungen l61 ; die komplexen Probleme, die sich all-
gemein mit den Stichworten "Strafwürdigkeit" und "Strafbedürftig-
keit" verbinden l62 , kommen hinzu; vielfach sind deshalb unterschied-
liche Entschließungen möglich. Die Beurteilung der "Schutzwürdig-
keit" fremder öffentlicher Rechtsgüter ist daher eine genuin legis-
latorische Aufgabe; in der Hand des Richters müßte es zwangsläufig
zu unterschiedlichen Deutungen der Strafzone kommenl83 • Dies bedeu-
tet: Wenn das von einer Strafnorm geschützte Rechtsgut festliegt, mag
es (gemäß der h. M.) angehen, mit Hilfe einer kriminalpolitisch orien-
tierten teleologischen Interpretation der Tatbestandsmerkmale den
Strafschutz dieses Rechtsgutes enger oder weiter zu bemessen, denn
hier ändert sich nicht die Identität der Strafzone, nur ihre Ränder
verschwimmen. Wenn aber kriminalpolitische Erwägungen bereits den
Ausschlag dafür geben, ob und welche fremden Rechtsgüter in den
Strafschutz einbezogen werden, dann betrifft dies die Strafzone selbst,
denn damit ändern sich die zu ihr zu zählenden Rechtsgut-Materien.
In diesem Falle kann der Rechtsunterworfene die Abgrenzung zwi-
schen Erlaubtem und Verbotenem schon dem Schutzgegenstand nach
nicht mehr durch Auslegung des Straftatbestandes erkennen l84 ; krimi-
nalpolitische Wertungen, die hinsichtlich der Regelungsmaterie objek-
tiv und subjektiv unterschiedlich ausfallen können, sind für ihn un-
berechenbar. Hier zeigt sich eine entscheidende Einbuße des Bestimmt-
heitsgebots, die sowohl die Garantiefunktion der Strafgesetze als auch
die von den Strafnormen ausgehende Generalprävention in Mitleiden-
schaft zieht. Fazit: Wo erst kriminalpolitische Erwägungen den Aus-
schlag dafür geben, ob ein fremdes Rechtsgut in den Strafschutz ein-
zubeziehen ist, zwingt der Grundgedanke des Art. 103 Abs.2 GG dazu,
diese Entscheidung der Prärogative des Gesetzgebers zu überlassen.
161 Vgl. dazu statt vieler von Weber (Fn. 1), Festgabe für von Frank, Bd.2,
S. 269, 283 - 284, und die Nachweise in OLG Hamm JZ 1960, 576 ff.
162 Vgl. Müller-Dietz (Fn.145), S. 32 H.; Günther, JuS 1978, 8, 11 - 13, mit
zahlreichen Nachweisen.
163 Vgl. auch die Warnungen von Schröder, JZ 1968, 241, 244. - Subjektiv
eigenmächtige Entscheidungen des Richters über die Reichweite der Straftat-
bestände zu verhindern, ist aber gerade Sinn des Bestimmtheitsgebots; vgl.
Jescheck, AT (Fn. 2), § 13 III 3, S. 108.
164 Vgl. dazu die Nachweise in Fn. 95.
156 Hans Lüttger
Das sollte zu ertragen sein, denn der "Schmerz der Grenze" ist ohne-
hin unaufhebbar.
e) Bei alledem haben wir jene versprengten Einzelentscheidungen
außer Betracht gelassen, die einfach aus der "neutralen" Fassung von
Strafvorschriften gefolgert haben, daß (deshalb) auch fremde Rechts-
güter in den Strafschutz einbezogen seien. Wir haben nämlich ge-
glaubt, daß Absurdes nicht erst aufwendig dargestellt werden müsse:
Die "neutrale" Fassung dieser Tatbestände ist ja die Voraussetzung
unseres Problems, nicht seine Lösung.
Damit haben wir alle bisher besprochenen Formeln abgelehnt. Die
auffällige Zurückhaltung der Standardliteratur gegenüber diesen For-
meln hat sich als wohlberechtigt herausgestellt. Zur Abrundung des Bil-
des sind jedoch noch einige andere Fragen zu untersuchen.
170 Ablehnend Sandweg (Fn. 13), S. 113 ff.; wohl auch Gehler, IntStrR
(Fn. 8), Rdnr.232.
171 So auch Nagler (Fn.17), Festgabe für Heilborn, S.31, 42 ff.; Sandweg
(Fn. 13), S. 113 ff.
172 Vgl. Nr.186 ff. der RiVASt. (Richtlinien für den Verkehr mit dem Aus-
land in strafrechtlichen Angelegenheiten), abgedruckt unter I A 4 in GTÜtz-
ner!Pötz (Fn. 77).
173 Vgl. Wengler (Fn. 133), Bd.2, S. 962 ff. und 968; Berber, Lehrbuch des
Völkerrechts, 1. Bd., 1975, S.309; Seidl-Hohenveldern (Fn. 129), Rdnr. 1085,
1133 - 1135. - Vgl. auch Nr. 160 RiVASt. (Fn. 172).
17' Vgl. Binding und Nagler wie Fn. 166.
175 Das Wort "vogelfrei" stimmt in Ansehung allgemeiner Delikte (z. B.
§§ 185 ff., 223 ff., 240 StGB) ohnehin nicht.
170 Vgl. Sandweg (Fn. 13), S. 113 ff.
b) Ein ebenfalls sehr alter Streit dreht sich um die Frage, ob die
Strafvorschriften über Aussage- und Eidesdelikte (§§ 153 ff. StGB)
außer der deutschen auch eine ausländische Rechtspflege schützen187 •
Eine - meist ältere - Minderheitsmeinung bejaht dies 188 ; die heute
189 Vgl. Oehler (Fn.24), Festschrift für Mezger, S.83, 99; Vogler (Fn.3),
Festgabe für Grützner, S. 149, 151; Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdnr.28; Eser, in:
Schönke/Sch.röder, Vor § 3 Rdnr.22; Rudolphi, in: SK, § 3 Rdnr. 13; Samson,
in: SK, Vor § 153 Rdnr.4; Oehler (Fn.8), IntStrR, Rdnr.234 und 782; Dreher/
Tröndle, § 3 Rdnr.2 a, und § 153 Rdnr.2; Vogler, Strukturen und Methoden
der internationalen und regionalen Zusammenarbeit in der Strafrechtspflege,
Generalbericht, ZStW 96 (1984), S. 531, 540.
190 Vgl. oben Abschnitt B III 2 und 3.
IUI Vgl. oben Abschnitt B IV l.
192 Vgl. Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrags vom
19. Juni 1951 über die Rechtsstellung ihrer Truppen (NATO-Truppenstatut)
- BGBL 1961, Teil II, S. 1190 ff.
193 Vgl. Fn. 184.
189 Vgl. Neubauer, AVR 1964, 34,41; Sennekamp, NJW 1983, 2731, 2733. -
Art. 29 Abs. 1 Satz 2 ZusAbk. hat daher zu einer gesonderten Einbeziehung
der im Land BerIin anwesenden Truppen der Drei Mächte in den Strafschutz
nach Art. 7 des 4. StAG geführt.
200 Vgl. Wengler (Fn.133), Bd.2, S. 1415 - 1430; Seidl-Hohenveldern (Fn.
129), Rdnr. 1339.
Vereinzelt ist gesagt worden, zwar sei durch die §§ 153 ff. StGB allein
die inländische Rechtspflege geschützt; dies dürfe jedoch nicht in einem
zu engen organisatorischen Sinne verstanden werden; Organe der
"inländischen Gerichtsbarkeit" seien daher auch die im Inland be-
stehenden Gerichte der verbündeten NATO-Truppen201 • Dieser Argu-
mentation kann nicht gefolgt werden202 : Wenn Rechtsprechung und
Rechtslehre von einem ,,inländischen" Rechtsgut sprechen, dann ist
dies ein Synonym für ein nationales, deutsches Rechtsgut; dabei er-
folgt die Unterscheidung zwischen deutschen und ausländischen Rechts-
gütern nach der Nationalität der (individuellen oder öffentlichen)
Rechtsgutträger 203 • Es gibt keinen Anhalt dafür, daß den Aussage- und
Eidesdelikten ein von der allgemeinen Rechtsgüterlehre abweichender
Rechtsgutsbegriff eigen sein könnte. Bei den §§ 153 ff. StGB ist daher
mit dem Rechtsgut "inländische Rechtspflege" ausschließlich die Rechts-
pflege der Bundesrepublik Deutschland - und zwar ohne Rücksicht
auf den Raum des Amtierens ihrer Organe204 - gemeint, nicht aber
eine Rechtspflege mit ausländischem Rechtsgutträger, selbst wenn die
fremde Justiz im (deutschen) Inland amtiert; denn der Ort des Tätig-
werdens der Organe besagt nichts über die Nationalität der dahinter-
stehenden Rechtsgutträger. Mit dieser Begründung lassen sich also die
Militärgerichte der NATO-Stationierungstruppen nicht in den Straf-
schutz der §§ 153 ff. StGB einbeziehen.
Weiter ist versucht worden, die Anwendbarkeit der §§ 153 ff. StGB
mit der Erwägung zu begründen, die Gerichte der in der Bundesrepu-
blik stationierten NATO-Truppen seien aufgrund des NATO-Trup-
penstatuts und des Zusatz abkommens den Organen der inländischen
Strafrechtspflege gleichgestellt205 • Vereinzelt ist dies näher erläutert
worden mit den vertraglichen wechselseitigen Verpflichtungen zur
Unterstützung in Strafverfahren; ferner mit dem Hinweis, der Be-
griff der zuständigen Stelle in den §§ 153 ff. StGB sei völkerrechts-
freundlich auszulegen; und schließlich mit der These, die Justiz des
Vertragspartners entscheide materiell über den deutschen Strafan-
204 Vgl. dazu insbesondere den Fall, daß ein deutsches Gericht mit Ermäch-
tigung der ausländischen Regierung eine Beweisaufnahme im Ausland durch-
führt; Nr. 189 ff. RiVASt. (Fn. 172).
205 Vgl. Maurach/Schroeder, BT 2 (Fn.24), § 68 II 2, S. 136, und § 73 III 2,
S. 173 f.; AG Tauberbischofsheim mit Anm. von Theisinger, NStZ 1981, 221 f.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 163
206 Vgl. AG Tauberbischofsheim mit Anm. von Theisinger, NStZ 1981, 221 f.
207 Vgl. Fn. 184.
208 Vgl. zu einer verwandten Problematik Vogler, NJW 1977, 1866, 1867.
209 Vgl. die Nachweise in Fn. 183, 185, 186,235 und 236.
210 Vgl. dazu: BVerfGE 6, 309, 362 f.; 18, 112, 121; 31, 58, 75 ff.; Doehring
(Fn. 128), S. 122 ff.; Isensee, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in
der Bundesrepublik Deutschland, VVDStRL, Bd. 32, S. 45, 57 ff.
211 Vgl. die Nachweise in Fn. 95.
11·
164 Hans Lüttger
(2) In der Literatur findet sich vereinzelt die These, der Schutz-
bereich der §§ 153 ff. StGB erstrecke sich auch auf Verfahren vor inter-
nationalen und supranationalen Gerichtshöfen mit für die Bundes-
republik Deutschland relevanter Entscheidungsgewalt223 bzw. auf über-
staatliche Rechtsprechungsgremien, an denen die Bundesrepublik be-
teiligt seF24. Das trifft in dieser Form nicht zu. Dabei brauchen wir
uns auf die wissenschaftlichen Kontroversen um den Begriff "supra-
national" nicht einzulassen; denn supranationale Organisationen sind
in jedem Falle internationale Organisationen, wenn auch solche eines
besonderen Typs 225. Entscheidend für uns ist nur die Frage, ob es sich
um internationale Organisationen mit eigener (wenn auch auf be-
stimmte AufgabensteIlungen beschränkter) Völkerrechtssubjektivität
handelt, so daß ihre etwaigen Gerichtshöfe eine für die Mitgliedstaa-
ten - und damit ggf. für die Bundesrepublik Deutschland - "fremde"
Hoheitsgewalt ausüben. Das ist für die hier interessierenden und in
der strafrechtlichen Literatur oft erwähnten Beispiele der Fall:
Die Europäischen Gemeinschaften (EAG, EWG und Montanunion)
sind (von den Mitgliedstaaten verschiedene) Völkerrechtssubjekte; ihre
Organe üben eine selbständige, unabhängige öffentliche Gewalt und
nicht etwa deutsche öffentliche Gewalt aus. Der Umstand, daß die
Bundesrepublik an den Europäischen Gemeinschaften beteiligt ist und
219 Vg!. Entwurf eines 4. StÄG - BT-Drucks. 2. WP/3039; Schrift!. Bericht
- BT-Drucks. 2. WP/3407 und zu 3407; Prot. der 190., 191. und 192. Sitzung
des BT, 2. WP, S. 10850 ff., 10908 ff. und 10930 ff.; dazu Lackner, Das 4. Straf-
rechtsänderungsgesetz, JZ 1957,401 f. und 405 f.
220 So BMJ von Merkatz, BT-Prot. 2. WP, S. 10854.
221 Vg!. Entwurf des 4. StÄG - BT-Drucks. 2. WP/3039, Begründung S.22.
222 Vgl. BVerfGE 47, 109, 124, - eine überaus bedeutsame KlarsteIlung der
Grenzen jeder Interpretation.
223 So Willms, in: LK, Vor § 153 Rdnr.3.
226 Vgl. BVerfGE 22, 293, 296 - 297; 37, 271, 277 - 278; Tomuschat, in: BK,
Art. 24 GG, Rdnr.39 und 42; Seidl-Hohenveldern (Fn.225), Rdnr.0107, 0302,
0306; ders. (Fn. 129), Rdnr. 602, 605, 609 f.
227 Vgl. Art. 3 u. 4 des Abkommens über gemeinsame Organe für die euro-
päischen Gemeinschaften vom 25. März 1957 - BGBL 1957, Teil 11, S. 1156 ff.,
neueste Fassung in: SartoTius 11, Nr.220.
228 Vgl. Berber (Fn.173), 3. Bd., § 3111, S. 285; Seidl-Hohenveldern (Fn.225),
Rdnr. 0112; ders. (Fn. 129), Rdnr. 609 d und 609 zzg; Bleckmann (Fn. 128), S. 153.
229 Vgl. Art. 19,38 ff. der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten vom 4. November 1950 - BGBL 1952, Teil 11, S.686, 953;
neueste Fassung in: SartoTius 11, Nr. 130.
230 Vgl. Tomuschat, in: BK, Art. 24 GG Rdnr.110; Rojahn, in: von Münch,
2. Aufl. 1983, Art.24 GG Rdnr. 24 a; ferner allgemein Seidl-Hohenveldern
(Fn. 225), Rdnr. 0225 und 0240.
231 Vgl. Teil 111, Art. 12 ff. des übereinkommens über die Errichtung einer
Sicherheitskontrolle auf dem Gebiet der Kernenergie vom 20. Dezember 1957
- BGBL 1959, Teil 11, S. 985 ff.
232 Vgl. 111. Teil, Art. 6 des Vertrages zur Regelung aus Krieg und Besat-
zung entstandener Fragen vom 26. Mai 1952 - BGBL 1955, Teil 11, S. 405 ff.
233 Vgl. BVerfGE 6, 15, 17 - 18; Seidl-Hohenveldern (Fn.225), Rdnr. 0307 a.
23t So im Ergebnis mit Recht Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdnr.30; Eser, in:
Schönke!Schröder, Vor § 3 Rdnr. 22; Zieher, Das sog. Internationale Strafrecht
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 167
Bei alledem haben wir die Probleme beiseite gelassen, die dann
entstehen, wenn eine Strafnorm eine Doppelnatur hat, indem sie
nach der Reform, 1977, S.120; wohl auch Oehler, IntStrR (Fn.8), Rdnr.782
und 912 ff.
235 Vgl. folgende durch völkerrechtliche Verträge der Mitgliedsstaaten ge-
schaffene Vorschriften: Art. 27 des Protokolls über die Satzung des Gerichts-
hofs der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 17. April 1957 - BGBl.
1957, Teil 11, S. 1166 ff. - (neueste Fassung in Sartorius 11, Nr.221); Art. 28
des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Atom-
gemeinschaft vom 17. April 1957 - BGBl. 1957, Teil 11, S. 1194 ff. - (gleich-
lautend). - Ferner Art. 28 Abs. 4 des Protokolls über die Satzung des Ge-
richtshofs der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18. April
1951 - BGBl. 1952, Teil 11, S. 482 ff. - (neueste Fassung in: Sartorius 11,
Nr. 222), mit einer höchst problematischen Klausel; vgl. dazu Sandweg (Fn. 13),
S. 155 ff.; Johannes, Das Strafrecht im Bereich der Europäischen Gemein-
schaften, Europarecht 1968, 63, 95 ff.; Oehler, IntStrR (Fn. 8), Rdnr. 912 ff.
236 Vgl. Art. 13 des (durch völkerrechtlichen Vertrag der Mitgliedsstaaten
geschaffenen) Protokolls über das durch das übereinkommen zur Einrichtung
einer Sicherheitskontrolle auf dem Gebiet der Kernenergie errichtete Gericht
vom 20. Dezember 1957 - BGBl. 1959, Teil 11, S. 585, 610 ff.; dazu Sandweg
(Fn. 13), S. 157 f.
237 Art.43 Satz 2 der Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte vom 18. September 1959 i. d. F. vom 17. Januar 1979 -
BGBl. 1979, Teil 11, S. 212 ff. - (Sartorius 11, Nr. 137) ist nicht durch völker-
rechtlichen Vertrag der Mitgliedsstaaten geschaffen, sondern durch den Ge-
richtshof selbst erlassen worden und enthält keine Gleichstellungsklausel,
sondern regelt nur die "Mitteilungen" von Eidesverletzungen an den jewei-
ligen Mitgliedsstaat; eine tatbestandliche Erweiterung der §§ 153 ff. StGB
liegt aus diesen Gründen nicht vor; vgl. dazu Sandweg (Fn.13), S. 158 f.;
Schellenberg, Das Verfahren vor der Europäischen Kommission und dem
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, 1983, S. 227 f. - Der noch bei
Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdnr. 30, zitierte Art. 57 der Verfahrensordnung der
Europäischen Kommission für Menschenrechte ist in deren Neufassung (Sar-
torius 11, Nr.136) nicht mehr enthalten; vgl. dazu: Schellenberg, a. a. 0.,
S. 137 f.
168 Hans Lüttger
V.
Wenden wir uns nun den angekündigten vier Beispielen der §§ 132 a
Abs. 1 Nr.1 und 4, 152, 184 Abs.1 Nr.9 und 264 Abs.6 StGB zu, die
sämtlich einen ausdrücklichen "Auslandsbezug" aufweisen. Die Erwar-
tung, daß deshalb in diesen Fällen die Bestimmung des jeweils ge-
schützten Rechtsgutes keine Schwierigkeiten bereite, wäre indessen
trügerisch. Diese Beispielsfälle belegen nämlich - je zu ihrem Teil -
die Angelpunkte unserer bisherigen Ausführungen: eine Vernachläs-
sigung der positiv-rechtlichen Regelung bei der Suche nach dem ge-
schützten Rechtsgut; eine überbewertung von Äußerungen in gesetz-
gebenden Organen gegenüber Wortlaut und Sinn der lex lata; das
Fehlen einer Frage nach dem Zusammentreffen mehrerer Rechtsgüter;
den Mangel einer Unterscheidung zwischen Rechtsgut und gesetz-
geberischem Motiv; und das Totschweigen des Unterschieds zwischen
Rechtsgüterschutz und Schutzreflex. Insgesamt ist die Szene hier -
wo das Gesetz selbst Fingerzeige gibt - von einer überraschenden
spröden Zurückhaltung gegenüber nichtdeutschen Rechtsgütern ge-
kennzeichnet. Eben deshalb haben wir diese Beispiele gewählt, weil
es uns auch hier weniger um die Exegese einzelner Straftatbestände
als vielmehr um das methodische Anliegen geht. Bei der Erörterung
der Beispiele dreht es sich nur noch um Spezifika; das Grundsätzliche
ist bereits gesagt. Wir machen nur noch die Probe aufs Exempel.
240 Vgl. im einzelnen Laujhütte, Viertes Gesetz zur Reform des Strafrechts,
JZ 1974, 46, 49; Dreher, Die Neuregelung des Sexualstrafrechts - eine ge-
glückte Reform?, JR 1974, 45, 47; MaurachlSchroeder, BT 1, 1977 (Fn.24),
§ 23 11, S. 197 - 198; Dtto, BT (Fn.25), § 66 VIII 2, S.326; Preisendanz (Fn.23),
§ 184 Anm.4 e; Horn, in: SK, § 184 Rdnr. 62; Lenckner, in: SchönkelSchröder,
§ 184 Rdnr.3; Arzt/Weber (Fn.25), LH 2, 1983, G Nr.488; DreherlTröndle,
§ 184 Rdnr. 5; Lackner, § 184 Anm. 1.
2H Vgl. die Prot. über die 65. und 66. Sitzung des Sonderausschusses für
die Strafrechtsreform (SA) des BT vom 19. und 20. Januar 1972, 6. WP (im
folg.: Prot.), S. 1910 - 1911, 1925 - 1926, 1937 - 1938; Schriftl. Bericht des SA in
BT-Drucks. VI/3521, S. 61.
242 Vom 4. Mai 1910 - RGBl. 1911, S. 209 ff.; abgedruckt bei GTÜtzner
(Fn. 185) unter Nr. 111 U 2.
243 Vgl. Prot. (Fn.241), S. 1910, 1925.
244 Außenwirtschaftsgesetz vom 28. April 1961 - BGBI. 1961, Teil I,
S. 481 ff., in der jetzt geltenden Fassung abgedruckt in ErbslKohlhaas, Straf-
rechtliche Nebengesetze, Nr. A 217.
245 Vgl. Prot. (Fn.241), S. 1910 - 1911, 1937 - 1938. - Vgl. zu dem Begriff
"erhebliche Störung" Fuhrmann, in: ErbslKohlhaas (Fn.244), § 34 A WG,
Anm.4.
248 Vgl. Prot. wie Fn. 241,243, 245.
170 Hans Lüttger
tatbestands geführt hat, in dem sich nach Wortlaut und Sinn ein ganz
anderes Rechtsgut manifestiert: die ausländische Sexualordnung251 •
§ 184 Abs.1 Nr.g StGB steht also am rechten Fleck. Er schützt ein
ausländisches Rechtsgut, und zwar nur dieses 252 ; denn sonstige Rechts-
güter haben in dem auf den Beistand für ausländisches Sexualstraf-
recht ausgerichteten Gesetz keinen Niederschlag gefunden. Wenn die
auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik von dem deutschen
Strafschutz für die ausländische Sexualordnung profitieren, dann han-
delt es sich dabei nicht um ein weiteres Rechtsgut, sondern um einen
bloßen Schutzreflex.
Freilich geht infolge der Bezugnahme auf das jeweilige ausländische
Sexualstrafrecht der helfende Schutz des § 184 Abs.1 Nr.g StGB zu-
gunsten der ausländischen Sexualordnung u. U. weiter als der Inlands-
schutz des § 184 StGB für die sexuelle Selbstbestimmung; denn die
Ausfuhr ist nicht nur dann strafbar, wenn die beabsichtigte Verbrei-
tung im Ausland gegen ähnlich eng verklausulierte Tatbestände wie
in den übrigen Alternativen des § 184 StGB verstoßen würde, sondern
auch dann, wenn sie dort einem - in der Bundesrepublik nicht existie-
renden - allgemeinen Pornographie-Verbreitungsverbot zuwiderlau-
fen würde 253 • Aber mit dem Mehr an Schutz für das Ausland wird
nicht der Gegenstand des Schutzes verändert; es geht allemal nur um
die - eben anders strukturierte - jeweilige ausländische Sexual-
ordnung.
251 Es ist verfehlt, wenn die Literatur (oben Fn.240) bei § 184 Abs. 1 Nr.9
StGB ein Delikt gegen die "sexuelle Selbstbestimmung" vermißt, denn diese
deutschen Rechtsbegriffe lassen sich nicht unbesehen auf ausländische Straf-
rechte übertragen; ganz abgesehen davon, daß § 184 StGB ganz unterschied-
liche Rechtsgüter zum Gegenstand hat; vgI. Lackner, § 184 Anm. 1.
252 So mit Recht Jescheck, AT (Fn. 2), § 18 III 8, S. 141.
254 VgI. BayObLG NJW 1979, 2359; von BubnofJ, in: LK, § 132 a Rdnr.2;
Rudolphi, in: SK, § 132 a Rdnr.2; emmer, in: SchönkefSchröder, § 132 a
Relnr.3. - Kritisch MaumchfSchroeder, BT 2 (Fn.24), § 77 I, S.207.
172 Hans Lüttger
258 Vgl. Sandweg (Fn. 13), S. 100; Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdnr.32; Dreher!
Tröndle, § 3 Rdnr.2 a; Oehler, IntStrR (Fn. 8), Rdnr. 238.
259 Vgl. RGSt. 61, 7,8; BGH MDR 1976,413.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 173
keit sich ein auf jene Merkmale gestütztes besonderes Vertrauen von
vornherein gar nicht mehr - oder nur noch bei Experten - bilden
kann, erklärt der Vertrauensschutz das Rechtsgut des § 132 a StGB nur
noch unvollständig, und nur darum geht es hier: Wo sich die Funktion
des Tatbestands zum Schutze des Vertrauens der Allgemeinheit nicht
mehr halten läßt, muß die Strafnorm noch einen anderen Schutzzweck
haben260 •
Dafür gibt das Gesetz selbst mit dem ausdrücklichen Auslandsbezug
in § 132 a Abs.1 Nr.1 und 4 StGB den richtungweisenden Fingerzeig201 :
Die Lösung liegt in der Bejahung eines ausländischen Rechtsgutes 262 •
Welcher der genannten Versionen dabei der Vorzug zu geben ist, ist
hier ohne größere Bedeutung; wir neigen dazu, das Interesse des aus-
ländischen Staates an der Autorität seiner Titel, Amtsbezeichnungen,
Uniformen usw. als geschütztes Rechtsgut anzusehen. Es dürfte der
Sachlage am ehesten entsprechen, hier ein Zusammentreffen des natio-
nalen Rechtsguts des Vertrauensschutzes und des vorbezeichneten aus-
ländischen Interesses anzunehmen263 •
272 Vgl. Art. 9 des in Fn.270 bezeichneten Abkommens; dazu näher ZieheT
(Fn. 234), 8. 163 ff.
273 Vgl. oben Abschnitt B IV 2 b (1) zu und mit Fn. 215 - 216.
274 Vgl. ZieheT (Fn.272).
275 Vgl. dazu näher oben Abschnitt B 11 zu und mit Fn.31 und 32. - Die
Fälle des § 152 8tGB liegen eben anders als Auslandstaten nach §§ 146, 149,
151 8tGB, die sich auf Geld und Wertpapiere der Bundesrepublik Deutsch-
land beziehen.
276 Der Grundsatz der Alternativität der 8chutzzwecke (vgl. Fn. 42) würde
die im Text gemeinten Fälle lösen, in denen nicht von einem Angriff auf ein
deutsches Rechtsgut gesprochen werden könnte.
176 Hans Lüttger
c.
Nun bleibt uns noch, eine kurze Bilanz zu ziehen und einen Ausblick
zu wagen.
Strafschutz für nichtdeutsche Rechtsgüter haben wir nur in einigen
Fallgruppen bejahen können: Zunächst aus völkerrechtlichen und ver-
fassungsrechtlichen Gründen bei Individualrechtsgütern, die wir auf
diesem Wege aus der Umklammerung durch fragwürdige Formeln her-
ausgelöst haben. Ferner bei öffentlichen Rechtsgütern - abgesehen
281 Vgl. von Weber (Fn. 1), Festgabe für von Frank, Bd.2, S.269, 285 - 286;
Schröder, JZ 1968, 241, 245 - 246.
282 Vgl. oben Abschnitt B IV 2 a.
283 Vgl. Jescheck (Fn. 15), Festschrift für Rittler, S. 275,284 f.
284 Vgl. oben Abschnitt B IV 2 b (1).
285 Vgl. oben Abschnitt B IV 2 b (2), besonders Fn.237 betr. den Europäi-
schen Gerichtshof für Menschenrechte.
286 Vgl. Jescheck (Fn.283), S. 279 ff.; §§ 480 - 484 des StGB - E 1962, BT-
Drucks. IV/650.
287 Vgl. va vom 29. Mai 1943 - RGBl. 1943, Teil I, S. 339 ff.; vgl. zu den
bei §§ 267 ff. StGB bestehenden Schwierigkeiten Tröndle, in: LK, Vor § 3
Rdnr. 34, mit Nachweisen.
288 Vgl. dazu die Problem-übersicht bei Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdnr.
38 - 40.
289 Vgl. Nagler (Fn. 17), Festgabe für Heilborn, S. 31,49 - 5I.
290 Vgl. von Weber (Fn. 1), Festgabe für von Frank, Bd. 2, S. 286.
GüNTER SPENDEL
12·
180 Günter Spendel
(3) Hierbei hat es sich nicht etwa nur um Exzesse einer niederen Ge-
richtsbarkeit gehandelt. Auch das frühere höchste deutsche Strafgericht,
das Reichsgericht, hat sich rechtsbeugende Entscheidungen zuschulden
ren Gesetz, das die Höchststrafe zuließ. In dem einen Fall war es die
VolksschädlingsVO von 1939, in dem anderen das Gewohnheitsverbre-
cherGes. von 1933 i. V. m. § 1 Ges. zur Änderung des RStGB v. 4. Sep-
tember 1941 (RGBl. I, S. 549).
(4) Der erste Sachverhalt, der auch in der Öffentlichkeit bekannt ge-
worden ist, war folgender 13 : 1941/42 wurde in Nürnberg der verheira-
tete 68jährige jüdische Kaufmann Katzenberger beschuldigt, mit einer
36 Jahre jüngeren Ehefrau von September 1939 bis zum März 1940 in-
time Beziehungen unterhalten zu haben, was diese unter Eid abge-
stritten hatte und was auch nicht nachweisbar war. Da der Angeklagte
während der Verdunkelung die Wohnung der Frau aufgesucht habe
- so die groteske "Begründung" -, habe er "unter Ausnutzung der
durch den Kriegszust,and verursachten außergewöhnlichen Verhält-
nisse" die "Rassenschande" begangen (§ 4 VolksschädlingsVO), weiter
damit "unter Ausnutzung der zur Abwehr von Fliegergefahr getroffe-
nen Maßnahmen" eine Straftat "gegen den Leib" der Frau verübt (§ 2
VolksschädlingsVO). Um dem Verdächtigten möglichst jeden Entla-
stungsbeweis abzuschneiden, d. h. die Frau als Entlastungszeugin aus-
zuschalten, hatte man sie ebenfalls angekl,agt und neben den jüdischen
Kaufmann auf die Anklagebank gesetzt, und zwar wegen Meineids
auf Grund ihrer im Ermittlungsverfahren beeideten Aussage, mit Kat-
z·enberger keinen Geschlechtsverkehr gepflogen zu haben. Abgesehen
von der üblen Verfahrensmanipulation wurde hier das Recht in drei-
facher Hinsicht gebeugt: bei der Tatsachenteststellung (Bejahung in-
timer Beziehungen entgegen dem Grundsatz "In dubio pro reo"), bei
der Rechtsanwendung (Annahme der unanwendbaren Volks schädlings-
VO) und bei der Stratmaßbestimmung (Verhängung der Todesstrafe
trotz krasser Unverhältnismäßigkeit). Selbst der berüchtigte Roland
Freisler, damals noch Sta,atssekretär im Reichsjustizministerium und
später erst Präsident des Volksgerichtshofs, hat das Todesurteil als zwar
"vertretbar", aber "kühn" bezeichnet14 •
Fragen wir, wie die deutsche Justiz die NS-Richter abgeurteilt hat,
so werden wir ,erneut enttäuscht. Während der Sondergerichts-Vor-
sitzende Rothaug im Nürnberger Juristenprozeß vom amerikanischen
Militärgerichtshof am 3./4. Dezember 1947 zu lebenslanger Freiheits-
strafe (später im Gnadenwege auf 20 Jahre ermäßigt) verurteilt worden
ist, erhielten seine beiden Beisitzer erst 1969/70, also über 20 Jahre da-
nach, vom SchwG Nürnberg wegen eines auf Rechtsbeugung beruhenden
13 Dazu näher Spendel, Justizmord durch Rechtsbeugung, NJW 1971, 537
= Spendel, Rechtsbeugung (Fn.5), 1984, S.37 mit Abdruck von Sonder-
gerichts- und BGH-Urteil, S. 120 ff.
14 Nach BGH NJW 1971, 571, 572 r. Sp. = Spendel, Rechtsbeugung (Fn.5),
S.132.
186 Günter Spendel
21 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts (1. Auf!. 1930),
5. Auf!. 1933, S. 579.
22 RT-Drucks. IV/Nr. 1741, ausgegeben am 13.3.1930.
23 Graf Gleispach, Mitteil. d. IKV, NF 6. Bd. (1933), S. 160, 168 und Dis-
kussionsbeiträge, S. 172 ff.
24 Vgl. z. B. "Hauptamtsleiter" Ludwig Fischer, Rasseschande als straf-
bare Handlung, ZAkDR 1935, 536 und die bereits (Fn.8) angeführten Auf-
sätze von Rechtsanwälten.
25 Weitere praktische Fälle bei Spendel, in: LK, 10. Auf!., 28. Lfg. 1982,
§ 336 StGB, Rdn. 11 f., 64, 131 f.; Spendel, Rechtsbeugung (Fn.5), 1984, S. 4, 12.
26 Vgl. Fall und Urteil bei Benedicta Maria Kempner, Priester vor HitIers
Tribunalen, 1966, S. 273 ff., 282 ff. Dazu mittelbar das Urteil des BGH NJW
1956, 1485 = BGHSt. 9, 302/303, 304.
Unrechtsurteile der NS-Zeit 189
(7) Daß sich schließlich gegen Ende des letzten Kri,eges die Stand-
gerichte in Terrorurteilen überschlugen, nimmt unter einem solchen
Regime nicht wunder. Dafür noch ein Beispiel, und zwar den Regens-
burger Standgerichts-Fa1l 31 •
30 Vgl. BGH NJW 1968, 1339, 1340 unter Nr.2. Dazu kritisch Spendel, in:
LK, 10. Aufl., 28. Lfg. 1982, § 336 Rdn. 92 f., 100.
S1 SchwG Weiden LV. m. OLG Nürnberg in: Justiz und NS-Verbrechen,
II. Bd. (1969), S. 233 ff., 318 ff.; dazu schon kurz Spendel, in: LK, 10. Aufl.,
28. Lfg. 1982, § 336 Rdn. 9, 58, 115.
32 SchwG Weiden (Fn. 31), S. 233, 249, 285 ff., 287.
Unrechtsurteile der NS-Zeit 191
45 Vgl. den Bericht des Zuhörers Dr. Samberger bei Drobisch, Wir schwei-
gen nicht, 4. Auf!. 1983, S. 136 ff.
46 Urteil des VolksGH vom 22. Februar 1943 bei Drobisch (Fn.45), S. 138,
142.
Unrechtsurteile der NS-Zeit 195
Das Verfahren zielte ersichtlich nicht auf die Verhängung eines ge-
rechten Urteils, sondern allein auf die Vernichtung verhaßter Gegner.
Nach alledem muß die ganze Prozedur, d. h. die Vorbereitung, Ver-
handlung, Verurteilung und Vollstreckung schon nach damaligem
Recht formell als rechtswidrig betrachtet werden.
Der juristische Laie, aber auch ein kritischer Jurist wird demgegen-
über vielleicht mit Befremden fragen, wieso wir hier zunächst so sehr
auf die Rechtswidrigkeit des Verfahrens, so sehr auf die Verletzung von
Formen abstellen, statt in der Sache selbst zu urteilen und die Taten
der Angeklagten materiell als rechtmäßig, das Urteil der NS-Richter
daher als rechtswidrig zu werten. Zu dieser berechtigten Frage ist fol-
gendes zu bemerken:
Einmal ist in formeller Hinsicht an das Wort des Schriftstellers und
Dramaturgen Heinrich Laube zu erinnern, das wie für die Kunst so
auch für den Prozeß gilt: "Die Tyrannei der Form ist schrecklich; aber
außer der Form ist Barbarei". Daher wird schon die ganze Prozedur
Freislers von jedem gebildeten Menschen als "barbarisch", d. h. als jeder
Rechtskultur ,spottend und jeder Rechtlichkeit entbehrend empfun-
den. Daß selbst nach damals gesetztem und geltendem Recht formell,
d. h. prozessual rechtswidrig "verfahren" wurde, ist bereits ein starkes
Indiz dafür, wie sehr die Urteile gegen die Vertreter der "Weißen Rose"
auch inhaltlich der Berechtigung ermangelten.
Zum andern ist auf die vorstehend aufgeworfene Frage in materieller
Hinsicht einzuräumen: In der Tat ist es für den Juristen wegen der
weitreichenden Konsequenz.en ein schwieriges und schwerwiegendes,
kaum endgültig lösbares Problem, wieweit dem einzelnen Staatsbürger
in einer Tyrannei ein Widerstandsrecht zusteht, das sein insbesondere
unter dem Gesichtspunkt des Hoch- und Landesverrats straftatbe-
standsmäßiges Verhalten objektiv rechtfertigen kann48, mit der wei-
teren Folge, daß auch die Verurteilung seiner Widerstandstat durch
ein Gericht des herrschenden Regimes objektiv als Unrecht erscheint48 •
47 Vgl. bereits Fn.39! Offenbar ist im vorliegenden Falle noch nicht ein-
mal nach der sonst schon summarischen allgemeinen Gnadenpraxis im
Kriege verfahren worden, s. dazu (und zum allmählichen Übergang des Ent-
scheidungsrechts von Hitler auf den Reichsjustizminister) Wagner, Der Volks-
gerichtshof im nationalsozialistischen Staat, 1974, S. 806 ff.
48 So klar WeinkaujJ, Die Militäropposition gegen Hitler und das Wider-
standsrecht, in: Vollmacht des Gewissens, hrsg. v. d. Europ. Publik. e. V.,
1960, S. 139, 156.
48 Diese Konsequenz zieht auch BGHZ NJW 1962, 195, 196 1. Sp. in einer
sonst problematischen Entscheidung (dazu kritisch Ad. Arndt. AGRAPHOI
NOMOI, NJW 1962, 430); s. zum Unrecht des Fehlurteils vor allem Eb.
Schmidt, Lehrkomm. zur StPO u. zum GVG, Teil I, 2. Aufl. 1964, Rdn.284
(S. 165/166). Dazu und zu den weiteren Folgerungen näher SpendeZ, in: LK,
10. Aufl., 30. Lfg. 1982, § 32 Rdn. 104 ff., 106, 109; 28. Lfg. 1982, § 336 Rdn. 120 f.
13*
196 Günter Spendel
schaft auflehnte, handelte daher, wie der BGH in einer den Fall des Prie-
sters Dr. Metzger (5. vorstehend Nr.6) mittelbar betreffenden Entschei-
dung richtig bemerkt hat, "unter äußeren Umständen, die zum geistigen
und sittlichen Widerstand herausforderten und berechtigten"53.
Ein solches Widerstandsrecht war und ist nicht nur in Weiterent-
wicklung des Rechts aus (rechtfertigendem) Notstand (Güterabwägungs-
prinzip)54, sondern auch in Fortbildung des Rechts zur Staatsnothilfe
(Staatsnotwehr im weit. Sinne) Kämpfern gegen die NS-Diktatur wie
den Geschwistern Scholl und ihren Mitstreitern oder den Männern des
20. Juli 1944 zuzubilligen55. Denn sie haben zwar gegen das national-
sozialistische Unrechtsregime, aber für den von diesem korrumpierten
und pervertierten Rechtsstaat gehandelt 56 • Damit waren ihre Hand-
lungen, soweit sie objektiv-tatbestandsmäßig i. S. d. StGB usw. waren,
selbst nach damaligem ungeschriebenen Recht richtig und gerechtfer-
tigt, ihre Verurteilungen und Hinrichtungen durch den VolksGH infol-
gedessen auch materiell rechtlich gesehen eine rechtswidrige Tötung.
Dafür spricht schließlich noch die Tatsache, daß der Nachkriegsgesetz-
geber die Urteile, die auf den von den NS-Machthabern vorzugsweise
zur Vernichtung ihrer politischen Gegner herangezogenen Gesetzen
beruhten, "zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in
der Strafrechtspflege" - wenngleich in einer teils zu allgemeinen, teils
zu engen, auch nicht einheitlichen Regelung57 - aufgehoben hat 58 , wei-
53 BGHSt. 9, 302/303, 306 = NJW 1956, 1485, 1486 1. Sp. Zur Rechtsprechung
s. noch BVerfGE 5, 85/86, 376 ff.; BGHZ JZ 1959, 770; BGHZ NJW 1962, 195;
BGH, in: Justiz und NS-Verbrechen, XIII. Bd. (1975), S.344, 352, und zu die-
sem Urteil über die "Standgerichtsverfahren" gegen Admiral Canaris u. a.
kritisch Spendel, Klug-Festschrift, 1983, 11. Bd., S.375, 391 f. = ders., Rechts-
beugung durch Rechtsprechung, 1984, S.89, 108 ff., 110 ff. Zur Rechtslehre
z. B. Weinkauff (Fn.48), S. 139 ff., 157 ff.; v. Schlabrendorff, Staat und Wider-
stand, Leibholz-Festschrift, 1966, I. Bd., S.441, 451; Scheidle, Das Wider-
standsrecht, 1969, S. 38 ff., 63 ff., 153 f. Zur jetzigen Gesetzesregelung s. ab
1968 Art. 20 IV GG.
54 Dafür im wesentlichen Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, 3. Aufl. 1978,
S. 321 f., 322 zu Anm.33, S.273, der in dem jetzt verfassungs rechtlich ver-
ankerten Widerstandsrecht des Art. 20 IV GG "einen Ausschnitt aus dem
Staatsnotstandsrecht" sieht.
55 Ebenso ausdrücklich für die Geschwister Scholl Weinkauff (Fn.48),
S.155.
58 Spendel, in: LK, 10. Aufl., 30. Lfg. 1982, § 32 Rdn. 159 ff., 161 Anm.340;
s. auch Weinkauff (Fn.48), S. 148; Ernst v. Hippel, Zum Problem des Wider-
standes gegen rechtswidrige Machtausübung, in: Arthur Kaujmann/Backmann
(Hrsg.), Widerstandsrecht, 1972, S. 416, 417.
67 So können schwerlich alle Strafurteile aus der NS-Zeit, die gemäß § 83
oder § 91 b StGB ergangen sind, als rechtswidrig angesehen werden, da diese
Vorschriften nicht typisch nationalsozialistisch, vielmehr damals geltendes
Recht waren, so z. B. BGHSt. 9, 302/303, 305; s. weiter die heute wieder be-
stehenden Bestimmungen gegen Hoch- und Landesverrat.
68 Vgl. die einschlägigen Wiedergutmachungsgesetze wie das Bayer. Ges.
Nr.21 vom 28. Mai 1946 (Bay. GVB1. 1946, S. 180), nach dem die Todesurteile
198 Günter Spendel
Los penalistas deI mundo que habla espanol tenemos una incon-
mensurable deuda de gratitud con el Profesor Dr. Hans-Heinrich
Jescheck, Director deI Max-Planck-Institut für ausländisches und in-
ternationales Strafrecht, no se limito a dotarle deI mejor fondo bi-
bliogräfico que hoy existe para conocer el derecho penal iberoameri-
cano. Gracias a la ayuda economica y a la cordialidad dispensadas
a los que a el hemos acudido, ha elevado el nivel de los estudios juri-
dico-penales en nuestros paises y ha permitido establecer contactos
personales que perduran tras el regreso. La apertura de J escheck a
los sistemas juridicos de raiz hispana se ha caracterizado siempre
por la ausencia de dogmatismos incompatibles con su profunde cono-
cimiento deI derecho comparado. Una frase revela su espiritu abierto
a la inacabable busqueda de los ideales de Justicia que deben inspirar
a los juristas: «Es gibt keine Verbrechenslehre, die mehr sein kann als
ein vergänglicher Entwurf»1. Una conciencia de la relatividad intrin-
seca al Derecho penal, que suele estar ausente en aquellos que des-
conocen la verdadera indole de la llamada Ciencia deI Derecho, puro
invento para acercarnos a esa dificil meta de la convivencia. Pu es el
Derecho, en definitiva, pretende elevar a categorias conceptuales una
realidad que, de continuo, escapa a ese tratamiento, porque el ser
humano, su protagonista, es individual e irrepetible al modo de las
hojas de un arbol jamäs identicas.
La influencia alemana sobre el derecho penal espanol comienza en
1914, con la version castellana deI primer volumen de la Parte general
deI Tratado de Franz von Liszt por Quintiliano Saldafia y Jimenez de
Asua. Siguio la traduccion en 1936, por Prieto Castro y Aguirre Car-
denas de Die Lehre vom Tatbestand, con el titulo de «EI rector de los
tipos deI delito» y deI Tratado de Mezger con notas de derecho espanol
por mi maestro Jose Arturo Rodriguez Mufioz, quien acuno la termino-
logia que aun se utiliza. Se intensifica dia a dia a una y otra parte
1 Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 3" ed.1978. Hay
traducci6n y adiciones de Derecho espaiiol por Mir PuigfMufioz Conde, en dos
volumenes, 1981.
202 J ose Maria Rodriguez Devesa
deI Atlantico. Una cadena cada vez mas s6lida nos une: la perma-
nente inquietud por lograr construceiones juridicas mas acabadas. EI
eslab6n mas fuerte de esa cadena es Jescheck, con su enorme capaeidad
para penetrar en otros idiomas juridicos demostrada en multitud de
confereneias en Espafia e Hispanoamerica.
I.
Mi aportaei6n al mereeidisimo homenaje al amigo, maestro y colega,
a quien me vinculan estrechos lazos ha largo tiempo, requeriria un
desarrollo mucho mas extenso deI que me puedo permitir. EI alcance
deI nullum crimen sine culpa esta condieionado al concepto deI delito
y al lugar que en el se otorgue a cada una de sus caracteristicas.
Establecer las bases previas para enjuieiar la reforma deI C6digo
penal espafiol en 1983 equivaldria a exponer unos puntos de vista
fruto, eierto es, de un seguimiento atento de la evoluei6n alemana,
pero que se separan de ella desde que se difunde el finalismo, el cual,
pese a no encontrar eco en la doctrina2 , renov6 la dogmatica y la
praxis. Las secuencias secundarias deI finalismo impregnan en creeiente
medida las soluciones a problemas que continuan preocupand03 •
No es momento para destacar corno, por retorcidos caminos, asisti-
mos a un retorno de concepciones cuasi bipartitas y analiticas deI
delito. Acaso de modo deliberado, se elude la implacable critica de
la escuela de Kiel al metodo analitico y la idea de que el delito, en
cuanto comportamiento humano, nos coloca ante un acto vital deI que
no cabe aislar los componentes. Las connotaeiones politicas de la escue-
la de Kiel y su fracaso a la hora de sustituir los viejos elementos por
una concepei6n sintetica, impracticable, no invalidan el hecho de que
el delito haya de considerarse corno un todo, no corno una simple suma
de elementos. Ni quiza sea inutil denuneiar c6mo, por tortuosas vere-
das, resueita un derecho penal de voluntad que se daba por extinto.
La acei6n, termino convencional que utilizo en su mas amplio sen-
tido, sigue en el centro deI universo delictivo. No es posible ya, sin
embargo, establecer, a mi juieio, una tajante distineion entre 10 ob-
jetivo y 10 subjetivo, 10 descriptivo y 10 valorativo, la tipieidad, la
antijuridieidad y la culpabilidad. Sobre todo si se admite que las dos
H.
A pesar de ello he elegido este tema. La reforma producida por la
«Ley organica 8/1983, de 25 de junio, de Reforma Urgente y Parcial deI
Codigo Penal» (B.O.E. num. 152 deI 27), no se limita a modificar el
art. 1 e introducir dos nuevos preceptos sobre el error y el caso
0
III.
7 Proyecto 1980, art. 3°: «No hay pena sin culpabilidad. Cuando 1a pena
venga determinada por 1a produecion de un ulterior resultado mas grave,
solo se responderä de este si se hubiere causado, al menos, por culpa».
8 Fundamento: «Suponemos que es un error de imprenta sustituir la con-
juncion disyuntiva tradicional correctamente incluida en nuestros Codigos,
incluso en el Proyecto de 1980, por la copulativa».
Nullurn crirnen sine culpa en Ia reforrna deI C6digo penal 205
IV.
EI Proyecto 1983 postulaba introducir un nuevo art. 6° bis a) deI
siguiente tenor:
«EI error invencible sobre un elemento integrante de la infracci6n
penal 0 que grave (sie) la pena, excluye la responsabilidad criminal
o la agravaci6n en su caso.
Si el error a que se refiere el pärrafo anterior fuere vencible, aten-
didas las circunstancias deI hecho y las personales deI autor, la in-
fracci6n sera castigada corno culposa.
La creencia err6nea e invencible de estar obrando licitamente ex-
cluye la responsabilidad criminal. Si el error fuere vencible se obser-
varä 10 dispuesto en el articulo 66»9.
EI (mico antecedente es Proyecto 1980, art. 20 «EI error probado 0 invencible
sobre un elernento integrante de Ia infracci6n penal 0 que agrave Ia pena,
excluye la responsabilidad crirninal 0 la agravacion en su caso. - Si el error
fuere vencible. atendidas las circunstancias deI hecho y Ia personalidad deI
autor, la infraccion sera castigada, en su caso, corno culposa. - La creencia
err6nea probada e invencible, de estar obrando licitarnente excluye Ia respon-
sabilidad crirninal. Si el error fuere vencible se observant 10 dispuesto en el
art.8Po.» Fue objeto de nurnerosas enrniendas que no llegaron a discutirse
por concluir Ia Iegistatura. EI grupo socialista pidi6 que se suprimiera el
adjetivo «probado» (enm. 268), que el parrafo segundo se sustituyera por un
texto alternativo, igual al deI Proyecto 1983 salvo pequefias variantes, corno
afiadir al final «tmicarnente cuando este prevista en Ia ley corno culposa»
(enm.269) y que se agregara al parrafo tercero «0, atendiendo a las circuns-
tancias deI hecho y deI autor, se declarara en su caso, la exenci6n de respon-
sabilidad crirninal deI sujeto.» Adernas se presentaron otras, hasta un total
de oncel l .
Solicitaron la supresi6n deI nuevo articulo, en el Congreso, las
enms. 98 (grupo centrista) y 267 (minoria catalana). La enm. 187 (grupo
mixto) ofreci6 un texto alternativo ubicado en un cap. V bis, a situar
despues de las eximentes, atenuantes y agravantes, con el mIm. 11 bis,
Camara si una cosa esta bien 0 mal hecha», pero creia «sincera y hon-
radamente que no hay otra solucion en terminos tecnico-juridico-pe-
nales, despues de admitido el art. 1 0 ». Calero Rodriguez indico que
retiraria su enmienda si se admitiese la adicion de que el error fuera
«probado», de acuerdo con la enm.2, defendida a seguido por Ruiz
Gallard6n (D. Sesiones, 1197 ss.). Subrayo este que el Consejo General
deI Poder Judicial se habia limitado a valorar de modo positive «la
acentuacion deI caracter culpabiIista de nuestra legislacion penal, me-
diante un acertado retoque deI art. 1 Y la especificacion de los efec-
0
,
tos deI error segun sus diferentes clases» y, al no afiadir nada mas, no
impedia el examen de las formulas empleadas. Adujo, corno doctrina
mas clasica, la de Jimenez de Asua que, «eI mismo 10 reconoce», se
apoya en Beling, a favor de que el error, ademas de esencial e in-
vencible, ha de ser probado. Asevero que el proyecto dejaba «sin re-
gulacion 10 que la doctrina llama el remanente culposo ... Puede haber
un error que excluya el dolo, pero ese mismo error puede no excluir
la culpabiIidad, la necesidad, por tanto, de ese segundo inciso ultimo ...
de preservar la posibilidad de que el hecho sea encuadrable en otro
tipo deIictivo», aludiendo a «la mas reciente doctrina que se ha
ocupado deI tema ... , en la obra de Luis Rodriguez Ramos, publicada
en la revista juridica La Ley»15. Lopez Riafio agradeciendo el recuerdo
de «la figura deI profesor JimEmez de Asua», se opuso, porque «la tec-
nica y la doctrina jurisprudencial avanza» y «la redaccion de los pa-
rrafos 15, 16, 17 Y 59 deI vigente Codigo penal aleman pu so fin a esta
discusion planteada en la doctrina de otros paises centroeuropeos» (D.
Sesiones, 1199). Ruiz Gallardon objeto de nuevo los inconvenientes que
podian seguirse en aquellos casos en los que «se hubiera alegado el
error, por ejemplo, en todos los supuestos de preterintencionalidad
que hayan sido estimados de una u otra manera y que resulte de las
consecuencias f:kticas de los hechos declarados probados» 10 que
introduciria «un elemento de inseguridad juridica en orden a la revi-
sion de las penas y, consiguientemente, y antes de la sentencia, poste-
riormente la paralizacion de la Administracion de Justicia", repro-
chando a L6pez Riafio no haber dicho «una sola palabra» sobre el «re-
manente culposo» (D. Sesiones, 1200), el cual reconocio la omision,
pero advirtio que «si lee serenamente el art. 6 0 vera que es justamente
el parrafo segundo deI proyecto» (D. Sesiones, 1200).
Al defender la enm. 285 al parrafo tercero, Vizcaya Retama observo
que estaba mal recogida «por culpa de este portavoz» y deberia «sefia-
lar en el parrafo tercero, en el ultimo inciso <si el error fuere vencible
se observara 10 dispuesto en el parrafo anterior> ». L6pez Riafio, al
V.
Art. 1°: «Son delitos 0 faItas las acciones y omisiones dolosas 0 cul-
posas penadas por la Ley. -No hay pena sin dolo 0 culpa. euando la
pena venga determinada por la produccion de un uIterior resultado
mas grave solo se respondera de este si se hubiere causado, al menos,
por culpa».
Art.6° bis a): «EI error invencible sobre un elemento, esencial in-
tegrante de la infraccion penal 0 que agrave la pena, excluye la res-
ponsabilidad criminal 0 la agravaci6n en su caso. - Si el error a que
se refiere el parrafo anterior fuere vencible atendidas las circunstan-
cias deI hecho y las personales deI autor, la infraccion sera castigada,
en su caso, corno culposa. La creencia erronea e invencible de estar
obrando licitamente excluye la responsabilidad criminal. Si el error
fuere vencible se observara 10 dispuesto en el art. 66».
Art. 6° bis b): «Si el hecho se causare por mero accidente, sin dolo
ni culpa 22 deI sujeto, se reputara fortuito y no sera punible».
La Exposici6n de Motivos diee: «Entrando con mayor precisi6n en las ma-
terias abordadas por el presente proyecto (recte, ley), destaca en primer lugar.
la modificaci6n deI texte deI art. 1 deI actual C.p. Con elle se pretende, de
0
C6digo inciden, por las mismas razones, en los arts. 8°, num. 8, 64 Y 50, parrafo
primero deI mism0 23 , asi corno en la interpretaci6n que habra de (sie) dar a
los diferentes supuestos de responsabilidad criminal se entiende preciso,
ademas, regular los efectos deI error, seglin sus clases, sobre el tipo 0 sobre
la prohibici6n, si bien las reglas punitivas que se ofrecen se acomodan a las
que en el texto actual existen en materia de determinaci6n de pena 0 de titulo
de imputaci6n».
La Propuesta de Anteproyecto deZ nuevo C6digo PenaZ, publicado
sin fecha a primeros de octubre de 1983, fresca alm la tinta de la re-
forma de 25 de junio, no mantuvo los mismos criterios ni la termi-
nologia.
Propuesta 1983, art. 3: «No hay pena sin dolo 0 imprudencia»; art. 14: «Son
deli tos 0 faltas las acciones u omisiones dolosas 0 imprudentes penadas por
la Ley»; art. 17: «1. EI error invencible sobre el hecho constitutivo de la in-
fracci6n penal 0 elemento que agrave la pena, excluye Ia responsabilidad
22 En el Proyecto 1983 habia una coma entre «culpa» y «deI sujeto». Ninguna
enmienda pidi6 la supresi6n de la coma. Desapareci6 en el texto que la Ponen-
cia someti6 al Senado. Por fortuna, porque en eI proyecto el accidente, grama-
tiealmente, se referia al sujeto.
23 Todos eIl os dejados sin contenido en 1983. EI art. 50 contenia Ia regla
para el caso deI parrafo tercero deI art. 1 es decir, cuando el mal causado
0
,
(lesiones leves), 505 parrafo primero (robo con fuerza en las cosas inferior
a 30.000 pesetas), 515, 10 (hurto por mas de 30.000 pesetas), 587, 10 (hurto que no
excediere de 30.000 pesetas), 528 (estafa por mas de 30.000 pesetas), 587 3 0
24 Antiguos deli tos cualificados por el resultado que subsisten: art. 348
(delitos contra la salud publica con resultado muerte), 411, parrafo ultimo
(aborto con resultado muerte oiesiones graves deI art. 420, 1 488, parrafo
0
).
VIII.
mediea (art. 149.1), y considera graves las que dejen al ofendido estern, im-
potente, deforme, eon enfermedad fisiea 0 psiquica ineurable 0 le causen
perdida de miembro, 6rgano 0 sentido 0 le dejen <<impedido de el» (art. 150, 2°);
mantiene la divisoria entre delitos y faltas de hurto, estafa y apropiaci6n
indebida en 30.000 pes etas (arts.227, 243, 247), cifra que marcaria tambien la
divisoria entre delito y falta de utilizaci6n indebida de vehiculos de motor
(art. 237.1).
27 Sobre la direcci6n jurisprudencial al interpretar esta atenuante, cfr. mi
Derecho penal espaiiol. Parte general, 1981, 676 n.59. Tambien Gonzdlez
Liano y otros, C6digo penal. Comentarios y jurisprudencia, 1983, 26 Y 29 s.
28 Cfr. Rodriguez Munoz, Notas al Tratado de Mezger, 3" ed. 1955, 11, 178 ss.
216 Jose Maria Rodriguez Devesa
IX.
Es preciso esclarecer, al efecto de poder interpretar el alcance deI
error en el art. 6° bis a) de modo correcto, Ia diferencia entre igno-
rantia legis y error iuris 34 . EI C6digo civil espafioI, art. 6, 1 pärrafo
29 Hay numerosas excepciones. En el sentido deI texto, Mir Puig, Adiciones
de Derecho espaiiol al Tratado de Jescheck, 1981, 792 s. Tono L6pez, Sobre
los limites de la ejecuci6n por imprudencia en Anuario de Derecho penal,
1972, 53 ss., llega a una interpretaci6n muy restrictiva en repudio de «la hiper-
trofia de la funci6n penal propia de la epoca» (56).
30 EI C6digo de Justicia Militar de 17 julio 1945 se aparta de esta politica
criminal. No contiene clausulas generales, ni tampoco la pena ha de ser
siempre inferior, alli donde por excepci6n se castigan conductas culposas, a
la correspondiente conducta dolosa.
31 Los dos primeros parrafos se refieren, respectivamente, a los deli tos
cometidos por imprudencia temeraria 0 por imprudencia simple 0 negligencia
con infracci6n de reglamentos. Advh~rtase que la negligencia no equivale en
el derecho espaiiol a la culpa consciente.
32 Cfr. Rodriguez Munoz, Notas a Mezger, Tratado, 3a ed. I (1955) 206 ss.,
88 C6digo penal 1822, art. 1 ° «Comete delito el que libre y voluntariamente
y con malicia hace u omite 10 que la ley prohibe 0 manda bajo alguna pena»;
art. 2°: «Comete culpa el que libremente, pero sin malicia, infringe la ley
por alguna causa que puede y debe evitar».
84 Vease: De Castro y Bravo, Derecho civil de Espaiia. Parte general, 1949,
525 ss.
Nullurn crirnen sine culpa en la reforrna deI C6digo penal 217
XI.
Resumiendo, a titulo de eonc1usiones provisionales. Ni con anteriori-
dad a la reforma de 1983 desconocia la ley el principio de que no hay
pena sin culpabilidad, ni despues de la reforma desaparecen todas las
excepciones que impiden su plena vigencia. Por otra parte, la culpa-
bilidad no se reduce al dolo 0 la culpa. Las variaciones que, con el mejor
de los prop6sitos, ha introducido la reforma de 1983, lejos de c1arificar
la situaci6n, deparan dificultades sin cuento a la teoria y a la praxis.
Es imposible prever en estos momentos sus consecuencias.
"Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetz-
lich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde". - Mit gutem
Grund ist dieses Elementarprinzip unseres Strafrechts anläßlich der
Neufassung des Allgemeinen Teils an die Spitze des Strafgesetzbuchs
gerückt worden!. Die gleichlautende Fixierung des Prinzips in Art. 103
Abs.2 GG hat es zudem "verfassungs fest" gemacht. Ja, es wird sogar
gesagt, es handle sich um ein naturrechtliches Prinzip, das der Gesetz-
geber bereits vorgefunden habe 2 •
Angesichts dieser unstreitig großen Bedeutung muß es wundernehmen,
daß der Streit und die Unklarheit über den Anwendungsbereich des
§ 1 bis heute nicht behoben sind. Eine vollständige Darstellung des
Streitgegenstandes wäre eine lohnende Aufgabe, läßt sich aber im
Rahmen einer Festschrift nicht verwirklichen. Wir müssen uns viel-
mehr damit begnügen, in einem Einleitungsabschnitt (I) die aus § 1
abzuleitenden Normen zusammenzustellen und danach in einem Haupt-
teil (11) zu jeder dieser Normen eine Streitfrage zu diskutieren.
I.
3 Vgl. nur die neue Monographie von Krey, Keine Strafe ohne Gesetz,
1983, S. 35 ff., 48 ff., 70 ff., 84 ff.
4 Vgl. BVerfGE 25, 285.
5 Vgl. Maurach, Deutsches Strafrecht, Allg. Teil, 4. Aufl. 1971, S. 96.
scheint mir jedoch nicht so schwierig zu finden, wenn man bedenkt, daß
Praxis und Lehre tagtäglich mit Gewohnheitsrecht auch in mal am
partem arbeiten.
Ein besonders instruktives Beispiel bietet die Rechtsfigur der actio
libera in causa. Sie ist im Gesetz auch nicht andeutungsweise erwähnt,
jedoch prinzipiell anerkannt, also Gewohnheitsrecht. Sie wirkt sich
aber auch ungünstig für den Beschuldigten aus, da sie in ihrem Haupt-
anwendungsfall zu einer Einschränkung des für den Beschuldigten
günstigen § 20 führt.
Die actio libera in causa ist zwar ein besonders einleuchtendes, aber
vielleicht nicht besonders wichtiges Beispiel. Doch lassen sich auch weit
bedeutsamere Fälle von Gewohnheitsrecht zu Lasten des Beschuldigten
im Bereich der Verbrechenslehre des Allgemeinen Teils finden 10 • Die
Strafrechtsreform hat uns zu den unechten Unterlassungsdelikten nicht
mehr beschert als den § 13. Aus ihm ergibt sich immerhin, daß eine im
Besonderen Teil beschriebene Handlung auch als Unterlassung be-
straft werden kann, sofern der Unterlassende "rechtlich dafür einzu-
stehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt". Unter welchen Voraussetzun-
gen jemand verpflichtet ist, den Erfolgseintritt zu verhindern, ist jedoch
dem Gesetz nicht zu entnehmen. Der Alternativ-Entwurf hatte eine
abschließende Regelung vorgeschlagen11 , sie ist jedoch nicht Gesetz
geworden. Hier waltet nun Gewohnheitsrecht12 - und nicht nur die-
ses. Trotz des Wortes "rechtlich" neigen unsere Gerichte nämlich dazu,
die Bestrafung auch auf die Verletzung rein ethischer Pflichten zu
stützen.
Nicht viel anders ist die Rechtslage bei der mittelbaren Täterschaft.
Der neue § 25 Abs. 1 ergibt nur, daß es außer dem unmittelbaren Täter
auch einen mittelbaren Täter gibt. Wann aber eine Person mittelbarer
Täter (und nicht etwa nur Anstifter) ist, kann dem Gesetz nicht ent-
nommen werden, weil es über die Voraussetzungen der mittelbaren
Täterschaft überhaupt schweigt. - Damit ist der Katalog aber noch
keineswegs erschöpft. Die Notwendigkeit eines Kausalzusammenhangs
(Ursachenzusammenhangs) bei den Erfolgsdelikten ist im Besonderen
Teil nur selten angesprochen; nähere Darstellung im Allgemeinen Teil
fehlt überhaupt. Die Fahrlässigkeit wird zwar genannt, aber nirgends
Diese Frage stellt sich zunächst bei den "offenen" Tatbeständen der
§§ 240, 253. Bei ihnen muß die Rechtswidrigkeit positiv festgestellt wer-
den, und zwar nach dem Kriterium, ob "die Anwendung der Gewalt
oder die Androhung des übels zu dem angestrebten Zweck als verwerf-
lich anzusehen ist". Die Verurteilung oder Nichtverurteilung hängt also
letztlich davon ab, was der Richter als "verwerflich" ansieht. Daher hat
schon Hellmuth Mayer die gegenwärtige Fassung des § 240 als ver-
fassungswidrig bezeichnet 16 , und Welzel ist ihm darin nach anfäng-
lichem Widerstreben gefolgt17 • - Besonders umstritten ist in diesem
Zusammenhang die Vorschrift des § 226 a. Danach vermag auch eine
mangelfreie Einwilligung eine Körperverletzung nicht zu rechtfertigen,
wenn diese Körperverletzung "trotz der Einwilligung gegen die guten
Sitten verstößt" . Hier wird die Frage der Strafbarkeit also von der Aus-
legung einer Generalklausel abhängig gemacht, die zudem aus einem
nicht dem Recht zugehörigen Gebiet entnommen ist. Ich habe schon
an früherer Stelle diejenigen Autoren zusammengestellt, die deshalb
die Verfassungsmäßigkeit des § 226a verneinen oder doch bezweifelnl8 •
Zu ihnen kommen inzwischen noch zwei weitere Autoren, nämlich
Eser und ich selbst19 • - Für die Gegenmeinung hat sich eigentlich nur
ein Autor nachdrücklich stark gemacht, der deshalb besondere Beach-
tung verdient. Tröndle sagt in seinem Kommentar zu § 226 a folgen-
des20 : "Die These ... , daß § 226a wegen Verstoßes gegen Art. 103 II GG
nichtig sei, geht zu Unrecht davon aus, daß auch Rechtfertigungsgründe
dem Bestimmtheitsgrundsatz dieses Artikels unterlägen ... ; wäre es
so, so wären alle gewohnheitsrechtlichen Rechtfertigungsgründe grund-
gesetzwidrig ...". Der Fehler dieses Schlusses liegt auf der Hand. Recht-
fertigungsgründe sind stets günstig für den Beschuldigten und werden
daher von § 1 und den aus ihm folgenden Normen gar nicht tangiert.
§ 226 a enthält jedoch keinen Rechtfertigungsgrund; vielmehr schränkt
diese Vorschrift den allgemein anerkannten Rechtfertigungsgrund der
Einwilligung ein, wirkt also für den Beschuldigten nachteilig. Daher
muß sich § 226a, anders als die Rechtfertigungsgründe, an § 1 bzw. Art.
103 Abs.2 GG messen lassen, und damit verfällt er dem Verdikt der
Verfassungswidrigkeit. Die bei Dreher anklingende Auffassung21 , daß
das Bestimmtheitsgebot lediglich für die Tatbestandsmerkmale gelte,
läßt sich nicht halten; denn § 1 und Art. 103 Abs.2 GG sprechen nicht
15*
228 Rudolf Schmitt
25 BVerfGE 18,439.
Der Anwendungsbereich von § 1 Strafgesetzbuch 229
noch einmal eingeschränkt. Man findet fast immer nur die beiden glei-
chen Fragestellungen, nämlich
a) ob im Falle eines Antragsdelikts, bei dem Strafantrag nicht ge-
stellt wurde, die rückwirkende Beseitigung des Strafantragserforder-
nisses und damit die Umwandlung in ein Offizialdelikt zulässig ist;
ß) ob eine Verjährungsfrist verlängert oder gar gestrichen werden
darf.
Leider müssen wir die Beschränkung des Problems auf die strafpro-
zessualen Verfahrenshindernisse mitmachen; doch wollen wir innerhalb
dieses Bereichs keine weiteren Einschränkungen vornehmen.
26 Die viel zitierte Entscheidung RGSt. 77, 106/107 stammt aus einer Zeit,
in der auch für das materielle Recht kein Rückwirkungsverbot bestand.
27 Eindeutig ablehnend Jescheck in der 2. Aufl. seines Lehrbuchs, S.110.
Ablehnend auch Jakobs (Anm. 8), S. 55, Rdn. 9. Ablehnend schließlich Böcken-
förde in seiner Stellungnahme vor dem Rechtsausschuß des Bundestages am
12.6. 1979 (Herr Kollege Böckenförde war so freundlich, mir sein Manuskript
zu überlassen; vgl. auch ZStW 91 (1979),888 ff.). .
230 Rudolf Schmitt
zugelassene und im politischen Leben unangefochten tätige Partei gearbeitet
zu haben, wurde mit folgendem Argument weggewischt: Die KPD sei schon
immer eine verfassungswidrige Partei gewesen. Lediglich die noch nicht
vorliegende Feststellung dieser Verfassungswidrigkeit durch das Bundes-
verfassungsgericht habe ein Verfahrenshindernis für Strafverfahren gegen
die KPD-Funktionäre gebildet. Nachdem nun dieses Verfahrenshindernis
weggefallen sei, stehe einer Strafverfolgung nichts mehr im Wege, zumal
sich Art. 103 Abs.2 GG auf Verfahrenshindernisse nicht beziehen könne. -
Diese Auffassung hat sich damals in einem großen Teil des Schrifttums und
auch beim Bundesgerichtshof durchgesetzt 28 .
Erst das hier besprochene Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat
diesen Strafverfolgungen ein Ende bereitet. Es erkannte: "Die Rechts-
ordnung kann nicht ohne Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtsstaat-
lichkeit die verfassungs rechtlich eingeräumte Freiheit, eine Partei zu
gründen und für sie im Verfassungsleben zu wirken, nachträglich als
rechtswidrig behandeln"29.
c) Unsere erste Frage geht dahin, ob dieses Urteil mit dem oben
behandelten Verjährungsurteil des Bundesverfassungsgerichts auf
einen Nenner gebracht werden kann. Ich möchte dies bejahen, und zwar
unter Bezugnahme auf eine Passage des Verjährungsurteils, die wegen
ihrer Wichtigkeit hier wörtlich wiedergegeben werden soll30:
"Der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz gilt also nicht ausnahmslos.
Der Bürger kann sich insbesondere auf Vertrauensschutz als Ausprägung
des Rechtsstaatsprinzips dann nicht berufen, wenn sein Vertrauen auf den
Fortbestand einer gesetzlichen Regelung eine Rücksichtnahme durch den
Gesetzgeber billigerweise nicht beanspruchen kann (...), das Vertrauen auf
eine bestimmte Rechtslage also sachlich nicht gerechtfertigt ist (... ständige
Rechtsprechung)" .
Dies besagt doch: Eine Rückwirkung ist dann unzulässig, wenn sie
einer berechtigten Vertrauensposition die Grundlage entziehen würde.
So lag es bei den KPD-Funktionären, die vor dem KPD-Urteil darauf
vertrauen konnten und durften, daß sie für eine erlaubte Partei arbei-
teten. Anders liegt es jedoch im Falle der Verjährung. Zwar ist der
Streit über Sinn und Zweck der Verjährung so heftig wie eh und je.
Man kann aber doch wohl mit Sicherheit sagen, daß die gesetzlichen
Verjährungsvorschriften nicht das Ziel verfolgen, dem Verbrecher eine
Garantie zu geben, daß er nach Ablauf einer gewissen Frist nicht mehr
verfolgt werden, sondern sich mit seiner Tat brüsten kann. Hier liegt
also eine schutzwürdige Vertrauensposition nicht vor.
28 Vgl. das in BVerfGE 12, 299 wiedergegebene Urteil 3 StH 4/57 vom
3.4.1957.
29 3. Leitsatz von BVerfGE 12,296/297.
30 BVerfGE 25, 291.
Der Anwendungsbereich von § 1 Strafgesetzbuch 231
entlegenen Stelle dieser Auffassung zwar nur kurz, aber entschieden an-
geschlossen habe 35 • So sicher wie bei der entsprechenden Frage nach dem
Gewohnheitsrecht in der Verbrechenslehre bin ich meiner Sache hier
freilich nicht.
c) Die hier bestehende Problematik ist als solche seit langem erkannt.
Da zwar die Analogie in malam partem verboten ist, die extensive Ausle-
gung zum Nachteil des Beschuldigten jedoch nicht, kommt es darauf
an, eine sichere Grenze zwischen Analogie und Auslegung zu ziehen.
An Literatur zu dieser Frage fehlt es nicht, aber eine auch nur einiger-
maßen übereinstimmende Ansicht kann bislang nicht festgestellt wer-
den. Lediglich ein gewisser Trend scheint sich abzuzeichnen: Die im
Gewande der teleologischen Auslegung einherschreitende rein kriminal-
politische Zielsetzung muß ihre Grenze am Wortlaut des Straftatbestan-
des finden 40 • Wer aber glaubt, damit sei das Problem gelöst, der irrt.
Nach Baumann darf sich die Auslegung nur im Rahmen der allgemein
verständlichen, natürlichen Wortbedeutung bewegen41 ; nach Ansicht
unseres Jubilars endet jedoch die Auslegung erst am "möglichen Wort-
sinn als äußerster Grenze"42. Aber selbst wenn man diese weiter-
gehende Erstreckung der Auslegung zugrunde legt, müßte konsequenter-
weise manche fest eingefahrene Rechtsprechung aufgegeben werden,
etwa im Rahmen der §§ 246 und 303. Wie kann man nur von einer
"berichtigenden Auslegung" sprechen, wo doch diese Worte einander
eindeutig widersprechen?
III.
I.
1 Nowacki, Pewnosc prawa a zasada .. Lex retro non agit" (Die Rechts-
sicherheit und der Grundsatz ..lex retro non agit"), Zeszyty Naukowe Uni-
wersytetu l..6dzkiego 1964, H. 35, S. 25.
2 J escheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 3. Aufl. 1978, S. 108.
Prinzip "lex retro non agit" anzusehen seien5 • Sicher sind alle diese
Grundsätze eng miteinander verbunden; es scheint mir aber nicht
angebracht, nach einem über- oder Unterordnungsverhältnis zu suchen,
da die Regelungsbereiche dieser Grundsätze nur teilweise überein-
stimmen. Das Rückwirkungsverbot hat schon deshalb einen weiteren
Anwendungsbereich als das Prinzip "nullum crimen sine lege", weil
es auf andere Rechtsgebiete als das Strafrecht bezogen werden kann.
Andererseits besagt aber auch der Satz "nullum crimen sine lege"
mehr als ein bloßes Rückwirkungsverbot.
Im übrigen geht aus dem Grundsatz "nullum crimen sine lege" nur
hervor, daß Strafgesetze, die die Strafbarkeit bisher nicht strafbarer
Handlungen einführen, sich keine rückwirkende Kraft beilegen dür-
fen. Der nullum crimen-Satz bezieht sich dagegen nicht auf den Fall,
daß ein neues Strafgesetz nicht die Strafbarkeit neu einführt, sondern
nur andere Rechtsfolgen an eine schon früher für strafbar erklärte
Handlung knüpft. Hier stoßen wir auf das sehr umstrittene Problem
des Anwendungsbereichs des Rückwirkungsverbots 6 •
Es stellt sich die Frage, ob das Rückwirkungsverbot auf Gesetze
begrenzt werden soll, die die Strafbarkeit statuieren oder ob es auch
für andere Strafgesetze gilt. In der Lehre wurde erwogen, ob das
Rückwirkungsverbot auch auf Gesetze anzuwenden ist, die lediglich
Rechtsfolgen ändern oder das Strafverfahren anders gestalten. Ich
möchte auf diese Fragen an dieser Stelle nicht eingehen, sondern die
Differenzierung des Anwendungsbereichs des Rückwirkungsverbots
im Zusammenhang von dessen geschichtlicher Entwicklung im polnischen
Recht darstellen. Als allgemeine Einsicht voranzustellen ist nur, daß
die Anerkennung des Rückwirkungsverbots an sich wenig besagt; ent-
scheidend ist vielmehr, wie dieses Verbot verstanden und befolgt wird 7 •
Ir.
Die geschichtliche Entwicklung des Grundsatzes, daß neues Recht
nicht zurückwirken darf, reicht in Polen bis zu den ersten Quellen des
statuierten Rechts zurück. Der Grundsatz wurde schon Mitte des
14. Jahrhunderts in den Statuten für Kleinpolen angedeutet, die im
Jahre 1346 von König Kazimierz Wielki (Kasimir d. Großen) in Wislica
erlassen wurden. In Art. 1 (Kr61.) der Statuten wurde festgestellt, daß
das Recht Rechtsfolgen nur an gegenwärtige oder zukünftige, nicht
aber an vergangene Sachverhalte knüpft. Dies wurde in lateinischer
III.
Die Auffassung des Rückwirkungsverbots in den oktroyierten
Rechtsordnungen war keineswegs einheitlich, obwohl im österreichi-
schen ebenso wie im preußischen Strafrecht das strafrechtliche Gesetz-
lichkeitsprinzip normiert war. Der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt
wurde in beiden Rechtsordnungen im Laufe des 19. Jahrhunderts unter
dem Einfluß des Code penal Napoleon formuliert, der in Art.4 be-
stimmte: "Keine übertretung, kein Vergehen und kein Verbrechen
kann mit Strafen geahndet werden, die das Gesetz vor ihrer Begehung
nicht vorgesehen hatteu ."
Vom französischen Strafrecht ging auch direkter Einfluß auf die
Rechtsentwicklung in Polen aus. So wurde im Jahre 1811 erwogen,
im Fürstentum Warschau (Ksi~stwo Warszawskie) den Code Penal ein-
zuführen; dieser Vorschlag wurde jedoch verworfen. Bei der Vorberei-
tung eines Strafgesetzbuches für das Königreich Polen im Jahre 1818
zog man die Strafgesetze von Österreich, Preußen und Frankreich als
Vorbilder heran, wobei letztlich das österreichische Strafrecht das
Strafgesetzbuch für das Königreich Polen geprägt hat15 •
Es kann gesagt werden, daß der Grundsatz "nullum crimen sine
lege" und das mit ihm verbundene Rückwirkungsverbot für strafbar-
keitsbegründende Gesetze in dem auf polnischem Gebiet geltenden
Strafrecht im 19. Jahrhundert fest verankert waren. Die insbesondere
von Binding16 vorgebrachte Kritik dieser Grundsätze fand bei den
polnischen Strafrechtlern keinen Widerhall. Krzymuski 17 lehnte die
Meinung Bindings ab, und Makarewicz 19 fand zwar einige Einwände
begründet, verwarf aber Bindings Schlußfolgerungen.
Sowohl die geltenden Rechtsordnungen als auch die Meinungen in
der Strafrechtslehre gingen hinsichtlich der Behandlung der Rückwir-
kung von Strafgesetzen auseinander, die nur Rechtsfolgen ändern.
Wenn nach Begehung der verbotenen Handlung, aber vor ihrer Ab-
urteilung das Strafgesetz geändert wird, sind folgende Regelungen
möglich:
1. Das alte Strafgesetz, zu dessen Geltungszeit die Handlung began-
gen worden ist, muß immer Anwendung finden;
2. das alte Gesetz findet Anwendung, außer, wenn das neue Gesetz
milder ist;
3. das neue Gesetz wird angewandt, außer wenn es strenger ist als
das alte;
4. das neue Gesetz wird immer angewandt19 •
Regelungen 2 und 3 führen praktisch zum gleichen Ergebnis, nur
daß bei gleicher Härte der Gesetze nach Regelung 2 das alte und nach
Regelung 3 das neue Gesetz anzuwenden ist.
In den auf polnischem Gebiet geltenden Rechtsordnungen galten
unterschiedliche Regelungen. Für den von Österreich annektierten Teil
Polens wurde schon am 17. Juni 1796 das Strafgesetzbuch für West-
galizien erlassen, das am 1. Januar 1797 in Kraft trat. Die Vorschriften
dieses Strafgesetzbuches konnten auf die vor seinem Inkrafttreten
begangenen Straftaten Anwendung finden, soweit sich dies zugunsten
des Angeklagten auswirkte. Ähnlich wurde die Frage bei der Einfüh-
rung der späteren österreichischen Strafgesetze gelöst20 •
Art. IV des Einführungsgesetzes zum Preußischen Strafgesetzbuch
von 1851 regelte die Frage der Rückwirkung mit den Worten: "Die
Strafbarkeit einer Handlung, welche vor dem 1. Juli 1851 begangen
ist, wird nach bisherigen Gesetzen beurteilt. Ist aber eine solche
Handlung in dem gegenwärtigen Strafgesetzbuche mit keiner Strafe
oder mit einer gelinderen als der bisher vorgeschriebenen bedroht, so
soll diese Handlung nach dem gegenwärtigen Strafgesetzbuche be-
urteilt werden." Der Sache nach dieselbe Regelung enthielt das StGB
für das Deutsche Reich von 1871 21 •
Das russische Strafgesetzbuch von 1903 enthielt eine hiervon ab-
weichende Regelung. Art. 14 dieses Strafgesetzbuches bestimmte, daß
das neue Strafgesetz auf alle strafbaren Handlungen angewandt wer-
den solle, die vor seinem Inkrafttreten begangen worden waren, soweit
sie zur Zeit der Begehung überhaupt strafbar waren 22 • Diese Regelung
IV.
Als Polen nach dem Ersten Weltkrieg die Unabhängigkeit wieder-
gewann, begann ein neu es Kapitel der Entwicklung des polnischen
Strafrechts. Zunächst blieben jedoch die Strafgesetzbücher der Besat-
zungsmächte in Kraft und somit auch die in ihnen enthaltenen Grund-
sätze "nullum crimen, nulla poena sine lege" sowie das damit verbun-
dene Rückwirkungsverbot. Diese Grundsätze wurden auch in der pol-
nischen Strafrechtslehre dieser Zeit übereinstimmend anerkannt 26 •
Glaser27 ging von der Geltung des Grundsatzes "lex retro non agit"
aus, machte jedoch den Vorbehalt, daß das neue Gesetz auf die vor
V.
Das Strafgesetzbuch von 1932 blieb in Polen auch nach 1944 noch
viele Jahre in Kraft, obwohl eine sozialistische Gesellschaftsordnung
und eine neue Rechtsordnung geschaffen worden waren. So blieben
die Grundsätze "nullum crimen, nulla poena sine lege" und das damit
verbundene Rückwirkungsverbot weiterhin im polnischen Strafrecht
erhalten. Auch in der Strafrechtslehre wurden diese Grundsätze wei-
terhin anerkannt33 • Dem Rückwirkungsverbot wurde sogar noch grö-
ßere Bedeutung zugemessen.
32 Glaser (Anm. 22), S. 32.
33 Sliwi1tski, Polskie prawo karne materialne (Polnisches materielles
Strafrecht), 1946, S. 40 ff.; Walter, Wyklad prawa karnego (Vortrag des Straf-
rechts), 1947, S. 27.
16·
244 Andrzej Spotowski
fügten und daß zur Zeit ihrer Begehung kein polnischer Gesetzgeber
existierte, der entsprechende Strafgesetze hätte erlassen können,
außerdem seien die in diesen Dekreten beschriebenen Handlungen
schon zur Zeit ihrer Begehung als gesellschaftlich verwerflich ange-
sehen worden3e • Schließlich wurde hervorgehoben, daß das Rückwir-
kungsverbot nicht den Rang einer Verfassungsnorm besitze und daß
daher von ihm abgewichen werden dürfe31 •
Bei der Erörterung der Rückwirkung der angeführten Dekrete muß
zwischen den Dekreten von 1946 und dem Dekret von 1944 unter-
schieden werden. In der polnischen Strafrechtslehve wird nämlich
darauf hingewiesen, daß das Dekret von 1944, das die Verantwortlich-
keit für NS-Verbrechen regelte, den Grundsatz "nullum crimen si ne
lege poenali anteriori" nicht verletzt hat. So führt Kubicki 38 aus, daß
es keinem Zweifel unterliege, daß alle von diesem Dekret erfaßten
Taten schon zur Zeit ihrer Begehung rechtswidrig und strafbar ge-
wesen seien. Das Dekret habe die Rechtswidrigkeit der Taten nicht
ex post facto bestimmt, sondern nur eine neue, synthetische Rechts-
konstruktion geschaffen, die das Recht näher an die konkreten sozia-
len Geschehnisse herangeführt habe. Das Dekret habe lediglich die
richtige Qualifizierung der Straftaten erleichtert und die Strafen im
Hinblick auf die besonderen Umstände der Tatbegehung verschärft.
Die Rückwirkung dieses Dekrets verletze daher nur den Grundsatz
"lex poenalis retro agit cum exceptione legis severioris". Kubicki ver-
weist in diesem Zusammenhang auf die in der deutschen Strafrechts-
lehre insbesondere von Binding vertretene Meinung, daß strengere
neue Strafgesetze auch auf früher begangene Straftaten Anwendung
finden sollen.
Bei den polnischen Prozessen gegen Kriegsverbrecher wurden die
Straftaten einer doppelten Qualifikation unterzogen. In den Anklage-
schriften und gelegentlich auch in Urteilen wurden die Delikte sowohl
unter die Bestimmungen des polnischen Strafgesetzbuches von 1932
als auch unter die Tatbestände des Dekrets von 1944 subsumiert, wobei
letzteres die Grundlage für die Strafzumessung bildete89 • Wahrschein-
lich wurde diese Vorgehensweise gewählt, um die Strafbarkeit der
Taten auch nach dem zur Zeit der Begehung der Straftat geltenden
polnischen Strafrecht zu unterstreichen.
Die beiden Dekrete von 1946 erklärten dagegen eindeutig rückwir-
kend die Strafbarkeit von Handlungen, die zur Zeit der Begehung
36 Andrejew (Anm. 4), S. 42; Buchala (Anm. 4), S. 84.
31 Wolter (Anm. 33), S. 27.
88 Kubicki, Zbrodnie wojenne w swietle prawa polskiego (Die Kriegs-
verbrechen nach polnischem Recht), 1963, S. 70 ff.
30 Kubicki (Anm. 38), S. 59.
246 Andrzej Spotowski
straflos waren und verletzten damit das aus dem Grundsatz "nullum
crimen sine lege" abgeleitete Rückwirkungsverbot.
In der polnischen Strafrechtslehre wird der Ausnahmecharakter die-
ser Dekrete unterstrichen. So meint etwa 8wida, daß die Interessen
des einzelnen in der damaligen Situation dem Interesse der Gesell-
schaft hätten weichen müssen40 , und Wolter bezeichnet die Abweichung
vom Rückwirkungsverbot in bezug auf die verbrecherische Kollabora-
tion mit der Besatzungsmacht als soziale Notwendigkeit41 • Diese Argu-
mentation erinnert an die im Jahre 1532 formulierte Regel, daß "neces-
sitas vel utilitas publica" das Abweichen vom Grundsatz "lex retro
non agit" rechtfertige. Ähnliche Gesetze, die die Kollaboration mit der
Besatzungsmacht rückwirkend unter Strafe stellten, wurden auch in
anderen Ländern (Belgien, Dänemark, Niederlande) erlassen42 •
Vergegenwärtigt man sich noch das Londoner "Abkommen über die
Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse" vom
8.8.1945 sowie das Kontrollratsgesetz (KRG) Nr.10 über die Bestra-
fung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den
Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben, vom
20.12.1945 43 , so fügen sich die angeführten polnischen Dekrete ohne
weiteres in die Rechtsentwicklung der damaligen Zeit auf internatio-
naler Ebene ein. Die ganz und gar außergewöhnlichen Umstände der
Kriegsführung und der Besetzung führten dazu, daß das Rückwir-
kungsverbot an Bedeutung verlor und vielfach verletzt wurde.
VI.
Die geltende Verfassung der Volksrepublik Polen, die im Jahre 1952
vom Sejm verabschiedet wurde und im Laufe der Jahre mehrere
Änderungen erfahren hat, enthält keine ausdrückliche Bestimmung
über das Rückwirkungsverbot im allgemeinen oder im Strafrecht. Ein
namhafter Verfassungsrechtler 44 behauptet zwar, daß die Verfassungs-
kraft der Grundsätze "nullum crimen, nulla poena sine lege" ohne
Zweifel feststehe, obwohl es in keiner Bestimmung der Verfassung
eigens geregelt sei. Diese Meinung wurde jedoch von der Lehre nicht
übernommen.
wirkung sei daher nicht der Tag des Beschlusses, sondern der Tag der
amtlichen Verkündung. Wenn aber der Tag der Verkündung ent-
scheide, dann müsse die Anwendung des Dekrets auf vorher began-
gene Handlungen als Rückwirkung bezeichnet werden 48 •
Die Vertreter dieser Auffassung führen weiter aus, daß Art. 1 StGB
die Rückwirkung nicht auszuschließen vermöge, weil das Rückwir-
kungsverbot nicht in der Verfassung verankert sei und weil nach
Art.121 StGB die Bestimmungen des Allgemeinen Teils auf die in
anderen Gesetzen geregelten Straftaten nur insoweit Anwendung fän-
den, als diese Gesetze keine anderen Regelungen treffen. Das Dekret
vom 12. 12. 1981 enthalte also eine Rückwirkungsklausel, die dem Art. 1
StGB vorgehe 49 •
Dem wird wiederum entgegengehalten, daß der polnische Gesetz-
geber daran gehindert sei, das Rückwirkungsverbot durch Gesetz auf-
zuheben, da Polen im Jahre 1977 den Internationalen Pakt über bür-
gerliche und politische Rechte unterzeichnet habeSO. Art. 15 dieses Pak-
tes bestimmt bekanntlich, daß niemand wegen einer Handlung oder
Unterlassung verurteilt werden darf, die zur Zeit ihrer Begehung
nicht nach inländischem oder internationalem Recht strafbar ist. Die-
ser Hinweis ist zwar von großer Bedeutung; ihm liegt jedoch die in
Polen vielfach bestrittenes I Annahme zugrunde, daß die Normen des
Völkerrechts im Inland unmittelbar anwendbar oder daß die gegen
diese Normen verstoßenden Gesetze nichtig seien.
Die Anwendung der im Dekret über den Kriegszustand enthaltenen
Strafgesetze auf die vor seiner amtlichen Verkündung begangenen
Taten wird schließlich auch aus dogmatischen Gründen für unzulässig
erklärtS2 . Das polnische StGB von 1969 steht bei der Regelung des Ver-
botsirrtums auf dem Standpunkt der Schuldtheorie und verlangt als
Voraussetzung der Strafbarkeit die Einsicht in die Rechtswidrigkeit
VII.
nach dem russischen StGB von 1903, das kurze Zeit in einem Teilgebiet
Polens galt, verboten.
Die Berechtigung des Rückwirkungsverbots wurde in der polnischen
Strafrechtslehre nie grundsätzlich in Frage gesteIlt, wenn auch die
Nichtbefolgung dieses Verbots in Ausnahmesituationen als gerechtfer-
tigt angesehen wurde.
Der Grundsatz "lex retro non agit" wurde in der polnischen Lehre
unterschiedlich begründet. Die unterschiedlichen Begründungen wur-
den jedoch von Nowacki 54 auf einen gemeinsamen Nenner gebracht:
Allen Begründungen des Rückwirkungsverbots liege letztlich der Ge-
danke der: Rechtssicherheit zugrunde. Die Rechtssicherheit stelle einen
festen Wert im Rechtsleben dar, und das Rückwirkungsverbot diene
dem Schutz dieses Wertes. Die Auffassung des Rückwirkungsverbots
sei davon abhängig, welcher Werthierarchie man sich verpflichtet fühle
und insbesondere an welcher Stelle der Hierarchie die Rechtssicherhen
rangiere. Es sei selbstverständlich, daß es manchmal zu Kollisionen
zwischen verschiedenen Werten komme. Auch der Wert der Rechts-
sicherheit könne in Widerspruch zu anderen anerkannten Werten
treten; wie dann zu verfahren sei, hänge wiederum von der Stellung
der widerstreitenden Werte in der Hierarchie ab. Der niedriger ein-
gestufte Wert müsse in der Regel dem höher eingestuften Wert wei-
chen; dies gelte auch für die Rechtssicherheit.
Die Stellung des Rückwirkungsverbots im Rechtssystem und die
Beachtung dieses Verbots hängen nach dieser Auffassung davon ab,
wo der Wert der Rechtssicherheit in der vom Gesetzgeber anerkannten
Werthierarchie eingestuft wird. Als je wichtiger der Wert der Rechts-
sicherheit angesehen wird, desto bedeutender ist die Rolle, die das
Rückwirkungsverbot im ReChtssystem spielt, desto umfangreicher ist
sein AnwendungsbereiCh und desto seltener wird das Verbot verletzt.
Diese Auffassung des Rückwirkungsverbots erklärt dessen Funk-
tion im Rechtssystem meiner Ansicht nach am besten. Sie begründet
auch die Fälle der DurchbreChung dieses Verbots in Ausnahmefällen.
Solche Fälle liegen nämlich dann vor, wenn der Gesetzgeber meint,
einen höher eingeschätzten Wert nur unter Preisgabe der ReChtssicher-
heit wirksam sChützen zu können. Diese Situation bestand wohl auCh
in den dargestellten Fällen der Rückwirkung von Strafgesetzen in
Polen.
I. Vorbemerkungen
1. Teleologische Imputationslehren
a) Imputativitas und imputatio, diese beiden Begriffe verdankt das
Strafrecht Putendort. Jedenfalls ein Jahrhundert lang, bis gegen Ende
des vorigen, hat die "Zurechnungslehre" die Strafrechtswissenschaft
dominiert. Der Streit der Hegelianer um die Imputationen und der
Durchbruch zum schuldlosen Unrecht brachten auch die alten Begriffe
in Mißkredit. In der Fachsprache (Zurechnungsfähigkeit) haben sie sich
bis heute gehalten. Von modernen Zurechnungslehren dürfen wir aller-
dings nicht ohne weiteres erwarten, daß sie an alte "Imputationen" an-
knüpfen.
b) Von der "Teleologie" eines Systems oder einer Zurechnungslehre
ist wohl erst neuerdings häufiger die Rede. Das darf nicht zu dem
Fehlschluß verleiten, die Teleologie selbst sei etwas für das Strafrecht
Neues. Ich kenne aus den letzten 200 Jahren kein ernsthaftes System-
konzept, das nicht als "teleologisch" in dem Sinne gekennzeichnet wer-
den müßte, daß dem Strafrecht eine Aufgabe gesetzt wird, auf die hin
oder in deren Rahmen die Dogmatik zu entfalten ist. Daß dies fast nie
völlig friktionsfrei gelungen ist - zumal, wenn de lege lata kon-
zipiert wurde - ist eine andere Frage. - Auch die in Betracht kom-
menden Zielsetzungen sind so mannigfaltig nicht. Zur Wende ins
19. Jahrhundert sind die möglichen "Strafzwecke" überwiegend kon-
zipiert, zum Teil schon oder alsbald kodifiziert: die Zweispurigkeit im
ALR für die Preußischen Staaten und die abschreckende Generalprä-
vention im Bayerischen StGB. Selbst das, was - von Verbindungen
abgesehen - sehr viel später neu hinzugekommen ist, nämlich Welzels
"sozial-ethische Funktion" des Strafrechts ("der positive Aspekt der
Generalprävention")l hat in Ansätzen frühe Vorläufer. - Die Teleolo-
gie des Konzeptes ist evident bei Feuerbach oder bei v. Liszt, ebenso
bei SWbel oder bei Binding; aber auch in den vielen anderen Systemen
fehlt sie keineswegs.
Damit soll selbstverständlich nicht geleugnet werden, daß es in zwei
Jahrhunderten ein entschiedenes Fortschreiten gegeben hat, sowohl in
der Strafzwecklehre als auch in der Dogmatik, ebensowenig, daß von
neuen Konzepten weitere Erkenntnis erwartet werden kann. Nur die
Teleologie selbst ist nicht das Neue.
4 S. die Nachweise bei Rudolphi, in: SK, 3. Aufl., vor § 1 Rdn.57; Roxin.
Grundlagenprobleme, S. 145 f.
5 AT 1953, S. 131; ders., Grundriß, 1967, S. 72. - H. Mayer ist von Larenz
und von Bindings "Tatlehre" beeinflußt. Binding allerdings kennt nur einen
Zurechnungsbegriff, die Zurechnung zur schuldhaften Handlung.
6 Vgl. etwa Feuerbach, Revision I, S. 156; - v. Bubnoff, Handlungsbegriff,
S.43 ff., versteht unter "objektiver Zurechnung" i. S. Hegels die Zurechnung
zur Handlung, d. h. zur Zweckverwirklichung des freien Willens (eines Zu-
rechnungsfähigen). - Das ist die "imputatio facti" der meisten Hegelianer;
vgl. Köstlin, System, § 57.
"Objektive Zurechnung" beim Vorsatzdelikt? 253
Wenn - wie bei Jakobs - die ganze Dogmatik des Allgemeinen Teils
"Zurechnungslehre" genannt wird, so ist es vielleicht naheliegend, die
Lehre vom objektiven Tatbestand als "objektive Zurechnung" zu be-
zeichnen; gegenüber der im folgenden zu erörternden "imputatio obiec-
tiva" ist die Terminologie different und mißverständlich7 • Eine Ausein-
andersetzung mit dem Konzept von Jakobs müßte weiter ausholen, als
es im folgenden möglich ist. Von der Kritik an der objektiven Imputa-
tion ist deshalb Jakobs, der sich deren Formel nicht zu eigen gemacht
hat, in seiner Lehre von der "Zuständigkeit für die Kausalität" (impu-
tativitas obiectiva?) nur am Rande oder mittelbar betroffen.
liche Versuche geben muß, die gleichwohl den Erfolg herbeiführen, der
dann nicht zurechenbar ist. Auf solche Erwägungen kann im folgenden
nicht eingegangen werden.
10 LE, 2. Auf!. 1972, S.207; sehr ähnlich schon ders., 1. Aufl. 1969, S. 188.
u LE, 2. Aufl., S.213 (= 3. Aufl., S.229); übereinstimmend vor allem Ru-
dolphi, in: SK, 1. Aufl. 1975, vor § 1 Rdn.57, und Roxin, neuestens in Klug-
Festschrift 1983, S. 311.
12 LE, 3. Aufl., S. 231.
"Objektive Zurechnung" beim Vorsatzdelikt? 255
eines Menschen. Es ist eine schon fast banale Interpretation, weil hier
die Axiologik - ausnahmsweise - gar keine Alternative zuläßt l3 •
Es geht also um die generelle, durch Auslegung erfolgende Bestim-
mung dessen, was ein tatbestandsmäßiger Erfolg ist. Erst wenn ein i. S.
der richtigen Auslegung tatbestandsmäßiger Erfolg eingetreten ist, mag
ich nach dessen "objektiver Zurechnung" fragen (oder mich - wie
früher - mit Kausalität und Vorsatz begnügen). Anders formuliert:
Hier geht es gar nicht um die objektive Imputation des Erfolges, son-
dern um die Frage, ob überhaupt ein tatbestandsmäßiger Erfolg vor-
liegt; erst wenn der richtig bestimmte Erfolg eingetreten ist, kann als
weitere Frage diejenige gestellt werden, die die objektive Zurechnung
doch eigentlich vor Augen hat: ob dieser tatbestandsmäßige Erfolg dem
Täter zuzurechnen ist.
Daß die Problematik der Lebensverkürzung mit der oben erörterten
Formel der imputatio obiectiva nichts zu tun hat, liegt auf der Hand.
Auch der Gedanke der Risikoverringerung läuft hier leer. Den Lebens-
rettern (dem Chirurgen, dem Bergführer, der Mutter) zu sagen, sie
hätten das Todesrisiko verringert, weshalb ihnen der spätere Tod der
Geretteten "nicht objektiv zugerechnet" werde, wäre doch wohl weni-
ger ein teleologischer, als vielmehr ein theologischer Hinweis darauf,
daß der Mensch sterblich ist.
Der Fall ist bekannt: A lenkt den Schlag, der sonst den Kopf des X
erheblich verletzt hätte, auf dessen Schulter ab. Weil diese vorsätzlich
bewirkte Schulterverletzung die Gesundheit des X in (erheblich) gerin-
gerem Maße beeinträchtigt als die sonst erfolgte Kopfverletzung, soll es
an der imputatio obiectiva und damit an der Tatbestandsmäßigkeit
fehlen. - Der Fall ist wohl so gedacht, daß das Ablenken des Schlages
auf die Schulter erforderlich ist, um den Kopf des X zu verschonen.
Dann freilich steht die Rechtfertigung im Hintergrund, und die Proble-
matik ist reduziert.
Interessant und brisant wird der Fall erst, wenn der A durchaus die
Möglichkeit gehabt hätte, den Schlag ganz abzulenken, aber etwa der
Meinung war, einen Denkzettel solle der X schon erhalten. - Hier mag
man argumentieren, die Gesundheitserwartung sei nicht verringert,
13 Man mag die Frage aufwerfen, wie bei - kaum vorstellbarer - Gleich-
zeitigkeit des Todeserfolges gegenüber dem sonstigen Ablauf oder gar bei nur
geringfügiger Verkürzung des Lebens zu entscheiden ist. Aber auch das sind
normative Erwägungen, die die Auslegung des tatbestandsmäßigen Erfolges
und die Rechtsgutslehre betreffen. S. zum Ganzen - noch immer maßgeb-
lich - Samson, Hypothetische Kausalverläufe, S. 86 ff., S. 142 f.
256 Armin Kaufmann
2. Hypothetische Kausalverläufe
beim (quasi-) vorsätzlichen Unterlassungsdelikt
Der Arzt A, der den Tod seines an einer schweren Infektion leiden-
den Patienten P wünscht, unterläßt es, dem P ein Medikament darzu-
reichen, das - wie auch A weiß - in 50 Ofo der Fälle die Abwehrkräfte
steigert und lebenserhaltend wirkt. - Auch hier erklären die Gutach-
ter, ob das Medikament im Falle des Plebenserhaltend oder auch nur
lebensverlängernd gewirkt haben würde, sei nicht feststellbar. Sie er-
läutern ferner, es sei nach dem Stande der Wissenschaft generell aus-
geschlossen, festzustellen, ob ein bestimmter Patient auf dieses Medi-
kament "anspreche", es sei denn, man gebe es und beobachte die
Wirkung.
Ob der hier - beim Unterlassungsdelikt - erfragte Zusammenhang
als "Quasi-Kausalität" oder anders zu bezeichnen ist, kann völlig da-
hinstehen. Einmütigkeit bestand bis vor kurzem darüber, daß - wie es
schon das RG in früher Anwendung des Umkehrprinzips getan hat -
die Formel der Bedingungstheorie mit umgekehrten Vorzeichen anzu-
wenden ist: An die Stelle des "Hinwegdenkens" tritt das "Hinzuden-
ken", hier der Medikation. Bleibt die Prüfung des hypothetischen Ab-
laufs ohne Ergebnis, so hat es zugunsten des A dabei sein Bewenden.
Gewiß läßt sich hier sagen, daß die unterlassene Handlung die
Lebensgefahr vermindert hätte l 4, und zwar um 50 Ofo. Aber einmal
dient der Risikoerhöhungsgedanke an seinem dogmatischen Herkunfts-
ort, dem fahrlässigen Begehungsdelikt, nur der Auswahl unter Fällen
feststehender Kausalität; zum anderen ist die Unterscheidung zwischen
prinzipieller und situationsbezogener Unaufklärbarkeit des hypotheti-
schen Ablaufs nicht durchführbar. Vor allem aber: Der Unterlassungs-
fall kann unmöglich anders entschieden werden als der Begehungsfall.
Solange das materielle Recht auch beim Unterlassungsdelikt zwischen
Versuch und Vollendung unterscheidet, erzwingt das formelle Recht
den Respekt davor, daß die Vollendung nicht feststeht 15 •
14 Stratenwerth, AT, 3. Aufl., Rdn. 1028; Rudolphi, in: SK, vor § 13 Rdn.16.
16 übereinstimmend: Jescheck, LB, 3. Aufl., S.503; Jakobs, AT, 29/20 (dort
die Nachweise zum Streitstand).
- Wie endlich steht es bei den Delikten, bei denen es kein fahrlässiges
Erfolgsdelikt als Parallele gibt, etwa bei Urkundenfälschung oder
Betrug?
2. Die Subsumtion
Erste Klarheit mag es bringen, wenn wir den nach der obigen For-
mel ergänzten objektiven Tatbestand des § 212 anzuwenden trachten.
Bei einem konkreten Fall hätte bislang zur Bejahung des objektiven
Tatbestandes ausgereicht, daß der Täter T seine Pistole abgezogen hat
und X durch die Schußverletzung zu Tode gekommen ist. Weitere In-
formationen und Wertungen sind jedoch erforderlich, um die drei zu-
sätzlich dem objektiven Tatbestand inkorporierten, aus der Formel ent-
wickelten Tatbestandsmerkmale festzustellen:
1. Die Schaffung der Gefahr ließe sich allenfalls dann ohne weiteres
bej ahen, wenn man dafür die erfolgreiche Verursachung des Todes ge-
nügen ließe. Aber das ist bekanntlich höchst umstritten und wird über-
wiegend abgelehnt, jedenfalls in unserem Zusammenhang; der von
Horn entwickelte, von anderen fälschlich so genannte "naturwissen-
schaftliche" Gefahrbegriff will nur für die konkreten Gefährdungs-
delikte gelten, und auch für diese nur de lege lata lB • Es kommt - von
den meisten Positionen aus - auf die Prognose eines "objektiven Be-
urteilers" an, dessen Eigenschaften wir der Retorte unserer Wissen-
schaft entnehmen. (Die Ingredienzen an "nomologischem" Wissen und
an "ontologischer" Kenntnis oder Erkenntnisfähigkeit, die wir in diese
Retorte hinein tun, bestimmen sich nach dem, was wir an "billigen"
oder "vertretbaren" Ergebnissen für die Beurteilung erwarten.) -
Setzen wir den Fall so, daß T die Pistole beim Abziehen auf X gerich-
tet hatte, so würde wohl nach jeder Konstruktion unseres Homunkulus
die "Gefahrschaffung" zu bejahen sein (allerdings wohl nur dann, wenn
die Anwesenheit des X dem Beurteiler - oder dem Tl - bekannt
war). - Diese Prognosen problematik braucht hier nicht vertieft zu
werden. Die verkappte Normativität - gleichgültig, ob der Gefahr-
begriff im Gesetzestext selbst enthalten oder durch Auslegung in ihn
hineingebracht ist - macht den Begriff der Gefahr zu einer Gefahr für
die Tatbestandsbestimmtheit. -
17'
260 Armin Kaufmann
3. Das dritte nach der Formel der objektiven Zurechnung dem ob-
jektiven Tatbestand des Vorsatzdeliktes hinzuzufügende Tatbestands-
merkmal ist die Verwirklichung gerade dieser Gefahr, die rechtlich
mißbilligt ist, im Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges. - Nehmen
wir deshalb an, unser X sei erst im Krankenhaus gestorben. Dann
müßte man, bekannten, wenn auch umstrittenen Bahnen folgend,
eruieren, ob bei der Nichthinderung des Todeseintritts ein grober oder
ein zarter Kunstfehler, das Fehlen eines Narkosearztes oder nur das
fehlsame Narkotisieren, die im über- oder im Normalmaß vorhande-
nen, gegen Antibiotika resistenten Stämme eine Rolle gespielt haben
usw. usf. - Dies alles muß auch hier ein "objektiver Beobachter"
beurteilen, diesmal wohl derjenige, den wir vom Adäquanzurteil her
kennen. Ob er in seinen Kenntnissen und Fähigkeiten ebenso zusam-
mengesetzt ist wie der oben erörterte Gefahrbeurteiler, kann ich nicht
entscheiden. Jedenfalls muß auch dieser Homunkulus ein normatives
Urteil abgeben, wobei ihm nach altem Brauch das Wissen des Täters
(aber doch wohl nur das zutreffende!) zu imputieren ist, auch hier, "um
unbillige Ergebnisse zu vermeiden"; damit dekuvriert sich die Norma-
tivität dieser Beurteilung uneingeschränkt. -
Es zeigt sich also, daß bei allen Merkmalen, die aus der Formel der
imputatio obiectiva zu entwickeln sind, offensichtlich das Wissen des
Täters als Beurteilungsgrundlage unentbehrlich ist: so schon für die
"Gefahrschaffung" und erst recht für die "rechtliche Mißbilligung", die
sonst noch mehr als ohnehin in der Luft hinge. Ob der Täter ver-
sehentlich, in der Meinung, die Waffe sei gesichert, oder ob er absicht-
lich den Schuß ausgelöst hat, ob er das Nahen des X erkannte, aber
noch glaubte, vorher die Scheibe zu treffen, oder ob er gar die Gele-
genheit nutzte, um den X zu erledigen, ferner, ob er etwas wußte über
die Zustände im Krankenhaus, - dies alles ist nicht nur wesentlich,
sondern doch wohl entscheidend für die Frage, ob im richtigen Ver-
ständnis jener Formel von "Schaffung einer rechtlich mißbilligten Ge-
fahr" und von der Verwirklichung gerade dieser Gefahr die Rede sein
darf.
3. Die Entscheidungsrolle des Tatvorsatzes
a) Hier sind wir am Kern des Problems, den Tatbestand des Vor-
satzdeliktes durch objektive Imputation einzuschränken: Im Lichte des
Tatvorsatzes schmilzt die komplexe Problematik zusammen wie April-
schnee in der Sonne. Zwei Alternativen bestehen:
"Objektive Zurechnung" beim Vorsatzdelikt? 261
2. Die zweite Alternative ist die, daß der Vorsatz gerade fehlt. Auch
dann war jede vorherige Spekulation innerhalb des objektiven Tat-
bestandes darüber, ob imputatio obiectiva vorliege, in einer schon qual-
vollen Weise überflüssig19 •
Gegen dieses Zwischenergebnis, daß das Fehlen oder Vorliegen des
Vorsatzes entscheidet und daß es daneben auf die Kriterien der ob-
jektiven Imputation nicht ankommt, sind Einwände denkbar:
b) Der erste Einwand geht dahin, daß die eben aufgewiesene Alter-
native - Vorliegen oder Fehlen des Vorsatzes - gar keine sei. Gibt es
nicht noch eine dritte Möglichkeit, diejenige der Abweichung vom vor-
gestellten Kausalverlauf (einschließlich des dolus generalis), bei der die
Anwendung des Adäquanzurteils, das der objektiven Zurechnung in-
härent ist, seit langem häufig auftritt, ja üblich ist? - Kein Wunder
deshalb, daß die Lehre von der objektiven Zurechnung in diesem Be-
reich einen festen Stützpunkt gefunden zu haben glaubt20 •
Freilich betreten wir bei der Differenz zwischen tatsächlichem und
vorgestelltem Ablauf ein zwar seit alters bekanntes, aber doch recht
19 Treffend bemerkt WesseIs, AT, 13. Aufl., § 6 11 3, daß die Prüfung der
objektiven Zurechnung in der Regel entfallen könne.
20 s. vor allem WolteT, ZStW 89 (1977), S. 649 ff.
262 Armin Kaufmann
überwiegend25 • Sie hat, da volle Schuld gegeben ist, bei den Abwei-
chungsfällen keine Begründungsprobleme. Sie kann die "Versuchslö-
sung" ebenso vertreten wie die "Vollendungslösung"; letzterenfalls
geht es dann nur darum, vom abweichenden Tatverlauf einen sinnvol-
len (vielleicht auch "zweckrationalen") Bezug herzustellen, der mit dem
Adäquanzurteil gegeben sein mag 26 •
3. Folgt man der "Vollendungslösung" und legt an den vom Täter-
plan abweichenden Tatverlauf den Maßstab der kausalen Adäquität an,
so bleibt die dogmatische Frage, wie dieses Kriterium zu klassifizieren
ist. Die Antwort hat Engisch schon vor über 50 Jahren gegeben27 : Die
Einbeziehung in den Irrtumstatbestand scheidet aus; sonst müßte sich
die Vorstellung des Täters auf den nicht vorgestellten Kausalverlauf
beziehen. Was bleibt, ist eine "objektive Strafbarkeitsbedingung" , die
durchaus im Verbrechenstatbestand (i. S. Bindings) verbleiben kann. Sie
ist jedenfalls nach dem Tatvorsatz einzufügen, da die Abweichung von
diesem gerade Gegenstand der Beurteilung ist. Das bedeutet: die Pro-
blematik kann und muß wie bisher dem Vorsatz attachiert bleiben.
Damit sind die Würfel über die Abweichungsproblematik gefallen:
Sie hat mit der Lehre von der objektiven Imputation und deren Formel
nichts zu tun28 •
b) Doch auch für diese Fallgruppe muß geprüft werden, ob der Vor-
satz insofern "durchschlägt", als sich etwa diese Fälle schon durch die
Vorsatzdoktrin erledigen: Wenn A seine Frau zu der Busfahrt verleitet,
wissend, daß die Bremsen nicht in Ordnung sind, so liegt zwar Vorsatz,
aber - doch wohl unbestritten - kein Fall des "rechtlich gebilligten"
Risikos vor. - Wenn hingegen A seine Hoffnung nur auf die allgemeinen
Verkehrsrisiken setzt, werden vielIach schon die Mindestvoraussetzun-
gen des Tatvorsatzes verneint; so von Frank, dem Bockelmann und
Hirsch folgen, "wenn die Möglichkeitsvorstellung eine bloß generelle
ist, d. h. sich darauf stützt, daß bei Handlungen dieser Art ein bestimm-
ter Erfolg eintreten kann (Tötung bei einer Autofahrt)"29. Welzepo ver-
neint den Verwirklichungswillen; Engisch, dem ich gefolgt bin, fordert,
29 Frank, StGB, 18. Aufl., § 59 Anm. V u. IX; Hirsch, in: LK, 9. Aufl., vor
§ 51 Rdn. 25; Bockelmann, AT, § 14 IV 2 a.
30 Strafrecht, 11. Aufl., S. 66.
"Objektive Zurechnung" beim Vorsatzdelikt? 267
2. Auslegungsgesichtspunkte?
Was bleibt von der objektiven Imputation? Ein besonderer Nexus
zwischen dem tatbestandsmäßigen Erfolg und dem Täter, der sich als
"objektive Zurechnung" bezeichnen ließe, ist nicht aufweisbar. Es
bleibt ein Ensemble von Topoi, nützlich für die Auslegung dieses oder
jenes Tatbestandes, manchmal sogar von Tatbestandsgruppen.
Das scheint bei Vorstößen in dieser Richtung der dogmengeschicht-
liche Gang der Dinge zu sein. H. Mayer hat mit Recht darauf aufmerk-
sam gemacht, daß Bindings Tatlehre nichts anderes als der Versuch
gewesen sei, eine objektive Zurechnungslehre zu entwickeln. Damit ist
Binding gescheitert - im Allgemeinen Teil; und doch liegt hier der
Ansatz für Bindings meisterhafte Bearbeitung des Besonderen Teils, der
wir Bleibendes verdanken.
Auch Welzel ist gescheitert mit dem vorübergehenden Versuch, die
Lehre von der Sozialadäquanz zum allgemeinen, gewohnheitsrecht-
lichen Rechtfertigungsgrund zu erheben. Seine Lehre, von ihm selbst
wieder zurückgenommen auf ein "Auslegungsprinzip" zur Begrenzung
der Tatbestände des Besonderen Teils, bleibt hier weiterhin unent-
behrlich.
Es wäre das Schlechteste nicht, wenn die Periode der objektiven
Imputation in solcher Befruchtung des Besonderen Teils endete.
ARTHUR KAUFMANN
1.
In meinem Beitrag zur Festschrift für Eberhard Schmidt, 1961 1 , habe
ich festgestellt, daß das Problem der sogenannten hypothetischen Kau-
salität - T führt pflichtwidrig die Folge F herbei, F wäre aber auch
bei pflichtgemäßem Verhalten des T oder infolge der bereitstehenden
Ersatzursache E "sowieso" in juristisch gleichwertiger Weise eingetre-
ten - , daß dieses Problem, im Zivilrecht seit langem heftig diskutiert,
von der Strafrechtsdogmatik noch kaum aufgegriffen worden ist. Jetzt,
mehr als zwanzig Jahre später, kann man dies gewiß nicht mehr be-
haupten. Es gibt eine Reihe von Monographien, viele Abhandlungen
und noch mehr Stellungnahmen in Lehrbüchern und Kommentaren
zu diesem Thema. Daß dabei meine damaligen Darlegungen in diesem
oder jenem Punkt Kritik erfahren haben, kann nicht verwundern, am
allerwenigsten mich selber, da mir die Vorläufigkeit mancher meiner
Ausführungen von Anfang an bewußt war. Im Kern freilich hat sich
mein Standpunkt als richtig erwiesen.
Ich will im folgenden hauptsächlich auch nur zum Kernproblem der
Diskussion, wie es sich in den vergangenen zwanzig Jahren heraus-
geschält hat, Stellung nehmen, andere Fragen dagegen weitgehend
vernachlässigen. Ich werde mich daher auch nicht mit allen Äußerun-
gen im Schrifttum auseinandersetzen, und auch die vielbehandelten
Problemfälle - Ziegenhaarfall, Apothekerfall, Narkosefall, Radfah-
rerfall ... - sollen hier nicht erneut vorgestellt werden; es wird un-
terstellt, daß sie dem Leser bekannt sind. Eine kurzgefaßte Antwort
auf die Haupteinwände meiner Kritiker erscheint mir allerdings gebo-
ten, weil es hier einige Mißverständnisse auszuräumen gibt. Ich will
dabei aber nicht auf Biegen und Brechen "recht gehabt" haben.
H.
18·
276 Arthur Kaufmann
21 Arthur Kaufmann, Festschrift für Eb. Schmidt (Fn. 1), S.229 (bzw. S. 76).
liches und Prozessuales vermengt wird, die aber im Ergebnis der herr-
schenden Meinung entspricht23 , ist zur Bejahung der Frage, ob der
hypothetische Umstand (die Ersatzursache) den gleichen Erfolg ver-
ursacht hätte, nur ein sehr geringer Grad von Wahrscheinlichkeit von-
nöten, denn es soll genügen, daß diese Möglichkeit nicht auszuschlie-
ßen ist (also nur 0,1, höchstens 0,2). Es ist sozusagen der Umkehrfall
zu Roxin, und darin, daß Ulsenheimers Lösung zu ungebührlichen
Freisprüchen führen muß, ist Roxins Kritik an dieser Lösung auch
berechtigt.
Aber ist es nun im übrigen eine Frage der subjektiven Wertung,
ob man in den gemeinten Fällen einen Wahrscheinlichkeitsgrad von
0,25 oder 0,4 oder 0,5 oder 0,8 ... verlangt? Natürlich läßt sich keine
mathematisch exakte Grenze ziehen (und wenn, ließe sie sich in der
Wirklichkeit nie genau feststellen), aber Grenzpfähle lassen sich aus-
machen. Stratenwerth hat sehr scharfsinnig gegen Roxin festgestellt,
"daß eine Handlung, die nach dem Stand unseres Wissens auch nur
möglicherweise gefährlich ist, Sorgfaltspflichten verletzt", daß "für
die Zurechnung eines Erfolges ... diese bloße Möglichkeit jedoch nicht
genügen" kann2'. In der hergebrachten Sprache der Strafrechtsdogma-
tik heißt das, daß der Aktunwert allein bei Fahrlässigkeitsdelikten zur
Strafbarkeit nicht ausreicht. Sie!
Andererseits läßt sich auch die Unhaltbarkeit der Gegenmeinung, wo-
nach schon ein geringer Grad von Wahrscheinlichkeit der alterna-
tiven Erfolgsverursachung zur Straflosigkeit ausreichen soll, rational
begründen. Der Gedanke der Risikoerhöhung verdeckt den Umstand,
daß es in unseren Problemfällen um Fälle der Strafausschließung (ich
lasse dahingestellt, ob schon Unrechts- oder Schuldausschließung) bzw.
der Strafmilderung (bei Vorsatztaten) geht. Und diesbezüglich gilt, wie
bei allen "negativen" Voraussetzungen der Strafbarkeit - Unrechts-,
Sehuld- und sonstige Strafausschließungsgründe -, daß es grundsätz-
lich nicht der positiven Feststellung ihres Nichtvorliegens bedarf; denn
es spricht eine natürliche Vermutung dafür, daß der Täter nicht in
Notwehr oder im Notstand gehandelt hat, daß die Tat nicht verjährt
ist usw. usw. Erst wenn konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die auf
das Gegebensein von solchen Ausnahmen hindeuten, müssen Feststel-
lungen getroffen werden. Dieses Prinzip ist praktisch allgemein an-
erkannt, und seine Anerkennung hängt keineswegs von der Einstel-
J,ung zur Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen ab. Jede
IV.
Eine prozessuale Frage hingegen ist, wann der erforderliche Grad
von Wahrscheinlichkeit als mit genügender Sicherheit dargetan zu
erachten ist. Was dies angeht, so ist zunächst mit Jescheck nachdrück-
lichst zu betonen, daß die gesteigerte Gefährdung des Handlungs-
objekts "nachweisbar" sein muß 27 , oder mit Stratenwerth, daß die Stei-
gerung des Risikos "wirklich festgestellt" werden muß 28 • Freilich sind,
wie oben erläutert, besondere Feststellungen dann unnötig, wenn kei-
nerlei Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß die pflichtwidrige Erfolgs-
verursachung auch bei pflichtgemäßem Verhalten oder infolge einer
anderen Ersatzursache ebenfalls eingetreten sein könnte. Aber nicht
angängig ist die Auffassung von Roxin, wonach für die Bestrafung
die bloße (und praktisch immer zu bejahende) Möglichkeit der Risiko-
steigerung genügen und sich daher jedes Beweisproblem erübrigen,
25 Es ist mir wohl bewußt, daß man die gleiche Voraussetzung sowohl
positiv als auch negativ formulieren kann; es ist mir aber auch bewußt, daß
die Art der Formulierung keineswegs gleichgültig ist; vgl. Arthur Kauf-
mann, Schuld und Strafe (Fn. 1), S. 113.
28 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile (Fn. 18), S. 117.
27 Jescheck, Lehrbuch (Fn. 10), S. 474.
28 Stratenwerth, Festschrift für Gallas (Fn. 11), S. 235.
282 Arthur Kaufmann
Am häufigsten ist der These, daß schon das Unrecht des Fahrlässig-
keitsdeliktes von den individuellen Fähigkeiten des Täters abhänge,
entgegengehalten worden, sie laufe auf "die heute allgemein abgelehnte
radikale Imperativentheorie mit ihrer Ineinssetzung von Unrecht und
Schuld" hinaus s• Nach Schünemann droht sie sogar "unsere gesamte,
auf der Unterscheidung von Unrecht und Schuld aufbauende Verbre-
chenslehre in Grund und Boden zu stampfen"8. Bevor solche dramati-
schen Konsequenzen ins Auge gefaßt werden, dürfte sich empfehlen,
die Differenz der Standpunkte noch einmal zu verdeutlichen.
S. 406 ff.; Schünemann, Festschrift für Schaffstein, 1975, S. 160 ff.; ders., JA
7 (1975), S. 512 ff.; Maiwald, Festschrift für Dreher, 1977, S. 451 ff.; Schroeder,
in: LK, 10. Auflage 1980, Rdn. 144 ff. zu § 16; Hirsch, ZStW 94 (1982), S. 266 ff.
, Siehe dazu unter anderen Jakobs, Studien zum fahrlässigen Erfolgs-
delikt, 1972, S. 64 ff.; ders., Beiheft zur ZStW 1974, S.20 Fn.45; ders., Straf-
recht, Allg. Teil, 1983, S. 261 ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I, 3. Auflage 1981,
Rdn. 1094 ff.; Samson, in: SK, 3. Auflage 1983, Rdn. 10 ff. Anh. zu § 16.
S Hirsch (Fn.3), S.269; Schmidhäuser, Festschrift für Schaffstein, 1975,
S.152 Fn.70; Schünemann, JA 1975, 513; Mylonopoulos, über das Verhältnis
von Handlungs- und Erfolgsunwert im Strafrecht, 1981, S. 104 f.
8 JA 1975, 513; dagegen schon Wolter, Objektive und personale Zurech-
nung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straf-
tatsystem, 1981, S. 155.
Zur Individualisierung des Sorgfaltsmaßstabes 287
Stufe des Deliktsaufbaus man die Frage nach den individuellen Fähig-
keiten zurechnen will - es sind in jedem Falle zwei ganz verschiedene
Bereiche, auf die sie sich beziehen müssen. Fahrlässig handelt nur, wer
einerseits in der Lage ist, das unedaubte Risiko, das er schafft, zu er-
kennen und zu beherrschen, also über das "instrumentelle" Können
verfügt, um dieses Risiko auszuschließen, und wer andererseits auch
die "sittliche" Anstrengung aufbringen kann, deren es dazu bedarf, also
entsprechend v,erantwortlich und gewissenhaft zu handeln vermag.
Diese Unterscheidung hat, wie auf der Hand liegt, mit der Gegenüber-
stellung von generellen und individualisierten Sorgf,altsgeboten nicht
das geringste zu tun. Sie ist innerhalb der individuellen Fähigkeiten
zu treffen. Wird das verkannt, so muß die Diskussion schon im Ansatz
scheitern. Denn natürlich steht überhaupt nur die Zuweisung der "in-
strumentellen" Fähigkeiten zum Unrecht zur Debatte.
Das scheint freilich durchaus nicht als selbstverständlich angesehen
zu werden. So hat etwa Schünemann Jakobs "in freier Zusammenfas-
sung" dahin verst,anden, daß dem habituell Leichtsinnigen, der auch
in der gefährlichsten Situation keinerlei Skrupel verspürt, die Fähig-
keit zur Einhaltung der verkehrserforderlichen Sorgfalt abgesprochen
werde, mit der Konsequenz, daß "die Tat des Zurechnungsunfähigen
für nicht pflichtwidrig erklärt" werden müßte7 • Schmidhäuser hat der
individualisierenden Auffassung vorgehalten, daß sie Pflicht und
Pflichterlebnis vermenge und "das Pflichterlebnis schon in die Un-
rechtsbetrachtung" einbeziehe8• Und Maiwald meint, man befinde sich
"mitten in der ... Kontroverse der Literatur über das Unrecht der
F,ahrlässigkeitsdelikte", wenn man im Blick auf einen Angetrunkenen
die Frage aufwirft, ob hier eine Pflicht nur entsprechend dem herab-
gesetzten Hemmungsvermögen best,ehe, ob die "Wirksamkeit des
Rechts" also "an den Gremien des Hemmungsvermögens der ihm Unter-
worfenen"ende8 • Nichts von alledem trifft zu.
Jakobs, auf den sich jene Bemerkungen in erster Linie beziehen, hat
von jeher unzweideutig zwischen der Erkennbarkeit des Erfolges, die
zur Verhaltensnorm gehört, und der Sorgfaltskenntnis als solcher un-
terschieden, die das Verhältnis zum Recht betrifft10 • Der Verstoß gegen
7 Festschrift für Schaffstein, S. 163 mit Fn. 26.
8 Festschrift für Schaffstein, S. 152 f.
D Festschrift für Dreher, S. 449.
11 Studien, S. 48.
12 Schünemann, Festschrift für Schaffstein, S. 163. Dieser Leichtsinnstäter
ist übrigens auch in sich ein seltsames Artefakt.
13 Jakobs, Studien, S. 48.
14 Festschrift für Dreher, S. 450.
Zur Individualisierung des Sorgfaltsmaßstabes 289
15 Vgl. BGHSt.24, 31, 35 f. Daß der Notfall unter Umständen auch die
Eingehung erhöhter Risiken rechtfertigen könnte, bleibe dabei außer Be-
tracht.
16 Das entspräche der zuvor zitierten Entscheidung des BGH; anders
Maiwald (Fn. 3), S. 457.
17 Festschrift für Schaffstein, S. 164.
2. Daß vom Verfasser dieses Beitrages bei der Begründung der indi-
vidualisierenden Auffassung vergleichend auf die bei den Unterlas-
sungsdelikten vorausgesetzte Handlungsmöglichkeit hingewiesen wor-
den ist, hat überwiegend Widerspruch erfahren l8 • Ein solcher Vergleich
fügt dem bisher Gesagten sicherlich keine neuen Sachgesichtspunkte
hinzu. Er dürfte jedoch sehr wohl geeignet sein, die Unterscheidung
zwischen dem "instrumentellen" und dem "sittlichen" Können noch
etwas zu verdeutlichen. Denn bei der Unterlassung ist es ein längst
vertmuter Gedanke, daß bereits die Tatbestandsmäßigkeit von der
Fähigkeit des Täters abhängen könnte, die gebotene Handlung vorzu-
nehmen, so sehr, daß einzelne Kritiker der individualisierenden Auf-
fassung geglaubt haben, sie könnten lästige Beispiele (wie etwa das
vom besonders befähigten, aber nur mittelmäßig operierenden Chirur-
gen) dadurch erledigen, daß sie sie kurzerhand in den Bereich der Un-
terlassung verweisen19 • Andere haben die Parallele explizit kritisiert,
und dazu ist hier noch ein Wort zu sag,en.
Geltend gemacht wird in erster Linie, daß das (fahrlässige) Begehungs-
delikt, anders als das Unterlassungsdelikt, lediglich die Unterlassungs-
fähigkeit voraussetze, die auch bei demjenigen gegeben sei, "der zur
Vornahme einer sorgfaltsgemäßen Handlung nicht in der Lage wäre":
Als solche sei die Nichtvornahme fahrlässiger Handlungen "auch dem
Einfältigsten und Untüchtigsten möglich"20. Dabei fragt sich natürlich,
wie die Mindesterfordernisse solcher Unterlassungsfähigkeit ihrerseits
aussehen sollen: Genügt es, daß man fähig ist, die eigenen Körperbe-
wegungen zu steuern? Oder muß man etwa auch wissen können, was
man tut? Für die Antwort wird zum Teil dann doch eine Analogie zum
Begehungsdelikt gezogen: Die tatbestandsmäßige Unterlassung erfor-
dere nur, daß der Verpflichtete zur Vornahme der gebotenen Handlung
"in corpor,e"21 oder "physisch-real" in der Lage seF2. Das geht am ent-
scheidenden Punkt gerade vorbei.
Bei der Unterlassung setzt eine verbreitete Lehre heute die "indi-
viduelle Handlungsfähigkeit" voraus, die auch von den physischen
Kräften, technischen Kenntnissen, intellektuellen Fähigkeiten usw.
des Täters abhängen so1l23. Gefordert wird also offenkundig mehr als
die bloße Fähigkeit, bestimmte Körperbewegungen vorzunehmen. Daß
der Blinde, der den Rettungsring nicht sehen kann, den er dem Ertrin-
kenden zuwerfen könnte, solche Hilfe nicht unterläßt, ist dementspre-
chend allgemein anerkannt24 . Dann aber fragt sich, ob nicht schon jene
"physisch-reale" Fähigkeit zur Vornahme der gebotenen Handlung
ganz von den individuellen Verhältnissen abhängt. Zumindest hin-
sichtlich der Erkennbarkeit der möglichen Rettungshandlung noch den
objektiven Maßstab eines einsichtigen Beobachters zugrunde zu legen25 ,
leuchtet schwerlich ein: Soll es bei einem bloß Sehbehinderten, im
Unterschied zum Blinden, auf die Fähigkeiten eines "einsichtigen Be-
obachters" ankommen? Sollte von ihm gesagt werden können, daß er
"physisch-real" in der Lage sei, die Rettungshandlung vorzunehmen,
auch wenn er das ·erforderliche Gerät ebenfalls nicht sehen kann? Man
kann, mit anderen Worten, bei den Fähigkeiten, die nötig sind, um eine
bestimmte Rettungshandlung auszuführen, nur ganz oder gar nicht
individualisieren. Zwischen der Fähigkeit, eine bestimmte Handlung
"überhaupt" vorzunehmen (z. B. ärztliche Hilfe zu leisten), und der
Fähigkeit zu erkennen, welche Rettungsmöglichkeiten im konkreten
Fall (z. B. für einen Arzt) bestehen, läßt sich keine sinnvolle Grenze
ziehen. Entweder muß beim instrumentellen Können in jeder Bezie-
hung auf die individuellen Fähigkeiten des einzelnen Verpflichteten
abgestellt werden oder aber es wäre auch hier zu generalisieren - wo-
19"
292 Günter Stratenwerth
bei man denn doch wohl zögern würde, stets vom überhaupt Menschen-
möglichen auszugehen 26 •
Die Schwierigkeit, die in der Frage nach der Handlungsfähigkeit
steckt, läßt sich also beim Unterlassungsdelikt sehr rasch deutlich ma-
chen, während sie beim Begehungsdelikt, bei dem s~e prinzipiell in
ganz derselben Weise besteht, allzu leicht durch den Umstand verdeckt
wird, daß der Täter ja "gehandelt" hat. Natürlich kann man sagen,
auch der "Einfältigste und Untüchtigste" könne eine Körperbewegung
untedassen, durch die er beispielsweise eine Lawine auszulösen droht.
Nur sollte der vergleichende Blick auf die Unterlassung lehren, daß
dies noch gar nichts besagt, daß es ebensowenig genügen kann wie die
bloße Fähigkeit zur Vornahme bestimmter Körperbewegungen, wenn
der Handelnde etwa völlig außerstande ,ist, die Gefährlichkeit seines
Verhaltens zu erkennen. Ein rechtliches Verbot, das der Gefahr entge-
genwirken soll, müßte sonst offensichtlich die Körperbewegung als sol-
che untersagen, jedenfalls an schneebedeckten Hängen, und würde da-
mit, wie Jakobs hervorgehoben hat, blinden Gehorsam fordern 27 , ganz
ebenso wie ein Gebot, rettende Körperbewegungen vorzunehmen, deren
Sinn der Verpflichtete nicht erkennen kann. Ob es stichhaltige Gründe
gibt, rechtliche Verhaltensnormen so zu fassen (oder zu interpretieren),
wird sogleich noch zu erörtern sein. Die Parallele zur Unterlassung
z·eigt jedenfalls in aller Schärfe, was es heißt, wenn solche Verhal-
tensnormen an der Handlungsfähigkeit (oder Tatmacht) des Einzelnen
ihre Grenze finden. Und sie zeigt zugleich noch einmal, daß die Fähig-
keit, strafrechtlich relevante Folgen als möglich zu erkennen und zu
28 Maiwald (Fn.3), S. 453 f., der sich für eine Generalisierung ausspricht,
möchte sie auf Handlungen beschränken, bei denen "für eine solche
Generalisierung im Sozialleben Leitbilder existieren". Seine Beispiele des
verkaterten Rettungsschwimmers und des Feuerwehrmannes, der seine Fort-
bildung "verschlafen" hat, sind indessen klassische Fälle einer vom Ver-
pflichteten selbst aktiv oder passiv herbeigeführten Unfähigkeit, rettend
einzugreifen, deren strafrechtliche Beurteilung allein davon abhängt, inwie-
weit der Verpflichtete schon für dieses Vorverhalten verantwortlich gemacht
werden kann.
27 Jakobs, Studien, S. 66 f.; ders., Allg. Teil, S. 262 f.; ebenso Samson
(Fn.4), Rdn. 14 a Anh. zu § 16. - Dies allein ist übrigens der Sinn des
von Jakobs gebildeten Beispiels eines Arztes, der sich bewußt ist, einer lex
artis zuwiderzuhandeln, aber an die Richtigkeit seines Vorgehens glaubt
und nicht mit einem Verletzungserfolg rechnet: Die bloße Kenntnis des
Verstoßes gegen die lex artis genügt zum Vorsatz ebensowenig wie die bloße
Erkennbarkeit eines solchen Verstoßes zur Fahrlässigkeit, sofern nicht auch
der Verletzungserfolg vorhersehbar ist. Es ist ein klares Mißverständnis,
wenn Armin Kaufmann (Fn. 3), S. 407, meint, hier solle wegen der über-
zeugung des Arztes, richtig zu handeln, die individuelle Vorhersehbarkeit
des Erfolges in Frage gestellt werden. Unter welchem Gesichtspunkt diese
individuelle Vorhersehbarkeit auch immer geprüft wird, dem des Unrechts
oder dem der Schuld - die bloße Tatsache, daß jemand trotz gegenteiliger
Erfahrungsberichte glaubt, richtig zu handeln, schließt natürlich die Fahr-
lässigkeit niemals ausl
Zur Individualisierung des Sorgfaltsmaßstabes 293
11.
1. An erster Stelle ist dazu ein weiteres Mal die scheinbar unaus-
rottbare Fehlvorstellung zurückzuweisen, als folge aus der Abwesen-
heit des spezifisch strafrechtlichen Handlungsunwertes, daß die Verlet-
zung oder Gefährdung fremder Rechtsgütererlaubt, rechtmäßig oder
doch nicht rechtswidrig sei. Schon der Hinweis etwa auf eine fahr-
lässige Sachbeschädigung, die keinen Straftatbestand erfüllt, sollte
genügen, um klarzustellen, daß auch strafrechtlich unverbotenes Ver-
halten selbstverständlich rechtswidrig sein kann. Wie wäre sonst die
Rechtswidrigkeit verbotener Eigenmacht zu begründen? Wenn man
also zum strafrechtlich relevanten Unrecht, unabhängig von allen Mei-
nungsverschiedenheiten im einzelnen, überhaupt so etwas wie einen
Handlungsunwert fordert, so v-erbietet sich der Umkehrschluß, man
"dürfe" überall dort, wo ein solcher Handlungsunwert fehlt, in fremde
Rechtsgüter eingreifen, von vornherein30 • Die unerfahrene Kranken-
schwester, die nicht erkeilinen kann, daß dem Arzt bei der Medikation
34 Nach Burgstaller (in: Lawinenschutz und Recht, 1983, S. 127 ff.; 132)
sind "für die Beurteilung von Lawinenunfällen" dementsprechend "mehrere
Modellfiguren zu bilden, die jeweils verschiedene Sorgfaltsstandards reprä-
sentieren. Je nach dem Verkehrskreis, dem der Tatverdächtige angehört, ist
das Verhalten maßgebend, das ein einsichtiger und gewissenhafter Berg-
und Skiführer, ein einsichtiges und gewissenhaftes Mitglied einer örtlichen
(I) Lawinenkommission, ein einsichtiger und gewissenhafter Betriebsleiter
einer Liftanlage usw. gesetzt hätte".
35 Wem das Beispiel des Skifahrers nicht genügt, mag sich am Messer-
werfer im Va riete orientieren: Dasselbe Verbot, fremdes Leben zu gefähr-
den, führt je nachdem, was man kann, zu unterschiedlichen Handlungs-
anweisungen.
38 Oder das Gebot, "möglichst weit rechts zu fahren" (§ 2 Abs.2 StVO),
das sich schon aus diesem Grunde, entgegen Schünemann, Festschrift für
Schaffstein, S. 166, nicht dazu eignet, die Frage der Sonderbefähigung zu
diskutieren. Dieses Gebot bedeutet natürlich nicht, daß man unter höchster
Anspannung aller Kräfte den gerade noch verantwortbaren Mindestabstand
einzuhalten hat, sondern nur, daß so weit rechts zu fahren ist, wie es die
Verkehrssituation zuläßt.
296 Günter Stratenwerth
37 Das hebt auch Hirsch (Fn.3), S.275, hervor, wenn er vom SorgfaIts-
maßstab sagt, er sei darauf gerichtet, "daß das Risiko, das die Teilnahme
am Straßenverkehr mit sich bringt, bei allen Verkehrsteilnehmern in etwa
gleich hoch ist". Nur hält er dies zu Unrecht für einen Einwand gegen die
Individualisierung des Maßstabes - sie wird von hier aus gerade gefordert.
38 Dasselbe folgt aus § 41 Abs.2 Ziff.7 StVO, wenn es dort, wo eine Min-
destgeschwindigkeit einzuhalten ist, "Fahrzeugführern, die wegen mangeln-
der persönlicher Fähigkeiten oder wegen der Eigenschaften von Fahrzeug
und Ladung nicht so schnell fahren können oder dürfen", verboten wird, die
betreffende Straße zu benutzen.
30 So Schünemann, Festschrift für Schaffstein, S. 164 f.
III.
keiten geben, und das mag einer der Gründe für jene Lehren ,gein.
Die Begrenzung der gebotenen Sorgfalt auf ein normales oder durch-
schnittliches Maß muß jedoch auch bei an sich standardisiertem Ver-
halten entfallen, wenn es um die Abwendung konkreter Gefahren geht.
Um es mit einem Beispiel zu sagen64 : Auf deutschen Autobahnen darf
man in der Regel sicherlich darauf vertrauen, nicht rechts überholt
.m werden, und das gilt dann auch für den Berufsrennfahrer, der bei
einem Rennen mit der gegenteiligen Möglichkeit zu rechnen hat. Wer
aber zufällig bemerkt, daß jemand sich anschickt, ihn rechts zu über-
holen, darf natürlich nicht, etwa aus "pädagogischen" Gründen, so tun,
als hätte er das nicht gesehen, und muß alle fahrerischen Fähigkeiten,
über die er verfügt, aufbieten, um einen Unf,all zu verhüten, auch
wenn er selbst wenig zu fürchten häUe. Das Beispiel zeigt zugleich,
daß generelle Regeln zumeist schon für d~e Frage gelten, auf welche
Gefahren man überhaupt zu achten hat. Es ist also, genau genommen,
nicht die Gefahr als solche, die die Begrenzung der Sorgfaltspflichten
außer Kraft setzt, sondern es sind die konkreten Anhaltspunkte für
eine solche Gefahr aus der Perspektive des Sorgfaltspflichtigen, die
diese Wirkung entfalten (wie vom Vertrauensgrundsatz her seit langem
bekannt). Bei nicht standardisiertem Verhalten dagegen können immer
nur die individuellen Fähigkeiten maßgebend sein. Das sind die The-
sen, d~e zu widerlegen wären.
dung der Tat, das andere Mal nach der subjektiven Befähigung zur
Tatvermeidung gefragt.
Die objektive Seite der Möglichkeit der Tatvermeidung wird - rich-
tig verstanden - durch das Kriterium der Kausalität bezeichnet. Es
geht hier nicht um die Frage, ob der Täter die Tat (und nicht etwa nur
den Erfolg) kausal herbeigeführt hat, sondern richtigerweise darum, ob
der Täter die Tat hätte vermeiden können, wie es ja auch der pragma-
tisch formulierte Kausalitätstest der Äquivalenztheorie nahelegt.
Subjektiv wird die Befähigung des Täters zur Gefahren- und Tat-
vermeidung stets anhand eines generellen Maßstabs aufgrund intellek-
tualistischer und voluntaristischer Kriterien ex negativo festgestellte.
So schließen etwa Bewußtlosigkeit und Tatbestandsirrtum die Befähi-
gung des Täters zur Gefahrvermeidung ebenso aus wie vis absoluta
und Notwehr. Es wird also gefragt, ob der Täter von seinem Wissen und
Wollen her in der Lage ist, der Tatbegehung entgegenzusteuern, sie zu
vermeiden. Bei der Erfassung der subjektiven Seite der Fähigkeit des
Täters zur Tatvermeidung, seiner Gefahr- oder Tatvermeideinstanz,
durch die herrschende Strafrechtsdogmatik fällt auf, daß hier durch-
gängig zwischen dem Fehlen der grundsätzlichen Befähigung des Täters
zur Tatvermeidung und der lediglich unterlassenen Aktivierung einer
(prinzipiell intakten) Tatvermeideinstanz unterschieden wird. Termino-
logisch können wir also zwischen den Strukturdefekten der Selbststeue-
rungsinstanz und den Funktionsdefiziten derselben differenzieren5 •
Bei intellektuellen oder voluntativen Strukturdefekten, also bei Be-
wußtlosigkeit oder bei reinem Reflexverhalten sowie bei vis absoluta,
ist die Fähigkeit des Täters zur Tatvermeidung durch Gegensteuerung
vollends zerstört. Demgegenüber ist die Tatvermeideinstanz des Täters
bei intellektuellen oder voluntativen Funktionsdefiziten in ihrer Struk-
tur intakt, ihre Funktion ist jedoch aus bestimmten Gründen gestört.
Bei intellektuellen Funktionsdefiziten, den Tatbestandsirrtümern,
spricht die Tatvermeideinstanz nicht an, weil es dem Täter an der
Kenntnis der Tatbestandsmerkmale fehlt, also an der Kenntnis der Ge-
fahrentwicklung, der Möglichkeit der Gefahrunterbindung, des die Ge-
fahrabwendungspflicht begründenden Sachverhalts oder des Ausblei-
bens der Gefahrenabwehr. Bei den voluntativen Funktionsdefiziten
8 Sehr deutlich äußert sich zu diesem Punkt Gschwind, Die Bedeutung des
Unbewußten für die Zurechnungsfähigkeit, in: Eisen (Hrsg.), Handwörter-
buch der Rechtsmedizin, Bd. 11, 1974, S. 78 !f.
7 Die Systematik des Gesetzes tritt am deutlichsten für den Schuldbereich
hervor. Hier werden als strukturelle Defekte fehlende Einsichts- und Steue-
rungsfähigkeit genannt (§§ 20, 21 StGB), als funktionelle Defizite werden der
Verbotsirrtum (§ 17 StGB) und die Entschuldigungsgrunde (§§ 33, 35) aufge-
führt.
Das Prinzip der Vermeidbarkeit im Strafrecht 307
20·
308 Hans-Joachim Behrendt
Zu bedenken ist bei alledem stets, daß das Verständnis für die Eigen-
tümlichkeit menschlicher Selbststeuerung und für ihre Bedeutsamkeit
im Strafrecht ohne Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion auf Seiten
der Strafrechtler nicht zu gewinnen ist. Die Kategorie des aktiven Tuns
in ihrer derzeit überragenden Bedeutung für das Strafrecht bezieht ihre
Wichtigkeit jedenfalls daher, daß sie es erlaubt, beurteilereigene
Destruktivität im Verbrechensbegriff unterzubringen.
JUSTUS KRüMPELMANN
I.
Im Streit um die Zurechnung des Erfolges bei möglicher Unver-
meidbarkeit hat sich Jescheck schon bald zur Risikoerhöhungslehre be-
kannt und zu ihrem raschen Vordringen wesentlich beigetragen. "Sinn
und Tragweite des Gebots", so führt er aus, machen "es einleuchtend,
daß schon eine erhöhte Gefährdung strafrechtlich erfaßt werden muß"1.
Der Gedanke der normativen Zurechnung liegt dieser frühen und
überzeugenden Kritik an der Zurechnungspraxis des Bundesgerichts-
hofes und der lange Zeit herrschenden Meinung zugrunde. Die Risiko-
erhöhungslehre hat scharfsinnige Kritiker gefunden; sie ist auch
scharfsinnig verteidigt worden2 • Im "Patt" der heutigen Diskussion
liegt die Frage nach einem verborgenen Widerspruch in der Basis bei-
der Lehren nicht ferne. Ich meine ihn darin zu sehen, daß die Zurech-
nung einen Wertbegriff, die Pflichtwidrigkeit, mit einem Faktum, dem
Erfolg, verbindet und daher in verschiedenen Kategorien denkt, ob-
wohl es auf normative Kriterien ankommen soll. Nun ist jedoch der
Erfolg, wie Jescheck betont hat, als Komponente des Unrechts nor-
mativ gefärbt. Er leitet das aus der Bewertungsfunktion des Rechts
ab, doch sieht er den Grundgehalt des Normativen gerade in der
Wirkungsmacht des Rechts 3 • Einen Versuch, sie auch aus der Sicht des
Verletzten aufzuzeigen' und die Zurechnung nach der normativen Kor-
respondenz zwischen der Pflicht und dem Schutzanspruch des Ver-
11.
1. Ausgangspunkt sei die Überlegung Ulsenheimers, die Zu rech-
nungsfrage könne "nur durch eine Rückbesinnung auf den Grundge-
danken der fahrlässigen Erfolgstatbestände befriedigend" entschieden
werdens. Die Vertreter beider Lehren artikulieren dazu indessen keine
grundsätzlich verschiedenen Standpunkte, soweit die Frage überhaupt
behandelt wird. Die normative Funktion des Erfolgstatbestandes soll
in der Bestandsgarantie des Objektes liegen, das den Eingriff erleidet.
Konnte das verletzte Gut ex post betrachtet durch die verletzte Pflicht
nicht geschützt werden, war sie untauglich und genügt nicht zur Zu-
rechnung9 • Die Berechnung der Pflicht auf ihren Effekt wird auch
vorgenommen, wenn man die noch als sinnvoll für den Bestand des
Gutes erscheinenden Pflichten für die Zurechnung genügen läßt, aber
die ex post "untauglichen" Pflichten jedenfalls aussondertto • Nun läßt
sich das untergegangene Gut nach der Tat nicht mehr schützen, und
so bedarf die normative Funktion des Erfolgstatbestandes einer wei-
terreichenden Begründung: Eine Pflichtverletzung mit Schadensfolge
mindere die Eindruckskraft der Norm mehr als der folgenlose Ver-
stoß II • Der Erfolgstatbestand und in seinem Dienst die Zurechnung
gewinnt so eine spezifisch generalpräventive Richtung12 • Ich halte diese
Deutung für irreführend 13 • Zutreffend ist dagegen die limitative Funk-
tion des Erfolgsdeliktes hervorgehoben worden. Nicht soll schwerer
bestraft werden, wer "Pech" hatte; der "Rest von Erfolgshaftung" be-
steht nach J escheck darin, "daß, wer Glück gehabt hat, milder oder
gar nicht bestraft wird"u. Das Strafrecht darf an Vorstadien der Ver-
wirklichung des Erfolges bei Versuch, Tendenz·· und Gefährdungsde-
likt anknüpfen, verlangt beim Erfolgstatbestand aber gerade mehr.
Die Voraussetzung des Erfolges im Tatbestand ist daher die strengste
Form der objektiven Unrechtslimitation. Das fragmentarische Prinzip
wirkt nicht nur in der Auswahl der Unrechts arten, sondern auch in
der Auswahl der Unrechtsstadien15 • Seine wichtigste Funktion hat der
Erfolgstatbestand für die Entwicklung von Situationspflichten. Der
Erfolg ist als erlittenes Unrecht "eines Menschen" (§ 222 StGB) kein
bloßes Kausalresultat der Handlung, sondern er beschreibt den Ver-
lust normativ gewährter Interessen des Verletzten16 • Nur weil der Er-
folgstatbestand die Situation des Verletzten in den Sachverhalt ein-
spiegelt, sind die konkreten Pflichten bestimmbar, die das Subjekt
11 Vgl. etwa Jakobs, AT, S. 140 f.; ders., Studien, S. 120 ff.; Wolter, Straf-
tatsystem (Anm.4), S. 127 ff.; Lampe, Das personale Unrecht, 1966, S. 210 ff.;
Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechts begriff, 1973, S. 202 ff.,
sieht darin die einzige Rechtfertigung des Erfolgstatbestandes; den Erfolg
verbannt er deswegen folgerichtig aus dem Unrecht; ähnlich Horn, Konkrete
Gefährdungsdelikte, 1972, S. 97 ff.; Lüderssen, Festschrift für Bockelmann,
S. 189 ff.
12 Während man häufig vom Rechtsgut spricht und das Tatobjekt meint,
spricht man hier vom Tatobjekt und trifft allenfalls den Rechtsgüterschutz.
13 Bei den fahrlässigen Verletzungsdelikten dürfte kaum etwas so kathar-
tisch wirken, wie das Erlebnis des drastischen Schadens. Was man in Wirk-
lichkeit "schützen" könnte, ist ein erhöhtes Sanktions bedürfnis; man unter-
stützt so das dubiose Gefühl, daß "alles nicht so schlimm war, wenn es noch
einmal gut gegangen ist", vgl. Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte,
1961, S.21. In der generalpräventiven Funktion hat der Erfolgstatbestand
vermutlich seine schwächste Stelle.
14 Jescheck, AT, S. 472.
15 Das "Fragmentarische" hat hier nicht den Charakter des Irrationalen.
Es ist gewiß sinnvoll, wenn man die Vollform des erlittenen Unrechts zur
Haftungsgrenze wählt. Eher vernachlässigt das Strafrecht bei manchen Vor-
verlegungen des Schutzes in die abstrakte Gefährdung oder in manchen
Tendenzdelikten rationale Prinzipien der Haftungsgrenze.
10 Vgl. besonders Gallas (Anm.4). Den Begriff des Erfolgsunrechts unter
dem gestaltenden Aspekt der Gewährleistungsnorm hat Paejjgen, Der Ver-
rat in irriger Annahme des illegalen Geheimnisses (§ 97 b StGB) und die allge-
meine Irrtumslehre, 1979, S. 110 ff., erheblich vertieft.
316 Justus Krümpelmann
17 Jede neue Situation kann neue Pflichten schaffen. Man stelle sich nur
eine Parallele zur StVO nach der medizinischen lex artis vor, die überdies
oft heuristisch und nicht regulativ ist. Diesen Fragen wird ein rein verhal-
tensnormatives Unrecht (vgl. besonders Armin Kaufmann, Das fahrlässige
Delikt, in: Strafrechtsdogmatik zwischen Sein und Wert, 1982, S. 140 ff.) nicht
gerecht.
18 Gewiß reicht der Erfolgstatbestand für alle Gefährdungen des moder-
nen Lebens, in denen die Kausalgesetze nicht erforscht sind, nicht aus, vgl.
Armin Kaufmann, JZ 1971, 575 f. mit Hinweisen de lege ferenda. Die Funk-
tion des Erfolgstatbestandes kann so aber nur ergänzt, nicht ersetzt werden;
anders Horn, Konkrete Gefährdungsdelikte, S. 214 f.
19 Zutreffend Jakobs, AT, S.157.
20 Damit verliert die von Fincke, Arzneimittelprüfung, 1977, S. 74 f. be-
tonte Unterscheidung zwischen dem materiellrechtlichen Kausalurteil und
seiner prozessualen Feststellung ihre Bedeutung. Die materielle Kausalaus-
sage setzt einen prozessual geschlossenen Sachverhalt notwendig voraus.
Die normative Korrespondenz zwischen Verhalten und Erfolg 317
III.
1. Der kausal beurteilte Sachverhalt ist seinerseits nur die Basis des
Unrechtsurteils; ob sich auf einem Kausalprozeß von der Handlung
zum Erfolge hin ein Unrecht aufbaut, das hängt von der normativen
Zurechnung ab. Honig, einer der Väter der normativen Zurechnungs-
lehre, hat der Kausalität die kategorieverschiedene Teleologie als
haltensnormen richten, für die Honigs Äußerung gelten soll. Ein "Je-
mand", der in einer für die Erreichbarkeit oder Abwendbarkeit des
Erfolges "in Betracht kommenden Situation" steht 29 , ist nicht nur der
Täter, sondern auch das spätere Opfer. Bezieht man das teleologische
Prinzip auf die zeitliche Realität, in der es wirkt, so läßt sich die
zweite Formel als Umschlag der Perspektive vom Täter auf den Trä-
ger des geschützten Gutes verstehen mit einer spiegelbildlichen Ver-
kehrung des Verhältnisses von Prognose und prognosebegründenden
Tatsachen. "Zweckgesetzlich gedacht" ist, zeitlich gewendet, jeweils
wörtlich zu nehmen. Beim Täter wird aus den ihm gegebenen Tatsa-
chen der Erfolg und der Weg zu ihm hin gedanklich weiterentwickelt.
Umgekehrt wird die tatsächliche Situation des bedrohten Subjekts, die
notwendig vor dem Erfolg und noch vor der Einwirkung der Hand-
lung liegt, auf den Einfluß einer "gedachten" Handlung und ihrer
Wirkungen hin gedeutet, d. h. es wird auf einer vom Handlungs-
effekt noch nicht berührten Tatsachenbasis prognostiziert. Teleolo-
gisch ist das Denken der Handlung als Mittel zum Zweck der Verän-
derung (oder auch Konservierung:lO) der gegenwärtigen Tatsachensitua-
tion zum Erfolge hin oder von ihm weg. Auch hier bedient sich das
Recht der Prognose zum Mittel der Bewältigung des zeitlich sich ent-
wickelnden, im gegebenen Zeitpunkt noch offenen Systems nach dem-
selben Prinzip der Wahrscheinlichkeitserwartung, die an der gene-
rellen Kausalerfahrung geschult ist und auf die konkrete Situation
bezogen wird. Natürlich läßt sich das, aus der Perspektive des Gefähr-
deten, nicht als Sollen darstellenJ1 , wohl aber in der Korrespondenz-
kategorie des Anspruchs. Auch der Anspruch ist teleologisch, prog-
nostisch und eine rechtliche Gestaltungskraft, und deswegen ist er
normativ32 • Wichtig ist hier, daß er, nicht anders als die Pflicht, einen
Tatsachenkreis auf dem Weg zwischen Handlung und Erfolg auszu-
sondern vermag, also leistet, wozu eine Betrachtung der äquivalenten
Determinanten nicht imstande ist; man darf diesen Kreis analog als
Anspruchslage bezeichnen. Mit dem Zeitpunkt der Erfüllung oder
fährlichkeit, aus der sich die Pflicht, wie die Gefährdetheit, aus der
sich der Anspruch entwickeln kann, sind ex ante zu bestimmende Be-
griffe. Es handelt sich nicht um einen Wechsel der Zeitrichtung, son-
dern um den Wechsel der Perspektive vom Täter zum potentiellen
Opfer. Was sich auf dem Weg von der Gefährdetheit zum Erfolg fak-
tisch noch abspielt, und das ist gewiß nur Gegenstand eines ex-post-
Urteils, interessiert uns allein in der Sachverhaltskategorie der Kau-
salität, nicht für die normative Zurechnung.
Der Rückgriff auf hypothetische Tatsachen wird nicht nur überflüs-
sig, sondern ist ausgeschlossen. Die Basistatsachen der Gefährdetheit
haben sich wie die der Gefährlichkeit wirklich ereignet und sind nicht
hinzugedacht. Man mag den Gegenstand der jeweiligen Verlaufs-
prognose eine Hypothese nennen; aber wir ersetzen nicht wirkliche
Tatsachen durch andere und wirkliche Kausalabläufe durch andere
und prüfen nicht ex post einen Effekt.
37 Vgl. Gollwitzer, in: LöwelRosenberg, 23. Aufl. 1978, Rdn. 60 ff. zu § 261;
Horn, Konkrete Gefährdungsdelikte, S. 111 ff. Auch der prozessual unbe-
schränkt aufzuklärende Sachverhalt der Anspruchslage ist notwendig für
die materiellrechtliche Zurechnung vorausgesetzt. Da es um die Tatsachen
geht, die einen Anspruch unerfüllbar machen, dürfte es an entsprechenden
Indikationen im Sachverhalt eines eingetretenen Erfolges meistens fehlen,
so daß sich Horns Bedenken gegen die Praktikabilität des Gefahrbegriffs,
die beim ausgebliebenen Erfolg eines konkreten Gefährdungsdeliktes berech-
tigt sind, erledigen (vgl. S.212). Beim eingetretenen Erfolg nach fehlge-
schlagener Rettung verhindern die von Horn aufgezeigten Schwierigkeiten
indessen oft die Zurechnung, vgl. unten V, 2 und den folgenden Text.
Die normative Korrespondenz zwischen Verhalten und Erfolg 323
21·
324 Justus Krümpelmann
V.
1. Die Tatsachen der Pflicht- und Anspruchslage bilden die Basis
der normativen Zurechnung, nicht ihren Gegenstand. Es geht nicht
um eine Verbindung von Pflicht oder Pflichtwidrigkeit mit Tatsachen,
sondern um die Korrespondenz der Prognoseteile von Pflicht und An-
spruch. Ihr Zweckzusammenhang, und zwar aus der jeweiligen Per-
spektive des Täters und des potentiellen Opfers, jeweils ex ante, ist
der Zurechnungsgegenstand. Mit der jeweiligen Prognose wird die
Sicherheit prinzipiell von einem Wahrscheinlichkeitsurteil abgelöst,
das einer Ergebniskorrektur nicht unterzogen werden darf. Die Pflicht
muß den Zweck haben, der dem Täter erkennbaren Gefahr zu begeg-
nen; welcher Grad von Wahrscheinlichkeit, sie auch zu bezwingen,
das Verhalten zur Pflicht macht, ist Frage des Einzelfalles und wer-
tend zu bestimmen. Das hängt von der Nähe und Höhe der Gefahr
ab, von Gegeninteressen und dem Interessenwert der geplanten Hand-
lung. Diese Fragen sind für die Verhaltenspflicht längst diskutiert
und zu einem gewissen Konsens gebracht worden. Keineswegs ist für
die Zurechnung eine Pflicht zu verlangen, die eine hohe Wahrschein-
lichkeit oder gar Sicherheit der Erfolgsabwendung verbürgt. Je nach
der Zweckrichtung und Gefahrenlage reicht schon die niedrige Prognose
der Erfolgsvermeidung zur Begründung aus. Fehlt es an dieser Aus-
sicht ganz, kann freilich keine Pflicht entstehen. Mit dem Anspruch
sichtspunkt der Erkennbarkeit geformt, was hier aber ein noch zu weitrei··
chender Schritt wäre. Der Sache nach ist die objektive Basis von der Wis-
sensbasis der Erkennbarkeit trennbar; zutreffend Behrendt, Die Unterlassung
im Strafrecht, 1979, S. 123 Fn.2.
54 Armin Kaufmann (Anm. 53), S. 35 f.
330 Justus Krümpelmann
VI.
58 Roxin, ZStW 74 (1962), S.432, 434, neigt wohl zu einer ähnlichen Lö-
sung; Jescheck, Aufbau (Anm.1), S.17, möchte zurechnen. Auch die Fälle der
möglichen Unvermeidbarkeit der Tötung eines unvorsichtigen Straßentraver-
santen bei überhöhter Geschwindigkeit lassen sich so zweckgerecht lösen.
Statt der Frage, ob der Wagen beim Pflichttempo noch rechtzeitig vor dem
Fußgänger zum Stehen gekommen wäre, mit ihren oft peinlichen und von
Zufallsmomenten der räumlichen Relation abhängigen Berechnungsresul-
taten, führt die Frage, welchen Schutzraum das fehlerhafte Verhalten bean-
sprucht, und ob die Pflicht des Täters zweckentsprechend war, zu angemes-
seneren Ergebnissen; in dieser Richtung gegen die kausalmechanistische
Betrachtungsweise der Vorinstanz BGH VRS 26, 208; vgl. auch OLG Köln
VRS 20, 353; zweifelhaft BGH VRS 54,436.
332 Justus Krümpelmann
wäre - wohl entgegen dem Prinzip der Risikotheorie und sicher ent-
gegen dem BGH - angemessen.
Dieselbe Problemstruktur begegnet uns im Zahnarztfall (BGHSt.21,
59). Der Zahnarzt hatte der übernervösen, fettsüchtigen Patientin, die
zudem über Herzbeschwerden geklagt hatte, in einer Chloräthyl-Voll-
narkose zwei Backenzähne ziehen wollen, ohne sorgfalts gemäß einen
Anästhesisten hinzuzuziehen. Es kam zum tödlichen Narkoseschock.
Nach dem Obduktionsbericht hatte die Patientin an einer chronischen
Herzmuskel-Entzündung (isolierte Myokarditis) gelitten, die die Nar-
koseempfindlichkeit ganz unverhältnismäßig erhöht. Die Myokarditis
ist, wie mir Ärzte versichert haben, ein seltenes, diagnostisch nur
durch Zufallsbefunde zu erkennendes und nicht gezielt anvisiertes
Leiden. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wäre die Schockwirkung auch
bei der gelinderen Lachgasnarkose eingetreten, die bei fehlender
Diagnose der Myokardie wegen des Allgemeinzustandes der Patientin
angezeigt war 57 • Die Wahrscheinlichkeit war aber geringer, so daß die
Risikolehre möglicherweise zu einer meßbaren Chancendifferenz käme.
Aber wenn die Myokarditis eine durch zweckgerechte Diagnostik nicht
nachweisbare Krankheit ist, dann handelt es sich um eine atypische
Gefährdetheit, die breitere Schutzräume beansprucht, hier das Unter-
lassen jeder Narkose. Auf die Erkennung dieser Situation war die
versäumte Diagnosepflicht aber nicht ausgerichtet; es fehlt an der nor-
mativen Korrespondenz 58 •
Im Ziegenhaarfall (RGSt. 63, 211) ist eine differenzierende Betrach-
tung notwendig. Es ging um die Anwendung des § 222 StGB nach dem
62 Die neuere Risikolehre würde für dieses Ergebnis wohl weniger die
prinzipielle Indeterminiertheit infolge des Freiheitspostulats (beim Neu-
rotiker?) als vielmehr die Unberechenbarkeit des neurotischen Verhaltens-
schemas und der Umstände benutzen, unter denen dem Kind die Nahrungs-
zufuhr in der Intensivstation verabreicht worden wäre. Der Zufall könnte
übrigens die Aufklärung bringen (im fraglichen Zeitpunkt hätte z. B. in der
in Betracht kommenden Station die Aufsicht nicht funktioniert).
Die normative Korrespondenz zwischen Verhalten und Erfolg 335
VII.
Fassen wir zusammen: Auch in der Zurechnung nach der normati-
ven Korrespondenz 63 sind Zufall und Kausalität, Gefahr, Wahrschein-
lichkeit und Sicherheit im Spiel, aber sie stehen an ihrem gehörigen
Ort. Die angebliche Zufallshaftung nach dem Erfolgsdelikt erwies sich
nicht als Haftungserweiterung, sondern als eine Haftungsbeschränkung
aus dem Gedanken des fragmentarischen Charakters des Strafrechts.
Der "Zufall" spielt dort hinein, wo er prinzipiell nicht vermieden wer-
den kann: Beim Zustandekommen eines Sachverhalts, der - dann
immanent - nach Kausalstrukturen Gesetzlichkeit erlangt, und beim
Aufklärungszufall der Basistatsachen: Das alles ist keine Besonder-
heit der Zurechnungslehre oder des Erfolgstatbestandes. Dieser Er-
eignis- und Aufklärungszufall berührt die Zurechnungsfrage nicht.
Die "Wahrscheinlichkeit" hängt daher nicht mit der Unbestimmtheit
des Sachverhalts zusammen, sondern folgt aus der Notwendigkeit der
Prognosen von Pflicht und Anspruch. Sie können nie vom Ergebnis
widerlegt werden, weil sie notwendig auf eine Zukunft bezogen sind,
die durch das Ereignis der Tatbestandsverwirklichung überholt wird.
Die "Sicherheit" hat, abgesehen von der Sachverhaltsfeststellung und
dem an ihr vollzogenen Kausalurteil vor der eigentlichen Zurech-
nungsfrage keinen Anwendungsbereich. Die sicherheitsnahe Prognose
aber eröffnet zwei Zurechnungs aspekte: Beim Verhaltensrisiko begrün-
det sie in der strikten Unterlassungspflicht ein Eingriffsverbot, das
immer zur Zurechnung führt. Bei der Gefährdetheit läßt sie einen
Schutzanspruch und damit ein Korrespondenzglied der normativen
Zurechnung entfallen, wenn nicht ein Eingriffsverbot verletzt wurde.
Eine besondere Zurechnungslehre für die Problemfälle um BGHSt.ll,
1 aber hat sich als nicht erforderlich erwiesen.
63 Auch Gimbernat Ordeig, Die innere und äußere Problematik der in-
adäquaten Handlungen in der deutschen Strafrechtsdogmatik, Diss. Hamburg
1963, S. 126 ff., 133 ff., führt sein Zurechnungsprinzip der "ratio legis" auf die
konkreten Beziehungen zwischen dem Täter und dem Opfer zurück. Die
von Ulsenheimer, Pflichtwidrigkeit (Anm.2), S. 117, daran geübte Kritik von
der "Unbestimmtheit und Zufälligkeit" der Ergebnisse, die sich auch gegen
die hier vorgetragene Lösung richten müßte, halte ich nicht für zutreffend.
Es gilt nur das auf der Verletztenseite durchzuführen, was auf der Pflicht-
seite immer schon Aufgabe der Rechtsprechung war. Die Würdigung der
Situation des Verletzten ist für die Rechtsprechung auch kein neues Thema;
im Zusammenhang mit dem Geltungsbereich des Vertrauensgrundsatzes
etwa werden solche Fragen immer wieder von den Gerichten behandelt.
SANTIAGO MIR PUIG
A ist tief ergriffen, als B ihm den Tod seines Sohnes mitteilt. Diese
Nachricht führt wegen plötzlich auftretender Herzschwäche des Adessen
Tod herbei. Nach der Untersuchung der Tatumstände besteht kein Zwei-
fel, daß B den Tod des A verursacht hat; ex ante hingegen, in dem
Moment der Übermittlung der Nachricht, erschien das Verhalten des B
für das Leben von A nicht gefährlich. Hat B gegen das Tötungsverbot
verstoßen? Vom Standpunkt der ex post-Betrachtung müßte man dies
bejahen; bezieht sich aber das Verbot auf den Zeitpunkt der Handlung
(ex ante) und fragt man, ob das Recht B in jenem Augenblick verbot,
A den Tod seines Sohnes mitzuteilen, so muß die Antwort negativ sein.
Das Bewußtsein von der Zeitlichkeit und der Relativität des Beobach-
terwissens ist eines der Merkmale unseres Jahrhunderts1 • Das traditio-
nelle Denken neigte dazu, die Welt von einem abstrakten Standpunkt
aus zu betrachten und aus der konkreten, räumlich und zeitlich beding-
ten Beobachterperspektive herauszulösen. Dies ist der Gesichtspunkt der
klassischen Metaphysik, aber auch der der traditionellen praktischen
Philosophie: so wie das Sein als Realität verstanden wird, das die zeit-
liche Dimension des konkreten empirischen Gegenstandes transzendiert,
so wird dem Guten und dem Bösen ein Sein zuerkannt, das unabhängig
von dem jeweiligen Untersuchungszeitpunkt aufgezeigt werden kann.
Eine Sache ist gut oder schlecht, und dies bezieht sich sowohl auf die
Zeit, bevor sie geschieht, als auch auf den Zeitpunkt ihrer Verursachung
oder danach. Andererseits ist das Gute oder Böse einer Sache nicht ab-
hängig davon, wie sie uns als Beobachtern in einem bestimmten Zeit-
punkt erscheint, sondern davon, ob sie an sich tatsächlich gut oder
schlecht ist. Dies ist grob gesagt die klassische Auffassung: eine ab-
strakte, ahistorische, ontologische Betrachtung, die die Gegenstände nicht
von einer konkreten räumlich-zeitlichen Erscheinungsweise aus sieht
und die die Perspektive des Beobachters nicht berücksichtigt.
2 Treffend bemerkt Dta Weinberg er in: Die logischen Grundlagen der er-
kenntnistheoretischen Jurisprudenz, Rechtstheorie, 1978, S. 126, daß die sozia-
len Institutionen, darunter das Recht, in der realen Welt existieren, das heißt
räumlich und zeitlich. Die reale Existenz der sozialen Institutionen als Pro-
dukt des menschlichen Geistes und unabhängig von ihren möglichen phy-
sischen Grundlagen gibt auch Popper zu in: EI yo y su cerebro, 1977, S. 44 f.
Vgl. Mir Puig, Sobre la posibilidad y limites de una ciencia social deI Derecho
penal, in: Mir Puig (Hrsg.), Derecho penal y Cienclas sociales, 1982, S. 20.
Die "ex ante"-Betrachtung im Strafrecht 339
Straftaten noch das des Schutzes der Gesellschaft. Warum wird also die
Strafe verhängt? Man kann zwar antworten: um Zeugnis davon abzu-
legen, daß das Böse bestraft wird - damit aber wird anerkannt, daß
man die Vergeltung nicht als bloß nachträgliche Antwort rechtfertigt,
sondern darum, einen bestimmten nachfolgenden Zweck mit der Strafe
zu erreichen (Zeugnis ablegen). Und fragt man weiter, wozu ein solches
Ziel erreicht werden soll, so lautet die vernünftigste und wahrschein-
lichste Antwort, daß man damit auf das zukünftige Verhalten der Bür-
ger einwirken möchte, um dadurch, daß das Böse seine Strafe erhält,
dessen Verwirklichung zu vermeiden. Auf diese Weise ist man aber
gerade zu einer präventiven Strafrechtsauffassung gelangt.
Das Ergebnis meiner Überlegungen ist damit einsichtig: jegliche Kon-
zeption des Strafrechts, die auf irgendeine Weise das Verhalten der
Bürger zu steuern beabsichtigt, muß auf die Zukunft hin verstanden
werden und nicht nur als Antwort auf die Vergangenheit. Dies ist der
spezifische Bereich der Präventionstheorie.
Dies bedeutet nicht, daß die präventive Funktion des Strafrechts nur
auf diesem Weg begründet werden könnte. Die hier dargelegte Auffas-
sung beruht auf einer für uns Heutige offensichtlich richtigen Wertent-
scheidung, die zu anderen Zeiten fraglich erscheinen könnte: allein die
Notwendigkeit, rechtsgüterverletzende Verhaltensweisen zu steuern und
zu vermeiden, kann das Strafrecht legitimieren. Deshalb wären straf-
rechtliche Eingriffe unzulässig, dienten sie nicht entschieden dazu, die
genannten Verhaltensweisen zu steuern; anders erschiene die Strafe als
ein unnötiges und unnützes Übel. Dies kann mit der Idee des Rechts
im sozialen und demokratischen Rechtsstaat begründet werden, mit der
in der politischen Philosophie vorherrschenden Vorstellung, die die Ver-
fassungen der Länder unseres Kulturbereiches beeinflußt und beherrscht
(zum Beispiel das deutsche Grundgesetz und die spanische Verfassung).
Ein solches Recht findet seine Berechtigung in der Verwirklichung der
Aufgabe des Staates, das soziale Leben aktiv (Sozialstaat) und demokra-
tisch seiner Form und seinem Inhalt nach (demokratischer Rechtsstaat)
umzuwandeln (zu steuern). Im Strafrecht bedeutet dies, die Gesellschaft
durch Prävention (Sozialstaat) zu schützen, die dem Sinn und den Gren-
zen eines demokratischen Rechtsstaates angepaßt ist. Diese Auffassung
habe ich jedoch schon andernorts ausgeführt" und sie stellt nicht das
spezifische Anliegen dieser Arbeit dar. Hier geht es nur darum hervor-
zuheben, daß eine Strafrechts auffassung, die als Ziel die Steuerung der
f Vgl. Mir Puig, Die Funktion der Strafe und die Verbrechenslehre im so-
zialen und demokratischen Rechtsstaat, ZStW 95 (1983), S. 417 f.; ders., Funci6n
de la pena y teoria deI delito en el Estado social y democratico de Derecho,
2. Aufi. 1982, S. 29 f.; ders., Introducci6n a las bases deI Derecho penal, 1976,
S.123 f.
Die "ex ante"-Betrachtung im Strafrecht 341
5 Vgl. für alle Jescheck, Tratado de Derecho penal, übersetzung und An-
merkungen zum spanischen Recht von Mir PuiglMufioz Conde, 1981, I, S. 386 f.
So auch das Urteil des spanischen Obersten Gerichtshofes vom 20. Mai 1981 in
diesem Sinne, zu dem Luz6n Pefia einen glänzenden Kommentar verfaßte:
Causalidad e imputaci6n objetiva corno categorias distintas dentro deI tipo
de injusto, Actualidad juridica, 1981 (VII), S. 78 f. In Spanien ist die Mono-
graphie von Gimbernat Ordeig grundlegend: Delitos cualificados por el re-
sultado y causalidad, 1966, passim.
342 Santiago Mir Puig
steuern, und daß sein Einschreiten durch das Strafrecht nur legitimiert
wird, wenn es zur Vermeidung deliktischer Verhaltensweisen notwen-
dig ist, dann wird schon deutlich, daß eine Vergeltungstheorie nicht
aufrechterhalten werden kann, die als bloße ex post-Antwort begriffen
wird: vorzuziehen ist eine präventive Theorie, die das Strafrecht als
eine ex ante-Steuerung versteht. Eine konsequente präventive Straf-
rechtsauffassung muß also auch zur Aufgabe des ex post-Gesichtspunk-
tes führen, den der Kausalismus in der Analyse der rechtswidrigen Tat
einnimmt6• Die präventive Strafnorm zielt auf den Moment ab, in dem
die Realisierung der Verhaltensweisen noch vermieden werden kann,
und will dadurch zu dieser Vermeidung motivieren. Deshalb muß das
Urteil über die Rechtswidrigkeit ex ante gefällt werden, also in dem
Augenblick, in dem der Täter zu handeln beginnt. Betrachten wir dies
eingehender.
Wenn in einem sozialen und demokratischen Rechtsstaat das Straf-
recht durch die Notwendigkeit, Straftaten zu vermeiden, legitimiert
wird, so kann dies nur durch eine strafrechtliche Norm angestrebt wer-
den, die die Bürger zu motivieren versucht, keine deliktischen Hand-
lungen zu begehen. Dies bedeutet, daß die Vermeidung sozialschäd-
licher Erfolge nur durch Strafrechtsnormen erreicht werden kann, die
zur Unterlassung von Verhaltensweisen motivieren, welche einen sol-
chen Erfolg herbeiführen können. Das Recht kann nicht verbieten, daß
schädliche Erfolge verursacht werden - es kann nicht verbieten, daß
Menschen sterben oder krank werden! -, sondern nur, daß die Bürger
willentlich sich so verhalten, daß die genannten Erfolge verursacht
werden können7 • Ein Erfolg an sich kann weder gegen Rechtsnormen
verstoßen noch demzufolge rechtswidrig sein - auch wenn dies die
Verletzung eines rechtlich geschützten Gutes bedeutet.
Wenn mit den strafrechtlichen Normen nur die Steuerung mensch-
licher Verhaltensweisen beabsichtigt wird und mit diesen nicht ver-
boten werden kann, daß anderweitig schädliche Erfolge eintreten, so
können diese Normen nur solchen Verhaltensweisen entgegenwirken,
die sich von den durch die Norm vorgeschriebenen unterscheiden. Und
da das Strafrecht eines sozialen Staates sich als eine Gesamtheit von
8 LüdeTssen schreibt: " ... die Vergeltung hat immer an den Erfolg ange-
knüpft." Vgl. Erfolgszurechnung und Kriminalisierung, in: LüdeTssenlSack,
Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften für das Strafrecht, 1980,
T, S. 28.
7 Annin Kaufmann, Zum Stand der Lehre vom personalen Unrecht, Fest-
schrift für Welzel, 1974, S.393; Dtto, Personales Unrecht, Schuld und Strafe,
ZStW 87 (1975), S. 567; Rudolphi, in: SK, 1975, vor § 1 Anm. 17 und 50; Luz6n
Peria, Aspectos esenciales de la legitima defensa, 1978, S.253; BustoslHonna-
zabal, Significaci6n social y tipicidad, in: Estudios penales y crimino16gicos.
hrsg. von Fernandez AlboT, 1982, S. 35.
Die "ex ante"-Betrachtung im Strafrecht 343
Die Theorie der objektiven Zurechnung fordert also für den Un-
rechtstatbestand der Verletzungsdelikte zu Recht, daß ex ante voraus-
gesehen werden muß, daß die Handlung den Erfolg herbeiführen wird.
Aber diese heute allgemein anerkannte Auffassung findet in der kau-
salistischen Lehre, die die Tat ex post betrachtet, keine ausreichende
Begründung: wenn nach der Verursachung des Erfolges festgestellt
wird, daß dieser durch die Handlung herbeigeführt wurde, wie kann
dann geleugnet werden, daß der Tatbestand, der in der Verursachung
des Erfolges besteht, erfüllt wurde? Der Finalismus kann auf diese
Frage in vielen Fällen eine Antwort geben, indem er den Tatbestand
verneint, wenn der Täter weder vorsätzlich noch fahrlässig handeW.
Was geschieht aber, wenn der Täter mit der Absicht handelte, den
Erfolg durch ein Verhalten zu verursachen, das ex ante nicht so gefähr-
lich erschien, um als "adäquate" Herbeiführung des Erfolges betrachtet
zu werden? Man denke nur an das klassische Beispiel des Neffen, der
seinen Erbonkel während eines Gewitters in den Wald schickt in der
Hoffnung, der Blitz möge ihn treffen.
Die allgemeine Forderung nach einer minimalen Gefährlichkeit ex
ante kann allein damit hinlänglich begründet werden, daß es sinnlos
ist, solche Handlungen zu verbieten, die im Moment ihrer Ausführung
nicht schädlich genug erscheinen. Wie könnte die strafrechtliche Norm
ihren Adressaten verbieten, eine Handlung vorzunehmen, deren Ge-
S Aus der Sicht eines präventiven Strafrechts muß die ausdrückliche For-
mulierung von Mezger, in: Die subjektiven Unrechtselemente, GS 89 (1924),
S. 245 f. - "Unrecht ist Veränderung eines rechtlich gebilligten bzw. Herbei-
führung eines rechtlich mißbilligten Zustandes, nicht rechtlich mißbilligte
Veränderung eines Zustandes" - also umgekehrt werden.
9 Vgl. Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Auf!. 1969, S. 45 f.
344 Santiago Mir Puig
fährlichkeit für das Rechtsgut, dessen Schutz der einzige Grund für
die Strafe darstellt, erst nach deren Durchführung bemerkt werden
kann 10 ?
Wenn der Finalismus viele der Fälle mit anfänglich inadäquatem
verletzendem Verhalten befriedigend lösen kann, so deshalb, weil er
in der Konzeption der Rechtswidrigkeit einen ex ante-Standpunkt ein-
nimmt: der Zweck, den der Täter anstrebte, wird als Ausgangspunkt
des Unrechts aufgefaßt. Wenn er aber die Lösung aller Fälle inadäqua-
ten Verhaltens nicht korrekt begründen kann, dann deshalb, weil er
von einer subjektiven Vorstellung des Unrechtsinhalts ausgeht. Für
den Finalismus liegt der Kern des Unrechts im Unwert der Handlung,
und dieser wiederum ist vor allem der Unwert des subjektiven Aspekts
der Tat, so daß die finalistische Konzeption des Unrechts in jedem Fall
als Theorie des personalen Unrechts erscheintl1 • Einem Strafrecht, das
die liberale Grenze des inneren Bereichs respektieren möchte (damit
also einem Strafrecht in einem demokratischen Rechtsstaat), ist dieser
subjektive Ausgangspunkt nicht adäquat. Ein solches Strafrecht ist nur
dazu legitimiert, externe Verhaltensweisen wegen ihrer potentiellen,
objektiv rechtsgutsbeeinträchtigenden Wirkung zu verbieten und ihnen
vorzubeugen, und zwar nur hinsichtlich jener Rechtsgüter, die dieses
Strafrecht schützen soll. Gegenstand dieses Strafrechts kann es hin-
gegen nicht sein, daß der Täter keine rechtsgutswidrigen "Entschei-
dungen treffe"; diesen inneren Bereich trachtet das Strafrecht nicht
zu steuern, sondern den der Prozesse der sozialen Interaktion. Zwar
richtet sich die strafrechtliche Motivation auf eine Entscheidung des
Adressaten, die notwendigerweise subjektiv ist, keine Straftat begehen
zu wollen; dies soll aber nicht auf einer Entwertung der subjektiven
Entscheidung selbst beruhen, sondern auf dem Zweck, eine externe
schädliche Verhaltensweise zu vermeiden. Der Kern des Unrechts hat
also weder in einem internen Ungehorsamsakt zu bestehen noch in
dem Willen, eine verbotene Handlung zu begehen, sondern in der wil-
lentlichen Verwirklichung des sozialen Verhaltens, dessen Prävention
das Recht beabsichtigt.
Bei der Beurteilung der Rechtswidrigkeit muß man also von einer
ex ante-Perspektive ausgehen, die die Tat grundsätzlich objektiv be-
trachtet. Dies verweist auf den Standpunkt der Durchschnittsperson,
die sich geistig in die Lage des Täters in dem Augenblick versetzt, in
dem die Handlung vollzogen wird und die über die Kenntnisse der
Situation verfügt, die jener (der Täter) haben könnte. Dieses Krite-
rium der Adäquanztheorie wird so von einer schwerlich in die dog-
matischen Kategorien passenden Einschränkung zu einem Standpunkt,
der generell zur Beurteilung der Rechtswidrigkeit einer Tat einzuneh-
men ist. Die Handlung ist dann verboten, wenn sie sich der Durch-
schnittsperson ex ante so darstellt, daß sie die mit dieser Handlung
typischerweise verbundene Verletzung oder Gefährdung verursachen
kann, wobei die Kenntnisse zu berücksichtigen sind, die der Täter bei
der Handlung hatte.
128 ff., 200 ff.; Armin Kaufmann, Festschrift für Welzel, 1974, S. 399 ff., 403,
411; SchajJstein, Handlungsunwert, Erfolgsunwert und Rechtfertigung bei den
Fahrlässigkeitsdelikten, Festschrift für Welze!, S. 561 ff.; Horn, Konkrete Ge-
fährdungsdelikte, 1973, S. 78 ff.; Dito, ZStW 87 (1975), S.567; Lüderssen, Er-
fo!gszurechnung (Anm. 6), S. 14 ff.
Die "ex ante"-Betrachtung im Strafrecht 347
c) Auch wenn sowohl das Unrecht als auch die Schuld von einem
ex ante-Standpunkt aus begründet werden müssen, muß doch auf einen
Unterschied hingewiesen werden. Der Charakter einer Tat als verboten
oder nicht verboten muß je nach dem bestimmt werden, wie sie sich
einer Durchschnittsperson ex ante in ihrer verletzenden Fähigkeit oder
in ihrer Gefährlichkeit darstellt. Demzufolge schließt der unvermeid-
bare Irrtum das Unrecht aus. Demgegenüber ist die normale Motivier-
barkeit, die die Schuld bedingt, auch wenn sie ex ante vorliegen muß,
zu bejahen, wenn der Täter mit einer (auch für die Durchschnittsper-
son) unvermeidbaren Unkenntnis seiner normalen Motivierbarkeit han-
delt (der Täter glaubte z. B. geisteskrank zu sein, während dies nicht
der Fall ist). Mag auch jener ex ante irrtümlich geglaubt haben, der
Täter sei nicht schuldig, so ist dieser doch schuldig, wenn später fest-
gestellt wird, daß er tatsächlich über eine normale Fähigkeit verfügte.
Und umgekehrt ist auch derjenige nicht zu bestrafen, der schuldlos ist,
auch wenn ex ante weder er noch die übrigen dies gewußt haben31 •
Worauf beruht diese unterschiedliche Behandlung des Irrtums im
Falle des Unrechts und der Schuld? Wer einem Tatbestandsirrtum
erliegt, glaubt, eine nicht-verbotene Tat auszuführen, während der-
jenige, der seine Schuld nicht anerkennt, trotzdem weiß, daß er eine
verbotene Tat ausführt. Da dies so ist, muß letzterer das Begehen des
Unrechts (das er als solches wahrnimmt) unterlassen, und er kann sich
nicht hinter der Unkenntnis seiner Schuld verschanzen, weil er tat-
sächlich über eine normale normative Ansprechbarkeit verfügte. In der
Schuld wird nicht das Verbot in Frage gestellt, sondern nur, ob dieses
vom Täter normal aufgenommen werden kann. Wenn die verletzende
30 Zu der vorstehenden Auffassung s. umfassender Mir Puig (Anm.29),
S.91; ders., ZStW 95 (1983), S. 449 ff. Vor kurzem hat sich Octavio de Toledo,
Sobre el concepto deI Derecho penal, 1981, S. 137 f., ausdrücklich dieser Auf-
fassung der Schuld als normaler Motivierbarkeit angeschlossen, die eine de-
mokratische Grenze der auf dem Prinzip der Gleichheit vor dem Recht be-
ruhenden Prävention festsetzt. Auch Luz6n Pena, Medici6n de la pena y
sustitutivos penales, 1979, S. 44 f., gibt zu, daß dem Schuldunfähigen nur die
normale Motivierbarkeit fehlt, aber er ist der Meinung, daß dies an sich
schon die Prävention unnötig macht. In diesem Punkt gehen unsere Meinun-
gen auseinander.
31 Ich gehe hier nicht auf die Problematik des vermeidbaren Irrtums unter
der Voraussetzung eines Entschuldigungsgrundes ein, wenn dieser Irrtum die
tatsächliche Anormalität im Motiv bestimmt. Auch hier muß das Fehlen der
Schuld zum Zeitpunkt der Tat zugegeben werden, aber es muß wegen der
vorausgegangenen Fahrlässigkeit bestraft werden, die zu dem Irrtum führte,
der die Situation der Schuldlosigkeit verursachte (actio libera in causa); vgl.
Mir Puig, Adiciones de Derecho espafiol al Tratado de Jescheck (Anm.5), 1,
S. 694 f.
23'
356 Santiago Mir Puig
I. Ausgangsposition
1. Boxer-Fall
Die Konstellation des nachträglichen Fehlverhaltens eines Dritten
betrachten wir anhand des Falles, den SSt 47/1 zu entscheiden hatte.
Aus didaktischen Gründen soll der Sachverhalt freilich vorerst in einem
wichtigen Punkt vereinfacht 4 wiedergegeben werden:
Der Angeklagte, ein Boxer, streckte im Zuge eines Streites den alkoholi-
sierten X mit einem heftigen Faustschlag ins Gesicht nieder. X schlug mit
dem Kopf auf dem Steinboden auf und blieb bewußtlos liegen. Er erlitt einen
Schädeldachbruch mit Aufsprengung der Naht sowie einen Bruch des rechten
Schläfenbeins. Diese Verletzungen wurden jedoch bei der sogleich erfolgten
Einlieferung des X ins Krankenhaus infolge unzulänglicher Untersuchung
nicht erkannt. So wurde X lediglich ambulant versorgt und dann in häus-
liche Pflege entlassen. Die Schädel operation, die an sich sofort notwendig
gewesen wäre, wurde infolgedessen erst viele Stunden später vorgenommen,
nachdem X bewußtlos in der elterlichen Wohnung aufgefunden und neuer-
lich in das Krankenhaus eingeliefert worden war. Die nunmehrige Operation
und die fachärztliche Nachbehandlung konnten nicht mehr verhindern, daß
X einige Zeit darauf an den Folgen der erlittenen Verletzung starb. Wäre X
dagegen sofort bei der ersten Einlieferung ins Krankenhaus operiert worden,
hätte er gerettet werden können.
Das Problem, das sich in diesem Fall - ich nenne ihn künftig kurz
"Boxer-Fall" - für uns stellt, liegt klar zutage: Ist der Angeklagte mit
Rücksicht darauf, daß sein Verhalten letztlich den Tod des X zur Folge
hatte, wegen Körperverletzung mit tödlichem Ausgang gemäß §§ 83,
86 öStGB schuldig zu erkennen? Oder darf man im vorliegenden Fall
lediglich eine schwere Körperverletzung gemäß §§ 83, 84 Abs. 1 öStGB
annehmen, weil doch der Tod des Verletzten auch auf das Fehlverhalten
des bei der ersten Krankenhauseinlieferung tätig gewordenen Arztes
zurückzuführen ist?
2. Weinglas-Fall
Die Konstellation eines nachträglichen Fehlverhaltens des Verletzten
selbst repräsentiert der Sachverhalt, der SSt 51/25 zugrundeliegt. Zur
leichteren Bewältigung der komplexen Problemlage wird zunächst auch
dieser Fall in einem wichtigen Punkt vereinfacht5 dargestellt:
Der Angeklagte schleuderte in einem Wiener Gasthaus dem alkoholisierten
Y, der ihn wiederholt belästigt hatte, mit zumindest bedingtem Verletzungs-
vorsatz ein Weinglas ins Gesicht. Y erlitt dadurch eine Wunde unmittelbar
über dem rechten Oberlid und eine perforierende Verletzung des rechten
Auges mit Blutung in die Augenvorderkammer. Die Wunde über dem Ober-
lid wurde noch in derselben Nacht in der 11. Universitätsklinik für Unfall-
chirurgie des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien genäht. Am Mor-
gen darauf wurde Y in die I. Augenklinik des genannten Krankenhauses
überwiesen, wo man die erwähnte schwere Augenverletzung feststellte und
dem Verletzten dringend die stationäre Aufnahme sowie eine sofortige Ope-
ration des Auges empfahl. Y lehnte das jedoch ab und wurde daraufhin
gegen Unterfertigung eines Reverses entlassen. Etwa 2 Wochen später begab
sich Y ins Krankenhaus Braunau und ließ sich dort die Nähte über dem rech-
ten Oberlid entfernen. Dabei wurde er wegen Beeinträchtigung des Sehver-
mögens des verletzten Auges an einen Augenarzt überwiesen, suchte diesen
jedoch nicht auf. Y behandelte das Auge vielmehr nur selbst mit Borwasser.
In der Folgezeit kam es zu einer fortschreitenden Verschlechterung des Zu-
standes des Auges und zunehmenden Schmerzen. Schließlich mußte vier
Monate nach der Tat das verletzte Auge im Krankenhaus Wels operativ ent-
fernt werden. Hätte Y den ihm in der Wiener Augenklinik dringend emp-
fohlenen Eingriff rechtzeitig durchführen lassen, wäre der Verlust des Auges
zu vermeiden gewesen.
Die prinzipielle Frage, die dieser Fall - ich nenne ihn künftig kurz
"Weinglas-Fall" - aufwirft, ist wiederum klar: Soll der Angeklagte mit
Rücksicht darauf, daß sein Verhalten letztlich eine dauernde schwere
Schädigung des Sehvermögens des Y zur Folge hatte, wegen Körperver-
letzung mit schweren Dauerfolgen gemäß §§ 83,85 Z 1 öStGB verurteilt
werden? Oder ist ihm lediglich eine schwere Körperverletzung gemäß
§§ 83, 84 Abs. 1 öStGB anzulasten, weil doch die angeführte Dauerfolge
auch darauf zurückzuführen ist, daß der Verletzte die zur Rettung des
Auges erforderliche Operation verweigert hat?
3. Weiterer Untersuchungsgang
Die Untersuchung der aus den beiden Fällen sichtbar gewordenen
Probleme erfolgt am besten so, daß wir die Voraussetzungen, die heute
in Österreich für die Zurechnung eines Erfolges als erforderlich ange-
sehen werden, der Reihe nach durchgehen. Von den vier Elementen der
objektiven Erfolgszurechnung erweisen sich freilich zwei bereits nach
einer kurzen Vorprüfung als nicht weiter erörterungsbedürftig: Der
Kausalzusammenhang zwischen Täterverhalten und Enderfolg sowie
eine auf diesen Erfolg bezogene Risikoerhöhung gegenüber rechtmäßi-
gem Alternativverhalten sind sowohl im Boxer-Fall als auch im Wein-
glas-Fall problemlos zu bejahen und werden bei der Konstellation des
nachträglichen Fehlverhaltens überhaupt generell vorausgesetzt. Näher
zu untersuchen sind im gegebenen Zusammenhang dagegen die bei-
den anderen Erfordernisse der objektiven Erfolgszurechnung, also
Adäquanzzusammenhang und Risikozusammenhang8 • Das soll in der
Folge geschehen, wobei das Schwergewicht unserer Erörterungen, der
praktischen Bedeutung entsprechend, klar beim Erfordernis des Risiko-
zusammenhanges liegen wird. Zum Abschluß ist dann noch kurz zu
überlegen, ob die in Rede stehende Konstellation auch spezielle Fragen
für die subjektive Erfolgszurechnung aufwirft.
111. Adäquanzzusammenhang
IV. Risikozusammenhang
1. Prinzipielle Bedeutung
Dieses in der Praxis besonders wichtige Erfordernis besagt ganz all-
gemein, daß ein adäquat verursachter Erfolg seinem Urheber nur dann
objektiv zuzurechnen ist, wenn er sich als Verwirklichung gerade des-
jenigen Risikos erweist, dem die übertretene Verhaltensnorm gezielt
entgegenwirken wollte. Oder anders ausgedrückt: Der eingetretene
Erfolg muß, soll er objektiv zurechenbar sein, innerhalb des Schutz-
zwecks der vom Täter verletzten Verhaltensnorm liegen. Das wird heute
generell einmütig anerkannt10 •
Für uns entscheidend ist nun, daß dieser Risikozusammenhangsge-
danke ganz gezielt auch auf die Konstellation des nachträglichen Fehl-
verhaltens anzuwenden ist. Erfreulicherweise hat mein diesbezüglicher
9 Ganz gezielt in diesem Sinne auch SSt 46/67 und EvBl 1979/118: Der
Adäquanzzusammenhang liegt auch dann vor, wenn der Erfolg nur mittels
einer zum Täterverhalten hinzukommenden Zwischenursache eintrat, die
"zwar nicht schon nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwarten ge-
wesen, aber doch nicht ganz außergewöhnlich und deswegen außerhalb der
menschlichen Erwartung gelegen war".
10 Vgl. nur Burgstaller, WK, § 6 Rz. 65 ff. Für die Bundesrepublik Deutsch-
land etwa Jescheck, AT, S.231, 474, sowie Rudolphi, in: SK, vor § 1 Rz.64
und 71 ff.
Erfolgszurechnung bei nachträglichem Fehlverhalten 363
a) Weithin einig ist man sich in Österreich allerdings darin, daß dem
Täter ein Erfolg dann nicht mehr zugerechnet werden darf, wenn das
nachträgliche14 Fehlverhalten eines Dritten oder des Verletzten selbst
2! Vgl. SSt 48/68 und ZVR 1977/273 sowie OLG Wien ZVR 1976/239.
22 Dies umso mehr, als der OGH erst jüngst einen anderen heiklen Risiko-
zusammenhangsfall ganz im Sinne der heutigen Lehre gelöst hat. Vgl. RZ
1981/35 mit zustimmender Anm. Kienapfels, dessen Einordnung des Falles in
die Konstellation des nachträglichen Fehlverhaltens allerdings von meinem
Verständnis dieser Konstellation abweicht.
23 Dazu Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 118 f. Ausdrücklich gegen-
teiliger Auffassung Rudolphi, in: SK, vor § 1 RZ.74.
366 Manfred Burgstaller
a) Beginnen wir mit dem Boxer-Fall. Hier hat das Erstgericht, ge-
stützt auf ein Sachverständigengutachten, ausdrücklich festgestellt, daß
die Gefährlichkeit einer Verletzung, wie sie das Opfer durch den Faust-
schlag erlitt, häufig selbst von Ärzten nicht erkannt wird. Das muß man
wohl so verstehen, daß damit dem Arzt, der bei der ersten Kranken-
hauseinlieferung des Verletzten eine falsche Diagnose stellte und diesen
infolgedessen in häusliche Pflege entließ, keine grobe Fahrlässigkeit
angelastet werden kann. Legt man das zugrunde, ist nach den vor-
stehend skizzierten Regeln die Entscheidung klar: Der Tod des Verletz-
ten steht trotz des geschilderten nachträglichen Fehlverhaltens des
Arztes noch im Risikozusammenhang mit dem Täterverhalten und ist
diesem daher objektiv zuzurechnen. Der gleichlautenden Lösung des
Erstgerichtes und des OGH in SSt 47/1 ist daher schon jetzt zuzustim-
men. Auf einen Umstand, der den Täter bei der realen Fallgestaltung
zusätzlich belastete, komme ich noch zurück26 •
28 In der verkürzten Wiedergabe des Ersturteils durch 55t 51/25 ist diese
vom LG5t Wien in seiner E vom 14. 12. 1979, 5 a Vr 5560/79-24, gebrauchte
Argumentation verlorengegangen.
Erfolgszurechnung bei nachträglichem Fehlverhalten 369
Frage keine Schlüsse ziehen. Denn bei der Erfolgszurechnung der Un-
terlassungsdelikte wirken sich die angesprochenen praktischen Schwie-
rigkeiten zwangsläufig stets zugunsten des Angeklagten aus. Bei Be-
urteilung der Beziehung zwischen nachträglichem Fehlverhalten und
Enderfolg verhält es sich dagegen genau umgekehrt. Hier würde die
erwogene Auffassung dazu führen, daß die Schwierigkeit, einen Kau-
salzusammenhang zwischen den genannten Umständen als unzweifel-
haft zu erweisen, notwendigerweise zu Lasten des Angeklagten geht.
Denn das Mißlingen des geforderten Nachweises bedeutete ja stets, daß
der betreffende Enderfolg dem Angeklagten zuzurechnen ist.
Geht man von dieser Einsicht aus, könnte man unter Berufung auf
den Grundsatz "in dubio pro reo" sogar zu einer radikalen Gegenthese
kommen: Ein Enderfolg ist dem Täter schon dann nicht zuzurechnen,
wenn die Möglichkeit, daß dieser Erfolg ohne das nachträglich gesetzte,
grob fahrlässige Fehlverhalten eines Dritten bzw. des Opfers selbst
nicht eingetreten wäre, jedenfalls nicht auszuschließen ist. Diese Auf-
fassung scheint in der Tat das Erstgericht in dem in ZVR 1977/273 be-
urteilten Fall vertreten zu haben. Eine derart weitreichende Einschrän-
kung der Erfolgszurechnung ist aber wohl von den oben IV 2 b als
maßgeblich erkannten Zwecken des Strafrechts her nicht mehr zu be-
gründen. Insoweit kann man der Entscheidung des OGH im bezogenen
Fall durchaus zustimmen.
Zu überlegen bleibt, ob es nicht eine Lösung zwischen den beiden
erwogenen Positionen gibt. Kehren wir noch einmal zurück zu unserer
Grundeinsicht: Bei nachträglichem Fehlverhalten eines Dritten oder des
Verletzten selbst den Risikozusammenhang auszuschließen, ist dann an-
gebracht, wenn das nachträgliche Fehlverhalten für den eingetretenen
Enderfolg ein derart großes erlebnismäßiges Gewicht erhält, daß es den
Zusammenhang dieses Erfolges mit dem Verhalten des Täters ganz in
den Hintergrund treten läßt. Die entscheidende Frage ist nun, ob man
das unter Umständen auch dann sagen kann, wenn eine Kausalbezie-
hung zwischen nachträglichem Fehlverhalten und Enderfolg zwar zu
vermuten, aber nicht sicher ist. Nach einigem Zögern möchte ich diese
Frage bejahen. Ich meine, daß es für einen Ausschluß des Risikozusam-
menhanges zwischen Täterverhalten und Enderfolg genügen sollte, daß
dieser Erfolg ohne das grob fahrlässige nachträgliche Fehlverhalten
wahrscheinlich unterblieben wäre. Bei dieser Konstellation ist das
Risiko, das das Fehlverhalten eines Dritten bzw. des Verletzten selbst
für den Enderfolg begründet hat, gegenüber dem vom Täter ausgelösten
Risiko für eben diesen Erfolg sozi al psychologisch bereits so dominant,
daß es mir sachgerecht erscheint, auf eine Zurechnung des Enderfolgs
zum Täterverhalten zu verzichten.
Erfolgszurechnung bei nachträglichem Fehlverhalten 371
24·
372 Manfred Burgstaller
Auszugehen ist davon, daß es bei der Frage, ob ein bestimmtes nach-
trägliches Verhalten des Verletzten als Fehlverhalten im hier interes-
sierenden Sinn einzustufen ist, nicht darauf ankommt, ob zur Unterlas-
sung des betreffenden Verhaltens eine echte rechtliche Verpflichtung
bestand3!. Es genügt vielmehr, daß ein einsichtiger und gewissenhafter
Mensch zur Abwehr des ihm drohenden weiteren Schadens entspre-
chende Gegenmaßnahmen ergriffen hätte 32 •
Ob man dies in einem konkreten Fall überhaupt bzw. sogar in der
qualifizierten Form bejahen kann, daß die Unterlassung bestimmter
Handlungen zur Schadens abwehr dem Verletzten nicht bloß als fehler-
haft schlechthin, sondern als grob fehlerhaft anzulasten ist, hängt unter
anderem sicher auch davon ab, mit welchem Wahrscheinlichkeitsgrad
die unterlassenen Maßnahmen den Eintritt des Enderfolges hätten ver-
hindern können. Soweit der OGH in SSt 51/25 diesen Zusammenhang
bewußt macht, ist das daher durchaus verdienstlich. Man darf den ange-
sprochenen Aspekt aber keinesfalls verabsolutieren. Ob - um gleich bei
unserem Beispielsfall zu bleiben - die Verweigerung einer Operation
als grob fahrlässiges Fehlverhalten des Verletzten zu beurteilen ist, hängt
selbstredend nicht nur davon ab, mit welchem Wahrscheinlichkeitsgrad
diese Operation das mit ihr angestrebte Ziel voraussichtlich erreichen
wird. Offensichtlich ist vielmehr eine Gesamtabwägung einer Vielzahl
von Faktoren erforderlich: Es kommt einerseits darauf an, welche Fol-
gen mit welcher Wahrscheinlichkeit ohne Operation zu erwarten sind,
und anderseits darauf, welche Chancen und welche Risiken die Durch-
führung der Operation eröffnet. Versucht man das für den Weinglas-
Fall zu konkretisieren, so ergibt sich folgende Situation: Ohne Operation
war das verletzte Auge offenbar mit Sicherheit verloren. Die Durchfüh-
rung der Operation dagegen hätte das Auge zwar nicht sicher, aber doch
mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gerettet. Dafür, daß die Opera-
tion für den Verletzten irgendwelche Risiken begründet hätte, die über
den Verlust des ohne Operation sicher verlorenen Auges hinausgegan-
gen wären, findet sich kein Anhaltspunkt.
Bei dieser Sachlage muß man die Auffassung des OGH, die in Rede
stehende Operation sei in einem solchen Maße "risikobehaftet" gewe-
sen, daß ihre Verweigerung nicht als Fehlverhalten anzulasten sei, mit
Liebscher eindeutig ablehnen33 • Die vorliegende Operationsverweige-
rung ist vielmehr als grobe Fahrlässigkeit des Verletzten einzustufen
und bildet daher durchaus eine Grundlage dafür, den Risikozusammen-
hang zwischen dem Verlust des Auges und dem Täterverhalten zu ver-
neinen31 •
Voraussetzung für diesen Ausschluß der Erfolgszurechnung bleibt im
konkreten Fall allerdings - daran ist nochmals zu erinnern - , daß der
Verletzte die geschilderte Sachlage zumindest in ihrem Kern richtig er-
fassen konnte. Wäre er in dem Zeitpunkt, als er in der Augenklinik die
dringend empfohlene Operation verweigerte und auf seiner Entlassung
bestand, wirklich noch so stark unter Alkoholeinfluß gestanden, daß er
gar nicht fähig war zu begreifen, daß diese Operation zur Rettung des
verletzten Auges erforderlich war, müßte man insoweit aus subjektiven
Gründen ein grob fahrlässiges Fehlverhalten des Verletzten verneinen.
Möglicherweise käme man im vorliegenden Fall freilich dennoch zu
einem Ausschluß der Zurechnung des Enderfolges zum Täterverhalten.
Unter Umständen kann man nämlich an das in der Fallschilderung mit-
geteilte weitere Geschehen anknüpfen. Schließlich wurde der Verletzte
etwa zwei Wochen nach der Tat vom Krankenhaus Braunau neuerlich
an einen Augenarzt überwiesen, hat dieser überweisung aber nicht
Folge geleistet35 • Ob hierin eine grobe Fahrlässigkeit des Verletzten zu
erblicken ist und ob in diesem Zeitpunkt eine Rettung des Auges noch
immer mit ausreichender Wahrscheinlichkeit möglich gewesen wäre,
läßt sich aber nach den vom Erstgericht getroffenen Feststellungen nicht
abschätzen.
Sind in einem konkreten Fall die Bedingungen, unter denen das nach-
trägliche Fehlverhalten eines Dritten oder des Verletzten selbst den
Risikozusammenhang zwischen Täterverhalten und Enderfolg entfallen
läßt, gegeben, so steht damit der Ausschluß der Zurechenbarkeit dieses
Erfolges bereits endgültig fest: Die Frage der subjektiven Erfolgszu-
rechnung stellt sich gar nicht mehr. Aktuell werden kann diese zweite
Zurechnungsebene im gegebenen Zusammenhang also nur dann, wenn
ein nachträgliches Fehlverhalten vorliegt, das - sei es, weil es nur als
leicht fahrlässig zu beurteilen ist, sei es, weil sein Zusammenhang mit
dem Enderfolg nicht ausreicht - die objektive Zurechnung dieses Erfol-
ges zum Täterverhalten nicht hindert. Ob sich bei dieser Fallgestaltung
für die subjektive Erfolgszurechnung spezielle Probleme ergeben, soll
zum Abschluß kurz überlegt werden.
Nach der traditionellen Auffassung könnte man derartige Probleme
durchaus erwarten. Denn diese Auffassung verlangt für die subjektive
VII. Ergebnis
I.
das Schiff samt Besatzung untergeht, so haben wir es mit dolus even-
tualis zu tun 18 ."
Der Streit um das Wesen des bedingten Vorsatzes wurde in gewis-
sem Maße durch das Strafgesetzbuch von 1932 entschieden, das neben
dem direkten Vorsatz auch den bedingten Vorsatz regelte 17 und ihn
entsprechend der Einwilligungstheorie definierte - als Voraussicht
der Möglichkeit der Begehung einer Straftat und als Einverständnis
mit der Begehung (Akzeptieren der Begehung der Straftat). Nach die-
sem Strafgesetzbuch beruht die Fahrlässigkeit auf der Voraussicht
der Möglichkeit des Begehens einer Straftat und der unbegründeten
Erwartung, daß diese nicht eintreten werde (Handeln im Vertrauen
darauf, daß der Straftatbestand nicht eintreten werde). Man entschied
sich also dafür, daß der bedingte Vorsatz das Bewußtsein der Mög-
lichkeit der Tatbestandsverwirklichung und eine bestimmte Willens-
einstellung (Einwilligung, Einverständnis, Billigung)18 verlangt. Man
entschied sich weiterhin dafür, daß der bedingte Vorsatz nicht nur bei
Erfolgsdelikten, sondern auch bei Tätigkeitsdelikten in Betracht
kommt. Die Formel des Strafgesetzbuchs von 1932 konnte jedoch den
Weg zur wissenschaftlichen Analyse des bedingten Vorsatzes nicht er-
setzen. An der Diskussion über das Wesen des bedingten Vorsatzes,
über seine Stellung im Rahmen der Struktur der subjektiven Seite
der Straftat und über die Abgrenzung von anderen Formen des Vor-
satzes und von der Fahrlässigkeit nahmen viele Wissenschaftler und
in der Praxis tätige Juristen teil. Die Diskussionen führten jedoch zu
keiner Abwandlung der Formel des bedingten Vorsatzes, die im Straf-
gesetzbuch von 1969 eigentlich ohne Änderungen wiederholt wurde.
Um die Diskussion über den bedingten Vorsatz zu charakterisieren,
muß festgestellt werden, daß die überwiegende Mehrheit der Autoren
einen der Einwilligungstheorie entsprechenden Standpunkt einnahm,
obwohl man verschiedene Formulierungen zur Beschreibung des Moti-
vationsprozesses benutzte. Nur A. Berger versuchte, den direkten Vor-
satz vom bedingten auf der Grundlage des intellektuellen Faktors ab-
zugrenzen, weshalb er auch die Vorstellungstheorie vertrat. Er kam
zu dem Ergebnis, daß bedingter Vorsatz dann gegeben ist, wenn der
Täter die Möglichkeit des Erfolges seines HandeIns als wahrscheinlich
voraussieht, direkter Vorsatz hingegen, wenn der Täter die Straftat
als unvermeidliche Folge seines Verhaltens betrachtetl9 • Dieser Vor-
In der polnischen Literatur über den bedingten Vorsatz wird auch die
Anschauung vertreten, die die ontologische Struktur dieses Vorsatzes
als Sich-Abfinden bzw. Billigen oder Akzeptieren in Frage stellt. In den
60er Jahren waren es M. Szerer und St. Plawski, die wesentliche Argu-
mente gegen die herrschende Einwilligungstheorie erhoben. Szerer
meinte, daß es den bedingten Vorsatz in Gestalt des Sich-Abfindens
bzw. der Billigung oder des Inkaufnehmens in Wirklichkeit nicht gebe,
daß es vielmehr nur eine Erfindung der Wissenschaftler sei, um die
Lücke zwischen dem direkten Vorsatz und der Fahrlässigkeit zu füllen.
Nach Szerers Ansicht sollte man besser drei Formen der Schuld unter-
scheiden27 • Eine ähnliche Ansicht vertrat auch Plawski 28 • Die Mittelform,
die den ganzen psychischen Sachverhalt, der bisher im bedingten Vor-
satz untergebracht war, sowie die bewußte Fahrlässigkeit umfassen
sollte, beruht nach diesen Autoren auf dem Bewußtsein der Möglichkeit
der Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale, ungeachtet ihrer Wahr-
scheinlichkeit im konkreten Einzelfall. Dies ist indessen keine neue Auf-
fassung, obwohl sie noch heute vertreten wird, sondern lediglich eine
unwesentliche Modifikation der Anschauungen Löfflers und Miiickas 29 ,
gegen die schon eine Vielzahl begründeter Argumente ontologischer und
teleologischer Natur vorgebracht worden ist 30 •
Ein wenig näher soll die Theorie W. Wallers, die er 1957 vorlegte und
1981 überarbeitete, besprochen werden, die als Gleichgültigkeitstheorie
bezeichnet wurde, aber nicht mit der Gefühlstheorie Engischs überein-
stimmt31 • Bevor wir zu ihrer Analyse kommen, muß hervorgehoben wer-
den, daß Wolter noch 1933 die Möglichkeit erwog, den bedingten Vor-
satz, vermutlich unter dem Einfluß von Engisch, als "nicht näher be-
stimmte Gleichgültigkeit" aufzufassen, deren gute Seite - wie er selbst
schrieb - darin besteht, "daß dem Täter jeder Erfolg zugeschrieben
werden konnte, obwohl er unmittelbar nicht beabsichtigt war". Von
dieser Theorie nahm er jedoch Abstand, da nach ihr der bedingte Vor-
satz dadurch gekennzeichnet wäre, daß ein auf den Eintritt des Erfolges
gerichteter Wille fehlt, während gleichzeitig ein auf den Nichteintritt
!16 Wolter, Studia (Anm. 15); ders., Nauka 0 przest~pstwie (Die Lehre vom
Verbrechen), 1973, S. 126 ff.; Buchala, Prawo karne materialne (Anm. 12),
S. 340 ff.; Andrejew, Polskie prawo karne (Polnisches Strafrecht), 3. Auf!.
1975, S. 121 ff.; Swida, Prawo lmrne (Strafrecht), 1982, S. 183 ff.; Sliwowski,
Prawo karne (Strafrecht), 1975, S. 209 ff.
27 Szerer, W sprawie zamiaru ewentualnego (über den dolus eventualis),
Panstwo i Prawo 1959, Nr. 3, S. 450 ff.
28 Plawski, Trzecia wina (Dritte Form der Schuld), Nowe Prawo 1952,
Nr. 10, S. 24 ff.
28 Löffler, Die Schuldformen des Strafrechts, 1895; Mii'"icka, Die Formen
der Strafschuld und ihre gesetzliche Regelung, 1903.
30 Wolter, W sprawie (Anm. 22).
dieses Erfolges gerichteter Wille vorhanden wäre, also ein auf etwas
Negatives gerichteter Wille, was bei ihm selbst grundlegende Zweifel
weckte 32 • Zu der Gleichgültigkeitstheorie kehrte Wolter unter dem Ein-
fluß der wissenschaftlichen Psychologie zurück, denn diese untermauerte
seine überzeugung, daß so etwas wie "Sich-Abfinden", "Akzeptieren"
oder "Billigen", das "Wille" sein sollte, nicht besteht oder zumindest
der Psychologie als eine Art des Willens nicht bekannt ist. Wolter fol-
gerte so: Wenn eine solche Art des Empfindens nicht besteht, das Gesetz
aber mit einer Formel operiert, die auf die Existenz von etwas hinweist,
was bedingter Vorsatz genannt wird, so muß der ontologische Gehalt
dieses Begriffes festgestellt werden. Natürlich gab es auch einen ande-
ren Lösungsweg für das entstandene Dilemma, die Annahme nämlich,
daß der Gesetzgeber sich geirrt und eine Institution ohne psychische
Grundlage eingeführt hat bzw. daß dieser Inhalt eben nicht eine Son-
derart des Willens ist. Diesen Weg beschritt Wolter nicht, da er davon
überzeugt war, daß der Vorsatz ein Willensakt sein müsse, und wenn
zwischen direktem Vorsatz und bewußter Fahrlässigkeit eine Lücke be-
steht, die der bedingte Vorsatz ausfüllen solle, daß man dann den eigent-
lichen psychischen Sachverhalt dieses Vorsatzes finden müsse.
Im Ergebnis stellte Wolter das Wesen des bedingten Vorsatzes folgen-
dermaßen dar: Eine erste deutliche Grenze bildet im Bereich des Vor-
satzes der Wille, eine Straftat zu begehen - der Täter will die Verwirk-
lichung der Tatbestandsmerkmale. Die zweite, ebenfalls scharfe Grenze
bildet die bewußte Fahrlässigkeit, die Wolter als Wille der Nichtver-
wirklichung der Tatbestandsmerkmale versteht. Daraus zog er die Fol-
gerung: Wenn der Täter handelnd der Meinung ist, daß die Erfüllung
der Tatbestandsmerkmale nicht eintreten wird, so bedeutet dies, daß er
will, daß diese Erfüllung nicht eintrete. Auf diese Weise erhalten wir
nach Wolter zwei scharfe Grenzen, zwischen denen eine psychische Emp-
findung folgenden Inhalts ihren Platz hat: Der Täter sieht die Möglich-
keit der Erfüllung der Tatbestandsmerkmale, jedoch will er ihre Erfül-
lung nicht, er will aber auch nicht, daß die Erfüllung nicht stattfindet,
also will er weder das eine noch das andere. Diesen charakteristischen
Inhalt des Empfindens nennt er "Gleichgültigkeit des Willens", "Wil-
lenspassivität" oder "Willensindifferenz"33.
Diese Anschauung W~Iters teilte ich noch in den 6Der Jahren34 , machte
aber schon damals auf zwei Gesichtspunkte aufmerksam. Der erste war
32 Walter, Zarys (Anm. 24), S. 103.
33 Walter, W sprawie (Anm.22); ders., Nauka 0 przestE:pstwie (Anm.26),
S. 127; ders., Glosa do wyr. SN z 19. XI. 1980 (Erklärende Bemerkung zum
Urteil des Obersten Gerichts vom 19. XI. 1980), Panstwo i Prawo 1981, Nr. 10,
S.145.
34 Buchala, Problemy zamiaru wynikowego (Anm.23), S. 605 ff.
Der Dolus eventualis in der polnischen Strafrechtslehre 385
gen der Ansicht denkbar, daß der Tod dank der Geschicklichkeit des
Täters, verschiedener Umstände und anderer Gegebenheiten nicht ein-
treten werde.
Zum Schluß der übersicht über die Anschauungen der polnischen
Strafrechtswissenschaft möchte ich erwähnen, daß ich in meinem Lehr-
buch von 1980 eine Meinung vertrete, die eigentlich der Wahrscheinlich-
keitstheorie entspricht. Nach dieser Anschauung ist für den bedingten
Vorsatz gegenüber dem direkten der Umstand kennzeichnend, daß der
Täter sich das Erreichen des Nebenerfolgs nicht als Ziel oder antizipier-
tes Mittel zum Ziel vorstellt und auch sein Erreichen nicht als unver-
meidlich betrachtet, jedoch das Bewußtsein hoher Wahrscheinlichkeit
seines Eintritts hat, und ohne zu dieser Tatsache Stellung zu nehmen,
es dem Laufe der Ereignisse und dem Spiel der von ihm in Gang gesetz-
ten äußeren Kräfte überläßt, ob der Erfolg eintritt oder nicht. Er geht
auch nicht davon aus, daß er den Erfolg vermeiden werde, handelt also
nicht im Vertrauen auf das Ausbleiben des Nebenerfolges. Dieses dem
Täter bewußte Erfolgsrisiko wird also in die Grundlage des Handlungs-
entschlusses einbezogen, was uns berechtigt zu sagen, daß der Neben-
erfolg durch den Täter zusammen mit dem antizipierten Erfolg "auch
mitgewollt" war 3g •
III.
In der Rechtsprechung des Obersten Gerichts finden wir, wie schon
gesagt, viele Urteile, die im Zusammenhang mit dem bedingten Vorsatz
ergangen sind. Der besondere Aufschwung des bedingten Vorsatzes war
mit der großen Leichtigkeit verbunden, diesen Vorsatz festzustellen, und
zwar trotz des Fehlens eindeutiger Inhaltsdeterminanten des Empfin-
dens, die der Formel des Strafgesetzbuchs entsprochen hätten. Das Fest-
stellen dieses Vorsatzes, besonders bei Verkehrs- und Wirtschaftsdelik-
ten, erfolgte unter dem Druck der Bedürfnisse der Kriminalpolitik, die
auf Generalprävention gerichtet war. Das Strafgesetzbuch von 1932 sah
für fahrlässige Verkehrsdelikte sehr milde Strafen vor (z. B. die grund-
legende Vorschrift des Art. 215 § 2 8tGB bis zu einem Jahr Arrest oder
Geldstrafe), ähnlich bei den Tatbeständen der Amtsdelikte, die bei fahr-
lässigen Wirtschaftsstraftaten angewandt wurden (Art. 286 8tGB, wel-
cher in § 2 bis zu sechs Monaten Arreststrafe vorsah). Um ein härteres
Strafmaß zu erreichen, mußte man zu vorsätzlichen Straftaten über-
gehen. Dies war mit Hilfe des bedingten Vorsatzes leicht zu erreichen,
weil sein Wesen fraglich war und seine Merkmale nicht präzise be-
schrieben wurden. Die Rechtsprechung verwendete zwar beim Feststel-
len des bedingten Vorsatzes die Formel der Billigung bzw. des Akzep-
tierens, legte jedoch in der überwiegenden Mehrheit der Entscheidun-
gen den größten Nachdruck auf die Vorstellung des Täters. In der Regel
wurde angenommen, daß der Täter den unerwünschten Erfolg billigend
in Kauf genommen habe - Verkehrskatastrophe oder großer Wirt-
schaftsschaden - , wenn aus den Begleitumständen der Tat hervorging,
daß er das Bewußtsein hoher Wahrscheinlichkeit des Eintretens des Er-
folges gehabt hatte. Es wurde zum Beispiel angenommen, daß der Auto-
fahrer die Folgen von Alkoholeinfluß am Lenkrad in Gestalt weitgehen-
der Einschränkung der psychomotorischen Funktionen kennt. Wenn er
daher trotz dieses Bewußtseins das Fahrzeug unter Alkoholeinfluß oder
unter Verletzung von Sicherheitsvorschriften führt, so findet er sich mit
dem Erfolg ab 40 • Diese Praxis wurde erst 1959 eingestellt, als ein Gesetz
verabschiedet wurde, welches eine hohe Strafdrohung für fahrlässig
verursachte Verkehrsunfälle vorsah. Aber auch nach diesem Zeitpunkt
finden wir noch Urteile, die in dieselbe Richtung weisen wie vorher,
nur mit dem Unterschied, daß bei der Anwendung des bedingten Vor-
satzes die Feststellung von Umständen für erforderlich gehalten wur-
de, die eindeutig auf die hohe Wahrscheinlichkeit des Erfolges hin-
deuteten und einen Unfall als naheliegend erscheinen ließen, wie z. B.
das Führen eines Fahrzeugs im Rausch oder unter schwerwiegender
Verletzung der Sicherheitsvorschriften41 • Ähnliche Schlußfolgerungen
finden wir auch in anderen Urteilen. So hat das Oberste Gericht früher
in manchen Urteilen angenommen, daß allein die Art des benutzten
Gegenstands, z. B. Axt, Gabel oder die Anwendungsweise die Annahme
des bedingten Vorsatzes begründen können. Seit einigen Jahren festigt
sich jedoch die Praxis, daß für sich genommen weder die Art des Werk-
zeuges noch die Anwendungsweise für die Annahme des bedingten Vor-
satzes ausreichen, sondern daß die gesamten Umstände, unter denen die
Tat begangen wurde, auf eine hohe vom Täter erkannte Wahrschein-
lichkeit der Verursachung des Todes hinweisen müssen, um den beding-
ten Vorsatz feststellen zu können. Zu diesen Umständen zählt das Ober-
ste Gericht: die Art des Werkzeugs, seine Anwendungsweise, die Zahl
der beigebrachten Wunden, die Art der verursachten Körperverletzung,
das Verhältnis des Täters zum Opfer, Trunkenheit usw. 42 • In einem Ur-
teil wies es auch darauf hin, daß das Verhalten nach schwerer Mißhand-
lung, insbesondere das Im-Stich-Lassen des Opfers nach der Tat, auf
den bedingten Vorsatz der Todesverursachung hinweisen kann43 •
Diese Schlußfolgerung des Obersten Gerichts deutet nicht nur auf die
Beweisführung zur Feststellung des Bestehens oder Fehlens des beding-
40 Wyr. z 20. VIII. 1973 (Urteil vom 20. VIII. 1973), Nowe Prawo 1974, Nr.2
S.339.
41 Wyr. z. 18. VI. 1974 (Urteil vom 18. VI. 1974), Gazeta Sqdowa 1974, Nr. 19.
42 Zum Beispiel OSNKW (Rechtsprechung des Obersten Gerichts) 1974,
Nr.170, 171; OSNKW 1978, Nr.93.
43 Urteil vom 19. XI. 1980, Panstwo i Prawo 1981, Nr. 10, S. 145.
Der Dolus eventualis in der polnischen Strafrechtslehre 389
ten Vorsatzes hin, sondern auch auf die Überzeugung des Obersten Ge-
richts, daß dieser Vorsatz erst dann besteht, wenn der Täter das Be-
wußtsein hoher Wahrscheinlichkeit der Verwirklichung der Tatbestands-
merkmale besitzt. Die Argumentation zum Bestehen des bedingten Vor-
satzes verläuft jedoch gewöhnlich in einer Weise, die mehr auf die
Anerkennung der Einwilligungstheorie hindeutet. In der Regel finden
wir in den Urteilen folgende Schlußfolgerung: wenn eine hohe, dem
Täter bewußte Wahrscheinlichkeit der Verwirklichung der Tatbestands-
merkmale gegeben war, so mußte er diese billigen, akzeptieren bzw. in
Kauf nehmen. Diese Schlußfolgerung verläuft aber in einer Weise, die
an die von H.-H. Jescheck vertretene Formel vom bedingten Vorsatz,
d. h. des Ernstnehmens der Gefahr und des Sich-damit-Abfindens er-
innertH •
Abschließend möchte ich feststellen, daß die Anschauung, die auf das
Bewußtsein der hohen Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts den größ-
ten Wert legt, immer mehr Anhänger findet 4ä • Ausdruck dessen ist auch
der Änderungsvorschlag zu Art. 7 § 1 des Strafgesetzbuches, den beding-
ten Vorsatz im Sinne des § 5 Abs. 1 des neuen österreichischen Strafge-
setzbuches auf die Notwendigkeit des Bewußtseins ernstlicher Möglich-
keit des Eintretens des Erfolges und auf Billigung des Eintretens abzu-
stellen.
1.
Hans-Heinrich Jescheck 1 definiert in seinem großen Lehrbuch zum
AT des Strafrechts den bedingten Vorsatz dahin, "daß der Täter die
Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes ernstlich für möglich
hält und sich mit ihr abfindet". Als "Komplementärbegriff" zum Ab-
finden mit dem Erfolgseintritt betrachtet Jescheck! das Vertrauen auf
das Ausbleiben des Erfolges, ein Vertrauen, das aus dem Vorsatz hin-
aus und in die (bewußte) Fahrlässigkeit hineinführt.
Ziel dieses Beitrags ist es nicht, in die nach wie vor lebhafte Diskus-
sion um den bedingten Vorsatz einzugreifen. Ich habe gegen die vor-
stehende Begriffsbestimmung nichts einzuwenden, vorausgesetzt, man
beachtet dabei den richtigen Kern der sog. Wahrscheinlichkeitstheorie:
Das Vertrauen des Täters darf kein bloßes Lippenbekenntnis sein.
Ein bloßes Wiederschließen des die Wahrscheinlichkeit des Erfolgsein-
tritts sehenden Auges genügt nicht, um Vorsatz zu verneinen. Zu be-
achten ist das Vertrauen auf das Ausbleiben des Erfolges nur, wenn
das Risiko des Erfolgseintritts entweder von vornherein nicht sehr
hoch war oder wenn der Täter das zunächst hohe Risiko durch Sicher-
heitsmaßnahmen reduziert hat. Erst unter diesen Voraussetzungen
kann das Handeln des Täters in Kenntnis des verbleibenden Risikos
als Vertrauen auf das Ausbleiben des Erfolges gewertet werdenS.
Im vorliegenden Zusammenhang können solche und andere Nuancen
der Definition des bedingten Vorsatzes auf sich beruhen. Es kommt
1 Jescheck, Strafrecht AT, 3. Aufl. 1978, § 29 III 3 a.
! Jescheck (wie Anm. 1), § 29 III 3 c.
3 Zutr. Armin Kaufmann, ZStW 70 (1958), S. 64 ff., 74, sowie Jescheck, Nie-
derschriften der Großen Strafrechtskommission Bd. 12, 1959, S. 114 (unter
Hinweis auf Armin Kaufmann) mit dem Formulierungsvorschlag zur bewuß-
ten Fahrlässigkeit, daß fahrlässig (auch) handelt, wer "die Verwirklichung
zwar für möglich hält, sie aber durch sein Verhalten zu vermeiden sucht"
(ebenda S.437). - Vgl. ferner Jescheck, Festschrift für Erik Wolf, 1962,
S. 473 ff., 483.
392 Gunther Arzt
auf sie so wenig an wie auf Details der Interpretation der §§ 153, 154.
Mir geht es vielmehr darum, Spannungen aufzuzeigen, die sich aus der
Verbindung der (im Kern weithin nicht umstrittenen) dolus eventualis-
Doktrin mit dem (im Kern ebenfalls weithin nicht umstrittenen) Ver-
bot der Falschaussage ergeben.
Unter vorsätzlichem Handeln im Sinne des § 15 ist nach allgemeiner
Ansicht auch der bedingte Vorsatz zu verstehen. Damit genügt für
alle Straftatbestände des BT der dolus eventualis, es sei denn, es er-
gäbe sich aus dem besonderen Straftatbestand eine Ausnahme. Muster-
beispiele für solche Ausnahmen sind Absichtsdelikte und Tatbestände,
die den Ausdruck "wissentlich" verwenden, vgl. z. B. § 258 I, II. Da
§§ 153, 154 weder von Absicht noch von Wissentlichkeit sprechen,
wird die Falschaussage mit bedingtem Vorsatz als unproblematisch
angesehen. So heißt es bei Lackner': "Der Vorsatz (bedingter genügt)
muß sich darauf erstrecken, daß die Aussage falsch ist, daß sie unter
die Wahrheitspflicht fällt und daß die vernehmende Stelle zuständig
ist". - Soweit es um die beiden zuletzt genannten Kriterien geht, also
um die Zugehörigkeit der Bekundung zur wahrheitspflichtigen Aus-
sageS und um die zuständige Stelle6 , sehe ich bezüglich des dolus even-
tualis keine Besonderheiten.
11.
1. Auch bezüglich der Unrichtigkeit der Aussage scheint klar zu sein,
daß ein Zeuge es ernstlich für möglich halten kann, daß er die Un-
wahrheit sagt und daß er sich mit dieser Möglichkeit abfinden kann -
und deshalb wegen bedingt vorsätzlicher Falschaussage zu bestrafen
ist. Dabei ist nach der objektiven wie nach der subjektiven Aussage-
theorie die Richtigkeit bzw. Falschheit einer Aussage am Aussage-
gegenstand zu messen 7 • Der Unterschied der beiden Theorien liegt des-
halb in dem Bestreben der objektiven Theorie, den Aussagegegenstand
möglichst objektiv zu bestimmen und ihn vom Erinnerungsbild des
Zeugen zu trennen.
8 Klassisches Beispiel, vgl. nur Gallas, GA 1957, 315, 321 und öfter; ähn-
lich Willms, in: LK, 10. Auf!. 1979, Bem.8 vor § 153 (unter Berufung auf
KohlrauschjLange).
8 Es ist hier nicht der Ort, die Ausnahmefälle näher zu untersuchen, in
denen durch "subjektiv" formulierte Frage des Richters (oder subjektiv for-
mulierte Antwort des Zeugen) das Erinnerungsbild des Zeugen Aussage-
thema werden kann. Ich halte es jedoch für ganz verfehlt, wenn gelegentlich
so getan wird, als läge die Verschiebung des Beweisthemas vom objektiven
zum subjektiven auch vom Boden der objektiven Theorie aus im Belieben
des Richters.
10 Ausnahmsweise ist eine solche Gleichgültigkeit des Täters denkbar, daß
er richtige bzw. unrichtige Aussage gleichermaßen einkalkuliert: Ich sage x
aus, ob x nun zutrifft oder nicht - wie es wirklich war, ist mir gleichgültig.
Das ist nicht die für dolus eventualis charakteristische Inkaufnahme, denn
für sie ist kennzeichnend ein Hauptziel, um dessentwillen sich der Täter mit
Nebenerfolgen abfindet. Wo beim Handeln aufs Geratewohl (in Kenntnis
394 Gunther Arzt
dem bloßen Abfinden mit der Unrichtigkeit folgt, daß der Wille primär auf
eine richtige Aussage zielt. Dieser Wille entspricht strukturell dem dolus
directus, meist in der Form der Absicht.
3. a) Gegen diese These liegt der Einwand nahe, der Zeuge müsse
seine Unsicherheit dem Richter mitteilen. Das klingt vernünftig, doch
ist es die Vernunft der subjektiven Aussagetheorie. Vorn Boden der
objektiven Aussagetheorie aus ist festzuhalten, daß der Aussagegegen-
stand objektiv zu bestimmen ist, im Beispiel also das Alibi des Ange-
klagten und das Zusammensein mit Z am fraglichen Abend. Nuancen
im Erinnerungsbild des Zeugen sind nicht Aussagethema. Die Straf-
freiheit des dem Richter seine Ungewißheit offenbarenden Zeugen kann
nach der objektiven Theorie nicht darauf gestützt werden, daß seine
Aussage dadurch richtig wird. Sie bleibt auch dann objektiv falsch,
wenn (Ausgangsbeispiel) Z aussagt, er sei nicht sicher, glaube aber, mit
Abis 23 Uhr zusammen gewesen zu sein (während A in Wirklichkeit
schon um 20 Uhr gegangen ist). Für die objektive Theorie muß deshalb
die Straffreiheit des dem Richter die Unsicherheit offenbarenden Zeu-
gen gleich zu begründen sein wie die Straffreiheit des Zeugen, der dem
Richter die Unsicherheit nicht offenbart: Der Zeuge hat mit direktem
Quasi-Vorsatz wahrheitsgetreu ausgesagt. Das muß genügen, denn
sonst entstünde angesichts des Zweifels beim Zeugen (wahr/unwahr)
eine "Zwickmühle" zwischen vollendeter und versuchter Falschaus-
sage - der Zeuge würde den Tatbestand der vollendeten oder versuch-
ten Falschaussage verwirklichen, wie immer seine Aussage lautet.
4. Anders liegen die Dinge, wenn man sie vom Boden der subjektiven
Aussagetheorie aus betrachtet. Der Zeuge wird nach seinem Erinne-
rungsbild gefragt. Wenn er (Ausgangsbeispiel) vorhandene Unsicher-
heit verschweigt, retuschiert er dieses Erinnerungsbild. Er sagt falsch
aus. Freilich kommt man auch vom Boden der subjektiven Theorie
praktisch nie zur Falschaussage mit dolus eventualis, denn der Zeuge
sagt dann im Ausgangsbeispiel direkt vorsätzlich falsch aus (und zwar
gleichgültig, was am fraglichen Abend geschehen ist!)12.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß sich die dolus eventualis-
Doktrin in den Aussagedelikten erst Zug um Zug mit der Verdrängung
der subjektiven Aussagetheorie festsetzen konnte 13 • Freilich ist auch
zuzugeben, daß die Praxis zwar nominell vom Boden der objektiven
Aussagetheorie ausgeht, die bedingt vorsätzliche Falschaussage aber mit
dem aus der subjektiven Theorie entlehnten Argument absichert, der
Zeuge müsse eben seine Zweifeloffenlegen".
den Täters, der seine Zweifel nicht offenbart, von der subjektiven
Theorie als Falschaussage mit direktem Vorsatz zu erfassen.
IlI.
20 Warda plädiert für eine Entschuldigung, die er nicht über die Unzumut-
barkeit, sondern direkt über die Vorwerfbarkeit entwickelt (wie Anm. 15,
S. 517 ff. bzw. wie Anm.16, S. 135 ff.). - Der vage Maßstab erlaubt es dann,
als im Einzelfall gerecht empfundene weitere Voraussetzungen aufzustellen,
etwa im Fall (1) müsse der Verteidiger Höchstwerte bedroht sehen (wie
Anm. 16, S. 142), "Entscheidungszwang" müsse vorliegen, woraus sich dann
die Aufklärung des Zweifels als "Primärmaßnahme" ableitet (wie Anm. 16,
S. 143 f.) und - m. E. besonders unbillig - dem Verteidiger dürfe kein Sorg-
faltsmangel zur Last fallen (wie Anrn.16, S. 143 f., 145 - sonst Vorsatz-
strafe!).
21 Warda (wie Anm. 15), S. 510.
2B VgI. auch BGH bei Dallinger, MDR 1953, 597: "Ein Zeuge, der aussagt,
er wisse eine Tatsache bestimmt, obgleich ihm bewußt ist, daß er sich irren
könne, begeht keine fahrI. falsche Aussage, sondern, jedenfalls dann, wenn er
sich in Wahrheit irrt, einen Meineid" (Hervorhebung nicht im Original).
Falschaussage mit bedingtem Vorsatz 399
heit sagt, in Fall (1) sich gegen einen rechtswidrigen Angriff angemes-
sen zur Wehr setzt, in Fall (2) ordnungsgemäß seinem Chef bei legalen
Geschäften hilft, im Fall (3) mit einer willigen Frau und im Fall (4)
mit einem der Altersgrenze entwachsenen Mädchen verkehrt. - Für
die bisher erwogenen Ansätze ist der Unterschied, ob der Täter das
Richtige oder das Falsche trifft, nur insoweit erheblich, als er wegen Ver-
suchs bzw. Vollendung zu bestrafen ist. Nimmt man die hier vorge-
tragenen Bedenken ernst, wäre der Täter dagegen nicht zu bestrafen28 ,
und zwar unabhängig vom richtigen bzw. falschen Resultat seiner
Handlung.
Eine unterschiedliche Behandlung des Täters je nachdem, ob die als
zweifelhaft angesehene Rechtfertigungslage29 vorliegt oder nicht, müßte
in die Rechtfertigungssituation ein Stück objektive Straflosigkeitsbe-
dingung hineininterpretieren. Dann wäre es möglich, den Täter straf-
los zu lassen, der an der Rechtfertigung zweifelt und trotzdem handelt,
vorausgesetzt, die Rechtfertigungslage ist objektiv gegeben. Dann
könnte man zugleich den Täter wegen vollendeter rechtswidriger Tat
bestrafen, bei dem die Rechtfertigungslage nicht gegeben ist - insoweit
gestützt auf die allgemeine dolus eventualis-Doktrin (Identität zwischen
dem Zweifel an der Rechtfertigungssituation und bedingtem Vorsatz).
b) Auf den ersten Blick scheint eine solche Objektivierung der Recht-
fertigungsgTÜnde der einhelligen Lehre zu widersprechen. Eine nähere
Betrachtung, die auch hier wieder für jeden einzelnen Rechtfertigungs-
grund getrennt erfolgen müßte, zeigt jedoch mindestens entsprechende
Ansätze. Beschränken wir uns auf die Notwehr. Nach h. M. ist die Er-
forderlichkeit der Abwehr objektiv ex post zu beurteilen. Das Risiko für
den Verteidiger liegt in der möglichen Divergenz zwischen objektivem
und subjektivem Maßstab, zusätzlich in der möglichen Divergenz zwi-
schen ex ante- und ex post-Beurteilung. Dieses Risiko würde sich ver-
vielfachen, wenn die übereinstimmung der subjektiven ex ante-Beur-
teilung mit der objektiven ex post-Betrachtung für die Rechtfertigung
nicht ausreichen würde, sondern subjektiv und ex ante Sicherheit des
Verteidigers auch bezüglich der objektiven ex post-Betrachtung ge-
fordert werden würde. Anders ausgedrückt, die objektive ex post-Be-
trachtung hat für den Verteidiger nicht nur Nachteile, sondern auch
den Vorteil, daß er bei zweifelhafter ex ante-Beurteilung der Erfor-
derlichkeit gerechtfertigt ist, wenn sich ex post und objektiv heraus-
stellt, daß er das Richtige getroffen hat! Da Zweifel bezüglich der ex
post-Betrachtung nach dem Grundsatz in dubio pro reo zugunsten des
28 Wegen eines Vorsatzdeliktes; die Frage einer Fahrlässigkeitsbestrafung
bleibt hier schon aus Raumgründen ausgeklammert.
2V Zur Ausdehnung der folgenden überlegungen auf tatbestandsausschlie-
ßende oder tatbestandsbegründende Merkmale siehe schon oben 111 3 b.
IV.
Damit kehren wir zur Ausgangsfrage zurück. Gerade weil die
Situation bei der Falschaussage nicht einmalig ist, besteht kein Anlaß,
die hier dargestellten Spannungen mit Hilfe einer punktuellen, inter-
nen Lösung zu bereinigen, d. h. auf die subjektive Aussagetheorie zu-
rückzugreifen. Dem oben I, 113 aus der konsequenten Anwendung der
objektiven Theorie entwickelten Konflikt zwischen Aussagepflicht und
Wahrheitspflicht könnte man zwar durch eine solche interne Lösung
aus dem Wege gehen. Dies würde jedoch bezüglich des Zeugen und der
am Aussagedelikt beteiligten außenstehenden Personen zu einem wenig
einleuchtenden Unterschied führen, vgl. dazu das folgende Beispiel.
Schluß/all - zugleich Abwandlung des Ausgangsbeispiels35 : A ist wegen
Vergewaltigung der 0 angeklagt. B, der Bruder des A, hält primär die Un-
404 Gunther Arzt
schuldsbeteuerungen des A für richtig. B hält es aber auch für denkbar, daß
o seinen Bruder zutreffend beschuldigt. B bietet der 0 Geld für eine ent-
lastende Aussage, die B primär für richtig, zugleich mit dolus eventualis
aber für falsch hält.
Der Reiz des vorstehenden Beispiels liegt darin, daß es von der
Zwickmühle zwischen Wahrheits- und Aussagepflicht absieht und daß
die Lösung nicht intern (durch Rückgriff auf die subjektive bzw. objek-
tive Aussagetheorie) getroffen werden kann. Der Anstifter will primär
eine nach der objektiven und subjektiven Theorie richtige Aussage.
Es liegt also primär eine mit direktem Quasi-Vorsatz vorgenommene
"Abstiftung" von der Falschaussage vor, gekoppelt mit einer bedingt
vorsätzlichen Anstiftung zur Falschaussage.
Mit meinem Beitrag wollte ich zeigen, daß derartige Fälle nur als
Beispiel für eine allgemeine Spannung in der dolus eventualis-Konzep-
tion zu begreifen sind. Die oben II 3 a, III 3 erwogene Maximallösung
dieser Spannung bestünde in der generellen Lösung des Umkehr-
verhältnisses zwischen dem subjektiven Rechtfertigungs-(Tatbestands-
ausschließungs-)Element einerseits und dem bedingten Tatbestands-
vorsatz andererseits zu Lasten des bedingten Vorsatzes. Genügt es ob-
jektiv zum Tatbestandsausschluß bei §§ 153, 154, daß der Zeuge die
Wahrheit sagt, muß es subjektiv zum Vorsatzausschluß genügen, daß
er mit direktem Quasi-Vorsatz die Wahrheit sagen will. Folglich kann
beim zweifelnden Zeugen für den bedingten Vorsatz (vielleicht die
Unwahrheit zu sagen) das Spiegelbild dieses subjektiven Tatbestands-
ausschließungselementes nicht genügen. Die mit dieser Maximallösung
verbundene Reduktion des Anwendungsbereichs des dolus eventualis
ist in ihrer Tragweite erst abzuschätzen, wenn man den in Betracht
kommenden Anwendungsbereich umfassend untersucht. Dies würde
den Rahmen dieses Beitrags sprengen. - In dieselbe Richtung, wenn
auch weniger weit, geht die Einführung eines Risiko- und Zufallsele-
mentes in die dolus eventualis-Doktrin derart, daß der Täter dann
straflos bleibt, wenn er das angestrebte erlaubte bzw. nicht tatbe-
standsmäßige Primärziel erreicht, s. o. III 4, 5. Dies scheint mir die
richtige Lösung zu sein, so ungewohnt eine solche Anleihe der Vorsatz-
doktrin bei der Fahrlässigkeitsdogmatik auch scheinen mag.
35 In Anlehnung an den Sachverhalt der Entscheidung BGH, 5 StR 639/82
vom 15.2. 1983, nicht veröffentlicht. Der BGH ist auf die Problematik des
dolus eventualis nicht eingegangen. Das tat richterliche Urteil wurde bezüg-
lich der Strafzumessung aus anderen Gründen aufgehoben. - Da ich in die-
sem Fall den Verteidiger beraten habe und meiner Meinung nach Partei-
gutachten von Beiträgen zur allgemeinen wissenschaftlichen Auseinander-
setzung schärfer getrennt werden sollten, als dies üblich geworden ist, sei
mir der Hinweis gestattet, daß dies in den letzten fünf Jahren der einzige
Fall einer solchen Beratung gewesen ist. Das mag es plausibel machen, daß
mein Interesse an den im Text behandelten Fragen Anlaß für das Gutachten
und nicht mein Interesse um Gutachten Anlaß für die im Text behandelten
Fragen war.
MANFRED MAIWALD
nicht streiten kann, ist, daß das Phänomen an sich, nämlich die Erlaub-
nis, sich unter bestimmten Voraussetzungen riskant zu verhalten, recht-
liche Anerkennung gefunden hat: Das Recht verlangt nicht schlechthin
ein Verhalten, das jede Gefährdung von Rechtsgütern Dritter von
vornherein völlig ausschließt 13 • Aber die Frage, ob das erlaubte Risiko
eine eigenständige Rechtsfigur sei, berührt in Wahrheit zwei dogma-
tische Problemkreise, die in der Diskussion bisher nicht immer mit der
notwendigen Deutlichkeit getrennt wurden. Dabei kann ganz außer
Betracht bleiben der Streit um die Einordnung des erlaubten Risikos
als Tatbestandsausschluß oder als Rechtfertigungsgrund. Gedacht ist
vielmehr einerseits an das Problem, was man eigentlich meint, wenn
man fragt, ob es sich beim erlaubten Risiko um eine eigenständige
Rechtsfigur handle und andererseits an die Frage, welche Gründe es
dafür gibt, zur Lösung bestimmter dogmatischer Probleme das Argu-
ment ins Feld zu führen, es handle sich um ein erlaubtes Risiko, und
durch welche Gründe somit überhaupt der Wunsch entsteht, einen ge-
meinsamen Begriff für solche Lösungsansätze zur Verfügung zu haben.
Die nachfolgende Skizze bemüht sich um Klärung dieser zwei Pro-
blemkreise. Die Anregung zu ihr beruht wesentlich auf den überle-
gungen des Jubilars in seinem Lehrbuch, das, wie oben dargestellt, das
erlaubte Risiko nur in sehr eingeschränktem Umfang als strafrechts-
systematische Figur anerkennt. Daß die Skizze zu einem anderen Er-
gebnis gelangt als der Jubilar, hat seinen Grund darin, daß sie nach
dem Verständnis ihres Verfassers den Weg konsequent weitergeht, der
in der Konzeption Jeschecks an sich schon beschritten ist. Ihre Ergeb-
nisse sind also nicht eigentlich ein Gegensatz zu dieser Konzeption,
sondern der Versuch einer Weiterentwicklung von Gedankengängen,
die das Lehrbuch des Jubilars bereits enthält.
Um herauszufinden, was es mit der Frage auf sich hat, ob das er-
laubte Risiko eine eigenständige Rechtsfigur sei, ist es lehrreich, ein-
mal die Diskussion um die Abgrenzung zwischen dem erlaubten Risiko
und der Sozialadäquanz zu betrachten. Die Erlaubnis, sich unter be-
stimmten Voraussetzungen riskant zu verhalten, könnte systematisch
gesehen aufgehen in jener anderen, in der Lehre zum Teil anerkann-
ten weiteren Ausnahme vom Gefährdungsverbot, die mit dem Stich-
wort "Sozialadäquanz" bezeichnet wird 14 • Handlungen, die sich voll im
13 Vgl. hierzu etwa Rehberg, Zur Lehre vom "Erlaubten Risiko", 1962,
S. 18 ff.; Preuß, Untersuchungen zum erlaubten Risiko im Strafrecht, 1974,
S. 15 ff.
14 So z. B. Schmidhäuser, Lehrbuch AT, 2. Aufl. 1975,9/31 Fn. 39; Baumann,
Lehrbuch AT, 8. Auf!. 1977, S. 279. - Andere Autoren gestehen indessen dem
408 Manfred Maiwald
verweist, besagt der Begriff des erlaubten Risikos nur, daß die riskante
Handlung - aus welchen Gründen auch immer - vorgenommen wer-
den darf; das erlaubte Risiko stellt somit einen Formalbegriff dar, der
erst noch seinen Inhalt bekommen muß durch die Gründe, die zur Er-
laubnis des Risikos führen. Das bedeutet, daß es eine "Abgrenzung"
der bei den Begriffe voneinander nicht geben kann, da ihre strafrechts-
systematische Funktion verschieden ist: Der Begriff des erlaubten
Risikos bringt zum Ausdruck, daß unter bestimmten Voraussetzungen
Risiken eingegangen werden dürfen, und der Begriff der Sozial-
adäquanz bezeichnet einen Komplex von sachlichen Gründen, der -
neben zahlreichen anderen - die Voraussetzung für solch zulässiges
riskantes Handeln bilden kann l8 •
Vergleicht man also die beiden "Rechtsfiguren" der Sozialadäquanz
und des erlaubten Risikos im Hinblick auf die Kriterien, nach denen sie
gebildet werden, so kann man feststellen, daß sich das erlaubte Risiko
im Hinweis auf das Erlaubtsein bestimmter riskanter Handlungen er-
schöpft, während Sozialadäquanz Sachgründe für das Erlaubtsein be-
stimmter Handlungen zum Ausdruck bringt.
Patienten handelnde Arzt die lex artis einhält 20 • Und sie werden
schließlich etwa in bestimmtem Umfang bei riskanten Rettungshand-
lungen angenommen, wenn diese - als einzig erfolgversprechende Mit-
tel der Rettung - für das zu bergende Rechtsgut nicht ungefährlich
sind2l •
In den geschilderten Beispielsfällen werden als Sachgesichtspunkie,
die zur Verneinung unrechten HandeIns führen, die Einwilligung des
Rechtsgutsträgers oder dessen mutmaßliche Einwilligung diskutiert,
bei Einhaltung der Straßenverkehrsvorschriften der Umstand, daß
durch die Zulassung des Straßenverkehrs der soziale Nutzen gefördert
werde, so daß im Rahmen der Vorschriften um dieses Nutzens willen
auch Gefährdungen in Kauf genommen würden; beim ärztlichen Heil-
eingriff wird überwiegend - von den Vertretern einer "Tatbestands-
lösung" - auch betont, hier werde schon der Wert gar nicht verletzt,
dessen Schutz der Körperverletzungstatbestand im Auge habe. Diese
Sachgesichtspunkte bilden gleichzeitig dogmatische Kategorien, Rechts-
figuren, wobei im Zusammenhang der Straßenverkehrsvorschriften
nachzutragen ist, daß ihre Einhaltung in der Fahrlässigkeitsdogmatik
als Einhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt gesehen wird 22 ,
was fahrlässiges Handeln aber gerade ausschließe.
Da demgemäß eine ganze Reihe von sachlich begründeten Rechtsfigu-
ren bereitsteht, die Gefährdungserlaubnisse enthalten, wenn sie auch
systematisch an ganz unterschiedlicher Stelle auftauchen, so erklärt
sich der erwähnte Zweifel, ob überhaupt ein Bedürfnis besteht, noch
eine besondere Rechtsfigur "erlaubtes Risiko" einzuführen, die nur den
formalen Umstand des Erlaubtseins riskanter Handlungen zum Aus-
druck bringt. Ein solches Bedürfnis könnte allerdings darin bestehen,
ein Sammelbecken zur Verfügung zu haben, in dem solche Gefähr-
dungserlaubnisse untergebracht werden können, die nicht bereits nach
Sachgesichtspunkten bezeichnet sind und in dieser Form dann eine ge-
20 Bekanntlich ist die sachliche Begründung für das Erlaubtsein des ärzt-
lichen Heileingriffs umstritten. Während vor allem die Rspr. auf den Gedan-
ken der Einwilligung abstellt und den Heileingriff nur bei ihrem Vorliegen
als rechtmäßig ansieht (vgl. z. B. BGH 11, 111), wird im Schrifttum ganz über-
wiegend das Erlaubtsein des Heileingriffs schon aus dessen Natur (mit der
Folge des Tatbestandsausschlusses) abgeleitet (vgl. z. B. Engisch, ZStW 58
(1939), S.l, 5; Jescheck, Lehrbuch AT, 3. Aufl. 1978, S.305; Schönke/Schröder/
Eser, 21. Aufl. 1982, § 223 Rdn. 32 ff.). Für die bei den Ansichten ergibt sich
also die Erlaubnis, das Leben des Patienten durch den Heileingriff möglicher-
weise zu gefährden, aus einem je verschiedenen Sachgrund.
21 Vgl. die Beispiele bei Jescheck, Lehrbuch AT, 3. Aufl. 1978, S.324, u. a.
den Hinweis auf BGH bei Dallinger, MDR 1971, S.361 (der Vater unterläßt
es, im brennenden Haus seine kleinen Kinder aus dem Fenster zu werfen
und sie durch unten bereitstehende Retter auffangen zu lassen).
22 Dazu Jakobs, Strafrecht AT, 1983, 7/39 ff.; Jescheck, Lehrbuch AT,
3. Aufl. 1978, S.470.
Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs "erlaubtes Risiko" 411
Kurz gesagt: Das erlaubte Risiko ist hier nichts anderes als die for-
malisierte Umschreibung des Maßes an Sorgfalt, das eingehalten wer-
den muß, damit dem Täter der Vorwurf fahrlässigen HandeIns erspart
bleibt. Der Sachgesichtspunkt, der zur Erlaubnis solcher riskanten
Handlungen führt, ist der soziale Nutzen, der allgemein mit ihrer Zu-
lässigkeit verbunden ist, wie etwa bei der Verwendung gefährlicher
Maschinen, beim Straßen- und Luftverkehr, bei der Anwendung von
Medikamenten mit möglichen schädlichen Nebenwirkungen, weshalb
einige Autoren mit Recht auf die Nähe zur Interessenabwägung beim
Notstand hinweisen 24 • Es geht in bei den Fällen um eine Wertabwä-
gung, die zu dem Urteil führt, eine bestimmte Handlung sei zulässig
oder unzulässig.
Bei den Fahrlässigkeitsdelikten ist das Maß der in den jeweiligen
Verkehrskreisen in Kauf genommenen Gefährdungen in der tatbe-
standlichen Umschreibung nicht näher präzisiert. Das Maß schlägt sich
indessen teilweise in anderen gesetzlichen Bestimmungen nieder, wie
z. B. in der StVO, teilweise in autonomen Satzungen, wie etwa in den
Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften; teilweise er-
gibt es sich aus verallgemeinerungsfähigen Entscheidungen der Recht-
sprechung, die von Fall zu Fall einen situationsbezogenen Sorgfalts-
maßstab entwickeln muß, der in abstracto im Begriff der Fahrlässigkeit
der betreffenden Tatbestände enthalten ist 25 • Es spielt im vorliegenden
Zusammenhang keine Rolle, soll aber gleichwohl festgehalten werden,
daß die Einhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt nicht erst
ein Rechtfertigungsgrund ist, der ein "an sich" verbotenes Handeln
ausnahmsweise als erlaubt erscheinen ließe. Dies deshalb, weil jeden-
falls für eine personale Unrechtslehre schon die Feststellung, daß über-
haupt Unrecht geschehen ist, voraussetzt, daß der Täter von einem
ge sollten Verhalten abgewichen ist; und diese Voraussetzung läßt sich
nur unter Zuhilfenahme eben dieses Sorgfaltsmaßstabes ermitteln26 •
Im Hinblick auf den Begriff "erlaubtes Risiko" verbleibt hier nach
alledem wiederum der Befund, daß er als Formalbegriff keine Aus-
kunft darüber gibt, warum es erlaubt ist, sich in bestimmtem Umfang
gefährlich zu verhalten, und welches die Gesichtspunkte sind, die für
die dabei vorzunehmende Abwägung eine Rolle spielen. Immerhin hat
rüstung zerstört zu werden drohen, das gilt aber auch für den Fall, daß
für ihn bei der Bergung Todesgefahr besteht. Freilich ist problema-
tisch, wie weit die unrechtsausschließende Kraft der Einwilligung
reicht - und diese ihre Reichweite wird auch durch die Größe der
Gefahr bestimmt, die die Rettungshandlung mit sich bringt. Eindeutig
ist die Lösung zwar sicher im Falle der Gefährdung nur der Kleidung
und Ausrüstung, da insoweit das gegenüber dem Leben geringerwer-
tige Rechtsgut preisgegeben wird. Aber für den Fall, daß die Rettungs-
handlung für das Leben des zu Rettenden nicht ungefährlich ist, ist zu
bedenken, ob nicht die Reichweite der Einwilligung bestimmt wird
durch die Größe dieser Gefahr: Wäre im Extremfall sicher, daß der ab-
gestürzte Bergsteiger auch durch die Rettungsbemühungen zu Tode
kommen wird (so daß in Wahrheit gar keine "Rettungs"-Handlung
vorliegt), so bedeutet seine Einwilligung in diese Handlungen der
Sache nach nur die Wahl einer anderen Todesart, so daß eine unrechts-
ausschließende Wirkung der Einwilligung wegen § 216 StGB nicht in
Frage kommt30 • Im Bereich ärztlicher Heileingriffe pflegt bekanntlich
von der Rechtsprechung die lex artis des Arztes als maßgebend dafür
angesehen zu werden, ob die vom Patienten erteilte Einwilligung den
Eingriff "deckt", während die h. L. allein die Kunstregeln des Arztes
darüber entscheiden läßt, ob der Arzt mit seinem Eingriff Unrecht
getan hat oder nicht 3!, sieht man einmal von einer möglichen Nötigung
gegenüber dem Patienten ab.
Wie kommt nun hierbei das erlaubte Risiko ins Spiel? Nun - es
läßt sich an den dargestellten Rettungshandlungen wiederum die Natur
des erlaubten Risikos als eines Formalbegriffs zeigen. Was den ärztlichen
Heileingriff betrifft, so wird mit der Einwilligung in den Eingriff der
Sachgrund bezeichnet, der nach Ansicht der Rechtsprechung allein für
seine Zulässigkeit maßgebend ist. Das erlaubte Risiko enthält dem-
gegenüber nur den Hinweis, allerdings auch die Verdeutlichung, daß
dieser Sachgrund auch in bestimmtem Umfang Gefährdungen erlaubt.
Zieht man mit der h. L. für den ärztlichen Heileingriff allein die lex
artis als maßgebend für den Unrechts ausschluß heran, so ist die Sach-
lage zwar komplizierter, aber nicht grundlegend anders: Mit dem Hin-
weis auf die Einhaltung der lex artis ist stillschweigend die Aussage
verbunden, daß derartige ärztliche Eingriffe entweder schon keine
Körperinteressenverletzung darstellen - so beim gelungenen Ein-
griff - , oder doch um der Heilungschance willen, die sich aus der Ein-
haltung der lex artis ergibt, nicht als Unrecht bewertet werden können
- so beim mißlungenen Eingriff 32 • Ebenfalls ist damit gegenüber dem
erlaubten Risiko auf die Gründe für die Gefährdungserlaubnis Bezug
genommen. Sagt man, ein Arzt habe sich im erlaubten Risiko gehalten,
so ist demgegenüber ungeklärt, warum er berechtigt gewesen sein soll,
sich riskant zu verhalten.
Bei nichtärztlichen Rettungshandlungen, bei denen keine lex artis
zur Verfügung steht - wie etwa im Bergsteiger-Fall - ist die Sach-
lage nicht grundsätzlich anders. Denn natürlich willigt auch dort der
Verunglückte nur in "sorgfältige" Rettungshandlungen ein, zu denen
der Retter im übrigen auch gemäß § 323 c StGB verpflichtet ist: Geht
der Retter in völlig unsachgemäßer Weise vor, läßt er die Vorsicht
nicht walten, die jedermann in einer solchen Lage aufbringen könnte,
so ist er bei tödlichem Ausgang der Rettung aus § 222 StGB verant-
wortlich, sofern ihm das auch persönlich vorwerfbar ist, während er,
wenn er die in dieser Situation erforderliche Sorgfalt einhält, den Be-
reich des erlaubten Risikos nicht überschritten hat, weil dessen Reich-
weite hier durch die Einwilligung abgesteckt wird. Auch hier ist mit
der Verwendung des Formalbegriffs "erlaubtes Risiko" nur der Er-
kenntnisgewinn verbunden, daß aus dem Sachgrund, der mit dem
Prinzip der Einwilligung angegeben ist, bestimmte Gefährdungser-
laubnisse folgen; der Sachgrund selbst und damit der Umfang der
Erlaubnisse wird damit nicht bezeichnet.
Werden durch die Rettungshandlung Rechtsgüter eines Dritten ge-
fährdet, so gerät man in den Anwendungsbereich des § 34 StGB. Diese
Vorschrift enthält die Erlaubnis, zur Abwendung bestimmter Gefahren
eine "Tat" zu begehen, wenn die widerstreitenden Interessen, vor
allem die kollidierenden Rechtsgüter, zu dem Ergebnis führen, daß das
geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt.
Im oben erwähnten Falle des Arztes, der unter Mißachtung der
Verkehrsvorschriften schnell zu einem lebensbedrohlich Erkrankten
fährt, sind die kollidierenden Rechtsgüter gleichwertig; es steht das
Leben der durch die rasche Fahrt gefährdeten Passanten gegen das
Leben des Patienten. Aber es ist denkbar, in die anzustellende Interes-
senabwägung gemäß § 34 StGB auch die Erwägung einfließen zu lassen,
daß hier zur Verhinderung eines sicheren Todes des Patienten eine
Handlung vorgenommen wird, die nur die Gefahr der Tötung eines
Passanten schafft, und daß die Abwägung: sicherer Tod gegen Gefahr
des Todes, für den Arzt zur Handlungserlaubnis führt. Ob das wirk-
33 Vgl. zum Sachproblem OLG Frankfurt DAR 1963, 244; Jescheck, Lehr-
buch AT, 3. Auf!. 1978, S. 291; Schmidhäuser, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1975,9/74;
Schönke!Schröder!Lenckner, 21. Aufl. 1982, Vorbem. §§ 32 ff. Rdn. 1Ol.
34 Preisendanz, StGB, 30. Auf!. 1978, II 6 vor § 32; Maurach/Zip!, Strafrecht
AT 1,6. Auf!. 1983,28/24.
85 Jescheck, Lehrbuch AT, 3. Auf!. 1978, S.324; dazu auch Preuß, Unter-
suchungen zum erlaubten Risiko im Strafrecht, 1974, S. 23 f., 191 ff.
3B Zweifel auch schon bei Maurach/Zip!, Strafrecht AT 1, 6. Auf!. 1983,28/24.
Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs "erlaubtes Risiko" 417
27*
420 Manfred Maiwald
42 Zipf, ZStW 82 (1970), S. 633 ff.; im Ergebnis ebenso Rehberg, Zur Lehre
vom "Erlaubten Risiko", 1962, S. 85; Roeder, Die Einhaltung des sozialadäqua-
ten Risikos und ihr systematischer Standort im Verbrechensaufbau, 1969,
S.40.
43 In diesem Sinne Preuß, Untersuchungen zum erlaubten Risiko im Straf-
recht, 1974, S. 214 f.
Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs "erlaubtes Risiko" 421
Situation kann mehr oder anderes verlangen als das, was allgemein vorge-
schrieben ist; vgl. hierzu etwa Jescheck, Lehrbuch AT, 3. Aufl. 1978, S.471;
MaurachIGössel, Strafrecht AT 2, 5. Aufl. 1978, S.71, 79; SchönkelSchröder!
eramer, 21. Aufl. 1982, § 15 Rdn. 181.
45 Das Beispiel findet sich schon bei Niese, Streik und Strafrecht, 1954,
S.31, der Straflosigkeit wegen des Sachgesichtspunkts der Sozialadäquanz
annimmt.
46 Aus dieser Struktur folgert Rehberg, Zur Lehre vom "Erlaubten Risiko",
1962, S. 91, daß hier gar kein Tötungsvorsatz vorliege, da derselbe Handelnde
das Kausalgeschehen nicht gleichzeitig auf die Vermeidung einer Verletzung
und auf deren Herbeiführung hinzulenken vermöge. Dagegen wendet jedoch
Preuß, Untersuchungen zum erlaubten Risiko im Strafrecht, 1974, S.210, mit
Recht ein, es gehe hier darum, daß der Täter in derartigen Fällen die Ver-
letzung erreichen wolle, und zwar mit Mitteln, die ihn straflos lassen.
Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs "erlaubtes Risiko" 423
auch der Unternehmer des Beispiels tut alles, was Schaden von seinen
Arbeitern abwenden kann, wenn er - wie vorausgesetzt - seinen
Betrieb nach den für diesen geltenden Sorgfaltsanforderungen leitet.
Im Falle des untauglichen Versuchs dagegen ist die Lage anders. Unser
Giftmörder wird beim Handlungsvollzug gerade umgekehrt alles tun,
um den Todeserfolg, der möglicherweise durch sein "Versehen" ver-
hindert zu werden droht, doch noch herbeizuführen, wenn er den Feh-
ler merkt. Daraus resultiert im Sozialleben eine unterschiedliche Be-
trachtung. Im letzteren Fall des Giftmörders haben wir einen in die
Wirklichkeit getretenen planenden Geist vor uns, bei dem es gleich-
sam Zufall geblieben ist, daß er den schädlichen Erfolg nicht herbei-
geführt hat: Die vielzitierte "Rechtserschütterung" beim untauglichen
Versuch17 resultiert aus dem Erschrecken, daß die Ungefährlichkeit des
objektiven Teils des Geschehens vom Plan des Täters aus gesehen nur
Zufall war. Dagegen sind beim vorsätzlichen Handeln im erlaubten
Risiko Handlungsvollzug und Plan des Täters kongruent; auch bei ge-
treuer Durchführung des Täterplans wird nichts geschehen, was über
das objektiv Erlaubte hinausgeht, und dem bösen Gedanken des
Täters wird von vornherein nicht gestattet, sich im Handlungsvollzug
auszuwirken. Das rechtfertigt es, bei vorsätzlichem Handeln im erlaub-
ten Risiko dasjenige Handlungsunrecht, das für eine Vorsatztat typisch
ist, zu verneinen, während allerdings ein zusätzliches Schuldmoment
gegeben ist, das sich im Handlungsvollzug nicht ausgewirkt hat.
Lenkt man nun den Blick wieder auf die Frage einer gemeinsamen
Struktur des aus verschiedenen Sachgründen sich ergebenden erlaubten
Risikos, so ist zu beachten, daß vorsätzliches Handeln im Rahmen des
erlaubten Risikos nach der zur Lösung des Falles herangezogenen Ar-
gumentation stets straflos bleiben muß, welcher Sachgrund auch immer
zur Gefährdungserlaubnis führt. Wir haben also eine gemeinsame
Struktur vor uns, die es rechtfertigt, hierfür einen sie kennzeichnenden
Begriff zu verwenden - den des erlaubten Risikos.
VI. Zusammenfassung
48 Für ein Notwehrrecht Jescheck, Lehrbuch AT, 3. Aufl. 1978, S.273; Bau-
mann, Strafrecht AT, 8. Aufl. 1977, S. 310; Bockelmann, Strafrecht AT, 3. Aufl.
1979, S.93; Spendel, in: LK, 10. Aufl. 1982, § 32 Rdn.57. - Gegen ein Not-
wehrrecht Hirsch, Dreher-Festschrift, 1977, S. 214 f., 222 ff.; SchatJstein, MDR
1952,132; Schmidhäuser, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1975,9/86; Schönke/Schröder!
Lenckner, 21. Aufl. 1982, § 32 Rdn.21; MaurachlZipf, Strafrecht AT 1, 6. Aufl.
1983,26/14 ff.; Jakobs, Strafrecht AT, 1983, 12/14.
Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs "erlaubtes Risiko" 425
I.
La dottrina italiana dell'antigiuridicita si e svolta in questo secolo
sulle stesse linee della dottrina tedesca; ma la stagione dell'antigiuridi-
cita oggettiva e generica e quella della tripartizione deI reato (connessa
aHa precedente, ma non necessariamente) sono state di durata piu breve
e piu contrastata di quanto non sia avvenuto nella letteratura tedesca.
La posizione negatrice dell'antigiuridicita ha in Italia origini oramai
remote. A ben guardare, questa negazione e gia insita nel generale rifiuto
della Normentheorie deI Binding. Se non e possibile riconoscere auto-
nomi comandi 0 divieti dell'ordinamento giuridico generale, dei quali
le leggi penali altro non rappresentino ehe la sanzione, se viceversa deve
ritenersi ehe ogni norma penale e fatta di un suo propria precetto oltre
ehe di una sua sanzione, altro non esiste ehe una «illiceita giuridica uni-
camente penale» ed altro non e il reato ehe «una azione penalmente
antigiuridica»l. Con questa presa di posizione si cominciava a sbarrare
la strada all'idea di una antigiuridicita 0 illiceita giuridica generica, ehe
viceversa formera la base di una parte delle dottrine deHa tripartizione
e sara strettamente connessa a quelle dell'antigiuridicita oggettiva. Ed
infatti il Rocco affermera ehe «l'illiceita giuridica 0 antigiuridicita pe-
nale costituisce non un elemento costitutivo deI reato, ma l'essenza stes-
sa, la natura intrinseca, l'in se deI reato»2.
Egualmente fu il Rocco tra i primi in Italia a prender posizione contro
l'idea di un «torto obiettivo 0 incolpevole», aderendo decisamente alla
posizione di A. Merkel e di Hold von Ferneck, oltre ehe, per questa parte,
ad un celebre passo deI Binding 3 •
L'insegnamento deI Rocco fu molto seguito, specialmente per il gene-
rale ripudio deI carattere sanzionatorio deI diritto penale; ma non tutti
gli studiosi italiani rinunciarono all'idea dell'antigiuridicita come ele-
4 Per una panoramiea in materia cfr. Riz, Zum derzeitigen Stand der Ver-
brechenslehre in Italien. Überlegungen zum dreiteiligen Verbrechen aufbau,
ZStW 93 (1981), p. 1005 sS.; id., La teoria generale deI reato nella dottrina
italiana. Considerazioni sulla tripartizione, in Indiee penale, 1981, p. 607 ss.
5 Delitala, Il datto» nella teoria generale deI reato, Padova, 1930 (ristam-
pato in Delitala, Diritto penale. Raeeolta degli seritti, Milano, 1975, p.3 a 162).
- Sul pensiero deI Delitala efr., tra gli altri, Vassalli, Giaeomo Delitala,
in Giust. pen., I, 1973, 175 sS.; id., Il fatto negli elementi deI reato, in Riv. it.
dir. e proc. pen., 1984, p. 529 ss.: Marinucci, Fatto e seriminanti, ibid., 1983,
p. 1190 ss. Lo seritto deI Marinucci e una vigorosa rivendicazione deI valore
della tripartizione anehe in chi ave ideologiea e politiea. E' peraltro da notarsi
ehe il Marinueci non parla mai espressamente dell'antigiuridieita eome di un
vero e propria elemento deI reato, preferendo sottolineare ehe il reato e un
fatto antigiuridieo e eolpevole.
6 Bettiol, Diritto penale, Xl a ed., Padova, 1982, p. 210 sS., 221 sS., 293 S5.
meno fino a ehe duri l'attuale sistema di sottrarre gli incapaci aHa pena,
non puo riconoscersi nelle azioni dei non imputabiIi) e appunto quella
di riehiedere, per determinati soggetti, un elemento in piu rispetto alla
commissione deI fatto antigiuridico; e non e giusto pretendere di spostare
indietro la distinzione tra capaci ed incapaci portandola al momento
delI'antigiuridicita.
D'aItra parte il riferimento a situazioni oggettivamente antigiuridiehe
nella materia penale va ben al di la deI problema della pericolosita cri-
minale dei soggetti incapaci 0 anehe soHanto della valutazione delle loro
azioni contrarie alle previsioni delle leg gi penali. Sempre piu ci si trova
di fronte a provvedimenti ehe il giudice penale deve assumere al di fuori
di presupposti di coIpevoIezza 0 di responsabilita.
Basta pensare alle confische previste dal codice penale e da numerose
leggi speciali, adottate in relazione alla presunta pericolosita dell'oggetto
o comunque in relazione all'esistenza di reati dei quali non sia stato
accertato 0 non sia stato condannato l'autore. In queste contesto non
e rara trovare anehe nelle sentenze dei giudici italiani (piuttosto con-
trarie al riconoscimento dell'antigiuridicita come elemento deI reato)
l'affermazione dell'esistenza di «situazioni obbiettivamente antigiuri-
diche».
11.
11 Nuvolone, I limiti della norma penale, Palermo, 1947; ed oggi, piu sin-
tetieamente, Il sistema deI diritto penale, 2' ed., Padova, 1982, p.122, 203 ss.;
Dell'Andro, op. eit., loe. eit., p.556 nota 41. - La eoneezione delle eause di
giustifieazione eome «elementi negativi deI fatto» e sviluppata anehe da
M. Gallo (La teoria dell'azione finalistiea nella piu reeente dottrina tedcsea,
Milano, 1950, p. 57 ss.; voee Dolo, in Ene. Dir., vol. VIII (1964), p. 770; Appunti
di diritto penale. L'elemento oggettivo deI reato, Torino 1975, p. 102 ss.) ed
e aeeolta dall'Antolisei, ehe tuttavia aggiunge, non senza una qualche eon-
traddizione, ehe per l'esistenza deI reato basta ehe esistano «la eonformita
deI fatto ad una figura di reato e l'assenza di eause di giustifieazione» (Ma-
nuale di diritto penale. Parte generale, aggiornata da Conti, Milano, 1982,
p. 164 s.). - Anehe il Grosso (L'errore sulle seriminanti, Milano, 1961, p. 58 ss.;
Difesa legittima e stato di neeessita, Milano, 1964, p. 285 55.) e tra quegli
autori ehe preferiseono vedere nelle eause di giustifieazione «elementi nega-
tivi di una nozione lata di fatto». Tuttavia il Grosso aeeoglie il nueleo della
teoria dell'antigiuridieita oggettiva e generiea perehe eonsidera l'impedibilita
eome indiee sanzionatorio dell'illieeita oggettiva deI fatto (Difesa legittima
e stato di neeessita, p. 134 ss,' 290 e passim). - Contro la dottrina degli ele-
menti negativi efr. Pannain, Manuale di diritto penale, Parte generale, 4" ed.,
Torino, 1967, p. 276 ss., ehe peraltro e sostenitore della bipartizione; ed ara,
eon stringenti argomentazioni, MarinlLcci, op. cit., loe. cit., p. 1195 ss.
12 Mantovani, Diritto penale, Padova, 1979, p.220. - Per l'inelusione del-
l'assenza di seriminanti nel fatto tipieo cfr. anehe M. Gallo, Appunti cit.,
p. 101, 109.
IS Come p. es. neUa reeente opera deI Günther, Strafreehtswidrigkeit
und Strafunreehtsaussehluß, 1983. Tuttavia bisogna riconoscere ehe nel sistema
tripartito proposto dal Petroeelli e da altri scrittori nel quadro di una totale
autonomia dell'antigiuridicita penale da ogni alt ra illieeita si trovano le basi
per una simile trattazione.
432 Giuliano Va55a1li
III.
11 Seaduto e Rubino, voce Illecito (atto) , in Nuovo Dig. It., vol. VI. (1938),
p.704.
La dottrina italiana dell'antigiuridicita 433
IV.
A proposito dell'antigiuridicita oggettiva e generica anche nella dot-
trina italiana sono stati oggetto di dibattito argomenti collegati alla
disciplina positiva di determinati istituti: difesa legittima, ricettazione
da delitti commessi dall'incapace, concorso criminoso nel fatto dell'inca-
pace, scriminanti ignorate.
L'argomento relativo all'ammissibilita di una difesa legittima contro
le azioni degli incapaci e ampiamente dibattuto nella dottrina e nella
giurisprudenza della Germania, i cui codici penali hanno sempre de-
finito l'aggressione contro 1a quale e data reazione difensiva come
«rechtswidrig». In Italia la situazione legislativa non e sostanzial-
mente diversa, anche se l'art. 52 deI codice, seguendo una vecchia tra-
dizione, definisce l'aggressione stessa come «ingiusta», e non come an-
tigiuridica 24 • 11 Petrocelli, rifacendosi anche ad una osservazione dello
Hold von Ferneck, osserva anzitutto che non e detto che i1 legislatore
abbia usato quella locuzione avendo un esatto concetto dell'antigiu-
ridicita (rispettivamente dell'ingiustizia). Aggiunge, comunque, che
«il fondamento logico e giuridico della limitazione contenuta nel ter-
mine «offesa ingiusta» non e nel carattere propriamente antigiuridico
dell'offesa, bensi nella mancanza di un obbligo giuridico di subirla
senza reagire». Conclude negando che contra le aggressioni degli inca-
paci sia data legittima difesa, dovendosi invece in tal caso applicare
le norme sullo stato di necessita. In quest'ultima affermazione i1 Pe-
trocelli si trova in accordo con le rarissime decisioni della giurispru-
denza della Cassazione italiana in argomento (una deI 1933 e una deI
1951), che (diversamente dalla giurisprudenza tedesca) hanno ritenuto
ricorrere 10 stato di necessita e non la legittima difesa nel caso di
aggressioni compiute da non imputabili!5. Senonche una tale limita-
zione e per noi inaccettabile perche 10 stato di necessita si riferisce
esclusivamente a pericoli corsi da beni della persona e questa acce-
zione, per quanto largamente intesa, non potrebbe mai comprendere
i beni patrimoniali, difendibili solo in virtu della norma che consacra
la difesa legittima: e sembra impossibile affermare che nessuno po-
trebbe difendersi, in alcun modo, contro l'aggressione patrimoniale
di un minore 0 di un infermo di mente. Certamente la difesa legittima
contra l'aggressione di un minore a di un infermo di mente, anche
quando sia diretta contro la persona, dovra essere ispirata a maggiore
oculatezza e prudenza che nei casi ardinari, e l'aggredito dovra, se pos-
28*
436 Giuliano Vassalli
29 E' peraltro giusto ricordare ehe la tesi della dipendenza della punizione
deI concorrente dal carattere oggettivamente antigiuridico dell'azione dell'au-
tore principale si e sviluppata, almenD all'inizio, soprattutto nel quadro del-
l'adesione alla teoria della natura accessoria della partecipazione. Per l'Italia
si veda soprattutto Bettiol, Diritto penale, 11" ed., p. 594 ss.
30 Di questa ideae anche l'Antolisei (Manuale, Parte gen., 9a ed., pag.475
e 484) ancorche respinga la teoria della natura accessoria della partecipazione
criminosa.
Si Petrocelli, L'antigiuridicita, cit., p. 67.
La dottrina italiana deIl'antigiuridicita 437
bili nella categoria delle cause di giustificazione (p. es. per la non pu-
nibilita deI furto tra stretti congiunti).
In secondo luogo, la stessa disposizione e dettata anehe per le eir-
co stanze attenuanti ignorate (ovviamente quando si tratti di attenuanti
oggettive, rispetto alle quali una ignoranza e possibile).
In terzo luogo la disposizione e inapplicabile nei confronti di tutte
quelle cause di giustificazione, 0 ritenute tali, ehe impliehino la pre-
senza di un elemento soggettivo. Uno studio recente ha cercato di di-
most rare con finezza di analisi ehe tra tutte Ie scriminanti 0 «cause di
giustificazione» ehe sono previste nella parte generale e nella parte
speciale deI codice l'unica ehe pu<'> considerarsi sempre ed esclusiva-
mente oggettiva e il consenso dell'avente diritto 34 • Tutte le altre, a co-
minciare dall'esercizio deI diritto e dell'adempimento di un dovere,
sarebbero, per 10 meno in un gran numero di casi, necessariamente
sorrette da un elemento soggettivo, senza la cui presenza non potrebbe
parlarsi di giustificazione deI fatto. Anehe nella difesa Iegittima, Ia
cui rilevanza oggettiva e largamente accolta dalla dottrina italiana, la
costrizione deI soggetto a reagire alI'offesa ingiusta non potrebbe in-
vece esse re intesa se non in sense soggettivo; e si rileva ehe deI resto
queste speciale atteggiamento psicologico deI soggetto rientra tra i re-
quisiti della legittima difesa secondo le tradizioni della scuola classica,
secondo i1 sense comune e secondo la giurisprudenza praticau .
Tuttavia queste stesso autore, al termine della sua indagine, rieo-
nosce ehe i1 prineipio della scriminante ignorata, stabilito nel codiee
eon l'art.59 prima comma, non vale solo per il consenso dell'avente
diritto, ma anehe per «tutti gli elementi delle cause di non punibilita
ehe siano suscettibili di una valutazione oggettiva»: e eioe per l'attua-
lita deI perieolo, per l'ingiustizia dell'offesa, per la gravita deI danno
alla persona, per i1 tipo di diritto 0 il tipo di danno difeso od evitato con
I'azione neeessitata, per l'inevitabilita deI perieolo. Questi requisiti «pos-
sono dall'agente essere ignorati 0 ritenuti insussistenti senza ehe ci<'> im-
pedisca la non punibilita deI fatto»36. La stessa dottrina tripartita non
risulterebbe smentita dall'esistenza di «elementi subiettivi di giusti-
ficazione», non essendovi motivo per non ammettere ehe «in determi-
nati casi il giudizio di antigiuridicita oggettiva, pur restando tale, possa
esse re condizionato dalla necessita di verifica della sussistenza di ta-
luni elementi subiettivi»37.
A noi sembra ehe l'argomento derivante dalla norma di carattere
generale dettata per le scriminanti ignorate sia, nonostante le limita-
zioni portatevi da possibili eccezioni espresse oltre ehe dall'esistenza
di elementi soggettivi di giustificazione, di grande rilievo a favore
deI concetto di antigiuridicita oggettiva. Basterebbe il caso deI con-
sense dell'avente diritto, la cui ignoranza - come abbiamo visto -
non e di ostacol0 all'applicabilita della causa di giustificazione. Come
non riconoscere (anehe al di fuori di una previsione espressa della
legge) ehe in queste caso ciö ehe conta e l'inesistenza di illiceita ogget-
tiva deI fatto e ehe dunque il reato e escluso prima e all'infuori di
ogni elemento psicologico? e ehe pertanto e inutile indagare sulla col-
pevolezza quando l'antigiuridicita e esclusa? Ma 10 stesso ragiona-
menta vale per quei casi di esercizio deI diritto e di adempimento deI
dovere ehe non riehiedono la presenza di alcun atteggiamento psicolo-
gico. Senza riferimento all'antigiuridicita oggettiva resta difficile com-
prendere perehe nel caso di uccisione 0 di ferimento deI nemico in una
azione conforme alle leggi e agli usi della guerra non si possa ipotiz-
zare omicidio 0 lesione personale nonostante la conformita deI fatto alla
fattispecie legale dei relativi reati sia sotto il profile oggettivo ehe
sotto quello soggettivo. Ma queste ed altri esempi danno all'antigiu-
ridicita oggettiva anehe la sua giusta collocazione, tra il fatto in sense
stretto e la colpevolezza: perehe in casi deI genere ogni indagine sulla
colpevolezza e preclusa dalla constatazione dell'esistenza di una causa di
giustificazione.
v.
Terminati questi accenni ad alcune tra le principali questioni di di-
ritte positivo venute in considerazione a proposito dell'antigiuridicita,
deve peraltro rilevarsi ehe la dottrina italiana e sempre meno propensa
a riconoscere il valore di queste discussioni per la costruzione di una
teoria generale deI reato. Non solo prevale infatti la tendenza al su-
peramento radicale dell'antitesi tra concezione oggettiva e concezione
soggettiva dell'antigiuridicita38 , ma si afferma anehe la tendenza, gia
ricordata, ad escludere ehe dalle cause di giustificazione sia necessario
37 Spagnolo, op. cit., p. 122 5., richiamando per questa parte l'opera deI
Waider, Die Bedeutung der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungs-
elementen für die Methodologie und Systematik des Strafrechts, 1970, p. 83 55.,
10755., 120 55.
38 In questo senso sono significative le opere di 111. Gallo, gin sopra ricor-
date.
440 Giuliano Vassalli
I. Intentos de sistematizaci6n
esta clasificaci6n, con esta nueva terminologfa, Blei, Strafrecht, Allg. Teil,
17 ed., 1977, pag.121 y, con Ia terminologfa originaria, Rodriguez Muiioz, en
sus notas a la traducci6n deI Tratado de Derecho Penal, de Mezger, I, pag. 412;
Rodriguez Devesa, Derecho Penal Espaiiol, Parte General, 8a ed. 1981, päg.483
(aunque incurre luego en contradicci6n al estimar que la legitima defensa no
puede basarse exclusivamente en el principio de la ponderaci6n de intereses,
vease, pag. 536); Sainz Cantero, Lecciones de Derecho Penal, Parte General,
11, 1982, pags. 337 - 8 y Lenckner, en: Schönke/Schröder, 21 ed. 1982, obser-
vaci6n preliminar n° 7 al art. 32 y 55., pägs. 386 - 7 (aunque concibe el ter-
mino interes en un sentido amplio, comprensivo no solo deI bien jurfdico
sino de todos los aspectos merecedores de protecci6n y que aiiade, corno
principio de justificaci6n, en los delitos de omisi6n, la defensa de intereses
iguales).
16 Puesto que si el titular deI bien juridico protegido es el individuo, en el
tipo se protege al mismo tiempo un bien 0 interes y la autodeterminacion deI
ser humano. Vease Stratenwerth, Prinzipien der Rechtfertigung, ZStW 68
(1956), pags. 41 y ss., especialmente 65 y ss.
17 Vease Graf zu Dohna, Der Aufbau der Verbrechenslehre, 4" ed. 1950,
pägs. 30 - 1 y Jescheck, Lehrbuch, päg. 260 (Tratado, vol. I, pag. 443).
18 Vease Sauer, Allgemeine Strafrechtslehre, 3a ed. 1955, pg. 56 (DerechC'
Penal, Parte General, trad. por DeI Rosal y por mf, 1956, päg. 101).
I' Vease Schmidhäuser, Strafrecht, Allg. Teil, Lehrbuch, 2' ed. 1970, pägs.
280 y ss. y especialmente pägs. 288 - 9; el mismo, Strafrecht, Allgemeiner
Teil, Studienbuch, 1982, pags. 132 - 3 (para Schmidhäuser, el consentimiento
no es una causa de justificaci6n, sino un caso de mera lesi6n aparente de un
bien juridico; vease, Strafrecht, Allg. Teil, Lehrbuch, pägs. 260 y ss., especial-
mente, pägs. 267 y ss. y Strafrecht, Allgemeiner Teil, Studienbuch, pägs. 107
y ss. y 111 y ss).
20 Vease Jimenez de Asua, Tratado de Derecho Penal, 111, pags. 1059, 1064
y ss., y 1071/2. EI consentimiento no es, para Jimenez de AsUa, una causa de
justificaci6n, sino solo una causa de exclusi6n de la tipicidad; vease, Tratado
de Derecho Penal, IV, 3a ed., pägs. 629 - 30. Carbonell considera, invocando a
Noll (vease la nota siguiente) que el consentimiento corno causa de justifica-
ci6n encuentra tambien su fundamento en el principio de ponderaci6n de
intereses; vease Carbonell Mateu, La justificaci6n pennI. Fundamento, natu-
446 J ose Cerezo Mir
siempre que el mal eausado sea menor que el que se trate de evitar
sera la eondueta licita. EI principio de la ponderaei6n de intereses
neeesita ser eomplementado por el deI respeto a la dignidad de la
persona humana, a su eondici6n de persona aut6noma 25 • De 10 eontrario
habria que estimar licita la eondueta deI que extrae a otro violenta-
mente, sin su eonsentimiento, un riii.6n para llevar a eabo un tras-
plante que salve la vida de un paciente2B •
No es posib1e llevar a eabo, por ello, una autentica sistematizaci6n
de las eausas de justifieaci6n27 •
en la moderna Ciencia deI Derecho penal alemana la mayor parte de los autores
consideran que es necesario apreciar elementos subjetivos en todas las causas
de justificaci6n; vease, por ejemplo, von Weber, Grundriß des deutschen
Strafrechts, 1948, pag. 88; Welzel, Das deutsche Strafrecht, pags. 83 - 4;
Jescheck, Lehrbuch, pags.263 y ss. (Tratado, Vol. I, pags.447 y ss.); Maurach/
Zipf, Strafrecht, Allg. Teil 1, pags. 331 - 2; Lenckner, en: Schönke/Schröder,
observaciones preliminares a los art.32 y ss., n° 13 y ss., pags.388 y ss.;
Hirsch, LK, 9" ed. 1974, observaciones preliminares al articulo 51, n° 36 y ss.;
Stratenwerth, Strafrecht, Allg. Teil, I, Die Straftat, 3" ed., pags. 149 y ss.
(n° 485 y ss.); Samson, SK, 1, Allg. Teil, 3' ed., observaciones preliminares al
art. 32, n° 23 y ss., pags.228 y ss. y Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Die
Grundlagen und die Zurechnungslehre, Lehrbuch, 1983, pag. 295. Admiten
s610 la existencia de elementos subjetivos en algunas causas de justificaci6n.
Baumann, Strafrecht, Allgemeiner Teil, pag.307; Waider, Die Bedeutung der
Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen für Methodologie und
Systematik des Strafrechts, 1970, pags. 109 y ss.; Schmidhäuser, Strafrecht,
Allg. Teil, Lehrbuch, pags. 291 - 2; el mismo, Strafrecht, Allgemeiner Teil,
Studienbuch, pags. 133 - 4 (s610 en las causas de justificaci6n que se basan
en la persecuci6n de un fin individual, pero no en aquellas que tienen su
fundamento en un fin supraindividual) y Gallas, Zur Struktur des straf-
rechtlichen Unrechtsbegriffs, Festschrift für Bockelmann, 1979, pags. 172 y ss.
Niega la existencia de elementos subjetivos en las causas de justificaci6n, en
la moderna Ciencia deI Derecho penal alemana, Oehler, Das objektive Zweck-
moment in der rechtswidrigen Handlung, 1959, pags. 165 y ss.
30 Vease, por ejemplo, Cuello Calon/Camargo, Derecho Penal, I, Parte
General, vol. 10, 18 ed. 1980, pag. 378; Ferrer Sama, Comentarios al C6digo
Penal, I, Murcia 1946, pags. 189, 190 y 193, Jimenez de Asua, Tratado de De-
reche Penal, IV, tercera edici6n, 1976, pags.206 y ss.; Cordoba Roda, notas a
su traducci6n deI Tratado de Derecho Penal, de Maurach, I, 1962, pags. 371
y ss., Una nueva concepci6n deI delito. La doctrina finalista, 1963, pags. 94 - 5,
Las eximentes incompletas en el C6digo penal, 1966, pags. 107 y ss. y Comen-
tarios al Codigo Penal, en colaboracion con Rodriguez Mourullo, I, 1972,
pags.247 y ss.; Diaz Pa los, La legitima defensa, 1971, pags. 121 - 2; Magaldi,
La legitima defensa en la Jurisprudencia espafiola, 1976, pags.228 y ss.; Sainz
Cantero, Lecciones de Derecho Penal, Parte General 11, pags. 368 - 9 Y 372 - 3;
Cobo del Rosal/Vives Anton, Derecho penal, Parte General, 111, pags. 62 - 3
Y entre la jurisprudencia mas moderna, las sentencias deI Tribunal Supremo
de 7 de marzo de 1978 (A. 870), 30 de setiembre de 1978 (A.2953), 4 de diciem-
bre de 1978 (A.3862), 12 de diciembre de 1978 (A.3948), 26 de marzo de 1979
(A. 1395), 20 de marzo de 1982 (A. 1730) y 4 de febrero de 1983 (A. 727). Rodri-
guez Mufioz admitia la existencia de un elemento subjetivo unicamente en la
antigua eximente de legitima defensa de un extrafio (al exigir entonces el
Codigo, en el n° 6° deI art. 8°., que el defensor no fuera impulsado por ven-
ganza, resentimiento u otro motivo ilegitimo); veanse sus notas a la tra-
duccion deI Tratado de Derecho Penal, de Mezger, I, 1955, pags. 350 - 1. Este
era tambien el criterio de Ant6n Oneca, Derecho Penal, Parte General, Ma-
drid 1949, pag.240; De Rivacoba y Rivacoba, DeI fundamento a la defensa en
la legitima defensa, Estudios Penales, Homenaje al R. P. Julian Pereda, S. J.,
1965, pags. 273 y ss. y de Rodriguez Devesa, Derecho Penal Espafiol, Parte;>
General, 8' ed. 1981, pags. 484 - 5.
Las causas de justificaci6n en el derecho penal espafiol 449
29'
452 J ose Cerezo Mir
tido amplio, con 10 que parece admitir que puede ser id6nea 0 inid6nea,
vease Das spanische Strafrecht, lug. cit., päg. 331. Segun Rodriguez Mourullo.
estos supuestos estarän comprendidos en el pärrafo 2° deI art. 52, que con-
tiene, segu.n el, un titulo de incriminaci6n independiente (delito imposible),
de la tentativa y el delito frustrado deI art. 3°.; vease, Rodriguez Mourullo,
Legitima defensa real y putativa en la doctrina penal deI Tribunal Supremo,
päg.55 y Consideraciones generales sobre la exclusi6n de la antijuricidad,
lug. cit., päg. 519. En contra de la consideraci6n deI delito imposible corno un
titulo de incriminaci6n independiente de la tentativa y el delito frustrado,
deI art. 3°., vease mi Curso de Derecho Penal Espafiol, Parte General, I,
Introducci6n. Teoria Juridica deI Delito/. Capitulo XVII, nota 25, pägs. 413 - 4.
42 Vease, por ejemplo, en este sentido, von Weber, Grundriß des deutschen
Strafrechts, 2" ed. 1948, päg.88; Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil,
I, n° 492 y ss., päg.151 (aunque admite algunas excepciones, cuando s6lo la
persecuci6n de un determinado tin hace posible la justificaci6n, corno en el
ejercicio deI derecho de correcci6n, asi corno en la detenci6n provision al de un
presunto delincuente, de acuerdo con 10 dispuesto en el art. 127 de la Ley de
Enjuiciamiento criminal alemana; en estos casos la ausencia deI elemento sub-
jetivo determina, segu.n Stratenwerth, una responsabilidad por deUto doloso
consumado); Jescheck, Lehrbuch, pägs. 264 - 5 (Tratado, vol. I, pägs. 448 - 8);
Baumann, Strafrecht, Allgemeiner Teil, päg. 307 (incluso en las causas de justi-
ficaci6n que no requieren, segu.n el, la presencia de elementos subjetivos);
Maurach/Zipt, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1, pägs. 333 - 4, n° 34; Lenckner,
en: Schönke/Schröder, observaciones previas a los arts. 32 y SS., n° 15, pag. 389
(aunque hace una excepci6n tambien para aquellos casos en que es necesaria
la concurrencia de una determinada intenci6n corno elemento subjetivo de
una causa de justificaci6n; vease lug. cit. n° 16, pägs. 389 - 90); Samson, SK,
1, Allg. Teil, 3a ed., observaciones preliminares al art. 32, n° 24, pag.228;
Gallas (en las causas de justificaci6n en las que no admite la existencia de
elementos subjetivos, corno e1 consentimiento; cuando es precisa la con-
currencia de un elemento subjetivo, en cambio, corno en 1a legitima defensa
y el estado de necesidad, 1a ausencia de dicho elemente impide, segun Gallas,
la excIusi6n no solo deI desvalor de Ia acci6n, sino incluso deI desvalor deI
resultado; vease Gallas, Zur Struktur des strafrechtlichen UnrC2chtsbegriffs,
lug. cit., pägs.l72 y ss.) y Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, pags. 296 - 7
(a falta de una regulaci6n especial de estos supuestos, que considera necesa-
rial y en nuestro pais, Rodriguez Mourullo, Legitima defensa real y putativa
en la doctrina penal deI Tribunal Supremo, pags. 53 y ss. y Consideraciones
generales sobre la exclusi6n de la antijuricidad, lug. cit., pägs. 518 - 9 (siempre
que se trate de causas de justificaci6n que requieran la presencia de un ele-
mento subjetivo); Luz6n Pefia, Aspectos esencia1es de la legitima defensa,
päg. 125 (siempre que se trate de causas de justificaci6n que excluyan el des-
valor deI resultado);Gimbernat, Introducci6n a la Parte General deI Derecho
penal espafio1, pag. 51 (Das spanische Strafrecht, päg. 331) y Huerta Tocildo,
Sobre el contenido de la antijuridicidad, pags. 121 y ss.
43 Aqui se dan todos los elementas objetivos que sirven de base a la legi-
tima defensa, pero falta el elementa subjetivo deI animo 0 voluntad de
defensa.
454 Jose Cerezo Mir
1.
Wir haben früher den defensiven Notstand nur in Gestalt der Sach-
wehr (§ 228 BGB) gekannt; auch die repräsentative Darstellung unseres
Allgemeinen Teils durch J escheck 1 räumt ihm nur in dieser Form einen
eigenen Abschnitt ein. Die praktische Bedeutung der Sachwehr ist ge-
ring und beschränkt sich im wesentlichen auf die Abwehr angreifender
Hunde. Denn unbewegliche Sachen bringen nur selten Gefahren mit
sich; und wenn sie es tun (z. B. bei Explosionsgefahr), ist die in § 228
BGB allein geregelte "Beschädigung" oder "Zerstörung" wieder nur
selten ein erforderliches oder auch nur geeignetes Mittel zu ihrer Ab-
wendung.
Ein defensiver Notstand, der andere als Sachangriffe betraf, schien
schwer vorstellbar. Denn alle Gefahren, die von Menschen drohen, sah
man als durch die Notwehr geregelt an. Noch Ortrun Lampe, die
eigentliche "Erfinderin" des "defensiven übergesetzlichen Notstandes"2
als eines in Analogie zu § 228 BGB zu bildenden selbständigen Recht-
fertigungsgrundes, hielt den Anwendungsbereich ihrer neuen Katego-
rie für "sehr beschränkt". "Geht nämlich die Gefahr von einem Menschen
aus, so ist die Tat bereits aus dem Gesichtspunkt der Notwehr gerecht-
fertigt; geht die Gefahr von einer Sache aus, greift § 228 BGB ein. Ein
Rückgriff auf den defensiven übergesetzlichen Notstand ist demnach in
der Regel nur erforderlich, wenn die Gefahr weder von einem Men-
schen noch von einer Sache ausgeht, also vor allem bei einer Gefähr-
dung durch die Leibesfrucht oder durch Gegenstände, die nicht Sachen
im Sinne des § 90 BGB sind, wie etwa Strahlungen3 ." Da der Fall einer
Abwehr von Strahlungen noch nicht aktuell geworden ist und Gefähr-
dungen durch die Leibesfrucht heute in §§ 218 ff. StGB eine Spezial-
regelung erfahren haben, schien für einen solchen Rechtfertigungs-
grund kein besonderes Bedürfnis zu bestehen.
Aber inzwischen hat sich die Situation verändert, weil erkannt wor-
den ist - was lange übersehen worden war - daß bei weitem nicht
der Notwehr. Es ist nämlich heute fast allgemein anerkannt, daß die
Notwehr nicht nur den Schutz des Angegriffenen bezweckt, sondern
darüber hinaus der "Rechtsbewährung" , d. h. dem general präventiven
Zweck der Behauptung des Rechts gegen das Unrecht, dient 6 ; anders
ließe es sich nicht erklären, daß die Notwehr prinzipiell keine Propor-
tionalität des angerichteten und abgewehrten Schadens, kein Auswei-
chen und keine Herbeiholung obrigkeitlicher Hilfe verlangt. Ist dies
aber richtig, dann können menschliche Bedrohungen, die nicht einmal
Handlungsqualität aufweisen oder nicht auf einer Verletzung der im
Verkehr erforderlichen Sorgfalt beruhen, schlechterdings kein Not-
wehrrecht begründen: Was keine Handlung, dem Menschen also nicht
einmal als Person zurechenbar ist, fordert keine Rechtsbewährung her-
aus; und gegenüber Handlungen, die sich im Rahmen der rechtlichen
Gebote halten, braucht sich das Recht selbstverständlich auch nicht mit
generalpräventiver Intention zu behaupten.
Damit ist - wenigstens für die beiden genannten Fälle - dargetan,
daß es einen defensiven Notstand außerhalb des § 228 BGB tatsächlich
gibt. Einen dritten Fall bildet die Perforation, die Tötung eines Kindes
während der Geburt mit dem Ziel, eine ernste Gefahr für Leben oder
Gesundheit der Mutter abzuwenden. Er gleicht strukturell unserer
ersten Konstellation, der von einem Menschen ausgehenden Gefahr
ohne Handlungsqualität; nur die eigenständige Typik des Lebenssach-
verhaIts rechtfertigt seine gesonderte Anführung.
Eine vordringende Mindermeinung7 will auch noch die Angriffe
schuldloser oder - zum Teil - auch der in erheblich verminderter
Schuld handelnden Menschen aus dem Notwehrrecht herausnehmen.
Dann würde auch diese praktisch wichtige Fallgruppe dem defensiven
Notstand zuzuordnen sein. Das Hauptargument dieser Auffassung liegt
in der These, daß sich das Recht auch gegenüber ganz oder fast ver-
antwortungsunfähigen Menschen nicht zu "bewähren" brauche, das Not-
wehrrecht also ihnen gegenüber nicht am Platze sei. Aber dem ist nicht
zu folgen s. Denn erstens ist es mit dem Wortlaut des § 32 StGB nicht zu
vereinbaren, als "Angriff" oder "rechtswidrigen" Angriff nur einen
schuldhaften Angriff anzusehen oder selbst diesen - bei wesentlich
geminderter Schuld - noch nicht einmal genügen zu lassenD.
e Ich darf zur Begründung auf meine Abhandlung über "Die ,sozialethi-
schen Einschränkungen' des Notwehrrechts" , ZStW 93 (1981), S. 68 ff. ver-
weisen.
7 Vgl. die Nachweise bei Roxin, ZStW 93 (1981), S. 82 - 84; auch Jakobs,
Strafrecht, Allg. Teil, 1983, 12/16 - 20, S. 316 - 319, hat sich inzwischen - mit
Einschränkungen - dieser Auffassung zugesellt.
8 Näher Roxin (wie Anm. 7).
e Jakobs (wie Anm.7), S.316, Fn.24, meint dem Wortlaut des § 32 da-
durch gerecht werden zu können, daß er - wie andere vor ihm - die Schuld
460 Claus Roxin
Zweitens aber verkennt diese Ansicht auch, daß es bei der Notwehr
nicht um die Rechtsbewährung gegenüber der Person des Täters geht
- die Notwehr hat keinen pönalen Charakter! - sondern um die
generalpräventiv wichtige Behauptung des Rechts gegen die unrechte,
mißbilligte Tat; der gebotenen Schonung des Angreifers wird dadurch
Rechnung getragen, daß das Recht sich in solchen Fällen nur in einer
sozialethisch eingeschränkten, auf die Schutzbedürfnisse des Angegrif-
fenen reduzierten Form behaupten darf. Ich lasse diese Fallgruppe
daher im folgenden unter den Konstellationen, die für den defensiven
Notstand in Betracht kommen, beiseite.
Aber es gibt noch einen weiteren Fall, in dem menschliches Verhal-
ten Gefahren schaffen kann, ohne dem Notwehrrecht zu unterliegen;
der noch nicht gegenwärtige, sondern erst bevorstehende Angriff 10 • Der
Fall ist früher meist nur bei "Dauergefahren" beachtet worden, bei
denen schon verübte Attacken - etwa durch den mißhandelnden Fami-
lientyrannen - mit einiger Sicherheit auf bevorstehende weitere An-
griffe schließen ließen. Die Rechtsprechung hat ihrer durch eine Ent-
schuldigung (§ 35 StGB) Herr zu werden versucht; noch der Bundes-
gerichtshof ist diesen Weg gegangenll • Doch es mehren sich die Stim-
men, die unter gewissen Voraussetzungen schon für die Rechtfertigung
vorbeugender Abwehrmaßnahmen gegen noch nicht gegenwärtige An-
griffe eintreten. Dafür bietet sich neben dem von Suppert 12 in Analo-
gie zu § 32 StGB entwickelten Institut der Präventiv-Notwehr ebenfalls
der Defensiv-Notstand an.
Es sind also vier typische Fallgruppen, die unter dem Gesichtspunkt
eines durch § 228 BGB nicht erfaßten defensiven Notstandes gegenüber
von Menschen ausgehenden Gefährdungen untersucht werden müssen:
die Bedrohung durch Nicht-Handlungen (lU, 1) oder sorgfaltsgemäße
schon zur Voraussetzung des "Angriffs" macht. Aber dann hätte der Gesetz-
geber in § 32 nur von einem "Angriff" anstatt von einem "rechtswidrigen
Angriff" sprechen müssen. Der heutige Wortlaut impliziert die Alternative
eines rechtmäßigen Angriffs, den man sich nicht gut schuldhaft vorstellen
kann; denn der Gedanke, daß der Gesetzgeber ein schuldhaft-rechtmäßiges
Verhalten als möglich betrachtet hätte, kann ausgeschlossen werden. Daher
kann man auch die Rechtswidrigkeit des Angriffs nicht "als Hinweis auf das
Erfordernis mangelnder Rechtfertigung eines schuldhaften Verhaltens" lesen,
wie Jakobs meint. Daß ein schuldhafter Angriff zuerst rechtswidrig sein
müsse, war dem Gesetzgeber vielmehr selbstverständlich. Es ist völlig ein-
deutig, daß er ein Notwehrrecht auch gegen schuldlos handelnde Personen
gewähren wollte (BT-Drucksache IV/650, S. 156).
10 Er wird schon von Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 102 f.,
und beiläufig auch von Ortrun Lampe (wie Anm.2), S.91, Fn.47, in diesem
Zusammenhang genannt.
11 Zuletzt in der Entscheidung des merkwürdigen "Spanner"-Falles, NJW
1979,2053.
12 Studien zur Notwehr und "notwehrähnlichen" Lage, 1973.
Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand 461
Handlungen (111, 2), die Perforation (111, 3) und der erst bevorstehende
Angriff (111, 4). Dazu kommen die Konstellationen, auf die § 228 BGB
ebenfalls nicht zutrifft, bei denen die Gefahr aber nicht von Menschen
ausgeht: etwa die Abtreibungsindikationen oder Bedrohungen, die von
Strahlungen herrühren. 8ie sind - weil sie teils 8pezialregelungen
erfahren haben, teils selten sind - in unserem Zusammenhang nicht
näher zu behandeln, sondern nur am Rande zu erwähnen.
11.
Die rechtliche Regelung des Defensivnotstandes ist weithin unge-
klärt. Dabei geht es um die zweifache Frage, welcher Rechtfertigungs-
grund überhaupt in Betracht kommt (11) und unter welchen Voraus-
setzungen er ggf. zur Rechtfertigung führen kann (111). Wir beginnen
mit der ersten Frage, deren Beantwortung den Rahmen liefert, inner-
halb dessen die zweite Frage nach den konkreten Rechtfertigungserfor-
dernissen gelöst werden kann.
Den zentralen 8treitpunkt der gegenwärtigen Diskussion um den
defensiven Notstand bildet das Problem, ob für ihn ein eigener neuer
Rechtfertigungsgrund entwickelt werden muß, oder ob es sich nur um
einen besonderen Fall des Notstandes nach § 34 8tGB handelt. Als neue,
übergesetzliche Rechtfertigungsgründe werden ein in Analogie zu § 228
BGB zu entwickelnder "Defensivnotstand"13 oder ein Rechtfertigungs-
grund der "notstandsähnlichen Lage"l4 angeboten. Für einzelne Fall-
gruppen (den erst bevorstehenden Angriff oder die Kollision von
"Leben gegen Leben") konkurrieren damit der schon erwähnte, eben-
falls außergesetzlich (in Analogie zu § 32 8tGB) gebildete Rechtferti-
gungsgrund der "Präventivnotwehr" und die rechtfertigungsähnliche
Denkfigur des "rechtsfreien Raumes"15. Indem ich die Behandlung der
beiden letzten, nur für Teilgebiete relevanten Lösungsvorschläge auf
die spätere Erörterung der jeweiligen Spezialprobleme verweise, be-
schäftige ich mich zunächst mit der Grundfrage, ob wir für den Defen-
sivnotstand einen neuen, übergesetzlichen Rechtfertigungsgrund brau-
chen oder ob er schon durch § 34 8tGB einer angemessenen Regelung
zugeführt werden kann.
13 Zuerst Ortrun Lampe (wie Anm. 2), S. 91. Mit Nachdruck dann vor allem
Hruschka, Festschrift für Dreher, 1977, S. 189 ff., 203 ff.; ders., JuS 1979, 385 ff.,
391 f.; ders., NJW 1980, 21, 22; ders., Strafrecht nach logisch-analytischer
Methode, 1983, S. 78 ff.; teilweise auch Jakobs (wie Anm. 7), 13/46 ff., S. 356 f.
14 Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983,
S. 337 ff.
15 Vgl. vor allem Arthur Kaufmann, Festschrift für Maurach, 1972, S. 327ff.
462 Cl aus Roxin
überein in dem Ergebnis, daß man mit § 34 StGB diesen Fällen nicht
gerecht werden kann. Ausgangspunkt dieser Annahme ist der einleuch-
tende Gedanke, daß der Bedrohte in den geschilderten Fällen die Ge-
fahr nicht hinzunehmen braucht, sondern sich gegen sie schützen darf.
Das ist oftmals nur möglich durch eine Verletzung des Gefahrträgers,
im äußersten Fall sogar nur durch Aufopferung seines Lebens. Es
kollidieren also in solchen Fällen auf Seiten des Gefährdenden und des
Bedrohten Gesundheit und Leben. Wenn man sich den Fall so denkt,
daß jemand eine erhebliche Gefahr nur durch eine schwere Verletzung
oder gar nur dadurch, daß er den Tod des Gefährdenden verursacht,
von sich abhalten kann, dann setzt eine Rechtfertigung nach § 34 vor-
aus, daß "das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich über-
wiegt". Das geschützte Rechtsgut ist aber nicht wesentlich überwiegend.
Es überwiegt manchmal (bei der Abwehr einer schweren Beeinträchti-
gung durch eine nicht ganz so schwere) ein wenig, ist meistens gleich-
und nicht selten sogar geringerwertig.
In dem anschaulichen "Spanner"-Fall I6 hatte ein Ehemann einen
fliehenden Unbekannten ins Gesäß geschossen, weil dieser mehrmals
nachts in die Wohnung und sogar in das Schlafzimmer der Eheleute
eingedrungen war und sie dadurch in Angst und Schrecken versetzt
hatte; polizeiliche Hilfe war nicht zu erlangen gewesen, so daß dem
erneuten Erscheinen des "Spanners" nur durch nachhaltige Abschrek-
kung begegnet werden konnte. Der Ehemann hatte also zum Schutze
von Hausrecht und Privatsphäre die Körperintegrität des Spanners
nicht unerheblich verletzt. Die geschützten Rechtsgüter mögen wegen
der Nachhaltigkeit und der beunruhigenden Art des Angriffsverhaltens
nahezu gleichwertig gewesen sein, von einem "wesentlichen" überwie-
gen der geschützten Rechtsgüter kann man jedoch nicht sprechen. Noch
deutlicher wird das Problem bei der Perforation. Wenn ein Kind wäh-
rend der Geburt getötet wird, um einen schweren Körperschaden von
der Mutter abzuwenden, dann ist, sofern das Kind andernfalls am
Leben geblieben wäre, das geschützte Rechtsgut gegenüber dem beein-
trächtigten zweifelsfrei das geringerwertige.
Aus diesem Befund leiten die Befürworter eines übergesetzlichen
Defensivnotstandes die Unanwendbarkeit des § 34 her. Der dort aufge-
stellte Abwägungsmaßstab passe nur für den aggressiven, in unbeteiligte
Rechtsgüter anderer eingreifenden, nicht für den defensiven Notstand,
bei dem die Gefahr vom Rechtsgutsträger selbst ausgehe. Es sei "in § 34
StGB keine Rede davon, daß die Interessen einer Person deswegen
weniger wertvoll sind, weil die Person gefährlich ist. Einen Rechtssatz
dieser Art gibt es nicht, und es kann ihn auch nicht geben", sagt
2. Diese Konzeption wirkt auf den ersten Blick bestechend. Von ihrer
Richtigkeit habe ich mich gleichwohl nicht überzeugen können. Es
trifft sicher zu, daß die Interessenabwägung beim defensiven Notstand
zu einem anderen Ergebnis führt als beim aggressiven und daß dieser
ohne weiteres einleuchtende Befund schon früh in § 228 BGB einen
positiv-gesetzlichen Ausdruck gefunden hat. Lenckner, der dem defen-
siven Notstand erstmals eine über § 228 BGB hinausreichende Auf-
merksamkeit geschenkt hat 21 , hat diesem Gesichtspunkt aber immer nur
im Rahmen des § 34 StGB Rechnung getragen und einen zusätzlichen
Rechtfertigungsgrund als "überflüssige Konstruktion"22 abgelehnt. Nicht
wenige Autoren sind ihm, wenn auch ohne nähere Auseinandersetzung
mit der Problematik, gefolgt 23 .
In der Tat ist entgegen dem namentlich von Hruschka begründeten
Standpunkt die Behandlung des Defensivnotstandes im Rahmen des
§ 34 StGB nicht nur möglich, sondern auch teleologisch geboten. Die
Behauptung, § 34 passe nicht auf den Defensivnotstand, orientiert sich
zu sehr an der Güterabwägungstheorie, die dem früheren "übergesetz-
lichen Notstand" vielfach zugrundegelegt wurde und von der auch die
ersten Entwürfe zum neuen StGB noch ausgegangen waren24 ; denn es
ist gewiß so, daß beim Defensivnotstand das geschützte Rechtsgut das
beeinträchtigte meist nicht wesentlich überwiegt und oft sogar gerin-
gerwertig ist. Aber der Gesetzgeber ist schon bei der zweiten Lesung
des E 1962 von der Idee einer abstrakten Güterabwägung abgekommen
und hat sie durch eine Interessenabwägung ersetzt, bei der sämtliche
30 Der Gesetzgeber hat das selbst nicht mit letzter Klarheit durchschaut;
denn er bringt in § 34 S. 2 die "Zwecktheorie" noch ein weiteres Mal ins Spiel.
Lenckner, der sich um die Analyse des § 34 entscheidende Verdienste erwor-
ben hat, nennt deshalb die Angemessenheitsklausel leer laufend (zuletzt
SchönkelSchröder/Lenckner, StGB, 21. Auf!. 1984, § 34 Rdn. 46). Daran
scheint mir richtig, daß alle Abwägungsgesichtspunkte in den Satz 1 ein-
gehen, auch soweit sie die "Gesamtrechtsordnung" betreffen (anders insoweit
Jescheck [wie Anm. 1], § 33 IV 3 d, S. 291 f.), denn die Individualinteressen
werden überhaupt nur nach den Maßstäben der Gesamtrechtsordnung abge-
wogen. Für Satz 2 bleibt aber die Prüfung der Abwägung auf ihre Verein-
barkeit mit der Menschenwürde. Diese gehört gerade nicht zu den sich wech-
selseitig relativierenden Abwägungsgesichtspunkten, sondern bezeichnet die
Grenze, an der jede Abwägung ihr Ende findet.
31 Selbst die Relevanz dieses Gedankens bestreitet Jakobs (wie Anm.7),
indem er ihn nur berücksichtigen will, wenn der Mensch, der abgewehrt wird,
die Gefahr zu verantworten hat 03/46 ff., S. 356 f.); damit würden drei unse-
rer vier Fallgruppen (Angriffe ohne Handlungsqualität oder Rechtswidrig-
keit, Perforation) von vornherein aus dem Einzugsbereich des defensiven
Notstandes herausfallen.
32 Darauf weist auch Günther (wie Anm. 14), S. 339, hin.
Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand 467
wird doch schwerlich mit Menschen (und noch dazu mit solchen, die in
den meisten Fällen die von ihnen verursachte Situation nicht einmal
zu verantworten haben) so verfahren dürfen wie mit Sachen! Wie sehr
die Lösung des § 228 BGB dadurch beeinflußt ist, daß es sich bei dem
beeinträchtigten Rechtsgut "nur" um eine Sache handelt, läßt sich dar-
aus entnehmen, daß die Abwägung unter strafrechtlichen Aspekten um
keinen Deut anders ausfällt, wenn der Abwehrende die Gefahr ver-
schuldet hat, die Situation also in seiner Sphäre ausgelöst worden und
von ihm zu verantworten ist. Auch wer den fremden Hund durch eine
Mißhandlung in provozierender Weise gereizt hat, darf ihn gemäß § 228
S.l BGB immer noch töten, wenn er den Biß nicht anders abwehren
kann, er ist nur gemäß § 228 S.2 BGB zum Schadensersatz verpflichtet.
Es gibt aber keinen Grund, bei einer von Menschen ausgehenden Ge-
fahr die Interessen des Abwehrenden höher zu bewerten, wenn er der
allein Schuldige an der Notstandslage ist. Im Gegenteil!
Es ist also teleologisch verfehlt, den im Rahmen des § 228 BGB sach-
gerechten Abwägungsmaßstab auf von Menschen ausgehende Not-
standsgefahren zu übertragen. Abgesehen davon, daß es schon prinzi-
piell nicht zulässig sein sollte, Menschen außerhalb der Notwehr bis zur
Grenze der Unverhältnismäßigkeit zu schädigen - die Ausschaltung
des Notwehrrechtes beim Defensivnotstand wäre dann ja auch im prak-
tischen Ergebnis sinnlos -, ist der allein auf die Schadensproportiona-
lität abstellende Maßstab des § 228 BGB aber auch viel zu starr. Für
Sachgefahren haben solche holzschnitt artigen Lösungen ihren Sinn; wo
aber höchstpersönliche Rechtsgüter kollidieren, kann eine Abwägung
nur unter Einbeziehung aller Umstände der konkreten Situation erfol-
gen. Diese aber ermöglicht allein § 34 StGB: Nicht nur ein auslösendes
Verschulden des Abwehrenden, auch etwa die Nähe der Gefahr oder
besondere Pflichtenstellungen können bei der Abwägung nach § 34
StGB berücksichtigt werden, während sie für § 228 BGB keine Rolle
spielen. Auch ist leicht ersichtlich, daß die Falltypen des defensiven
Notstandes - etwa die präventive Abwehr noch nicht gegenwärtiger
Angriffe auf der einen und die Perforation auf der anderen Seite -
zum Teil so unterschiedlich gelagert sind, daß sie sich nicht über den
Leisten einer einheitlichen Lösung schlagen lassen; dazu bedarf es
einer Differenzierung, die in § 34 StGB von vornherein angelegt ist, die
§ 228 BGB aber nicht gestattet.
Man wende nicht ein, daß auch ein in Analogie zu § 228 BGB ge-
bildeter übergesetzlicher Defensivnotstand kein Abklatsch der zivil-
rechtlichen Bestimmung sein, sondern den geschilderten konkreten
Besonderheiten Rechnung tragen solle! Denn erstens würde, wenn
man so verfahren wollte, von der Analogie nicht viel übrig bleiben;
und zweitens würde sich, wenn der abstrakte Schadensvergleich durch
468 Claus Roxin
a) Es scheint mir sicher, daß man in solchen Fällen mit der Abwehr
nicht bis zur völligen Unverhältnismäßigkeit gehen darf, wie es bei
der Notwehr und in der Situation des § 228 BGB der Fall ist. Das sei
zunächst am einfacheren Beispiel der Abwehr von Sachgüterbeein-
trächtigungen verdeutlicht. In der Notwehr ist es nach h. M. gestat-
tet, zur Verteidigung von Sachwerten selbst schwere Personenschä-
den zuzufügen, also etwa auf den Einbrecher zu schießen. Das kann
hier, da der Abwehr jegliches Rechtsbewährungsinteresse fehlt, nicht
in Betracht kommen. Vielmehr sind zwei andere Gesichtspunkte ge-
geneinander abzuwägen: der Umstand, daß Leben und Körperintegri-
tät ceteris paribus weit höheren Rang haben als bloße Sachwerte, und
das weitere Faktum, daß der Bedrohte seinen Rechtskreis gegen eine
von außen kommende Gefahrenquelle verteidigt, daß also nicht der Ab-
wehrende, sondern der andere der 8törer ist. Der erste Gesichtspunkt
hat das erheblich größere Gewicht, weil dem "Störer" die bloße Ver-
ursachung nicht einmal zur Person zugerechnet werden kann. Da aber
selbst beim aggressiven Notstand leichte Körperbeeinträchtigungen
zur Rettung bedeutender Sachwerte erlaubt sind (etwa das Beiseite-
stoßen Neugieriger zum Zwecke der Brandlöschung), wird man dem
Gesichtspunkt des Gefahrenursprungs beim defensiven Notstand we-
nigstens insoweit Rechnung tragen können, als man leichte Körper-
beeinträchtigungen zur Rettung immerhin gewichtiger Sachwerte ge-
stattet. Wenn also der Eigentümer den im Krampfanfall wild um sich
schlagenden Epileptiker gewaltsam zurückstößt, um die Zertrümme-
rung einer wertvollen Vase zu verhindern, oder wenn er durchge-
henden Pferden in die Zügel fällt und sie, indem er leichte Prellun-
gen der Kutscheninsassen in Kauf nimmt, rechtzeitig zum Stehen
bringt, bevor sie seine Marktbuden unter Verursachung erheblichen
Sachschadens umrennen können, wird man seine Interessen als "we-
sentlich überwiegend" ansehen und ihn nach § 34 8tGB rechtfertigen
müssen. Aber damit ist auch die Grenze des Zulässigen erreicht. Der
Eigentümer wird also den Gefahrverursachern in den geschilderten
Beispielsfällen zur Rettung seiner Sachwerte nicht etwa Knochen-
brüche und schwere Gehirnerschütterungen zufügen dürfen; denn
470 Claus Roxin
40 Sie hält es bekanntlich sogar für zulässig, einen Menschen dadurch dem
sicheren Tod auszuliefern, daß man ihm eine gesundheitlich völlig ungefähr-
liche, zur Lebensrettung unerläßIiche Blutspende verweigert. Diesen Stand-
punkt, der aus der Menschenwürde folgen soll, den ich aber für nicht sehr
human halte, teile ich nicht.
472 Claus Roxin
nimmt, bevor man den anderen durch sein Tun dem Tode ausliefert.
Aber das kann in unserem Beispielsfall nur bedeuten, daß der F, wenn
dadurch das Leben des L zu retten ist, Prellungen, Verstauchungen
oder Hautabschürfungen aushalten muß. Mehr kann nicht verlangt
werden.
Für diesen Standpunkt streitet auch der Parallelfall des schuld-
losen Angriffs. Es entspricht der wohl einhelligen Auffassung, daß
der Schuldunfähige, der das Leben anderer bedroht - wie z. B. der
bewaffnete Amokläufer - notfalls niedergeschossen werden darf. Nun
stehen zwar der Handlungs- und der Schuldunfähige einander nicht
gleich. Aber in dem für die Interessenabwägung entscheidenden Punkt
läßt sich doch eine übereinstimmung feststellen: darin nämlich, daß
derjenige, der durch ein von ihm nicht zu verantwortendes Schicksal
andere Menschen gefährdet, deren erforderliche und durch die all-
gemeine menschliche Solidaritätspflicht nicht verbotene Abwehr hin-
nehmen muß. Der Grundsatz, daß das menschliche Leben im Rahmen
des § 34 StGB niemals in eine Interessenabwägung einbezogen wer-
den darf, muß also für diese Fälle des defensiven Notstandes einge-
schränkt werden. Die Interessen dessen, der in solcher Lage eine Le-
bensgefahr oder eine schwere Körperverletzung von sich abwehrt,
überwiegen nach dem Maßstab der Rechtsordnung auch bei einer
Gleichheit der kollidierenden Rechtsgüter wesentlich die Interessen
des Gefahrverursachers. Das gilt in dieser Allgemeinheit allerdings
auch hier nur, wenn die Verursachung der Gefahr neben dem Rechts-
gütervergleich der einzige in der konkreten Situation relevante Ab-
wägungsgesichtspunkt ist. Hat z. B. der in den Defensivnotstand Ge-
ratene die Situation selbst verschuldet, so ändert sich das Abwägungs-
ergebnis. Insoweit kann auf das oben schon Dargestellte verwiesen
werden.
Mir scheint, daß die hier vertretene prinzipielle Entscheidung zu-
gunsten des Defensivnotstandstäters auch den Kompromißlösungen
vorzuziehen ist, die sich aus den Konzeptionen Arthur Kaufmanns
und Günthers ergeben. Wenn man mit Kaufmann41 in Situationen,
wo Leben gegen Leben steht, wegen der Unentscheidbarkeit des Kon-
flikts einen "rechtsfreien Raum" annimmt und beiden Kontrahenten
und ihren etwaigen Nothelfern die Tötung von Personen der "Gegen-
seite" weder erlaubt noch verbietet, aber als "unverboten" hingehen
läßt42 , so verschlechtert man damit die rechtliche Situation dessen, der
unverschuldet in den Defensivnotstand geraten ist. Denn zu der Be-
det, wenn, wie es leicht möglich ist, aus der Kollision auch ihm Ge-
fahren drohen; denn dann ist das Verhalten des Spaziergängers ein
rechtswidriger, das des Radfahrers aber ein rechtmäßiger Angriff. Es
ist klar, daß der Fußgänger nicht deswegen den Radfahrer kann schä-
digen dürfen, weil dieser von einer Kollision nichts zu befürchten
hätte.
Die geschilderten Grundkonstellationen nicht rechtswidriger Ge-
fährdungen lassen sich noch abwandeln. Der hier zur Verfügung ste-
hende Raum verbietet es, dem bis ins Detail nachzugehen. Das ist
aber auch nicht nötig. Es genügt, zu erkennen, daß § 34 StGB, gerade
weil er die Berücksichtigung aller Gesichtspunkte gestattet, für jede
konkrete Situation ein rationales und kriminalpolitisch vernünftiges
Abwägungsergebnis erlaubt, während der starre Maßstab des § 228
BGB dazu nicht in der Lage ist.
48 Rudolphi, in: SK, 3. Aufl. 1981, vor § 218 Rdn. 15; DreherlTröndle, StGB,
41. Aufl. 1983, § 34 Rdn. 51.
50 (Wie Anm. 7), 13/22, S. 346 mit Fn. 44.
476 Claus Roxin
rend des Geburtsvorganges aufzuheben; dafür ließe sich auch kein ver-
nünftiger Grund geltend machen.
Allerdings führt die Interessenabwägung auch hier nicht zu einer
schlichten Umkehrung der Güterproportionen im Stile des § 228 BGB.
Vielmehr wird man, wie auch sonst bei einem vom Gefährdenden
nicht zu verantwortenden defensiven Notstand, vom Gefährdeten (hier:
der Mutter) die Hinnahme mittlerer Körperbeeinträchtigungen noch
erwarten dürfen. Praktisch bedeutet das, daß eine Perforation nicht
erfolgen darf, wenn mit Hilfe eines Kaiserschnitts die Geburt ohne
besonderes Risiko möglich ist52 • Ferner kehrt sich die Interessenab-
wägung um, wenn die Mutter selbst sich für das Kind entscheidet. Er-
klärt sie, auf jeden Fall das Kind gebären und das dabei für sie ent-
stehende Gesundheits- oder gar Lebensrisiko in Kauf nehmen zu wol-
len, so muß der Arzt das respektieren.
Die hier befürwortete Abwägung nach § 34 StGB, die im Regelfall
zur Rechtfertigung führt, erscheint mir als gegenüber allen anderen
Lösungsvorschlägen durchaus vorzugswürdig. Wenn SchToeder"3 den
§ 34 StGB wegen der von ihm angenommenen Unabwägbarkeit von
Menschenleben nicht heranziehen zu können glaubt, dem Arzt aber
eine rechtfertigende Pflichtenkollision zugutehält, so müßte das zu
dem Ergebnis führen, daß der Arzt nach freiem Ermessen auch das
Leben der Mutter dem des Kindes aufopfern dürfte. Denn bei der Kol-
lision zweier gleichrangiger Rettungspflichten tritt eine Rechtferti-
gung - soweit man eine solche überhaupt für möglich hält - schon
dann ein, wenn nur eine der beiden Pflichten erfüllt wird. Das wäre ein
untragbares Ergebnis. Wenn man aber, um ihm zu entgehen, die
Pflicht zur Rettung der Mutter als vorrangig behandelt, hätte man die
vermeintlich unzulässige Abwägung doch schon vorgenommen.
Es scheint mir auch nicht möglich, mit Jakobs 54 eine Rechtfertigung
der Perforation nur bei einer "besonderen Konstitution" des Kindes
zu bejahen und für diesen Fall die "Konfliktslage als zum Verant-
wortungsbereich des Kindes gehörig" zu definieren. Denn erstens ist
es nicht tragbar und auch mit der in §§ 218 ff. StGB zum Ausdruck ge-
kommenen Wertabwägung nicht vereinbar, bei einer normalen Konsti-
tution des Kindes die Mutter dem Kind aufzuopfern. Und zweitens
wird man auch bei einer "besonderen Konstitution" des Kindes die
Gefahr nicht dem "Verantwortungsbereich" des Kindes zuordnen kön-
nen. Wer, wie ein Kind in der Geburt, jeglicher Handlungsfähigkeit
ermangelt, kann sinnvollerweise keinen "Verantwortungsbereich" ha-
59 Vgl. näher meine Arbeit "Von welchem Zeitpunkt an ist ein Angriff
gegenwärtig und löst das Notwehrrecht aus?", Gedächtnisschrift für Tjong,
1984.
60 (Wie Anm. 12), S. 356 ff.
It Samson, in: SK, 3. Aufl. 1981, § 32 Rdn.l0; Jakobs (wie Anm.7), 12/27,
S.321, der aber auf die "bei defensivem Notstand geltenden Proportionali-
tätsgrundsätze" verweist.
62 Vgl. nur Jescheck (wie Anm.l), § 32 II 1 d, S.275; Schönke/Schröder/
Lenckner (wie Anm. 22), § 32 Rdn. 17.
e3 Vgl. nur die Zusammenfassung (wie Anm. 7), S. 404.
Diese Erfordernisse sind also nicht das Ergebnis einer Abwägung, son-
dern liegen ihr voraus und würden auch bei einer Heranziehung des
§ 228 BGB gelten. Bei der Abwägung selbst sind aber zahlreiche Ge-
sichtspunkte zu bedenken, die in § 228 BGB nicht eingegangen sind.
Wie dies geschehen muß, soll anhand der vorgetragenen Beispielsfälle
kurz verdeutlicht werden.
Bei der vorübergehenden Einschließung der geisteskranken Mutter
(BGHSt. 13, 197) ist nicht nur in Rechnung zu ziehen, daß künftige
Sachbeschädigungen abgewehrt werden sollten. Es würde zu kurz
greifen, wenn man in Analogie zu § 228 BGB die Beeinträchtigung des
abstrakt gesehen höheren Rechtsgutes (persönliche Freiheit) allein
deshalb rechtfertigen würde, weil die Gefahr aus der Sphäre der Mut-
ter kam. Denn zur Einschließung verwahrungsbedürftiger Personen
sind das Entmündigungsverfahren und die Anstaltseinweisung vor-
gesehen; derartige gesetzlich geregelte Verfahren sind bei der Abwä-
gung zu berücksichtigen und schließen prinzipiell eine Rechtfertigung
nach § 34 StGB aus65 • Hier kann man nur deshalb zu einem anderen
Abwägungsergebnis kommen, weil eine vorübergehende Einschließung
im Rahmen der Familienpflege die Mutter selbst weit weniger be-
lastete, als es eine Anstaltseinweisung getan hätte, so daß die kurz-
zeitigen "Freiheitsberaubungen" also letztlich ihrem eigenen Wohl
dienten66 • Darauf beruht wohl auch das rechtfertigende BGH-Urteil,
das in Ermangelung des damals noch nicht existierenden § 34 StGB
keinen konkreten Rechtfertigungsgrund nennt, dessen überlegungen
aber heute im Rahmen einer nach dieser Bestimmung anzustellenden
Interessenabwägung ihren Platz haben müßten.
Auch im "Spanner"-Fall machen die meisten Beurteiler sich die
Sache zu leicht, wenn sie die beiden Schüsse auf den Voyeur allein
damit rechtfertigen, daß die Verletzung der im Verhältnis zu Haus-
recht und Privatsphäre höherwertigen Körperintegrität des Eindring-
lings deswegen erlaubt sei, weil künftigen Angriffen aus der Sphäre
des Täters vorgebeugt werden sollte und deshalb der Maßstab des
§ 228 BGB heranzuziehen sei, der eine überproportionale Abwehr ge-
statte67 • Vielmehr wird man, weil die präventive Gefahrenabwehr
prinzipiell Sache der Polizei ist, um des öffentlichen Friedens willen
mit ihrer subsidiären übertragung auf Privatleute äußerst zurück-
haltend verfahren müssen und Tötungen oder schwere Verletzungen
65 Jakobs (wie Anm. 7), 14/49, S. 357, der von der analogen Anwendung des
§ 228 BGB ausgeht, will sogar in diesem Rahmen auf die Angemessenheits-
klausel des § 34 StGB zurückgreifen und mit ihrer Hilfe eine Rechtfertigung
ausschließen.
88 Vgl. näher Roxin, ESJ Strafrecht, Allg. Teil, 2. Auflage 1984, Fall 29.
87 Vgl. etwa Hruschka, NJW 1980, 21, 22; Jakobs (wie Anm. 7), 12/27, S. 321.
lichung solcher Entschlüsse immer zweifelhaft ist. Solange eine Tat nicht
versucht wird, ist strafrechtlich noch nichts geschehen; was aber als
Rechtsgutsangriff noch nicht faßbar ist, kann keine Tötung rechtfer-
tigen. Was der Vater bei einer Rückkehr des Sohnes wirklich getan
hätte und ob sein Zorn nicht vielleicht verraucht oder wenigstens ge-
dämpft gewesen wäre, kann niemand wissen. Die Mutter hätte sich be-
waffnen und den Mann mit der von ihr benutzten Schlagwaffe ggf.
in Notwehr töten dürfen; würde man dergleichen aber vorbeugend
erlauben, so würde man die leider nicht seltenen Familientragödien in
sozialpolitisch verhängnisvoller Weise vermehren anstatt sie zu reduzie-
ren. Freilich: Der Maßstab des § 228 BGB würde eine Tötung zulas-
sen; aber selbst ein schlechter und gefährlicher Mensch ist keine Sache,
die auf ein erst bevorstehendes Risiko hin zerstört werden darf. Man
wird daher in diesen Fällen auf dem Wege der älteren Rechtsprechung
bleiben müssen und dem Täter in extremen Situationen eine Entschul-
digung nach § 35 StGB oder einen Putativentschuldigungsnotstand
(§ 35 Abs. 2 StGB) zubilligen können.
31"
484 Claus Roxin
sv Wie Anm. 2.
EBERHARD SCHMIDHÄUSER
um, in der Substanz Neues für die Straftat vorauszusetzen, als viel-
mehr darum, den nicht nur grundlegenden, sondern auch in seiner
Schwierigkeit so faszinierenden Begriff der Schuld richtig zu fassen.
Es geht also weniger etwa um rechtspolitische Ziele, als vielmehr um
die Aufgabe, die der Wissenschaft in der Bemühung um den Begriff
schon immer gestellt ist. Und so kontrovers der Schuldbegriff auch
sein mag; das Schuldprinzip erscheint ganz unangefochten.
Manches - das soll hier nicht belegt werden - spricht dafür, daß
der im Titel genannte Schuldbegriff aus bloßer Mode übergangen wird.
Um so mehr erscheint es geboten, ihn wieder dem Gespräch zuzu-
führen.
1. Bei der Frage nach dem Schuldbegriff gehen wir immer schon von
einem Vorbegriff von Schuld aus; er ergibt sich zugleich aus der Tra-
dition früheren Strafens wie aus den Regeln des staatlichen Strafens
der Gegenwart und aus den hierbei jeweils bezeichneten Vorausset-
zungen der Strafe.
Unser Weg wird durch jene Vorschriften des geltenden Strafrechts
markiert, die offensichtlich das Unrecht einer Tat voraussetzen und
auf dieses Unrecht gewisse Erkenntnisse und Erkenntnisfähigkeiten
des Täters beziehen, wobei eine besonders enge Verbindung zur Per-
son des Täters deutlich wird. Nach geltendem StGB sind dies u. a. die
Vorschriften: § 17 über den Verbotsirrtum, § 19 über die Schuldunfä-
higkeit des Kindes, § 20 über die Schuldunfähigkeit wegen seelischer
Störungen, § 29 darüber, daß im Bereiche von Täterschaft und Teil-
nahme "jeder Beteiligte" "ohne Rücksicht auf die Schuld des anderen
nach seiner Schuld bestraft" wird. Hierher gehören auch § 35 über den
entschuldigenden Notstand und § 46 über die Grundsätze der Strafzu-
messung. Ferner muß der Schuldbegriff in Einklang stehen können
mit Feststellungen zur Geschichte, etwa: daß das Strafrecht sich vom
Erfolgs- zum Schuldstrafrecht entwickelt habe - , und auch in Ein-
klang zu grundlegenden Rechtssätzen der übergeordneten Verfassung,
etwa, daß keine Strafe ohne Schuld des Täters verhängt werden dürfe
und daß die Strafe in einem gerechten Verhältnis zur Schuld des Tä-
ters zu stehen habe.
Schließlich wird in die Bestimmung des Schuldbegriffs eine rechts-
ethische Besinnung über das staatliche Strafen als solches mit ein-
gehen. Hierbei wird dann gewiß die unterschiedliche Sicht der Zwecke
des staatlichen Strafens oder gar das unterschiedliche Erlebnis eines
Sinns im staatlichen Strafen Folgen für den Schuldbegriff haben.
2. Innerhalb des Bereichs, der mit dem soeben Gesagten für die
Frage nach dem Schuldbegriff abgesteckt ist, finden sich nun aber
zwei grundlegend verschiedene Blickrichtungen. Knapp formuliert
geht die eine vom Unrecht her auf die Schuld hin, die andere von der
Schuld her auf das Unrecht hin. Das mag zunächst wie ein bloßes
Spiel mit Akzentuierungen aussehen, hat aber doch schließlich Folgen
für den Schuldbegriff.
über den axiologischen Schuldbegriff des Strafrechts 489
Fragt man nach der Schuld vom Unrecht her, dann steht das Unrecht
als gegeben schon fest und es interessiert hauptsächlich, ob es hätte
vermieden werden können. Es ist wie bei unerfreulichen Alltagsereig-
nissen, wo nachträglich derartige Fragen gestellt zu werden pflegen.
So ergibt sich dann bei der Suche nach dem Schuldbegriff die Frage
nach der Vermeidbarkeit des Unrechts, und diese Frage wird regel-
mäßig bejaht, wenn man vom Andershandelnkönnen des Täters aus-
gehen kann; und darin wird dann die Schuld oder doch deren Kern
gesehen.
Blickt man dagegen von der Schuld auf das Unrecht hin, so folgt
man dem zeitlichen Ablauf des Geschehens, wo die Schuld immer vor
der unrechten Tat beginnt (und sei dies auch nur die knappe Zeitspanne
eines raschen Gedankens). Dann fragt man nicht nach einer eher for-
malen Kategorie der Vermeidbarkeit, sondern nach einem material
wertwidrigen Grund im seelischen Erleben des Täters, aus dem seine
unrechte Tat hervorgegangen ist.
Diese Sicht wird von den gesetzlichen Vorschriften durchweg nahe-
gelegt. Es ist ganz selbstverständlich, daß alle Momente, die wir hier
zum Schuldbereich rechnen, zeitlich immer vor dem Unrecht beginnen.
Daß z. B. die Unfähigkeit, das Unrecht der Tat "einzusehen" (§ 20),
nicht etwa eine nachträgliche Einsicht meint, sondern ein Vorausbe-
wußtsein des nachfolgenden eigenen HandeIns, ist evident. Dies gilt
auch für alle sonstigen Momente, die wir richtigerweise in den Be-
reich der Schuld stellen, etwa nach § 216 StGB, daß der vorsätzlich
tötende Täter "durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des
Getöteten zur Tötung bestimmt worden" ist, oder nach § 213, daß der
Totschläger "zur Tat hingerissen worden" ist, oder auch nach § 35, daß
der Täter im entschuldigenden Notstand aus dem Gefahrerlebnis her-
aus gehandelt hat. Gewiß geht man in der Praxis der Strafverfolgung
von einer unrechten Tat als Anknüpfungspunkt aus und fragt dann
nach der Schuld des Täters. Gewiß auch setzt nach den Erkenntnissen
der modernen Straftatsystematik die Schuld das Unr,echt voraus:
denn eine irgendwie beschaffene Schuld ohne das Unrecht, auf das
sie sich bezieht, wäre für die Rechtsanwendung ganz ungreifbar. Aber
für den Begriff dieser Schuld muß es entscheidend sein, daß die see-
lischen Phänomene, in denen sie ihren "Sitz" hat, im Ablauf des Ge-
schehens vor dem Unrecht liegen und daß also Schuld und Unrecht
im Verhältnis von Grund zu Folge stehen.
Dies bedeutet: Ist das Unrecht Wertverfehlung i. S. der Rechtsguts-
verletzung im Willensverhalten nach außen, dann muß die Schuld
diese Wertverfehlung in anderer Weise vorweggenommen haben. Be-
deutet Unrecht, daß der Täter handelt, wie er nicht handeln darf,
490 Eberhard Schmidhäuser
Schon von Liszt hat einen Begriff von Gesinnung für den Schuld-
begriff herangezogen; er sah den "materiellen Inhalt des Schuldbe-
griffs" "in der aus der begangenen Tat (dem antisozialen Verhalten)
erkennbaren asozialen Gesinnung des Täters" und verstand darunter
im Zusammenhang seiner spezialpräventiven Sicht des Strafens einen
charakterlichen, also auf Dauer gerichteten Mangel an sozialem Pflicht-
gefühlS. - In einem ganz anderen Sinne schlug später Mezger, ohne
an dieser Stelle den Ausdruck Gesinnung zu verwenden, die Brücke
zur Gesinnungsethik Kants, wenn er sagte, "philosophiegeschichtlich"
sei die Verwirklichung des Schuldgedankens "das geistige Erbe vom
,allein guten Willen' bei Kant"9. - Für Gallas kann "in einem finalen
System" "der Unterschied zwischen Unrecht und Schuld nur der zwi-
schen Handlungsunwert und Gesinnungsunwert der Tat sein", und
Schuld ist für ihn in diesem Zusammenhang "Vorwerfbarkeit der Tat
mit Rücksicht auf die darin betätigte rechtlich mißbilligte Gesin-
nung"10. - Und nach Jescheck schließlich ist "Gegenstand des Schuld-
urteils" "die Tat im Hinblick auf die rechtlich fehlerhafte Gesinnung
13 Die hiergegen geäußerte Kritik von Roxin, Festschrift für Henkel, 1974,
S. 178 f., auch Lenckner, in: Schönke!Schröder, 21. Aufl. 1982~ vor § 13, Rn. 117,
richtet sich gegen ein durch Vorurteil festgelegtes Wortverständnis; vorsorg-
lich ist zu bemerken, daß "geistiger Kontakt" zwischen Anstifter und An-
gestiftetem (vgl. mein Studienbuch, Rn. 10/113) im dortigen Zusammenhang
notwendig etwas anderes meint als bei der Schuldfähigkeit.
14 Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 2. Aufl. 1949, S. 71.
über den axiologischen Schuldbegriff des Strafrechts 493
17 Die Kritik von Lenckner und Roxin (s. o. Anm. 13) läßt auch zu diesem
Punkt die hermeneutische Billigkeit vermissen; in meinem Lehrbuch ist
nachdrücklich vom "Verstehen" des Täters die Rede; 2. Auf!. 1975, Rn. 10/2,
zur Steuerungsfähigkeit ausdrücklich 10'24. - Im AT 1984 (wie Anm. 12) ist
Rn. 7/16 auf das Verstehen hingewiesen.
über den axiologischen Schuldbegriff des Strafrechts 495
lich", die Strafe würde hier weithin nur noch als leerer und anmaßen-
der sittlicher Appell empfunden werden, da niemand sicher von sich
sagen könnte, im Falle des Täters anders gehandelt zu habenl8 • So
leuchtet der staatliche Verzicht auf Strafe in die!:en Fällen durchaus
ein.
Seltsamerweise ist diese - schon längst vorgetragene - Sicht der
Dinge von verschiedenen Kritikern nur mit Vorurteilen bedacht wor-
den l9 • Es ist aber nicht ersichtlich, warum der Begriff der Schuld in
§ 35 nicht enger sein sollte als der in § 17 . Und es spielt insoweit keine
Rolle, ob man die damit verbundene Einschränkung der Strafbarkeit
nur mit Gerechtigkeitsaspekten oder (- je nach Ansatz: auch) krimi-
nalpolitisch begründet. Letztlich ist es auf grund der Regelungen hin-
zunehmen, daß für die Straftat hier ein gesteigerter Mindestgrad an
Verwerflichkeit der Schuld vorausgesetzt wird. Mag auch die Wertver-
fehlung im geistigen Verhalten des Täters in diesen Fällen durchaus
gegeben sein, so ist diese Verfehlung doch relativ verständlich, und es
liegt in der Freiheit des Gesetzgebers, daher die Rechtsschuld zu ver-
neinen.
6. Die unrechtliche Gesinnung als Schuld meint der Idee nach, daß
der Täter vor seinem eigenen Gewissen sich gegen die Grundanforde-
rungen der Rechtsordnung in verfehlter Weise verhaUen hat, sei es,
daß er bewußt gegen sein Gewissen handelte, sei es auch nur so, daß
er - bei übersehen des Rechtsguts - hernach vor seinem Gewissen
seine eigene Tat als Verfehlung anerkennen müßte20 • Nicht von un-
gefähr ist in den Gerichtsentscheidungen wiederholt von der "Gewis-
sensanspannung" des Täters die Rede21 •
Wie aber nun, wenn den Täter sein eigenes Gewissen zum Rechtsver-
stoß angehalten hat? Wenn wir diesen "Überzeugungstäter" gleichwohl
bestrafen, dann zeigt sich darin, daß der Begriff der Schuld hier von
der Idee der Schuld zu unterscheiden ist. Die praktische Notwendig-
keit staatlichen Strafens bedingt, daß eine Rechtsordnung, die sich
nicht selbst aufgeben will, aus dem Grunde der Allgemeingültigkeit
ihrer Forderungen auch den Überzeugungstäter bestraft - und dies,
obwohl sie als Rechtsordnung darauf angewiesen ist, daß möglichst
alle, die ihr unterworfen sind, sich ihre Grundanforderungen als ein-
sichtig zu eigen machen.
So ergibt sich abschließend: Der Idee nach bedeutet unrechtliche
Gesinnung als Schuld, daß der Täter im entscheidenden Augenblick
seines Verhaltens nach seinem Gewissen selbst sich sagte oder hätte
sagen müssen, er dürfe sich so, wie er es nun vorhabe, nicht verhal-
ten. Und das richterliche Strafurteil beruht dann auf der gleichlaufen-
den Gewissensentscheidung des Richters22 . Der Richter geht der Idee
nach in seiner Entscheidung davon aus, daß der Verurteilte vor der
Tat zur selben Beurteilung seines Verhaltens wenigstens hätte kom-
men können. Hat sich nun aber der Täter in individual-ethischer
Überzeugung über die Anforderung der Rechtsordnung hinwegge-
setzt, dann klaffen Schuldidee und praktizierter Schuldbegriff offen
auseinander; so fehlt es in diesem Falle an der sittlichen Schuld des
Täters, und doch ist die Rechtsschuld zu bejahen.
22 In Gesinnungsmerkmale (wie Anm. 12), S. 184 f., meinte ich, die Ge-
wissensentscheidung des Richters stimme der Idee nach mit der des Täters
als Urteil über die Tat überein. Arthur Kaufmann (wie Anm. 16), S. 198 f.,
hat diesen Gedanken übernommen, spricht allerdings von der "stellvertre-
tenden" Gewissensentscheidung des Richters (obwohl die Gewissensentschei-
dung als solche immer an die Person selbst gebunden ist).
28 Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechts-
systematischen Schuldlehre, 1974, S. 4 f., unterscheidet in diesem Sinne Straf-
maßschuld und StrafbegründungSSchuld.
über den axiologischen Schuldbegriff des Strafrechts 497
deren Begriff auf die Vermeidbarkeit festgelegt ist, kann diesen Funk-
tionen des Schuldbegriffs nicht gerecht werden. Denn dazu bedarf es
positiver Kriterien der Schuld, an die überhaupt erst normativ ver-
gleichend angeknüpft werden kann.
Doch all diese Fragen können hier nur kurz angeschnitten werden.
Das staatliche Strafen setzt kein Bekenntnis zur Willensfreiheit im
philosophischen Sinne voraus. Der Mensch müßte uns, und wir selbst
müßten uns jeweils voll Objekt sein können, wenn wir die Freiheits-
frage wollten beantworten können. Es genügt, für sittliche Forderun-
gen, für den Vorwurf ihres Verfehlens und für die Strafe, davon aus-
zugehen, daß wir im Handeln unser Wollen praktisch als frei erleben
und daß wir an uns und andere Anforderungen stellen. "Du kannst,
denn du sollst" ist nicht etwa Beweis der Freiheit aus dem Sollen, son-
dern nur Beweis des Freiheitserlebnisses aus der Einsichtigkeit von For-
derungen, die wir an uns und andere stellen; ob ich anders wollen
könnte, als ich frei zu wollen meine - diese Frage können wir nicht
beantworten, und wir brauchen sie auch nicht zu bejahen, um staatliche
Strafe für sittlich vertretbar halten zu können.
Gerade der axiologische Schuldbegriff im oben entwickelten Ver-
ständnis ermöglicht uns, das Unzulängliche zu erfassen, das mancher
weltanschaulichen Position in diesem Zusammenhang anhaftet - etwa
wenn eine Darstellung sagt, der Begriff der Schuld könne im determi-
nistischen Denken keine sinnvolle Bedeutung haben; Schuld sei ein
allein im Menschlichen, aber bei allen Menschen unabweisbar auftre·-
tendes Phänomen; sie sei nicht ohne Freiheit, ohne So-oder-anders-
handeln-Können und ohne Verantwortlichkeit denkbar 27 •
Denn diese Argumentation läßt sich nicht halten. Aus der Sicht des
axiologischen Schuld begriffs kann Schuld "allein im Menschlichen" -
im Vergleich zum Tier - eben auch dann gesehen werden, wenn nicht
auf metaphysische Freiheit, sondern auf die Welt des Geistes abge-
stellt wird; und dann zeigt sich auch, daß Schuld nicht ein bei allen
Menschen "auftretendes Phänomen" ist, so z. B. nicht bei Kindern und
Geisteskranken. Die zitierte Argumentation sieht eben zu Unrecht nur
auf die Alternative von Indeterminismus und Determinismus. Erkennt
man, daß es das Allgemein-Geistige und das je einzelne Teilhaben
daran ist, das den Menschen vor dem Tier auszeichnet, dann ergibt
sich sozusagen zwanglos der Weg, ohne Fixierung auf die Willens-
freiheit im metaphysischen Sinne, die Phänomene von sittlicher An-
forderung und Verstoß und strafender Reaktion einem vernünftigen
Begreifen zugänglich zu machen.
Dies gilt auch für die Problematik der sog. unbewußten Fahrläs-
sigkeit. Es kann hier ganz davon abgesehen werden, daß sich die Un-
terscheidung von bewußter und unbewußter Fahrlässigkeit in den für
die Strafrechts anwendung wesentlichen Strukturen nicht halten läßt 28 ;
27 Griffel, ARSP 1983, S. 360.
23 VgI. zuletzt: Schmidhäuser, Studienbuch Strafrecht AT, 2. Auf!. 1984,
Rn. 7/96 ff.
über den axiologischen Schuldbegriff des Strafrechts 499
seltsam genug, daß dieser Schuldbegriff (der gar nicht sagt, woraus
sich nun die Vorwerfbarkeit ergibt) schließlich zu der verfehlten An-
nahme geführt hat, es erschöpfe sich die Schuld in einem bloßen Wert-
urteil über Fakten, die als solche schon im Hinblick auf das Unrecht
zu bewerten waren, nur dort eben unter einem anderen Aspekt. Zwar
ist diese Auffassung, die vor allem im Bereiche der finalen Hand-
lungslehre gefördert worden ist 35 , inzwischen deutlich in Frage gestellt
worden36 • Aber geblieben ist doch, daß die Schuld nach verbreiteter
Meinung schon dann als festgestellt erscheint, wenn nach Bejahung der
rechtswidrigen Tat keine Schuld ausschließungs- oder Entschuldigungs-
gründe vorliegen37 •
So bleibt bei dieser negativen, sozusagen subtraktiven Fassung
des Schuldbegriffs nach wie vor offen, wo denn nun die Substanz sei.
die den Unwert trägt, der zusätzlich zum Unrecht für die Strafe vor-
auszusetzen ist. Die Antworten auf die beiden Fragen: warum ist die
Tat rechtswidrig?, - warum ist sie schuldhaft? können nicht aus
demselben Material gegeben werden. Für den axiologischen Schuld-
begriff ist hier kein Problem: beide Antworten sind auf je eigenes
Material bezogen, nämlich einmal auf das Willensverhalten und so-
dann auf das geistige Verhalten des Täters.
In jüngerer Zeit hat man nun - darauf ist schon oben hingewiesen
worden - dem normativen einen "kriminalpolitischen" Schuldbegriff
entgegengestellt38 • In ihm soll der Begriff der Schuld unmittelbar von
den präventiven Zielen staatlichen Strafens her bestimmt werden.
Den Formulierungen nach wird dann primär gefragt, in welchen Fäl-
len menschlichen Fehlverhaltens Strafe präventiv erforderlich sei
(oder: wann nicht?); und was hier - bei gegebenem Unrecht - noch
zusätzlich vorauszusetzen ist, soll dann den Schuld begriff ausmachen.
So umschließt der kriminalpolitische Schuldbegriff schließlich die Mo-
mente der Schuldfähigkeit und der Vermeidbarkeit des Verbotsirr-
tums wie auch das Moment des Freiseins von einem spezifisch entschul-
digenden Motivationsdruck (also vor allem von einem entschuldigen-
den Notstand i. S. des § 35).
35 Vgl. Welzel (wie Anm.25), S. 140, wo Dohna zugestimmt wird, der den
Schuldvorwurf "auf die Wertung des Objekts" beschränkte.
36 Vgl. etwa meine Gesinnungsmerkmale (wie Anm.12), S. 150 ff.; Arthur
Kaufmann, Schuldprinzip (wie Anm.16), S.174 ff.; Jakobs (wie Anm.19),
Rn. 17/13 ff., wo dann allerdings das Unrecht zum Schuldtatbestand gezogen
wird.
37 Man sehe nur bei Rudolphi, Fälle zum Strafrecht, 2. Auf!. 1983, etwa
S.13, 88 (nach Feststellung von obj. und subj. Tatbestand nur dies: "B ist
daher, da Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe nicht vorliegen, einer
... schuldig.").
38 NolZ und Roxin (wie Anm. 2).
über den axiologischen Schuldbegriff des Strafrechts 501
I. Einleitung
" Übersetzung aus dem Schwedischen von Dr. jur. Joachim Heilmann.
1 Siehe allgemein zum Kriminalgesetzbuch und schwedischen Strafrecht
Agge/Thornstedt, Das schwedische Strafrecht, in: Das ausländische Strafrecht
der Gegenwart, hrsg. von Mezger/Schönke/Jescheck, Bd. V, Berlin 1976,
S. 249 ff.; zum Begriff Kriminalgesetzbuch anstelle des schwedischen Wortes
"brottsbalken" vgI. ebenda, S. 264, Fußnote* (d. Ü.).
504 Hans Thornstedt
Ein Beispiel für einen Tatbestandsirrtum anderer Art liefert NJA 1970,
240. In diesem Fall wurde ein Autofahrer von der Anklage der Trunken-
heit am Steuer freigesprochen, weil er sich nicht bewußt war, daß das
von ihm gefahrene Fahrzeug rechtlich als Automobil einzuordnen war;
diese Wertung stützte sich auf Gründe, die den Schluß nahelegten, der
Angeklagte habe keinen Vorsatz gehabt, in alkoholisiertem Zustand
ein Kraftfahrzeug zu führen.
Von großer praktischer Bedeutung ist es, daß die Rechtsprechung
auf dem Gebiet des Steuerstrafrechts seit mehreren Jahrzehnten klar
und eindeutig ist 8 • Die Strafbestimmungen gegen Steuervergehen stehen
im Steuerstrafgesetz von 1971, während die steuerrechtlichen Vorschrif-
ten in zahlreichen Rechtsquellen verschiedenen Alters und Inhalts zu
finden sind. Irrtümer hinsichtlich des Inhalts einer steuerrechtlichen
Regelung, die zu falschen Angaben des Steuerpflichtigen einer Steuer-
behörde gegenüber und demzufolge zu keiner oder zu einer vermin-
derten Steuerschuld führen, bringen es mit sich, daß wegen vorsätzlicher
Steuerhinterziehung nicht bestraft werden kann. An deren Stelle kann
aber die Verantwortung für ein Fahrlässigkeitsvergehen treten, wenn
der Irrtum als fahrlässig eingestuft wird.
IV. Verbotsirrtum
Die dritte Kategorie besteht aus Fällen, in denen eine Behörde dem
Täter mittels einer amtlichen Maßnahme Anlaß dazu gegeben hat, den
Inhalt des verletzten Strafgesetzes abweichend von seiner tatsächlichen
Aussage verstanden zu haben. Unter diesen Entscheidungen ragt das
Urteil NJA 1948,384 hervor. Der Angeklagte war zunächst in bezug auf
ein bestimmtes Verhalten freigesprochen worden. Als der Betreffende
im Vertrauen auf dieses HD-Urteil dasselbe Verhalten fortsetzte, wurde
er erneut angeklagt. Auch diese Sache ging bis zum HD, der nun aller-
dings seine Auffassung vom Gehalt der relevanten Strafbestimmung
geändert hatte und meinte, daß das Verhalten des Angeklagten an und
für sich strafbar sei. Mit Rücksicht auf sein früher,es Urteil befand der
HD indessen, daß der Angeklagte für das ihm vorgeworfene Verhalten
"vernünftigerweise nicht zur Verantwortung gezogen werden" dürfe.
Danach wurde er freigesprochen, offenbar wegen Verbotsirrtums.
eigentlichen Rechtsirrtums bejaht, den Irrtum oder das als Einheit be-
trachtete Gesamtverhalten des Angeklagten aber nicht als entschuldbar
und somit nicht als Entschuldigungsgrund angesehen haben.
In einem dieser Fälle, NJA 1972, 316, verwendet der HD erstmals
einen Begriff des Verbotsirrtums, der zur Straffreiheit führen kann.
Der Angeklagte wurde in diesem Fall bestraft, weil sein Irrtum nach
Ansicht des HD "in strafr,echtlicher Hinsicht nicht als entschuldbar"
beurteilt wurde. Diese Abgrenzung hat der HD seitdem in mehreren
Entscheidungen verwandt l4 .
Es wurde bereits angeführt, daß die Regeln über die Strafherabset-
zung und das Absehen von Deliktsfolgen in Kap. 33, § 4 KrGB und über
das Absehen von einer Anklage in Kap. 20, § 7 der Prozeßordnung auch
dazu bestimmt sind, auf Fälle des Verbotsirrtums angewandt zu werden.
In den Entscheidungssammlungen habe ich nur einen einzigen Fall die-
ser Art veröffentlicht gefunden, und zwar NJA 1973, 347. Darin meinte
der HD, daß der Irrtum der Angeklagten "in strafrechtlicher Hinsicht
nicht als entschuldbar" angesehen werden konnte. Die Angeklagte
wurde dementsprechend für ihre Tat verurteilt. Gleichwohl wurde ihr
Absehen von Deliktsfolgen gewährt, weil ihr Irrtum, wenn auch nicht
entschuldbar, so doch als erheblich mildernder Umstand anzurechnen
war. Es scheint, als ob die Rechtsprechung eher einen Freispruch wegen
Verbotsirrtums und bei Ablehnung eines solchen Irrtums unter Um-
ständen eher eine mildere Strafe als ein Absehen von Deliktsfolgen
gewährt.
Die Zahl der veröffentlichten Entscheidungen, in denen Fragen des
Verbotsirrtums Gegenstand der gerichtlichen Beurteilung gewesen sind,
ist nicht besonders groß. Es ist indessen gut denkbar, daß die Anklage-
behörden von einer Anklage immer dann Abstand genommen haben,
wenn ein entschuldbarer Verbotsirrtum gegeben war.
v. Zusammenfassung
33·
516 S. A. Strauss
drown in shallow water, they say, even though the former may save
hirn with little effort and without danger to hirns elf.
In addition to the examples cited by McKerron, De Wet and Swane-
po el quote two other situations in which a legal duty to act positively
may arise, namely (a) by agreement and (b) in consequence of nego-
tiorum gesti0 21 • Eut the authors are at pains to point out that the
situations in which a duty to act is present do not-and cannot-con-
stitute a numerus clausus. We are here in the frontier zone (grens-
gebied) where law and ethics meet, they say, and the fron tier is not
static. "The living law simply does not allow itself to be fenced in.
Ethical precepts can in due course through custom evolve into legal
precepts ... Where a legal duty is not to be found in a precept of
positive law or has not been assumed voluntarily, only the man with
a thorough knowledge of legal lire and the juristic consciousness of
society will be able to make a satisfactory decision, because he will
have to decide whether or not through custom a legal duty has arisen,
in the particular circumstances of the case, to intervene in the course
of events 22 ."
It is incorrect, De Wet and Swanepoel maintained, to infer from the
me re creation of a danger a duty to act: after all, a person may some-
times be justified in creating a danger and nonetheless be under no
obligation to protect others against the danger.
It took several years before these thoughts, expressed in an "aca-
demic" treatise on criminal law, found support in the decisions of the
South African courts 23 • The tradition al view, after all, was that some
"prior conduct" on the part of the defendant had to be indicated
before he could be held liable for an omission to act, and the courts
continued to insist upon this.
It is only fair to say that De Wet and Swanepoel were not the first
to criticise the insistence on "prior conduct" as aprerequisite for lia-
bility for an omission. A few years before (1944) Van den Heever in his
mono graph referred to above 24, had advanced the argument that so me
of the passages in the Digest said to be cases of liability based upon
"prior conduct", were in fact true examples of liability for me re omis-
sion which could only be explained as cases of omission following upon
prior conduct by a strained interpretation of what amounts to the
latter. However, apparently Van den Heever hirns elf, in the final
analysis, still postulated the requirement of a prior, potentially nox-
ious activity on the part of the defendant 2s •
The first South African case in which the possibility of civil liability
in respect of a me re omission was canvassed, was Silva's Fishing Cor-
po ration (Pty) Ltd v. Maweza 26 (1957). In that case a seaman drowned
when the ship by the name of Antoinette, on which he had served, was
wrecked in a storm. It appeared that the Antoinette's engine had failed
on its return from the fishing grounds. The vessel drifted for five days
before it was wrecked in the storm. During that period the company
owning the fleet to which the ship belonged, was on several occasions
warned by skippers of other vessels in the fleet of the plight of the
vessel. The company was subsequently sued for damages by the sea-
man's widow on the ground that it had failed to take reasonable steps
to rescue the crew of the Antoinette. The defendant took the point,
inter alia, that there was no liability for a mere omission in the absence
of "prior conduct" which would have created a duty to take action.
In delivering the majority judgment of the Appeal Court, Schreiner
J Arestated the traditional position of the South African courts and
observed that the entering upon a potentially noxious activity might
be described as prior conduct. In casu, the judge said, there had clearly
been previous activity of the owner in concurring in the voyage of
the Antoinette when it set out as part of its fishing fleet. That activity
was beyond question potentially noxious to the crew, and when this
situation crystallised and the owner heard of the boat's distress, a
legal duty arose to act within the means at its disposal.
The court found it unnecessary to consider generally in what cir-
cumstances a fishing fleet owner is legally bound to provide and use
suitable means of rescue. However, Schreiner JA referred to the ar-
gument of counsel on behalf of the owner that in the absence of a
contract or statute "or so me such source of a possible obligation to
act", no legal duty of rescue exists, however obvious the moral duty
may be. The learned judge refused to uphold this argument, ruling
that a duty to rescue is not special or subject to peculiarly restricted
rules. "It is simply a duty to act reasonably and such a duty may arise
out of the circumstances of the case". Although the case was decided
by application of the "prior conduct" principle, it would seem as though
the judge obiter acknowledged the possibility of liability for a "mere"
omission and a concomitant rescue duty.
25 Van den Heever (n.5), p.42. See also the remarks of Schreiner JA in
Silva's case 1957 (2) SA 256, 261 (E - F).
26 1957 (2) SA 256 (A).
Liability for a so-called "mere omission" in South African law 521
Nochmals zu § 42 öStGB
(Mangelnde Strafwürdigkeit der Tat)*
I.
§ 42 erklärt, daß Taten, die mit einer ein Jahr nicht übersteigenden
Freiheitsstrafe, mit Geldstrafe oder mit beiden Strafen belegt sind,
straflos sind, wenn die Schuld des Täters gering ist, die Tat keine oder
nur unbedeutende Folgen nach sich gezogen hat und die Bestrafung
nicht erforderlich ist, um den Täter von strafbaren Handlungen abzu-
halten oder der Begehung strafbarer Handlungen durch andere ent-
gegenzuwirken5 •
* Aus Zeitmangel und Platzmangel muß ich die Arbeit leider auf die Aus-
einandersetzung von Moos mit § 42 öStGB und die Verteidigung dieser Ge-
setzesstelle gegen seine Einwendungen beschränken.
1 Paragraphennummern ohne Beisatz meinen in dieser Arbeit immer das
österreichische Strafgesetzbuch vom 23. 1. 1974, BGBL Nr. 60/1974.
2 Die mangelnde Strafwürdigkeit bei Bagatelldelikten nach § 42 österr.
StGB, ZStW 95 (1983), S. 153 ff. (Auslandsteil, S. 3); vgl. hier insb. S. 164 ff., 205.
S Vgl. Moos (Anm.2), S. 154 Fn. 7; weiter ders., in: Strafrechtliche Pro-
bleme der Gegenwart X (Ottenstein 1982), S. 1 ff.
4 Siehe Anm. 2.
5 Zur Entstehungsgeschichte vgl, Moos (Anm. 2), S. 160 ff.
528 Friedrich Nowakowski
Es liegt nahe, den Inhalt der Bestimmung als eine nur bedingt erfor-
derliche zusätzliche Strafbarkeitsvoraussetzung zu verstehen 6 • Die Ge-
ringfügigkeit von Schuld und Erfolg läßt einen Straf anspruch nicht ent-
stehen, außer es sei eine Bestrafung doch general- oder spezialpräven-
tiv nötig1 . Gegen diese - auch vom OGH vertretene - Auffassung wen-
det sich Moos mit Nachdruck. Sie verstoße gegen das rechtsstaatliche
BestimmtheitsgebotB• Dies insbesondere durch die Abhängigkeit der
Entscheidung vom Vorliegen eines spezial- oder generalpräventiven
Bedürfnisses. Ob eine Handlung strafbar sei oder nicht, dürfe im mo-
dernen Typenstrafrecht nicht im Ermessen des Richters liegen. Es sei
Aufgabe des Gesetzgebers, die Voraussetzungen der Strafbarkeit ein-
deutig festzusetzen. Anders dagegen - so meint Moos - im Bereich der
Strafzumessung. Eine konkrete Strafe zu bestimmen, sei ein richter-
licher Ermessensakt. Dem entspreche es, in den Fällen des § 42 das
Bestehen eines Strafanspruches zu bejahen, wobei der Richter die
Strafe aber mit der Größe Null bemessen könne. Also ein Akt der
Strafbemessung9 !
II.
heitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr oder eine Geldstrafe (oder
beide kumulativ) vorsehen, die konkret zu verhängende Strafe auf
einen Tag oder auf zwei Tagessätze herabzusetzen tO , hätte diese Wir-
kung nicht gehabt. Aber es sollte möglich sein, daß der Täter von Strafe
überhaupt und von dem Vorwurf frei bleibt, etwas Strafbares begangen
zu haben. Man wollte eindeutig klarstellen, daß er kein Krimineller sei.
Man wollte keine Eintragung in das Strafregister und keine Probezeit
ermöglichen, der Täter sollte schlechthin unbescholten bleiben. Man
wollte kein Volk von Vorbestraften entstehen lassen, auch keines von
Verurteilten, die im sozialen Leben toleriert werden können oder müs-
sen. Die Stigmatisierung durch einen Schuldspruch sollte denjenigen
vorbehalten bleiben, die ein solches Stigma durch ihre negative Ab-
weichung vom sozial Gebotenen nach Gewicht und Bedeutung ihres
Zurückbleibens verdienten.
Dieser Zielsetzung des Gesetzgebers würde die Konstruktion eines
Schuldspruchs ohne Strafe, eines Absehens von Bestrafung nicht ent-
sprechen. Bei der Anwendung und Auslegung des geltenden Rechts
muß man das zugrundelegen, was der Gesetzgeber als seinen Willen
zum Ausdruck gebracht und überdies auch im Wortlaut verwirklicht
hat. Rechtspolitisch kann man natürlich anderer Meinung sein und
eine Änderung des Gesetzes verlangen, aber das ist dann eben eine
rechtspolitische Forderung - die als solche von der Auslegung des
geltenden Gesetzes eindeutig zu trennen ist. Besonders dann, wenn
sie mit dem Text des Gesetzes auch bei weitherzigster Auslegung nicht
zu vereinbaren ist.
III.
IV.
Ein Freispruch nach § 259 öStPO hat nicht die Aufgabe, zu bestä-
tigen, daß der Freigesprochene die Tat, deren er angeklagt worden ist,
nicht begangen habe, sondern nur, daß im Augenblick des Urteils kein
Strafanspruch aus ihr gegen den Beschuldigten bestanden habe. Das
ergibt sich insbesondere aus der Vielzahl der Freispruchsgründe, die
in Ziffer 3 des § 259 öStPO zusammengefaßt sind: daß die der An-
klage zugrundeliegende Tat nicht mit Strafe bedroht ist oder nicht er-
wiesen ist, daß sie der Angeklagte begangen hat; daß Umstände vor-
liegen, durch die die Strafbarkeit aufgehoben oder ausgeschlossen ist.
In all diesen Fällen ist genauso freizusprechen. Wenn der Gesetzgeber
für den Fall des § 42 öStGB einen Freispruch vorsehen wollte, war es
folgerichtig, diese Vorschrift hier anzuschließen. Allerdings wäre Zif-
fer 4 nicht nötig gewesen, wenn es sich um einen Strafausschließungs-
grund handelte; nach dem alten Text der Ziffer 3 wäre in diesem Falle
ohnedies der Freispruch geboten gewesen. Aber man konnte meinen,
daß eine eindeutige KlarsteIlung des Gewollten zweckmäßig sei -
eine Vorsorge, die, wie die überwiegende Lehre, insbesondere auch die
von Moos vertretene, gezeigt hat, nicht zu weit, sondern eher noch
nicht weit genug getrieben worden ist.
Niemand meint, soweit ich ersehe, daß ein Freispruch nach § 259 Z 3
in Wahrheit ein "verdeckter Schuldspruch" sei, wenn man ihn mit täti-
ger Reue oder mit Verjährung begründet, obwohl hier die - sogar
zunächst strafbare - Begangenschaft der Tat durch den Freigespro-
chenen begrifflich vorausgesetzt und in der Begründung festgestellt
wird. Der Strafanspruch ist vor der Urteilsfällung durch die tätige
Reue erloschen und der Freispruch die Folge. Nicht anders als - nach
ästerreichischem Strafrecht - im Falle der Verjährung t4 • In diesen Fäl-
len hat man die materiell-rechtlichen Ansätze (Strafaufhebungsgrund)
anerkannt; bei § 42 sträubt man sich offenbar dagegen; bei Moos ist das
ja eindeutig. Hier will man die Folgerung, den Freispruch, eben nicht
anerkennen, sondern die materiell-rechtliche Lösung gleichsam von
rückwärts her aufrollen.
V.
Nach Moos widerspricht § 42 öStGB, wie schon gesagt, dem Bestimmt-
heitsgebot l5 • Die Vorschrift überlasse die Bestimmung dessen, was un-
ter die Strafdrohung fällt, zu einem erheblichen Teil dem richter-
lichen Ermessen. Das sei jedoch mit der rechtsstaatlichen Funktion des
Tatbestandes unvereinbar. Im Bereich der Strafzumessung könne sich
das Ermessen dagegen auswirken. Das Strafzumessungsermessen des
Richters sei hier grundlegend und gestaltend. Daher müßte man die
mangelnde Strafwürdigkeit nach § 42 als Ergebnis der richterlichen
Strafzumessung erfassen. In diesem Zusammenhang verweist MOOS 18
auch auf die Lehren von Schmidhäuser, Langer und Bloy17, die das
Strafbarkeitsbedürfnis im Einzelfall in besonderer Weise jeweils in die
analytische Verbrechensdefinition einbauen wollenl8 • Aber selbst wenn
man ein solches Verbrechenselement zusätzlich einfügte, also etwas,
was Moos als Strafzumessungselement qualifizieren will, bliebe eine
Unbestimmtheit bloß durch unbestimmte Maßbegriffe offen. Art und
Inhalt von Rechtsgutsbeeinträchtigung und Schuld blieben durch die
Tatbestandsmerkmale festgelegt l9 •
Der österreichische Gesetzgeber hat das general- oder spezialprä-
ventive Strafbedürfnis jedenfalls unter die Voraussetzungen der straf-
34·
532 Friedrich Nowakowski
VI.
Aber der Behauptung von Moos, der Hinweis auf ein general- oder
ein spezialpräventives Bedürfnis sei zu unbestimmt, um als Voraus-
setzung der Strafbarkeit in einen Deliktstypus aufgenommen zu wer-
den, muß nicht gefolgt werden. Die Begriffe sind im StGB selbst wie-
derholt und in übereinstimmender Weise umschrieben. Allerdings
dient diese "Erforderlichkeitsklausel" in der Regel der näheren Be-
stimmung der Unrechtsfolge, also der Strafbemessung. Aber die Be-
griffe sind in einer längeren wissenschaftlichen Auseinandersetzung
herausgebildet und ausgeformt worden, sie sind keine Unbekannten,
sondern den Juristen altvertraut. Sicher sind sie trotzdem umstrit-
ten21 ; aber das sind viele Begriffe, deren sich das Strafrecht bei der
Bildung von Deliktstypen bedient.
Insbesondere gilt das für die normativen Begriffe22 , die auf außer-
rechtliche Wertungen verweisen. Dennoch werden solche Begriffe zur
Umschreibung strafbaren Verhaltens verwendet, und das ist wohl auch
unvermeidbar23 • Entsprechendes gilt für unbestimmte Maßbegriffeu.
An diesen Beispielen gemessen, ist die Verweisung auf das general-
oder das spezialpräventive Bedürfnis nicht durch ein nicht tolerierba-
res Maß an Unbestimmtheit oder Unbestimmbarkeit als Typusmerkmal
disqualifiziert.
VII.
Nur nebenbei sei darauf hingewiesen, daß die österreichische Bun-
desverfassung eine Art. 103 Abs. 2 GG entsprechende Bestimmung nicht
enthält. Es ist nicht ohne weiteres ersichtlich, ob die Auffassung über
den grundsätzlichen Unterschied zwischen Typusmerkmalen und Straf-
zumessungsmerkmalen, den Moos heranzieht und der für das bundes-
deutsche Strafrecht von manchen behauptet wird, ebenso auf das
österreichische Strafgesetzbuch übertragen werden könnte. Der öster-
reichischen Tradition entspricht die im positiven Strafrecht vom Ge-
setzgeber in der Strafprozeßordnung festgeschriebene Unterscheidung
von Strafzumessungsmerkmalen und für die Subsumtion wesentlichen
Merkmalen, den "entscheidenden Tatsachen" (§ 281 Abs. 1 Ziff.5 öStPO),
von denen die Subsumtion unter einen bestimmten gesetzlichen Tat-
bestand abhängt. Dem soll hier nicht weiter nachgegangen werden,
zumal diese Auf teilung durch die neue Entwicklung von Lehre und
Rechtsprechung zu § 39 öStGB (qualifizierender Rückfall) in Frage ge-
stellt wird.
Jedenfalls: Nach der überkommenen österreichischen Lehre und
Rechtsprechung kann die Subsumtion eines Sachverhaltes sogar unter
normative Begriffe mit Nichtigkeitsbeschwerde angefochten werden.
Ebenso die unter Ermessensbegriffe und unter unbestimmte Zahlbe-
griffe 25 • Das verweist diese Begriffe auf eine entsprechende objektive
25 Moos (Anm.2), S. 184 f., gibt zu, daß die Grenzen zwischen relativ unbe-
stimmten Gesetzesbegriffen und dem Ermessen im materiellen Sinn ver-
schwommen sind: nach der neueren österreichischen Verwaltungs rechtslehre
gebe es sie überhaupt nicht. Das spricht gegen die "Institutionalisierung", die
Moos (S. 185) zugrunde legt. Für Österreich liegen die Dinge danach jeden-
falls nicht so klar. Moos räumt ein, daß die Erforderlichkeitsklausel in § 42
öStGB als ein unbestimmter Gesetzesbegriff ausgeprägt sei, freilich - so
Moos - nur im Sinn einer äußerlichen oder formalen Betrachtung (S. 186).
Nach der in Österreich herrschenden öffentlich-rechtlichen Lehre darf dieser
Gegensatz aber zumindest nicht überschätzt werden. Ein und dieselbe Merk-
malsgruppe kann in verschiedenen Zusammenhängen auch verschieden zu-
zuteilen und danach auch vielleicht verschieden auszulegen sein, einmal wei-
534 Friedrich Nowakowski
VIII.
Daß der Freispruch nach § 259 öStPO nicht die Aufgabe hat und nicht
dazu bestimmt ist, die erwiesene Unschuld des Angeklagten festzustel-
len, ergibt sich auch daraus, daß nicht im Gesetz festgelegt ist, in wel-
cher Reihenfolge die Freispruchsgründe heranzuziehen sind, wenn
mehrere von ihnen zutreffen. Triffterer 21 meint, sie seien in der Rei-
henfolge anzuwenden, wie das Art. 6 EMRK am besten entspreche.
Auch Foregger 28 nimmt jüngst eine bestimmte Reihenfolge für die
Freispruchsgründe als allgemeingültige Stufenfolge an (ohne das frei-
lich näher zu begründen). Eine Rücksichtnahme auf die EMRK konnte
bei der Entstehung und Fassung des alten Gesetzes natürlich nicht
maßgebend sein, und der Gesetzgeber hat bei der Neufassung 1974
nichts verfügt. Ursprünglich war man wohl der Meinung, das Verfah-
ren sei zu beenden, sobald einer der Gründe - gleichgültig welcher -
endgültig feststehe. Ist ein Freispruchsgrund festgestellt - z. B. tätige
Reue oder Verjährung -, so ist es auch nicht einzusehen, daß zur
Feststellung der ursprünglichen Unschuld des Angeklagten das Ver-
fahren fortzusetzen sei.
Das wird durch die Regelung für den Fall der Entschädigung für
erlittene Untersuchungshaft besonders verdeutlicht. Der Ersatzanspruch
setzt nach dem Strafrechtlichen Entschädigungsgesetz 1969 voraus, daß
der Verdacht, der zu ihrer Verhängung geführt hat, "entkräftet" wor-
den ist 29 • Dazu genügt weder die Einstellung noch der Freispruch30 ,
ter, das andere Mal enger. - Daß die Strafzumessung auch ein selbständiger
Entscheidungsakt des Richters sei, ist sicher kein Idealzustand (vgl. Moos,
S. 187, und die dort Genannten), aber nicht nur die Folge der Unbestimmtheit
des general- und spezialpräventiven Bedürfnisses. Das präventive Bedürfnis
im Einzelfall wird schon im Hinblick auf die verschiedenen Persönlichkeiten
der Betroffenen notwendig ein Element der Unbestimmtheit enthalten müssen.
26 VgI. § 281 Abs. 1 Ziff. 9 lit. b öStPO.
30 Vgl. § 259 Ziff. 3 öStPO: "oder nicht erwiesen sei ... ".
Nochmals zu § 42 öStGB 535
31 § 6 Abs. 2 StEG.
32 Die Versagung eines Rechtsmittels legt den einen Standpunkt begriff-
lich näher als den anderen.
33 Das Urteil von Moos (Anm.2), die Konstruktion des § 42 sei lebens-
fremd, "sie wird sich auf die Dauer nicht halten können" (S. 181), muß nicht
geteilt werden.
3' Jescheck, Die Kriminalpolitik der deutschen Strafrechtsreformgesetze
im Vergleich mit der österreichischen Regierungsvorlage 1971, Festschrift für
Gallas, 1973, S.27, 46; ders., Deutsche und österreichische Strafrechtsreform,
Festschrift für Lange, 1976, S.365, 382; auch in: Strafrecht im Dienste der
Gemeinschaft, 1980, S.340,353.
KARL HEINZ GÖSSEL
b) Letztmöglicher Beteiligungszeitpunkt
Die o. e. Entscheidungen des BGH3 geben die allgemeine Auffassung
in der Rechtsprechung wieder, der zufolge der Zeitpunkt der "Beendi-
gung" über die Möglichkeit eines Eintritts des Mittäters in die "Aus-
führung einer Straftat" entscheidet4 •
Bei aller Unsicherheit über diesen entscheidenden Zeitpunkt war
man sich doch bisher darüber einig, daß die sog. "Beendigung" als "ma-
terielle Vollendung"5 der Verwirklichung aller Tatbestandsmerkmale
als bloßer "formeller Vollendung" zeitlich nachfolgt 6 , wobei überwie-
gend darauf abgestellt wurde, ob "das Tatgeschehen über die eigentliche
Tatbestandserfüllung hinaus seinen tatsächlichen Abschluß gefunden
hat"7.
c) Rechtliche Wirkungen
1. Mit Recht weist der BGH darauf hin, daß nach der Auffassung des
Reichsgerichts "der später eintretende Mittäter" damit aber "nicht
auch die Mitverantwortung für die im Zeitpunkt seines Eintritts schon
abgeschlossenen Geschehnisse übernehme", woran auch "die nachträg-
liche Billigung ... nichts ändere"8. Nun hat allerdings das Reichsgericht
die Auffassung vertreten, Beihilfe zu der von (einem) anderen täter-
schaftlich verwirklichten Tat sei zwar ebenfalls bis zur Beendigung
der betreffenden Haupttat möglich9 , allerdings in der Form, in der
sie vom Haupttäter auch schon vor der Beihilfehandlung verwirklicht
worden sei, sofern nur der Vorsatz des Gehilfen sich auch auf die vor
der Gehilfenhandlung liegenden Teile und Merkmale der Haupttat er-
strecke 10 • Die demnach festzustellende unterschiedliche Haftung des Ge-
hilfen einerseits und des Mittäters andererseits für die vor ihrem Tä-
J S.Fn.1.
4 BGHSt. 2, 344, 345.
5 Jescheck, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Auf!. 1978, § 49 III 3.
a) Raubfälle
1. Im ersten der hier zu erwähnenden Fälle hatte A dem X dessen
Kraftfahrzeug unter solcher Gewaltanwendung weggenommen, die den
Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung verwirklichte. In dieses
Geschehen trat B unter Beteiligung an der Wegnahme und unter Aus-
nutzung der "von A verübte(n) Gewalt" erst ein, "nachdem A den X
bereits zu Boden geworfen" und dadurch den Tatbestand der gefährli-
chen Körperverletzung bereits vollendet hatte. Im Zeitpunkt seines
Eintritts war B das bisherige Tatgeschehen zwar bekannt und dieses
von ihm auch gebilligt worden, ein vor der Tatausführung herbeige-
führtes Einverständnis zwischen A und B über den gesamten Gesche-
hensablauf ließ sich dagegen nicht nachweisen l7 •
Unter Anwendung der o. I dargelegten Grundsätze hat der BGH in
seiner Entscheidung vom 2.4. 1969 18 in Übereinstimmung mit einer
früheren Entscheidung vom 15.8.195719 zum gleichen Sachverhalt20 den
B als sukzessiven Mittäter des Raubes angesehen, nicht dagegen der
g,efährlichen Körperverletzung 21 : für ein tatbestandsmäßiges Geschehen,
das bei Eintritt eines weiteren Mitwirkenden schon "beendigt" und
"vollständig abgeschlossen" gewesen sei, könne der Entscheidung vom
15.8. 1957 zufolge "das Einverständnis" des B "trotz Kenntnis, Billigung
oder Ausnutzung der durch den anderen Mittäter geschaffenen Lage
b) Vergewaltigungsfälle
Neben der verbrechensschaffenden Kraft der "Kenntnis und Billi-
gung" ist auch bei den nun zu erwähnenden Vergewaltigungsfällen be-
sonders der Zeitpunkt bemerkenswert, bis zu dem sukzessive Mittäter-
schaft möglich sein 'soll. Diesen Fällen ist allerdings vorauszuschicken,
daß mit der Neufassung des Vergewaltigungstatbestandes im Jahre 1973
nunmehr auch schon derjenige tatbestandlich handelt, der gegen eine
Frau Gew.alt anwendet, um sie zum außerehelichen Beischlaf mit einem
Dritten zu nötigen. Mit Recht hat der BGH damit die Möglichkeit mit-
täterschaftlicher Verwirklichung des § 177 8tGB auch dann anerkannt,
wenn sich die aktive Tätigkeit eines Beteiligten allein auf die Gewalt-
anwendung beschränkte, "die einem ander,en den Beischlaf ,ermög-
licht"26.
30- S. dazu auch Küper, JZ 81, 568, der die Rspr. des BGH unter anderen als
den hier herangezogenen Gesichtspunkten kritisiert.
544 Karl Heinz Gössel
1. In den den Entscheidungen zum Raub vom 2.4. 1969ss und zur Ver-
gewaltigung vom 15. 1. 198236 zugrundeliegenden Sachverhalten wurde
die Gewaltanwendung sowohl zur Körperverletzung eingesetzt, als auch
als Mittel der Wegnahme bzw. als Mittel der Nötigung zum -außerehe-
lichen Beischlaf. Im Raubfall werden damit (u. a.) §§ 223 a, 240, 249
StGB und im Vergewaltigungsfall §§ 223, 240, 177 StGB jeweils durch
je eine Handlung verwirklicht. In heiden Fällen stellen die jeweiligen
Tatbestandsverwirklichungen desweg,en je eine Tat im prozessualen
Sinne dar, die ,auch materiell-rechtlich jedenf.alls nicht als zeitlich auf-
einanderfolgende Straftaten betrachtet werden können. Damit kann in
beiden Fällen jedenfalls nach den von BGHSt.2, 344 entwickelten
Grundlinien gar kein vollständiger Abschluß der (gefährlichen) Kör-
perverletzung angenommen werden - die hier betroffenen Entschei-
dungen des BGH 37 verlegen damit - bestenfalls! - den die strafrecht-
Dies kann aber schon insoweit kaum überzeugen, als zwar die Voll-
endung des § 223 a 8tGB in der Raubentscheidung vom 2.4. 1969 und
ebenso die Vollendung des § 223 8tGB in der Vergewaltigungsentschei-
dung vom 15. 1. 1982 dem später Eintretenden nicht mehr zugerechnet
wird, dabei aber die gleichzeitige Vollendung des § 240 8tGB gänzlich
unberücksichtigt bleibt. Die in der Gewaltanwendung liegende Nöti-
gung wird allein unter dem Gesichtspunkt des Raubes bzw. der Verge-
waltigung betrachtet - und damit muß der BGH wohl davon ausgehen
(wozu er sich allerdings gar nicht äußert), daß die unter dem Gesichts-
punkt des § 240 8tGB vollständig abgeschlossene Gewaltanwendung
unter dem Gesichtspunkt des § 249 8tGB bzw. § 177 8tGB gleichwohl
als nicht vollständig abgeschlossen betr,achtet werden dürfe. Es er-
scheint widersprüchlich, dieselbe identische Nötigung einmal als voll-
ständig abgeschlossen zu betrachten, zum andern aber auch das ge-
naue Gegenteil anzunehmen. Wollte man zur Rechtfertigung anführen,
der vollständige Abschluß sei eben unter den jeweils anzuwendenden
gesetzlichen Tatbeständen zu beurteilen, so würde verkannt, daß der
Raub und ebenso die Vergewaltigung den Tatbestand der Nötigung
mitumfassen 42 und damit §§ 177, 249 8tGB die Bewertung unter dem
Gesichtspunkt des § 240 8tGB notwendig voraussetzen: damit aber muß
auch unter dem Gesichtspunkt der §§ 177, 249 8tGB als vollständig ab-
geschlossen anerkannt werden, was unter dem Gesichtspunkt des § 240
8tGB in dieser Weise beurteilt wird.
Entscheidend gegen diese Möglichkeit spricht aber, daß der vollstän-
dige Abschluß ,entgegen den hier betroffenen Entscheidungen des BGH43
jedenfalls nicht mit dem Zeitpunkt der tatbestandlichen Vollendung
gleichgesetzt werden kann. Dann nämlich würde sich ein Widerspruch
zu dem in der BGH-Rechtsprechungallgemein anerkannten Grundsatz
ergeben, demzufolge sukzessive Mittäterschaft über den Zeitpunkt der
tatbestandlichen Vollendung hinaus bis zur Beendigung möglich sein
soll.
3. Damit muß nun endlich zu der allgemeinen Frage nach dem Ver-
hältnis von Vollendung, Beendigung und vollständigem Abschluß 8tel-
lung genommen werden. Weil Vollendung und Beendigung ausreichend
sicher definiert erscheinen, bleibt es angesichts der bisherigen hier ange-
stellten erfolglosen Bemühungen um eine Bestimmung des "vollständi-
gen Abschlusses" noch sinnvoll, nach den Wirkungen des vollständigen
Abschlusses zu fragen, in der Hoffnung, von diesen Wirkungen auf die
Ursache rückschließen zu können.
Soll sukzessive Mittäterschaft mit der Wirkung möglich sein, daß dem
später Eintretenden der Gesamtplan einschließlich der vor dem Eintritt
verwirklichten Teile dieses Planes zugerechnet wird, so kann in diesem
Zusammenhang der vom BGH sinngemäß verwendete Ausdruck "keine
Begründung strafbarer Verantwortlichkeit"44 sinnvollerweise nur be-
deuten, daß mit diesem Ausschluß eben keine mittäterschaftliche Haf-
tung begründet wird45 , sukzessive Mittäterschaft also nicht möglich ist:
wer sukzessive Mittäterschaft zwar bejahen, gleichzeitig aber strafrecht-
liche Verantwortlichkeit verneinen würde, würde in widersprüchlicher
Weise zwar die Voraussetzung,en der Mittäterschaft bejahen, die damit
verbundene Rechtsfolge mittäterschaftlicher Haftung aber verneinen.
Deshalb kann dem "vollständigen Abschluß" nur die Wirkung zuerkannt
werden, den Eintritt eines sukzessiven Mittäters in das verbrecherische
Geschehen und damit sukzessive Mittäterschaft auszuschließen. Damit
aber bleibt keine andere Möglichkeit, als die Zeitpunkte der Beendigung
und des vollständigen Abschlusses gleichzusetzen46 : wer dies verneint,
würde in den soeben aufgezeigten Widerspruch geraten: er müßte die
Möglichkeit anerkennen, trotz mittäterschaftlichen Zusammenwirkens
mittäterschaftliche Haftung für das zu diesem Zeitpunkt bereits abge-
schlossene verbrecherische Geschehen zu verneinen.
Damit ist es nun immerhin möglich geworden, Zeitpunkt und Inhalt
des "vollständigen Abschlusses" zu bestimmen: es handelt sich um den
gleichen Gegenstand wie bei der Beendigung. Das allerdings kann die
Probleme nicht lösen, die durch die Entscheidungen des BGH vom 2.4.
1969 und vom 15. 1. 198247 aufgeworfen wurden: wie o. 2 aa dargelegt
wurde, hatte das den Tatbestand des § 223 a bzw. des § 223 StGB erfül-
lende Geschehen eben noch nicht seinen Abschluß gefunden - und dieser
fehlende faktische Abschluß steht nach den o. A I b dargelegten Grund-
sätzen der vom BGHangenommenen Beendigung entgegen.
Sache derart erlangt, daß er sie ohne Behinderung durch den alten Ge-
wahrsamsinhaber ausüben" konnte49 , und also den Diebstahl bereits
vollendet. Legt man den Maßstab an, den der BGH in der Raubent-
scheidung vom 2.4. 1969 und ebenso in der Entscheidung zur Verge-
waltigung vom 15.1. 198250 verwendete, so hätte sich G an diesem Dieb-
stahl wegen der formellen Vollendung und wegen des vollständigen
Abschlusses desselben daran nicht mehr als Mittäter beteiligen können.
Die Mittäterschaft des G kann nur noch bejaht werden, indem man
wegen Fortwirkens der gegen H geübten Gewalt (so ausdrücklich der
BGH in der Entscheidung vom 16.12.1980) die Wegnahme noch nicht
für beendet erklärt und bis zum Zeitpunkt der Beendigung mittäter-
schaftsbegründende Mitwirkung durch einen Willensakt noch für mög-
lich hält - dies allerdings im klaren Widerspruch zu der soeben genann-
ten Raubentscheidung vom 2.4.1969 wie auch zu der Vergewaltigungs-
entscheidung vom 15. 1. 198250, in denen das Fortwirken der in der Kör-
perverletzung liegenden Gewalt den Beendigungszeitraum der vollen-
deten Körperverletzung nicht hinausschieben konnte; zu den weiter in
den erst,en Raubentscheidungen aufgeworfenen Fragen des vollständi-
gen Abschlusses und dessen Verhältnis zur Beendigung äußert sich die
hier behandelte zweite Raubentscheidung vom 16. 12. 1980 51 nicht.
H. Extrasystematische Kritik
51 Fn.48.
52 Wie Fn. 27.
53 Fn.17.
Sukzessive Mittäterschaft und Täterschaftstheorien 549
Mit der bisherigen Kritik scheint das Urteil über das Institut der
sukzessiven Mittäterschaft gesprochen. Dies allerdings wäre durchaus
voreilig: wie o. B II aufgezeigt wurde, beruhen die Unzulänglichkeiten
der vom BGH entwickelten Lehre von der sukzessiven Mittäterschaft
im wesentlichen auf der subjektiven Tätertheorie in Verbindung mit
der Lehre von der Beendigung der Straftat. Vom Boden einer anderen
Tätertheorie und unter Aufgabe der vom BGH vertretenen Beendi-
gungslehre erscheint es dagegen möglich, das Institut der sukzessiven
Mittäterschaft anzuerkennen, wenngleich in gegenüber der Rechtspre-
chung wesentlich eingeschränkterem Rahmen.
71 Fn.17.
Sukzessive Mittäterschaft und Täterschaftstheorien 557
D. Ergebnisse
72 Fn.48.
HANS-JOACHIM RUDOLPHI
I.
Nach § 27 StGB wird als Gehilfe bestraft, wer vorsätzlich einem ande-
ren zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe geleistet
hat. Beihilfe setzt damit stets eine sog. Haupttat voraus, auf die sie
bezogen ist. Aus dieser Akzessorietät folgt nicht nur, daß die Haupt-
tat, zu der die Hilfe geleistet wird, bestimmten rechtlichen Qualifika-
tionen genügen muß, sondern auch eine zeitliche Begrenzung der Mög-
lichkeit strafbarer Beihilfe. Während eine Beihilfe - prinzipiell zeit-
lich unbegrenzt - bereits im Vorbereitungsstadium der Haupttat ge-
leistet werden kann, ist sie nach Abschluß der Haupttat ebenso prin-
zipiell ausgeschlossen. Denn, welche auch immer gearteten Anforde-
rungen man an die Hilfeleistung stellt, nach Abschluß der Haupttat
kann sie sich nicht mehr in der geforderten Weise auf deren Bege-
hung auswirken.
Entscheidende Bedeutung für die zeitliche Begrenzung der Mög-
lichkeit strafbarer Beihilfe erlangt damit die Frage nach dem Ab-
schluß der Haupttat, d. h. der vorsätzlichen und rechtswidrigen Tat-
bestandsverwirklichung des Haupttäters. Von der in Literatur und
Rechtsprechung herrschenden Meinung wird diese Frage dahin be-
antwortet, daß die Haupttat nicht schon mit ihrer ersten tatbestands-
mäßigen Vollendung, sondern erst mit der materiellen Beendigung
des deliktischen Geschehens ihren Abschluß finde, Beihilfe also auch
über die formelle Vollendung der Haupttat hinaus bis zu deren ma-
terieller Beendigung möglich seit. Beihilfe ist danach nicht nur nach
Abschluß des tatbestandsmäßigen Verhaltens bis zum endgültigen Ein-
tritt des tatbestandsmäßigen Erfolges der Haupttat möglich, sondern
ebenso noch nach Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges bis zur
materiellen Beendigung des Unrechtsgeschehens der Haupttat. Zwei
Beispiele mögen diese Konsequenzen verdeutlichen. Setzt A ein Ge-
t BGHSt.2, 245 f.; 3, 43; 4, 133; 6, 251; 19, 325; OLG Hamm JZ 1961, 94;
BayObLG JZ 1981, 241; Baumann, AT, 8. Aufl. 1977, S. 541 f., 106; Dreherl
TröndZe, 41. Aufl. 1983, § 27 Rn.4; Küper, JZ 1981, 251 ff.; Lackner, 15. Aufl.
1983, § 27 2 b; Schmidhäuser, AT, 2. Aufl. 1975, 14/137; Schönke/Schröder/Cra-
mer, 21. Aufl. 1982, § 27 Rn. 17; Stratenwerth, AT, 3. Aufl. 1981, Rn. 869 ff.
560 Hans-J oachim Rudolphi
2 Vgl. dazu OLG Hamm JZ 1961, 94 m. zust. Anm. Stratenwerth; RGSt. 71,
193 m. ablehn. Anm. Gallas, ZAkDR 1937, 438.
S Vgl. dazu BGHSt.4, 132 und 6, 248; ablehn. Kühl, Die Beendigung des
vorsätzlichen Begehungsdelikts, 1974, S. 94 ff. m. eingeh. Nachw. pro und
contra.
4 Lehrbuch des deutschen Strafrechts, AT, 9. Auf!. 1934, S. 228 Fn. 18.
II.
1. Betrachten wir zunächst die Problematik der Beteiligung an einer
Brandstiftung nach Abschluß der Brandstiftungshandlung. Ein typi-
sches Beispiel dafür bildet der vom OLG Hamm1! entschiedene Fall.
Unbekannte Täter hatten das Haus des T angezündet. Der Angeklagte
hatte dies erkannt und schüttete, um das Haus des T völlig zu zer-
stören, an mehreren Stellen Öl in das Haus. Dadurch breitete sich das
Feuer schneller aus, brannte heftiger und ergriff auch bisher unver-
sehrte Teile des Hauses, das schließlich völlig niederbrannte. Das OLG
Hamm hat den Angeklagten wegen Beihilfe zur Brandstiftung ver-
urteilt. Die herrschende Meinung13 stimmt dieser Entscheidung zu und
begründet dies vor allem damit, daß das völlige Niederbrennen des
Hauses - weil vom Vorsatz des Täters umfaßt - noch zum tatbe-
standlichen Unrecht der Haupttat gehöre und daher der Angeklagte
durch sein Handeln auch noch den Unrechtserfolg der Haupttat mit-
bewirkt habe. Zweifel an dieser Lösung ergeben sich jedoch bereits,
wenn man den Fall dahin abwandelt, daß das Feuer von einem Drit-
ten fahrlässig oder schuldlos verursacht oder gar durch einen Blitz-
schlag ausgelöst worden ist. In diesem Fall hätte die herrschende Mei-
nung, da mangels einer vorsätzlichen Haupttat eine Beihilfe von vorn-
herein nicht in Betracht kommt, wohl keine Bedenken, den Angeklag-
ten als Nebentäter der Brandstiftung zu strafen. Die Richtigkeit dieser
Lösung soll nun keineswegs bestritten werden. Im Gegenteil, sie ist
12 JZ 1961, 94.
13 Vgl. dazu die in Fn. 1 Genannten; ablehn. jedoch z. B. GaZlas, ZAkDR
1937,438; Jakobs, AT, S. 559 f.
36'
564 Hans-Joachim Rudolphi
16 Vgl. dazu RGSt. 6, 169; 67, 193; 71, 178; 73,54; BGHSt. 8,390; BGH VRS
8, 201; VRS 23, 209; BGH bei Dallinger, MDR 1967, 173; MDR 1972, 16;
OGHSt. 1, 330.
17 Vgl. dazu Roxin, in: LK, § 27 Rn. 1 tf., und Samsan, in: SK, § 27 Rn. 6 ff.,
jeweils mit eingeh. Nachw.
566 Hans-J oachim Rudolphi
gig. Daraus folgt u. a., daß dem Teilnehmer ausschließlich die von
dem Haupttäter noch abwendbare Freiheitsberaubung, nicht aber die
bereits zuvor verwirklichte Freiheitsentziehung zurechenbar ist!2.
Zu unterscheiden von diesen Fällen einer akzessorischen Teilnahme
sind jene Fälle, in denen der Hinzutretende unmittelbar auf das von
Tausgelöste Kausalgeschehen einwirkt und dadurch in zurechenbarer
Weise das Fortdauern der Freiheitsentziehung bewirkt. Verhindert
z. B. ein Dritter, daß der von Teingesperrte 0 durch das Fenster
entflieht, so setzt er selbständig und unmittelbar eine Ursache für das
Fortdauern der Freiheitsberaubung des o. Da die Wirksamkeit seines
Tatbeitrages für die weitere Rechtsgutsverletzung in keiner Weise
durch das Verhalten des T vermittelt wird, stellt sein Handeln einen
eigenständigen Verstoß gegen das in § 239 8tGB normierte Verbot der
Freiheitsberaubung dar. Ihm ist daher die weitere Freiheitsberaubung
des 0 unmittelbar als Nebentäter zurechenbar. Für die Richtigkeit
dieses Ergebnisses spricht wiederum, daß es auf die Verbotswidrig-
keit und den materiellen Unrechtsgehalt der Tathandlung des Dritten
ohne Einfluß ist, ob die weitere Dauer der Freiheitsberaubung des 0
noch von dem Vorsatz des T umfaßt ist oder nicht.
Auch die Analyse der Freiheitsberaubungsfälle führt damit zu dem
Ergebnis, daß das unmittelbare Einwirken auf das von dem Haupt-
täter vorsätzlich und rechtswidrig ausgelöste rechtsgutsverletzende Ge-
schehen einen eigenständigen Verstoß gegen das in § 239 8tGB normierte
Verbot der Freiheitsberaubung darstellt und daher nur als Neben-
täterschaft, nicht aber als akzessorische Beihilfe erfaßt werden kann.
Diese kommt vielmehr nur dann in Betracht, wenn die Kausalität des
Tatbeitrages für den tatbestandsmäßigen Unrechtserfolg durch das
Haupttäterverhalten vermittelt wird, der Gehilfenbeitrag also gerade
und allein deshalb den tatbestandsmäßigen Unrechtserfolg mitbewirkt,
weil es das den tatbestandsmäßigen Erfolg in objektiv zurechenbarer
Weise verursachende Haupttäterverhalten seinerseits in objektiv zu-
rechenbarer Weise mitbewirkt hat.
einen Beitrag zur Sicherung des vom Täter bereits begründeten neuen
Gewahrsams leistet. Dies kann sowohl dadurch geschehen, daß er den
Täter bei der Sicherung der Beute unterstützt, als auch dadurch, daß
er selbständig und unabhängig von dem Haupttäter diesem die Beute
sichert. Eine Beihilfe zum Diebstahl könnte in diesen Verhaltenswei-
sen von vornherein nur dann gesehen werden, wenn sich die Sicherung
der Beute noch als tatbestandsmäßiges Diebstahlsverhalten i. S. des
§ 242 StGB erweisen ließe. Von dem Bundesgerichtshof und einem Teil
der Lehre wird dies bejaht. Die dafür gegebene Begründung ist nicht
einheitlich. Teils wird darauf verwiesen, daß das Diebstahlsgeschehen
erst dann tatsächlich beendet sei, wenn die Beute an ihren Bestim-
mungsort geschafft worden seF" teils wird ausgeführt, daß die von
§ 242 StGB geforderte Zueignungsabsicht erst dann realisiert sei, wenn
der Täter durch Festigung und Sicherung des neuen Gewahrsams auch
äußerlich eine eigentumsgleiche Herrschaft hergestellt habe25 • Gegen
diese These, daß die Beutesicherung als tatsächliche Beendigung des
Diebstahls oder als Realisierung der Zueignungsabsicht noch von dem
Diebstahlstatbestand erfaßt werde, bestehen jedoch durchgreifende
Bedenken. Das tatbestandliche Unrecht des Diebstahls besteht nach
dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes allein in der Wegnahme einer
fremden beweglichen Sache in der Absicht, sich diese rechtswidrig zu-
zueignen. Erfaßt wird von dem Straftatbestand des § 242 8tGB ein An-
griff auf fremdes Eigentum nur, wenn und solange er mittels einer
von Zueignungsabsicht getragenen Wegnahme erfolgt. Dies besagt aber,
daß die von § 242 StGB verbotene Eigentumsverletzung stets mit der
Vollendung der Wegnahme, d. h. der Begründung neuen Gewahrsams
abgeschlossen ist. Richtig ist zwar, daß auch die Sicherung dieses Ge-
wahrsams durch Abtransport der Beute ebenso wie auch jede weitere
Verwirklichung der Zueignungsabsicht einen Angriff auf das fremde
Eigentum darstellen, doch handelt es sich dabei nicht mehr um die
von Zueignungsabsicht getragene Wegnahme. Wirkt jemand erst bei
der Sicherung der Beute mit, so kann daher darin nicht mehr eine Bei-
hilfe zur Verwirklichung des tatbestandsmäßigen Diebstahlsunrechts
gesehen werden. Wenn die Rechtsprechung dieses Verhalten gleich-
wohl als Diebstahlsbeihilfe straft, so stellt sie damit die Unterstüt-
zung einer beliebigen Eigentumsverletzung in unzulässiger Weise der
Unterstützung des tatbestandlichen Diebstahlsunrechts gleich. Dies ist
ein klarer Verstoß gegen den in Art. 103 II GG verankerten Grundsatz
"nullum crimen sine lege"26. Eine Strafbarkeit des an der Beutesiche-
rung Beteiligten kommt daher nur nach den §§ 257 ff. StGB in Betracht.
Allein dieses Ergebnis wird auch dem materiellen Unrechts gehalt
dieser Verhaltensweisen gerecht. Denn dieser erschöpft sich in der
Sicherung der Beute und ist damit unabhängig davon, ob der Haupt-
täter zuvor das tatbestandliche Unrecht des Diebstahls oder des Rau-
bes verwirklicht hat. Durch diese Lösung wird zugleich vermieden,
daß dem Beteiligten fremdes Unrecht zugerechnet wird, für das er in
keiner Weise ursächlich geworden ist27 •
Als Ergebnis unserer Betrachtung der vom BGH entschiedenen
Diebstahlsfälle läßt sich damit festhalten: Akzessorische Beihilfe setzt
stets voraus, daß der Gehilfe das tatbestandliche Unrecht der Haupt-
tat mitbewirkt. Die Beteiligung an einem der tatbestandsmäßigen Un-
rechtsverwirklichung nachfolgenden Verhalten genügt den Erforder-
nissen einer Beihilfe nicht. Der Umstand, daß durch dieses Verhalten
das deliktische Geschehen der Haupttat erst seinen tatsächlichen Ab-
schluß findet oder die Beeinträchtigung des geschützten Rechtsgutes
in nicht mehr tatbestandsmäßiger Weise fortgesetzt wird, vermag
daran nichts zu ändern.
III.
haltens mitbegründet haben. Dies besagt nun aber, daß Beihilfe nach
Abschluß des normwidrigen Haupttäterverhaltens nicht mehr möglich
ist. Denkbar ist nach diesem Zeitpunkt nur noch, daß der Beteiligte
selbständig gegen das auch vom Haupttäter übertretene Verbot ver-
stößt, d. h. eine Nebentäterschaft. Unser bereits durch die Analyse
einiger typischer Fallkonstellationen gewonnenes Ergebnis erweist
sich damit auch nach dem Sinn und Zweck der strafrechtlichen Nor-
men als berechtigt. Es ist die zwingende Konsequenz aus der Erkennt-
nis, daß die Verhaltensnorm des § 27 ihre Legitimation allein aus der
vom Haupttäter übertretenen Verhaltensnorm bezieht und daher das
Verbot des § 27 immer nur die Unterstützung des verhaltensnorm-
widrigen Täterverhaltens zum Gegenstand haben kann.
33 Vgl. dazu nur WeZzeZ, Lb, 11. Auf!. 1969, S. 99 ff.; Roxin, Täterschaft und
Tatherrschaft, 3. Auf!. 1975, und ders., in: LK, § 25 Rn. 22 ff.; Samson, in: SK,
§ 25 Rn. 10 ff.; Stratenwerth, AT, Rn. 749 ff., jeweils ffi. w. Nachw.
34 WeZzeZ, Lb, S. 99.
kende Handlung nicht beherrscht, dem fehlt auch die Herrschaft über
das durch diese Handlung ausgelöste Kausalgeschehen. Beherrscht
jemand die den tatbestandsmäßigen Erfolg bewirkende Handlung, so
übt er damit hingegen stets auch - soweit sein Vorsatz reicht -
die Herrschaft über das durch sie ausgelöste Kausalgeschehen aus.
Dies ist nicht verwunderlich, denn Herrschaft über das Kausalgesche-
hen kann der Mensch nur dadurch aktiv ausüben, daß er zwecktätig
in dieses eingreift und es durch sein Handeln steuert. Tatherrschaft
und damit Täterschaft setzt daher stets Herrschaft über das tatbe-
standsmäßige Handeln, d. h. über die verbotsnormwidrige Handlung,
voraus. Sie bildet die notwendige Grundlage dafür, daß dem Täter
auch die von seinem Vorsatz umspannten tatbestandsmäßigen Folgen
seines HandeIns als von ihm beherrscht, d. h. als täterschaftliches Un-
recht zugerechnet werden.
Für die Beihilfe folgt daraus zunächst, daß sie Mitwirkung an der
Tatbestandsverwirklichung ohne Tatherrschaft ist38 • Konkreter: Bei-
hilfe ist die tatherrschaftslose Mitwirkung an einer von einem anderen
beherrschten Tatbestandsverwirklichung. Kennzeichnend für sie ist,
daß zwischen ihr und dem tatbestandsmäßigen Unrechtserfolg noch
die maßgebliche Entscheidung des Tatherrn über das Ob und Wie der
Tatbestandsverwirklichung steht. Da die Wirksamkeit einer Hilfelei-
stung für die Verwirklichung des tatbestandlichen Unrechts damit
stets von der Entscheidung des Täters abhängig ist, ist der Wille des Ge-
hilfen notwendig dem die Tatherrschaft ausübenden Willen des Täters
untergeordnet39 • Gründet sich die Tatherrschaft des Täters, wie dar-
gelegt, auf die Herrschaft über sein den tatbestandsmäßigen Unrechts-
erfolg bewirkendes Handeln, so ist jedoch eine solche Willensunter-
ordnung nur dann möglich, wenn der Gehilfe seinen Tatbeitrag zu
dem von dem Täter beherrschten tatbestandsmäßigen Handeln leistet.
Wird die Wirksamkeit des Tatbeitrages nicht mehr durch die vom Tä-
ter beherrschte verbotswidrige Handlung vermittelt, steht also zwi-
schen dem Tatbeitrag des Beteiligten und der Verwirklichung des tat-
bestandsmäßigen Unrechts nicht mehr die Entscheidung des Täters,
so fehlt die die Beihilfe charakterisierende Willensunterordnung. Im
Gegenteil, der Tatbeteiligte übt hier die Tatherrschaft nicht nur über
sein Handeln, sondern auch - da diese nicht durch die vom Haupt-
täter beherrschte Handlung vermittelt sind - über dessen Folgen
aus. Er ist es, der das durch sein Handeln angestoßene und den tat-
bestandsmäßigen Unrechtserfolg mitbewirkende Kausalgeschehen
zwecktätig steuert und es damit insoweit beherrscht. Dies bedeutet
88 S. dazu näher Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 268, 272, 370, und
ders., in: LK, Rn. 6 vor § 26.
39 Vgl. dazu Roxin, Täterschaft LInd Tatherrschaft, S. 314 f.
Die zeitlichen Grenzen der sukzessiven Beihilfe 575
IV.
fen, ob sie nicht unberechtigte und vom Gesetz nicht gewollte Straf-
barkeitslücken schafft.
Soweit es sich bei der Haupttat um ein reines Erfolgsdelikt handelt,
ist dies zu verneinen, da diejenigen Verhaltensweisen, die die herr-
schende Meinung noch als Beihilfe würdigt, nach der hier entwickel-
ten Ansicht bei diesen Erfolgsdelikten stets als Nebentäterschaft er-
faßt werden können. Strafbarkeitslücken können sich daher allein
dort ergeben, wo ein Rückgriff auf die Nebentäterschaft ausscheidet.
Möglich ist dies dann, wenn es sich bei der Haupttat um ein (echtes)
Sonderdelikt oder um ein Delikt handelt, das eine besondere Tat-
modalität fordert, der nach Abschluß des tatbestandsmäßigen Täter-
verhaltens Hinzutretende jedoch die geforderte Täterqualifikation
nicht aufweist bzw. sein den tatbestandsmäßigen Erfolg mitbewirken-
des Verhalten der vorausgesetzten Tatmodalität nicht genügt.
Lange Zeit glaubte man, die Bedeutung des § 80a StGB würde sich
in seiner general präventiven Funktion erschöpfen und zugleich der
wichtigen Integration des erwähnten Art. 26 GG dienen. Darüber hin-
aus konnte man allenfalls erwarten, daß gleichzeitig das Rechtsbewußt-
sein bis zu einem gewissen Grade dafür gestärkt würde, daß nach Art. 26
GG die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes Bestandteil des Bundes-
rechtes sind, daß sie sogar den Gesetzen vorgehen sowie daß sie Rechte
und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes er-
zeugen.
Vor wenigen Jahren hat sich nun insoweit die Situation geändert,
als sich die Strafjustiz mit einer Anklage wegen Verletzung des § 80a
StGB zu befassen hatte. Zuständig war das Landgericht Köln. Am
9. Juli 1980 erging das UrteiP. In dem entschiedenen Fall ergab sich,
daß die Anwendung des Tatbestandsmerkmals Angriffskrieg verhält-
nismäßig wenig Schwierigkeiten bereitete. Problematisch dagegen war
die Auslegung des Tatbestandsmerkmals Aufstacheln.
Folgender Sachverhalt lag dem Verfahren vor einer Großen Straf-
kammer zugrunde: Der Angeklagte, ein Journalist, der vor allem wirt-
schaftspolitische Artikel veröffentlichte, war Herausgeber des Wirt-
schaftsblattes "basis - Die Wirtschafts-Information des Monats", das
monatlich erschien und sich an freiberuflich tätige Personen, insbeson-
dere Ärzte, Architekten, Rechtsanwälte und Unternehmer wandte, um
sie u. a. über Vermögensanlagen und steuerliche Abschreibungsmög-
lichkeiten zu informieren. Die Auflagen betrugen etwa 40 000 Exem-
plare. In einer Ausgabe dieses Blattes befaßte sich der Angeklagte mit
der seinerzeitigen Energiekrise und ihren wirtschaftspolitischen, vor
allem die Investitionen betreffenden Auswirkungen. Diese Wirtschafts-
analyse steht unter der Überschrift "Nach Genf und Tokio: Eine Alter-
native heißt Depression .. .". Unter der Überschrift " ... Die andere
heißt Krieg" wird dann folgendes ausgeführt: "Noch ist die Fahrt in
eine neue Wirtschaftskrise zu stoppen: mit militärischen Mitteln. Füh-
rende Politiker, wie Helmut Schmidt, Ex-Nato-Chef Alexander Haig
(der als Präsidentschafts-Kandidat gegen Carter gehandelt wird), Henry
Kissinger und selbst der Chef-Kommentator der ,Prawda' sprechen im-
mer deutlicher vom ,Krieg ums Öl', der uns alsbald bevorsteht. In der
Tat: Die Industrienationen in West und Ost können nicht tatenlos zu-
sehen, wie ein internationales Preis- und Mengenkartell, die OPEC,
alles zerstört, was in Jahrzehnten durch Fleiß und Intelligenz aufge-
baut wurde und 20 - 30 Millionen Arbeitslose beschert" .
"Beispiel Libyen: Dort ruhen über 10% der Weltreserven. Libyen
war teilweise bis zu einem Viertel an unserer Ölversorgung beteiligt.
1 NStZ 1981, 261.
Das Aufstacheln zum Angriffskrieg (§ 80 a 5tGB) 585
Das libysche Öl kostet in der Förderung ca. 0,85 Dollar pro Barrel. Zu-
letzt wurde es fob Tripolis für knapp 20 Dollar verkauft. Und da Li-
byen mit seinen 2 Millionen Einwohnern längst ,den Hals übervoll'
hat Ueder Libyer kann in ein Haus mit Garten und Klimaanlage ziehen
und in einem vom Staat spendierten Toyota herumkutschieren), droht
Staatschef Ghaddafi dem Westen, demnächst die Ölförderung überhaupt
einzustellen. Nachdem die iranische Förderung schon auf ein Drittel
Schah-J ahre geschrumpft ist, bedeutet ein Stop aus Libyen den
Kollaps.
Die Antwort kann nur lauten: Einmarsch. Die verbale und die tat-
sächliche Erpressung von zwei Milliarden Menschen der Industrienatio-
nen durch zwei Millionen Beduinen unter einem notorischen Megaloma-
nen hat ihre Grenze erreicht. Das Kriegsrisiko ist minimal, sowohl
militärisch, als auch politisch. Die Besetzung der wichtigsten Ölfelder
im Nahen Osten ist bestenfalls ein Kommando-Unternehmen, wobei die
Araber bei ihrer bekannten Kriegstüchtigkeit wahrscheinlich sofort
kapitulieren werden. Auch ihre politische Rechnung, das Setzen auf
ein Eingreifen der Sowjetunion, geht nicht auf. Die Russen sind auf-
grund ihrer mittelfristig fixierten Planwirtschaft noch viel stärker von
sicheren Ölimporten abhängig als der flexible, da marktwirtschaftlich
disponierende Westen. Geheimdienstberichte aus Moskau beweisen: der
Einbruch der Sowjetwirtschaft ist noch viel schlimmer als der in den
USA. Allein der Wegfall fest eingeplanter Ölimporte aus dem Iran hat
in den südlichen Sowjetrepubliken zu einem Chaos geführt."
Aufgrund dieses Artikels hat die Staatsanwaltschaft dem Angeklag-
ten zur Last gelegt, im räumlichen Geltungsbereich des Strafgesetz-
buches durch Verbreiten von Schriften zum Angriffskrieg aufgestachelt
zu haben. Nach der Auffassung des Gerichts war der Angeklagte jedoch
aus Rechtsgründen freizusprechen, da die für erwiesen angesehene Tat
nicht strafbar sei.
Die Kammer stellt allerdings zunächst einmal fest, daß es dem
Schreiber des Artikels in der Tat um die Durchführung eines Angriffs-
krieges unter der Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland gegan-
gen wäre, denn unter einem Angriffskrieg im Sinne der §§ 80, 80 a
StGB und Art. 26 Abs.1 GG sei die völkerrechtlich bewaffnete Aggres-
sion zu verstehen (vgl. Lackner, StGB, 12. Aufl. 1978, § 80 Anm.2, Zitat
des Gerichts), und daß der Angeklagte in seinem Artikel eine solche
Handlung befürworte, zeigten die Formulierungen: "Die andere (Alter-
native) heißt Krieg ... ; ... mit militärischen Mitteln; die Antwort kann
nur lauten: Einmarsch ... ; ... das Kriegsrisiko ist minimal."
Sodann führt das Gericht näher aus, warum dieser befürwortete
Krieg kein Verteidigungskrieg sei. Die Prüfung dieser Frage ist deshalb
586 Ulrich Klug
Wie dies nicht anders zu erwarten war, hat die Verteidigung die An-
sicht vertreten, daß der Angeklagte mit seinen Ausführungen keinen
Angriffskrieg, sondern einen Verteidigungskrieg und erst recht keinen
Angriffskrieg mit Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland emp-
fohlen habe. Demgegenüber ist die Kammer von der Auffassung aus-
gegangen, daß es dem Angeklagten durchaus um einen solchen An-
griffskrieg im Sinne des Gesetzes und des einschlägigen Völkerrechts
gegangen sei. Es versteht sich, daß zu dieser Streitfrage und zu den ein-
schlägigen Tatbestandsmerkmalen vieles zu sagen wäre, obwohl dem
Ergebnis, zu dem das Kölner Gericht insoweit gekommen ist, unbedenk-
lich zugestimmt werden kann. Die nähere Erörterung ist vor allem
deshalb nicht erforderlich, weil der Freispruch ausschließlich darauf
beruht, daß die Frage, ob auch das Tatbestandsmerkmal des Auf-
stacheIns durch das Verhalten des Angeklagten erfüllt ist, verneint
wurde. Allein dies ist der springende Punkt. Hier gehen die Meinun-
gen auseinander. Da dem Kölner Urteil, wie vor allem die Kommentar-
literatur zeigt, in der soweit ersichtlich überall zustimmend Stellung
genommen wird, eine weitreichende Bedeutung zukommt, ist es sicher-
lich sinnvoll, hier mit einer mehr ins einzelne gehenden, kritischen Un-
tersuchung anzusetzen.
Es geht um die nicht leicht zu beantwortende Frage, ob die negative
Subsumtionsentscheidung richtig gewesen ist. Da die Auslegung des
Gesetzes Voraussetzung für die Subsumtion ist, handelt es sich hier um
eine Interpretationsproblematik. Weil hier ein Pressetext einem Ge-
setzestext subsumiert werden muß, wird eine zweistujige Auslegung
notwendig. Zunächst bedarf es einer Auslegung des Tatbestandsmerk-
mals Aufstacheln, also einer Interpretation des Gesetzestextes, und
anschließend der Auslegung des Artikeltextes unter Hinzuziehung des
Ergebnisses der Gesetzesauslegung.
Für die Auslegung des Gesetzestextes gibt es bekanntlich nach der
klassischen Theorie ein viergliedriges Instrumentarium, das allerdings
in der modernen Rechtstheorie nicht unerheblich problematisiert wor-
den ist. Immerhin ist es für die Erkenntnisgewinnung sinnvoll, zunächst
von den traditionellen Lehren auszugehen, um dann anschließend die
in Betracht kommenden Ergänzungen und Korrekturen in Anwendung
auf den hier interessierenden konkreten Fall zu versuchen.
Nach der klassischen Auffassung, wie sie Engisch 2 und Jescheck3 bei-
spielhaft deutlich vertreten und insbesondere auf die Strafrechtsinter-
pretation beziehen, kommen bekanntlich in erster Linie vier sog. Aus-
legungsarten in Betracht: die grammatische, die logisch-systematische,
Als Beispiel genannt sei mit weiteren Hinweisen das Lehrbuch von Mau-
rach/Schroeder, Besonderer Teil, Teilband 216 •
Es bleibt die entscheidende Frage zu erörtern, ob der Kammer ge-
folgt werden kann, wenn sie der Meinung ist, daß der Angeklagte durch
seinen Artikel im Wirtschaftsinformationsdienst das Tatbestandsmerk-
mal des AufstacheIns nicht erfüllt habe. Die Gründe des Gerichts hier-
für wurden im ersten Teil dieser Untersuchung bereits wiedergegeben.
Will man sie mit den vier obengenannten Interpretationsimperativen
konfrontieren, so müssen jene vier Regeln in geeigneter Weise umfor-
muliert werden, da es jetzt nicht um einen Gesetzestext, sondern um
einen Pressetext geht, der ausgelegt werden muß. Man erkennt, daß dies
durch den entsprechenden Austausch der Ausdrücke unschwer möglich
wird. Es sind jeweils zu ersetzen die Formulierung "gesetzliche Aus-
drücke" durch "journalistische Ausdrücke" , "gesetzlicher Rahmen
(Kontext)" durch "journalistischen Rahmen (Kontext)", "Vorschrift"
durch "Presseartikel", "Regelungsabsicht des Gesetzgebers" durch "Aus-
sageabsicht des Autors" und "Zweck des Gesetzes" durch "Zweck des
Artikels" oder sprachlich besser: "der mit dem Artikel verfolgte Zweck".
Bei der Ermittlung des Wortsinns unter Beachtung des Kontextes -
Regeln (1) und (2) - hält das Gericht es zwar für entscheidungsrelevant,
daß der potentielle Kriegsgegner in polemischer Weise durch über-
spitzte Formulierungen herabgesetzt wird, vermißt aber das gesteigerte,
auf die Emotionen des Lesers gerichtete, propagandistische Anreizen zu
einer kriegsbereiten Haltung. Die Sätze, in denen vom Einsatz militäri-
scher Mittel und vom Einmarsch geschrieben wird, haben zwar nach
der Ansicht des Gerichts auffordernden Charakter, sind aber kein auf
die Gefühle zielendes Anreizen. Bei der Untersuchung des journalisti-
schen Rahmens - des Kontextes und des Leserkreises - meint die
Kammer, daß im vorliegenden Fall der Artikel zwar polemisch, daß er
aber nicht in einer Zeitung mit Massenwirkung und reißerischer Auf-
machung erschienen sei, und deshalb die vom Gesetzgeber geforderte
Wirkung nicht haben könne. Dem wirtschaftspolitischen Kontext wird
eine das gefühlsmäßige Anreizen einschränkende Wirkung zugeschrie-
ben. Da der Leserkreis sich aus vermögenden Personen, die über An-
lagemöglichkeiten informiert werden wollen, zusammensetze, sei die
gefühlsmäßige Beeinflussung - wie ausgeführt wird - nicht so leicht
gegeben. Der Artikel habe - so die Kammer - lediglich den Charakter
einer polemischen Analyse der Wirtschaftspolitik. Daher werde insge-
samt betrachtet die Tatbestandsmäßigkeit verneint, obwohl der Inhalt
"hart an der Grenze zum Aufstacheln" liege.
38'
596 Ulrich Klug
wiesen wird, nicht weniger nachhaltig auf Sinne und Gefühle der
Adressaten wirkend.
Auch im Tatbestand des § 131 StGB wird das Merkmal Aufstacheln
vom Gesetzgeber unbestrittenermaßen im gleichen Sinne verwendet l8 •
Aus dem Gesetzestext geht in allen drei genannten Bestimmungen
hervor, daß ein nicht zweckgerichtetes Aufstacheln, also etwa die Her-
beiführung eines allgemeinen aggressiven Klimas, für die Tatbestands-
mäßigkeit des Verhaltens nicht genügt. Verlangt ist ein Aufstacheln
"zum Angriffskrieg" (§ 80 a), "zum Haß gegen Teile der Bevölkerung"
(§ 130 Nr.1) und "zum Rassenhaß" (§ 131 Abs.1). Für die Anwendung
des § 80 a ist Rudolphi darin zuzustimmen, wenn er meint, das Schaffen
einer al1gemeinen kriegerischen Atmosphäre ohne Zielrichtung auf ei-
nen bestimmten Angriffskrieg genüge daher nicht 19 • Es müsse zu einem
bestimmten Angriffskrieg im Sinne des § 80 aufgestachelt werden. Der
im Presseartikel gemeinte Krieg ist durch die Nennung des Angriffs-
objektes, des Kriegsgegners und des Kriegszwecks (Sicherung der Öl-
versorgung) gen au konkretisiert. Und daß mit diesem Krieg ein An-
griffskrieg im strengen Sinne des Wortes gemeint ist, wird so unver-
blümt zum Ausdruck gebracht, daß sich nähere Darlegungen dazu erüb-
rigen. Die Voraussetzungen der Definition, die am 14. Dezember 1974
von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in der Resolu-
tion 3314 (XXIX) verabschiedet wurde, sind hier offensichtlich er-
fü1lt 20 • Mit Recht ist das Landgericht Köln davon ausgegangen, daß der
Angeklagte in seinen Ausführungen im Sinne der §§ 80 und 80 a StGB
einen Angriffskrieg gemeint hat.
Eigenartig ist indessen, daß die Kammer zwar den auffordernden
Charakter von Sätzen wie "Noch ist die Fahrt in eine neue Wirtschafts-
krise zu stoppen: mit militärischen Mitteln" und "Die Antwort kann
nur lauten: Einmarsch" herausstellt, jedoch eine gefühlsmäßige Beein-
flussung der Leser als nicht gegeben ansieht. Hier wird der Unterschied
zwischen den Begriffen Aufstacheln und Auffordern in die Argumen-
tation eingeführt. Zuzugeben ist, daß nach der Sprachregelung im Gesetz
eine Differenzierung nahegelegt scheint, und zwar in der Weise, daß die
Aufstachelung als eine gesteigerte Aufforderung zu verstehen ist. Es
muß jedoch bedacht werden, daß es hier äußerstenfalls um einen Grad-
unterschied geht, der sich in engsten Grenzen hält.
18 Vgl. Lenckner, in: Schönke/Schröder, 21. Aufl., § 131 Rdn. 16, § 130 Rdn.5
und § 80 a Rdn. 3 sowie Rudolphi, in: SK, § 131 Rdn. 17, § 130 Rdn.4 und § 80 a
Rdn.2.
19 A. a. 0., oben Anm. 15.
Das zeigt sich vor allem dort, wo in ein und derselben gesetzlichen
Bestimmung beide Begriffe verwendet werden. Das ist bekanntlich beim
Tatbestand der Volksverhetzung (§ 130 StGB) der Fall. Hier wird, wie
gesagt, unter Nummer 1 vom Aufstacheln zum Haß gegen Teile der
Bevölkerung und in Nummer 2 vom Auffordern zu Gewalt- oder Will-
kürmaßnahmen gesprochen. Es fällt schwer, darin einen nennenswerten
Unterschied zu sehen. Man vergegenwärtige sich, daß die Begriffe doch
wohl austauschbar sind, und daß der Anwendungsbereich des unter
Nummer 2 definierten Tatbestandes schwerlich eingeengt würde, wenn
der Gesetzgeber dort gesagt hätte: "Wer in einer Weise, die geeignet
ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer da-
durch angreift, daß er 1. ... und 2. zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen
gegen sie aufstachelt ... wird mit ... bestraft." Eine genauere seman-
tische Analyse zeigt vielmehr, daß der Tausch der Begriffe zu keiner
Änderung des Anwendungsumfangs führt.
Der Einwand, der Gesetzgeber müsse wegen der unterschiedlichen
Ausdrucksweise auch eine divergierende Anwendungsreichweite ge-
meint haben, läßt sich nämlich mit dem Hinweis darauf abwehren, daß
es sich hier um einen emotionsbedingten sprachlichen Rückkoppelungs-
effekt handelt, der verhältnismäßig häufig vorkommt zwischen dem
das jeweilige Tätigwerden beschreibenden Ausdruck und dem dazuge-
hörigen betreffenden Tätigkeitszielbegriff. Das Auffordern zum Haß
wäre gefühlsmäßig eine zu "gelinde" Wortkoppelung, eine Untertrei-
bung. Wer zum Haß auffordert, stachelt auf. Der umgekehrte Effekt -
eine übertreibung - würde dort eintreten, wo jemand beispielsweise
statt von einer Aufforderung zur Pünktlichkeit von einer Aufstachelung
zur Pünktlichkeit sprechen würde. Und beim Ausdruck "Maßnahmen"
hat man es mit einem sprachemotional weitgehend neutralen Begriff
zu tun, so daß dort die Formulierung mit dem Begriff des Aufforderns
möglich bleibt, selbst wenn es sich um Gewalt- oder Willkürmaßnahmen
handelt, zu denen aufgefordert wird.
Berücksichtigt man diesen semantischen Aspekt, dann hätte der
zynische und zielbewußte Presseartikel als tatbestandsmäßig im Sinne
des § 80 a StGB angesehen werden müssen, zumal die Teile der Aus-
führungen des Autors, die von der Kammer zutreffend als polemische
Analyse der Wirtschaftspolitik gekennzeichnet werden, den Aufstache-
lungscharakter nicht schmälern, wie das Gericht meint, sondern im
Gegenteil als motivierende Gefahrendarstellung sogar beträchtlich
steigern. Es bleibt deshalb zu bedauern, daß der Bundesgerichtshof keine
Möglichkeit hatte, zu diesem wichtigen, jetzt allseitig bei § 80a StGB
zitierten Urteil Stellung zu nehmen. Immerhin scheint schon durch die
seinerzeitigen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen eine rechtspoli-
tisch wünschenswerte Wirkung eingetreten zu sein. Dies beweist der
Das Aufstacheln zum Angriffskrieg (§ 80 a StGB) 599
I. Einführung1
"All human beings are born free and equal in dignity and rights".
So lautet Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung über die Menschen-
rechte vom 10. Dezember 1948. Dieses Gleichheitsprinzip hat sich in der
Gesetzgebung und der Rechtsprechung zahlreicher Länder niederge-
schlagen. In der niederländischen Verfassung heißt es in Artikel 1:
"Allen die zich in Nederland bevinden, worden in gelijke geval-
len gelijk behandeld". Im nächsten Satz findet man dieses Prinzip
in noch expliziterer Form: "Diskriminierung wegen Religionszugehö-
rigkeit, Lebensanschauung, politischer Einstellung, Rasse, Geschlecht
oder aus welchem Grunde auch immer, ist nicht zulässig". Auch in
mehreren Verträgen und Abkommen, denen die Niederlande mit vie-
len anderen europäischen Ländern beigetreten sind, finden sich solche
Diskriminierungsverbote. Ein Beispiel ist Artikel 14 der Europäischen
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
(EMRK): "Der Genuß der in der vorliegenden Konvention festgelegten
Rechte und Freiheiten muß ohne Unterschied des Geschlechts, der
Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, politischen oder sonstigen An-
schauungen, sozialer oder nationaler Herkunft, Zugehörigkeit zu einer
nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen
Status gewährleistet werden."
Eine ähnliche Bestimmung enthält auch Artike126 des Internatio-
nalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (UN-Vertrag).
Diese beiden Verträge haben in der niederländischen Rechtsordnung
unmittelbare Geltung. Streitig ist allerdings, ob man mit diesen beiden
1 Im Text kommen einige Abkürzungen vor, die ich gleich zu Anfang er-
klären will. AG = Generalanwalt beim Hoge Raad; BW = Burgerlijk Wet-
boek; HR = Hoge Raad, die Kassationsinstanz; NJ = Nederl. Jurisprudentie,
eine wöchentlich erscheinende Sammlung von Entscheidungen des HR und
anderer Gerichte, manchmal mit Kommentar; NJB = Nederlands Juristen-
blad; NJCM = Nederlands Juristen Comite voor de mensenrechten; S =
Staatsblad; Sr. = Wetboek van Strafrecht; Trb. = Tractatenblad.
602 J an Remmelink
In den sechziger Jahren wäre das soziale Klima für die Einführung
eines gesetzlichen Diskriminierungsverbotes günstig gewesen. Der tiefe
Eindruck, den die furchtbaren Vernichtungen der Kriegsjahre hinter-
lassen hatten, hatte noch nichts von seiner Kraft verloren, während
der große industrielle Aufschwung die Nachfrage nach ausländischen-
darunter farbigen - Arbeitskräften sprunghaft ansteigen ließ. Die
Lage hat sich inzwischen jedoch maßgeblich geändert. In unserer
Gesellschaft geben jüngere Generationen, die sich nicht mehr an
den Krieg erinnern oder denen er nichts mehr zu sagen hat, den Ton
an. Die wehrhafte Einstellung des israelischen Staates seinen Nach-
barn gegenüber hat - gerechtfertigt oder nicht - böses Blut gemacht
und in gewissen Kreisen zu Äußerungen geführt, die, obwohl sie sich
auf "Israelis" beziehen, in ihrer Gehässigkeit kaum von den anti-
semitischen Parolen der Nazizeit zu unterscheiden sind. Außerdem
hat die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer (Türken, Marokkaner
usw.) vor allem in den Ballungszentren im Westen unseres Landes
stark zugenommen6 • Dazu kam der Zustrom der Surinamer und An-
tillianer, die als niederländische Staatsangehörige freien Zugang zu
dem damaligen wirtschaftlichen Paradies hatten, denen es jedoch häu-
fig schwerfiel, sich in das soziale Gefüge einzuordnen. Das letztere gilt
auch für die aus den früheren südostasiatischen Kolonien stammen-
den, noch immer auf Rückkehr hoffenden Südmolukker, die sich sogar
einiger weltweit bekannt gewordener Geiselnahmen schuldig gemacht
haben 7 •
10 Außerdem gab es noch eine Vorschrift, Art. 137 d Sr., die die Verbrei-
tung einschlägiger Schriften verbot.
Die Strafbarkeit der Rassendiskriminierung in den Niederlanden 605
"kennzeichnend" erfahren wird". Ich gebe zu, daß das eine grobe Faust-
regel ist, aber ich glaube, daß etwas Wahres daran ist.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine Erwägung in
der Entscheidung des House of Lords vom 28. Februar 1983, die ich
nach dem unten näher bezeichneten Gutachten meines Amtskollegen
Professor Leijten zitiere: "that ethnic origins in the context of ... pro-
vision means a group which is a segment of the population distinguished
from others by a sufficient combination of shared customs, beliefs,
traditions and characteristics derived from a common or presumed
common past, even if not drawn from what in biological terms was
a common racial stock, in that it was that combination which gave them
an historically determined so ci al identity in their own eyes and in
those outside the group; that Sikhs are in that sense a racial group
defined by reference to ethnic origins for the purpose of the Act, al-
though they are not biologicaUy distinguishable from the other peoples
of the Punjab".
Das impliziert, daß ein eventuelles Argument, die betreffende Be-
völkerungsgruppe sei keine Rasse, im allgemeinen wenig Effekt haben
wird. So kann man nicht, wie dies einer Meldung der niederländischen
Presse vom 13. September 1979 zufolge ein Rechtsanwalt vor dem
Landgericht Bückeburg (BRD) - ich nehme an, vergeblich - getan hat,
auf die sehr unterschiedlichen biologischen Merkmale der Juden hinwei-
sen und anführen, die Juden seien daher keine Rasse. Auch in der oben
zitierten Entscheidung der "Law Lords" wurde das Argument bestrit-
ten, daß "Sikhs were not a racial group". In diesem Rahmen ist auch
eine niederländische höchstrichterliche Entscheidung 26 über "Surinamer"
erwähnenswert, denen auch bestritten wurde, daß sie zu einer bestimm-
ten Rasse gehörten. Das Wort "Surinamer" ist jedoch bei uns nichts
anderes als ein populäres Synonym für "Farbige aus Surinam".
Es ist nicht möglich, den Begriff Rasse so weit auszudehnen, daß man
alles in ihm unterbringen kann. So wird man jemandem, der es auf
"Junkies" abgesehen hat, wohl nicht unterstellen können, daß er eine
"Rasse" beleidigt habe. In diesem Sinne interpretiere ich auch die
Stadtverwaltung von Groningen (NL), die fand, daß das Schild "Ver-
boten für Junks" in der Bolly Bar hängen bleiben durfte 27 • Es handelt
sich hier nämlich nicht um unfreiwillige Eigenschaften einer Gruppe
von Menschen; es sind Süchtige, die, wenigstens aus prinzipieller
Sicht, in den Augen der Gesellschaft ein verwerfliches Leben führen.
(Dies letztere gilt m. E. wiederum nicht für Wohnwagenbewohner,
39*
612 J an Remmelink
29 Siehe auch HR 10. März 1981, NJ 1981, Nr. 385 zur Anwendung von Arti-
kel 14 EMRK; die ungleiche Behandlung muß einen Grund oder ein Motiv
haben, das in dem persönlichen Status, durch den Personen oder Gruppen
voneinander unterschieden werden, gelegen ist. In diesem Sinne auch bereits
HR 7. Januar 1975, NJ 1975, Nr. 206.
30 So auch die Antwortnote an die Zweite Kammer, Bijlagen Tweede
Karner 9724, Nr. 6.
31 Siehe hierzu J. N. J. Schepper, NJB 1936, S. 361 ff. und 409 ff.
614 J an Remmelink
v. Die 'übertretungen
Zunächst möchte ich Artikel 429ter Sr. zur Sprache bringen, der
denjenigen mit Strafe bedroht, der an Handlungen teilnimmt oder
diese finanziell unterstützt, die Diskriminierung von Menschen nach
ihrer Rassenzugehörigkeit bezwecken.
Abgesehen von der Möglichkeit einer erfolgreichen Berufung auf
höhere Gewalt, Schuldlosigkeit oder ähnliches genügt hier, da es eine
übertretung betrifft, das simple fait materiel für die Auferlegung der
Strafe. Das letztere bezieht sich hier auf Beihilfe usw. zu rassistischen
Handlungen. Diese brauchen selbst nicht einmal Straftaten zu sein.
Es ist sogar möglich, daß sie im Ausland stattfinden, wo sie von einer
korrupten Staatsgewalt gedeckt werden. Trotzdem ist die in diesem
Artikel erwähnte Beihilfe strafbar, wenn sie innerhalb unserer Gren-
zen geleistet wird. Wer jedoch im Ausland sein Geld für solche Zwecke
zur Verfügung stellt, kann bei uns nicht bestraft werden.
Das Wort "Handlungen" darf übrigens nicht zu weitläufig interpre-
tiert werden. Ich würde das bloße Bestehen einer rassistischen Ver-
einigung oder Partei noch nicht als Handlung bezeichnen, wohl aber
die rassistischen Aktionen einer solchen Gruppe.
Dieser Artikel wurde in der Praxis bisher wenig angewendet. Das
Gegenteil ist bei Artikel429 quater Sr. der Fall, der Strafvorschrift,
die denjenigen betrifft, der in Ausübung seines Berufes oder als Un-
ternehmer Personen nach der Rasse unterscheidet. Unter "unterschei-
den" muß man, so lehrt uns die Geschichte des Gesetzes, auch Hand-
lungen verstehen, die eine unterschiedliche Behandlung zur Folge ha-
ben. Deshalb entschied man sich für eine objektive Auslegung dieses
Begriffes und blieb auf der gleichen Linie mit der oben zitierten De-
finition der Diskriminierung, nach der auch bereits die Folgen den
Ausschlag geben35 •
Man wird zugeben müssen, daß dieser Artikel ein weites Feld be-
streicht. Anfänglich hatte der Gesetzgeber eine engere Formulierung
gewählt: er hatte den Geltungsbereich dieses Artikels auf bestimmte
Berufszweige beschränkt (Anbieten von Waren und Dienstleistungen
usw.), während andererseits nicht von "unterscheiden", sondern von
"benachteiligen, zurücksetzen" die Rede war. 1981 hat man den Text
jedoch geändert. Es hatte sich nämlich herausgestellt, daß die inzwi-
schen stark gestiegene Zahl der ausländischen Arbeitnehmer mit aller-
lei verdeckten Formen der Diskriminierung konfrontiert wurde, auch
auf dem anfangs noch nicht unter diese Strafvorschrift fallenden Ar-
beitsmarkt. Außerdem wollte Minister de RuHer auf diese Weise eine
Erscheinung beenden, die - als Auswirkung des arabischen Boykotts
gegen Israel- damals im Brennpunkt des Interesses stand: die "Nicht-
Jude-Erklärung" für Arbeitnehmer niederländischer Firmen, die im
Nahen Osten (Saudi-Arabien) operierten. Man war davon überzeugt,
daß man, vor allem durch die Einführung des neutralen Ausdrucks
"unterscheiden", nun auch die indirekte Diskriminierung bekämpfen
könne. Der Optimismus des Ministers 36 über den Effekt dieser Erwei-
terung des Fangnetzes war, wie der heutige Stand der Entwicklung
zeigt, nicht gerechtfertigt. Die Erklärungen, in denen der Arbeitgeber
bestätigen mußte, daß das Belegschaftsmitglied einer anderen Religion
angehörte als der jüdischen und daß es keine Beziehungen zu Israel
unterhielt, wurden von mehreren Gerichten nicht als "Unterscheidung
nach der Rasse" betrachtet. Das erscheint mir, soweit es nur den zwei-
ten Teil dieser Erklärung betrifft, auch vertretbar, wenn man bedenkt,
daß die Staaten, die diese Bescheinigung fordern, sich im Kriegszu-
stand mit Israel befinden, also in einem völkerrechtlichen Konflikt. Den
ersten Teil der Erklärung halte ich, da Glaube und Volk hier praktisch
zusammenfallen, auch in der Auffassung unseres Gesetzgebers, für
eine Art indirekter Diskriminierung und - piercing the veil - aus
diesem Grunde für unzulässig. Zur Zeit, während ich an diesem Auf-
satz arbeite, werden einige dieser Verfahren (in höchster Instanz) durch
den Hoge Raad der Nederlanden behandelt. Mein bereits oben er-
wähnter Kollege, Professor Leijten, hat in seinem Plädoyer den glei-
chen Standpunkt eingenommen, den ich hier verteidigt habe.
Auch während der Geltung der alten Fassung gab es in der Recht-
sprechung schon eine Tendenz, die indirekte Diskriminierung unter
das Verbot fallen zu lassen. Es ging dabei um Einlaßquoten für Far-
bige in Diskotheken usw., wo man jeweils nur einem bestimmten
Prozentsatz Zutritt gewährte (proportionale Selektion). Der Hoge Raad
37 Vgl. HR 1. Juli 1981, NJ 1982, Nr. 176, und 24. November 1981, NJ 1982,
Nr.177.
38 Dieser "Prozentualismus" ist ein alter Trick, um vor allem Juden aus-
zuschließen. Man erinnert sich vielleicht an den früheren numerus clausus
für Juden (max. 10 %) an der Harvard-Universität und für freie Berufe in
Ungarn vor dem Krieg.
39 Bijlagen Tweede Karner 16 115, Nr. 7.
618 J an Remmelink
40 Memorie van Antwoord, Bijlagen Tweede Karner 16115, Nr. 5. Vgl. auch
NoyonlLangemeyer, 7. Aufl., I, S.160. Im Steuerrecht wird solch ein öffent-
liches Amt wohl als Unternehmen betrachtet: HR 15. Dezember 1982, Beslis-
singen in Belastingzaken (BNB) 1983, Nr. 45.
41 Handelingen, Tweede Karner, zitting 1974 - 1975, Nr. 839.
Die Strafbarkeit der Rassendiskriminierung in den Niederlanden 619
eines Notars doch nur als Beihilfe bewertet werden müßten, und diese
Art der Teilnahme ist bei übertretungen nicht strafbar (Art. 52 Sr.).
VI. Rechtfertigungsgründe
Bis jetzt bin ich nicht auf die Fälle eingegangen, in denen zwar die
einzelnen Tatbestandsmerkmale der im Gesetz als Verbrechen oder
übertretung rubrizierten Straftat verwirklicht sind, bei denen jedoch
ein Rechtfertigungsgrund vorliegt, so daß die Tat in concreto straflos
bleibt. Nach niederländischem Recht muß der Angeklagte dann für
nicht strafbar erklärt werden.
Zunächst möchte ich auf einen speziellen Rechtfertigungsgrund hin-
weisen, den der Gesetzgeber im 2. Absatz des oben erwähnten Arti-
kels 429quater Sr. hinzugefügt hat: den Unterschied im sozialwirt-
schaftlichen Bereich. Dieser Absatz besagt nämlich, daß der erste nicht
für Maßnahmen gilt (affirmative actions nennt man das in den USA),
die zu einer bestimmten ethnischen oder kulturellen Minderheit gehö-
renden Personen eine bevorzugte Stellung einräumen, um tatsächlich
bestehende Benachteiligungen rückgängig zu machen. (Es ist dabei nicht
erforderlich, daß die kompensierende Maßnahme auch den gewünsch-
ten Erfolg hat.) Der Gesetzgeber hat damit andeuten wollen, daß er
die sogenannte positive Diskriminierung (mit der die indirekte Va-
riante manchmal verknüpft ist) im allgemeinen ausschalten wollte.
Positive Diskriminierung (reverse discrimination) ist nämlich nur an-
genehm für denjenigen, der bevorteilt wird, der Ausdruck verschlei-
ert jedoch die Tatsache, daß gleichzeitig eine andere Gruppe benach-
teiligt wird. Natürlich hätte der Gesetzgeber praktisch das gleiche er-
reicht, wenn er den Ausdruck "Diskriminierung" in den Artikel über-
nommen hätte. Damit hätte er sich aber auf ein gefährliches Pflaster
begeben, weil dieser Begriff, wie wir gesehen haben, zu sehr auf die
Verletzung der Grundrechte abgestimmt ist, und auf diesem Niveau
spielen die hier gemeinten Transaktionen sich normalerweise nicht
ab. Außerdem geht man davon aus, daß die Handlungen "in der Öffent-
lichkeit" stattfinden, und auch das ist meistens nicht der Fall.
Man kann sich vorstellen, daß der Angeklagte sich auch auf andere
fundamentale Rechte beruft, z. B. auf das Recht der Gewissensfreiheit
und die Freiheit der Meinungsäußerung. Ein solcher Rechtfertigungs-
versuch wird hauptsächlich dann eine ernstzunehmende Rolle spielen,
wenn z. B. von Diskriminierung nach dem Geschlecht die Rede ist. Ich
habe nämlich den Eindruck, daß die Grenzen dort nicht immer gleich
scharf gezogen worden sind. Hier ist jedoch weit weniger zu erwarten,
daß sich reale Konflikte ergeben, besonders nicht in der Kategorie der
Verbrechen.
620 Jan Remmelink
Vor einiger Zeit hat J. A. Peters42 hauptsächlich mit dem dem ame-
rikanischen Recht entlehnten Gedanken der public speech, die dem
Recht der freien Meinungsäußerung eine hohe Priorität zuerkennt
(preferred position on free speech), als Ausgangspunkt - seine Ver-
wunderung darüber ausgedrückt, daß es anläßlich der Einführung der
Antidiskriminierungsartikel in den Niederlanden keine fundamentale
Diskussion über die Frage gegeben hat, ob diese Strafvorschriften
keine unzulässige Einschränkung der freien Meinungsäußerung zur
Folge haben (für die USA war dies einer der Gründe, das Anti-Rassen-
diskriminierungs abkommen nicht zu ratifizieren). Nur wenn die be-
treffenden Meinungsäußerungen eine deutliche und direkte Gefahr
erzeugten, wäre das etwas anderes. Dies sei jedoch nicht der Fall.
Die Vorschriften seien nämlich zu vage formuliert und ließen eine
zu weite Auslegung zu. Eine Diskussion über Immigrationspolitik könne
mit Hilfe dieser Artikel verboten werden. Peters bevorzugt die Idee
des "offenen Ideenmarktes" (eine Formulierung des bekannten ameri-
kanischen Richters Holmes) und vertraut auf die reinigende Kraft
der demokratischen Ordnung selbst. In seiner Auffassung liegt es nur
anders, wenn ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Äußerung
und einem Gewaltausbruch anzunehmen ist.
Ich teile seine Meinung nicht. Eine sachliche Diskussion wird m. E.
nicht unmöglich gemacht. So fasse ich auch die Entscheidung HR 4. März
1940, NJ Nr. 830 auf, die sich auf die oben besprochene alte Strafvor-
schrift bezieht: eine Opposition gegen Vertreter von Religionsgemein-
schaften ist im Prinzip zulässig43 • Andererseits hat der Hoge Raad das
Rechtsmittel eines Agitators, der sich auf die Freiheit der Meinungs-
äußerung berief, als unbegründet abgelehnt, und zwar unter Verwei-
sung auf den 2. Absatz von Artikel 10 EMRK44 • Ich gebe aber zu, daß
manche Gegner der Rassendiskriminierung zu weit gehen, wenn sie
die positive Werbung für die eigene nationale Kultur (wie große euro-
päische Staaten das tun: Frankreich mit seiner Alliance Fran\;aise,
England mit seinem British Council, Deutschland mit seinem Goethe-
Institut, sogar Belgien mit seinem in Amsterdam residierenden Insti-
Für die Verbrechen ist die Höchststrafe ein Jahr Gefängnis, für die
Übertretungen ein Monat bzw. 2 Monate Haft. Sowohl bei den Verbre-
chen als auch bei den Übertretungen kann der Richter anstelle der
Freiheitsstrafe auch eine Geldstrafe von höchstens zehntausend Gul-
den auferlegen. Man muß aber bedenken, daß das niederländische
Strafrecht eine allgemeine Mindestgrenze von einem Tag Haft bzw.
fünf Gulden Geldstrafe kennt, die gegebenenfalls zur Bewährung aus-
gesetzt werden kann und daß der Richter, was die Höhe der Strafe an-
betrifft, im gegebenen Zumessungsspielraum uneingeschränkte Frei-
heit genießt. Seit dem 1. Mai 1983 kann er den Angeklagten sogar ohne
Auferlegung einer Strafe schuldig sprechen, Art. 9 a Sr. Außerdem
muß man beachten, daß die niederländischen Verfolgungsbehörden
nach dem sogenannten Opportunitätsprinzip vorgehen, was ebenfalls
eine beträchtliche Freiheit impliziert; in concreto die Wahl, ob eine
Straftat verfolgt wird oder nicht. Mein Eindruck ist jedoch, daß die
Gerichte gerade auf diesem Gebiet empfindliche Strafen auferlegen
48 So auch Minister Korthals Altes bei der Debatte über den Justizetat in
der Zweiten Kammer: "Es gibt praktisch keine Einstellungen des Verfahrens
aufgrund verfolgungspolitischer Erwägungen", NRC-Handelsblad, 2. Februar
1984.
49 Man hat auch auf ein ausdrückliches Verbot rassistischer Parteien usw.
gedrängt, wie z. B. nach dem Zweiten Weltkrieg die Nationaal Socialistische
Beweging (NSB) und ihr verwandte Organisationen verboten wurden (Ver-
ordnung vom 17. September 1944 S. E. 102). Dieses Verbot wurde aufgehoben.
60 Es betraf hier die Nederlandse Volksunie. Sie galt als "verbotene Ver-
einigung", aber das Landgericht entsprach dem Antrag auf Auflösung trotz-
Die Strafbarkeit der Rassendiskriminierung in den Niederlanden 623
dem nicht. Vgl. HR 9. März 1979, NJ 1979, Nr. 363, mit kritischem Kommentar
von Maeijer.
51 Ein Beispiel: Ein türkischer Gastarbeiter, der sich bereits seit 1973 in
den Niederlanden aufhält, verklagt die Wohnungsbaugesellschaft "Binderen"
in Helmond. Beantragt wird, "Binderen" unter Androhung eines Zwangs-
geldes aufzutragen, ihm innerhalb einer Woche nach Zustellung des Urteils
eine Wohnung zuzuweisen. Im Berufungsverfahren urteilt der Gerichtshof,
die Klage sei ihrem Grunde nach gerechtfertigt, ordnet jedoch einen Ver-
söhnungstermin an. HR 10. Dezember 1982, NJ 1983, Nr. 687 entscheidet im
Kassationsverfahren abweisend.
52 Eine sogenannte "class action" (eine Gruppe von Menschen, deren Zu-
sammensetzung sich zwischenzeitlich ändern kann, mit einem gemeinsamen
Problem erhebt Klage bei einem Gericht, dessen Entscheidung auch für Ab-
wesende verbindlich ist), wie die amerikanische Rechtspraxis sie kennt, ist in
den Niederlanden (noch) nicht möglich.
624 J an Remmelink
EN
RM:IALE.
YER"OU-
DIN&EN
IX. Schlußbetrachtung
Mit allen anderen Autoren und Ausschüssen auf diesem Gebiet bin
ich der Meinung, daß juristische Maßnahmen nicht ausreichen. Woh-
nungsbau, Schulwesen, einem Ombudsmann vergleichbare Einrichtun-
gen - speziell möchte ich die Pläne für eine landesweite Institution
65 Aufgabe dieser Institution soll es sein (vgl. Trouw, 16. September 1983),
Diskriminierungsopfern zu helfen, Rechtsberater zu schulen, Minderheiten
aufzuklären und Formen der Diskriminierung anzuprangern. Die Regierung
wollte nicht so weit gehen, dieser Instanz auch die Befugnis einzuräumen,
Klagen von Diskriminierungsgeschädigten zu behandeln. Minister Rietkerk
hielt dies für eine Aufgabe, die in erster Linie den bestehenden Rechtspflege-
organen obliegt. Die Zweite Kammer hat sich zu Anfang dieses Jahres mit
überwiegender Mehrheit für eine Anti-Diskriminierungsinstanz ausgespro-
chen, die auch berechtigt ist, Klagen in Behandlung zu nehmen. In den angel-
sächsischen Ländern kennt man bereits solche Institutionen. Vgl. hierzu u. a.
A. H. J. Swart, Delikt en Delinkwent, 1970/71, S. 79.
66 Das Parlamentsmitglied Van Rossum, Handelingen Tweede Karner 1981,
S.3935.
57 Vgl. auch Jaseph Roth, Der Antichrist, 1934, S.87: "Und anstatt Gott zu
danken, daß er den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen hat, und
zwar mit jener göttlichen Großmut, die wir an ihm preisen, in allen mög-
lichen Farben, leugnen die Menschen Gott, eben dadurch, daß sie sagen, Er
hätte nicht Alle nach seinem Ebenbild geschaffen."
GüNTHER JAKOBS
I.
Jesche,ck hat sich mehrfach speziell zur Beleidigung geäußert t • Der
Grund für die Widmung dieses Beitrags sind jedoch hauptsächlich Aus-
führungen zur informellen Sozialkontrolle im ersten Absatz der Ein-
leitung seines Lehrbuchs zum Allgemeinen Teil 2 • Dort heißt es: "Das
Zusammenleben der Menschen vollzieht sich in erster Linie nach über-
lieferten Regeln (Normen), die in ihrer Gesamtheit die soziale Ordnung
bilden. Die Geltung dieser vorgegebenen Normen ist von äußerem
Zwang weitgehend unabhängig, da sie auf der Einsicht aller in ihre
Notwendigkeit beruhen und durch immanente Sanktionen geschützt
sind, die selbsttätig auf Zuwiderhandlungen reagieren (mittelbare ge-
sellschaftliche Repression). Es gibt ein Gesamtsystem der ,sozialen Kon-
trolle', dessen Träger die verschiedensten Institutionen wie Familie,
Schule, Kirche, Betriebe, Gewerkschaften und Vereine sind. Die Straf-
rechtspflege ist nur ein Ausschnitt aus diesem System und die insgesamt
verwendeten präventiven oder repressiven Sanktionen sind sogar bis
zu einem gewissen Grade austauschbar". - Folgt man diesen Darle-
gungen, so erhebt sich sogleich die Frage, wie die stabilisierende Wir-
kung der informellen Sanktionen überhaupt zustande kommen kann;
denn offensichtlich fehlen dem informellen Sanktionierungssystem die
Bindungen, die das formelle System zum Schutz vor Fehlurteilen kennt.
Wenn informelle Sanktionen - wie auch lobende, ehrende Reaktionen
- nicht nur eine Mischung aus Fehlschlägen und Zufallstreffern sein
sollen, muß es möglich sein, über tadelnswertes Verhalten - wie über
lobenswertes - offen zu reden. Da es aber kein allgemeines Recht auf
Wahrheit gibt und erst recht kein durch Sanktionen gesichertes allge-
meines Recht auf Wahrheit, stünde bei der informellen Zurechnung in
der Tat jeglicher Verfälschung Tür und Tor offen, wenn es nicht spe-
zielle Wahrheitsgarantien zum Schutz vor inkorrekter (und belastender)
informeller Zurechnung gäbe.
40'
628 Günther Jakobs
In diesem Beitrag wird die These vertreten, es sei Aufgabe der Nor-
men gegen Beleidigung, die notwendige spezielle Wahrheitsgarantie
zu leisten. Die These hat zur Folge, daß die Beleidigungsdelikte nicht
mehr nur als Delikte gegen die Person verstanden werden dürfen, viel-
mehr auch als Delikte gegen öffentliche Interessen definiert werden
müssen, seil. gegen Verfälschung der informellen Zurechnung. Der Zu-
gang zur These und zu ihren Konsequenzen erschließt sich nur, wenn
Ehre wie Unehre nicht (jedenfalls nicht allein) statisch als in die Ge-
sellschaft eingebrachter Besitz oder Verlust der Person verstanden
werden (mag man diesen Besitz oder Verlust dann auch nach den in der
Gesellschaft geltenden Normen bewerten), sondern wenn man die
Frage stellt, welche Aufgabe die Ehre (oder umfassender: das durch die
Normen gegen Beleidigung geschützte Gut) in einer bestimmten Gesell-
schaft hat. Dabei muß man die Möglichkeit offenhalten, daß die Aufgabe
nicht nur für das System "Person" zu erbringen ist, sondern auch für
das System "Gesellschaft". Im folgenden Text wird zunächst an zwei
Positionen aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts - eine Zeit,
in der die Beleidigung im Strafrecht ("der Ehrbegriff") längst in einer
Krise steckte - gezeigt, was mit der Frage nach der Aufgabe der Ehre
in einer bestimmten Gesellschaft gemeint ist (11). Die Frage wird auch
in der gegenwärtigen Diskussion aufgeworfen (111), aber die Antwort
muß stets dann zu weit in Richtung auf ein Recht auf Wahrheit oder
gar in Richtung auf einen generellen Schutz der Menschenwürde oder
personaler Interessen geraten, wenn die Verbindung zwischen dem
Schutz vor Beleidigung und dem allgemeinen Interesse an informeller
Zurechnung nicht erkannt wird (IV). Abschließend wird versucht, die
gewonnene Position an Einzelfragen (V) zu verdeutlichen: (1) Beleidi-
gungsdelikte als Äußerungsdelikte, (2) Minderung und Steigerung der
Ehre, (3) Beleidigungen aus fremden Normensystemen, (4) Beschrän-
kung der Beleidigung auf Verfälschung speziell der Zurechnung und
(5) Vollendung der Beleidigung bei abstrakter Gefährdung.
11.
Bei seiner bekannten Polemik gegen die "ritterliche Ehre" berichtet
Schopenhauer folgende Anekdote: "Als ... ein teutonischer Häuptling
den Marius zum Zweikampf herausgefordert hatte, ließ dieser Held
ihm antworten, ,wenn er seines Lebens überdrüssig wäre, möge er sich
aufhängen', bot ihm jedoch einen ausgedienten Gladiator an, mit dem
er sich herumschlagen könne"3. Schopenhauer preist die "unbefangene,
natürliche Ansicht der Dinge" durch "die Alten". "Das waren Weise: -
Ehre des einzelnen in der Hand, sondern der Ehrbestand kann durch
den Staat, der ja zur Bestimmung des Werts der Person nicht in erster
Linie kompetent ist, auch nur unvollkommen gegenüber einer Beleidi-
gung gewahrt werden, so daß neben dem Staat stets die Selbsthilfe
noch etwas zu tun findet 11 •
Gewiß bedarf das skizzierte Verständnis der Ehre von ihrer Aufgabe
her noch einiger Ergänzungen. So ist zum römischen Recht erklärungs-
bedürftig, wie eine dritte Person überhaupt in das Verhältnis zwischen
dem Staat und dem Ehrinhaber einbrechen kann. Die Antwort dürfte
sich nicht allein durch einen Hinweis auf ein Interesse des Ehrinhabers
geben lassen, ehrangemessen behandelt zu werden, vielmehr besteht
auch ein genuin staatliches Interesse, das der Ehrverletzung den An-
strich eines Angriffs auf öffentliche Güter gibt; denn der Staat verteilt
die Ehre nicht als Selbstzweck, sondern um den Bürgern denjenigen
Rang zuzuweisen, den sie zur Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Auf-
gaben brauchen. Eine Ehrverletzung ist deshalb immer auch ein Pro-
test gegen die Kompetenz des Staats, Rang zu verteilen, oder gegen die
Maximen, nach denen er verteilt. Ganz entsprechend ist zu erklären,
weshalb sich nach der germanischen Auffassung der Staat überhaupt
um die Ehrverletzung kümmert. Dafür findet sich nicht nur ein mit-
telbares Interesse, wie es das Interesse an einer Vermeidung der frie-
densstörenden Retorsionen per Selbsthilfe ist, sondern ein wiederum
genuin staatliches Interesse; das gilt jedenfalls so lange, wie die Stan-
des differenzierungen eine gesellschaftliche Aufgabe haben12 • Daß diese
Aufgabe länger bestanden hat, als offiziell eingeräumt werden konnte,
hat nicht zuletzt Schopenhauer13 gemerkt und am Beispiel der Offi-
ziere und höheren Zivilbeamten beschrieben.
III.
In der gegenwärtigen Diskussion ist die Frage nach der Aufgabe der
Norm gegen Beleidigung im Zusammenhang mit der Kritik des norma-
tiven Ehrbegriffs gestellt worden. Nach dem insbesondere von Hirsch
weiterentwickelten normativen Ehrbegriff ist Ehre der Wert einer
Personi" ihr "Geltungswert-Status". Nun kann dieser Wert überhaupt
nur vom Inhaber selbst berührt und verändert werden15 • Bekannt ist
wohl kein Zufall, daß dieser Versuch, die Ehre aus dem Verhältnis des
einzelnen zur Gesellschaft zu erschließen, wiederum in der Tradition
Hegels steht. Aufgabe der Ehre soll es sein, ein Selbständigkeit er-
möglichendes Anerkennungsverhältnis zwischen Menschen herzustel-
len23 . Dieses Verhältnis soll erforderlich sein, weil der einzelne Mensch
seine Entwicklung "zum Freien (d. h. selbständigen Subjekt über-
haupt)" weder allein leisten könne noch, so sie geleistet sei, die Frei-
heit allein durchzuhalten vermöge24 • - Im ausdrücklichen Anschluß an
Wolff sieht Otto die Aufgabe der Ehre darin, einen Zustand zu ermög-
lichen, in dem eine Person mit anderen Personen Gemeinschaft haben
kann, "und zwar zum einen, indem jeder Person die Würde als Person
zugestanden wird, zum anderen, indem der Person in bestimmtem
Rahmen Möglichkeiten gesichert werden, sich in der Gesellschaft per-
sonal zu entfalten"25. - In eine ähnliche Richtung zielt Amelung mit
dem Vorschlag, den Ehrbegriff "soziologisch, d. h. aus einem Interak-
tionszusammenhang" zu entwickeln, "in dem beide Beteiligte bei der
Selbstdarstellung des Gegenübers mithelfen"26.
In der skizzierten Weise gewinnt man ein verletzbares Angriffsob-
jekt. Dieses Objekt wird, beiläufig, wiederum durch die Beleidigung
in den Fällen nur abstrakt gefährdet, in denen Rückwirkungen auf den
Lebenskreis des Betroffenen ausbleiben27 und vom Täter auch nicht
vorgesetzt waren. Schon schwerer wiegt, daß zur Norm gegen Verun-
glimpfung des Andenkens Verstorbener bei dieser Definition des An-
griffsobjekts nur verquälte Deutungen angeboten werden können28 . Vor
allem gerät das Angriffsobjekt geradezu ungeheuer weit, und zwar
weil der Blick starr auf die Entwicklungsbedingungen der einzelnen
Person gerichtet wird. Selbständigkeit, personale Entfaltung und
Selbstdarstellung sind Prozesse, die von durchaus erschöpfbaren Re-
serven vorangetrieben werden; sie gelingen deshalb um so besser, je
mehr Widerstände fehlen. Zu den Widerständen zählen unter anderem
restlos alle Verfälschungen dessen, worauf das "Selbst" abstellt. Des-
halb müßten die skizzierten Lehren konsequent alle bei einem um-
fassenden Recht auf Wahrheit landen, und zwar nicht nur auf Wahr-
23 (Fn.5), S.889; Wolff sieht, daß diese Definition zu weit ist, da sie -
u. a. - die bloße Kommunikationsverweigerung umfaßt, S. 900.
24 (Fn. 5), S. 894.
25 Dito, Persönlichkeitsschutz durch strafrechtlichen Schutz der Ehre,
Festschrift für Schwinge, 1973, S. 71 ff., 81 f.; ders., Grundkurs Strafrecht.
Die einzelnen Delikte, 1977, S. 113.
26 Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, S. 188
Fn. 70, unter Berufung - u. a. - auf Luhmann, Funktionen und Folgen for-
maler Organisation, 2. Aufl. 1972, S. 437 ff., der seine Betrachtungen freilich
auf Achtung (Ehre) in formalen Organisationen beschränkt.
27 Dazu Wolff (Fn. 5), S. 902 f.
28 Wolff (Fn. 5), S. 903 f.; siehe auch unten Fn.36.
Die Aufgabe des strafrechtlichen Ehrenschutzes 633
28 Die Grenzen des Rechts auf Wahrheit sind bislang nicht systematisch
behandelt worden. Die Bestimmung der Grenzen ist wichtig, weil nach dem
extensiven Gewaltbegriff auch die Manipulation einer Situation durch eine
Äußerung Gewalt sein kann. Eine grobe Skizze sei versucht: (a) Eine
Äußerungspflicht ist stets Pflicht zu wahrheitsgemäßer Äußerung. Haupt-
beispiele bilden die Normen der §§ 153, 154 und 348 StGB, also Pflichten
kraft institutioneller Zuständigkeit (dazu Jakobs, Strafrecht AT, 1983, 29/
58 ff.). Die Pflichten bestehen nicht stets zugunsten jedermanns (der Zuhörer
im Gerichtssaal, der, auf eine falsche Zeugenaussage trauend, Schaden er-
leidet, ist weder durch den Zeugen zu dem schädigenden Verhalten genötigt
worden noch hat er Ersatzansprüche gegen den Zeugen). - Auch Pflichten
kraft Organisationszuständigkeit sind möglich, insbesondere wegen über-
nahme (Jakobs, 29/29 ff., 46 ff.). - Äußerungspflichten können auch aus den
Normen der §§ 138, 323 c StGB folgen, sind dann aber natürlich keine Ga-
rantenpflichten. - (b) Ein allgemeines Recht auf Wahrheit trotz fehlender
Äußerungspflicht gibt es in bestimmten Bereichen sozialer Kontakte, und
zwar zum einen, soweit Skepsis und Kontrolle zugunsten der Flüssigkeit der
Interaktionen zurücktreten sollen: als geschütztes Vertrauen auf die Aus-
stelleridentität bei Urkunden (§ 267 StGB), auf den in öffentlichen Glauben
erwachsenden Inhalt von Urkunden (§ 271 StGB), auf die Leistungsbeschrei-
bung, die der Geschäftspartner beim Austausch von vermögenswerten Ob-
jekten abgibt (§ 263 StGB) oder auf den korrekten Vollzug informeller Zu-
rechnung (§§ 185 ff. StGB) u. a. m., wobei das Recht wiederum nur zugunsten
bestimmter Personen bestehen mag, etwa nur zugunsten des Betroffenen
bei der Beleidigung. Zum anderen gibt es trotz fehlender Äußerungspflicht
ein Recht auf Wahrheit, wenn sich im öffentlichen Interesse für den
Adressaten an eine Äußerung eine Handlungspflicht anschließt (etwa im Fall
der §§ 156, 164 StGB). - (c) Heikel ist die Entscheidung, wann die Lüge
eines Erklärenden ohne Äußerungspflicht und ohne Beschränkung auf be-
stimmte Bereiche sozialer Kontakte Haftung begründet. Es geht um Grenz-
fälle der GarantensteIlung aus besonderem Vertrauen: Wenn der Erklärende
gegenüber dem Adressaten die Richtigkeit einer Äußerung zu seinen Gun-
sten beansprucht, muß er sich an diesem Anspruch auch festhalten lassen,
wenn ihn das belastet (Jakobs, 29/67), d. h. er ist dann dafür zuständig, daß
der Adressat nicht durch die Orientierung am - lügenhaften - Inhalt der
Äußerung zu Schaden kommt. Beispiel: Wer vor dem Bahnhof auf die Frage
eines Ortsfremden nach dem Weg eine lügenhafte Auskunft gibt, wird nicht
dafür - bei Strafe der Nötigung - zuständig, welchen Weg der Fragende
einschlägt; wohl aber nötigt der Taxifahrer, der den Ortsfremden in der
falschen Gegend aussetzt. - Dieser Erklärungsmodus für ein Recht auf
Wahrheit dürfte bei einigen der oben zu (a) genannten Fallgruppen hinzu-
treten (etwa bei den §§ 263, 267 StGB).
634 Günther Jakobs
IV.
Das geschilderte Dilemma ist auf das Ableben der Standesehren zu-
rückzuführen. Standesehre war einigermaßen präzis durch die dem
Stand entsprechenden Rollen positiv definiert. "Der soziale Ort der
Ehre liegt in einer Welt relativ intakter, stabiler Institutionen, einer
Welt, in der die Menschen mit subjektiver Sicherheit ihre Identität
an den institutionellen Rollen festmachen können, die ihnen die Gesell-
schaft zuweist"32. Standesehre war weiterhin durch einen verbalen
Ehrbegriff verletzbar, zumindest durch Standesgenossen, ohne daß ab-
gewartet werden mußte, ob Beschränkungen der "standesgemäßen Ent-
faltung" eintraten; denn die Ehre bestand in der jederzeit aktuellen
Integration, die notfalls vom Beleidigungsopfer selbst arrangiert wer-
den mußte (es mußte selbst seinen Ehrenschild reinhalten, d. h. ihn auch
von Beschimpfungen durch dritte Personen seinerseits reinigen).
Schließlich und hauptsächlich war der Angriff auf die Ehre immer zu-
gleich auch ein Angriff auf die gesellschaftliche Hierarchie, so daß die
Abwehr im öffentlichen Interesse lag.
Anders bei der nur-personal verstandenen bürgerlichen Ehre: Sie ist
- mit Ausnahme der Ehre von Angehörigen formaler Organisationen33
- überhaupt nicht mehr positiv definiert, also inhaltsleer; infolge-
dessen finden sich im Strafrecht häufig die schwer verständlichen Aus-
sagen, Ehre sei das Fehlen VOn Unehre (als ob sich Vermögen durch das
Fehlen von Schulden oder ein richtiger Gedanke durch das Fehlen von
Unsinn definieren ließe), was dann zur Folge hat, daß Ehre nicht stei-
gerungsfähig sein soll34 (als ob sich jeder Dilettant mit Mozart gleich-
setzen könnte). Ginge es um diese Ehre, so könnte man deren Wah-
rung den Betroffenen zumindest in dem Maß selbst überlassen, in dem
sie ihr Eigentum selbst wahren müssen; d. h. vor vorübergehenden
Ehrdepossedierungen bedürfte es in der Regel keines Strafrechts-
schutzes.
Aber diese nur-personale Sicht ist verengt. So wie die Differenzierung
der Stände ehemals im öffentlichen Interesse lag, so muß auch ein
öffentliches Interesse am Schutz vor Beleidigung nachgewiesen werden,
wenn dieser Schutz als Strafrechtsschutz überhaupt Bestand haben
soll. Ein Nachweis gelingt, und zwar durch Berücksichtigung des ein-
gangs mit Jeschecks Worten beschriebenen "Gesamtsystem(s) der
,sozialen Kontrolle"':35 Die bürgerliche Gesellschaft kommt mit recht-
lich-formeller Zurechnung nicht aus, weil die formelle Zurechnung
weder stets hinreichend intensiv wirkt noch sämtliche Fälle betrifft, in
denen eine normative Garantie erforderlich ist. Die Zurechnung gesell-
schaftlich relevanter Verhaltens folgen ist nicht nur eine rechtliche
oder gar nur strafrechtliche "Technik", komplexe Situationen so zu glie-
dern, daß stabile Erwartungen möglich sind, sondern reicht weit über
den (straf-)rechtlichen Bereich hinaus, und zwar als Zurechnung
"schlechter" wie "guter" Werke. Die Kommunikation über konkret zu-
rechenbares Verhalten ist in doppelter Hinsicht erwünscht. Zum einen
dient sie der Vergewisserung, welche Normen gelten; insoweit funktio-
niert sie selbst dann noch, wenn ein zurechenbares Verhalten vorge-
täuscht wird. Zum anderen dient sie aber auch der Information, was
sich an zurechenbarem Verhalten ereignet hat, damit der Informations-
empfänger daran diejenigen Konsequenzen knüpfen kann, ohne die
jede Zurechnung nur ein ineffektives Gebilde wäre: Vorteile für
lobende Zurechnung und Nachteile für tadelnde. Dieser zuletzt ge-
nannte Zweck kann bei lügenhaften Berichten (oder falschen Wertun-
gen) nicht erreicht werden. Es kann auch nicht dem Informationsemp-
fänger überlassen bleiben, selbst achtzugeben; vielmehr besteht ein
öffentliches Interesse an zutreffender Information, weil zurechenbares
Verhalten nur Konsequenzen im gesellschaftlichen Leben zeitigt, wenn
es bekanntgeworden ist. Anders als beim nur-personalen Ansatz geht
es also nicht um ein weitreichendes Recht auf Wahrheit, sondern nur
um ein schmales Recht auf wahre Information in einem derjenigen
Bereiche, in denen ein Informiert-Werden zur Stützung der Zurechnung
allgemein erwünscht ist. Und selbst in diesem Bereich besteht das Recht
34 Hirsch (Fn. 14), S. 45 ff., 55 ff.; Tenckhofj, Die Bedeutung des Ehrbegriffs
für die Systematik der Beleidigungstatbestände, 1974, S. 50 ff., 181; Welzel,
Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S.303; Herdegen, in: LK, 9. Aufl.,
Bd.2, 1974, Rdn.8 vor § 185; Rudolphi, in: SK, Bd. 2, 3. Aufl., Rdn. 3 vor § 185.
35 Siehe oben zu Fn. 2.
Die Aufgabe des strafrechtlichen Ehrenschutzes 637
V.
1. Die Berücksichtigung des öffentlichen Interesses bringt eine Er-
klärung für die Beschränkung des beleidigenden Verhaltens auf Auße-
rungen. Ginge es um den Achtungsanspruch oder um Selbständigkeit,
36 Die ansonsten gegebenen Vorschläge zur Deutung der Vorschrift über-
zeugen nicht. Soweit ein Fortbestand der Ehre über den Tod hinaus ange-
nommen wird (Hirsch [Fn. 14], S. 126 f.; Welzel [Fn. 34], S.305; Herdegen
[Fn. 34], § 185 Rdn.4; alle unter Berufung auf ein zivilrechtliches post-
mortales Persönlichkeitsrecht), entsteht das Problem, wegen welcher Person
diese Ehre schutzbedürftig sein soll; der Tote ist jedenfalls dem "irdischen
Ehrenschutz entrückt" (MaurachjSchroeder, Strafrecht BT, Bd.l, 6. Aufl. 1977,
S.202); die hinterbliebenen Angehörigen (auch die nach § 194 Abs.2 StGB
Antragsberechtigten) können selbst die Täter sein, so daß nur die Allge-
meinheit mit ihrem Interesse an einer unverfälschten Zurechnung bleibt:
Auf den Ehrfortbestand kommt es also nicht an. Soweit ein Ehrfortbestand
verneint wird (so seit Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts
BT, Bd.l, 2. Aufl. 1902, S.139; RG 13 S. 95 f. die überwiegende Lehre), muß
§ 189 StGB als Delikt gegen "Familienehre" oder gegen das (berechtigte!
siehe Hirsch, S. 132) Pietätsgefühl (dazu kritisch Rüping, Der Schutz der
Pietät, GA 1977, 299 ff., 304 f.) der Angehörigen gedeutet werden (Maurach/
Schroeder, S.218; Lackner, 15. Aufl. 1983, § 189 Rdn. 1); ersteres ist eine
unerklärliche Unsterblichkeitserklärung für die Familie als Gemeinschaft
aus Lebendigen und Toten; letzteres ist die Kapitulation bei dem Bemühen,
die Vorschrift beleidigungsrechtlich zu deuten, und kann auch nicht erklä-
ren, weshalb das Gefühl eines potentiellen Täters Gegenstand des Schutzes
sein soll; beidemal muß - abgesehen von der Problematik eines Schlusses
vom Antragsrecht auf das Unrecht - in den Fällen der antragsfreien Ver-
folgung nach § 194 Abs.2 StGB die Suche nach einem Rechtsgut fortgesetzt
werden. - Dies alles erledigt sich mit dem Ansatz bei einer Verfälschung
der Zurechnung. Gemeint ist die aus der lebendigen Erinnerung erfolgende
Zurechnung. Fehlerhafte historische Forschung berührt das gegenwärtige
Zurechnungssystem nicht (hierzu eingehend Hirsch, S. 139 f. mit Fn. 35).
638 Günther Jakobs
37 BGHSt.9, 240 ff., 241; Lenckner, in: SchönkejSchröder, 21. Aufl. 1982,
§ 164 Rdn. 8 m. w. N.
38 Siehe auch neuestens BGH GA 1984, 95 f.
a9 Siehe emmer in: Schönke!Schröder (Fn. 37), § 263 Rdn. 37.
40 Und wird teils von der Nötigung aufgefangen. Insbesondere besteht
kein Bedürfnis, den Zwang zur Duldung oder Vornahme entwürdigenden
Verhaltens zur Beleidigung zu stilisieren; ausufernd aber TenckhojJ (Fn.34),
S. 176 ff. - Der Verweis auf die Nötigung soll nicht zu dem Schluß verfüh-
ren, aus jedem Zwang zur Preisgabe eines privaten Interesses dürfe eine
rechtswidrige Nötigung hergeleitet werden. Gerade umgekehrt: Es bedarf
einer besonderen Begründung (die allein mit einem Verweis auf eine
Zwangswirkung nicht geleistet ist), wenn der Erreger einer Zwangslage für
diese Lage und ihre Folgen zuständig sein soll. Selbst der "klassische", auf
Körperwirkung abstellende Gewaltbegriff leidet an dem Mangel, daß er die
Haftung des Täters für das abgenötigte Verhalten, also für das spezifische
Freiheitsverletzungsunrecht, aus dem Unrecht der Körperverletzung gewinnt
(so zuletzt Bergmann, Das Unrecht der Nötigung, 1983, S. 123 Fn.219). Auch
wenn man "Verletzungsgewalt" als mißbilligte "Verkehrsform" interpretiert
(so zuletzt Keller, Strafrechtlicher Gewaltbegriff und Staatsgewalt, 1982,
S.24, 242 und passim), hat man allein damit noch kein Argument dafür
gewonnen, zum Schutz vor solchen Verkehrsformen neben Totschlag oder
Körperverletzung oder Freiheitsberaubung auch ein Nötigungsdelikt zu ent-
wickeln. Dazu bedürfte es des Nachweises eines - durch den Schutz von
Leben, Leib und Freiheit noch nicht befriedigten - öffentlichen Interesses
an der Zurechnung der Verletzungsfolge "Freiheitsbeeinträchtigung" , ganz
parallel zum hier gesuchten öffentlichen Interesse am Ehrenschutz.
Die Aufgabe des strafrechtlichen Ehrenschutzes 639
noch Unehre. Nicht nur Hitler war kein Mann von - auch nur mini-
maler - Ehre. Aber Beleidigung reicht weiter, als positiv definierte
Ehre reicht; denn auch die übersteigerte Darstellung einer bestehen-
den Ehrlosigkeit - sei es durch das Erdichten "böser" Werke oder
durch das Leugnen "guter" - ist Beleidigung, weil sie Verfälschung
der Zurechnung (abstrakt) zu Lasten einer Person ist. Wie die Erhö-
hung der Schulden einer Person, die kein verfügbares Vermögen mehr
besitzt, Vermögensschädigung ist, weil und solange der Weg zu ver-
fügbarem Vermögen verlängert wird, so kann auch der Ehrlose belei-
digt werden, weil und solange der Weg zur Ehrenhaftigkeit verlängert
wird. Die Beleidigung knüpft an die Grenzenlosigkeit möglicher Un-
ehre an, wie die Vermögensdelikte an die Grenzenlosigkeit möglicher
Schulden anknüpfen; gegen die Begrenztheit positiv definierter Ehre
wie verfügbaren Vermögens besagt das nichts. Die Norm gegen Belei-
digung schützt also nicht in jedem Fall positiv vorhandene Ehre, son-
dern schützt vor der Verschlechterung des Ehrbestands, der aber schon
vor der Tat negativ gewesen sein kann. Beleidigung ist Verfälschung
der Zurechnung zu Lasten einer Person; Ehre ist zugunsten einer Per-
son angebrachte Zurechnung als verdienstlich.
Die Gegenthese, daß jeder Mensch stets schon kraft seines Person-
Seins Ehre besitze41 , ist aus der Wendung gegen besonders hohe oder
besonders niedrige Standesehren entstanden und verwechselt die un-
verwirkbare Ehrfähigkeit aller Menschen mit dem Ehrbestand (als
könne man aus der zivilrechtlichen Rechtsfähigkeit auf einen Mindest-
bestand an Vermögen schließen). Die Verwechslung liegt nahe, weil die
Wendung gegen die Standesehren nicht von einem neuen Ehrverständ-
nis vorangetrieben wurde, sondern von der (Wieder-) Entdeckung, "daß
es eine Menschlichkeit hinter und unterhalb der von der Gesellschaft
auferlegten Rollen und Normen gibt", daß also der Mensch Würde hat;
"die moderne Entdeckung der Würde fand gerade inmitten der Trüm-
mer abgehalfte(r)ter Ehrbegriffe statt"42. Reaktiviert man den Ehrbe-
griff, so führt das freilich nicht dazu, daß jede Ehre oder Unehre, die
man in einer der sozialen Rollen erwirbt, in denen man lebt, in die
anderen Rollen durchschlägt. Beispiel: Der Warenhaus dieb mag in
seiner Rolle als liebevoller Familienvater frei von Unehre sein. Aber
Taten und Untaten, in denen sich die generelle Lebenshaltung der
Person zeigt, wirken sich in allen ehrbezogenen Rollen aus, bei denen
es auf die Lebenshaltung ankommt; nur die Ehre in Bereichen einiger-
durch den Leistenden folgt (Bescheidenheit ziert nur, weil sie selten
ist), so daß die Leugnung der Leistung den Urheber als Angeber hin-
stellt.
41'
KARL LACKNER
I.
Es hat den Anschein, als sollte die Diskussion um den nach überwie-
gender Meinung mißratenen, aber möglicherweise gar nicht durchgrei-
fend verbesserungsfähigen Tatbestand des Vollrauschs (§ 323 a)1 niemals
zur Ruhe kommen. Dabei geht es keineswegs nur um Detailfragen der
Auslegung, die mehr oder weniger bei jedem Tatbestand zu beantwor-
ten sind. Vielmehr konzentriert sich das Interesse immer wieder neu
auf die Grundstruktur der Vorschrift, auf ihre Vereinbarkeit mit dem
Schuldprinzip und auf die dogmatischen Voraussetzungen und Gren-
zen ihrer Anwendung. Vor allem fällt auf, daß nicht nur das Schrift-
tum durch einen tiefgreifenden Dissens und eine Vielzahl einander
widersprechender Konzeptionen gekennzeichnet ist, sondern daß sich
auch die Rechtsprechung in einem fortwährenden Umbruch befindet,
der die Einheitlichkeit der strafgerichtlichen Praxis gefährdet und
dessen Ende nicht absehbar ist.
tat als bloße Bedingung der Strafbarkeit einordnete5 und bei Zweifeln
an der Schuld unfähigkeit des Täters darauf abstellte, ob der "sichere
Bereich des § 21 (früher § 51 II) 6 überschritten" war7 •
Unausgetragen und bis heute nicht ausdrücklich beantwortet blieb
lediglich die zwischen den Strafsenaten des BGH jahrelang umstrittene,
aber nur selten entscheidungserhebliche Frage, ob zur Unrechtsbegrün-
dung das Herbeiführen des Vollrausches schon für sich allein genügt8
oder ob eine - im Regelfall allerdings ohne weiteres zu bejahende -
Voraussicht oder Voraussehbarkeit irgendwelcher strafrechtlich rele-
vanter Ausschreitungen im Rausch hinzukommen muß 9 • Es hat den
Anschein, daß sich innerhalb des Gerichts die Deutung als rein abstrak-
tes Gefährdungsdelikt durchgesetzt hat; denn seit langer Zeit beziehen
sich alle einschlägigen Entscheidungen zur Charakterisierung der Tat-
bestandsstruktur auf BGHSt. 16, 124, wo die Streitfrage ausführlich be-
handelt und im Sinne der weiten Auslegung beantwortet worden ist.
Von dieser nicht sehr weittragenden Unklarheit abgesehen, hat sich im
Laufe der ersten Jahre nach dem Beschluß des Großen Senats eine
relativ konforme Rechtsprechung herausgebildet. Das änderte sich auch
nicht, als der § 330a a. F. durch das EGStGB umgestaltet wurde und
seine bis heute geltende Fassung erhieItl°. Da aus den Gesetzesmateria-
lien eindeutig hervorging, daß der Gesetzgeber mit der Neufassung im
wesentlichen nur die bisherige Rechtsprechung und vor allem die in
BGHSt.9, 390 anerkannte Möglichkeit der Verurteilung auch bei zwei-
felhafter Schuld unfähigkeit bestätigen, sonst aber keine Änderung der
Rechtslage bewirken wollte 1t, sah auch der BGH keinen Anlaß zur
Kursänderung. Die Formel von der "Überschreitung des sicheren Be-
reichs des § 21" blieb nach wie vor maßgebend l2 •
Dabei wäre es möglicherweise geblieben, wenn es nicht zu einer Kon-
troverse zwischen mehreren Oberlandesgerichten über den sachlichen
Gehalt dieser Formel gekommen wäre. Während das BayObLG seinen
2. Mir scheint, daß der BGH es mit gutem Grund vermieden hat, sich
auf den auch heute noch keineswegs ausgetragenen Meinungsstreit
über die Grundstruktur des § 323 a einzulassen. Wenn er sich insoweit
unter Hinweis auf seine bisherige Rechtsprechung mit einer Charakte-
risierung des Tatbestandes als "Gefährdungsdelikt" begnügt 20 und da-
mit, wie die Bezugnahme auf BGHSt. 16, 124 beweist, ein abstraktes
Gefährdungsdelikt gemeint hat, so dürfte in dieser Zurückhaltung zum
Ausdruck kommen, daß er eine Wiederaufnahme des Grundlagenstreits
beim gegenwärtigen Meinungsstand nicht für erfolgversprechend ge-
halten hat. Die möglicherweise unüberwindbare und im Verlauf der
Diskussion zunehmend evident gewordene Schwierigkeit liegt darin,
daß die strafrechtliche Erfassung der Delinquenz Volltrunkener in jeder
wie auch immer gearteten Form einerseits schwerwiegenden dogmati-
schen Einwendungen ausgesetzt, andererseits aber trotz all ihrer Frag-
würdigkeit schlechthin "notwendig" ist21 . Eine Analyse auch des neue-
ren Schrifttums hat mich in meiner schon vor Jahren geäußerten An-
sicht bestärkt, die ich damals wie folgt formuliert habe: "Deshalb kann
man ernstlich auch nicht bestreiten, daß von den im Schrifttum unter-
nommenen Lösungsversuchen jeder gewichtige Argumente für sich
hat .... überdies wird sich jeder Kritiker damit abfinden müssen, daß
eine unter allen Gesichtspunkten befriedigende Lösung nicht erreich-
bar ist. Das dürfte der seit Jahren unentschiedene wissenschaftliche
Stellungskrieg um den Tatbestand zur Evidenz gebracht haben"22. Diese
Beurteilung soll hier nur durch einige wenige Hinweise auf die wider-
streitenden Positionen zum geltenden Recht verdeutlicht, aber im Hin-
blick auf die andersartige Zweckrichtung dieses Beitrages nicht weiter
vertieft werden:
Auch heute noch - und zwar in jüngster Vergangenheit verstärkt -
wird die Meinung vertreten, daß es sich bei § 323 a entgegen dem Ge-
setzeswortlaut nicht um einen selbständigen Tatbestand, sondern um
eine partielle Ausschaltung des § 20 handele23 • Diese und einige andere
23 Vgl. etwa von Weber, MDR 1952, 641 und ders., GA 1958, 257; Hardwig,
Festschrift für Eb. Schmidt, 1961, S.459 und ders., GA 1964, 140; Streng, JZ
1984, 114, 119; Neumann, Strukturprobleme der Zurechnung in Fällen eines
strafbarkeitsrelevanten "Vorverschuldens" (noch nicht veröffentlichte Mün-
chener Habilitationsschrift).
24 Vgl. etwa Maurach, Schuld und Verantwortung im Strafrecht, 1948,
S. 37, 49, 109, 116.
25 Der Grund, warum die rechtswidrige Tat dem Täter als Person zu-
gerechnet, d. h. ihm als schuldhaft vorgeworfen oder auch nur als von ihm
zu verantworten zugeschrieben wird, ist im Schrifttum nach wie vor um-
stritten (vgl. etwa Roxin, Festschrift für Henkel, 1974, S. 125; Stratenwerth,
Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips, 1977; Jescheck, Lehrbuch
des Strafrechts - Allgemeiner Teil, 3. Auf!. 1978, §§ 37 - 39; Jakobs, Straf-
recht - Allgemeiner Teil, 1983, Abschn.17, Rdn. 1 fL), aber für die hier zu
beantwortende Frage wohl kaum' erheblich.
26 Deshalb kann auch der Ansicht von Streng (JZ 1984, 114, 118) nicht
zugestimmt werden, daß ein generalpräventiv fundierter Schuldbegriff sich
über diese Schwierigkeit hinwegsetzen könne. Soweit im Schrifttum ver-
sucht wird, das Unrecht des Sich-Berauschens als durch die Rauschtat "auf-
schiebend bedingt" zu verstehen, es also nur für den Fall zu bejahen, daß es
sich in einer nachfolgenden Rauschtat realisiert (so Jakobs [Fn. 25], Abschn.
10, Rdn.2 und Abschn.17, Rdn.61), so ist das nur ein Kunstgriff, mit dem
die in Wahrheit bestehende rechtliche Mißbilligung verdeckt wird. Solche
rückwirkende Unrechtsbegründung widerspricht dem allgemeinen Prinzip,
daß Unrecht und Schuld auf den Zeitpunkt der Tathandlung zu beziehen
sind und nicht rückwirkend zum Nachteil des Täters fingiert werden kön-
nen. Für den Fall das dolus subsequens gehört das zu den gänzlich unbe-
strittenen dogmatischen Einsichten.
650 Karl Lackner
27 Diese und weitere Vorteile hat jüngst erst Streng (Fn.26) sehr an-
schaulich und einleuchtend herausgearbeitet.
28 Vgl. namentlich die Begründung zu § 351 E 1962 (BT-Drucks. IV/650
S. 536) und zu Art. 18 Nr. 169 des EGStGB (BT-Drucks. V/550 S. 268).
29 Das gilt vor allem für diejenigen, die eine aus den Umständen zu fol-
gernde (gemeingefährliche) Neigung des Täters zur Begehung strafrechtlich
relevanter Ausschreitungen im Rausch fordern, wie z. B. Lange, JR 1957,
242; Heinitz, JR 1957, 126, 347; Hirsch, ZStW, Beiheft 1981, 2; Kahlmusch/
Lange, Strafgesetzbuch, 43. Auf!. 1961, § 330 a Anm.III; Welzel, Das Deutsche
Strafrecht, 11. Auf!. 1969, § 68, II 1 b.
30 Zwischen der Beschränkung des Tatbestandes auf Fälle gemeingefähr-
licher Berauschung auf der einen und seiner Deutung als rein abstraktes
Gefährdungsdelikt auf der anderen Seite stehen deshalb eine Anzahl wei-
terer Konzeptionen, die neben der Herbeiführung eines die Schuldfähigkeit
ausschließenden Rausches eine aus den Umständen des Einzelfalls zu fol-
gernde, meist allerdings nur subjektiv beschriebene Möglichkeit der Bege-
hung von strafrechtlich relevanten Ausschreitungen im Rausch fordern.
Hierher gehört namentlich die Auffassung des 5. Strafsenats (Fn.9), ferner
im Schrifttum die - allerdings unterschiedlich begründeten - Modelle von
Bemmann, GA 1961, 65; emmer, Der Vollrauschtatbestand als abstraktes
Gefährdungsdelikt, 1962; Ranft, MDR 1972, 737 und JA 1983, 193; Gallner,
MDR 1976, 182. Diese Lösungen sollen im folgenden nicht kritisch gewürdigt
werden (dazu Lackner, Jus 1968, 215), weil sie auf dem Postulat einer nicht
zureichend geklärten inneren Beziehung zwischen Rausch und Rauschtat
beruhen und weil die von ihnen angestrebte Beschränkung des Anwen-
dungsbereiches von § 323 a auch begründbar ist, wenn die Tat in übereinstim-
mung mit dem Gesetzeswartlaut als rein abstraktes Gefährdungsdelikt ver-
standen wird (vgl. dazu den weiteren Text).
Neuorientierung im Bereich des Vollrauschtatbestandes? 651
31 So schon Schröder, DRiZ 1958, 219; Bruns, JZ 1958, 105; im neue ren
Schrifttum namentlich Puppe, GA 1974, 98 und Jura 1982, 281; Nlontenbruck,
GA 1978, 225 und ders., JR 1978, 209; Horn, JR 1980, 1 und ders., in: SK -
Besonderer Teil, 2. Aufl. 1980, § 323 a Rdn. 2; Dencker, NJW 1980, 2159.
32 Vgl. Fn. 28.
H.
42 Sie ist namentlich von Puppe, Horn und Dencker (Fn.31) heraus-
gearbeitet worden.
43 Vgl. dazu die Nachw. im folgenden Text.
3. Diese Lage ist vor allem deshalb so besonders mißlich, weil das
Schrifttum eine ganze Anzahl von Konzeptionen zur Bewältigung der
Problematik angeboten hat, die in ihren Ergebnissen weit auseinander-
gehen. Sie stimmen zwar alle in dem Bestreben überein, die Ausle-
gung des Merkmals "Rausch" an Sinn und Aufgabe des § 323 a zu orien-
tieren, legen dabei aber je nach ihrer Grundeinstellung zu der dogma-
tisch und kriminalpolitisch umstrittenen Vorschrift höchst unterschied-
liche Vorstellungen zugrunde. Im folgenden soll nicht versucht werden,
den Gesamtbereich der nunmehr zweifelhaft gewordenen Rechtslage
auszumachen und umfassend zu analysieren. Das wäre schon aus Raum-
gründen nicht möglich. Es geht nur um das wesentlich bescheidenere
Ziel, unter kritischer Würdigung des bis heute vorliegenden Materials
einen Weg ausfindig zu machen, auf dem der Rechtsprechung etwas mehr
Rechtssicherheit geboten und die Möglichkeit einer praktikableren An-
wendung des Tatbestandes eröffnet werden kann.
a) Den wohl weitesten Anwendungsbereich räumt dem § 323 a wahr-
scheinlich eine breite Meinungsgruppe im Schrifttum ein, die unter
bloßer Wiederholung des Gesetzswortlauts auf das Vorliegen eines
"Rausches" abstellt und die nähere Konkretisierung des hierzu erfor-
derlichen Schweregrades der Rechtsprechung überläßt 45 • Offenbar soll
damit auf den Sprachsinn des Begriffs verwiesen und dem Tatrichter
die Würdigung überlassen werden, ob eine auf Rauschmittel rückführ-
bare Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes quantitativ von solcher
Erheblichkeit ist, daß sie im umgangssprachlichen Sinne als Rausch ge-
wertet werden kann46 • Unter dem Gesichtspunkt der Normbestimmt-
heit wäre das nicht unproblematisch, weil dann die Konturlosigkeit des
47 Vgl. dazu namentlich Schewe, BA 1976, 87 und ZStW, Beiheft 1981, 39,
60 sowie Gerchow, Festschrift für Sarstedt, 1981, S.I, deren Einwendungen
gegen die Möglichkeit einer qualitativen Eingrenzung des Rauschbegriffs
bisher nicht ausgeräumt werden konnten.
48 Wenn der Einzelfall keine Besonderheiten aufweist, ist nach einer in
der Rechtsprechung praktizierten Faustregel mit verminderter Schuldfähig-
keit erst zu rechnen, wenn eine Blutalkoholkonzentration von 2 Promille
erreicht wurde (st. Rspr.; Nachweise bei Lackner, 15. Auf!. 1983, § 21 Anm.2).
49 Deshalb verneint die Rechtsprechung in dem immerhin vergleichbaren,
wenn auch nicht völlig gleichliegenden Zusammenhang des § 64 ausdrücklich,
daß ein Rausch verminderte Schuldfähigkeit des Täters voraussetze (BGH
JR 1957, 225) .
• 0 Vgl. etwa BVerfGE 26,41 und 57, 259, 262.
Neuorientierung im Bereich des Vollrauschtatbestandes? 657
b) Anders steht es aber mit dem Einwand, daß § 323 a nach der Prä-
misse, die hier zugrunde gelegt wird 5t, ein abstraktes Gefährdungs-
delikt normiert, daß er also nur ein für den Bestand strafrechtlicher
Rechtsgüter typischerweise gefährliches Verhalten mit Strafe bedroht52 .
Dabei ist zunächst zweierlei klarzustellen:
Zum einen kann die Gefährlichkeit, die das Gesetz hier im Auge hat,
nur in der Möglichkeit bestehen, daß ein Mensch durch RauschmitteI-
genuß seine Fähigkeit, sich von der Rechtspflicht zu normgemäßem Ver-
halten bestimmen zu lassen, vermindert oder ganz zerstört, d. h. die
"durch Zivilisation habituell gewordenen"53 Hemmungen gegen die
Begehung rechtswidriger Taten ganz oder teilweise einbüßt. Diese
Einschränkung des Gefährlichkeitsaspekts auf die Beeinträchtigung der
Motivierbarkeit durch Normen folgt aus dem Umstand, daß die objek-
tive Bedingung der Strafbarkeit die Anwendung des Tatbestandes nur
freigibt, wenn eine rechtswidrige Tat, also eine dem Menschen zu-
rechenbare Willenshandlung, begangen wurde, deren Defizit im Ver-
hältnis zu einer Straftat allein darin besteht, daß es an solcher Motivier-
barkeit gefehlt hat oder daß dies nicht auszuschließen ist. Diesen inne-
ren Zusammenhang hat Dencker eingehend herausgearbeitet und über-
zeugend begründet54 . - Zum anderen kann das abstrakte Gefährlich-
keitsurteil nicht allein auf den Konsum von Rauschmitteln und auch
nicht auf das Herbeiführen eines Rausches im umgangssprachlichen
Sinne gestützt werden. Die Befürworter des Modells "abstraktes Ge-
fährdungsdelikt" haben niemals bestritten, daß z. B. die dem § 323 a
zugrundeliegende abstrakte Gefahr nicht schon jeglichem Trinken von
Alkohol oder jedem Alkoholrausch innewohnt, daß vielmehr das Gefahr-
urteil erst da anknüpfen kann, wo der Rausch ein Ausmaß erreicht,
das ihn nach naturwissenschaftlicher Erfahrung generell geeignet
macht, die Motivierbarkeit durch Normen von Menschen mit normalen
psychischen Fähigkeiten signifikant zu beeinträchtigen. Vor allem des-
halb wurde häufig ausdrücklich betont, daß "nicht das Trinken von
Alkohol schlechthin, sondern nur das Trinken in einem Ausmaß, das
die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aufhebt", verboten sei55 . Aller-
dings sind die dogmatischen Schwierigkeiten, die sich aus den wechsel-
51 Oben I, 2.
52 über diese Grundstruktur besteht Einigkeit. Umstritten ist lediglich,
ob und ggfs. unter welchen näheren Voraussetzungen die Strafbarkeit ent-
fällt, wenn nach den Umständen des Einzelfalls die Entstehung einer Gefahr
von vornherein ausgeschlossen war (dazu z. B. BGHSt.26, 121; BGH NJW
1982, 2329; Brehm, Zur Dogmatik des abstrakten Gefährdungsdelikts, 1973;
Schroeder, ZStW, Beiheft 1982, 1, 2).
53 Jakobs (Fn. 25), Abschn.17, Rdn. 59.
54 NJW 1980,2159,2163; ebenso Puppe, Jura 1982, 281, 286.
55 Lackner, Jus 1968,215,217 m. w. N.
56 GA 1974, 98.
57 Puppe, JA 1982,281,285.
58 Fn.48.
59 JA 1982,287.
60 Oben II, 2.
Neuorientierung im Bereich des Vollrauschtatbestandes? 659
bb) Ebenfalls auf der Suche nach einem solchen selbständigen Maß-
stab hat Montenbruek 63 empfohlen, den Mindestschweregrad des
Rauschs an der im Kraftverkehr erforderlichen "Fahrtüchtigkeit"
(§ 316 I) zu orientieren, damit aber durchgängig Ablehnung erfahren 84,
und zwar mit Recht: Fahrtüchtigkeit schließt die Fähigkeit zur Bewälti-
gung fahrtechnischer Leistungen ein, die durch Rauschmitteleinwir-
kung schon sehr viel früher und differenzierter beeinträchtigt werden
kann als die allgemeine Motivierbarkeit durch Normen. Ihre Voraus-
setzungen liegen mindestens zu einem erheblichen Teil auf einer an-
deren Ebene und schließen deshalb jede Vergleichbarkeit aus.
ce) Dem gesuchten Maßstab näher kommt dagegen ein Vorschlag von
Horn, der - ebenfalls zum Zwecke der selbständigen Kennzeichnung der
Mindestschwere des Rauschs-auf einen körperlich-psychischen Zustand
abstellt, in dem die Gesamtleistungsfähigkeit des Täters so weit herab-
gesetzt ist, daß er "beim Auftreten auch schwieriger Entscheidungs-
situationen, wie sie jederzeit eintreten können, sich nicht mehr sicher
zu steuern vermag"65. Gegenüber der Konzeption von Montenbruek
schränkt dieses Modell den Bewertungsmaßstab zutreffend auf die
Steuerungsfähigkeit und damit auf die Motivierbarkeit durch Normen
42'
660 Karl Lackner
ein. Von der Konzeption Puppes unterscheidet es sich durch eine Sen-
kung dieses Maßstabes, indem es Sozialuntüchtigkeit nicht erst beim
Versagen vor den "normalen", sondern schon vor "schwierigen", im
Leben jedoch jederzeit möglichen, Anforderungen der Rechtsordung be-
jaht. Es liegt deshalb auf einer mittleren Linie und hat in diesem Punkt
gewisse Ähnlichkeit mit einem Vorschlag von Dencker, der den gesuch-
ten Schweregrad als einen Zustand definiert, "in dem der Täter infolge
Rauschmittelkonsums hinsichtlich irgendeines (Straf-)Normverstoßes in
irgendeiner Situation bereits nur noch vermindert schuldfähig wäre"ß3.
Der Unterschied dieser beiden Modelle besteht darin, daß Horn ebenso
wie Puppe den Maßstab seiner "Sozialuntüchtigkeit" selbständig, d. h.
unabhängig von der nur für die Strafbarkeitsbedingung relevanten
Schuld fähigkeit , bestimmt, während Dencker den Sinn- und Zweckzu-
sammenhang zwischen Tatbestand und Strafbarkeitsbedingung in die
Beurteilung einbezieht. Seine Begriffsbestimmung dürfte dem gesetz-
geberischen Anliegen des § 323 a sehr präzise entsprechen: Aus dem
Zusammenspiel von Berauschung und Rauschtat läßt sich ableiten, daß
es dem Gesetz ersichtlich darauf ankommt, solche Rauschzustände zu
verhüten, bei denen die normalerweise funktionierenden Hemmungen
vor strafrechtsrelevanten Ausschreitungen so weit abgebaut sind, daß
die Verantwortlichkeit des Täters für das, was immer er auch im Rausch
anrichten mag, nicht mehr sicher gewährleistet erscheint. Will man
diese Grenze abstrakt, d. h. ohne Berücksichtigung von Besonderheiten
des Einzelfalls, bestimmen, so wird man folgendes zu bedenken haben:
Die erheblich verminderte Schuldfähigkeit setzt einen Zustand herab-
gesetzter Motivierbarkeit voraus, die das Gesetz für so gravierend hält,
daß es die Strafdrohungen aller Tatbestände einschneidend ermäßigt.
Ist dieser Zustand auch nur in bezug auf irgendein strafrechtliches Ver-
bot oder Gebot erreicht, dann besteht die generelle Möglichkeit, daß es
zu einer Tat kommt, für die der Täter nicht mehr voll einzustehen hat.
Wenn nun hinzukommt, daß dieses so beschriebene Maß herabgesetzter
Motivierbarkeit mit einer solchen Gewißheit bejaht werden kann, daß
jeder vernünftige Zweifel schweigt, dann ist - wiederum bei generel-
ler, vom Einzelfall abstrahierender Betrachtung - zugleich die Grau-
zone erreicht, in der nicht mehr gewährleistet ist, daß der Täter für
seine Tat überhaupt verantwortlich gemacht werden kann. Die Formel
von Dencker fängt diese Zusammenhänge nach meiner Ansicht sehr
treffend ein.
dd) Normtheoretisch dürften beide vorstehend erörterten Lösungen
vertretbar sein, die von Horn, weil sie folgerichtig aus der Struktur
des abstrakten Gefährdungsdelikts einen Mindestschweregrad des
Rauschs in dem Sinne ableitet, daß der Täter möglichen Anforderungen
66 Fn.54.
Neuorientierung im Bereich des Vollrauschtatbestandes? 661
funktion postuliert, die den Weg zur Bestrafung nur freigibt, wenn der
nur sehr unbestimmt beschreibbare Gefährlichkeitsgrad des Rausches 71
in der Rauschtat zweifelsfrei auffindbar ist. Damit wird eine aus rechts-
staatlichen Gründen unerläßliche Beschränkung der Strafbarkeit auch
in dem Bereich erzielt, in dem die Schuldunfähigkeit des Täters nicht
festgestellt, sondern nur nicht ausschließbar ist.
111.
Der BGH hat seine Entscheidung übrigens nicht nur auf den Geset-
zeswortlaut gestützt ("wenn das nicht auszuschließen ist"), sondern auch
eine legitimierende Begründung dafür zu geben versucht, warum bei
Zweifeln an der vollen Schuldunfähigkeit des Täters die Bestrafung aus
dem Vollrauschtatbestand zulässig ist, obwohl doch die Möglichkeit offen
bleibt, daß in Wahrheit wegen der Rauschtat zu strafen wäre. Das Ge-
richt hat sich dafür auf ein zwischen dem Vollrauschtatbestand und der
Rauschtat angeblich bestehendes Stufenverhältnis berufen. Ob diese
Legitimation überhaupt erforderlich war, ist zweifelhaft. Denn bei Deu-
tung des § 323 a als abstraktes Gefährdungsdelikt fallen auch schuld-
haft begangene Rauschtaten unter den Unrechtstatbestand. Sie werden
nur deshalb ausgeschieden, weil die objektive Strafbarkeitsbedingung
ihrer Einbeziehung entgegensteht. Es spricht deshalb alles dafür, daß
hier ein schlichtes, aus dem Gesetz unmittelbar abzuleitendes Subsidia-
ritätsverhältnis vorliegt (sog. materielle Subsidiarität)14. Die Frage
kann aber auf sich beruhen, weil Auswirkungen auf den sachlichen
Anwendungsbereich des Vollrauschtatbestandes nicht erkennbar sind.
1.
Auf einer nächtlichen Heimfahrt fiel B zwei Polizeibeamten durch
besonders unkonzentrierte, ruckartige und schnelle Fahrweise auf. Sie
überholten ihn außerorts und gaben mit beleuchtetem Haltestab Zei-
chen zum Anhalten. B machte zunächst hierzu Anstalten, gab dann
aber wieder Gas und fuhr mit hoher Geschwindigkeit davon. Die Be-
amten setzten nach und konnten ihn nach einigen Kilometern abermals
überholen. B setzte den rechten Blinker, um die Beamten glauben zu
machen, er wolle nunmehr anhalten, beschleunigte aber wiederum
plötzlich, überholte die Beamten von neuem und steuerte vorzeitig nach
rechts, um das dicht folgende Polizeifahrzeug nach rechts abzudrängen.
Eine Kollision wurde nur dadurch vermieden, daß der Fahrer des
Polizeifahrzeugs eine Vollbremsung vornahm, dadurch auf die Bö-
schung geriet und B durch einen Lenkruck wieder nach links steuerte.
B gewann Abstand vom Polizeifahrzeug, fuhr mit 100 km/h durch die
nächste Ortschaft, zweigte in eine Siedlung ab, wo er wohnte, schaltete
das Licht aus, um aus der Sicht der Beamten zu kommen, ließ sein
Fahrzeug unverschlossen stehen und verschwand in der Nacht. Die
nachfolgenden Polizisten nahmen im Innenraum des Fahrzeugs starken
Alkoholdunst wahr.
B hielt sich bis zum nächsten Mittag verborgen und stellte sich dann
der Polizei.
In beiden Tatsacheninstanzen hatte B vorgebracht, daß er
- vor der Fahrt keinerlei Alkohol getrunken habe (was seine Schwägerin -
Zeugin E -, bei der er sich bis zum Fahrtantritt aufgehalten hatte, in bei-
den Instanzen uneidlich bestätigt hatte),
- deswegen unkonzentriert und in Schlangenlinien gefahren sei, weil er am
Kassettenrecorder wegen eines verwickelten Bandes herumgemacht habe,
- der Polizei sei er kurzschlüssig davongefahren, weil er bei Grenzübertrit-
ten von Zöllnern auf sein "ausgeschriebenes" Fahrzeug angesprochen wor-
den sei und Schwierigkeiten wegen des Vorbesitzers befürchtet habe,
- der Alkoholdunst im Fahrzeug davon herrühre, daß ihm jüngst eine Flasche
Rotwein im Fond ausgelaufen sei!.
Nehmen wir an,
- die Zeugin sei nicht von vornherein unglaubhaft,
.- Spuren einer ausgelaufenen Weinflasche seien aufweisbar gewesen und
- die beiden Polizeibeamten hätten aufgrund der Fahrweise des Täters einen
volltrunkenen Fahrer vermutet,
und gehen wir ferner davon aus, daß die Berufungskammer demzu-
folge unter Würdigung der gesamten Sachsituation
- einen Vollrausch zwar nicht für wahrscheinlich, aber auch nicht mit der für
einen Schuldspruch erforderlichen Sicherheit für ausschließbar,
- Fahruntüchtigkeit des B aber für höchst wahrscheinlich gehalten hätte,
ohne aber auch nur hinreichende, geschweige denn sichere Anhaltspunkte
dafür zu finden, daß B erheblich vermindert schuldfähig gewesen war,
so hätte der Vorsitzende der Berufungskammer den Schöffen zu eröffnen
gehabt, daß der Angeklagte B nach der höchstrichterlichen Rechtspre-
chung (BGH VRS 50, 47 und 358; BGH NJW 1979, 1370) zufolge des Zwei-
felsgrundsatzes freizusprechen sei.
res dafür dargetan ist, daß seine Fahruntüchtigkeit über die Grenze
der erheblich verminderten Schuldfähigkeit gediehen war? Auch der
Hinweis auf den alles überragenden Zweifelsgrundsatz im Strafprozeß
bringt für kritische Schöffen nichts Aufhellendes. Vielmehr befielen
sie Zweifel, ob es überhaupt mit rechten Dingen zugeht, wenn einen
alkoholisierten, möglicherweise vollverantwortlichen Verkehrsrowdy
keine Strafe trifft, weil er vielleicht - wenn auch wenig wahrschein-
lich - sogar im verschuldeten und strafbaren Vollrausch fuhr.
11.
Fälle, in denen sich - namentlich bei hier vornehmlich interessie-
renden Trunkenheitsfahrten - der Vollrauschtatbestand nicht aus-
schließen, aber ebensowenig der Nachweis führen läßt, daß der "sichere
Bereich des § 21 StGB überschritten" ist, sind gar nicht so selten 2 • Hier-
bei ist nicht einmal in erster Linie an die Fälle zu denken, bei denen
es an einer Blutalkoholbestimmung überhaupt fehlt. Denn trotz Blut-
alkoholbestimmung können Zweifel, ob schon Schuldunfähigkeit vor-
liegt oder andererseits noch nicht einmal erheblich verminderte Schuld-
fähigkeit erreicht ist, besonders hervortreten: Es braucht sich nur für die
rückzurechnende Tatzeit ein Blutalkoholwert zu ergeben, der zwischen
2,4 und 3%0 gelegen haben kann, eine häufige Konstellation, die bereits
eintritt, wenn zwischen Tat und Blutentnahme einige Stunden ver-
gangen sind, da die stündlichen Rückrechnungswerte je nachdem, ob es
um die maximale oder um die Mindest-Tatzeit-Blutalkoholkonzentra-
tion geht, erheblich differieren3 • Auch können sich durch andere täter-
oder tatbezogene Einzelumstände, insbesondere dadurch, daß ein be-
haupteter Nachtrunk nicht erwiesen, aber auch nicht widerlegbar ist,
Zweifel nach beiden Seiten verdichten.
Allerdings scheinen die Freisprüche, die allein aus diesem Beweis-
dilemma folgen, in der Praxis so häufig nicht zu sein, wie man dies an-
gesichts des wahrscheinlichen Vorkommens solcher Unsicherheiten bei
der Feststellung der Blutalkoholkonzentration annehmen müßte. In
vielen Fällen (z. B. Zechtouren) wird zwar die Berufung auf die actio
libera in causa unser Problem ausräumen'. Aber eine vorverlegte Ver-
antwortlichkeit ist nicht stets dort gegeben, wo der Grad der Alkoholi-
sierung in dem Sinne ungewiß bleibt, daß möglicherweise die Schuld-
fähigkeit schon ausgeschlossen sein könnte, ohne daß auch feststünde,
2 Vgl. die Sachverhalte bei OLG Hamm NJW 1977, 344; OLG Karlsruhe
NJW 1979, 1945; weitere Hinweise bei Schewe, ZStW Beiheft 1981, S.63, fer-
ner ders., Blutalkohol 1983, 371, 526.
3 Hierzu im einzelnen und überzeugend Schewe, Blutalkohol 1983, 371 ff.
4 Vgl. OLG Hamm NJW 1977, 345; DreherjTröndle, 42. Auf!. 1984, § 323 a
Rdn.5.
668 Herbert Tröndle
III.
fahrers auch dann zum Freispruch führen, wenn sicher feststeht, daß
dem Angeklagten die Alkoholisierung zuzurechnen ist und er - um
beim Beispiel einer trunkenheitsbedingten Straßenverkehrsgefährdung
zu bleiben - (relativ oder) absolut fahruntüchtig Leib und Leben oder
andere fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet (oder gar ver-
letzt) hat? Der Angeklagte muß doch, gleichgültig wie hoch seine Blut-
alkoholkonzentration ist, für dieses Tatgeschehen so oder so einstehen,
wenn nicht als Täter einer (vorsätzlich oder fahrlässig begangenen)
Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c Abs.1 Nr.1a StGB, so doch
wegen Vollrauschs nach § 323 a StGB. Und nun soll allein die (viel-
leicht fernliegende, aber beweismäßig nicht zu vernachlässigende)
Möglichkeit, daß er sogar volltrunken war (und falls dies feststünde,
sich nach § 323 a strafbar gemacht hätte) zu seinem sicheren Freispruch
führen?
IV.
Die Begründung der herrschenden Meinung für dieses Ergebnis ist
bekannt: Da § 323 a nicht auszuschließen ist, kann im Hinblick auf den
Zweifelssatz nicht wegen der Rauschtat verurteilt werden und wegen
eben desselben Zweifelssatzes scheidet eine Verurteilung nach § 323 a
StGB aus, weil wegen des unaufgeklärten Alkoholisierungsgrades auch
nicht erwiesen ist, daß der "sichere Bereich des § 21 StGB überschritten"
ist.
Folgt dieses seltsame Ergebnis wirklich aus dem Gesetz? Aus dessen
Wortlaut gewiß nicht. Er drängt vielmehr die Einsicht auf, daß das
Gesetz alkoholisierte Fahrer stets mit Strafe bedrohen will, selbst dann,
wenn sie volltrunken sind (oder "dies nicht auszuschließen ist"). Auch
eine sinnentsprechende Anwendung des Zweifelssatzes kann in den
aufgezeigten Fällen einen Freispruch nicht begründen oder gar recht-
fertigen. Die grundlegenden Einwendungen Schewes sind plausibler
als die herrschende Meinung. Ihr ist zwar nicht vorzuwerfen, daß ihr
Ergebnis aus einer unzureichend erörterten Problematik herrühre;
eher schon ist sie die Frucht einer zu ausdifferenzierten Dogmatik, die
dadurch gekennzeichnet ist, daß sich im Bereich der problematischen
Vorschrift des § 323a StGB und der Wahlfeststellung Grundsätze und
Rechtsfiguren entwickelt und verfestigt haben, die - oft erst in ihrer
Sekundärauslegung - unmittelbar auf Sachverhalte angewendet wer-
den, die rechtlich grundlegender und in größerem Zusammenhang hät-
ten beurteilt werden müssen. Es könnte sich nämlich so verhalten,
daß die herrschende Meinung in den Fällen des möglichen, aber nicht
sicher nachgewiesenen Vollrausches schon im Lösungsansatz zu kurz
greift und sich hieraus erklärt, warum sie nur scheinbar auf einer
juristisch in sich stimmigen Argumentation fußt, ein plausibles und
allgemein überzeugendes Ergebnis aber verfehlt. Die sich insoweit auf-
672 Herbert Tröndle
14 So von Weber, MDR 1952, 643; Lackner, JuS 1968, 216; Wolter, NStZ
1982,55.
15 Spendel, in: LK, 10. Auf!. 1984, § 323 a Rdn.1 m. w. N.; Arthur Kauf-
mann will § 323 a StGB daher "abschaffen" (Schuld und Strafe, 2. Auf!. 1983,
S. IX und 253).
ta Maurach, JuS 1961, 373.
17 Vgl. z. B. Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 1983,
S.29l.
18 Spendel, in: LK (Fn. 15), § 323 a Rdn.69 und insbesondere Rdn. 70, wo
freilich darauf abgehoben wird, daß der richtig verstandene § 323 a "eine Be-
kräftigung des Verschuldens- und Verantwortungsprinzips" enthalte.
19 Puppe, Jura 1982,281 m. w. N.
20 Vgl. Spendel, in: LK (Fn. 15), § 323 a Rdn. 148 ff.
21 Boldt, DR 1939, 1035.
Vollrauschtatbestand und Zweifelsgrundsatz 673
29 S. Fn. 27.
30 Strafverteidiger 1981, 45.
31 Tröndle, in: LK (Fn.25), § 1 Rdn.93; Dtto, Peters-Festschrift, S.379.
32 Peters-Festschrift, S. 383; ferner Hardwig, Eb. Schmidt-Festschrift, 1961,
S.486.
33 Spende I, in: LK (Fn. 15), § 323 a Rdn. 148.
34 Freilich konnte hierfür die Gesetzesbegründung herangezogen werden
(BR-Drucks. 1/72, 257), die ausdrücklich davon sprach, daß die Entscheidung
des Großen Senats legalisiert werden sollte; vgl. aber hierzu unten Text bei
Fn.76.
35 Ebenso Hirsch, ZStW, Beiheft 1981, S.19; hiergegen BayDbLG VRS
Bd. 58, 209.
Vollrauschtatbestand und Zweifelsgrundsatz 675
sein müsse, eine Auslegung, die freilich widersinnig 38 war, weil sie das
Ziel der Gesetzesänderung gerade verkehrt und den praktischen Fort-
schritt, der BGHSt. 9, 390 immerhin brachte, wiederum aufhob. BGHSt.
32, 48 hat inzwischen klargestellt, was diese Formel lediglich meint: Daß
der sichere Bereich des § 21 StGB erreicht sein müsse, der Grad der
Alkoholisierung also zumindest zu einer erheblich verminderten
Schuldfähigkeit des Täters geführt haben müsse. Dies bedeutet wie-
derum, daß die herrschende Rechtsprechung für einen "Rausch" im
Sinne des § 323 a StGB den Eintritt erheblich verminderter Schuld-
fähigkeit voraussetzt. Das ist aber schon in tatsächlicher Hinsicht eine
willkürliche Annahme 31 • Das Phänomen Rausch läßt sich nicht exakt
bestimmen. Auch die medizinische Wissenschaft vermag ihn nicht ab-
zugrenzen 38 • Verfehlt ist es insbesondere, wie Puppe39 und Horn 40 über-
zeugend dargetan haben, den Begriff des Rausches mit Kategorien der
Schuldfähigkeit zu interpretieren und ihn bei der erheblich verminder-
ten Schuldfähigkeit "beginnen" zu lassen: Denn die Frage der Schuld-
fähigkeit ist stets "tatabhängig" . Es muß also eine bestimmte Tat exi-
stent sein, bevor die Schuldfähigkeit des Täters - bezogen auf diese
Tat - beurteilt werden kann. Bei derselben Blutalkoholkonzentration
kann derselbe Täter z. B. für eine leichtere Tat erheblich vermindert
schuldfähig sein, für eine schwerere aber noch nicht. Für die vorgreif-
liche Frage, ob der Täter bei der Tat in einem Rauschzustand war, kann
daher aus der Beantwortung der Frage des Grades der Schuldfähigkeit,
die überhaupt erst post factum sinnvoll gestellt werden kann, nichts
gewonnen werden: vor allem kann das Vorliegen eines Rausches im
Sinne des § 323 a nicht davon abhängen, was für eine Tat der Täter
begangen hat.
Aus allem ergibt sich, daß die herrschende Auffassung, die bei einer
Verurteilung nach § 323a StGB den Nachweis voraussetzt, daß zumin-
dest der sichere Bereich des § 21 StGB erreicht ist, nicht als rechts-
staatlich unanfechtbares Dogma behandelt werden kann. Die dagegen
erhobenen Einwände sollten ernster genommen werden.
36 Puppe, Jura 1982, 283; vgl. auch Dencker, NJW 1980, 2160; Horn, JR
1980,4; Ranft,JA 1983, 198.
31 Vgl. Spendel, in: LK (Fn. 15), § 323 a Rdn. 153.
38 Schewe, Blutalkohol 1976,91; ders., Blutalkohol 1979,60.
39 Puppe, GA 1974, 98 ff.; dies., Jura 1982, 284.
V.
Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Mindermeinung
am praktisch besonders bedeutsamen Fall des Trunkenheitsfahrers zu
begründen. Hierzu besteht umsomehr Anlaß, als die Entscheidung des
4. Strafsenats des BGH vom 13. August 1983 (BGHSt.32, 48) einer
Rechtsentwicklung in Richtung der Mindermeinung nicht mehr von
vornherein entgegensteht. Der Senat läßt nämlich - insoweit abwei-
chend von BGHSt. 16, 187 - offen, ob ein tatbestandsmäßiger Rausch
im Sinne des § 323 a StGB auch bei möglicher voller Schuldfähigkeit
vorliegen kann. Damit ist zweifelhaft, ob der BGH künftig in diesen
Fällen an dem Erfordernis des "Überschreitens des sicheren Bereichs
des § 21 StGB" festhalten wird. Daß der BGH in dieser Frage auch sonst
Möglichkeiten für neue Wege offen läßt, wird dadurch deutlich, daß
er in dieser Entscheidung das aus dem Grundsatz in dubio pro reO fol-
gende Argument des "normativ-ethischen Stuten verhältnisses" im
Sinne des "Schwächeren zum Stärkeren" herangezogen hat 4 1, um das
(sich bereits aus der Auffangfunktion der Vorschrift ergebende) Ergeb-
nis zu begründen, daß auch der Täter, der in seiner Schuldfähigkeit
erheblich vermindert (und lediglich nicht ausschließbar schuldunfähig)
ist, nach § 323a StGB zu bestrafen ist. Schließlich fällt auf, daß der
Senat exemplifikativ Fahrlässigkeit und Vorsatz als Beispiel für ein
"normativ-ethisches Stufenverhältnis" erwähnt hat (BGHSt. 32, 57) mit
der ausdrücklichen Bemerkung, daß BGHSt. 17,210 für diesen Fall
"allerdings Auffangtatbestand" angenommen habe.
Der 4. Strafsenat zieht damit - anders als der Große Senat in
BGHSt.9, 397 - im Bereich des § 323 a StGB in den non-liquet-Fällen
den Zweifelssatz unmittelbar heran, weil er auf dem Standpunkt steht,
daß der Gesetzgeber unbeschadet der besonderen Struktur des Voll-
rauschtatbestandes dieses Gefährdungsdelikt "geringer wertet als die
Verletzung der Norm, die objektive Strafbarkeitsbedingung dieses Ge-
fährdungsdelikts ist" (BGHSt.32, 55)42. Diese Sicht des Verhältnisses
zwischen Vollrauschtatbestand und Rauschtat greift aber - obwohl der
Senat diese Frage offenlassen konnte - auch in den Fällen, in denen
die Alkoholisierung nicht bis zur erheblichen Schuldminderung gedie-
hen ist. Der 4. Strafsenat argumentiert somit - übrigens unter Zu-
stimmung der übrigen Senate (vgl. BGHSt.32, 57) - der Sache nach
nicht anders als Karl Peters 43 , der schon vor 30 Jahren in bezug auf die
Altfassung des § 330 a StGB unter Hinweis auf die gerichtliche Praxis
den Standpunkt vertreten hat, daß "bei Zweifeln, ob der Täter voll-
trunken war oder nicht, zu seinen Gunsten Volltrunkenheit anzuneh-
men" sei.
Obwohl die Auswirkungen der Entscheidung BGHSt. 32, 48 noch nicht
in jeder Hinsicht übersehbar sind, können von ihr Impulse für eine
Überprüfung der bisherigen Standpunkte44 ausgehen, die aus der Sack-
gasse führen, in die die herrschende Rechtsprechung bei der Auslegung
des § 323 a StGB geraten ist.
Auch die Kritiker der Entscheidung sehen das so, beklagen freilich
die "unabsehbaren Konsequenzen für den Wahlfeststellungsbereich"45.
Indessen tut gerade insoweit eine Überprüfung der Grundsätze der
herrschenden Rechtsprechung not, da im Wahlfeststellungsbereich die
juristischen Argumentationen regelmäßig nicht zu überzeugen vermögen
und mitunter auch nicht die Ergebnisse. Innerhalb des Problemkreises
Wahlfeststellung und Vollrauschtatbestand gilt das ganz besonders.
BGHSt.32, 48 geht ein Stück in die richtige Richtung, insbesondere in
den obiter dicta der Entscheidung. Allerdings hat sie gerade dieserhalb
von Dencker eine harte und in der Sache unangemessene Zensur 46 er-
fahren. Die Entscheidung BGHSt. 32, 48 weist nämlich - mag sie auch
eine Reihe offener und klärungs bedürftiger Fragen aufwerfen - ent-
gegen Dencker keinen inneren Widerspruch auf: denn über den Begriff
des Rausches läßt sich der Senat nicht aus und in casu läßt der Senat
nur einen solchen mit einem Schweregrad genügen, bei dem der Täter
den Bereich des § 21 StGB erreicht hat. Keinem Revisionssenat ist
übrigens verwehrt, neben den rationes decidendi (die in BGHSt. 32,48
angesichts der eigentlichen Entscheidungsfrage wahrlich kurzgehalten
werden konnten) auch obiter dicta einzusetzen: der tatrichterlichen
Praxis ist dies erwünscht, weil sie informieren und dadurch Rückver-
weisungen vermeiden, nicht selten aber auch für die Entwicklung der
Rechtsprechung Zeichen signalisieren.
Im übrigen lag es für den 4. Strafsenat nahe, zu dem Kausalsatz des
§ 323 a StGB (" ... oder weil dies nicht auszuschließen ist") Grundlegen-
des und über die Sachentscheidung Hinausgehendes zu sagen, nachdem
sogar die Auslegungsformel vom "Überschreiten des sicheren Bereichs
des § 21 StGB" mißdeutet wurde und unter Berücksichtigung der neue-
ren Literatur das Verhältnis zwischen Vollrausch und einer in erheb-
lich verminderter Schuldfähigkeit begangenen Rauschtat aufzuhellen
war. Die Hinweise des 4. Strafsenats verdienen auch, wie Dencker47 zu-
VI.
48 StGB, 35. Aufl. 1975, § 330 a Anm.3 a; ihm folgend Tröndle, in: LK,
10. Aufl. 1978, § 1 Rdn. 99, bis zu Dreher/Tröndle (Fn. 4), § 323 a Rdn. 5.
49 Spendel, in: LK (Fn. 15), § 323 a Rdn. 154; Peters, Strafprozeß, 3. Aufl.
1981, § 37 III 1 c aa; Hentschel/Born, Trunkenheit im Straßenverkehr, 3. Aufl.
1984, Rdn. 278 ff.; Schmidhäuser, BT, 2. Aufl. 1983, 15/31; Maurach/Schroeder,
BT Teilb.2, 6. Aufl. 1981, § 94 II; Schewe, Blutalkohol 1983, 370, 526; Göhler,
OWiG, 7. Aufl. 1984, § 122 Rdn. 7.
50 Horn, in: SK, 2. Aufl., § 323 a Rdn.16; Jakobs, AT 1983, 17/62 Fn.113;
vgl. auch die Hinweise unter Fn. 63.
51 Vgl. Fn. 12.
Vollrauschtatbestand und Zweifelsgrundsatz 679
Allerdings kann hier nur die Skizze einer sachgerechten Lösung ver-
sucht werden. Eine auch nur annähernde Berücksichtigung der wichti-
geren Literatur zu Problemen des Zweifelsgrundsatzes, der Wahlfest-
stellung und des Vollrauschtatbestandes ist im Rahmen eines Fest-
schriftbeitrags nicht möglich.
Der Grund, warum einem Nichtstrafrechtler nicht plausibel zu machen
ist, daß ein Trunkenheitsfahrer freizusprechen ist, wenn man nicht
weiß, ob er zur Tatzeit in seiner Schuldfähigkeit erheblich vermindert
oder möglicherweise gar volltrunken war, hängt damit zusammen, daß
diese Rechtsauffassung ihrerseits auf einer fehlerhaften Anwendung
des Zweifelsgrundsatzes beruht. Denn es ist bei der Beurteilung des-
selben Tatgeschehens nicht angängig, dem Täter beide Zweifel gutzu-
bringen, nämlich den Zweifel, ob Volltrunkenheit vorliegt, sowie den
Zweifel, ob der Täter den § 21 StGB bereits erreicht hatte. Otto 52 , Horn 53
und insbesondere Peters54 haben das bereits von jeher gesehen. Horn
meint, daß Zweifel im Rahmen des § 323 a StGB zugunsten des Täters
zu lösen seien, "Zweifel hingegen, die die ,normative' Frage der spe-
zifischen Unrechts-Einsichts- bzw. der entsprechenden Steuerungs-
fähigkeit hinsichtlich der Rauschtat betreffen, zu seinem Nachteil".
Spendel drückt in der Neukommentierung des Leipziger Kommentars55
dies dahin aus, daß die Rauschtat als Folge des Rausches und dieser
Rauschzustand als Grund jener "als ein einheitliches Ganzes in ihrer
Wechselbeziehung zu sehen" seien, "nicht nur in tatsächlicher, sondern
auch in rechtlicher Hinsicht". Er sagt weiter, daß sonst der Zweifels-
grundsatz "bei ein und demselben Sachverhalt zweimal, und in ent-
gegengesetzer Richtung angewandt" "und zu einer Doppelvergünsti-
gung in Verkehrung der Verhältnisse führen" würde. Spendel rügt, daß
hierdurch "die Unsicherheit der Beweislage dem Berauschten in wider-
spruchsvoller Weise zweimal zugute" gehalten würde. Hier liegt der
Kern der Problematik: Soweit die herrschende Meinung für die An-
wendung des § 323 a StGB verlangt, daß zumindest "der sichere Bereich
des § 21 StGB überschritten" sein, andernfalls freigesprochen werden
müsse, impliziert sie eine solche zweifache, aber gegenläufige Berück-
sichtigung des Zweifelsgrundsatzes. Dies ist aber nicht die Konsequenz
rechtsstaatlichen Denkens, sondern im Grunde ein Denkfehler.
Zwar gebietet der Grundsatz in dubio pro reo, daß alle, selbst ent-
ferntere Zweifel stets zugunsten des Täters ausschlagen. Einem dem Tä-
ter zugute gehaltenen Zweifelssachverhalt muß aber eine im wirklichen
52 Peters-Festschrift, S. 384.
53 SK (Fn. 50), § 323 a Rdn. 16.
54 Strafprozeß, 1. Auf!. 1952, S. 234.
55 LK (Fn. 15), § 323 a Rdn. 149.
680 Herbert Tröndle
VII.
VIII.
59 DreherlTröndle (Fn. 4), § 323 a Rdn. 5; Tröndle, in: LK (Fn. 25), § 1 Rdn. 99;
Horn, in: SK (Fn. 50), § 323 a Rdn. 16; ders., JR 1980, 1.
60 JR 1980, 27; auch Dencker, JZ 1984, 458.
63 Zum Begriff des Rausches: das "für das jeweilige Rauschmittel typische,
die psychischen Fähigkeiten durch Intoxikation beeinträchtigende Zustands-
bild": h. M.; Puppe, Jura 1982, 285: Berauschungsgrad, der zur "Sozialuntüch-
tigkeit" führt; Dencker, NJW 1980, 2162: Zustand, in dem der Täter rausch-
mittelbedingt hinsichtlich eines Normverstoßes nur noch vermindert schuld-
fähig wäre; Montenbruck, GA 1978, 225: Rausch ab Fahruntüchtigkeit; ferner
Vollrausch tatbestand und Zweifels grundsatz 683
bungen64 münden, die sich zwar sachlich nicht decken, deren Differen-
zierungen aber im praktischen Fall meist nicht auszumachen sind. Die
zur Umschreibung des Phänomens Rausch berufene wissenschaftliche
Disziplin, die Rechtsmedizin, hält den "Rausch" für "weder sicher dia-
gnostizierbar noch begrifflich definierbar"65. Hinzu kommt, daß die Blut-
alkoholkonzentrationen, bei denen die Rechtsprechung einen Voll-
rausch annimmt und Schuldunfähigkeit oder erheblich verminderte
Schuldfähigkeit bejaht 66 , außerordentlich schwanken, daß ferner für die
Bejahung dieser Fragen zahlreiche weitere Umstände hineinspielen,
etwa die Alkoholverträglichkeit, die gesamten persönlichen Umstände,
vor allem aber die Art des infolge des "Rausches" begangenen Delikts.
Unter diesen Umständen macht es wenig Sinn, eine feste "Untergrenze"
für den Rausch normativ festzulegen. Vielmehr mißlingen alle Ver-
suche, den "Rausch" nach verallgemeinernd-abstrahierenden Denk-
figuren in den Be-Griff zu bekommen, obwohl doch jedermann mit dem
definiendum eine überaus plastische Vorstellung verbindet, weil es
sich hierbei um einen Typenbegriff, einen" Typus", handelt 67 , der "stets
inhaltlich reicher, geistiger, sinnhafter, anschaulicher ist als der ab-
strakt definierte Begriff"68. Der Typus gewinnt schon durch seine Benen-
nung Kontur. Er verschließt sich einer Definition, die der Sache nach
eine Aufhellung des Gemeinten ohnehin nicht erwarten ließe 69 • In der-
selben Richtung liegt auch die Tatsache, daß BGHSt. 26, 364 in bezug
auf den Rausch nicht von einem "Begriff", sondern von einem "Erschei-
nungsbild" spricht. Im übrigen erhält für unsere Auslegungsfrage der
Typus "Rausch" in § 323 a StGB dadurch eine zusätzliche klärende
Komponente, daß er sogar Symptome in der Richtung aufweisen muß,
daß er auch ein Vollrausch hätte gewesen sein können. Der Sache nach
ist das eine kennzeichnendere Eingrenzung dessen, was mit einem
Rausch in § 323 a gemeint ist, als der - rechtlich und tatsächlich - un-
taugliche Versuch, seinen "Beginn" herauszufinden. Es kommt z. B. auch
IX.
"Nachtrunk"), daß auf der einen Seite (im Hinblick auf die Fahrweise)
ein Vollrausch nicht auszuschließen ist, auf der anderen aber auch (wenn
der behauptete Nachtrunk zutreffen sollte) die Möglichkeit besteht,
daß von einem Rausch nicht gesprochen werden kann, sondern nur
eine verhältnismäßig geringe, aber - angesichts der Fahrweise - zur
Begründung "relativer Fahruntüchtigkeit" hinreichende Alkoholisie-
rung in Betracht kommt. In solchen Fällen ist nach allgemeiner Meinung
Freispruch geboten, weil der Auffangtatbestand des § 323 a StGB gar
nicht greifen kann, da er in jedem Falle einen "Rausch" voraussetzt
und ein solcher nach der einen möglichen Tatversion nicht vorliegt 77 • Die
Frage ist aber, ob es richtig ist, eine Wahlfeststellung zwischen dem
Vollrauschtatbestand und einer möglicherweise im vollschuldfähigen
(und geringfügig alkoholisierten) Zustand begangenen Tat für unzu-
lässig zu halten's. Die Begründung, die in BGHSt. 32, 56 dafür gegeben
worden ist (oben V), daß § 323 a 8tGB auch im Falle des erheblich
schuldverminderten (möglicherweise schuldunfähigen) Täters anwend-
bar ist (normativ-ethisches Stufenverhältnis zwischen Gefährdungs-
und Verletzungsdelikt), greift aber auch, wenn es möglicherweise über-
haupt an einem Rausch fehlt, vorausgesetzt, man läßt - entgegen der
ganz herrschenden Meinung - Wahlfeststellungen auch zu zwischen
dem Vollrauschtatbestand und der (möglicherweise) im leicht alkoholi-
sierten Zustand begangenen Straftat.
Diese Frage ist für den Fall der Trunkenheitsfahrt selbst dann zu
überdenken, wenn man einmal von dem für Wahlfeststellungen vor-
ausgesetzten, hier aber abgelehnten7g Erfordernis der "rechtsethischen
und psychologischen Vergleichbarkeit" ausginge. Ist etwa das "Sich-
berauschen" und das Sich-ans-Steuer-setzen in alkoholisiertem Zustand
nicht "rechtsethisch und psychologisch vergleichbar"? Man könnte so-
gar umgekehrt sagen, daß es im Katalog gemeinhin für zulässig ge-
haltener Wahlfeststellungen wenig Tatkonstellationen gibt, die "psy-
chologisch" und "rechtsethisch" so nahe beieinander liegen wie die
Trunkenheitsfahrt und der Vollrausch. Sie gehen sogar oft im Rah-
men eines einzigen Tataktes fast unmerklich ineinander über, mag
dieser übergang zugleich auch die juristische Umwandlung der Tat-
handlung zur Strafbarkeitsbedingung bedeuten und damit die Verla-
x.
Nach allem ergibt sich, daß die herrschende Rechtsprechung zu § 323 a
nicht nur zu unverständlichen Freisprüchen, sondern - bedenklicher -
unter Umständen auch zu ungerechtfertigten Schuldsprüchen führen
kann. Beides wird vermieden, wenn § 323 a StGB von den Fesseln des
Erfordernisses des "Überschreitens des sicheren Bereichs des § 21 StGB"
befreit wird und dort, wo ein Rausch nicht nachweisbar ist, eine Wahl-
feststellung zwischen § 323 a StGB und dem Bezugsdelikt zugelassen
wird. Obwohl die Entscheidung BGHSt. 32, 48 in ihren rationes decidendi
von der bisherigen Rechtsprechung nicht abweicht, könnten die obiter
dicta zu einer Neuorientierung im dargelegten Sinne genutzt werden.
90 DRiZ 1984,227.
Vollrauschtatbestand und Zweifelsgrundsatz 689
91 Peters-Festschrift, S. 373.
92 Strafprozeß, 3. Aufl. 1981, § 37 III 1 bund c (S. 272, 273).
93 Es sind nur die deutschsprachigen Rechtsordnungen außerhalb der
Bundesrepublik Deutschland berücksichtigt.
94 Vgl. Art. 263 schweizStGB; § 287 österrStGB.
I.
1. Stets war es Brauch der Ärzte, über die Beratung und Behandlung
ihrer Patienten Notizen zu machen. "In zurückliegender Zeit", zuletzt
in einem Urteil vom 4.12.1962 1 und in einem nahezu gleichzeitigen ande-
ren vom 6. 11. 19622 hat der Bundesgerichtshof die Auffassung vertreten,
daß solche Aufzeichnungen "nur eine interne Gedächtnisstütze seien und
daß zu ihrer sorgfältigen und vollständigen Führung dem Patienten
gegenüber keine Pflicht bestehe". In BGH VersR 1963, 168, 169, heißt es
genauer: "Das Krankenblatt ist eine Gedächtnisstütze des Arztes, ein
von ihm oder für ihn gefertigtes Hilfsmittel, das ihm den jederzeit
raschen überblick über den Verlauf der Krankheit und ihrer Behand-
lung ermöglichen und ihn damit vor allem bei der Durchführung der
Therapie entlasten soll. Es ist nicht etwa eine schriftliche Festlegung der
Krankengeschichte, die sorgfältig und vollständig zu führen der Arzt im
Verhältnis zum Kranken verpflichtet wäre 3 ."
2. Aber seither ist die Judikatur anderer Meinung geworden. Seit dem
Urteil BGHZ 72, 132, 137 vom 27. 6. 1978 vertritt sie die Ansicht, daß dem
Arzt dem Patienten gegenüber die Pflicht zur ordnungsmäßigen Führung
der Krankenunterlagen obliege. Die frühere Rechtsprechung habe einer
"überholten ärztlichen Berufsauffassung unangemessenen Raum" zuge-
standen. Zur Bekräftigung seiner neuen These, daß der Arzt jedenfalls
auch im Interesse des Patienten genaue Aufzeichnungen über seine dem
Kranken gewidmete Tätigkeit machen müsse, verweist der BGH darauf,
4 In der Tat heißt es in der Berufsordnung für die deutschen Ärzte in der
Fassung der Beschlüsse des 79. Deutschen Ärztetages von 1976 und den Än-
derungen, welche die Ärztetage von 1977, 1979 und 1983 vorgenommen haben,
in § 11 Abs. 1 Satz 1: "Der Arzt hat über die in Ausübung seines Berufes
gemachten Feststellungen und getroffenen Maßnahmen die erforderlichen
Aufzeichnungen zu machen." In entschlossener Abweichung von der frühe-
ren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt Satz 2 hinzu: "Ärztliche
Aufzeichnungen sind nicht nur Gedächtnisstützen für den Arzt, sie dienen
auch dem Interesse des Patienten an einer ordnungsgemäßen Dokumenta-
tion." Die Berufsordnungen der Länder haben das übernommen.
5 BVerfGE 52, 131 ff. vom 25. 7. 1979.
6 BVerfGE 52, 149.
Der Patient kann von seinem Arzt oder von dem Träger des Kranken-
hauses, in dem er behandelt worden ist, die Gewährung der "persön-
lichen Einsichtnahme" in seine Krankenunterlagen verlangen, sofern er
ein berechtigtes (manche gebrauchen den Ausdruck "ersichtliches" 11)
Interesse daran hat, sie zu sehen. Solch ein Interesse kann er auch dann
haben, wenn es noch gar nicht zu einem Prozeß zwischen ihm und sei-
nem Arzt oder dem Krankenhaus gekommen ist. Er hat es, wenn er die
Aussichten eines Haftpflichtprozesses wegen fehlerhafter Behandlung
prüfen Will 12 • Bei "berechtigtem Interesse" des Patienten, Einsicht in
alle Krankenunterlagen zu nehmen, ist der Arzt verpflichtet, diese Ein-
sicht dadurch zu ermöglichen, daß er Fotokopien sämtlicher Unterlagen
herstellen läßt, sie mit schriftlicher Bestätigung der Vollständigkeit und
Richtigkeit versieht und sie gegen Erstattung der Fotokopierkosten dem
Patienten aushändigt l3 • Der Patient ist auch dazu befugt, die technisch
hergestellten Objekte zu sehen, aus denen Schlüsse auf die ihm gewid-
mete Behandlung und ihre Wirkung sowie auf die gemachten Unter-
suchungen und ihr Resultat gezogen werden können. Er kann deshalb
die Herausgabe jener Gegenstände gleichfalls fordern. Tut er es, so
müssen ihm Röntgenaufnahmen, Elektrokardiogramme, Enzephalo-
gramme, Sonogramme, Szintigramme usw. überlassen werden14 •
11.
1. Dienlich ist sie, wenn sie es ihm ermöglicht, die ärztliche Behand-
lung zu kontrollieren17 • Die Kontrolle begegnet einer ersten Schwierig-
keit in all den nicht seltenen Fällen, in denen dem Patienten der Inhalt
der ärztlichen Aufzeichnungen mindestens zum Teil unverständlich ist,
weil er nicht die medizinischen und die Sprachkenntnisse hat, deren
Besitz die richtige Deutung des Textes der Dokumentation voraussetzt l8 •
Der ihm daraus entstehenden Verlegenheit kann der Patient zumeist
dadurch begegnen, daß er die Krankenpapiere, die ihm sein behandeln-
der Arzt zur Verfügung gestellt hat, einem anderen Arzt vorlegt, der
ihm übersetzt und auseinandersetzt, was er selbst nicht übertragen kann.
2. Aber dabei kann sich herausstellen, daß die Erwartung des besorg-
ten Patienten, aus den Krankenunterlagen werde sich ergeben, ob und
was für Fehler der Arzt begangen hat, enttäuscht wird, weil die Papiere
zeigen, daß der Doktor durchweg das Richtige getan hat, wenn auch
ohne Erfolg. Dann muß der Patient lernen, daß nicht jeder Schaden aus
einem Fehler des Arztes entsteht. In solchem Fall hat der Arzt, der seine
Dokumentation dem Patienten zur Einsichtnahme überlassen hat, prak-
tisch sich selbst geschützt. Denn er wird kaum mehr damit zu rechnen
brauchen, daß der Patient ihn verklagt.
18 In dem Operationsbericht, den das Urteil des BVerfGE 52, 131 ff., auf
S. 133 wiedergibt, kommen u. a. folgende Fachausdrücke vor: submandibulär,
Platysma, Karotis communis, Vena jugularis, Plattenepitheliale Zyste. Sol-
che Fremdwörter kann vermutlich selbst der nicht mit Sicherheit deuten,
der einige Schulkenntnisse des Griechischen und des Lateinischen behalten
ha,t,
Die Dokumentationspflicht des Arztes 697
a) Sie wird ihm erleichtert, wenn der Nachweis als Beweis des ersten
Anscheins (prima-facie-Beweis) geführt werden kann. Dieser "setzt Tat-
bestände voraus, die nach der allgemeinen Lebenserfahrung regelmäßig
auf eine bestimmte Ursache hinweisen und in bestimmter Richtung zu
verlaufen pflegen"20. Das ist im Arzthaftungsprozeß jedenfalls dort der
Fall, wo "Schädigungen des Patienten vernünftigerweise nur durch eine
Sorgfaltspflichtverletzung" (des Arztes) "erklärt werden können"21. Dem-
nach muß der Beweis, daß zwischen der fehlerhaften Maßnahme des
Arztes und dem Gesundheitsschaden des Patienten Kausalzusammen-
hang besteht, als erbracht angesehen werden, sofern der angerichtete
Schaden die typische Folge des vom Arzt begangenen Fehlers ist. Liegt
es so, dann ist dem Patienten die Einsichtnahme in die Dokumentation
des Arztes nützlich gewesen.
b) Nützlich ist sie ihm auch dann, wenn sie Auskunft darüber gibt,
daß der Arzt bei der Behandlung des Kranken schuldhaft einen groben
Behandlungsfehler begangen hat, der den Verdacht begründet, eben die
Gesundheitsschädigung verursacht zu haben, über die der Kranke klagt
und auf die aus den Aufzeichnungen des Arztes zu schließen ist. Diesen
Verdacht zu bestätigen, ist nicht die Aufgabe des betroffenen Patienten.
Es ist vielmehr kraft der von der Rechtsprechung gewährten Umkeh-
rung der Beweislast die Sache des Arztes, ihn zu widerlegen. Nicht als
ob dem Patienten jeder Beitrag zur Beweisführung erspart bliebe. Daß
der Fehler des Arztes "grob" oder "schwer" ist und daß der Arzt schuld-
haft gehandelt hat, muß er belegen. "Grob" ist ein Verstoß, der sich
"gegen elementare Regeln ärztlicher Behandlung richtet und so dem
Behandlungsverlauf sein Gepräge gibt"2!, der also Normen der ärzt-
lichen "Kunst" verletzt, deren Kenntnis man bei einem, seinen Beruf
ausübenden Arzt voraussetzen muß23,2~. Daß das Fehlverhalten des Arz-
tes ein grober Fehler ist, muß der Patient beweisen. Desgleichen muß er
nachweisen, daß der Arzt schuldhaft gehandelt hat. Beides wird ihm
kaum Schwierigkeiten machen. Die Schwere des vom Arzt begangenen
Fehlers wird zumeist augenscheinlich sein. Die Gewißheit, daß der Feh-
ler die Folge einer, den Vorwurf schuldhafter Fahrlässigkeit begründen-
den Sorgfaltspflichtverletzung ist, wird sich aufdrängen; unter Umstän-
den kann sich sowohl das Gewicht des Fehlers wie auch seine Schuldhaf-
tigkeit aus Eintragungen in der Dokumentation ergeben25 • Kommt hinzu,
daß ein Fehler, wie ihn der Arzt begangen hat, dazu geeignet ist, gerade
einen solchen Schaden, wie er tatsächlich eingetreten ist, herbeizuführen,
ohne daß mit Sicherheit feststellbar ist, wie der Verlauf bei ordnungs-
mäßiger ärztlicher Betreuung gewesen wäre, so ist es angemessen, den
Arzt und nicht den Patienten mit dem Beweisrisiko zu belasten26 • Sich von
diesem Risiko zu befreien, wird dem Arzt schwerfallen. Daß der entstan-
dene Schaden nicht durch sein fehlerhaftes Handeln verursacht worden,
sondern schicksalhaft entstanden sei, könnte er nur dann belegen, wenn
er "jede Einzelheit seines HandeIns durch Dokumentation und Zeugen-
gegenwart beweismäßig" abgesichert hätte 27 und sich aus dieser Maß-
nahme ergäbe, daß der zusätzliche Gesundheitsschaden, der dem Patien-
ten entstanden ist, ein Zufallsprodukt sein muß. Dies darzutun, ist dem
Arzt sicherlich kaum möglich.
Den Behandlungsfehler abzuleugnen ist dem Arzt, wenn die eigenen
Aufzeichnungen ihn offenbaren, nicht möglich. Die Verweigerung der
Einsicht in die Dokumentation oder ihrer Herausgabe ist nicht ratsam.
Die Judikatur betrachtet solches Verhalten als Beweiserschwerung oder
-vereitelung und zieht daraus die Folgerung, dem Arzt die Umkehrung
der Beweislast aufzubürden 28 • Schon der Anspruch auf die Überlassung
der Krankenpapiere an ihn verschafft dem Patienten also für die Aus-
einandersetzung mit dem Arzt eine gewisse Überlegenheit.
III.
Neuerdings hat nun der Bundesgerichtshof die Pflichten des Arztes, dem
Patienten Einsicht in die ihn betreffenden Aufzeichnungen zu gewähren
und ihm auf Verlangen die Dokumentation sogar herauszugeben, wesent-
Das Urteil VI ZR 177/812 stellt weiter fest, daß nach langjährigen Er-
fahrungen des Senats die klinischen Unterlagen über eine typische psy-
chiatrische Behandlung ganz vorwiegend Aufzeichnungen enthalten,
gegen deren Offenlegung nach den Ausführungen des Parallelurteils
durchgreifende Bedenken bestehen können, so daß die Entscheidung
darüber dem behandelnden Arzt vorbehalten werden muß 34 •
IV.
der Ärzte, ihre Dokumentationen den Patienten, die das fordern, zu-
gänglich zu machen, ist erst in neuerer Zeit aufgekommen, und der An-
spruch des Patienten auf Einsicht in die Dokumente wird nach Ansicht
des Bundesgerichtshofs "im ärztlich orientierten Schrifttum" ... "wohl
immer noch ziemlich einheitlich abgelehnt"36. Die heutige Dokumenta-
tionspraxis verwirklicht also Merkmale gewohnheitsrechtlicher Rechts-
fortbildung nicht. Eine durchgreifende Begründung der ärztlichen Doku-
mentationspflicht suchen Rechtsprechung und Rechtslehre denn auch
nicht in gewohnheits rechtlichen Spekulationen, sondern in verschiedenen
selbständigen Erwägungen.
b) Nach BGHZ 72, 132, 138, ist die "ordnungsgemäße ärztliche Doku-
mentation" eine "unzweifelhafte therapeutische Notwendigkeit". Dem
stimmt das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 52,131,164, mit Nach-
druck zu. Das kann man gelten lassen, wenn man es nimmt, wie es wohl
gemeint ist: Der Arzt bedarf der Gedächtnisstütze, welche die Doku-
mentation nun einmal auch ist, seinerseits, um selber seine therapeu-
tischen Maßnahmen kontrollieren und - wenn es nötig wird - korri-
gieren zu können, und um bei ihrer Fortsetzung das Richtige zu treffen.
Eine Beschränkung der Dokumentation auf diesen Zweck bedeutet aller-
dings, daß sie nicht dazu bestimmt ist, unmittelbar dem Patienten dien-
lich zu sein. Einen Anspruch auf Einsichtnahme begründet sie nicht
für ihn.
c) Nach überwiegender Meinung aber ist die Dokumentationspflicht
des Arztes eine Nebenpflicht aus dem Behandlungsvertrage, den der
Kranke (oder sein gesetzlicher Vertreter für ihn oder ein anderer zu
seinen Gunsten) mit dem Arzt geschlossen hat. Träfe das zu, gehörte
also die Dokumentationspflicht zum Inhalt des Behandlungsvertrages
und würde sie zu dem Zweck vereinbart, dem Kranken nützlich zu sein,
so müßte allerdings folgen, daß der Arzt seinen Patienten Einsicht in
seine Aufzeichnungen zu gewähren hat. Doch die Rechtfertigung der
Dokumentationspflicht aus dem Dienstleistungsvertrag mit dem Arzt ist
problematisch. Daß beim Abschluß eines solchen Vertrages die Anlegung
einer Dokumentation über den Befund, die Diagnose, die therapeuti-
schen Maßnahmen des Doktors und ihre Wirkungen als eine rechts-
geschäftliche Nebenpflicht ausdrücklich vereinbart wird, ist natürlich
zulässig, kommt aber wohl kaum vor. Daß solch eine Pflicht selbstver-
ständlich und darum ein der besonderen Abrede gar nicht bedürfendes
Moment des Vertrages sei, läßt sich nicht gut behaupten, weil, wie schon
dargelegt, noch vor weniger als zehn Jahren von der Vereinbarung einer
solchen Pflicht nirgends die Rede war. Daß eine Nebenpflicht, an die
man in noch nicht lange zurückliegender Zeit nicht einmal dachte, heute
37 Mitunter wird die Ansicht vertreten, daß der Arzt ohne jede besondere
übereinkunft nach Treu und Glauben verpflichtet sei, Dokumentationen
über seine Krankenbehandlungen aufzustellen und den einzelnen Patienten
vorzulegen. In der Tat verfügt § 157 BGB bekanntlich: Verträge sind so aus-
zulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es er-
fordern. Aber mit Bezug auf die Aufklärungspflicht des Arztes vermerkt
Steindorfj, JZ 1963, 370, treffend: "Wo diese Pflicht mit Hilfe des § 157 BGB
aus Verträgen hergeleitet wird, bedient man sich meistens einer Fiktion,
denn die Verträge ergeben regelmäßig nichts." Für die Dokumentationspflicht
gilt dasselbe.
38 Vgl. Dunz, Zur Praxis der zivil rechtlichen Arzthaftung, Schriftenreihe
der juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe, Heft 116, 1974, S.33: "Es ist
einfach nicht einzusehen, weshalb gute Verkehrsübung es als selbstverständ-
lich betrachtet, daß über fremdes Geld auf den Pfennig minuziös abgerech-
net wird, während man mit fremder Gesundheit so freihändig sollte um-
gehen dürfen"; Weyers, Gutachten A für den 52. Deutschen Juristentag, 1978,
S. 116, schließt sich dem an und verlangt überdies, daß der Gesetzgeber eine
jeden Heilkundigen bindende Pflicht statuiere, über alle belangvollen Um-
stände und Geschehnisse Aufzeichnungen zu machen und unter gewissen
Voraussetzungen zur Verwertung für den Patienten verfügbar zu machen.
"... die Gründe, die für die Anerkennung der genannten Pflicht sprechen
... fließen in der Vergleichsfrage zusammen, ob der Umgang mit der Ge-
sundheit eines Menschen weniger genaue Rechenschaftslegung verlangt, als
der Umgang mit seinem Vermögen." Auch in der Rechtsprechung findet sich
die Bemerkung, es unterliege keinen Bedenken, die Pflicht zur Dokumen-
tation dem Arzt "auch außerprozessual als eine Art Rechenschaftspflicht auf-
zuerlegen, ähnlich der, die bei der Verwaltung fremden Vermögens seit lan-
gem selbstverständlich ist", BGHZ 72, 138; OLG Bremen NJW 1980, 644.
704 Paul Bockelmann
Medikaments, die Infusion, die Bestrahlung usw., über die sie berichten,
wirklich stattgefunden haben. Aber daß die Diagnose, nach der sie der
Arzt für indiziert hält, richtig war und daß sie die Ursache einer nach
ihrer Vornahme eingetretenen Besserung oder auch Verschlechterung
im subjektiven Befinden oder im objektiven Zustand des Patienten sind,
das beweisen sie "mangels sicherer Berechenbarkeit der Vorgänge im
lebenden Organismus" nicht39 • Die jeweils erforderlichen weiteren Infor-
mationen lassen sich schwerlich mit den Methoden einer Rechenschafts-
legung gewinnen, wie sie beim Umgang mit Geld oder anderen Ver-
mögenswerten im Wirtschaftsleben angewendet werden40 •
gabe mit § 810 BGB zu begründen. § 810 BGB gewährt das Recht auf
Einsicht in Urkunden, die in fremdem Besitz sind, demjenigen, der ein
rechtliches Interesse daran hat, vorausgesetzt, daß die Urkunde in sei-
nem Interesse errichtet ist oder daß sie entweder ein zwischen ihm und
einem anderen bestehendes Rechtsverhältnis beurkundet oder aber Ver-
handlungen über Rechtsgeschäfte enthält, die zwischen ihm und ei-
nem anderen gepflogen worden sind oder an denen er in anderer (hier
nicht näher zu schildernder) Weise beteiligt war. Urkunden solcher Art
sind von einer ärztlichen Dokumentation so grundverschieden, daß eine
analoge Anwendung des § 810 BGB auf das von einem Patienten an sei-
nen Arzt gestellte Verlangen, ihm Einsicht in die ihn angehende Doku-
mentation zu gewähren, keine Rede sein kann42 • Zur Begründung eines
Herausgabeanspruchs kann § 810 BGB schon deshalb nicht herangezogen
werden, weil er einen solchen Anspruch gar nicht gewährt.
42 Ebenso im Ergebnis OLG Celle, NJW 1978, 1200, gegen Daniels, NJW
1976, 345 ff., 348.
43 Vgl. Rieger, Lexikon des Arztrechts, S. 278.
sche Behandlung einschließlich einer etwa vom Arzt für erforderlich ge-
haltenen Operation über sich ergehen lassen muß, ohne sie sich verbitten
zu können. Die Einwilligung des genügend über die Lage, in der er sich
befindet, unterrichteten Patienten in die vom Arzt für notwendig gehal-
tenen Maßnahmen ist unentbehrlich. Der Arzt ist deshalb aufklärungs-
pflichtig. Er muß dem Patienten eröffnen, was zu seiner Behandlung
nötig ist, er darf dabei nicht verschweigen, welche Risiken mit einem
etwa geplanten Eingriff verbunden sind, aber er muß auch ebenso schil-
dern, was für Folgen eintreten können, wenn der Eingriff nicht vor-
genommen wird. Verfährt der Arzt so, bleibt das Selbstbestimmungs-
recht des Patienten unangetastet, auch wenn er sich nicht aus einer sei-
nen Fall schildernden Dokumentation hat informieren können, aber
auch ohne das Gefühl haben und den Eindruck machen zu müssen, wie
ein bloßes, wiewohl lebendes Objekt ärztlicher Tätigkeit behandelt zu
werden.
Es kann freilich sein, daß er der Einsichtnahme in die Dokumentation
bedarf oder ihrer zu bedürfen glaubt, um eine vernünftige Entschei-
dung darüber treffen zu können, ob es ratsam ist, eine auf Schadens-
ersatz und Schmerzensgeld gerichtete Klage gegen den Arzt zu erheben,
von dem er falsch behandelt und deshalb geschädigt worden zu sein
vermutet. Zu einer sachgerechten Orientierung genügt dabei unter Um-
ständen auch der Einblick in eine Dokumentation, die erst im Entstehen
ist. Aber das kann dahingestellt bleiben, denn mit der Selbstbestimmung
des Patienten hat es nichts zu tun. Für die "freie Entfaltung der Per-
sönlichkeit", die "Selbstverwirklichung", wie man zu sagen pflegt, ist
es gleichgültig, daß dem Menschen die Bewältigung der zahllosen Ge-
schäfte des täglichen Lebens gelingt. Zu ihnen gehört auch die Erhebung
einer Klage des Patienten gegen seinen Arzt, mit dem er unzufrieden
ist. Daß der Kläger in dieser seiner Rolle im Urteil der Öffentlichkeit
nicht zu einem bloßen Objekt des Verfahrens degradiert werden kann,
ist sicher.
Unter den im Vorstehenden beschriebenen Umständen haben die Do-
kumentationspflichten des Arztes für die Patienten einen gewissen Nut-
zen. Ob bei einem nachweislich schuldhaften groben Behandlungsfehler
eine Umkehrung der Beweislast, die zur Anerkennung der Kausalität
dieses Fehlers für die nach seiner Begehung eingetretene Gesundheits-
schädigung des Patienten führt, das Rechtsgefühl befriedigen kann, ist
freilich fraglich. Denn ungeachtet der festen überzeugung des Gerichts
von der Richtigkeit seiner Entscheidung bleibt es zweifelhaft, ob der zwar
nicht erwähnte, aber sachlich tragende Grund des Urteils die unbestreit-
bare Gefährdung des Patienten ist, die das Verhalten des Arztes bewirkt
hat.
Die Dokumentationspflicht des Arztes 707
45'
708 Paul Bockelmann
menhang mit dem Fehler, der ihm unterlaufen ist, ein Gesundheits-
schaden des Patienten auf, so hindert ihn das nicht daran, zu seiner
Verteidigung darauf zu beharren, daß die Ursächlichkeit seines Miß-
griffs für die Schädigung des Patienten nicht bewiesen und nach seiner
Überzeugung auch nicht beweisbar sei. Aber diejenigen Fakten, von
denen der Anlaß und weithin die Lenkung eines gegen ihn zu führenden
Arzthaftungsprozesses, u. U. auch eines Strafverfahrens, abhängt, muß
er dem Kläger offenbaren. Er tut es, indem er, dem von der Rechtspre-
chung aufgestellten Gebot sich fügend, dem klagenden Patienten seine
Dokumentation überläßt. Er rüstet ihn also mit einer Waffe aus, der
er selber kein gleichwertiges Instrument entgegensetzen kann. Es mag
sein, daß die Offenlegung der Dokumentation bei Gelegenheit für den
Arzt vorteilhaft ist, z. B. dann, wenn sie eine vom klagenden Patienten
aufgestellte unrichtige Behauptung, der Arzt habe bei seiner Behand-
lung dies oder jenes falsch gemacht, widerlegt. Oft kommt das aller-
dings offenbar nicht vor, denn veröffentlichte Entscheidungen aus Arzt-
haftungsprozessen, die über solche Vorgänge berichten, gibt es, soweit
ersichtlich, nicht. Aber das mag auf sich beruhen. Denn auch wenn der-
artiges sich häufig ereignete, ließe das nicht den Schluß zu, daß die Preis-
gabe der ärztlichen Aufzeichnungen an den seinen Arzt verklagenden
Patienten stets Waffengleichheit zwischen Kläger und Beklagtem in dem
schwebenden Arzthaftungsprozeß herstelle. Keinesfalls nämlich könnte
der Patient mit Hilfe einer seine Beschuldigung des Arztes widerlegen-
den Dokumentation beweisen, daß seine Behauptung doch richtig sei.
In seiner Hand ist solch eine Dokumentation eine stumpfe Waffe.
Die Dokumentationspflicht des Arztes und namentlich die Pflicht, die
erstellte Dokumentation dem Patienten herauszugeben, auf den sie sich
bezieht, entbehrt nach alledem einer legitimen Begründung. Ihrer Auf-
hebung durch die Rechtsprechung steht darum kein gesetzliches Hinder-
nis entgegen.
V.
Daß die Aufhebung sinnvoll wäre, weil die überlassung seiner Doku-
mentation dem Patienten nicht viel nützen kann, ist im vorstehenden
darzustellen versucht worden. Es bleibt übrig, darauf hinzuweisen, daß
sie sogar Schaden anrichten kann.
Die Dokumentation soll den Patienten u. a. in den Stand setzen, sei-
nen Arzt zu kontrollieren. Gelingt ihm das, so ist das von vielen behaup-
tete und heftig kritisierte Verhältnis der Unterordnung des Patienten
unter die Autorität des Arztes aufgehoben. Die sachgerechte Behand-
lung eines Kranken erfordert nun aber, daß er den Weisungen des
Arztes folgt. Dies wiederum setzt voraus, daß die Anordnungen des
Doktors Gewicht genug haben, um den Patienten beeindrucken zu kön-
Die Dokumentationspflicht des Arztes 709
die Ärzteschaft wird vermutlich Ungünstiges, das der Patient über sei-
nen Arzt sagt, unbedenklich ohne weiteres für wahr gehalten. Aller-
dings darf man vielleicht damit rechnen, daß es nicht immer verstanden
und bald wieder vergessen wird.
Das ändert sich aber, wenn der Patient seinen Gesprächspartnern
gegenüber auf die in seine Hand gelangte Dokumentation Bezug nimmt
und sie ihnen vorzeigt. Damit setzt er das Ansehen des Arztes aufs Spiel.
Denn die, welche er ins Vertrauen zieht, wissen oder bemerken oder den-
ken es sich, daß die Aufzeichnungen, die ihnen zur Kenntnisnahme gebo-
ten werden, von dem Arzt des Patienten stammen und Angaben über die
von ihm dem Kranken gewidmete ärztliche Tätigkeit enthalten. Man-
che von ihnen werden daraus den Schluß ziehen, daß auf den Arzt kein
Verlaß ist, weil er "nicht dicht hält". Damit verliert er an Vertrauens-
würdigkeit. So kann es manchem Arzt ergehen, der die Weisung der
Rechtsprechung befolgt und dem Kranken, den er versorgt hat, die Auf-
zeichnungen herausgibt, welche jener verlangt47 •
VI.
I. Geschichtlicher Hintergrund
Durch Gesetz vom 22. Mai 1981 hat Norwegen nach langen Vorberei-
tungen eine neue Strafprozeßordnung erhalten, mit der die Strafpro-
zeßordnung von 1887 abgelöst werden soll. Ein Regierungsvorschlag
über das Inkrafttreten des neuen Gesetzes wurde im April 1984 vor-
gelegt und wird voraussichtlich im Laufe des Jahres vom Parlament
(Storting) behandelt werden. Als Zeitpunkt für das Inkrafttreten ist
der 1. Juli 1985 vorgesehen.
Die noch geltende Strafprozeßordnung von 1887 stellte eine tiefgrei-
fende Reform des Strafverfahrens dar 1 • Mit ihr wurden die Prinzipien
der Mündlichkeit, Öffentlichkeit und Beweisunmittelbarkeit eingeführt,
Laienrichter erhielten eine zentrale Rolle in der Strafrechtspflege, der
Anklagegrundsatz wurde im Gesetz verankert und eine selbständige
Anklagebehörde geschaffen. Die Annahme der Strafprozeßordnung ge-
schah nach langem politischem Streit und unter heftigem Widerstand
der konservativen Partei. Besonders umstritten war die Beteiligung
von Laienrichtern am Strafverfahren. Im Amtsgericht, das kleine und
mittelgroße Strafsachen verhandelt, nehmen zwei Schöffen neben dem
Amtsrichter Platz als gleichberechtigte Mitglieder des Gerichts. Für
das Schwurgericht, das bei schweren Verbrechen erstinstanzlich zu-
ständig ist, hat das Gesetz nach englischem Vorbild das Jury-System
eingeführt. Zehn Geschworene entscheiden über die Schuldfrage, drei
Berufsrichter entscheiden über die Strafzumessung.
Gerade die Einführung der Jury wurde von den liberalen Vorkämp-
fern der damaligen Strafprozeßreform als deren Kernstück betrachtet.
So wurde die Strafprozeßordnung anfangs noch lange Zeit das "Jury-
Gesetz" genannt. Das Jahr 1884 gilt für Norwegen als Geburtsjahr
des Parlamentarismus. Vor diesem Hintergrund wurde der Streit um
die Strafprozeßordnung von den Liberalen als eine Weiterführung des
V. Vereinfachte Verfahrensformen
46·
724 J ohannes Andenaes
Auf der anderen Seite enthält das neue Gesetz großzügigere Be-
stimmungen als vorher über die Entschädigung des Beschuldigten im
Falle einer Verfahrensbeendigung durch Freispruch oder Einstellung.
Der Einfluß der Feministenbewegung hat in einigen Punkten Spu-
ren hinterlassen. In Notzuchtsverfahren kann das Opfer den Bei-
stand eines Rechtsanwalts auf Kosten des Staates in Anspruch neh-
men. Der Rechtsanwalt soll die Interessen der Frau im Zusammenhang
mit den Ermittlungen und der Hauptverhandlung wahrnehmen. Er
hat das Recht, bei den polizeilichen und gerichtlichen Vernehmungen
der Frau anwesend zu sein und Fragen zu stellen. Er kann Einspruch
einlegen gegen Fragen, die nicht zur Sache gehören oder in unzuläs-
siger Weise gestellt werden. Man hat damit besonders an Fragen über
den sexuellen Lebenswandel der Frau gedacht. Kurz gesagt hat der
Anwalt die Aufgabe, die Belastung, die das Strafverfahren für die
Frau mit sich bringt, möglichst gering zu halten, dagegen nicht als ein
zusätzlicher Ankläger zu wirken. Am Plädoyer nimmt er nicht teil.
Diese Bestimmungen wurden schon 1981 in die alte Strafprozeßord-
nung eingeführt.
Um die Beteiligung von Frauen in der Strafrechtspflege zu stärken,
wird im Regierungsvorschlag über das Inkrafttreten der neuen Straf-
prozeßordnung empfohlen, daß die Listen, aus denen Schöffen und
Geschworene für die einzelnen Sachen durch Auslosung ermittelt
werden, nach Geschlecht geteilt werden sollen. Bei der Auslosung soll
abwechselnd ein Schöffe aus der Männerliste und einer aus der Frauen-
liste gezogen werden. Ebenso soll für das Schwurgericht eine gleiche
Anzahl von männlichen und weiblichen Jury-Mitgliedern gewählt
werden. - Man hat ferner den Versuch gemacht, soweit wie möglich
sog. geschlechtsneutrale Bezeichnungen für die im Verfahren auftre-
tenden Personen zu finden. - Es ist zu erwarten, daß diese Ände-
rungsvorschläge im Storting Zustimmung finden werden.
REINHARD MOOS
10 Vgl. kritisch Schnek, ZBl 1932, 510 ff., 515; Moos, Reform, S. 6I.
20 Das Gesetz spricht zwar nur schlechthin von Vernehmung, nach sei-
nem Sinn und der h. M. ist jedoch nur die gerichtliche Vernehmung gemeint,
vgl. KH 2619, SSt 25/57, EvBI 1953/197, SSt 43/26; Foregger/Senni, § 38
Anm. 111; Roeder, S. 85; kritisch Bertel, 2. Aufl., Rdnr. 250.
21 Die in Gerichtshofsachen als Untersuchungsgerichte autonom tätig
werdenden Bezirksgerichte haben den Staatsanwalt gern. § 89 Abs.2 grund-
sätzlich nur von ihrem Vorgehen zu informieren. Die Untersuchungsrichter
des Gerichtshofs dürfen zwar unaufschiebbare Ermittlungen auch autonom
vornehmen, sie müssen allerdings die Anträge des Staatsanwalts abwarten,
bevor sie den Fall weiter aufklären.
22 Art.22 B-VG; h. M., vgl. SSt 3/33 u. a., Foregger/Serini, § 88 Anm. II;
Bertel, 2. Aufl., Rdnr.518, 525, 527; ders., AnwBl 1976, 335; a. M. nur verein-
zelt OGH, JBl 1976, 325.
23 Vgl. auch LohsinglSenni, S.2; MayerhoferlRieder, § 38 Anm. zu E 4;
Kodek/Germ, § 88 Anm.2. Bertel, 2. Aufl., Rdnr.250, 529, 790, erweitert die
Beschuldigtenstellung auf Vernehmungen nach § 38 Abs.3 und durch die
Polizei oder Gendarmerie. Er präzisiert aber in Rdnr.341, daß solche Per-
sonen, gegen die keine Verfolgungsanträge vorliegen, "nicht Beschuldigte"
sind, sondern nur "wie Beschuldigte" behandelt werden müssen. Sie sind
folglich nicht Partei, vgl. SSt 25/57, 25/73 und Bertel, AnwBl 1976,335.
730 Reinhard Moos
tisch dadurch ersetzt, daß der Verdächtige jedenfalls einem Gericht ge-
genübersteht. Das kommt ihr in der Wirkung gleich, obwohl das Gericht
nur eine einzelne Untersuchungshandlung vornimmt und nicht das Vor-
verfahren führt. Demnach ist wie ein Beschuldigter zu behandeln, wer
von einem Gericht als Verdächtiger förmlich belangt wird, ohne Beschul-
digter zu sein.
Wird der Verdächtige als solcher im Zuge der Vorerhebungen nicht
gerichtlich, sondern durch die Sicherheitsbehörden (kurz: Polizei) ver-
nommen, die entweder von sich aus die Untersuchung führen können
(§ 24) oder die der Staatsanwalt statt eines Gerichts zur Vernehmung
einschalten kann (§ 88 Abs.3), so wird er durch die StPO nicht wie ein
Beschuldigter geschützt, ihn trifft also nicht einmal der Abglanz von
Prozeßrechten. Er ist nur reines Untersuchungsobjekt. Die für den
Richter geltenden Vernehmungsvorschriften werden von der StPO
nicht auf die Polizei erstreckt. Zwar finden für die Polizeibehörden im
Dienste der Strafjustiz seit 1925 die Regeln des Verwaltungsstrafver-
fahrens "sinngemäß Anwendung", sofern sich aus der StPO "nicht an-
deres ergibt"24. Ob oder inwieweit aus der StPO folgt, daß dort ein
Sachgebiet speziell und exklusiv für die Gerichte geregelt ist, so daß
die Verwaltungsvorschriften gar keine subsidiäre Anwendung finden
können, oder ob die StPO analog anzuwenden ist oder nicht, bleibt
allerdings offen. Überdies paßt das Verwaltungsstrafverfahren nicht
richtig zum Strafprozeß, so daß diese Vorschriften in der eingefahrenen
Praxis des Vorverfahrens keine große Bedeutung haben. Art. V EGVG
rückt "gar nicht in das Blickfeld der damit befaßten Stellen", die Trag-
weite ist unklar25 • Hinsichtlich der "Parteirechte" der §§ 10 und 17 A VG
(Verteidigerbeiziehung, Akteneinsicht) wird angenommen, daß sie in den
Vorschriften der StPO eine starre Grenze fänden!6.
Die polizeilichen Vernehmungen sollten nach der ursprünglichen
Absicht des Gesetzgebers nur eine nebensächliche Rolle spielen, so daß
die prozessuale Rechtlosigkeit des Verdächtigen nicht ins Gewicht hätte
fallen sollen. Nach § 24 dürfen die Sicherheitsbehörden von sich aus
lediglich unaufschiebbare und vorbereitende Anordnungen treffen und
müssen im übrigen dem Staatsanwalt und Untersuchungsrichter so-
gleich Mitteilung machen. Ihre Vernehmungsprotokolle sollten gern.
§ 88 Abs.3 unverweilt vom Untersuchungsrichter überprüft werden27 •
27 Der OGH schränkt diese überprüfungspflicht seit SSt 5/66, 26/1 entge-
gen der Ansicht der Lehre auf Protokolle über Augenschein und Hausdurch-
suchung ein, vgl. dazu Moos, Reform, S.104 Anm.140; Bertel, 2. Aufl., Rdnr.
523.
28 Ein gesetzliches Verbot ist in der StPO nicht ausdrücklich enthalten.
Es wird aus § 88 abgeleitet, wonach der Staatsanwalt die Vorerhebungen
durch Gerichte und Sicherheitsbehörden vornehmen lassen kann. Das Er-
mittlungsverbot für den Staatsanwalt während der Voruntersuchung gern.
§ 97 Abs.2 kann nicht analog für die Vorerhebungen gelten, bei denen der
Staatsanwalt Herr des Verfahrens bleibt.
2D Vgl. SSt 43/26, JBl 1976, 325; Lohsing/Serini, S. 152; Fischlschweiger,
ÖJZ 1961, 539; Mayerhojer/Rieder, § 38 Anm. zu EI; Foregger/Senni, § 38
Anm. IV; Kodek/Germ, § 38 Anm. 2.
30 Vgl. auch Mayer, Commentar zu der Oesterreichischen Strafproceß=
Ordnung, 1. Teil, 1881, § 38 Anm. 3.
31 Vgl. KH 1732; Roeder, S. 85.
732 Reinhard Moos
39 Vgl. JBl 1976,325 mit Anm. von Liebseher; ForeggerlSerini, § 38 Anm. IV.
§ 88 Anm. Il rn. w. N.; Bertel, 2. Aufl., Rdnr. 25, 527; Moos, Reform, 8.60 Anm. 2,
121.
40 Der VwGH, JBl 1984, 215, hat in einer Entscheidung über den Begriff
der Anhängigkeit des verwaltungsbehördlichen Finanzstrafverfahrens die
Judikatur des OGH übernommen.
41 Vgl. Gleispach, 8.112; LohsinglSerini, 8.178; Roeder, 8.8,19.
42 Vgl. LohsinglSerini, 8.2; Roeder, 8.85.
734 Reinhard Moos
53 Vgl. KH 2419, 2619, SSt 25/57, EvBl 1953/197, SSt 43/26; ForeggerjSerini,
§ 363 Anm.11. Der OGH spricht davon, daß dann "gewissermaßen ein Partei-
verhältnis begründet worden ist", vgl. SSt 25/57. Auch das Wort "Beschul-
digter" setzt er in Anführungszeichen.
54 Vgl. Fischlschweiger, ÖJZ 1961, 539 ff. Zutreffend Bertel, 2. Aufl., Rdnr.
790, der entgegen SSt 43/26 die formlose Wiederaufnahme im bezirksgericht-
lichen Verfahren für unzulässig hält, wenn der Verdächtige bereits formell
Beschuldigter geworden ist.
736 Reinhard Moos
72 Vgl. Sueß, S. 18; anderes galt nach Sueß, S. 19 f. für die Generalprokura-
tur. Das Recht zur Rechtsmitteleinlegung zugunsten des Verurteilten fand er
bedauerlich, S. 18.
73 Sueß, S. 114 f.
74 Vgl. Sueß, S. 244.
75 Vgl. Sueß, S.21, 115 ff., 121 f., 225 ff., bes. auch zur Parteiöffentlichkeit,
den Sicherheitsbehörden und der Untersuchungshaft.
76 Vgl. die Literaturhinweise bei LohsinglSerini, S.2, 152; Gleispach, S.2,
auch Roeder, S. 1.
77 Vgl. Goldschmidt, S. 1 - 143. Nach einem Wort Eb. Schmidts fußen heute
auf dieser Kritik "alle modernen Darstellungen des Strafprozeßrechts, die
Anspruch auf wissenschaftlichen Charakter erheben wollen", vgl. Deutsches
Strafprozeßrecht. Ein Kolleg, 1967, Rdnr. 35.
78 Vgl. Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung, Teil I, 2. Aufl.
1964, Rdnr. 47,119.
Beschuldigtenstatus und Prozeßrechtsverhältnis 739
47'
740 Reinhard Moos
100 Dieses Formaldenken mit der Verwechslung von Form und Inhalt
kommt besonders gut bei Gleispach zum Ausdruck: Der Anklagegrundsatz be-
deutet nur "Trennung der Verfolgung von richterlicher Tätigkeit" (S.47). Er
schafft den Inquisitionsprozeß ab, führt im übrigen aber nicht dazu, "die Vor-
züge des Inquisitionsprozesses preiszugeben" (S. 44). Darum bedeutet die rich-
terliche Inquisitionsmacht "nicht ein... Zugeständnis an das Inquisitions-
prinzip" (S. 46). Auf diese Weise läßt sich also der Inquisitionsprozeß (im for-
mellen Sinne) abschaffen und gleichzeitig (im materiellen Sinne) weiterführen.
Es wird auf zwei verschiedenen Ebenen argumentiert und die Argumente der
einen Ebene werden für die andere verwendet. So gilt die Form für den Inhalt.
101 Gleispach, S.46, argumentiert umgekehrt: Daß der Beschuldigte dem
Ankläger gegenübersteht, führt dazu, ihm prozessuale Rechte gegen das Ge-
richt einzuräumen. Dieses ist in seiner Untersuchungsmacht jedoch "souve-
rän" und daher unparteilich. Kraft seiner Aufgabe ist es nur mehr objektiv
(S. 51). - Das erinnert an das formallogisch konsequente Verteidigerverbot
im Inquisitionsprozeß, das sich daraus ergab, daß der Richter "die Wahrheit
mit allen Umständen von Amtswegen zu erheben" hatte, "mithin die Ver-
theidigung der Unschuld in der Pflicht des Kriminalrichters bereits mitbe-
griffen" war, vgl. Allg. Kriminal-Gerichtsordnung (abgek. KGO) 1788, § 83,
ähnlich StG 1803, 1. Teil, § 337.
746 Reinhard Moos
102 Vgl. Gleispach, S.46; auch LohsinglSerini, S. 178, der in der ungleichen
Ausstattung der Prozeßrollen immerhin "einen inquisitorischen Zug" sieht.
103 Vgl. § 203 im Gegensatz zu KGO §§ 109, 110 und StG 1803, 1. Teil, §§ 363,
364.
104 Vgl. StG 1803, 1. Teil, § 368.
105 Vgl. StG 1803, 1. Teil, §§ 292, 337.
Beschuldigtenstatus und Prozeßrechtsverhältnis 747
1. Die Praxis hat sich von den Vorstellungen des Gesetzes vor allem
insoweit entfernt, als der Richter nicht mehr die reguläre Ermittlungs-
instanz des Vorverfahrens ist, sondern vielfach von der Polizei und
Gendarmerie verdrängt wurde. Diese ermitteln von sich aus möglichst
anklagereif, die Staatsanwaltschaft bleibt weit mehr, als es vom Ge-
setz ursprünglich gewollt war, auf die Entscheidung über die unmit-
telbare Anklageerhebung beschränkt. Diese Entwicklung ist schon des-
halb unvermeidlich, weil der Untersuchungsrichter nicht über die Aus-
bildung und Hilfsmittel eines Kriminalisten verfügt. Mit dem Fort-
schreiten der Technik wird sich dieser Mangel noch mehr vergrößern.
Der Untersuchungsrichter in der Voruntersuchung wiederholt in der
Regel nur die polizeilichen Vernehmungen. Die StPO begünstigt diese
Entwicklung, indem sie der Polizei die unmittelbare Untersuchungs-
rnacht bei Vernehmungen zubilligt, während sie sie dem Staatsanwalt
wegen des al1f die AntragsteIlung beschränkten Anklageprinzips ver-
sagt (§ 88 Abs. 3). Die Tätigkeit der Polizei steht der des Untersuchungs-
richters weit näher als jener der Staatsanwaltschaft, denn sie ist keine
Partei; ähnlich wie das Gericht kann sie niemanden beschuldigen.
Für den Verdächtigen bedeutet das, daß er vor der Anklage nur
noch in Ausnahmefällen zum Beschuldigten wird oder einem solchen
nach § 38 Abs. 3 gleichsteht. Diese Entwicklung soll durch die Straf-
prozeßreform auch im Interesse der Verfahrensbeschleunigung gesetz-
106 § 199; vgl. KGO § 83, StG 1803, 1. Teil, §§ 337, 372.
107 Vgl. StG 1803, 1. Teil, § 258. So schon im Prinzip die Const. Crim. The-
resiana Art. 25 § 11 als Voraussetzung der Spezialinquisition; vgl. auch KGO
§ 51 zur Ablieferung an das Kriminalgericht.
748 Reinhard Moos
1. Der Beginn eines Zivilprozesses mit der Klage, die drei Seiten in
den Prozeß einbindet, paßt nicht für den Strafprozeß, bei dem die Be-
schuldigung oder Anklage nur eine Zäsur zwischen den Prozeßstatio-
nen darstellt. Es ist nicht ersichtlich, wieso das vor der Anschuldigung
liegende amtswegige Verfahren, das von Anfang auf das endliche Ziel
einer Verurteilung ausgerichtet ist llO , kein Strafprozeß sein sollte. Die
Prozeßdefinition im weiteren oder engeren Sinne je nach formalen
Stadien, die dazu noch das behördliche Vorverfahren nicht einbezieht,
ist unnötig kompliziert und lebensfremd. Der Prozeß muß vielmehr,
wie in anderen Ländern auch, umfassend definiert werden. Er beginnt
nach der Offizialmaxime mit dem ersten staatlichen Tätigwerden bei
irgend einem Verdacht, nicht nur durch das Gericht und auch gegen
Unbekannte. Schon deshalb kann der Strafprozeß kein dreiseitiges
Verhältnis sein. Er setzt am Anfang nicht einmal die Einbeziehung
irgendeiner Person außer den Vertretern der Staatsmacht voraus, ge-
schweige denn einen Beschuldigten111 •
2. Die Prozeßvoraussetzungen sind in Wahrheit keine solchen, denn
der Prozeß läuft auch, wenn sie fehlen. Sie sind nicht vor, sondern wäh-
rend des Prozesses zu prüfen und betreffen die Zulässigkeit einzelner
Prozeßschritte. Sie schaffen oder bedingen darum kein Prozeßrechts-
verhältnis112•
3. Die Anrufung eines Gerichts durch den Staatsanwalt hat zwar
äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Zivilprozeß, der Sache nach
handelt es sich aber nicht um das Einklagen eines "Straf-Anspruchs",
sondern um die Durchsetzung des ius puniendi durch eine Aufteilung der
Staatsmacht in verschiedene Funktionen, um eine möglichst objektive
Wahrheitsfindung zu gewährleisten und den Einfluß von Politik und
Verwaltung auf die Rechtsprechung in rechtsstaatlicher Weise zu be-
grenzen. Diese Freistellung des Gerichts von der Initiative zur Straf-
verfolgung bedeutet nicht, daß es nur Entscheidungsinstanz über einen
Parteienstreit wäre. Es bleibt vielmehr - im Prinzip nicht anders als
im Inquisitionsprozeß - auch Untersuchungsinstanz. Die These Gla-
sers, daß die zivilprozessuale Verhandlungsmaxime und das strafpro-
110 Vgl. Eb. Schmidt, Deutsches Strafprozeßrecht, Rdnr. 41.
111 Vgl. Eb. Schmidt (Anm. 110), Rdnr. 37; Moos, Reform, S. 114.
112 Vgl. Goldschmidt, S.4 ff.; Eb. Schmidt, Lehrkommentar, I, Rdnr.46,
113 ff., 119. - Die österr. StPO wurde überdies vor der Entdeckung der Pro-
zeßvoraussetzungen konzipiert, sie kennt noch keine Trennung in Sach- und
Prozeßurteil, sondern nur in Verurteilung, Freispruch und Unzuständigkeits-
urteil. Es wird nicht erkannt, daß das Unzuständigkeitsurteil und die Frei-
sprüche wegen fehlender Prozeßvoraussetzungen dogmatisch auf derselben
Stufe stehen. Fehlende Prozeßvoraussetzungen und materielle Rechtsmängel
werden gleichbehandelt bzw. gar nicht differenziert, vgl. § 281 Abs.1 Ziff. 9 b,
e, so auch § 259 Abs.3. Insoweit ist das österreichische Strafprozeßrecht noch
hinter den Verdiensten von Bülow zurückgeblieben.
750 Reinhard Moos
Wirkungen für den Ankläger können nie dieselben sein wie für den An-
geklagten.
125 Vgl. StG 1803, 1. Teil, §§ 258 ff., §§ 281 ff., §§ 334 ff. Diese Vorschriften re-
gelten das gerichtliche Verfahren gegen einen schon damals sog. "Beschuldig-
ten"; vgl. auch Anm. 107.
126 Vgl. CCTh. Art. 25 §§ 11, 12 und Art. 27, 29, 38; StG 1803, 1. Teil, §§ 259 ff.
127 Hauser, Kurzlehrbuch des schweizerischen Strafprozeßrechts, 2. Aufl.
1984, S. 88; auch ders., Kriminalistik 1978,369.
128 Vgl. auch Hauser, Kriminalistik 1978, 369: Ein Strafverfahren, das "...
in erkennbarer Weise darauf abzielt, gegen die betreffende Person strafrecht-
lich vorzugehen". Für eine solche Kombination subjektiver und objektiver
Merkmale auch Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1224 und Fincke, ZStW 95
(1983), S.937, 446: erste Manifestation des Verfolgungswillens in personam.
dieser Person als Täter abstellt. Welches Organ dabei tätig wird, spielt
im Gegensatz zur Anklage keine Rolle. Verfolgungsorgan im mate-
riellen Sinne ist sowohl der Richter als auch die Staatsanwaltschaft
oder die Polizei. Dieser Verfolgungsakt besteht nicht unbedingt in einer
Vernehmung. Was sich einerseits äußerlich als solche darstellt, kann
inhaltlich auch nur die informelle Anhörung einer Person sein, die zwar
verdächtig ist, aber vorerst weder als Zeuge noch als Beschuldigter
qualifiziert werden kann. Sie verpflichtet den Informanten zu nichts128 •
Andererseits sind auch vor der Vernehmung bereits Verfolgungsschritte
denkbar, die den Beschuldigtenstatus auslösen, wie etwa Ermittlungs-
schritte oder gar die Festnahme (vorläufige Verwahrung). § 32 Abs.2
VStG läßt deshalb mit Recht für die Beschuldigung jede gegen den
Verdächtigen als solchen gerichtete Amtshandlung genügen. Das
Wesentliche am Beschuldigtenstatus ist somit, daß gegen jemand als
Verdächtigen eine faktische Verfolgungshandlung gesetzt wird 13O • Ein
konstitutiver Beschuldigungsvermerk in den Akten ist nicht nur un-
nötig, sondern auch schädlich, weil es gerade darauf ankommt, von
der "Ernennung" zum Beschuldigten endlich Abstand zu nehmen, denn
sie ermöglicht es, die wichtigsten Ermittlungshandlungen gegen eine
Person vor diese Formalisierung zu verlegen13l •
Die im österreichischen Vorverfahren noch fortwirkende Unterschei-
dung der Inquisitionsstufen in die allgemeinen Vorerhebungen bezüglich
der Tat und des Verdächtigen und die spezielle Voruntersuchung gegen
den Beschuldigten sollte überwunden und dieser ganze Verfahrensteil
als ein einheitliches Ganzes gesehen werden. Beschuldigter kann darum
jemand auch bereits mit dem Beginn der ersten Ermittlungen gegen
129 Vgl. zur Einführung dieser Rechtsfigur in die Schweiz seit 1954 Hauser,
Kriminalistik 1978,374 und kritisch Trechsel, in: Gropp, ZStW 95 (1983), S. 1019.
- Die Möglichkeit der Anhörung einer Auskunftsperson darf natürlich nicht
zu einem Verzicht auf die Inkulpation führen. - In Deutschland bejaht von
Müller, in: Karlsruher Kommentar, 1982, § 163 a Rdnr.2; Gössel, Strafver-
fahrensrecht, 1977, S. 53 f.; Fincke, ZStW 95 (1983), S.948; strikt ablehnend
dagegen von Gerlach, NJW 1969, 776 ff., 777 f.: es gibt nur Zeugen und Be-
schuldigte. In Österreich ist die Auskunftsperson bei den autonomen polizei-
lichen Vernehmungen (§ 24) anerkannt. Der Erhebungsbericht über die Aus-
kunft einer "im Zuge polizeilicher Erhebungen befragten Person" (SSt 5/66,
EvBl 1953/130, gemeint sind wohl nur Zeugen) wird nicht als eine Vernehmung
im rechtlichen Sinne angesehen. Er ist sogar dann in der Hauptverhandlung
zu verlesen, wenn richterliche Zeugenprotokolle wegen des Zeugnisverweige-
rungsrechts unverwertbar wären, vgl. MayerhoferlRieder, § 252 E 82, 83, 86
und auch Schwarz, JBl 1954,485 ff.
130 Vgl. auch die gute Formulierung im Entwurf einer StPO für den Kanton
Schaffhausen vom 6. 12. 1983, Art. 37: "Beschuldigter ist, wer von einem Organ
der Strafrechtspflege einer strafbaren Handlung verdächtigt und deswegen
verfolgt wird."
131 So treffend Fincke, Diskussionsbeitrag zu Müller-Dietz, ZStW 93 (1981),
S. 1287; ders., ZStW 95 (1983), S. 942, 947 ff.
Beschuldigtenstatus und Prozeßrechtsverhältnis 755
ihn sein, die Konstruktion des § 38 Abs. 3 wird unnötig. Als Verfahrens-
zäsur, die jemanden zum Beschuldigten macht, bleibt nur die inhaltliche
Wendung der Verfolgung zu einer solchen ad personam übrig. Dem steht
auch nicht Art. 6 MRK, der in Österreich Verfassungs rang hat, entgegen,
dessen Beschuldigtenbegriff "charged with a criminal offence" in deut-
scher Fassung ungenau mit "Angeklagter" übersetzt ist; dieser Begriff
ist vielmehr materiell zu verstehen132 •
Die materielle Betrachtungsweise auch des Verfolgungsaktes muß
schließlich durch die ausdrückliche Information des Beschuldigten er-
gänzt werden, daß nunmehr gegen ihn persönlich ermittelt werde.
Jescheck hat sich im Interesse der materiellen Rechtsstaatlichkeit mit
Recht dafür ausgesprochen, diesen Zeitpunkt "so frühzeitig wie nur
irgend möglich" anzusetzen, und zwar mit der Kenntnis von der Mög-
lichkeit der Zuschreibung der Tat in bezug auf diese Person, weil
sonst dem Beschuldigten die wichtigsten Rechte, wie besonders sein
Schweigerecht und das Recht auf Beratung mit einem Verteidiger, in
dem Augenblick entzogen werden, in dem er ihrer bedarf133 •
Dem materiellen Beschuldigtenbegriff liegt eine größere Empfind-
lichkeit für das Schutzbedürfnis bei staatlichen Eingriffen zugrunde,
als es der formalisierte Beschuldigtenstatus samt der ihn unterstüt-
zenden Lehre vom Prozeßrechtsverhältnis und vom Parteiprozeß ge-
währt. Darum werden derartige Reformvorschläge im Interesse der
Effizienz der Strafverfolgung auf Widerstand stoßen, zumal die for-
male Dogmatik den gewohnten Denkvorstellungen entspricht. Mit de-
ren Fortführung wäre freilich nur einmal mehr dokumentiert, daß
die Definition des Beschuldigten von der Interessenabwägung zwischen
der "bürgerlichen Freiheit" des einzelnen und seiner Unterordnung
unter den Staat und damit vom jeweiligen Zeitgeist abhängt und sich
nicht aus angeblich sachlogisch vorgegebenen Begriffen der Prozeß-
dogmatik ergibt.
132 Vgl. Trechsel, in: Gropp, ZStW 95 (1983), S. 1020 m. w. N. und dort (1024)
in der Sache ebenso Fincke: entscheidend ist nur die Intensität der faktischen
Verfolgung. (Warum Fincke diesen seiner materiellen Theorie entsprechen-
den Begriff "extrem formell" nennt und deswegen begrüßt, ist nicht ersicht-
lich.)
133 Jescheck, in: Gropp, ZStW 95 (1983), S. 1018.
HANS-LUDWIG SCHREIBER
1.
11.
Der Richter soll nicht nur unabhängig, sondern zugleich dem Gesetz
unterworfen sein. Dieser gesetzliche Wortlaut läßt die geschichtliche
Herkunft des Satzes deutlich erkennen. Er stammt aus dem aufge-
klärten Vernunftrecht und hat seine Wurzeln vor allem in der Idee des
naturrechtlich begründeten Gesetzesstaates12 • Die Gerichtsbarkeit soll
der Willkür des Herrschers, seiner Kabinettsjustiz und der Praxis der
III.
32 Vgl. dazu etwa Larenz (Fn.28), S. 89 ff.; Schreiber (Fn.12), S.222 mit
vielen weiteren Nachweisen.
33 Herrmann, Die Unabhängigkeit des Richters?, DRiZ 1982,286 ff., 287.
34 Vgl. etwa zur Topik und zur "vernunftrechtlichen Argumentation"
Krieles Larenz (Fn. 28), S. 138 ff.; Schreiber (Fn. 12), S. 226 f.
762 Hans-Ludwig Schreiber
Daß zugleich mit der Bindung an das Gesetz auch die richterliche
Unabhängigkeit zweifelhaft werden mußte, liegt auf der Hand. Ist sie
doch geschaffen worden wegen der Freiheit von anderen Abhängig-
keiten für die Verwirklichung des Gesetzes. Zutreffend meint Geiger,
der Sinn des Art. 97 I GG käme besser zum Ausdrucl<::, wenn es hieße:
"Die Richter sind dem Gesetz unterworfen und deshalb unabhängig"31.
Der unabhängige Richter sollte kein "ungebundener" Richter sein, der
sein Amt nach eigenen Maßstäben ausübt. So wird dem Institut der
Unabhängigkeit jedenfalls der bisherige Boden entzogen, wenn seine
andere Seite, die Bindung an das Gesetz, wegfällt. Arthur Kaufmann
hat recht, wenn er ausführt, daß dem gewandelten Methodenver-
ständnis bislang nicht der Durchbruch zu einem neuen Verständnis der
Stellung des Richters und seiner Unabhängigkeit gefolgt sei36 • Auch
Eberhard Schmidt, von dem wohl die fundierteste neuere Begründung
der Unabhängigkeit stammt, ist noch der überholten Auffassung von
der Rechtsfindung verpflichtet 37•
Dieter Simon hat bisher am konsequentesten das "Unabhängigkeits-
dogma" radikaler Kritik unterzogen 3B • Der sog. "Justizsyllogismus" ,
die Lehre von der bloßen Gesetzesanwendung durch Subsumtion, nähre
sich noch vom "versteinerten Mythos der Gesetzesbindung" 39. Nach
Durchmusterung der verschiedenen Möglichkeiten, die Bindungsthese
neu unter den veränderten methodischen Bedingungen zu formulieren
und sie etwa auf die grundlegenden Wertentscheidungen des Gesetzes
oder die Prinzipien der Verfassung zu beziehen40 , kommt Simon zu
dem Ergebnis, daß rechtstechnische, methodologische oder institutio-
nelle Sicherungen zur Bindung des Richters an das Gesetz prinzipiell
nicht vorhanden seien. Methodologische Selbstbefreiung durch teleolo-
gisches Denken und Zunahme des Freiheitsbewußtseins durch vertiefte
Einsicht in den Rechtsfindungsprozeß hätten die Bindung auf die dürf-
tigen Halterungen der Richtersozialisation, der Selbstverpflichtung und
der Druckmittel einer als loyal vorausgesetzten Institution reduziert.
In Zukunft müsse mit dem bewußt ungebundenen Richter gerechnet
werden 41 •
Die unter neo-freirechtlichen Perspektiven damit vorgenommene
völlige Reduktion der Bedeutung des Gesetzes erscheint verfehlt. Sicher
35 Geiger, Juristenjahrbuch Bd. 3, S. 86.
36 Arthur Kaufmann (Fn. 5), S. 299.
37 Eb. Schmidt (Fn. 12), Rn. 470 ff.; dazu vgl. Arthur Kaufmann (Fn.5),
a.a.O.
38 In seiner schon oben (Fn. 7) zitierten Schrift "Die Unabhängigkeit des
Richters", 1975.
30 (Fn. 7), S. 70.
<0 (Fn. 7), S. 79 ff.
H (Fn. 7), S. 88 f.
Wie unabhängig ist der Richter? 763
gibt es, das ist Simon zuzugeben, gegenwärtig keine allgemein akzep-
tierte juristische Entscheidungstheorie, die das Gesetz als ausschließ-
liche Determinante versteht. Die Möglichkeit einer jedenfalls weit-
gehenden Orientierung der richterlichen Tätigkeit an den Vorgaben
des staatlichen Rechts kann aber nicht begründet in Abrede gestellt
werden. Daß dies nicht im Wege strikter Subsumtion geschieht, schließt
die Steuerungsfunktion des Gesetzes nicht aus. Daß in die konkrete
Entscheidung auch andere Elemente eingehen, hindert nicht die Orien-
tierung am Gesetz bzw. seinen Wertentscheidungen.
Gadamer hat die juristische Auslegung zutreffend dahin charakteri-
siert, daß sich in ihr der zu verstehende Sinn erst konkretisiere und voll-
ende, daß sie sich aber gleichwohl vollständig an den Sinn des Textes ge-
bunden halte 42 • Wie die Beibehaltung des nulla-poena-sine-Iege-Prinzips
im Strafrecht erscheint das grundsätzliche Festhalten am Grundsatz der
richterlichen Gesetzesbindung sinnvoll, da trotz der erkannten Grenzen
einer solchen Bindung doch eine weitreichende Orientierung an allgemein
rechtlichen Vorgaben erreicht wird 43 • Bleibt bei dieser jedenfalls teil-
weisen Bindung an das gesetzliche Programm die richterliche Unab-
hängigkeit noch sinnvoll und gerechtfertigt? Hinter der Idee der Un-
abhängigkeit steht die Vorstellung, daß sie bessere, richtigere Rechts-
findung gewährleiste oder doch ermögliche. Simon kann den Z"veifel.
ob die Unabhängigkeit seit ihrer Durchsetzung dieser Aufgabe genügt
habe, nicht belegenu. Seine Relativierung der Leistungen des "kleinen
Teilsystems Justiz" für die Entwicklung des Rechtsstaates erscheint vor-
eilig und unbegründbar45 •
Versuchen wir vor einer allgemeinen Antwort auf die Frage nach
dem gegenwärtigen Sinn und der möglichen heutigen Tragweite des
überlieferten Instituts der Unabhängigkeit dessen gegenwärtige prak-
tische Bedeutung anhand der breiten Rechtsprechung und Literatur
herauszuarbeiten.
IV.
recht weit ausgedehnt und dazu etwa den Umfang der Einstellung von
Bußgeldverfahren, die Zeugenvernehmung im Ausland und das Vor-
bereiten von Voten unter Zeitdruck gerechnet hat06•
Andererseits hat der BGH etwa eine Dienstaufsichtsmaßnahme als
unzulässig bezeichnet, die den Gebrauch der Bezeichnung "dumm-
dreiste Lüge" für ein Verteidigungsvorbringen beanstandet hattes7 . Hier
wird der Bereich der äußeren Ordnung wieder enger gezogen, wenn
ein solcher "verbaler Exzeß" zum Kern der Rechtsprechungstätigkeit
gerechnet und als "im Rahmen der in Betracht kommenden tatsachen-
adäquaten Wertung prozessualen Verhaltens" liegend bezeichnet wird 68 •
Die offenbar praktisch nicht durchführbare Abgrenzung von Kern-
bereich und äußerer Form wird vom BGH in einem entscheidenden
Punkt schließlich durchbrochen: "Offensichtlich fehlerhafte Maßnah-
men" im Kernbereich sollen ebenfalls der Dienstaufsicht zugänglich
seinet • Das Gericht übernimmt das aus der Literatur, die damit die
Beanstandungskompetenz der Dienstaufsicht ausgedehnt hatte70 . Nir-
gends wird die Kategorie des "offensichtlichen Fehlgriffes" näher ge-
klärt. Die Dienstaufsicht dürfe nicht, so heißt es in einer der grund-
legenden Entscheidungen, die Möglichkeit haben, ein sachbezogenes
Unwerturteil schon unter der Voraussetzung zu fällen, daß sie Fest-
stellungen für falsch halte, die Rechtsanwendung oder das Verfahren
als fehlerhaft betrachte: "Erst der dem Zweifel entrückte, offensicht-
liche Fehlgriff" könne den Vorhalt gestatten, daß der Richter sich nicht
gesetzestreu verhalten habe 7l •
Der Sache nach wird damit die Begrenzung der Dienstaufsicht auf
den Bereich der "äußeren Ordnung" aufgegeben. Zu ihr werden
"gleichsam fiktiv"72 schwere Fehler bei der Rechtsprechung gezählt. Es
ist Simon zuzugeben, daß es sich dabei um eine "schroffe Mißachtung
der gegebenen Klassifikation" handelt73 • Man kann nicht, wie Schmidt-
schaftlichen Kräften ins Blickfeld·o. Von ihnen kann der Richter nicht
frei sein, da er nicht isoliert, sondern in vielfältigen persönlichen und
gesellschaftlichen Zusammenhängen lebt. Unter den daraus resultie-
renden Einflüssen haben vor allem die Herkunft der Richter aus be-
stimmten Schichten der Bevölkerung sowie die Bedeutung der moder-
nen Massenmedien für die richterliche Entscheidung besondere Beach-
tung gefunden. Soziologische Untersuchungen haben die These zu be-
legen versucht, daß die Herkunft der Richter überwiegend aus den Mit-
tel schichten eine wesentliche Determinante gerichtlicher Entscheidungen
sei91 • Ob und wieweit Herkunft, Schichtzugehörigkeit und Konfession
auf die Einstellung und diese dann auf die Entscheidungen der
Richter sich auswirkt, diese entscheidende Frage haben die bisherigen,
teilweise recht dilettantisch angelegten, ihrerseits von Vorurteilen be-
einflußten richtersoziologischen Untersuchungen92 nicht beantworten
können. Sicher bestehen hier Zusammenhänge, sie lassen sich aber
bisher nicht genau erfassen93 ; gewiß handelt es sich nicht um mono-
kausale Determinanten.
Welch wesentlichen Einfluß die modernen Massenmedien auf die
überzeugungsbildung auch der Richter haben, ist von verschiedener
Seite betont worden94 • Zutreffend hat man beschrieben, wie z. B. das
Verhalten von Richtern durch die Anwesenheit bestimmter prominen-
ter Pressevertreter beeinflußt wird. Wer läßt sich gern vom "Spiegel"
als unverständig qualifizieren? Eine sog. "aktive Öffentlichkeit", die
sich mit Demonstrationen bemerkbar macht, sucht Wirkungen zu er-
zeugen. Der Richter kann sich dem nicht einfach entziehen. Die These
Kissels, der Richter habe sich eben von allen Pressions- und Beein-
flussungsversuchen der modernen Kommunikationsmittel freizuhalten95 ,
erscheint gut gemeint, aber doch reichlich utopisch. Der Richter unter-
liegt vielfältigen Einflüssen, und man sollte die Illusion des nur dem
Gesetz verpflichteten, rein objektiven Richters verabschieden. Der sog.
"politische Richter", nicht i. S. des parteipolitisch orientierten, sondern
des der politischen Auswirkungen seiner Tätigkeit bewußten Richters,
.0 Enger faßt Herrmann, DRiZ 1982, 291, die innere Unabhängigkeit als
Problem der Einflüsse nicht seitens des Dienstherrn, sondern nur seitens der
"näheren und weiteren Umwelt" auf.
91 Vgl. dazu Schreiber, Verfahrensrecht und Verfahrenswirklichkeit, ZStW
88 (1976), S. 125 f. mit ausführlichen Literaturnachweisen.
92 Etwa Kaupen, Die Hüter von Recht und Ordnung, 1969.
93 Vgl. Richter, Zur Bedeutung der Herkunft des Richters für die Ent-
scheidungsbildung, 1973, S. 18 f.; Schreiber (Fn. 91), S. 126 f.
94 Kissel, § 18 Rn. 49, insbes. zum Stichwort "Vorverurteilung"; Kern/Wolf,
Gerichtsverfassungsrecht, 5. Aufl. 1975, S. 142 ff.; Herrmann, DRiZ 1982, 292,
sämtlich mit vielen weiteren Nachweisen.
95 Kissel, § 1 Rn. 157: "Der Richter hat diesen Einflüssen standzuhalten."
49·
772 Hans-Ludwig Schreiber
V.
Kehren wir nach diesem knappen Überblick über die heutigen prak-
tischen Probleme zur oben gestellten Frage nach dem gegenwärtigen
Sinn und den Möglichkeiten richterlicher Unabhängigkeit zurück. Wir
haben gesehen, daß diese sowohl theoretisch als auch praktisch keine
unzweifelhafte gewisse Gegebenheit ist. Die institutionelle Unabhän-
gigkeit ist nur in Grenzen verwirklicht, die Gerichte sind vielfach von
Verwaltung und Parlament abhängig. Sachliche und persönliche Un-
abhängigkeit sind in ihrem Kern verfassungsrechtlich garantiert und
praktisch realisiert: Es gibt keine bindenden Weisungen, keine willkür-
liche Absetzung und Versetzung. Der Schutz eines in richterlicher Hand
liegenden Verfahrens zu den Dienstgerichten steht gegen jede be-
hauptete Beeinträchtigung zur Verfügung 99 • In der Sache ist jedoch
derung verstanden werden, die Unabhängigkeit noch mehr als bisher für die
Fragen der Ausstattung, Besoldung etc. dienstbar zu machen und das Prin-
zip dadurch zu entwerten.
100 Peters, Strafprozeß, 3. Aufl. 1981, S. 106.
lich weniger sicher, als man das früher angenommen hat. Die Unab-
hängigkeit kostet auch ihren Preis, wenn unrichtig erscheinende, un-
verständliche Urteile nicht korrigiert werden können, sondern hinge-
nommen werden müssen. Über den verfassungsrechtlich gesicherten
Kern hinaus ist richterliche Unabhängigkeit nur ein Potential, kein
selbstverständlicher, sicherer Besitz.
Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck
zum 70. Geburtstag
Festschrift
für Hans-Heinrich Jescheck
zum 70. Geburtstag
Iierausgegeben von
Theo Vogler
in Verbindung mit
Zweiter Halbband
ERSTER HALBBAND
Grundfragen
S. A. Strauss, Pretoria
Liability for a so-called "mere omission" and the duty to rescue in
South African Law .............................................. 515
Arztrecht
Paul Boekelmann, München
Die Dokumentationspfiicht des Arztes und ihre Konsequenzen .... 693
ZWEITER HALBBAND
Kriminalpolitik
Mare Aneel, Paris
Directions et direetives de politique criminelle dans le mouvement
de reforme penale moderne ...................................... 779
Kriminologie
Rechtsvergleichung
Strafrechtsanwendungsrecht
Internationales und supranationales Strafrecht
Völkerstrafredtt
Bibliographie
1.
11.
Sans revenir une fois encore sur l'histoire, nous rappel1erons que
le mouvement moderne de reforme penale a sa source premiere dans
cet autre mouvement reformateur qui, il y a un siecle, remettait en
question le systeme existant de droit peDal. A la suite de la Revolu-
tion de l' Age des Lumieres s'etait etabli, pour tout le XI Xe siecle, un
systeme penal qui nous regit encore largement avec le principe de
legalite, la responsabilite penale et la peine retributive. La publication
en 1876 de l'Uomo delinquente de LombrosD, bientöt suivie en doctrine
782 Mare Aneel
III.
Une autre position - et une autre directive - de ce meme mouve-
ment resulte de sa reaction contre la politique du tTaitement, preco-
nisee au lendemain de la He guerre mondiale. Cette notion de traite-
784 Mare Aneel
ment a ete une des grandes idees des annees 1950 et la substitution
du traitement a la punition c1assique un des grands espoirs des peno-
logues de l'epoque. On entendait alors utiliser la privation de liberte
pour soumettre le delinquant interne a un processus (scientifique) de
resocialisation. On rejoignait ainsi la Reforme penitentiaire qui etait
egalement une des grandes positions de politique criminelle du mo-
ment; ear c'etait par une transformation du regime - et du person-
nel - des etablissements de detention qu'on entendait mener a bien
cette politique de «rehabilitation ». Des efforts furent entrepris et des
tentatives furent faites, encore qu'on puisse avoir quelques doutes
sur leurs reelles chances de succes, etant donne les conditions preeai-
res dans lesquelles elles etaient poursuivies. Quoiqu'il en soit, il appa-
rut, a la fin des annees 60 et avec les annees 70, que l'experience se
soldait par un echec, qu'on n'avait pas pu mettre au point des me-
thodes efficaces de traitement penitentiaire et qu'en fait les detenus
scientifiquement «traites» recidivaient dans les memes conditions et
les memes proportions que ceux qu'on avait soumis simplement a la
routine traditionnelle de la prison. Quelles conc1usions devait-on tirer,
sur le plan de la politique criminelle, de cet echec du traitement pro-
clame, parfois avec virulence, par une litterature criminologique abon-
dante, notamment aux Etats-Unis d'Amerique?
IV.
v.
Le mouvement moderne de depenalisation meriterait sans doute de
plus amples explications, mais nous avons seulement voulu montrer
comment il est l'aboutissement logique et pour ainsi dire necessaire
du mouvement de reforme penale moderne dans sa signification de
politique criminelle. Nous en aurions termine avec nos trop longues
explications s'il ne nous fallait encore signaler, brievement, deux
points qui paraissent apremiere vue aller a contre-courant de ce mou-
vement general. D'une part, en effet, la politique criminelle contem-
po raine a ete amenee dans certains cas a etablir de nouveaux modes,
quasi-repressifs, de reaction anticriminelle; d'autre part, elle conserve
soigneusement certains principes ou certaines positions qui la ratta-
ehent encore, par dela les innovations de 1950 ou meme par dela la
50'
788 Mare Aneel
Allein es scheint, wie wenn die Eigenart des Strafrechts der Verbin-
dung des Strafvollzuges mit bestimmten Arten von Behandlung grund-
sätzliche Schwierigkeiten bereite. Es stellt sich die Frage, ob die
Strafe als zwangsweise auferlegte Einwirkung es nicht ausschließt, im
Strafvollzug eine Behandlung durchzuführen, die eine Mitwirkung des
Verurteilten fordert, um ihr Ziel zu erreichen.
Die Eigenart der Strafe als zwangsweise Einwirkung auf den Ver-
urteilten verloren die nie aus dem Auge, die in der Nachfolge von
Eugen Huber 18 und Walther Burckhardt20 das Strafrecht als schärfste
Sanktion der zwangsbewehrten Rechtsordnung betrachteten. Franz v.
Liszt sah die Zusammenhänge ebenso klar: "Die Strafe ist Zwang ...
Sie wendet sich gegen den Willen des Verbrechers, indem sie die Rechts-
güter verletzt oder vernichtet, in welchen der Wille Verkörperung ge-
funden hatli." Den Zusammenhang zwischen Rechtsordnung, staat-
lichem Zwang und Strafe zu bemerken, schließt aus, das jeder Strafe
als Zwangseinwirkung innewohnende Moment der Abschreckung des
so Behandelten zu übersehen und bewahrt vor jeder Behandlungs-
euphorie.
Der Ansicht, daß das Strafrecht zu verstehen ist als Sicherung der
Rechtsordnung, scheint sich die herrschende Meinung auf mancherlei
Umwegen, nicht zuletzt geleitet von soziologischen Einsichten über die
verschiedenen Arten formeller sozialer Kontrolle und deren Aufgabe,
vor der Enttäuschung der Erwartung auf Durchsetzung der sozialen
Vorschriften zu bewahren!!, zu nähern", ganz zu schweigen von den
Autoren, die, wie Jescheck", das Strafrecht stets in den Dienst der Be-
währung der Rechtsordnung gestellt haben.
Den grundsätzlichen Bedenken gegen eine Verbindung von Behand-
lung mit der Strafe gesellten sich ganz anders begründete bei, die sich
auf die Grundrechte der Verurteilten beriefen25 • Diesen Einwänden
kann begegnet werden mit dem Hinweis darauf, daß die Behandlung
immer nur in deren fortwährendem Angebot bestehen kann20 • Wird, wie
in § 2 Satz 1 StVollzG, vom Strafvollzug gefordert, er solle die Verur-
teilten dazu bringen, in der Freiheit aus eigener Verantwortung ein
rechtsgetreues Leben zu führen, ähnlich schon AE § 37 Abs. 1 und Abs. 2
Satz 1, so kann das Ziel nur erreicht werden, wenn der Verurteilte an
diesen Bemühungen mitwirkt. Der Rechtszwang, der sich in der Strafe
äußert, stößt hier an eine unüberschreitbare Schranke.
Soll dieser Anzweifelungen und Schwierigkeiten wegen im Sank-
tionsvollzug auf jedes Behandlungsangebot und, wird es angenommen,
auf dessen Durchführung verzichtet werden?
Die Anwort auf diese Frage findet sich bei Jescheck selber, der bei
aller Betonung der Krisenhaftigkeit heutiger Kriminalpolitik den Be-
handlungsgedanken keineswegs verwirft, sondern mit aller Entschie-
denheit daran festhält. J escheck: geht "mit Selbstverständlichkeit davon
aus, daß ... die Bereitschaft zur aktiven Auseinandersetzung mit dem
Straftäter auch weiterhin die Grundlage der Kriminalpolitik bleiben
muß"". Er beruft in diesem Zusammenhang "die verschiedenen Reha-
bilitationsprogramme" mit dem so wichtigen Hinweis, daß "Richter und
Vollzugsbeamte bei ihrer Tätigkeit letztlich selbst nur eine Haltung er-
tragen können, die von Wohlwollen und menschlicher Zuwendung ge-
28 Ebd.
" Stratenwerth, Strafrecht und Sozialtherapie, in: Festschrift für Bockel-
mann, 1979, S.912: "... daß kriminelles Verhalten nicht zureichend begriffen
werden kann, wenn man seine Wurzeln allein in der Person des Verbrechers
sucht, sondern daß es sich aus dem Zusammenspiel vielfältiger sozialer Pro-
zesse ergibt", ferner S. 918.
30 "Gefährlich und für die weitere Entwicklung verheerend scheint mir
aber die pauschale Ablehnung der therapeutischen Kriminalpolitik" , so
Schreiber, Widersprüche und Brüche in heutigen Strafkonzeptionen, ZStW 94
(1982), S. 296, der mit Eser (Anm. 7), S. 508 übereinstimmend insbesondere
davor warnt, auf die Behandlung des einzelnen Straffälligen zu verzichten,
weil man die geltende Rechts- und Sozialordnung politisch ablehnt; Kaiser,
Einführung (Anm. 7), S. 131 f.; Armin Kaufmann, Die Aufgabe des Straf-
rechts, in: Strafrechtsdogmatik zwischen Sein und Wert, 1983, S.276; Mau-
rach!Zipf (Anm.3), Rdn.9 zu § 7; Roxin, Wandlungen der Strafrechtswis-
senschaft, JA 12 (1980), S. 226 f.; ders., Zur Entwicklung der Kriminalpolitik
seit den Alternativ-Entwürfen, ebd. S. 545 f., bes. 551; Marc Ancel, La nou-
velle defense soeiale, 3. AufI.., 1981, S. 256 f., bes. 265, um nur einige Hinweise
zu vermitteln. - Mit Schäch, Kriminologie und Sanktionsgesetzgebung,
ZStW 92 (1980), S. 184, kann gesagt werden von der "Hoffnung auf die Ent-
faltung sozialer Verantwortung bei jedem Menschen", daß "sie zwar oft
brüchig, aber nicht gebrochen ist."
31 (Anm. 29), S. 919.
798 Hans Schultz
U Jescheck (Anm. 1), S. 151 (1054 f.). Neuestens Ralf Bayerl, Gruppenarbeit
im Maßregelvollzug als Katalysator bei der Herstellung eines therapeuti-
schen Milieus, MSchrKrim 67 (1984), S.242; für jugendrechtliche Sanktionen
MCirieBoehlen, Das Jugenderziehungsheim als Faktor sozialer Integration,
1983.
42 Dazu Sechrest/West, Measuring the Interventions in Rehabilitation
Experiments, Int. Annals of Criminology 21 (1983), S.11; Kerner (Anrn.40),
a. a. 0., m. Nachw.; Kury (Anm. 40), a. a. o.
43 Speer, Praktische Erfahrungen in der stationären Behandlung von Ge-
walttätern, MSchrKrim 66 (1983), S.368, berichtet von 14 behandelten rück-
fälligen Gewalttätern, die zwischen 13 bis 47 Monaten in Freiheit gewesen
sind, daß nur die Hälfte rückfällig geworden ist, doch keine Gewalttaten,
sondern nur noch Eigentumsdelikte begangen hat.
44 Wider den kriminalpolitischen Rückschritt, MSchrKrim 62 (1979), S. 379.
'5 Kaiser, Resozialisierung (Anm.7), S.360. - Für Einbeziehung in den
Strafvollzug gemäß StVollzG Jescheck, Die Stellung der Freiheitsstrafe in
der Strafrechtsreform der Bundesrepublik Deutschland und Schwedens,
Festskrift till Hans Thornstedt, 1983, S. 356 f.; KaiserlDünkel/Ortmann, Die
sozialtherapeutische Anstalt - das Ende einer Reform?, ZRP 1982, S.198,
setzen sich dagegen für eine angereicherte Vollzugslösung ein, die für be-
stimmte Gruppen Gefangener zwingend die Verlegung in eine sozialthera-
peutische Anstalt vorsieht. - Zum Ziel des Strafvollzuges, ..daß der Insasse
als Mitglied einer problemlösenden Gemeinschaft soweit wie möglich einem
freien Bürger gleichzustellen ist", Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugs-
gesetzes, 1973, Vorbem. zum 4. Abschnitt, 139.
Krise der Kriminalpolitik? 801
51*
804 Hans Schultz
Täter und beachte die sozialen Ursachen der Kriminalität nicht. - Kritisch
zur "diversion" ferner Cinzia M. Campanini, Alternative al giudizio penale
nell'ordinamento nordamericano: Le techniche di "diversion", Riv. it. dir.
pen. n. F. XXVI (1983), S.131. - Ohne amerikanische Fehlentwicklungen der
"diversion" zu übersehen, hält Walter, Wandlungen in der Reaktion auf Kri-
minalität, ZStW 95 (1983), S. 32, sie für eine Möglichkeit, in gewissen genauer
zu umschreibenden Fällen, dem Subsidiaritätsprinzip folgend, eine außer-
kriminalrechtliche Sanktion genügen zu lassen, wenn keine kriminalrecht-
liche geboten erscheint, S. 66.
83 Nach dem Vorbild der nordischen Staaten, siehe Thornstedt, Die Straf-
rechtsreform der skandinavischen Staaten im Vergleich mit der Strafrechts-
reform der Bundesrepublik Deutschland, in: Lüttger (Hrsg.), Strafrechts-
reform und Rechtsvergleichung, 1979, S. 74 f., besonders Fn.8; ebenso Polen,
vgl. dazu Jescheck, Das neue deutsche Strafrecht im Vergleich mit dem pol-
nischen Recht, in: Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft (Anm.l), S.364.
U Diese Gefahr wird sogar in der den "diversion"-Prozeduren überaus
gewogenen Veröffentlichung des Europarates, Rapport sur la decriminalisa-
tion, 1980, S. 65, erwogen.
85 So schon zum Entwurf von § 153 a StPO Hanack, Das Legalitätsprinzip
und die Strafrechtsreform, in: Festschrift für Gallas, 1973, S.351; ebenso
Jescheck (Anm.l), S.155 (1061). Zu diesen und weiteren gegen § 153 a spre-
chenden Gründen Hirsch, Zur Behandlung der Bagatellkriminalität in der
Bundesrepublik Deutschland, ZStW 92 (1978), S. 224 f.; Baumann, Die Situa-
tion des deutschen Strafprozesses, in: Festschrift für Klug, 1983, S.463.
68 Dito, Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit als eigenständige Delikts-
kategorien? überlegungen zum Deliktsaufbau, in: Gedächtnisschrift für
Schröder, 1978, S. 53, die Frage verneinend.
87 Walter (Anm.62), S. 64 f., der für eine dritte Kategorie, die Strafbedürf-
tigkeit als Inhalt der Strafwürdigkeit, neben Unrecht und Schuld, eintritt.
Ist die individuelle Strafbedürftigkeit wirklich der Inhalt der allgemein zu
beurteilenden Strafwürdigkeit?
Krise der Kriminalpolitik? 805
letzten würden sich nicht allzu oft die Mühe nehmen, zum Richter zu
eilen78 • In gleicher Weise wirken die Vorschriften, die dem Urheber
eines Vermögensdeliktes Straflosigkeit verheißen, wenn er vor dem
Einreichen einer Anzeige den von ihm gestifteten Schaden ersetzt79 •
Die Suche nach neuen, engeren Grenzen der Strafbarkeit ist weltweit
und führte zu einer eigentlichen Bewegung der Dekriminalisierung80 •
Die Umwandlung früheren kriminellen Unrechts in Ordnungswidrig-
keiten81 kann ebenfalls in diesem Zusammenhang gesehen werden. Alle
zuvor erwähnten Reformen und Reformwünsche, vom Absehen von
Strafe, Einführung verschiedener Spielarten der bedingten Verurtei-
lung bis zum Aufheben von Strafvorschriften reichend, sind Momente
der Dekriminalisierung, ebenso die heute, wenigstens in der westlichen
Welt, wohl als herrschende Meinung anzusehende Auffassung, daß die
Strafe, insbesondere die Freiheitsstrafe, nur als ultima ratio zur Siche-
rung der Rechtsordnung beansprucht werden dürfe8!.
Aber kann von einer Krise der Kriminalpolitik gesprochen werden?
Strafe und Kriminalpolitik stehen seit der Aufklärung in Anfechtung
und Krise. In dieser Epoche wurde der wirklichen Strafrechtspflege der
Spiegel vorgehalten und Abkehr vom grausamen Strafrecht jener Zeit
gefordert. " ... e evidente che i1 fine delle pene non e di tormentare ed
78 So für Vermögensdelikte, wenn sich "die Tat nur auf einen geringen
Vermögenswert oder auf einen geringen Schaden" richtet, als Art. 172t . . ge-
mäß Vorschlag vom 30. 11. 1982 der in Anm.74 genannten Expertenkommis-
sion.
71 § 167 östr. StGB. Zahlreiche kantonale Gesetze hatten solche, den
Interessen des Opfers dienende Regeln enthalten. Die in Anm. 72 erwähnte
Kommission lehnte eine solche Ergänzung des Strafgesetzbuches leider ab,
weil sie befürchtete, sie würde zu einer Bevorzugung gutsituierter Täter
führen.
80 Umfassend dazu die in Anm.64 genannte Veröffentlichung des Europa-
rates, die allerdings der Entkriminalisierung deutliche Grenzen zieht und
schwerere Kriminalität davon ausschließt, S.72. - In der Bundesrepublik
scheinen verfassungsmäßige Grenzen zu beachten zu sein, vgl. Vogler, Mög-
lichkeiten und Wege einer Entkriminalisierung, ZStW 90 (1978), S. 170 f.;
BVerfGE 39, S. 53 f., über die Verpflichtung des Gesetzgebers, die Rechtsgüter
durch Strafbestimmungen zu schützen in bezug auf die Fristenlösung. - Zur
Entkriminalisierung auch McClintock, Some aspects of discretion in criminal
justice processes, Rev. int. dr. pen. 53 (1982), S.871; Mireille Delmas-Marty,
Modeles et Mouvements de Politique Criminelle, Paris 1983, mit der Bemer-
kung, kriminalpolitische Entscheidungen seien "un jeu trop souvent aveugle",
S. 182, und betonend, für deren Schicksal sei deren Aufnahme und damit
auch Kenntnis durch die von ihnen betroffenen Bürger entscheidend, S. 193,
zur Entkriminalisierung im einzelnen, S. 213 ff.
81 In der Bundesrepublik schon mit OWiG 1952, jetzt 1968/1975. In Italien
durch Gesetz vom 24.11. 1981 Nr.689, Modifiche al sistema penale, das ad-
ministrative Sanktionen einführt, Text bei Nuvolone, Il sistema deI diritto
penale, 2. Aufl., 1982, S. 587 f.
8.! Jescheck (Anm. 1), S. 143, 152 (1043, 1056).
808 HanS Schultz
kehren würde. Doch dann ginge es, wie Thomas Weigend betonte, "hin-
ter Franz von Liszts Marburger Programm zurück ins kriminal politische
Mittelalter"95. Von Eberhard Schmidt wissen wir, daß im Strafrecht
das Mittelalter bis in das 18. Jahrhundert hinein dauerteD8 •
Eine solche Wende würde eintreten, wenn die Existenznot auf der
übervölkerten Erde den, der sich an den Rechtsgütern anderer ver-
greift, wieder zum bloßen Feind werden ließe, gegen den es erbar-
mungslos Krieg zu führen gälte, in dem Austilgung oder Unschädlich-
machung das Ziel wäre und in welchem dem Rechtsbrecher der An-
spruch darauf, als Person geachtet zu werden und im Strafverfahren
Prozeßsubjekt zu sein, versagt bliebe.
Noch ist es nicht so weit. Noch immer gehören die Strafrechtler zu der
seltsamsten Spielart der Juristen, die ihr Metier nur betreiben zu kön-
nen scheinen in der Hoffnung, einmal ohne ihre Disziplin, ohne ein Straf-
recht auszukommen. Sie spricht aus den unvergessenen Worten eines
Gustav Radbruch, "daß die Entwicklung des Strafrechts ... ausmünden
wird. .. in ein Besserungs- und Bewahrungsrecht, das besser als ein
Strafrecht, das sowohl klüger wie menschlicher als das Strafrecht
wäre97 ." Noch ist es nicht so weit und inzwischen zeigt sich die Not-
wendigkeit, sogar ein solches Besserungs- und Bewahrungsrecht mit den
rechtsstaatlich gebotenen Sicherungen auszustatten, die es in die Nähe
des Strafrechts führen würde, nicht zuletzt deswegen, weil an der
strafbegrenzenden Funktion der Schuld festzuhalten istD8 • Einstweilen
versäumen die Strafrechtler keine Gelegenheit, zum großen Rückzugs-
I.
Die Beschäftigung mit Rechtsgrund und Zweck(en) der Kriminal-
strafe reißt nicht abt. Das kann aus wenigstens drei Gründen nicht
weiter überraschen. In theoretischer Hinsicht geht es auch um das
Staatsverständnis, das hinter der Funktionsbestimmung des Straf-
rechts steht, und damit zugleich um das Verhältnis des einzelnen im
und zum Staate. Das war etwa dem 19. Jahrhundert, das mit seltener
Eindringlichkeit dem Zusammenhang von "Recht, Staat und Strafe"
nachspürte2 , lange Zeit und in manchem geläufiger als uns3 • Noch
Radbruch hat jenen Zusammenhang unter staatsphilosophischem Vor..
zeichen mit seltener Eindringlichkeit und Entschiedenheit berufen,
wenn er Straftheorien und Staatsauffassungen einander assoziierte,
etwa die Vergeltungsstrafe dem absoluten Staatsverständnis und dem
Konservatismus, die Sicherungsstrafe der individualistischen Staats-
idee und dem Liberalismus zuordnete'. Unabhängig davon, ob jene
H.
In der neueren Diskussion ist die alte Unterscheidung zwischen
Rechtsgrund und Zweck der Strafe, die bereits Feuerbach zugrunde
gelegt hatl3 , wieder deutlich(er) hervorgetretenu . Die Frage, was Strafe
ihrem Wesen nach ist, und die Frage, was sie - im ganzen wie im ein-
zelnen - bezweckt, sind nicht deckungsgleich. Diese Differenzierung
ist zeitweilig durch die Orientierung an bestimmten oder zumindest
Hervorhebung spezifischer Zwecksetzungen - etwa spezialpräventiver
Provenienz - in den Hintergrund gedrängt worden; auf der Tagesord-
nung geblieben ist sie gleichwohl. Die Erkenntnis, daß Strafe ein übel
ist, das seinen Rechtsgrund in der begangenen Tat hat, ist freilich auch
durch Unklarheiten des Sprachgebrauchs und der Begrifflichkeit im-
mer wieder verdeckt oder verschüttet wordenl5 • So etwa hat der "Un-
begriff" der Vereinigungstheorie letztlich nur den Umstand verschlei-
ert, daß das Strafübel dem Täter aufgrund und wegen des Tatübels zu-
gefügt wird, daß Repression ihrerseits aber nur um der Prävention
willen geübt werden darf. Daß Kriminalstrafe kein Selbstzweck ist,
daß Vergeltung lediglich stattfinden darf, soweit sie notwendiges Mittel
zur Verbrechensprophylaxe darstelJt16, hat bekanntlich vor allem der
BGH selbst bekräftigt17.
Maße sie auf den gerade maßgebenden (oder sich als maßgebend dün-
kenden) Zeitgeist zurückverweisen23 • Es erforderte eine eigene Unter-
suchung, diesen zuweilen recht problematischen Zusammenhängen, die
gelegentlich sogar Zugeständnisse an modische Trends verraten und der
Kontinuität der Strafrechtsentwicklung nicht selten abträglich sind,
nachzuspüren24 • Eine solche Analyse würde - möglicherweise - er-
geben, daß und in welchem Maße allzu enge Anlehnung an jeweils vor-
herrschende Zeitströmungen, den sog. Zeitgeist, der Erhaltung und Bil-
dung jenes Rechts-Bewußtseins abträglich ist, von dem gerade - nach
verbreiteter Auffassung - die Geltungs- und Bestandskraft des (Straf-)
Rechts zehrt. Insofern hat die Frage, wie man es - jeweils - mit den
Funktionen des Strafrechts und den Zwecken der Kriminalstrafe hält j
auch etwas mit dem Beitrag zu tun, den die Strafrechtstheorie zur
Sicherung der Funktionsfähigkeit der Strafe als Mittel zur Wahrung
des Gesellschaftsschutzes überhaupt zu leisten vermag.
IH.
27 BGHSt. 24, 40, 46; BGHSt. 24, 64, 66; BGH GA 1976, 113, 114.
52·
820 Heinz Müller-Dietz
scheidungen soll der Gefahr gewehrt werden, daß das Vertrauen der
Bevölkerung in die Geltung des Rechts erschüttert wird.
Negativ bedeutet dies, daß Entscheidungen, die der Allgemeinheit
angesichts der konkreten Sachlage unverständlich erscheinen (müssen),
vermieden werden müssen, eben damit jene unerwünschten sozial-
psychologischen Auswirkungen auf die Geltungskraft des Rechts ver-
hindert werden. Auffallend daran ist, daß der Kontext, in den das
Gesetz den Begriff "Verteidigung der Rechtsordnung" eingestellt hat,
und die Interpretation dieses Begriffs vor allem auf dessen begrenzende
Funktion abheben. Darauf ist nochmals im Rahmen der weiteren über-
legungen zurückzukommen.
IV.
Die sog. Integrationsprävention hat wie alle Funktions- oder
Zweckbestimmungen der Kriminalstrafe - eine theoretische oder dog-
matische und eine empirisch-reale Seite. Hier soll die theoretische
Bedeutung des Phänomens im Vordergrund stehen; die reale soll nur
gestreift werden, wenn und soweit es wegen des Zusammenhangs er-
forderlich erscheint. Vieles, was zu letzterem Aspekt überhaupt ausge-
führt werden könnte, wäre beim jetzigen Stand der einschlägigen For-
schung eher ins Reich der Spekulation denn gesicherter Erfahrung zu
verweisen. Das BVerfG hat dazu angemerkt, es gebe "hierzu bisher
keine fundierten Effizienzuntersuchungen" , und sogar Zweifel anklin-
gen lassen, ob auf diesem Feld je in meßbarer Weise Wirkungen nach-
gewiesen werden könnten35 • Freilich ist nach dem Kontext, in dem diese
Äußerung steht, denkbar oder gar wahrscheinlich, daß das BVerfG
damit die Abschreck:ungsprävention gemeint hat. Doch wie dem immer
sein mag: Beim gegenwärtigen Stand der Forschung lassen sich allen-
falls Vermutungen anstellen oder Hypothesen formulieren, welche die
Richtung entsprechender Untersuchungen angeben könnten.
Dies würde wohl eine theoretische Vorklärung des Inhalts erfordern,
ob es sich beim Begriff der Integrationsprävention nicht um ein ideal-
typisches Konstrukt handelt, das nur bei Erfüllung einer ganzen Reihe
von Vorbedingungen eine gewisse Entsprechung in der Realität finden
könnte. Zu solchen Vorbedingungen mögen in positiver Hinsicht etwa
zählen: das Maß an kriminalpolitischer "Aufklärung", Toleranz und Li-
beralität, das in einer Gesellschaft vorherrscht, der Grad innerer Ge-
lassenheit und Selbstsicherheit gerade im Umgang mit Phänomenen
sozial abweichenden Verhaltens, der eine Gesellschaft auszeichnet, die
Intensität und der Umfang gesellschaftlicher Verankierung in ,allge-
mein akzeptierten und konsentierten Werten. In negativer Hinsicht mag
35 BVerfGE 45, 256.
Integrationsprävention und Strafrecht 821
U Vgl. etwa Noll, Schuld und Prävention unter dem Gesichtspunkt der
Rationalisierung des Strafrechts, Festschrift für Hellmuth Mayer, 1966,
S. 219 ff., 223, 227; Roxin (Fn.21), S.305; BockeZmann, Strafrecht, Allgern.
Teil, 3. Auft. 1979, S.8; Müller-Dietz, Grundfragen des strafrechtlichen Sank-
tionensystems, 1979, S. 22, 30; Otto (Fn.19), S. 279 ff.; Armin Kaufmann (Fn. 1),
S.7.
cs Jescheck, Lehrbuch (Fn.16), S.3 f., 53; ders., in: Strafrecht (Fn.22),
S.I44.
" Zur Problematik gerechter Strafen z. B. Horstkotte, Strenge Strafen,
milde Strafen, "gerechte" Strafen - über die Orientierung der gegenwär-
tigen Strafzumessungspraxis -, in: Gibt es ein Recht auf Strafe? Zum
neueren Streit um Begründung und AUsgestaltung der Strafe (Loccumer
Protokolle 20/1980), S. 118 ff.
u Zum Individualisierungsgedanken vgl. Würtenberger, Die geistige
Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft, 2. Auf!. 1959, S. 87 ff.; Heinitz,
Die Individualisierung der Strafen und Maßnahmen in der Reform des
Strafrechts und des Strafprozesses, 1960; Baumann, Grenzen der individualen
Gerechtigkeit im Strafrecht, in: Summum ius, summa iniuria. Individual-
gerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben, 1963,
S. 117 ff.; Jescheck, Lehrbuch (Fn.16), S. 698 ff.; Müller-Dietz (Fn.42), 5.171
(m.w.N.).
824 Heinz Müller-Dietz
V.
Natürlich kann das hier vorgestellte Denkmodell, das ja keineswegs
neu ist, nur unter wenigstens drei, freilich gewichtigen Prämissen prak-
tisch funktionieren. Die eine Voraussetzung liegt darin, daß sich hinrei-
chend breiter Konsens über Wert und Bedeutung eines strafrechtlich
geschützten Rechtsgutes und die Notwendigkeit seines strafrechtlichen
Schutzes herstellen läßt". Ist solcher Konsens nicht zu erreichen, weil
z. B. Wert des Rechtsgutes und Frage des Strafrechtsschutzes religiös,
weltanschaulich, ethisch oder politisch heftig umstritten sind, dann
mindert dies notgedrungen die Anerkennung und Wirkung einer -
etwa auf der Basis einer schmalen (Parlaments-)Mehrheit durchgesetz-
ten - Norm. Ob und wie sich in einem solchen Falle die Norm gleich-
wohl behaupten kann, hängt wohl von vor- und außerrechtlichen Nor-
mensystemen und Sozialisationsinstanzen ab.
Die zweite, eher rechtspraktische, aber gJ.eichwohl nicht zu vernach-
lässigende Frage betrifft die Umsetzung eines Wert- oder Rechtsguts-
Bewußtseins in eine Norm oder vielmehr Strafdrohung, die das allge-
mein oder doch weithin zugrundegelegte Maß von Unrecht und V,er-
schulden adäquat zum Ausdruck bringt. Das kann deshalb Schwierig-
48 Zur Rechtsgutsdiskussion etwa Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz
der Gesellschaft, 1972; Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens.
Ansätze zu einer praxisorientierten Rechtsgutslehre, 1973; Jakobs, Strafrecht,
Allgem. Teil. Die Grundlagen und die Zurechnungslehre, 1983, S. 27 ff.
Integrationsprävention und Strafrecht 825
53'
836 Pietro Nuvolone
L'opzione punitiva e stata qui attuata non certo nel soleo della Co-
stituzione; ma unicamente sull'onda di una spinta emotiva, non sempre
razionale, anehe al di fuori di possibili scopi di prevenzione generale:
non ha sense pensare di prevenire comportamenti indeterminati ehe
non si identificano in fatti. 11 vero presupposto e il sospetto degli in-
quirenti, eioe un quid ehe, per sua natura, non puö esser prevenuto.
In base a quali eriteri, sia in sede penale sia in sede piu generiea-
mente punitiva, si optera per la punibilita a titolo alternativo (dolo 0
eolpa) 0 si seegliera la punibilita a solo titolo di dolo?
Qui, a nostro avviso, i eriteri saranno due. Vi sono eerti fatti, il eui
evento eonsumativo, nel eontesto di una eerta azione, ove non sia
voluto, deve eonsiderarsi irrilevante, perche in eontrasto eon la logiea
deUa fattispecie (p. es. il furto 0 la truffa); vi sono, inveee, eerti fatti
in eui, pur essendo eonfigurabile una responsabilita eolposa, il legisla-
tore ritiene inopportuna l'estensione deUa punibilita aUa fattispeeie
eolposa, in quanta pub essere sufficiente l'obbligo deI risareimento deI
danno ex art. 2043 e. e. (per es. il danneggiamento), mentre la eonfigu-
rabilita di un reato eolposo moltiplicherebbe, oltre i limiti deI ragio-
nevole, i proeedimenti penali, estendendoli a easi che sono di ordinaria
amministrazione neUa vita di relazione.
Sia pure eeeezionalmente, l'evento illecito potra esse re imputato
a titolo di responsabilita oggettiva, sempre ehe la legge preveda espres-
samente questo easo: e tale previsione sara frutto di una seelta deI
legislatore, ispirato da finalita di partieoIare rigore, e quindi di piu
intensa tutela deI bene giuridieo. Per una singolare anomalia, l'even-
tualitä e eontemplata dal eodiee penale (art. 42), ma non trova rispon-
denza per il diritto amministrativo parapenale neUa legge 24 novembre
1981, n. 689.
Concetto e trattamento
della «criminalita minore » in Italia
10 Al di la dei non pochi rilievi critici che e necessario muovere alle premesse
teoriche e metodologiche cui si orienta la criminologia che si autodefinisce
«critica» (v. sopratutto Kaiser, Was ist eigentlich kritisch an der «kritischen»
Kriminologie?, Festschrift für Lange, 1976, 521 55.), e tuttavia ad essa che va
riconosciuto il merito di aver posto al centro della ricerca criminologica il
problema dei criteri «informali» di selezione della criminalita: v. nella lette-
ratura ormai sterminata su questa tematica, i contributi apparsi nel volume
Kritische Kriminologie, Arbeitskreis Junger Krlminologen, 1974, con parti-
colare riferimento al lavoro di Kern, Straftaten, Straftäter und Strafverfol-
gung, 190 ss. Una ponderata valutazione dei problemi che la c. d. «cifra oscu-
ra» pone ai sistemi penali odiemi, e fatta da Lüderssen, Strafrecht und Dun-
kelziffer, 1972, passim.
11 L'imprenscindibilita per i sistemi penali moderni di meccanismi che
consentono di giuridicizzare l'inevitabile selezione, e ribadita chiaramente
da Zipf, Kriminalpolitische überlegungen zum Legalitätsprinzip, Festschrift
für Peters, 1974, 487 ss.; per la dottrina italiana v. specialmente Paliero, cit.
n. 8, 928 ss.
ll! L'art. 112 Cost. e infatti tassativo: «11 pubblico ministero ha l'obbligo di
esercitare l'azione penale».
848 Alfonso M. Stile
reati della perseguibilita a querela di parte (Capo IV, artt. 86 - 99). Questo
tema non viene trattato, anche perehe i reati procedibili a querela non rien-
trono necessariamente neU'ambito deUa criminalita minore.
17 Si parIa di oblazione speciale (0 discrezionale) per distinguerla dal
preesistente istituto dell'oblazione (non discrezionale), su cui infra nel testo.
18 L'istituto deI «plea bargaining» e senza dubbio un efficace strumento
per i1 rapido smaltimento deI carico processuale, ma desta vive perplessita
la sua compatibilita con i principi di giustizia. Nella sua struttura tradizio-
nale appare incompatibile con l'obbligatorieta dell'esercizio dell'azione penale.
Sul punto v. Vigoriti, Pubblico ministero e discrezionalita dell'azione penale
negli Stati Uniti d'America, in: Pubblico ministero e accusa penale. Problemi
e prospettive di riforma, Bologna, 1979, 268; Corbi, Obbligatorieta dell'azione
penale ed esigenze di razionalizzazione deI processo, Riv. it. Dir. e Proc. pen.
1980, 1048 ss.
U Cfr. Dalia, La deprocessualizzazione come obiettivo primario delle re-
centi «modifiche al sistema penale», Riv. it. Dir. e Proc. pen. 1982, 475 s.
restano ammessi a11a tradizionale oblazione (art. 162 c. p.), per cui in man-
canza di un potere discrezionale deI giudice si pub parlare di depenalizza-
zione di fatto (Pedrazzi, Considerazioni generali su11e sanzioni pecuniarie nel
progetto di riforma de11e societa commerciali, Riv. it. Dir. e Proc. pen. 1966,
783 ss.); altri, infine, sono stati sottoposti al piu rigoroso regime dell'art.162
bisc.p.
28 De11'ampia bibliografia su11e pene sostitutive introdotte dalla riforma
deI 1981 ci si limita a segnalare: FebbrarolDemarco, Sanzioni sostitutive e
«Patteggiamento», 1982, passim, 18 ss.; Paliero, cit. n. 2, 277 ss.; Dolcini, Le
sanzioni sostitutive applicate in sede di condanna, Riv. it. Dir. e Proc. pen.
1982, 1390; Vinciguerra, cit. n. 2, 257 ss.
U Tale problema e quindi assolutamente autonome da quelle deI concreto
contenimento de11a pena nell'ambito di tre mesi, che riguarda non i limiti
generali di applicabilita de11' istituto ma i limiti discrezionali, di cui ci occu-
peremo nel prosieguo deI Iavoro.
54'
852 Alfonso M. Stile
!5 In quest'ultimo sense Cass., VI Sez., 5 ottobre 1982, Giust. pen. 1983, III,
68; Cass., VI Sez., 13 maggio 1983, Giust. pen. 1983, III, 547. Vieeversa, rag-
guagliano la pena pecuniaria originaria in pena pecuniaria sostitutiva, Cass.,
IV Sez., 17 novembre 1982, Cass. pen. Mass. anno 1983, 468; Cass., IV Sez.,
22 febbraio 1983, imp. Pulloni, inedita; numerose sentenze di merito esten-
dono la portata dell'istituto. In dottrina, tra Ie diverse soluzioni proposte,
cfr. Giarda, cit. n.2, 366 ss.; Vinciguerra, cit. n. 2, 328 ss.; Demarco, Atti deI
Convegno di studio sulla legge 24 novembre 1981. n.689 (Pesaro, 7/8 maggio
1982),1984,173 SR
Coneetto e trattamento deUa "eriminalita minore" in Italir 853
L'altro istituto introdotto dalla Legge 689 deI 1981 ehe comporta
conseguenze sanzionatorie assai ridotte, seppur non una sostanziale
rinunzia alla pena vera e propria, ossia Z'applicazione di sanzioni
sostitutive su richiesta dell'imputato, e certamente molto piu complesso
rispetto all'oblazione. Le modalita della sua frettolosa introduzione,
come si e accennato, hanno determinato una sequenza di nodi inter-
pretativi in qualehe punto inestricabili: basti pensare ehe in via siste-
matica si arriva addirittura a negare l'effetto estintivo deI reato ehe e
55·
868 Alfonso M. Stile
menta di lotta contro l'esecuzione delle pene detentive brevi, ehe non
e assolutamente in gioco.
11 carattere di «beneficio» di questo istituto - beneficio ben piu
consistente della sospensione condizionale della pena - si manifesta
evidentissimo innanzitutto ne1 regime rigorosa a1 quale e sottoposto:
diversamente dalla oblazione speciale (e dalla sospensione condizio-
na1e) e impossibile usufruirne pHi di una volta e vi possono essere
ammessi solo co10ro ehe non abbiano riportato condanne a pena
detentiva. Tuttavia, a1 di la di questa rigida delimitazione, 1a legge,
come si e visto, non fa riferimento a specifici criteri di discrezionalita,
ma ai criteri generali per la commisurazione della pena e a quelli
relativi alla applicazione e alla scelta delle pene sostitutive. Ciö
segna1a ehe 1a valutazione di opportunitd della applicazione deI bene-
ficio a chi si trovi nelle condizioni per usufruirne e effettuata in via
generale dalla legge e non e lasciata all'apprezzamento discrezionale,
ehe e relativo ai soli presupposti.
Il rilevato carattere di «beneficio» porta poi ad escludere ehe per
i reati ammessi a1 «patteggiamento» possa par1arsi di «depenalizzazione
di fatti», a1meno ne1 sense dell'ob1azione specia1e: anehe se possono
esservi ammessi fatti sui quali sarebbe possibile - ma sulla base di
criteri non contemp1ati da1 diritto positivoS! - un giudizio di «irrile-
vanza pena1e», la ratio dell'istituto resta quella ehe e, riferita alla
criminalita minore e non ai «minima».
Restano da calco1are i costi ehe tale «beneficio» comporta in rela-
zione alle istanze di prevenzione generale e specia1e. Certo, una volta
ehe si attribuisce una particolare funzione deterrente alla minaccia
di sanzione penale, non c'e dubbio ehe 1a vio1azione (0 il superamento)
deI principio di inderogabilita della pena potrebbe portare ad un
indebolimento della efficacia generalpreventiva delle norme ehe pre-
vedono i reati per i quali il «patteggiamento» e possibile. Neppure
si puö escludere, anehe se per fasce limitate di potenziali criminali,
una maggior «disponibilita» ad affrontare, in base ad un calcolo, la
commissione di uno dei reati in questione per la riduzione deI risehio
di stigmatizzazioneSD.
Il fatto e ehe non di queste si discute ma deI conflitto tra le esigenze
di prevenzione, connesse alla inderogabilita della sanzione, e quelle
di tutel are la dignita della persona umana70 ed insieme la razionalita
deI complessivo sistema punitivo.
S8 V. Naucke, Auf der Grenze zwischen Strafbarkeit und Straflosigkeit,
Iura 1979, 426 ss.
8D Sul punto v., di recente, Padovani, L'utopia punitiva, 1981, 248 ss.
70 In queste sense sembrano trovare un esplicito riconoscimento norma-
tivo le istanze da tempo avanzate da Naucke, Prevenzione generale e diritti
870 Alfonso M. Stile
I.
1. Das finnische Strafgesetzbuch vom Jahre 1889 war in seiner ur-
sprünglichen Form eine Schöpfung der klassischen Strajrechtsschule.
Die rechtsphilosophische Begründung des Gesetzes basierte insbeson-
8 Vgl. Backman, Über die Entwicklung der Kriminalpolitik und des Straf-
rechts in der finnischen Gesellschaft, in: Backman/Koskinen/Lahti/Lehtimaja,
Finnish Criminal Policy in Transition, University of Helsinki, 1979, S. 6 ff.,
10 f.
D Zu den Wirkungen der genannten Schule und Vereinigung im allgemei-
nen vgl. Jescheck, Der Einfluß der IKV und der AIDP auf die internationale
Entwicklung der modernen Kriminalpolitik, ZStW 92 (1980), S. 997 ff.
874 Raimo Lahti
über
bis über 1 bis 4 Monate über
1 Monat 4 Monate bis 1 Jahr 1 Jahr
Rückfall kann auch nicht mehr Grund dafür sein, einen höheren Straf-
rahmen anzuwenden. Die Anwendung des erneuerten Strafschärfungs-
grundes beruht zu einem großen Teil auf dem Ermessen des Gerichts
in casu: Der Rückfall soll dem Wortlaut der Vorschrift entsprechend
auf eine qualifizierte Vorwerfbarkeit "Gleichgültigkeit gegen die Ge-
bote und Verbote des Gesetzes" hinweisen. Es war die Absicht, daß
der Rückfall nicht mehr so mechanisch wie früher die Strafzumessung
beeinflussen sollte.
Das Ziel der Reform wurde nur teilweise erreicht. Der Rückfall ist
nach wie vor in der Praxis der wichtigste Strafschärfungsgrund. Er ist
auch bei der Wahl zwischen den Strafarten Geldstrafe, bedingte Ver-
urteilung oder Freiheitsstrafe von großer Bedeutung. Dies gilt auch
dann, wenn es sich nicht um einen Rückfall im Sinne der Gesetzes-
bestimmung handelt.
Die neuen Bestimmungen über die Strafzumessung brachten zwei
wichtige Forderungen allgemein kriminalpolitischen Ranges zum Aus-
druck: einmal den Grundsatz der Schuld und der Verhältnismäßigkeit
(die Strafe ist so zu bemessen, daß sie in einem gerechten Verhältnis
zur Schädlichkeit und Gefährlichkeit der Straftat und zu der aus der
Straftat hervorgehenden Schuld des Täters steht); zum anderen das
Bestreben nach Einheitlichkeit der Rechtsprechung. Diese Forderun-
gen stehen im Widerspruch zu der alten Betonung der Individualisie-
rung der strafrechtlichen Sanktionen.
sicht gestellt werden nur Jugendliche (15 - 20jährige), aber auch sie
nicht ausnahmslos. In dieser Hinsicht besteht ein Unterschied zu den
aus der Strafhaft bedingt Entlassenen, die in der Regel - unabhängig
vom Alter - unter Aufsicht stehen.
Ein wichtiges Novum der reformierten Gesetzgebung ist in der Be-
stimmung enthalten, die zusätzlich zur bedingten Verurteilung (zu
einer Freiheitsstrafe) die Verhängung einer Geldstrafe ermöglicht.
Diese sog. kombinierte Strafe wird schon seit längerem in anderen
nordischen Staaten angewandt. Dort kennt man auch die Modifikation,
daß eine kurze Freiheitsstrafe mit der bedingten Verurteilung kombi-
niert werden kann. Von der Möglichkeit, die bedingt verhängte Frei-
heitsstrafe mit einer Geldstrafe zu kombinieren, ist zunächst bei Delik-
ten der Trunkenheit am Steuer Gebrauch gemacht worden. Dasselbe
wurde auch bezweckt, als die Vorschriften über Trunkenheit im Stra-
ßenverkehr gleichzeitig mit dem Gesetz über die bedingte Verurtei-
lung reformiert wurden.
Heutzutage werden über die Hälfte aller verhängten Freiheitsstrafen
zur Bewährung ausgesetzt, im Jahre 1982 z. B. waren es 55 Prozent (von
ca. 25000 Freiheitsstrafen)18. Wer zum ersten Mal zu einer Freiheits-
strafe zu verurteilen ist, wird wahrscheinlich bedingt verurteilt, sofern
es sich nicht um eine besonders schwere Straftat handelt. Eine kurze
Zeit zurückliegende Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe bildet für
die Strafaussetzung zur Bewährung in der Regel ein Hindernis, aus-
genommen bei jugendlichen Straftätern.
Daß die bedingte Verurteilung in Finnland eine so dominante Alter-
nativ~~ur Freiheitsstrafe ist, hat Kritik auf sich gezogen. In den übri-
gen nordischen Ländern werden im Zusammenhang mit oder anstelle
von bedingter Bestrafung in Freiheit durchzuführende Sanktionen an-
gewandt, die kontrollierende und stützende Elemente enthalten (in
Schweden z. B. die Schutzaufsicht, "skyddstillsyn"). Auf einen Nachteil
der finnischen Gesetzesbestimmungen wird oft hingewiesen. Gegen
Jugendliche mit rasch aufeinanderfolgenden neuen Straftaten können
mehrfach hintereinander bedingte Verurteilungen ausgesprochen wer-
den. Eine bedingt verhängte Strafe, die wegen eines neuen Delikts
vollstreckt werden muß, soll in vollem Umfang zu der für die neue Tat
verhängten Strafe hinzu gerechnet werden. Auf diese Weise kann man
zu Strafen mit sehr langer Vollstreckungsdauer gelangen. Eine Ände-
rung dieser Situation ist bei der geplanten Neufassung der strafrecht-
lichen Konkurrenzregeln vorgeschlagen worden.
11.
1. Welche allgemeinen Tendenzen oder Schwerpunkte weisen die in
den letzten Jahren in der finnischen und skandinavischen Kriminal-
politik verwirklichten oder geplanten Reformen auf? Man muß diese
Reformbestrebungen im Licht der offiziellen Berichte sehen, die in der
letzten Hälfte der siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre in den
nordischen Ländern herausgegeben wurden.
Im Jahre 1972 wurde die auf eine Gesamtreform der finnischen Straf-
gesetzgebung hinzielende Arbeit eingeleitet. Es wurde ein Strafrechts-
komitee eingesetzt, das fünf Jahre später seinen Bericht veröffent-
lichte23• Es handelte sich hierbei um eine Denkschrift, die die Prinzi-
pien des zu reformierenden Strafrechts klären sollte. Im Justizministe-
rium wurde 1980 eine umfangreiche "Projektorganisation" gegründet
mit dem Auftrag, einen konkreten Vorschlag für ein neues Strafgesetz
auszuarbeiten. Die Führungsgruppe dieser Organisation veröffent-
lichte im Juni 1984 ihren ersten ausführlichen Teilreformentwurf, der
zunächst die Änderung der Rechtsvorschriften über Wirtschafts- und
Eigentumsdelikte zum Thema hatte!'.
Andere bedeutsame Dokumente aus den nordischen Ländern vom
Ende der siebziger Jahre sind der für das norwegische Parlament
angefertigte Bericht über die Kriminalpolitik (1977)25, die von einer
schwedischen Arbeitsgruppe erstellte Denkschrift über das neue Stra-
fensystem (1977)26 sowie die von einer dänischen Arbeitsgruppe und
dem Nordischen Strafrechtskomitee erarbeiteten Berichte über Alter-
dem neuen Gesetz von 1981 ist deutlicher als früher geäußert worden,
daß eine abstrakte Gefährdung der Verkehrssicherheit für die Straf-
barkeit ausreichend ist.
Zum zweiten wird die Vorwerfbarkeit jener nachteiligen Verhaltens-
formen abgeschätzt. Dann muß u. a. über die tatsächliche Wahlfrei-
heit der potentiellen Täter nachgedacht werden und darüber, ob Ver-
anlassung besteht, gegen die Täter ein sozialethisch tadelndes Urteil
zu richten. Drittens werden dann systematisch die aus der Strafbarkeit
entstehenden rechts- und gesellschaftspolitischen Vor- und Nachteile
miteinander verglichen. Die strafrechtliche Regelungsmaßnahme soll
zweckdienlich sein, wenn man auch andere mögliche Mittel in Betracht
zieht (überwachung, technische und administrative Lösungen usw.).
Weiterhin muß darauf geachtet werden, daß man nur in beschränktem
Maße (als "ultima ratio") auf strafrechtliche Maßnahmen zurückgreifen
sollte. Außerdem hat die strafrechtliche Regelung noch ihre besonderen
Einschränkungen (zum Beispiel die, daß die Strafbestimmungen nicht
zu verschieden auslegbar sein dürfen).
Die oben beschriebene Vorgehensweise repräsentiert wohl ein Ideal-
modell, das allerdings der gesetzgeberischen Tätigkeit Denkanstöße
gibt. In der Praxis werden Gesetzesreformen meistens anders ange-
gangen, und oft auf die Weise, daß man in der bestehenden Gesetz-
gebung gewisse Mängel erkennt und erwägt, wie diese - unter Be-
rücksichtigung der Wandlungen, die sich in der Gesellschaft und dem
Rechtsempfinden vollzogen haben - behoben werden können.
6 Vgl. Revue Internationale de Droit Penal, 1978, I (49), S. 1 - 400 LV. Die
Tagung fand vom 19. - 23. Oktober 1977 in Madrid und Plasencia statt. Jose
Ant6n Oneca: Ehrenpräsident, Hans-Heinrich Jescheck: Präsident, Marino
Barbero Santos: Präsident des Organisationsausschusses.
Die Strafrechtsreform der spanischen Monarchie 899
57·
900 Marino Barbero Santos
len z. B. eine wichtige ethische Pflicht dar, aber wenn man den Ehe-
bruch oder das Konkubinat unter Strafe stellt, wird weder die Liebe
unter den Ehegatten erhöht und aufrechterhalten noch sichergestellt,
daß sie gegenseitig die eheliche Treuepflicht erfüllen. Aus diesem
Grunde kam ich zu der Schlußfolgerung, daß sowohl der Ehebruch als
auch das Konkubinat nicht mehr länger Deliktstatbestände bilden
sollten und daß auch die Unzucht und die Entführung ebenso wie die
Abtreibung Straftatbestände darstellten, die dringend einer Neufas-
sung bedürften.
7. Das neue Strafrecht sollte Interessen schützen, die den tatsäch-
lichen Bedürfnissen weiter Schichten der Bevölkerung entsprechen; die
Verletzung dieser Interessen ist heute kein Deliktstatbestand, weil es
die herrschenden sozial-wirtschaftlichen Mächte verhindern, z. B. alle
umweltfeindlichen Handlungen, die Zerstörung des ländlichen oder
städtischen Landschaftsbildes, Eingriffe der Regierungsstellen in das
private, intime Leben des Bürgers (durch Abhören von Telefongesprä-
chen, Kontrolle des Briefverkehrs, Aufstellung von Mikrophonen),
Bodenspekulation ete. Abschließend gab ich meiner Auffassung dahin
Ausdruck, daß die Strafrechtsreform die Lösungen und Vorschläge der
Dogmatik für die Gestaltung des geltenden positiven Rechts berück-
sichtigen und von einer weitgehenden Reform der Strafvollzugsord-
nung begleitet sein sollte, da die zur Zeit geltende Ordnung nicht aus-
reichte, um die gegenwärtigen wissenschaftlichen und sozialpolitischen
Mindesterfordernisse zu erfüllen.
das alte Recht. Auf der anderen Seite kann die Beurteilung dieser
Reformen keinesfalls in jeder Hinsicht positiv ausfallen, da in der
späteren Entwicklung mehr als eine gesetzliche Bestimmung als rück-
schrittlich angesehen werden muß.
Die programmatischen Linien der vom Justizministerium beabsich-
tigten Strafrechtsreform - die als der Reformentwurf der ersten
demokratischen spanischen Regierung seit 40 Jahren zu gelten hat -
wurden in Plasencia am 22. Oktober 1977 durch den Justizminister
selbst in der Schlußansprache auf der bereits oben erwähnten ersten
Regionalen Tagung der Internationalen Strafrechtsvereinigung ange-
kündige.
Nach seinen Ausführungen sollte hierbei auf zwei verschiedenen
Ebenen vorgegangen werden: einmal sollte eine dringende Teilreform
als Fortsetzung der seit dem Tode des früheren Staatschefs am 20. No-
vember 1975 eingeleiteten Reform stattfinden - die wir bereits in gro-
ßen Zügen dargestellt haben -, zum anderen sollte danach eine tief-
gehende Gesamtreform des Systems eingeleitet werden, die nicht nur
die neue politische Ordnung, sondern auch die gegenwärtig von der
Strafrechtsdogmatik, Kriminologie und Strafvollzugswissenschaft er-
reichten Fortschritte berücksichtigen würde. Die Gesamtreform, die in
den Rahmen der zukünftigen Verfassung eingegliedert werden sollte,
erforderte nach Auffassung des Ministers eine umfassende Vorberei-
tung, die die Zusammenarbeit aller an der Strafrechtspflege interes-
sierten Stellen notwendig machen würde, sowie weitreichende, von
Sachverständigen durchzuführende Forschungen auf dem Gebiet der
verschiedenen Wissenschaften, die sich mit Verbrechen und Strafe
beschäftigen.
Es darf hier vorausgeschickt werden, daß - nach den Worten des
Ministers - auf keiner der beiden Ebenen dieses weitreichende Pro-
gramm in vollem Umfange erfüllt worden ist.
Die notwendigerweise sehr komplexe Forschungsarbeit vor der Ge-
samtreform ist nicht organisch aufgebaut worden. Die Ausschüsse
bestanden aus einer sehr beschränkten Zahl von Mitgliedern, die über
eine noch mehr eingeschränkte Zeit zur Durchführung ihrer weitrei-
chenden Aufgaben verfügten. Die Arbeit konnte nicht mit der erfor-
derlichen Ruhe und Gelassenheit geleistet werden. Die Strafrechtler
(Universitätsprofessoren, Rechtsanwälte, Richter, Staatsanwälte usw.)
erhielten erst Kenntnis von dieser Arbeit, als sie bereits be endet war
und der Entwurf eines Strafgesetzbuches von 1980 bzw. der Vorent-
wurf eines neuen Strafgesetzbuches von 1983 fertig vorlagen, nicht
jedoch von den Maßnahmen und Schritten, die zum Zwecke der Aus-
8 Ich habe versucht, dieses Versäumnis durch die Veranstaltung der 11. fran-
zösisch-portugiesisch-italienisch-spanischen Tagung über Strafrecht wieder-
gutzumachen, die im Jahre 1980 in Avila und Alcala de Henares stattfand
und sich mit der Abtreibung und der strafrechtlichen Verantwortlichkeit
ohne Verschulden befaßte; ferner auch durch zwei deutsch-spanische Tagun-
gen über die Strafrechtsreform. Die erste dieser Tagungen, die im Jahre 1982
in Madrid stattfand, befaßte sich ebenfalls mit der Abtreibung, ferner mit Dro-
gensucht, Einrichtung von Strafvollzugsanstalten und den sozialökonomi-
schen Delikten, während die zweite Tagung in Madrid ebenfalls ausschließ-
lich der Analyse der Wirtschaftsdelikte gewidmet war. Siehe 11. fran-
zösisch-portugiesisch-italienisch-spanische Tagung über Strafrecht: Interrup-
ci6n voluntaria deI embarazo. Responsabilidad penal objetiva, Avila, 1981,
239 Seiten; Barbero Santos u. a., La reforma penal: Cuatro cuestiones funda-
mentales, 1982, 183 Seiten.
Die Strafrechtsreform der spanischen Monarchie 903
und zu der Schwere der Taten stehen, die von dem Täter mit Wahr-
scheinlichkeit zu erwarten sind.
Wesentlich ist ferner die Anerkennung des Prinzips des geringst-
möglichen Eingriffs, der zur Verhinderung der Begehung von straf-
baren Handlungen unerläßlich ist, wie sich dies aus den grundlegen-
den Postulaten des Sozialstaates, der Demokratie und des Rechtsstaates
ergibt.
Die wichtigste Neuerung war jedoch nach meiner Auffassung die
Einführung des vikariierenden Systems, d. h. also der Möglichkeit der
Ersetzung der Strafe durch die Maßregel, eine der fortschrittlichen
Regelungen, die uns die Rechtsvergleichung gebracht hat und die eben-
falls von der unter meinem Vorsitz stehenden Kommission vorgeschla-
gen worden war.
In den Fällen beschränkter strafrechtlicher Verantwortlichkeit auf-
grund von Geisteskrankheit, Taubstummheit oder Vergiftungen aller
Art, soll das Gericht in der Lage sein, abgesehen von einer ermäßigten
Strafe die entsprechende Maßregel der Sicherung zu verhängen.
Im Falle der Anwendung einer Maßregel der Unterbringung in einer
Anstalt soll diese stets vor der Strafe vollzogen werden, wobei die
Zeit der Unterbringung als Vollzugszeit der Strafe gilt, vorbehaltlich
der Möglichkeit, daß das Gericht aus Gründen der Billigkeit die ge-
samte Strafzeit als verbüßt ansehen oder aber in Würdigung des Er-
folges die Dauer der Behandlung herabsetzen kann.
Mit anderen Worten, bei der Verhängung der Sanktion werden die
Postulate des dualistischen Systems angewandt, weil davon ausgegan-
genwIrd, daß diese besser als die des monistischen Systems den heute
vorherrschenden ethisch-juristischen Auffassungen und Begriffen ent-
sprechen, während hinsichtlich des Vollzugs vernünftigerweise die
monistische Lösung angebracht erscheint.
Im Besonderen Teil sind unter den Neuerungen, die auf rein tech-
nische Gründe zurückzuführen sind, die Reformen bei der Körper-
verletzung hervorzuheben.
Im Gegensatz zu dem gegenwärtigen, fast mittelalterlich anmuten-
den System der Fristen, ist in dem Entwurf nur noch eine einzige Frist
von acht Tagen vorgesehen: als Vergehen mittlerer Schwere gilt eine
Körperverletzung, für deren Heilung acht oder mehr Tage ärztlicher
Behandlung erforderlich sind, oder aber in den Fällen von Folterung
oder Mißhandlung, denen das Opfer ausgesetzt war, auch dann, wenn
eine kürzere Frist für die Heilung ausreicht. Andererseits werden in
jedem Falle als schwere Körperverletzungen alle diejenigen Fälle an-
gesehen, bei denen die Verletzung durch Waffen oder andere Gegen-
Die Strafrechtsreform der spanischen Monarchie 907
stände oder Mittel verursacht worden ist, die geeignet sind, der kör-
perlichen Unversehrtheit des Opfers schwere Schäden zuzufügen.
Was die Eigentumsdelikte anbelangt, haben die Verfasser des Ent-
wurfes lO den Versuch unternommen, die gegenwärtig vorhandene
außergewöhnliche Kasuistik zu beseitigen, und zwar, soweit möglich,
unter Verzicht auf die Wertgrenzen und durch Herabsetzung der Zahl
der vorgesehenen Straftatbestände.
Weitere Reformen gehen darauf zurück, daß die kriminalpolitischen
Kriterien geändert wurden, und zwar in einem doppelten Sinne: ein-
mal durch Neuinkriminierung, zum andern durch Entkriminalisierung
bestimmter Handlungen.
Die bedeutendste Neuerung auf dem Gebiet der Bestrafung neuer
Gruppen von Rechtsverletzungen ist im VIII. Abschnitt des 11. Buches
mit dem Titel "Verbrechen gegen die sozialökonomische Ordnung" ein-
geführt worden, wo zum ersten Male in unserem Lande die sog. "Kava-
liersdelikte" Aufnahme gefunden haben.
Hinsichtlich der Einführung neuer Fälle von Straflosigkeit bezieht
sich die vielleicht wichtigste Neuerung auf das Gebiet der Rauschgifte.
Der Ausschuß zur Reform des Gesetzes über Gefährlichkeit und soziale
Rehabilitation schlug vor, die Drogensucht aus der Liste der gefähr-
lichen Zustände zu streichen und in dem zukünftigen Strafgesetzbuch
den Besitz von Rauschgiften oder psychotropen Stoffen nur dann als
Straftat anzusehen, wenn es sich um Mengen handelt, die die für den
Eigengebrauch erlaubte minimale Menge übersteigenl l •
Die Verfasser des Entwurfs haben die Straflosigkeit des Besitzes
einer für den Eigengebrauch erlaubten geringen Menge nicht über-
nommen, sondern viel weitergehend den Besitz von Rauschgiften, un-
abhängig von der Menge, stets straflos gelassen, sofern das Rauschgift
nicht in den Verkehr gebracht werden soll. Die für das Grunddelikt
angedrohte Freiheitsstrafe wird wesentlich herabgesetzt und schwankt
zwischen drei und sechs Jahren, es sei denn, daß das Rauschgift an
Personen von weniger als 18 Jahren vertrieben wird. Was jedoch be-
sonders unterstrichen zu werden verdient, weil die Rechtsvergleichung
nur wenige Beispiele dafür kennt, ist, daß der Verkehr mit und der
Vertrieb von "weichen" Drogen praktisch für straflos erklärt wird,
weil zwischen Mitteln unterschieden wird, die schwere Schäden für
die Gesundheit verursachen, und solchen, bei denen dies nicht der Fall
ist. Bei den "weichen" Drogen kann die vorgesehene Strafe als eine
rein symbolische angesehen werden: Wochenendarrest während 8 bis
14 Wochenenden oder Geldstrafe von 6 bis 12 Monatssätzen.
Am 25. Juni 1983 änderte ein Gesetz über dringende Teilreformen
das Strafgesetzbuch wesentlich ab. Wie bereits erwähnt, stammt der
größte Teil der Neuerungen aus dem Entwurf von 1980; der Gesetz-
geber hat freilich bei ihrer Eingliederung in das Strafgesetzbuch nicht
immer eine glückliche Hand gehabt.
Nach der Gesetzesbegründung beruht die Reform auf dem Erforder-
nis der Inangriffnahme einer Reihe von Problemen, die bei der An-
wendung unseres Strafrechts und Strafvollzugsrechts aufgetreten sind
und deren Bedeutung so groß erschien, daß ihre Lösung nicht mehr
länger aufgeschoben werden konnte. Mit dazu beigetragen hat ferner
die Notwendigkeit, die dringlichsten Forderungen eines an den Rechts-
staat angepaßten Strafrechts zu erfüllen, das sich auf das Schuldprin-
zip und den Grundsatz der Beschränkung der strafrechtlichen Reak-
tion auf sozialschädliche Handlungen gründet.
Dies hat im Allgemeinen Teil, wie es in der Gesetzesbegründung
heißt, zu wichtigen Folgerungen geführt: so zur Beseitigung der Fälle
einer Haftung ohne Verschulden, zur Anerkennung des Vorsatzes und
der Fahrlässigkeit als tragenden Fundamenten der strafrechtlichen
Verantwortlichkeit und zum ersten Mal zur Regelung des - vermeid-
baren oder unvermeidbaren - Irrtums über wesentliche, zum gesetz-
lichen Tatbestand gehörende Merkmale sowie zur Regelung des Irr-
tums über die Rechtmäßigkeit der Tat;
Im Besonderen Teil ist innerhalb der Gruppe der Körperverletzun-
gen die Regelung hervorzuheben, die dem freien und ausdrücklich
erklärten Einverständnis Wirksamkeit zuerkennt, um die strafrecht-
liche Verantwortlichkeit in Fällen der Verpflanzung von Organen, der
Sterilisierung und der geschlechtsumwandelnden Eingriffe zu besei-
tigen, sofern diese Eingriffe in übereinstimmung mit dem Gesetz durch
einen Arzt vorgenommen werden und die Einwilligung nicht durch eine
Geldleistung oder sonstige Vergütung erkauft wird.
Bei den Delikten gegen das Eigentum sind tiefgehende Veränderun-
gen vorgenommen worden. Im Rahmen des Möglichen wird von dem
rein zahlenmäßigen Abgrenzungssystem Abstand genommen, lediglich
wird ein Schadensbetrag von 30 000,- Peseten als Grenze zwischen
einer übertretung und einem Vergehen angenommen. Der Diebstahl
wird auf das eigentliche, von der Rechtslehre als Diebstahl bezeichnete
Delikt beschränkt (hurto propio). Es wird eine allgemeine Begriffs-
Die Strafrechtsreform der spanischen Monarchie 909
11 Ant6n Oneca, Las estafas y otros engafios, in: Nueva Enciclopedia Juri-
dica Seix, 1958 (VI), S. 56 ff.
13 Quintero Olivares, in: Quintero Olivares/Mufioz Conde: La reforma
penal de 1983, 1983, S.17.
14 Moliner, Diccionario de uso deI espafiol, 1981, 11, S. 538.
15 Sainz Cantero, Reflexi6n de urgencia sobre la reforma parcial y urgente
deI C6digo Penal, in: Estudios penales y criminol6gicos (VII), 1984, S.410.
910 Marino Barbero Santos
sicht ein nationales Werk von allen und für alle sein, das die vonein-
ander abweichenden Auffassungen einer pluralistischen Gesellschaft
berücksichtigt und auch zum Exponenten des gegenwärtig hohen
Niveaus der spanischen Strafrechtswissenschaft wird, sofern ein sol-
ches Werk während eines langen Zeitraumes das Zusammenleben in
der Gemeinschaft beherrschen soll.
Insgesamt betrachtet kann die Reform von 1983 als positiv gelten.
Dessen ungeachtet überwiegt jedoch nach unserer Auffassung die
"pars destruens" die "pars construens" .
In dem neuen Wortlaut des Artikel 1 wird als vielleicht wichtigste
Neuerung des Allgemeinen Teils der Satz verankert: Es gibt keine
Strafe ohne Vorsatz oder Fahrlässigkeit. In den Fällen, in denen die
Strafe von dem Eintritt einer schwereren Folge abhängt, tritt eine
strafrechtliche Verantwortung nur dann ein, wenn diese Folge wenig-
stens durch Fahrlässigkeit verursacht worden ist. Aus der Gesetzes-
begründung geht klar hervor, daß mit diesem Erfordernis die Verant-
wortung ohne Verschulden sowie auch alle ihre Erscheinungsformen
beseitigt werden sollten.
Ist dieses Ziel erreicht worden? Wir haben gewisse Zweifel. Zahl-
reich sind die Beispiele hierfür. In Artikel 501 wird als wichtigste
Neuerung des Besonderen Teils16 die Rechtsform des mehraktigen,
vorsätzlichen Raubmordes (Ziff. 1) und des fahrlässigen Raubmordes
geregelt ("wenn aus Anlaß oder bei Begehung eines Raubes eine fahr-
lässige Tötung verursacht wird") (Ziff.4). Hier taucht die Frage auf,
welche Strafe verhängt werden soll, wenn aus Anlaß oder bei Be-
gehung eines Raubes eine Körperverletzung mit Todesfolge verursacht
wird. Soll hier Fahrlässigkeit oder Vorsatz angenommen werden, ob-
gleich die Voraussetzungen hierfür in keinem der beiden Fälle gegeben
sind? Andererseits macht die gegenwärtige Regelung des Raubes mit
fahrlässiger Tötung keinen Unterschied zwischen den drei im Straf-
gesetzbuch anerkannten Formen der Fahrlässigkeit (grobe Fahrlässig-
keit, leichte Fahrlässigkeit unter Verletzung von Vorschriften und
leichte Fahrlässigkeit ohne Verletzung von Vorschriften) (Art. 565, 586
Ziff.3), mit der Folge, daß, obwohl der Tod durch eine dieser Fahrläs-
sigkeitsformen verschiedenen Grades verursacht werden kann, die zu
verhängende Strafe immer die gleiche ist17•
Gegen die Irrtumsregelung bestehen ebenfalls ernste Bedenken. Im
Parlament wurde die Zurückziehung der neuen Vorschrift gefordert.
Die schwerwiegendsten Einwände ergeben sich aus der Unbestimmt-
heit der gewählten Formulierung sowie aus der Tatsache, daß man die
heute in der Rechtslehre und Rechtsprechung üblichen Begriffsbestim-
mungen des Tatbestands- und des Verbotsirrtums nicht übernommen
hat l8 •
Im Allgemeinen Teil ist ferner ein wichtiger Mangel hervorzuheben,
der darin besteht, daß der Straferschwerungsgrund des wiederholten
Rückfalls sowie auch der einfache Rückfall als Straferschwerungs-
grund nicht berücksichtigt worden sind, ohne daß gleichzeitig die im
Entwurf von 1980 für Gewohnheitsverbrecher vorgesehenen Maßregeln
der Sicherung zur Einführung gelangten. Dieser Umstand hat, zusam-
men mit der bedeutsamen Herabsetzung der für die EigentumsdeliktelD
vorgesehenen Strafen, sowie mit der allgemeinen Beschränkung der
Dauer der Untersuchungshaft auf höchstens 18 Monate (unter der Vor-
aussetzung, daß die für das begangene Delikt vorgesehene Strafe höher
als sechs Jahre ist)!O, in großem Umfange zu Haftentlassungen und zu
einer starken Beunruhigung der Bevölkerung wegen des offensicht-
lichen Anwachsens der von Gewohnheitsverbrechern begangenen Ge-
waltverbrechen gegen das Eigentum geführt21 • Die Strafrechtsordnung
ist dagegen wehrlos geworden.
Im Besonderen Teil werden die mi~ der Reform erzielten Erfolge
durch zahlreiche Mängel und Unachtsamkeiten in den Schatten gestellt.
Nur einige wenige Beispiele hierfür. Der Elternmord wird jetzt mit
einer Zuchthausstrafe von 20 Jahren und einem Tag bis zu 30 Jahren
bestraft. Wenn bei der Begehung der Tat erschwerende Umstände vor-
liegen, die den Mord qualifizieren (z. B. Heimtücke, Handeln gegen
Entgelt, überlegung usw.), ist als Strafe nach Artikel 61 Abs.2 Zucht-
hausstrafe mittleren oder schweren Grades vorgesehen (d. h. also 23
Jahre und vier Monate bis zu 30 Jahren). Andererseits ist für den
Mord als solchen jetzt eine Zuchthausstrafe höheren Grades (von 26
Jahren, acht Monaten und einem Tag bis zu 30 Jahren) vorgesehen.
Hieraus ergibt sich, daß gegen denjenigen, der seinen Vater ermordet
(Elternmord), die gleiche oder sogar eine geringere Strafe verhängt
werden kann als gegen denjenigen, der einen Familienfremden ermor-
det. Die zwischen Eltern und Kindern bestehenden Verwandtschafts-
bande wirken daher als Strafmilderungsgrund. Dies steht im klaren
Widerspruch zu unserer kulturellen Tradition, zu den gegenwärtigen
ethisch-sozialen Auffassungen und zu den Regelungen im Ausland, die
wir durch die Rechtsvergleichung kennen.
Einer der hauptsächlichsten Zwecke der Reform von 1983 war die
Strafmilderung für die Eigentumsdelikte!2, die einmal deshalb einge-
führt wurde, weil die Strafen früher in der Tat unverhältnismäßig
hoch waren, ferner aber auch deshalb, weil der größte Teil der Täter
praktisch zu den VOn der Gesellschaft ausgeschlossenen Randgruppen
der Bevölkerung gehört. Die Reform hat ferner auch die kasuistische
Regelung vieler Tatbestände beseitigen wollen und darauf geachtet,
daß nicht der Wert oder die Menge der entwendeten Güter als Grund-
lage für die verschiedenen Verbrechenstypen dient.
Die Herabsetzung der Strafdrohungen ging so weit, daß bei der
Mehrzahl der einfachen und qualifizierten Tatbestände des Diebstahls,
Betruges, der Unterschlagung und sogar des Raubes praktisch nicht
mehr die Möglichkeit der Verhängung VOn Untersuchungshaft besteht,
die ja voraussetzt, daß für das begangene Delikt wenigstens eine
Gefängnisstrafe VOn sechs Jahren und einem Tag vorgesehen ist, was
jedoch jetzt nicht mehr der Fall ist. Wenn eine geringere Strafe an-
gedroht ist, kann der Beschuldigte die Verhängung VOn Untersuchungs-
haft durch Sicherheitsleistung abwenden.
Der auf Wert- oder Mengenunterschiede gegründete kasuistische
Objektivismus ist zwar beseitigt worden. Dafür wurde jedoch auf ein
System zurückgegriffen, bei dem in den Tatbeständen Wertmerkmale
mit einem so mehrdeutigen Inhalt verwendet werden!3, daß eine er-
hebliche juristische Unsicherheit entsteht24 .
Auf der Linie des Entwurfs von 1980 stellt die Reform vom 25. Juni
1983 lediglich das Anbauen, Herstellen und Inverkehrbringen von
Drogen unter Strafe sowie ferner den-Besitz, wenn die Droge für den
Handel oder den Verkauf bestimmt ist. Die Bestrafung hängt im Ein-
zelfall davon ab, ob die Droge schwere Folgen für die Gesundheit hat
(harte Drogen), oder ob dies nicht der Fall ist (weiche Drogen). In dem
22 Ruiz Vadillo, La punici6n de los delitos de robo con fuerza en las cosas,
hurto y estafa en la reforma parcial deI C6digo penal de 25 de junio de 1983.
Las circunstancias de agravaci6n especificas, in: Estudios penales y crimino-
16gicos (VII), 1984, S. 383.
23 Ruiz Vadillo (Anll}.. 22), S. 384.
24 "Wenn es sich um für den öffentlichen Dienst bestimmte Sachen han-
delt, sofern eine schwere Störung dieses Dienstes verursacht wird, oder aber
um Güter des täglichen Bedarfs, sofern eine ernste Lage auf dem Versor-
gungsgebiet verursacht wird" (Art.515 Abs.l); "wenn, unter Berücksichti-
gung des Wertes der entzogenen Güter, ein besonders schwerer Fall vorliegt,
oder besonders schwere Schäden verursacht werden" (Art. 515 Abs. 2). In
einer erst kürzlich gebrachten Fernsehsendung konnten sich ein Straf-
rechtsprofessor und ein Richter nicht darüber einigen, ob der Diebstahl eines
Gegenstandes im Werte von 1 Million Peseten einen besonders schweren
Fall darstellt oder nicht und ob infolgedessen die aufzuerlegende Strafe
4 Monate und 1 Tag bis 6 Monate oder aber 6 Monate und 1 Tag bis zu
6 Jahren sein müßte.
Die Strafrechtsreform der spanischen Monarchie 913
letztgenannten Fall ist die Strafe nur eine symbolische: Haft von
einem Monat und einem Tag bis zu sechs Monaten (Art.344). Nicht
angeführt und deshalb straflos sind dagegen der Verbrauch, Besitz
(auch wenn es sich um große Mengen handelt) und die Schenkung von
weichen oder harten Drogen.
Ende 1983 veröffentlichte das Justizministerium den Vorentwurf für
ein neues Strafgesetzbuch25 , der zu Beginn des Jahres 1984 der Öffent-
lichkeit vorgelegt28 wurde. Bei seiner Ausarbeitung ist von dem Ent-
wurf des Jahres 1980 und den von der sozialistischen Fraktion vor-
gelegten Änderungsvorschlägen ausgegangen worden. Wie der Minister
in seiner kurzen Einführung sagt, sind auch die Änderungsvorschläge
der übrigen Fraktionen sowie die Bemerkungen berücksichtigt worden,
die von der Wissenschaft und der Praxis gemacht worden sind27 •
Nachstehend einige der Neuerungen. Das Grundprinzip des Entwurfs
von 1980 "Keine Strafe ohne Schuld" ist durch den Grundsatz "Keine
Strafe ohne Vorsatz oder Fahrlässigkeit" ersetzt worden, allem An-
schein nach deshalb, weil man den ethisch-juristischen Begleitvorstel-
lungen, die dem Begriff "Schuld" anhaften, aus dem Wege gehen
wollte. Trotzdem wird der Begriff "schuldig" - offensichtlich inkonse-
quent - in mehr als einer Vorschrift verwendet (z. B. in Art. 23 Abs.2).
Bei der Irrtumsregelung ist der Begriff "unvermeidbarer Irrtum über
ein wesentliches zum gesetzlichen Tatbestand gehörendes Merkmal"
durch den Begriff "unvermeidbarer Irrtum über die Handlung, die ein
strafrechtliches Delikt darstellt" ersetzt worden, was einer Rückkehr
zu dem klassischen Begriff des Tatirrtums gleichkommt, den die Rechts-
lehre in der letzten Zeit aufgegeben hat.
Das Strafmündigkeitsalter wird auf 18 Jahre heraufgesetzt, was als
positiv gewertet werden muß 28 • Auf der anderen Seite ist es als eine
Unachtsamkeit anzusehen, daß nur der Erfolg - nicht die Handlung
oder der Erfolg (Ubiquitätstheorie) - die Anwendung der spanischen
Strafgesetze bestimmen soll. Wenn daher z. B. jemand einen Brief mit
einer Bombe von Madrid nach Paris abschickt, in der Absicht, seinen
Feind zu töten, wird das Delikt als außerhalb des spanischen Hoheits-
gebietes (Art. 11) begangen angesehen mit allen sich hieraus ergeben-
den Folgerungen28 •
Die Regelung der Strafen und Maßregeln der Sicherung und ihrer
Wechselbeziehungen ist vollkommener und harmonischer als im Ent-
wurf30 • Trotzdem erscheinen einige kritische Bemerkungen auch hier
am Platze. Der Vorentwurf nimmt für den Vollzug der Freiheitsstra-
fen ausdrücklich auf das in dem Allgemeinen Strafvollzugsgesetz und
seinen Ausführungsvorschriften vorgesehene System Bezug (Art. 35, 2),
während hinsichtlich des Vollzugs der Maßregeln der Sicherung, die
ebenfalls eine Freiheitsentziehung zur Folge haben, nichts gesagt wird.
Dieses Stillschweigen bedeutet nach meiner Auffassung eine offen-
sichtliche Anerkennung der Tatsache, daß die in dem Vorentwurf und
im Strafvollzugsgesetz vorgesehenen Einrichtungen (mit Ausnahme der
psychiatrischen Anstalten) nur wenige oder überhaupt keine Gemein-
samkeiten aufweisen. Dies ist schwerwiegend, weil es erkennen läßt,
daß für die Erreichung kriminalpolitischer Ziele, die in beiden Fällen
die gleichen sein sollten, nicht nur verschiedene, sondern klar vonein-
ander abweichende Wege gegangen werden.
Im Gegensatz zu unserer kulturellen Tradition und den Vorausset-
zungen, von denen diese ausging, hatte der Entwurf von 1980 die straf-
rechtliche Verantwortung der juristischen Personen zugelassen31 • In
Übereinstimmung mit dem Postulat, daß juristische Personen nicht
bestraft werden können, fehlt in dem Vorentwurf auch die Möglich.,
keit, daß juristischen Personen Maßregeln der Sicherung auferlegt
werden. Es sind lediglich sog. "Nebenfolgen" vorgesehen, sofern die
Straftat bei Ausübung der Tätigkeit einer Personenvereinigung oder
unter Benutzung ihrer Organisation begangen wurde, um diese zu
begünstigen oder ihr Vorteile aus der Straftat zukommen zu lassen
(Art. 138). Nebenfolgen sind z. B. die Auflösung der Gesellschaft oder
die Einstellung ihrer Tätigkeit.
Weitere Neuerungen, die die Strafe betreffen, sind folgende: die
Einführung des Tagessatzsystems bei der Geldstrafe, die Verhängung
von Wochenendarrest32 , das Verbot der Auferlegung von Freiheitsstra-
fen von weniger als sechs Monaten, die Möglichkeit des Ersatzes von
Gefängnisstrafen von weniger als zwei Jahren durch Wochenendarrest,
die Aussetzung des Urteilsspruchs usw. Zu erwähnen unter den Un-
Si Eine These, die mit besonderem Nachdruck von Bajo Fernandez vertei-
digt wird. Dagegen Barbero Santos in der zuletzt zitierten Arbeit, S. 199 ff.
32 Die in dem Allgemeinen Strafvollzugsgesetz nicht vorgesehen ist.
Die Strafrechtsreform der spanischen Monarchie 915
58·
916 Marino Barbero Santos
3$ Von mir öfters verlangt. Siehe Barbero Santos, Rev. Intern. de Droit
Penal, 1978, I, S. 70.
918 Marino Barbero Santos
den muß. Das Gesetz gestattet ferner die Durchführung der Verneh-
mung oder Untersuchung des Verhafteten, falls dieser damit einver-
standen ist(!), nachdem acht Stunden seit der Mitteilung an die Anwalts-
kammer abgelaufen sind, ohne daß ein Anwalt für ihn erschienen wäre.
Die autoritäre Neigung des demokratischen Staates, die gegenwärtig
die Juristen so sehr beunruhigt, zeigt sich unverhüllt und besonders
klar in dem Gesetzentwurf gegen die Handlungen bewaffneter Banden
und terroristischer Elemente und zur Weiterentwicklung des Artikels 55
Abs.2 der Verfassung.
Wir, die wir uns stets mit so harten Worten gegen die repressive
Gesetzgebung der Diktatur FrancosS 8 ausgesprochen und der Hoffnung
Ausdruck gegeben haben, daß mit dem Beginn der neuen Epoche am
20. November 1975 die Strafgesetze sich voll und ganz den Postulaten
des demokratischen Staates anpassen würden und daß bei diesem Pro-
zeß alle Institutionen, die die Grundrechte87 so schwer verletzten, als
nutzloses Gerümpel in der Rüstkammer der Erinnerungen verschwin-
den würden, haben zu unserer großen Enttäuschung feststellen müssen,
daß diese mit dem gleichen oder sogar noch mehr Glanz als vorher wie-
der erschienen sind. Ein gutes Beispiel hierfür ist der genannte Geset-
zesentwurf gegen den Terrorismus, der zahlreiche Vorschriften der Ver-
fassung verletzt (Art. 14, 17, 18, 20, 25 usw.). Unter den Fehlgriffen
erwähnen wir die folgenden: Gleichstellung der Täterschaft mit der
Teilnahme (Art. 1 und 8) und des vollendeten Delikts mit dem fehl-
geschlagenen und versuchten Delikt (Art. 3), vollständiger Strafnachlaß
in bestimmten Fällen einer Selbstanzeige (Art. 6), Möglichkeit der Aus-
aelmung der Polizeihaft bis ZU zehn Tagen (Art. 14), Befugnis der Ver-
waltungsstellen zur Anordnung von Kontaktsperre für Verhaftete
(Art. 16), Befugnis zum Betreten der Wohnung und zur Untersuchung
derselben ohne richterliche Ermächtigung und ohne Erlaubnis des Eigen-
tümers (Art. 17), Befugnis zur Kontrolle des Briefwechsels, der Tele-
gramme und der Telefongespräche eines Verdächtigen, Sperre der Kom-
munikationsmittel durch Genehmigung eines von der Staatsanwaltschaft
gestellten Antrages, Unmöglichkeit der Freilassung von Strafgefangenen
oder Verhafteten durch den Richter, deren Freilassung beschlossen wor-
den wäre, wenn der entsprechende Beschluß noch nicht rechtskräftig
geworden ist, sofern die Staatsanwaltschaft das entsprechende Rechts-
mittel eingelegt hat.
Aus unseren Ausführungen ergibt sich, daß der von 1975 bis jetzt
zurückgelegte Weg ein langer gewesen ist. Das veraltete repressive
Recht des damaligen autoritären Staates hat viele seiner Härten ver-
loren und weist jetzt ein wesentlich fortschrittlicheres Gesicht auf, das
sich mehr und mehr den gegenwärtig vorherrschenden Auffassungen,
den Lösungen des Auslandes, den Erfordernissen einer dem Wechsel
unterworfenen Gesellschaft und den Postulaten des Rechtsstaates an-
paßt. Trotzdem kann das Urteil über die bereits geltende und die noch
im Entstehen begriffene Strafrechtsordnung nicht in vollem Umfange
günstig lauten: in vielen ihrer Erscheinungsformen verdient diese sogar
eine sehr strenge Ablehnung. Dem unparteiischen Beobachter fällt ins-
besondere auf, daß eine zusammenhängende Linie von klaren Zielen,
eine besonnene Arbeit fehlt und eine Aufforderung zur Mitwirkung an
dem großen Werk der Vorbereitung einer Strafgesetzgebung nicht er-
folgte, einem Werk, das auf der Höhe der spanischen pluralistischen
und demokratischen Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts stehen
sollte, sowie daß keine nationale wissenschaftliche Mitarbeit in einem
Augenblick stattfand, der dafür besonders günstig erschien. Die Flucht
in das Strafrecht durch Gesetze, bei denen man das Bewußtsein für die
unüberschreitbaren Schranken verloren hat, die der Rechtsstaat dem
Strafen zieht, und die Flucht vor dem Strafrecht mit einem den
schweren Straftaten der Gegenwart gegenüber vermessen wirkenden
Mangel an Realitätsgefühl rufen durch ein "zu viel" auf der einen und
ein "zu wenig" auf der. anderen Seite eine unerträgliche Rechtsunsicher-
heit beim Bürger hervor und machen ständig nachträgliche Berichti-
gungen nötig, was nichts mehr mit der der Strafe eigenen erzieherischen
Kraft und nichts mit der delikaten und transzendenten Funktion einer
ausgewogenen Ordnung des Zusammenlebens der Bürger zu tun hat,
der höchsten Aufgabe, die der Staat zu erfüllen hat.
ANTONIO BERISTAIN
I. Dedicatoria
Corno pequefia muestra de agradeeimiento, dedico esta confereneia1
al Profesor Hans-Heinrich Jescheck que tanto ha enriqueeido la re-
forma penal en la Republica Federal de Alemania y en otros paises con
sus inteligentes investigaeiones y con la ayuda incondicional a los pena-
listas que hemos tenido la suerte de ser acogidos en su Instituto Max-
Planck de Derecho penal extranjero e internaeional y de Criminologia,
en Friburgo de Brisgovia.
Para reflexionar acerca de «La reforma penal tambien desde la Uni-
versidad» podemos apoyarnos en dos polos fundamentales: que se en-
tiende y pretende por la reforma penal (sus problemas y sus metas
principales), y cuäl es el papel de la Universidad: la metodologia com-
parada (quienes, c6mo y durante cuänto tiempo se logra la reforma
penal). Me referire prineipal (no unicamente) a la reforma penal,
actualmente, en el Estado espafiol y en el Pals Vasco.
7 Mir Puig y otros, Politica criminal y reforma deI Derecho penal, Colombia,
1982; VaTios, La reforma deI Derecho penal I, ed. a cargo de Mir Puig, 1980;
Idem, La reforma deI Derecho Penal 11, 1981; VaTios, La reforma penal y
penitenciaria, ed. a cargo de Ferndndez Albor, 1980; Cerezo Mir, Obervaciones
criticas al proyecto de Ley Orgänica de C6digo penal, en Idem, Problemas
fundamentales deI Derecho penal, 1982, pp. 348 ss.; Barbero Santos, Los margi-
nados ante la ley penal (La Ley de Peligrosidad y Rehabilitaci6n Socia! de
lege ferenda), en Estudios penales. Libro homenaje al Prof. Ant6n Oneca, 1982,
pp. 39 ss.; Quintero OlivareslMunoz Conde, La reforma penal de 1983, 1983;
Propuesta alternativa de la Parte General deI C6digo penal", en Cuadernos
PoHtica Criminal, n° 18 (1982), pp. 609 ss. (Mir PuiglMunoz Conde); GaTTido-
Guzman, La reforma urgente y parcial deI C6digo penal y la redenci6n de
penas por el trabajo, en Anales de la Universidad de Alicante, n° 2 (1983),
165 ss.; La reforma deI Derecho Penal, Revista de la Facultad de Derecho de
la Facultad Complutense, 1980, numero monogräfico; EI Proyecto de C6digo
Penal, Revista Juridica de Cataluiia, 1980, numero extra; Ruiz Vadillo, Algu-
nas observaciones al Proyecto de Ley de Reforma parcial deI C6digo Penal
(Orgänica), 1982.
8 MemoTia Elevada, 1981, pp. 7 s.
La reforma penal tambien desde la Universidad 925
18 Cobo deZ RosaZ, EI deUto de rapto (Att.440 deI C6digo penaI), en Cobo
deZ RosaZlBajo Fernandez, Comentarios a Ia LegisIaci6npenaI, T.II, 1983,
pp. 371 ss.; Garcia-Pablos de Molina, Asociaciones ilicitas y terroristas (Arts.
172 a 176 deI C6digo penaI), en Comentarios a la LegisIaci6n penal, T. 11, pp,
109 ss.; Orts Berenguer, Reuniones y manifestaciones ilicitas (Arts. 166 a 171
deI C6digo penal), en opus cit.,· pp. 69 ss.; Boix Reig, «Consideraciones sobre
la protecci6n penal de la intimidady deI honor e informätica», en Anales de
la Universidad de Alicante. Facultad de Derecbo, n° 2 (1983), pp. 29 ss.
lG Jescheck, Strafen und Maßregeln des Musterstrafgesetzbuchs für Latein-
amerika im Vergleich mit dem deutschen Recht, en Strafrecht im Dienste
der Gemeinschaft, pp. 274 ss.; BacigaZupo, Die spanische und iberoamerikani-
sche Strafrechtsreform im Vergleich mit der Strafrechtsreform der Bundes-
republik Deutschland, en Strafrechtsreform und Rechtsvergleichung, 1979,
pp. 115 ss.; Rivacoba/Zaffaroni, Siglo y medio de Codificaci6n penal en Ibero-
america, 1980; Moreno Hernandez, Necesidad de la reforma penal integral en
Mexico y criterios para la misma, en Boletin Informativo, Instituto de Investi-
gaciones Juridicas, n° 2, 1983, pp. 60 ss. (Una reforma que no parta de bases
precisas, deI conocimiento profunde de la realidad s610 serä un desgaste pre-
cipitado de energias).
928 Antonio Beristain
59·
932 Antonio Beristain
I.
In einer Festschrift für den Jubilar, dessen wissenschaftliche Arbeiten
stets im besonderen Maße sowohl der Rechtsvergleichung wie auch der
Kriminalpolitik galten, darf auch das zur Zeit besonders aktuelle, ja
sogar modische Thema der Diversion einen Platz beanspruchen. In sei-
nem viel zitierten und bis heute zeitgemäßen Pariser Referat "Die
Krise der Kriminalpolitik" (1979)1 hat Jescheck in einem umfassenden
überblick über die neuere internationale Entwicklung Grund und Aus-
wirkungen dieser Krise dargestellt und dabei insbesondere auf den
Vertrauensverlust hingewiesen, den allenthalben die einst so hochge-
schraubten Erwartungen in die spezialpräventiven Möglichkeiten der
Freiheitsstrafe erfahren haben. Als ein Mittel, die Freiheitsstrafe zu
ersetzen, hat er damals an erster Stelle die Anfang der 70er Jahre in
den USA entstandene und rasch verbreitete Idee der "diversion" ge-
nannt. Doch schließt sein diesem Thema gewidmeter Abschnitt mit der
Feststellung, in den USA habe die anfangs bestehende Popularität der
Diversion inzwischen nachgelassen!. Da aber die deutsche Kriminologie
und Kriminalpolitik seit langem gewöhnt sind, mit einigen Jahren
Verspätung die amerikanischen Modethemen und Lösungen aufzugrei-
fen, ist bei uns die Diversion mehr denn je zentraler Diskussionsgegen-
stand und zugleich praktisches Experimentierfeld.
Die Ursprünge in der amerikanischen Kriminalpolitik, die dort ent-
wickelten Diversionsstrategien und die Bewertung der amerikanischen
Vorbilder als Muster für deutsche Lösungen sind erst kürzlich in meh-
reren Abhandlungen, so zuletzt in einem umfangreichen Aufsatz von
Michael Walter und in der Habilitationsschrift von Peter Alexis Al-
II.
Hinsichtlich § 153 a StPO ist die Bewertung heute sehr erleichtert
worden. Denn hier liegen nunmehr in den bei den sich ergänzenden
Arbeiten von AhTens und HeTtwig sowie in der allerdings auf die
Berliner Sanktionspraxis beim Ladendiebstahl beschränkte Abhand-
lung von Joachim WagneT gründliche, mit den Methoden moderner
Sozialwissenschaft durchgeführte empirische Untersuchungen zu allen
hier einschlägigen Problemen vor, die eine Beurteilung der Diversion
nach § 153a StPO aus dem Bereich bloßer kriminalpolitischer Speku-
lationen in den der justizstatistisch abgesicherten Erfahrung erheben8 •
Da die Ergebnisse dieser Untersuchungen noch nicht überall die
ihnen gebührende Aufmerksamkeit gefunden haben, obwohl sie min-
destens eine vorläufige Antwort auf die gegen § 153 a StPO erhobenen
Einwendungen enthalten, so seien hier einige von ihnen noch einmal
stand und die wichtigsten Argumente bei Naucke, Strafrecht!. Gutachten zum
51. Dt. Juristentag 1976; Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 221 ff.; Hertwig, Die Ein-
stellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit, Krim. Stud. Bd.41 (1982),
S.3 f. m. w.N.
8 Ahrens, Die Einstellung in der Hauptverhandlung gem. § 153 H, § 153 a
StPO, Krim. Stud. Bd.27 (1978); Hertwig (wie Anm.7); Wagner, Staatliche
Sanktionspraxis bei Ladendiebstählen, Krim. Stud. Bd. 32 (1979). Die Unter-
suchungen von Ahrens und Hertwig sind im Rahmen des von Schöch und
SchTeibeT geleiteten Forschungsprojektes zur strafprozessualen Rechtstat-
sachenforschung durchgeführt worden. Da sich die Arbeit von Ahrens nur
mit der Einstellung in der Hauptverhandlung befaßt, kommt für das Thema
"Diversion" vor allem die Arbeit von Hertwig in Frage.
überlegungen zur Diversion 941
III.
durch die Eingangspforte des § 45 JGG auf einen Weg geführt worden
ist, der sie weit von den ursprünglichen Zielvorstellungen des Gesetz-
gebers fortzuführen im Begriffe ist. Insofern mag man hier von einer
immanenten Reform des JGG durch die Praxis sprechen.
Auch wenn man anerkennt, daß das der richterlichen und staats-
anwaltschaftlichen Rechtsfortbildung so viel Freiheit lassende JGG
diesen Weg nicht versperrt hat, wird sich doch die Diversion im wesent-
lichen auf den kleinen und mittleren Kriminalitätsbereich beschränken
müssen. In zahlreichen Städten sind für diesen Bereich bereits Modelle
für Diversionsstrategien in die Praxis umgesetzt worden, in denen auf
unterschiedliche Weise Entlastung der Jugendgerichte, Jugendhilfe-
maßnahmen und Entstigmatisierung des Verfahrens miteinander ver-
bunden werden. Es ist hier weder möglich noch nötig, diese Modelle,
die teilweise noch Experimentiercharakter haben, im einzelnen zu be-
sprechen13• Nur soviel sei angemerkt, daß im wohl am deutlichsten auf
wirkliche Bagatellfälle beschränkten "Lübecker Modell" die mündliche
Ermahnung durch den Jugendstaatsanwalt unter Hinzuziehung der
Eltern im Vordergrund steht. Das Braunschweiger Experiment wird
von dem Jugendstaatsanwalt und der durch zusätzliche Mitarbeiter ver-
stärkten Jugendgerichtshilfe getragen. Träger des STOP-Programms
der INTEG in Mönchengladbach und der von PfeiDer initiierten
Brücke-Modelle in München, Köln und Kiel sind freie Vereinigungen,
deren Aufgabe neben einer zusätzlichen Betreuung des Jugendlichen
insbesondere auch die Organisation und Auswahl geeigneter Auflagen
und Weisungen zu gemeinnütziger Arbeit und von Erziehungs- und
Trainingskursen ist. Mindestens beim Brücke-Modell - das macht den
Unterschied der Diversion im Jugendstrafrecht gegenüber dem allge-
meinen Strafrecht aus - beschränkt sich ihre Aufgabe allerdings nicht
nur auf die kleine Jugendkriminalität, der man schon bisher mit Er-
mahnungen, Verwarnungen, Geldauflagen oder allenfalls mit Freizeit-
arrest beizukommen suchte. Sie scheint hier auch ausgeweitet zu wer-
den auf Jugendliche und Heranwachsende mit größerer sozialer Ge-
fährdung, wie Pfeiffers Attacke gegen die Bewährungshilfe und seine
sowohl auf den Jugendarrest wie auch auf die Jugendstrafe zu bezie-
hende Forderung nach "Entkerkerung" (der "decarceration" der USA-
Literatur) zeigt.
Wenn wir oben in unserem Rückblick die Diversion als derzeitigen
Endpunkt in der aufeinanderfolgenden Reihe sich gegenseitig ablösen-
60·
948 Friedrich Schaffstein
18 Zwischen 1963 und 1982 stieg die Zahl der von der Polizei wegen Verbre-
chen und Vergehen - ohne Staatsschutzdelikte und ohne Vergehen im Stra-
ßenverkehr - ermittelten Tatverdächtigen von 855 600 auf 1 611 445, d. h. um
88%.
18 Für die Staatsanwaltschaft liegen erst ab 1977 für einige Bundesländer
Daten vor. Danach stieg zwischen 1977 und 1981 die Zahl der erledigten Ermitt-
lungsverfahren - ohne Anzeigen gegen unbekannte Täter - in den Ländern
Bayern, Bremen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und im
Saarland von 1319 878 auf 1506 423, d. h. um 14 %.
20 In der Strafrechtsgerichtsbarkeit stieg die Zahl der Neuzugänge zwischen
1972 (1977) - 1982 von 957869 (1459982) auf 1607247, d. h. um 67,8 % (10,1 %).
Neue Formen der Bewährung in Freiheit in der Sanktionspraxis 959
geführt. Zwar konnte ein Teil dieser Mehrbelastung durch eine Per-
sonalvermehrung sowie durch ein verändertes Anklageverhalten
aufgefangen werden21 • übereinstimmung besteht aber darüber, daß
auch die Rechtsgewährung zu den knappen Ressourcen zählt2l• Ohne
Entlastung ist aber eine Konzentration auf die schwerere Krimina-
lität nicht möglich.
7. Entlastung der Vollzugsanstalten. Trotz der auch auf Entlastung
des Vollzugs abzielenden Strafrechtsreform von 1969 sind inzwi-
schen die GefangenenzaMen mit 45394 (31. 3. 1982) nahezu wieder
auf dem Stand von 1968 (31. 3.1968: 47295). In der Mehrzahl der
Bundesländer dürften die Haftplätze im geschlossenen Vollzug be-
reits wieder überbelegt sein". Eine qualitative Verbesserung des
Strafvollzugs setzt aber dessen Entlastung vOraus.
8. Ökonomische Grunde. Angesichts der derzeitigen Lage der Finan-
zen von Bund und Ländern ist weder eine nachhaltige Entlastung
der Str,afrechtspflege durch Personalvermehrung noch ein Ausbau
der Haftkapazität zu erwarten!4. Ambulante Sanktionen verspre-
chen aber eine deutlich günstigere Kosten-Nutzen-Relationals sta-
tionäre Sanktionen15• Dies dürfte erst recht gelten für die Alterna-
tiven zu den klassischen Sanktionsformen.
9. Grunde der Humanität, Sozial- und Rechtsstaatlichkeit sowie der
Verhältnismäßigkeitlll • Diese verfassungsrechtlichen Prinzipien er-
fordern es u. a., unter mehreren gleichermaßen geeigneten Sank-
tionen die den Betroffenen am geringsten belastende Sanktion ein-
zusetzen.
In den diskutierten Alternativen zur Freiheitsstrafe spiegeln sich
die Vielfalt und die Vielschichtigkeit dieser Gründe wider. Unter-
scheidbar sind - bei typisierender Betrachtungsweise - folgende
Ebenen, auf denen Alternativen gesehen werden:
1. Reprivatisierung der Konflikte. Hierauf laufen sowohl das "Plä-
doyer für die Abschaffung des Strafrechts"!'! als auch die Forderung
21 Vgl. Rieß, Zur Entwicklung der Geschäftsbelastung in der ordentlichen
Gerichtsbarkeit, DRiZ 60 (1982), S. 205 ff.
22 Vgl. Pfeiffer, Knappe Ressource Recht, ZRP 14 (1981), S. 121 ff.
23 Vgl. Dünkel/Rosner, Die Entwicklung des Strafvollzugs in der Bundes-
republik Deutschland seit 1970. Materialien und Analysen, 2. Auf!. 1982, S. 56 ff.
24 Vgl. aber auch Baden-Württemberg, wo nach einer Pressemitteilung des
Justizministeriums vom 10. 2. 1984 seit 1980 tausend Haftplätze geschaffen wor-
den sind. .
25 Vgl. zuletzt Schwind, Strafvollzug und Bewährungshilfe im Kostenver-
gleich (1982), Bewährungshilfe 31 (1984), S. 73 ff.
28 Vgl. hierzu Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 3. Aufl.
1978, S. 19 ff.; Zipf, Kriminalpolitik. Ein Lehrbuch, 2. Auf!. 1980, S. 43 ff.
27 Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, 1974.
960 Wolfgang Heim
1. Allgemeine Entwicklungstendenzen
Strafrechtsreformen und Rechtsprechungswandel haben Zahl, Inhalt
und Bedeutung strafrechtlicher Sanktionen erheblich verändert. Die
Sanktionspraxis der letzten 100 Jahre ist durch die weitgehende Er-
setzung von stationären durch ambulante Sanktionen gekennzeichnet39 •
1882 betrug der Anteil ambulanter Sanktionen an allen wegen Verbre-
chen und Vergehen gegen Reichsgesetze verhängten Strafen nur
23,2 %40, 1982 betrug der entsprechende Anteil 90,1 %41.
61·
964 Wolfgang Heinz
dd) Täter-Opfer-Ausgleich
Von dem in jüngster Zeit in der Wissenschaft favorisierten Täter-
Opfer-Ausgleich, insbesondere in Form der Schadenswiedergutma-
chung68 , wird noch relativ selten Gebrauch gemacht. Derzeit bemüht
man sich an verschiedenen Orten darum, den Jugendrichtern Durch-
führungshilfen anzubieten70.
1. Marl
Die Jugendgerichtshilfe wird entweder durch die Polizei oder auf Grund
von Selbstmeldungen des Tatverdächtigen bzw. der Erziehungsberechtigten
informiert. Kommt der Jugendgerichtshelfer bei geständigen Jugendlichen
"nach den erforderlichen Gesprächen zu der Auffassung, daß ein förmliches
Verfahren und insbesondere eine Verhandlung vor dem Richter zur weiteren
Erziehung nicht erforderlich ist, da anderweitige erzieherische Maßnahmen
bereits erfolgten, so schlägt er in seinem Bericht der zuständigen Staatsan-
waltschaft das Verfahren gemäß § 45 Abs.2 JGG vor. Anderweitige Maßnah-
men in diesem Sinne sind nach Auffassung der Jugendgerichtshilfe in MarI:
intensive Informations- und persönliche Beratungsgespräche; Ableistung
von Sozialdienst auf freiwilliger Basis; Teilnahme an einem Verkehrserzie-
hungskurs auf freiwilliger Basis; aktive Schadenswiedergutmachung mit per-
sönlicher Entschuldigung des Täters bei dem Opfer"72. Schlägt die Jugendge-
richtshilfe die Verfahrenseinstellung gemäß § 45 Abs.2 JGG vor, so legt sie
dar, welche Erziehungsmaßnahmen durchgeführt werden sollen und weist
darauf hin, daß das Einverständnis des zuständigen Staatsanwalts zu diesen
Maßnahmen unterstellt wird, wenn nicht innerhalb von zwei Wochen eine
anderslautende Mitteilung ergeht78.
2. Mönchengladbach
Das in Mönchengladbach vom Verein "Gesellschaft zur Förderung integra-
tiver Maßnahmen" durchgeführte STOP-Programm ist für jugendliche Erst-
täter bestimmt, die wegen Ladendiebstahls angezeigt wurden. "Das Programm
wird nach polizeilicher Protokollierung des Geständnisses des Jugendlichen
über das Jugendamt der Stadt informiert. Zwei Mitarbeiter des Programms,
davon ein ausgebildeter Sozialarbeiter und ein weiterer freiwilliger Mitar-
beiter des Programms, besuchen Jugendliche und Eltern und besprechen den
71 1981 entfielen 96,8 % aller Auflagen bei den von der Staatsanwaltschaft
verfügten Einstellungen gemäß § 153 a StPO auf die Zahlung eines Geldbe-
trages. Wie Ahrens, Die Einstellung in der Hauptverhandlung gemäß §§ 153
Abs.2, 153 a Abs.2 StPO, 1978, S.90, beobachtete, war auch bei der gericht-
lichen Einstellung die Anordnung einer Geldbuße die weitaus häufigste Auf-
lage.
72 Beckmann, Möglichkeiten zur Diversion im Jugendstrafverfahren in der
Praxis der Jugendgerichtshilfe, ZblJugR 70 (1983), S. 21l.
73 Vgl. Beckmann (Anm. 72), S. 213.
972 Wolfgang Heinz
3. Braunschweig
4. Köln76
In Köln teilt der Jugendstaatsanwalt in geeigneten Fällen den Beschul-
digten mit, von der Verfolgung werde abgesehen, wenn eine festgesetzte An-
zahl von Sozialstunden nach Weisung des Vereins BRüCKE e. V. Köln ge-
leistet werde. Ist der Jugendliche bzw. Heranwachsende mit diesem Verfah-
ren einverstanden, kommt er zu einem Gesprächstermin in die BRüCKE.
Dem Gespräch zwischen dem Beschuldigten und einem Sozialarbeiter wird
entscheidende Bedeutung beigemessen, da die Jugendgerichtshilfe nicht ein-
geschaltet ist und auch keine persönliche Anhörung durch den Staatsanwalt
stattgefunden hat. Im Mittelpunkt steht die Tat und ihre Bewältigung, ins-
besondere die Reaktionen des sozialen Umfeldes. Erscheinen diese Reaktio-
nen als erzieherische Maßnahmen ausreichend, so regt die BRüCKE bei der
Staatsanwaltschaft an, ganz oder teilweise auf die Erfüllung der Arbeits-
weisung zu verzichten77 •
5. Lübeck
In Lübeck wird in Fällen der Kleinkriminalität, insbesondere bei Laden-
diebstahl, Schwarzfahren, Sachbeschädigung sowie bei Verkehrsdelikten, der
geständige Ersttäter von Beamten der Schutzpolizei zu einer Vernehmung
durch die Staatsanwaltschaft geladen, die zu diesem Zweck feste Gesprächs-
termine reserviert hat. "Ergibt sich bei der Vernehmung, die sich weniger
mit der Straftat selbst, als mit deren Motiven und Hintergründen, der per-
sönlichen, familiären, schulischen und beruflichen Situation des Jugendlichen
oder Heranwachsenden befaßt, daß das Fehlverhalten eingesehen und ge-
gebenenfalls in der Familie erörtert und aufgearbeitet worden ist, so ver-
fährt die Staatsanwaltschaft nach § 45 Abs.2 JGG; in anderen Fällen wendet
sie § 45 Abs. 1 JGG an oder erhebt Anklage. Der Ermahnungstermin wird
sofort mit dem zuständigen Richter telefonisch vereinbart78."
4. Rechtsstaatliche Sicherung
Die regional höchst ungleiche Handhabung der §§ 153 ff. StPO, 45, 47
JGG ist rechtsstaatlich bedenklich. Hinzu kommt, daß es den Verfahren
an Transparenz mangelt. Die schützenden Formen des formalisierten
Verfahrens fehlen. Eine rechtsstaatliche Absicherung ist deshalb drin-
gend geboten.
Teilaussetzung
bei Freiheits- und Geldstrafen
entzug besonders ein. Gerade bei einem Führerscheinentzug mit einer län-
geren Sperrfrist wird zu Recht beklagt, daß der Verkehrsteilnehmer nach
einer solchen erzwungenen Abstinenz von der motorisierten Verkehrsteil-
nahme trotz des notwendigen Neuerwerbs der Fahrerlaubnis im Grunde
jedenfalls an fahrtechnischem Können erheblich eingebüßt haben wird und
vermutlich ein wesentlich unsichererer Verkehrsteilnehmer sein wird als vor
dem Führerscheinentzug. Hier könnte sich - neben vielen anderen disku-
tierten Möglichkeiten - durchaus anbieten, die Fahrerlaubnis nur auf eine
kürzere Zeit zu entziehen und sie dann auf Bewährung wieder zu verleihen.
Dafür wäre im einzelnen eine Reihe von rech,tstechnischen Problemen auch
im Verhältnis zum Fahrverbot zu klären.
, Jescheck ZStW 91 (1979), S. 1062 ff. Abweichend davon unterscheidet
Terdenge, Strafsanktionen in Gesetzgebung und Gerichtspraxis, 1983, S. 81 ff.
mittlere Freiheitsstrafen (6 - 12 Monate), mittellange Freiheitsstrafen,
(1- 5 Jahre) und lange Freiheitsstrafen (über 5 Jahre). Eingehend zur Ein-
schätzung der Freiheitsstrafe in der modernen Kriminalpolitik Jescheck,
Klug-Festschrift, 1983, S. 257 ff. und Zipf, Alternativen zur Freiheitsstrafe,
in: Strafzumessung - Alternativen zur Freiheitsstrafe - Reform des Jugend-
strafrechts, Tagung der österreichischen Juristenkommission in Weißenbach!
Attersee, Juni 1982, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Justiz, Bd. 12,
S. 83 ff.
Teilaussetzung bei Freiheits- und Geldstrafen 979
62·
980 HeinzZipf
wendung der bedingten Geldstrafe durchaus die Gefahr, daß bei ihrem
überhandnehmen die Strafwirkung der Geldstrafe insgesamt leiden
könnte und versucht daher, den Anteil der bedingten Geldstrafe in
einem vertretbaren Rahmen zu halten.
In kriminalpolitischer Hinsicht muß man sehen, daß man es bei der
Frage einer bedingten Nachsicht der Geldstrafe mit zwei Zielsetzungen
zu tun hat. Im unteren Anwendungsbereich der Geldstrafe könnte eine
bedingte Nachsicht das mißglückte Rechtsinstitut der Verwarnung mit
Strafvorbehalt ablösen (s. u. 1). Im oberen Anwendungsbereich der
Geldstrafe könnte dagegen eine teilweise Nachsicht dazu führen, die-
sen Geldstrafenbereich (über 180 Tagessätzen) überhaupt erst für die
Rechtsanwendung zu erschließen (s. u. 2).
recht, 1. Teil Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 1981, § 43 Nr. 1). Ich selbst halte de
lege lata eine teilbedingte Geldstrafe für unzulässig und glaube, daß ihre
Einführung als kriminalpolitische Entscheidung von großer Tragweite dem
Gesetzgeber vorbehalten ist. So sieht der Entwurf eines Jugendgerichts-
gesetzes 1983 in § 6 Ziff.5 der Regierungsvorlage vor, daß der Richter bei
der Verhängung einer Geldstrafe eine bedingte Nachsicht auch eines Teiles
der zu verhängenden Geldstrafe gewähren kann (vgl. dazu Jesionek, ÖRiZ
1983, 224 f., der dieselbe Möglichkeit auch für die Freiheitsstrafe bei Jugend-
lichen fordert).
18 Näher dazu Zipf, Empfiehlt es sich, die Vorschriften über die Öffentlich-
keit des Strafverfahrens neu zu gestalten, insbesondere zur Verbesserung
der Rechtsstellung . des Beschuldigten weitere nicht-öffentliche Verfahrens-
gänge zu entwickeln? Gutachten C zum 54. DJT 1982, S. 68 ff.
17 Zipf (Anm. 11), S. 513 ff.
18 (Anm. 11), S.534 ff.
Teilaussetzung bei Freiheits- und Geldstrafen 983
1.
Der kurzen Freiheitsstrafe1 wurde vor 100 Jahren durch von Liszt
der Kampf angesagt!. Mit seiner Konzeption einer am Zweckgedanken
orientierten Kriminalpolitik war der aus seiner Sicht für den Ver-
urteilten nicht nur nutzlose, sondern sogar schädliche kurzzeitige Frei-
heitsentzug nicht zu vereinbaren. In der letzten, von ihm verfaßten
Auflage seines Lehrbuchs faßt er seine Kritik an der kurzzeitigen
Freiheitsstrafe dahingehend zusammen, daß sie "in ihrer heutigen
Anwendungsweise weder bessert, noch abschreckt, noch unschädlich
macht, dafür aber nur zu leicht den Neuling dauernd in die Bahn des
Verbrechens weist"3. Die Kritik verdichtete sich in den nachfolgenden
Jahrzehnten zu einem wahren Kreuzzug gegen die kurze Freiheits-
strafe'. In deren Ablehnung war man sich bis in die zweite Hälfte
unseres Jahrhunderts, auch international gesehen, nahezu einig'. Diese
einhellige überzeugung kommt in der Empfehlung sowohl der UNO
als auch des Europarats an die jeweiligen Mitgliedsstaaten, die Anwen-
dung der kurzen Freiheitsstrafe so weit wie möglich einzuschränken,
klar zum Ausdruck'. Der deutsche Strafgesetzgeber hat im Zuge dieser
allgemeinen Kritik die kurzzeitige Freiheitsstrafe zwar nicht beseitigt,
wie es eigentlich der Intention von Liszts entsprochen hätte7 und wie
auch der Alternativ-Entwurf es gefordert hat8 ; er hat sie jedoch weit-
gehend zurückzudrängen versucht, so daß "die kurze Freiheitsstrafe
unterhalb von sechs Monaten durch die Prioritätsklausel zugunsten
der Geldstrafe theoretisch zur Ausnahme geworden ist"9. Freilich scheint
die Praxis auf diese Strafe nicht verzichten zu können. Im Jahre 1982
wurden in der Bundesrepublik Deutschland immerhin 10 722 nicht zur
Bewährung ausgesetzte Verurteilungen zu einer Freiheitsstrafe unter
sechs Monaten ausgesprochen; hinzuzurechnen sind auf jeden Fall
34278 registrierte Neuzugänge im Strafvollzug wegen zu vollstrecken-
der Ersatzfreiheitsstrafen10• Inhaftierungszeiten unter sechs Monaten
werden zusätzlich durch Widerruf einer Strafaussetzung, durch Straf-
restaussetzung und durch Anrechnung der Untersuchungshaft bewirkt.
Unter Berücksichtigung auch dieser Gruppen kommt Heinz zu dem
Ergebnis, daß im Schnitt der Jahre 1975/1980 statt der 10500 unbedingt
verhängten Freiheitsstrafen 55000 - 60 000 Verurteilte zur Verbüßung
einer Strafe für eine Zeit von weniger als sechs Monaten inhaftiert
gewesen sein dürftenl l •
Erst in neuerer Zeit sind über die kurzfristige Freiheitsstrafe nuan-
ciertere und selbst positive Stimmen zu vernehmen12 • Zu denjenigen,
die zu einer differenzierenden und jedenfalls im Hinblick auf be-
stimmte Tätergruppen positiven Einschätzung dieser Strafe neigen,
zählt Jescheck. In der ersten Auflage seines Lehrbuchs von 1969 findet
sich bereits die Äußerung, daß die Geldstrafe nicht den Gesamtbereich
der Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten übernehmen könne; ihre
Abschaffung würde für den unteren Bereich der mittleren Kriminalität
praktisch zur Entwaffnung der Justiz führen tS • In der dritten Auflage
werden dann bestimmte Tätergruppen genannt, bei denen ein kurz-
fristiger Freiheitsentzug sinnvoll erscheint: beim Soldaten, weil die
Wahrung der militärischen Disziplin ein kurzes Durchgreifen erfordern
könne, und bei den Verkehrs- und Wirtschaftsstraftätern, weil sie auf
diese sozial eingeordneten Personen stark abschreckend wirke und in
der Regel auch nicht die befürchtete entsozialisierende Wirkung habe14 •
Unabhängig von der Zugehörigkeit zu diesem Personenkreis könne
die kurze Freiheitsstrafe jedoch auch aus spezialpräventiven Gründen
oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerläßlich sein. Weitere
Argumente dafür, daß "das letzte Wort über die kurze Freiheitsstrafe
... noch nicht gesprochen" ist, findet Jescheck in der Rechtsverglei-
chung. Die Praxis einiger Länder, die wie Schweden, Norwegen und
die Niederlande die kurze Freiheitsstrafe bewußt an Stelle von mitt-
leren und längeren Freiheitsstrafen verwenden, könnte, so schreibt
er im rechtsvergleichenden Querschnitt zu dem von ihm betreu-
ten Gemeinschaftswerk der strafrechtlichen Forschungsgruppe des
Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht
11.
Eine weit verbreitete allgemeine These lautet: Die kurze Freiheits-
strafe hat alle Nachteile und keinen der Vorteile der langen Gefäng-
nisstrafe21 . Die einzelnen angeführten Bedenken gegen diese Strafe
weisen ebenfalls ein großes Maß an übereinstimmung auF2. Die Kritik
läßt sich in fünf Punkten zusammenfassen:
1. die sozialen Beziehungen des Verurteilten können abgebrochen,
jedenfalls beträchtlich erschüttert werden: Verlust der Arbeits-
stelle, Zerrüttung der Familienbande, Erschw,erung des Aufbaus
neuer sozialer Kontakte aufgrund der Tatsache, daß man "geses-
sen" hat;
2. die Dauer des Verbleibs im Gefängnis ist zu kurz, um den Täter
positiv zu beeinflussen und den Resozialisierungsprozeß in Gang zu
setzen;
3. die Bekanntschaft mit dem Gefängnis setzt den Verurteilten der
Gefahr einer kriminellen Ansteckung aus; überdies verliert das
Gefängnis für ihn an abschreckender Wirkung;
4. Nichtanwendung der kurzen Freiheitsstrafe bringt erllebliche finan-
zielle Einsparungen mit sich: die Vollstreckung von Freiheitsstrafen
ist sowieso schon kostspielig; es kommen noch hohe weitere Kosten
in der Form von Sozialhilfen hinzu und schließlich
5. - eigentlich das Fazit aus den vier vorgenannten Punkten - ob-
wohl mit der Vollstreckung dieser Strafe beträchtliche Kosten ver-
bunden sind, hat sie wenig Nutzen. Ungefähr zwei Drittel der zu
kurzzeitigen Freiheitsstrafen verurteilten Personen kehren inner-
halb kurzer Zeit nach ihrer Entlassung zurück28 : Die Anwendung
der kurzen Freiheitsstrafe scheint eine "Straße ohne Ende" zu sein24 •
(Anm. 15) entstanden ist. Sie erlegt aber andererseits hinsichtlich des Um-
fangs Beschränkungen auf, die eine rigorose Kürzung der Argumentation und
Nichtbehandlung der rechtspolitischen Aspekte erforderlich machten. Eine
deutsche Fassung meiner Leidener Antrittsvorlesung (Anm.18) ist in Vor-
bereitung.
21 So die Schlußfolgerung einer European Working Group aus dem Jahre
1959: "The criticism directed against sentences in that they have all the draw-
backs of deprivation of liberty in any form, with none of its adventages .....
Siehe Lamers (Anm. 1), S. 75.
!I Die Aufzählung der Nachteile der kurzen Freiheitsstrafe weist in den
verschiedenen Ländern eine erstaunliche Parallelität auf. Ich nenne Autoren
aus drei Ländern. Für die Niederlande: d'Anjou, Alternatieve sancties. Bericht
für das Wetenschappelijk Onderzoek- en Documentatiecentrum des nieder-
ländischen Justizministeriums von 1976, S. 25 ff., hierin werden die Nachteile
in vier Hauptkategorien (Freiheitsentzug als solcher; Institutionalisierungs-
effekte; Stigmatisierungseffekte und Kosten) zusammengefaßt; für Belgien:
EliaertslSnacken, De toepassing van de korte vrijheidsstraf: een straatje
zonder eind? Panopticon 1982, S. 5 ff., 6 f. und für die Bundesrepublik Deutsch-
land: Kaiser, Kriminologie. Ein Lehrbuch, 1980, S. 295 f.
63*
996 Dieter Schaffmeister
überwiegend als Ersatz für die Geldstrafe und die bereits seit 1907
angewendete "probation order" gedient haben. Hinsichtlich der "com-
munity service order" wird angenommen, daß sie ihren Anwendungs-
bereich zur Hälfte der Geldstrafe und den bedingten Verurteilungen
abgerungen hat 39 • Ähnliche Verschiebungen innerhalb des bestehenden
Sanktionsarsenals stehen auch für die Niederlande zu erwarten, weil
auch hier die richterliche Strafzumessungsfreiheit unangetastet blei-
ben soll. Die neue Strafe soll zwar nur für Fälle in Betracht kom-
men, in denen sonst eine kurzzeitige Freiheitsstrafe verhängt würde.
Es handelt sich hierbei jedoch um eine Vorabe·inschätzung, die anhand
aller zur Verfügung stehenden Sanktionen ergeht. Die neue Hauptstrafe
wird deshalb in den Niederlanden wahrscheinlich gleichfalls teilweise
für den Teil an Verurteilungen zu Geldstrafe und zu zur Bewährung
ausgesetzten Freiheitsstrafen verwendet werden, der heute den Straf-
richter nicht zufriedenstellt und bei dem er die neue Strafe für an-
gemessener hält. Dies ändert zwar nichts daran, daß die neue straf-
rechtliche Sanktion in erster Linie zum Ziel hat und behält, die kurz-
zeitigen Freiheitsstrafen zurückzudrängen40 ; es bedeutet indes aber
wohl, daß wir nicht allzu große Erwartungen hegen dürfen, um gerade
diese Strafe durch die neue Sanktion ersetzen zu können.
Der langwierige und fortdauernde Kampf von Wissenschaft und
Gesetzgebern in verschiedenen Ländern gegen die kurze Freiheitsstrafe
scheint also aussichtslos zu sein. Was macht aber die kurze Freiheits-
strafe so unbesiegbar, so immun gegen alle bisher erdachten und der
Justiz angebotenen Arzneien? Was sind die Beweggrunde der Staats-
anwälte und Richter, an der kurzen Freiheitsstrafe - zwar innerhalb
llirer· Befugnisse, aber doch gegen alle Kritik und sogar gegen den
wiederholt ausdrücklich erklärten Willen des Gesetzgebers - festzu-
3t Huber, Freiheitsstrafe (Anm. 37), S. 195, 196: "Häufig wurden die neuen
Strafen auf Kosten der Geldstrafe oder auch der bereits seit Jahrzehnten
angewendeten Bewährungsaufsicht eingesetzt", und "die community service
order wurde als eigenständige Strafe in etwa 50 % der Fälle auch als Alter-
native zur Geldstrafe und probation verwendet, womit der beabsichtigte Ent-
lastungseffekt für den Strafvollzug in der Hälfte der Fälle entfiel"; dies., Die
Freiheitsstrafe in England und Wales, Köln 1983, S.126. Siehe auch Junger-
Tas, Community service (Anm. 36), S. 10.
40 Siehe den Zwischenbericht der Kommission alternative Strafsanktionen
(Anm.29), S. 58. Die Frage: Kann die obligatorische Dienstleistung der Geld-
strafe und den zur Bewährung ausgesetzten Strafen Terrain abgewinnen?
wird übrigens ausdrücklich gestellt und bejaht. Im Ergebnis übereinstim-
mend auch die Stellungnahme des Justizministers zu· den Bedenken des
Abgeordneten Buikema, ob nicht eine Konkurrenz zwischen Geldstrafe und
alternativen Sanktionen zu befürchten sei. Sie kann übrigens kaum über-
zeugen. Er behauptete nämlich, daß dies "seiner Meinung nach nicht zu
befürchten sei, weil die alternativen Sanktionen unmittelbar als Alternati-
ven für die kurze Freiheitsstrafe und nicht für die Geldstrafe bezweckt sei-
en". Parlamentsdrucksache 15012 Nr. 8, S. 2.
Durch Modifikation zu einer neuen Strafe 1001
halten? über die Motive der Staatsanwälte und Richter, die der Straf-
zumessung zugrunde liegen, wissen wir wenig. Der Strafrichter muß
zwar von Gesetzes wegen seine Entscheidung über Strafart und Straf-
maß im Urteil schriftlich begründen (z. B. Art. 359 Abs.4 nl.StPO und
§ 267 Abs. 3 StPO), niemand könnte aber nur aus den Strafzumessungs-
gründen, wie sie in den Urteilen anzutreffen sind, ermitteln, welche
Meinung(en) die Strafrichter über die kurze Freiheitsstrafe, die Geld-
strafe oder die alternativen Strafen habenu. Erst eine empirische Unter-
suchung, die sich nicht nur auf die Analyse der in den Strafakten anzu-
treffenden Angaben über Tat und Täter beschränkt, sondern auch eine
Befragung der Entscheidungsträger nach ihren wirklichen Beweggrün-
den bei der Feststellung von Strafart und -höhe umfassen müßte,
könnte hierüber Aufschluß geben. Bis jetzt haben unsere empirischen
Hilfswissenschaften hierzu jedoch wenig zu bieten, und dies scheint
merkwürdigerweise in allen in meine Untersuchung einbezogenen
Ländern der Fall zu sein4Z • Vorerst müssen wir uns also mit Hypothe-
sen begnügen, deren Plausibilität wir zwar diskutieren, die wir jedoch
ohne Einschaltung der empirischen Wissenschaften nicht verifizieren
bzw. falsifizieren können.
III.
1. Eine erste Hypothese, die man in der Literatur mehrfach antrifft,
behauptet, daß der Richter die kurze Freiheitsstrafe anwendet und
auch weiterhin anwenden müsse, um den Täter mittels eines "short
sharp shock treatment" von der Begehung weiterer strafbarer Hand-
lungen abzuhalten'3. Was damit gemeint ist, läßt sich am besten mit
einem Zitat aus einem englischen Urteil aus dem Jahre 1974 verdeut-
lichen: "Some twenty to twenty-five years ago, there was a view
abroad, held to by many people in executive authority, that short
sentences were of little value, because there was not enough time to
give in prison the benefit of training. This view is no longer held as
firmly as it was. This young man does not want prison training. It is
not going to do him any good. It is his memory of the clanging of
prison gates which is likely to keep him from crime in the futureu."
Während in England die shock-Therapie offenbar nur bei jungen Straf-
fälligen angewendet wird, scheint in Kanada auch gegenüber Erwach-
senen die Aufrechterhaltung der kurzen Freiheitsstrafe aufgrund ähn-
licher Erwägungen, oft sogar unter Berufung auf dieses Urteil, begrün-
det zu werden45 •
Daß in den Niederlanden die große Anzahl kurzer Freiheitsstrafen
als shock-Strafen erklärt werden könnte, habe ich in früheren Publi-
kationen unter Hinweis auf andere Autoren für möglich gehalten4/!;
inzwischen scheint mir diese Hypothese aber nicht mehr haltbar. Zwar
hat bei der Ahndung von Trunkenheitsfahrten mit einer. kurzen Frei-
heitsstrafe am Anfang gewiß der Gedanke mitgespielt, diese Beschul-
digten durch eine kurze kräftige Strafe von der Begehung weiterer
solcher Straftaten abzuhalten. Doch, wie u. a. in Deutschland nach-
gewiesen worden ist, kann dieser Effekt bei diesen zumeist sozial
(höher) eingeordneten Tätern auch durch eine fühlbare Geldstrafe
erzielt werden47 • Von größerer Bedeutung für das langjährige Fest-
halten an der kurzen Freiheitsstrafe in diesen Fällen war nach meiner
überzeugung ohnehin der Gedanke, durch die Verhängung der schwer-
sten strafrechtlichen Sanktion die soziale Anerkennung dieses Delikts
als ebenso strafwürdig wie beispielsweise Diebstahl und andere seit
alters her bestehende Straftaten zu beschleunigen oder, richtiger ge-
sagt, zu erzwingen. Abgesehen davon, daß ein derartig forcierter Ein-
U Siehe u. a. Jescheck, Lehrbuch (Anm.14), S.620 und EliaertslSnacken,
Toepassing (Anm.22), S. 7 mit weiteren Literaturangaben in Fn. 12.
" Criminal Appeal Reports 1974. Zitiert in Lübbe, Die Freiheitsstrafe
und ihre Surrogate in Kanada, in: Jescheck (Hrsg.), Freiheitsstrafe (Anm.15),
S.1504.
es Lübbe, Die Freiheitsstrafe (Anm. 44), S. 1504.
41 Siehe Schatfmeister, Einführung zu: Das niederländische Strafgesetz-
buch vom 3. März 1881. Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher in deut-
scher übersetzung. Bd.98, 1977, S.29 mit Fn.134; ders., Kriminalität und
Strafrechtsanwendung in den Niederlanden, ZStW 90 (1978), S. 309 ff., 337 f.
47 Siehe Begründung zum Alternativ-Entwurf, S.93: "Insbesondere wird
eine primäre kurzfristige Freiheitsstrafe als Schockstrafe und damit auch die
Denkzettelstrafe der Strafhaft des E 1962 überflüssig, denn eine solche Geld-
strafe kann als Schock wirken für die immer genannten Gelegenheitstäter,
Augenblickstäter und Fahrlässigkeitstäter."
Durch Modifikation zu einer neuen Strafe 1003
auf solche unter einem Monat. Errechnet aus der übersicht im Jahresbericht
der Staatsanwaltschaft über 1982 (Anm. 26), S. 68.
n Vgl. die Antwortnote zum Gesetzentwurf über die Vermögenssanktio-
nen (Anm. 5), S. 14.
80 van Schie, Alternative straf soms dubbel zwaar, De Volkskrant vom
6. Februar 1982, 1. Spalte, berichtet, daß in Alkmaar zweimal mit arbeitslosen
Beschuldigten vereinbart wurde, daß die Dienstleistung 624 Stunden dauern
sollte. Eine Strafdauer von 800 Stunden scheint der bisher erreichte Rekord
zu sein. Siehe van der Hoeven, Experiment alternatieve straf een succes; NRC
Handelsblad vom 28. Januar 1982,2. Spalte.
81 Siehe d'Anjou, Alternative sancties (Anm. 22), S. 23 - 25.
1008 Dieter Schaffmeister
fen durchweg darauf hinaus, daß ein längeres Fahrverbot für sie den
Verlust ihres Arbeitsplatzes mit sich brächte. Die Gerichtshöfe, die mit
diesem Problem konfrontiert worden sind, haben hierfür eine Art
Kompensationsstrategie entwickelt. Sie verschärfen die Hauptstrafe
und erleichtern die als zu schwer empfundene Nebenstrafe zumeist
dadurch, daß sie sie zur Bewährung aussetzenGS • Dieses Phänomen zeigt
nicht nur, daß die Entziehung der Fahrerlaubnis eine zu einschneidende
Strafe ist, weil sie im Verkehrsstrafrecht auf indirekte Weise allge-
mein möglich macht, was im klassischen Strafrecht zu Recht eine Aus-
nahme geblieben ist: für jeden Beruf, der ohne Kraftfahrzeug nicht
ausgeübt werden kann, bedeutet sie nämlich ein zeitliches Berufsver-
botet. Zugleich indiziert es, daß sowohl in der Auffassung des Ver-
urteilten als auch des Richters und Staatsanwalts die kurze Freiheits-
strafe, ungeachtet der beibehaltenen Bezeichnung als Gefängnisstrafe,
sich zu einer anderen, weniger schädlichen Strafe entwickelt hat: einer
Strafe, die verbüßt werden kann, ohne daß der Arbeitsplatz aufgegeben
werden muß.
4. Wir haben bisher die Hypothese, daß die Strafanwender mit der
kurzen Freiheitsstrafe die Freizeit des Verurteilten treffen und auch
treffen wollen, hauptsächlich in bezug auf Verurteilte mit einem festen
Anstellungs- bzw. Arbeitsverhältnis besprochen: Kann die auferlegte
Strafe in der zustehenden Urlaubszeit abgesessen werden? Wird Ge-
legenheit geboten, mit dem Arbeitgeber eine entsprechende Urlaubs-
regelung zu treffen? Wird auch tatsächlich Urlaub für die Verbüßung
der Strafe genommen? Dadurch könnte der Eindruck entstehen, daß
die kurze Freiheitsstrafe eine Strafe ist, die den im Arbeitsleben ste-
henden Straftäter privilegiert und den arbeitslosen Straftäter diskri-
miniert. In der Praxis sind solche Tendenzen durchaus spürbar.
Ich habe bereits erwähnt, daß eine nach der Arbeitssituation des
Straftäters differenzierende Strafzumessungspraxis unreflektiert und
unannehmbar ist. Unannehmbar scheinen mir vor allem die finan-
ziellen Folgen für den arbeitslosen Straftäter. Das Resultat der An-
wendung der kurzen Freiheitsstrafe darf nämlich keineswegs sein,
daß für den im Beruf stehenden Verurteilten Lohn oder Gehalt
auch während der Dauer der Strafverbüßung weitergezahlt wird,
während beim arbeitslosen Gefangenen am ersten Tage seines Straf-
64·
1012 Dieter Schaffmeister
I.
Im November 1983 waren seit dem Inkrafttreten des sog. Gewohn-
heitsverbrechergesetzes, durch das deutsche Strafgerichte erstmals er-
mächtigt wurden, schuldunfähige oder vermindert schuldfähige, aber
sozialgefährliche Straftäter in ein psychiatrisches Krankenhaus einzu-
weisen, fünfzig Jahre vergangen. Daß dieses Gesetz nicht nationalsozia-
listischem Gedankengut entsprang, ist unbestritten. Seit dem Jahre 1911
enthielten alle deutschen Strafrechtsreformentwürfe nach dem Vorbild
des schweizerischen Vorentwurfs von Carl Stooß! und im Einklang mit
der parallel verlaufenden europäischen Entwicklung mehr oder minder
umfangreiche Kataloge sichernder und bessernder Maßregeln!. Daß
unter nationalsozialistischer Herrschaft dann der Vollzug der Unter-
bringung gemäß § 12 b StGB a. F. entgegen den humanen Absichten der
geistigen Urheber bis zur Zwangs-"Euthanasie" entarteteS, war wohl
kaum die Folge einer latent vorhandenen Denaturierungstendenz der
zweiten Spur. Allerdings war dies niemals ganz unbestritten. Bekannt
sind die gegen den SchlüsselbegrifI der Zweispurigkeit, die Gefährlich-
keit des Täters, gerichteten Bedenken der Gegner Franz v. Liszts und
der IKV vor dem ersten Weltkrieg4 • Nach 1945 haben insbesondere
H. Mayer und Heinitz, aber auch Dreher und von den jüngeren Straf-
rechtlern Naucke aus grundsätzlichen Erwägungen Bedenken gegen
freiheitsentziehende Maßregeln vorgebracht'. Sie befürchten unter an-
! Vgl. Jescheck, SchwZStr 78 (1962), S. 172 ff. = "Strafrecht im Dienste der
Gemeinschaft", 1980, S. 184 ff. (189).
2 Nachweise bei Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 3. Auß.
1978, S. 66 Anm. 2.
_ Das Merkblatt des RM des Innern, in dem die als "kriminelle Geistes-
kranke" Verwahrten ausdrücklich als eine für die Zwangstötung vorgesehene
Patientengruppe bezeichnet wurden, ist bei MitscherZichlMieZke, Medizin
ohne Menschlichkeit, Fischerbücherei Nr. 332, 1960, S. 190, abgedruckt.
, Exner, Theorie der Sicherungsmittel, 1914, nannte die Gefährlichkeit
"einen gefährlichen Begriff". Zusammenfassend neuerdings Naucke, ZStW
94 (1982), S. 525 ff.
I Vgl. etwa H. Mayer, Strafrechtsreform für heute und morgen, 1962,
S. 49 ff. und im Hinblick auf geisteskranke Täter: S. 158; Heinitz, ZStW 63
(1951), S. 57; Dreher, ZStW 65 (1953), S. 481; Naucke, Strafrecht, 4. Auß., 1982,
S. 120 ff.
1016 GÜDterBlau
II.
Trotz dieser beachtlichen Zahlen war das Interesse der einweisenden
Juristen am späteren Schicksal der Abgeurteilten, von rühmlichen Aus-
nahmen abgesehen, bis vor kurzem gering. Die überantwortung des
seelisch kranken Täters in die Obhut und Pflege des Facharztes inner-
halb einer "Heil- und Pflegeanstalt" - schon semantisch wirkte diese
Bezeichnung gewissensberuhigend - ließ im allgemeinen keine Zweifel
an der humanen Versorgung dieser Personengruppe aufkommen. Lange
Zeit erkannten weder der Gesetzgeber noch die Strafrechtspraktiker
S Vgl. etwa die Entwicklung in der UdSSR in den Jahren 1919 -1934 und
in Cuba (meine Einleitung zur dtsch. Übersetzung des kubanischen StGB,
Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher Nr. 100, 1983).
7 So Jakobs, Strafrecht. Allg. Teil, 1983, S. 24.
8 Jescheck (Fn.l), S.75; (Fn.2) § 9; s. auch Hanack. LK 10. Aufi. ab 1978.
Vbm. vor § 61, Rdn. 7 - 42.
, Ihr Rückgang beruht bemerkenswerterweise kaum auf strafrechtsdog-
matischen Skrupeln, weit mehr auf kriminologischen und vollzugstechnischen.
Nachweise bei KaiserjKernerjSchöch, Strafvollzug, Lehrbuch, 3. Aufi. 1982,
S. 239 fi.
10 1962: 3901; 1970: 4222; 1976: 3453; 1977: 3313; 1978: 3258; 1979: 3357; 1980:
3333; 1981: 3253; 1982: 3211.
Regelungsmängel beim Vollzug der Unterbringung gemäß § 63 StGB 1017
die Untergebrachten aus dem Zweck der Unterbringung und dem Ver-
hältnismäßigkeitsprinzip bei günstiger Prognose für die Zeit des Ur-
laubs ein Anspruch auf Lockerungen herleiten lasse17 , hat sich bisher
nicht durchgesetzt.
Diese Rechtsunsicherheit war sicherlich mit ein Grund für die in den
70er Jahren einsetzende 8ensibilisierung der Fachleute, Juristen wie
Psychiater, für die desperate Lage der Untergebrachten, zumal im Jahre
1972 das BVerfG den "Abschied vom besonderen Gewaltverhältnis" an-
ordnete, jener bis dahin bequemen Eingriffsgrundlage für zahlreiche
Rechtsbeschränkungen im Vollzug18• Allerdings trat diese 8ensibilierung
"aus Rechtsgründen" für die Mängel des Maßregelvollzuges, verglichen
mit der Lage im 8trafvollzugswesen, erst mit erheblicher Zeitverschie-
bung ein. Während in jenem Bereich der Auftrag des BVerfG zur ge-
setzlichen Regelung der Materie bekanntlich ernst genommen wurde,
beunruhigten den Bundesgesetzgeber die Regelungsdefizite im Maß-
regelvollzug nicht sonderlich. Zwar waren sie Gegenstand der Beratun-
gen der Strafvollzugskommission18 , die vorschlug, die Rechtsstellung der
Untergebrachten und die Vollzugsbedingungen wenigstens in groben
Zügen zu regeln1o• Das Bundesjustizministerium war jedoch der Mei-
nung, die Durchnormierung dieser Materie müsse weitgehend dem Lan-
desrecht überlassen bleiben21 •
Von dieser Kompetenzzuweisung aus Opportunitätsgründen, nicht
aus Rechtsgründen (vgl. Art. 74 Nr.1 GG), nahmen die Landesgesetz-
geber jedoch zunächst keine Notiz. Dabei wuchs der Problemlösungs-
druck, zunächst wiederum "aus Rechtsgründen": die Umstellung der
~~j~kt_iva "sichernd" und "bessernd" in der überschrift des 6. Titels des
StGB ließ die bis dahin in Praxis und Judikatur2! kaum angefochtene
Prävalenz des Sicherungsgedankens fragwürdig erscheinen. Ein an mo-
dernen Rehabilitationsprogrammen ausgerichteter Behandlungsvollzug
wirft aber mehr vollzugsrechtliche Probleme auf als der bisher vielfach
übliche Verwahrungsvollzug.
Stärker noch als diese durch die Rechtsentwicklung initiierte zuneh-
mende Nachdenklichkeit über Ziele und Methoden des Vollzuges der
Maßregel aus § 63 8tGB wirkte sich dann der "Bericht zur Lage der
Psychiatrie" aus 23 • Erst jetzt wurde ganz klar, daß die Anstaltspsychia-
trie dem Auftrag des Gesetzgebers, psychisch gestörte Straftäter unter
angemessenen äußeren Bedingungen zu behandeln (oder bei Therapie-
unfähigkeit zu "pflegen"), kaum gewachsen war. In dem dem Bundestag
erstatteten Bericht ist davon die Rede, daß die Patienten der forensi-
schen Abteilungen bisher eine absolute Schlußlichtposition eingenom-
men hätten24 • Hornt5 spricht von dem "ungeliebten Adoptivkind" der
klinischen Psychiatrie. Dementsprechend halten VenzlafflSchreiber den
Maßregelvollzug für ein "Stiefkind der Strafrechtsreform2'. Situations-
berichte über das Elend der Patienten in "festen Häusern"l7 trugen zur
Problematisierung bei. Konkrete Verbesserungsvorschläge enthielt u. a.
das Sondervotum Degkwitz zum Psychiatriebericht28 •
vorschriften zum Vollzug der Unterbringung enthieWo, dann der die Materie
sorgfältig durchnormierende AEStVollzG31. Maßregelvollzugsgesetzentwürfe
i. e. S. erarbeiteten später die Humanistische UnionS! und die Arbeitsgemein-
schaft sozialdemokratischer Juristen33 •
Allerdings hielt der Bundesgesetzgeber an seiner Regelungsabstinenz fest,
mit einer Ausnahme: Ende 1983 griff er eine vom Lande Hessen angeregte
Initiative des Bundesrates auf und glich das Maßregelvollzugsrecht durch das
StVollzÄnderungsG vom 20.1.1984 in zweierlei Hinsicht - Unpfändbarkeit
von überbrückungsgeld und von Entlassenenhilfe sowie im Rechtsbehelfs-
verfahren - dem Strafvollzugsrecht anM •
Auf Länderebene wurde der Gesetzgebungsauftrag des BVerfG und des
Bundesgesetzgebers (§ 138 StVollzG) im Jahre 1976 endlich ernst genommen.
Der ständige Arbeitskreis der für die Psychiatrie zuständigen Referenten des
Bundes und der Länder begann mit der Ausarbeitung eines Rahmenentwur-
fes zu einem "Gesetz über den Vollzug von Maßregeln der Besserung und
Sicherung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungs-
anstalt" unter der Federführung des niedersächsischen Sozialministeriums.
Es wurde im Februar 1979 als Bundestagsdrucksache veröffentlicht36 • An die-
sem Musterentwurf orientierten sich in der Folgezeit die meisten Landes-
gesetze und -entwürfe3'.
Die Länder Schleswig-Holstein und Bayern wählten einen anderen Weg.
Sie ergänzten ihre Landesunterbringungsgesetze (PsychKG) durch Vorschrif-
ten über den Vollzug der Maßregeln aus §§ 63, 64 StGB37.
Daß beide Regelungsmodelle trotz weitgehender Identität der Regelungs-
materie nicht beliebig austauschbar, vielmehr Ausdruck je unterschied-
licher Konzeptionen sind, ist im Schrifttum mit Recht hervorgehoben wor-
den38. Wer sich mit Sondervorschriften im Unterbringungsrecht begnügt,
wird im Prinzip die Angleichung des Maßregelvollzuges an das therapeutisch
orientierte Unterbringungsrecht befürworten. Wer einem besonderen Maß-
regelvollzugsgesetz den Vorzug gibt, wird die systematische Besonderheit der
strafgerichtlichen Einweisung und sachlich die strukturelle Eigenart der
zuteiF'. Ein Recht auf Therapie räumen dem Untergebrachten nur der
AE-StVollzG (§§ 71, 188) und der Entwurf der ASJ (§ 12 Abs.1) ein. In
dem Rahmenentwurf eines MaßregelVollzG und den ihm nachgebilde-
ten Landesgesetzen fehlt eine solche Bestimmung. Der Untergebrachte
"erhält" eine auf die Erreichung des Vollzugszieles ausgerichtete Be-
handlung (§ 14 Abs.2 RahmenE); von seiner Subjekt-Stellung ist nicht
die Rede. Seine Herabstufung zum Objekt der Therapie würde aber
Art. 1, 2 GG zuwiderlaufen75• Zur KlarsteIlung sollte eine Bestimmung
eingefügt werden, deren Vorbild etwa Art. 1 der "Draft Guidelines"
sein könnte78 •
b) Noch prekärer ist die Frage, ob sich der Untergebrachte der Be-
handlung seines Einweisungsleidens unterziehen muß oder ob er sie
verweigern darf. In den Entwürfen und MaßregelVollzG der Länder
besteht Einigkeit darüber, daß es der Einwilligung in Notfällen i. S. von
§ 323 c StGB nicht bedarf und daß andererseits schwere chirurgische
oder persönlichkeitsverändernde Eingriffe (sofern hier an stereotak-
tische Eingriffe gedacht worden sein sollte, wären sie ohnehin unzuläs-
sig!) sowie psychotherapeutische Behandlung (als ob sie ohne Mitwir-
kung des Patienten möglich wäre!) einwilligungsbedürftig sind71 • Im
Kernbereich - Therapie des Einweisungsleidens - gehen die Mei-
nungen aber diametral auseinander. Der ASJ-Entwurf (§ 12 Abs.3)
und der Bremer Entwurf (§ 11 Abs.2), abgeschwächt auch der Entwurf
NRW (§ 14) bestimmen, daß die Behandlung grundsätzlich nicht gegen
den Willen des Patienten durchgeführt werden darf; der AE-StVollzG
(§§ 139 Abs.2 Satz 2, 184 Abs.2), der RahmenEntw. (§ 14 Abs.1), die
MaßrVollzG in Niedersachsen (§ 8 Abs.1'Satz 3) und Hessen (§ 7) dekre-
tieren, der Untergebrachte habe die Behandlung zu dulden und zu
unterstützen. Auch im Schrifttum gibt es Divergenzen. Während Berns-
abgeleitet (vgI. PZaut [Fn. 60], 445 ff.), und aus dem Fourteenth Amendment
ein solches für guilty but mentally ill convicts.
74 VoZckart (Fn.14) will einen Behandlungsanspruch der § 63-Patienten
ganz allgemein aus dem Rechtsstaatsprinzip herleiten (5. 89). Das erscheint
problematisch, zumal da in der Paralleldiskussion zu einem etwaigen An-
spruch des Strafgefangenen auf Resozialisie~g die Meinung vorherrscht,
dem ihm vom BVerfG bescheinigten Resozialisierungsinteresse (BVerfGE 35,
202) entspreche kein einklagbarer Anspruch (a. M. wohl CalZies, Theorie der
Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, 1973, S. 169).
75 Ebenso Müller-Dietz, Strafzweck:e und Vollzugsziel, 1973, 5.9.
78 Article 1 lautet: "A person suffering from mental disorder shall have
the right to the best care and treatment available regardless of the nature
of his disorder. He shall at all times be treated with humanity and respect
for the inherent dignity of the human person. He shall, save as hereinafter
provided, enjoy the same human rights and fundamental freedoms as his
fellow citizens."
77 VgI. § 7 Abs. 2 HessG, § 14 Abs. 2 RahmenEntw.
65*
1028 GünterBlau
IV.
Reformwünsche gelten zunächst einer besseren inhaltlichen Koordi-
nierung des Maßregelvollzugsrechts in den einzelnen Bundesländern. Es
wird einem nach § 63 StGB Untergebrachten nur schwer begreiflich zu
machen sein, daß es von der geographischen Lage des Vollzugskranken-
hauses abhängt, welchen Eingriffen in welcher Intensität er ausgesetzt
ist.
Andere Reformwünsche wurzeln in einem nur durch mehr Transpa-
renz zu überwindenden Mißtrauen gegen die totale Institution Psy-
chiatrisches Krankenhaus. Das gilt etwa für den bedenkenswerten Vor-
schlag, Anstaltsbeiräte nach dem Vorbild der Beiräte in Justizvollzugs-
anstalten84 ztrbilden, aber auch für dieAnregong, in jedem Bundesland
einen Psychiatriebeauftragten nach Art eines Ombudsmannes zu bestel-
len. Ansätze für eine externe Kontrolle finden sich in Niedersachsen in
Gestalt der Besuchskommissionen (§ 24 NdsMaßrVollzG).
Andere Vorschläge zielen weniger auf eine weitere Ausdifferenzie-
rung der rechtsstaatlichen Sicherungen des Untergebrachten als viel-
mehr auf Verbesserungen des Rehabilitationsprogrammes. Sicherlich ist
der "Rechtsstellungsteil" der Maßregelvollzugsgesetze ungeachtet der
V.
Der überblick zeigt, daß die gesetzliche Regelung des Vollzuges der
Maßregel des § 63 StGB den Postulaten des Grundgesetzes, internatio-
nalen Empfehlungen, aber auch den Anforderungen an innere Stimmig-
keit und Widerspruchsfreiheit noch nicht genügt. Auch die begleitende
95 Art. 28 - 39.
88 In: BlaulKammeier (Fn. 15), S. 206 ff.
87 Vgl. aus der umfangreichen Literatur nur Rotthaus, MSchrKrim 1978,
126, und EmmeTik, MSchrKrim 1982,288 (über die v. d. Hoeven-Klinik) sowie
Jäger, MSchrKrim 1977,206 (über die v. Mesdag-Klinik).
8S Zur Agonie des § 65 StGB vgl. Schwind, NStZ 1981, 121; Kaiser/Dünkel/
Ortmann, ZRP 1982, 198; etwas hoffnungsvoller: Schöch, ZRP 1982, 207. -
Zur diagnostischen Aufgliederung der Klientel s. u. a. VenzlatJ (Fn.15) und
das Sondervotum zur Psychiatrie-Enquete, BT-Drucks. 7/4200, 418 f.; s. auch
Jescheck (Fn. 2), S.652.
1032 GünterBlau
I.
Brauneck wies darüber hinaus auf die schon in Osteuropa seit länge-
rer Zeit bestehenden großen zentralen kriminologischen Forschungs-
institute hin28 • Auch Schneider unterstrich die Forderung, kriminologi-
sche Forschungsinstitute "in einem so industriell-wirtschaftlich starken
Land wie der Bundesrepublik" einzurichten und empfand die Vernach-
lässigung kriminologischer Forschung als "beschämendes Ergebnis"2D.
Die SPD-Fraktion des Bundestages plante überdies, "ein interdiszi-
plinäres Institut für Kriminologie und Pänologie" zu errichten30 •
Schließlich suchten die Justizverwaltungen des Bundes und der Länder
seit Anfang der siebziger Jahre eine "Kriminologische Zentralstelle"
einzurichten, um die Praxisbedürfnisse besser zu befriedigen31 •
IIl.
Nachdem die Max-Planck-Gesellschaft die "Gründung eines Instituts
für Strafrecht und Kriminologie" seit 1965 nicht weiter betrieben hatte,
weil nach Lage der Dinge kaum Aussicht bestand, weitere geisteswis-
senschaftliche Institute in den Verband der MPG zu übernehmen, un-
terrichtete der Jubilar 1968 die Max-Planck-Gesellschaft über Bestre-
bungen, den alten Plan wieder aufzunehmen, um in der Max-Planck-
Gesellschaft ein Institut für Kriminologie zu errichten. Er hielt diese
überlegungen für erwägenswert und empfahl für den Fall, daß die
Max-Planck-Gesellschaft sich entschließen sollte, diesem Plan nahe-
zutreten, die Verwirklichung im Zusammenhang mit dem Freiburger
Institut".
Zwar hatte Jescheck ursprünglich die Auffassung vertreten, daß in
dem Freiburger Max-Planck-Institut nur eine Informationsstelle über
ausländische kriminologische Literatur geschaffen werden sollte. Die
Kriminologie darüber hinaus als eigenes Forschungsgebiet zu pflegen,
erschien entbehrlich, weil dafür an der Freiburger Universität ein ge-
66'
1044 Günther Kaiser
täten zu entziehen, ließ Jescheck jedoch alsbald seinen Plan, das Institut
um eine "große Abteilung für Kriminologie" zu erweitern, fallen zu-
gunsten der Eventuallösung, dem Institut eine kleinere Abteilung für
Kriminologie anzugliedern3'.
Bei der Prüfung dieser Frage spielte vor allem eine Rolle, daß man es im
Ausland, vorwiegend in Amerika, nicht verstehe, daß sich ein Strafrechtler
mit der Auslegung von Strafgesetzen beschäftige, ohne kriminologische For-
schungen zu betreiben. Man habe es wiederholt erlebt, daß amerikanische
Gäste das Institut enttäuscht verlassen hätten, weil sie der Auffassung
gewesen seien, daß Strafrechtsvergleichung ohne Kriminologie undenkbar
sei. Denn in der Kritik wurde mitunter geäußert, daß sich die Freiburger
Forschungsarbeit zu wenig mit den grundlegenden Problemen und allzusehr
mit "alltäglichen" Fragestellungen beschäftige40 • Das im Umfang wesentlich
reduzierte Projekt wurde nunmehr im ganzen nicht nur als nützlich, sondern
für eine fruchtbare Arbeit des Instituts als schlechterdings nötig einge-
schätzt41 •
Mit Antrag an den Präsidenten der MPG vom 8. April 1969 sprach
sich Jescheck für eine "eingeschränkte Lösung für die Kriminologie"
im Rahmen des Freiburger Max-Planck-Instituts aus. Zur Begründung
verwies er darauf, daß abgesehen von der Förderung der Kriminologie
als solcher und um ihrer selbst willen es auch der Pflege der Krimi-
nologie als Ergänzung der Strafrechtswissenschaft bedürfe. Die etwai-
gen Gefahren einer Auswanderung der Forschung aus der Universität
suchte er dadurch zu entkräften, daß er auf die durch das Massenpro-
blem immer schwieriger werdende Lage der Universität verwies. In
einem solchen Rahmen sei es zweifelhaft, ob die Kriminologie wirklich
großzügig, wirkungsvoll und dauerhaft gefördert werde. Freilich
müsse man die Entwicklung abwarten, ehe man ein negatives Urteil
fällen dürfe, und man sollte nach zehn bis fünfzehn Jahren erst einmal
prüfen, was aus den bestehenden Plänen geworden seiu . Die Notwen-
digkeit aber, die Kriminologie als Ergänzung der Strafrechtswissen-
schaft gewissermaßen im Hause zu betreiben, werde durch die erwähn-
ten wissenschaftspolitischen Erwägungen nicht berührt. Demgemäß
ziele der Antrag auf die Verwirklichung der sogenannten "kleinen
Lösung".
Wie gut der Zeitpunkt gewählt und wie richtig die Entwicklung beurteilt
war, sollte sich alsbald zeigen. Treffsichere Lageeinschätzung, Flexibilität,
Augenmaß in der wissenschaftspolitischen Planung, persönliches Ansehen
Jeschecks und die "Gunst der Stunde" ermöglichten die Institutionalisierung
3' Schreiben Jeschecks an den Präsidenten der MPG vom 8. April 1969,
S.3.
40 So die Kritik von Riegert, The Max-Planck-Institute for Foreign and
International Criminal Law, The American Journal of Comparative Law 16
(1968),247 - 257, 257.
41 So Zweigert (Fn. 37).
41 So der Antrag Jeschecks vom 8. April 1969, S. 3.
1046 Günther Kaiser
43 Vgl. DFG: Tätigkeitsbericht 1972, S. 140; 1973, S. 110; siehe ferner die
Stellungnahme des Wissenschaftsrates (Fn. 31), S. 39.
" Vgl. Brusten, Staatliche Institutionalisierung kriminologischer For-
schung. Perspektiven und Probleme, in: Perspektiven und Probleme krimi-
nologischer Forschung, hrsg. v. Kury, 1981, S. 135 - 182, 142, 168; ders.: Politik
und Praxis der kriminologischen Forschung. Anmerkungen zu einer AJK-
Podiumsdiskussion in Bremen, KrimJ 12 (1980), S. 69 - 74, 69; ferner Stein-
hilper, Öffnet sich die Praxis der Strafvollzugsforschung?, in: Problematik
des Strafvollzugs und Jugendkriminalität. Arbeitstagung der Deutschen
Kriminologischen Gesellschaft am 26. Juni 1982 in Frankfurt, 1984, S. 57 - 62, 60.
U Vgl. Kury, Das kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen e. V.
und sein Forschungsprogramm, in: Perspektiven und Probleme kriminolo-
gischer Forschung, hrsg. v. Kury. 1981, S. 33 - 79, 5I.
In seiner Stellungnahme vom 11. Mai 1984 führt der Wissenschajtsrat dazu
kennzeichnend folgendes aus: "Der große Bedarf an kriminologischen For-
schungsergebnissen kann nicht ohne Forschungseinrichtungen befriedigt wer-
den, an denen langfristig angelegte, empirische Untersuchungen in Zusam-
menarbeit von Forschern verschiedener Disziplinen durchgeführt werden
können. Nach Auffassung des Wissenschaftsrates ist die Schaffung entspre-
chender Einrichtungen in den Universitäten sowohl dringend erwünscht als
auch möglich ... De facto sind jedoch unter den gegenwärtigen Verhältnissen
solche Einrichtungen für kriminologische Forschung in den Universitäten
nicht vorhanden. Die kriminologischen Institute der juristischen Fakultäten
sind in aller Regel weder mit PersonalsteIlen noch mit Sachmitteln hinrei-
chend ausgestattet, um anspruchsvolle empirische Forschung mit hinreichen-
der Kontinuität betreiben zu können. Zudem stößt innerhalb einer juristi-
schen Fakultät interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Sozialwissen-
schaftlern nicht selten auf Skepsis oder Widerstand derjenigen, deren Ar-
beitsweise überwiegend normativ-exegetisch bestimmt ist. Schließlich steht
einer angemessenen Ausstattung der Kriminologie für empirische Forschung
auch die Notwendigkeit entgegen, die knappen Ressourcen der juristischen
Fakultäten auf die Ausbildung unter den Bedingungen der ,überlast' zu kon-
zentrieren. Der Wissenschaftsrat hält diese Sachlage für unbefriedigend. Er
sieht jedoch wenig Chancen, daß in den Universitäten kurzfristig durch-
greifende Verbesserungen erreicht werden können. Auch die behördennahen
außeruniversitären Institute können allein den Bedarf an Forschungs-
erkenntnissen nicht decken" (S. 25 f.).
48 Vgl. DFG: Tätigkeitsbericht 1968, S.82; im Jahre 1979 wurde die "Em-
pirische Sanktionsforschung" als neues Schwerpunktprogramm aufgenom-
men, vgl. Tätigkeitsbericht 1979, S. 52.
Kriminologie im Verbund gesamter Strafrechtswissenschaft 1047
IV.
Das Konzept kriminologischer Forschung wurde vor allem durch die
als notwendig erkannte vergleichende Untersuchung beeinflußt. Wie
bei der Strafrechtsvergleichung verspricht auch in der Kriminologie
die komparative Analyse gesteigerte Erkenntnis. Durch Auseinander-
setzung mit überlegenen Methoden, Untersuchungsansätzen und
Schwerpunkten sowie den Befunden der Forscher anderer Länder wird
oftmals die begrenzte Perspektive des eigenen Vorhabens deutlich.
Dementsprechend haben internationale Impulse auch bei der krimino-
logischen Forschungstätigkeit am MPI ihren Ausdruck gefunden.
Die Kriminologie ist aufgrund ihres pluralistischen Systems und wegen
der Komplexität ihres Untersuchungsgegenstandes für neue Strömungen
überdies besonders offen und empfänglich. Dies wird auch durch ihre Wis-
senschaftsgeschichte belegt, wonach neue Konzeptionen wiederholt gefordert,
vermutet und beschrieben worden sind51 • Dabei ist bekanntlich die Entwick-
47 Schreiben des Präsidenten der MPG vom 3. Juni 1969.
48 Schreiben des Präsidenten der MPG vom 21. August 1969.
4D Schreiben des Präsidenten der MPG vom 9. Dezember 1969.
50 Dazu Kaiser, Probleme, Aufgaben und Strategie kriminologischer For~
schung heute, ZStW 83 (1971), S. 881 - 910, 895 ff.
51 Kaiser, Kriminologie. Eine Einführung in die Grundlagen, 6. Auft. 1983,
S. 2 f.; ferner Sack, Neue Perspektiven in der Kriminologie, in: Kriminal-
soziologie, hrsg. v. Sack und Knnig, 1968, S. 431 - 475.
1048 Günther Kaiser
lung der Kriminologie auch in der Bundesrepublik während der letzten ein-
einhalb Jahrzehnte durch die zunehmende Beteiligung von Sozialwissen-
schaftlern an kriminologischer Forschung und Theoriebildung deutlich mit-
bestimmt52• Die ehemals weitgehend in den Händen von Juristen und
Psychiatern liegende kriminologische Forschung und die Praxisbedürfnissen
folgende Täterorientierung wurden daher zunehmend auf dem Hintergrund
sozial wissenschaftlichen Erkenntniswandels kritisiert. Außerdem dürfte für
Stellung, Selbst- und Fremdverständnis der Kriminologie auch die Auf-
nahme dieser Disziplin als Wahlfach innerhalb der Juristenausbildung von
Bedeutung sein6S •
Ist die Frage nach dem wissenschaftlichen Konzept empirischer Forschung
noch im Fluß, so birgt jedes kritiklose Sichverschreiben für einen theo-
retischen Ansatz die Gefahr der einseitigen Begrenzung. Freilich: wenn die
Kriminologie eine Wissenschaft sein will, muß sie auch die verschiedenen
Verbrechensfaktoren in einen theoretischen Erklärungszusammenhang stel-
len können, der angibt, wann das Auftreten von Verbrechensfaktoren Krimi-
nalität zur Folge hat und umgekehrt auch zu benennen weiß, welche Bedin-
gungen normkonformes Verhalten nach sich ziehen. Eine derartige Erklärung
soll einer allgemeinen Theorie menschlichen Verhaltens entstammen, wobei
nur die kriminovalenten Bedingungen und Prozesse spezifisch sind. Eine
solche Theorie könnte die kriminologische Forschung vereinfachen, sie an-
regen, ihr die Richtung vermitteln und zudem einen überzeugenden Rahmen
zum Verständnis und für die Bedeutung des gesammelten Tatsachenwissens
geben. Dabei wird am ehesten eine Theorie von der unterschiedlichen
Sozialisation und Sozialkontrolle befriedigen. Denn sie vermag nicht nur
unterschiedliche Kriminalitätsbewegung, Werdegang des Rechtsbrechers,
Situation des Rechtsbruchs und soziales Reaktionsverhalten zu erklären,
sondern auch die Frage hinreichend zu beantworten, warum trotz soziostruk-
tureller Unterschiede der Großteil der Menschen überwiegend rechtskonform
handelt. Im übrigen ermöglicht sie die Begegnung mit der ihr entsprechenden
Straftheorie der Resozialisierung und positiven Generalprävention. Sie
schließt damit das Strafrecht nicht aus, sondern ein".
So war und ist die Zielsetzung empirischer Forschung am MPI im
wesentlichen durch vier Gesichtspunkte bestimmt55• Diese lassen sich
als internationale, nationale, institutionelle und forschungsökonomi-
sche Aspekte kennzeichnen.
Dabei meint international schon immer eine über die nationalen Grenzen
des Bundesgebiets hinausgreifende wissenschaftliche Orientierung sowie die
innige Fühlungnahme mit weltweiten Fragestellungen und Entwicklungs-
richtungen. Konkret gesprochen handelt es sich um die Frage, ob und unter
welchen Bedingungen das Strafrecht und seine Alternativen individuelle,
soziale und administrative Prozesse zu steuern vermögen und mit welcher
Wirkung.
Der nationale Aspekt bezieht sich auf die Lage empirischer KriminOlogie
im Bundesgebiet, insbesondere auf Lücken der Forschung, die durch andere
52 Kaiser (Fn. 51), S. 20 ff.
n Vgl. Heinz (Fn. 3); ferner Kaiser (Fn. 3).
6' Kaiser (Fn. 51), S. 207 ff.
15 Kaiser, Kriminologie am Max-Planck-Institut, in: Freiburger Universi-
tätsbIätter, hrsg. vom Rektorat, Heft 67, 1980, S.45 - 47, 45.
Kriminologie im Verbund gesamter Strafrechtswissenschaft 1049
V.
Ist damit umrissen, was die empirische Arbeit am Freiburger Max-
Planck-Institut bis zum Ausscheiden Jeschecks der Habenseite zu rech-
~en darf, so fragt sic;h dennoch, ob und inwieweit sich die gesetzten
Erwartungen in dem Zwölfjahreszeitraum erfüllt haben. Obschon die
Kriminologie am Freiburger Max-Planck-Institut ursprünglich "nur
als Ergänzung" der strafrechtlichen Forschungstätigkeit gedacht war5O,
ist durch die Dynamik der Sache ein selbständiger Forschungsschwer-
punkt daraus geworden. Gleichwohl gerieten die auf Integration an-
gelegten gemeinsamen Aufgaben des Instituts nicht aus dem Blick, son-
dern dienten der erfahrungswissenschaftlichen Arbeit als Programm-
vorgabe und Ansporn.
Wie der bilanzierende Rückblick ferner zeigt, lassen sich allerdings
manche Schwierigkeiten und unterschiedlichen Akzente nicht verken-
nen80 • Schon eine übergreifende Theorie strafrechtlichen und krimino-
logischen Vorgehens ist (weltweit) nicht vorhanden. Auch befaßt sich
Allerdings ist nicht nur die Frage wichtig, ob sich die Erwartungen
erfüllt haben, und wo man gegebenenfalls hinter dem Arbeitspro-
gramm zurückgeblieben ist. Vielmehr wird man auch danach fragen,
welche konzeptionellen Wandlungen sich zwischenzeitlich ergeben ha-
ben, die man auf dem Erfahrungshintergrund der sechziger Jahre noch
nicht gekannt und auch nicht vorausgesehen hat. Wenn man die kri-
minologischen Forschungsprobleme und Streitpunkte im Situations-
vergleich der Jahre 1969 und 1984 betrachtet, so fällt auf, daß in der
Gegenwart die Forschung einige Fragen beschäftigen, die in den sech-
ziger Jahren noch weithin unbekannt waren oder nicht als dringlich
empfunden wurden.
- Zu ihnen zählen der Konflikt zwisChen .den verschiedenen erfahrungs-
wissenschaftlichen Disziplinen, der Streit zwischen traditioneller und kri-
tischer Kriminologie, die Verdächtigung praxisorientierter Forschung, der
Kampf um die Forschungsmittel, das Thema der sogenannten Staatskrimi-
nologie sowie forschungsbegrenzende Wirkungen des Datenschutzesu . Inhalt-
lich haben besonders Opferperspektiven, Anzeigeerstattung und Selektions-
probleme Bedeutung gewonnen, ferner methodische Probleme der Behand-
lungsforschung und Verbrechlmsverhütung, die Funktionen von Polizei und
Staatsanwaltschaft, die Öffnung des Strafvollzuges und die Entwicklung
gemeinnütziger Arbeit (community service) als Sanktionsalternative. Auch
Terrorismus, Demonstrationsgewalt, organisiertes Verbrechen, Wirtschafts-
und Umweltkriminalität gehören erst zu den neueren Erfahrungen, obgleich
es bereits vor Jahrzehnten oder in anderen Ländern vergleichbare Erschei-
nungen gegeben hat. Sinngemäß das gleiche trifft für die Abschätzung des
kriminogenen Potentials von wirtschaftlicher Krise und Arbeitslosigkeit zu
und für die veränderte Bedeutung der Ausländerkriminalität. Daraus er-
wachsen wiederum ganz neue Forschungsbedürfnisse. Auf der anderen Seite
erscheinen Strukturen der Dunkelfeldkriminalität anhand der verfügbaren
Methoden weithin geklärt. Weitergehende Einsichten lassen sich am ehesten
von Kohortenstudien erwarten, einem in Deutschland unverändert dring-
lichen Desiderat kriminologischer Forschung'l.,
VI.
Freilich hat es trotz nationaler88 und internationaler87 Zustimmung
zur empirischen Arbeit am Freiburger MPI auch an Kritik nicht ge-
fehlt". Fruchtbar und weiterführend haben sich vor allem die am MPI
regelmäßig stattfindenden Sitzungen von Kuratorium und Fachbeirat
sowie die wissenschaftlichen Kolloquien erwiesen. Diese dienen sowohl
der Vermittlung von Forschungsergebnissen und Erfahrungen an die
weitere wissenschaftliche Öffentlichkeit und an die Praxis wie auch
als Forum für Diskussion, Anregung und wissenschaftliche Kritikto • Die
sonst der Fall wäre. Dies freilich ist eine völlig andere Forschungsstra-
tegie, als es manche Forschungskritik ideologisch vordergründig ver-
mutet.
VII.
Versucht man heute eine Zwischenbilanz des mit Aufnahme der em-
pirischen Forschungstätigkeit im Jahre 1970 am Freiburger MPI begon-
nenen Experiments "Kriminologie im Verbund gesamter Strafrechts-
wissenschaft" , so erscheinen die bisherigen Ergebnisse als fruchtbar und
die institutionellen Erfahrungen als ermutigend.
Zunächst war es von JescheCk richtig erkannt und vorausgesehen
worden, daß die Universitäten im Laufe der siebziger und achtziger
Jahre aufgrund des gewaltigen Ansturms der Studenten und des "Mas-
senbetriebes" kaum noch in der Lage sein könnten, größere Kapazitä-
ten für die kriminologische Forschung frei zu machen oder zu ent-
wickeln. Aber auch unabhängig davon zeigt das Schicksal der sogenann-
ten "Kriminologischen Zentralstelle" der Justizverwaltungen oder die
Entwicklung des Kriminologischen Dienstes im Strafvollzug die Schwie-
rigkeit, empirische Forschung in Zeiten knapper Haushaltsmittel einzu-
richten und zu betreiben. Selbst die Anfang der siebziger Jahre mit
großen Hoffnungen gegründete Arbeitsgruppe am Bundeskriminalamt
für kriminologisch-kriminalistische Forschung hat inzwischen erhebli-
che finanzielle Einschränkungen hinnehmen müssen.
Soweit man die Frage danach stellt, ob das Freiburger Experiment
"geglückt" ist und sich im ganzen bewährt hat, wird man sich der
AuffEl,sf!ung de~_ .Tubilars anschließen dürfen. Denn durch das Konzept
"Strafrecht und Kriminologie unter einem Dach"75 wurde die aus-
schließlich theoretische Betrachtungsweise des Strafrechts verlassen
und die Rechtswirklichkeit mit einbezogen. Auf der anderen Seite
wurde durch die bewußt empirische Orientierung dafür gesorgt, daß
sich die Kriminologie am MPI nicht in bloßer Spekulation am Schreib-
tisch erschöpfte, sondern vor allem durch Primärforschung die Annah-
men über das Strafrecht in der Wirklichkeit zu überprüfen suchte.
Zwar dienten Normen des materiellen Strafrechts, des Strafverfahrens-
rechts und des Strafvollzugsrechts stets als Ausgangs- und Bezugs-
punkt der empirischen Untersuchung. Aber dadurch wurde kriminolo-
gische Reflektion am MPI nicht eingeengt oder gar "an die Kette ge-
legt", es sei denn durch legitime wissenschaftsimmanente Kritik. Eine
solche ist aber notwendig, um leichtfüßige und allzu eingängige An-
nahmen anhand von Tatsachenwissen zu überprüfen, nicht jedoch um
kriminologische Phantasie zu ersticken.
1.
Hans-Heinrich Jescheck hat in seiner bedeutsamen Rede zum Ver-
hältnis von Kriminologie und Strafrechtt auf die Interdependenz bei-
der Disziplinen hingewiesen und dabei vor allem dargelegt, daß - wie
er es später! in einer prägnanten Formel ausdrü~te - Strafrecht ohne
Kriminologie blind, Kriminologie ohne Strafrecht aber uferlos sei3 •
Freilich ist der Zusammenhang beider Disziplinen nicht allein damit zu
begründen, daß man sich ihr eigentliches Ziel vor Augen führt: bei-
zutragen zu einer gerechteren Regelung der Reaktion der Gesellschaft
auf das Verbrechen, denn nach Jescheck steht, wie der Titel seiner
gesammelten Aufsätze zutreffend sein wissenschaftliches Bemühen
widerspiegelt, (auch) das Strafrecht "im Dienste der Gemeinschaft"'.
Deshalb ist eine rationale Kriminalpolitik ohne ausreichende krimi-
nologische Vorarbeit nicht möglich5 • "Die Frage, wie das Strafrecht
eingerichtet werden soll, um dem Rechtsfrieden und der öffentlichen
Sicherheit am besten dienen zu können, ist zunächst einmal eine Frage
der Zweckmäßigkeit, und mit welchen Mitteln die Zwecke des Straf-
rechts am besten erreicht werden können, sagt uns die Kriminologieo."
Im Mittelpunkt des Interesses sowohl des Strafrechts als auch der
Kriminologie7 steht der straffällige Mensch, der "Kriminelle". Ist für
7 Vgl. dazu für die Kriminologie etwa Fijnaut, Die Fiktion einer integrier-
ten Strafrechtswissenschaft gegen Ende_ des vergangenen Jahrhundl;!rts, ZStW
1062 J osef Kürzinger
11.
Die Feststellung von Ursachen der Kriminalität in Untersuchungen
an (identifizierten) Kriminellen gehört zu den herkömmlichen Vor-
haben empirischer Forschung. Erst in jüngster Zeit haben hier, worauf
noch einzugehen ist, der labeling approach und auch andere Defini-
tionsansätze die Problematik anders gesehenl!. Wenn es richtig ist, daß
durch die Untersuchung an registrierten Kriminellen der Kriminelle
methodisch zuverlässig erfaßt werden kann, dann ist eine erste Vor-
aussetzung, daß wir bei der Registrierung der Täter, wenn schon nicht
alle Straftäter, so doch zumindest eine zufällige Auswahl von ihnen
erfassen können. Es ist aber inzwischen eine gut abgesicherte Erkennt-
nis, daß sich nicht sagen läßt, am Ende des Prozesses der Identifizierung
von Straftätern stünde eine zufällige Auswahl aller strafrechtlich Auf-
fälligen l3 •
Die Beachtung, die das Dunkelfeld in der Kriminologie gefunden
hat, ist nicht frei von Merkwürdigkeiten. Zwar war schon spätestens
seit Quetelet (1846)14 bekannt, daß keineswegs alle Straftäter, ebenso
wie alle Straftaten, auch bei den staatlichen Stellen bekannt werden,
doch zog man sich, um darzulegen, daß mit dieser Feststellung nicht
auch ein Problem entstand, auf die unbewiesene Feststellung zurück,
die Auswahl der registrierten Taten und Täter unterliege allein dem
"Zufall". Wäre dies richtig (gewesen), dann hätte sich freilich sagen
lassen, daß es sich bei den identifizierten Tätern um solche handelt,
die für die Gesamtheit der Kriminellen repräsentativ sind, daß also,
methodisch gesprochen, eine richtige Stichprobe zur Verfügung stand.
Jedoch konnte selbst beim damaligen Wissensstand nicht ernsthaft
111.
Kriminalität stellt für den Durchschnittsbürger ein relativ seltenes
Lebensereignis dar. Folgt man den Ergebnissen der Dunkelfeldunter-
suchungen17 , so kann man sagen, daß in der Bundesrepublik Deutsch-
land im Durchschnitt jeder Bewohner etwa einmal im Jahr damit zu
rechnen hat, Opfer einer Straftat zu werden, wobei diese Wahrschein-
liClikeit je nach der Lebenssituation und· ·Person geringer oder größer
ist l8 • Dieser Feststellung entspricht auch die Tatsache, daß die Verbre-
chensfurcht der Bevölkerung nicht überaus ausgeprägt erschein tU. Der
annimmt, sie sei bei der Aufklärung wenig erfolgreich, wird weniger
intensiv ermittelt als bei schwereren Delikten und bei solchen, bei
denen man sich einen Aufklärungserfolg verspricht3!. Die Tatschwere
als solche ist allerdings kein Kriterium für eine erfolgreiche Täter-
ermittlungll3 • Dennoch bleibt seit einigen Jahren das fast konstante
Ergebnis, daß bei den registrierten Straftaten für weniger als die
Hälfte ein Täter ermittelt werden kann. Deswegen sind die erfaßten
Kriminellen nicht für alle Straftäter eines bestimmten Zeitabschnittes
repräsentativ. Im übrigen scheint es auch eine, zwar statistisch nicht
signifikante, wohl aber tendenziell deutlich sichtbare Benachteili-
gung von Unterschichtsangehörigen zu gebenu. Ein Aufklärungserfolg
bei der Polizei wird (immer noch) durch ein Geständnis des Verdäch-
tigen erreicht. Nun hängt die Geständnisfreudigkeit aber deutlich von
der Schichtzugehörigkeit ab. Mittelschichtsangehörige gestehen seltener
eine Straftat als Unterschichtsangehörige, die sich weniger erfolgreich
gegen die polizeiliche Ermittlungstätigkeit wehren können und daher
eher durch ein Geständnis überführt werden llll • Damit sind im Ergeb-
nis Unterschichtsangehörige unter den registrierten Straftätern über-
repräsentiert.
Aber auch die Staatsanwaltschaft übt eine deutliche und umfang-
reiche Selektion aus3l • Aus der Statistik für das Jahr 198137 ergibt
sich, daß nur 35 'l'o der erledigten Ermittlungsverfahren mit einer Fort-
führung der Strafverfolgung endeten. Insgesamt schlossen die Staats-
anwaltschaften in diesem Jahr rund 2,13 Millionen Strafverfahren ab,
von denen sie 13,3 Ofo einstellten, obwohl die Staatsanwaltschaften
meinten, ein Tatverdächtiger sei der Tat überführt und könne auch
verfolgt werden38• Demnach wurde gegen gut 280 000 identifizierte und
auch verfolgbare Personen eine Strafverfolgung seitens der Staats-
anwaltschaft unterlassen. Die Frage, weshalb einzelne Tatverdächtige
und Straftaten nicht (weiter) verfolgt werden, ist Gegenstand einer
ausführlichen Untersuchung gewesen3' . Dabei hat sich gezeigt, daß mit
zunehmender Größe der Staatsanwaltschaft auch die Einstellungsquote
steigt. Bei großen Staatsanwaltschaften wird seltener angeklagt als
bei kleinen. Die Tatverdächtigen haben daher - abhängig vom Tat-
ort - sogar unterschiedliche Chancen, wegen einer an sich vergleich-
IV.
Haben wir also gesehen, daß die bei nahezu allen kriminologischen
Untersuchungen herangezogenen "Kriminellen" nicht die "wirklich"
Kriminellen eines bestimmten Gebietes zu einer bestimmten Zeit
repräsentieren, so fragt es sich nun, ob es für Vergleichsuntersuchun-
gen wenigstens möglich ist, Kriminelle von Nichtkriminellen zu unter-
scheiden und so Faktoren zu untersuchen, die mit der Entstehung des
Verbrechens in Verbindung gebracht werden können.
Bevor wir uns der Frage nach der Häufigkeit des Vorkommens von
Kriminellen in einer Gesellschaft zuwenden, gilt es zu defirlieren, was
unter einem "Kriminellen" eigentlich verstanden werden soll. Dies hat
seit den Darlegungen von Garofalo 49 zum crimen naturale im vorigen
Jahrhundert immer wieder eine Rolle gespielt. Jede Kr~minologie, die
kausale Aussagen über die Verbrechensentstehung machen möchte, ist
gezwungen, sich bei der Definition dieses Begriffes auf Handlungsakte
eines Menschen zu beziehen. Tut man dies aber, so ist man wohl auch
gezwungen, ~ie Frage der rechtlichen Wertung einer Handlung als
relevant zu bezeichnen. Wie immer man den Begriff der Kriminalität
noch anderweitig eingrenzen will, auf die durch die Tat herbeigeführte
Verletzung einer strafbewehrten Norm wird man nicht verzichten
können. Damit ist aber jeder Mensch kriminell, der wenigstens' eil).mal
48 Blankenburg/Sessar/Steffen (Fn. 13), S. 251 ff.
49 Garojalo, La criminologia. Studio sul delitto, sulle sue cause e sui mezzi
di repressione, 1885, S. 3 ff.
1070 Jösef Kürzinger
V.
Haben wir also gesehen, daß es empirisch die Unterscheidungsmög-
lichkeit zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen in der herkömm-
lichen juristischen Definition nicht gibt, so fragt es sich, ob es denn
überhaupt sinnvoll ist, nach biologischen Unterscheidungsmerkmalen
zu suchen und sie in einen Zusammenhang mit dem Verbrechen zu
bringen. Diese Frage bedarf deswegen einer Klärung, weil später
untersucht werden soll, ob man sich nicht einer anderen Definition des
Kriminellen bedienen sollte, um dennoch Unterschiede in Persönlich-
keitsmerkmalen von (massiv) "Kriminellen" und (vorgeblich) "Nicht-
kriminelIen" feststellen zu können. Die Fragel-Qb Kriminalität gene-
tisch bedingt ist, stand historisch gesehen am Anfang der traditionellen
Ursachenforschung in der Kriminologie5!. Eine solche Sichtweise ist auch
verständlich, nachdem die Auffassung vertreten wurde, der Kriminelle
sei der "andere", der "Böse" schlechthin. Vertritt man ein solches Er-
klärungsmodell, so stellt man auch die Persönlichkeit des Kriminellen
in den Mittelpunkt. Deshalb ist es nur folgerichtig, wenn Lombroso die
vorwissenschaftlichen Anschauungen zur biologischen Verbrechensbe-
dingtheit, wie sie etwa bei della Porta (1545 - 1615), Lavater (1741 - 1801)
60 Zum Begriff "Kriminalität" vgl. etwa Kaiser (Fn.9), S. 115 ff.; Kürzinger
(Fn. 28), S. 13 ff.
51 Schöch, Ist Kriminalität normal? Probleme und Ergebnisse der Dunkel-
feldforschung, in: Göppinger/Kaiser (Hrsg.), Kriminologie und Strafverfah-
ren. Neuere Ergebnisse zur Dunkelfeldforschung in Deutschland. Bericht über
die XVIII. Tagung der Gesellschaft für die gesamte Kriminologie vom 9. bis
12. Oktober 1975 in Freiburg, 1976, S. 211 - 228, 222.
51! Zur Geschichte der Kriminologie vgl. etwa Mannheim (ed.), Pioneers in
criminology, 1960; Hering, Der Weg der Kriminologie zur selbständigen Wis-
senschaft, 1966; Mechler, Studien zur Geschichte der Kriminalsoziologie, 1970.
Der kriminelle Mensch 1071
oder Gall (1758 - 1828) anklingen, weiterführt. Der Durchbruch einer bio-
logischen Sichtweise der Verbrechensverursachung wird erst mit Lom-
broso 187653 erreicht, dies allerdings nicht deswegen, weil etwa Lom-
broso überzeugenderes Beweismaterial vorgetragen hätte, sondern
weil er die spekulativ und methodisch fragwürdig erhobenen empiri-
schen Daten erstmals systematisch erschlossen und auch dargestellt
hat. Seine (später relativierte) Aussage über den "geborenen Verbre-
cher"54 stellt insofern eine Weiterentwicklung biologischer Gedanken-
gänge dar, als nunmehr einem bestimmten Menschentypus, dem atavi-
stischen Menschen, der Entwicklungsdefekte zeige, Kriminalität zuge-
schrieben wird. Daß dies im konkreten Fall bei Lombroso zu heute
geradezu grotesk anmutenden Ansichten über einzelne Verbrecher-
(gruppen) führte, beruht nicht so sehr auf einer naiven Betrachtungs-
weise, sondern spiegelt vielmehr ein methodisches Hauptproblem krimi-
nologischer Forschung wider, nämlich das der repräsentativen Stichpro-
be. Die kritiklose Annahme, die in den Gefängnissen untergebrachten
Mörder, Räuber und Diebe seien deren Prototypen oder doch wenig-
stens identisch mit allen Verbrechern dieser Kategorie, führte zu den
genannten Ergebnissen. Im übrigen können wir heute davon ausgehen,
daß biologische Dimensionen bei dem sozialen Phänomen des Verbre-
chens nur insofern eine Rolle spielen, als Charakterzüge, die biologisch
verankert sind, sich in den Handlungen ausdrücken, die gegen Straf-
normen verstoßen. Eine solche Annahme ist nicht schon an sich unzu-
treffend, weil es offensichtlich Verhaltensmuster gibt, die über sehr
lange Zeiträume hinweg und bei vielen Kulturen als "Verbrechen"
gelten und biologische Faktoren der Persönlichkeit eines "Verbrechers"
dazu in einer Beziehung stehen können. Freilich sind die bisherigen
Nachweise der biologischen (Mit-)Bedingtheit des Verbrechens von
zweifelhaftem Wert geblieben und halten kaum methodischen Anfor-
derungen stand. Weder die Sippenforschung55 vor allem in den 40er
Jahren noch die seit dem Ende der 20er Jahre erstmals durchgeführten
Zwillingsforschungen56 haben einen überzeugenden Beweis der (vor
VI.
Wenn es also keine immanenten Unterscheidungskriterien zwischen
Kriminellen und Nichtkriminellen gibt und zugleich praktisch jeder-
mann wenigstens einmal in seinem Leben kriminell wird, ist in der
Tat zu fragen, ob die zahlreichen bisherigen Untersuchungen an regi-
strierten Kriminellen überhaupt Zuverlässiges über Kriminelle aus-
sagen können. Angesichts dieser Situation, die bisher nicht adäquat
zu lösen war, wollte man immer wieder dartun, es handle sich hierbei
eigentlich um etwas nicht Relevantes. Die Versuche, das durchaus
erkannte Dilemma zu lösen, werden auf verschiedenen Ebenen ge-
führt. Zum einen will man sich von der überkommenen Definition des
Verbrechens lösen und sozusagen eine (neue) Figur des "wirklich"
Kriminellen einführen. Dieser Gedanke kommt etwa in den Ausfüh-
rungen von Christiansen67 zum Ausdruck, wenn er feststellt, die medi-
zinische Forschung sei zu Ergebnissen gekommen, obwohl nur ein
Bruchteil aller Krankheiten diagnostiziert werde und davon wieder nur
ein Bruchteil zur Einweisung in ein Krankenhaus komme, wo der Haupt-
teil der medizinischen Forschung konzentriert sei. Diese Argumenta-
tion stellt die (sozialen) Verhältnisse bei Kriminellen geradezu auf den
Kopf und unterstellt, ein Einbrecher, der eine lange kriminelle Kar-
riere hinter sich gebracht habe, sei "besonders" kriminell in dem
Sinne, daß an ihm überdeutlich die Merkmale "des" Kriminellen er-
kannt werden könnten. Richtig ist zwar, daß etwa bei Infektions-
krankheiten die Verursacher auch dann zu finden sind, wenn nur ein
Träger der Krankheit erkannt ist, ohne alle anderen Kranken kennen
zu müssen, doch setzt dies eben in dem medizinischen Sinne einen - von
dem Kranken - unabhängig existierenden Krankheitserreger voraus.
Dieses Bild für die soziale Erscheinung des Verbrechens zu verwen-
den, wie es der Vergleich nahelegt, ist aber offensichtlich unzutreffend.
Auch der Einwand von Schöch6S , zahlreiche Untersuchungen hätten
inzwischen dokumentiert, daß sich Erst- und Gelegenheitstäter von
mehrmals rückfälligen Tätern unterschieden, ist in diesem Zusammen-
hang irrelevant, selbst wenn er zutreffen sollte, denn die Fragestellung
der (Vergleichs-)Untersuchungen geht nicht dahin, ob und wie sich ein-
malige von mehrmaligen Tätern unterscheiden, sondern Kriminelle
von Nichtkriminellen. Beide von Schöch genannten Gruppen sind kri-
minell; die Unterschiede müssen sich also notwendigerweise auf andere
Sachverhalte beziehen. Eine ähnliche Argumentation wird etwa zur
Rechtfertigung der Verallgemeinerungen der Ergebnisse der Cam-
68·
1076 Josef Kürzinger
75 (Fn. 70), S. 7.
Göppinger
78 Diese Zahlen ergeben sich aus der Verurteiltenstatistik für die Bundes-
republik Deutschland in den letzten Jahren.
77 Göppinger (Fn. 70), S. 8.
Der kriminelle Mensch 1077
diese Auffassung, dann stellt man freilich den Weg ins Gefängnis,
nicht aber den Weg in die Kriminalität dar, auch wenn man, wie aus-
drücklich betont wird 78, keine Kausalaussage zum kriminellen Verhal-
ten machen möchte.
VII.
Da wir gesehen haben, daß es (im traditionellen Sinne definiert) die
Unterscheidung Kriminelle/Nichtkriminelle in der Wirklichkeit nicht
gibt, steht jede vergleichende Untersuchung vor der Frage, wie sie
diese Erkenntnis sinnvoll im wissenschaftlichen Forschungsprozeß um-
setzen kann. Grundsätzlich gibt es zwei Wege, dem Dilemma zu ent-
kommen: entweder man definiert den Begriff des Kriminellen neu,
oder man löst sich von der Vorstellung, Aussagen über den "Krimi-
nellen an sich" machen zu können, sondern legt lediglich dar, wie der
Prozeß des Kriminellwerdens verläuft, unter welchen Bedingungen
jemand Kriminalität als Lebensstil oder als Lösung eines relevanten
Konflikts wählt. Eine Definition des Kriminellen, die dann allein für
kriminologische Vergleichsuntersuchungen sowohl die Schwere der
Rechtsverletzung als auch deren Häufigkeit bei einer Person berück-
sichtigen müßte, stünde freilich auch vor Schwierigkeiten, da es zuver-
lässige, willkürfreie Kriterien dafür, was als "schwerwiegend" und
"häufig" bei strafbaren Handlungen zu gelten hat, nicht gibt. Zwar
hätte eine solche Definition den Vorteil, sich nicht auf Zuschreibungs-
prozesse beziehen zu müssen, sondern den Begriff des Kriminellen
aufgrund tatsächlichen Verhaltens festzulegen, doch bliebe er weithin
unklar. Freilich ist auch der andere Weg der Definition, nämlich Kri-
minalität als "Lebensstil" zu begreifen, nicht unproblematisch. Ab
wann läßt sich "objektiv" sagen, ein wiederholt Straffälliger oder
Verurteilter habe Kriminalität als "Lebensstil" gewählt? Die Krite-
rien dafür sind, außer bei den relativ wenigen "Berufsverbrechern",
nur in Grenzen intersubjektiv nachvollziehbar. Beide Definitionsvor-
schläge bringen somit relativ große Probleme bei der Abgrenzung mit
sich. Dies führt für die Vergleichbarkeit von Kriminellen mit Nicht-
kriminelIen zu Schwierigkeiten, da die Trennbarkeit beider Gruppen
die Untersuchungsergebnisse unmittelbar beeinflußt. Angesichts dieser
Situation fragt es sich, ob es ein methodisches Vorgehen gibt, das er-
laubt, Vergleichsuntersuchungen zwischen "Kriminellen" und "Nicht-
kriminelIen" sinnvoll durchzuführen, wenn dabei Aussagen gewonnen
werden sollen, die sich auf Unterschiede in der Persönlichkeit und/
oder den Lebensumständen beziehen. Sicherlich wäre es zu optimistisch
gedacht, ginge man davon aus, daß ein solches Forschungsvorgehen
zur Verfügung stünde. Als Ausweg aus diesem Dilemma erscheint die
dieser Situation muß wohl ein zweifaches Fazit aus den überlegungen
gezogen werden. Zum einen sollte man sich damit begnügen, allein
Zusammenhänge zwischen Kriminalität und Lebensumständen festzu-
stellen und zum anderen die - hier wohl falsche - Frage nach der
(naturwissenschaftlich verstandenen) Ursache des Verbrechens nicht
weiterverfolgen. Nichts spricht dafür, daß wir in der Lage sein wer-
den, diese Fragen empirisch beantworten zu können. Alle bisherigen
kausalen Ursachenerklärungen beruhen auf weltanschaulichen Grund-
annahmen, deren Richtigkeit erfahrungswissenschaftlich nicht beweis-
bar ist. Dies gilt sowohl für die psychoanalytischen, marxistischen und
vielen soziologischen Verbrechenstheorien. Wenn dies so ist, dann muß
mit einer empirischen Bescheidung auch einhergehen, andere Lösungs-
möglichkeiten für das Problem der Bewältigung der Kriminalität zu
suchen. Insbesondere läßt sich dann der Stellenwert des Strafrechts
selbst für kriminalpolitische Entscheidungen nicht unterschätzen. Die
Kriminologie leistet nur einen Beitrag unter mehreren zur Problem-
lösung. Man muß sich darüber im klaren sein, daß erfahrungswissen-
schaftliche Erkenntnis immer Stückwerk bleibt, daß anstelle des Wis-
sens gelegentlich das Gewissen, anstelle der Erkenntnis aber die Ent-
scheidung zu treten hat. Dieses Spannungsverhältnis taucht in den
Schriften von Hans-Heinrich Jescheck an vielen Stellen83 geradezu als
Leitmotiv auf. Auch die Erfahrungswissenschaft beruht auf vorwissen-
schaftlichen Annahmen, und mehr noch als die Naturwissenschaften
sind die Sozialwissenschaften geprägt von einem Vorverständnis der
Welt. Ziemt also der empirischen Kriminologie Bescheidenheit, weil
sie bestimmte Grenzen der Erkenntnis nicht zu überschreiten vermag,
dann muß sie sich an ihre grundlegende Funktion erinnern lassen:
der gerechten menschlichen Ordnung zu dienen. Damit aber stimmt
sie in ihrem Ziel mit dem des Strafrechtes überein, wie es gerade
Hans-Heinrich J es check in seinen Schriften immer wieder leidenschaft-
lich vertreten hat: dem Gedanken der Humanität.
11 Roxin, JuS 1966, 377 ff.; Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe, 2. Aufl.,
1971, S.43 ff.; Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 2. Aufl. 1976,
S. 20 ff.
12 Hassemer, in: Hassemer/LüderssenlNaucke (Fn.9), S.36; Jakobs (Fn.8),
S. 15 f., 21; aus tiefenpsychologischer Sicht: Haffke, Tiefenpsychologie und
Generalprävention, 1976; Streng, ZStW 92 (1980), S. 637 ff.
13 BVerfGE 45, 187,256; ähnlich BGHSt. 24, 40, 44 ff.; 24,64, 66.
14 Hassemer (Fn. 12), S. 36, 52.
15 BGHSt. 24, 40, 45.
10 BGHSt. 24, 64, 66.
17 Vgl. Maiwald, GA 1983, 49 ff., 66 ff.; Naucke, JR 1980, 257 ff.; Schreiber,
Recht und Politik 1983, 36 ff., 37 f.
18 Insoweit zutreffend OLG Celle, JR 1980, 256 m. Anm. Naucke; aus-
schließlich normativ dagegen BayObLG JR 1978, 513 m. Anm. Horn.
1084 Heinz Schöch
klärti'. Danach ist es oberstes Ziel des Strafrechts, "die Gesellschaft vor
sozialschädlichem Verhalten zu bewahren und die elementar,en Werte
des Gemeinschaftslebens zu schützen (,allgemeine Generalpräv,en-
tion')"zo.
Diese normative Ebene der Rechtfertigung des Strafrechts ist gegen em-
pirische Falsifizierung in der Tat weitgehend immun. Es ist praktisch unbe-
streitbar, daß jede Sanktion der Bekräftigung der Norm dient oder eine
"Bestätigung der Rechtsordnung durch Widerspruch auf den Normbruch des
Täters"21 darstellt. Die normative generalpräventive Grundlage der "Insti-
tution Strafe" wäre nur dann aus den Angeln gehoben, wenn die völlige
Entbehrlichkeit des Strafrechts zum Schutze elementarer Rechtsgüter oder
die totale Wirkungslosigkeit sicherer Bestrafung auf potentielle Täter nach-
gewiesen wäre. Beides sind utopische Vorstellungen.
Auf der Ebene der realen Wirkungen der Strafe verbleiben demnach
folgende empirisch prüfbare Grundannahmen, die aus der Theorie
der Generalprävention abzuleiten sind 22 •
- Durch Intensivierung staatlicher Strafen werden potentielle Täter
von der Begehung ähnlicher Straftaten abgehalten (spezielle oder
negative Generalprävention).
- Durch Intensivierung staatlicher Strafen wird das Gefühl der Straf-
rechtsgeltung in der Bevölkerung gestärkt und ihr Vertrauen in den
Schutz der Strafrechtsordnung vor kriminellen Angriffen gefestigt
(positive Generalprävention).
Im Rahmen beider Thesen ist die Intensivierung staatlicher Strafen
auf den verschiedenen Stufen der Verwirklichung des Strafrechts denk-
bar und überprüfbar, von der gesetzlichen Strafdrohung über die Ver-
brechensaufklärung und -verfolgung durch Polizei und Staatsanwalt-
schaft, die Strafzumessungspraxis der Gerichte bis zu den Entscheidun-
gen über die VollstI'leckung der Strafe!~.
i
~ I. 1. Perzipierte Strafwirklichkeit 1. Soziodemograph. Daten 1. Abschreckungswirkung
12 Delikte (skalierte Einschätzungen) sozioökon. Status, Schulbil-
bei jM8 l Kenntnis der Strafbarkeit, Auf- dung, juristische Vorbil- 1.1 Selbstberichtete
Delinquenz
~ klärungs- und Verurteilungs- dung, Alter, Stadt/Land-
(registrierte und nicht
i.
::l.
U>
wahrscheinlichkeit, Höchststrafe, Herkunft
Strafzumessungspraxis, subjektiv registrierte Delinquenz) ~
empfundene Strafschwere, 2. Persönlichkeitsdaten t:;)
I Straf-Index Aggressivität, Extraversion, 1.2 Selbsteingeschätzte §
Dominanz, Offenheit u. wei- künftige Begehungswahr-
2. Perzipierte informelle Sanktionen scheinlichkeit e:
(skalierte Einschätzungen) tere Dimensionen des FPI,
Autoritarismus, kognitive (skaliert 0 - 100 %)
Ansehensverlust bei Bekannten Komplexität, internale/ex- ~
und Verwandten, berufliche ternale Kontrollüberzeu- 1.3 Abschreckungsindex
Nachteile gung, Rigidität (NR-Skala), (Deliktsneigung: 1.1 + 1.2) ~
Risikoneigung
11. 3. Konformitätsrelevante Variablen 2. Gefühl der Rechtsgeltung
4 Delikte Moralische Verbindlichkeit der 3. Sonstige
~
'1
beiDbl Norm, Deliktsbegehung im 2.1 Eingeschätzte
Subjektive Strafzweck- ~
Bekanntenkreis orientierung, perzipierter Begehungshäufigkeit Dl:
Vorteil bei Deliktsbegehung hinsichtlich der Gesamt- r6
4. Modifizierte Situation bevölkerung
(experimentähnliche Variation: Je nach Fragerichtung kön- (skaliert 0 - 100 %)
ao·
z. B. Straflosigkeit) nen UV, MV und AVunter- ::J
schiedlich zugeordnet 2.2 Verbrechens- und
werden, insbes. MV Opferangst
a) 362 junge Männer (18 - 21 J.) im Rahmen der Eignungs- und Verwendungsprüfung bei der Musterung für die Bun-
deswehr; ergänzend 82 Jugendarrestanten und 96 Jugendstrafgefangene. ....
c
(Xl
b) 2036 Deutsche - repräsentative StichprObe aus der gesamten Bundesrepublik Deutschland (männlich und weiblich; ce
14 - 87 J.).
1090 Heim Schöch
1. Informelle
Reaktionen
Verwerflichkeit
der Straftat 38 58 80 92
Erwart. Reaktion
der Mutter 62 72 78 90
Erwart. Reaktion
bei Freunden
u. Bekannten 52 62 66 82
Erwart. berufl.
Nachteile 22 52 43 58
Delikte bei
Bekannten (%) 41 33 54 15
2. Formelle Sanktionen
Geschätztes persönl.
Entdeckungs-
risiko (%) 48 41 55 66
Erfahrene tatsächI.
Entdeckungsquote
bei Tätern (%) 10 5 17 30
Subjektive Straf-
schwere
(Einschätzung) 50 60 78 88
3. Tatbegehung
Angegebene eigene
Begehungshäufigkeit
(% der Befragten) 28 20 25 5
Selbsteingeschätzte
Begehungswahr-
scheinlichkeit (%) 36 23 21 10
a) In der Erhebung wurden nur die in der Tabelle mit %-Werten gekenn-
zeichneten Merkmale auf Skalen von 0 - 100 % erfaßt, die übrigen Merk-
male auf sechsstufigen Skalen von 1- 6 nach dem subjektiv empfundenen Ge-
wicht eingeschätzt. Um die Anschaulichkeit und Vergleichbarkeit der Darstel-
lung zu ermöglichen, erfolgte eine Skalentransformation der Mittelwerte auf
die 100er-Skala.
69·
1092 Heinz Schöch
Tabelle 2 (Fortsetzung)
Schmuggel Diebstahl Trunken- Körperverl.
am heitim mitschw.
Arbeitspl. Verkehr Folgen
- Sind Sie im letzten Jahr oder früher schon einmal mit einem Kfz oder
Fahrrad im öffentlichen Straßenverkehr gefahren, obwohl Sie zuviel Alkohol
(1,3 %0 und mehr, das entspricht z. B. 2,5 Liter Bier oder 1 Liter Wein in
3 Stunden) getrunken hatten?"
Aus Tabelle 2 Nr.3 ergibt sich, daß die durchschnittliche Quote derer,
die das Delikt mindestens einmal begangen haben, von 5 % bei der
Körperverletzung bis zu 28 % beim Schmuggel reicht. Die Differenzen
entsprechen der unterschiedlichen Deliktsschwere (im Regelfall) und
der Häufigkeit der potentiellen Deliktssituation. Die im Vergleich zu
anderen Dunkelfelduntersuchungen geringeren Begehungsquoten43 be-
ruhen auf der Einbeziehung der erfahrungsgemäß weniger delikts an-
fällig,en Frauen und der älteren Jahrgänge.
Noch deutlicher sind die Abstufungen bei den Durchschnittswerten
des zweiten Indikators, der selbsteingeschätzten künftigen Begehungs-
wahrscheinlichkeit (Tabelle 2 Nr.3). Hier waren die Probanden fol-
gendermaßen gefragt worden:
"Es gibt vielleicht Sachen, die Sie niemals tun, andere, die Sie fast selbst-
verständlich tun würden. Wie ist das bei den vier Taten?
Könnten Sie sich vorstellen, daß Sie das vielleicht einmal tun werden,
wenn sich eine gute Gelegenheit bietet?" (Die Antworten waren auf einer
elfstufigen Skala von 0 - 100 % einzutragen.)
53 Vor allem die Kontrolltheorien (vgl. Albrecht [Fn. 32], S.307), aber auch
die Sozialisationstheorien und lerntheoretische Ansätze; vgl. dazu Göppin-
ger, Kriminologie, 4. Aufi. 1980, S. 63 ff.; Heinz, Zeitschrift für Pädagogik 29
(1983), 11 ff., 19 ff.
G' Albrecht (Fn.32, S.317) verwendet den Ausdruck "Normbindung"; die
Bezeichnung ,,(moralische) Verbindlichkeit der Norm" bringt jedoch m. E.
besser zum Ausdruck, daß es sich um eine außerrechtliche Bewertung han-
delt.
1098 Heiriz Schöch
Abhängige Variablen
I II III IV V VI
Delikts- Begeh.- Abschr.- Häufigkt. Verbr.- Straf-
Unabhängige Variablen Deliktn) begehung wahrsch. Index D.ü.18J. angst rigi-
Del.-Nei- dität
gung
1. Gesetzliche Sch
Höchststrafe DiA
TiV
:z:
~
KV ~.
2. Entdeckungsrisiko Sch rn
DiA -.14 -.14 -.15 B-
a:
TiV B-
KV
3. Erwartete Strafe Sch
(Art und Höhe) DiA
TiV -.15 -.16 -.15
KV
4. Subjektive Sch -.23 -.30 -.29 -.17
Strafschwere DiA -.21 -.32 -.32 -.20 +.15
TiV -.21 -.27 -.26 +.16
KV -.19 -.19
5. Straf-Index Sch -.23 -.27 -.27 -.15
(aus 1,2,4) Dia -.20 -.28 -.28 -.19 +.14
TiV -.15
KV ---- - ------- -
6. Moralische Verbind- Sch -.30 -.46 I -.42 -.22 I +.15
lichkeit der Norm !jlA -.39 -.50 -.51 -.32 +.16
Ti" -.35 -.47 -.45 -.17 +.14
KV -.22 -.28 -.29 I
7. Reaktion der Sch -.23 ! -.37 -.33 -.17
Mutter DiA -.26 i -.38 -.38 -.25
TiV -.17 -.29 -.27 +.15
KV I -.22 -.22
8. Reaktion der Freunde Scll -.32 -.47 -.44 -.24 I
und Bekannten DiA -.35 -.46 -.46 -.30 +.16 ::l.
TiV -.25 -.36 -.34 -.20 '"g.
KV -.18 -.27 -.27 ClI
I Cl
9. Deliktsbegehung bei Sch +.49 +.45 +.52 +.24
Bekannten oder Ver- DiA +.47 +.45 +.49 +.31
2
I:'
wandten TiV +.35
I +.30 +.36 +.19 e:g,
KV +.31 I +.24 +.26 OQ
zwei Delikten sogar für das Gefühl der Rechtsgeltung. Diese Einflüsse
sind mit Koeffizienten bis -.32 am stärksten bei den beiden Delikten
mit geringerer Normverbindlichkeit (Schmuggel und Diebstahl am
Arbeitsplatz), während sie bei Delikten mit höherer Normverbindlich-
keit etwas geringer sind (Trunkenheit im Verkehr, Körperverletzung)u.
Der mit dem Str,af-Index erfaßte Gesamteindruck der Strafwirklichkeit
erreicht im Vergleich dazu nur g,eringe Abschreckungseffekte.
Wir können also festhalten, daß die perzipierte Strafverfolgungs-
wirklichkeit für die Einstellung,en des Normalbürgers zu strafrechts-
konformem Verhalten nur geringe oder keine Bedeutung hat, während
die subjektiv,e Strafempfindlichkeit durchaus relevant ist. Dieser schein-
bare Widerspruch läßt sich folgendermaßen erklären. Für den Bevöl-
kerungsdurchschnitt liegt die Begehung von Straftaten wegen der ho-
hen mor,alischen Verbindlichkeit von Strafrechtsnormen so fern, daß
selbst bei minimalem Entdeckungsrisiko oder bei mildester Strafzu-
messungspraxis keine verbreitete Neigung zur Deliktsbegehung be--
steht. Wegen dieser inneren Distanz zur Kriminalität und der geringen
Varianz entsprechender Indikatoren erlangt die perzipierte Sanktions-
wirklichkeit keine oder nur minimale statistische Bedeutung. Allein
die Vorstellung, für ein Verhalten bestraft werden zu können - und
sei die Wahrscheinlichkeit oder Höhe der Bestrafung auch sehr gering-
wird bereits als so gravierend empfunden (subjektive Strafschwere),
daß hiervon abschreckende und positive generalpräventive Effekte aus-
gehen.
Die dargestellte Bedeutung des subjektiven Strafempfindens als
Transformationsinstanz zwischen Strafpraxis und deliktischem Verhal-
ten spricht für die These, daß eine Senkung des Strafniveaus zu einer
Sensibilisierung des Strafempfindens führen kann, so daß schließlich
durch mildere Strafen gleiche Abschreckungseffekte erzielt werden kön-
nen.
Der Versuch, diese im Bereich der Sinnesphysiologie entwickelte "Theorie
der Adaptation"n im ersten Untersuchungs abschnitt im Zusammenhang mit
der Generalprävention zu überprüfen, blieb erfolglos, vermutlich weil sich
die Methode der Befragung hierfür als unzulänglich erwies. Immerhin spricht
für sie aber ein Vergleich zwischen der Strafzumessungspraxis und den Ver-
urteiltenziffern um die Jahrhundertwende und heute: Trotz erheblich mil-
derer und kürzerer Strafen sind die Verurteiltenziffern bei den meisten De-
likten der klassischen Kriminalität (mit Ausnahme von Diebstahl und Raub)
nicht wesentlich angestiegen63 •
61 Vgl. dazu die Halttheorie von Reckless, The Crime Problem. 5. Aufl.
1973; aber auch die Kontrolltheorie von Rirschi, Causes of Delinquency,
1969, S. 16 ff.
12 Relson, Adaption-level theory. An experimental and systematic ap-
proach to behaviour, 1964.
Empirische Grundlagen der Generalprävention 1103
es Ebenso Jescheck (Fn.2), S.611; Lüderssen (Fn.9), S.54, 64 ff. weist auf
positive Beziehungen zwischen formellem Strafrecht und Akzeptanz der Ent-
scheidung hin.
IU Im Prinzip ähnlich Kerner, Möglichkeiten der Öffnung der Verfahren
strafrechtlicher Sozialkontrolle für präventive Maßnahmen, Interdiszipli-
näre Beiträge zur kriminologischen Forschung, Band 3, 1982, S. 789 ff., 815 ff.
70 Vgl. dazu Bruns, Leitfaden des Strafzumessungsrechts, 1980, S. 78 ff.
m. N.; sowie MaiwaZd (Fn.17), S. 57 ff., der als weitere Fallgruppen Delikte
gegen die staatliche Ordnung und Verkehrsdelikte unter Alkoholeinfluß
nennt (zu letzteren mit Recht kritisch S.58 Fn.40); für bloße "Bremsfunk-
tion" im österreichischen Strafrecht: PalZin, Österreichische Richterzeitung
1980, S. 120 ff.
Empirische Grundlagen der Generalprävention 1105
• Text eines Referats, welches der Verf. am 26.4. 1984 für die Internatio-
nale Strafrechtsgesellschaft (AIDP) auf einem Kolloquium gehalten hat, das
zum selben Thema ("Jeunesse, crime et justice") vom 25. bis 28.4.1984 in
Bellagio/Italien stattfand (6. Gemeinsames Kolloquium der Association inter-
nationale de droit penal, der Societe internationale de criminologie, der So-
ciete internationale de defense sociale und der Fondation internationale
penale et penitentiaire). - Die Erinnerung an dieses Kolloquium, seine Vor-
bereitung und seine Durchführung, wird für mich vor allem geprägt durch
die enge und überaus freundschaftliche Zusammenarbeit mit dem Präsiden-
ten der AIDP, Hans-Heinrich Jescheck, für den auch dieser Beitrag ein Sou-
venir sein möge. Die übersetzung aus dem Englischen hält sich nur insoweit
an die Vorlage, als dies sprachlich zulässig erschien; Text und Nachweise
wurden stellenweise erweitert.
70·
1108 Horst Schüler-Springorum
frage ich mich manchmal, begreifen die überhaupt schon, wo sie sind und
wofür die hier sitzen müssen? Und ich habe so den Eindruck, die blicken noch
gar nicht durch oder sind sich gar nicht dessen bewußt, daß sie hier drinnen
sitzen .. .1"
Im vorigen Wintersemester hielt ein Experte aus der UdSSR, Professor
Jakovlev aus Moskau, an der Universität München eine Gastvorlesung über
Probleme von Strafrecht und Kriminologie. Das Strafrecht und die Straf-
justiz, so meinte er, seien gefährlichen Hunden vergleichbar, die man fest an
der Kette halten und eher durch Bellen als durch Beißen wirken lassen solle.
Denn sobald losgelassen, richten sie leicht mehr Unheil an als Heil. Zurück
also zu Feuerbach? "Vorwärts - zu Kant!", schloß Jakovlev.
Diese Feststellungen sind nicht nur sehr pauschal, sie sind sogar
gefährlich pauschal. Sie verallgemeinernd zu interpretieren, verbietet
sich schon aus Gründen der Quantität und Qualität der verfügbaren
Daten. Zwar gibt es Flecken auf der Landkarte, wo Kriminologen
ziemlich tief geschürft und eine Vielzahl von Faktoren zutage geför-
dert haben, die die örtliche Kriminalitätsszene bestimmen. Andere
Teile der Karte aber weisen mehr oder weniger ausgedehnte weiße
Flächen auf; in der Dritten Welt zum Beispiel weiß man Genaueres
über Jugendkriminalität oft nur in bezug auf ganz bestimmte Gegen-
den, und in Ländern des Ostblocks mag es vorkommen, daß man an
Ort und Stelle mehr über Jugendkriminalität weiß als man andere
wissen läßr'. In einer Ausarbeitung der UNO über "Die Lage der
Jugend in den achtziger Jahren" heißt es andererseits: "Länder mit
staatlicher Planwirtschaft berichten über eine Abnahme der Krimi-
nalität und führen diese auf verbesserte soziale Bedingungen zurück",
während "in den meisten Entwicklungsländern die Jugendkriminalität
zunimmt, hier resultierend aus rapider Industrialisierung mit einem
,entsprechenden Anwachsen der Städte, aus unzureichenden Woh-
nungs-, Erziehungs- und Arbeitsbedingungen, mangelhaften Gesund-
heits- und Fürsorgeeinrichtungen, aus Konflikten zwischen traditionel-
len und modernen Werten und aus den zunehmenden Einflüssen west-
licher Lebensart"7. Der letzte Teil des Zitats faßt zugleich die heute
vorherrschende Einstellung von Kriminologen zusammen, wenn sie
sich mit der Jugendkriminalität in Ländern der Dritten Welt befassen:
Verstädterung und Industrialisierung stehen als Kürzel sowohl für das
Phänomen selbst als auch für seine GrÜnde8 •
Die "zuständige Stelle" also; was aber tut sie? Bei dieser Frage
geraten die persönlichen Interessen des jungen Delinquenten stets in
Konflikt mit anderen Interessen: solchen des Opfers, solchen seiner
Umgebung, solchen der Gesellschaft. Die Rücksichtnahme auf die einen
oder anderen von ihnen läßt sich ihrerseits nicht etwa daran fest-
machen, ob ein Gericht oder eine Behörde auf den Plan tritt. Nehmen
doch sogar Strafgerichte als zuständige Instanz ggf. für sich in An-
spruch, mehr oder weniger ausschließlich nach den individuellen Be-
tet werden28 • Natürlich wird die Idee auch befehdet. Ihre Gegner wei-
sen z. B. darauf hin, daß dort, wo Diversion die jungen Missetäter an
eine andere (nichtjustizielle) Instanz weitertransportiert (z. B. an das
kommunale Jugendamt), der Gesamtumfang sozialer Kontrolle letzt-
lich ausgeweitet werde, wobei die "überwiesenen" Jugendlichen, an-
statt wenigstens von den Rechtsgarantien formeller Sozialkontrolle
zu profitieren, allen Zufälligkeiten informeller Kontrollmechanismen
ausgesetzt würden. Andere wieder argwöhnen, Diversion sei nur ein
schönes Mäntelchen um eine reine Verlegenheitslösung, die die Justiz
sich habe einfallen lassen, um einen ständigen Zuwachs an Jugend-
kriminalität, der sie zu erdrücken drohe, ab instantia wegzudrücken.
Was immer daran wahr sein mag, scheinen die Vorteile von Diver-
sion ihre Nachteile aber doch zu überwiegen. Zumindest ist es an-
scheinend möglich, eine "strukturierte Diversion" zu entwickeln, die
den genannten Risiken begegnen kann. Zu ihren Strukturen gehört,
daß eine schlichte Einstellung des Verfahrens im Zweifel den Vorzug
verdient vor einer solchen, die mit irgendwelchen "überweisungen"2D
des Jugendlichen verknüpft ist. Auch die Bindung von Einstellungs-
Ermessen an einen Mindestkatalog genauer definierter Voraussetzun-
gen wäre eine solche Diversionsstruktur30 •
Die Entwicklungen zu "mehr Diversion" und "weniger Einsperrung"
wurden hier als Politik-Elemente im Rahmen solcher Rechtssysteme
vorgestellt, die das "Justiz-Modell" praktizieren. Im Rahmen eines
"Behörden-Modells" ergeben sich durchaus parallele Fragen. In dem
Maße z. B., in dem dort Heimerziehung eine Rolle spielt, wird sich
die eine solche Maßnahme anordnende Stelle mit den Argumenten
auseinandersetzen müssen, die seitens der Pädagogik gegen deren
Durchführung in geschlossenen (somit "besonders" freiheitsentziehen-
den) Einrichtungen heute vorgetragen werden81 • Oder: Je stärker ein
Jugendhilfeausschuß, eine Jugendkommission oder ein ähnliches Gre-
mium sein eigenes Verfahren formalisiert (oder formalisieren muß),
her für den Jugendlichen ebenso wie für Dritte. Ganz entsprechend
sieht das Selbstverständnis derer aus, die "zuständige Stelle" sind:
Wo nicht den "Staat", repräsentieren sie zumindest die "Gesellschaft".
Und wofür wiederum stehen Staat und Gesellschaft als Kürzel? Hier
stoßen wir sogleich wieder auf die für unseren Gegenstand so kenn-
zeichnenden Antagonismen.
Einerseits wird gesagt, daß der Staat es sich nicht leisten kann,
jugendlichen Delinquenten, mit denen er zu tun bekommt, nur als die
Verkörperung von Recht und Ordnung gegenüberzutreten. Anstatt so
kühl und unpersönlich aufzutreten, solle er sich lieber als eine nähere
Bezugsperson verkleiden, am besten als Vater oder Mutter, und so
handeln wie beide zusammen. Diesem Ansatz (dieser Ideologie?) fol-
gend leistet der Staat also vor allem Hilfe. Behandlung, Ersatzerzie-
hung, Fürsorge usw. sind alternative Vokabeln dazu 37 ; in der anglo-
amerikanischen Tradition spricht man von der Par€nS-Patriae-Theo-
rie38 • Ungeachtet mancherlei historischer und weltanschaulicher Nuan-
eierungen läuft die Reaktion des Staates in dieser Sicht allemal auf
dasselbe hinaus: Es gilt, den jungen Delinquenten zu erziehen, zu (re-)
sozialisieren, ihm individuellen und/oder sozialen Beistand zu leisten.
Und solches Bemühen hat anzudauern, bis ein Erfolg konstatiert wer-
den kann. Widersetzt der Jugendliche sich dem oder erscheint er gar
unerziehbar, gibt es nur eine konsequente Reaktion: mehr und ver-
stärkter Einsatz - in derselben Richtung!
Die vielen Schwachpunkte dieses Rituals sind heute wohlbekannt.
Vor allem ist es pure Illusion zu meinen, ausgerechnet der Staat könne
die Rolle eines wie immer definierten Elternersatzes spielen, wer auch
immer ihn persönlich repräsentieren mag. Denn die bloße Anmaßung
einer solchen Rolle ersetzt nicht das, was "Eltern" symbolisch bedeu-
ten, nämlich eine menschliche Beziehung. "Beziehung" wiederum, erst
recht eine enge, steht für ein so dichtes und zugleich so feines Ge-
flecht von Interaktionen, daß alle Formen und Methoden staatlicher
Ersatzerziehung einem vergleichsweise grob simplifizierenden Ursache-
Wirkung-Modell verhaftet erscheinen. Dieses Kontrastes wegen hat
86 UN Working paper (Fn.4), S.35 Nr.89: " ... the juvenile court is 1n-
creasingly becoming a legal court of last resort ..."; UN Caracas (Fn.2),
S. 64 Nr. 146: "The ultimate role of the state ...".
87 "Welfare model, treatment model, medical model" usw.: vgl. FlickeT,
Standards for juvenile justice - A summary and analysis, 2. Aufl. 1982;
Jung, Structural Problems of Juvenile Justice Systems, Journal of the Law
Society of Scotland 1982,325 - 328; StewaTt, ed., Justice and troubled children
around the world, Vol. I - V, 1980 - 83; McClintock, Some Aspects of Discre-
tion in Criminal Justice, in: AdlerlAsquith (Hrsg.), Discretion and Welfare,
1981, S. 185 - 199, spricht vom "paternalistic rehabilitative ideal" (S. 187).
88 Asquith (Fn.21); BaileylRothblatt, Handling juvenile delinquency cases,
1982.
3V Die allzu griffige Formel hierfür ist Martinsans "Nothing works" (vgl.
Martinsan, What Works?, The Public Interest, 1974). LiptonIMartinson/Wilks,
Effectiveness of Correctional Treatment, 1975; nach Th. Weigend, Neoklassi-
zismus - ein transatlantisches Mißverständnis, ZStW 94 (1982), S. 801 - 814,
hat "Nothing works" (und der entsprechende "nothing-worksism") bereits
Kriminologiegeschichte gemacht, S. 808 f.; dazu vgl. auch Schüler-Springorum,
Societe moderne et delinquance juvenile, Revue internationale de crimino-
logie 1983, 31 - 42, 39 ff.
40 SchoutenlHirschjBlankstein, 1974; die wörtliche Übersetzung mit "Laß
dich nicht durchschauen!" wäre wohl zu schwach; besser vielleicht: Verstell
dich!, Mach ihnen was vor!, Gib dich ja nicht so wie du bist!
41 Finckenauer, Scared Straight! and the panacea phenomenon, 1982; MOT-
rison, Toward reducing juvenile delinquency: A look at two innovative
programs in the United States, in: ASPAC (Fn.11), S.109 -114; auch Roddy,
Juvenile Aversion Therapy, Juvenile and Family Court Journal 4/1979, 17 - 38.
Jugend, Kriminalität und Recht 1123
71"
1124 Horst Schüler-Springorum
die aus überfordernden Situationen, als auch solcher, die aus mißlun-
gener Erlebnisverarbeitung entspringen. Sie alle lassen wir hier bei-
seite, um uns den möglichen symbolischen Gehalten von Jugendkrimi-
nalität im allgemeineren (d. h. die Allgemeinheit betreffenden) Sinn zu-
zuwenden. Diese Perspektive gründet sich auf Forschungsergebnisse,
die Jugendkriminalität und soziale Benachteiligung in einen sozial-
strukturellen Zusammenhang gebracht haben; Mehrfachtäter insbeson-
dere erscheinen mehrfach vor-benachteiligt durch eine Anzahl nega-
tiver Bedingungen wie z. B. familiäre Probleme plus Schulschwierig-
keiten plus "falsche" Freunde plus defiziente oder fehlende Berufs-
ausbildung plus Arbeitslosigkeit usw. Ungeachtet aller damit jeweils
verbundenen individuellen Probleme indiziert Kriminalität, die mit
solchen Umständen einhergeht, immer auch soziale Mängellagen47 • Das
heißt allerdings nicht, daß die Gesellschaft stets an ihnen auch "schuld"
sei; denn auch Gesellschaften, so wird sich zeigen, können nichts dafür
können. Erinnern wir uns einiger weiter oben schon erwähnter Be-
funde.
Bereicherungsdelikte führen bekanntlich die Statistik an, und dies
weltweit. In den Industrieländern pflegt man materiellen überfluß
und kriminalitätsbedingte materielle Verluste recht eng miteinander
zu verknüpfen. In Entwicklungsländern gewinnt ebendasseIbe Verhal-
ten eine ganz andere Bedeutung: "Wenn Kinder hungrig sind, brau-
chen sie Nahrung; und wenn man sie ihnen nicht gibt, werden zumin-
dest manche sie stehlen48 ." Hinter dieser banalen Feststellung verbirgt
sich eine bemerkenswerte Umwertung von Werten, die sich (immer
noch stark vereinfacht) so vollzieht: Wo fremdes Eigentum zum Objekt
weitverbreiteter Diebstahlsdelikte wird, muß entweder die Achtung
vor fremdem Eigentum weitverbreitete Einbußen erlitten haben oder
andere Werte müssen überwiegen. Für Wohlstandsgesellschaften hat
man oft genug den erstgenannten Vorgang beschrieben; im Beispiel
des Zitats weicht der Respekt vor fremdem Eigentum dem höchstper-
sönlichen Hunger.
Das Bild der Delinquenz, das sich wie ein Mosaik für jede Gesell-
schaft spezifisch zusammensetzt, bildet offenbar überhaupt viel von
der Hierarchie und Stärke der herrschenden Werte ab. Wo ein Wert-
system "gesellschaftlich" (noch) besonders fest verankert ist, geht eine
geringe allgemeine Toleranz gegenüber abweichendem Verhalten oft mit
einer relativ reduzierten Kriminalitätsrate einher40 • Als man Einstellun-
the Causes of Delinquency ... , 1984, S. 16, 20, 44 Nr.34, 44, 96 (HEUNI) u.
S. 52 ff., 53 - 55 (UNSDRI); andererseits schon Lopez-Rey, Les jeunes et la cri-
minalite dans la societe contemporaine et la societe future, Revue de science
criminelle et de droit penal compare 1980, 897 - 909, 901: "La delinquance
juvenile et le developpement sont etroitement lies".
58 Vgl. BriZlon (Fn. 8); Leunmi, Der Kulturkonflikt und die Jugendkrimina-
lität in Afrika, 1978.
59 UN Report (Fn. 7), S. 5 Nr. 8.
eo ebd., S. 24 ff.; Lopez-Rey, Youth and Crime in Contemporary and Future
Society, in: UNAFEI Resource Material Series Nr. 14 (1978), S. 69 - 84, 74 ff.
el UN Report (Fn. 7), S. 30.
1130 Horst Schüler-Springorum
Kehren wir zum engeren Thema zurück, für das Kriminologie und
Kriminalpolitik ja nicht die Zentralfragen sind. Immerhin lassen die
bisherigen Überlegungen einige Schlüsse zu, die zwar eher bescheiden,
dafür aber ziemlich zwingend ableitbar erscheinen.
82 Vgl. UN Caracas (Fn. 2), Resolution 7, S. 10, 11; ebd., S. 67 - 69, Nr.157 - 167.
83 Postman, The disappearence of childhood, 1982 (deutsch: Das Ver-
schwinden der Kindheit, 1983).
84 Roth, Die Erfindung des Jugendlichen, 1983, S. 96 ff., 101, 135 ff.; vgl.
auch DeZmas-Marty, Les chemins de la repression, 1980, S. 36 f.; Jescheck,
Der Einfluß der IKV und der AIDP auf die internationale Entwicklung der
modernen Kriminalpolitik, ZStW 92 (1980), S. 997 - 1020, 1005 f.
Jugend, Kriminalität und Recht 1131
pierung bilden"8S; auch in der Volksrepublik China sieht man das wohl
ähnlich88 •
Das alles spricht dagegen, "Jugend" und "Kriminalität" vorschnell
miteinander zu verbinden. Je nach festgelegter Altersgrenze drängt
sich sogar der Standpunkt auf, daß Jugend und Kriminalität apriori
miteinander nichts zu tun haben, - definitorisch ausgedrückt also, daß
eine Straftat eines Jugendlichen keine Straftat ist. Rechtssysteme, die
keine strafrechtliche Verantwortlichkeit Jugendlicher kennen, gehen
eben hiervon aus. Und Rechtssysteme, die Jugendliche strafrechtlich
verantwortlich machen, beweisen durch die vielen damit eingehandel-
ten Probleme - Verantwortlichkeit abhängig vom Alter und/oder von
anderen Kriterien wie Reife, Unterscheidungsvermögen, fallbezogener
Unrechtseinsicht oder Deliktsschwere? Voraussetzungen und Folgen
verminderter Verantwortlichkeit? usw. - eigentlich nur, daß solche
Verantwortlichkeit dem Jugendlichen mehr zugerechnet (in-culpiert!)
als in ihm diagnostiziert wird.
Zwei Konsequenzen dessen bieten sich an: Wo immer Art und Weise
der staatlichen Reaktion davon abhängen, ob ein Jugendlicher eine
Straftat begangen hat, sollte der Bereich dessen, was als (Jugend-)
Straftat gilt, (1.) nach Möglichkeit enger und (2.) keinesfalls weiter als
für Erwachsene sein.
Der erste Punkt betrifft die vieldiskutierte Entkriminalisierung87 •
Ohne daß hier auf Einzelheiten eingegangen werden könnte, sollte sich
als eine Art Dauerpostulat ergeben, daß beileibe nicht alles Verhalten,
das für Erwachsene strafbar gestellt ist, allein deshalb auch für
Jugendliche gleichgewertet wird. Schon die Erkenntnis, daß das Er-
wachsenwerden einen mehr oder weniger langsam, mehr oder weniger
kontinuierlich ablaufenden Prozeß darstellt, spricht dagegen, Jugend-
liche ab einem bestimmten Zeitpunkt sozusagen mit der Totalität des
Strafrechts zu überfallen.
Besonders problematisch wird in dieser Sicht der Einsatz des Strafrechts
gegen Drogenmißbrauch. Da junge Menschen viel eher Opfer als "Täter"
solchen Verhaltens sind, gehören die einschlägigen Maßnahmen eigentlich
zur staatlichen Jugendschutzpolitik. Inwieweit diese in dem Versuch be-
stehen darf, Schutz durch Kriminalisierung zu bewirken, sollte mehr als eine
nur rhetorische Frage seinGs • Denn letztlich betreibt eine jede Generation den
Jugendschutz doch im höchsteigenen Interesse.
I. Vorbemerkung
Die alles beherrschende Frage war eine Zeitlang: Brauchen wir neben
der Kriminologie eine Viktimologie? Mendelsohn, der die Wortschöp-
fung für diesen neuen Wissenschaftszweig für sich in Anspruch nimmt3 ,
verneinte dies, falls nur Verbrechensopfer hierunter fallen würden, wes-
halb eine sogenannte Allgemeine Viktimologie für alle Arten von Opfern
(einschließlich solcher von Hungersnöten, Erdbeben, usw.) zuständig
werden sollte. Dies wurde von vielen, vielleicht den meisten Wissen-
schaftlern abgelehnt'. Für sie ist weitaus wesentlicher, welchen Beitrag
die Viktimologie zur Kriminologie im Hinblick auf die Analyse sozial
auffälligen Verhaltens und der daraus zu ziehenden Konsequenzen lei-
stet. Betrifft dies den ätiologischen Aspekt, so gilt die gleiche Frage dem
kontrollparadigmatischen Aspekt, den es in der Viktimologie ebenfalls
gibt 5 : das Opfer als informelle Instanz der Verbrechenskontrolle.
Dies leitet über zu einem anderen, eher strafrechtspolitisch getönten
Thema, das die Rechte des Opfers im Strafverfahren betrifft - oder bes-
ser ihr Fehlen. Man begreift allmählich, daß das strafrechtliche Kon-
zept durch die Ausklammerung des Opfers gewisse Defizite aufweist;
ob freilich bereits begriffen wird, daß hierin ein Strukturfehler liegt,
muß einstweilen bezweifelt werden. Immerhin häufen sich die Initia-
tiven: von staatlicher Opferentschädigung über neue Beweisregeln und
Beweisermittlungsanleitungen zum Zwecke der Schonung des oder der
Verletzten, über strafrechtliche Schadenswiedergutmachung durch den
Täter bis hin zur Forderung nach einem Opferanwalt, ja, im internatio-
nalen Kontext bis hin zu Bemühungen, die Vereinten Nationen zu einer
Erklärung, betreffend den Schutz von und die Hilfe für Verbrechens-
opfer, zu bewegen. Hier noch von viktimologischen Initiativen zu spre-
-cllen; gelingt vielleicht nur mit deIll Pragmatismus, den der amerikani-
sche Kriminologe Cressey in Münster anläßlich des 3. Internationalen
Symposiums für Viktimologie (1979) in Anspruch nahm:
.,- Jedem steht frei, Verbrechensopfer zu unterstützen und das dann Vikti-
mologie zu nennen.
- Jedem steht frei, sich für Entschädigungen von Verbrechensopfem einzu-
setzen und das Viktimologie zu nennen.
72·
1140 Klaus Sessar
7 von Hentig, The Criminal and His Victim. Studies in the Sociobiology of
Crime, 1948 (Nachdruck 1979), S. 384.
8 Schaler, The Victim and His Criminal. Study in Functional Responsibility,
1968.
• Kritisch hierzu Nagel, Strukturelle Viktimisation, in: KirchhofjlSessar
(Anm. 3), S. 61 - 84, 66.
10 Reckless, The Crime Problem, 5. Auf!. 1973, S. 91 ff.
11 Holyst, Nutzbarkeit der Rückkoppelung in der viktimologischen For-
schung, in: Schneider (Anm. 5), S. 80 - 89.
12 van Dijk!Steinmetz, The RDC Victim Surveys 1974 - 1979. Research and
Documentation Centre XXXV. Ministry of Justice, 1980, S. 32.
über das Opfer. Eine viktimologische Zwischenbilanz 1141
sonen, die, sagen wir, mehr als dreimal viktimisiert worden waren, und mit
solchen kleinen Gruppen wachsen etwaige methodische Verzerrungen der Be-
fragung überproportional an. Die primäre Schwierigkeit liegt außerdem darin,
daß sie in dieser geringen Menge einer zu erwartenden Zufallsverteilung ent-
sprechen könnten, was aber offenbar nicht der Fall ist18 ; die Differenzen zwi-
schen statistisch erwarteter und beobachteter Verteilung sind vielfach so groß,
daß die Annahme besonders gefährdeter Personen (und Sachen, Zeiten, Plätze,
usw.) als gesichert angesehen wird14 •
Eine Systematisierung viktimogener Faktoren in der Person des Opfers
(und nun nicht mehr allein auf Mehrfachopfer bezogen) wurde von Sparks
versucht: Opferprovokation im Sinne emotionaler Reaktionsauslösung beim
späteren Täter; Schaffung spezifischer Risiken ("Gelegenheit macht Diebe");
Verwundbarkeit, bedingt durch persönliche Attribute wie Alter, Geschlecht,
Behinderungen; Attraktivität, z. B. ökonomischer oder sexueller Art; Schutz-
losigkeit im Sinne des Fehlens ausreichender sozialer Kontrolle (z. B. bei
Homosexuellen oder Prostituierten als Opfer)15. Solche Klassifizierungen eines
unterschiedlichen Opferrisikos bedeuten gegenüber denen, die sich etwa bei
von Hentig finden, einen systematischen Gewinn, bleiben jedoch deskriptiv. Es
gibt aber mittlerweile theoretische Konzepte, deren bekanntestes das Le-
bensstil-Konzept von Hindelang, Gottjredson und Garofalo geworden ist18 •
Die Chance, das Opfer einer Straftat zu werden, hängt danach mit dem Le-
bensstil zusammen, verstanden als ein System aus Rollenerwartungen und
strukturellen Zwängen, in dem die täglichen Aktivitäten (Beruf, Haushalts-
führung, Freizeit, usw.) ablaufen und das von Merkmalen wie Alter, Ge-
schlecht, Eigentum, Familienstand oder Erziehung abhängt. Der Lebensstil
gibt wieder, inwieweit man Opferrisiken ausgesetzt ist, weil von ihm abhängt,
mit welcher Wahrscheinlichkeit man sich unter bestimmten Umständen zu
einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort aufhält, um dort mit be-
stimmten Personen Kontakt aufzunehmen17• Die Autoren verstehen dieses
Konzept vorsichtig als einen ersten Schritt, und tatsächlich ist es seltsam
banal, vor allem im Hinblick auf die mit solcher Theorie verbundene Absicht
der Prävention. Wenn die Wahrscheinlichkeit, bestohlen zu werden, mit den
Zeitanteilen steigt, die eine Person mit Personen außerhalb ihrer Familie ver-
bringt18, dann wird sie den Zeitanteil künftig kaum reduzieren wollen oder
können, nur um einer etwaigen Straftat aus dem Weg zu gehen. Von extremen
Situationen abgesehen bedeutet die Theorie in ihrer äußersten Konsequenz
eine Kapitulation vor der Kriminalität, da sie die Veränderung des Lebens-
!2 Die Daten werden derzeit ausgewertet, eine Publikation ist für 1985 ge-
plant.
23 Hierfür gibt es auch sonst Anhaltspunkte. Schonborn untersuchte in den
USA das Konfiiktverhalten von Polizisten und Teilnehmern von UN-Friedens-
corps. Er unterschied sie in idealtypischer Weise nach ihren "humanen" und
"autoritären" Einstellungen (human bedeutete hiernach erziehungs freundlich
und strafenfeindlich, innovativ und experimentierfreudig, Priorität verbaler
gegenüber gewaltmäßiger Konfiiktregelung; autoritär hieß danach Anti-Intel-
lektualität, Mißtrauen gegenüber sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen, ge-
ringe Innovation mit Ausnahme bei Waffen und Ausrüstungen, Vertrauen
auf Gewalt bei Konfiiktregelungen). In Korrelation mit tatsächlichen Kon-
fiiktregelungen zeigte sich in der Tendenz, daß "humane" Beamte effektiver
in dem Sinne vorgingen, als sie weniger Schäden anrichteten und selbst weni-
ger geschädigt wurden als "autoritäre" Beamte; Schonborn, Dealing with
Violence, 1975, S. 163 ff.
U Sessar, über die verschiedenen Aussichten, Opfer einer gewaltsamen
Tötung zu werden, in: Kirchhot1!Sessar (Anm. 3), S. 301 - 320,307.
!S Sessar, Rechtliche und soziale Prozesse einer Definition der Tötungs-
kriminalität. Kriminologische Forschungsberichte aus dem Max-Planck-In-
1144 Klaus Sessar
Abhängigkeit vom Deliktstyp - nur etwa jedes zweite Opfer die Straf-
tat meldet, und daß die Kriterien für Anzeige bzw. Nichtanzeige eine ge-
wisse kriminalpolitische Eigenwilligkeit aufweisen. An erster Stelle
steht in deutschen Untersuchungen bei Eigentumsdelikten die Höhe des
verursachten Schadens (in amerikanischen Untersuchungen die Ineffek-
tivität der Polizei). In der Göttinger Opferbefragung von Schwind und
Mitarbeitern gingen bei einem Schaden bis 25 DM 2 % der Opfer zur
Polizei, bei einem Schaden darüber 33 %; Stephan ermittelte in der
Stuttgarter Opferbefragung einen durchschnittlichen Schaden von 63
DM bei nichtangezeigten und 285 DM bei angezeigten Straftaten30 • Bei
Gewaltdelikten ist die Täter-Opfer-Beziehung wohl eines der ausschlag-
gebenden Motive für die Entscheidung, die erlittene Tat zu melden. Je
näher sich Opfer und Täter sind, desto unwahrscheinlicher wird die An-
zeige; erfolgt sie dennoch, dann häufig aus Gründen der Kriseninterven-
tion, weniger der Strafverfolgungl1 •
Besonders bei Gewalttaten besitzen die Gründe für eine Nichtanzeige
eine gewisse Evidenz, soweit es um die weitere Aufrechterhaltung der
Beziehung geht; nur in kleinen Anteilen kommt daneben die Furcht vor
dem Täter vor. Wesentlich wird daher die Annahme, daß zur Dynamik
der Beziehung, die zur Tat führte, die anschließende Aufarbeitung des
Ereignisses gehört, so daß die interne Konfliktbereinigung Vorrang hat.
Damit erweitert sich aber die Bedeutung des Opfers im Rahmen der
Verbrechenskontrolle. Denn die Anzeigebereitschaft ist auch Ausdruck
von Einstellungen gegenüber Kriminalität und Kriminellen. Der Ge-
danke, mit Opfern eine besonders rigide und punitive soziale Grup-
pierung vor sich zu haben, war naheliegend, erwies sich aber als trüge-
risch. Es gehört im Gegenteil zu den empirischen Erfahrungen, daß sie
im allgemeinen keine größere Furcht vor Verbrechen haben, keine ne-
gativeren Einstellungen gegenüber Straftätern entwickeln und Delikte
nicht durchweg schwerer einschätzen, wenn man sie mit Nichtopfern
vergleicht, ja, es gibt eine Reihe von Beobachtungen, wonach sie größere
Gelassenheit, selbst Toleranz an den Tag legen12 • Selbst die Wahrneh-
30 Schwind u. a., Dunkelfeldforschung in Göttingen 1973/74. Eine Opferbe-
fragung zur Aufhellung des Dunkelfeldes und zur Erforschung der Bestim-
mungsgründe für die Unterlassung von Strafanzeigen. BKA-Forschungsreihe,
Band 2, 1975, S. 208; Stephan, Die Stuttgarter Opferbefragung. Eine kriminolo-
gisch-viktimologische Analyse zur Erforschung des Dunkelfeldes unter beson-
derer Berücksichtigung der Einstellung der Bevölkerung zur Kriminalität,
BKA-Forschungsreihe, Band 3,1976, S. 197.
31 Block, Why Notify the Police: The Victim's Decision to Notify the Police
of an Assault, in: Criminology 1973, S. 555 - 569, 561; Hindelang, Criminal
Victimization in Eight American Cities. A Descriptive Analysis of Common
Theft and Assault, 1976, S. 392 f.; Sessar (Anm.25), S. 92 ff.; Sparks!Genn!
Dodd (Anm. 13), S. 120 f.
32 Villmow, Die Einstellung des Opfers zu Tat und Täter, in: KirchhofJ!
Sessar (Anm.3), S. 199 - 218; Kerner, Kriminalitätseinschätzung und innere
1146 Klaus Sessar
mung des "eigenen" Täters ist differenziert. Zwar ist es richtig, daß oft-
mals Rachegefühle und Bestrafungsbedürfnisse zu beobachten sind, doch
möglicherweise mehr in Abhängigkeit von unterlassenen Wiedergut-
machungsleistungen als infolge eines Gleichklangs mit dem staatlichen
Strafanspruch. Zusammen mit der sehr verhaltenen und selektiven Nei-
gung, die Polizei bei einer erlittenen Straftat einzuschalten, kann daher
von einer eigenständigen, nämlich privaten Form der Konfliktverarbei-
tung gesprochen werden, die dem Strafrecht seine Legitimation abstrei-
tet; bekanntlich besteht sie u. a. darin, daß es ohne das Strafrecht zu
sozial unerwünschter Privatjustiz käme. Entsprechend bedeutet dies
alles für die Kriminologie, soweit sie dem Kontrollansatz folgt, eine
Akzentverschiebung von den formellen Instanzen weg und hin zu den
informellen Instanzen, mit dem Opfer als "Torhüter" des Strafverfol-
gungssystems·, und damit zu einer zunehmenden Beschäftigung mit
privaten Konfliktregelungsmustern als Alternativen zu denen des Straf-
rechts. Dies wird noch einmal aufgegriffen werden müssen.
3. Resümee
Es mag deutlich geworden sein, daß eine auf sich gestellte Viktimolo-
gie keinen ausreichenden wissenschaftlichen Fundus hat. Es fehlen ihr
die Voraussetzungen, da weder eine eigenständige Methode noch ein
allgemein anerkanntes Objekt des Forschungsinteresses in Sicht istu .
Konfliktreich ist bereits die Definition des OpferbegrijJs. Unproblema-
tisch ist er nur dort, wo Straftaten immer ein Opfer haben sollen, weil
dazu auch die Gesellschaft, der Staat oder die Rechtspflege gerechnet
werdenS5 ; er ist dann allerdings auch nichtssagend und wegen der darin
liegenden übereinstimmung mit dem strafrechtlichen Verbrechensbe-
griff wissenschaftlich nicht weiterführendS!. Tatsächlich ist er genauso
wenig normativ vorgegeben wie der Verbrechensbegriff der Kriminolo-
gieS1, weil es das Ziel sein muß, mit Hilfe eines vom Strafrecht losge-
lösten Verbrechens- und Opferbegriffs an der Formulierung des straf-
Das Opfer wird also als Subjekt weder am Verfahren noch an der
Sanktionierung beteiligt; es ist bloßer Auslöser eines verselbständigten
staatlichen Strafverfolgungsanspruchs, danach sein Objekt zum Zweck
der Realisierung dieses Anspruchs. Im übrigen wird es im Stich gelassen,
da die Sanktion stets ohne Rücksicht auf seine Interessenlage, ja oft-
mals im Widerspruch zu seiner Interessenlage verhängt wird, wenn näm-
lich die Geldstrafe den Schadensersatz unmöglich macht oder der Straf-
vollzug dem Opfer seinen Schuldner buchstäblich wegnimmt.
Außerhalb des deutschen Rechtsraumes sieht es nicht anders aus,
die Behandlung des Opfers in der und durch die Strafrechtspflege ist
ein internationales soziales Problem. Die Beispiele für Versuche, dem
abzuhelfen, sind mittlerweile unübersehbar. Sie betreffen etwa die Kri-
minalisierung der ehelichen Vergewaltigung und der ehelichen Gewalt,
eine Änderung der Beweisregeln in Vergewaltigungsfällen zum Schutz
der Frau, eine Erweiterung der Meldepflicht bei Kindesmißhandlung,
die Einführung eines Pflichtanwalts für mißhandelte Kinder, die Ver-
wendung von Videoaufnahmen der Zeugenvernehmung zur Vermei-
dung traumatischer Begegnungen mit dem Täter im Gerichtssaal oder
den Ausschluß der Öffentlichkeit während der Zeugenaussage47 •
Aus Deutschland ist einstweilen nicht viel mehr zu berichten, als daß
der Unterausschuß der Justizministerkonferenz "Richtlinien für das
Strafverfahren und das Bußgeldverfahren" beschlossen hat, im Inter-
esse eines verstärkten Opferschutzes im Strafverfahren bestimmte Re-
gelungen aufzunehmen, um unnötige Belastungen des (wohl auch der)
Verletzten möglichst zu vermeiden. Immer unter dem Vorbehalt, daß der
Untersuchungszweck nicht gefährdet wird, soll gestattet werden können,
daß der oder die Verletzte bei der Vernehmung eine Person des Ver-
trauens hinzuzieht. Die Berücksichtigung der Persönlichkeitsrechte in
Abwägung des Interesses der Öffentlichkeit an einer vollständigen Be-
richterstattung wird auf die Verletzten ausgedehnt, ebenso soll die Öf-
fentlichkeit ausgeschlossen werden, wenn ihr Interesse am Schutz des
persönlichen Lebensbereichs überwiegt48 • Im übrigen liegt ein Gesetz-
entwurf der Opposition vor, wonach die eheliche Vergewaltigung unter
Strafe gestellt werden soll, auch soll dem Opfer bei Straftaten gegen die
sexuelle Selbstbestimmung auf seinen Antrag ein Rechtsanwalt als Bei-
stand bereits im Vorverfahren beigeordnet werden; dieser soll die Rechte
2. Kriminalpolitische Aspekte
Eine der Konsequenzen hieraus wäre die Umformulierung des Sank-
tionensystems in dem Sinne, daß die Wiedergutmachung hierin ihren
Platz fände. Hierzu wurde schon ein eigener Vorschlag gemacht, der auf
eine Verschränkung von Strafe und Wiedergutmachung hinausläuft;
letztere sollte die Strafe danach ganz, teilweise oder, in besonders schwe-
ren Fällen, gar nicht ersetzen können65 • Gleichzeitig bedeutete dies die
Absage an alle Modelle einer Kumulierung von Strafe und Schadens-
ersatz, wie sie im deutschen Adhäsionsverfahren, in der französischen
action dvile oder in der bisherigen britischen compensation order zu
finden sind.
Die Schadenswiedergutmachung als strafrechtliche Sanktion wird in
den letzten Jahren zunehmend diskutiert und findet in empirischen Be-
fragungen eine überraschend breite Zustimmung. Einige Staaten sind
dazu übergegangen, die entsprechenden legislativen Vorkehrungen zu
treffen, etwa Kanada mit dem Gesetzentwurf "Bill C-19", wonach die
Schadenswiedergutmachung Vorrang vor der Geldstrafe bekommen
kann, wenn die finanziellen Mittel des Täters beschränkt sind 66 ; oder
64 Vgl. Sebba, The Victim's Role in the Penal Process: A Theoretical Orien-
tation, The American Journal of Comparative Law 1982, 217 - 240, wo ein
"Social Defense-Welfare Model" vorgeschlagen wird, das die strafrechtliche
Opfer-Täter-Konfrontation vermeiden helfen soll. Statt dessen solle der Staat
eine kritische und vermittelnde Rolle gegenüber jeder Partei spielen und sich
bemühen, die vom Täter ausgehende Bedrohung der Allgemeinheit ebenso zu
kontrollieren wie die Bedürfnisse des Opfers zu berücksichtigen. Vgl. hierzu
auch Krauß (Anm.53), S.48 sowie Naucke, Die Sozialphilosophie des sozial-
wissenschaftlich orientierten Strafrechts, in: Hassemer/LüderssenlNaucke
(Anm.54), S. 1 - 38, 32: "Das sozial wissenschaftlich orientierte Strafrecht
schwankt zwischen Täter und Opfer" - um sie und ihre Interessen eines Ta-
ges zu integrieren, möchte man hinzufügen.
65 Sessar, Schadenswiedergutmachung in einer künftigen Kriminalpolitik,
in: Kriminologie - Psychiatrie - Strafrecht, Festschrift für Heinz Leferenz,
1983, S. 145 - 161.
66 Art. 667 Bill C-19, Criminal Law Reform, 1984 (Erste Lesung 7. Februar
1984).
über das Opfer. Eine viktimologische Zwischenbilanz 1155
Großbritannien mit der ""Criminal Justice Bill" von 1982, wo zum einen
ebenfalls dieser Vorrang festgelegt, zum anderen, darüber hinausgehend,
die Schadenswiedergutmachung (compensation) zur selbständigen Sank-
tion erhoben wird: "A compensation order will rank as a sentence in
its own right and not as an adjunct to some other sanction where the
court considers this appropriate87 ."
Unter diesem Eindruck wurde in einer derzeit durchgeführten empirischen
Untersuchung zur Akzeptanz der Schadenswiedergutmachung als Sanktion
des Strafrechts u. a. folgende Frage aufgenommen88:
Der Richter hat einen Diebstahl abzuurteilen. Er möchte, daß der Täter
eine Geldstrafe von 1 000 D-Mark zahlt (die in die Staatskasse fließen). Er sieht
aber, daß das Opfer mit seinem Schaden, der auch annähernd 1 000 D-Mark
beträgt, leer ausgehen würde; denn der Täter könnte nicht beides zahlen.
Nehmen wir an, der Richter könnte zwischen folgenden Möglichkeiten wäh-
len. Zu welcher würden Sie ihm raten?
Der Richter soll den Täter
- zu einer Geldstrafe in Höhe von 1 000 D-Mark verurteilen
- zu einer Geldstrafe von 500 D-Mark und zur Entschädigung des Opfers
in Höhe von 500 D-Mark verurteilen
- statt zu einer Geldstrafe zur Entschädigung des Opfers in Höhe von
1000 D-Mark verurteilen.
Von den inzwischen ausgezählten Probanden (N = 703) waren 16 % für die
mittlere und 75 % für die letztere Lösung; 9 % vertraten die uneingeschränkte
Geldstrafe.
Die Schadenswiedergutmachung hat ihre Chance, wie viele empiri-
sche Untersuchungen belegen, auch bei Opfern, die am Strafverfahren in
erster Linie zum Zweck der Anerkennung ihrer Lage und Bedürfnisse
beteiligt werden möchten, regelmäßig nicht, um den Täter schwer be-
straft zu sehen. Nach der Untersuchung von Shapland steht bei der
Strafzumessung der Schadensersatz im Vordergrund, der als materielle
und symbolische Wiedergutmachung "in einem ursprünglichen Sinn"
verstanden wird. Für die von ihr untersuchten Opfer von Gewalttaten
war es daher wesentlich, daß die Wiedergutmachung im Urteil vorrangig
87 Clause 44, Criminal Justice Bill 1982; hierzu näher BZom-Cooper, Crime
and Redress: Theory, Policy and Practice, in: ThorvaZdson (Hrsg.), Crime and
Redress: National Symposium on Reparation by Offenders, 1983 (unveröffent-
lichtes Manuskript). Nichts kennzeichnet den Wandel in den vergangenen
Jahren mehr als dieser Gesetzentwurf, vergleicht man ihn mit der "Powers of
Criminal Courts Act" von 1973, die die Schadenswiedergutmachung zusätzlich
zur strafrechtlichen Sanktion einführte; denn damals hieß es: "Compensation
orders were not introduced into our law to enable the convicted to buy them-
selves out of the penalties of crime" (vgl. Sesfjar [Anm. 65], S. 147).
88 Empirische, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützte
Untersuchung zur "Wiedergutmachung als alternativer Sanktionsansatz" , mit
einer allgemeinen Bevölkerungsbefragung (N = 4400), sowie der Befra-
gung von Angehörigen der Strafjustiz (Richter, Staatsanwälte, [Jugend] Ge-
richtshelfer und [Jugend] Bewährungshelfer), von Anwälten, Schiedsleuten,
Studenten sowie von Tätern und Opfern.
73·
1156 Klaus Sessar
berücksichtigt wurde und daß sie vom Täter, erst in zweiter Linie vom
Staat (als Opferentschädigung), geleistet wurde. Ihrem Symbolcharakter
entsprach auch, daß sie primär als Teil der Strafe und nicht als privat-
rechtlich geschuldete Leistung angesehen und auch nicht in voller Höhe
beansprucht wurde, wenn der Täter ohne Mittel ware8 •
Welche Entwicklung das deutsche Strafrecht nehmen wird, ist noch
nicht abzusehen, die Diskussion hat erst begonnen, doch mehren sich
die Stimmen, die einer Wiedergutmachung unter strafrechtlichen Aspek-
ten das Wort reden, ohne das Adhäsionsverfahren wieder aufleben las-
sen zu wollen70 • Der 55. Deutsche Juristentag hat hierzu zusätzliche Bei-
träge gebracht, die nun ausgewertet werden müssen.
IV. Schlußbemerkung
Es sollte deutlich gemacht werden, daß das Opfer dabei ist, mit Hilfe
der Viktimologie in den Kriminalwissenschaften seinen Platz einzuneh-
men. Es wird die Kriminalwissenschaften dadurch verändern, weil es
nicht nur ein vergessener, übersehener oder vernachlässigter Faktor in
der Kriminologie und im Strafrecht ist, sondern eine neue Dimension re-
präsentiert, die beide Wissenschaften überhaupt erst mit Raumtiefe
ausstattet.
Und dazu gehört dann auch die jüngste Anstrengung, eine eigene von
den Vereinten Nationen gestützte Opferdeklaration durchzusetzen. Es
liegen zwei Entwürfe vor, die von verschiedenen wissenschaftlichen Or-
ganisationen (z. B. World Federation for Mental Health; US National
Orgamzation forVictim Assistance;World -SocietyofVietimology) und
auf wissenschaftlichen Tagungen (z. B. International Workshop on Victim
Rights, 1984 in Dubrovnik) beraten wurden71 • Sie sind Bestandteil eines
eigenen Entwurfs der Vereinten Nationen, der in der Abteilung "Vic-
tims of Crime" auf dem 7. United Nations Congress on the Prevention
of Crime and the Treatment of Offenders (1985 in Mailand) zur Beratung
und Abstimmung vorgelegt werden wird?!.
Wie immer man zu diesem oder jenem Schritt steht, unbestreitbar ist,
daß das Opfer für nicht absehbare Zeit das Erkenntnisinteresse in sozial-
und rechtswissenschaftlicher, sozial- und kriminalpolitischer Hinsicht
binden wird.
Einleitung
U Die Zahlenangaben hier und später sind aus Hanzai hakusho sowie aus
Keisatsu hakusho (Weißbuch der Polizei) entnommen.
Informelle Sozialkontrolle in Japan 1167
74·
1172 Koichi Miyazawa
Ihr mit?"). Der Lehrer benutzt die Wörter "meinem Zimmer" bzw.
"kommt Ihr", denn der meue kann dem meshita gegenüber das Per-
sonalpronomen ohne weiteres gebrauchen. Entsprechende Sprachge-
bräuche finden sich auch bei der Konjugation der Verben je nach dem
Sozialstatus und dem Geschlecht des Redners. Der japanische Leser
eines Romans weiß deshalb beispielsweise sofort, ob der Redner männ-
lich oder weiblich ist, wenn er die Ausdrucksweise der Verben und
das Personalpronomen der 1. Person sieht.
Wir können die japanische Mentalität, die sich in den Sprachgebräu-
chen genau widerspiegelt, wie folgt umschreiben: Wenn ein J apaner
seinen Willen äußern will, versucht er zuerst zu erkennen, wer der-
jenige ist, der vor ihm steht. Dann wählt er die traditionsgemäß zu
dem sozialen Statusverhältnis zwischen ihm und dem anderen passende
Ausdrucksform, d. h. die seiner Klasse entsprechende Sprache. Er
unterwirft sich also immer den sprachlichen Riten. Anders als im
angloamerikanischen und europäischen Sprachraum muß man sich in
der japanischen Sprache diesen sprachlichen Gesetzen unterwerfen.
Wählt man unpassende Ausdrücke und will man seine Ansicht gar mit
frecher Haltung geltend machen, dann wird dies zwar bestimmt mit
leichtem Lächeln aufgenommen; letztlich wird der Betreffende aber
aus der sozialen Gruppe ausgeschlossen. Da niemand versuchen darf,
eine Individualität durchzusetzen, müssen Japaner sehr vorsichtig sein,
wenn sie individualisierende Meinungen vor Fremden oder vor Per-
sonen, die "meue" sind, äußern. Deshalb kann sich der Individualis-
mus im eigentlichen Sinne nur schwer eine feste Basis im japanischen
Gesellschaftsleben schaffen. Einstellungen zu Gewissensfragen, die
allzu deutlich den Konventionen der "meue"-Klassen widersprechen,
kann man kaum äußern, ohne daß man als unhöflicher, frecher Kerl
stigmatisiert wird.
Zu unserem Rechtsleben ist noch von weiteren unserem Volk eigen-
tümlichen Verhaltensweisen zu berichten. Gustav Radbruch hat in sei-
ner "Vorschule der Rechtsphilosophie" die deutsche und die englische
Rechtsmentalität mit konkreten Beispielen vergleichend dargestellt:
"Auf jeden ästhetisch fühlenden Menschen haben bei der Würdigung
juristischer Erkenntnisse auch ästhetische Werte Einfluß: Werte der
Symmetrie in der Systematik, bevorzugte und minder beliebte Zahlen
der Einteilungen, Verschmähung von Zickzacklinien und Bevorzugung
bruchloser Kurven bei der Darstellung historischer und logischer Ent-
wicklungen. Solche ästhetische Wirkung kann zur Gefahr werden, wie
an dem Gegensatz deutschen und englischen Denkens gezeigt sein
möge. Das englische Denken verwirft, wie im Recht so auch in der
Politik, weit vorausschauende Planung, es wartet die Entwicklung der
Dinge ab, um sich dann durch die Situation belehren zu lassen, und
Informelle Sozialkontrolle in Japan 1173
seine Stärke liegt darin, ohne Scheu vor dem Herumwerfen des Steu-
ers, vor dem unschönen Bilde eines Zickzackkurses, das jeweils Not-
wendige zu tun. Demgegenüber ist der Deutsche geneigt, wenn der
erste Westenknopf falsch zugeknöpft ist, auch den zweiten, dritten und
letzten im selben Sinne weiter zu knöpfen, die einmal gewählte Linie
stur festzuhalten, nicht nur aus Folgerichtigkeit, sondern auch aus
ästhetischem Bedürfnis nach der geschwungenen Kurve und der un-
gebrochenen Linie. Aber Eleganz der Lösung ist allzu oft nur ein sehr
trügerisches Symptom für ihre RichtigkeitM."
Ich möchte dieses Gleichnis der Westenknöpfe für den Fall Japans
fortführen. Sie kennen das Wort "kimono". Der Kimono ist eine tra-
ditionelle Männer- und Damenkleidung. Er hat keine Knöpfe; statt
dessen trägt man einen Gürtel. Man kann bei diesem Kleidungsstück
also je nach Umfang des Bauches oder der Brust die Seiten übereinander-
schlagen und die Weite mit dem Gürtel regulieren. Für Japaner er-
scheint diese flexible Lösung sehr angenehm; der ästhetische Gesichts-
punkt wird von der gesamten Gestalt her beurteilt, nicht von den
einzelnen Punkten. Formlose Form entspricht unserem Sinn am besten.
Wir J apaner sprechen wenig und möchten immer viele Spielräume
übriglassen. Im Vergleich mit einem europäischen Ölbild zeichnet
unser Pinselmaler sehr wenig und läßt auf dem Papier viele weiße
Stellen frei. Im Gespräch und in der Sprache findet sich dasselbe
Phänomen: Wir müssen zwischen den Zeilen lesen, in den Gesichts-
zügen des Gegenübers erkennen, was er wünscht und was nicht.
Schlußbemerkungen
Wie ich anhand von Beispielen erläutert habe, spielt die informelle,
aber tatsächlich wirksame Sozialkontrolle in Japan eine große Rolle.
Die Bevölkerung richtet sich lieber nach ihr als nach den formellen
Gesetzen. Untersucht man die Praxis und die tatsächliche Vorgehens-
weise der Instanzen der formellen Sozialkontrolle genauer, so läßt sich
feststellen, daß die staatlichen Systeme der Verbrechenskontrolle in
Japan auf das Funktionieren der informellen Sozialkontrolle ver-
trauen. Folgende Daten veranschaulichen diese Behauptung: Auf einen
japanischen Polizisten kommen durchschnittlich etwa 550 Einwohner,
auf seinen amerikanischen Kollegen kommen 363, auf seinen bundes-
deutschen 317 und auf seinen französischen Kollegen 280 Einwohner.
Japan l;1at etwa 120 Millionen Einwohner, jedoch nur 2800 Richter,
2 000 Staatsanwälte und etwas mehr als 12 500 Rechtsanwälte. Wir
haben nur 900 berufsmäßige Bewährungshelfer, während 50 000 Frei-
1 Zitiert bei Finker, Stauffenberg und der 20. Juli 1944, 1977, S. 344.
2 Zitiert bei Graf Schwerin von KTOsigk, Es geschah in Deutschland,
3. Aufl. 1952, S. 345.
1176 Wolf Middendorff
Es ist kein Wunder, daß über Stauffenberg und den 20. Juli Arbeiten
erschienen sind, die sich stark voneinander unterscheiden. Eberhard
Zellers Buch erinnert an ein Heldenepos und eine Heiligenlegende.
Zeller wehrt jede Kritik mit dem Hinweis auf "betrachtungsbeflissene
Historiker" abU. Hans Bernd Gisevius läßt Ressentiments gegen Stauf-
fenberg erkennen, er fühlte sich mehr zu den "Polizisten", dem Polizei-
präsidenten von Berlin Graf von Helldorf und Reichskriminaldirektor
Nebe hingezogena. Die umfassendste Darstellung der gesamten Wider-
standsbewegung hat Peter Hotfmann geschrieben, und er übt auch vor-
!~~~i&e Kritik15 • Kurt Finker reklamiert Stauffenberg für die DDRI8 •
Der Schweizer Historiker Christian Müller hat mit jenem von der
amerikanischen Historikerin Barbara Tuchman geforderten Abstand17
des neutralen Beobachters die wohl beste Biographie Stauffenbergs
verfaßtl8 •
Es ist überhaupt ein Zeichen unserer Zeit, daß Historiker sich wieder
mehr der Biographie zuwenden im Sinne eines Wortes des englischen
Poeten Pope, das Goethe sich zu eigen gemacht hatte und das der So-
ziologe Max Graf zu Solms als Motto für seine Forschungen aufgriff:
m. Das Attentat
nicht, weil nach dem Willen mehrerer Generäle das Attentat nur bei
gleichzeitiger Anwesenheit von Himmler und Göring stattfinden sollte".
Am 15.7.1944 flog Stauffenberg mit seinem Chef, dem Befehlshaber
des Ersatzheeres Generaloberst Fromm, nach Rastenburg in das dorthin
verlegte Führerhauptquartier Wolfsschanze. Wieder hatte er den
Sprengstoff mitgenommen, zündete die Bombe aber nicht, sondern rief
seinen Freund, den Oberst i. G. Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim, in
Berlin an. Als Stauffenberg nach einer quälenden halben Stunde zum
Lageraum zurückkehrte, gab es für ihn keine Möglichkeit mehr, Hitler
zu erreichen.
über den Grund für dieses Telefongespräch gibt es verschiedene
Versionen. Vielleicht hatte Stauffenberg keine klare Weisung bezüg-
lich der Anwesenheit von Himmler und Göring oder einem von beiden
erhalten. Auch während Stauffenbergs Anruf mußte Mertz von Quirn-
heim anscheinend mehrfach rückfragen, und dadurch dauerte das Ge-
spräch viel zu lange. Auf der anderen Seite hatte Stauffenberg häufig
bewiesen, daß er auch ohne ausdrücklichen Befehl handeln konnte und
wollte, war er doch Seele, Motor und Mittelpunkt des militärischen
Armes der Verschwörung. Am Ende des Gesprächs, das Mertz von
Quirnheim seiner Frau am selben Tage berichtete, sagte Stauffenberg:
"Ali, Du weißt, daß es letztlich nur eine Angelegenheit zwischen Dir
und mir ist, was sagst Du?" Und der Freund habe geantwortet:
"TU'SS7!"
Es ist auch möglich, daß Stauffenberg, wie Generaloberst Beck ge-
äußert haben soll, den "Sprung verweigert" habe und nicht durch
äußere Umstände, sondern durch seine Nervosität nicht zum Zuge ge-
kommen sei38 •
MachiaveZli sagte einmal aus seinen Erfahrungen über die Erfolgs-
aussichten bei Verschwörungen: "Mag ein Mensch noch so kaltblütig
und noch so gewöhnt sein, andere umzubringen und die Waffen zu
handhaben, er wird bei einer solchen Gelegenheit (der Ausführung
eines Attentats) immer aus der Fassung geraten38 ." Stauffenberg hatte,
soweit wir wissen, nie eigenhändig getötet. HofJmann weist auf den
Widerspruch hin, daß die "Verschwörer, die Hitler den Tod wünschten,
ihn auch hätten umbringen können, wenn sie dazu psychisch fähig ge-
wesen wären"'o.
getötet oder verletzt. Hitler äußerte sich gegenüber dem Leiter der
Reichszentrale zur Bekämpfung der Kapitalverbrechen, dem Kriminal-
rat Wehner, der zu Ermittlungen in das Führerhauptquartier beordert
worden war: "Was sagen Sie zu dem Wunder, daß mir nichts passiert
ist? Ist es nicht ein Wunder46 ?" Diese Erklärung wurde auch bei der
Ansprache des Reichsmarschalls Göring an die Luftwaffe in der Nacht
vom 20. auf den 21. 7.1944 aufgenommen: "Der Führer wurde durch
die allmächtige Vorsehung wie durch ein Wunder gerettet."
Oben wurde schon ausgeführt, daß bei Sprengstoffattentaten der-
artige Mißerfolge sich im Rahmen der kriminologischen Erfahrungen
bewegen. Auch allgemein führen von allen mit den verschiedensten
Waffen geplanten, versuchten und durchgeführten Attentaten nur die
wenigsten zum Tode der gewollten Opfer. Die Dunkelziffer der unter-
lassenen und verhinderten Attentate ist wahrscheinlich groß.
war eher zum Wissenschaftler als zum Offizier geboren. Ist sein Ent-
schluß, Offizier zu werden, noch aus der Familientradition verständlich,
so fällt mir die Erklärung schwer, warum er auch später Offizier ge-
blieben ist. Ich kann es nur so verstehen, daß die Arbeit als General-
stabsoffizier, die er tat, mehr der wissenschaftlichen Tätigkeit nahe-
stand, während der er mit dem Handwerk des Tötenmüssens nicht
unmittelbar in Berührung kam48 ." In diesem Zusammenhang ist viel-
leicht an das Zögern am 15. Juli 1944 zu denken.
Am 1. 5.1933 wurde Stauffenberg Oberleutnant. Für die Wehrkreis-
prüfung unterzog er sich einer Militärdolmetscherprüfung in englischer
Sprache. Seine Leistungen wurden mit einem Preis belohnt, mit dem
er eine Reise nach England finanzierte. Am 1. 10. 1936 wurde Stauffen-
berg zur Generalstabsausbildung abkommandiert, man nannte ihn dort
unter den Kameraden den neuen Schlieffen. Am 1. 1. 1937 wurde
Stauffenberg Rittmeister.
Stauffenberg war gerne Soldat; bei Ausbruch des Zweiten Weltkrie-
ges äußerte er, der Krieg sei ja schließlich sein Handwerk von Jahr-
hunderten her49 • Den Einmarsch ins Sudetenland und den Polenfeldzug
machte er mit der 1. Leichten und späteren 6. Panzerdivision mit. Im
Westfeldzug war er I b der Division; seine Frau sagte 30 Jahre später
über seine Haltung zu dieser Zeit: "Wenn man mitten im Geschehen
steckt, wenn man Erfolge hat, ist es klar, daß man davon auch getra-
gen wird. Nur sobald er Zeit hatte, darüber nachzudenken, kam ihm
die Sache doch sehr unheimlich vor." Ende Mai 1940 wurde Stauffen-
berg in die Organisationsabteilung des Generalstabs des Heeres ver-
setzt. Im April 1941 wurde er Major und am 1.1. 1943 Oberstleutnant.
In diesem Jahr wurde er als I a zu einer Panzerdivision nach Tunis
versetzt und dort bei einem Tieffliegerangriff am 7.4.1943 schwer ver-
letzt. Er verlor ein Auge, die rechte Hand und die beiden letzten Fin-
ger der linken Hand. Zum 1. 10. 1943 wurde Stauffenberg Chef des
Stabes bei General Olbricht im Allgemeinen Heeresamt in Berlin, und
am 1. 7.1944 als Oberst Chef des Stabes beim Befehlshaber des Ersatz-
heeres.
In seinen Stabsstellungen begann Stauffenbergs Entwicklung zum
Verschwörer gegen das Regime, und schließlich festigte sich in ihm die
überzeugung von der Notwendigkeit der Beseitigung Hitlers. Diese
Entwicklung wurde begünstigt durch Erlebnisse, Erfahrungen und
geistige Einflüsse seiner frühen Jahre. Stauffenberg las in seiner
Jugend Rudolf G. Binding, Oswald Spengler, Hölderlin und Walter
Flex und fühlte sich zu dem Kreis um Stefan George hingezogen.
75·
1188 Wolf Middendorff
53 Müller (Anm. 8), S. 296; siehe auch HofJmann (Anm. 15), S. 394.
M Prinz von der Leyen, Rückblick zum Mauerwald, 2. Aufl. 1966, S. 141
und 164.
Claus Graf Schenk von Stauffenberg 1189
Hosen voll oder Stroh im Kopf, sie wollen nicht~~!" Bei anderer Gele-
genheit sprach er davon, daß dann, wenn jemand in Amt und Ehre und
einen führenden Rang rücke, er an einen Punkt komme, wo er für den
Sinn des Ganzen zu stehen habe. Wenige verhielten sich jedoch so
oder empfänden auch nur die Notwendigkeit: "Bürger, Pfründner,
Teppichleger im Generalsrang. Man beziehe sein Einkommen, tue seine
,Pflicht', vertraue auf den Führer und freue sich auf den Urlaub - auf
wen sollte das Vaterland denn noch bauen55 ?"
Was Stauffenberg über die Feldmarschälle sagte, galt nicht "mehr
ganz genau" für Feldmarschall Rommel; dieser war kritischer und
auch bereit, mit der Widerstandsbewegung zusammenzuarbeiten,
lehnte allerdings ein Attentat ab. Christian Müller urteilt über Rom-
mel: "Er war überhaupt nur sehr begrenzt zum Umsturz bereit und
gehörte, wie eben so viele Offiziere und Feldmarschälle, .zu den - von
der Konspiration ausgesehen - hoffnungsvollen, potentiellen Mit-
läufern, die nach erfolgtem Umsturz mitmachen und gerne wieder Be-
fehle entgegennehmen würden57 ."
1943 sagte General Hoßbach, der als Oberst und Adjutant Hitlers
diesem so widersprochen hatte, wie es später wohl kein General mehr
gewagt hat58 , seinem Begleitoffizier, dem Historiker und späteren Pro-
fessor in Karlsruhe, Bußmann: "Merken Sie sich das als Historiker; so
sind die Generäle des Zweiten Weltkriegs; sie haben Angst um ihren
eigenen Kopfs8 ."
Die Marschälle und Generäle im Zweiten Weltkrieg waren alle ein-
mal Obersten gewesen, viele hatten im Ersten Weltkrieg tapfer ge-
kämpft; ihre spätere Haltung, die von weithin mangelnder Zivil-
courage gegenüber Hitler und SChwanken und Entschlußlosigkeit
gegenüber der Widerstandsbewegung gekennzeichnet war, hängt sicher
auch mit ihrem fortgeschrittenen Alter zusammen. Anzufügen ist, daß
es Konflikte zwischen den Generationen immer gegeben hat und daß
Kritik an hohen Militärs auch immer geäußert wurde; ein historischer
Vergleich drängt sich auf: Prinz Louis Ferdinand von Preußen, "Künst-
ler - Held - Politiker - und eine geniale Natur"80, wurde auch der
Jakobiner genannt. 1806 inspirierte er eine Denkschrift an den preu-
ßischen König, in der es "im Klartext" heißt, das Kabinett des Königs
55 Müller (Anm. 8), S. 280.
58 Müller (Anm. 8), S. 258.
57 Müller (Anm. 8), S. 421 - 422.
81 Kleßmann, Prinz Louis Ferdinand von Preußen, 1772 - 1806, 1978, S. 209 -
210.
82 Kleßmann (Anm. 61), S. 218 - 219, 222.
83 atto (Anm. 50), S. 177.
st von Treitschke, Der Untergang des Ersten Reiches, 1942, S. 328.
85 von Gersdorff (Anm. 45), S. 201.
Cl aus Graf Schenk von Stauffenberg 1191
Thomas von Aquin auf der Höhe des Mittelalters feststellte, "daß die
,virtuosi', die Tugendhaften, eine kleine Minderheit darstellen67 ."
Nach dem Mißlingen des Staatsstreichs vom 20. Juli 1944 hat Stauf-
fenberg mit unbeschreiblich "trostlosem Gesicht" zu einer Sekretärin
gesagt: "Sie haben mich ja alle im Stich gelassen'S!"
Im SS-Bericht über den 20. Juli, den der SS-Obersturmbannführer
Dr. Georg Kiesel (auch Kießel) abgefaßt hat, heißt es über Stauffen-
berg: "Von unbedingt lauterem Charakter, war er rückhaltlos zu jedem
Opfer bereit ... Seine Persönlichkeit fiel völlig aus dem militärischen
Rahmen. Er war in seiner elementaren, seelischen, geistigen und phy-
sischen Konstruktion ein echter Revolutionär69 ." Es ist sehr schwierig,
zu sagen, was genau einen Revolutionär ausmacht; auch die Definition,
,Revolution' sei ein "geschichtlich bedeutsamer plötzlicher Bruch mit
der Tradition und Vergangenheit", hilft nicht viel weiter70 • Auf der
anderen Seite wurden die Verschwörer vom 20. Juli, insbesondere die
Offiziere, gerade deshalb kritisiert, weil sie keine "gelernten Revolutio-
näre" gewesen seien71 • Viele hielten sich auch nicht für Revolutionäre;
Generaloberst Halder und Feldmarschall von Witzleben haben sich,
nach Gisevius, gegenseitig gelobt, nach gelungenem Putsch sofort ihren
Abschied zu fordern, weil revolutionäres Handeln das Wesen des Sol-
datenturns gefährde72 •
Es sei angefügt, daß der Historiker Lothar Gall 1980 seiner Biogra-
phie über Bismarck den Untertitel "Der weiße Revolutionär" gab.
Hans von Hentig hat sich aus kriminologischer Sicht im Zusammen-
hang mit der Französischen Revolution mit der Persönlichkeit der
Revolutionäre befaßt und ist zu dem Schluß gekommen, daß die Füh-
rer von Revolutionen nicht aus der Schicht der sogenannten Kleinen
Leute, sondern vielmehr aus zwei Berufen, dem der Rechtsanwälte und
dem der Lehrer, kommen73 •
Nach alledem war Stauffenberg - kriminologisch betrachtet - ein
stark atypischer Attentäter, und man wird ihn wohl auch kaum als
Revolutionär bezeichnen können. Stauffenberg war ein reiner Über-
66 Maehiavelli (Anm. 39), S. 149.
67 Sehällgen, Römer 13, 1 - 7 in
der Sicht der katholischen Moraltheologie,
Sonderdruck, S. 149.
6S HotJmann (Anm. 15), S. 622.
69 SS-Bericht über den 20. Juli, Nordwestdeutsche Hefte, 1 - 2,1947, S. 17.
70 FraenkeUBraeher (Hrsg.), Staat und Politik, Fischer Lexikon, 1959, S. 264.
S.264.
71 Prinz von der Leyen (Anm. 54), S. 153.
72 Zitiert bei Ritter (Anm. 20), S. 479.
73 von Hentig, Terror, 1971, S. 14 - 15.
1192 Wolf Middendorff
ein kleines Mädchen gebeten, das Pferd am Zügel zu halten, das vor
den Karren mit dem Schießpulver gespannt war. Das Mädchen wurde
durch die Explosion zerrissen. Der Attentäter selbst konnte entkom-
men, wurde Priester, wanderte nach Amerika aus und versuchte ein
Leben lang, seine Tat zu sühnen7t •
Hitler war zwar meistens sehr gut bewacht, es gab aber auch "reich-
lich Möglichkeiten für erfolgreiche Attentate"80. In seinen "Tischge-
sprächen" sagte Hitler, gegen Idealisten unter den Attentätern gebe es
keinen hundertprozentigen Schutz, er stelle sich daher ruhig aufrecht
in den Wagen, dem Mutigen gehöre die Welt. Bei den beiden Atten-
taten, die sein Leben wirklich ernstlich gefährdet hätten, sei er nicht
durch die Polizei, sondern durch ausgesprochene Zufälle gerettet wor-
den, so sei er beim Bürgerbräutreffen am 9.11.1939 nur deshalb dem
Attentat entgangen, weil er vor der festgesetzten Zeit aufgebrochen
sei81 • Zeller glaubte, an Hitler einen "Raubtierinstinkt für die eigene
Sicherheit" feststellen zu können,. Hitler habe eine meist untrügliche
Witterung dafür gehabt, ob die ihm gegenübertretenden Menschen
seiner Einwirkung unterlagen oder nichtS!. Nicht erklärlich ist jeden-
falls bis heute das Mißlingen des Attentats, das von Gersdorff beab-
sichtigt hatte. von Gersdorff wollte sich am 21. 3. 1943 im Zeughaus in
Berlin zusammen mit Hitler während des Besuchs einer Ausstellung
in die Luft sprengen. Hitler hielt jedoch den vorgesehenen Zeitplan
der Besichtigung nicht ein, sondern verließ die Ausstellung schon nach
nur 2 Minuten. von Gersdorff hatte den Zünder seiner Haftmine auf
10 Minuten eingestellt und konnte den Zünder wieder "loswerden"sa.
Fest steht jedenfalls, daß Hitler in ständiger Furcht vor Vergiftung
lebte84 , auf der anderen Seite aber schien er nicht zu befürchten oder
gar nicht daran zu denken, daß seine dauernd auf einem Seitentisch
stehende Magenmedizin vergiftet werden könnte85 • Es ist wohl keinem
der Offiziere, die der Verschwörung vom 20.7.1944 angehörten, der
Gedanke gekommen, zu versuchen, sich eines derartigen Mittels für ein
Attentat zu bedienen.
Will Berthold schätzt die Zahl der gegen Hitler geplanten und ver-
suchten Anschläge auf 42 88 • General de Gaulle überlebte 30 Anschläge;
er schien den Bemühungen um seine Sicherheit keine große Beachtung
78 Sieburg, Helden und Opfer, 1960, S. 55 ff.
80 Hoffmann (Anm. 33), S. 249.
81 Picker, Hitlers Tischgespräche, 1951, S. 232 und 230.
81 Zeller (Anm. 9), S. 330.
83 von GersdorfJ (Anm. 45), S. 130 - 132.
8' Hoffmann (Anm. 33), S. 223.
8S Picker (Anm. 81), S. 36.
86 Berthold, Die 42 Attentate auf Adolf Hitler, 1981".
1194 Wolf Middendorff
Hans-Heinrich Jescheck
und die österreichlsche Strafrechtswissenschaft
(und schon vor dem neuen StGB spielten), wird einer besonderen Her-
vorhebung bedürfen.
Schließlich basiert die bei ihm jederzeit präsente Rechtsphilosophie,
Sozialethik und Psychologie neben den antiken und klassischen deut-
schen Autoren in nicht geringem Maße auf den österreichischen For-
schungsarbeiten von KTatft-Ebing, Siegmund FTeud, ViktoT E. Frankl
und Friedrich Stumpfl, als deren exzellenter Kenner er sich erweist.
I. Persönliches
Ehe wir aber dazu übergehen, die wichtigsten der hier andeutungs-
weise genannten Materien einer übersichtlichen - und, soweit dies der
zur Verfügung stehende Raum erlaubt, umfassenden - Darstellung
zuzuführen, sei es gestattet, einige sehr persönliche Betrachtungen vor-
auszuschicken. Nicht daß der Verfasser dieses Beitrages sich anmaßen
würde, eine Biographie oder ein wissenschaftliches Konterfei des Ju-
bilars zu entwerfen; das wird in dieser Festschrift zweifellos von beru-
fenerer Seite her erfolgen. Aber einige Momentaufnahmen, die das
menschliche Nahverhältnis J eschecks zu Österreich beleuchten, seien
hier festgehalten:
Es war im April 1975 in Bellaggio beim ersten Conseil de Direction,
an dem der Verfasser als Vertreter der kurz zuvor beim XI. Kongreß
in Budapest gegründeten österreichischen Landesgruppe der AIDP
teilnahm. Beim Abendessen im kleinen Kreis mit dem unvergeßlichen
Mitarbeiter Professor GeThaTdt GTebing, bei dem vermerkt wurde,
-daß--in eben diesem Bellaggio 1837 die Tochter des burgenländischen
Komponisten Franz Liszt, die später so berühmt gewordene Cosima
Wagner - also eine Nichte Franz von Liszts - geboren wurde, er-
zählte Jescheck in launiger Weise, wie er selbst erstmalig seinen Fuß
auf österreichischen Boden gesetzt hatte. Es war dies während des
Ersten Weltkrieges, als er einige Zeit bei seinen Großeltern im schle-
sischen Reichenstein knapp an der Grenze zu Böhmen - wie dieses
österreichische Kronland damals noch hieß - verbrachte. Im zarten
Kindesalter, es muß wohl in den letzten Monaten der österreichisch-
ungarischen Monarchie gewesen sein, begleitete Hans-Heinrich den
Großvater, der in Österreich Zigarren einkaufte, da sie dort besser und
billiger waren, "hinüber".
Die Kriegsjahre und die erste Zeit nach 1945 waren weder kultur-
geschichtlichen noch rechtswissenschaftlichen grenzüberschreitenden
Kontakten sehr günstig. Nachdem aber schon im Oktober 1960 in
Salzburg ein Symposion über Grundfragen der Strafrechtsreform
von deutschen und österreichischen Gelehrten und Praktikern stattge-
J escheck und die österreichische Strafrechtswissenschaft 1199
ll. Strafrecbtsdogmatik
Gerade der erste Wiener Vortrag Jeschecks leitete nahtlos zu dem
Thema über, das eine der tragenden Säulen (die .Amerikaner würden
sagen, der "guiding principles") im Lebenswerk Jeschecks repräsen-
tiert. Die Dogmengeschichte ist an sich ein so trockener Stoff, daß ihr
auch überzeugte Anhänger der Jurisprudenz lieber aus dem Wege ge-
hen. Nichts von solcher Sprödigkeit aber in der vergleichenden Dar-
stellung der deutschen und österreichischen Rechtslehre: Gleich einem
bunten Bilderbogen reihen sich die einzelnen Epochen des Strafrechts
aneinander, von souveräner Kenntnis der Materie und ebensolcher Sub-
tilität erfüllt. Wenn Jescheck richtig vom "Strafgesetz 1803/1852" spricht,
kommt es dem österreichischen Juristen erst so recht zum Bewußt-
sein, daß jene rund vier Generationen, die unter dem Regime des
Strafgesetzes von 1852 lebten und judizierten, noch die Gedanken
und Vorstellungen Beccarias, von SonnenjeIs' und Feuerbachs vollzo-
gen, da dieses im weiten Umfang Inhalt und Gesetzestext seines noch
unter dem ;,Römischen Kaiser Franz" geschaffenen Vorgängers, des
"Gesetzes über Verbrechen und schwere Polizeiübertretungen von
1803" wörtlich übernahm. So ging etwa die Schuldform des dolus in-
directus bei Totschlag (§ 140) und schwerer Körperverletzung (§ 152),
nämlich die Verantwortlichkeit für einen schwereren Erfolg, der zwar
nicht beabsichtigt, aber mit dem herbeigeführten übel regelmäßig ver-
bunden war, das heißt "daraus gemeiniglich erfolgt oder doch leicht
erfolgen kann", eine Schuldform, mit der österreichische Strafrechtler
noch bis vor zehn Jahren operierten, auf das "versari in re illicita"
des~l. 'rhomas von Aquin zurück. Diese Zusammenhänge aufgedeckt
und fesselnd beleuchtet zu haben, war die Frucht eingehender dog-
matischer und historischer Untersuchungen.
Noch viel größer war aber das Verdienst Jeschecks um die österrei-
chische Lehre, daß er solchen vergleichenden Forschungen einen dau-
ernden Platz in dem von ihm geleiteten Freiburger Institut für aus-
ländisches und internationales Strafrecht einräumte. So stellte sich
sein damaliger Assistent und Österreich-Referent des Instituts, Dr.
Reinhard Moos, die Aufgabe, den Sinn und StrukturwandeI des Ver-
brechensbegrijJs in Österreich in einer weiter zurückliegenden Zeit
zu verfolgen. 1968 erschien das Standardwerk "Der Verbrechensbe-
griff in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert". Es schildert die wis-
senschaftliche Befassung mit dem Verbrechen in der Ära des Natur-
rechts, vom Humanismus bis zur Aufklärung, die Zeit der Constitutio
Criminalis Theresiana und der Josefina, den Verbrechensbegriff bei
Martini, ZeiZler und dem Strafgesetz von 1803/1852. Es entreißt Namen,
wie von Beck, Banniza, Hupka, JenuZl, Kitka, WahIberg und viele an-
Jescheck und die österreichische Strafrechtswissenschaft 1201
76·
1204 Viktor Liebscher
IV. Gesetzgebung
u Anm.26.
Jescheck und die österreichische Strafrechtswissenschaft 1211
v. Rechtsprechung
VI. Remtsethik
Alle diese Einzeldisziplinen des Strafrechts wären, soviel sie für den
wissenschaftlichen Fortschritt an sich bedeuten mögen, ein Torso, wür-
den sie nicht durch das einigende Band dieses Lebenswerkes zusam-
mengeschweißt: die sittlichen Werte und die Besinnung auf die sitt-
as Jescheck, Lehrbuch, Allg. Teil, 1. Auft. 1969, S. 201 f.; siehe auch ders ..
Allg. Teil, 2. Auft. 1972, S.222 f.; BGHSt. 2, 194, 201.
38 Pallin, ZStW 84 (1972), S.201; LeukauflSteininger, 2. Auft. 1979, § 5
Rdn. 15; Liebscher, ZfRV 1970, 188.
40 Festschrift für Erik Wolf, 1972, S. 482 ff. Über den Zusammenhang dieser
Formel mit der Rechtsprechung des Schweizer Bundesgerichts siehe Ger-
mann, ZStW 71 (1959), S. 161, und ders., SchwZStr. 77 (1961), S. 378 ff.
41 JBl 1971, 239; siehe auch ders., Die Bewußtseinsform des Vorsatzes, 1964,
S.62 Fn.23.
J escheck und die österreichische Strafrechtswissenschaft 1213
Wie für den Einzelnen so ist für die Völker der Um-
gang mit andern ein unentbehrliches Lebenselement.
Die Gesetzgebung darf nicht zur chinesischen Mauer
werden. Eugen Huber
Der Strafrichter kommt bei seiner Tätigkeit öfters mit dem Recht
eines anderen Staates in Berührung. Zu berücksichtigen ist eine fremde
Rechtsordnung beispielsweise beim Erfordernis der beidseitigen Straf-
barkeit im Rahmen der Auslieferung1 oder bei der Gewährung von
Rechtshilfe 2 • Für den schweizerischen Richter stellt sich bei der Beurtei-
lung von Delikten mit Beziehungen zum Ausland die Frage, ob konkur-
rierendes ausländisches Recht als "lex mitior" anzuwenden sei (Art. 5
Abs. 1, 6 Ziff. 1, 6 bis Ziff. 1 StGB).
Auf diese Problematik ist jedoch nicht einzugehen. Gegenstand der
Abhandlung bildet vielmehr die Darstellung, wie bei der Anwendung
des eigenen Landesrechtes der Richter Gesetzgebung, Doktrin und
Praxis eines andern Rechtes konsultiert und berücksichtigr'. Aus Platz-
gründen beschränken sich die Ausführungen auf die Präjudizien des
b) Die Schuldfähigkeit
Nach Art. 13 schwStGB ordnet die urteilende Behörde eine psychia-
trische Begutachtung des Beschuldigten an, wenn Zweifel an seiner Zu-
rechnungsfähigkeit bestehen. Wann der Richter solche Zweifel hegen
müsse, legte das Bundesgericht zunächst einschränkend aus. In BGE 98,
1972, IV 157 änderte das Gericht seine Auffassung und erklärte, es ge-
nüge, wenn "ernsthafter Anlaß zum Zweifel bestehe". Die Begründung
führt aus:
c) Vorsatz - Probleme
aal Voraussetzungen des Vorsatzes; dolus incidens et superveniens
Aufschlußreich ist der Entscheid des Obersten Gerichtshofes, SSt 44,
1973, Nr. 19 S. 65 f.
"Die Zurechnung der Tat zur Schuld setzt nach Lehre und Rechtsprechung
bei den Vorsatz delikten voraus, daß der Täter im Zeitpunkt des HandeIns die
Geschehensmomente kennt und vom Unerlaubtsein seines Verhaltens im
Rahmen der Grundordnung des Gemeinwesens weiß (Schmidhäuser, Straf-
recht, Allgemeiner Teil, S. 302 ff.). Tatbewußtsein und Unrechtsbewußtsein
müssen demnach der Tat zeitlich vorausgehen und das Handeln begleiten. Der
Handlung folgende Erkenntnisse und Willensvorgänge sind ebenso unerheb-
lich - dolus superveniens non nocet - wie vorausgegangene, die im Augen-
blick des HandeIns nicht mehr aktuell sind."
Ob der "dolus malus superveniens" beim Tatbestand der Hehlerei
nach Art. 144 schwStGB strafbar sei, hat das Bundesgericht mit folgen-
den überlegungen entschieden:
"Würde das Verheimlichen nur in den Fällen bestraft, in denen der Täter
die Sache bereits bösgläubig erworben hatte, so bliebe dieser Tatbestand
nahezu bedeutungslos ... Die Auffassung, daß der Grundsatz ,mala fides
superveniens non nocet' keine Geltung hat, wenn der nachträglich bösgläu-
big gewordene Erwerber die Sache verheimlicht, wird dann auch in Lehre
und Rechtsprechung vertreten (Leipziger Kommentar II S. 430, Schönke/
Schröder, 11. Aufl., S. 1066 Anm. 48, RGSt.33 S. 122, 47 S. 242, 57 S. 160)1."
dd) Mittäterschaft
Der Mittäter wird in § 12 öStGB erwähnt, aber kaum näher um-
schrieben. Die Rechtsprechung läßt sich vom "Prinzip der allgemeinen
Zurechnung aller Tathandlungen an die Mittäter" leiten und führt dazu
aus:
"Die gemeinschaftliche strafrechtliche Verantwortlichkeit reicht so weit, wie
der gemeinsame Tatentschluß geht. Handlungen einzelner Beteiligter, die
darüber hinausgehen (Exzeß), können allerdings nur diesem zur Last gelegt
werden (Jescheck, S. 515)14."
Und in SSt 45, 1974, Nr.27 S. 117 findet sich folgende Passage:
"Ist doch nach dem oben Gesagten eine Abweichung der Vorstellungen
eines Mitwirkenden über den konkreten Ablauf der Tat, an welcher er sich
als Mittäter beteiligt, insolange nicht beachtlich, als die Differenz zwischen
den Lebenskonkreta und dem vorgestellten Verlauf keine andere rechtliche
Bewertung zu seinen Gunsten erfordert (Jescheck, 2. Aufl., S.232, 522, 527,
vgl. auch Rittler, 2. Aufl., S. 204)."
ee) Nebentäterschaft
Mit dem Wesen und der Bedeutung der Nebentäterschaft sowie ihrer
Abgrenzung zur Mittäterschaft befaßt sich ausschließlich die Wissen-
schaft. Die von ihr entwickelten Erkenntnisse übernimmt die österrei-
chische Rechtsprechung mit folgender Rechtsvergleichung:
"Richtig ist, daß die Lehre zwischen Mittäterschaft und Mehrtäterschaft im
engeren Sinn (Nebentäterschaft) unterscheidet. Erstere liegt vor, wenn meh-
rere Personen ... eine Vorsatztat gemeinschaftlich verwirklichen. Dagegen
spricht man von Nebentäterschaft dann, wenn mehrere Personen, jedoch
nicht im bewußten und gewollten Zusammenwirken hinsichtlich des Erfol-
ges, den Tatbestand einer strafbaren Handlung verwirklichen. Wesentlich ist
77'
1220 Robert Hauser
Das fortgesetzte Delikt wird, obwohl es aus einer Mehrzahl von Hand-
lungen besteht, als eine Straftat behandelt. Zusammengefaßt wird sie
durch einen einheitlichen im voraus ge faßten Willensentschluß, gleiche
oder ähnliche Handlungen zu begehen1D .
1V So auch SSt 52, 1981, Nr.61 S.229 unter Berufung auf SchönkelSchrö-
der, 20. Aufl., Vorbem. zu §§ 52 ff., dStGB N 34, 47 ff.
20 Sst 52, 1981, Nr. 60 S. 220, Nr. 61 S.229.
21 SSt 52, 1981, Nr. 60 S. 214.
22 BGE 91, 1965, IV 66 f.
schung oder Drohung seien nicht von Bedeutung. Zur Begründung führt
es u. a. aus:
..Der Literatur und Rechtsprechung zum kantonalen und ausländischen
Recht ist die Frage, ob prozessuale Erklärungen, insbesondere der Rückzug
des Strafantrags, wegen Irrtums angefochten werden können, bekannt ge-
wesen (vgl. Blätter Zürcherische Rechtsprechung 15, 1916, Nr.68, WaibZinger,
Das Strafverfahren für den Kanton Bern, Art. 2 N 14, BeZing, Deutsches
Reichsstrafprozeßrecht, S. 204 f.). Das Schweigen des StGB kann nur dahin
ausgelegt werden, daß auch der unter dem Einfluß eines Irrtums erklärte
Rückzug endgültig der Strafverfolgung ein Ende setzt28."
2. BesondereT Teil
a) Körperverletzung
Vorsätzliche einfache Körperverletzung wird nach Art.123 Ziff.l
Abs.2 schwStGB von Amtes wegen verfolgt, wenn der Täter "eine
Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug" benützt. Darunter fällt
auch der von einem Polizisten verwendete Gummiknüppel, mit dem er
einen Festgenommenen mißhandelt:
..Der Beschwerdeführer glaubt, der Begriff der Waffe sei zu bestimmen,
indem unterschieden werde, ob die in Frage stehende Waffe einem gefähr-
lichen Werkzeug gleichzusetzen sei. Waffe und Werkzeug unterscheiden sich
im vorliegenden Zusammenhang dadurch, daß jene für Angriff und Verteidi-
gung bestimmt ist, während diese hiefür verwendet wird, jedoch eine andere
Zweckbestimmung hat. Die Doktrin zu Art. 101 franz. CP stellt den Unter-
schied anschaulich dar, indem sie von ,armes par leur nature' und ,armes par
l'usage qui en est fait' spricht (Garcon, Code penal annote S. 440, Goyet, Pre-
cis de droit penal special S.362). In gleicher Weise setzt Art. 123 StGB das
Werkzeug der Waffe gleich, nicht umgekehrt die Waffe dem Werkzeug":'
b) Raufhandel
Das öStGB ahndet in § 91 den Raufhandel. In der Literatur wurde
ursprünglich gelehrt, auf der Seite der aktiven Teilnehmer müßten
mindestens drei Personen beteiligt sein. Der Oberste Gerichtshof ist
dieser Auslegung nicht gefolgt und begnügt sich mit zwei Angreifern:
.. Für die Richtigkeit dieser Auffassung spricht schließlich auch der Um-
stand, daß die Bestimmung des § 91 StGB ihrer Entstehung nach aus dem
§ 227 dStGB bewußt übernommen worden ist (vgl. Protokoll der Kommission
zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfes - 1956, 998) und hiezu von der
deutschen Lehre und Rechtsprechung seit jeher die Auffassung vertreten
wird, daß bei dem in Rede stehenden Deliktsfall zur Tatbestandsverwirk-
lichung ein Angriff von mindestens zwei Personen genügt (vgl. Schönke/
Schröder, 18. Aufl.., Kommentar zum deutschen Strafgesetzbuch, S. 1349 und
Leipziger Kommentar, 9. Aufl.., Anm. 5 zu § 227 StGB)so:'
c) Betrug
aal Arglistige Täuschung
Das schwStGB verlangt in Art. 148, daß die Täuschung "arglistig" sei.
Damit nimmt das schweizerische Recht eine Mittelstellung zwischen dem
für den Täter günstigeren französischen und dem strengeren deutschen
Recht ein. Es liegt nahe, daß der Richter für die Auslegung des Begrif-
fes "Arglist" die französische Doktrin konsultiert und davon ausgeht,
daß Arglist auf jeden Fall bejaht werden müsse, wenn die Täuschung
nach französischem Recht erfüllt ist:
"Baut der Täter ein ganzes Lügengebäude auf, das von besonderer Hinter-
hältigkeit zeugt, wendet er Kniffe an (manceuvres frauduleuses, vgl. GaTTaud,
Traite de droit penal francais 6, 333 ff.) oder stützt er die Lüge sonstwie durch
Machenschaften (mise en scene), so handelt er arglistig ...31."
g) Falsches Zeugnis
Nach gefestigter, vom Bundesgericht eingeleiteter Praxis ist der Tat-
bestand des falschen Zeugnisses nach Art. 307 schwStGB so lange nicht
erfüllt, als die Zeugeneinvernahme nicht abgeschlossen ist (das Proto-
koll z. B. nicht bestätigt und unterschrieben ist).
3. Delikte im Straßenverkehr
43 SSt 50, 1979, Nr.44 S. 165, ähnlich auch BGE 93, 1967, IV 55.
4' Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, S. 198 f.
Die Rechtsvergleichung als Auslegungshilfe 1229
f) Die Rechtssicherheit
Bei den heutigen starken internationalen Verflechtungen ist es wich-
tig, daß das Strafrecht für In- und Ausländer berechenbar und deshalb
möglichst einheitlich ist. BGE 95, 1969, IV 90 hat dies auf dem wich-
tigen Gebiete des Straßenverkehrsrechts erkannt (vorn II/3 lit. a):
"Die Schweiz stünde überdies mit der vom Obergericht befürworteten Re-
gelung offensichtlich allein da, was für den internationalen Verkehr höchst
unerwünscht wäre."
IV. Ausblick
Willen und die Gefährlichkeit des Täters. Die Straftheorie des Positi-
vismus legte den Schwerpunkt auf die Sozialverteidigung. Tatsächlich
gingen die Vertreter des Positivismus von einem viel weiteren Bereich
der Strafbarkeit aus als die Vertreter der klassischen Auffassung. Die
Reflexion begann bei den Vertretern des Positivismus selbst und hatte
zur Folge, daß diese Lehre langsam an Bedeutung verlor.
Das Nachdenken über die vor dem Krieg geltenden Theorien blieb
nicht auf die positivistische Strafrechtslehre beschränkt. Es entwickel-
ten sich auch Meinungen, die aufgrund des klassischen Objektivismus
das Ziel verfolgten, das staatliche Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen,
indem man sowohl die subjektive Seite des Verbrechens als auch den
Unrechtsgehalt des Verstoßes gegen die staatliche Sittenordnung be-
rücksichtigte. Vereinzelt gab es auch Meinungen, die ihre Wurzeln tief
in der nationalistischen Idee aus der Zeit vor dem Krieg hatten.
Auf jeden Fall erschien die japanische Strafrechtswissenschaft in den
ersten zehn Jahren nach dem Krieg noch etwas unübersichtlich. Ein
Grund dafür bestand darin, daß die Strafrechtslehrer, die schon vor
dem Krieg eine Schule bildeten, auch noch nach dem Krieg die Diskus-
sionen anführten und die führende Rolle in der Wissenschaft spielten.
Aber die eigentliche Ursache lag darin, daß die Wissenschaft, die plötz-
lich von den Fesseln des Krieges befreit war, sich nun in der garan-
tierten Meinungsfreiheit mit den neuen und verschiedenartigen Ge-
danken und Theorien des In- und Auslandes beschäftigen mußte und
sich noch nicht in einer bestimmten Richtung festlegen konnte.
setzte das Prinzip nulla poena sine lege durch. Die Festsetzung der
Rechtsnormen wurde ausschließlich dem Parlament als Versammlung
der Repräsentanten des Volkes vorbehalten. Darüber hinaus sollte
gewährleistet sein, daß die Auslegung dieser Rechtsnormen der Will-
kür der Mächtigen entzogen ist. Von der Strafrechtswissenschaft wurde
gefordert, daß der Verbrechensbegriff auf diesen Grundgedanken auf-
gebaut wird. Infolgedessen setzte sich die Meinung durch, daß eine
Handlung erst dann zum Verbrechen wird, wenn sie den im Straf-
gesetz enthaltenen Tatbestand erfüllt (Tatbestandslehre). Die Tatbe-
standslehre gedieh fortan in Japan, weil sie in diesem wesentlichen
Punkt der geänderten Rechtsauffassung entsprach.
Andererseits ist bekannt, daß sich innerhalb der Tatbestandslehre
unterschiedliche Meinungen gegenüberstehen. So gibt es z. B. die An-
sicht, die dem Tatbestand im Verbrechensaufbau eine andere Position
zuweist als der Rechtswidrigkeit (F. Uchida); teilweise wird der Tat-
bestand als Typus der rechtswidrigen Handlung (Unrechtstypus) ver-
standen (Takigawa, Saeki, Hirano, Fukuda, Naka, Nishihara, Naka-
yama); verschiedentlich wird der Tatbestand als Typus der rechtswid-
rig-schuldhaften Handlung aufgefaßt (Ono, Dando, Otsuka, Shoji, Kik-
kawa, Kagawa). Diese Widersprüche sind bis heute nicht aufgelöst.
Besonders über die Frage, ob man die subjektiven und normativen
Elemente zum Tatbestand zählen soll, gibt es einen fortdauernden
Streit. Es wird immer noch behauptet, daß man den Tatbestand als
wertfrei auffassen soll, weil die Anerkennung dieser Elemente will-
kürliche Entscheidungen der Richter ermögliche (Hirano, Nakayama).
Aber man muß sich doch bewußt sein, daß ein Tatbestand, dem diese
Elemente abgesprochen werden, sich so weit ausdehnt, daß man sei-
nen Bereich nicht mehr festlegen kann. Er kann dann auch den Men-
schenrechtsschutz nicht garantieren. Ein so weiter Tatbestand wider-
spricht auch dem Zweck der Tatbestandslehre, weil er seine Grund-
lage nicht im Gesetz findet.
Bald tauchte ein Problem auf, das die Tatbestandslehre, die, wenn
auch mit unterschiedlichen Inhalten, zur herrschenden Auffassung in
der Strafrechtswissenschaft geworden war, zu ernsthaften überlegungen
zwang: Man erkannte, daß unter den Gesetzen des Nebenstrafrechts,
die kurz nach dem Krieg in Kraft traten, Vorschriften waren, die bei
wörtlicher Auslegung der Verfassung zu widersprechen schienen. Die-
ses Problem wurde besonders heftig diskutiert bei der Auslegung der
Arbeits- und Sicherheitsgesetze, etwa dem Gesetz über die Arbeits-
verhältnisse im öffentlichen Dienst, dem Gesetz über die Staats- und
78·
1236 Haruo Nishihara
nicht bewiesen werden konnte, aber doch schon eine hohe Wahrschein-
lichkeit für die Kausalität bestand. In der Strafrechtslehre, in der
man die Schuld als Vorwerfbarkeit versteht, mußte die Schuld in
diesen Fällen verneint oder zumindest geringer angesetzt werden.
Bei der Theorie, nach der die persönlichen Umstände das Maß der
Schuld bestimmen, handelt es sich um die sog. normative Schuld-
lehre, die im Gegensatz zur moralischen Schuldlehre der klassischen
Auffassung steht. Nach dem Krieg hat die Strafrechtswissenschaft in
Japan diese normative Schuldlehre übereinstimmend anerkannt, und
es gibt bisher keine andere Schuldtheorie, die sie ersetzen könnte.
In der Bundesrepublik Deutschland tritt heute eine Meinung in den
Vordergrund, die auf den traditionellen Schuldbegriff verzichtet und
den Grund und den Maßstab der Bestrafung in der "Prävention"
sucht. Diese Auffassung hat auf die japanische Meinung nur einen
sehr geringen Einfluß ausgeübt. Dies bedeutet jedoch nicht, daß der
Präventionsgedanke in der japanischen Lehre unberücksichtigt bleibt.
Bei der Lehre vom Wesen der Strafe hat sich in der japanischen
Strafrechtswissenschaft nach dem Krieg die Vergeltungstheorie durch-
gesetzt. Die Situation hat sich insoweit bis heute nicht geändert. Die
herrschende Vergeltungstheorie untersche'det sich freilich entscheidend
von der absoluten Vergeltungstheorie aus der Zeit der klassischen
Auffassung: Die Grundlage der Vergeltung ist die schon erwähnte
normative Schuld, bei der es für die Vorwerfbarkeit auf die persön-
lichen Umstände des Täters ankommt. Außerdem wird auf dieser
Grundlage eine "der Schuld angemessene Strafe" ermittelt, die die
kriminalpolitischen überlegungen wie die Besserung und Resozialisie-
rung des Täters einbezieht. Daß man dabei noch den etwas altmodi-
schen Begriff der "Vergeltung" benutzt, zeigt, daß man den zu häu-
figen Einsatz der Strafgewalt zu Präventionszwecken vermeiden
möchte.
Nimmt man den Gedanken von der "der Schuld angemessenen
Strafe" ernst, so stellt sich das Problem, daß man den Verbrecher
ohne normative Schuld nicht bestrafen kann. Das Strafrecht, das nur
die Strafe als Rechtsfolge kennt, kann den Präventionszweck nicht
erfüllen, selbst wenn bei dem schuldlos handelnden Verbrecher eine
Wiederholungsgefahr besteht. Aus diesem Grunde sind viele europä-
ische Länder zur Zweispurigkeit der strafrechtlichen Rechtsfolgen über-
gegangen, indem sie auch die Maßregeln der Sicherung und Besserung
als strafrechtliche Rechtsfolge anerkennen. Die Strafe wird bei schuld-
haftem Handeln, die Maßregel in den übrigen Fällen bei Gefährlich-
keit des Täters ausgesprochen. In Japan ist diese Problematik weder
vom Gesetz noch von der Lehre gelöst.
1240 Haruo Nishihara
gen als Voraussetzung für die Annahme des Versuchs enger auffaßt
als die konkrete Gefährlichkeitstheorie. Dadurch wird der Erfolgs-
unwert stärker betont. Die objektive Gefährlichkeitstheorie kritisiert
die konkrete Gefährlichkeitstheorie, weil sie auch in den Fällen einen
Handlungsunwert anerkennt, in denen ex post betrachtet die Möglich-
keit einer Rechtsgutsverletzung nicht bestand (wenn z. B. ein Taschen-
dieb seine Hand in eine leere Tasche steckt und deswegen wegen Ver-
suchs bestraft wird). Nach der konkreten Gefährlichkeitstheorie wird
dieser Fall als versuchter Diebstahl gewertet; denn die Tatsachen, die
auch ein Durchschnittsmensch erkennen kann und insbesondere der
Täter erkennt, sind die Grundlage für das Gefährlichkeitsurteil; der
Durchschnittsmensch empfindet diese Handlung deshalb als gefährlich,
weil üblicherweise das Portemonnaie in der Tasche steckt. Dieses
Urteil kommt nicht deshalb zustande, weil die Handlung unsittlich ist,
sondern deswegen, weil sie vom Durchschnittsmenschen her betrachtet
gefährlich ist. In diesem Sinne beruht die konkrete Gefährlichkeits-
theorie auf der Grundlage des Erfolgsunwerts. Sie wollte die Bestra-
fung des Versuchs auf die Fälle des Erfolgsunwerts beschränken, wäh-
rend sie die "Gefährlichkeit der Handlung" anstatt der "Gefährlichkeit
der Situation" betont.
Schließlich gibt es auch einen sehr großen Einfluß auf die Straf-
rechtswissenschaft durch den gesellschaftlichen Wandel. Den unmittel-
1246 Harno Nishihara
Das soziale Leben in Japan trat in den Jahren 1955 bis 1958 in die
Phase eines starken Wirtschaftswachstums. Bis dahin dauerte die wirt-
schaftliche Restauration an. In der ersten Phase knüpfte die Straf-
rechtswissenschaft an das Erbe aus der Zeit vor dem Krieg an, stellte
den Bezug zur neuen Verfassung her und suchte einen neuen Ent-
wicklungsweg. Als Japan in die zweite Phase eintrat, war die Rich-
tung schon vorgezeichnet.
Mit dem hohen Wirtschaftswachstum stieg die Motorisierung sehr
stark an. Die damit verbundenen vielen Verkehrsunfälle machten es
erforderlich, das Wesen der Fahrlässigkeitsschuld zu untersuchen. Aus
diesem Anlaß beschäftigte sich die Wissenschaft mit der Frage nach
dem Inhalt der Sorgfaltspflichten und entwickelte eine neue Fahrläs-
sigkeitslehre, nach der die Sorgfaltspflichtverletzung zu den Unrechts-
elementen gehört. Man erforschte die Kriterien für die Einschätzung
einer Handlung als fahrlässig anhand der Rechtsprechung zu den
Verkehrsstraftaten, und man widmete sich dem Problem der ver-
änderten Rechtsprechung als Folge der gewandelten Verkehrssituatio-
nen. Die Lehre entwickelte neue Maßstäbe für den Vertrauensgrund-
satz, der in der deutschen Rechtsprechung entstanden war. Sie diente auf
diese Weise der Einheitlichkeit der Rechtsprechung in diesem Bereich.
Die Lage der japanischen Strafrechtswissenschaft 1247
Die Reduzierung auf zwei Begriffspaare und ihre Reihung nach Art
eines Kreuzreims lassen eher ästhetische als dogmatische Gesichtspunkte
vermuten. Dies zeigt sich auch darin, daß hin und wieder auch die Rei-
henfolge
Objekt der Straftat
Subjekt der Straftat
objektive Seite der Straftat
subjektive Seite der Straftat
also ein "Paar-Reim", gewählt wird, und gelegentlich sogar die Reihen-
folge
Objekt der Straftat
objektive Seite der Straftat
subjektive Seite der Straftat
Subjekt der Straftat
also ein "verschränkter Reim", begegnet'.
79·
1252 Friedrich-Christian Schroeder
Merkmale, die den Inhalt und die Struktur der gesellschafts gefährlichen
Handlung bilden, in den Straftatbestand"17.
Eine eigenartige Verwirrung zeigt sich auch darin, daß die "Elemente
des Straftatbestandes" auf die "Straftat" bezogen werden. Bis 1961
sprachen die sowjetischen Lehrbücher immerhin noch von der objektiven
und subjektiven Seite "des Straftatbestandes" , freilich schon von dem
Objekt und dem Subjekt "der Straftat"18. Heute wird überwiegend das
eingangs genannte Schema vertreten, gelegentlich allerdings wenig-
stens noch die "objektive Seite" auf den "Straftatbestand" bezogen lD •
Das große Lehrbuch des Instituts für Staat und Recht der Akademie
der Wissenschaften der UdSSR bietet sogar noch eine weitere Variante,
indem es die "objektive Seite des Straftatbestandes" und die "objektive
Seite der Straftat" unterscheidet, wobei es unter letzterer den Kausal-
zusammenhang versteht!o.
Keine sowjetische Darstellung berücksichtigt die Tatsache, daß das
positive Recht von der vorsätzlichen und fahrlässigen Begehung einer
gesellschaftsgefährlichen Handlung sowie ihrer Begehung im Zustand
der Zurechnungsunfähigkeit spricht und damit offensichtlich von der
objektiven Gesellschaftsgefährlichkeit ausgeht.
Die Thesen I.S. Nojs wurden drei Monate später in einer Veranstal-
tung an der Universität Moskau einer harten Kritik unterzogen37 • Sie
wurden als "falsch", "unwahr" und "inkonsequent" bezeichnet. Völlig
unzulässig sei das Verfahren von Noj, seine eigenen theoretischen Kon-
struktionen mit den Erlassen vom 13. August 1981 zu verbinden.
Diese Kraftausdrücke sollten indessen nur - wie meistens - die
fehlende überzeugungskraft der eigenen Argumente übertönen. Der
erste Disputant beklagte, daß Noj mit seiner Auffassung, die "Hand-
lung, die die Merkmale einer Straftat enthält", sei keine "Straftat",
bedenkliche Verletzungen der Gesetzlichkeit herbeiführe, nämlich un-
gerechtfertigte Nichteinleitungen von Strafverfahren. Ein Teilnehmer
meinte, die Neufassung sei ein mißlungener Versuch zur Realisierung
der Idee eines übertretungsgesetzbuchs, ein anderer, der Begriff
"Handlung, die die Merkmale einer Straftat enthält" sei "nicht der
gelungenste" Begriff für die Bezeichnung geringfügiger Straftaten. Ein
weiterer meinte, die Neufassung sei "nicht der gelungenste" Versuch
zur Beseitigung der Diskrepanzen zwischen Art. 160 der Verfassung
und Art. 43 der Grundlagen der Strafgesetzgebung. Bis auf einen waren
sich alle einig, daß die Begriffe "Straftat" und "Handlung, die die
Merkmale einer Straftat aufweist" identisch seien.
Gravierender war schon der Vorwurf einer unzulässigen übertra-
gung prozessualer Begriffe ins materielle Recht, verwendet doch auch
die deutsche StPO den Begriff "Schuld" in einem anderen Sinne als
das materielle Recht (§§ 153, 153 a, 260 Abs.4 S. 1, 263). Indessen ver-
wendet das sowjetische Recht sowohl im StGB als auch in der StPO
gleichlautend die Formulierung "schuldig der Begehung einer Straf-
tat", und daher ist die übereinstimmende Auslegung auch sonst durch-
aus herrschend.
Weshalb die sowjetische Strafrechtswissenschaft den Gedanken
1.S. Nojs solchen erbitterten und mit allen Zeichen moralischer Ent-
rüstung vorgetragenen Widerstand entgegensetzt, ist schwer begreif-
lich. Ideologische Schranken für die längst überfällige Bereinigung
der sowjetischen Gliederung der Straftat sind nicht ersichtlich. So
scheint es sich hier um ein Symptom der allgemeinen Stagnation der
geistigen Entwicklung in der Sowjetunion zu handeln, bei der Neue-
rungen als unnötige Unruhe angesehen und mit spießbürgerhafter Ent-
rüstung bedacht werden. Der Hinweis darauf, daß sich Noj an Grund-
Die Strafrechtswissenschaft der DDR stand bei der von den politi-
schen Instanzen angeordneten3D Rezeption des sowjetischen Rechts vor
der wenig beneidenswerten Aufgabe, die hoch entwickelte Gliederung
der Straftat nach der überkommenen deutschen Dogmatik durch die
sowjetische zu ersetzen, die - wie dargelegt - noch aus dem letzten
Jahrhundert stammt. Diese Aufgabe übernahm ein vom Staatssekre-
tariat für Hochschulwesen eingerichtetes "Kollektiv der Strafrechtler",
dem die Vizepräsidentin des Obersten Gerichts, Hilde Benjamin, der
stellvertretende Leiter der Zentralen Richterschule, Prof. Dr. Hans
Gerats, sowie die "wissenschaftlichen Aspiranten" (auch dies ein aUf>
der Sowjetunion übernommener Grad, der dem deutschen Assistenten
entspricht) Joachim Renneberg und John Lekschas angehörten. Ihre
Ergebnisse wurden von John Lekschas in seiner Arbeit "Zum Aufbau
der Verbrechenslehre unserer demokratischen Strafrechtswissen-
schaft"40 publik gemacht.
Trotz der oktroyierten Rezeption kam es dabei zu beachtlichen Modi-
fizierungen der sowjetischen Auffassung. Wie in der Sowjetunion, je-
doch mit einer bemerkenswerten terminologischen Abweichung gegen-
über den dortigen "Merkmalen", wurden zunächst die "Eigenschaften
des Verbrechens" herausgestellt. Auch die durchgängige Verwendung
des Begriffs "Verbrechen" dürfte von dem sowjetischen Vorbild bestärkt
sein'!, ist allerdings - wie eingangs dargelegt - auch in der Literatur
staatlichen Gerichte hat die DDR durch einen verblüffenden und gut
durchdachten Kunstgriff aufgefangen. Sie hat nämlich die Verhandlung
vor einem Gesellschaftsgericht nicht - wie in der Sowjetunion - mit
einer "Befreiung von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit" verbun-
den, sondern sie als strafrechtliche Sanktion selbst ausgestaltet. Diese
kluge Konstruktion hat den weiteren Vorteil, daß sie die in der sow-
jetischen Konstruktion angelegte Sprengkraft der Konkurrenz zwischen
"Staat" und "Gesellschaft" entschärft und die Gesellschaftsgerichte in
das staatliche Rechtsprechungssystem integriert, sie sozusagen ver-
staatlicht. Schließlich entspricht die Konzeption der DDR noch der
Realität, da von den Betroffenen nicht so sehr die von den Gesellschafts-
gerichten verhängten Sanktionen als vielmehr die Verhandlung durch
das Gesellschaftsgericht selbst als das eigentliche übel empfunden wird.
Ganz geht allerdings auch die Konstruktion der DDR nicht auf, da die
übergabe an ein Gesellschaftsgericht durch die Volkspolizei oder den
Staatsanwalt erfolgt (§§ 142, 149 StPO) und damit eine strafrechtliche
Sanktion durch Organe ohne Gerichtsqualität verhängt wird. Im übri-
gen ist die DDR mit der "Verstaatlichung" der gesellschaftlichen Ge-
richte über das Ziel hinausgeschossen, indem sie die gesellschaftlichen
Gerichte in der Verfassung als mit den staatlichen Gerichten gleich-
wertige Organe der Rechtsprechung aufgeführt hat (Art. 92). Damit
verträgt es sich wiederum nicht, daß die Verhandlung vor dem Gesell-
schaftsgericht als strafrechtliche Sanktion gilt: Die gesellschaftlichen
Gerichte können nicht zugleich Sanktion und deren Urheber sein.
V. Allgemeine Ergebnisse
Die folgende Betrachtung bezieht sich auf den Bereich des Straßen-
verkehrs, dessen effiziente Kontrolle als ein zentrales Anliegen moder-
ner Rechtsbewährung hervortritt. Zu dieser Aufgabe gehört auch der
sachgemäße Einsatz der strafrechtlichen Mittel, der als solcher nicht
fraglich ist, jedoch im Hinblick auf Reichweite, Gestaltung und An-
wendung der dafür in Betracht kommenden Bestimmungen schwierige
Fragen zur Klärung und Entscheidung stellt. Die Auseinandersetzung
der strafrechtlichen Probleme im Sachzusammenhang des Straßenver-
kehrs hat auch schon seit längerer Zeit einen gesicherten Platz in der
Strafrechtsvergleichung1 und in der zwischenstaatlichen Zusammen-
arbeit, für die hier auf die bisherigen Bemühungen im Rahmen des
Europarates hingewiesen wird!.
Der verehrte Jubilar, dem dieser Beitrag in großer Dankbarkeit
gewidmet ist, hat in seinem Werk in vielfältiger Weise dem österrei-
chischen Strafrecht Beachtung geschenkt und hierdurch das besondere
Interesse derartiger Begegnung der beiden Nachbarländer bezeugt.
1 Da sich der im Text angeführte Sachzusammenhang nicht auf die Aus-
gestaltung spezifisch straßenverkehrsstrafrechtlicher Vorschriften beschränkt,
sondern auf die Reichweite der in Betracht kommenden allgemeineren
strafrechtlichen Bestimmungen - wie etwa fahrlässige Körperverletzung
oder fahrlässige Tötung - erstreckt, sind auch die Erträge der Strafrechts-
vergleichung in einem teilweise. weiterreichenden Rahmen von Bedeutung.
Erkenntnisse dieser Art sind auch als Tagungsergebnisse der weltweit orga-
nisierten Strafrechtsvergleichung zu verzeichnen; wir verweisen etwa auf die
Erörterung der Fahrlässigkeitsdelikte, die zu den Themen des VIII. und
XII. Kongresses der AIDP gehörten (Lissabon 1961, Hamburg 1979). Im übrigen
wollen wir uns auf folgende speziellere Hinweise beschränken: vgl. zum Stand
der Verkehrsdelikte in den fünfziger Jahren GoZlek, in: Materialien zur Straf-
rechtsreform, 2. Band, 1955, S.459 (462 ff.); spätere Entwicklungen berücksich-
tigt BockeZmann, Wesentliche Unterschiede des Verkehrsstrafrechts in Europa
und Vorschläge zu seiner Vereinheitlichung, 1971; vgl. im weiteren: Les in-
fractions routieres, Sondernummer der Revue de science criminelle et de
droit penal compare, 1978; International Penal and Penitentiary Foundation,
Penal and penitentiary aspects of road traffic, 1977.
! Dazu Janiszewski, Verkehrsstrafrecht, 2. Aufl., S. 239 ff. sowie Conseil de
l'Europe, Lignes directrices concernant les infractions dans un code penal
europeen de la route, 1979.
1.
lichkeit besteht nicht nur in bezug auf die Wege dieser Aufgliederung,
sondern auch in bezug auf die Reichweite der dem Kriminal- bezie-
hungsweise Justizstrafrecht vorbehaltenen Materien.
Das deutsche Verkehrsstrafrecht ist gekennzeichnet durch die Ab-
stufung kriminalstrafrechtlicher Bestimmungen gegenüber dem davon
abgesetzten Bereich der Verkehrsordnungswidrigkeiten. Die 19688 zum
1.1.1969 durchgeführte Umwandlung der vormaligen Verkehrsüber-
tretungen in Ordnungswidrigkeiten war eine zu ihrer Zeit nicht un-
bestrittene? Maßnahme der Entkriminalisierung des Verkehrsstraf-
rechts. Auf der anderen Seite ist der verbliebene kriminalstrafrecht-
liche Bereich nicht auf allgemeinere Tatbestände und den überkom-
menen Rechtsgüterbestand beschränkt, da er auch bestimmte schwere
Verstöße spezifisch straßenverkehrsrechtlicher Art und die Sicherheit
des Straßenverkehrs als eigenes Rechtsgut einbezieht.
Dem österreichischen Recht ist die Kategorie der Ordnungswidrig-
keit als solche fremd geblieben, so daß ein gleichartiges Entkriminali-
sierungsprogramm nicht zu verzeichnen ist. Allerdings wird in Öster-
reich der Begriff des Kriminalstrafrechts auf den Bereich des Justiz-
strafrechts beschränkt8 und daher auch nicht auf die verwaltungsstraf-
rechtlich erledigten Fälle des Straßenverkehrs bezogen. Diesem Ver-
ständnis folgt auch eine im Jahre 1971 als Entlastung des Justizstraf-
rechts durchgeführte Entkriminalisierung des Verkehrsstrafrechts'. Die
Verteilung des Verkehrsstrafrechts auf die beiden Bereiche ist im
übrigen dadurch gekennzeichnet, daß dem verwaltungsstrafrechtlichen
Anteil die Ahndung spezifischer straßenverkehrsrechtlicher (Verwal-
• Vgl. Art.3 des Einführungsgesetzes zum Gesetz über Ordnungswidrig-
keiten (EGOWiG) vom 24. Mai 1968 (BGBL I S. 503).
7 Vgl. die grundsätzliche Kritik am Konzept der Ordnungswidrigkeiten
von Mattes, ZStW 82 (1970), S. 25 ff.
S Vgl. Nowakowski, Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, § 1 Rdn.4;
Kienapfel, Einführung in das österreichische Strafrecht, S.33 u. 38; Foreg-
gerlSerini, StGB, 3. Aufl., Einführung Ziff. B I.
9 Es handelt sich um einen wichtigen Teilaspekt des Strafrechtsänderungs-
gesetzes 1971 (Bundesgesetz vom 8. Juli 1971, BGBL Nr.273). Das österreichi-
sche Strafrecht kannte zwar auch in dem damals noch geltenden alten Straf-
gesetzbuch (von 1852 mit den seither ergangenen Reformen) kein ausschließ-
lich auf den Straßenverkehr bezogenes Strafrecht,jedoch weitreichende allge-
meine Bestimmungen. Die fahrlässige Gefährdung der körperlichen Sicher-
heit war auch als solche (und ohne eine daraus entstandene Beeinträchtigung)
unter Strafe gestellt; vgl. zur Ausgangslage im ganzen Nowakowski, in: Mez-
gerlSchönkelJescheck, Das ausländische Strafrecht der Gegenwart, Band 111.
S.476 (Textstelle aus dem Beitrag "Das österreichische Strafrecht", ebendort
S. 415 ff.) sowie Moos, JR 1977,314. Die 1971 durchgeführte Entkriminalisierung
brachte eine wesentliche Einschränkung der Erfassung bloßer Gefährdungen
sowie bedeutsame Fälle des Strafausschlusses bei der einfachen fahrlässigen
Körperverletzung. Vgl. zur Lage nach der Reform auch die diesem Stand ent-
sprechende Darstellung von Okresek, Die Ahndung der Verkehrs straftaten
in Österreich, VOR 2 (1972), 114.
SO·
1268 Peter Hünerfeld
scheidung über die Art der rechtlichen Behandlung ansetzen, ist von
der Artung der Rechtsfolgen auf die entsprechende Beurteilung des
betroffenen Regelungsgebietes zurückzuschließen. Auf dieser Linie hat
für das deutsche Ordnungswidrigkeitenrecht die bei dem befolgten
Entkriminalisierungsprogramm auf einen sozialethischen Tadel ver-
zichtende Geldbuße entscheidende Bedeutung.
In Österreich ist die Lage des Verwaltungsstrafrechts15 in letzter
Zeit vor allem auf zwei Juristentagen behandelt worden, wobei es
sich einmal um den Zusammenhang mit dem Thema der Gewalten-
trennung18 und später um die Reform des noch aus dem Jahre 1925
stammenden Allgemeinen Teils des Verwaltungsstrafrechts handelte17 •
Im Hinblick auf die äußerst große Bandbreite des Unrechtsgehalts und
der Schwere der Sanktionen der vom Verwaltungsstrafrecht erfaßten
Delikte wird von Schäffer 18 in der Streitfrage eines Wesensunterschie-
des zwischen Justiz- und Verwaltungsstrafrecht die Mittelmeinung zum
Ausdruck gebracht, daß dem Verwaltungsstrafrecht teils der Charakter
eines "Strafrechts minoris gradus", teils der Charakter eines bloßen
Ordnungswidrigkeitenrechts eigene. Verschiedene Versuche, den frag-
lichen "Wesensunterschied" festzustellen, werden von Walter/Mayer18
als dogmatisch ergebnislos beurteilt. Auf der anderen Seite ist - zum
Beispiel bei BurgstalZerO - das Bemühen vorhanden, eine Konzeption
der Eigenart zu vertreten, die unabhängig von der Frage der Wesens-
verschiedenheit von Justiz- und Verwaltungsstrafrecht Bestand haben
kann!l. Wollte man in Parallele zu der oben angeführten Beurteilung
in bezug auf die Ordnungswidrigkeiten bei der Rechtsfolgenseite an-
setzen und damit den Gesichtspunkt der Abwesenheit eines sozial-
ethischen Schuldvorwurfs verbinden22 , so stünde andererseits doch auch
15 Zur Entwicklung und Lage des österreichischen Verwaltungsstrafrechts
vgl. Mattes (Anm. 12), S.183 - 240. Vgl. ferner Köhler, Verwaltungsstrafgesetz,
1983 (Textausgabe nach dem Stand vom 1. April 1983 mit Kurzkommentar).
18 "Von der Gewaltentrennung im formellen und materiellen Sinn unter
Berücksichtigung der Abgrenzung von Gerichtsbarkeit und Verwaltung, ins-
besondere auf dem Gebiet des Strafrechts", eines der auf dem Vierten Öster-
reichischen Juristentag 1970 in Wien behandelten Themen.
17 "Wie soll der Allgemeine Teil des Verwaltungsstrafrechts gestaltet wer-
den?", eines der auf dem Siebten Österreichischen Juristentag 1979 in Salz-
burg behandelten Themen.
18 Verhandlungen des Siebten Österreichischen Juristentags Salzburg 1979,
Band H, S. 10l.
19 Grundriß des österreichischen Verwaltungsverfahrensrechts, 3. Aufl.,
1984, S. 232.
20 (Anm. 18), S. 155.
war54 und Burgstaller auf das Erfordernis einer Gefährdung von min-
destens zwei Personen abstellt55 , steht die neue re Rechtsprechung auf
dem Standpunkt, daß unter der Voraussetzung einer qualitativ ver-
schärften Gefahrenlage i. S. einer außergewöhnlich hohen Unfallwahr-
scheinlichkeit auch die sogeartete Gefährdung einer einzigen Person
genügt 51• Die Anforderungen in bezug auf eine außergewöhnlich hohe
Unfallwahrscheinlichkeit werden häufig im Sinne einer Mosaiktheorie
verstanden, die auf die Häufung mehrerer unfallträchtiger Faktoren
abstelUS7, doch wird unter bestimmten Voraussetzungen auch ein ein-
ziger gefahrenerhöhender Umstand als ausreichend angesehen158• In
einer den Bereich der Personengefahr betreffenden Bilanz des Vergleichs
mit dem deutschen Recht steht der mit dem übergang zur Individual-
gefahr bei § 89 öStGB vollzogenen Annäherung der Vorschriften die
erhebliche Unterschiedlichkeit der Typisierung der dem Tatbestand
entsprechenden Verhaltensformen einschließlich der nur in § 315 c
dStGB als Schuldmerkmal geforderten Rücksichtslosigkeit gegenüber·.
Die nähere Bestimmung der praktischen Auswirkungen dieser Unter-
scheidungen wäre eine im Hinblick auf die Entwicklung der neueren
österreichischen Rechtsprechung besonders interessante AufgabeftO •
80 Vgl. dazu näher die am 18. September 1975 vom Ministerkomitee des
Europarates verabschiedete Resolution (75) 24, abgedruckt in Conseil de
l'Europe (Anm.2), S. 63 f.
81 In diesem Sinne Nickel, 14. Deutscher Verkehrsgerichtstag 1976, S. 59 ff.
(im übrigen auf die kriminalstrafrechtliche Erfassung der Straßenverkehrs-
gefährdungen abstellend).
82 Vgl. Bockelmann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze und Vorträge, 1967,
S. 194, 216 ff.
83 In diesem Sinn etwa § 16 Abs.2 des deutschen Alternativ-Entwurfs eines
Strafgesetzbuchs Allgemeiner Teil.
lUo Zur "Bedeutung und Anwendung des § 153 a Strafprozeßordnung in Ver-
kehrsstrafsachen" Bär, DAR 1984, 129. In der Praxis rangiert die prozessuale
Erledigung vor dem nur wenig angewendeten § 59 StGB (Verwarnung mit
Strafvorbehalt). Vgl. dazu Ruß, LK, 10. Aufl.., vor § 59 Rdn. 1.
85 Nach h. M. wird der Fall des schweren Verschuldens angenommen, wenn
- vgl. Kienapfel, Grundriß (Anm. 34), S. 125 - "dem Täter eine ungewöhn-
liche und auffallende Sorglosigkeit zur Last fällt und ihm der Eintritt eines
Schadens als wahrscheinlich, und nicht nur als entfernt möglich, vorausseh-
bar war". Näher und zum Stand der Rechtsprechung Kienapfel ebendort.
85 Vgl. die in § 88 Abs. 3 und 4 öStGB geregelten Fälle.
81·
1284 Peter Hünerfeld
88 Vgl. BurgstalZer, ZStW 94 (1982), S. 743 f. Diese Beurteilung gilt auch für
die quantitativ sehr bedeutsame StraffreisteIlung der einfachen fahrlässigen
Gefährdung der körperlichen Sicherheit (vgl. zu diesen Maßnahmen der Ent-
kriminalisierung im Strafrechtsänderungsgesetz von 1971 bereits oben
Anm.9).
88 Zu Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung des § 42 öStGB im
Bereich fahrlässiger Körperverletzung Froske, ZVR 1981, 289. Abgesehen von
Fällen, in denen Alkohol eine Rolle spielt, verfährt die Praxis nicht kleinlich
in der Anwendung des § 42 öStGB in bezug auf § 89 öStGB, vgl. Kienapfel,
Grundriß (Anm. 34), S. 136.
80 Dazu Kienapfel, Grundriß (Anm. 34), S. 57 und im Ergebnis ebenso
BurgstaZZer (Anm. 66), Rdn. 102.
81 DRiZ 1976, 129.
III.
Die Frage strafrechtlicher Verantwortlichkeit des Urhebers eines
Verkehrsunfalls reduziert sich nicht auf die in Betracht kommenden
Gesichtspunkte in bezug auf das Unfallgeschehen, sondern erstreckt
sich im weiteren auf Aspekte des von der Rechtsordnung geforderten
Verhaltens nach einem Verkehrsunfall. Im Interessenkreis des Unfall-
opfers, auf den wir uns beschränken, ist die Wahrung von Vermögens-
interessen vom wichtigeren Schutz der Leibes- und Lebensinteressen
zu unterscheiden. Der Wahrung der Vermögensinteressen dient im
deutschen Verkehrsstrafrecht die das unerlaubte Entfernen Vom Un-
fallort betreffende Strafvorschrift des § 142 dStGB. Mit diesem kom-
plizierten Straftatbestand, der als solcher im österreichischen Justiz-
strafrecht keine Parallele hat81, wollen wir uns hier allerdings nicht
weiter befassen. Das Interesse unseres Vergleichs bezieht sich viel-
mehr auf die strafrechtliche Beurteilung des Fehlverhaltens in bezug
auf die Hilfsbedürftigkeit des Opfers und die Abwendung ihm dro-
hender Leibes- und Lebensgefahren.
Das deutsche Verkehrsstrafrecht zeigt in diesem Bezugsrahmen eine
Befolgung rechtlicher Grundsätze, die ohne Zwischenstufe einen wei-
ten Bogen spannen zwischen der Jedermannspflicht gebotener Hilfe-
lyse118 ist allerdings weder möglich noch notwendig, da wir den Ertrag
des hier möglichen Vergleichs auf den Hinweis beschränken können,
daß eine Vorschrift nach der Art des § 94 öStGB auf der sachgerechten
Linie einer spezifischen Verantwortlichkeit des Unfallverursachers
liegt, die sich einerseits vom Bezugsrahmen des Jedermannsdelikts
der unterlassenen Hilfeleistung löst und zum anderen zumindest zu
einer erheblichen Entlastung der weiterreichenden Perspektive des
unechten Unterlassungsdelikts führt, während die dabei zugleich er-
möglichte Preisgabe des rechtswidrigen Vorverhaltens in einem ande-
ren Lichte erscheint.
118 Dazu Kienapfel, Grundriß (Anm.34), S. 148 ff. m. w. N. nach dem der-
zeitigen Erkenntnisstand bei einer Vorschrift, deren wissenschaftliche Klä-
rung noch in vollem Gange ist.
JOACHIM HERRMANN
I. Einleitung
Zum 46. Deutschen Juristentag, der im Jahre 1966 stattfand, hatte
Jescheck ein großes rechtsvergleichendes Gutachten über die "Be-
weisverbote im Strafprozeß" vorgelegt, in dem er sich u. a. mit der
schon damals heftig umstrittenen Frage befaßte, unter welchen Vor-
aussetzungen Beweisverbote nicht nur als Beweiserhebungsverbote,
sondern auch als Verwertungsverbote anzusehen sind1• Für die Erörte-
rung dieser Frage war damals der Vergleich mit dem amerikanischen
Recht besonders fruchtbar, da die Verwertungsverbote dort bekannt-
lich seit Beginn der sechziger Jahre große Bedeutung erlangt hatten!.
In den Jahren, die seitdem vergangen sind, ist es weder in der
Bundesrepublik Deutschland noch in den Vereinigten Staaten um die
Verwertungsverbote still geworden. Die Auseinandersetzungen im wis-
senschaftlichen Bereich bewegten sich allerdings auf unterschiedlichen
Ebenen. Von seiten der deutschen Strafprozeßwissenschaft wurde, der
kontinental-europäischen Tradition folgend, versucht, die Verwertungs-
verbote theoretisch aufzuarbeiten und in einem dogmatischen Gebäude
zu vereinigen'. In den Vereinigten Staaten dominierte dagegen, wie es
für das Common Law typisch ist, die Erörterung praktischer Probleme.
Man behandelte dort vor allem die kriminalpolitische Seite der Verwer-
tungsverbote, deren Einfluß auf die Praxis der Strafverfolgungsorgane
und die Frage, inwieweit Verwertungsverbote die wirksame Verbre-
11 BVerfGE 34, 238; 44, 353. - RogaZl (Anm.3), S.23 u. 29 ff. meint ange-
sichts des Rückgriffs der Rechtsprechung auf die Güter- und Interessen-
abwägung sowie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, die Verwertungsverbote
seien nicht mit der Verletzung materieller Rechte, sondern mit einer "Ab-
wägungslehre" zu begründen. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß
eine Abwägung erst in Frage kommt, nachdem eine Rechtsverletzung fest-
gestellt ist.
12 BVerfGE 6, 32, 41; 27, 1, 6 f. Siehe LeibhoZzlRincklHesseZberger (Anm.7),
Art. 2 Rdn. 3.
18 Ein Beispiel hierfür ist der vom OLG Schleswig, NJW 1980, 352, ent-
schiedene Spielbankfall, in dem die heimliche Bildaufnahme von einem Revi-
sor, der beim Geldzählen im Nebenraum des Casinos Geldscheine verschwin-
den ließ, für verwertbar gehalten wurde.
14 BVerfGE 34, 238, 246.
16 Abweichend offenbar BGHSt.29, 23, 25, für den Strafverfolgungsinter-
essen ein so großes Gewicht haben können, daß sie Eingriffe in den ..Kern-
bereich" der privaten Lebensgestaltung rechtfertigen.
11 BGHSt. 31, 296.
17 BGHSt. 11, 213.
Aufgaben und Grenzen der Beweisverwertungsverbote 1295
chen Interessen ausgesetzt sein kann, läßt der BGH, wie der Vergleich
mit § 55 StPO zeigt, nicht als Grundlage für ein Verwertungsverbot gel-
ten. In einer früheren Entscheidung hatte das Gericht allerdings das in
§ 252 StPO wurzelnde Verwertungsverbot damit begründet, daß eine
"seelische Belastung" des Zeugen vermieden werden müsse18•
§ 136 aStPO, der im Jahr 1950 als Antwort auf die während der natio-
nalsozialistischen Gewaltherrschaft verübten Greuel in die Strafprozeß-
ordnung aufgenommen wurde, zielt nicht nur darauf ab, die unzulässi-
gen Vernehmungsmethoden zu umschreiben; - er tut dies auf unvoll-
ständige und z. T. ungenaue Weiseu. Die Bestimmung geht vielmehr
einen entscheidenden Schritt weiter, denn sie schützt ausdrücklich die
Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung und sie knüpft
das Verwertungsverbot an deren Verletzung. Sie dient also dem Schutz
wichtiger Bestandteile des Persönlichkeitsrechts und ist vom BGH zu
Recht als prozessuale Ausformung des Art. 1 Abs. 1 GG bezeichnet wor-
den20 •
Zur Begründung des Verwertungsverbots, das sich aus einer Nichtbe-
achtung der in § 243 Abs. 4 S. 1 StPO vorgesehenen Hinweispflicht er-
gibt, verweist der BGH auf die Grundsätze des fairen und rechtsstaat-
lichen Verfahrens!l. Damit wird jedoch im Ergebnis keine prozessuale
Rechtsgrundlage für das Verwertungsverbot geschaffen, denn die
Grundsätze werden vom BGH inhaltlich sogleich in der Weise bestimmt,
daß der Angeklagte nicht gegen sich selbst auszusagen braucht!!. Die
Aussagefreiheit aber ist als Ausfluß des Persönlichkeitsrechts anzuse-
hen. Sie wurde vom BVerfG auf die Menschenwürde und das Recht auf
freie Entfaltung der Persönlichkeit zurückgeführtZ3 •
Etwas anders verhält es sich mit dem Verwertungsverbot, zu dem ein
Verstoß gegen die in § 168 c Abs. 5 StPO aufgestellte Benachrichtigungs-
pflicht führtu. Der BGH sieht den Grund für die Unverwertbarkeit der
Ergebnisse der in Abwesenheit des Beschuldigten durchgeführten Zeu-
genvernehmung in der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Ge-
hör25 • Für das BVerfG hat dieser Anspruch zwei tieferreichende verfas-
sungsrechtliche Wurzeln. Er folgt einerseits aus dem Rechtsstaatsgedan-
18 BGHSt. 2, 99, 105.
19 Meyer, in: Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichts-
verfassungsgesetz, 23. Auf!. 1976, § 136 a Rdn. 12 ff.; Roxin, Strafverfahrens-
recht, 18. Aufl. 1983, S. 141 f.
20 BGHSt. 5, 332, 333; 14, 358, 364.
21 BGHSt. 25, 325, 330 f.
!2 Ebd. S. 331.
23 BVerfGE 55, 144, 150 f.; 56,37,49 f. Siehe auch Rogall, Der Beschuldigte
als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S.129 ff. m. w. N.
24 BGHSt. 26, 332; 31, 140.
25 BGHSt. 26, 335.
1296 J oachim Herrmann
ken, soweit durch das Gehör die Richtigkeit einer Entscheidung gesichert
werden soll2&. Andererseits ergibt er sich aus der Würde der Person, die
gebietet, daß der Beschuldigte vor einer ihn betreffenden Entscheidung
Gelegenheit hat, zu Wort zu kommen!? Damit dient das Verwertungs-
verbot hier zwar nicht ausschließlich, aber immerhin auch dem Schutz
materiellen Verfassungsrechts.
Der im Recht des Beschuldigten, sich nicht selbst belasten zu müssen,
zum Ausdruck kommende Persönlichkeitsschutz bildet auch die Grund-
lage für das in § 393 Abs.2 AO normierte Verwertungsverbot. Der
Steuerpflichtige wird durch diese Bestimmung davor bewahrt, daß Tat-
sachen oder Beweismittel, die er in Erfüllung seiner steuerrechtlichen
Pflichten offenbart, in einem Strafverfahren, das weder eine Steuer-
straftat noch bestimmte schwere Delikte zum Gegenstand hat, gegen
ihn verwertet werden.
Dem von der Abgabenordnung vorgezeichneten Weg ist das BVerfG
im Gemeinschuldner-Beschluß gefolgtZ8 • Es hat mit Hilfe eines Verwer-
tungsverbots ausgeschlossen, daß dem Gemeinschuldner Angaben, die
er im Konkursverfahren aufgrund seiner gegenüber den Konkurs-
gläubigern bestehenden, uneingeschränkten Auskunftspflicht machen
muß, in einem Strafverfahren zur Last gelegt werden.
Daß die in §§ 3 Abs.2; 7 Abs. 3 G 10 enthaltenen sowie die von der
Rechtsprechung auf der Grundlage von § 100 a StPO entwickelten Ver-
wertungsverbote die in Art. 10 Abs. 1 GG verbrieften Grundrechte und
damit zugleich das Persönlichkeitsrecht und die Privatsphäre schützen,
liegt auf der Hand und wurde auch vom BGH hervorgehobenz9 •
. §49 Abs.l BZRG, der den Vorhalt und jede andere Art der Verwer-
tung getilgter oder tilgungsreifer Verurteilungen zum Nachteil des Be-
troffenen ausschließt, beruht auf der Resozialisierungsidee. Der Reso-
zialisierungsanspruch des Verurteilten aber ergibt sich, wie das BVerfG
ausgeführt hat, aus der Menschenwürde30 •
28 BVerfGE 9, 89, 95; 39, 156, 168; 57, 250, 288. Siehe auch Rüping, Der
Grundsatz des rechtlichen Gehörs und seine Bedeutung im Strafverfahren,
1976, S. 123 f.
27 BVerfGE 9,89,95; 39, 156, 168. Siehe auch Rüping (Anm. 26), S. 124 ff.
28 BVerfGE 56, 37, 50 f.
28 BGHSt.27, 355, 357; 29, 244, 249; BGHSt.31, 304, 308 f. stützt das Ver-
wertungsverbot auf den Rechtsstaatgrundsatz, umschreibt diesen dann aber
mit dem heimlichen Eindringen in die Privatsphäre des Angeklagten.
80 BVerfGE 36, 174, 188.
Aufgaben und Grenzen der Beweisverwertungsverbote 1297
34 Hopt v. Utah, 110 U.S. 574 (1884); Bram v. U.S., 168 U.S. 532 (1897); Brown
v. Mississippi, 297 U.S. 278 (1936).
35 Siehe Wigmore, Evidence in Trials at Common Law, Bd.3, Revised
Edition von Chadbourn, 1970, §§ 820 d ff.
40 Elkins v. U.S., 364 U.S. 206, 222 (1960); Mapp v. Ohio, 367 U.S. 643, 659
(1961). Siehe schon Justice Brandeis in einem abweichenden Votum in Olm-
stead v. U.S., 277 U.S. 438, 481 (1928).
41 Mapp v. Ohio, 367 U.S. 643, 659 (1961).
42 Wolf v. Colorado, 338 U.S. 25, 31 (1949); Elkins v. U.S., 364 U.S. 206, 217
(1960); Mapp v. Ohio, 367 U.S. 643, 656 (1961). Sorgfältig abwägend hinsicht-
lich der Disziplinierungswirkung Terry v. Ohio, 392 U.S. 1 (1968).
43 Elkins v. U.S., 364 U.S. 206, 217 (1960).
" Siehe Israel/LaFave (Anm.39), S. 1 ff., die von einer "criminal law
revolution" sprechen. Einen überblick über die Entwicklung gibt Erdmann
(Anm. 2), S. 78 ff.
45 Wong Sun v. U.S., 371 U.S. 471 (1963).
82·
1300 J oachim Herrmann
2. In der Mitte der sechziger Jahre setzte jedoch eine neue Strömung
ein. Anlaß hierfür war zunächst nur eine rechtstechnische Frage, bald
entwickelte sich daraus jedoch ein Grundsatzproblem. Der Supreme
Court entschied 1965, daß das an unzulässige Durchsuchungen anknüp-
fende Verwertungsverbot in Verfahren vor einzelstaatlichen Gerichten
keine Fälle erfaßt, die vor Schaffung dieses Verbots im Jahr 1961 rechts-
kräftig abgeschlossen waren". In Abkehr von seiner früheren Recht-
sprechung anerkannte der Supreme Court das right to privacy in dieser
Entscheidung nicht mehr als Grundlage für ein Verwertungsverbot, da
dessen Verletzung abgeschlossen sei und durch den Ausschluß von Be-
weismitteln nicht mehr beseitigt werden könne. Auch die Integrität der
Strafjustiz lehnte das Gericht zur Begründung des Verwertungsverbots
ab, da dieser nicht gedient sei, wenn in einer unübersehbaren Zahl von
Verfahren über die Zulässigkeit weit zurückliegender Durchsuchungen
entschieden werden müsse. Damit blieb nur der Disziplinierungsge-
danke als Basis für das Verwertungsverbot bestehen. Aber auch diesen
verwarf der Supreme Court im konkreten Fall, da die Polizei nicht für
etwas zur Rechenschaft gezogen werden könne, was sie vor Schaffung
des Verwertungsverbots getan habe. Mit denselben Erwägungen lehnte
der Supreme Court die Rückwirkung von Verwertungsverboten auch in
anderen Fällen ab 50 • Schon 1966 bezeichnete er die Disziplinierung der
Polizei als "single and distinct purpose" der Verwertungsverbote 51 •
Diese auf eine Beschränkung der Verwertungsverbote hinauslaufende
Strömung verstärkte sich, als die liberale Ära des Supreme Court mit
den sechziger Jahren zu Ende ging und das Gericht unter seinem neuen
Chief Justice Burger sowie den in den folgenden Jahren von Präsident
Nixon neu ernannten Richtern eine konservauvere Linie verfolgte. Die
neue Linie zeigt sich einerseits in mehreren Entscheidungen, die die
Verwertungsverbote zwar grundsätzlich unangetastet ließen, aber deren
Reichweite einschränkten. Der Supreme Court hielt z. B. das Protokoll
einer ohne die erforderlichen Miranda-Belehrungen durchgeführten
polizeilichen Vernehmung sowie die bei einer unzulässigen Durchsu-
chung gefundenen Beweismittel in der Hauptverhandlung für verwert-
bar, wenn sie nur herangezogen werden, um eine offensichtlich unrich-
tige Aussage des Angeklagten durch Vorhalte zu erschüttern52 • Der
Disziplinierungsgedanke dürfe, so führte das Gericht aus, nicht so weit
51 Harris v. New York, 401 U.S. 222 (1971); U.S. v. Havens, 466 U.S. 620
(1980). Siehe ferner U.S. v. Calandra, 414 U.S. 338 (1974); Stone v. Powell, 428
U.S. 465 (1976).
Aufgaben und Grenzen der Beweisverwertungsverbote 1301
getrieben werden, daß dem Angeklagten ein Freibrief für Lügen ausge-
stellt werde&3.
Die neue Linie ergab sich andererseits aus der grundsätzlichen Kritik,
die verschiedene Richter des Supreme Court, allen voran Chief Justice
Burger, an den Verwertungsverboten äußerten. Ausgehend von empi-
rischen Untersuchungen, die zu dem Ergebnis gekommen waren, daß
sich eine disziplinierende Wirkung der Verwertungsverbote in der
Praxis nicht nachweisen läß~" wandten sich die Richter in ihren Urteils-
voten mehrfach gegen die nach ihrer Ansicht zu weite Ausdehnung der
Verwertungsverbote65 • Sie wiesen darauf hin, daß die Gesellschaft einen
zu hohen Preis bezahle, wenn offensichtlich Schuldige der Bestrafung
entgingen, weil man versuche, die Polizei mit Hilfe von Verwertungs-
verboten zur Ordnung zu rufen. Als Abhilfe schlugen die Richter vor,
Verwertungsverbote nur dann eingreifen zu lassen, wenn sich die Poli-
zei eine schwere Rechtsverletzung habe zuschulden kommen lassen oder
wenn sie nicht in "good faith" tätig geworden seis6 •
Diese Vorschläge, die auch von anderer Seite unterstützt wurden57 ,
sind nicht ohne Wirkung auf die Praxis geblieben. Colorado und Arizona
haben Gesetze erlassen, die Beweismittel trotz rechtswidrigen Vorge-
hens des Polizeibeamten für verwertbar erklären, wenn diesem lediglich
eine "technical violation" rechtlicher Bestimmungen unterlaufen ist
oder wenn er in "good faith" gehandelt hat58 • Ein unterhalb des Su-
preme Court tätiges Rechtsmittelgericht der amerikanischen Bundes-
justiz hat sich sogar von den bindenden Präjudizien des höchsten Ge-
richts gelöst und im Hinblick auf nicht ordnungsgemäße Durchsuchungen
die good faith-Ausnahme eingeführt59 •
Im Juli 1984 ist auch der Supreme Court selbst auf die neue Linie
eingeschwenkt, denn er hat eine good faith-Ausnahme für die Fälle an-
erkannt, in denen sich Polizeibeamte darauf verlassen hatten, daß eine
richterliche Durchsuchungsanordnung ordnungsgemäß ergangen war80 •
Dies ist vermutlich nur ein erster Schritt, dem weitere folgen werden.
Wird der gute Glaube der Polizei bei richterlichen Durchsuchungsanord-
nungen berücksichtigt, dann spricht einiges dafür, ebenso zu verfahren,
wenn es um andere polizeiliche Zwangsmaßnahmen und Grundrechts-
eingriffe geht. Damit aber steht die grundsätzliche Bedeutung der Ver-
wertungsverbote auf dem Spiel.
fit U.8. v. Williams, 622 F. 2d 830 (5th Cir. 1980); U.8. v. Mahoney, 712 F.
2d 956 (5th Cir. 1983).
80 U.8. v. Leon, 35 Criminal Law Reporter 3273 (1984); Massachusetts v.
8heppard, ebd. 8. 3296 (1984). - Die good faith-Ausnahme ist im übrigen auch
im deutschen Recht nicht ganz unbekannt. Im Medizinalassistenten-Fall,
BGH8t.24, 125, 131, hat der BGH angedeutet, daß ein Verwertungsverbot in
Frage kommen könne, wenn die Polizei "bewußt durch Mißachtung staat-
licher Zwangsbefugnisse" gehandelt habe.
81 .Ähnlich Dencker (Anm. 3),8.55, und Rogall (Anm. 3),8.16.
Aufgaben und Grenzen der Beweisverwertungsverbote 1303
schutz ist dort die Tatsache, daß staatliches Handeln genau festgelegten
Formerfordernissen folgen muß.
Von diesem unterschiedlichen Rechtsschutzverständnis wird das ge-
samte Recht der Verwertungsverbote in den beiden Ländern durch-
drungen. Wie sich das auswirkt, soll anhand einiger Fragenkreise gezeigt
werden.
etwa darauf hinweisen, daß der Beschuldigte in dem von liberalen und
individualistischen Ideen geprägten amerikanischen Strafprozeß eine
freiere und selbständigere, zugleich aber weniger stark geschützte Stel-
lung einnimmt als im deutschen84 •
U Siehe Herrmann, Rev. Int. Dr. Pen 1982, 841, 846 ff.
85 Burdeau v. McDowell, 256 U.S. 465, 475 (1921).
66 Barnes v. U.S., 373 F. 2d 517 (5th Cir. 1967); U.S. V. Miller, 32 Criminal
Law Reporter 2067 (9th Cir. 1982); City of Grand Rapids V. Impens, 32 Cri-
minal Law Reporter 2308 (Mich. 1982). Weitere Fälle bei Israel/LaFave (Anm.
39), S. 243, und McCormick's Handbook on the Law of Evidence, 2. Auf!. hrsg.
V. Cleary, 1972, S. 371 ff.
87 U.S. V. Henry, 447 U.S. 264 (1980); Stapleton V. Superior Court, 447 P. 2d
967 (1968).
68 Sackler V. Sackler, 203 N. E. 2d 481 (N. Y. 1964); DeI Presto v. DeI Presto,
235 A.2d 240 (N. J. 1967). Weitere Fälle bei Baade, Illegally Obtained Evi-
dence in Criminal and Civil Cases: A Comparative Study of a Classic Mis-
match 11, 52 Texas L. Rev. 621, 686 ff. (1974).
8D Um die Privatsphäre besser gegen die modernen Methoden des Ab-
hörens von Telefongesprächen zu schützen, sind in den Vereinigten Staaten
Gesetze ergangen, die insoweit auch die von Privatpersonen beschafften Be-
weismittel von der Verwertung ausschließen. Siehe Israel/LaFave (Anm.39),
S. 187 ff.; Baade (Anm. 68), S. 653 ff.
Aufgaben und Grenzen der Beweisverwertungsverbote 1305
75 Jones v. U.S., 362 U.S. 257, 261 (1960); Aldermann v. U.S., 394 U.S. 165,
171 ff. (1969). Siehe ferner Kuhns, The Concept of Personal Aggrievement in
Fourth Amendment Standing Cases, 65 lewa L. Rev. 493 (1980); McCormick
(Anm. 66), S. 418 ff.
78 Beispiele hierfür sind die Entscheidungen Rakas v. Illinois, 439 U.S. 128
(1978); U.S. v. Salvucci, 448 U.S. 83 (1980); Rawlings v. Kentucky, 448 U.S. 98
(1980).
77 Alderman v. U.S., 394 U.S. 165, 174 f. (1969); U.S. v. Payner, 447 U.S. 727,
734 (1980). - Auf derselben Argumentationsebene bewegt sich die Entschei-
dung People v. Martin, 290 P.2d 855, 857 (1955), die abweichend vom Supreme
Court Eingriffe in die Rechte Dritter für den Ausschluß von Beweismitteln
genügen läßt, da Polizeibeamte sonst zur Umgehung der durch die Verwer-
tungsverbote aufgerichteten Schranken veranIaßt würden.
78 Der Antrag muß zur Entlastung der Hauptverhandlung im allgemeinen
schon während des Vorverfahrens gestellt werden. Siehe z. B. Federal Rules
of Criminal Procedure, Rule 12 Abs. (b) und (f).
79 Siehe Israel/LaFave (Anm. 39), S. 310 ff.
Aufgaben und Grenzen der Beweisverwertungsverbote 1307
80 Der Ausdruck rührt von der Entscheidung Nardone v. U.S., 308 U.S.
338, 341 (1939) her. Einen Überblick über die Rechtsprechung geben Israeli
LaFave (Anm.39), S. 284 ff., und McCormick (Anm.66), S. 344 ff. und 411 ff.
81 Nardone v. U.S., 308 U.S. 338, 340 (1939).
82 Siehe Israel!LaFave (Anm.39), S. 286 ff.; McCormick (Anm.66), S. 413 ff.
- Die Beschränkung des Verwertungsverbots auf "Früchte", die bei recht-
mäßigem Vorgehen nicht hätten beschafft werden können, erinnert an einen
ähnlichen Vorschlag von GTÜnwald, JZ 1966, 489, 495 f., der sich allerdings
auf die unmittelbar erlangten Beweismittel bezieht.
1308 J oachim Herrmann
V. Schlußbemerkung
83 Harrison v. U.S., 392 U.S. 219, 224 (1968); U.S. v. Ceccolini, 435 U.S. 268,
279 f. (1978); Justice Powell in einem Sondervotum zu Brown v. Illinois, 422
U.S. 590, 609 (1975); People v. Fitzpatrick, 300 N. E. 2 d 139, 142 (N. Y. 1973).
84 Siehe Rogall (Anm.3), S. 38 ff. m. w. N. Für eine Fernwirkung jedoch
Roxin (Anm. 19), S. 136 m. w. N.
85 Als Ausnahme siehe OLG Stuttgart, NJW 1973, 1941.
86 OLG Köln, NJW 1979, 1216; BGHSt. 29, 244; 32, 68.
87 BGHSt. 29, 244, 251.
88 BGHSt.32, 68, 71. Ähnlich schon OLG Köln, NJW 1979, 1216, 1217, das
aber allein von der Kausalität ausgegangen ist.
Aufgaben und Grenzen der Beweisverwertungsverbote 1309
86 Siehe Berger (Anm. 90), S. 249 ff.; Loewenstein (Anm. 92), S. 512 ff.
JüRGEN MEYER
Zur V-Mann-Problematik
aus rechtsvergleichender Sicht
I.
In seinem rechtsv,ergleichenden Generalgutachten für den 46. Deut-
schen Juristentag über "Beweisverbote im Strafprozeß" hat sich Jescheck
mit einigen bereits damals hochaktuellen und umstrittenen Fragen der
Verwertung des Wissens von V-Leuten im Strafverfahren befaßt1• Die
Ausführungen bezogen sich vor allem auf die Rechtslage in FTankTeich
und den USA2 und mündeten in die den Referenten des Juristentages
vorgelegte Frage, "ob bei allen wichtigeren Strafsachen die Alternative
der Preisgabe des V-Mannes oder der Nichtverwertung der Aussage des
Polizeibeamten angenommen werden solls." Aufgrund des Generalgut-
achtens von J escheck und eines Gutachtens von PeteTs' sowie des Refe-
rats von Klug S kam der Juristentag zu seiner bekannten Empfehlung,
die Ergebnisse der Ermittlungen eines V-Mannes sollten nur durch des-
sen eigene, mündliche Zeugenaussage vor dem erkennenden Gericht in
das Hauptverfahren eingeführt werden könnens. Inwieweit die rechts-
vergleichenden Hinweise von Jescheck das Abstimmungsergebnis be-
einflußt haben, läßt sich nachträglich schwer beurteilen, weil über die
betreffende Empfehlung ohne vorherige Diskussion abgestimmt worden
ist7. Es ist gleichwohl auch aus deutscher Sicht von großem Reiz, einmal
11.
Im Unterschied zu der auf die Beweisverbotsproblematik zugeschnit-
t~!!enFragestellung des 46. Deutschen Juristentages soll die folgende
Untersuchung stärker ausgefächert werden und entsprechend den
Schwerpunkten der aktuellen deutschen Diskussion die folgenden Fra-
gen behandeln:
1. Gibt es (spezielle) gesetzliche Regelungen für den verdeckten Ein-
satz von Polizeibeamten (Untergrundfahndern)?
2. Wie wird das Wissen von V-Leuten im Strafverfahren verwertet?
3. Wie wird die agent provocateur-Problematik gelöst?
gegen 30 Stimmen; die Empfehlung selbst wurde anschließend mit einer Mehr-
heit von 50 Stimmen bei 10 Gegenstimmen und 15 Enthaltungen verabschiedet.
8 Vgl. BGHSt. 32, 115 = NJW 1984,247 ff.
t Dazu näher unten III.
10 Für wertvolle Hinweise danke ich auch an dieser Stelle den zuständigen
Länderreferenten des Freiburger Max-Planck-Instituts für ausländisches und
internationales Strafrecht: Frau Bosch (Italien), Herrn Dr. Dearing (Öster-
reich), Herrn Heine (Schweiz), Frau Dr. Huber (England), Frau Spaniol (Frank-
reich) und Herrn Dr. Weigend (USA).
11 Vgl. näher zum V-Mann-Begriff J. Meyer, ZStW 95 (1983), S. 835 f. m. w.N.
Zur V-Mann-Problematik aus rechtsvergleichender Sicht 1313
12 Vgl. Seelmann, ZStW 95 (1983), S. 809 ff.; J. MeyeT, ZStW 95 (1983), S.859.
13 Vgl. die "Dokumentation" in CILIP (civil liberties and police) 1982, S.
360 ff.
14 Vgl. "Dokumentation" (Anm. 13), These 5, S. 67 f.
der anderen Seite sind aus Italien, wo die strenge. Geltung des Legali-
tätsgrundsatzes sogar in der Verfassung (Art. 112) verankert ist, kei-
nerlei Bestrebungen bekannt, der Staatsanwaltschaft für ihre Ent-
scheidung, wann ein Verfahren einzuleiten ist, einen Ermessensspiel-
raum zu geben.
In keinem der untersuchten Länder gibt es spezielle gesetzliche Re-
geln für den verdeckten Einsatz von Polizeibeamten. Allerdings ist die
allgemeingesetzliche Ausgangslage in den einzelnen Ländern sehr un-
terschiedlich. Auf der einen Seite sind die USA und Frankreich zu nen-
nen, wo gesetzliche Regelungen für den Einsatz technischer überwa-
chungsmittel weitgehend fehlen, so daß auch der Bedarf an speziellen
Regelungen für Untergrundfahnder von vornherein gering ist. Auf der
anderen Seite muß in Italien, Österreich und der Schweiz eine ganze
Reihe gesetzlicher Voraussetzungen erfüllt sein, um technische über-
wachungsmittel legal einsetzen zu können. Hingegen scheint in Eng-
land eine Entwicklung in Richtung auf eine Verstärkung des Schutzes
der Privatsphäre gegen technische überwachung stattzufinden.
In den USA gibt es weder auf der Ebene des Bundes noch auf der
Ebene der 50 Einzelstaaten spezielle gesetzliche Regelungen über die
Voraussetzungen, unter denen eine Untergrundfahndung zulässig ist.
Allerdings gibt es für den Bund seit 1970 ein "Federal Witness Pro-
tection Program", das insbesondere sichere Unterkünfte für V-Leute
und eventuell ebenfalls gefährdete Angehörige vorsieht. Daß dieses
Programm nicht immer eine reine Wohltat für potentielle Zeugen sein
muß, zeigt ein vom zuständigen U.S. District Court of Appeals entschie-
~~!!~r Fall1D : Dort hatte die Polizei einen Restaurantbesitzer, bei dem
anläßlich einer überprüfung seines Betriebes eine geringe Menge Ko-
kain gefunden worden war, unter Hinweis auf das erwähnte Programm
und unter Androhung von Strafverfolgung wegen des Kokains zur
Kooperation als V-Mann zu drängen versucht20 •
Abgesehen von der Telefonüberwachung, die eines gerichtlichen Be-
schlusses bedarP1, gibt es in den USA keine gesetzliche Regelung für
18 Vgl. Driendl (Anm. 17), S. 248 - 316; Moos, Zur Reform des Strafprozeß-
rechts und des Sanktionenrechts für Bagatelldelikte, 1981, S. 196 ff.
18 Vgl. U.S. v. Ross, CA 2,10/13/83.
20 Das nach der Weigerung des Restaurantbesitzers gegen ihn eingeleitete
Strafverfahren wurde von der Mehrheit des Gerichts gleichwohl für zulässig
erklärt, vgl. U.S. v. Ross (Anm. 19).
21 Vgl. Titel III des Omnibus Crime Control and Safe Streets Act 1968, er-
läutert bei Carr, The Law of Electronic Surveyance, 1977, S. 64 ff. (unter den
als Bezugspunkt für den gesetzlichen Schutz maßgeblichen Begriff "Wire Com-
munication" sollen aber nicht fallen Gespräche zwischen zwei Autotelefonen
oder zwischen zwei Telefonapparaten in derselben Wohnung oder in einem
Warenhaus).
Zur V-Mann-Problematik aus rechtsvergleichender Sicht 1315
83·
1316 Jürgen Meyer
39 Vgl. oben I.
40 Vgl. BGHSt. 32, 115 = NJW 1984, 247 H.
41 Vgl. näher dazu unten IH.
(3 Vgl. Smith v. Illinois, 390 U.S. 129, 88 S. Ct. 748 (in der Entscheidung
vom 29. 1. 1968 ging es um den Hauptbelastungszeugen in einem Rauschgift-
fall; der Zeuge behauptete, mit polizeilich markierten Geldscheinen Drogen
vom Angeklagten gekauft zu haben).
44 Vgl. 88 S. Ct. 748, 751 (Justice White, dem sich Justice MarshaZl ange-
schlossen hat).
45 Vgl. U.S. v. Contreras, 602 F. 2 d 1237 (1979); U.S. v. Mesa, 660 F. 2 d
1070 (1981).
'8 Vgl. U.S. v. Mesa, 660 F. 2 d 1075 f. (1981); U.S. v. Hughes, 658 F. 2 d 317
(1981) (es handelte sich um einen vorbestraften und zur Bewährung entlas-
senen V-Mann, der mit dem Angeklagten auf Veranlassung der Polizei als
Interessent für den Ankauf von Kokain Kontakt aufgenommen hatte).
47 Zur Unzulässigkeit von Hearsay Evidence und den von der Rechtspre-
chung entwickelten Ausnahmen vgl. Wharton's Criminal Evidence, Band 2,
13. Aufl., Stand 1983, S. 1 - 191, nebst Supplement, S. 9 - 35.
's Vgl. Roviaro v. U.S., 353 U.S. 57, 77 S. Ct. 623 (1957).
Zur V-Mann-Problematik aus rechtsvergleichender Sicht 1321
49 Vgl. Wharton's Criminal Evidence, Band 3, 13. Aufl., Stand 1982, S. 114-
122, nebst Supplement, S. 30 - 43.
50 Vgl. Oscapella, A study of Informers in England, in: The Criminal Law
Review, 1980, S. 136 - 146 m. w. N.; vgl. auch Section 10 des Contempt of
Court Act von 1981: "No Court may require a person to disclose, nor is any
person guilty of contempt of court for refusing to disclose, the source of
information contained in a publication for which he is responsible, unless it
be established to the satisfaction of the court that disclosure is necessary in
the interests of justice or national security or for the prevention of disorder
or crime."
51 Vgl. Phipson, The Law of Evidence, 13. Aufl. 1982, S. 329 ff.
52 Vgl. Manzini, Trattato di diritto processuale penale italiano, 6. Aufl. 1970,
Band 3, S. 295.
1322 Jürgen Meyer
etwa wegen Versuchs, und zur Fortsetzung oder Vollendung der strafbaren
Handlung verleitet werde; deshalb empfehle es sich, derartige Fahndungs-
methoden zur wirksamen Bekämpfung der Suchtgiftkriminalität durch eine
ausdrückliche gesetzliche Regelung zuzulassen).
69 Vgl. §§ 12, 16 SGG; zur Problematik der Strafbarkeit des Provozier-
ten vgl. auch die Diskussionsbeiträge von Foregger und Burgstaller auf der
Strafrechtslehrertagung 1983, ZStW 95 (1983), S. 993 H. (Tagungsbericht von
Gropp), 994 f. und 998.
70 Vgl. eingehend zur Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft
in den USA Th. Weigend, in: JeschecklLeibinger (Anm. 17), S. 587 H., 610 - 638.
71 Vgl. FBI Undercover Operations, Hearings before the Subcommittee on
Civil and Constitutional Rights of the Committee on the Judiciary, House of
Representatives, 97. Congress, Serial No. 76, Washington 1983, 1029 S. (vgl.
insbes. S.1 H. zu den sog. pro-active- bzw. before-the-fact-undercovertactics);
zum Einsatz von V-Leuten zur Aufklärung von Korruption innerhalb der
Strafjustiz vgl. den Bericht vom 5.2. 1984 in 35 Cr L 2091 f.
72 Vgl. die mit Sorrels v. U.S., 53 S. Ct. 210 (1932), einsetzenden Recht-
sprechungsnachweise bei Lüderssen, in: Festschrift für Peters, 1974, S. 354 H.;
zustimmend zu der von Lüderssen aus rechtsvergleichender Sicht für das
deutsche Recht entwickelten Annahme der "Prozeßrechtswidrigkeit" des Ein-
satzes des agent provocateur bei der Verbrechensbekämpfung Jescheck, Lehr-
buch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 3. Auft. 1978, S. 560, Fn. 16.
73 Vgl. Model Penal Code, Art. 2, Section 2.13: "(1) A· public law enforce-
ment professional or a person acting in co operation with such an official
perpetrates an entrapment if for the purpose of obtaining evidence of the
commission of an oHense, he induces or encourages another person to engage
in conduct constituting such oHense ..."; gern. Abs. (2) führt der Nachweis
von "entrapment" grundsätzlich zum Freispruch des Verleiteten.
74 Vgl. z. B. für New York McKinneys Consolidated Laws of New York,
Book 39, 1975, Penal Law, § 40.05 (mit Erläuterungen und Rechtsprechungs-
nachweisen); für Illinois Criminal Law and Procedure of Illinois, 1981, Chap-
ter 38, §§ 7 - 12.
1326 Jürgen Meyer
III.
tung des BGH zum Einsatz von V-Leuten im Strafprozeß 88. Es ist des-
halb nicht verwunderlich, daß der Beschluß des Großen Senats auf
scharfe Ablehnung bei den Anhängern der bisherigen Praxis gesto-
ßen ist".
Eine andere Gruppe von Autoren, die den Beschluß des Großen
Senats als Wende der Rechtsprechung grundsätzlich begrüßt, versucht
dagegen, ihm aufgrund einer extensiven Interpretation "die Wertent-
scheidung zu entnehmen, daß der anonyme Gewährsmann künftig für
das gerichtliche Verfahren ein Nullum sein sol1'<1Oo. Das würde bedeu-
ten, daß auch die bekannten Ersatzmöglichkeiten für die richterliche
Vernehmung des V-Mannes, nämlich der Zeuge vom Hörensagen und
die Verlesung des polizeilichen Vernehmungsprotokolls sowie schrift-
licher Äußerungen des V-Mannes, künftig ausgeschlossen wären, ob-
wohl sich der Große Senat dazu nicht geäußert hat101 • Dem kann aus
zwei Gründen nicht gefolgt werden. Erstens hatten der 2. Strafsenat
in seinem Vorlagebeschluß und der Generalbundesanwalt in seiner
Stellungnahme zu der dem Großen Senat vorgelegten Rechtsfrage aus-
drücklich auf die Konsequenz der Nichtzulassung einer kommissari-
schen Vernehmung unter Ausschließung des Verteidigers hingewiesen,
die darin bestehen würde, daß an die Stelle des zuverlässigeren Be-
weismittels der richterlichen Vernehmung die schwächeren Beweis-
mittel der polizeilichen Vernehmung oder einer nur schriftlichen Äuße-
rung des V-Mannes (bei deren Herstellung es kein Anwesenheitsrecht
des Verteidigers gibt) träten102 • Hätte der Große Senat dieser in den
84·
1332 Jürgen Meyer
lOg Vgl. zum Gesetzesvorschlag für einen neuen § 251 a StPO J. Meyer,
ZStW 95 (1983), S. 857 f. (der Grundgedanke besteht darin, daß die Entschei-
dung über die Modalitäten einer gerichtlichen Vernehmung des V-Mannes
unter Wahrung seiner Anonymität in die Hand des Gerichts statt der Exe-
kutive gelegt werden soll); zustimmend Fezer, JZ 1984, 435.
110 Vgl. oben! mit Anm. 3.
Ul Vgl. J. Meyer, ZStW 95 (1983), S. 846 ff., m. w. N.
THOMAS WEIGEND
1.
Daß die Strafrechtsvergleichung "der Lieferant, aber auch der Prüf-
stein der legislativen Ideen" ist, hat der verehrte Jubilar nicht nur
formuliertt, sondern auch in unzähligen selbst verfaßten% oder betreu-
ten Arbeiten tatkräftig unter Beweis gestellt. Für den Strafrechtsver-
gleicher ergibt sich aus dieser Funktionsbestimmung eine doppelte Auf-
gabe: Er hat die im Ausland bewährten Lösungsmodelle in die deutsche
Reformdebatte einzubringen, er muß aber auch vor der vorschnellen
übernahme ausländischer Rechtsinstitute warnen, wenn diese zwar
vordergründig Patentlösungen für bestimmte Sachprobleme zu ent-
halten scheinen, wenn aber ihre praktische Anwendung schon im Aus-
land zu Schwierigkeiten führt oder ihre Funktionsfähigkeit an Grund-
strukturen gebunden ist, die allein der fremden Rechtsordnung eigen
sind.
Den Anstoß zur übernahme ausländischer Einrichtungen kann u. a.
das Auftauchen eines bisher nur im Ausland bekannten Phänomens der
Delinquenz geben: Dem Import des übels soll dann der Import des
probaten Gegenmittels folgen. Ein Beispiel hierfür ist die Debatte um
den sogenannten Kronzeugen, die sich an das Vordringen konspirativer
und organisierter Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland an-
geschlossen hat. Die Besonderheit dieser neuen Formen des Verbre-
chens, etwa im Terrorismus-, Korruptions- und Rauschgiftbereich, liegt
u.a. in der internen Abschottung der Tätergruppen und -pyramiden
sowie in dem häufigen Fehlen individueller Opfer, die der Strafverfol-
gung Informationen aus erster Hand liefern könnten. Dies erschwert
die polizeiliche Aufklärungsarbeit ebenso wie den gerichtlichen. Nach-
weis der Tatbegehung gegenüber einzelnen Beschuldigten.
Die Strafverfolgungsorgane suchen angesichts der Gefährlichkeit der
genannten Verbrechensformen intensiv nach neuen Wegen, um der
1 Jescheck, Rechtsvergleichung als Grundlage der Strafprozeßreform,
ZStW 86 (1974), S. 761, 765.
2 S. nur die in dem von VogZer herausgegebenen Band "Strafrecht im
Dienste der Gemeinschaft", 1980, S. 161 - 451, gesammelten Beiträge J eschecks.
1334 Thomas Weigend
II.
Die ersten Ansätze zu einer gesetzlichen Verankerung des Kronzeu-
gen-Gedankens enthalten §§ 129 Abs.6, 129 a Abs. 5 StGB für den Be-
reich krimineller Vereinigungen sowie § 31 BtMG für die Rauschgift-
kriminalität. In beiden Fällen kann das Gericht die Strafe nach § 49
Abs.2 StGB mildern oder ganz von Strafe absehen, wenn der Täter
sein Wissen über Hintermänner oder weitere Tatbeteiligte den Straf-
verfolgungsbehörden zur Verfügung gestellt hat. Bei § 129 Abs.6 StGB
handelt es sich allerdings nicht um eine eigentliche Kronzeugen-Rege-
lung, sondern eher um einen Fall tätiger Reue. Bereits das "ernsthafte
Bemühen" des Täters um die Verhinderung weiterer Straftaten der
kriminellen Vereinigung verschafft ihm die Aussicht auf Strafmilde-
rung oder -freiheit. § 31 Nr.1 BtMG verlangt dagegen einen wesent-
lichen Beitrag zur Aufdeckung der Tat über die eigene Tatbeteiligung
des Täters hinaus. Damit ist freilich nicht gemeint, daß der Täter sein
Wissen notwendig als Zeuge in einer Hauptverhandlung gegen andere
Tatbeteiligte kundtun muß'. Honoriert werden kann schon die bloß in-
, Aus dem schon fast unübersehbaren Schrifttum s. nur Brons, Neue
Wege zur Lösung des strafprozessualen "V-Mann-Problems", 1982; Seelmann,
Zur materiell-rechtlichen Problematik des V-Mannes, ZStW 95 (1983), S.797;
J. Meyer, Zur prozeßrechtlichen Problematik des V-Mannes, ZStW 95 (1983),
S.834; Tiedemann/Sieber, Die Verwertung des Wissens von V-Leuten im
Strafverfahren, NJW 1984, 753.
, In England reicht die Geschichte des Kronzeugen, der sich durch die
Denunziation (vermeintlicher) anderer Täter die Begnadigung wegen der
eigenen Delikte erkaufen konnte, bis weit in eine Zeit hinein, in der die
Staatsgewalt mangels eines wohlorganisierten Strafverfolgungsapparates
dringend auf derlei Unterstützung angewiesen war; vgl. im einzelnen Radzi-
nowicz, A History of English Criminal Law and its Administration from
1750, Bd.2, 1956, S. 33 - 56; Jung, Straffreiheit für den Kronzeugen?, 1974,
S. 28 - 31; zahlreiche Einzelfälle, auch aus späterer Zeit, bei MiddendorjJ, Der
Kronzeuge. Historisch-kriminologisches Gutachten, ZStW 85 (1973), S. 1102.
5 So zutreffend Lundt/Schiwy, Betäubungsmittelrecht, Suchtbekämpfung,
1983, Anm. zu § 31 BtMG; Körner, Betäubungsmittelgesetz, 1982, § 31 Rdn.8;
Anmerkungen zur DiskuSsion um den Kronzeugen 1335
ders., Der Aufklärungsgehilfe nach § 31 BtMG, StrVert. 1984, 217, 219; OLG
Düsseldorf, StrVert. 1983, 67; anders offenbar Joachimski, Betäubungsmittel-
recht, 3. Aufl. 1982, § 31 Anm. 3.
8 Vgl. EberthlMüller, Betäubungsmittelrecht, 1982, § 31 Rdn. 2.
7 s. etwa Slotty, Das Betäubungsmittelgesetz 1982, NStZ 1981, 321, 326;
Körner, Neuordnung des Betäubungsmittelrechts, NJW 1982, 673, 676; Eberth/
Müller (Anm. 6).
s BT-Drucks. 10/843 (1983), S. 25. Die Frage, ob § 31 BtMG die Aufklärungs-
quote erhöht, wird von den einzelnen Ländern unterschiedlich beurteilt; a. a. O.
D Wann liegt ein "Beitrag" zur weiteren Aufdeckung der Tat vor? Wann
ist dieser Beitrag "wesentlich"? Wieviel Wissen muß "offenbart" werden?
S. hierzu die Rechtsprechungsnachweise bei Kärner, Der AUfklärungsgehilfe
nach § 31 BtMG, StrVert. 1984, 217, 219 f.
1336 Thomas Weigend
ner Weise reguliert oder beschränkt, kann sich der Beschuldigte nicht
darauf verlassen, daß seine Mitarbeit tatsächlich in angemessenem
Umfang entgolten wird. § 31 BtMG degeneriert somit leicht zu einem
Lockmittel in der Hand der Polizei, das viel verspricht, aber zu nichts
verpflichtet.
Aus der Sicht des Beschuldigten besonders tückisch ist die Ausgestal-
tung des § 31 BtMG als "Erfolgstatbestand": Strafmilderung kann sich
nur verdienen, wessen Angaben tatsächlich zu weiteren Ermittlungser-
folgen beitragen, die nicht bereits in den vorhandenen Erkenntnissen
der Polizei angelegt waren10• Für die Sachdienlichkeit und Verwertbar-
keit seiner Angaben trägt der Beschuldigte nach der Rechtsprechung
des BGH sogar die faktische Beweislast: § 31 BtMG soll ihm nicht zu-
gute kommen, wenn er einen zwar nicht widerlegbaren (möglicherweise
wahren), aber nicht zur überzeugung des Gerichts bewiesenen Sachver-
halt schildertl1 •
Das gesetzgeberische Motiv für diese Regelung ist zwar einfühlbar:
Das Erfolgskriterium soll vermeiden, daß der Beschuldigte durch be-
wußt falsche Angaben die Polizei in die Irre führt, Unschuldige der
Strafverfolgung aussetzt und sich gleichzeitig auch noch einen Straf-
rabatt verschafftI!. Andererseits führt die Fassung des § 31 BtMG jedoch
in dem nicht seltenen Fall zu praktischen Schwierigkeiten, daß der Be-
schuldigte erst in der Hauptverhandlung Angaben über Hintermänner
macht; ob und in welchem Umfang das Gericht im Rahmen seiner Auf-
klärungspflicht gehalten ist, solchen Hinweisen nachzugehen und zu
diesem Zweck die Hauptverhandlung zu vertagen oder gar auszusetzen,
ist zweifelhaft l3 • Schwerer als diese Unklarheit wiegt, daß der Beschul-
digte im Regelfall keinen Einfluß darauf nehmen kann, ob ihm die
freiwillige und vollständige Offenbarung seines Wissens die Vorteile
des § 31 BtMG verschafft oder nicht. Ob seine Angaben zum "Erfolg"
führen, ist nämlich von zahlreichen Unwägbarkeiten, wie dem Vor-
wissen der Polizei, der Aussagefreudigkeit anderer Tatbeteiligter und
der Ermittlungsintensität bei der überprüfung der Aussagen abhängig.
Es stößt an die Grenze des in Art.3 GG enthaltenen Willkürverbots,
derartige Zufälligkeiten über das Auslösen der bis zum völligen Straf-
verzicht reichenden Strafmilderungsmöglichkeit entscheiden zu lassen.
Zudem ist § 31 BtMG in seiner derzeitigen Fassung schwerlich mit § 46
StGB vereinbar, wonach sich die Strafzumessung an der Schuld des
10 So jetzt ausdrücklich OLG Düsseldorf, StrVert. 1984, 205 f.
11 BGH NJW 1983, 692 f.; zustimmend Körner (Anm. 9), S. 219.
1! Ausgeschlossen ist diese Konstellation durch das Gesetz freilich nicht:
Was sich dem Gericht zunächst als "Aufdeckung" der Straftat durch den Be-
schuldigten darstellt, kann sich später als raffiniert ersonnenes Lügengespinst
erweisen.
13 Vgl. hierzu BGH StrVert. 1983, 505.
Anmerkungen zur Diskussion um den Kronzeugen 1337
III.
IV.
Zunächst ist zu fragen, weshalb die Strafverfolgungsbehörden der
USA überhaupt des Kronzeugen bedürfen. Die Deliktsbereiche, in denen
hauptsächlich auf ihn zurückgegriffen wird, sind bekannt: politische
Korruption, Wirtschaftskriminalität, Rauschgifthandel sowie die vom
organisierten Verbrechen beherrschten "opferlosen" Delikte wie Wu-
cher, Glücksspiel und Prostitution. Schon für die Aufdeckung dieser Straf-
taten ist die Polizei bekanntlich weitgehend auf Informanten aus dem
entsprechenden Milieu angewiesen - eine Problematik, die hier nicht
weiter zu vertiefen ist. Nur so viel sei rechtsvergleichend zur Frage der
V-Leute angemerkt: Sofern die Staatsanwaltschaft sie nicht als echte
Zeugen vor Gericht ruft und damit enttarnt10 , sind ihre Erkenntnisse
V.
view 60 (1965), S. 174, 183. Der Berufsrichter beschränkt sich in den USA
darauf, die Verhandlung zu leiten; er greift nur selten selbst in die Beweis-
aufnahme ein und nimmt auch nicht an der Urteilsberatung der Geschwore-
nen teil. Es besteht daher keine Möglichkeit, daß ein laienhafter Schluß vom
Aussageverhalten auf die Unglaubwürdigkeit eines Zeugen von objektiver
Seite korrigiert wird.
so Abrisse der Geschichte der Immunitätsgesetzgebung des Bundes finden
sich in Comment, The Federal Witness Immunity Acts in Theory and Practice:
Treading the Constitutional Tightrope, Yale Law Journal 72 (1963), S.1568;
Hearings before the Subcommittee on Criminal Laws and Procedures of the
Committee on the Judiciary, U.S. Senate, Measures relating to Organized
Crime, 1969, S. 293 - 296; Taylor, Witness Immunity, 1983, S. 33 - 37.
SI Counselman v. Hitchcock, 142 U.S. 547 (1892).
1342 Thomas Weigend
37 Die Rechtsprechung geht davon aus, daß der Richter in dieser Frage
über keinerlei Ermessen verfügt; s. z. B. U.S. v. Hollinger, 553 F. 2 d 535, 548
(7th Cir. 1977); weitere Nachweise bei Sugar, Federal Witness Immunity
Problems and Practices under 18 U.S.C. §§ 6002 - 6003, American Criminal
Law Review 14 (1976), S. 275, 293 Fn. 96, 98.
38 Die Zustimmung des Justizministeriums wird so gut wie immer erteilt;
vgl. die Zahlen bei Sugar (Anm. 37), S. 294 Fn. 104.
39 Vgl. zu dieser Frage Sheriff, Defense Witness Immunity: Constitutional
Demands and Statutory Change, Journal of Criminal Law and Criminology
72 (1981), S. 1026; Quinn, Defense Witness Immunity - A "Fresh" Look at
the Compulsory Process Clause, Louisiana Law Review 43 (1982), S. 239.
40 Das 6. amendment zur amerikanischen Bundesverfassung gewährt dem
Angeklagten sogar ausdrücklich das Recht "to have compulsory process for
obtaining witnesses in his favor".
41 Vgl. hierzu Duffy, Current Controversies Concerning Witness Immunity
in the Federal Courts, Villanova Law Review 27 (1981/82), S.123, 144 - 146;
Sheriff (Anm.39), S. 1047 ff.
42 U.S. v. Herman, 589 F. 2 d 1191 (3rd Cir. 1978); Government of the Virgin
Islands v. Smith, 615 F. 2 d 964 (3rd Cir. 1980); wesentlich zurückhaltender
U.S. v. Turkish, 623 F. 2 d 769 (2nd Cir. 1980).
43 18 U.S. Code § 401 (criminal contempt); 28 U.S. Code § 1826 (civil con-
tempt); Einzelheiten bei Grand Jury Defense Office of the National Lawyers
Guild, Representation of Witnesses before Federal Grand Juries (im folgen-
den: Representation), 1967, S. 447 - 473. Die Verurteilung wegen contempt of
1344 Thomas Weigend
VI.
Nur ein kleiner Bruchteil der Tatbeteiligten, die in den USA bei der
überführung von Haupt- oder Mittätern mit der Staatsanwaltschaft
zusammenarbeiten, wird mit der offiziellen Gewährung von Immunität
belohnt. Wesentlich häufiger beschränkt sich die Staatsanwaltschaft
8S'
1348 Thomas Weigend
Court, and the Witness Protection Program, Fordham Law Review 50 (1982),
S.582.
70 Vgl. hierzu Schlothauer, Die Einstellung des Verfahrens gemäß §§ 153,
153 a StPO nach Eröffnung des Hauptverfahrens, StrVert. 1982, 449; Deal,
Der strafprozessuale Vergleich, StrVert. 1982, 545; Schmidt-Hieber, Verein-
barungen im Strafverfahren, NJW 1982, 1017.
Strafrechtsanwendungsrecht,
Internationales und supranationales
Strafrecht, Völkerstrafrecht
ALBIN ESER
33 Wobei sich freilich deren Bestehen auch in der Verweisung auf ein an-
deres Recht ausdrücken könne: Jescheck, Lehrbuch 1. Auf!. S. 115; ebenso in
Maurach-Festschrift S. 579 f. = Sammelband S. 615 f.
U . Schultz, GA 1966, 194. Wie wenig man freilich dabei schon von einer fest-
stehenden und unmißverständlichen Terminologie ausgehen kann, zeigt der
Beitrag von Vogler, Geltungsanspruch und Geltungsbereich der Strafgesetze,
in: Aktuelle Probleme des Internationalen Strafrechts, Grützner-Geburts-
tagsgabe, 1970, S. 149 ff., wo es bei der "Geltungs"-Frage offenbar weniger
um das allgemeine Strafgewaltproblem im Sinne von Schultz als mehr spe-
zifisch um die straftatbestandsimmanente Frage des jeweiligen Schutzum-
fangs geht: näher dazu Eser, in: SchönkelSchröder, StGB, 21. Aufl.. 1982, Vor-
bem. 13 ff. vor § 3 m. w. N. Jeschecks Standpunkt zu dieser - dem eigentlichen
Internationalen Strafrecht vorgelagerten - Frage des tatbestandlichen
Schutzbereichs findet sich eher etwas marginal im Lehrbuch 3. Auf!. S. 141 f.
Soweit er sonst dazu Stellung nimmt, geschieht dies mit eher ausweitender
Tendenz: vgl. etwa WBV UI S. 398 f.
35 Vgl. namentlich Tröndle, LK, 10. Auf!. 1978, Vorbem.2 vor § 3.
Das Internationale Strafrecht im Werk von Hans-Heinrich Jescheck 1359
2. Ähnlich wie bei den Begriffsproblemen ist Jescheck auch bei der
Frage nach den Aufgaben des Internationalen Strafrechts starrer Dok-
trinarismus fremd. Dies ermöglicht es ihm, als "Grundgedanken" des
Internationalen Strafrechts Zielsetzungen zu akzeptieren, die - ein-
gestandenermaßen - teils sogar gegenläufig sein können43 : so etwa,
wenn der "Schutz der inländischen Rechtsgüterwelt" , die "Wahrung der
innerstaatlichen öffentlichen Ordnung" oder die bis ins Ausland ver-
86'
1364 AlbinEser
Diese wie auch noch manche andere Einzeleinwände gegen das aktive
Personalprinzip ließen ihn für die Rückkehr zu einem Territorialprin-
zip plädieren, das freilich nicht mehr - wie)m ZeitpunktJseiner Ent-
stehung - als ein eifersüchtig gehütetes Souveränitätsprivileg zu
verstehen sei, sondern als "freiwillige Selbstbeschränkung im Interesse
einer gerechten und zweckmäßigen zwischenstaatlichen Verteilung der
Aufgaben auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung"82.
100 Statt dessen verlagerte sich die Diskussion auf die - nachfolgend
zu erörternde - Frage etwaiger Ergänzungen bzw. ausnahmsweiser Durch-
brechungen des Territorialprinzips: vgl. insbes. Protokolle (des Sonderaus-
schusses für die Strafrechtsreform) V S. 2348 f. bzw. S. 2352 ff.
101 Vgl. Fn.63.
102 Wobei diese Akzeptanz freilich nur selten in ausdrücklicher Zustim-
mung (wie etwa im grundsätzlichen bei TröndZe, LK, 10. Aufl. 1978, Vorbem.
19 vor § 3) als vielmehr in der meist kommentarlosen Hinnahme zum Aus-
druck kommt.
Das Internationale Strafrecht im Werk von Hans-Heinrich Jescheck 1369
1. Das zeigt sich bereits im Hinblick auf das Real- odeT SchutzpTinzip,
das Jescheck in gleichsam "klassischem" Sinne auf den Schutz von
solchen inländischen Rechtsgütern beschränkt sehen wollte, die - wie
die eigene Staatsgewalt, die staatliche Ordnung und bestimmte Allge-
meininteressen - gegen Angriffe von außen her durch das auslän-
dische Strafrecht entweder überhaupt nicht oder nicht in ausreichen-
dem Maße geschützt werden105 • Auch war er von vornherein darauf
bedacht, dieses auf legitime Selbstverteidigung ausgerichtete und damit
auch völkerrechtlich völlig unangefochtene "Staatsschutzprinzip" klar
von dem am passiven Personalstatut anknüpfenden "Individualschutz-
prinzip" abzusetzen10ft • Deshalb nahm er in den einschlägigen § b seines
Entwurfs107 nur solche Tatbestände auf, die· - als Hoch- oder Landes-
verrat oder ähnliche staatsgefährdende Delikte - gegen Bestand oder
Funktionsfähigkeit der Bundesrepublik gerichtet sind, als Taten von
oder gegen deutsche Amtsträger bzw. als Meineid bestimmte Staats-
tätigkeiten beeinträchtigen, als Verrat von Unternehmensgeheimnissen
die gesamte Volkswirtschaft betreffen oder die - durch politische An-
lOB Darüber hinaus auch noch allgemein den Völkermord (§ 220 a StGB)
mitzuerfassen, sah sich damals Jescheck weder hier beim Real- noch beim Uni-
versalprinzip veranlaßt (lRuD 1956, 88 = Sammelband S. 535), während er
sich später entschieden für eine Verfolgung nach dem Universalprinzip ein-
setztund dabei auch Apartheidsverbrechen und Flugzeugentführung mitein-
bezieht (GA 1981, 58 f., 66).
109 § 5 AE, allerdings unter Einbeziehung von Mord und Totschlag, wäh-
rend der Entwurf Baumann darüber hinaus u. a. auch Auslandstaten gegen
"Gesundheit, Freiheit, Eigentum oder Vermögen eines Deutschen" durch das
Schutzprinzip erfassen wollte (§ 5 Abs. 11 Nr. 10).
110 Niederschriften IV S. 15, IRuD 1956, 86 f. = Sammelband S.534.
111 So bereits Gallas (Niederschriften IV S.123) zu dieser auch von Je-
scheck mitgetragenen Ergänzung des Territorialprinzips (vgl. die Abstim-
mung in Niederschriften IV S. 122), in der er damals selbst schon eine par-
tielle Wiedereinführung des aktiven Personalprinzips sah (vgl. Niederschrif-
ten IV S. 26). So auch die Deutung von OehZer (Internationales Strafrecht
S.134), während Jescheck in seinem Lehrbuch die Amtsträgerklausel dem
"Staatsschutzprinzip" unterstellt, und zwar auch noch - entgegen der Fehl-
anzeige von OehZer (a. a. O. Fn. 41) - in der 3. Lehrbuchauflage (S. 138).
112 Vgl. § c Nrn.l - 5 des BJM-Entwurfs (Niederschriften IV S.412) bzw.
§ d Nrn.l- 5 der GrStrK-Beschlüsse (Niederschriften IV S.417).
113 Und zwar - trotz anfänglichen Widerspruchs - letztlich wohl auch
mit Jeschecks Stimme: Vgl. Niederschriften X S. 328 f. bzw. 336 f. sowie § 210
Abs. 5 E 1959 (Niederschriften XII Anhang B S.602).
114 Vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 13 E 1960 m. Begr. S. 195, 263 zu § 140.
115 So auch Jeschecks Deutung in Lehrbuch 3. Aufl. S. 138.
Das Internationale Strafrecht im Werk von Hans-Heinrich Jescheck 1371
m Niederschriften IV S. 27.
m Niederschriften IV S. 30 f.
1372 AlbinEser
121 Jescheck-Entwurf § Cl: "Unabhängig von dem Recht des Tatorts gilt
das deutsche Recht weiter für strafbare Handlungen, die ein Deutscher, der in
Deutschland seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat, gegen einen
Deutschen begeht" (Niederschriften IV S.17, 411, IRuD 1956,95 = Sammel-
band S. 544).
127 Jescheck, Niederschriften IV S. 32.
128 Niederschriften IV S. 33, wobei freilich nicht klar ersichtlich ist, ob
J eschecks § Cl - wie wohl ursprünglich gemeint - als exklusive Alternative
zu den umfassenderen passiven Personalitätsklauseln der beiden anderen
VorSchläge gedacht war oder ob - wie die Abstimmungsformel nahelegen
könnte - Jeschecks § Cl nunmehr lediglich als "Ergänzung" zum Vorschlag
von Gallas eingebracht worden war: In solcher Kombination aber wäre der
Anwendungsbereich des passiven Personalprinzips noch weiter ausgedehnt
worden.
1211 Vgl. Niederschriften IV S. 125 und 417 (GrStrK-Beschluß § e Abs. 1).
130 Deshalb ist gerade diese Vorschrift zu Recht ins Zentrum der Kritik
geraten: vgI. namentlich Schultz, GA 1966, 200, Vogler, Maurach-Festschrift,
S.605, Zieher (Fn.37), S.77. Zu den zusätzlichen Problemen, die dieses pas-
sive Personalprinzip zwischen und gegenüber DDR-Bürgern aufwirft, vgl.
Eser, in: Schönke/Schröder, Vorbem. 64 ff. vor § 3 sowie Rdn. 5 f. zu § 7.
131 Vgl. E 1962 Begr. S. 112.
Das Internationale Strafrecht im Werk von Hans-Heinrich Jescheck 1373
145 Vgl. oben Fn. 143 sowie Art.202 Nr.5, 240 Abs.3 und 245 Nr. 1 Abs.2
schweizStGB, wobei jedoch - insoweit über § 6 Abs.2 AE hinausgehend -
auch eine identische Tatortnorm vorausgesetzt wird.
Das Internationale Strafrecht im Werk von Hans-Heinrich Jescheck 1375
148 Vgl. insbes. Art. 6 Abs.2 schweizStGB sowie § 65 Abs.4 östStGB von
1975.
148 § e Abs. 3 GrStrK-Beschlüsse (Niederschriften IV S. 125 f., 418).
150 Vgl. Kielwein, Niederschriften IV S. 21.
standen (Liebscher, in: Wiener Komm. zum StGB, 1980, § 65 Rdn.20). Ähn-
lich wird nach Art. 6bls Abs. 2 schweizStGB der Täter "nicht mehr bestraft".
154 Vgl. oben zu Fn.24.
IV. Schlußbemerkung
87·
1380 TheoVogler
I.
IRG voraus, allerdings nur im Falle der übernahme eines gegen einen
Ausländer ergangenen Urteils. Zur Begründung dieser systemwidrigen
Ausnahme wird angeführtl8 , die Einhaltung der nach deutschem Ver-
fassungsrecht an die Anordnung von Freiheitsentzug zu stellenden An-
forderungen könnte, da das ausländische Erkenntnis nur beschränkt
der Nachprüfung durch den deutschen Richter unterliege, nur dann
sichergestellt und zuverlässig nachgeprüft werden, wenn völkerrecht-
liche Vereinbarungen die Gewähr hierfür böten. Eine in der Tat merk-
würdige, um nicht zu sagen befremdliche Begründung. Abgesehen
davon, daß das Gesetz keine Verpflichtung zur Leistung von Rechts-
hilf~ durch Vollstreckungsübernahme begründet - das Gesetz ermäch-
tigt nur dazu -, so daß es der Bundesregierung unbenommen bliebe,
bei Zweifeln an der Rechtsstaatlichkeit der ausländischen Anordnung
des Freiheitsentzugs die übernahme der Vollstreckung abzulehnen,
bleibt die als notwendig erachtete Sicherung durch eine völkerrecht-
liche Vereinbarung dem deutschen Verurteilten, dessen Fürsorge die
Regelung gilt, vorenthalten.
Das Gesetz verschließt die Augen vor dem möglichen Defizit an
Rechtsstaatlichkeit zugunsten humanitärer Erwägungen und glaubt sich
auf den Grundsatz "volenti non fit iniuria" zurückziehen zu können:
Ist der im Ausland Verurteilte Deutscher, dann soll die übernahme
der Vollstreckung nur zulässig sein, wenn er sich damit unwiderruflich
einverstanden erklärt hat (§ 49 Abs.2 IRG). Damit kommt ein zusätz-
licher Fremdkörper in das Rechtshilferecht, der im bisherigen deut-
schen Rechtshilferecht17 beispiellos ist l8 : Ob deutscherseits Rechtshilfe
geleistet werden darf oder nicht, hängt davon ab, ob der Betroffene
zustimmt! Die Zustimmung eines von der Rechtshilfeleistung Betrof-
fenen ist zwar auch sonst nicht bedeutungslos, aber ihre Wirkung
beschränkt sich auf Vereinfachungen des Verfahrens. So kann bei der
vereinfachten Auslieferung nach § 41 IRG nach Einverständniserklä-
rung des Verfolgten mit der Auslieferung die Durchführung des förm-
lichen Auslieferungsverfahrens entfallen. Aber auch bei der verein-
fachten Auslieferung müssen die materiellen Voraussetzungen einer
Auslieferung erfüllt sein. Die Zustimmung des Verfolgten hat nur
32 Zur Rechtslage nach dem schweiz. IRSG, das ebenfalls auf die EMRK
Bezug nimmt, vgl. Art. 2 Buchst. a; hinzu kommen besondere Regelungen zum
Schutz des Geheimbereichs in Art. 9, 82 IRSG.
Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile 1387
Mehr als ein allgemeiner Richtpunkt für die Grenzen einer Rechts-
hilfeleistung ist mit der ordre-public-Klausel allerdings nicht gegeben;
sie ermöglicht keine einfache Subsumtion, sondern bedarf einer Kon-
kretisierung für einzelne Fallgruppen, wobei auf die Umstände des
konkreten Falles abzustellen ist85 • Auch die Art der erbetenen Rechts-
hilfe ist dabei von Bedeutung. Die Begründung des Gesetzentwurfs
verweist insoweit mit Recht darauf, daß die Rechtshilfe durch Voll-
streckung ausländischer Erkenntnisse, insbesondere bei Verurteilung
zu freiheitsentziehenden Sanktionen, "in ihrer Durchführung den deut-
schen ordre public besonders stark berührt", und daß deswegen andere
als die in § 48 Abs. 1 Nr.2 ausdrücklich aufgeführten "Gesichtspunkte
des ordre public - auch verfahrensrechtlicher Art, z. B. bei Erkennt-
nissen von Sonder- und Ausnahmegerichten - berücksichtigt werden
können, und zwar teilweise in weiterem Umfang als in anderen Be-
reichen der Rechtshilfe"ae. Durch die Aufnahme der ordre-public-Klau-
seI ist sichergestellt, daß der Vorbehalt des nationalen ordre public im
vertraglosen Auslieferungsverkehr7 zu einer Voraussetzung für die
Zulässigkeit der Vollstreckungsübernahme wird, die die Gerichte im
Zulässigkeitsverfahren zu prüfen haben.
Entscheidung betrifft jedoch nur das klassische Strafrecht mit Rücksicht auf
den ihren Akten zugrundeliegenden "ethischen Schuldvorwurf" (vgl. Herzog,
in:-MaunzIDürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92 Rdn.47). Darum geht
es im Rechtshilfeverfahren gerade nicht. Bei der Mitwirkung des Richters
im Rechtshilfeverfahren handelt es sich um eine "übertragene Aufgabe" in Aus-
formung des Rechtsprinzips (im Gegensatz zum Verständnis der Rechtshilfe
als eines politischen Akts), das für die Prüfung ausländischer Rechtshilfe-
ersuchen an die Stelle eines Verwaltungsverfahrens ein Gerichtsverfahren
gesetzt hat.
38 GTÜtzner, Schritte auf dem Wege zu einem europäischen Strafrecht,
NJW 1961,2185,2188.
40 Etwas anderes gilt nur, soweit ihnen die Ausübung der Befugnisse der
Bundesregierung aufgrund des § 74 Abs.2 IRG übertragen worden ist. Vgl.
zur Rechtslage nach dem entsprechenden § 44 DAG, Mettgenberg/Doerner,
Deutsches Auslieferungsgesetz, Kommentar, 1953, S. 503.
41 z. B. auch - worauf Jescheck (Anm.3), S.575, schon hingewiesen hatte
- für die Verfassungsbeschwerde nach § 90 BVerfGG.
42 Insoweit bestand auch in den Kommissionsberatungen wenig Klarheit.
Zu der Frage, was eigentlich im Falle der Vollstreckungsübernahme voll-
streckt werde, wurden die unterschiedlichsten Auffassungen vertreten: Voll-
streckt werde nicht das ausländische Urteil, sondern die deutsche Vollstrek-
kungsklausel; es müsse zum Ausdruck gebracht werden, daß die fremde Strafe
vollstreckt werde; es werde das ausländische Urteil in deutscher Sprache voll-
streckt; die Exequaturentscheidung sei die Grundlage, de facto werde das
ausländische Urteil vollstreckt; Protokoll über die 11. Tagung, S. 22.
Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile 1389
57 European Treaty Series Nr. 70, abgedr. bei Grützner/Pötz (Anm. 4), 111 5.
Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile 1391
11.
Bestehen somit aus verfassungsrechtlicher Sicht gegen die Rechts-
hilfe durch Vollstreckungsübernahme keine durchgreifenden Beden-
ken, so ergeben sich aus der rechtshilferechtlichen Betrachtungsweise
68 (Anm.6).
51 Vgl. Bartsch, Strafvollstreckung im Heimatstaat. Zu einem neuen über-
einkommen des Europarats, NJW 1984, 514.
80 Der Kommissionsentwurf (§ 58 Abs. 2) hatte die Zuständigkeit der Staats-
anwaltschaft vorgesehen, soweit es nicht um die Vollstreckung von Freiheits-
bzw. Ersatzfreiheitsstrafe ging.
81 Begr. (Anm. 11), S. 72.
1392 TheoVogler
doch neue Fragen zum materiellen Strafrecht. Nach § 258 Abs.2 StGB
ist wegen Strafvereitelung strafbar, wer absichtlich oder wissentlich
die Vollstreckung einer gegen einen anderen verhängten Strafe oder
Maßnahme ganz oder z. T. vereitelt. Unter den Schutz der Vorschrift
fällt nur die inländische Strafrechtspflege82 ; der Schutz ausländischer
Verfolgungsinteressen ist nicht Sache des deutschen Strafrechts·!. Es
stellt sich somit die Frage, ob wegen Strafvereitelung bestraft werden
kann, wer die auf ausländisches Ersuchen übernommene Vollstreckung
vereitelt, indem er z. B. den aus der Haft Entwichenen beherbergt oder
ihm hilft, weiter zu fliehen. Rechtsprechung und Literatur ist dazu
keine Stellungnahme zu entnehmen.
Im Falle von Auslieferungshaft wird die Auffassung vertreten, § 258
StGB erfasse auch Handlungen, die einen Ausländer vor dem Vollzug
der Auslieferungshaft schützen sollen; denn Verhängung und Vollzug
von Auslieferungshaft sei Teil der inländischen Strafrechtspflege64 •
Zur Begründung wird geltend gemacht, die Strafgewalt beschränke
sich nicht auf Urteilsgewalt; vielmehr unterlägen der "inländischen
Strafgewalt" auch alle die Strafsachen, mit denen die deutschen Straf-
verfolgungsbehörden im Zuge der Verbrechensaufklärung überhaupt
in Berührung kommen, so z. B. in Auslieferungssachen: Wer einen nach
Deutschland geflüchteten Ausländer, dessen Auslieferung verlangt
wird, den Nachforschungen verbirgt, helfe nach § 257 a. F. StGB, so-
fern der begünstigte Täter ein Verbrechen oder Vergehen entspre-
chend dem deutschen Recht begangen habe6s • Auch nach Schröder66
soll eine Erweiterung des Bereichs der geschützten Strafgewalt in
Betracht kommen, wo außerdeutsche Strafverfolgung durch deutsche
Staatsgewalt ausdrücklich als schutzwürdigarierkanilt worden sei. Das
62 Tröndle, LK, 10. Aufi., vor § 3 Rdn.28; zu der von den Anwendungs-
bereichsregeln der §§ 3 - 7 StGB zu trennenden Frage der Einbeziehung aus-
ländischer Rechtsgüter in den Schutzbereich der deutschen Straftatbestände
vgl. Jescheck (Anm. 47), S. 141; OehZer, Internationales Strafrecht, 2. Aufi. 1983,
Rdn. 232 ff. m. w. N.; Reschke, Der Schutz ausländischer Rechtsgüter durch
das Strafrecht, 1962.
63 Ruß, LK, 10. Aufi., § 258 Rdn. 1; Schröder, Grundlagen und Grenzen des
Personalitätsprinzips im internationalen Strafrecht, JZ 1968,241,244.
14 Ruß (Anm.63), § 258 Rdn.l unter Bezugnahme auf BGHSt.30, 152, 159;
BGH NJW 1982, 1238, 1239; beide Entscheidungen sind jedoch nicht einschlägig;
die Kommentierung ist auch insofern widersprüchlich, als für die Vollstrek-
kungsvereitelung in Rdn. 23 eine rechtskräftige Entscheidung eines Gerichts
der Bundesrepublik Deutschland, durch die eine Strafe oder Maßnahme ver-
hängt worden ist, vorausgesetzt wird. Strafen und Ausliefern sind aber ver-
schiedene Dinge. Durch Auslieferung wird man nicht bestraft, und das Aus-
lieferungsverfahren ist nicht Strafrechtspfiege; so schon von Martitz, Inter-
nationale Rechtshilfe in Strafsachen, 1888, S. 447, 450 f.
85 Maurach, Deutsches Strafrecht, Besonderer Teil, Lehrbuch, 5. Aufi. 1969,
S.729.
66 JZ 1954, 672.
Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile 1393
67 BGHSt. 2,44,48; in BGH JZ 1984,897 mit Anm. Vogler, wird diese Auf-
fassung unter Bezugnahme auf Vogler, Aktuelle Probleme der Auslieferung,
ZStW 81 (1969), S. 163, 182 f., ausdrücklich bestätigt.
88 Zur Unterscheidung von Rechtspflege- und Rechtshilfetheorie vgl.
Schul tz (Anm. 19), S. 13 f.; Vogler (Anm. 33), S. 27.
88 von Martitz (Anm. 64), S. 447, 450 f.
70 Samson, SK, § 258 Rdn.2, 3; Stree, in: SchönkelSchröder, 21. Auft. 1982,
Rdn.9; Maurach/Schroeder, Strafrecht, Besonderer Teil, Teilband 2, 6. Auft.
1981, S. 323; Schröder (Anm. 63), S. 244.
strafrechtlich verfolgt werde7l • Art. 305 schweiz. StGB bestrafe nur die
Behinderung eines von schweizerischen Behörden geführten Strafver-
fahrens und· - so die Schlußfolgerung von Schultz72 - ist daher auf
ein gewöhnliches Auslieferungsverfahren nicht anwendbar73 • Die
Schweiz hat allerdings durch BG v. 9.0kt. 1981 in Art.305 Abs.l b "
schweiz. StGB die Strafbarkeit der Begünstigung auf die Vereitelung
der im Ausland geführten Strafverfolgung oder den dort angestrebten
Sanktionsvollzug wegen bestimmter in Art. 75 bl • schweiz. StGB genann-
ter schwerster Verbrechen erweitert. Wird die in Art.305 Abs.l bl '
schweiz. StGB genannte ausländische Strafverfolgung nunmehr auch
gegen die in der Schweiz ausgeführte begünstigende Einwirkung ge-
schützt, dann ist der Schluß gerechtfertigt, daß dasselbe zu gelten
habe für die Auslieferung wegen einer solchen Tat, die das auslän-
dische Strafverfahren fördert 74 • Die mangels einer entsprechenden
Regelung im deutschen Recht bestehende Lücke durch Ausdehnung des
Tatbestands auf den Schutz eines ausländischen Strafanspruchs zu
schließen, verbietet dagegen das Analogieverbot.
Die Rechtsprechung hat allerdings in den Fällen strafbare Begün-
stigung bejaht, in denen die weitere Strafvollstreckung gegen einen
von einem Besatzungsgericht verurteilten Strafgefangenen vereitelt
wurde, wenn dieser aus einer deutschen Strafanstalt, in der er die
Strafe zu verbüßen hatte, entwichen ist und von deutschen Polizei-
beamten zur Fortsetzung der Strafvollstreckung gesucht wird75 • Die
Literatur stimmt dem im Grundsatz ZU76 • Nach Ansicht des BGH werde
der Tatbestand der Begünstigung nicht dadurch ausgeschlossen, daß
ein Besatzungsgericht die Strafe ausgesprochen habe; denn die Besat-
zungsbehörden hätten -die Strafe in einenrdeutschen Gefängnis durch
die deutsche Gefängnisverwaltung vollstrecken lassen. Die deutschen
71 BGE 104 (1978) IV 238, 240 E. 1. Zur Frage, ob Art. 305 anwendbar wäre,
wenn der im Ausland Verfolgte gestützt auf ein gültiges Auslieferungsersu-
chen in der Schweiz tatsächlich verfolgt würde und ausgeliefert werden
könnte, brauchte sich das schweizer. BG nicht zu äußern, da kein Ausliefe-
rungsersuchen gestellt war.
72 Schultz, Zur Revision des StGB vom 9.10.1981: Gewaltverbrechen,
SchwZStrR 101 (1984), S. 113, 137 f.
73 Zur Begründung. hebt Schultz (Anm. 72), S. 138, ebenfalls auf die Be-
sonderheit des Auslieferungsverfahrens ab, das zwar den Regeln des Straf-
prozesses folge, jedoch eine verwaltungsrechtliche Prozedur sei, die dem
Bund die Erfüllung seiner staatsvertraglichen Verpflichtung und die Wah-
rung anderer entsprechender Beziehungen ermögliche. Dieses Verfahren
erleichtere eine ausländische Strafverfolgung, ohne selber ein Strafverfah-
ren zu sein. Deshalb sei Art. 305 Abs. 1 auf ein gewöhnliches Auslieferungs-
verfahren nicht anwendbar.
74 Schultz (Anm. 72), S. 138.
8S'
1396 TheoVogler
88 Ebenso für das schweizerische Recht Schultz (Anm.72), S.138. Für die
widerrechtliche Befreiung von Gefangenen und Untergebrachten der in der
Bundesrepublik Deutschland stationierten NATO-Truppen gilt § 120 StGB
kraft gesetzlicher Erstreckung des Schutzbereichs durch Art. 7 Abs. 2 Nr. 6
des 4. StrÄndG vom 11. 6.1957, geändert durch das 8. StrÄndG vom 25.6.1968,
durch Art. 4 Nr. 1 a, ce, des 3. StrRG vom 20. 5. 1970 und zuletzt durch Art. 147
EGStGB (BGBL I 1957, S.597; 1968, S.741; 1970, S.505; 1974, S.576); Vogler,
Der Fall KappIer in international-strafrechtlicher Sicht, NJW 1977, 1866.
81 Dreher/Tröndle, 41. Auft. 1983, § 120 Rdn. 2.
I. Fragestellung
Das Recht der Europäischen Gemeinschaft, soweit es sich um straf-
rechtliche und ähnliche Fragen handelt, erregt bisher nur wenig Auf-
merksamkeit, obwohl es uns alle in einer Weise indirekt betrifft. wie
kaum ein anderes Rechtsgebiet. Vor allem ist es die Frage, wie die
Europäische Gemeinschaft als europäische Wirtschaftsgemeinschaft ihre
Rechtsakte gegenüber dem einzelnen mit sanktionsrechtlichem Zwang
durchsetzt. Vielleicht spielte die Frage bisher praktisch nicht eine über-
ragende Rolle, weil die Gemeinschaft über genügende Mittel verfügte,
um über gewisse Verstöße hinwegsehen zu können. Je enger die Ver-
fügbarkeit über die Mittel wird und je mehr sich die Staaten von der
Vollbeschäftigung entfernen, desto unmittelbarer wird der Ruf nach
Zwangsmitteln zur Durchsetzung der Gebote und Verbote der Rechts-
akte.
In den Jahrzehnten des Bestehens der Gemeinschaft zeigte sich, daß
die Staaten nicht entfernt von sich aus mit gleichen oder ähnlichen Stra-
fen gegen Zuwiderhandlungen vorgehen, weil die Art der bisherigen na-
tionalen Gesetzgebung dies etwa nicht erlaubt, die Umsetzung in natio-
nales Strafrecht unverhältnismäßig lange dauert oder auch einzelne
Staaten überhaupt untätig geblieben sind. So kann oft ein Betrug, der
auf unrechtmäßige Erlangung von Subventionen geht, nicht bestraft
werden, weil der nationale Tatbestand nur nationales staatliches Ver-
mögen als Rechtsgut einschließt, desgleichen müssen oft ähnliche Ver-
mögenstatbestände ausgelegt werden. Viele Staaten kommen auch
einer in dem Rechtsakt ausgesprochenen Verpflichtung zum Erlaß von
Sanktionsnormen nicht nach, weil dies auf Schwierigkeiten im Gesetz-
gebungsverfahren stößt. Ist die Lage bei herkömmlichen strafrechtli-
chen Tatbeständen schon sehr unbefriedigend, so um so mehr, wo es
sich um ganz neu formulierte Rechtsgüter der Gemeinschaft handelt,
zu deren Schutz völlig neue Straftatbestände im nationalen Recht ge-
schaffen werden müssen.
Durch die sich im Laufe der Jahrzehnte häufenden Rechtsakte der
Gemeinschaft wird das Zwangsrecht, das die Ausführung der Vor-
schriften sichern soll, immer unbefriedigender. Vor allem ist die Gleich-
1400 Dietrich Oehler
ß. Rechtslage
Die bisherige vorsichtige Praxis der EWG geht den Weg, die Staaten
allgemein jeweils zum Erlaß von Sanktionsvorschriften zu verpflichten.
Jedoch ist die Entwicklung in Bewegung.
S. 1125 (1142) und Rechtssache (Amsterdam Bulb) 50/76 ECR, Sammlung (1977),
S. 127 (155).
1404 Dietrich Oehler
Aus den Zitaten ergibt sich nicht mit letzter Sicherheit, ob der Ge-
neralanwalt und der Gerichtshof in der Rechtssache die angesprochenen
Sanktionsbefugnisse der Gemeinschaft generell gemeint haben oder
nur auf die im Vertrag ausdrücklich vorgesehenen bezogen haben. Es
findet sich in den Ausführungen kein Hinweis auf eine diesbezügliche
Einschränkung, so daß der Gerichtshof anscheinend von einer allge-
meinen Ermächtigung zum Erlaß von Sanktionen in einem Rechtsakt
der Gemeinschaft ausgeht. Da er keine dezidierte Vorschrift des Ver-
trages anspricht, kann er nur meinen, daß eine solche Befugnis allge-
mein aus dem Vertrag folge, weil dieser durchsetzbar sein müsse.
Das ist aber m. E. sowohl für Straftaten als auch für Ordnungswid-
rigkeiten zu verneinen. Diese Unterscheidung kennen sowieso nicht alle
Länder, und selbst wenn sie diese haben, dann sind die Kriterien
kaum mit Sicherheit auszumachen. War ursprünglich Ordnungswidrig-
keit und Straftat im deutschen Recht qualitativ unterschieden - dort
Verwaltungsunrecht, hier kriminelles Unrecht -, so liegt heute der Un-
terschied oft im Quantitativen der Zuwiderhandlung. Deshalb kann
man nicht von vornherein der Gemeinschaft das Recht etwa auf die
Setzung von Ordnungswidrigkeitsvorschriften zubilligen, für Straf-
taten dagegen verneinen, sondern die Befugnis, solche Vorschriften zu
erlassen, muß einheitlich gegeben oder nicht gegeben sein.
Ist diese Befugnis - wie wir oben schqn sahen - aus einzelnen
Vorschriften des Vertrages nicht herzuleiten, so ergibt sie sich erst recht
nicht aus der allgemeinen Pflicht der Gemeinschaft, den Vertrag und
im einzelnen die Rechtsakte durchzusetzen. Es sind dafür gerade die
oben angegebenen Gründe heranzuziehen.
An erster Stelle ist wieder auf den Satz nullum crimen sine lege
und nulla poena sine lege hinzuweisen, von dessen Garantiefunktion
unser modernes Strafrecht beherrscht ist. Es ist nicht einzusehen,
warum die Gemeinschaft von der sicheren Ermächtigung durch aus-
versehen werden, obwohl der Rechtsakt hierzu nichts sagt. Die Sanktion
könnte im Interesse des Einzelstaates erlassen sein, so daß die Gemeinschafts-
regelung einen einseitigen Sinn erhalten kann. Da die Gemeinschaft allein
ein Produkt des Vertrages ist, dürfen sich die Mitgliedstaaten nicht Rechte
anmaßen, die der Vertrag nicht zuerkennt. Es muß auch in der Durchfüh-
rung von Verordnungen vermieden werden, daß eine Ungleichheit zwischen
den handelnden Personen der verschiedenen Einzelstaaten entstehen, da die
Harmonisierung der betreffenden tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse
ein Ziel der Gemeinschaft (Art. 2 EWG-Vertrag) ist. So wie gemeinschafts-
rechtliche, nicht strafrechtliche Sanktionen der betreffenden Verordnung
nicht durch strafrechtliche Sanktionen der Mitgliedstaaten überschritten
werden dürfen - das stellt das Urteil ausdrücklich fest -, darf das Fehlen
jeder gemeinschaftsrechtlichen Sanktionsvorschrift in einer Verordnung nicht
durch den Erlaß strafrechtlicher Sanktionen in dem Einzelstaat plötzlich er-
setzt werden.
Zum Strafrecht der Europäischen Gemeinschaft 1407
Es ist aus den Erörterungen die Folge zu ziehen und auch damit zu
den oben angeführten Meinungen des Bundesrats und der Bundesre-
gierung Stellung zu nehmen.
Die Gemeinschaftsorgane dürfen unmittelbar strafrechtliche Vor-
schriften nur erlassen, soweit sie ausdrücklich im Vertrag ermächtigt
sind. Deshalb dürfen sie nicht indirekt durch Verweisung auf nationale
strafrechtliche Bestimmungen - soweit es der Vertrag nicht ausdrück-
lich erlaubt - strafrechtliche Normen erlassen, etwa indem Verstöße
gegen das vertragliche Geheimnisgebot, Urkundenfälschung zum
ist deshalb wohl auch in der erneuten Vorlage der Kommission vom
13. Juli 1983 (s. oben) einer Verpflichtung, angemessene Sanktionen für
den Fall der Zuwiderhandlung zu erlassen, gewichen (z. B. Art.3 [7], 4
[8], 7 [4] abgeänderter Text).
1.
89'
1412 Klaus Tiedemann
II.
Für eine moderne Auffassung darf die hier nur skizzierte Streitfrage
im übrigen nicht überbetont werden. Zu Recht hat nämlich das Bundes-
verfassungsgericht darauf hingewiesen, daß jede auch nur im weitesten
Sinne als Strafe gemeinte Sanktion - wie etwa die Ordnungsstrafe
nach § 890 ZPO (a. F.) - elementare strafrechtliche Grundsätze wie ins-
besondere das Schuldprinzip ins Spiel bringe24 • Nicht die Geltung oder
Nichtgeltung strafrechtlicher Lehren und Grundsätze, sondern das Aus-
maß ihrer Einschränkung entsprechend dem nicht-kriminellen Charak-
ter der Sanktion steht also in Frage. Wenn die eindeutige Tendenz d~r
europäischen Rechtsentwicklung in den Mitgliedsstaaten in die Richtung
einer Abschaffung oder doch drastischen Einschränkung des klassischen
Verwaltungsstrafrechts (im kompetentiellen Sinne) weist und die Vor-
züge der Entkriminalisierung sowie der Praktikabilität mit dem Einsatz
einer Sanktion verbindet, die präventive Zwecke verfolgt, aber zugleich
repressive Unrechtsfolge ist, so steht dieser Gesamtkomplex trotz seiner
historischen Entwicklung und Veränderung auch weiterhin zwischen
Strafrecht und Verwaltungsrecht. Ob er stärker dem Strafrecht oder
mehr dem Verwaltungsrecht zugerechnet wird, kann je nach dem jewei-
ligen Sachbezug möglicherweise unterschiedlich beantwortet werden.
Jedoch entspricht es der vom Bundesverfassungsgericht prototypisch
hervorgehobenen modernen rechtsstaatlichen Tendenz, eine Maßnahme,
mit der dem Betroffenen ein Rechtsverstoß vorgehalten und zum Vor-
wurf gemacht wird, jedenfalls im Grundsatz auch strafrechtlichen Fun-
damentalsicherungen zu unterwerfen.
Inwieweit gelten also die Lehren des Allgemeinen Teils für dieses
durchaus autonome Zwittergebilde des gemeinschaftsrechtlichen Buß-
ge1arechts?
III.
u BVerfGE 20, 323, 331 ff.; dazu Jescheck, Allgemeiner Teil, S.l1; Tiede-
mann, Wirtschaftsstrafrecht I, S.234. Zu § 890 ZPO n. F. BVerfGE 58, 159 ff.
Ganz ähnlich übrigens vom französischen Rechtsstandpunkt aus Levasseur
(Fn. 22), S. 113.
15 Vgl. den überblick bei Constant, in: General Reports to the 10th Inter-
national Congress of Comparative Law, 1981, S. 937 ff.; Delmas-Marty, Revue
Internationale de Droit Penal 1980, 39 ff., und dies., Revue Internationale de
Droit Penal 1983, 41, 57 ff.; Screvens, Revue de droit penal et de criminologie
1980, 163 ff. Zum angloamerikanischen Rechtskreis zuletzt Fisse, Southern
Allgemeiner Teil des europäischen supranationalen Strafrechts 1419
ist nicht gesichert, ob die hier gesetzlich bisher nur als Nebenfolge ver-
ankerte Möglichkeit der Bußgeldverhängung gegen juristische Perso-
nen und Personenvereinigurigen (§ 30 OWiG) dahin zu verstehen ist, daß
die Normen des Ordnungswidrigkeitenrechts sich auch an andere als
natürliche Personen, eventuell auch an - als solche nicht rechtsfähige -
Unternehmen und Vereinigungen von Unternehmen richten28 • Dem-
gegenüber sprechen die einschlägigen Bußgeldnormen des Gemein-
schaftsrechts überwiegend ganz ausdrücklich von Sanktionen gegen
Unternehmen und Unternehmensvereinigungen und lassen daher eine
Deutung der (Quasi-)Strafbarkeit von Unternehmen nach anglo-ameri-
kanischem Muster (Sherman Act von 1890!) zu. Allerdings ist die Klage-
möglichkeit in Art. 173 Abs. 2 EWGV auf natürliche und juristische Per-
sonen beschränkt. Auch wenn für die Vollstreckung der Sanktionen in
Art. 92 Abs.2 EGKSV auf das nationale Recht und in Art. 192 Abs.2
EWGV auf die Zivilprozeßordnung verwiesen wird, so können jeden-
falls nach deutschem Recht Vollstreckungsschuldner nicht Unternehmen
und Unternehmensvereinigungen, sondern nur Personen im Rechtssinne
sein. Nach deutscher Dogmatik liegt es daher wohl näher, mit Jescheck
als Adressaten sowohl der Bußgeldnormen als auch der Sanktionen den
Inhaber von Unternehmen anzusehen!7. Inhaber kann (nur) eine natür-
liche oder eine juristische Person sein.
31 RsprGH 1972, 619, 665; 787, 838; 845, 849. Vgl. zuletzt das Urteil in der
Rechtssache AEG (107/82), EuGH NJW 1984, 1281 ff. m. Bespr. Schroth, wistra
1984, 164 ff.
a2 Eingehend dazu die vor dem Abschluß stehende rechtsvergleichende
Freiburger Diss. von Rütsch: Strafrechtlicher Durchgriff bei verbundenen
Unternehmen? Zuvor Tiedemann, NJW 1979, 1852 f.
1422 Klaus Tiedemann
42 BGHSt.4, 24, 32, und NJW 1977, 1695 f.; GöhZer (Fn.14), Rdnr.19 (a. E.)
vor § 1; Jescheck, Allgemeiner Teil, S. 102 f.; Lenckner, JuS 1968, 304, 308 f.;
Tiedemann, Wirtschafts strafrecht I, S. 199 f., und bereits ders., Tatbestands-
funktionen (Fn. 14), 1969, S. 196 m. N. zum US-Recht.
43 Vgl. zuvor die einstimmig gefaßte Resolution des Freiburger AIDP-Kol-
loquiums, Revue Internationale de Droit Penal 1983, 78, und bei Sieb er,
ZStW 96 (1984), S. 258, 270 f.
4' Vgl. nur Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1983, S. 67 f.
45 Dazu BVerfGE 14, 245, 251; GöhZer (Fn. 14), § 3 Rdnr.5; Steindorff, La-
renz-Festschrift, 1973, S.217, 238 f.; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen (Fn.
14), S. 197 f. m. w. N. insbes. auch zum angelsächsischen Rechtskreis. über
ähnliche Tendenzen der italien. Lehre Picotti, Giurisprudenza di Merito 1982,
1005, 1011 m. N. in Fn. 20.
48 Jescheck, JZ 1959,462.
55 Urteil des Gerichtshofes vom 29. 2. 1984 (270/82), noch nicht veröffentlicht.
90·
1428 Klaus Tiedemann
Art. 85 Abs. 3 EWGV allenfalls bis auf den Zeitpunkt der Anmeldung
zurückwirken kann (vgl. Art. 6 VO Nr. 17) und dieser Zeitpunkt anderer-
seits durch Art. 15 Abs.5 VO Nr. 17 als Beginn der Bußgeldfreiheit
garantiert ist, bleibt ein Verhalten vor Anmeldung grundsätzlich ord-
nungswidrig (so daß die Anmeldung vor oder bei Wirksamwerden der
Vereinbarung erfolgen sollte!). Für die Annahme einer weitergehenden
Rückwirkung der Freistellung ist nach h. M. hier wie auch sonst im Straf-
und Bußgeldrecht kein RaumsI: Die Strafbarkeit bzw. Ordnungswidrig-
keit eines Verhaltens muß grundsätzlich im Zeitpunkt seiner Vornahme
beurteilt werden können. Zwar nimmt die Kommentarliteratur teil-
weise an, das materielle Vorliegen der Freistellungskriterien sei "nega-
tive Tatbestandsvoraussetzung" oder "negative objektive Strafbarkeits-
bedingung"tI2. Dies ist schon deshalb zweifelhaft, weil die inhaltlich an
das französische Kartellstrafrecht angelehnten Freistellungsgründe des
Art.85 Abs.3 von solcher Unbestimmtheit und Weite sind, daß trotz
Anerkennung eines Rechtsanspruches auf Freistellung bei Vorliegen
dieser Voraussetzungen ein weitreichendes Beurteilungsermessen der
Behörde besteht. Materiell-rechtlich gäbe es daher nur den Ausweg,
trotz der soeben genannten Bedenken bei Anmeldewilligkeit der Betei-
ligten und Vorliegen der Freistellungsvoraussetzungen den Tatbestand
des Art. 85 Abs.1 zu verneinen, da die Vereinbarung dann jedenfalls
keine Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt. Da aber Art. 4 VO Nr.17
keine Frist für die Anmeldung setzt und in Abs. 1 S.2 bis zur erfolgten
Anmeldung von der Rechtswidrigkeit des Verhaltens ausgehte3 , kann die
mißlungene und von § 38 Abs.1 Nr. 1 GWB bewußt vermiedene Kon-
struktion des Bußgeld-Gesetzgebers im EWG-Bereich nur durch eine
entsprechende zivil rechtliche Vertragsgestaltung oder -auslegung (still-
schweigende aufschiebende Bedingung bei Anmeldewillen der Vertrags-
parteien!) oder aber verfahrensmäßig bereinigt werden, indem insbe-
sondere bei Bestehen des Anmeldewillens der Beteiligten eine nur kurze
Dauer der Ordnungswidrigkeit (zwischen Vertragsschluß und Anmel-
dung) nicht zur Verfolgung führt. - Für das Genehmigungsverfahren
nach Art.65 EGKSV ist die Rechtslage insofern klarer, als hier die
77 Vgl. OLG Hamm NJW 1952, 838 f.; BayObLG NJW 1953, 1603 f.; Lenck-
ner, in: Schönke/Schröder, 21. Aufl. 1982, § 34 Rdnr.9; Jescheck, Allgemeiner
Teil, S. 289.
78 Vgl. Fn. 68; vgl. dazu auch Tiedemann, NJW 1981, S. 945 ff.
79 Vgl. zum deutschen Recht insoweit BGH bei Tiedemann, Die Neuord-
nung des Umweltstrafrechts, S. 58, 60 f., und zuvor BGHSt. 5, 61, 66. Das fran-
zösische Recht kommt hier ohnehin nur zu einem Strafmilderungsgrund
(vgl. Schulz, Das französische Umweltstrafrecht, Diss. Freiburg 1984 m. N.).
Allgemeiner Teil des europäischen supranationalen Strafrechts 1433
einheitlich oder auch nur eindeutig ist, zeigt die Entscheidung gegen
United Brands, wenn dort bei Streit um die Kenntnis der Betroffenen
von dem normativen Tatbestandsmerkmal der marktbeherrschenden
Stellung sogleich in die Annahme ausgewichen wird, es liege "zumin-
dest Fahrlässigkeit" vor99 •
Die reiche Kasuistik des Gemeinschaftsrechts100 läßt im gegenwärtigen
Zeitpunkt eindeutig nur die Aussage zu, daß - ähnlich wie auch im
französischen Zollstrafrecht - jedenfalls der "unüberwindliche", also
unverschuldete Irrtum beachtlich ist und die Schuld ausschließt, auch
soweit es sich nicht um reine Tatsachenirrtümer handelt. Diesen Stand-
punkt hat die Kommission im Fall Pergamentpapier lol und der Gerichts-
hof in dem Urteil gegen die europäische Zuckerindustrie (Suiker Unie
u. a. 102) eingenommen. Dabei geht es hier wie auch sonst vor allem um
Sachverhalte, in denen ein Rechtsirrtum durch mißverständliche Äuße-
rungen der Kommission hervorgerufen wurde, und um Zeiträume, in
denen die Rechtsregel noch neu ist oder sich noch im Stadium der Kon-
kretisierung befindet. Einzelne Rechtsordnungen (wie die belgische und
die italienische) beschränken die strafrechtliche Beachtlichkeit von
(vermeidbaren) Rechtsirrtümern auf die Konstellation behördlicher
Verursachung oder Duldung des irrtums getragenen Täterverhaltensl03 •
Jedoch ist auch über diese Sondersituation hinaus in den Mitglieds-
staaten eine deutliche Tendenz zur strafmildernden Berücksichti-
gung auch des verschuldeten Rechtsirrtums zu erkennen, und die-
ser Ausdruck eines "weit verbreiteten Rechtsgedankens" sollte als
"fortschrlttliches Element" auch für das Bußgeldrecht der Gemein-
schaften Anwendung finden 104 • Generalanwalt Reischl weist in diesem
Zusammenhang auf die auch von uns immer wieder zitierte Abhand-
lung J eschecks aus dem Jahre 1953 und auf das deutsche Ordnungs-
widrigkeitenrecht hin, dessen § 11 Abs. 2 OWiG in demselben Sinne
wie die ausdrückliche Regelung des § 17 S.2 StGB verstanden wird.
Damit hat der vermeidbare Verbots- oder Rechtsirrtum (z. B. über Exi-
stenz und Inhalt oder Auslegung von blankettausfüllenden Normen,
über das Verbotensein einer Handlung oder über die rechtlichen Vor-
aussetzungen des Eingreifens von Rechtfertigungsgründen105) seinen dog-
matisch legitimen Platz jedenfalls im Bereich der Bußgeldbemessung -
ein Bereich, der im übrigen dem Gerichtshof wie auch den nationalen
Gerichten häufig dazu dient, rechtliche Gesichtspunkte aufzufangen, die
nach richterlicher Ansicht oder nach dem Stand der Dogmatik (noch) kei-
nen Platz im eigentlichen Allgemeinen Teil der Lehre von der Straftat
finden. Dies enthebt freilich, wie auch die neue re Entwicklung des deut-
schen Strafzumessungsrechts gezeigt hat, nicht von der Verpflichtung,
auf längere Sicht auch diesen Bereich dogmatisch zu bearbeiten. Der
Freispruch im Verfahren des Kölner Zuckerunternehmens Pfeifer &
Langen wegen irrtümlicher Annahme der Vereinbarkeit seines Han-
deIsvertretersystems mit Art. 85 Abs. 1 EWGV ist schwerlich damit in
Einklang zu bringen, daß die letzte Stahlquoten-Entscheidung des Ge-
richtshofes es ablehnte, im Falle des niederländischen Unternehmens
Estel dessen irrige Annahme der Unverbindlichkeit einer Kommissions-
anordnung wegen einer abweichenden Vereinbarung mit Eurofer zu-
mindest im Rahmen der Bußgeldbemessung zu berücksichtigen. Hinter
dieser Ablehnung steht deutlich und vom Gerichtshof offen ausgespro-
chen die Sorge, eine Berücksichtigung des Irrtums über die Normgel-
tung könne die Geltung der Norm beeinträchtigen - eine Haltung, die
auch aus der älteren deutschen und aus der neueren französischen Pra-
xis und Lehre bekannt ist.
Der EuGH ist kein Conseil d'Etat. Er erteilt nicht dem Monarchen
Rat, sondern urteilt über das Vorliegen schuldhafter Verstöße gegen die
Regeln des Gemeinsamen Marktes. Dieses Urteil sollte sich im Sinne
eines breit angelegten Rechtsvergleiches vor allem auf die Erfahrung
stützen, welche eine entwickelte Dogmatik in einer ganzen Reihe gegen-
wärtiger und künftiger Mitgliedsstaaten dem Richter auf dem Wege zur
Rechtsfindung anbietet. Nur die weitere geistige Durchdringung und
insbesondere die schärfere Trennung von Rechtsgeltung, Rechtswidrig-
keit und Schuld vermag auch im Gemeinschaftsrecht jene - im Wirt-
schaftsleben in besonderem Maße erforderliche - Rechtssicherheit zu
91·
1444 Jacques Verhaegen
compte tenu des elements de fait, ces agents ont du avoir de la crimi-
nalite de l'ordre. Au cas ou la criminalite de la mesure ne serait pas
apparue flagrante aux yeux d'un prevenu, l'erreur d'appreciation doit
suffire a disculper l'homme sans pour autant legitimer le fait 8 •
2. Les crimes commis par les Belgesluttant contre les forces ennemies
La loi du 20 juin 1947 n'etant plus a l'endroit de ces nationaux ni
competente9 ni necessaire, c'est la Iegislation beIge de droit commun
qui seule devait autoriser leur pou_rsuite devant les juridictions belges
assurement competentes pour connaitre de ces crimes commis en
Belgique ou a l'etranger. Ni la qualite de depositaire ou agent de
l'autorite agissant au nom et pour cause de l'Etat, ni le « mobile de
service »10, ne pouvait en ce qui les concerne constituer une cause
pertinente d'exoneration.
On en trouvera une application tout a fait correcte dans le jugement
de condamnation rendu le 18 mai 1966 par le Conseil de guerre de
Bruxelles a l'endroit d'un sergent beIge poursuivi pour avoir execute
au Congo en 1964 une personne civile sans defense. La condamnation
etait prononcee d la fois pour meurtre suivant les termes des Codes
penaux congolais et beIge et pour violation flagrante du droit inter-
national des conflits armes. 11 etait rappele qu'en pareil cas le crime de
guerre est indifferemment punissable comme atteinte a l'ordre public
international et a l'ordre public nationall l .
On etait en droit d'imaginer que les memes principes et les memes
regles furent appliques aux sujets belges eventuellement poursuivis
pour crimes de guerre commis sur la personne de ressortissants ennemis
au cours du dernier conflit mondial.
C'etait ne point compter avec la repugnance instinctive, et bien connue,
des autorites militaires et judiciaires et du public en general devant la
poursuite de nationaux ayant commis leurs crimes dans leurs activites
8 Cass., 4 juillet 1949, cite, p. 516.
t La loi du 20 juin 1947, comme on sait, ne visait que les etrangers et les
Belges au service de l'ennemi. Ce qui a fait ecrire a M. Grevy «I1 ne peut
etre question de considerer, si ce n'est precisement pour une raison de com-
petence, qu'un BeIge puisse commettre un crime de guerre ... » (Rev. dr. pen.
crim.., 1947/48, p.806). Affirmation quelque peu equivoque si l'on en juge
par les travaux preparatoires de la loi du 20 juin 1947: «I1 peut etre bon
qu'en prevision de nouveaux conflits, chacun sache les responsabilites qu'il
pourrait encourir si, obeissant meme a des ordres precis d'une autorite legi-
time, il meconnaissait ces prescriptions ... » (H. Carton de Wiart, Annales par-
lementaires, Chambre, 29 mai 1947).
10 J. Verhaegen, L'exces de pouvoir, la legalite de crise et le droit de
Nuremberg in « La protection penale contre les exces de pouvoir et la resis-
tance legitime a l'autorite », Bruxelles, Bruylant, 1969, pp. 369 et 370.
11 Rev. Jur. Conga, 1970, p. 236 et note J. V.
1446 Jacques Verhaegen
2 Henkin, The Rights of Man Today, 1978, p. 94; van der Meersch, Does the
Convention have the force of "ordre public" in municipallaw?, in: Robertson
(ed.), Human Rights in National and International Law, 1968, p. 97, 101 - 103.
See generally Symposium on the Future of Human Rights in the World Legal
Order, Hofstra Law Review (1981), p. 337.
a See Bassiouni/Derby, An Appraisal of Torture in International Law and
Practice: The Need for an International Convention for the Protection and
Suppression of Torture, ReVUe Internationalede Droit Penal (R.I.D.P.) 48
(1977), p. 17.
, See, e.g., Vasak (ed.), The International Dimensions of Human Rights,
1982; McDougal/LassweZZ/Chen, Human Rights and World Public Order, 1980;
Lillich, Humanitarian Intervention and the United Nations, 1973; McDougal/
Feliciano, Law and Minimum World Public Order, 1961, p. 290 - 292; Oppen-
heim/Lauterpacht, International Law, 8th ed. 1955, p. 312 f.; Nanda, Self
Determination in International Law: The Tragic Tale of Two Cities - Isla-
mabad (West Pakistan) and Dacca (East Pakistan), American Journal of
International Law 66 (1972), p.321; McDougal/Reisman, Rhodesia and the
United Nations: The Lawfulness of International Concern, American Journal
of International Law 62 (1968), p. 1.
5 See Henkin (ed.) , The International Bill of Rights: The Covenant on
Civil and Political Rights, 1981; McDougal/LassweZZ/Chen (n.4); Lillich/New-
man, International Human Rights: Problems of Lawand Policy, 1979; SOhn/
Buergenthal, International Protection of Human Rights, 1973; Haas, Human
Rights and International Action, 1970.
B See McDougal/Lasswell/Chen (n. 4), p. 63 - 68.
2. War CrimeSS
A war crime is the result of the willful undertaking of conduct
defined as a grave breach under the First, Second, Third, and Fourth
1938, 53 Stat. 1921, E.A.S. No. 127, 3 Bevans 523; Geneva Convention of Aug.
12, 1949, No. I, For the Amelioration of the Condition of the Wounded and
Siek in the Armed Forces of the Field, 6 U.S.T. 3114, T.I.A.S. No.3362, 75
U.N.T.S. 31; Geneva Convention of Aug.12, 1949, No. II, For the Amelioration
of the Condition of the Wounded, Siek and Shipwreeked Members of Armed
Forces at Sea, 6 U.S.T. 3217, T.I.A.S. No. 3363, 75 U.N.T.S. 85; Geneva Conven-
tion of Aug. 12, 1949, No.III, Relative to the Treatment of Prisoners of War,
6 U.S.T. 3316, T.I.A.S. No. 3364, 75 U.N.T.S. 135; Geneva Convention of Aug.
12, 1949, No. IV, Relative to the Prqtection of Civilian Persons in Time of
War, 6 U.S.T. 3516, T.I.A.S. No. 3365, 75 U.N.T.S. 287; Convention for the Pro-
teetion of Cultural Property in the Event of an Armed Conflict, May 14, 1954,
249 U.N.T.S. 2t5;Addlti(!1l~l Protocol IX tQ th{LTreaty fOl.'_ the Prohibition of
Nuc1ear Weapons in Latin America, Feb.14, 1967,22 U.S.T. 754, T.I.A.S. No.
7137; Treaty on the Nonproliferation of Nuclear Weapons, July 1, 1968, 21
U.S.T. 483, T.I.A.S. No. 6839, 729 U.N.T.S. 161; Question of Chemical and Bac-
teriological (Biologieal) Weapons, Jan. 19, 1972, G.A. Res. 2827, 26 U.N. GAOR
Supp. (No. 29) at 82, U.N.Doc. A/8574 (1971); Convention on the Prohibition of
the Development, Production, and Stoekpiling of Bacteriological (Biologieal)
and Toxin Weapons and on their Destruction, Apr.lO, 1972, 26 U.S.T. 583,
T.I.A.S. No. 8062; Convention on the Prohibition of Military or Any other
Hostile Use of Environmental Modification Techniques, May 18, 1977, 31
U.S.T. 333, T.I.A.S. No.9614; Protocols Additional to the 1949 Geneva Con-
ventions, June 10, 1977, Int'l Rev. Red Cross (Spec. Issue Aug.-Sept. 1977).
U Geneva Conventions of Aug. 12, 1949 (n.25); Protocol to Geneva Con-
ventions of Aug. 12, 1949 (n. 25).
21 Bassiouni, International Criminal Law (n. 15), pp. 56 - 60.
28 Id.
2D Id.
30 Id.
31 Id.
32 Id.
33 Id.
14 See n.22.
International Criminal Law and Protection of Human Rights 1461
4. Genocide48
5. ApartheidS1
7. Torture 58
9. Piracy08
The crime of piracy consists of any illegal act of violence, detention,
or any other act of deprivation, committed for private ends by the crew
or- the passengers of i pdvate ship or a privateaircraft, and directed:
(i) on the high seas, against another ship or aircraft, or against persons
or property on board such ship or aircraft; or (ii) against a ship, air-
58 The Geneva Conventions of Aug. 12, 1949 (n. 25), Draft Convention for
the Prevention and Suppression of Torture, U.N.Doc. E/CN.4/NGO.213 (1978)
(hereinafter Prevention of Torture Convention).
57 Bassiouni, International Criminal Law (n. 15), at 82. See also Bassiounil
Derby (n. 3), p. 17.
58 See n. 24.
59 See n. 22.
80 See n. 38.
animals are a11 barred from the mails78 • The right to life, liberty, and
personal security is protected77 •
the only method of human rights proteetion. These and other alter-
natives will be diseussed in a more systematie manner in the section
below.
108 See, e.g., Abi-Saab, The United Nations Operation in the Congo, 1960-
1964,1979.
107 See id.
108 See Rosenne, The Law and Practice of the International Court, 1965.
See also Advisory Opinion on the Legal Consequences for States of the Con-
tinued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa), J.C.J. 1971,
p.16.
International Criminal Law and Protection of Human Rights 1473
109 See Tardu, Human Rights: The International Petition System, 1979.
110 See Frank/Fairley (n. 102). Amnesty International publishes annual and
periodic reports of its activities and issues a regular newsletter. The Inter-
national Commission of Jurists publishes a quarterly bulletin and occasional
reports. The International Association of Penal Law publishes quarterly the
Revue Internationale de Droit Penal and the Nouvel~es Etudes penales. These
and other organizations present periodic reports and statements to U.N. spe-
cialized agencies.
111 On the role of the U.N. and non-U.N. bodies in monitoring state com-
pliance with international criminal proscriptions, see generally MuelZer/
Besharov, The Existence of International Criminal Law and Its Evolution to
the Point of Its Enforcement Crisis, in: Bassiouni/Nanda (eds.), A Treatise on
International Criminal Law, vol. 1,1973, p.5.
112 Single Convention on Narcotic Drugs, Mar.30, 1961, 520 U.N.T.S. 151.
See BassiDuni, The International Narcotics Control Scheme - AProposal, St.
John's Law Review 46 (1972), p.713. The International Narcotics Control
Board publishes an annual report.
113 The Commission on Narcotic Drugs publishes annual reports submitted
to the U.N. Economic and Social Council.
V. Conclusion
93·
OTTO TRIFFTERER
Völkerstrafrecht im Wandel?
Erst seit dem Jahre 1972 werden Problemstellungen, die die un-
mittelbare strafrechtliche Verantwortlichkeit nach Völkerrecht, bzw.
die klassischen Nürnberger Tatbestände (Verbrechen gegen den Frie-
den, Kriegsverbrechen und Menschlichkeitsverbrechen) betreffen, von
Jescheck nicht mehr selbständig unter dem Begriff des Völkerstraf-
rechts, sondern gemeinsam mit mehreren gleichrangigen anderen Be-
reichen unter dem Oberbegriff des Internationalen Strafrechts be-
handelt. Unter dem Titel "Gegenstand und neueste Entwicklung des
internationalen Strafrechts" erörtert er Probleme, die die Abgrenzung
der staatlichen Strafgewalt im Verhältnis zum Ausland, die Auslie-
ferung und die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, "Strafvor-
schriften zum Schutze übernationaler Rechtsgüter" sowie "Das Straf-
recht im Bereich der Europäischen Gemeinschaften" betreffen10 ; die
klassischen Nürnberger Straftatbestände werden im Zusammenhang
mit anderen Strafvorschriften zum Schutz übernationaler Rechtsgüter
erörtert. In diesem Abschnitt behandelt J escheck aber auch die Aus-
wirkungen der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschen-
rechte und Grundfreiheiten "auf die Ausgestaltung der Rechtsnormen
der Mitgliedsstaaten" 11, also einen Bereich, bei dem es nicht um die
unmittelbare strafrechtliche Verantwortlichkeit nach Völkerrecht geht.
Ferner werden in demselben Abschnitt "andere Rechtsgüter der Völ-
kergemeinschaft" erwähnt, die "in internationalen Verträgen aner-
kannt" werden, wie der Schutz der Meere gegen Piraterie und Ver-
schmutzung, der Schutz des Geldes oder derjenige vor Verbreitung
und Vertrieb unzüchtiger Veröffentlichungen!!. Insbesondere bezüglich
des letzten Rechtsgutes geht es auch nach Ansicht von J escheck nicht
mehr um die strafrechtliche Verantwortlichkeit unmittelbar nach Völ-
kerrecht, sondern nur noch um eine Strafpflicht der Staaten; ent-
sprechende Verstöße sind deshalb auch nicht nach dem Universalitäts-
prinzip, sondern lediglich nach dem Territorialitätsprinzip zu verfol-
gen. Diese Regelung der Verfolgbarkeit beruht darauf, daß derartige
Rechtsgüter im Gegensatz zu den in den Nürnberger Tatbeständen
geschützten nicht den Bestand der Völker gemeinschaft als solche be-
treffen; es geht also bei dieser Ausweitung der Anzahl der Tatbestände
nicht mehr wie beim Völkerstrafrecht um Rechtsgüter der Völker-
gemeinschaft, denen im System des Völkerrechts selbst mit Mitteln
des Strafrechts Schutz zu gewähren ist. Vielmehr sollen in erster Linie
Im Vortrag, den Jescheck als Präsident der AIDP gehalten hat, er-
klärt er die Wahl der Bezeichnungen "International Criminal Law"
und "Internationales Strafrecht" mit dem Hinweis, sie müßten in einem
"das Völkerstrafrecht einschließenden Sinne" verstanden werden2D •
biose mit den Bereichen des staatlichen und des internationalen Rechts
führen, bei denen es allein um die Ausübung staatlicher Strafgewalt
und/oder um eine gewisse Koordination und Kooperation der Staaten
zur Erfüllung dieser (einer den Staaten ureigenen) Aufgabe geht.
Wenn z. B. die Pornographie und der Völkermord in einer Gruppe
zusammengefaßt werden, wird verdeckt, daß durch Pornographie-
Delikte die Erhaltung der Völkergemeinschaft in ihrer Existenz nicht
bedroht ist. Durch diese Gleichsetzung verschiedenartiger Deliktstypen
könnte aber gerade die Verwirklichung der Anliegen des Völkerstraf-
rechts gefährdet werden, für die Jescheck sich jahrzehntelang intensiv
eingesetzt hat.
6. Der Jubilar hat dem Verfasser für dessen Einstieg in die wissen-
schaftliche Laufbahn die Aufgabe übertragen, die Entwicklung des
Völkerstrafrechts für die ersten zwanzig Jahre seit Nürnberg zu
prüfen. Diese Untersuchung hat eine allgemeine Anerkennung der
von dem Jubilar befürworteten unmittelbaren strafrechtlichen Ver-
antwortlichkeit nach Völkerrecht ergeben3s • Der Wechsel im Sprach-
gebrauch und die spürbare Resignation des Jubilars haben erst da-
nach eingesetzt. Heute, nach weiteren zwanzig Jahren, soll deshalb
dem Jubilar eine erneute Prüfung gewidmet werden. In dieser kann
allerdings aus Raumgründen nicht die gesamte seitherige Entwicklung,
sondern nur der Zeitraum der letzten fünf Jahre behandelt werden.
Dabei wird sich zeigen, daß die Zukunfts aussichten des Völkerstraf-
rechts, die in den Jahren 1965 bis 1980 nicht besonders gut waren,
inzwischen wieder entscheidend verbessert worden sind. Für eine
Resignation besteht insofern kein Anlaß mehr.
Zugleich soll aber darauf hingewiesen werden, daß ein Verzicht
auf die Bezeichnung "Völkerstrafrecht" nicht wünschenswert wäre und
daß die Zusammenfassung völkerstrafrechtlicher Tatbestände in einer
Deliktsgruppe mit anderen Straftaten der Entwicklung des Völker-
strafrechts nicht dienlich ist; sie könnte sogar die jetzt möglicher-
weise in greifbare Nähe rückende Verwirklichung des Völkerstraf-
rechts gefährden.
1. Seit den Prozessen von Nürnberg und Tokio werden die Verbre-
chen gegen den Frieden, die Kriegsverbrechen und die Verbrechen
gegen die Menschlichkeit als klassische Tatbestände eines Völkerstraf-
rechts angesehen. Sie gelten auch heute noch als typische Beispiele für
Straftaten, die unmittelbar nach Völkerrecht geahndet werden sollen.
b) Die AIDP hat sich seit ihrer Gründung um die Entwicklung des
Völkerstrafrechts intensiv bemüht. Sie hat vor allem immer dann,
wenn es um dieses Rechtsgebiet ruhiger geworden war, neue Initiati-
ven eingeleitetlll5 • So hat sie z. B. im Jahre 1964, nachdem im Rahmen
der Vereinten Nationen alle Aktivitäten zur Kodifizierung des Völker-
strafrechts und zur Errichtung eines Völkerstrafgerichtshofes bis zur
Definition des Angriffs zurückgestellt worden waren, ein Kolloquium
über die Verwirklichung des Gedankens einer internationalen Straf-
gerichtsbarkeit abgehalten66 • Von diesen und den späteren Initiativen
sollen hier die bei den jüngsten erörtert werden.
II! Draft Report (Anm. 46), par. 21, 28 f., 49 f. und 52.
88 Draft Report (Anm. 46), par. 53.
UReport (Anm. 49), par. 67; Draft Report (Anm. 46), par. 28.
1115 Jescheck, GA 1981,49 ff. m. w. N •
.. Les Projets des Nations Unies pour l'Institution d'une Justice Penale
Internationale. Bilan et Perspective d'Avenir, Rev. int. dr. pen. 35 (1964), S.7
bis 354.
94·
1492 Otto Triffterer
c) Auch die ILA hat sich in den letzten Jahren besonders intensiv
mit dem "International Criminal Law" befaßt. Neben einer "Model
Convention on Expatriation of accused Persons for Trial and Sentence
and Repatriation for Enforcement of Sentence" standen in den Jahren
1978 bis 1984 zwei Entwürfe für eine "International Commission of
Criminal Inquiry" bzw. für ein "Statut for an International Criminal
Court" im Vordergrund der Beratungen, von denen nur die beiden
letzten für diesen Beitrag von Bedeutung sind 75 •
aal Der Entwurf für das Statut einer "International Commission of
Criminal Inquiry" ist auf der 60. Tagung der ILA 1982 in Montreal ver-
abschiedet und an die zuständigen Gremien der Vereinten Nationen
weitergeleitet worden. Von ihm interessiert im Zusammenhang mit
der gewählten AufgabensteIlung lediglich, daß die Palette der zu
untersuchenden Straftaten neben den schweren Verletzungen der Gen-
fer Konventionen, dem Völkermord und der Piraterie auch Straftaten
wie die internationalen Münzverbrechen, Verstöße gegen Fischerei-
beschränkungen, die Verschmutzung des Meeres, die Beschädigung von
Unterseekabeln und Verstöße gegen die Allgemeine Postkonvention
vom 26. 10. 1967 umfaßt; dieser Katalog entspricht also in etwa dem
in den Entwürfen der AIDP.
Es ist begrüßenswert, daß die ILA mit dem Vorschlag zur Errich-
tung einer internationalen Untersuchungskommission eine schon zu
Beginn der siebziger Jahre erörterte Idee 78 wieder aufgegriffen und
ausformuliert hat. Zu bedauern ist aber, daß in dem Entwurf nicht
zwischen solchen Straftaten, die wie die schweren Verstöße gegen die
-'CEin Teil der auf dieser Tagung gehaltenen Referate soll in der Rev. int.
dr. pen. 56 (1985) veröffentlicht werden.
75 Vgl. International Law Association, Report of the Fifty-Eights Con-
ference, Manila 1978, 1980, S.3 f. sowie S. 473 - 501; Report of the Fifty-Ninth
Conference, Belgrad 1980, 1982, S.4 f. und S. 400 - 470; Report of the Sixtieth
Conference, Montreal 1982, 1983, S. 11 f. und S. 377 - 466; die 61. Tagung der
ILA findet Ende August 1984 in Paris statt. Von dem International Criminal
Law Committee der ILA wurde vorgeschlagen, den auf dieser Tagung zu
behandelnden Entwurf für einen Internationalen Strafgerichtshof mit kon-
kreten Strafdrohungen für die einzelnen Delikte auszustatten. Die Ergeb-
nisse der Beratungen in Paris werden in dem Report of the Sixty-First Con-
ference, Paris 1984, veröffentlicht.
78 In den Jahren 1971 und 1972 sind von der Foundation for the Estab-
lishment of an International Criminal Court zwei Tagungen durchgeführt
worden, auf denen die Fragen der Errichtung eines International Criminal
Court eingehend beraten worden sind. Dabei wurde auch erörtert, ob nicht
eine neutrale Untersuchungskommission mit bestimmten Schlichtungskom-
petenzen dem Gerichtshof vorgeschaltet werden sollte. Für eine Zusammen-
stellung aller Möglichkeiten zur Durchsetzung des International Criminal
Law einschließlich des Völkerstrafrechts vgl. Gerhard O. W. Mueller, Enforce-
ment models of international criminal law, ein Referat, das 1984 auf der
Tagung in Siracusa gehalten worden ist und voraussichtlich in der Rev. int.
dr. pen. 1985 veröffentlicht werden wird.
Völkerstrafrecht im Wandel? 1495
Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Literatur ähnlich wie die
letzten Veröffentlichungen von J escheck durch das Bemühen gekenn-
zeichnet ist, in erster Linie die Zusammenarbeit der Staaten auf dem
Gebiet der Strafrechtspflege in allen Bereichen zu fördern und daß
dabei die Eigenständigkeit des Völkerstrafrechts oft verloren geht.
111. Ausblick
90 Report (Anm.49), par. 50, insb. 54; vgl. auch Tritfterer, Die Bemühungen
der Vereinten Nationen zur völkerrechtlichen Regelung der Untersuchungs-
haft, in: Die Untersuchungshaft im deutschen, ausländischen und internatio-
nalen Recht, JeschecklKTÜmpelmann (Hrsg.), 1971, S. 885 ff.
t! Näher Tritfterer, Untersuchungen (Anm. 13), S. 35 ff. insbes. S. 128 ff.
92 Report (Anm. 49), par. 50 ff.; Draft Report (Anm. 46), par. 23.
93 Report (Anm. 49), par. 50 ff.; Draft Report (Anm. 46), par. 23.
1502 Otto Triffterer
Herausgegebene Werke
Ital. Obers.: Stato attuale e prospettive future deI diritto internazionale penale,
Rivista italiana di diritto e procedura penale, N.S. Anno 7, 1964. S. 681 - 700.
Portug. Obers.: Estado atual e perspectivas futuras do direito penal internacio-
nal, Revista brasileira de criminologia e direito penal, N.F. Ano 3, No 10,
1965. S. 53 - 71.
I fondamenti filosofici deI progetto tedesco di codice penale in paragone con
quelli della riforma penalistica italiana, in: Studi in onore di Francesco
Antolisei. Vol. 2. Milano: Giuffre 1965. S. 135 - 154.
Principes et solutions de la politique criminelle dans la reforme penale alle-
mande et portugaise, in: Estudos in memoriam do Professor Doutor Jose
Beleza dos Santos. Coimbra: Boletim da Faculdade de Direito 1966. S. 433 -
467.
Die Behandlung des sog. illegalen Staatsgeheimnisses im neueren politischen
Strafrecht, in: Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag. Hrsg. von
Paul Bockelmann, Arthur Kaufmann, Ulrich Klug. Frankfurt/M.: Kloster-
mann 1968. S. 584 - 599.
Gustav Radbruchs Beitrag zur Strafrechtsvergleichung, in: Gedächtnisschrift
für Gustav Radbruch. Hrsg. von Arthur Kaufmann. Göttingen: Vanden-
hoeck & Ruprecht 1968. S. 356 - 365.
Gedanken zur Reform des deutschen Auslieferungsgesetzes, in: Etudes en
l'honneur de Jean Graven. Geneve: Librairie de l'Universite 1969. S. 75 - 89.
(Memoires publies par la Faculte de Droit de Geneve, No 25.)
Neue Formen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen, in: Festschrift
für Richard M. Honig. Göttingen: Schwartz 1970. S. 69 - 78. (Göttinger
rechtswissenschaftIiche Studien. Bd. 77.)
Engl. Obers.: New Forms of International Legal Assistance in Criminal Mat-
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tion 1970. S. 7 - 18.
L'influence du droit europeen sur le developpement du droit penal allemand,
in: En hommage a Jean Constant. Liege: Faculte de Droit 1971. S. 119 - 146.
Gegenstand und neueste Entwicklung des internationalen Strafrechts, in:
Festschrift für Reinhart Maurach zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Friedrich-
Christian Schroeder und Heinz Zipf. Karlsruhe: C. F. Müller 1972. S. 579 -
594.
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Portug. Obers.: 0 objeto do direito penal internacional e sua mais recente
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in: M. Cherif Bassiouni, Ved P. Nanda, eds., A Treatise on International
Criminal Law, Vol. 1: Crimes and punishment. Springfield: Thomas 1973.
S.49 -76.
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gleich mit dem deutschen Recht, in: Festschrift für Ernst Heinitz zum
70. Geburtstag am 1. Januar 1972. Hrsg. von Hans Lüttger, Hermann Blei
und Peter Hanau. Berlin: de Gruyter 1972. S. 717 - 735.
Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck 1513
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America Latina cornparadas con el derecho aleman, Nuevo pensamiento
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Die Kriminalpolitik der deutschen Strafrechtsreforrngesetze im Vergleich mit
der österreichischen Regierungsvorlage 1971, in: Festschrift für Wilhelm
Gallas zum 70. Geburtstag am 22. Juli 1973. Hrsg. von Karl Lackner, Heinz
Leferenz, Eberhard Schmidt u. a. Berlin: de Gruyter 1973. S. 27 - 47.
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Strafprozeßordnung 1873 - 1973. Festschrift, hrsg. von Viktor Liebscher und
Otto F. Müller. Wien: Springer 1973. S. 39 - 58.
Wesen und rechtliche Bedeutung der Beendigung der Straftat, in: Festschrift
für Hans Welzel zum 70. Geburtstag am 25. März 1974. Hrsg. von Günter
Stratenwerth, Armin Kaufmann, Gerd Geilen u. a. Berlin: de Gruyter 1974.
S. 683 - 699.
Modern crirninal policy in the Federal Republic of Germany and the German
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European criminal law in development, in: Geprägte Form. Festschrift für
Robert Rie. Hrsg. von Marion Sonnenfeld und Lucian Minor. Wien: Euro-
päischer Verlag 1975. S. 25 - 33.
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Lange zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Günter Warda, Heribert Waider, Rein-
hard von Hippel u. a. Berlin: de Gruyter 1976. S. 365 - 387.
Die Ausschließung des Strafverteidigers in rechtsvergleichender Sicht, in:
Festschrift für Eduard Dreher zum 70. Geburtstag am 29. April 1977. Hrsg.
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Die Geldstrafe als Mittel moderner Kriminalpolitik in rechtsvergleichender
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S. 257 - 276.
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Bd. 1: Aachener Kongreß - Hussar Fall. 1960.
[1.] "Erzberger-Mörder-Fall". S. 440.
[2.] "Genocidium". S. 658 - 659.
Bd. 2: Ibero-Amerikanismus - Quirin-Fall. 1961.
[3.] "Kriegsverbrechen". S. 373 - 376.
[4.] "McLeod-Fall". S.492.
[5.] "Nürnberger Prozesse". S. 638 - 643.
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Bd. 3: Rapallo-Vertrag- Zypern. 1962.
[7.] "Rauter-Fall". S. 7 - 9.
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Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck 1523
Rechtsvergleichung
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rechtsvergleichung in der Gesellschaft für Rechtsvergleichung, Jg. 1, H.l,
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Zur Friedensgerichtsbarkeit. Der Friedensrichter in England und Schottland,
Staatsanzeiger für Württemberg-Baden, Jg. 5, 1951, Nr. 61. S. 1 - 2.
- Stellung und Aufgaben des Justiees' Clerk in der englischen Friedensge-
richtsverfassung, Staats anzeiger für Württemberg-Baden, Jg. 5, 1951,
Nr. 62. S. 1 - 2.
Bemerkungen zum englischen Jugendstrafrecht im Hinblick auf den Entwurf
eines Änderungsgesetzes zum Reichsjugendgerichtsgesetz, Mitteilungsblatt
der Fachgruppe für Strafrechtsvergleichung in der Gesellschaft für Rechts-
vergleichung, J g. 2, H. 2, 1952. S. 28 - 40.
96"
1524 Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck
Rezensionen
Wielenga, Bastiaan Eliza: Essai sur la Cassation civile aux Pays-Bas, 1952,
Rabels Z, Jg. 20, 1955. S. 567 - 568.
Jellinek, Walter: Die zweiseitigen Staatsverträge über Anerkennung auslän-
discher Zivilurteile. H. 1. 2., 1953, ZaöRV, Bd.16, 1955/56. S. 110 - 111.
Laeeonia, Alfredo: Giustizia internazionale penale, 1949, ZaöRV, Bd. 16, 1955/
1956. S. 113.
Meyer, Heinrich: Die Einlieferung, 1953, ZaöRV, Bd. 16, 1955/56. S. 115 - 117.
Pompe, C. A.: Aggressive war an international erime, ZaöRV, Bd. 16, 1955/56.
S.121 - 122.
Grützner, Heinrich: Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 1955,
NJW, Jg. 9, Halbbd. 1, 1956. S. 543.
- 2. u. 3. Lfg., 1956, NJW, Jg. 10, Halbbd. 2,1957. S. 1353.
Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch. 8. Aufi. Hrsg. von Heinrich J agusch,
Edmund Mezger u. a., 1956, Bd.l, Lfg. 1 u. 2, JZ, Jg.12, 1957. S. 359 - 360.
Welzel, Hans: Das neue Bild des Strafrechtssystems. 3. Aufi., 1957, GA, Jg. 1958.
S.124.
Bemmann, Günter: Zur Frage der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit,
1957, GA, Jg. 1958. S.125.
Drost, Pieter N.: The Crime of State. Bd. 1. Humanicide, Bd. 2. Genoeide, 1959,
Archiv des Völkerrechts, Bd. 9,1961/62. S. 236 - 237.
Hoffmann, G.: Strafrechtliche Verantwortung im Völkerrecht, 1962, Frankfur-
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Graven, Jean: L'argot et le tatouage des eriminels, 1962, ZStW, Bd.75, 1963.
S. 363 - 365.
Germann, O. A.: Probleme und Methoden der Rechtsfindung, 1955, ZStW,
Bd. 78, 1966. S. 611 - 614.
Arndt, Adolf: Landesverrat, 1966, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr.34,
8. Februar 1967. S. 9.
Ranieri, Silvio: Manuale di diritto penale. 4. ed., riv. ed aggiorn. Parte gene-
rale, vol. 1, 1968, ZStW, Bd. 83,1971. S. 660 - 662.
Aktuelle Probleme des internationalen Strafrechts. Beiträge zur Gestaltung
des internationalen und supranationalen Strafrechts. Heinrich Grützner
zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Dietrich Oehler und Paul-Günter Pötz,
ZStW, Bd. 84, 1972. S. 834 - 838.
Aneel, Mare: La defense sociale nouvelle, 3. ed., 1981, Revue internationale de
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1530 Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck
Varia
Immatrikulationsrede, 8. Mai 1965, Freiburger Universitätsblätter, Jg.4, H.9,
1965. S. 29 - 32.
Gedanken zur Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands. Freiburg i. Br.:
Schulz 1965.23 S. (Freiburger Universitätsreden. N. F. H. 40.)
Jahresbericht über das Rektoratsjahr 1965/66. Freiburg i. Br.: Schulz 1966.
34 S. (Annalen der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg i. Br. H.10.)
Gedanken zu einem Hochschulgesetz für Baden-Württemberg, Freiburger
Universitätsblätter, Jg. 5, H. 11, 1966. S. 25 - 33.
Aufgaben der Landesrektorenkonferenz, Konstanzer Universitätszeitung und
Hochschulnachrichten, Nr. 14,1967, S. 1 - 2.
Bedingungen und Methoden des Rechtsunterrichts in den Vereinigten Staa-
ten von Amerika. Karlsruhe: C. F. Müller 1970. 18 S. (Juristische Studien-
gesellschaft Karlsruhe. Schriftenreihe. H. 97.)
Neue Formen studentischen Zusammenlebens, Freiburger Universitätsblätter,
Jg. 1, H. 2.1962. S. 46 - 48.
Stellung und Aufgabe der Korporation in der modernen Universität, Freibur-
ger Universitätsblätter, Jg. 6, H. 17, 1967. S. 35 - 42.
Die Wandlung der deutschen Universität in unserer Zeit, Burschenschaftliche
Blätter 89, 1974. S. 180 - 184.
Wiederaufbau und Entwicklung der Albert-Ludwigs-Universität nach 1945,
in: Festschrift zum 100. Stiftungsfest der Freiburger Burschenschaft Fran-
conia. Freiburg 1977. S. 21 - 37.
- Die Geschichte der Burschenschaft Franconia. Teilabschnitt 1933 - 1939.
Ebenda. S. 66 - 75.
- Pauktag in Günterstal. Ebenda. S. 117 - 123.
Das Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg i. Br.,
1938 - 1963. Berlin: de Gruyter 1963. 58 S.
Das Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg i. Br.,
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1532 Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck