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Festschrift für Hans-Heinrich ] escheck

zum 70. Geburtstag


Festschrift
für Hans-Heinrich Jescheck
zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von

Theo Vogler

in Verbindung mit

Joachim Herrmann . Justus Krümpelmann . Reinhard Moos


Otto Triffterer . Rudolf Leibinger . Dieter Schaffmeister
Jürgen Meyer . Peter Hünerfeld . Hans-Joachim Behrendt

Erster Halbband

DUNCKER & HUMBLOT· BERLIN


CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck zum 70.
[siebzigsten] Geburtstag / hrsg. von Theo Vogler
in Verbindung mit Joachim Herrmann ... - Berlin:
Duncker und Humblot, 1985.
ISBN 3-428-05801-1
NE: Vogler, Theo [Hrsg.]; Jescheck, Hans-Heinrich:
Festschrift

Redaktion: Johanna Bosch


Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen
Wiedergabe und der übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten.
© 1985 Duncker & Humblot, Berlin 41
Satz: Hagedornsatz, Berlin 46
Gedruckt 1985 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61
Printed in Germany
ISBN 3-428-05801-1
HANS-HEINRICH JESCHECK

ZUM 10. JANUAR 1985

MARC ANCEL SANTIAGO MIR PUIG


JOHANNES ANDENAES KOICHI MIYAZAWA
GUNTHER ARZT REINHARD Moos
MARINO BARBERO SANTOS HEINZ MÜLLER-DIETZ
M. CHERIF BASSIOUNI HARuo NISHIHARA
JÜRGEN BAUMANN FRIEDRICH NOWAKOWSKI
HANS-JOACHIM BEHRENDT PIETRO NUVOLONE
ANTONIO BERISTAIN DIETRICH OEHLER
GÜNTER BLAU JAN REMMELINK
PAUL BOCKELMANN JOSE MARiA RODRiGUEZ DEVESA
KAZIMIERZ BUCHAl.A CLAUS ROXIN
MANFRED BURGSTALLER HANS-JOACHIM RUDOLPHI
JOSE CEREZO MIR DIETER SCHAFF MEISTER
JORGE DE FIGUEIREDO DIAS FRIEDRICH SCHAFFSTEIN
EDUARD DREHER EBERHARD SCHMIDHÄUSER
ALBIN ESER RUDOLF SCHMITT
KARL HEINZ GÖSSEL HEINZ SCHÖCH
ROBERT HAUSER HANS-LUDWIG SCHREIBER
WOLFGANG HEINZ FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER
JOACHIM HERRMANN HORST SCHÜLER-SPRINGORUM
PETER HÜNERFELD HANS SCHULTZ
GÜNTHER JAKOBS KLAus SESSAR
GÜNTHER KAISER GÜNTER SPENDEL
ARMIN KAUFMANN ANDRZEJ SPOTOWSKI
ARTHUR KAUFMANN ALFONSO M. STILE
ULRICH KLUG GÜNTER STRATENWERTH
JUSTUS KRÜMPELMANN S. A. STRAUSS
J OSEF KÜRZINGER HANS THORNSTEDT
KARL LACKNER KLAUS TIEDEMANN
RAIMO LAHTI Orro TRIFFTERER
RICHARD LANGE HERBERT TRÖNDLE
RUDOLF LEIBINGER GIULlANO VASSALLl
VIKTOR LlEBSCHER JACQUES VERHAEGEN
HANS LÜrrGER THEO VOGLER
MANFRED MAIWALD THOMAS WEIGEND
JÜRGEN MEYER THOMAS WÜRTENBERGER
WOLF MIDDENDORFF HEINZ ZIPF
VORWORT

Am 10. Januar 1985 wird Professor Dr. Dr. h. c. mult. Hans-Heinrich


Jescheck siebzig Jahre. Aus diesem Anlaß haben sich Freunde, Kollegen
und Schüler aus der Bundesrepublik, aus Europa und Übersee zusam-
mengefunden, um den Menschen, den weltweit anerkannten Gelehrten
und den FÖl1derer der Völkerverständigung auf dem Gebiet des Straf-
rechtsakademischem Brauch gemäß durch eine Festschrift zu ehren.
Die vielfältigen Bemühungen des Jubilars um die Strafrechtswissen-
schaft spiegeln sich in den dargebrachten Beiträgen zur Strafrechts-
dogmatik, zum Strafprozeßrecht, zur Kriminologie, zum Internationalen
Strafrecht und zur Rechtsvergleichung wider. Immer wieder findet sich
die Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten, die in einer Zeit, in der die
Einzeldisziplinen im Strafrecht auseinanderstreben, das Fach als "ge-
samte Strafrechtswissenschaft" in seiner besten Tradition verkörpern.
Die integrierende Kraft Jeschecks hat sich auch in der Vermittlung und
Pflege internationaler Beziehungen bewährt. Er hat das Freiburger Max-
Planck-Institut zu einer wissenschaftlichen Heimstätte weit über die
Grenzen des Landes hinaus gestaltet. Zahlreiche Beiträge dieser Samm-
lung stammen aus der Feder von Gästen des Instituts, die ihm fachlich
und persönlich nahestehen. Andere ausländische Beiträge verdanken die
Herausgeber seinen Kollegen aus der Association Internationale de Droit
P{mal und der Societe Internationale de Defense Sociale.

Für Jeschecks Wirken in Wort und Schrift, seinen Einsatz für die
humanitären und sozialen Ziele des Strafrechts wird der siebzigste
Geburtstag keinen Einschnitt bedeuten. Seinen Freunden und Mitstrei-
tern, seinen Kollegen, Mitarbeitern und Schülern ist dieser Tag aber
ein Anlaß, ihm Hochachtung und Dankbarkeit für sein reiches bisheriges
Lebenswerk zu bezeugen und Glück für viele Jahre zu wünschen.

Unser Dank gebührt den Mitarbeitern des Verlagshauses Duncker &


Humblot für die sorgfältige Betreuung dieser Festschrift. Er gilt auch
denjenigen, die das Schriftenverzeichnis erstellt und die redaktionelle
Arbeit geleistet haben. Besonders danken wir der Max-Planck-Gesell-
schaft, die diese Geburtstagsgabe großzügig gefördert hat.

Freiburg i. Br., Januar 1985


Die Herausgeber
INHALT

ERSTER HALBBAND

Rudotf Leibinger, Konstanz


Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag ..... . ............... .

Eduard Dreher, Bonn


Hans-Heinrich Jescheck in der Großen Strafrechtskommission 11

Grundfragen

Thomas Würtenberger, Freiburg i. Br.


Der schuldige Mensch vor dem Forum der Rechtsgemeinschaft .. . . 37

Richard Lange, Köln


Neue Wege zu einer Gesamten Strafrechtswissenschaft ............ 53

Jorge de Figueiredo Dias, Coimbra


Vom Verwaltungsstrafrecht zum Nebenstrafrecht. Eine Betrachtung
im Lichte der neuen portugiesischen Rechtsordnung .............. 79

Jürgen Baumann, Tübingen


Dogmatik und Gesetzgeber. Vier Beispiele .... . ................... 105

Hans Lüttger, Berlin .


Bemerkungen zu Methodik und Dogmatik des Strafschutzes für
nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter .............................. 121

Günter Spendet, Würzburg


Unrechtsurteile der NS-Zeit 179

Strafrecht - Allgemeine Lehren

Jose Maria Rodriguez Devesa, Madrid


Nullum crimen sine culpa en la reforma deI C6digo penal espafiol
en 1983 .......................................................... 201
x Inhalt

Rudolf Schmitt, Freiburg i. Br.


Der Anwendungsbereich von § 1 Strafgesetzbuch (Art. 103 Abs. 2
Grundgesetz) ...................................................... 223

Andrzej Spotowski, Warschau


Das Rückwirkungsverbot im polnischen Recht .................... 235

Armin Kaufmann, Bann


"Objektive Zurechnung" beim Vorsatzdelikt? 251

Arthur Kaufmann, München


Kritisches zur Risikoerhöhungstheorie 273

Günter Stratenwerth, Basel


Zur Individualisierung des Sorgfaltsmaßstabes beim Fahrlässigkeits-
delikt ............................................................ 285

Hans-Joachim Behrendt, Freiburg i. Br.


Das Prinzip der Vermeidbarkeit im Strafrecht .................... 303

Justus Krümpelmann, Mainz


Die normative Korrespondenz zwischen Verhalten und Erfolg bei
den fahrlässigen Verletzungsdelikten .............................. 313

Santiago Mir Puig, Barcelona


Die "ex ante"-Betrachtung im Strafrecht 337

Manfred BurgstaHer, Wien


Erfolgszurechnung bei nachträglichem Fehlverhalten eines Dritten
oder des Verletzten selbst ........................................ 357

Kazimierz Buchala, Krakau


Der Dolus eventualis in der polnischen Strafrechtslehre und Recht-
sprechung ........ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 377

Gunther Arzt, Bern


Falschaussage mit bedingtem Vorsatz. Bemerkungen zu den Zweifeln
des Täters an der Rechtfertigungslage oder am Tatbestandsausschluß 391

Manfred Maiwald, Göttingen


Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs "erlaubtes Risiko" für die Straf-
rechtssystematik .................................................. 405

GiuHano Vassam, Rom


La dottrina italiana dell'antigiuridicita ................ . ........... 427
Inhalt XI

JoS!! Cerezo Mir, Saragossa


Consideraciones generales sobre las causas de justificaci6n en el
derecho penal espafiol ............................................ 441

Ctaus Roxin, München


Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand 457

Eberhard Schmidhäuser, Hamburg


über den axiologischen Schuldbegriff des Strafrechts: Die unrecht-
liche Tatgesinnung ................................................ 485

Hans Thornstedt, Stockholm


Der Rechtsirrtum im schwedischen Strafrecht ..................... 503

S. A. Strauss, Pretoria
Liability for a so-called "mere omission" and the duty to rescue in
South African Law .............................................. 515

Friedrich Nowakowski, Innsbruck


Nochmals zu § 42 öStGB (Mangelnde Strafwürdigkeit der Tat) .... 527

Kart Heinz Gösset, Erlangen


Sukzessive Mittäterschaft und Täterschaftstheorien ................ 537

Hans-Joachim Rudotphi, Bonn


Die zeitlichen Grenzen der sukzessiven Beihilfe ...... . ........... 559

Strafrecht - Besonderer Teil

utrich Klug, Köln


Das Aufstacheln zum Angriffskrieg (§ 80 a StGB). Allgemeine und
spezielle Interpretationsprobleme .................................. 583

Jan Remmetink, Amsterdam


Die Strafbarkeit der Rassendiskriminierung in den Niederlanden 601

Günther Jakobs, Regensburg


Die Aufgabe des strafrechtlichen Ehrenschutzes 627

Karl Lackner, Heidelberg


Neuorientierung der Rechtsprechung im Bereich des Vollrauschtat-
bestandes? ........................................................ 645
XII Inhalt

Herbert Tröndle, Waldshut-Tiengen


VoUrauschtatbestand und Zweifelsgrundsatz 665

Arztrecht
Paul Bockelmann, München
Die Dokumentationspflicht des Arztes und ihre Konsequenzen .... 693

Strafverfahren und Gerichtsverfassung

Johannes Andenaes, 0510


Die neue norwegische Strafprozeßordnung ...... . . . ............... 715

Reinhard Moos, Linz


Beschuldigtenstatus und Prozeßrechtsverhältnis im österreichischen
Strafverfahrensrecht .............................................. 725

Hans-Ludwig Schreiber, Göttingen


Wie unabhängig ist der Richter? 757

ZWEITER HALBBAND

Kriminalpolitik
Mare Aneel, Paris
Directions et directives de politique erimineUe dans le mouvement
de reforme penale moderne ...................................... 779

Hans Schultz, Bern


Krise der Kriminalpolitik? 791

Heinz Müller-Dietz, Saarbrücken


Integrationsprävention und Strafrecht. Zum positiven Aspekt der
Generalprävention ................................................ 813

Pietro Nuvolone, Mailand


L'opzione penale .................................................. 829

.ll1fonso M. Stile, Neapel


Concetto e trattamento deUa « criminalita minore" in !talia ...... 845
Inhalt XIII

Raimo Lahti, Helsinki


Zur Entwicklung der Kriminalpolitik in Finnland 871

Marino Barbero Santos, Madrid


Die Strafrechtsreform der spanischen konstitutionellen Monarchie 893

Antonio Beristain, San Sebastian


La reforma penal tambien desde la Universidad 921

Friedrich Schaffst ein, Göttingen


überlegungen zur Diversion 937

Wolfgang Heinz, Konstanz


Neue Formen der Bewährung in Freiheit in der Sanktionspraxis der
Bundesrepublik Deutschland ...................................... 955

Heinz Zipf, Salzburg


Teilaussetzung bei Freiheits- und Geldstrafen 977

Dieter Schaffmeister, Leiden


Durch Modifikation zu einer neuen Strafe. Versuch einer Erklärung
der fortdauernden Verwendung der kurzen Freiheitsstrafe in den
Niederlanden ..................................................... 991

Günter Blau, Frankfurt a. M.


Regelungsmängel beim Vollzug der Unterbringung gemäß § 63 StGB 1015

Kriminologie

Günther Kaiser, Freiburg i. Br.


Kriminologie im Verbund gesamter Strafrechtswissenschaft am Bei-
spiel kriminologischer Forschung am Max-Planck-Institut in Frei-
burg ............................................................. 1035

Josef Kürzinger, Freiburg i. Br.


Der kriminelle Mensch - Ausgangspunkt oder Ziel empirischer
kriminologischer Forschung? ...................................... 1061

Heinz Schöch, Göttingen


Empirische Grundlagen der Generalprävention .. . ................. 1081

Horst Schüter-Springorum, München


Jugend, Kriminalität und Recht ............................ . ..... 1107
XIV Inhalt

Klaus Sessar, Hamburg


über das Opfer. Eine viktimologische Zwischenbilanz .............. 1137

Koichi Miyazawa, Tokio


Informelle Sozialkontrolle in Japan unter besonderer Berücksichti-
gung ihrer praktischen Vorgehensweisen und Handlungsstrategien
im Bereich informeller Verbrechens kontrolle ...................... 1159

Wolf Middendorff, Freiburg i. Br.


Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Eine historisch-kriminologische
Studie ............................................................ 1175

Rechtsvergleichung

Viktor Liebscher, Wien


Hans-Heinrich Jescheck und die österreichische Strafrechtswissen-
schaft ............................................................ 1197

Robert Hauser, Zürich


Die Rechtsvergleichung als Auslegungshilfe in der höchstrichterlichen
Rechtsprechung im materiellen Strafrecht .......................... 1215

Haruo Nishihara, Tokio


Die gegenwärtige Lage der japanischen Strafrechtswissenschaft .... 1233

Friedrich-Christian Schroeder, Regensburg


Die Gliederung der Straftat in der Sowjetunion und in der DDR 1249

Peter Hünerfeld, Freiburg i. Br.


Aspekte des Verkehrsstrafrechts im Vergleich der Bundesrepublik
Deutschland und Österreichs ...................................... 1265

Joachim Herrmann, Augsburg


Aufgaben und Grenzen der Beweisverwertungsverbote. Rechtsver-
gleichende überlegungen zum deutschen und amerikanischen Recht 1291

Jürgen Meyer, Freiburg i. Br.


Zur V-Mann-Problematik aus rechtsvergleichender Sicht .......... 1311

Thomas Weigend, Freiburg i. Br.


Anmerkungen zur Diskussion um den Kronzeugen aus der Sicht des
amerikanischen Rechts ............................................ 1333
Inhalt xv
Strafrechtsanwendungsrecht
Internationales und supranationales Strafrecht
Völkerstrafrecht

Albin EseT, Freiburg i. Br.


Die Entwicklung des Internationalen Strafrechts im Lichte des Wer-
kes von Hans-Heinrich Jescheck .. , '.' ............................. 1353

Theo VogleT, Gießen


Zur Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile .... 1379

DietTich Oehler, Köln


Fragen zum Strafrecht der Europäischen Gemeinschaft ............ 1399

Klaus Tiedemann, Freiburg i. Br.


Der Allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts 1411

Jacques Verhaegen, Louvain-la-Neuve


La repression des crimes de guerre en droit beIge. Aleas et perspec-
tives .............................................................. 1441

M. CheTif Bassiouni, Chicago


The Proscribing Function of International Criminal Law in the Pro-
ces ses of International Protection of Human Rights ................ 1453

Otto TTiffterer, Salzburg


Völkerstrafrecht im Wandel? ...................................... 1477

Bibliographie

Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck ... . .... . ....... 1507
RUDOLF LEIBINGER

Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag

Der 70. Geburtstag von Hans-Heinrich Jescheck am 10. Januar 1985


gibt Kollegen, Freunden und Schülern Gelegenheit, einem Wissen-
schaftler Verehrung und Dankbarkeit für eine Lebensleistung zu be-
kunden, die in besonderem Maße der Entwicklung der gesamten Straf-
rechtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg gedient hat. Sein wis-
senschaftliches Werk ist in dem nachfolgenden Schriftenverzeichnis
dokumentiert. Dieser Beitrag soll mit einer kurzen Beschreibung das
Leben und den beruflichen Werdegang des Geehrten dem Leser in
Erinnerung bringen.
Hans-Heinrich Jescheck ist in der niederschlesischen Stadt Liegnitz
geboren. Das Elternhaus, der Vater war Rechtsanwalt und Notar,
schenkte ihm eine unbeschwerte Jugend und bestimmte später auch
die Wahl des Studienfaches. Das humanistische Gymnasium Johan-
neum, das er 1933 nach mit Auszeichnung bestandenem Abitur verließ,
vermittelte ihm auch in den lebenden Sprachen die Voraussetzungen
für spätere Weiterbildung. Seine sprachliche Vielseitigkeit, die es ihm
heute erlaubt, mühelos ein Fachgespräch in Französisch, Englisch, Italie-
nisch oder Spanisch zu führen, hat er sich auf dieser Grundlage nach
und nach selbst erarbeitet.
Im Sommersemester 1933 begann J escheck das Studium der Rechts-
wissenschaft in Freiburg. Schon während des Studiums ergaben sich
engere Beziehungen zu Erik Wolf, Fritz Pringsheim, Hans Großmann-
Doehrt und vor allem zu Eduard Kern, der, nach kriegsbedingter
Unterbrechung, ihm viele Jahre später mit der Habilitation in Tübin-
gen die wissenschaftliche Laufbahn eröffnen sollte.
Zunächst bestand J escheck 1936 in Celle das Referendarexamen mit
dem Prädikat "lobenswert", nachdem er im Sommer 1936 das letzte
Semester seines Studiums in Göttingen absolviert hatte. Schon ein Jahr
später promovierte er in Tübingen mit einer Dissertation über "Die
juristische Ausbildung in Preußen und im Reich. Vergangenheit und
Gegenwart". Eduard Kern hatte die Untersuchung im Zusammenhang
mit seinen eigenen Arbeiten zu § 2 GVG angeregt. Es entstand eine
umfassende Darstellung der wechselvollen Geschichte der juristischen

1 FestschrIft für H.-H. Jescheck


2 Rudolf Leibinger

Ausbildungsreform, zu der gerade in unserer Zeit wieder ein neues


Kapitel aufgeschlagen wird.
Nach dem mündlichen Doktorexamen im Oktober 1937 begann ein
zehnjähriger Militärdienst, der erst 1947 mit der Entlassung aus der
französischen Kriegsgefangenschaft endete. Im Krieg nahm J escheck
mit seiner Einheit an den Feldzügen in Polen, Frankreich und Ruß-
land teil. Die letzte Verwundung traf ihn im Februar 1945 als Kom-
mandeur der Panzeraufklärungsabteilung 118 in Ostpreußen. Dem
Zwiespalt der Empfindungen und dem Widerstreit der Pflichten als
Soldat und Jurist hat er selbst einmal Ausdruck gegeben: "Millionen
haben erfahren, was es heißt, wenn man um der Ehre und des An-
standes willen für den Sieg kämpfen und gleichzeitig um des Rechts
und der Menschlichkeit willen die Niederlage herbeiwünschen muß"
(Menschenbild, S.6). Die bewußt erlebte Konfliktsituation ebenso wie
richterliche Erfahrungen der Nachkriegszeit, die auch die Aburteilung
nationalsozialistischer Gewaltverbrecher betrafen, schwingen mit, wenn
Jescheck später in Anlehnung an Gustav Radbruch sich zum Vorrang
naturrechtlicher Grundsätze bekennt, die "unrichtiges Recht" der Ge-
rechtigkeit weichen lassen, die eine überpositive, dem Machtanspruch
des Staates entzogene Gerechtigkeit anerkennen.
Noch während des Krieges konnte Jescheck seine juristische Ausbil-
dung abschließen. Einen Studienurlaub und einen längeren Heimat-
aufenthalt nach einer Verwundung nutzte er für den stark verkürzten
Referendardienst. Im November 1943 bestand er in Dresden das Asses-
sorexamen, ebenfalls mit dem Prädikat "lobenswert".
Die französische Kriegsgefangenschaft, in die J escheck während eines
Lazarettaufenthaltes in Freiburg geriet, war für ihn mit vielfältigen
Aktivitäten ausgefüllt. Im Offiziersgefangenenlager Mulsanne bei
Le Mans unterrichtete er an der dort betriebenen "Lageruniversität"
Strafrecht und bestand so die erste Bewährungsprobe als akademischer
Lehrer. Als Pressesprecher des Lagers, der einmal in der Woche die
Delegierten der einzelnen Baracken in einer Presseschau über das
Weltgeschehen zu unterrichten hatte, standen ihm die führenden fran-
zösischen Zeitungen zur Verfügung. In ihnen wurde mit großer Aus-
führlichkeit auch über den Nürnberger Prozeß vor dem Internatio-
nalen Militärtribunal berichtet. Bereits hier wurde die Idee einer
grundlegenden juristischen Analyse dieses Strafrechts und seiner An-
wendung geboren, wie sie später in seiner Habilitationsschrift zur Aus-
führung gekommen ist.
Im letzten Jahr der Kriegsgefangenschaft bot sich Jescheck eine will-
kommene Gelegenheit, im "Centre d'etudes pour prisonniers de guerre
Hans-Heinrich Jescheck zum 7{). Geburtstag 3

allemands" in St. Denis an der geistigen und politischen Neubesinnung


nach dem verlorenen Krieg mitzuarbeiten. Ein kleiner Bericht (Bildung
und Erziehung, 36. Jahrgang 1983, 67 ff.) zeugt von den Bemühungen
der dort tätigen Gruppe, gibt aber auch einen ersten Hinweis auf eine
Eigenschaft des Jubilars, ohne die seine Lebensleistung nicht möglich
gewesen wäre: "Das Verhältnis der Angehörigen des Centre d'etudes
untereinander war von bestem Einvernehmen geprägt. Die Tugen-
den der deutschen Armee, Kameradschaft und voller Einsatz der eige-
nen Person, kamen hier noch einmal im besten Sinne zur Geltung.
Ich selbst wurde von meinen Mitgefangenen manchmal mit dem Scherz-
wort aufgezogen, ich würde vor lauter Arbeit einmal den Entlassungs-
zeitpunkt verpassen."
Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im Juni 1947 trat
Jescheck in den Justizdienst des Landes Baden ein. Schon im Februar
1949 wurde er planmäßiger Oberlandesgerichtsrat, eine rasch aufstei-
gende Laufbahn, die im Zeitraffer die Verluste der Kriegszeit etwas
ausgleichen konnte. Neben der Richtertätigkeit entstand die Habilita-
tionsschrift unter schwierigsten Bedingungen, da Krankheit und früher
Tod der Ehefrau Dr. Sylvia Jescheck diese Jahre überschatteten.
Das Thema der Habilitationsschrift "Die Verantwortlichkeit der
Staatsorgane nach Völkerstrafrecht" konnte mit großer Beachtung
rechnen, da die Auseinandersetzung über die rechtlichen Grundlagen
der Nürnberger Prozesse noch in vollem Gange war. Jescheck ist der
Überzeugung, daß in den Nürnberger Prozessen zwar der Gerechtig-
keit und nicht der Rache gedient werden sollte, daß ihre Bedeutung
für das Völkerrecht aber nur mit einer streng juristischen Fragestel-
lung ermittelt werden könne. Die Bilanz ist eine umfassende Würdi-
gung der in den Nürnberger Urteilen enthaltenen These, die ange-
wandten Rechtsgrundsätze stünden mit dem Völkerrecht in Einklang.
In den Mittelpunkt seiner Kritik gerieten die Auffassungen, die dem
Internationalen Militärtribunal und den amerikanischen Militärge-
richtshöfen den Status von völkerrechtlichen Organen und nicht nur
von Besatzungsgerichten zubilligten, die weiter im Bereich des mate-
riellen Rechts Humanitätsverbrechen und das Verbrechen des Angriffs-
krieges bereits als nach geltendem Völkerrecht strafbar beurteilten.
In der Folgezeit wird dieses Thema von J escheck weiter verfolgt und
die Entwicklung eines wirksamen Völkerstrafrechts immer wieder an-
gemahnt, damit auch dieser Teil einer für Recht und Frieden notwen-
digen Ordnung nicht über den politischen Auseinandersetzungen in
Vergessenheit gerate.
Im Oktober 1949 verlieh die Tübinger rechtswissenschaftliche Fakul-
tät J es check die Lehrbefugnis, und er hielt nun neben seiner Frei-
4 Rudolf Leibinger

burger Richtertätigkeit in Tübingen regelmäßig straf- und strafprozeß-


rechtliche Vorlesungen und Übungen sowie ein Seminar gemeinsam mit
Wilhelm Gallas.
In den Jahren 1952 bis 1954 war Jescheck im Bundesjustizministe-
rium zunächst als abgeordneter Richter, ab 1. August 1953 als Ministe-
rialrat an den dort anlaufenden Vorarbeiten zur großen Strafrechts-
reform beteiligt. Er vertrat ferner bei den Vorbereitungen für die Grün-
dung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in Paris das Bun-
desjustizministerium in den Ausschüssen für Militärstrafrecht und
internationales Strafrecht. Aus dieser Zeit resultieren auch die herz-
lichen und vertrauensvollen Verbindungen zu Staatssekretär Walter
Strauß, Ministerialdirektor Jose! Scha!heutle und Ministerialdirigent
Eduard Dreher, die zu entschiedenen Förderern des Freiburger rechts-
vergleichenden Instituts werden sollten.
Jescheck wurde als Professor zum ordentlichen Mitglied der Großen
Strafrechtskommission berufen, deren Sitzungen er zu den großen
wissenschaftlichen Erfahrungen seines Lebens zählt. Er war später
auch Mitglied der Kommission zur Neugestaltung des Auslieferungs-
und Rechtshilferechts und der Wehrstrafrechtskommission.
Nach dem frühen Tod von Adol! Schänke nahm Jescheck 1954 den
Ruf auf den vakant gewordenen Lehrstuhl für deutsches und auslän-
disches Strafrecht an der Universität Freiburg an. Er blieb dieser
Universität treu; Rufe nach Köln 1958 und Bonn 1960 lehnte er ab.
Am 14. Juni 1954, dem Tage seiner Antrittsvorlesung über das Thema
"Entwicklung, Aufgaben und Methoden der Strafrechtsvergleichung" ,
wurde das von Schänke gegründete Universitätsinstitut in eine Stif-
tung des privaten Rechts umgewandelt, an der sich das Land Baden-
Württemberg, die Bundesrepublik und die Universität Freiburg als
Stifter beteiligten. Über die Anfangsausstattung dieses Instituts heißt
es in der Stiftungsurkunde in § 3 Abs.4: "Das Land Baden-Württem-
berg stellt dem Institut einen wissenschaftlichen Assistenten und eine
Sekretärin, nach Möglichkeit weitere Angestellte, zur Verfügung." Das
war ein bescheidener Anfang, wenn man weiter bedenkt, daß auch
die übrigen Haushaltsmittel nur im Rahmen jeweiliger Bewilligungen
zugesichert waren. Und doch war es der erste Baustein zu einer bedeu-
tenden rechtsvergleichenden Forschungsstätte, deren Entwicklung und
Formung zum Lebenswerk des Jubilars wurden. Man kann die Iden-
tität von Person und Sache nicht treffender ausdrücken, als dies KarZ
Lackner als Kuratoriumsvorsitzender bei der Verabschiedung Jeschecks
aus dem Institut am 4. Februar 1983 getan hat: "Wer an das Institut
denkt, dem fällt auch Jescheck ein, und wer auf den Namen Jescheck
stößt, kann sich ihn ohne den Hintergrund des Instituts nicht vor-
Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag 5

stellen." Die materielle Entwicklung des Instituts, angefangen vom Aus-


bau der Bibliothek zu der auf ihren Fachgebieten bedeutendsten Ein-
richtung bis hin zu dem großartigen neuen Institutsgebäude, auch die
Überführung des Instituts in die Max-Planck-Gesellschaft und die Ein-
beziehung der Kriminologie wären ohne das auf dem wissenschaftlichen
Ansehen Jeschecks beruhende Vertrauen und das Gewicht seiner Per-
sönlichkeit nicht möglich gewesen.
Nahezu dreißig Jahre lang hat Jescheck die wissenschaftliche Kon-
zeption dieser Forschungsstätte bestimmt. Neben zahlreichen rechtsver-
gleichenden Untersuchungen etwa zur Geldstrafe, zur Freiheitsstrafe,
zur Wiederaufnahme des Strafverfahrens, zur Staatsanwaltschaft und
zur Untersuchungshaft wurden in dieser Zeit insbesondere die rechtsver-
gleichenden Informationsquellen "Sammlung außerdeutscher Strafge-
setzbücher in deutscher Übersetzung" und "Das ausländische Strafrecht
der Gegenwart" neu belebt. In den "Rechtsvergleichenden Untersuchun-
gen zur gesamten Strafrechtswissenschaft" erschien eine Vielzahl von
Monographien, darunter zahlreiche von Jescheck betreute Dissertatio-
nen. Schließlich belegt das zweibändige Werk "Quellen und Schrifttum
des Strafrechts" eindrucksvoll die Leistungsfähigkeit dieses rechtsver-
gleichenden Zentrums. Innerhalb des Instituts hat J escheck die ursprüng-
lichen Forschungsfelder weit über die europäischen Grenzen hinaus aus-
gedehnt, so daß sie heute auch große Bereiche Afrikas, Lateinamerikas,
Asiens und neuerdings auch der arabischen Welt abdecken. Den die natio-
nalen Grenzen übersteigenden Rechtsmaterien galt Jeschecks Aufmerk-
samkeit von Anfang an. Anwendungsbereiche und Methoden der
Rechtsvergleichung sind in seiner programmatischen Antrittsvorlesung
entwickelt. In zahlreichen weiterführenden Beiträgen ist ihre Bedeu-
tung als zweckfreie Grundlagenforschung bei der Ermittlung des
Rechts als Kulturerscheinung fremder Staaten belegt, aber auch ihre
Funktion als Hilfsmittel bei der Arbeit des Gesetzgebers verdeutlicht,
dem ein Lösungsvorrat für die verschiedenen Probleme angeboten
werden kann. Zugleich ist bei der exegetischen Arbeit am Auslands-
recht die Schwierigkeit erkannt, über das Studium der Texte hinaus,
Lehre und Rechtsprechung sowie die durch Kriminologie und Statistik
vermittelte Rechtswirklichkeit aufzuspüren. Die Verbindung von Straf-
rechtswissenschaft und Kriminologie wurde von J escheck durch die
Etablierung einer kriminologischen Forschungsgruppe unter der Lei-
tung von Günther Kaiser zu einem zukunftweisenden zentralen An-
liegen des Freiburger Instituts gemacht, das auch in der seit 1973
gemeinsamen Führung zum Ausdruck kommt. Eine integrierte Zusam-
menarbeit von Strafrecht und Kriminologie, die über eine bloße Ko-
existenz hinaus eine wechselseitige Beeinflussung beinhaltet, ist ge-
meint, wenn J escheck mit der ihm eigenen Gabe zu einprägsamen
fi Rudolf Leibinger

Formulierungen sagt: "Strafrecht ohne Kriminologie ist blind, Krimi-


nologie ohne Strafrecht ist uferlos."
Die von J escheck rechtsvergleichend behandelten Themen umfassen
Strafrechtsdogmatik, Kriminalpolitik und Verfahrensrecht. Auch wenn,
wie er selbst sagt, in der Rechtsvergleichung nichts schwieriger ist,
als sich über dogmatische Verschiedenheiten zu verständigen, so sind
seine Arbeiten zum Verbrechensbegriff oder zu den Unterlassungsdelik-
ten doch überzeugende Ansätze, strafrechtliche Grundbegriffe in einem
größeren Zusammenhang europäischer Rechtstradition neu zu entfal-
ten. Die Arbeiten zur Rechtspolitik zeigen uns Jescheck mit seinen
Fähigkeiten, die großen Entwicklungslinien der internationalen Straf-
rechtsreformbewegung auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Ver-
änderungen zu erfassen und die Faktoren aufzuzeigen, die die Strö-
mungen in der Kriminalpolitik bestimmen. Das Panorama europäi-
scher und außereuropäischer Strafrechtsentwicklungen seit dem Zwei-
ten Weltkrieg wird im Vergleich kritisch durchmustert, gleichzeitig
aber auch der deutsche Standpunkt für die ausländische wissenschaft-
liche Diskussion unter anderem auch durch unzählige Vorträge im
Ausland erschlossen. Diesem wissenschaftlichen Programm diente auch
die von ihm stark ausgebaute "Zeitschrift für die gesamte Strafrechts-
wissenschaft" , deren Schriftleitung seit dem Jahre 1969 in seiner Hand
liegt, nachdem er den Auslandsteil schon seit 1954 betreute.
Die kriminalpolitische Entwicklung nach Abschluß der Arbeiten der
Großen Strafrechtskommission hat J escheck in wichtigen Punkten mit-
getragen, in Teilen nur mit Vorbehalten zur Kenntnis genommen.
So ist etwa bei der Reform der Sittlichkeitsdelikte und der Neuord-
nung der Straftaten gegen die öffentliche Ordnung deutlich die Zurück-
haltung gegenüber einigen Reformvorschlägen formuliert. In der Dis-
kussion zwischen den durch den Entwurf 1962 und den im Alter-
nativ-Entwurf beschriebenen kriminal politischen Konzeptionen konnte
Jescheck auf der Strafrechtslehrertagung in Münster 1967 mit einer
vermittelnden Stellungnahme den Weg für die spätere gesetzliche
Regelung vorbereiten. Die eigene Auffassung ist, beginnend mit der
Arbeit über das Menschenbild und die Strafrechtsreform, in zahlrei-
chen Vorträgen und Veröffentlichungen entwickelt. Individuelle Schuld
und persönliche Verantwortung werden als die Grundlage eines die
Freiheitsgarantie verbürgenden Strafrechts angesehen. Um ihre frie-
denssichernde Funktion erfüllen zu können, muß die Strafe den Ge-
rechtigkeitserwartungen der Gesellschaft entsprechen. Sie kann sich
auch nicht nach unten vom gerechten Schuldausgleich lösen, sie darf
aber nicht nur als Imperativ der austeilenden Gerechtigkeit ohne
Rücksicht auf die humanitäre Verantwortlichkeit für den Straffälligen
eingesetzt werden.
Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag 7

Mit diesen wenigen Bemerkungen ist nur ein kleiner Ausschnitt aus
dem breiten Forschungsspektrum des Jubilars angedeutet. Dankens-
werterweise gibt die zu seinem 65. Geburtstag erschienene Auswahl
seiner Schriften einen Einblick in die Schwerpunkte seiner Forschungs-
interessen. Gleichzeitig dokumentiert sie überzeugend die Gründe, die
seinem wissenschaftlichen Werk eine weit über die Grenzen reichende
Ausstrahlungskraft verliehen haben. Der Stoff wird vollständig, mit
großer Zuverlässigkeit und in einer verständlichen Form aufbereitet.
Die Entscheidung ist in klarer Gedankenführung entwickelt, die von
einer Mißverständnisse ausschließenden Sprache getragen wird. Schwie-
rige Probleme werden auf einfache Grundpositionen reduziert und
erst von hier aus in den Einzelfragen unter ausgiebiger Auswertung
der bestehenden Rechtsprechung entfaltet.
Zwei Leitlinien der wissenschaftlichen Argumentation lassen sich
verfolgen. Zum einen die Ablehnung einer nur der systematischen
Folgerichtigkeit verpflichteten Problemlösung: "Entscheidend hat im-
mer die Sachfrage zu bleiben, während Erfordernisse der Systematik
als nachrangig zurücktreten müssen" (Lehrbuch, S.156). Damit geht
Hand in Hand eine Kontrolle der Ergebnisse an den Erfordernissen
der praktischen Strafrechtspflege. Ebenso wie bei seinem Lehrer Eduard
Kern bleibt immer gegenwärtig, daß die praktische Bewährung ein
wichtiger Prüfstein für die Richtigkeit des Ergebnisses ist und letzt-
lich nur ein durch Gerichte umsetzbares Recht das Forschungsinteresse
zu befriedigen vermag. Es soll daran erinnert werden, was Jescheck
in diesem Zusammenhang über die Entwicklung der Verbrechenslehre
sagte (Lehrbuch, S.I72): "Es besteht weniger die Gefahr, daß sie von
außen durch neue Systemgedanken aus den Angeln gehoben werden
könnte, als daß sie sich durch mangelnden Kontakt mit der Praxis
selbst aufhebt." Um selbst die Verbindung zur Strafrechtspraxis nicht
zu verlieren, nahm er schon bald nach seiner Berufung nach Freiburg
als Mitglied eines Strafsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe die
richterliche Tätigkeit im Nebenberuf wieder auf; er war bei seinem
Ausscheiden im Jahre 1978 der dienstälteste Oberlandesgerichtsrat der
Bundesrepublik.
Die Darstellung in seinen Werken verzichtet auf verletzende Kritik
und Polemik, will nur durch die Geschlossenheit und Folgerichtigkeit
der Argumentation überzeugen. Zwar wird der eigene Standpunkt mit
Entschiedenheit behauptet, doch fehlt nie die Bereitschaft, sich über-
zeugen zu lassen und sich die Vorläufigkeit eigener Forschungsergeb-
nisse zu vergegenwärtigen. Schwerlich kann diese Einstellung besser
ausgedrückt werden als durch eine eigene Bemerkung Jeschecks, wo-
nach keine Lehre vom Verbrechen mehr sein kann als ein vergäng-
licher Entwurf, der später widerlegt werden wird.
8 Rudolf Leibinger

Diese Prinzipien wissenschaftlicher Arbeit sind geronnen im Lehr-


buch des Strafrechts, Allgemeiner Teil - 1969 in erster, 1978 in dritter
Auflage erschienen. Hier hat Jescheck die dogmatische Auseinander-
setzung über die allgemeine Verbrechenslehre in wesentlichen Punk-
ten beeinflußt. In Weiterführung des von Gallas durch die Kritik an
der finalen Handlungslehre Welzels formulierten Verbrechensbegriffs
trug er mit dazu bei, ein Lehrsystem zu entwickeln, das in der grund-
sätzlichen Konzeption wie in den einzelnen Ausprägungen breite Zu-
stimmung gefunden hat. Die Bearbeitung der Vorbemerkungen zu den
§§ 13 ff. in der 10. Auflage des Leipziger Kommentars präsentiert die
Grundlagen nochmals in äußerster Konzentration.
Eine ganz besondere Würdigung muß schließlich die Tätigkeit
J eschecks in den der Rechtsvergleichung verpflichteten wissenschaft-
lichen Organisationen erfahren, denn gerade hier hat er wie kaum ein
anderer die bereits von Adolj Schänke und Edmund Mezger geknüpf-
ten Kontakte über die Grenzen hinweg erweitert und eine rechtsver-
gleichende Tradition im besten Sinne fortgesetzt. Über viele Jahre
hat er in der Gesellschaft für Rechtsvergleichung, von 1973 bis 1983
nach Hans Dälle und Ernst von Caemmerer als deren Präsident, die
rechtsvergleichenden Anliegen gefördert. Vor allem in der Arbeit der
Association Internationale de Droit Penal (AIDP) sah er eine Möglich-
keit, den Gedankenaustausch mit in gleicher geistiger Tradition ste-
henden Wissenschaftlern der ganzen WeIt zu pflegen. Mehrere Vor-
kolloquien, in denen jeweils das international-strafrechtliche Thema
des folgenden Kongresses vorbereitet wurde, fanden unter seinem Vor-
sitz in Freiburg statt. Die große Zahl ausländischer Mitarbeiter an
dieser Festschrift zeigt die Breite, in der es Jescheck gelungen ist, das
wissenschaftliche Gespräch mit anderen Rechtsordnungen in Gang zu
bringen und auch den Gedankenaustausch mit den Staaten Osteuropas
zu pflegen. Die Vergabe des XII. Internationalen Strafrechtskongresses
im Jahre 1979 nach Hamburg, die dort erfolgte Wahl Jeschecks zum
Präsidenten der AIDP und seine Wiederwahl 1984 in Kairo bringen
besser als alles zum Ausdruck, in welchem Maße Person und Werk inter-
nationales Ansehen erlangt haben. Die Wahl zum Mitglied der Interna-
tionalen Juristenkommission als Nachfolger von Häpker-Aschojj und
die spätere Berufung zum Ehrenmitglied runden dieses Bild ebenso
überzeugend ab wie die Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die
Universitäten Stockholm, Tokio (Waseda), Seoul (Sun-Kyun-Kwan),
Coimbra und Lima (San Martin de Porres) und die Wahl zum Mitglied
der Königlichen Akademien der Wissenschaften der Niederlande und
Norwegens sowie der Internationalen Akademie für Rechtsvergleichung.
Ungeachtet vielfältiger Verpflichtungen hat Jescheck seine Aufgabe
als Lehrstuhlinhaber und Prüfer immer mit peinlicher Gewissenhaftig-
Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag 9

keit erfüllt. Seine besondere Aufmerksamkeit galt von jeher der Unter-
richtung der Studenten. Durch die Schaffung neuer Lehrveranstaltungen,
wie der "Einführung in die strafrechtliche Praxis", bemühte er sich,
Interesse und Freude am Universitätsstudium zu wecken. Auch die
"Fälle zum Strafrecht" sind aus Kollegbeilagen entstanden. Im Herbst-
semester 1969 hielt er als Gastprofessor Vorlesungen an der New York
University School of Law, im Sommersemester 1977 an der Univer-
site 11 de Droit et des Sciences Economiques et Politiques in Paris.
Ohne selbst eine Schule zu bilden, hat Jescheck zahlreiche Schüler, die
heute im In- und Ausland lehren, wissenschaftlich geprägt.
Den Anforderungen akademischer Selbstverwaltung wurde er auch
dadurch gerecht, daß er im Studienjahr 1963/64 als Dekan der Rechts-
und Staatswissenschaftlichen Fakultät vorstand und im Studienjahr
1965/66 als Rektor die Gesamtverantwortung für die Albert-Ludwigs-
Universität trug. In der Max-Planck-Gesellschaft hat er als Vorsitzen-
der der Geisteswissenschaftlichen Sektion, in der Europäischen Wis-
senschaftsstiftung als Mitglied des Exekutivausschusses in zentralen
Bereichen der Wissenschaftsorganisation mitgearbeitet.
Angesichts dieser riesigen Arbeitslast muß es schon verwundern, daß
man J escheck nie nervös oder gehetzt sehen konnte. Eine übervolle
Sprechstunde wurde ohne Hast und mit Gleichmaß auch über die Mit-
tagszeit hinaus weitergeführt; jeder Besucher konnte mit einem auf-
merksamen Zuhörer rechnen. Viele haben Betreuung, Förderung und
Anteilnahme, auch im persönlichen Bereich, erfahren. Sein Sinn für
Gerechtigkeit im täglichen Leben und seine noble Menschlichkeit als
Vorgesetzter schufen eine Atmosphäre des Vertrauens, die die Grund-
lage für eine gedeihliche Zusammenarbeit ist. Bei der Organisation und
Abwicklung der großen wissenschaftlichen Veranstaltungen, Kurato-
riumssitzungen und Kongresse konnte man immer die Ruhe und die Be-
sonnenheit dessen spüren, der sicher ist, das ihm Mögliche getan zu ha-
ben. Unermüdlicher Fleiß, Organisation des Arbeitsablaufes und Kon-
zentration auf das Vordringliche allein können diese Arbeitsleistung nicht
erklären. Sie gründet in äußerster Pflichterfüllung durch einen Mann,
dem es wichtig geworden ist, ein Stück dazu beizutragen, daß es auf
dieser Welt etwas gerechter und menschlicher zugehe. Zu gedenken ist hier
aber auch der Ehefrau Liselotte Jescheck, die ihrem Mann in einer glück-
lichen Familie nicht nur als Gesprächspartnerin zur Seite stand, sondern
ihm durch die Übernahme vielfältiger Verpflichtungen die Konzentration
auf seine Arbeit ermöglichte. Die sprichwörtliche Gastfreundschaft des
Hauses J escheck hat entscheidend dazu beigetragen, daß unzählige aus-
ländische Wissenschaftler bei ihrem Studienaufenthalt in Freiburg Ge-
borgenheit verspürten. Dieser Stil wurde auch für die übrigen Insti-
10 Rudolf Leibinger

tutsangehörigen beispielgebend und ermutigte sie, im Hause eine Atmo-


sphäre praktizierter Völkerverständigung zu schaffen.
Beim Ausscheiden aus dem Direktorium des Freiburger Instituts 1983
sagte Jescheck: "Ich habe noch viel vor, und in diesem Sinne möchte
ich mich eigentlich gar nicht von Ihnen verabschieden." Und so soll
auch diese Festschrift nicht nur Dank und Achtung für das große
Lebenswerk eines Gelehrten zum Ausdruck bringen, sondern Unterpfand
sein für eine noch viele Jahre währende fruchtbare wissenschaftliche
Arbeit.
EDUARD DREHER

Hans-Heinrich Jescheck
in der Großen Strafrechtskommission

I.

So wie er schon, damals mein Kollege, der jüngste Ministerialrat im


Bundesjustizministerium war, so war er auch in der Großen Straf-
rechtskommission nicht nur der Jüngste unter den Strafrechtslehrern,
sondern auch der Jüngste unter den ständigen Mitgliedern der Kom-
mission überhaupt. Damals war der Jubilar, dem nun zu seinem
70. Geburtstag diese Festschrift dargebracht wird, ein noch verhältnis-
mäßig junger Mann von 39 Jahren. Seine Berufung in die Kommission
verdankte er nicht zuletzt dem Staatssekretär des Bundesjustizmini-
steriums, Walter Strauß, der seinen Ministerialrat, von ihm schon ein-
mal in einer wichtigen Mission nach Paris entsandt, sehr hoch schätzte
und ihn nur ungern auf den Lehrstuhl nach Freiburg hatte ziehen
lassen. Es mag für Strauß auch ein wichtiger Gesichtspunkt gewesen
sein, der Gruppe der längst arrivierten Professoren einen Vertreter der
jüngeren Generation einzufügen. Die Strafrechtslehrer auszuwählen,
die in die Kommission berufen werden sollten, war eine schwierige
Aufgabe, schwierig vor allem deshalb, weil die Gesamtzahl der Mit-
glieder zwanzig möglichst nicht überschreiten sollte, um noch eine
konzentrierte Diskussion zu ermöglichen. Manche Strafrechtslehrer
zeigten wenig Neigung, der Kommission anzugehören, wie z. B. Hell-
muth v. Weber, der die Zeit für eine große Reform noch nicht für ge-
kommen hielt. Zu beachten war auch, daß die innerhalb der Strafrechts-
lehre vorhandenen dogmatischen Richtungen, die damals vor allem von
Mezger verteidigte überkommene Lehre einerseits und die gerade heftig
umstrittene finalistische Theorie Welzels andererseits, ausgewogen ver-
treten sein sollten. Doch konnte sich das Resultat sehen lassen: Mit
Bockelmann, Gallas, Lange, Mezger, Eberhard Schmidt und Welzel, zu
denen seit November 1954 noch Sieverts hinzukam, war wohl trotz eini-
ger Lücken der überwiegende Teil der damaligen Strafrechtslehrerelite
versammelt, wobei auch darauf geachtet worden war, daß mit Eberhard
Schmidt und Sieverts Persönlichkeiten berufen wurden, die nicht nur
spezialpräventiven Vorstellungen aufgeschlossen waren, sondern auch
im Zusammenhang damit ausgesprochenes Interesse und Erfahrung
12 Eduard Dreher

hinsichtlich des Strafvollzugs mitbrachten. In dieses illustre Gremium


trat nun auch Hans-Heinrich Jescheck, in einem Altersabstand von fast
zehn Jahren zu dem vor ihm Jüngsten der Professorengruppe. Er sollte
junges Blut und frischen Wind in die Kommission bringen, der er von
Anfang bis Ende, also von April 1954 bis Juni 1959, angehörte.
Der Professorengruppe, die während der Sitzungen stets geschlossen
beieinander saß, und zwar vom Vorsitzenden, dem Bundesjustizminister
Neumayer aus gesehen, links - unterbrochen nur durch die auch theo-
retisch hervorragend versierte Bundesrichterin Else KofJka - waren
gegenüber auf der rechten Seite die Vertreter der Länder, des Richter-
bundes, der Rechtsanwaltschaft, des Bundesgerichtshofs und der Bun-
desanwaltschaft versammelt, dazu noch einige Einzelmitglieder aus der
Praxis. Ich kann sie hier nicht alle nennen, zum al sie im Laufe der Be-
ratungen verschiedentlich wechselten und vielfach auch verschiedene
Bundestagsabgeordnete an den Sitzungen teilnahmen, möchte aber doch
einige wenige hervorheben, die von Anfang an dabei waren, so den
überzeugungsstarken und diskussionsfreudigen Baldus, Rit:1ter und
später Senatspräsident am Bundesgerichtshof, den Senatspräsidenten
Schäfer aus Frankfurt, einen der vielseitigsten Juristen und wohl
fruchtbarsten Kommentator unserer Zeit, den damaligen Ministerial-
dirigenten und späteren Staatssekretär im nordrhein-westfälischen
Justizministerium Krille, einen eloquenten Kritiker von Rang und spä-
teren Vorsitzenden der Länderkommission für die Strafrechtsreform,
den praktisch erfahrenen und ausgewogenen Ministerialdirigenten
Rösch vom Bayerischen Justizministerium, der später Präsident des
Bayerischen Obersten Landesgerichts wurde, den sorgfältig abwägenden
und mit einem immensen praktischen Erfahrungsschatz ausgerüsteten
Landgerichtspräsidenten Voll als Vertreter des Richterbundes und als
Vertreter des Strafrechtsausschusses der Rechtsanwaltskammern dessen
Vorsitzenden, den unvergessenen Professor Dahs, einen Redner von
kristallklarer Logik und blendender Diktion. In diesem Kreis hervor-
ragender Theoretiker und Praktiker hatte sich J escheck nun zu bewäh-
ren. Einem Geist wie ihm, der neuen Ideen aufgeschlossen, aber durch-
aus nicht geneigt war, das bewährte Alte kurzer Hand über Bord gehen
zu lassen, war das eine reizvolle Aufgabe. Zu schildern, wie ihm deren
Lösung meisterhaft gelang, hat sich dieser Beitrag zum Ziel gesetzt.

11.
Schon in der 2. Sitzung der Kommission Ende Juni 1954, als in der
vorgezogenen Diskussion um die Grundlagen der Reform die erste
Grundsatzfrage der Strafzwecke und der auf ihnen basierenden Straf-
zumessung diskutiert wurde, wies J escheck zunächst darauf hin, daß
Hans-Heinrich Jescheck in der Großen Strafrechtskommission 13

in den romanischen Ländern eine neue Schule am Werke sei, die Strafe
durch Zweckrnaßnahmen ersetzen wolle, bekannte sich zwar selbst zur
Schuldstrafe, regte aber an, einen Grundsatz mit folgendem Wortlaut
an die erste Stelle zu setzen: "Die Strafe ist das unentbehrliche Mittel
des Staates, die soziale Ordnung durch Bewährung des Rechts zu ge-
währleisten!." Jeder Kenner sieht, daß damit ein Kernbegriff ins Spiel
gebracht wurde, der als "Verteidigung der Rechtsordnung" in dem
reformierten Allgemeinen Teil des StGB, vor allem in den §§ 47 Abs. 1
und 56 Abs.3, heute eine beträchtliche Rolle spielt. Noch ein zweiter
Punkt in Jeschecks Stellungnahme erwies sich später als von großer,
fruchtbarer Bedeutung. Anders als der Referent Mezger, der vorge-
schlagen hatte, auf der "Grundlage" der Schuld des Täters die weiteren
Strafzwecke zum Zuge kommen zu lassen2 , schlug Jescheck demgegen-
über zu formulieren vor: "Die Strafe soll der Schuld des Täters ent-
sprechen. In diesem Rahmen hat das Gericht bei der Bemessung der
Strafe zu erwägen, welche Mittel nötig sind, um den Verurteilten zu
einem gesetzmäßigen und geordneten Leben zu führen." Zur Begrün-
dung erklärte er: "Die Schuldstrafe ist keine absolute Größe, sondern
ein Rahmen 3 ." Hier wird, wenn auch nicht zum ersten Male, klar
postuliert, was der Bundesgerichtshof später mit der berühmt geworde-
nen und heftig umstrittenen "Spielraumtheorie" zur Grundlage seiner
Strafzumessungslehre gemacht hat. In diesem Sinne hat die Kommis-
sion auch zunächst einstimmig votiert'. Bemerkenswert an Jeschecks
Vorschlag war weiter, daß er als Strafzweck nur die Spezialprävention,
nicht aber auch die Generalprävention nannte. Stattdessen schwebten
ihm gegenüber der Gruppe der gefährlichen und der angehenden Ge-
wohnheitsverbrecher Zweckrnaßnahmen im Sinne von Liszts vor. Das al-
les aus nachträglicher Sicht eine damals ausgesprochen moderne Position.
Dasselbe gilt für Jeschecks Stellungnahme, als es in der 3. Sitzung um
das Problem des ein- oder zweispurigen Reaktionssystems ging. Hier
setzte sich J escheck im Anschluß an das Referat Eberhard Schmidts, der
sich mit Verve für ein einspuriges System gegenüber gefährlichen Ge-
wohnheitsverbrechern ausgesprochen hatte S , aber im Gegensatz zur
Mehrheit der Kommission6 , hinsichtlich der vorher von ihm genannten

! 1. 44; hier wie im folgenden bezeichnen die römischen Ziffern die Proto-
kollbände der Kommission in ihrer Vollbesetzung, die arabischen Ziffern die
entsprechenden Seitenzahlen.
2 1. 33.

3 1. 44.

, I. 111 mit 342; später ist man allerdings wieder, wie jetzt auch § 46 Abs. 1
S.1 StGB, zum Begriff "Grundlage" zurückgekehrt; XII. 472; vgl. auch
Jescheck selbst, XII. 53.
5 I. 354.

8 I. 357, 111.
14 Eduard Dreher

Tätergruppen für das monistische System einer relativ unbestimmten


Freiheitsstrafe ein, da das zweispurige System an der Unmöglichkeit
einer ausreichenden Differenzierung im Vollzug scheitere7 •
Besondere Aufmerksamkeit verdient das Referat, das der Jubilar zu
der Frage hielt, ob die Unterscheidung von Zuchthaus, Gefängnis, Ein-
schließung und Haft beibehalten werden sollte. Er sprach sich dort mit
großer Entschiedenheit, aber unter sehr sorgfältiger Abwägung des Pro
und Contra für die einheitliche Freiheitsstrafe unter Verschmelzung der
bisherigen Zuchthaus- und Gefängnisstrafe aus, während Einschließung
und Haft abgeschafft werden sollten. Gegen die nicht diskriminierende
Ehrenstrafe der Einschließung wandte sich Jescheck mit der Begrün-
dung, daß es keinen einheitlichen Typus des überzeugungstäters gebe
und es angebracht sei, die normalerweise vorgesehenen Strafen auch
gegen politische Täter anzuwenden. Die sozialethische Mißbilligung
müsse alle Gesetzesbrecher gleichmäßig treffenS. Jeschecks Argumen-
tation zugunsten der Einheitsstrafe lautete in seinen schriftlichen
Thesen wie folgt:
"Die Abschaffung der Zuchthausstrafe soll eine persönlichkeitskonfor-
me Vollzugsgestaltung ermöglichen und die Resozialisierung Vorbestraf-
ter erleichtern.
1. Die Unterscheidung von Zuchthaus und Gefängnis bedeutet eine
Vor-Klassifizierung der zu Freiheitsstrafe Verurteilten nach der
Schwere der Tat und hemmt damit eine Vollzugsklassifizierung aller
Gefangenen nach Persönlichkeitsmerkmalen.
2. Die general- und spezialpräventive Wirkung der Zuchthausstrafe
beruht auf ihren Ehrenfolgen und auf der Verachtung und dem Miß-
trauen, das dem ,Zuchthäusler' in der Öffentlichkeit entgegengebracht
wird. Diese Folgen der Zuchthausstrafe erschweren die Resozialisierung
und fördern den Rückfall.
3. Die Unterscheidung von Zuchthaus und Gefängnis im Vollzug ist
zwar möglich, doch sind die Unterscheidungsmerkmale nicht zu billigen,
wenn der Vollzug die Resozialisierung des Gefangenen fördern oder
mindestens nicht erschweren so1l9."

Das war im wesentlichen dieselbe Begründung, mit der 12 Jahre


später der sogenannte Alternativ-Entwurf 1966 für die einheitliche Frei-
heitsstrafe eintrat. In seinem mündlichen Referat vor der Kommission
lieferte Jescheck übrigens eine Probe des für ihn charakteristischen

7 1. 6l.
S I. 94.
8 1. 358.
Hans-Heinrich Jescheck in der Großen Strafrechtskommission 15

bildhaften Humors. Er erklärte nämlich, da im Vollzug von Zuchthaus


und Gefängnis Unterschiede kaum mehr beständen und sinnvoll auch
nicht gemacht werden könnten, handle es sich bei der in der Volksmei-
nung so erschreckend erscheinenden Zuchthausstrafe nur "um eine Art
Vogelscheuche, von der man glaubt, es sei etwas dahinter; es ist aber
nichts dahinter, die Vögel denken es nur10 ." Doch die Kommission ließ
sich in ihrer Mehrheit nicht überzeugen. In der Abstimmung wurde die
Verschmelzung von Zuchthaus und Gefängnis mit 10 zu 6 Stimmen ab-
gelehntl l , Zuchthaus sollte allerdings nur für schwerste Delikte vorge-
sehen werden. Fünfzehn Jahre später wurde die Einheitsstrafe mit dem
1. StrRG vom 25. 6. 1969 zum heute geltenden Recht. Die Zeit hatte sich
auf J eschecks Seite gestellt.
Sehr interessant ist weiter die Auffassung, die er vertrat, als die seit
langem und noch heute umkämpfte Frage nach der Daseinsberechti-
gung der kurzen Freiheitsstrafe erörtert wurde. Welzel hatte sich da-
mals in seinem Referat trotz der bekannten grundsätzlichen Bedenken
für eine kurze "Denkzettel"-Strafe eingesetzt, die der Rechtsbewährung
dienen, 6 Monate nicht überschreiten und bis zur Höchstgrenze VOn 3 Mo-
naten in Einzelhaft vollzogen werden sollte. Die langfristige Freiheits-
strafe wollte Welzel erst mit 9 Monaten beginnen lassen. Bemerkens-
wert ist nun, daß sich auch J escheck, der das Mindestmaß der eigentli-
chen Freiheitsstrafe bei 3 Monaten ansetzte, dem Gedanken einer kurzen
Einsperrung, der bestimmten Typen VOn Tätern zeigen sollte, "daß der
Staat auf eine Rechtsverletzung in sehr unangenehmer Weise reagiert",
aufgeschlossen zeigte, und zwar in Erinnerung daran, daß die mili-
tärische Arreststrafe, wenn auch unter anderen Verhältnissen, als Diszi-
plinarstrafe eine große Bedeutung gehabt habe. Als Höchstmaß stellte
sich Jescheck nur 14 Tage, allenfalls 6 Wochen vor. Der Vollzug sollte
an Wochenenden oder während des Urlaubs durchgeführt werden.
Registermäßig sollte von vornherein beschränkte Auskunft vorgesehen
werdenl2 • In der späteren Diskussion wollte Jescheck die Denkzettel-
strafe bei 4 Wochen enden und die Gefängnisstrafe bei 3 Monaten be-
ginnen lassen13 • Interessant ist, daß er also wie schon der Referent
Welzel eine Lücke zwischen dem Höchstmaß der kurzen Denkzettel-
strafe und dem Mindestmaß der ordentlichen Freiheitsstrafe in Kauf
nehmen wollte14 • Um diese sogenannte "Lückenlösung" ist in der Kom-
mission, die grundsätzlich eine kurze Freiheitsstrafe nicht entbehren zu
können glaubte, lange und mit großem Einsatz gerungen worden. In der
10 1. 82.
u 1. 112 mit 359.
12 1. 107.
13 I. 154.
14 So schon 1. 107, 144.
16 Eduard Dreher

2. Lesung ist J escheck dabei von dem Grundsatz ausgegangen, es solle


"ein System der Freiheitsstrafen gefunden werden, das sich vollzugs-
mäßig durchführen" lasse. Er schlug dann vor, die kurzfristige Strafhaft
auf 3 Monate zu begrenzen und die Gefängnisstrafe mit 6 Monaten be-
ginnen zu lassen15 • Man weiß, wie die Dinge später gelaufen sind. Der
Alternativ-Entwurf wandte sich mit besonderer Schärfe gegen jede kurze
Freiheitsstrafe und setzte deren Mindestmaß konsequent mit 6 Monaten
an (§ 36 Abs. 1 S. 1). Der Gesetzgeber kam dann zu der bekannten Kom-
promißlösung. Er setzte die Mindestdauer der Freiheitsstrafe auf einen
Monat fest, schuf aber in § 47 StGB eine besondere Regelung, wonach
eine Freiheitsstrafe unter 6 Monaten nur in besonderen Ausnahmefällen
als ultima ratio verhängt werden darf. Auch im Ausland wird auf die
kurze Freiheitsstrafe im allgemeinen nicht verzichtet und in verschie-
denen Ländern sind Bestrebungen im Gange, ihr durch einen sinnvolle-
ren Vollzug eine bessere Grundlage zu geben. Das letzte Wort in dieser
Frage scheint also noch immer nicht gesprochen. Im übrigen ist es, ge-
rade im Hinblick auf Jeschecks erste Stellungnahme, bemerkenswert,
daß das Wehrstrafrecht die kurze Freiheitsstrafe in Form des Straf-
arrests auch heute noch kennt, dessen Höchstmaß 6 Monate und dessen
Mindestmaß 2 Wochen beträgt (§ 9 Abs.1 WStG), außerdem aber im
Disziplinarrecht den Disziplinararrest, der von 3 Tagen bis zu 3 Wochen
reicht (§ 22 WDO).
Im weiteren Verlauf der Grundsatzdebatte sprach sich Jescheck für
das materiellrechtliche Institut des Absehens von Strafe aus 1G , befür-
wortete hinsichtlich der Geldstrafe unter Hinweis auf die damals günsti-
gen Erfahrungen in den nordischen Staaten die später Tagessatzsystem
genannte Lösung, allerdings nicht für den Bereich der Ordnungswidrig-
keiten17 , und wandte sich entschieden gegen Ehrenstrafen in Verbindung
mit Gefängnis, während er sie neben Zuchthaus unter Vorbehalt seiner
grundsätzlichen Ablehnung dieser Strafart widerwillig akzeptierte l8 .
Hinsichtlich der Behandlung besonderer Tätergruppen wandte er sich
gegen eine Jugendverwahrung, trat aber für eine besondere Behandlung
von Neigungstätern ein, denen gegenüber er eine Mindestfreiheitsstrafe
von 6 Monaten und unbestimmte Verurteilung befürwortete. Psycho-
pathische Täter wollte er nicht mehr in Heil- und Pflegeanstalten unter-
gebracht wissen. Dem Gedanken, die Behandlung der Asozialen wie
Bettler, Dirnen und Landstreicher aus dem Bereich des Strafrechts her-
auszunehmen, trat er entgegen19 •
15 XII. 307!f.
IS I. 133 f.
17 I. 166, 181.
18 I. 235.
18 I. 264.
Hans-Heinrich Jescheck in der Großen Strafrechtskommission 17

In der 12. Sitzung der Kommission hielt Jescheck sein zweites Referat,
und zwar zu dem in der modernen Industriegesellschaft höchst aktuellen
Thema, ob Sonderrnaßnahmen gegen juristische Personen vorgesehen
werden sollten 20 • Er ging dabei von der außerordentlichen sozialen Be-
deutung der Personenverbände in unserer Zeit aus, prüfte die damals
vorhandenen Möglichkeiten des Vorgehens gegen juristische Personen
im Verwaltungsrecht und im Bereich der Ordnungswidrigkeiten und
kam zu dem Ergebnis, daß weitere Sanktionen zweckmäßig seien. Er sah
sich in übereinstimmung mit der Kommission, wenn er nicht nur
echte Kriminalstrafen im Rahmen eines Schuldstrafrechts für ausge-
schlossen hielt, sondern auch unmittelbare Geldbußen, da auch das
Ordnungswidrigkeitenrecht mit Schuldgesichtspunkten durchsetzt sei. In
den USA habe man sich allerdings, so erklärte J escheck im Rahmen
einer rechtsvergleichenden Betrachtung, kurzerhand über solche Ge-
sichtspunkte hinweggesetzt. Der Supreme Court habe dort in einer be-
rühmten Entscheidung pragmatisch erklärt, wenn man Körperschaften
aufgrund der überholten Theorie, daß sie keine Straftat begehen könn-
ten, von jeder Strafe freistellen wollte, "so würde man tatsächlich die
einzige Möglichkeit aus der Hand geben, um diesen Bereich wirksam
unter Kontrolle zu halten und gegen Mißbräuche vorzugehen2!." Dem-
gegenüber empfahl der Referent über Einziehung und Mehrerlösabfüh-
rung hinaus Maßregeln gegen juristische Personen, Personengesellschaf-
ten und Vereine des bürgerlichen Rechts unter der Voraussetzung, daß
Bevollmächtigte solcher Vereinigungen Zuwiderhandlungen begingen,
die durch eine vorsätzliche oder fahrlässige Aufsichtspflichtverletzung
der dafür zuständigen Organe ermöglicht wurden. Bei den Zuwider-
handlungen müsse es sich um Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten
handeln, die im Rahmen der Verbandstätigkeit begangen werden. Als
Maßregeln, die keinen repressiven Charakter tragen, sondern reine
Sicherungsmaßregeln sein sollten22 , schlug Jescheck vor allem die Geld-
sanktion als wirksamste Reaktion vor, und zwar nicht nur im Sinne der
Ahndung von Ordnungswidrigkeiten, sondern auch und in erster Linie
zu Sicherungszwecken, ferner das Verbot, bestimmte Tätigkeiten auszu-
üben und als schärfste Maßregel die Auflösung des Verbandes. Gerecht-
fertigt sah Jescheck solche Maßregeln mit einem Hinweis auf Welzel
grundsätzlich darin, daß der Verband, dem das Gesetz die innere Frei-
heit seiner Organisation einräume, zur Rechenschaft gezogen und in
seiner äußeren Betätigungsmöglichkeit beschnitten werden dürfe und
solle, wenn dem Verband die innere Freiheit fehle, geeignete Persön-
lichkeiten in die Verantwortung zu stellen. Zur gesetzgeberischen Lö-

20 1. 295.
2! 1.297.
22 I. 321.

2 Festschrift für H.-H. Jescheck


18 Eduard Dreher

sung schlug Jescheck eine Vorschrift im Allgemeinen Teil des StGB für
die Straftaten der Organe und Bevollmächtigten vor sowie für die Ord-
nungswidrigkeiten eine entsprechende Vorschrift im OWiG.
Es ist hier nicht der Ort, im einzelnen zu schildern, wie die überaus
sorgfältige und interessante Diskussion zu diesem Thema in der Kom-
mission und in der späteren Gesetzesarbeit verlief. Es genügt, auf die
geltenden §§ 14, 73 Abs.3, 75 StGB und die §§ 9, 29, 30, 88 OWiG hinzu-
weisen. Dem Kenner wird dann deutlich werden, inwieweit Gedanken-
gut lesehecks Eingang in das geltende Recht gefunden hat.
Schon dieser Überblick über seine damalige Stellungnahme zu den
kriminalpolitischen Grundsatzfragen der Reform zeigt nicht nur, wie
schon längst vor dem Alternativ-Entwurf und den beiden Strafrechts-
reformgesetzen die später im Mittelpunkt stehende Problematik mit
ihrem Pro und Contra durchgreifend diskutiert wurde, sondern auch,
wie es gerade der Jubilar war, der sich als Wegbereiter späterer Ent-
scheidungen des Gesetzgebers hervortat.
Bevor ich zu weiteren Referaten lesehecks komme, möchte ich noch
einige seiner Diskussionsäußerungen zu Problemen des Allgemeinen
Teils wiedergeben. Im dogmatischen Bereich ist zunächst bemerkens-
wert, daß J escheck der vom Bundesjustizministerium vorgeschlagenen
Vorschrift zustimmte, wonach als Anstifter auch bestraft werden sollte,
wer vorsätzlich einen anderen zu dessen Tat bestimmt und dabei irrig
angenommen habe, der Täter habe bei der Begehung vorsätzlich gehan-
delt. Er sagte dazu: "Es handelt sich darum, daß jemand, der lediglich
glaubt, Anstifter zu sein, in Wirklichkeit einen Tätererfolg erzielt. Dies
rechtfertigt es m. E., mit dem argumentum a maiore ad minus die ...
Gleichstellung vorzunehmen 23 ." Die Vorschrift wurde in etwas abge-
änderter Form als § 32 in den E 1962 aufgenommen, wurde aber als zu
perfektionistisch nicht Gesetz. Dennoch hielt Jescheck bis zur 2. Auflage
seines Lehrbuchs an dem in der Kommission eingenommenen Stand-
punkt fest. Doch in der 3. Auflage meinte er, darin eine "Verletzung des
Analogieverbots" zu sehen, und schloß sich der inzwischen herrschend
gewordenen Gegenmeinung in dieser umstrittenen Frage an2 \ die der
Gesetzgeber wegen ihrer geringen praktischen Bedeutung ungeklärt ge-
lassen hat25 • Ich sehe in Jeschecks Haltung keinen Mangel. Gerade der
gute Jurist muß elastisch sein und gelegentlich auch den Mut zum
Standpunktwechsel haben.

23 11.98.
2' Lehrbuch, 3. Aufl. 1978, S. 534 f.; vorher schon SchwZStr.91 (1975), S.32;
anders aber noch 2. Aufl. 1972, S. 499.
25 BT-Drucks. V!4095, S. 13.
Hans-Heinrich Jescheck in der Großen Strafrechtskommission 19

Bei der Erörterung des Notstandes setzte sich Jescheck dafür ein, auf
eine gesetzliche Regelung des Irrtums über den rechtfertigenden Not-
stand zu verzichten und lediglich den Irrtum über den entschuldigenden
Notstand ausdrücklich zu regeln und dabei klarzustellen, daß auch der
Irrtum nur entschuldigen könne, wenn er unverschuldet seF6. Der Ge-
setzgeber ist später dieser Meinung gefolgt. Bei der Diskussion um die
Problematik des Versuchs legte Jescheck Wert darauf, daß Versuch und
Vorbereitung klar voneinander abzugrenzen seien und der Bereich des
Versuchs nicht zu weit ausgedehnt werde. Den irrealen Versuch wollte
er nur in den Fällen des abergläubischen von der Strafbarkeit ausneh-
men. Für den Rücktritt eines Tatbeteiligten wollte er es genügen lassen,
wenn dieser seinen eigenen Tatbeitrag rückgängig mache 27 •
Ein weiteres und zwar ausgesprochen eigenwilliges Referat hielt
Jescheck zum Thema der Erfolgsdelikte 28 • Er unterschied dabei zwischen
den beiden Gruppen der erfolgsqualifizierten und der erfolgsbegrün-
deten Delikte. Entgegen seiner Mitreferentin, der Bundesrichterin Else
KofJka, plädierte er unter Hinweis u. a. auf Radbruch für Abschaffung
der ersten Gruppe, die ein Fremdkörper in unserem Recht sei. Bei An-
wendung der für die Idealkonkurrenz geltenden Regeln würden sich
dann die Höchststrafen für die bisherigen erfolgsqualifizierten Delikte
nur in einer praktisch durchaus akzeptablen Weise ändern. Der Folge,
daß die Mindeststrafen beträchtlich sinken würden, könne man durch
Einführung von besonders schweren Fällen bei den Grunddelikten be-
gegnen, wobei man den Eintritt des verschuldeten besonderen Erfolges
als Beispielsfall anführen könne. Jescheck räumte ein, daß Volksüber-
zeugung und Tradition, jedenfalls in den Fällen von schwerer Körper-
verletzung mit Todesfolge, für die Beibehaltung dieser erfolgsqualifi-
zierten Delikte sprechen könnten. Doch sei das ein Restbestand der alten
einfachen Erfolgshaftung und lasse sich auch gesetzgeberisch befriedi-
gend ausgleichen. Auch den Einwand, "daß der Maßstab der individuel-
len Voraussehbarkeit des Erfolges bei objektiv gefährlichem Verhalten
des Täters viel zu milde sei und den Rechtsschutz nicht genügend ge-
währleiste", hielt Jescheck nicht für durchschlagend, da der Unterschied
zwischen Adäquanz- und Fahrlässigkeitsbetrachtung praktisch nicht
sehr bedeutsam sei. Allerdings gebe es in ausländischen Rechtsordnun-
gen zahlreiche erfolgsqualifizierte Delikte, die aber wie auch bei uns
sämtlich auf die überholte kanonische Versari-Lehre zurückgingen. Für
den Fall, daß man sich doch dafür entscheiden sollte, erfolgs qualifizierte
Delikte beizubehalten, so solle man nicht die Fahrlässigkeitskonstruk-

!O 11.160.
27 11.194.
28 II. 246.
20 Eduard Dreher

tion des geltenden Rechts wählen. Vielmehr stelle "die Adäquanzbe-


trachtung die kriminalpolitisch richtige und konsequente Lösung" dar.
Jescheck untermauerte diese These mit rechtsgeschichtlichen und krimi-
nalpolitischen Erwägungen und schlug vor, im Gesetz darauf abzustel-
len, ob "die Tat nach der allgemeinen Lebenserfahrung dazu geeig-
net war, die Folge herbeizuführen". In erster Linie blieb er aber bei
seinem Vorschlag, die erfolgsqualifizierten Delikte überhaupt abzu-
schaffen, und wies auf die erheblichen dogmatischen Schwierigkeiten
hin, die sie auf dem Gebiet der Teilnahme und des Versuchs machen und
die Praxis damit überforderten. Für die Gruppe der erfolgsbegründeten
Delikte machte Jescheck Vorschläge, die auf eine Anpassung an das
Schuldstrafrecht hinausliefen, wies aber darauf hin, daß die einzelnen
Tatbestände bei der Erörterung des Besonderen Teils überprüft werden
müßten. Das gelte vor allem für den kriminalpolitisch unentbehrlichen
damaligen § 330 a StGB, wo auch die Adäquanzbetrachtung zu einer Lö-
sung führen könne.
Jeschecks interessanter Vorschlag, der in der Tat heikle Streitfragen
vermieden hätte, die heute noch im Bereich des geltenden § 18 StGB
nicht abschließend geklärt sind, führte zu einer intensiven Diskussion
mit weiteren Lösungsvorschlägen 29 • In der Abstimmung sprachen sich
6 Kommissionsmitglieder für einen Wegfall der erfolgsqualifizierten
Delikte aus, darunter auch die Professoren Lange, Mezger, Sieverts und
Welzel. 10 Mitglieder stimmten für Beibehaltung, überwiegend Vertre-
ter der Praxis. Bei der Frage, ob man dem von J escheck vorgeschlage-
nen Adäquanzprinzip folgen oder eine Regelung nach Art des damals
geltenden, durch das 3. StÄG eingeführten § 56 StGB wählen sollte,
traten nur die Professoren Lange und Welzel dem Vorschlag des Refe-
renten bei 30 •
Sein nächstes Referat hielt Jescheck zu dem im Grundsätzlichen wie
im Technischen ebenso wichtigen wie kaum befriedigend lösbaren
Thema der Konkurrenzen 31 • In seinen umfassend angelegten Ausfüh-
rungen konzentrierte er sich vor allem auf die auch später im Mittel-
punkt der Erörterungen stehende Kernfrage, ob man bei der Real-
konkurrenz vom geltenden Prinzip der aus Einzelstrafen gebildeten
Gesamtstrafe zum System der uno actu gebildeten Einheitsstrafe über-
gehen solle. Jescheck setzte sich für diese zweite Lösung ein, für die er
sich auf die vorausgegangenen Entwürfe eines neuen deutschen StGB
berufen konnte. Auch das Bundesjustizministerium war in seinen da-
maligen Vorschlägen diesem System gefolgt. Der Referent erklärte das

2g II. 255.
30 11.356.
31 II.283.
Hans-Heinrich Jescheck in der Großen Strafrechtskommission 21

bei der Gesamtstrafenlösung erforderliche "komplizierte Rechen-


exempel ... für unnötig und wirklichkeitsfremd, denn die Praxis hat
sich mit gesundem Sinn für die richtige Lösung weitgehend daran ge-
wöhnt, erst die angemessene Strafe festzusetzen und diese dann in Ein-
zelstrafen aufzulösen, weil das Gesetz es befahl." Die Gleichbehand-
lung von Ideal- und Realkonkurrenz, für die Jescheck eintrat, werde
vielen unfruchtbaren Revisionen den Boden entziehen. Die einheitliche
Regelung der Strafzumessung in beiden Konkurrenzfällen entspräche
"durchaus dem Prinzip der materiellen Schuldbetrachtung" . Es träte
dann "auch bei der Realkonkurrenz von vornherein die Täterpersön-
lichkeit in das Rampenlicht, das ihr gerade hier gebührt". J escheck
schlug für beide Konkurrenzformen eine Verdoppelung der angedroh-
ten Höchststrafe unter Kumulation von Geldstrafe, Nebenstrafen,
Nebenfolgen und Maßregeln vor. Er verkannte freilich Schwächen der
Einheitsstrafenlösung nicht. "Der Täter und die Allgemeinheit erfah-
ren nun nicht mehr, was die Taten - jede für sich genommen - wert
sind." In dieser "Abschwächung des generalpräventiven Effekts" sah
Jescheck aber keinen Nachteil, da es entscheidend um die Beurteilung
der Täterpersönlichkeit gehe. Auch den prozessualen Nachteil, daß eine
Einzelanfechtung stets den gesamten Strafausspruch mit ergreift, hielt
er für minimal gegenüber dem durchschlagenden Vorteil, daß ein
Rechtsirrtum des Vorderrichters in der Konkurrenzfrage die Revision
nur noch dann begründen könne, wenn er die Strafzumessung beein-
flußt habe. Interessant ist noch, daß Jescheck dazu neigte, das Institut
der fortgesetzten Handlung preiszugeben, jedenfalls entschieden wider-
riet, es im Gesetz festzuschreiben.
Nachdem sich Landgerichtspräsident Voll als zweiter Referent mit
zahlreichen, auch eindrucksvollen Argumenten gegen das Einheits-
strafenmodell und für die traditionelle Gesamtstrafenlösung ausge-
sprochen32 , Lackner hingegen als Sprecher des Ministeriums diese
Lösung kritisiert und die Einheitsstrafenlösung verteidigt hatte 33,
wandte sich Dahs als Vorsitzender des Strafrechtsausschusses der Deut-
schen Rechtsanwaltskammern, wo man mit sehr knappem Abstimmungs-
ergebnis die Problematik gründlich diskutiert hatte, mit beeindruckender
Entschiedenheit gegen die Einheitsstrafenlösung34 • Es folgte eine Dis-
kussion, die ich hier nicht im einzelnen wiedergeben kann. Sie zog sich
durch die gesamte Reformgeschichte hin bis in die Erörterungen des
Sonderausschusses des Bundestages für die Strafrechtsreform, wo die
gesamte Problematik noch einmal aufgerollt wurde und die Entschei-
dung auf des Messers Schneide stand. Ich möchte hier nur noch erwäh-

32 11. 292.
33 11. 299.
34 II.307.
22 Eduard Dreher

nen, daß sich J escheck in der Diskussion gegen ein gewichtiges Argu-
ment zur Wehr setzte, das in der Debatte aufgetaucht war. Es handelte
sich darum, daß in Gesetzen außerhalb des Strafrechts an Verurtei-
lungen zu Freiheitsstrafe in bestimmter Höhe wegen vorsätzlicher
Taten bestimmte Rechtsfolgen geknüpft werden wie z. B. der Verlust
des Amtes nach dem Beamtenrecht. Bei einer Einheitsstrafe wegen
einer Mischung aus vorsätzlichen und fahrlässigen Taten wäre nicht
erkennbar, welche Strafe für eine oder mehrere Vorsatztaten ausge-
sprochen worden ist. Jescheck meinte, man solle derartige Vorschriften,
die wegen ihrer automatischen Wirkung verfehlt seien, beseitigen35 •
Man bezweifelte die Realisierbarkeit dieses Vorschlags. In der Tat
gibt es in einer ganzen Reihe von Gesetzen, z. B. in § 48 Nr.2 Solda-
tenG, Vorschriften der geschilderten Art. Aber schon im StGB selbst
in seiner geltenden Fassung gibt es z. B. in § 48 Abs. 1 S. 1 und in § 66
Abs.l Nr.l Vorschriften, welche die Feststellung erforderlich machen,
ob einer Strafverbüßung oder ob Vorverurteilungen in bestimmtem
Maß vorsätzliche Taten zugrundeliegen. Das wäre beim System der
Einheitsstrafe dann nicht möglich, wenn sich die Vorverurteilungen in
gewissen Fällen sowohl auf vorsätzliche als auch auf fahrlässige Taten
gründeten. Das war auch eine der Schwierigkeiten, die letztlich dazu
führten, daß die Einheitsstrafe trotz ihrer grundsätzlichen Vorzüge von
der Kommission mit Mehrheit abgelehnt wurde 36 und sowohl der E 1962
als auch das geltende Recht am Gesamtstrafenprinzip festgehalten
haben. Der zweite Grund für dessen Beibehaltung war der, daß die
prozessualen Schwierigkeiten, die bei der Anfechtung des Schuld-
spruchs nur hinsichtlich einzelner Taten auftreten, beträchtlich sind, da
die Anfechtung den gesamten Strafausspruch mit ergreift, die Zulas-
sung einer teilweisen Vorvollstreckung höchst problematisch erscheint
und beim Erfolg einer Teilrevision der gesamte Strafausspruch neu
überprüft werden muß, was ohne ein Eingehen auf das Schuldrnaß in
den nicht angefochtenen Fällen kaum möglich ist. Ein in der Kommis-
sion gemachter Vermittlungsvorschlag, der die genannten Schwierig-
keiten durch besondere Regelungen beseitigen wollte und vom Ministe-
rium noch einmal durchformuliert worden war37, fand nach einer ein-
gehenden Diskussion, an der sich auch J escheck mehrmals beteiligte,
im Ergebnis keine Mehrheit38 • Eine gewisse Genugtuung mag der
Jubilar darin finden, daß sich auch der Alternativ-Entwurf zum System
der Einheitsstrafe bekannt hat, ohne allerdings in seiner sehr summa-
rischen Begründung erkennen zu lassen, ob seine Verfasser die geschil-

35 11.319.
38 H.358.
37 UI. 31!.
38 111. 24, 133.
Hans-Heinrich Jescheck in der Großen Strafrechtskommission 23

derten Schwierigkeiten gesehen haben und auf welche Weise sie sie
ausräumen wollten39 •
Bei der Erörterung der Verjährung in der 25. Sitzung der Kommis-
sion gab Jescheck eine Erklärung ab, die festgehalten zu werden ver-
dient. Sie lautete: "Die Gefahr, daß Gesetze geschaffen werden, die die
Verjährungsfrist rückwirkend verlängern, halte ich nicht für sehr groß.
Käme es einmal zu einem solchen Gesetz, so sollte man nicht zögern,
ihm die Anwendung zu versagen, weil es auch prozessuale Rechtsposi-
tionen gibt, die nicht durch einen Federstrich des Gesetzgebers rück-
wirkend wieder beseitigt werden dürfen40 ." Das war am 24.6.1954.
Nicht nur Juristen wissen, wie es später tatsächlich gekommen ist.
Ein weiteres Referat hielt J escheck zu dem politisch gewichtigen wie
juristisch komplizierten Thema "Räumliche Geltung, Ort der Tat", ein
Thema, das den Fachmann des internationalen Strafrechts besonders
reizen mußteu. Mit Recht hob er gleich eingangs hervor, daß die
"Regelung des Strafrechtsanwendungsrechts kein bloß juristisch-techni-
sches Problem" sei, sondern "vom Gesetzgeber grundsätzliche Entschei-
dungen sowohl über die Stellung des einzelnen zum Staat als auch über
die Stellung des Staates in der Völkergemeinschaft" fordere. Sachlich
gehe es, auch wenn ein enger Zusammenhang bestehe, nicht um die
prozessuale Frage des Umfangs der eigenen Strafgerichtsbarkeit, son-
dern um materielles Rechtsanwendungsrecht. Auszugehen sei vom
Grundsatz der Gleichheit der souveränen Staaten, der jedes politische
Vorrecht verbiete, weiter vom Grundsatz der Arbeitsteilung. Aus den
sich anbietenden Anknüpfungspunkten wie Staatsgebiet, Staatsange-
hörigkeit, Schutz des eigenen Staates und seiner Angehörigen sowie
Schutz überstaatlicher Kulturgüter ergäben sich die bekannten Lö-
sungsprinzipien, nämlich Territorialprinzip, aktives Personalprinzip,
Schutzprinzip, passives Personalprinzip und Universalprinzip. Aus der
Art, wie diese Prinzipien aufzustellen und zu kombinieren seien, er-
wüchsen die schwierigen juristischen und politischen Probleme. Ent-
gegen dem seit 1940 geltenden aktiven Personalprinzip schlug J escheck
in übereinstimmung mit dem Bundesjustizministerium die Rückkehr
zum Territorialprinzip vor. Sehr eindrucksvoll deckte er den Zusam-
menhang der 1940 eingeführten Regelung mit den nationalsozialisti-
schen Zielen auf, "mit dem trübsten Kapitel unserer Geschichte". Mit
dem Täterstrafrecht sei das Personalprinzip nicht zu begründen. Hinter
seiner scheinbaren Einfachheit seien schwierige Fragen verborgen. Das
3D AE AT, 2. Auf!. 1969, S. 123 f.
40 11.348.
41 Die Frage des interlokalen Strafrechts, für die das Ministerium beson-
dere Vorschläge ausgearbeitet hatte, wurde bei der Behandlung des Themas
bewußt ausgeklammert.
24 Eduard Dreher

Prinzip könne, auch wenn seine völkerrechtliche Zulässigkeit grund-


sätzlich anerkannt werden könnte, doch zu völkerrechtswidriger Ein-
mischung in fremde Souveränität führen. Die nach dem damals gelten-
den § 3 Abs.2 StGB vorzunehmende negative Strafwürdigkeitsprüfung
halte dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs.2 GG nicht stand. Auch
im Ausland gelte zur Zeit mit wenigen Ausnahmen das Territorial-
prinzip.
Freilich könnten die Aufgaben des internationalen Strafrechts nicht
allein nach diesem Prinzip gelöst werden. Nach dem Schutzprinzip
müsse die Anwendbarkeit des eigenen Strafrechts ohne Rücksicht auf
die Staatsangehörigkeit des Täters und das Tatortrecht auf solche
Auslandstaten ausgedehnt werden, die sich gegen eigene Rechtsgüter
richten, wie z. B. Hoch- und Landesverrat. J escheck schlug für diese
Fallgruppe einen eigenen Paragraphen mit entsprechendem Katalog
vor42 , der einer Generalklausel vorzuziehen sei. In einem weiteren
Paragraphen sollten dann wiederum enumerativ die Fälle des Univer-
salprinzips zusammengefaßt werden wie z. B. Münz- und Drogendelikte.
Die Vorschrift entspreche weitestgehend dem auf internationalen Ver-
trägen beruhenden geltenden Recht, als neue Gruppe sollten aber
schwere Zuwiderhandlungen gegen die vier Genfer Rotkreuzabkom-
men von 1949 eingefügt werden. Auch hier seien Tatortrecht und
Staatsangehörigkeit des Täters ohne Bedeutung. Eine weitere Vor-
schrift müsse schließlich das Prinzip der stellvertretenden Strafrechts-
pflege realisieren. Hier gehe es einmal um im Ausland begangene
Taten von Deutschen, die ja nach dem Grundgesetz nicht ausgeliefert
werden dürften. Voraussetzungen sollten dabei sein, daß der Täter zur
Tatzeit Deutscher war oder es vor der Aburteilung geworden sei und
daß es sich um Taten handle, die durch das Tatortrecht als Verbrechen
oder Vergehen mit Strafe bedroht seien, es sei denn, daß der Tatort
keiner Strafgewalt unterworfen sei. Ausländisches Recht solle in diesen
Fällen entgegen der vor 1940 geltenden Regelung auch dann nicht an-
gewandt werden, wenn es milder sei als das entsprechende deutsche
Recht, weil die Vergleichbarkeit mit ausländischen Rechten zu schwie-
rig geworden sei. Als zweiter Fall der stellvertretenden Strafrechts-
pflege solle unter denselben Voraussetzungen derjenige des Ausländers
behandelt werden, der im Inland betroffen, aber aus irgendwelchen
Gründen, so trotz des erforderlichen Versuchs dazu, nicht ausgeliefert
werde, obwohl nach der Art der Tat die Auslieferung an sich zulässig
wäre. In derselben Vorschrift sollte auch das Erledigungsprinzip zur
Geltung gebracht werden, und zwar dahin, daß in den Fällen stellver-
tretender Strafrechtspflege die Verfolgung dann ausgeschlossen sein
sollte, wenn die ausländische Gerichtsbarkeit die Sache selbst schon
42 IV. 15,410 § b.
Hans-Heinrich Jescheck in der Großen Strafrechtskommission 25

erledigt habe oder wenn die Tat nach dem Tatortrecht verjährt sei
oder das notwendige Verfolgungsverlangen oder die Zustimmung zur
Verfolgung fehlten.
J escheck wandte sich dann noch dem Problem zu, ob ein Schutz der
eigenen Staatsangehörigen gegenüber Auslandstaten erforderlich sei,
wie das die Sachbearbeiter des Ministeriums mit folgender Formulie-
rung vorgeschlagen hatten: "Das deutsche Strafrecht gilt für Taten, die
im Ausland gegen einen Deutschen begangen werden." Gegenüber die-
ser weiten Ausdehnung hatte J escheck nicht nur völkerrechtliche Be-
denken, sondern auch solche unter dem Gesichtspunkt des Schuldstraf-
rechts, da es hier um Taten von Ausländern gehen könne, welche
deren Strafbarkeit nach deutschem Recht aus ihrem eigenen nicht ken-
nen. Der Referent schlug daher unter Übernahme eines Gedankens
aus dem österreichischen Strafgesetzentwurf vor, die gedachte Vor-
schrift auf Taten zu beschränken, die ein Deutscher mit Wohnsitz oder
gewöhnlichem Aufenthaltsort in Deutschland im Ausland gegen einen
Deutschen begehe. Am Schluß seines Referats regte J escheck für die Be-
stimmung des Ortes der Tat folgende Vorschrift an, die sich in ihrem
Abs.2 um eine Lösung der äußerst komplizierten Teilnahmeprobleme
bemüht: (1) "Eine Tat ist an jedem Ort begangen, an dem der Täter oder
Teilnehmer gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln
sollen, oder an dem der Erfolg eingetreten ist." (2) "Erfolg der Teil-
nahme ist auch die Begehung der Tat. Ist die Tat im Ausland begangen,
so ist es für die Strafbarkeit der Teilnahme erforderlich, daß die Tat
nach deutschem Strafrecht eine als Verbrechen oder Vergehen mit
Strafe bedrohte Handlung darstellt."
An J eschecks Referat schloß sich eine ausgiebige Debatte an, bei der
nur wenige Kommissionsmitglieder für die Beibehaltung des aktiven
Personalprinzips eintraten, die Ausgestaltung des passiven Personal-
prinzips unter Kombination mit den übrigen Prinzipien hingegen sehr
kontrovers diskutiert wurde 43 • Die dazu von der Kommission beschlos-
sene GrundvorschriftU deckt sich im wesentlichen mit der heutigen
Fassung des § 7 StGB. Im Endergebnis aber kann gesagt werden, daß
das System der heute geltenden §§ 3 bis 7 und 9 in seinem Gerippe auf
J es checks Vorschläge zurückgeht.
Noch einmal hatte er in der Voll kommission zu referieren, und zwar
im Zusammenhang mit seinem zweiten Referat über das Problem der
Androhung von Zuchthaus und der wahlweisen Androhung von Zucht-
haus und Gefängnis 45 • Da diese Themen inzwischen überholt sind, soll

43 IV. 21, 30.


44 IV. 417 § e.
45 V. 43, 60, 65.
26 Eduard Dreher

hier nur festgehalten werden, daß J escheck von seiner nach wie vor
ablehnenden Grundhaltung gegenüber der Zuchthausstrafe her sehr
restriktive Thesen aufstellte, mit denen er sich auch bei der Kommis-
sion durchsetzte.
III.
Die Beratung des Besonderen Teils des Entwurfs fand, um die Arbeit
zu straffen, zunächst in drei Unterkommissionen statt. Jescheck gehörte
der dritten an46 • Dort referierte er zunächst über das Thema "Zwei-
kampf" 47. Die Unterkommission folgte seinem Vorschlag, die gesamten
bisherigen Vorschriften darüber ersatzlos wegfallen zu lassen und da-
mit die allgemeinen Vorschriften über Körperverletzung und Tötungs-
delikte zur Anwendung zu bringen, wobei man davon ausging, daß die
Schlägermensur entsprechend BGHSt 4, 24 weiterhin straflos bleiben
werde. Auch die Vollkommission und der Gesetzgeber sind später die-
sen Vorschlägen gefolgt. Das zweite Referat betraf das Thema "Hand-
lungen gegen ausländische Staaten; Störungen der Beziehungen zum
Ausland"48. Zu diesem für die auswärtigen Beziehungen nicht unwich-
tigen Thema machte Jescheck Vorschläge, die zur Grundlage für die
Beschlüsse der Unterkommission und der späteren §§ 480 ff. E 1962 wur-
den. Sie sind leider deshalb ohne Wirkung geblieben, weil die so
wichtige Reform aus einem Guß nicht zustande kam und die geltenden
§§ 102 ff. StGB nach ihrer Neugestaltung durch das 3. StÄG keiner
durchgreifenden Überprüfung durch den Gesetzgeber mehr unterzogen
wurden. So ist das bedauerliche Ergebnis, daß z. B. dem Generalsekre-
tär der Vereinten Nationen, wenn er die Bundesrepublik besucht, ent-
gegen den Vorschlägen Jeschecks der besondere strafrechtliche Schutz
fehlt, den der Botschafter auch des unbedeutendsten Landes nach gel-
tendem Recht genießt.
Das dritte Thema, zu dem der Jubilar in der Unterkommission refe-
rierte, trug den Titel "Verfahrensrechtliche Auswirkungen des Beleidi-
gungsrechts"49. Es ging dabei um zwei Hauptpunkte. Einmal um die
Einführung eines selbständigen Feststellungsverfahrens, das es dem,
der durch eine ehrenrührige Behauptung betroffen ist, erlaubt, gegen
jeden, der die Behauptung aufgestellt oder verbreitet hat, aber straf-
rechtlich, etwa wegen einer Amnestie, nicht belangt werden kann, bei
Vorliegen eines berechtigten Interesses die Feststellung zu beantragen,
daß der Inhalt der Behauptung unwahr oder nicht erweislich sei. Ent-

46 Die Sitzungsniederschriften sind in drei besonderen Bänden zusammen-


gefaßt; zitiert wird in den folgenden Fußnoten der 3. Bd. mit 3. und Seiten-
zahl.
47 3.34,36.
48 3.41,47,51.
49 3.366,439.
Hans-Heinrich Jescheck in der Großen Strafrechtskommission 27

gegen dem späteren Votum der Kommission hat sich der E 1962 gegen
die Aufnahme einer entsprechenden Vorschrift in das StGB entschieden
und sich für eine einheitliche Regelung der Materie in der StPO aus-
gesprochen50 • Das Anliegen ist dann nicht weiter verfolgt worden. Der
zweite Punkt betraf die Möglichkeit des Ausschlusses der Öffentlichkeit
in der Hauptverhandlung bei gewissen Verfahren, wenn die öffentliche
Erörterung von Angelegenheiten des Privat- und Familienlebens, durch
die Interessen der Allgemeinheit nicht berührt werden, eine Bloßstel-
lung des Betroffenen besorgen läßt. Das Problem, das nicht unmittelbar
zum StGB gehört, hat inzwischen mit der Neufassung des § 172 GVG
durch das EGStGB eine allgemeine befriedigende Regelung auch im
Sinne J eschecks gefunden.
Das letzte Referat, das er in der Unterkommission hielt, hatte das
Thema "Strafrechtlicher Schutz völkerrechtlicher Normen"51. Es ging
dabei um zwei Gruppen von Fällen, und zwar einmal um Delikte gegen
die Menschlichkeit, womit die bereits in den §§ 220 a, 234 a und 241 a
StGB enthaltenen Tatbestände des Völkermords, der Verschleppung
und politischen Verdächtigung gemeint waren. Die zweite Gruppe zog
in zahlreichen neuen Tatbeständen die strafrechtlichen Konsequenzen
aus den vier Genfer Rotkreuzabkommen von 1949, denen die Bundes-
republik Deutschland 1954 beigetreten ist. Es ist hier nicht der Ort,
diese Tatbestände, die nur im Fall kriegerischer Auseinandersetzungen
zu gelten hätten, die einzelnen Vorschläge und Erläuterungen Jeschecks
zu diesem überaus komplexen Thema sowie dessen ausführliche Dis-
kussion in der Unterkommission zu erörtern. Man hat im E 1962 davon
abgesehen, diese nur für den Verteidigungsfall vorgesehenen Vor-
schriften in das StGB selbst aufzunehmen. Doch ist es ein Mangel,
wenn es der deutsche Gesetzgeber bis heute unterlassen hat, die straf-
rechtlichen Folgerungen aus den Genfer Abkommen zu ziehen. Sollte
das einmal geschehen, so werden Jeschecks Referat und seine Vor-
schläge von 1957 von großem Nutzen sein.
Damit sind sämtliche Referate geschildert, die der Jubilar in der
Kommision gehalten hat. Bei den Beratungen des Besonderen Teils
des Entwurfs in der Vollkommission und bei dessen gesamter zweiter
Lesung wurden die Kommissionsmitglieder davon entlastet, selbst
Referate halten zu müssen. Die Diskussionen zu den einzelnen Themen
wurden jeweils durch Vorschläge und Ausführungen der Sachbearbei-
ter des Ministeriums eingeleitet. Die Arbeit der Kommissionsmitglie-
der, zu denen jetzt auch so hervorragende Juristen wie der Bremer
Generalstaatsanwalt Dünnebier und der Leiter der strafrechtlichen Ab-
teilung des Niedersächsischen Justizministeriums Wilkerling gehörten,
50 E 1962, 312 f.
51 3.490,532.
28 Eduard Dreher

verlagerte sich auf ihre Diskussionsbeiträge, die allerdings häufig durch


schriftliche Stellungnahmen vorbereitet waren und auch größeren
Umfang annahmen. Im folgenden möchte ich aus der Fülle der Bei-
träge, die Jescheck selbst geleistet hat, wenigstens eine Reihe von
solchen schildern, die wegen ihrer Thematik oder ihres sachlichen
Gehalts heute von besonderem Interesse sind.
Bei der Erörterung des noch immer umstrittenen Tatbestands des
Mordes, für den es kaum eine voll befriedigende Lösung gibt, trat der
Jubilar grundsätzlich für das geltende Recht ein, wollte aber das
Merkmal der Heimtücke eliminieren und bezeichnete "eine Korrektur-
möglichkeit für die mildere Beurteilung atypischer Fälle als unerläß-
lich" 52 • Eine für die heutige Situation bemerkenswerte Erklärung. Bei
der Behandlung des Abtreibungskomplexes stimmte J escheck wie fast
sämtliche Kommissionsmitglieder dafür, nicht nur die medizinische
Indikation zuzulassen, sondern auch die ethische, vor allem in den
Fällen der Notzucht 53• Daß diese Indikation entgegen der Absicht des
Justizministeriums nicht in den E 1962 aufgenommen wurde, geht auf
ein persönliches Eingreifen des Bundeskanzlers Adenauer zurück, der
hier einen Konflikt mit der Kirche befürchtete. Als die Frage der ärzt-
lichen Heileingriffe diskutiert wurde, setzte sich J escheck in überein-
stimmung mit der gesamten Kommission dafür ein, sie grundsätzlich
nicht mehr als tatbestandsmäßige Körperverletzung anzusehen, wozu
die Rechtsprechung noch gezwungen sei, sondern statt dessen für den
Fall der fehlenden Einwilligung des Patienten eine Vorschrift gegen
eigenmächtige Heilbehandlung vorzusehen54 • Leider harrt auch diese
Materie noch immer der notwendigen gesetzlichen Regelung.
Interessant ist J eschecks Stellungnahme zu der immer wieder theore-
tisch wie praktisch umkämpften Problematik des heutigen § 323 a StGB.
Er erklärte dazu: "Die vorsätzliche oder fahrlässige Beseitigung der
Zurechnungsfähigkeit bedeutet in der heutigen Zeit, wo jedermann
infolge des engen Zusammenlebens und der Gefährlichkeit unzähliger
Verrichtungen auf ein vernünftiges Reagieren der Mitmenschen ange-
wiesen ist, strafwürdige Schuld." Doch fügte er hinzu: "Sehr wichtig
erscheint mir die Regelung der vom 5. Strafsenat anerkannten Aus-
nahmefälle 5s • Ich gebe zu erwägen, sie im Gesetz besonders zu nennen.
Das wäre vielleicht durch folgende Fassung möglich: ,Der Täter ist
straffrei, wenn er nach den ihm bekannten Umständen mit der Gefahr
einer rechtswidrigen Tat nicht rechnen konnte'5Gu.
52 VII. 31.
53 VII. 146.
54 VII. 194,218.
55 Gemeint ist die Entscheidung BGHSt. 10, 247.
M VIII. 145 f.
Hans-Heinrich Jescheck in der Großen Strafrechtskommission 29

Bei der Erörterung der Sexualdelikte setzte sich J escheck dafür ein,
bei der Vornahme von sexuellen Handlungen in Anstalten an Insassen
durch Betreuer lediglich darauf abzustellen, daß diese ihre Stellung in
der Anstalt ausnützten57 • Hingegen wandte er sich gegen eine Vor-
schrift, wonach bestraft werden sollte, wer einen anderen, der infolge
eines Arbeits- oder Lehrverhältnisses oder als Bewerber um eine
Arbeits- oder Lehrstelle von ihm abhängig ist, durch Drohung mit
einem empfindlichen Nachteil für seine Stellung oder Bewerbung dazu
nötigt, sich zum außerehelichen Beischlaf mißbrauchen zu lassen. Da-
mit würde "geradezu die ganze Breite und Vielfalt des Lebens in den
Bereich" der Strafbarkeit einbezogen. Es handle sich um ein Gebiet,
das sich nicht für die kriminalrechtliche Erfassung eigne 58. Die Kom-
mission sprach sich denn auch mit deutlicher Mehrheit gegen eine der-
artige Vorschrift aus 5D • Bei der Abstimmung über die Frage, ob es bei
der Strafbarkeit der Homosexualität auch unter erwachsenen Männern,
jedenfalls in der Form beischlafsähnlicher Handlungen, bleiben solle,
eine Frage, die bei der Bekanntheit der Problematik und nach den
Erörterungen in der Unterkommission nur noch kurz in der Vollkom-
mission diskutiert wurde, gehörte Jescheck zu den 8 Mitgliedern, die
für Beibehaltung votierten; 9 stimmten dagegen8o • Jescheck erläuterte
das später dahin, daß er nicht für die Einführung einer derartigen
Vorschrift wäre, daß er aber gegen die Preisgabe einer seit Jahrzehn-
ten geltenden Norm sei61 • Er hielt auch eine Strafbestimmung zum
Schutze gegen homosexuelle Cliquen bildung im öffentlichen Dienst für
erforderlich62 • Auch gehörte er zu den 11 Kommissionsmitgliedern,
welche die Strafbarkeit des Ehebruchs aufrechterhalten wollten;
9 stimmten für Straflosigkeit63 • Jescheck setzte sich auch für eine Vor-
schrift ein, nach der unter Strafe gestellt werden sollte, wer ein Kind,
für das ihm die Personensorge zusteht, in der Absicht verläßt, sich
seiner zu entledigen64 • Hingegen wandte er sich gegen eine Vorschrift
im Sinne des später auch durch das 4. StrRG aufgehobenen § 170 c
StGB, da es sich hier um eine Durchsetzung rein ethischer Pflichten
handle und es nicht Aufgabe des Strafrechts sein könne, auch noch
weit über die bürgerliche Rechtsordnung hinauszugehen 65 • Ebenso

;7 VIII. 218.
58 VIII. 225.
59 VIII. 226.

00 VIII. 228; bei der Schluß abstimmung in 2. Lesung stimmten 13 Kommis-


sionsmitglieder für Streichung, 10 für Beibehaltung; XIII. 552.
u VIII. 539.
62 VIII. 235.
63 VIII. 366.

O~ VIII. 375 ff. mit 620 (§ 385).


85 VIII. 399.
30 Eduard Dreher

lehnte er eine Vorschrift im Sinne des ebenfalls durch das 4. StrRG


aufgehobenen § 143 8tGB ab, für die kein kriminalpolitisches Bedürf-
nis bestehe68 •
Bei der sehr interessant und kontrovers geführten Debatte über das
Beleidigungsrecht, in der einerseits der Ehrenschutz, anderseits - vor
allem von Bockelmann - der Friedensschutz als Rechtsgut betrachtet
wurde, jeweils mit verschiedenen Konsequenzen, vertrat Jescheck die
Auffassung, daß es um Ehrenschutz gehe und nur der verdiente Gel-
tungsanspruch als Ehre anzusehen sei. Er bekannte sich grundsätzlich
zum Prinzip des geltenden § 186 StGB, wobei die Schuld des Täters
darin liege, daß er das Risiko der möglichen Unwahrheit seiner Be-
hauptung auf sich nehme. Wo der Täter kein Risiko eingegangen sei,
könne ihm daher kein Schuldvorwurf gemacht werden. Jescheck setzte
sich daher für eine vor allem von Gallas befürwortete Ergänzungsvor-
schrift ein, die folgenden Wortlaut haben sollte: "Erweist sich, daß der
Täter von der Wahrheit der Behauptung aus triftigen Gründen über-
zeugt gewesen ist, so kann das Gericht von Strafe absehen87 ." Hingegen
lehnte Jescheck es ab, den Tatbestand eines sogenannten Indiskretions-
delikts zu schaffen, wie er später in § 182 E 1962 vorgesehen war, wo-
nach bestraft werden sollte, wer ohne verständigen Grund öffentlich
oder in ähnlicher Form eine ehrenrührige Behauptung tatsächlicher
Art über das Privat- oder Familienleben eines anderen, an deren Inhalt
kein öffentliches Interesse besteht, aufstellt oder an einen Dritten ge-
langen läßt. Dabei sollte der Wahrheitsbeweis ausgeschlossen sein.
Jescheck machte dagegen geltend, daß es nicht angehe, den Menschen
zu verbieten, über derartige, möglicherweise offen zutage liegenden
Angelegenheiten zu sprechen. Ferner lasse derjenige, der Strafantrag
nicht wegen übler Nachrede, sondern nur wegen eines Indiskretions-
delikts stelle, sein schlechtes Gewissen hinsichtlich der Wahrheit der
gegen ihn gerichteten Behauptung erkennen. Vor allem aber habe ein
derartiger Tatbestand keine Aussicht, vom Gesetzgeber angenommen
zu werden. Das habe sich beim Scheitern der sogenannten lex Soraya
gezeigt88 , Schließlich setzte sich Jescheck dafür ein, als neues zusätz-
liches Reaktionsmittel des Strafrechts gegenüber einer Beleidigung eine
Geldbuße vorzusehen, die dazu dienen sollte, dem Beleidigten einen
billigen Ausgleich für die ihm zugefügte Kränkung zu gewähren8\
konnte sich aber damit bei der Kommission nicht durchsetzen 7o •

66 VIII. 409.
67 IX. 33, 451 (§ 390 Abs. 3).
88 IX.33.
69 IX. 137.
70 IX. 145.
Hans-Heinrich Jescheck in der Großen Strafrechtskommission 31

Bei der Erörterung der Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes


durch Tonbandaufnahme oder Abhörgeräte widersprach Jescheck mit
eindringlicher Entschiedenheit einer VOn den Sachbearbeitern des
Ministeriums vorgeschlagenen Vorschrift, wonach derartige Taten bei
Wahrnehmung eines berechtigten Interesses und in ähnlichen Fällen
nicht strafbar sein sollten. Er sah darin eine nicht gerechtfertigte Aus-
höhlung der Grundvorschrift, die elementare Verstöße gegen die Ach-
tung der menschlichen Persönlichkeit mit strafrechtlichen Mitteln
ahnde71 • Mit ihm stimmte die Mehrheit der Kommission gegen eine der-
artige Vorschrift72 , die auch im geltenden Recht fehlt. In § 201 StGB ist
die Problematik durch das Wort "unbefugt" schließlich weitgehend der
Rechtsprechung übertragen worden.
Bei der tief gehenden Diskussion um die Problematik des Wider-
stands gegen Vollstreckungsbeamte bejahte Jescheck in den Grund-
linien die jetzt geltende Fassung des § 113 StGB, wobei er VOn dem
Grundsatz ausging, "daß staatliches Handeln zunächst einmal hinzu-
nehmen ist" und "die Verwaltung die Vermutung der Rechtmäßigkeit
für ihre Akte" habe. Von dorther wollte er auch für den Fall, daß der
Täter irrig annehme, die Diensthandlung sei nicht rechtmäßig, und ihm
dieser Irrtum nicht vorzuwerfen sei, dem Gericht lediglich die Möglich-
keit geben, die Strafe nach seinem Ermessen zu mildern oder von
Strafe abzusehen. Andererseits hielt er es für richtig, daß "dem Bürger
bei unrechtmäßigem Handeln des Beamten ein Rechtfertigungsgrund
zur Verfügung gestellt" werde - eine bekanntlich noch heute umstrit-
tene Konstruktion - und setzte sich auch für eine Vorschrift im Sinne
des geltenden § 113 Abs. 3 S. 2 StGB ein 73 •
Zum leider immer wieder aktuellen Problem des Landfriedensbruchs
erklärte er: "Die Bestrafung der bloßen Beteiligung an der gefährli-
chen Zusammenrottung läßt sich ... damit rechtfertigen, daß jeder
Teilnehmer durch die Erhöhung der Zahl der Zusammengerotteten
die Gefährlichkeit der Menge steigerF4." Voraussetzung dabei war frei-
lich, daß mit dem Begriff "Zusammenrottung" die Tendenz der Menge
zu Gewalttätigkeiten als Tatbestandsmerkmal anzusehen war und daß
es auch tatsächlich zu Gewalttätigkeiten kam, was allerdings nur Be-
dingung der Strafbarkeit sein sollte75 • Der Gesetzgeber hat sich be-
kanntlich solcher Einsicht bisher versagt.

71 IX.189.
72 IX. 193.
73 XIII. 64 f.
74 XIII. 111.
75 XIII. 631.
32 Eduard Dreher

Es ließen sich noch zahlreiche interessante Äußerungen J eschecks


referieren, so seine Stellungnahme zu den diffizilen Themen des Unter-
lassungsdelikts und des bedingten Vorsatzes 76 , sein entschiedenes Ein-
treten für eine gesetzliche Regelung des rechtfertigenden Notstandes 71 ,
wenn auch ohne die bereits von ihm abgelehnte Irrtumsregelung, für
die Einführung des sogenannten Vollstreckungsgerichts78 und das Vi-
kariieren im Fall der Sicherungsverwahrung7U , nachdem die Kommis-
sion die von Jescheck angestrebte unbestimmte Freiheitsstrafe abge-
lehnt und sich für die Beibehaltung eines zweispurigen Systems
entschieden hatte. In den ersten beiden Fällen entspricht das Gesetz
heute auch Jeschecks Vorstellungen (§ 34 StGB, § 462 aStPO, § 78 a, b
GVG). Nur bei der Sicherungsverwahrung hat sich der Gesetzgeber
nach langen Debatten anders entschieden (§ 67 StGB).
Ich muß es mir versagen, auf weitere Einzelheiten einzugehen. Von
besonderer Wichtigkeit erscheint mir aber noch eine Stellungnahme
J eschecks, auf deren Wiedergabe ich nicht verzichten möchte. Es ist der
folgende Auszug aus seiner schriftlichen Meinungsäußerung zum
Problem der Todesstrafe:
"Schon als Student bin ich Anhänger der Richtung des Strafrechts
geworden, die damals von Gustav Radbruch repräsentiert wurde. Ob-
wohl ich die Möglichkeiten der Erziehungsstrafe heute viel skeptischer
beurteile, halte ich die zutiefst menschliche Grundgesinnung für die
unverzichtbare Voraussetzung eines Strafrechts, für das man sich
wissenschaftlich einsetzen kann. In ein solches System paßt die Todes-
strafe nicht. Sie ist das genaue Gegenteil dessen, was ich kriminalpoli-
tisch für richtig halte. Eine Strafrechtsreform, die mit der Wiederein-
führung der glücklicherweise durch Verfassungssatz soeben abgeschaff-
ten Todesstrafe beginnen würde, hätte den kriminalpolitischen Aus-
gangspunkt der Kommission verlassen und würde die bisherige Arbeit,
auch im Ausland, diskreditieren. Wir haben um die Abschaffung der
Zuchthausstrafe erbittert gerungen und schließlich ihre Beibehaltung
für wenige Tatbestände der Hochkriminalität beschlossen. Wie sollte
sich demgegenüber die Wiedereinführung der Todesstrafe rechtfertigen
lassen? Ich bin zwar der Ansicht, daß die Strafe ihrem Wesen nach
Vergeltung ist, aber die Vergeltung ist mir nur dann erträglich, wenn
wenigstens die Möglichkeit offen bleibt, daß dabei etwas Positives für
den Verurteilten herauskommt. Deswegen darf die Vernichtung des
Lebens als Strafmittel nicht zugelassen werden"80.

76 XII. 96, 114, 122.


77 XII. 159.
78 XII. 199.
79 XII. 226.
80 XI. 35.
Hans-Heinrich Jescheck in der Großen Strafrechtskommission 33

IV.
Mit diesem sowohl für den Juristen als auch für den Menschen auf-
schlußreichen Zitat möchte ich meine Schilderung vom Wirken des
Jubilars in der Großen Strafrechtskommission schließen. Freilich konn-
te auch diese Schilderung nicht mehr als einen gedrängten Ausschnitt
bieten. Wollte man Jeschecks sämtliche Äußerungen wörtlich zusam-
menstellen, die er in mehr als fünf Jahren in den 143 Kommissions-
sitzungen tat, so würden sie allein schon eine stattliche Broschüre
füllen. Doch meine ich, mit der Wiedergabe aller von ihm gehaltenen
Referate in ihren maßgeblichen Gedankengängen und mit der von mir
getroffenen Auswahl seiner Diskussionsbeiträge einen plastischen Ein-
druck nicht nur von der intensiven Mitarbeit Jeschecks in der Kom-
mission vermittelt, sondern auch ein anschauliches Bild von ihm selbst
gegeben zu haben. Es ist das Bild eines Mannes und Juristen, der schon
vor dreißig Jahren eine auch später nie verlassene, sehr ausgeprägte
Grundhaltung eingenommen hat. Kriminalpolitisch läßt sie sich wohl
wie folgt beschreiben: J escheck bekennt sich zum Schuldstrafrecht, aber
er fügt ihm einen starken spezialpräventiven Akzent hinzu. Um es
weniger technisch zu sagen: Es geht ihm im Strafrecht vor allem um
den Menschen. Der Mensch, der Strafe verdient hat, soll damit sinnvoll
behandelt, Gefahren, die von ihm auch für ihn selbst ausgehen, sollen
abgewendet oder gemildert werden. Dem Vollzug von Strafen und
Maßregeln kommt entscheidende Bedeutung zu. Das haben nicht erst
die Verfasser des Alternativ-Entwurfs erkannt. Darin liegt auch der
Grund, daß J escheck in der Kommission so häufig mit Eberhard
Schmidt und Sieverts an einem Strange gezogen hat.
Zu diesem kriminalpolitischen Grundkonzept gesellt sich, eng mit ihm
verbunden, eine besondere sozialethische Komponente. Es war sehr
bezeichnend für den Jubilar, als er bei der Erörterung der unterlasse-
nen Hilfeleistung folgende Äußerung tat: "Es ist doch so, daß der § 330 c
StGB eine neue Richtung in unserem Strafrecht eröffnet hat; er war
eine Art Schrittmacher für die Begründung und strafrechtliche Aner-
kennung sozialer Pflichten. Dieser Gedanke sollte unbedingt erhalten
bleiben81 ." Diese sozialethische Grundeinstellung war es auch, die
Jescheck vor rund dreißig Jahren noch dafür eintreten ließ, die Straf-
barkeit von intensiver Homosexualität zwischen Männern und von
Ehebruch beizubehalten. Er sah in der Freigabe Gefahren für die all-
gemeine sozialethische Grundhaltung. Anderseits trat er schon damals
für die später auch erfolgte Streichung von Vorschriften wie den
§§ 143,170 c StGB ein.

81 IX. 372.

3 FestschrIft für H,-H. Jescheck


34 Eduard Dreher

Hier zeigt sich ein drittes Charakteristikum der Persönlichkeit


Jeschecks. Er war und ist allen Extremen abhold. Gewiß hätte man
ihn in den Zeiten der Großen Kommission einen "Progressiven" nennen
können. Die Progressiven von heute werden geneigt sein, ihn als kon-
servativ zu bezeichnen. Schönere Prädikate, so meine ich, kann sich der
Jubilar gar nicht wünschen. Denn er ist in Wirklichkeit ein Mann der
Mitte. In einem seiner Diskussionsbeiträge wandte er sich sehr ent-
schieden gegen "extrem einseitige Forderungen, die noch nie zu etwas
Gutem geführt haben s2 ." Diese Äußerung kann als Devise über Seschecks
gesamtem Schaffen stehen. Er war und ist ein Mann des Ausgleichs,
des Maßhaltens im Sinne der aurea mediocritas Horazens.
Was hier geschildert wurde, betrifft nur einen Abschnitt im reichen
Juristenleben des Jubilars, aber gewiß einen wichtigen wie für alle,
die damals in und mit der Kommission gearbeitet haben. Jeder wirkte
prägend mit und wurde dabei auch selbst geprägt. Die Kommission war
das bedeutendste strafrechtliche Seminar des 20. Jahrhunderts. Ein
ungeheurer Reichtum an Gedankenmaterial ist in ihren 16 Protokoll-
bänden enthalten. Mehr, als manche heute wahrhaben wollen, ist von
ihren Beschlüssen, aber auch von ihren Minderheitsvoten in das gel-
tende Recht eingegangen. Es gibt wohl kaum einen der später Gesetz
gewordenen Gedanken, der in der Kommission nicht wenigstens disku-
tiert worden wäre. Jescheck hat viel dazu beigetragen. Das Gesetz zeigt
so manche Spuren seines Wirkens. Es wird ihn, hoffe ich, freuen, wenn
ihm noch einmal in gedrängter Form vorgetragen wird, was er vor
einem Menschenalter geleistet hat. Aber auch die Juristen von heute
und morgen sollten das nicht vergessen und sich immer wieder daran
erinnern, daß die Protokolle der Großen Strafrechtskommission einen
Schatz darstellen, von dem nachdenkliche Köpfe noch lange werden
zehren können.
Grundfragen
THOMAS WüRTENBERGER

Der schuldige Mensch


vor dem Forum der Rechtsgemeinschaft

Der Gedanke der Verantwortlichkeit des erwachse-


nen und seelisch durchschnittlich gesunden Täters
ist eine unbezweifelbare Realität unseres sozialen
und moralischen Bewußtseins.
Hans-Heinrich Jescheck
I.

In einer Zeit des Schwindens eines allgemeinen Rechtsbewußtseins


mehren sich kritische Äußerungen über Wesen und Aufgaben der' Straf-
rechtsordnung. Immer wieder versteigt sich diese Kritik zu der radika-
len Forderung, das Strafrecht im Ganzen abzuschaffen oder es durch
ein reines Maßnahmenrecht zu ersetzen. Hauptziel solch kritischer
Strömungen ist der als Fundament der Strafrechtsordnung geltende
Schuldgedanke. Je mehr sich die Strafrechtslehre dem Ansturm der
Psychologie, Psychoanalyse und Soziologie ausliefert, desto mehr er-
höht sich die Zahl jener, die der Idee rechtlicher Schuld entweder
ganz die Legitimation absprechen oder ihr unter Leugnung ihres
Charakters eines unerläßlichen Fundaments staatlichen Strafens ledig-
lich die Funktion einer rechtlich gebotenen Begrenzung der richter-
lichen Strafzumessung zuerkennen. Ferner wird der Rang des Schuld-
gedankens für die Rechtfertigung des Strafrechts auch dadurch er-
heblich eingeschränkt, daß Strafrechtslehrer wie C. Roxin oder G. Ja-
kobs die Schuldidee relativieren, indem sie jene dem Spiel wandelba-
rer kriminalpolitischer Strafzweckvorstellungen überlassen wollen.
Angesichts dieser Situation ist es eine wichtige Aufgabe der Wissen-
schaft und Rechtspraxis, sich ernsthaft auf die tragenden Fundamente
des Schuldgedankens im Aufbau eines Strafrechtssystems zu besinnen.
Geht es um die Neubegründung einer strafrechtlichen Schuldlehre, so
ist erste Voraussetzung, daß die große geistige Tradition, die zum Auf-
bau der modernen strafrechtlichen Schuldlehre geführt hat, nicht von
vornherein verdammt, sondern sorgsam auf jene Gedankeninhalte
überprüft wird, die auch in Zukunft volle Beachtung finden sollten.
Vor allem erscheint es als dringend notwendig, daß die strafrechtliche
Schuldlehre sich von den allzustarken Einflüssen seitens Psychologie,
38 Thomas Würtenberger

Psychoanalyse und Soziologie frei macht in der Absicht, bei dem Ver-
such einer Neuformulierung des rechtlichen Schuldbegriffs wieder
stärkeres Gewicht auf Wesen und Bedeutung des Normativen zu legen.
Daraus folgt, daß die Strafrechtslehre sich künftig in stärkerem Maße
auf die Erkenntnisse sowohl der Rechtsanthropologie als auch der
Rechtsphilosophie im Ganzen stützen sollte. Nur langsam scheint sich
die überzeugung durchzusetzen, daß ein Neuaufbau der Rechtswissen-
schaft ohne entschiedenen Rekurs auf rechtsphilosophische und ethische
Einsichten nicht möglich ist. Was die Rechtsanthropologie anlangt, so
ist von ihrer wissenschaftlichen Basis aus schon in früher Zeit im Ver-
antwortlichmachen des Täters für seine Tat eine wichtige anthropolo-
gische Vorgegebenheit zur Beurteilung menschlichen Tuns und Las-
sens in der Welt des Rechts gesehen worden. Wer über die Grundver-
fassung der menschlichen Natur nachdenkt, findet sich unentrinnbar
mit dem Problem der Schuld konfrontiert. Schuld, dem Tier fremd,
gehört zur Auszeichnung menschlichen Wesens. Es handelt sich um
einen "anthropologischen Grundbefund, der aus dem Ganzen der
menschlichen Wirklichkeit nicht wegzudenken ist" (H. RyjJel). Die
Schuld ist vielfacher Betrachtung fähig. Denn sie reicht in verschiedene
Bereiche menschlicher Existenz herein. Spricht man doch seit langem
von religiöser, metaphysischer, sittlicher und rechtlicher Schuld. Hier
soll vornehmlich von Schuld in ihrer Beziehung zur Welt des Rechts
die Rede sein. Dabei wird nicht verkannt, daß von der Frühzeit bis zur
Gegenwart Bildung und Geltung des rechtlichen Schuldgedankens in
mehr oder weniger starkem Maße auch von der Vorstellung einer
religiösen oder sittlichen Schuld mitbestimmt worden sind.

Im Bereich der heutigen Strafrechtsordnung kommt dem rechtlichen


Schuldgedanken fundamentale Bedeutung zu. Der durch seine unrechte
Tat schuldig gewordene Mensch muß sich vor dem Forum der durch
den Richter repräsentierten, im Staate zusammengeschlossenen Rechts-
gemeinschaft verantworten. Ohne Nachweis rechtlicher Schuld des
Täters ist eine Verurteilung zur Strafe unzulässig. Denn die gerechte
Strafe setzt die Schuld des Rechtsbrechers zwingend voraus. Geht man
von dem Gedanken aus, daß der Rechtsbrecher als Störer der sozialen,
religiösen oder ethischen Ordnung seitens der Gemeinschaft in ih-
ren Formen der Familie, der Sippe, des Dorfes, der Stadt und des
Staates zur Rechenschaft gezogen wird, so handelt es sich bei einer
solchen "Zurechnung von Ereignissen, Verhalten, Zuständen, Abwei-
chungen" um "ein durch alle Gesellschaften hindurch zu beobachten-
des Phänomen" (F. Sack). Unter dem Aspekt der Rechtsanthropologie
ist in der als Akt der Zurechnung zur Schuld bezeichneten Verantwort-
lichmachung des Rechtsbrechers für seine unrechte Tat eine wichtige
Konstante im sozialen Zusammenleben der Menschen zu erblicken.
Der schuldige Mensch vor dem Forum der Rechtsgemeinschaft 39

Denn ohne ein solches Verantwortlichmachen des Täters für seine als
Störung der Ordnung und des Friedens anzusehende unrechte Tat
würde der Bestand der Rechtsgemeinschaft gefährdet. Die anthropolo-
gische Bedeutung der langen geschichtlichen Erfahrung, daß sich ein
Störer der Rechts- und Friedensordnung vor dem Forum der Rechts-
gemeinschaft für sein Tun und Lassen verantworten muß, wird nicht
geschmälert, wenn in früheren Zeiten der Menschheitsgeschichte noch
nicht von einer "Schuld" des Täters die Rede ist. Bis die Rechtsgemein-
schaft Wesen und Voraussetzung einer dem Einzelnen vorzuwerfenden
Schuld im Hinblick auf seine unrechte Tat in voller Tragweite erfaßt
hat, bedurfte es einer jahrhundertelangen Entwicklung. In der Frühzeit
der Strafrechtsgeschichte sah man jede Störung der geltenden religiö-
sen oder rechtlichen Grundordnung als ein durch Sanktionen, vor allem
durch Strafen zu ahndendes Unrecht an. In jener frühen Epoche der
Sippen, Stämme und Völker war in erster Linie der u. U. auch auf Zu-
fall beruhende äußere Erfolg der Tat, und nicht die innere Einstellung
oder der Wille des Täters wesentlicher Anknüpfungspunkt für die
Verhängung von Strafen. Neuere rechtshistorische Forschung lehrt je-
doch, daß selbst in jenen frühen Zeiten, als noch das Erfolgsstrafrecht
vorherrschte, der Gedanke einer persönlichen Verantwortlichkeit des
Täters bereits im Keim vorhanden war. Die Idee eines gegenüber dem
Täter zu erhebenden sittlich-rechtlichen Schuldvorwurfs gelangte erst
unter Einfluß des Christentums zur vollen Entfaltung. Für das Christen-
tum standen menschliche Schuld und Sünde in enger Verbindung. "Die
Schuld abzuleugnen ... , das ist christlichem Glauben nicht möglich"
(H. Mayer). Ein tieferes Verständnis der hohen Bedeutung der Schuld
für Wesen und Handeln des Menschen ist der Naturrechtslehre des
17. und 18. Jahrhunderts zu danken. Sie hat wesentlich zur Humanisie-
rung des Strafrechts beigetragen, indem sie den rechtlichen Schuldvor-
wurf in engere Beziehung zur Anerkennung des Menschen als sittliche
Person setzte. Der deutsche Naturrechtslehrer Samuel Pufendorf
knüpfte bei Formulierung seines strafrechtlich bedeutsamen Schuld-
begriffs an das soziale Verantwortlichmachen des Rechtsbrechers an.
Er ging davon aus, daß jener als ein "freies" Wesen sein Verhalten
nach den Normen der Sittlichkeit und des Rechts ausrichten könne. Er
nannte jedoch auch einzelne Fälle, in denen, wie etwa beim Lebens-
notstand, der gegen den Täter zu erhebende Schuldvorwurf vermindert
oder ausgeschlossen ist.
Wenden wir uns dem heute von der Strafrechtsdogmatik gebildeten
Schuldbegriff zu, so ist seine Entfaltung zu einem wichtigen Fundament
des Strafrechtssystems eine bedeutende geistige Leistung, die sowohl
seitens der Rechtsphilosophie und Jurisprudenz als auch seitens der
Gesetzgebung und Rechtsprechung erbracht worden ist. Die Bemühun-
40 Thomas Würtenberger

gen um eine genauere Bestimmung des Wesens rechtlicher Schuld sind


in der Gegenwart noch lebendig und werden auch künftig ihre Aktua-
lität kaum einbüßen. Das Hauptinteresse der Strafrechtsdogmatik sollte
sich in erster Linie auf eine Neubegründung der "normativen Schuld-
lehre" richten. Erst wenn Klarheit darüber besteht, worauf sich der
seitens der Rechtsgemeinschaft gegen den Täter im Hinblick auf dessen
rechtswidrige Tat erhobene Vorwurf letztlich bezieht, wird die dem
strafrechtlichen Schuldbegriff zugeschriebene Funktion begriffen: der
an der Gerechtigkeitsidee orientierten Verhängung von Strafen gegen
den Rechtsbrecher eine tiefere rechtlich-sittliche Legitimation zu ver-
schaffen. Denn zwischen der Schuld des Täters und der Handhabung
staatlicher Strafgewalt besteht eine unlösbare Beziehung. Ihrem
Wesen nach ist die vom Richter verhängte Strafe der gerechte Aus-
gleich für die unrechte Tat des schuldigen Rechtsbrechers. Schon in
der Frühzeit der Strafrechtsgeschichte standen die Rechtsverletzung
durch den Täter und die von ihm verlangte Rechtswiederherstellung in
engstem Zusammenhang. Jeder strafrechtlich zu ahndende Rechtsbruch
bedurfte des Ausgleichs im Sinne der Wiederherstellung des durch
die unrechte Tat gestörten Gleichgewichts. Auch wenn in der Gegen-
wart mit Recht die Vergeltungsidee zurückgedrängt wird, ist am Ge-
danken der Notwendigkeit eines sozialen und rechtlichen Ausgleichs
zwischen Verbrechen und Schuld einerseits und staatlichem Strafan-
spruch andererseits festzuhalten. Die vom Richter verhängte Strafe
dient, abgesehen von einer Reihe mit ihr verbundener kriminalpoliti-
scher Zwecksetzungen, der Wiederherstellung der durch das Verbrechen
verletzten oder gefährdeten Rechtsordnung. Durch die rechtswidrige
schuldhafte Tat ist eine Störung der sozialen Gesamtatmosphäre einge-
treten, die Gesellschaft gleichsam unter ihr Niveau geraten. Mit Hilfe
der Strafe wird versucht, die Gesellschaft aus der Situation des Sub-
sozialen wieder auf ihren ursprünglichen Status zu heben. Mit Recht
wird neuerdings darauf hingewiesen, daß eine die Wiederherstellung
der gestörten Rechtsordnung anstrebende Strafe auch die Funktion
einer Integration der Rechtsgemeinschaft besitzt, indem "sie dem In-
teresse ihrer Mitglieder an einem gerechten Ausgleich Genüge tut"
(K. Seelmann). Zugleich hat die Strafe hier auch den Zweck, "das durch
ein deliktisches Verhalten gestörte Ordnungsvertrauen zu stabilisie-
ren" (G. J acobs).
11.

Sieht man die rechtliche Schuld des Rechtsbrechers in so enger Be-


ziehung zum Recht staatlichen Strafens, so hängt von einer zureichen-
den Begründung des Wesens und der Grenzen des seitens der Rechts-
gerneinschaft erhobenen Schuldvorwurfs der Erfolg einer juristischen
Legitimierung der geltenden Strafrechtsordnung entscheidend ab.
Der schuldige Mensch vor dem Forum der Rechtsgemeinschaft 41

Seit langem wird versucht, dem Gedanken rechtlicher Schuld durch


Rekurs auf Erkenntnisse der Philosophie einen tieferen Sinn zu geben.
In diesem Bereich wurden Erwägungen über die Berechtigung des
gegen den Täter gerichteten Schuldvorwurfs auf die philosophische
These der menschlichen Willensfreiheit gestützt. Die Postulierung der
Willensfreiheit als Grundlage der Schuldlehre gab einst dem "klassi-
schen" Strafrechtsdenken, nicht zuletzt unter dem starken Einfluß des
deutschen Idealismus, das Gepräge. Im Mißbrauch menschlicher Wil-
lensfreiheit bei der Tatbegehung sah man lange Zeit den wichtigsten
Rechtsgrund zur Verhängung der gerechten Strafe. Unter dem mäch-
tigen Einwirken des naturwissenschaftlichen Positivismus seit der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde jedoch einer solchen philo-
sophischen Begründung des Zusammenhangs von Schuld und Strafe
die Berechtigung abgesprochen. Jetzt sah man den Menschen als ein
Wesen an, das von biologischen Kräften und sozialen Mächten im Tun
und Lassen entscheidend determiniert wird. Wer demgemäß Existenz
und Wirksamkeit menschlicher Willensfreiheit leugnete, konnte ein
rechtliches Verantwortlichmachen des einzelnen für seine Tat im
Sinne der Schuldidee nicht mehr bejahen. Der von seinen Anlagedis-
positionen und äußeren Umwelteinflüssen völlig determinierte Mensch
mußte nach dieser Auffassung zwingend so handeln, wie er faktisch
gehandelt hat. Ein Freiheitsspielraum für seine Entscheidung und für
sein Sozialverhalten wurde damit verneint. So wurde an der Wende
vorn 19. zum 20. Jahrhundert von bedeutenden Strafrechtslehrern wie
Franz von Liszt aufgrund einer fast ganz dem naturwissenschaftlichen
Positivismus verhafteten Einstellung die Willensfreiheit und damit
letztlich auch eine rechtliche Schuld geleugnet. Auch in der Gegenwart
gibt es Juristen, Mediziner, Psychoanalytiker und Soziologen, die nicht
zuletzt im Sinne der kriminalpolitischen Bewegung der Defense sociale
den herkömmlichen, die Strafrechtsordnung beherrschenden Schuld-
gedanken preisgeben wollen. Wer aber den Gedanken menschlicher
Schuld fallen läßt, muß folgerichtig auch dessen Korrelat, die Idee
der Strafe, verneinen. An Stelle des heutigen Schuldstrafrechts soll
nach dieser Auffassung ein nur an sozialer Zweckmäßigkeit orientiertes
Maßnahmenrecht treten. Eine solche, im Negativen verharrende Ein-
stellung zum Problem menschlicher Verantwortung widerspricht je-
doch der Entwicklung menschlicher Erkenntnis ebenso wie sie Notwen-
digkeiten des sozialen Lebens außer acht läßt.

Was zunächst die Stellungnahme der heutigen Philosophie und Wis-


senschaft zum Freiheitsproblem anlangt, so hat trotz des mächtigen
Vordringens naturwissenschaftlichen Denkens in unserer Zeit die ein-
stige Position der Deterministen an Gewicht verloren. So lehrt schon
die Diskussion um den Rang des Kausalitätsgedankens für die mensch-
42 Thomas Würtenberger

liche Erkenntnis, wie problematisch die strikte Ablehnung des Frei-


heitsgedankens von seiten des naturwissenschaftlichen Positivismus
heute geworden ist. Der Zweifel an der Allgültigkeit des Kausalprin-
zips für die persönliche Entscheidung und das soziale Verhalten des
Menschen bedeutet aber keineswegs, daß die frühere philosophische
Gegenposition, der Indeterminismus, jetzt in seine alten Rechte wieder-
eingesetzt werden dürfte. Alle Versuche in Philosophie und Wissen-
schaft, die Existenz menschlicher Willensfreiheit beweiskräftig darzu-
tun, müssen als gescheitert gelten. Es handelt sich beim Phänomen
menschlicher Freiheit wahrscheinlich um ein metaphysisches Problem,
das niemals einer vollen philosophischen Lösung zugänglich sein wird.
Dieses Faktum hat auf der Ebene der Strafrechtslehre dazu geführt,
daß der Jurist zur Begründung der Schuldidee die Berufung auf die
Willensfreiheit meist vermeidet. Jedoch dürfte es ihm nicht ganz gelin-
gen, sich von diesem schwierigen philosophischen Problemkreis völlig
fernzuhalten. Denn im praktischen Leben der Strafjustiz ist die "Aus-
klammerung des Verantwortungsprinzips nicht möglich" (W. Schulz).
Dies bedeutet, daß der Strafrechtsdogmatiker, nimmt er seine Aufgabe
ernst, nach wie vor auf die Hilfe der Rechtsphilosophie und Ethik an-
gewiesen ist, gilt es, grundlegende Strafrechtsbegriffe wie Schuld und
Strafe neu zu formulieren. Sicher ist aber, daß die innere Notwendig-
keit des rechtlichen Schuldgedankens heute nicht mehr wie einst mit
vornehmlich indeterministischen Argumenten des philosophischen Idea-
lismus zu begründen ist. Eine ausgeprägt am Idealismus orientierte
Auffassung der Schuld würde verkennen, daß mit der Postulierung
menschlicher Freiheit die menschliche Natur nicht in allen Aspekten
erfaßt und demgemäß das philosophische Fundament der strafrecht-
lichen Schuldlehre zu schwach wäre. Selbst wenn aufgrund vielfacher
Erfahrungen angenommen würde, daß der Mensch seinem Wesen nach
auf eigene Selbstverwirklichung und freie sittliche Entscheidung an-
gelegt ist, so ist nicht außer acht zu lassen, daß eine solche "Freiheit"
im menschlichen Lebensbereich niemals absolut gilt. Es ist wissen-
schaftlich erwiesen, "daß der Mensch nicht frei ist im Sinne reiner
Selbstbestimmung, er ist vielmehr in vielfältiger Weise bedingt"
(W. Schulz). Die Akte menschlicher Selbstbestimmung des HandeIns
haben ihren Grund und ihre Grenze in mannigfachen Vorgegeben-
heiten der menschlichen Natur, in der biologischen Konstitution, im
Wechsel der Motive, Erlebnisse und Stimmungen, im Gefüge des Cha-
rakters oder in den sozialkulturellen Haltungen. So hat die "Freiheit"
des Menschen in seiner "Gebundenheit" ihr gleichgewichtiges Gegen-
stück. Es ist ein wissenschaftliches Verdienst der philosophischen An-
thropologie, in ihrem berechtigten Bestreben, den Menschen als Gan-
zes zu sehen, die Dialektik zwischen Freiheit und Gebundenheit klar
Der schuldige Mensch vor dem Forum der Rechtsgemeinschaft 43

herausgearbeitet zu haben. Auf diesem Felde steht die philosophische


Anthropologie im Einklang mit den empirischen Einzelwissenschschaf-
ten vom Menschen, wie der Biologie, Psychologie, Psychiatrie und So-
ziologie. Vor allem am Denkmodell des Schichtenaufbaus der Persönlich-
keit wurde aufgezeigt, wie stark der Mensch im Hinblick auf seine in
der "Weltoffenheit" gründende Freiheit sich vom Tier unterscheidet.
Seiner Natur gemäß ist der Mensch generell zu einer eigenständigen
Wertentscheidung fähig. In der Entscheidungssituation des Rechts-
bruchs ist daher das Verhalten des Täters keineswegs immer von
deterministischer Zwangsläufigkeit beherrscht. Vielmehr geht es im
Ja- oder Neinsagen zur Tat um eine Selbstverfügung der Person, die
sich mit der Macht mannigfacher äußerer und innerer Antriebskräfte
auseinandersetzt. Es gilt daher für den Richter, nicht vorschnell von
einer schwer beweisbaren Willensfreiheit des Täters bei der Tat auszu-
gehen, sondern auch Einblick zu gewinnen in das Gefüge der mitein-
ander eng verbundenen Faktoren und Zusammenhänge, die das Persön-
lichkeitsgefüge, die Lebensgestaltung und das Sozialverhalten des
Rechtsbrechers vor und bei der Tat bestimmt haben. Da die Krimino-
logie mit Hilfe verfeinerter Methoden die komplexen Zusammenhänge
der Verbrechensentstehung und das Wesen der rechtsbrechenden Per-
sönlichkeit untersucht, gewinnt diese mächtig aufstrebende Wissen-
schaft in wachsendem Maße an Bedeutung für die rechtliche Schuld-
feststellung innerhalb der Kriminalrechtspflege. Vor allem vermag
die kriminologische Erkenntnis dem Richter eine Reihe von Gesichts-
punkten darzubieten, wenn es gilt, die Grenzen des rechtlichen 8chuld-
vorwurfs im einzelnen festzustellen. Herrschen im Persänlichkeitsbild
des Rechtsbrechers abnorme Züge vor, die "Krankheitswert" besitzen,
so wird dem Täter die Möglichkeit eines Aktes des Sichentscheidens
fehlen. In diesem Falle der Zurechnungsunfähigkeit muß der Schuld-
vorwurf gegen den Rechtsbrecher verstummen. In der Regel ist der
Täter für den von ihm begangenen Rechtsbruch verantwortlich. Die
Rechtsgemeinschaft setzt voraus, daß sich der einzelne in seinem 80-
zialverhalten durch Normen des Rechts und der Sittlichkeit bestimmen
lassen kann. Eine nicht zu widerlegende, alltägliche Lebenserfahrung
lehrt uns: " Die Bestimmbarkeit des HandeIns beruht auf der Fähig-
keit des Menschen, die auf ihn einwirkenden Antriebe zu kontrollieren
und seine Entscheidung nach Sinngehalten, Werten und Normen aus-
zurichten" (H.-H. J escheck).
III.
Ohne zureichende Einsicht in das Wesen der Normen und ihren Rang
für die menschliche Existenz ist die Neubegründung der das Strafrechts-
denken bestimmenden normativen Schuldlehre aussichtslos. Die Nor-
men religiöser, sittlicher oder rechtlicher Art stehen in engster Bezie-
44 Thomas Würtenberger

hung zum individuellen und sozialen Dasein des Menschen. Im Gegen-


satz zum Tier, das zwar zu regelmäßigem Verhalten fähig ist, ist es
allein dem Menschen vorbehalten, sein Tun und Lassen nach Normen
auszurichten. Das Sich-nach-Normen-Richten "definiert" den Menschen
"und macht ihn zu einem kulturellen Wesen" (W. Fikentscher). Somit
gehört die Normativität, die Normbetroffenheit menschlichen Verhal-
tens zu den dem Bereich der Rechtsanthropologie zuzurechnenden
"Konstanten" des Menschseins. Denn unter "Normativität" ist "die
anthropologische Grundtatsache" zu verstehen, "daß alles gesellschaft-
liche Verhalten sich nach Normen richtet oder doch von Normen be-
gleitet wird, daß alles Verhalten des Einzelnen und der Gruppen
dauernd mit gedachten Verhaltensmustern verglichen wird und daß
der Vergleich Urteile und Sanktionen, Vorteile und Nachteile, jeden-
falls bestimmte Reaktionen zur Folge hat, die wieder für weiteres Ver-
halten bestimmend werden" (P. Noll). In allen seinen Lebensphasen
steht der Mensch in vielfachen Beziehungen zur Welt der Normen. Als
ein instinktarmes Wesen bedarf er zur Entfaltung seiner Persönlich-
keit der Vielfalt sozialer, kultureller und religiöser Normen. Werden
diese Normen im seelischen Reifeprozeß des einzelnen verinnerlicht, so
wird zugleich in seiner Personalität die Instanz des Gewissens gestärkt.
"Das Gewissen ist eine apriori im Menschen befindliche Kraft. Es ent-
wickelt sich schon seit dem frühen Kindesalter über mehrere Stufen
und führt bei der ausgereiften Persönlichkeit zu jenem natürlichen
Rechtsbewußtsein, das den Menschen befähigt, in der Regel ohne tiefe-
res Nachdenken das Unrecht zu vermeiden" (H.-H. Jescheck). Für den
gegen den Täter zu erhebenden Schuldvorwurf kommen aus dem wei-
ten Bereich der Normen vornehmlich jene in Betracht, die in wesent-
lichen Zügen die "kommunikative Ordnung" (M. Riedel) der im Staate
zusammengeschlossenen Rechtsgemeinschaft bestimmen. Die Normset-
zung erfolgt in diesem Bereich menschlicher Existenz seitens des Ge-
setzgebers als des Repräsentanten der Rechtsgemeinschaft. Es ist in
erster Linie der Strafgesetzgeber, dem die wichtige Funktion einer
"Normenautorität" zukommt. Das in einem freiheitlich-demokratischen
Gemeinwesen an der Verfassung orientierte Strafgesetz bürgt für die
notwendige "Legalität der Normerzeugung" (M. Riedel). Damit ver-
bindet sich der gegenüber den Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft zu
erhebende Anspruch auf "Gültigkeit" der im Strafgesetz zum Ausdruck
kommenden Rechtsnormen. Sind somit Strafrechtsnormen kraft der
Normenautorität des staatlichen Gesetzgebers sowohl gültig als auch
für menschliches Verhalten verbindlich, so hängt die faktische Wirk-
samkeit dieser Normen auch von ihrer Anerkennung seitens der Mit-
glieder der Rechtsgemeinschaft ab. Jedes im strafrechtlichen Schuld-
vorwurf sich vollziehende Verantwortlichmachen des Täters gewinnt
Der schuldige Mensch vor dem Forum der Rechtsgemeinschaft 45

an Legitimation, wenn der einzelne das Gesetz der Rechtsgemein-


schaft als für sein Tun und Lassen verbindlich kennt und anerkennt.
Die in der Rechtsgemeinschaft geltenden Normen sollten dem einzel-
nen nicht völlig fremd bleiben, sondern von ihm in den Grundzügen
ihres Wertgehalts anerkannt werden. Gerade bei dem gegen den Rechts-
brecher zu erhebenden rechtlichen Schuldvorwurf zeigt sich, in welch
starkem Maße das Verantwortlichmachen des Täters vor dem Forum
der Rechtsgemeinschaft mit dem Vorgang der Anerkennung der in ihr
geltenden Rechtsnormen zusammenhängt. "Jeder Akt von rechtlicher
Verantwortung setzt Anerkanntheit des Gesetzes voraus" (W. Weische-
deI). Je tiefer die Normanerkennung innerhalb der Gemeinschaft ver-
ankert ist, desto überzeugender ist die Bestätigung des Norminhalts
(W. Schild). Die soziale Wirksamkeit der gesamten Strafrechtspflege
hängt daher wesentlich davon ab, daß die in der Rechtsgemeinschaft
geltenden Normen weithin anerkannt sind und aufgrund dessen "au-
ßer Streit gestellt werden" (W. Schild). Je breiter die "Konsensbasis
der Rechtsgemeinschaft" (R. Zippelius) sich darstellt, desto gefestigter
ist das Fundament der Strafrechtsordnung und desto mehr erhöht sich
die Legitimation des gegenüber dem Rechtsbrecher zu erhebenden
rechtlichen Schuldvorwurfs. Diese Einsicht muß insofern besonders be-
tont werden, als in der Gegenwart allzu große Neigung besteht, grund-
legende Normgehalte der geltenden Strafrechtsordnung wie vor allem
auch die Berechtigung zur Erhebung des Schuldvorwurfs immer wieder
in Frage zu stellen. Eine nach den Prinzipien des demokratischen Rechts-
staats gehandhabte Strafjustiz sollte nicht durch eine sich radikal ge-
bärdende, auf Dauer angelegte Kritik in ihren lebenswichtigen Funda-
menten gefährdet werden. Die gegenüber der staatlichen Ordnung
eingenommene negative Haltung, die von Rechtsgleichgültigkeit über
Rechtsverdrossenheit bis zur Rechtsfeindschaft reicht, erschüttert heute
ohnehin Anerkennung und Wirkungsmacht der Rechtsnormen inner-
halb wie außerhalb des Strafrechtsbereichs. Angesichts dieser bedroh-
lichen Situation besteht um so mehr Grund, daß im Falle des strafrecht-
lich zu ahndenden Rechtsbruchs der Richter als Repräsentant der
Rechtsgemeinschaft dem Täter unter Berufung auf die Unerschütter-
lichkeit der geltenden Strafrechtsordnung seine unrechte Tat zum
Vorwurf macht. Der Strafrichter ist bei seiner Entscheidung über Un-
recht und Schuld des Täters an die Normen des geltenden Rechts, die
im Grundgesetz und im Strafgesetzbuch ihren Niederschlag gefunden
haben, strikt gebunden. Es ist unzulässig, hinsichtlich des Maßes an
rechtlicher Verbindlichkeit zwischen einzelnen Strafrechtsnormen, die
Unrecht und Schuld des Täters betreffen, Unterschiede in ihrer inneren
Geltungskraft zu machen. Im Gegensatz dazu will jedoch Arthur Kauf-
mann, wenn er den Schuldspruch des Richters als ein für die Rechtsge-
46 Thomas Würtenberger

meinschaft "stellvertretendes Gewissensurteil" ansieht, ein solches nur


dort anerkennen, wo es sich beim Verbrechen um Verletzung "ganz ele-
mentarer einfacher Gebote der Sittlichkeit" handelt. Nur in diesem
eng gezogenen Rahmen könne der Richter dem Täter "mit innerer
Glaubwürdigkeit" gegenübertreten und "ohne pharisäische Überheb-
lichkeit" sein Urteil fällen. Hingegen dürfe bei "ethisch komplizierten
und umstrittenen Tatbeständen und überhaupt bei allen Verhaltens-
weisen, deren Strafwürdigkeit zweifelhaft oder gar zu verneinen" sei,
"kein Schuldurteil gefällt werden". Was in diesen Fällen als solches
ausgegeben werde, sei nichts anderes als "eine an der Staatsräson", der
"amtlichen Sittlichkeit" orientierte "Zweckstrafe". Arthur Kaufmann
verkennt hier, daß bei der Beurteilung der rechtlichen Schuldfrage es
weder für den Richter noch für den Gesamtbereich der Strafrechts-
ordnung in erster Linie auf individuelle Maßstäbe einer Gewissens-
überzeugung oder -entscheidung ankommt. Vielmehr ist hervorzu-
heben, daß die innere Geltungskraft des Strafrechts in der engen Ver-
bundenheit mit der Sozialethik, und nicht der Individualethik beruht.
Vom Standpunkt einer das Strafrechtsdenken beherrschenden Sozial-
ethik sind alle vom Gesetzgeber erlassenen und mit dem Geist des
Grundgesetzes in Übereinstimmung stehenden Strafrechtsnormen in
gleicher Weise rechtlich verbindlich. Diese Forderung schließt jedoch
nicht aus, daß im Bereich eines sog. Kernstrafrechts im Hinblick auf
die enge Verbundenheit zu elementaren sittlich-rechtlichen Geboten
und Verboten, wie sie schon im Dekalog sinnhaften Ausdruck gefunden
haben, die ethische Überzeugungskraft jener Normen besonders groß
ist. Dies bedeutet aber keineswegs, daß den anderen, heute wachsenden
Feldern von Strafrechtsnormen, wie z. B. im Straßenverkehrsrecht,
im Wirtschafts- und Umweltstrafrecht, ein Bezug zu der die Strafrechts-
ordnung im Ganzen fundierende Sozialethik fehlen würde. Auch die
vom Richter erwartete rechtsethische Haltung kann im Gegensatz zu
der von Arthur Kaufmann vertretenen Auffassung in diesen Bereichen
keine andere sein als wie die gegenüber den Normen eines sog. Kern-
strafrechts. Der verbindliche Maßstab zur Beurteilung, was im Raume
strafbaren Verhaltens Recht von Unrecht scheidet, muß für den Rich-
ter allein das Gesetz der Rechtsgemeinschaft sein. Der Richter darf
sich bei Verhängung von Strafen oder beim Freispruch nicht auf sein,
aus dem Bereich der Individualethik stammendes "Gewissensurteil"
berufen. Als ein Repräsentant der Rechtsgemeinschaft sollte sich der
Richter nach den Worten G. Radbruchs "auch durch sein widerstre-
bendes Rechtsgefühl in seiner Rechtstreue nicht beeinflussen lassen".
Wie berechtigt diese ernste Mahnung des großen Rechtsphilosophen
gerade heute ist, zeigen die auch in Juristenkreisen immer wieder auf-
kommenden Forderungen, bei Anwendung von Strafgesetzen die strikte
Der schuldige Mensch vor dem Forum der Rechtsgemeinschaft 47

Legalität in bestimmten strafrechtlichen Rechtsgutsbereichen unter


Berufung auf eine dem allgemeinen Rechtsbewußsein angeblich über-
geordnete "politische Ideologie" aufzuheben. Hier verfolgt man das
Ziel, bisher unumstrittene Bereiche der Strafbarkeit ohne eine Geset-
zesänderung für künftig straffrei zu erklären. Daß diese für eine am
Rechtsstaatsgedanken orientierte Strafrechtspflege bedrohliche Gefahr
nicht aus der Luft gegriffen ist, beweist die in der heutigen Rechtspre-
chung sich offenbarende bedauerliche Unsicherheit bei der Unterschei-
dung zwischen Recht und Unrecht hinsichtlich des rechtlichen Schutzes
des Eigentums, vor allem anläßlich der sog. Hausbesetzungen. Solch
radikale ideologische Strömungen erschüttern in der Rechtsgemeinschaft
das Vertrauen auf die Legalität strafrechtlichen Einschreitens gegen
kriminelles Unrecht und untergraben zugleich die wesentlich auf Kon-
sens der rechtstreuen Bürger sich stützende Legitimationsbasis unse-
rer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung.

IV.

Wer sich des engen Zusammenhangs des Gedankens der rechtlichen


Schuld mit der Welt der Normen bewußt ist, findet am Stande der
heutigen sog. normativen Schuldlehre kein volles Genügen. R. von
Frank sah einst in überwindung des vornehmlich psychologisch aus-
gerichteten Schuldbegriffs den Maßstab der Beurteilung der unrechten
Tat in ihrer "Vorwerfbarkeit". Der BGH (Bd. 2, 200) hat später ebenso
dekretiert: "Schuld ist Vorwerfbarkeit". Die im Nachsatz für diese
These gegebene Begründung, die auf die "Entscheidung des Täters für
das Unrecht" abhebt, bleibt jedoch unergiebig. Inzwischen setzt sich
die Auffassung durch, daß mit dem Begriff "Vorwerfbarkeit" nur eine
nichtssagende Umschreibung des Wortes "Schuld" ausgedrückt werde
(E. Schmidhäuser). Angesichts dessen unternahmen es einige Straf-
rechtslehrer, etwas Verbindliches über den "materiellen" Gehalt des
gegen den Täter zu erhebenden rechtlichen Schuldvorwurfs auszusagen.
Nimmt man jedoch drei neuere Lehrbücher des Allgemeinen Teils des
Strafrechts zur Hand, so zeigt sich, daß solche Versuche, den Inhalt des
strafrechtlichen Schuld vorwurfs adäquat zu erfassen, keineswegs voll
geglückt sein dürften. So sieht H.-H. J escheck den Gegenstand des
Schuldvorwurfs in der "rechtlich verfehlten Gesinnung" des Täters,
aus der der Entschluß zur Tat erwachsen ist. Der Hinweis auf das sub-
jektive Moment einer verwerflichen Tätergesinnung vermag jedoch
allein den wahren Inhalt eines rechtlichen Schuldvorwurfs nicht zu
erschöpfen. Für E. Schmidhäuser liegt der Kern der Vorwerfbarkeit
der Tat in erster Linie darin, daß der Täter das durch sein Delikt ver-
letzte Rechtsgut "nicht ernst genommen" hat. Auch diese These bleibt
eine bloße Teilwahrheit, da sie dem hohen Rang der Beziehung des
48 Thomas Würtenberger

Täters zur gesamten Welt der verbindlichen Rechtsnormen nur unvoll-


kommen gerecht wird. Und H. Zipf deutet zwar den richtigen Grund-
gedanken eines rechtlich begründeten Schuldvorwurfs gegen den Täter
an, wenn er, allerdings ohne nähere Begründung, die Tragweite der
Schuld im "Abfall des Täters von den allgemeinen, dem Durchschnitt
zumutbaren Sollensnormen" sieht. Die künftige Strafrechtsdogmatik
sollte jedoch an schon früher unternommene Bemühungen einzelner
Strafrechtslehrer anknüpfen, den Inhalt des Schuldvorwurfs durch eine
stärkere Verbindung des Tatverhaltens mit den Sollensforderungen
der Rechtsordnung sachgerecht zu kennzeichnen. In diesem Sinne er-
blickt z. B. F. Nowakowski den Gegenstand des Schuldvorwurfs in
einem "Versagen des Täters gegenüber den Sollensanforderungen einer
Norm, insofern als Werte, die das positive Recht strafrechtlich schützt,
und der Verbindlichkeitsanspruch des Rechts im Motivationsprozeß
nicht entsprechend zur Geltung gekommen sind". Auch der Rechts-
philosoph K. LaTenz vertritt eine ähnliche Auffassung über den Inhalt
rechtlicher Schuld: "Wer sich die Schuld gibt, rechnet sich den Unwert
der Tat zu, der sich aus der Verfehlung der Sollensanforderung ergibt,
er macht sich Vorwürfe. Der Grund des Vorwurfs ist sein Versagen vor
der Sollensanforderung. Das Versagen meint nicht nur die bloße Nicht-
erfüllung, sondern die darin liegende Fehlleistung der Person selbst.
Eben darum ist der Vorwurf so drückend, trifft er den Menschen im
Kern der Existenz". Mit der Formel des "Versagens vor den Sollens-
anforderungen des Rechts" wird bekundet, in welch hohem Maße der ge-
gen den Täter zu erhebende Schuldvorwurf in unlöslicher Verbindung
steht mit dem Ganzen der objektiven Rechtsordnung und ihren für den
einzelnen verbindlichen Normen. Bei Erhebung des Schuldvorwurfs wird
der Rechtsbrecher konfrontiert mit seiner Tat als einem Bruch der für
alle geltenden Rechtsordnung. Wer strafrechtlich gesehen schuldig ist,
wird dem Vorwurf der Rechtsgemeinschaft ausgesetzt, bei seiner Tat
aus dem Strafgesetz abzuleitende und zugleich sozial notwendige Ge-
bote und Verbote außer acht gelassen zu haben. Für sein rechtswidriges
und zugleicl;1 schuldhaftes Verhalten muß der Täter vor dem Forum
der Rechtsgemeinschaft die soziale und rechtliche Verantwortung über-
nehmen. Wird dem Rechtsbrecher die unrechte Tat zur Schuld zuge-
rechnet, so vollzieht sich vor dem Gericht jenes Rede- und Antwort-
Stehen, das seit jeher sich mit der elementaren Forderung nach Ver-
antwortlichkeit verbindet, der sich der Mensch als sittlich-rechtliches
Wesen stellen muß. Vergessen wir nicht, daß die Verantwortung des
Menschen für sein Tun und Lassen eine "anthropologische Kategorie"
(E. von Schenk) von hohem Rang darstellt. Folgerichtig rechnet K. En-
gisch das Angesprochensein des Menschen durch Rechtsnormen, sein
Leben in einer Welt von Normen, sein Verhalten diesen Normen ge-
Der schuldige Mensch vor dem Forum der Rechtsgemeinschaft 49

genüber und seine Verantwortung fürNormübertretungen zu den Haupt-


themen einer Rechtsanthropologie. Die Bedeutung der sozialen und
rechtlichen Verantwortung des Menschen für sein Verhalten in der Welt
kann nicht überschätzt werden. Der Mensch ist in seinem individuellen
und sozialen Dasein "so strukturiert, daß er sein Leben selbst eigenver-
antwortlich führen muß" (W. Schulz). Die hier zu Recht hervorgehobene
menschliche Eigenverantwortung ist jedoch gerade für den Bereich des
Rechts nicht zu trennen von der Mitverantwortung, die dem einzelnen für
seine Mitmenschen und gegenüber dem Ganzen der Gemeinschaft auf-
erlegt ist. Diese Idee der sozialen Mitverantwortung des einzelnen darf
bei der Bestimmung des strafrechtlichen Schuldvorwurfs gegen den
Rechtsbrecher nicht ausgeklammert werden. Mit Recht wurde in der
neueren Rechtstheorie die Wesensbestimmung des Unrechts und der
Gedanke rechtlicher Schuld immer mehr an "sozialen" Kategorien
orientiert. So wird heute im Strafrechtsdenken das Phänomen einer
"sozialen Kommunikation" ernst genommen. Die Lehre von der sozia-
len Kommunikation legt besonderen Nachdruck auf die Feststellung
der gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen untereinander. Dieser
gegenseitigen Abhängigkeit liegt vor allem der Sachverhalt zugrunde,
daß im sozialen Miteinandersein der Menschen die "Erwartungen
einzelner Gemeinschaftsglieder" "jeweils auf das Verhalten anderer
gerichtet sind" (P. Nall). Dies bedeutet, daß ein geregeltes, Freiheit
und Sicherheit verbürgendes Gemeinschaftsleben nur möglich ist, wenn
ein Mindestmaß von Rücksichtnahme der einzelnen gegenüber dem
Nebenmenschen und dem Gesellschaftsganzen vorhanden ist. Es kommt
hinzu, daß die soziale Integration des einzelnen in die Welt der Ge-
meinschaft nur auf der Basis zwischenmenschlicher "Solidarität" ge-
lingen kann. Im Sinne der Gegenseitigkeit menschlicher Beziehungen
beruht Solidarität darauf, daß im Leben der Gemeinschaft jeder für
den anderen einsteht und der einzelne für das Ganze und das Ganze
für den einzelnen verantwortlich ist. Eng verwandt mit dem Solidari-
tätsprinzip ist der Gedanke, daß das gegenseitige Gewähren von Ver-
trauen das Zusammenleben der Menschen sicherer und beständiger
macht. "Die Möglichkeit des sozialen Miteinander beruht auf der ge-
genseitigen Achtung der Handlungsspielräume und auf dem Vertrauen,
daß jeder den ihm zukommenden Rechtsraum nicht auf Kosten ande-
rer ausdehnt" (H. Gtto). Es ist das Verdienst jüngerer Strafrechtslehrer,
wie vor allem H. Gttos, daß nunmehr auch den sozialethischen Kate-
gorien der Solidarität und des Vertrauens wesentliche Bedeutung für
die Begründung strafrechtlicher Werturteile beigemessen wird. Dem-
gemäß ist im Verbrechen sowohl ein Mangel an auf Gegenseitigkeit
beruhender Solidarität als auch ein Angriff auf die "Vertrauensgrund-
lage der Rechtsordnung" (H. Gtto) zu sehen. Wird somit der Unrechts-

4 Festschrift für H.-H. Jescheck


50 Thomas Würtenberger

gehalt strafbaren Verhaltens durch die Verletzung mitmenschlicher


Beziehungen im Sinne gegenseitigen Vertrauens und zu verwirklichen-
der Solidarität gekennzeichnet, so muß auf diese lebenswichtigen Ele-
mente menschlicher Gemeinschaft sich auch der gegen den Täter zu
erhebende rechtliche Schuldvorwurf in erster Linie beziehen. Letzt-
lich gründet alle Schuld im Rechtssinne in der dem Täter als Mitglied
der Rechtsgemeinschaft auferlegten "Verantwortung im Miteinander-
sein" (W. Weischedel) der Menschen. Aus dem Geist solcher sozialer
Verantwortung ist das für das menschliche Verhalten geltende sittliche
Gebot herzuleiten: "Handle so, daß du als Person in Kommunikation
mit anderen treten und den Anforderungen kommunikativer Ordnung
entsprechen kannst" (M. Riedel). Die im kommunikativen Dasein und
Verhalten geforderte Solidarität und das dort erwartete gegenseitige
Vertrauen repräsentieren somit den wesentlichen Inhalt der dem ein-
zelnen auferlegten sozialen und rechtlichen Pflichten. In früherer Zeit
wurde von der Strafrechtswissenschaft mit Recht hervorgehoben, daß
zum Begriff der Schuld die "Pflichtwidrigkeit" unrechten Verhaltens
zu rechnen ist. Wird daher mit dem Schuldspruch dem Täter seitens des
Richters die Verletzung der für menschliches Miteinander geltenden
sozialen und rechtlichen Pflichten vorgeworfen, so orientiert sich die
vom Täter geforderte Pflichterfüllung am Bild eines "maß ge rechten
Menschen" (H.-H. Jescheck). Dies bedeutet, daß Leitvorstellung jeden
rechtlichen Schuldvorwurfs jener Mensch ist, der sich in seinem sozialen
Gesamtverhalten durch die Eigenschaft der "Rechtstreue" auszeichnet.
Somit wird dem Täter "vorgeworfen, daß sich an seiner Stelle ein mit
rechtlich geschützten Werten verbundener Mensch rechtstreu moti-
viert hätte" (R. Moos). Denn im sozialen Leben, soll dieses Bestand
haben, erhebt die im Staate verfaßte Rechtsgemeinschaft gegenüber
ihren Bürgern "Ansprüche normaler Rechtstreue" (C. Roxin). Blickt
man auf die Eigenart der vom einzelnen geforderten, an der Rechts-
treue orientierten Gesinnungshaltung, so hat die frühere Rechtstheorie
diesen für die Lösung des Schuldproblems wichtigen Topos mit dem
Bild vom "rechtschaffenen" Menschen umschrieben. Die Rechtschaffen-
heit als ethisches Gesinnungsmoment und als Ausdruck vorbildhafter
sozialer Haltung hat eine lange Geschichte, die von Plaio bis zu Hegel
und Dilthey reicht. Die Führung eines "rechtschaffenen Lebens" ist
auch heute noch im deutschen und österreichischen Jugendkriminal-
recht eines der wichtigsten rechtlich erstrebten Erziehungsziele. Recht-
schaffenheit bezieht sich, sozialethisch gesehen, auf die Forderung nach
Beachtung der Normen einer "einfachen Sittlichkeit" (F. O. Bollnow),
die für ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen selbstverständ-
lich sein sollte. Es handelt sich bei der "einfachen Sittlichkeit", die für
den rechtschaffenen Bürger verpflichtend ist, um den Hinweis auf jene
Der schuldige Mensch vor dem Forum der Rechtsgemeinschaft 51

unzerstörbare ethische Substanz, die auch im heutigen Massenzeitalter


ihre Geltungskraft für menschliches Sozialverhalten nicht ganz ver-
loren hat. Versucht man den Gedanken einer vom einzelnen im Sozial-
leben zu verwirklichenden Rechtschaffenheit wieder zu beleben, so
müßte sich diese menschliche Grundhaltung verbinden mit dem Be-
mühen um jene mitmenschliche Solidarität, aus der die Bereitschaft
zu verantwortungsvollem Handeln erwächst. Dem durch seine unrechte
Tat schuldig gewordenen Rechtsbrecher die Notwendigkeit einer sol-
chen GrundeinsteIlung zu den elementaren Forderungen des Rechts und
der Sittlichkeit lebendig vor Augen zu führen, ist für den Strafrichter
eine unerläßliche pädagogische Aufgabe. Erst wenn der Versuch unter-
nommen wird, im Bereich einer anzustrebenden "Schuldverarbeltung"
seitens des Täters in ihm das Bewußtsein sowohl von der ethisch-
rechtlichen Tragweite seiner Tat als auch von dem Maß seiner sozialen
Verantwortung zu erwecken, besteht die Chance, daß der Täter die
ihm gemäß seiner Schuld auferlegte Strafe als gerecht empfindet und
er die mit ihr verbundene soziale Leistung im Sinne seiner Resoziali-
sierung zu erbringen bereit ist. Eine solche "Rechtserziehung" sollte
sich heute vor allem im sog. "Schulddialog" zwischen dem Rechtsbrecher
und dem Strafrichter vollziehen. Über Sinn, Möglichkeiten und Grenzen
eines solchen regelmäßig in der Hauptverhandlung stattfindenden
Schulddialogs wird heute im Bereich der Strafrechtswissenschaft unter
verschiedenartigen Aspekten nachgedacht. Leider wird gelegentlich
die Aufgabe eines Schulddialogs zwischen Täter und Richter insofern
mißverstanden, als er primär einer "argumentativen Exkulpation" im
Sinne einer anstelle der "Zurechnung zur Schuld" tretenden "Wegrech-
nung" der Verantwortlichkeit dienen soll (F. Haft). So sehr der Richter
im Rahmen des Schuldspruchs auch die den Täter entlastenden Um-
stände gebührend berücksichtigen muß, so darf er doch nicht die Haupt-
aufgabe des zwischen ihm und dem Täter zu führenden Dialogs außer
acht lassen: den gegen den Täter im Hinblick auf die unrechte Tat von
Gesetzes wegen zu erhebenden Schuldvorwurf durch einen berechtigten
Hinweis auf die Fehlerhaftigkeit der im Rechtsbruch sich offenbaren-
den Grundhaltung zu legitimieren. Mit dieser, im Schuldvorwurf lie-
genden rechtlich-sittlichen Mißbilligung der unrechten Tat muß sich
jedoch zugleich der an die Person des Täters gerichtete Appell verbin-
den, künftig unter Achtung der Rechte anderer ein Leben in sozialer
Verantwortung zu führen. Nicht zuletzt dient der Schulddialog auch
der Befestigung des für die Geltung der Strafrechtsordnung fundamen-
talen Gedankens, daß der schuldige Mensch ebenso wie der Richter
nicht nur Mitglieder der einen Rechtsgemeinschaft sind, sondern auch
unter der Herrschaft der für alle geltenden Gesetze stehen.
RICHARD LANGE

N eue Wege zu einer


Gesamten Strafrechtswissenschaft

Ausgerechnet zu ihrem hundertsten Geburtstage ist der Zeitschrift


für die gesamte Strafrechtswissenschaft, die Hans-Heinrich J escheck
seit vielen Jahren herausgibt, der Anspruch ihres Titels aus ihrem
innersten Kreis heraus abgesprochen worden. Rückkehr zur gesamten
Strafrechtswissenschaft? fragt Lelerenz l • Für ihn gibt es sie zur Zeit
nicht und hat es sie auch in Wahrheit nie gegeben. Liszt selbst hat
den angestrebten Zusammenhang zwischen Kriminalpolitik und Syste-
matik wieder aufgegeben. Dieser ist undurchführbar und politisch
bedenklich. Der normative Überbau über die realen Erscheinungen
einerseits und die empirischen Wissenschaften andererseits können
nicht in einer übergreifenden Kriminalwissenschaft zugleich vertreten
werden.
Aus einer solchen Sicht ist Strafrecht nicht begründbar. Der "Über-
bau" des Schuldstrafrechts geht notwendigerweise von einem Bereich
der Freiheit aus, steht also nicht auf dem deterministischen Funda-
ment der empirischen Wissenschaften, im besonderen der Krimino-
logie. Das Recht gehört in diesem Bilde der Wirklichkeit nicht an. Für
die Kriminologie gilt nach wie vor, was David Matza in den sechziger
Jahren konstatierte: sie folgt einem "strengen Determinismus"2.
Mit einer solchen Antinomie kann in Wahrheit weder die Wissen-
schaft noch die Praxis leben. Einen total Determinierten strafen ist
dasselbe wie einen Geisteskranken strafen. Sind alle derart determi-
niert, darf man keinen strafen. Das Ausweichen in ein Maßregel-
system hat überall, in der Sowjetunion, in Skandinavien, in Grönland,
in nord- und mittel amerikanischen Staaten, in eine Sackgasse geführt.
Fast als einziger hat Stephan Schaler das Stehenlassen dieser Wi-
dersprüche angeprangert. Er rügt, daß die Kriminologie dem Problem
des freien Willens bisher nicht den ihm gebührenden Vorrang einge-
räumt hat. Die quantifizierenden Kriminologen folgen stillschweigend

1 ZStW 93 (1981), S. 199 ff., 221.


2 Delinquency and Drift, 3. print. 1967; dazu der Ver!., Das Rätsel Krimi-
nalität, 1970, S. 159,340.
54 Richard Lange

einem Hang zum Determinismus unter Anknüpfung an das wissen-


schaftliche Denken des 19. Jahrhunderts. Besessen von Zahlen und
Tabellen verlieren sie grundlegende qualitative Fragestellungen aus
dem Auge. Nur schwer kann man angesichts dessen Gleichmut be-
wahren und Zynismus und Verzweiflung vermeiden. Die Wurzeln
des Verbrechens liegen viel tiefer, als sie von den quantifizierenden
Forschern in ihrer deterministischen Haltung gesehen werden. Ober-
flächlichkeit der Fragestellungen und Banalität der Ergebnisse sind
die Folgen der mangelnden Grundlegungen in der zentralen Frage,
die bereits Leibniz, Malebranche, Kant, Edwards, Hartmann, Gom-
perz, Ayers als solche erkannt hatten. Schafer seinerseits gelangt zu
einem gemäßigten Indeterminismus und einem entsprechend gemä-
ßigten Determinismus3 •
Von ganz anderer Seite her kommt Sacks Beobachtung, daß die
Trennung von Sein und Sollen und von Verhalten und Normen unge-
rechtfertigt sei 4 • Auf sie kann hier nur verwiesen werden.
Wo die Dogmatik auf die Kriminologie Bezug nimmt, stellt sie Nor-
matives und Empirisches ihrerseits gemäß jener Zwei-Reiche-Theo-
rie einander gegenüber. So Jescheck6 und Zipr in ihren Lehrbüchern.
Im Leipziger Kommentar stellt Hans Joachim Hirsch 7 dem Abschnitt
Körperverletzungen eine kriminologische Übersicht voran. Jähnke 8
läßt sich auf eine umstrittene Selbstmordtheorie ein. Im Kommentar
Schönke!Schröder hatte Schröder einige Auflagen lang kurze krimi-
nologische Vorbemerkungen eingeführt, dies aber bald wieder aufge-
geben.
Heißt es in der Dogmatik: jedem das Seine, so wird von krimino-
logischen Richtungen dem Strafrecht bekanntlich die Existenz schlecht-
hin abgesprochen. So namentlich aus psychoanalytischer Sicht. "Die
Erkenntnis ist ein Feind des Richtens und Strafens" heißt es 1929 in

3 Zum Problem des freien Willens in der Kriminologie, MSchrKrim. 59


(1976), S. 69 ff.
4 Probleme der Kriminalsoziologie, in: Hb. der empirischen Sozialfor-
schung, 2. Auf!. 1967, S. 369. Vgl. dazu die Bespr. von Leferenz, ZStW 91 (1979),
S. 1000, 1004 sowie Amelung, ZStW 92 (1980), S. 32 Fn. 59.
5 LB, 3. Aufl. 1978, S.35 u. 327 ff. Jescheck sieht das anthropologische Pro-
blem und nennt die Versuche, durch eine verstehende Kriminologie die
Brücke zum Schuldprinzip zu schlagen.
G In Maurach!Zip!, LB, 6. Aufl. 1983, S. 34 ff. geht Zipf auf die anthropolo-
gischen Ansätze von heute ein, ebenso - im Einklang mit J escheck - ders.,
in: Kriminalpolitik, 2. Aufl., 1980, S.45 f.
7 10. Aufl., Rdn. 21 ff. vor § 223.

8 LK, 10. Aufl., Rdn. 27 f. vor § 211. Daß der Selbstmordforscher Ringel,
auf den sich Jähnke in erster Linie beruft, dessen Konsequenzen für ganz
verfehlt hält, bezeugt Roxin, Dreher-Festschrift, 1977, S. 353. - Zutr. Jähnkes
kriminologische Bemerkungen, Rdn. 50 vor § 211.
Neue Wege zu einer Gesamten Strafrechtswissenschaft 55

dem kürzlich neu herausgegebenen Buch von Alexander und Staub


"Der Verbrecher und sein Richter". Für die ebenfalls jetzt wieder
herausgegebene Arbeit von Reiwald "Die Gesellschaft und ihre Ver-
brecher" (1948) ist der Verbrecher der unschuldige Sündenbock der
Gesellschaft. Er fordert Heilen statt Strafen. Allerdings: bei schwer-
ster Gemeinschaftsgefährdung, insbesondere bei vielfachem Mord, bei
schweren Sexualdelikten und bei ständiger Verletzung des Gemein-
schaftsinteresses z. B. durch schwere white collar crimes ist im ersten
Fall schmerzlose Tötung durch den Gerichtsarzt zu prüfen, im zwei-
ten lebenslängliche Verwahrung mit Arbeitszwang 9 • Die Kanonisie-
rung dieser alten, in ihren Grundannahmen längst überholten Arbei-
ten deutet auf Stagnation hin, wie denn auch die Psychoanalyse un-
geachtet ihres hohen Anspruchs sich wenig mit der Struktur der Tat
beschäftigt und nur in wenigen Äußerungen ein umfassendes Konzept
der Kriminalitätsbedingungen entwickelt hatlo •
Nach der Theorie des labeling approach haben Strafrecht und Kri-
minologie nicht einmal denselben Gegenstand. Wenn man aber end-
lich die ideologische Verzerrung der hier angesprochenen Problema-
tik abstreift, sieht man, daß sie als Darstellung und Kritik der er-
mittelnden, urteilenden und vollstreckenden Staatsorgane in die Kri-
minalistik und nicht in die Kriminologie gehörtl1 •
Die allgemeine Soziologie verharrt mit methodologischer Notwen-
digkeit noch immer auf dem Standpunkt ihres Begründers Comte und
namentlich des Kriminalsoziologen Quetelet: "Vor allem müssen wir
vom einzelnen Menschen absehen und dürfen ihn nur mehr als einen
Bruchteil der ganzen Gattung betrachten." Damit disqualifiziert sie
sich von vornherein für das Strafrecht, das versuchen muß, dem je
Einzelnen in seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit gerecht zu wer-
den. Dennoch sieht z. B. Lautmann eine Soziologisierung der Jurispru-
denz12 •
9 S. 305 f.
10 Bräutigam in: Hb. der forensischen Psychiatrie I, 1972, S.776, 789 sowie
802, Fn.4; hier über neuere Entwicklungen. Aber gerade die hier als wich-
tigste genannte Arbeit, die von Maser, kehrt zu den alten Positionen zurück.
- Zum Selbstwiderspruch der Psychoanalytiker, die mit Alexander und
Staub (1929) "die Erkenntnis" als "Feind des Richtens und Strafens" betrach-
ten und dennoch forensisch als Gutachter, d. h. als Gehilfen des Gerichts
auftreten, vgl. Rauch, Leferenz-Festschrift, 1983, S. 390 ff. über ihr Gewicht
in der heutigen Strafpraxis Göppinger, ebendort S.420; zum "Passepartout-
begriff Neurose" kritisch dort Bresser, S. 438.
11 Wir können Zipf nicht folgen, wenn er im Lehrbuch (Anm. 6) meint,
die Kriminologie habe den labeling approach angenommen. Vgl. dazu u. a.
Leferenz, ZStW 84 (1972), S. 954 ff.; ders., ZStW 91 (1979), S. 988 ff., den Verf.,
ZStW 93 (1981), S. 183 ff. und jetzt Göppinger, Der Täter in seinen sozialen
Bezügen, 1983, S. 7 f. (unten Anm. 50).
12 Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz, 1971, S. 9 ff.
56 Richard Lange

Die Rechtssoziologie im besonderen sollte berufen sein, zwischen


Normativem und Empirischem eine Brücke zu schlagen. Aber nach
Ansicht des führenden Soziologen Schelsky 13 hat sie, wie die Sozio-
logie überhaupt, den im Recht und nach Maßgabe des Rechts handeln-
den Menschen aus den Augen verloren. Er zeigt dies an vier ihrer
repräsentativsten Vertreter aus den verschiedensten Lagern.
Bei Gehlen geht der Mensch in der Institution auf: "Eine Persön-
lichkeit ist eine Institution in einem Fall". Dabei gerät die Einwir-
kung der Person auf die Institution, die durch Rechtssetzung geschieht,
außer Sicht.
In Dahrendorfs Theorie wird das Recht schon im Ansatz ausgeblen-
det. Er unterscheidet nicht, wie Max Weber, Macht und die auf -
rechtlicher - Legitimation beruhende Herrschaft l4 •
Habermas äußert sich kaum über das Recht. Er verwirft Herrschaft
und Institutionen und damit den Wirkungskreis des Rechts15 •
Luhmann vereinseitigt das Recht zum gesellschaftlichen Steuerme-
chanismus. Schon im Ansatz gibt er die Handlungstheorie zugunsten
der Systemtheorie auf. So bedeutet Positivierung des Rechts für ihn,
daß für beliebige Inhalte legitime Rechtsgeltung gewonnen werden
kann. Positives Recht gilt kraft Entscheidung.
Für Schelsky verfehlt eine Soziologie des Rechts ihre Aufgabe, wenn
sie nicht mehr zu bieten vermag als eine Rechtssoziologie ohne Recht.
Gerade seinem Lehrer aber wird Schelsky nicht gerecht. 1953 be-
reits erklärt Gehlen 16 : "Es sind sehr langsame ... über Jahrhunderte
und Jahrtausende herausexperimentierte feste und stets auch ein-
schränkende inhibitorische Formen wie das Recht, das Eigentum, die
monogame Familie, die verteilte Arbeit, welche unsere Antriebe ...
heraufgezüchtet haben auf die hohen exklusiven und selektiven An-
sprüche, welche Kultur heißen dürfen. Diese Institutionen, wie das
Recht, die monogame Familie, das Eigentum, sind selbst in keinem
Sinne natürlich und sehr schnell zerstört ... wenn man diese Stützen
wegschlägt, dann primitivisieren wir sehr schnell." Hier erscheint schon
sein späteres Bild vom Menschen als einer "liquiden Masse", die zu
allererst Festigung durch das Recht braucht.
Schelskys Kritik an Luhmanns Positivismus und Dezisionismus wird
man dagegen grundsätzlich zustimmen müssen, ebenso auf der ande-

Die Soziologen und das Recht, 1980.


13
Zu einem zweiten grundsätzlichen Einwand vgl. Anm. 17.
14

15 Zu Habermas' Rechtsferne Anm. 110.


18 Das Bild des Menschen im Lichte der modernen Anthropologie, in: Die
neue Weltschau (Hrsg. Gebser), 1953, S. 86 f.
Neue Wege zu einer Gesamten Strafrechtswissenschaft 57

ren Seite der an Habermas' Ausblendung des Rechts. Seiner Kritik


an Dahrendorf ist unter anthropologischem Gesichtspunkt hinzuzu-
fügen, daß dieser selbst bekennt, die Soziologie müsse den "ganzen
Menschen" ausblenden. Das Recht und erst recht das Strafrecht muß
ihn aber, wie schon gesagt, in seiner Ganzheit und Individualität er-
fassen 17 .
Schelskys Kritik umfaßt nicht alle Richtungen der Rechtssoziologie.
So sieht Ernst E. Hirsch 18 durchaus den Menschen im Recht und in
seiner Freiheit, trotz seines biologistischen Ansatzes.
Schelsky selbst mißt dem Recht einen zentralen Wert bei. Unter
Betonung des freien Willens und der Selbständigkeit der Person im
Verständnis des Rechts gelangt er zu
"einer unter Soziologen wohl recht seltenen Aufwertung des Rechts als
Grundlage unseres Gemeinwesens ,Bundesrepublik' . In der von mir immer
wieder thematisierten Spannung zwischen freiheitlicher Selbstbestimmung
des Subjekts und den institutionell gesetzten gesellschaftlichen Zwängen ist
mir das praktische Ordnungsprinzip des Rechts, wie es bereits Kant und die
Aufklärung verstand, zur letzten zu vertretenden geistigen Position gewor-
den. Recht verbindet nicht nur ererbte Stabilität mit dauerndem sozialem
Wandel, nicht nur die persönlichen Freiheitsrechte mit den Bindungen an
gesellschaftlich auferlegte Pflichten, sondern es ist in dieser institutionellen
Spannung zwischen subjektiver Freiheit und sozialem Sachzwang der ein-
zige politische Mechanismus, der zwischen unaufhebbarer Fremdbestimmung
und immer erstrebter Selbstbestimmung der einzelnen Person politisch und
sozial vermitteln kann"19.
War der allgemeinen Soziologie durch ihre deterministische Ein-
stellung 20 und ihre Abstraktionshöhe lange der Weg zur "werdenden
Anthropologie" (Portmann) verstellt, so zeichnet sich jetzt in der Kri-
minalsoziologie eine neue Entwicklung ab. Henner Hess 21 übernimmt
die anthropologischen Entwürfe von Gehlen und Portmann, ohne aller-
dings auf ihre Verschiedenheiten einzugehen 22 , aber mit der entschei-
denden Anerkennung eines Freiheitsraums. Sehr schnell mündet er
jedoch in altmarxistische Kategorien ein: die Entfremdung - nicht im
positiven Sinne Gehlens verstanden - , die "Taktik des Dummhal-
tens", der "stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse", die "Tat-
sache, daß man in einer kapitalistischen Gesellschaft ... in der Regel
seine Arbeitskraft verkaufen muß, um zu überleben", während die
17 Hierzu eingehend der Ver!., JZ 1965, S. 737 und ders., (Anm.2), S. 312 ff.
18 Neuestens JZ 1982, S. 41 ff. Dazu der Ver!., Leferenz-Festschrift, 1983,
S.41.
19 Rückblicke eines "Anti-Soziologen", 1981, S. 98 f.
'0 Schelsky (Anm. 19), S. 99.

21 Probleme der sozialen Kontrolle, Leferenz-Festschrift, 1983, S. 5 f., 10 f.


22 Zu diesen Portmann, Anthropologie, in: Propyläen-Weltgeschichte IX!2
(1960/1972), S. 591, 593 f.
58 Richard Lange

"Besitzer der Produktionsmitel ... den Mehrwert einfach einbehalten


können", dazu "Konsumzwang" usw. Auf diese Weise begründet Hess
seine Theorie der aktiven Sozialkontrolle, worunter "präventives Aus-
schließen ungewünschten Verhaltens" verstanden wird, und vor allem
die Theorie ihrer Lücken. "Wo die Instanzen der formellen Kon-
trolle ... ein Kontrollvakuum entstehen lassen, können ihre Aufga-
ben informell von anderen, primär nicht der Kontrolle dienenden
Institutionen, ... übernommen werden - wie es Max Weber an den
Sekten in den USA gezeigt hat und wie ich es für die sizilianische
Mafia zu demonstrieren versucht habe 23 ."
Hier zeigt sich, was bei dem Begriff "soziale Kontrolle" heraus-
kommt, der die Rechtsidee ignoriert: Recht und Unrecht stehen auf
gleicher Stufe24 • Mit geköpften Begriffen arbeitet die Soziologie auch
bei ihren Bezeichnungen für rechtmäßiges und unrechtmäßiges Ver-
halten: Anpassung und abweichendes Verhalten. Im Totalitarismus ist
der aktive Mitmacher bis hinauf zum Denunzianten der Angepaßte,
in der Kannibalengesellschaft ist, wie Mergen treffend bemerkt hat,
der Nicht-Menschenfresser der mit dem abweichenden Verhalten.
Welche konkreten Kontrollreaktionen zum Zuge kommen, hängt
nach Hess weitgehend von den Diagnosefiguren ab, mit denen die je-
weilige Abweichung definiert wird, etwa als Kriminalität, Krank-
heit, Sonderbarkeit usw. Ganz unabhängig vom tatsächlichen Verhal-
ten des Abweichenden, das gibt er immerhin zu, sei diese Diagnose
nicht, doch verfehle man einen entscheidenden Punkt, wenn man die
Definitionsmacht der Kontrolleure nicht genügend beachte. Diese De-
finitionsmacht bestimme, was als Abweichung gelte und ihre Form,
ob Kriminalisierung, Pathologisierung oder Neutralisierung. Bei der
"Kriminalisierung" im Fahrwasser des labeling approach spricht Hess
von der "Pathologisierung" von Amts-, Militär- und Betriebsärzten,
nicht aber von dem sowjetischen System, politisch Abweichende in
psychiatrischen Anstalten beliebig langen "Behandlungen" zu unter-
werfen. "Neutralisierung" ist der Versuch, abweichendes Verhalten
auf bestimmte Personengruppen oder einen bestimmten sozialen Kon-
text zu beschränken. Als Beispiele nennt er Boheme, Prostitution und
Karneval. Auch sie gehören also für ihn zur sozialen Kontrolle bzw.
deren Handhabung. So wird in diesem gespensterhaften Bild der
Freie in der freien Gesellschaft zu einem von einem anonymen Levia-
than beliebig manipulierten Objekt in extremer Unfreiheit.
(Anm. 21), S. 13 f.
23

Vgl. Friedrich Hacker, Versagt der Mensch oder die Gesellschaft?, 1964;
~t
dazu der Ver/. (Anm.2), S. 42 f. Nach Hacker wird in Reno und Las Vegas die
Ordnung in den Spielbanken durch Polizeibeamte im Dienst und Sold ver-
brecherischer Organisationen aufrecht erhalten.
Neue Wege zu einer Gesamten Strafrechtswissenschaft 59

Für Hess ist allerdings die staatliche Gesellschaft überhaupt unfrei.


Seine nostalgisch anmutenden Sympathien gehören einer anderen.
"Wir wissen, ... , daß die Menschen - evolutionär gesehen - viel län-
ger als in staatlichen Gesellschaften in der "regulierten Anarchie"
(Weber) der Stammesgesellschaften gelebt haben, die friedlicher und
geordneter waren als spätere staatliche, durch Klassenspaltung und
Herrschaft charakterisierte, und daß deshalb auch die ... anarchisti-
sche politische Theorie kein utopisches Ideengebäude sein muß"25. Daß
der letzte Versuch, den guten Wilden als Realität darzustellen, die
Berichte von Margaret Mead über die Samoaner, nicht auf authen-
tischen Beobachtunge~ beruht, war Hess wohl nicht bekannt.
Bleibt hier im soziologischen Bereich die Erkenntnis des mensch-
lichen Freiheitsspielraums ohne Konsequenzen, so stoßen wir neuer-
dings im dogmatischen Bereich, in dem nach allgemeiner Meinung das
Schuldprinzip Verantwortungsfähigkeit und damit Freiheit voraus-
setzt, auf deterministische Ansätze.
Von ursprünglich psychoanalytischem Ausgangspunkt her26 stellt
Streng die Legitimität der Strafzwecke und darüber hinaus das Schuld-
strafrecht insgesamt in Frage. Bezugspunkt seiner kriminal politischen
Forderungen ist "das Strafbedürfnis der Allgemeinheit", also das Be-
dürfnis, andere zu bestrafen27 • Demgegenüber haben Freud und ihm
folgend Reik unter "Strafbedürfnis" das Verlangen des Täters selbst,
bestraft zu werden, verstanden28 •
Nunmehr stellt Streng unter Berufung auf die Sozialwissenschaften
sein Sanktionssystem auf ein angenommenes sozialpsychisches Fak-
tum. Ein solches kann man allenfalls demoskopisch zu ermitteln ver-
suchen29 • Man erinnert sich, daß nach Abschaffung der Todesstrafe
noch Jahrzehnte lang bis zu 75 % der Bürger ihre Wiedereinführung
forderten. Strengs Bezugspunkt ist die Gesellschaft, nicht Staat und
Recht. Er greift auf die alte Sündenbocktheorie der Psychoanalyse zu-
rück30 , was mit seinem neuen Arbeitsansatz nicht zusammengeht. Da-
bei setzt er Vergeltung mit Rache gleich31 • Aber historisch gesehen
drängte das Talionsprinzip die endlose Kette emotionaler Blutrache
zurück, schaltete sie schließlich aus, ein erstes Eingreifen des Rechts-
gedankens der Verhältnismäßigkeit32 •
2:;(Anm. 21), S. 3 f.
25 Psychoanalyse und Strafrecht, MSchrKrim. 59 (1976), S. 77 ff.
27 Streng, Schuld, Vergeltung, Generalprävention, ZStW 92 (1980), S.643.

28 Dazu Streng (Anm. 27), S. 643 Fn. 25.


29 Zur Problematik eines "sozialpsychologischen Bewußtseins" vgl. unten
(Anm. 58), S. 12.
30 (Anm. 27), S. 644 ff.

31 (Anm. 27), S. 649.


60 Richard Lange

Von Strengs sozialpsychologischem Ansatz aus kommt weder die


Rationalisierung des Strafrechts noch die deliktsspezifische Akzen-
tuierung der Strafzwecke ins Blickfeld, ebensowenig aber auch die
Rationalisierung des Verbrechens. Die schwere und schwerste Krimi-
nalität zeigt gegenüber dem Bild noch der ersten Nachkriegszeit völ-
lig veränderte Züge. Im Vordringen sind bandenmäßiges, berufsmäßi-
ges und organisiertes Verbrechen unter zunehmender Brutalisierung.
Bei den Hintermännern der Rauschgiftkriminalität mit ihren Impli-
kationen von Waffenhandel, Prostitution und Zuhälterei, bei Erpres-
sung von "Schutz geldern" , bei Bankraub und Entführungen haben
wir es regelmäßig mit sozialisationsunempfänglichen und strafunemp-
findlichen Tätern zu tun. Die Notkriminalität ist durch Wohlstands-
und Begehrungskriminalität abgelöst. Die Zahl der Verbrechen hat
sich seit 1965 mehr als verdoppelt. Die Kriminologie hat die Wurzeln
dieser Wendungen bisher nicht erkannt und verarbeitet, sie kann da-
her der Dogmatik keine neuen Fundamente geben33 .
In einer neuen Arbeit 34 erkennt Streng an, daß auf das Strafrecht
auch und gerade dann nicht verzichtet werden könnte, wenn sich alles
menschliche Verhalten als determiniert herausstellen sollte35 . "Je stär-
ker Menschen determinierbar sind, desto rationaler ist demnach die
Androhung bzw. Verhängung von Strafen. Für die strafrechtliche
Schuld relevant sein kann somit nicht der Freiheitsgrad, sondern allen-
falls die Dimension Freiheitsbewußtsein"36.
Ein - wenn auch allgemein verbreiteter - Irrtum, nämlich ein sol-
ches Bewußtsein unter diesen Voraussetzungen, kann aber nicht gut
Grundlage von Schuld und Strafe sein, die an eine Rechtsidee gebun-
den sind.
Da die Freiheitsfrage nach Strengs Meinung wegen unüberbrück-
barer Gegensätze zwischen Norm- und empirischer Wissenschaft aus
der Beurteilung der Schuldfähigkeit herausgenommen werden muß 37 ,
schlägt er anstelle des bisherigen § 20 folgende Fassung vor: "Straf-
rechtliche Schuld liegt nicht vor, wenn der Täter bei Begehung der

32 Zutr. Jescheck (Anm. 5), S. 51: Vergeltung als Maßprinzip.


33 Ob die - aus der Tagespresse zugängliche - Entscheidung BGHSt.
GrSen. 32, 115 ff., vom 17. 10. 83, betr. V-Männer u. a. der durch das Vordringen
des organisierten Verbrechens, insbes. der Mafia, gekennzeichneten neuen
Dimension der Kriminalität adäquat ist, muß man bezweifeln. Willms, F AZ
v. 19. 1. 84, stellt eine "auffällige Abweichung" von dem Beschluß des BVerfG
Bd. 57 S. 250 v. 26. 5. 81 fest, die den Gesetzgeber auf den Plan rufe.
34 Richter und Sachverständiger, Leferenz-Festschrift, 1983, S. 397 ff.
35 (Anm. 34), S. 408.
36 (Anm. 34), S. 408, Fn. 38.
37 (Anm. 34), S. 405.
Neue Wege zu einer Gesamten Strafrechtswissenschaft 61

Tat mit einer krankhaften seelischen Störung, einer tiefgreifenden


Bewußtseinsstörung oder mit Schwachsinn oder einer schweren ande-
ren seelischen Abartigkeit behaftet war und deswegen eine Verdeut-
lichung der sozialen Verantwortlichkeit des Täters durch Strafe un-
tunlich ist"3B. Auf die Frage, ob die neuen Begriffe genügend bestimmt
und praktikabel sind, ist hier nicht einzugehen.
Zu Strengs psychoanalytischem Ansatz, den er jetzt allerdings zu-
gunsten sozialwissenschaftlicher Aspekte zu verlassen scheint, ist all-
gemein zu bemerken, daß bei Würdigung der kriminologischen Be-
deutung Freuds differenziert werden muß. Die Annahme eines histo-
rischen Urverbrechens39 , auf der er seine These vom Ödipus-Komplex
aufbaute, "das Kardinalproblem jeder Kultur und jedes einzelnen
Menschen" (Balint), übernahm er von einer 1903 erschienenen Arbeit
von I. Atkinson, Primal Law, einer abstammungsgeschichtlichen Hy-
pothese; Freud selbst fühlte sich als Darwinist 40 • Dieser in psychoana-
lytischer Sicht für die Kriminologie entscheidenden Grundlage, auf
der noch Reiks "Geständniszwang und Strafbedürfnis" (1925) beruht,
ist durch die ethnologische Forschung längst und endgültig der Bo-
den entzogen, vor allem durch die Untersuchungen Malinowskis 41 •
Obwohl sich aber Freud als Naturwissenschaftler fühlte und in den
Begriffen dieser Wissenschaft sprach42 , ist seine Methode die des ganz-
heitlichen Verstehens. Nicht zufällig hat man seiner Lehre im angel-
sächsischen Bereich den Charakter einer Wissenschaft deswegen ab-
gesprochen 43 • Mit dieser Methode rückt Freud an die mit Dilthey be-
ginnende geisteswissenschaftliche Tradition heran"; und biologisch er-
kennt er: "Die intrauterine Existenz des Menschen erscheint gegen
die der meisten Tiere relativ verkürzt; er wird unfertiger als diese
in die Welt geschickt" 4,. Das geht bereits in die Richtung der späteren
bahnbrechenden Entdeckungen Portmanns über das extrauterine Früh-
jahr des Menschen und seine darauf aufbauende Anthropologie 46 •
a8 (Anm. 34), S. 409.
39 Freud sah es als Faktum an (Totem und Tabu S. 193); vgl. Ernst Speng-
ler, Das Gewissen bei Freud und Jung, 1964, S. 14.
40 Hierzu Guntram Knapp, Der antimetaphysische Mensch: Darwin, Marx,
Freud, 1973, S. 217.
41 Dazu der Verf. (Anm. 2), S. 251.

42 Vgl. Knapp (Anm. 40), S. 156, 196 ff.

43 Knapp (Anm. 40), S. 200 ff.

44 Hierzu Ricoeur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, 1969, S.383
(zit. nach Knapp S. 199): "Man muß Freud die gleichen Fragen stellen wie man
sie Dilthey, Max Weber, Portmann stellt, nicht solche, wie man sie einem
Physiker stellt."
45 Zitiert bei Knapp (Anm. 40), S. 179.
46 Portmann (Anm. 22), S. 570, 572, 578 ff., 589 f.
62 Richard Lange

Einen weiteren Ansatz zu einer gesamten Strafrechtswissenschaft


auf sozialpsychologischer Grundlage unter Ausklammerung des Frei-
heitsproblems muß man in Jakobs' kriminalpolitisch-dogmatisch be-
gründeter Konzeption des Schuldbegriffs sehen47 . Dieser ist funktio-
nal auf den Strafzweck der positiven Generalprävention - der Er-
haltung allgemeiner Normanerkennung - zu beziehen. "Der Täter ...
hat Schuld, ... wenn (er) für den Mangel (an dominanter rechtlicher
Motivation) zuständig ist. Diese Zuständigkeit ist gegeben, wenn es
an der Bereitschaft fehlt, sich nach der betroffenen Norm zu motivie-
ren und dieses Manko nicht so verständlich gemacht werden kann,
daß es das allgemeine Normvertrauen nicht tangiert." Im folgenden
wird Schuld auch "Rechtsuntreue" genannt und Rechtstreue als nor-
mativer Begriff bezeichnet48 • Jedoch: Zur Beschuldigung gehört eine
sozialpsychologische Plausibilität derart, daß eine allgemeine Bereit-
schaft besteht, in einer Situation, in der sich der Täter befindet, Ver-
antwortung zu akzeptieren (oder auf sie zu verzichten). Solche Bereit-
schaft besteht unabhängig von der Annahme der Willensfreiheit. Die-
ser Begriff hat keine soziale Dimension. Er ist nur nötig, wenn mit
dem Schuldurteil nicht nur ein sozialer Effekt erreicht werden soll,
sondern auch eine Abwertung des Individuums ("Vorwerfbarkeit")49.
Aber das Bewußtsein der - relativen - Freiheit des Willens ist der
allgemeinste und zentralste psychische Sachverhalt, den es überhaupt
gibt, auch wenn er gerade wegen seiner Selbstverständlichkeit nicht
ständig aktualisiert und reflektiert wird. Die heutige Anthropologie
bejaht diese Freiheit und damit die Verantwortlichkeit, wie noch zu
zeigen ist. Sozial psychologische Plausibilität und sozialer Effekt hin-
gegen sind maßstablose, schwimmende und in der heutigen Medien-
gesellschaft (Schelsky) beliebig manipulierbare Größen, opportunisti-
schen Einflüssen ausgesetzt. Ihnen entspräche ein Opportunitätsprin-
zip im Prozeßrecht, das aber nur im Recht der Ordnungswidrigkeiten
erträglich ist. Jakobs fordert (Re-)Normativierung der Begriffe. Das ist
vorbehaltlos zu begrüßen. Aber gerade der zentrale Schuldbegriff wird
durch das Element sozial psychologischer Plausibilität entnormativiert.
Damit sieht sich Jakobs den gleichen Einwänden ausgesetzt, die zu-
vor gegen Streng zu erheben waren.
Auch dem Schrifttum, das grundsätzlich das Schuldstrafrecht in sei-
ner gegenwärtigen Konzeption bejaht, können hier nur einzelne ak-
tuelle und möglichst repräsentative Arbeiten entnommen werden.

47 Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1983, S. 397 ff.


48 (Anm. 47), S. 385.
49 (Anm. 47), S. 397.
Neue Wege zu einer Gesamten Strafrechtswissenschaft 63

In seinem neuesten Buch: "Der Täter in seinen sozialen Bezügen"


zieht Göppinger zunächst die Quintessenz der schon seinem Lehrbuch
zugrunde liegenden Untersuchung von je 200 straffälligen zwanzig- bis
dreißigjährigen Häftlingen (H-Gruppe), im Vergleich mit 200 dem
Querschnitt der allgemeinen Bevölkerung entnommenen jungen Män-
nern derselben Altersgruppe (V-Probanden). Für das Verhalten der
H-Gruppe ergeben sich geradezu stereotyp folgende Verhaltenswei-
sen: aktives Sich-der-elterlichen-Kontrolle-Entziehen oder Ausnützen
fehlender Kontrolle; keine Ptlichtenübernahme; häufiger Wechsel des
Aufenthalts, frühzeitige Heimunterbringung mit wiederholtem Aus-
reißen, Milieuprovokation, schlechte Schulleistungen, Sonderschule,
Schulabbruch, Schwänzen; kein Interesse an Lehre und Ausbildung,
häufiger Wechsel des Arbeitsplatzes unter großen Intervallen, große
Schwierigkeiten mit Lehrherren und Arbeitskollegen; zunehmende
Ausweitung der Freizeit mit offenen ungeplanten Abläufen außer dem
Hause, durch Abenteuersuche, Alkohol, unkontrolliertes Geldausgeben
und gewalttätige Auseinandersetzungen gekennzeichnet; Ablehnung
der elterlichen Familie, Vielzahl oberflächlicher Kontakte zu "Kum-
peln" ohne wirkliche Bindung; häufiger Wechsel der Geschlechtspart-
nerinnen; geringe Bereitschaft zur Ehe mit ihren Bindungen und Ge-
meinsamkeiten.
Die V -Gruppe, deren Angehörige keineswegs alle gänzlich unbestraft
waren, wies in allen diesen Bereichen das gegenteilige Verhalten auf.
Zur H-Gruppe decken sich Göppingers Ergebnisse bis zur völligen
Kongruenz mit dem Bilde, das sich in etwa dreißigjähriger Zusammen-
arbeit des Verfassers mit Psychiatern, Gerichtsmedizinern und Psycho-
logen immer wieder ergab.
Die umfassenden Feststellungen Göppingers veranschaulichen, wie
fragwürdig jene "heute (noch) vorherrschenden Theorien" sind, "die
für Kriminalität gesellschaftliche Umstände verantwortlich machen,
sei es, daß Kriminalität als Auswirkung von bestimmten Gesellschafts-
strukturen oder daß sie als Folge von sozialer Reaktion angesehen
wird"50. Dahingestellt bleiben muß an dieser Stelle, wie weit die ste-
reotype Einstellung in der H-Gruppe, anderen, insbesondere der Fa-
milie oder der Gesellschaft, die Schuld am eigenen Versagen anzula-
sten, durch die Massenmedien hervorgerufen oder verstärkt worden
ist.
Ein wesentliches erstes Ergebnis von Göppingers Untersuchung ist
der Nachweis der "offensichtlichen Unrichtigkeit" des labeling ap-
proach-Ansatzes.

DO Göppinger, Der Täter in seinen sozialen Bezügen, 1983, S. 3.


64 Richard Lange

Schon in der Prämisse der Gleichverteilung der Kriminalität zeigte


sich, weil Häftlinge auch hinsichtlich Schwere und Häufigkeit der er-
fragten Delinquenz durchweg schwerer belastet sind als die Durch-
schnittspopulation, das Fehlerhafte dieses Ansatzes. Das wies auch die
Göppingers Forschungen ergänzende Studie von Schöch 51 nach.
Ausgangspunkt von Göppingers Untersuchung war ein gravieren-
des Mißverhältnis von kriminalistischen Programmen und erfahrungs-
wissenschaftlieh gesicherter Kenntnis, ein Urteil, das weitgehend für
die Kriminologie zutrifft, ebenso wie das vom "Übergewicht rechts-
und kriminal soziologischer Theorien". Der Zugang zum Täter in sei-
ner Persönlichkeit scheint oftmals durch die Methoden der "empiri-
schen Sozialforschung" geradezu verstellt. Göppingers Untersuchungen
ergeben eine spezifische Relevanz der Befunde über die Person, denen
gegenüber die üblichen Fragestellungen nach Schicht und Sozialisation
relativ unspezifisch waren, ebenso wie die gängigen testpsychologisch
und psychopathologisch erfaßbaren Kriterien52 •
In den hieraus gezogenen Folgerungen trennt sich Göppingers Un-
tersuchung von denen der multifaktorellen Studien, die, wie die der
Gluecks, ein Mosaikbild der Persönlichkeit zu bilden versuchen. Aber
die Aussage, ein Merkmal sei überzufällig kriminogen, kann irrefüh-
rend sein, wenn es sich je nach sonstiger individueller Lage grund-
verschieden auswirkt53 •
Für diese ganz entscheidende Erkenntnis erbringt Göppinger über
sein Lehrbuch weit hinausgehende Belege; nicht in den für Krimi-
nelle stereotypen Verhaltensweisen, sondern bei besonders liegenden
Fällen. So fanden sich zwar psychopathische und neurotische Persön-
lichkeiten nur vereinzelt, die letzteren jedoch ausschließlich in der
Vergleichsgruppe, während bei keinem der Häftlinge ein erlebnisbe-
dingtes Delikt mit nachfolgender Delinquenz vorlag. Ein besonders
schwerwiegendes Erlebnis (Tod des Vaters u. a.) führte bei Häftlingen
dazu, daß sie nicht mehr arbeiteten, sich herumtrieben, tranken,
schließlich in die Straffälligkeit abglitten, während bei der Vergleichs-
gruppe Depressionen und Zurückgezogenheit, jedoch kein Einbruch
im Leistungsbereich die Folge war.
Göppinger erteilt daher dem deterministischen Ursachenbegriff eine
Absage: "Der kausale Regreß muß dort enden, wo die spezifisch kri-
minologische Bedeutung einzelner Fakten sich nicht mehr fassen

51 (Anm.50), S. 7 f. - Eingehende Kritik des labeling approach bereits bei


Kaiser, Lange-Festschrift, 1976, S. 521 ff.
52 Göppinger (Anm. 50), S. 251 ff.

58 (Anm. 50), S. 179.


Neue Wege zu einer Gesamten Strafrechtswissenschaft 65

läßt"54. An die Stelle der Addition von Faktoren tritt die krimino-
valente Konstellation 55 als "sinnvoller Zusammenhang mit Straffäl-
ligkeit ". Wesentlich dafür sind vor allem die "schwer zu fassenden, mit
der spezifischen Lebensweise verbundenen ,Haltungen' ".
Die Querschnittanalyse muß durch die Frage nach der Tat im Le-
benslängsschnitt ergänzt werden. Besonders anschaulich und eindrucks-
voll waren hier "Zwillings"paare von H- und V-Probanden. In zahl-
reichen Fällen waren beide durch gleichschweres Flüchtlings- und
Vertriebenenschicksal, durch Schwierigkeiten im Elternhaus, durch
körperliche Benachteiligungen im Leistungsbereich oder durch Ge-
fährdung im Freizeitbereich in gleicher Weise belastet. Bei Angehö-
rigen der H-Gruppe führte dies zur Kriminalität, während die der
Vergleichsgruppe sozial festen Fuß faßten oder behielten. Überall
"drängte sich die Überlegung auf, ob die kausale Bedeutung äußerer
Fakten ... nicht letztlich relativiert werden muß zugunsten ,innerer
Fakten', wie z. B. grundlegender Haltungen im Zusammenhang mit
bestimmten Relevanzbezügen und einer entsprechenden Wertorientie-
rung"56. Hiermit erschließen sich "Grundintentionen einer Persönlich-
keit" und ihr "Wertgefüge"; beides ist überaus schwer zu erforschen,
durch keine allgemeinen Erfahrungsregeln zu erfassen, aber von her-
vorragender Bedeutung für Prophylaxe, Prognose und eventuelle
Maßnahmen 57 • So kommt Göppinger der Sache nach, ohne es beim
Namen zu nennen, zu einer anthropologischen Ganzheitsbetrachtung,
das heißt vor allem, daß letztlich jeder aus seiner eigenen und ein-
maligen Persönlichkeit heraus beurteilt werden muß. Zugleich wird
die unüberschreitbare Grenze sichtbar, vor der hier die Wissenschaft
steht: individuum est ineffabile. Wie die Naturwissenschaft ist auch
die Wissenschaft vom Menschen an der Grenze ihrer Objektivierbar-
keit angekommen.
Eine bewußte Auseinandersetzung mit dem Strafrecht ("Form und
Inhalt im Strafrecht") unternimmt der Psychiater Luthe 58 zur Klärung
der Stellung des psychiatrischen Sachverständigen: ihn interessiert
der psychopathologische Zusammenhang zwischen dem Verlust der in-
neren Freiheit und ganz bestimmten Abnormitäten59 . Dabei geht es
um die Frage der menschlichen Selbstbestimmbarkeit. Erkennbar ist
jedoch nur das naturgesetzlich Determinierte. Freiheit ist das Nicht-

54 (Anm. 50), S. 183 f.


55 (Anm. 50), S. 199 ff.
56 (Anm. 50), S. 136 f., 224, 242 ff.
57 (Anm. 50), S. 242 ff.

58 Verantwortlichkeit, Persönlichkeit und Erleben, 1981; zustimmend und


weiterführend Witter, Leferenz-Festschrift, S. 445 ff.
59 (Anm. 58), S. 5 f.

5 Festschrift für H.-H. Jescheck


66 Richard Lange

Erkennbare (Sachsse). Die soeben bei Göppinger sichtbar gewordene


Grenze der Erkenntnismöglichkeiten wird hier offen angesprochen.
Daß Freiheit im Bewußtsein vorhanden ist, genügt jedoch nach Luthe:
mehr kann man auch von den Erfahrungsgegenständen der Naturwissen-
senschaft nicht sagen. Freiheit und Kausalgesetzlichkeit stehen sich in
der Subjekt-Objekt-Spaltung, in der Bipolarität des Bewußtseins nicht
wirkungslos gegenüber, sondern sie artikulieren miteinander. Rätsel-
hafterweise wird im menschlichen Handeln eine sehr enge Verbindung
zwischen beiden Polen offenbar. Die Evidenz der alltäglichen Erfah-
rung spricht so sehr für die naive Deutung, nach der jeder in seinem
privaten Bewußtsein die davon völlig unabhängige Welt spiegelt, daß
das Argument ihrer logischen Inkonsequenz verblaßt60 • Doch ist die
einzige uns zugängliche Wirklichkeit, wie man seit Kant weiß, nicht
an einen "Außenraum" , sondern an das Bewußtsein gebunden. Bei
diesem muß es sich um eine die Individuen übergreifende Gemein-
samkeit handeln. Daß "Freiheit" innerhalb des Bewußtseins nicht zur
Gegenstandswelt in ihrer kausalen Geschlossenheit gehört und folglich
auch nicht zu "objektivieren", nachzuweisen ist, bedeutet keinesfalls,
daß es keine gültige Begründung für die rechtliche Annahme von
Verantwortungsfähigkeit gäbe. Die Begründung für diese Annahme
liegt im Begriff der Freiheit als dem in der Wesensverschiedenheit von
Subjekt und Objekt gegebenen konstituierenden Moment des Bewußt-
seins61 •
Der Sachverständige, der wie der orthodoxe Psychoanalytiker
auf grund einer vorwissenschaftlichen Entscheidung davon ausgeht, daß
es eine Fähigkeit zur Selbstbestimmung nicht gibt, hat sich so festge-
legt, daß befürchtet werden muß, er sei kein unbefangener Sachver-
ständiger. Wer die Verantwortlichkeitsbeurteilung von Gesichtspunk-
ten abhängig macht, die - wie die Therapie - überhaupt nichts mit
dem Schuldvorwurf zu tun haben, ist kein geeigneter Sachverstän-
diger für das GerichtS2 •
Aussagen über Wirklichkeit lassen sich nicht verifizieren. Absolute
Gewißheit bleibt uns versagt 63 • Der Begriff der Freiheit ist indessen
insofern empirisch-rational, als er falsifizierbar ist. Diese Methode ist
ein völlig ausreichendes Erkenntnismittel, mit dem der indetermini-
stische Sachverständige seiner Funktion gerecht werden kann. Aus
deterministischer Sicht ist es konsequent zu fordern, das Schuldstraf-
recht mit seinem Sühnecharakter durch ein Maßregelrecht zu ersetzen.

60 (Anm. 58), S. 6 ff.


61 (Anm. 58), S. 8 f.
62 (Anm. 58), S. 10.
6S (Anm. 58), S. 10 f.
Neue Wege zu einer Gesamten Strafrechtswissenschaft 67

Dadurch würde jedoch die Repression noch erheblich verschärft wer-


den (Behandlungszwang, auch aus prophylaktischen Gründen), aber
die Gesellschaft ist so wenig Selbstzweck wie es ein subjektloses ge-
sellschaftliches Bewußtsein gibt 64 •
Luthes Hinweis auf die Fragwürdigkeit sozialpsychologischer Be-
gründungen des Strafrechts ist angesichts der Versuche von Jakobs,
Streng und anderen höchst aktuell. Der Grundgedanke dieser Schul-
richtungen führt im Grunde zu einer Rückkehr zu Liszt unter Einbet-
tung psychoanalytischer und sozialwissenschaftlicher Richtungen, bei
Jakobs z. B. der rechtssoziologischen Theorie Luhmanns65 • Kohlrausch
hat, als Liszt-Schüler, die Gründung der Dogmatik auf die determini-
stisch gedeuteten Strafzwecke erwogen, was dann ein sozialpsycholo-
gisches Faktum als Fundament erfordert hätte. Da er jedoch zugleich
Kantianer war, trug er zwei Seelen in seiner Brust66 • Deshalb hat er
seine überlegungen nicht zu einem System verdichtet. Seine Äuße-
rung von der Schuld als "staatsnotwendiger Fiktion", auf die sich
Jakobs bezieht67 , beruht auf seinem wie bei Liszt naturwissenschaft-
lich begründeten Determinismus. Sie ist heute schon durch die Ent-
wicklung der geisteswissenschaftlichen Methode überholt.
Soll die Psychiatrie auf seins wissenschaftlich objektiver Grundlage
Aussagen über die Verantwortungsfähigkeit machen, dann ist dies
nach Luthe nur mit Hilfe der Falsifikationsmethode denkbar ... Da-
mit zeichnet sich die Lösung eines Grundproblems des Schuldstraf-
rechts ab, ohne daß die fundamentale Trennung zwischen der seins-
wissenschaftlichen Zuständigkeit des Sachverständigen und der wert-
wissenschaftlichen des Gerichts in Frage gestellt würde. Die Psychiatrie
folgt dem Legalitätsprinzip des Strafrechts, wenn sie von den Bewußt-
seinsinhalten absieht und sich statt dessen an der überindividuell
gültigen Bewußtseinsstruktur orientiert. Die Methode des Verstehens
(z. B. in der Psychoanalyse angewandt) läßt sich nicht nachprüfen,
während die Methode des Erklärens überprüfbar ist 68 •
Diese methodologische Konfrontation wirkt jedoch einseitig und
überzogen, weshalb Luthe sie gleich danach auch selbst modifiziert.
Sie ist sicher nicht im Sinne seines Lehrers Witter, der umgekehrt
selbst bei den endogenen Psychosen, in denen die "klassische" Psychia-
trie noch immer nach somatischen Begründungen sucht, die psycholo-
gische Methode der Nachvollziehbarkeit, also Verstehbarkeit, des Sinn-

64 (Anm. 58), S. 11 f.
65 (Anm. 47), S. 7.
66 Dazu der Verf., ZStW 86 (1974), S. 1.
67 (Anm. 47), S. 398.
68 (Anm. 58), S. 17,26.

s'
68 Richard Lange

zusammenhanges und seines Verlustes als Kriterium der endogenen


Psychose ansieht69 • Luthes Kriterium gilt zweifelsfrei nur für die Fälle
feststellbarer hirnorganischer Schädigung. Für die übrigen Fälle wird
es bei der Anerkennung einer "fließenden Grenze", die er methodolo-
gisch ablehnt, bis zu gewissem Grade bleiben müssen. Den Begriff der
Zumutbarkeit, innerhalb dessen er inhaltliche Gesichtspunkte zuläßt,
beschränkt er auf "besondere Inhalte eines formal ungestörten Erle-
bens bei einem in einer Ausnahmesituation befindlichen Menschen"70,
wie den Notstand des § 35 StGB und den Notwehrexzeß, schließt also wei-
tere seelische Tatbestände des § 20 StGB aus. Seine schneidende Ent-
gegensetzung von Zurechenbarkeit und Zumutbarkeit kann jedoch
dazu beitragen, daß diese, insbesondere die Fälle neurotischer oder
psychopathischer Persönlichkeiten, hier wirklich nur als seltene Aus-
nahmefälle behandelt werden, was praktisch auf die inhaltliche Dif-
ferenzierung zwischen § 20 und § 21 hinausläuft, die die Große Straf-
rechtskommission beschlossen hatte und für die sich auch de lege lata
Witter ausspricht71 • Damit wäre der Weg offen, diese Fälle in § 21
unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit zu erfassen.
Auch Conrads Entwurf, dem sich Luthe weitgehend anschließt, ist
nicht ohne die geisteswissenschaftliche Methode des Verstehens zu
erfassen. Er ist, wie Luthe selbst ausführt, der Gestalt- und Ganz-
heitspsychologie verpflichtet, die ihrerseits die kausalmechanistische
Assoziations- und Elementen-Psychologie zu überwinden versuchte,
weil das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist. So ist die Me-
lodie als Bewußtseinsstruktur mehr als die Summe ihrer Töne. Die
Geisteskrankheit ist eine Gestaltabweichung, sie stellt die Form des
Erlebens dar, die nach krankheitsbedingtem Verlust der Ganzheit
mit deren stabilisierendem Erlebnisprinzip noch möglich ist. Es gilt,
die überindividuellen und formalen Gesetzlichkeiten der Erlebnisver-
änderung zu erkennen. Strukturverlust ist Wirklichkeitsverlust und
Freiheitsverlust72 . In diesem Sinne machte Ey die "Pathologie der Frei-
heit" zum eigentlichen Gegenstand der Psychiatrie. Die Krankheit
äußert sich nur "negativ" im Verlust des Subjekts und/oder seiner
Objektwelt im Bewußtsein und in den Ausfällen von psychischen Lei-
stungen, die Einheitlichkeit und Stabilität des Erlebens und seinen
Wirklichkeitsstatus gewährleisten. Bash und - weitergehend - Wit-
teT führten zusätzlich die formalen Kategorien "Entdifferenzierung"
= Abbau und "Desintegration" = Zerfall ein. Entscheidend sind da-
bei nicht körperliche Ursachen, sondern die psychopathologische Qua-

69 Lange-Festschrift, 1976, S. 726 f.


70 (Anm. 58), S. 21.
71 (Anm. 69), S. 734 f.
72 (Anm. 58), S. 34 f.
Neue Wege zu einer Gesamten Strafrechtswissenschaft 69

lität der Störung73 . Die Idee einer strukturierenden Aktivität des In-
dividuums tritt der tabula-rasa-Theorie entgegen, die heute im Zeit-
alter der Soziologie noch vorherrscht und von der aus die Gesellschaft
für alles "verantwortlich", das Individuum gerade noch Träger von
Engrammen ist74 .
Diese Gegenüberstellung beleuchtet die außerordentliche Bedeutung
der von Luthe vorgeführten Wissenschaftsrichtungen und seiner eige-
nen Theorie für die Kriminologie, der alle diese Gedankengänge bis-
her fremd sind. Aber auch psychiatrische Grundbegriffe werden um-
gekehrf 5 • Nicht mehr: die psychische Krankheit hebt die Schuldfähig-
keit auf, sondern: was die Schuldfähigkeit aufhebt, ist psychische
Krankheit. Das wird an Fallbeispielen dargetan76 .
In seinem Nachwort 77 weist Witter eindrucksvoll darauf hin, daß
Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit durch die Ausbreitung einer
neuen Mythologie - der Psychoanalyse - gefährdet werden und wie
sehr durch die unsachgemäße Begleitdiskussion von Prozessen in den
Massenmedien die im Recht um sich greifende Verunsicherung noch
gesteigert wird. Die Kompetenz des Sachverständigen muß daher auf
wirklich wissenschaftlich begründbare Aussagen beschränkt werden.
An entscheidender Stelle, wir sahen es, beruft sich Luthe auf Pop-
pers Falsifikationsmethode. Für die Bahnung neuer Wege in der Kri-
minologie ist jedoch noch weit bedeutsamer Poppers Entwurf des
Menschen und seiner Welt.
Bereits der Titel seines mit dem Gehirnforscher Eccles gemeinsam
erarbeiteten Buches "Das Ich und sein Gehirn"7s verrät alles: Das Ge-
hirn gehört dem Ich und nicht umgekehrt. Das aktive psychophysische
Ich ist für Popper der Programmierer des Gehirns, das sein Instru-
ment ist. Die Seele ist der Steuermann (Plato). Sie ist nicht, wie Hume
und William J ames behaupten, die Gesamtsumme oder das Bündel
oder der Strom ihrer Erlebnisse: das hieße Passivität7u . Das Ich spielt
irgendwie auf dem Gehirn wie ein Pianist auf dem Klavier oder der
Fahrer auf den Kontrollinstrumenten des Autos 80 . Ecc1es stimmt da-
mit überein81 . Doch betonen beide die Interaktion oder Wechselwir-

73 (Anm. 58), S. 35 ff.


74 (Anm. 58), S. 41.
75 (Anm. 58), S. 57.
76 (Anm. 58), S. 57 ff.
77 (Anm. 58), S. 71 ff.
78 The Self and Its Brain, 1977, deutsch 1982.
79 (Anm. 78), S. 156 f.
80 (Anm. 78), S. 585.
81 (Anm. 78), S. 585, 644.
70 Richard Lange

kung des Ich mit der "Maschinerie des Gehirns" 82. Mit Kant sagt Pop-
per: Das "moralische Gesetz" betrifft unser Ich und damit die mensch-
liche Freiheit. Menschen sind keine Maschinen83 • Das mußte gesagt
werden, weil der Behaviorismus den Menschen durch ein Ratten-
und Maschinenmodell darzustellen versucht84 und weil eine biolo-
gistische Auffassung unsere Aktivitäten als vom Gehirn selbst aus-
gelöst sieht85 • Auch und gerade moderne Forschungsrichtungen sind
also über de La Mettrie nicht hinausgekommen, ganz zu schweigen
davon, daß Freud bis in seine letzte Zeit hinein der Seele eine
chemische Existenz zuzuschreiben versuchte8!. Besonders eindrucks-
voll faßt der Gehirnforscher Eccles die Konsequenzen der dualistischen
Leib-Seele-Hypothese87 zusammen. Ihre Hauptkomponente ist, daß
dem selbstbewußten Geist Vorrang zugesprochen wird. Er ist aktiv
damit beschäftigt, nach Hirnereignissen zu suchen, die gegenwärtig
in seinem Interesse liegen: die Operationen der Aufmerksamkeit. Doch
er verkörpert auch das integrierende Agens, indem er die Einheit der
bewußten Erfahrung aus der Vielfalt der Hirnereignisse aufbaut. So-
gar noch wichtiger ist, daß ihm die Rolle zugeteilt ist, Gehirnereig-
nisse gemäß seinem Interesse oder Wunsch aktiv zu modifizieren, und
die Abtastaktion, mittels derer er sucht, kann als eine aktive Rolle
bei der Selektion spielend betrachtet werden88 • Im abschließenden
Dialog XII der beiden Forscher ist es Eccles, der die Vorrangigkeit
des Selbst über das Gehirn betont, während Popper hier an die
Grenze der Erklärung erinnert: Wir können niemals Erklärungen
beibringen, die im Sinne einer Letzt-Erklärung ganz befriedigend
sind89 • Insbesondere der Evolutionstheorie und ihrer These von der
natürlichen Auslese steht er ziemlich kritisch gegenüber 9o • In gewis-
sem Sinne könne man sagen, daß sich der Mensch durch die Schaffung
der darstellenden Sprache selbst geschaffen habe 91 •
Damit schließt Popper den Kreis seines eigenen Entwurfs der
menschlichen WeltV2 •

(Anm. 78), S. 31 ff., 571, 574 ff.


82

(Anm. 78), S. 21 ff.


83
84 Dazu der Verf. (Anm. 2), S. 227, 319, 341.

85 Vgl. Ernst E. Hirsch, JZ 1982, S. 41 ff.


88 Dazu der Verf., ZStW 93 (1981), S. 177.
87 (Anm. 78), S. 193.

88 S. 437 ff., 449 ff. übereinstimmend Seitelberger, Das Menschenbild der


heutigen Hirnforschung, Universitas, 1983, S. 259 ff.
89 (Anm. 78), S. 661, vgl. auch S. 652 ff.
90 (Anm. 78), S. 664 f.

91 (Anm. 78), S. 665, vgl. S. 85 ff.


92 (Anm. 78), S. 61 ff.
Neue Wege zu einer Gesamten Strafrechtswissenschaft 71

Unsere Wirklichkeit besteht nicht nur in Materie. Diese nennt Pop-


per die Welt 1. Lebende Wesen sind materielle Körper und damit
Prozesse oder offene Systeme von Molekülen. Daneben gibt es als
Welt 2 psychische Zustände einschließlich der Bewußtseinszustände;
ihr Verhältnis zur Welt 1 ist als das Leib-Seele-Problem bekannt.
Doch es gibt noch eine dritte Welt, die Welt der Inhalte des Den-
kens und der Erzeugnisse des menschlichen Geistes. Diese haben einen
abstrakten Charakter und stehen in logischen Beziehungen93 •
Eine von Poppers Hauptthesen ist, daß Gegenstände der Welt 3
wirklich werden können. Sie können die Menschen dazu veranlassen,
andere Dinge der Welt 3 zu schaffen und dadurch auf Welt 1 ein zu-
wirken94 • Die Wechselwirkung mit Welt 1 ist für ihn entscheidend da-
für, etwas wirklich zu nennen.
Daß es sich bei den Erzeugnissen des menschlichen Geistes nicht
um einen unwirklichen "überbau", sondern um "Zonen des Wirk-
lichen" (Theodor Litt) handelt, ist schon früher von den verschieden-
sten Ausgangspunkten her erkannt worden95 • Neu ist bei Popper und
Eccles der Gesamtentwurf der menschlichen Wirklichkeit in drei Wel-
ten und ihrem Verhältnis zueinander, seine ontologische Evidenz und
seine Bestätigung durch die Hirnforschung, in der Ecc1es, wie gezeigt
wird, keineswegs als Außenseiter dasteht. Am Beispiel des Zahlen-
systems, das sich nicht als Konstruktion oder Erfindung des Menschen,
sondern als Gegenstand einer Entdeckung erweist, demonstriert Pop-
per seinen Entwurf98 • Er konfrontiert ihn mit der behavioristischen -
für diese Richtung zwingenden - Meinung, die Wahrheit 2 x 2 = 4
müsse durch Konvention, eben durch Lehren, erklärt werden. Andere
Gegenstände der Welt 3 sind die der Kunst, ob materiell niedergelegt
oder immaterie1l97 • In eingehender Auseinandersetzung mit Materia-
lismus, Empirismus, Pragmatismus und Behaviorismus98 begründen
beide Forscher ihren Entwurf.
Entschieden spricht sich gerade Eccles gegen den Determinismus
aus, der das Ende aller Diskussion und Philosophie ist 99 • Indeter-
minismus ist notwendig, doch nicht ausreichend, menschliche Frei-
heit und speziell Kreativität zu berücksichtigen10o • Popper seinerseits

93 (Anm. 78), S. 63 ff.


94 (Anm. 78), S. 64.
95 Darüber der Verj. (Anm. 2), S. 46 f.
96 (Anm. 78), S. 66 ff., 645 f.
97 (Anm. 78), S. 64 f.
98 (Anm. 78), S. 78 ff., 643 f., 649 f., 655.
99 (Anm. 78), S. 644.
100 (Anm. 78), S. 633, 642.
72 Richard Lange

sieht einen fundamentalen Indeterminismus des physischen Univer-


sums lOI . Gegen den Determinismus im Bereich der Geisteswissenschaf-
ten wendet er sich im Zusammenhang mit einer Kritik des Materialis-
mus 102 • Das Ich ist der einzige aktiv Handelnde im Universum. Ein
Automat kann nicht aktiv sein103 •
Im Gegensatz zu dem Anspruch der Wissenschaftsrichtungen, denen
ihre Kritik gilt, gelangen Popper und Eccles, wie wir sahen, zu der
These, daß es Letzterklärungen nicht gibt. "Evolution kann man be-
stimmt nicht in irgendeinem Sinne als Letzterklärung nehmen. Wir
müssen uns mit der Tatsache abfinden, daß wir in einer Welt leben,
in der fast alles, was wirklich bedeutend ist, im wesentlichen uner-
klärt bleibt" 104.
Die heute einflußreichsten Wissenschaften, von denen hier kritisch
die Rede war, treiben einen beispiellosen Autoritätenkult. Mit Recht
nennt Guntram Knappl05 als die drei Leitfiguren unseres Zeitalters
Darwin, Marx und Freud, also drei dem 19. Jahrhundert verhaftete
Forschergestalten. Aber hinter Marx wird nicht nur Hegel, sondern
auch Rousseau sichtbar. Daß der Mensch von Natur gut und der Kapi-
talist böse sei, dieser doppelte revolutionäre Antrieb führt auf Rous-
seau zurücklOG. Eine weiter fortwirkende Autorität ist de La Mettne l07 •
Kritik an Darwin wird in jüngster Zeit laut, wie wir sehen werden.
Freuds Selbstverständnis steht und fällt mit Darwin: er selbst nannte
sich einen Darwinisten, sein Freund und Biograph Jones ehrte ihn als
den "Darwin des Geistes" .
Die Naturwissenschaften haben sich von den überkommenen An-
schauungen befreit und sind zu dem radikal neuen Weltbild des 20.
Jahrhunderts gelangt. In den Grundlagenwissenschaften vom Men-
schen in seiner Gesellschaft und seiner Welt, die noch lange in den
Bindungen des 18. und 19. Jahrhunderts befangen waren, ist erst ein
zögernder Aufbruch zur anthropologischen Ganzheitsbetrachtung und
zu einer dem Menschen angemesenen Methode zu spüren. Die Kri-
minologie hat davon noch kaum Notiz genommen. Doch zeigen in
jüngster Zeit grundlegende Entwürfe den Weg, die unerträglichen
Widersprüche zwischen Strafrecht und Kriminologie zu überwinden.
Nur die wichtigsten konnten hier dargestellt werden.
101 (Anm. 78), S. 56 f., 60.
102 (Anm. 78), S. 105 f.
103 (Anm. 78), S. 36, 65, 635.
104 (Anm. 78), S. 652, vgl. Anm. 87.
105 (Anm. 40), S. 14 ff.
108 Vgl. Heinrich Weinstock, Die Tragödie des Humanismus, 4. Auf!. 1960,
S.283.
107 Dazu PopperlEccles (Anm.78), S.22, 27, 79, 254 f., 267.
Neue Wege zu einer Gesamten Strafrechtswissenschaft 73

Allerdings ist zu unterscheiden: in den Lehrbüchern von Göppin-


ger, Bresser, Kaiser, Schneider u. a. besitzen wir eine vorzügliche phä-
nomenologische Kriminologie. In der Ätiologie dagegen dominiert bei
uns unter amerikanischem Einfluß die Milieutheorie und damit die
Illusion, daß der Mensch gut, und die Fiktion, daß alle Menschen gleich
seien. Die Alchimisten der Natur, die aus Blei Gold machen wollten,
fanden das Porzellan. Die Alchimisten des Menschen, die aus jedem
beliebig alles machen wollen - nur ein de Gaulle dauert etwas län-
ger108 - , stehen der Erkenntnis dessen, was am Menschen erkennbar
ist, und damit der Bekämpfung des Verbrechens im Wege. Ignoriert
wird nicht nur Kants Wort von der Einwohnung des bösen Prinzips
neben dem guten, sondern, jenseits aller Moralität, die anthropolo-
gische Einsicht unserer Tage in das Gebrochene, Konfliktträchtige,
Exzentrische, Liquide des menschlichen Wesens109 • "Die Erziehungs-
wissenschaftler haben herausgefunden, daß ein Kind nicht begabt ist,
sondern durch ein entsprechendes Lernangebot begabt wird", schrieb
Anfang der siebziger Jahre eine ehemalige Staatssekretärin des Wis-
senschaftsministeriums. In der ernstzunehmenden Pädagogik ist solch
offensichtlicher Unsinn längst überwunden, in der Kriminologie wirkt
er in der Vorstellung sozialer Chancenlosigkeit als alleiniger Ursache
des Verbrechens und in Resozialisierungsutopien noch immer nach,
bis eklatante Mißerfolge zum plötzlichen, dann allzu scharfen Um-
schwung des Pendels führen, wie jetzt in USA.
Gegenüber solchen dem 18. und 19. Jahrhundert verhafteten Vor-
stellungen vom Menschen als einem total determinierten und beliebig
determinierbaren Objekt bedeutet das Werk von Popper/Eccles den
Durchbruch zum 20. Jahrhundert. Methodologisch war er bereits durch
Dilthey angebahnt, inhaltlich durch die Sprachforschung, die das
Schöpferische des menschlichen Geistes an den Tag brachte; auf diese
stützte auch Popper als Schüler von KarZ BühZer seinen ontologischen
Entwurf.
Allerdings fehlt bei ihnen jede ausdrückliche Aussage über das Recht.
Indessen erinnert Peter Ho/stätter, ein anderer Schüler BühZers, dar-
an, daß dieser neben der Sprache das Recht - und die Wirtschaft -
als die Gebilde des objektiven Geistes nannte, in die sich das mensch-
liche Erleben und Verhalten einfügt llo • Der Ethnologe Malinowski,

108 Dazu Ludwig Freund, Herbert-Kraus-Festschrift, 1964, S. 489 ff., vgl.


der Ver!. (Anm. 2), S. 227, 319.
109 Hierzu der Ver!. (Anm.2), S.290. Weiteres bei Michael Landmann, Der
Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur, 1961, S. 27.
110 Individuum und Gesellschaft, 1973, S.27. - Daß Sprache und Recht
eng zusammengehören, zeigt Groß!eld, JZ 1984, S. 1 ff. Wie eng, zeigt sich in
den Versuchen, durch semantische Manipulationen das Recht zu unterlaufen.
Rechtlich gebotenes Verhalten wird für FU-Lehrer zu "autoritärem Legalis-
74 Richard Lange

auf den sich Popper vielfach bezieht, hat bei den Melanesiern das
Recht als eigenes, vom Religiösen streng geschiedenes Gebilde erlebt.
Für die Historikerin Ricarda Huch ist das Recht ein Urphänomen des
Menschen.
Die heutige Situation der "gesamten Strafrechtswissenschaft" ist
paradox: Die Rechtsdogmatik anerkennt in maßgeblichen Vertretern
die Anthropologie. Als einer der ersten spricht J escheck 1957 vom
Bilde des Menschen in der Strafrechtsreformlll . Die Kriminologie, die
Wissenschaft vom Menschen im Konflikt mit seiner im Staat verfaß-
ten Gesellschaft, nimmt von der Anthropologie so gut wie keine No-
tiz. Das wird naturgemäß in der Anthropologie beklagt; so von Wür-
tenberger mit Blick auf die Kulturanthropologie l12• Auch er sieht einen
Schwerpunkt für die anthropologische Forschung in der Sprachphilo-
sophie.
Bei seinem überblick über die kriminologische Forschung bei uns,
der sich durch Reserve gegenüber der unkritischen übernahme ame-
rikanischer Forschungsrichtungen auszeichnet, stellt Kaiser m ein -
inzwischen verstärktes - Eindringen der Soziologie fest, dessen Pro-
blematik hier zu behandeln warI". Auch der Umbruch in der Psycho-
logie, den Kaiser registriert, dauert offenbar an. Wenn man der Ein-
führung von Erwin Roth ll5 folgt, so herrscht hier Neopositivismus 1l8 ,
die naturwissenschaftliche Methode des Messens ll7 , und ihr Gegen-
stand beschränkt sich auf das Verhalten" 8 • Sie ist also eine Psychologie

mus" (FAZ v. 31.1.1984). Aus Nötigung wird "gewaltfreier Widerstand".


"Ziviler Ungehorsam" ruft "das Volk in Gestalt seiner Bürger, auch einzel-
ner Bürger" auf, gegen "böse, tödliche Entscheidungen" auch der Parla-
mente, "die Rolle des Souveräns zu übernehmen" (Habermas, in: Ziviler
Ungehorsam im Rechtsstaat. Hrsg. von Peter Glotz, 1983, S. 29 ff. und nach
F AZ vom 24. 11. 1983). Verletzungen des Rechts, auch des Strafrechts, heißen
"Regel-, Spielregelverletzungen" . Der Leiter des Schleswig-Holsteinischen
Verfassungsschutzamts berichtet: "Die Kampagnen ... haben dazu geführt, daß
ein wesentlicher Teil der Bevölkerung Mittel des zivilen Ungehorsams gegen
rechtsstaatliche ... Entscheidungen der Parlamente für legitim hält (FAZ v.
10.12.1983). Gegen jene Manipulationen mit Entschiedenheit Wassennann
(F AZ v. 24. 1. 1984).
111 Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, 198/199.
112 über Rechtsanthropologie, Festschrift für Erik Wolf, 1972, S. 10.

113 ZStW 83 (1971), S. 1096 f., 1104 f.


IU Ernst E. Hirsch, Das Recht im sozialen Ordungsgefüge, 1966, distan-
ziert sich vom Determinismus der Soziologie (S. 81). Mit der Abwendung vom
"Formalbegriff" der Gerechtigkeit (S.48, 60) verfehlt er jedoch seinerseits das
Wesen des Rechts.
115 Persönlichkeitspsychologie, 3. Aufl. 1969.
118 (Anm. 115), S. 120. Scharf gegen das "Messen des Unmeßbaren" Pfohl,
zit. nach Rauch (Anm.lO), S. 387.
117 (Anm. 115), S. 14 ff., 24 ff.

118 (Anm. 115), S. 7.


Neue Wege zu einer Gesamten Strafrechtswissenschaft 75

ohne Seele119 , und das gerade als Persönlichkeitspsychologie, von der


man am ehesten eine ganzheitliche Betrachtung erwarten sollte. Eben
hier werden die Gestalttheorie l20 und Diltheys verstehende Methode l21
über Bord geworfen.
Handelt es sich hier, soweit die neuen Aspekte der Anthropologie
ignoriert werden, um bloße Unergiebigkeit für die Kriminologie, so
erleben wir bei den Versuchen amerikanischer Milieutheoretiker, die
Alleinherrschaft ihrer Lehre zu behaupten, eine Fortsetzung des wis-
senschaftlichen Streits mit anderen Mitteln. Hervorragende Vertre-
ter der Anlagetheorie sehen sich Diskriminierungen und Diffamie-
rungen durch ihre Kollegen und Mißhandlungen durch Studenten aus-
gesetzt122 , neuerdings zu Morddrohungen gesteigert gegenüber dem
Psychologen Bouchard. Dieser hat gemeinsam mit dem Psychologen
und Neurologen Lykken bisher 31 Paare eineiiger Zwillinge unter-
sucht, die von Geburt oder frühester Kindheit an getrennt aufgewach-
sen waren. Dennoch zeigte sich eine frappante Gleichheit ihrer Cha-
raktere und Lebensläufe bis hin zu ihren Vorlieben und den Vor-
namen, die sie ihren Kindern gaben, obwohl sie in keinerlei Verbin-
dung miteinander standen123 • Bei Zwillingen, die infolge Adoption in
grundverschiedenen Milieus aufgewachsen waren, bestätigten sich die
Ergebnisse Eysencks, wonach Adoptierte ihren leiblichen, nicht ihren
Erziehungseltern nachgeraten, unter neuem GesichtspunktlZ4 •
über der neuen Bestätigung der für die unvoreingenommene Le-
bensanschauung ohnehin selbstverständlichen Bedeutung von Erbe und
Anlage darf man jedoch nicht wieder in den Irrtum von Johannes
Lange verfallen, der 1929 aus seinen Untersuchungen krimineller
Zwillinge "Verbrechen als Schicksal" ableitete. Aus einem einzigen
Ei entwickelt, sind eineiige Zwillinge ein Mensch in doppelter Ge-
stalt. Das zeigt sich in der geistigen und seelischen Identität der Bou-
chardschen Zwillinge. Ob dieser doppelte Mensch total determiniert
ist oder nicht, bleibt im Rahmen des allgemeinen Determinismus-
streits, in dem sich eine Wende abzeichnetl!5.

119 (Anm. 115), S. 8, 31. Anders z. B. Ho/stätter (Anm. 110), S. 27.


120 (Anm. 115), S. 14 fl'. Das ergibt sich aus der Methodik. Popper (Anm. 78)
greift S. 122, 133, 142, 628 f. auf sie zurück; ebenso die kybernetische Be-
trachtungsweise in Psychologie und Psychiatrie, vgl. Watzlawick, Reproduk-
tion des Menschen, 1981, S. 174 fl'., 186 f.
121 (Anm. 115), S. 70.
122 Eingehend dazu der Ver/., Bockelmann-Festschrift, 1979, S. 269.
123 Bericht von Hoimar von Dit/urth, Geo 1983, Heft 5, S. 38 fl'., mit zahl-
reichen eindrucksvollen Abbildungen.
tU überholt sind damit die auf ähnliche Umwelt von eineiigen Zwillingen
bezogenen Folgerungen von Füllgrabe, Kriminalpsychologie, 1983, S. 79.
125 Vgl. die Beiträge in: Der neue Streit ums Milieu, 1978.
76 Richard Lange

Bouchard fand seine Ergebnisse wider Willen. Als "eingeschwore-


ner" Milieutheoretiker wollte er an getrennt aufgewachsenen Zwil-
lingen diese Theorie beweisen. Es ging ihm wie Malinowski, der als
Freud-Anhänger zur Widerlegung des "Urverbrechens" und damit des
Ödipuskomplexes gelangte 126 , und dem Darwinisten Gordon Rattray
Taylor, der kürzlich in seinem Buch "The Great Evolution Mystery"
entscheidende darwinistische Grundannahmen wie die der Passivität
der Individuen bei den Mutationen und der Entwicklung in kleinsten
Schritten falsifizierte. Das Letztere haben Michel Tyler und andere127
durch die Entdeckung der Magenbrüterfrösche bestätigt: Diese Art
der Fortpflanzung kann nur in einem einzigen großen Sprung zu-
stande gekommen sein128 • Solche Ergebnisse haben beispielsweise den
Weg für die erneute Würdigung Gregor Mendels freigemacht.
Weder Darwins bloß passiv Angepaßte noch Rousseaus/Marx' guter
Wilder noch Freuds Urverbrecher halten heutiger Prüfung stand. Bei
der nach alledem notwendigen Neufundierung der kriminologischen
Grundlagenwissenschaften wirkt es wie eine Ironie, daß ausgerechnet
Freuds Erkenntnis des menschlichen Aggressionstriebes, die Entschei-
dendes zu einer realistischen Ursachenforschung in der Kriminologie
beitragen könnte, in seiner eigenen Schule verpönt l29 und auch in der
Kriminalpsychologie ignoriert wird13o , weil sie mit der Alleinherr-
schaft der Milieutheorie nicht vereinbar ist. Einer Auseinandersetzung
mit dieser zentralen Lehre des späten Freud haben sich die Milieu-
theoretiker ebensowenig gestellt wie dem vernichtenden Mißerfolg
des Cambridge-Somerville-ExperimentsI31 , den problematischen Grund-
zügen des Menschen, die die neuere Anthropologie von den verschie-
densten Seiten her sieht132, und seiner wesensmäßig vorgegebenen
Aktivität133 •
Zu den großen Verdiensten Jeschecks gehört die Aufnahme der Kri-
minologie in das Freiburger Institut. Strafrecht und Kriminologie sind
aufeinander angewiesen. Aber der heutige Zustand, daß sie in der

Dazu der Verj. (Anm. 2), S. 251, 342.


125
The Gastric Brooding Frog, 1983.
127
128 Zu den Skeptikern des (Neo-)Darwinismus gehört namentlich auch
Portmann (Anm. 22), S. 569 passim. An Bergsons Widerspruch gegen Darwins
Prinzip des blinden Zufalls (L'evolution creatrice) erinnert Salcia Landmann
(Die WELT vom 2. 1. 1984).
129 Kritisch dazu Beiträge in: Das Unbehagen in der Psychoanalyse, 1983,
namentlich Lohmann, S. 50 ff., 58 f. Andere unterdrückte Problembereiche in:
Taboos in Criminology, London 1980.
130 z. B. von Füllgrabe (Anm. 124), S. 11, 144.
131 Dazu der Verj. (Anm. 2), S. 240.
132 Vgl. zu Anm. 109.

133 Vgl. die Beiträge (Anm. 125), insbes. den von Eibl-Eibesjeldt.
Neue Wege zu einer Gesamten Strafrechtswissenschaft 77

Auffassung ihres Gegenstandes unvereinbar gegeneinanderstehen, ist


unhaltbar und unerträglich.
Der Täter als passives Reiz-Reaktions-System, das unter Kontrolle
gehalten werden muß - eine solche Vorstellung verkennt den Men-
schen wie das Recht, das ihn seit Jahrtausenden als - relativ - frei
und verantwortlich sieht. Für die Griechen war das Recht ein imma-
nentes Prinzip der Welt, der Kosmos eine Rechtsgemeinschaft der
Dinge (Werner Jaeger). In unseren Tagen haben Popper und Eccles
das Ganze der menschlichen Wirklichkeit, zu der das Recht gehört 13\
von zwei weit voneinander liegenden Ausgangspunkten her erneut
sichtbar gemacht. Aus sozial- und kuIturanthropologischer Sicht zeigt
Michael Landmann135 , daß man den Menschen vollständig erst erfaßt,
wenn man zu seinen körperlichen und psychischen Eigenschaften seine
Verwurzelung im objektiven Geist hinzunimmt. Wiederum von ganz
anderer Seite her sagt Portmann 136 über unser "rätselhaftes autono-
mes Wesen"; ,,(Die) Versuche einer allgemeinen Lehre vom Men-
schen zeigen auf der einen Seite die Macht der natürlichen
Bindungen ... , auf der anderen Seite bezeugen sie aber auch die
Freiheit des Menschen durch die Tatsache, daß die Schranken die-
ser erblich vorgegebenen Weltbeziehung ... von unserer geistigen Ak-
tivität durchbrachen werden können, ja, daß wir von vornherein dazu
gemacht sind, diese Schranken zu durchbrechen" und abschließend:
"Wir sind Wesen, die in ihrem gesamten Aufbau durch ihre Erban-
lage einer besonderen Art offenen Welterlebens und Handlungsfrei-
heit, einer besonderen ,Disponibilität' zugeordnet sind". Dem "mecha-
nisch-materialistischen Seelenbegriff" Freuds 137 stellt Viktor Frankp38
in seiner Existenzanalyse die "Trotzmacht des Geistes" gegenüber, die
ihn selbst das Konzentrationslager überleben ließ. Die Psychoanalyse
setzt sich mit ihm ebensowenig auseinander wie mit Al/red Adlers
Individualpsychologie, obwohl es im menschlichen Zusammenleben
mehr noch um die Geltung als um den Sexus geht139 •
Soweit die Kriminologie an allen diesen anthropologischen For-
schungsergebnissen und -entwicklungen vorübergeht, weiß sie nicht,

134 Und zwar als "mächtiger Hebel der Entwicklung", seit Stalin auch für
den Kommunismus; dort allerdings denaturiert und als Machtinstrument
mißbraucht.
135 Anm. 109.

136 (Anm. 22), S. 589 f., 594.

137 Marcuse in: Freud in der Gegenwart, 1957, S. 420.


138 Zu Frankls Lehre der Verf., in: SchwZStr.70 (1955), S. 386 ff.; Juristen-
tags-Festschrift, 1960, Bd. I, S. 378; (Anm.2) passim.
139 In sämtlichen Beiträgen (Anm. 137) wird Adler nur ein einziges Mal
erwähnt, S. 169 f.
78 Richard Lange

wovon sie spricht. Es geht um das Ganze, die Wirklichkeit des Men-
schen l40 • Haeckels Satz muß umgekehrt werden: Die Anthropologie
ist nicht ein Teil der Biologie, sondern die Biologie ist ein Teil der
Anthropologie.

HO So schon Juristentags-Festschrift, 1960, Bd. I, S. 364 und (Anm. 18), S. 41.


JORGE DE FIGUEIREDO DIAS

Vom Verwaltungsstrafrecht zum Nebenstrafrecht

Eine Betrachtung im Lichte der neuen


portugiesischen Rechtsordnung*

I.

Die Gelegenheit, an dieser Festschrift mitzuwirken, ist für mich eine


große Ehre und ein Grund besonderer Freude. Seit zwei Jahrzehnten ist
Hans-Heinrich Jescheck auf vielfältige Weise um eine stärkere Ver-
bindung zwischen der deutschen und portugiesischen Strafrechtswissen-
schaft bemüht1 • Es kann behauptet werden, daß diesen Anstrengungen
ein voller Erfolg zuteil geworden ist und die portugiesische Strafrechts-
wissenschaft dem Jubilar viel von dem Interesse und der Aufmerksam-
keit schuldet, die sie heute in internationalen Kreisen findet.

Die Themen des Verwaltungs- und Nebenstrafrechts sind dem For-


schungsinteresse und der wissenschaftlichen Arbeit von J escheck nicht

* Deutsche übersetzung von Yolanda Busse und Peter Hünerteld.


1 Der von Eduardo Correia verfaßte Entwurf eines Strafgesetzbuches -
Allgemeiner Teil (Projecto de C6digo Penal, Parte Geral, 1963), der zur
Grundlage des portugiesischen Strafgesetzbuches von 1982 wurde, ist als-
bald von Jescheck in einem an der Rechtsfakultät in Coimbra gehaltenen
Vortrag, der später veröffentlicht wurde, eingehend erörtert worden; vgl.
Jescheck, Principes et solutions de la politique criminelle dans la reforme
penale allemande et portugaise, Estudos in memoriam do Prof. Beleza dos
Santos, 1966, S.433. Zur gleichen Zeit orientierte Jescheck mit der ihm eige-
nen Tatkraft und Zuwendung die Forschungsarbeiten seines Schülers Peter
Hünerfeld auf dem Gebiet der Vergleichung des deutschen und portugiesi-
schen Strafrechts; vgl. dazu die in diesem Bereich zu den gründlichsten und
wertvollsten Untersuchungen zählenden Arbeiten: Hünerteld, Die Entwick-
lung der Kriminalpolitik in Portugal, 1971; ders., Strafrechtsdogmatik in
Deutschland und Portugal, 1981. 1977 gehörte Jescheck zum Prüfungsaus-
schuß bei meiner Habilitation zum ordentlichen Professor des Strafrechts
und des Strafverfahrensrechts an der Rechtsfakultät in Coimbra; und nicht
selten empfing er am Freiburger Max-Planck-Institut für Strafrecht portu-
giesische Professoren, die eingeladen wurden, um dort Vorträge zu halten,
sowie zahlreiche portugiesische Universitätsassistenten, die ihre wissen-
schaftlichen Kenntnisse im Bereich des Strafrechts vertiefen wollten - Ge-
legenheiten, die den deutsch-portugiesischen Dialog im strafrechtlichen Be-
reich verstärkt haben. Schließlich unterstützt Jescheck die übersetzung des
neuen portugiesischen Strafgesetzbuches von 1982, die Hünerfeld zur Zeit
am genannten Max-Planck-Institut vorbereitet.
80 J orge de Figueiredo Dias

fremd geblieben2 • Es handelt sich - wie bei so vielen anderen dogma-


tischen und kriminalpolitischen Themen - um Materien, die unver-
kennbar den Einfluß zeigen, den die deutsche Strafrechtswissenschaft
- insbesondere seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts - auf
die portugiesische Strafrechtswissenschaft ausgeübt hat 3 • Deshalb habe
ich mich für diese Materien als Gegenstand meiner nachfolgenden Be-
trachtungen entschieden. Dabei ist zu bemerken, daß ich mir keine
eigentliche Rechtsvergleichung vorgenommen habe, sondern meine Auf-
fassung darlegen möchte, wie uns die Bereiche des Verwaltungs- und
Nebenstrafrechts in der Ausgestaltung durch die neue portugiesische
Strafrechtsordnung entgegengetreten und welche Entwicklungen für sie
zu erwarten sind. Immerhin dürfen wir davon ausgehen, daß eine der-
artige Betrachtung vor dem Hintergrund einer in Deutschland und Por-
tugal - wie mir scheint - weitgehend übereinstimmenden dogmati-
schen Tradition, legislativen Umrahmung und kriminalpolitischen Ziel-
setzung vorgenommen werden kann. Mein doppeltes Anliegen geht
dahin, zum einen und allgemein die deutsche Strafrechtswissenschaft
zu ehren, die auch künftig ein sicherer Wegweiser der portugiesischen
Strafrechtswissenschaft bleiben wird, und zum anderen und insbeson-
dere meine dankbare Bewunderung für Hans-Heinrich Jescheck zu be-
zeugen, mit dem mich eine starke und unverlierbare Freundschaft ver-
bindet.
Ir.
Die genaue Bestimmung in bezug auf das Wesen und die Natur des
Verwaltungsstrafrechts sowie seine Eingliederung in das strafrechtliche
System bilden ein immer wieder behandeltes Lieblingsthema der portu-
giesischen Strafrechtswissenschaft4 • Der Schwerpunkt dieser Fragen und
ihrer theoretischen Behandlung ist während des 19. Jahrhunderts zu-

2 Jescheck, Das deutsche Wirtschaftsstrafrecht, JZ 1959, S.457; ders., Lehr-


buch des Strafrechts, AT, 3. Aufl. 1978, S. 40 f., 43 ff. - Angesichts der umfang-
reichen, kaum mehr zu erfassenden deutschen und portugiesischen strafrecht-
lichen Literatur zu den zu erörternden Themen muß ich mich auf die wich-
tigsten Hinweise beschränken. Ich habe einige der von mir im Text vertre-
tenen Standpunkte in anderen Veröffentlichungen ausführlicher begründet;
aus diesem Grunde gestatte ich mir, auf derartige Veröffentlichungen zu ver-
weisen.
3 Dieser Einfluß wurde speziell untersucht von Costa Andrade, Contributo
para 0 conceito de contra-ordena<;:ao (a experiencia alema), Revista de Direito
e Economia 6 (1980), S. 8I.
4 Figueiredo Dias, 0 movimento da descriminalizac;ao e 0 ilicito de mera
ordenac;ao social, in: Centro de Estudos Judiciarios, Jornadas de Direito
Criminal: 0 Novo C6digo Penal portugues e legislac;ao complementar, I, 1983,
S.318; und neuerdings Faria Costa, A importäncia da recorrencia no pensa-
menta juridico. Um exemplo: a distinc;ao entre 0 ilicito penal e 0 ilicito de
me ra ordenac;ao social - 1984 (bestimmt zur Veröffentlichung in der Revista
de Direito e Economia; das Manuskript wurde mir vom Verfasser freund-
schaftlich zur Verfügung gestellt).
Vom Verwaltungsstrafrecht zum Nebenstrafrecht 81

nächst überwiegend durch französischen, dann durch italienischen und


schließlich fast ausschließlich durch deutschen Einfluß gekennzeichnet.
Der Verlauf dieser Richtungsänderungen entspricht gewissermaßen der
allgemeinen Entwicklung der Einflüsse, die in diesem Zeitraum von den
auf dem europäischen Kontinent herrschenden strafrechtlichen Lehren
auf die portugiesische Strafrechtswissenschaft ausgeübt wurden5 • Meines
Erachtens entspricht er aber vor allem der Besonderheit der wesent-
lichen Entwicklungsmerkmale der portugiesischen Rechtsordnung im
Hinblick auf die Beziehungen zwischen Strafrecht und Verwaltungsrecht.
Diesen wesentlichen Merkmalen will ich mich nunmehr zuwenden.
Auch in Portugal brachte der aufgeklärte Polizeistaat ein breites Be-
tätigungsfeld der Verwaltung und eine Fülle polizeilicher Regelungen,
die aber noch nicht authentischen Rechtssätzen6 unterstellt waren. Der
Durchbruch zum liberalen Rechtsstaat (1822) führte dann jedoch zur
Beschränkung der polizeilichen Verwaltungstätigkeit auf den Schutz
der Bürger vor den Gefahren für den Bestand ihrer subjektiven Rechte.
Da sich dementsprechend die Notwendigkeit ergab, für Verstöße gegen
diese verwaltende Tätigkeit der Polizei eine rechtliche Regelung vor-
zusehen, wurde die Lösung der anstehenden Aufgabe im Strafgesetz-
buch selbst gefunden, und zwar mit dem Begriff der contravenc;äo
(Übertretung), der deutlich auf den Bezug zur französischen contraven-
tion hinweist. Es kann gesagt werden, daß das portugiesische Verwal-
tungsstrafrecht in diesem begrifflichen Zusammenhang das ganze
19. Jahrhundert durchlief, ohne das Gebiet der nicht-kodifizierten straf-
rechtlichen Gesetzgebung betreten zu müssen. Es entsprach in seinem
Verständnis den bekannten Grundsätzen der Sozial- und Wirtschafts-
politik, die während dieses ganzen Zeitraums der polizeilichen Verwal-
tungstätigkeit strikte Grenzen auferlegten7 •
Die Lage ändert sich zur Zeit der Ersten Republik (1910 -1926), und
zwar nicht so sehr aus dem politischen Grund der republikanischen Re-
volution8 , sondern wegen der sozialen und wirtschaftlichen Folgen, die
der Eintritt Portugals in den Ersten Weltkrieg mit sich brachte. In die-
sem Zusammenhang kommt es erstmals zu einem konzertierten Ein-
s über diese Einflüsse vgl. die Schriften von Hüner/eld (Anm. 1) und wei-
ter ders., Zum Stand der deutschen Verbrechenslehre aus der Sicht einer
gemeinrechtlichen Tradition in Europa, ZStW 93 (1981), S.979.
S Vgl. Soares, Interesse publico, legalidade e merito, 1955, S. 56 f.

7 Eine erschöpfende Untersuchung dieser Gesetzgebung im 19. Jahrhun-


dert findet sich bei FaTia Costa (Anm.4). Als bedeutendste damalige For-
schung über den Begriff der übertretung ist HenTiques da Silva, Crimes,
delitos e contravenc;6es, Estudos Juridicos, I, 1903, S.41O, zu benennen.
8 Denn die neue Bürgerrepublik beabsichtigte nicht, den liberal-indivi-
dualistischen Wesenszug der konstitutionellen Monarchie zu ändern: vgl.
Vital Moreira, A ordem juridica do capitalismo, 1973, S. 63 f. sowie Oliveira
Marques, Hist6ria de Portugal, 11, 3. Aufl. 1976, S. 242.

6 Festschrift für H.-J. Jescheck


82 Jorge de Figueiredo Dias

greifen des Staates in das wirtschaftliche und soziale Leben. Der Staat
beginnt mit dem systematischen Einsatz des Strafrechts, um Verletzun-
gen der Verwaltungsordnung mit einer Sanktion zu ahnden. Seitdem
hat das nicht-kodifizierte Strafrecht immer größeren Umfang angenom-
men. Dabei hat der ab 1926 in Portugal verwirklichte Typus des autori-
tär-korporativen Staates9 mit seinen tiefen Eingriffen in das Gemein-
schaftsleben und der Hervorbringung einer zahlreichen, komplexen
und widersprüchlichen nicht-kodifizierten strafrechtlichen Gesetzgebung
seine Rolle gespielt. Diese interventionistische Linie erfuhr zunächst im
Zweiten Weltkrieg - als Auswirkung der erforderlichen Sicherstel-
lung der Versorgung und Kontrolle der Preise - sowie später in den
Kolonialkriegen eine außergewöhnliche Potenzierung. Es ist daher kein
Wunder, daß Portugal als eines der ersten nicht-sozialistischen Länder
in Europa den Versuch unternommen hat, dieses Strafrecht verwal-
tungsspezifischen Charakters durch seine Teilkodifikation gesetzgebe-
risch zu bewältigen. Es handelt sich um die Gesetzesverordnung Nr.
41204 vom 24.7.1957 über "Verstöße gegen die öffentliche Gesundheit
und die Wirtschaftsordnung". Jedoch gelang diesem Gesetz weder eine
Eindämmung der nicht-kodifizierten strafrechtlichen Gesetzgebung auf
dem wirtschaftlich-sozialen Sektor - die Lage spitzte sich sogar noch
weiter zu - noch ein Beitrag dazu, die Anwendung der Gesetze sicherer
zu machen10.
Die im Zeitpunkt des Umsturzes vom 25. April 1974 fast chaotische
Lage dieser Gesetzgebung mußte sich während der revolutionären
Phase noch verschlechtern. Zu verweisen ist auf die politische Tatsache
der Revolution als solche, den von ihr bewirkten Umsturz der sozio-
ökonomischen Strukturen sowie schließlich auf die nachfolgend relativ
lange Zeitspanne mangelnder Festlegungen auf politischem, wirtschaft-
lichem und sozialem Gebiet. Aber heute stehen wir vor einer neuen

9 Grundlegend für eine richtige Bewertung dieses Staatenmodells sind


noch heute die Schriften von Teixeira Ribeiro, Principios e fins do sistema
corporativo portugues, Boletim da Faculdade de Direito 16 (1939/40), S. 1 und
ders., 0 destino do corporativismo, Revista de Direito e de Estudos Sociais 1
(1954), S. 44.
10 Das Gesetzesdekret Nr. 41204 hat in der ausländischen Lehre einige
Aufmerksamkeit erfahren; vgl. z. B. Tiedemann, Internationale und verglei-
chende Aspekte der Wirtschaftskriminalität, in: Aktuelle Beiträge zur Wirt-
schaftskriminalität, Band 4, 1974, S.122; deJ's., Wirtschaftsstrafrecht und
Wirtschaftskriminalität 2, BT, 1976, S. 218 f.; Schaffmeister, Das niederländi-
sche Wirtschaftsstrafgesetz, ZStW 85 (1973), S.787. Vgl. in der portugiesi-
schen Literatur neben dem bemerkenswerten Gutachten Nr.46/IV der Cäma-
ra Corporativa (Berichterstatter: Vaz Pinto) in: Pareceres da Cämara Corpo-
rativa, 1957, I, S.116, das sich auf den Entwurf des angeführten Gesetzesdekrets
bezog, Arala Chaves, Delitos contra a saude publica e contra a economia
nacional, 1961; Figueiredo DiaslCosta Andrade, Problemätica geral das in-
fracc;:5es contra a economia nacional, Holetim do Ministerio da Justi<;a 262,
1977, S. 40 f.
Vom Verwaltungsstrafrecht zum Nebenstrafrecht 83

Situation, die das Ergebnis der tiefen Änderungen ist, die die portugie-
sische Rechtsordnung erfahren hat und die unmittelbar das Gebiet des
Strafrechts betreffen. Diese Lage erlaubt und verlangt eine Klärung
der Problematik des nicht-kodifizierten Strafrechts verwaltungsspezi-
fischen und insbesondere wirtschaftlich-sozialen Charakters.
Die 1982 revidierte Verfassung von 1976 hat in der Tat die Grund-
lagen eines materiellen, sozial und demokratisch geprägten Rechts-
staates geschaffen und unter Beachtung der Grundrechte der Menschen
und der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte des Bürgers
das für Portugal verbindliche politische, wirtschaftliche und soziale
Modell festgelegtl l ; und dieser Sicht hat die Verfassung ausdrücklich
auch die für das Strafrecht wesentlichen Konsequenzen entnommen.
Auf der anderen Seite hat die Gesetzesverordnung Nr. 232179 vom 24.7.
1979 - später revidiert und geändert durch die Gesetzesverordnung
Nr.433/82 vom 27.10.1982 - das Ordnungswidrigkeitenrecht in die
portugiesische Rechtsordnung eingeführt und das entsprechende Rah-
mengesetz geschaffen l2 • Ferner wurde am 23.9.1982 ein neues Straf-
gesetzbuch verkündet, das als Ersatz für das Strafgesetzbuch von 1886
am 1. 1. 1983 in Kraft trat l3 • Schließlich folgte am 21.1. 1984 die Gesetzes-
verordnung Nr.28/84, mit der bei gleichzeitiger Aufhebung der schon
angeführten Gesetzesverordnung Nr.41204 gewissermaßen ein neu es
Rahmengesetz für das Wirtschaftsstrafrecht geschaffen wurde u .

11 über diese portugiesische Verfassung in der deutschen Lehre Hörster,


Die portugiesische Wirtschaftsverfassung. Einleitung und übersetzung, Recht
der internationalen Wirtschaft 1978, S. 15; G. Schmitt, Die portugiesische
Verfassung von 1976, AÖR 1978, S.204; Thomashausen, Verfassung und Ver-
fassungswirklichkeit im neuen Portugal, 1981. Vgl. in der portugiesischen
Lehre Vieira de Andrade, Os direitos fundament ais na Constitui!;äo portu-
guesa de 1976, 1983; Gomes Canotilho, Direito Constitucional, 3. Auf!.
1983, S. 195; ders., Constitui!;äo dirigente e vinculac;äo do legislador, 1982;
Gomes CanotilholVital Moreira, Constitui!;äo da Republica portuguesa ano-
tada, 1976, Jorge Miranda, A Constitui!;äo de 1976 - fun!;äo, estrutura, prin-
cipios fundamentais, 1978; ders., Manual de Direito Constitucional, 2. Auf!.
1982, S. 284.
12 Hierüber Figueiredo Dias (Anm. 4).
13 Wie bereits erwähnt, hatte es als Grundlage die 1963 (Allgemeiner Teil)
und 1966 (Besonderer Teil) von Correia verfaßten Entwürfe, die in der Folge
1964, 1965, 1972, 1979 und 1982 umgestaltet wurden. Eine Zusammenstellung
der veröffentlichten Vorarbeiten findet sich in Figueiredo Dias, Les nouvelles
tendances de la politique criminelle du Portugal, Archives de politique crimi-
neUe 6 (1983), S.193, Anm. (3). Vgl. über die Entwürfe neben den Schriften
von Jescheck (Anm.l), S. 458 ff. und von Hüner/eld (Anm.l, 1971), S. 253 ff.,
Correia, Grundgedanken der portugiesischen Strafrechtsreform, ZStW 76
(1974), S.323; ders., Der Einfluß Franz v. Liszts auf die portugiesische Straf-
rechtsreform, ZStW 81 (1969), S. 723.
14 Vgl. hierüber eine Reihe von Vorträgen, die am Tage der Verkündung
des Gesetzes in Coimbra gehalten wurden und unter dem Titel 0 novo direito
penal econ6mico kurz vor ihrer Veröffentlichung (durch das Centro de Estudos
Judicarios) stehen.
84 J orge de Figueiredo Dias

III.

Das oben Gesagte genügt vielleicht schon, um zu belegen, daß die


Themen des Verwaltungsstrafrechts und des Nebenstrafrechts von
neuem in Frage stehen. Ich möchte jedoch noch einige Worte anfügen,
um die wichtigsten Implikationen der dargestellten Entwicklung auf
dem Gebiet der Lehre aufzuzeigen.
Der im Code Napoleon rein quantitativ 15 verankerte Begriff der
Übertretung wurde vom portugiesischen Gesetzgeber 1886 als vom Be-
griff der Straftat qualitativ unterschieden verstanden. Die Übertretung
sollte nach dieser Vorstellung ihr besonderes Charakteristikum im an-
gestrebten Schutz wohlfahrtlicher Interessen des Staates haben, deren
Verletzung eine Reihe unbestimmter Gefahren für die subjektiven In-
dividualrechte herbeiführen könnte, wobei - in Fortsetzung einer ge-
sicherten Tradition naturrechtIicher Prägung16 - das Justizstrafrecht
schützend eingreifen sollte. Damit wurde der französische Einfluß auf
die Konzeption der Übertretung in Portugal allmählich durch das ita-
lienische Verständnis der Übertretung verdrängt17 • Und als sich in der
Entwicklung ab 1916 der Umfang der Strafgesetzgebung wirtschaftIich-
sozialen Charakters immer mehr erweiterte, waren alle Voraussetzun-
gen dafür vorhanden, daß sich die portugiesische Doktrin beim Versuch
einer dogmatischen Bewältigung dieser Gesetzgebung auf die deutsche
Theorie des Verwaltungs strafrechts und besonders auf die Lehren von
J. Goldschmidt und E. Wolj18 berief.

Als sich in den 60er Jahren die Absicht einer globalen Reform des
portugiesischen Strafrechts zu verwirklichen beginnt, führt Eduardo
Correia die Ansicht von Eb. Schmidt über das Wesen und den kriminal-
politischen Sinn des Ordnungswidrigkeitenrechts in die wissenschaft-
liche Auseinandersetzung ein, um die vollständige Eliminierung der
Übertretungen zu befürworten und diese Materie mit der des Verwal-
tungsstrafrechts zu verknüpfenlu. Diese Linie erfuhr einen besonderen

15 Ausführlich über diesen Punkt Mattes, Untersuchungen zur Lehre von


den Ordnungswidrigkeiten, Band 1, 1977, S. 291 ff.
16 Hierüber ausführlich nochmals Mattes (Anm. 15), S. 5 ff.
17 Was schon bei Henriques da Silva (Anm.7), S. 410 ff., der sich haupt-
sächlich auf Longhi, Scuola Positiva 8, 1898, S.392, 397 bezieht, deutlich er-
kennbar ist.
18 Vgl. u. a. Beleza dos Santos, Direito Criminal (Sammlung der Vorle-
sungen von H. Marques), 1936, S. 255 ff.; Correia, Direito Criminal (Nachschrift
der Vorlesungen von Coelho/Coutinho), 1949, S. 204 ff.; ders., Direito Criminal
(unter Mitarbeit von Dias), I, 1963, S. 213 ff.; Cavaleiro de Ferreira, Direito
penal portugues, parte geral, I, 1981, S. 215 ff.
lU Correia (Anm. 18, 1963), I, S. 27 ff., 217; ders., C6digo Penal, Projecto da
Parte Geral, 1963, S. 68 ff.; ders., Direito penal e direito de mera ordena!;äo
social, Boletim da Faculdade de Direito 49 (1973), S. 217 ff.
Vom Verwaltungsstrafrecht zum Nebenstrafrecht 85

Widerhall in der portugiesischen Lehre, die schon seit langem der


Durchführung eines konsequenten Entkriminalisierungsprogramms zu-
neigte20 . Es kann durchaus behauptet werden, daß die portugiesische
Rechtsordnung nach 1976 diese Ziele verwirklicht hat. Sie hat einerseits
die neue Kategorie der Ordnungswidrigkeiten geschaffen, und zwar in
einer Zielsetzung und in einer gesetzlichen Ausgestaltung, die dem in
der Bundesrepublik Deutschland geltenden Rechtszustand weitgehend
entspricht. Andererseits hat das neue Strafgesetzbuch, um ein vernünf-
tiges Programm der Entkriminalisierung zu verwirklichen, die alte
Kategorie der übertretung nicht mehr übernommen21 .
Indessen hält die neue portugiesische Rechtsordnung jedoch gleich-
zeitig an zwei seit langem in der Lehre verankerten Grundsätzen fest.
Der erste lautet, daß ein Strafgesetzbuch nur Kernstrafrecht, klassi-
sches Strafrecht, Justiz- oder Kriminalstrafrecht enthalten soll, wäh-
rend das Strafrecht verwaltungsspezifischen Charakters, und zwar
selbst das auf die Wirtschafts- und Sozialordnung bezogene Strafrecht,
der nicht im Strafgesetzbuch kodifizierten Gesetzgebung angehören
so1l22. Der zweite Grundsatz beinhaltet, daß unbeschadet des Gesagten
ein Rahmengesetz vorhanden sein soll, das die Verschiedenartigkeit
und Vielfältigkeit des Strafrechts auf wirtschaftlichem und sozialem
Gebiet regelt. Auf diese Weise treten im geltenden Recht sanktionier-
ten Verhaltens drei wenigstens formal gut zu unterscheidende Gebiete
hervor: Das hauptsächlich im Strafgesetzbuch geregelte Kernstrafrecht,
das Recht der Ordnungswidrigkeiten, das in einem nicht-strafrecht-
lichen Rahmengesetz festgelegt ist, sowie das sog. Nebenstrafrecht, das
überwiegend wirtschaftlich-sozialen Charakters ist und den allgemei-

20 In verschiedenen Schriften habe ich auf diese Notwendigkeit aufmerk-


sam gemacht, und zwar erstmals in: La reforma deI derecho portugues. Prin-
cipios y orientaciones fundamentales, 1971.
21 Das soll aber nicht heißen, daß es im geltenden portugiesischen Recht
keine übertretungen mehr gibt. Die Gesetzesverordnung Nr.232179 verfügte
zwar in ihrem Art. 1 Ziff. 3 die Umwandlung der bestehenden und nur mit
Geldstrafe bedrohten übertretungen in Ordnungswidrigkeiten. Die sogleich
folgende Gesetzesverordnung Nr.411-AI79 hob jedoch diese Bestimmung
wieder auf und verhinderte damit das Zustandekommen der verkündeten
Umwandlung. Die Gesetzesverordnung Nr.400/82, die das neue Strafgesetz-
buch brachte, bestimmte ihrerseits die Fortgeltung der die übertretungen
betreffenden Vorschriften des Strafgesetzbuches von 1886. Die Lage ist also
in der heutigen portugiesischen Rechtsordnung der der Bundesrepublik
Deutschland ähnlich, die zwischen dem 1952 in Kraft getretenen Gesetz über
Ordnungswidrigkeiten und der Reform des Strafgesetzbuches 1975 bestand.
Kritisch über diese Lage Correia, As grandes linhas da reforma penal, in:
Jornadas (Anm.4), S. 36 f.; anders jedoch Figueiredo Dias (Anm.4), S. 324 ff.
22 In diesem Sinn Correia (Anm.21), S.36; Figueiredo Dias, Sobre 0 papel
do direito penal na protec!;ao do ambiente, Revista de Direito e Economia 4
(1978), S. 10 ff.; Faria Costa, 0 direito penal econ6mico e as causas implicitas
de exclusao da ilicitude (Fn. 14).
86 J orge de Figueiredo Dias

nen Grundsätzen des Strafgesetzbuches sowie besonderen, in einem


strafrechtlichen Rahmengesetz enthaltenen Grundsätzen untersteht.
Während es sich bei den ersten beiden Gebieten um seit langem dog-
matisch ausgearbeitete und voll beherrschte Bereiche handelt, bestehen
heutzutage auf dem dritten Gebiet die größten Zweifel im Hinblick auf
seine besondere Natur und sein Verhältnis zu den beiden anderen Ge-
bieten. Wir sollten jedoch alle darin übereinstimmen, daß die entspre-
chende dogmatische Bewältigung eine der unerläßlichen Bedingungen
für den Erfolg einer umfassenden Reform des Strafrechts darstellt, wie
sie zur Zeit in Portugal im Gange ist. Für diese Bewältigung können
wir uns nicht mit einer formalen Charakterisierung des Nebenstraf-
rechts zufrieden geben. Wir müssen vielmehr versuchen, in Richtung
einer materiellen Kennzeichnung vorzustoßen. Damit ist aber das
schwierige Problem der Wesensbestimmung des Nebenstrafrechts auf-
gegeben; diese Frage nach dem "Wesen" , das sicher nicht als unveränder-
lich und unzeitlich "eidetisch" verstanden werden darf, sondern dem zu
gegebener Zeit an einem bestimmten Ort angenommenen Grundsinn
entspricht, ist weitgehend von dem Umfang abhängig, der diesem Recht
zugewiesen wird. Ich werde diese doppelte Frage nachstehend erörtern,
möchte zuvor aber noch eine weitere Erwägung anführen.
Formal gesehen ist das Nebenstrafrecht lediglich durch seine Lokali-
sierung außerhalb der Strafgesetzbücher gekennzeichnet. Dabei handelt
es sich aber nur scheinbar um einen Umstand ohne Bedeutung. Es han-
delt sich in Wirklichkeit um ein materielles und historisch grundlegen-
des Symptom seiner eigenen Natur. Das Nebenstrafrecht besteht par
excellence aus einem Bereich rechtlicher Regelungen, die in großem
Ausmaß durch genau bestimmte räumlich-zeitliche Notwendigkeiten
bedingt sind. Die fraglichen Regelungen sollen die Verstöße gegen die
verwaltungs rechtliche Ordnung des Staates ahnden und verweisen da-
her zur näheren Bestimmung ihres - im wesentlichen veränderlichen
- Inhalts in der Regel auf diese Ordnung zurück (deshalb bilden sie mit
ungewöhnlicher Häufigkeit Blankettstrafnormen). Mit anderen Worten:
das Nebenstrafrecht ist in einem gewissen Sinn Verwaltungsstrafrecht,
und zwar gerade in dem Sinn, daß es ordnende Maßnahmen der Ver-
waltung mit Strafe bewehrt. Es stellt sich daher - wenn ich eine Beur-
teilung von Tiedemann umschreiben darf - wenn nicht kompetentieIl,
so doch gewiß der Sache nach als Verwaltungsrecht dar23 • Und von hier
aus verbindet sich der wesentliche Sinn des Nebenstrafrechts unlösbar
mit der Auseinandersetzung über das Verwaltungsstrafrecht!

23 Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, 1969, S.6. Im


gleichen Sinn in der italienischen Lehre Pariero, Il "diritto penale-ammini-
strativa" : profili comparatistici, Rivista trimestrale di diritto pubblico 1980,
S.1254 f.
Vom Verwaltungs strafrecht zum Nebenstrafrecht 87

Wenn es sich so verhält, erscheint mir die oben gestellte Aufgabe


etwas leichter lösbar zu sein. Wichtig ist zu bestimmen, wie wir heute
vor dem Problem des Verwaltungsstrafrechts stehen. Ist die Antwort
auf diese Frage gefunden, werden gleichzeitig das Wesen und der Um-
fang des Nebenstrafrechts geklärt. Wir wollen sehen, ob sich diese
Hypothese bestätigt und wohin sie führen kann.

IV.
Würden wir die Lehren, die - wie die bundesdeutsche, portugiesische
und neuerdings auch die italienische Doktrin - dem Thema eine sorg-
fältige Aufmerksamkeit geschenkt haben, nach dem heutigen Problem-
stand des Verwaltungsstrafrechts befragen, so wäre mit einer weit-
gehend vorherrschenden Beurteilung zu rechnen. Sie lautete, daß der
Bereich, den die strafrechtliche Lehre bis zum Ende des Zweiten Welt-
krieges als Verwaltungsstrafrecht bezeichnete, im wesentlichen dem
entspricht oder sogar nichts anderes ist als das, was heute Ordnungs-
widrigkeitenrecht genannt wird 24 •
Ich glaube indessen nicht, daß eine derartige These im Lichte der be-
schriebenen Entwicklung der portugiesischen Rechtsordnung als folge-
richtig akzeptiert werden dürfte. Ich meine vielmehr, daß die wesentli-
che Identifikation des Verwaltungsstrafrechts mit dem Ordnungswidrig-
keitenrecht fehlgeht, weil das Ordnungswidrigkeitenrecht Problemen,
Besorgnissen und Bestrebungen entspricht, die sich von den Gesichtspunk-
ten unterscheiden, die für die Lehre des Verwaltungsstrafrechts maß-
geblich waren. Zusammengefaßt: ich stehe auf dem Standpunkt, daß
das Ordnungswidrigkeitenrecht weder Abkömmling noch Erbe eines
schon dahingegangenen Verwaltungsstrafrechts ist und auch nicht in
dessen heutiger Gestalt auftritt, sondern als negative Grenze gegen-
über einem Verwaltungsstrafrecht anzusehen ist, das sich fortentwickelt
und unter der Bezeichnung Nebenstrafrecht erneuert hat. Wir werden
sehen, ob diese Antithese gelten kann.
Es ist bekannt, daß Eb. Schmidt bei der sofort nach dem Zweiten
Weltkrieg befürworteten Autonomie des Ordnungswidrigkeitenrechts
gegenüber dem Strafrecht drei verschiedenen Anliegen gerecht werden
wollte: 1. der kriminal politischen (oder sogar allgemeiner: der sozial-
politischen) Forderung, dem Strafrecht eine große Zahl von Rechtsver-

24 In der deutschen Lehre Jescheck (Anm.2, 1978), S.44 und zuletzt Ja-
kobs, Strafrecht, AT, 1983, S. 41 f. In der italienischen Lehre Dolcini/Paliero,
L'illecito amministrativo (Ordnungswidrigkeit) nell' ordinamento della Re-
pubblica Federale di Germania ... , Rivista italiana di diritto e procedura
penale 1980, S. 1134; dies., I principi generali dell'illecito amministrativo ... ,
ebendort, S. 1154. In der portugiesischen Lehre Correia (Anm. 18, 1963), I,
S.27 und ff.
88 J arge de Figueireda Dias

letzungen zweifelhafter oder fehlender ethischer Bedeutung zu ent-


ziehen; 2. der Notwendigkeit, den ethischen Charakter der Strafsank-
tionen zu bewahren, selbst wenn es um eine primär präventiven Forde-
rungen verpflichtete Rechtsdurchsetzung gehen soll, und derartig ver-
standene Strafen zu unterscheiden von bloßen sozialen Warnungen,
von Geldbußen (auf portugiesisch "coimas"), die den abschreckenden
Charakter der ausschließlich in einer Geldzahlung bestehenden Sank-
tion haben; 3. der Zweckmäßigkeit halber zu gestatten, daß derartige
Geldbußen von der Verwaltungsbehörde, der auch die Überwachung
der entsprechenden Tätigkeiten zusteht, verhängt werden25 • Und gerade
in diesem Sinn und mit dieser Absicht ist Eduardo Correia in Portugal
für die Verankerung der Kategorie der Ordnungswidrigkeiten im Ge-
setz eingetreten28 •
Kann aber auf dieser Grundlage - wie Mattes in seiner großen Un-
tersuchung zu dem Thema meint - von einer "Renaissance des Ver-
waltungsstrafrechts" die Rede sein27 ? Ich bin davon nicht überzeugt.
Wenn auch nicht schwer zu erkennen ist, daß Eb. Schmidt selbst in vie-
len Bemerkungen jener Behauptung den Weg gebahnt hat oder viel-
leicht sogar geschichtlich die größte Verantwortung für eine solche
Identifikation trägt, scheint es mir doch sicher, daß keines der erwähn-
ten Anliegen der Autonomie des Ordnungswidrigkeitenrechts dessen
Gleichstellung mit dem Verwaltungsstrafrecht erforderlich macht.
Zunächst kann ich nicht einsehen, wie behauptet werden kann, daß
das Verwaltungsstrafrecht dem Bereich des "ethisch indifferenten Un-
rechts" entspricht. Eine derartige Beurteilung wäre vielleicht (dann
aber sogar nur teilweise) möglich gewesen in bezug auf das Verwal-
tungsstrafrecht des liberalen Rechtsstaates im 19. Jahrhundert, vor
allem, was die Übertretungen betrifft. Aber schon auf dem weiten Feld
des Verwaltungsstrafrechts um die Mitte unseres Jahrhunderts - und
heute gilt das noch mehr - existierte "ethisch indifferent" genanntes
Unrecht neben einer deutlichen Mehrheit "ethisch bedeutsamen" Un-
rechts. Inzwischen ist nämlich die Epoche vorbei, in der die Beziehung
einer Norm auf (wie gesagt wurde) "wohlfahrtliche" Staatsinteressen
als Zeichen der ethischen Neutralität des entsprechenden Regelungs-
gegenstandes angesehen werden konnte: Die Aufgaben der Daseinsvor-
sorge sind vom gegenwärtigen Staat nicht übernommen worden ohne
entsprechende "Ethisierung" eines erheblichen Teils der Maßnahmen,
die dazu bestimmt sind, die sozialen Bedingungen für die Menschen zu
verbessern. Zum Beweis dafür kann man sich - wie Eduardo Correia

25 Zusammenfassend Eb. Schmidt, Das neue westdeutsche Wirtschafts-


strafrecht, 1950.
28 Wie Anm. 19.

27 Mattes (Anm. 15), S. 174.


Vom Verwaltungsstrafrecht zum Nebenstrafrecht 89

exakt feststellt 2B - auf strafrechtliche Vorschriften in Bereichen wie


der Arbeitsgarantie, der öffentlichen Gesundheit, der Volkswirtschaft,
der Erziehung und der Kultur berufen.
Wenn dieser Argumentation zugestimmt werden kann, ist aus meiner
Sicht das Wesentliche anerkannt. Denn auch die Eigenart der Sanktio-
nen des Ordnungswidrigkeitenrechts wird keinen Grund dafür abgeben
können, in diesem einen Erben des Verwaltungsstrafrechts zu erblicken.
Im Verwaltungsstrafrecht handelt es sich in der Regel noch um straf-
rechtliche Sanktionen, die vielleicht die Bezeichnung "verwaltungsrecht-
lich" verdienen, auf jeden Fall aber richtige Strafen sind 29 • Im Ord-
nungswidrigkeitenrecht geht es dagegen um soziale Warnungen, Ord-
nungssanktionen bzw. Geldbußen, die, auch wenn sie ebenfalls als "ver-
waItungsrechtlich" qualifiziert werden können, keine Strafen, sondern
nicht-strafrechtliche Maßnahmen bilden.
Bei der vorstehenden Beurteilung der Verhaltensregeln und der ent-
sprechenden Rechtsfolgen wäre auch jegliches Bemühen unzureichend,
die Verbindung zwischen Ordnungswidrigkeitenrecht und Verwaltungs-
strafrecht im Bereiche der verfahrensrechtlichen Besonderheiten, ins-
besondere über die Frage der Zuständigkeit, herstellen zu wollen. Wenn
den bedeutendsten Theoretikern des VerwaItungsstrafrechts stets das
Anliegen gegenwärtig war, die Verwaltungsstrafe nicht von der Krimi-
nalstrafe zu trennen, ist es ebenfalls gut verständlich, daß auch bei der
Anwendung der VerwaItungsstrafe die verfahrens rechtlichen Garantien
zu übernehmen sind, die für die Anwendung der Kriminalstrafe cha-
rakteristisch sind. So kann sogar mit gutem Grund angenommen wer-
den, daß überhaupt nur dort, wo in überlegungen trotz formaler Be-
handlung des VerwaItungsstrafrechts in der Sache bereits das Ord-
nungswidrigkeitenrecht als selbstverständlich miteingeschlossen war,
die Hypothese bedacht wurde, der Verwaltung die Befugnisse zur An-
wendung der fraglichen Sanktionen zu erteilen; bei Sanktionen in die-
sem Zusammenhang handelt es sich dann jedoch materiell-rechtlich
eher um Ordnungssanktionen als um wirkliche verwaltungsstrafrecht-
liche Sanktionen30 •

2B (Anm.19, 1973), S.266. Neuerdings auch Faria Costa (Anm.22).


2D Dies wird von vielen Theoretikern des Verwaltungsstrafrechts, wie in
Deutschland besonders von E. Wolf, Die Stellung der Verwaltungsdelikte
im Strafrechtssystem, Festgabe für Frank, Band 11, 1930, S. 519 f. und 551
und in Portugal von Beleza dos Santos, Ensaio sobre a introdu~äo ao direito
criminal, 1968 (nachträgliche Veröffentlichung einer unvollendeten Schrift
von 1947), S. 94, auch schließlich anerkannt.
30 Dieser Argumentation scheint mir nahezustehen Michels, Strafbare
Handlung und Zuwiderhandlung. Versuch einer materiellen Unterscheidung
zwischen Kriminal- und Verwaltungsstrafrecht, 1963, S. 30 ff.
90 J orge de Figueiredo Dias

V.
Vielleicht ist der Grund bereits angegeben, warum ich der herrschen-
den Lehre widerspreche, wenn sie im Ordnungswidrigkeitenrecht den
legitimen Nachfolger des Verwaltungsstrafrechts erblickt. Um das mir
auferlegte Vorhaben zu erreichen, kann ich mich jedoch nicht mit die-
ser negativen Beweisführung begnügen. Es muß vielmehr versucht wer-
den, die Beziehungen zwischen diesen beiden Rechten auf positive
Weise zu bestimmen. Die Voraussetzung dafür ist eine Stellungnahme
zur Grundfrage der materiellen Autonomie des Ordnungswidrigkeiten-
rechts gegenüber dem Strafrecht. Diese Frage ist trotz ihrer komplexen
Natur sowohl in der deutschen als auch in der portugiesischen Lehre
bis heute so ausführlich behandelt worden, daß mir gestattet sein wird,
mich dazu in knappen und fast apodiktischen Bemerkungen zu äußern.
Da die behauptete Autonomie, wie bereits vermerkt, auf drei ver-
schiedenen Grundlagen beruht, müßte sich wohl jede dieser Grundlagen
für die Autonomiefrage als tragfähig erweisen. Freilich ist sicher, daß
die Lage im Hinblick auf die erste jener Grundlagen - also die Be-
urteilung der Möglichkeit, im Bereich der materiellen Rechtswidrigkeit
zwischen kriminalrechtlichem Unrecht und Ordnungsunrecht zu unter-
scheiden - darüber entscheidet, ob die Frage der Autonomie letztlich
bejaht oder verneint werden muß. Ein Teil der Lehre - in Deutschland
heutzutage vielleicht die vorherrschende Richtung - hält eine mate-
rielle oder "qualitative" Unterscheidung für undurchführbar, weil das
Vorhandensein eines ethisch indifferenten Unrechts nicht angenommen
werden kann3!. Und in der Tat: Zum einen ist das ganze Recht "Werk"
oder Verwirklichung der Freiheit und hat deshalb Anteil am Bestand
des sozialethischen Seinsollens; andererseits hat das ganze Recht einen
eminent historischen Charakter; weiter noch ist das Rechtsgewissen der
Gemeinschaft als Ausdruck selbständiger und das gesetzliche System
transzendierender Werte die Grundlage der möglichen Verwirklichung
allen Rechts 3z • Aus dieser Sicht bleibt kein Raum für die Anerkennung
eines "ethisch indifferenten" Unrechts.
Es scheint mir aber, daß hieraus nicht sofort auf die Unmöglichkeit
der materiellen Unterscheidung zwischen kriminalstrafrechtlichem Un-
recht und Ordnungsunrecht geschlossen werden darf. Auszugehen ist
davon, daß sich die Ansicht der ethischen Indifferenz - wie es in der
deutschen Lehre wenigstens zum Teil von Michels vorgeschlagen wurde 33

So zusammenfassend Jescheck (Anm. 2,1959), S. 461.


3!

Diese Gesichtspunkte habe ich in anderen Schriften näher entwickelt:


32
Figueiredo Dias, 0 problema da consciencia da ilicitude em direito penal,
2. Aufl., 1978, S. 118 ff., 287 ff., 339 ff. und 396 ff.; ders., Liberdade, Culpa, Di-
reito Penal, 2. Aufl., 1983, S. 158 ff.
Vom Verwaltungsstrafrecht zum Nebenstrafrecht 91

- nicht unmittelbar auf das Unrecht bezieht (das von einer schon er-
folgten Rechtswertung ausgeht), sondern auf das entsprechende Ver-
halten. Nichts von dem Gesagten stellt sich der Unterscheidung zwi-
schen Verhaltensweisen in den Weg, denen vor und abgesehen von
ihrer Wertung als Unrecht ein weiterreichender sittlicher, kultureller
oder sozialer Unwert entspricht oder nicht entspricht. Das Verhalten ist
unabhängig von seinem gesetzlichen Verbot im ersten Fall axiologisch
bedeutsam, im zweiten Fall jedoch axiologisch neutral. Das im Ord-
nungswidrigkeitenrecht axiologisch Neutrale betrifft nicht das Unrecht,
sondern das von seinem gesetzlichen Verbot geschiedene Verhalten als
solches; unbeschadet davon hat die einmal vorgenommene Verknüpfung
mit einem gesetzlichen Verbot zur Folge, das Verhalten als tauglichen
Gegenstand der rechtlichen Wertung zu begründen.
Ich meine, daß ich an dieser Ansicht, die ich 1969 entwickelt habe34 ,
festhalten und sie als normative Grundlage der Unterscheidung zwi-
schen kriminalstrafrechtlichem Unrecht und Ordnungsunrecht, die ich
lieber als materielle denn als "qualitative" Unterscheidung bezeichnen
möchte, heranziehen kann. Sie hindert nicht, die Notwendigkeit hinzu-
tretender Unterscheidungskriterien anzuerkennen, darunter sogar von
Kriterien bloßer "Quantität", wenn sich diese in Qualität verwandelt 35 ,
das heißt immer dann, wenn die axiologische Bedeutsamkeit eines Ver-
haltens aus der Tatsache folgt, daß es sich dabei quantitativ nicht um
eine reine Bagatelle handelt.
übrigens bestehen in der neuen portugiesischen Rechtsordnung gute
Gründe, die mich auf dem Weg dieser Unterscheidung bestätigen. Einer-
seits wird die Regelung des Rechtswidrigkeitsirrtums und des Verbots-
irrtums, die das Strafgesetzbuch (Art. 16 und 17) und das Ordnungs-
widrigkeitengesetz (Art. 8 und 9) enthalten, erst verständlich, wenn die
Unterscheidung zwischen axiologisch bedeutsamem und axiologisch neu-
tralem Verhalten akzeptiert wird38 • Zum anderen sehe ich diese Unter-

33 (Anm.30), S.43. Ich sage zum Teil, weil jede Unterscheidung bei Mi-
chels auf jene andere zwischen formeller und materieller Rechtswidrigkeit
zurückgeführt wird. Genau deshalb erscheint das Unrecht des Nebenstraf-
rechts bei Michels - abweichend von meiner im Text folgenden Darlegung
- seiner Struktur nach auf die reine Zuwiderhandlung, also auf ethisch
neutrales Verhalten zurückgeführt.
34 Vgl. die - obgleich in einem anderen Zusammenhang stehenden, näm-
lich auf das Problem des Unrechtsbewußtseins gemünzten - Darlegungen
in meiner Schrift (Anm. 32, 1978), S. 397 ff.
35 In übereinstimmung mit der sogleich von Eb. Schmidt (Anm.25), S. 37 f.
vertretenen Sicht. Ausführlich hierüber Mattes (Anm. 15), Band 2, S. 85 ff.
38 In der Tat schließt nach den Vorschriften des Strafgesetzbuchs das
Fehlen des Unrechtsbewußtseins die Schuld aus, wenn der Irrtum nicht vor-
werfbar ist, während der Irrtum über Verbote, deren Kenntnis vernünfti-
gerweise nötig ist, damit der Täter zum Bewußtsein des Unrechts gelangen
kann, den Vorsatz ausschließt. Im Strafgesetzbuch ist somit die Lösung ver-
92 J orge de Figueiredo Dias

scheidung in nächster Nähe der noch zu erläuternden (unten VII, 3)


Verbindung zur verfassungsrechtlichen Wertordnung, die für jedes
Strafrecht im Unterschied zum Ordnungswidrigkeitenrecht notwendig
ist. In sich selbst axiologisch neutrale Verhaltensweisen verletzen keine
"Rechtsgüter" , so wie ich sie verstehe, nämlich als Wesenheiten mit
ontologischen und axiologischen Aspekten, die sich der Rechtsgemein-
schaft als wertvoll darstellen und von dort aus einen Beziehungspunkt
zur verfassungs rechtlichen Wertordnung gewinnen37 • Damit meine ich
nicht, daß von der Verfassung in jedem Fall eine sofortige Entscheidung
darüber verlangt werden kann, ob mit einem gewissen Verhalten eine
Straftat oder eher eine Ordnungswidrigkeit gegeben ist. Aber ich zweifle
nicht daran, daß es letztlich auf die Verfassung ankommt, wenn gefragt
wird, ob das Prinzip einer materiellen Betrachtungsweise als notwen-
dige Grundlage und Ausrichtung für legislative Qualifizierungen einge-
halten wurde.
Dies gilt um so mehr, als eine derartige Qualifizierung in Portugal
unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten bedeutsam ist und Ge-
genstand der Verfassungskontrolle sein kann. In der Tat sind in Portu-
gal die materiellen und organischen Grundsätze der Verfassung, denen
sich die Strafgesetzgebung und die Gesetzgebung über Ordnungswidrig-
keiten unterordnen, verschieden. Daher könnte sich der Gesetzgeber
durch eine gänzlich ungerechtfertigte Qualifizierung dem Eingreifen der
Verfassungsbestimmungen entziehen, die auf den Fall Anwendung fin-
den müßten38• Ich bezweifle nicht, daß die praktische Handhabung der

ankert, die ich in meiner oben genannten Monographie (Anm. 32, 1978) be-
fürwortet hatte und zusammenfassend in meinem Artikel über "Schuld und
Persönlichkeit" in ZStW 95 (1983), S. 246 f., 252 ff. dargestellt habe. Diese Lö-
sung wurde von Hüner!eld (Anm.l, 1981), S. 149 ff., 198 f., 239 ff. sowie
(Anm.5), S. 1003 f. und von Raxin in einem im April 1983 in Caimbra ge-
haltenen Vortrag als positiv beurteilt. Die Veröffentlichung des Vortrags
von Raxin "Acerca da problematica do direito penal da culpa" erfolgt in dem
entsprechenden Jahresband des Boletim da Faculdade de Direito und steht
bevor.
Das Ordnungswidrigkeitengesetz bestimmt seinerseits, daß der Verbots-
irrtum den Vorsatz ausschließt. Diese Regelung enthält jedoch keinerlei Wi-
derspruch im Verhältnis zu der Regelung im Strafgesetzbuch. Der Gesetz-
geber hat vielmehr lediglich in Rechnung gestellt, daß im Ordnungswidrig-
keitengesetz infolge der axiologischen Neutralität der dort sanktionierten
Verhaltensweisen die Kenntnis des Verbots "vernünftigerweise unerläßlich
ist, damit der Täter sich des Unrechts bewußt werden kann". Vgl. in diesem
Sinn Hüner!eld (Anm. 1, 1981), S. 198, 240 f. und (Anm.5), S. 1004; Figueireda
Dias (Anm.4), S. 332.
37 Diesen Gesichtspunkt habe ich besonders in meinem Artikel "Os novos
rumos da politica criminal e 0 direito penal portugues do futuro", Revista
da Ordern dos Advagados 43 (1983), S. 13 ff. erläutert. Zweifel jedoch bei
Casta Andrade (Anm.3), S. 110. über diesen und den im Text folgenden
Punkt Figueireda Dias (Anm. 4), S. 328 f.
38 Insgesamt hierzu ausführlich das Gutachten Nr.4/81 der Verfassungs-
kommission (Berichterstatter: Mendes) , in: Pareceres da Comissäo Consti-
Vom Verwaltungsstrafrecht zum Nebenstrafrecht 93

Unterscheidung für den Gesetzgeber weitgehend eine Frage des Ermes-


sens ist. Aber ich zögere auch nicht, davon auszugehen, daß die Unter-
scheidung zwischen den beiden Unrechtsbereichen stets das dafür maß-
gebliche materielle Kriterium zu beachten hat. Demzufolge muß es
wenigstens möglich sein, Verhaltensweisen zu benennen, die unbestreit-
bar zum Strafrecht oder zum Ordnungswidrigkeitenrecht gehören39 , und
eine demgemäß irrtümliche Entscheidung des Gesetzgebers verfassungs-
mäßig zu überprüfen - wie es in der Rechtsprechung der portugiesi-
schen Verfassungskommission geschehen ist 40 •

VI.
Die Zwischenbilanz der bisherigen Erörterung läßt sich in einer dop-
pelten Schlußfolgerung zusammenfassen: 1. Verwaltungsstrafrecht und
Ordnungswidrigkeitenrecht sind materiell verschiedene und nicht
wesentlich verknüpfte Realitäten. Mit der Einführung des Ordnungs-
widrigkeitenrechts werden von diesem neuen Recht solche Verhaltens-
weisen erfaßt, die zwar axiologisch neutral sind, nach dem Verständnis
des Gesetzgebers jedoch zu verbieten und mit Geldbußen zu sanktionie-
ren sind, wobei es keinen Unterschied macht, ob die fraglichen Fälle bis
dahin dem Justizstrafrecht oder eher dem Verwaltungsstrafrecht zuge-
ordnet wurden. Genau in diesem Sinn bezeichnet das Ordnungswidrig-
keitenrecht eine "negative Grenze" gegenüber dem ganzen, auch das
Verwaltungsstrafrecht einbeziehenden Strafrecht. 2. Ist das Nebenstraf-
recht im oben angedeuteten Sinn Verwaltungsstrafrecht, so ist es mate-
riell kein Ordnungswidrigkeitenrecht, sondern echtes Strafrecht.
Die hier aber sofort auftauchende Frage lautet: Ist auf diese Weise
nicht die Möglichkeit vertan, eine spezifische Problemstellung des Ne-
benstrafrechts aufzuweisen? Ist es mit anderen Worten nicht so, daß
dieses Recht keinerlei Autonomie besitzt, die über die formale Selb-
ständigkeit einer verstreuten Gesetzgebung außerhalb des Strafgesetz-
buchs hinausginge? Oder ist es noch möglich, das Verwaltungsstrafrecht
bei einem erneuten Durchdenken seines traditionellen dogmatischen
Verständnisses und seiner Vorzüge für die heutige Lage dem Justiz-
strafrecht als speziellen Bereich im Rahmen des Strafrechts gegenüber-
zustellen? Das sind die Fragen, die ich jetzt behandeln möchte.

tucional, Band 4 (1983), S.205 (zu dem von der Kommission in der Kontinui-
tät ihrer Spruchtätigkeit hier erreichten äußersten Punkt vgl. ebendort,
S. 241, Fn. 7).
39 Dies wird von einem Teil der deutschen Lehre durchaus anerkannt:
Maurach/Zipj, Strafrecht, AT, I, 5. Aufl., 1977, S.17 f.; Müller-Dietz, Strafe
und Staat, 1973, S. 49; Jakobs (Anm. 24), S. 44.
40 Grundlegend hierzu die Entscheidungen Nr. 159 (Boletim do Ministerio
da Justi!;a 292, S.247) und Nr. 164 (Anhang zum Diario da Republica vom
31. 12. 1974, S. 78).
94 J orge de Figueiredo Dias

In der langwährenden Epoche der Entwicklung des Verwaltungsstraf-


rechts unter der Führung des Polizeirechts ist bekanntlich die Gegen-
überstellung von Verwaltungsstrafrecht und reinem Strafrecht - in
klarer Verbindung mit der naturrechtlichen Lehre der Aufklärung -
auf die Unterscheidung zwischen Rechtsordnung und Verwaltungsord-
nung und darüber hinaus auf die Unterscheidung zwischen den Rechten
und Pflichten des Individuums zum einen und der Erfüllung wohlfahrt-
licher Staatsziele in einem rechtsfreien Raum zum andern zurückgeführt
worden. Und mag uns auch diese Auffassung in ihrer Bindung an voll-
kommen überholte politisch-ideologische und juristische Voraussetzun-
gen vor Augen treten, so war sie doch für die spätere Entwicklung be-
stimmend und ist dies in einem gewissen Sinne auch heute noch. In der
Zeit, da der Polizeistaat zu Ende geht und an seiner Stelle die Funda-
mente des zukünftigen Verwaltungsstaates gelegt werden, und sogar
auch noch bei Aufgabe der extrem individualistischen Position und Ein-
tritt in die Entwicklung, die das Verwaltungsstrafrecht im Namen der
sozialen Seite des menschlichen Daseins betreibt, besteht, obgleich in
neuer Einkleidung, die Gegenüberstellung von Rechtsordnung und Ver-
waltung fort, und der Vorrang des Individuums ist als solcher nicht ent-
scheidend betroffen.
Diese Sicht ist von Mattes überzeugend dargelegt wordenu , so daß
mir nur noch bleibt, den einen oder anderen bedeutsamen Gesichtspunkt
der späteren Entwicklung zu unterstreichen. Der angeführte Gegensatz
bleibt bestehen und der Vorrang des Individuums bleibt unbetroffen in
allen den Bahnen Bindings folgenden Auseinandersetzungen zwischen
der doppelten "sanktionatorischen" Natur des Justizstrafrechts und dem
Charakter "reinen Ungehorsams" des Verwaltungsstrafrechts sowie zwi-
schen "Rechtsgut" und "Verwaltungsgut"42. So verhält es sich auch, wenn
- wie in der Lehre von J. Goldschmidt - neben dem "Individuum"
der "Bürger" als Hilfsorgan einer Verwaltung erscheint, die nicht mehr
nur reine Abwehr von Gefahren für die individuelle Sphäre ist, son-
dern auf eine die Wohlfahrt fördernde Tätigkeit übergeht ("Wohlfahrts-
Verwaltung"). Und dasselbe gilt, wenn als Folge die "Verwaltungs-
güter" - immateriell und ohne Individualträger, bis dahin im Gat-
tungsbegriff "Gemeinwohl" eingeschlossen - zur Kategorie der Neben-
rechtsgüter erhoben werden, die dazu bestimmt sind, als Vorschutz der
Kernrechtsgüter zu dienen, die ihrerseits vom Justizstrafrecht geschützt
werden und an Individualträger gebunden sind43 • Schließlich ergibt sich
41 Mattes (Anm. 15), Band 1, 1. Teil und Band 2, S. 93 ff.
42 Binding, Die Normen und ihre übertretungen, I, 4. Auf!., 1922, S. 397 ff.
n Goldschmidt, Das Verwaltungs strafrecht. Eine Untersuchung der Grenz-
gebiete zwischen Strafrecht und VerwaItungsrecht auf rechtsgeschichtlicher
und rechtsvergleichender Grundlage, Neudruck der Auf!. 1902, 1969, S. 532 ff.,
584 f.
Vom Verwaltungsstrafrecht zum Nebenstrafrecht 95

in der Perspektive der hier vorgenommenen Betrachtung kein substan-


tieller Bedeutungswandel, wenn später E. Wolf bemerkt, daß sich die
Verwaltung nicht mit der Erhaltung und Stabilisierung der Rechtsper-
sönlichkeit begnügt, sondern von diesem Personsein fordert, daß sich
der Betroffene in einen aktiven Bürger verwandelt und sich auf eine
positive Weise im verwaltungssozialen Raum verhält44 •
Mit alledem hat sich die Lehre des Verwaltungsstrafrechts allmählich
von vorbestimmenden Begriffselementen befreit, um sich auf normative
und wertende Erwägungen zu stützen. Aber im Grunde bleibt das indi-
vidualistische Vorurteil, das die Wertung der gemeinschaftsbezogenen
Persönlichkeit des Menschen als autonome Grundlage der Rechtsgel-
tung verhindert. Allerdings ist eine solche Auffassung nach der Wende
zum heutigen materiellen Rechtsstaat mit sozialer Verankerung als
gänzlich überholt anzusehen: Das Mensch-Sein ist für das Recht immer
das Mit-Sein, das sozialisierte Sein, das In-Gesellschaft-Sein oder wie
man sich am liebsten ausdrücken möchte 45 • Aber wenn es sich aus diesem
Grunde bei der Unterscheidung zwischen Justizstrafrecht und Verwal-
tungsstrafrecht nicht mehr um die Gegenüberstellung von Individuum
und Gesellschaft, von Rechtsordnung und Verwaltung, von Justiz und
Wohlfahrt, von Rechtsgut und Verwaltungsgut handeln kann, worum
handelt es sich dann eigentlich? Müssen wir uns mit der Schlußfolge-
rung begnügen, daß die Geschichte des Verwaltungsstrafrechts bereits
an ihr Ende gelangt ist, so daß auch der Begriff des Nebenstrafrechts
sich weder (wenigstens solange er mit dem Begriff des Verwaltungsstraf-
rechts verbunden ist) durchsetzen noch mit Erfolg ein Minimum an
materieller Autonomie fordern kann?
Ich glaube, einen Ausweg zu sehen; und die portugiesische strafrecht-
liche Lehre befindet sich heute in einer guten Position, um ihn zu er-
kennen. Auf der Grundlage der geltenden Verfassung gelange ich im
Ergebnis zu dem Vorschlag, daß die spezifische Rechtsgeltung des Ver-
waltungsstrafrechts und die Spezifität der Rechtsgüter, die es schützt,
bejaht werden soll; und daß von daher auf die (relative) Autonomie des
Nebenstrafrechts im grundsätzlich einheitlichen Gesamtbestand des
Strafrechts geschlossen werden soll.

44 E. Wolf (Anm. 29), S. 516 ff., 568.


45 In diesem Sinn mein Artikel (Anm.20), S. 30 f. Reich an Anregungen
bereits Maihafer, Menschenbild und Strafrechtsreform, Berliner Universi-
tätstage 1964, S.5. Eine umfassende Diskussion im exakten Zusammenhang
mit den hier angestellten überlegungen findet sich bei Mattes (Anm. 15),
Band 2, S. 101 ff., 111 ff. Wie im Text auch Jescheck (Anm.2, 1959), S.461
und Tiedemann (Anm. 23), S. 104 ff.
96 J orge de Figueiredo Dias

VII.
1. Voraussetzung für die Frage nach einer spezifischen Rechtsgeltung
oder nach einer besonderen Art der Rechtsgeltung des Verwaltungs-
strafrechts ist das Verständnis der Rechtsgeltung des Staates, dem das
Verwaltungsstrafrecht angehört. Ist die Art, wie sich der Staat dem
Recht gegenüberstellt, von einer Beschaffenheit, daß das Verwaltungs-
strafrecht als autonome Materie gedacht werden kann?
Wenn vom Staat46 ausschließlich gefordert wird, daß er sich dem Recht
als formaler Rechtsstaat gegenüberstellt, scheint mir eine bejahende
Antwort auf die gestellte Frage nicht möglich. Da hier eine totale Be-
herrschung der Form über den Inhalt besteht, erkennen sich der Staat
und seine Rechtsordnung nicht durch Inhalte materieller Sinngebung
begrenzt, sondern nehmen die Rechtsgeltung irgendwelcher durch das
formelle Schema der Gesetzlichkeit bestimmter Inhalte an und sehen
von den materiell rechtlichen Intentionen ab, die das Gesetz leiten. Von
diesem Standpunkt aus müßte gesagt werden, daß das Verwaltungs-
strafrecht lediglich ganz einfach Strafrecht sein könnte.
Wenn der Staat im Unterschied dazu die formale Legalität gering-
schätzt oder sogar bekämpft, wenn er seine Bindung an Recht und Ge-
setz leugnet oder sich nicht an das Gesetz, sondern nur an die Verwirk-
lichung der Zwecke und die Inhalte gebunden fühlt, die seine ideolo-
gische Zielsetzung vorschreibt, dann verliert das Rechtsproblem als sol-
ches seine Autonomie - und dies auch dann noch, wenn sich ein der-
artiger Staat als ein "Sozialstaat", jedoch nicht als "sozialer Rechts-
staat" bezeichnen kann41 • In diesem Fall verwandelt sich das Strafrecht
gewissermaßen in eine polizeiliche Verwaltungsordnung, und dies in dem
Sinne, daß der Bruch der Bindung an das Recht die Steuerung der gan-
zen staatlichen Ordnung durch pragmatische, zweckmäßige, technologi-
sche, auf die Wohlfahrt oder auf sonstige materielle Inhalte gerichtete
Intentionen bestimmt.
Eine relative Verselbständigung des Verwaltungsstrafrechts im Straf-
recht ist nur im Rahmen eines materiellen, sozial und demokratisch ge-
prägten Rechtsstaates verständlich. Ich meine damit jeden Staat (aber

46 Für die folgenden Beurteilungen aus dem portugiesischen Schrifttum


u. a. Soares, Direito publico e sociedade tecnica, 1969, S. 39 ff., 145 ff., 167 ff.,
Gomes Canotilho (Anm. 11, 1983), S. 268 ff., 386 ff.
41 Als derartiger Fall wird der portugiesische Staat auf der Grundlage
seiner zwischen 1933 und 1974 gültigen Verfassung und mit dem für ihn zu
Beginn der siebziger Jahre von vielen erhobenen Anspruch als "Sozialstaat"
angeführt. Nach J. Miranda (Anm.11, 1978), S.500, hat die Verfassung von
1976 auf Grund dieser "Degradierung" des "Sozialstaates" den Begriff "demo-
kratischer Rechtsstaat" dem im Verfassungsrecht Westeuropas geläufigeren
Begriff "sozialer Rechtsstaat" vorgezogen.
Vom Verwaltungs strafrecht zum Nebenstrafrecht 97

nur ihn), der einerseits auf Bindung an das Recht und sogar an die
strenge Legalität seiner formalen Festlegung besteht, das verfassungs-
mäßige Zustandekommen der Gesetze und die Einhaltung der Grund-
rechtsgarantien beachtet; andererseits kommt es aber darauf an, daß
sich der Staat in diesem Rahmen von Erwägungen materieller Gerech-
tigkeit leiten läßt, um alle (wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen)
Bedingungen der freien Entfaltung der menschlichen Person zu för-
dern. In diesem Zusammenhang ist das Vorhandensein zweier relativ
selbständiger Bereiche der Tätigkeit des Staates gut verständlich: Der
eine Tätigkeitsbereich betrifft den Schutz der spezifisch persönlichen
(obgleich nicht "individuellen") Wirkungssphäre des Menschen und
wird in erster Linie durch die persönlichen Grundrechte bestimmt; der
andere Tätigkeitsbereich betrifft den Schutz der auf die Gemeinschaft
bezogenen Wirkungssphäre des Menschen und wird vor allem durch
seine Grundrechte und Grundpflichten wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Charakters (oder im weitesten Sinne ausgedrückt: durch
seine "sozialen Grundrechte") gebildet.
Es handelt sich im ganzen um den Typus eines Staates, der - als Bei-
spiel kann auf die Lage nach der geltenden portugiesischen Verfassung
verwiesen werden48 - ohne Verzicht auf eine spezifisch normative und
axiologische Intentionalität deshalb doch nicht seine Bindung an das
Recht im Rahmen einer demokratischen Legalität bricht. Freilich kann
auf dem Betätigungsfeld der sozialen Aufgaben des Staates, wo die
fragliche Intentionalität stärker vernehmbar ist, die Notwendigkeit be-
stehen und anzunehmen sein, daß in einigen Punkten die traditionellen
Forderungen des formellen Rechtsstaates, was die Einschränkung der
Strafgewalt betrifft, geändert werden müssen. Damit sind aber das er-
wählte Feld des Verwaltungsstrafrechts und der rechtspolitische An-
satz benannt, bei dem seine Autonomie ohne Widerspruch denkbar ist.

2. Es ist indessen noch erforderlich, die in der Betrachtung des mate-


riellen Rechtsstaates erkannten normativen Grundlagen und Grenzen
der Autonomie des Verwaltungsstrafrechts in strafrechtliche Begriffe
umzusetzen.
Unbestreitbar ist zunächst, daß der traditionelle dogmatische Aus-
gangspunkt der Verwaltungsstrafrechtslehre - die Unterscheidung
zwischen der Verletzung von Verwaltungsinteressen und wesentlichen
Interessen des individuellen Lebens 49 - hinfällig ist, und zwar auch
dann, wenn er auf die Unterscheidung zwischen Rechtsgut im strengen

48Vgl. die oben genannten portugiesischen Verfasser (Anm. 11).


49Eine Unterscheidung, die selbst bei einem Verfasser wie Eb. Schmidt
(Anm. 25), S. 20, noch so lebendig ist.

7 Festschrift für H.-H. Jescheck.


98 Jorge de Figueiredo Dias

Sinn und Verwaltungsgut zurückgeführt wird. Es handelt sich hier


nämlich erneut50 um die Anerkennung der dem formellen Rechtsstaat
eigentümlichen Gegenüberstellung von Individuum und Gemeinschaft
sowie die Anerkennung des ausschließlich individuell-liberalen Rechts-
gutsbegriffs und die Vorstellung, daß das Verwaltungsstrafrecht seinem
Inhalt nach nicht an die verfassungsrechtliche Ordnung gebunden ist.
Aber schon der oben angeführte Gedanke von J. Goldschmidt, nach
dem sich das Verwaltungsstrafrecht auf ideelle subjektlose Güter, auf
eine Art Nebenrechtsgüter im Verhältnis zur Strafrechtsordnung be-
zieht, verdient Beachtung. Dies gilt vor allem, wenn sich dieser Ge-
danke mit dem Vorschlag E. Wolfs verbindet, nach dem das, was für den
Verwaltungsschaden spezifisch ist und das entsprechende Unrecht cha-
rakterisiert, der Unmöglichkeit des Bezugs auf eine individuelle Person
oder Sache und folglich fehlender Materialität entspricht, so daß ein
solcher Schaden nicht als Veränderung der Außenwelt beweisbar ist,
sondern nur als Nichterfüllung einer im konkreten Fall vom Staat ge-
stellten Aufgabe in Erscheinung tritt. Aus diesem Grunde ist es besser,
anstatt von einer Immaterialität des Verwaltungsschadens von seiner
trans-naturalistischen und trans-personalen Materialität zu sprechen.
Genau an dieser Stelle zeigt eine neue re deutsche Lehre, für die vor
allem auf Tiedemann zu verweisen ist, die Anknüpfung des Gedankens
an eine "gewisse Sozialisierung" des Rechtsgutsbegriffs, der in Verbin-
dung mit seiner Relativierung auf einen besonderen Sinngehalt das
Verwaltungsstrafrecht erhellen S01151 • Diese Lehre versäumt nicht die
Einsicht, daß der materielle Ansatz des Rechtsstaates die Grundpositio-
nen von Goldschmidt und E. Wolf insoweit als unzulänglich erweist, als
eine neue Auffassung des Grundsatzes der Gewaltenteilung52 die For-
derung der Wohlfahrt nicht mehr als eine ausschließliche Aufgabe der
Verwaltung, sondern als eine mögliche Funktion des Gesetzgebers und
folglich der Gerechtigkeit begreift53• Man hat indessen anzuerkennen,
daß diese Grundpositionen, wenn auch noch unzureichend, auf etwas
Wesentliches hinweisen: auf die Unterscheidung in der Rechtsgüterord-
nung zwischen Rechtsgütern, die sich unmittelbar auf den Schutz per-
sönlicher Werte zurückführen, und solchen, die auf den Schutz überper-
sönlicher, das soll heißen sozialer Werte gründen.

50 Wie Mattes (Anm. 15), Band 2, S. 143 ff. ausführlich gezeigt hat. Vgl.
ebenfalls Tiedemann (Anm. 23), S. 101 ff.
51 Tiedemann (Anm.23), S. 113 ff.; ders. (Anm. 10), 1976, Band 2, S. 50 ff.,
141 ff.
52 Diese Auffassung, zu der die deutsche öffentlich-rechtliche Lehre so viel
beigetragen hat, ist in Portugal im Gutachten Nr. 16179 der Verfassungskom-
mission (Berichterstatter Dias) erörtert worden. Vgl. Pareceres (Anm.38),
Band 8 (1980), S. 205.
53 Tiedemann (Anm. 23), S. 110 ff., 113 ff.
Vom Verwaltungsstrafrecht zum Nebenstrafrecht 99

Diese Auffassung wurde in der portugiesischen Lehre zwar schon kri-


tisiert, weil sie außer acht lasse, daß - so wörtlich Eduardo Correia -
"alle vom Strafrecht geschützten Rechtsgüter Güter des Rechts oder für
das Recht, Interessen des Staates oder für den Staat, also überindivi-
duell" sind54 • Die vorgenommene Unterscheidung wird sich m. E. je-
doch durchsetzen können, wenn der wesentliche Grundsatz des Ver-
waltungsstrafrechts - die Beachtung der auf die Gemeinschaft bezoge-
nen Persönlichkeit der Person als Sozial-Sein - durch eine Wertung
ergänzt wird, die den in der Verfassung eingeschlossenen Inhalt der
sozialen Gerechtigkeit in Rücksicht nimmt, oder mit anderen Worten:
wenn bestimmte verfassungsrechtliche Normen und Werte für die aus
strafrechtlicher Sicht bedeutsame Verwaltungstätigkeit zu Bezugspunk-
ten oder Bezugsrahmen werden55 •
3. Da ich damit am Ende meiner Argumentation angelangt bin, möchte
ich mich nunmehr einigen für das Problem grundlegenden Gegebenhei-
ten zuwenden, die sich aus der neuen verfassungsrechtlichen und straf-
rechtlichen Ordnung Portugals ergeben.
Hier herrscht der Gedanke, daß Aufgabe des ganzen Strafrechts der
Schutz VOn Rechtsgütern ist, wobei man darunter für die soziale Ge-
meinschaft bedeutsame Interessen versteht, deren Verteidigung und
Förderung unerläßliche Bedingung der freien Persönlichkeitsentfaltung
ist 5s • Auf diese Weise hängt die Erhebung eines Interesses zur Kategorie
eines Rechtsguts im wesentlichen nicht so sehr nur vom "sozialen
System" ab, in dem es eingeordnet ist, sondern von der verfassungs-
rechtlichen Wertordnung als Ausdruck der Reichweite des in der Ge-
meinschaft bestehenden Konsenses, ohne den die Strafrechtsordnung
als demokratische Ordnung nicht denkbar ist 57 • Damit ist der Weg dafür
gebahnt, daß sich die vom Strafrecht geschützten Rechtsgüter - das
Verwaltungsstrafrecht miteinbegriffen - nicht unbestimmt und ab-
strakt darstellen58 , sondern die unerläßliche Spezialisierung und Kon-
54 Correia, Introducao ao direito penal econ6mico, Revista de Direito e
Economia 3 (1979), S. 24.
55 Wie übrigens ausdrücklich von Tiedemann angeregt wurde (Anm.23),
S. 104 f., obwohl danach auf einem vom Vorschlag im Text verschiedenen
Weg ausgeführt.
56 Diesen Gedanken habe ich in verschiedenen meiner Schriften zu beto-
nen versucht: (Anm.20), S.23, 48; (Anm.22) S. 8 f.; (Anm. 13), S. 194 ff.; und
besonders (Anm.37), S. 13 ff. Im gleichen Sinn Costa Andrade, 0 consenti-
menta do ofendido no novo C6digo Penal, in: Para uma nova justica penal,
Coimbra, 1983, S.117; ders., A nova lei dos crimes contra a economia a luz
do conceito de "bem juridico" (Veröffentlichung bevorstehend in dem in
Anm.14 genannten Sammelband; Verf. dankt für die freundliche überlas-
sung des Manuskripts); Faria Costa (Anm. 22).
57 über diesen Punkt zusammenfassend mein Artikel (Anm. 36), S. 224 f.
58 Es handelt sich hier um eine häufig ausgedrückte Befürchtung: Correia
(Anm. 54), S. 24 f.; Figueiredo Dias/Costa Andrade (Anm. 10), S.35. Costa
100 J arge de Figueireda Dias

kretisierung gewinnen. Das Verwaltungs recht verkörpert in seinem


verfassungs rechtlichen Zusammenhang - als Rechtspasitivierung der
staatlichen Sozialpolitik - nicht eine nur pragmatische, finalistische
und den Werten gegenüber gleichgültige Rationalität, sondern eine Ord-
nung von unmittelbarer axiologischer Bedeutung. Im Verwaltungsstraf-
recht wie im Justizstrafrecht geht es demgemäß um die freie Entfaltung
der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft, und notwendiger-
weise um echte Rechtsgüter. Allerdings ist für den Bereich des Verwal-
tungsstrafrechts festzustellen, daß sich die Betätigung der menschlichen
Persönlichkeit als soziales Phänomen, als Wirken in der Gemeinschaft
und in gegenseitiger Abhängigkeit von ihr zeigt59 • Ausdruck dieses Ver-
hältnisses sind auf verfassungsrechtlicher Ebene die Teile der portugie-
sischen Verfassung, in denen die sozialen Grundrechte und die wirt-
schaftliche Ordnung festgelegt sind, während der Teil der Verfassung,
der sich mit den Rechten, Freiheiten und Garantien, d. h. mit den per-
sönlichen Grundrechten befaßt, eine Form des menschlichen Wirkens
betrifft, bei dem die gegenseitige Abhängigkeit in bezug auf die Ge-
meinschaft sich nicht feststellen läßt oder jedenfalls nicht notwendig ist.
Soll dies dann jedoch bedeuten, daß die Unterscheidung zwischen
Justizstrafrecht und Verwaltungsstrafrecht im wesentlichen auf der
Ebene der Rechtsgüter stattfindet, daß die Rechtsgüter des Justizstraf-
rechts dem Schutze der persönlichen Grundrechte, die des Verwaltungs-
strafrechts dem Schutze der sozialen Grundrechte und der wirtschaft-
lichen Ordnung entsprechen?
Schon seit langem vertrete ich den Standpunkt, daß die Legalordnung
der Rechtsgüter im materiellen Rechtsstaat eine Wertordnung sein
muß, die der entspricht, die der Verfassung zugrunde liegt80 • Demzu-
folge gilt: wenn - wie Art.3 Zm.2 der port. Verfassung vorschreibt
- die ganze staatliche Tätigkeit der Verfassung unterstellt ist und sich
auf die demokratische Gesetzlichkeit gründet, muß gefolgert werden
(wie es in der Bundesrepublik besonders von W. Sax angedeutet wur-
de 6!), daß zwischen den beiden Ordnungen ein gewisses Verhältnis

Andrade, A nova lei (Anm. 56), versucht jetzt eine eingehende Bestimmung
der Rechtsgüter im Wirtschaftsstrafrecht über einen Weg, der weitgehend
mit der hier vertretenen Linie übereinstimmt.
59 Dagegen Mattes (Anm. 15), Band 2, S. 101 ff. Im Text versuche ich ver-
ständlich zu machen, daß der Mensch als für das ganze Recht "sozialisierter"
Mensch seine Persönlichkeit als persönliches Sein und als auf die Gemein-
schaft bezogenes Sein entfaltet. Vgl. Tiedemann (Anm. 23), S. 107.
80 Ohne daß es für die übereinstimmung mit dem Text notwendig ist,
zum Bestehen oder Nichtbestehen eines der Verfassung vorangehenden und
höheren (geschlossenen) "Wertsystems" Stellung zu nehmen. Vgl. bereits Fi-
gueiredo Dias (Anm. 36), S. 255 Anm. 20.
81 Grundsätze der Strafrechtspflege, in: BettermannjNipperdeyjScheuner,
Die Grundrechte II-2, Berlin, 1959, S. 911.
Vom Verwaltungs strafrecht zum Nebenstrafrecht 101

wechselseitiger Beziehung besteht. Bei diesem Verhältnis handelt es


sich weder um "Identität" noch um "gegenseitige Deckung", sondern um
materielle Analogie, die auf eine wesentliche Sinnentsprechung grün-
det. Diese Entsprechung ergibt sich aus der Bedeutung der verfassungs-
mäßigen Wertordnung als Bezugsrahmen und zugleich regulatives Kri-
terium für die Straftätigkeit des Staates.
Dieser Standpunkt wurde ausdrücklich von der portugiesischen Ver-
fassung nach der Änderung von 1982 übernommen. Der neue Text des
Art. 18 Ziff.2 betont in der Tat, daß die Einschränkungen von Grund-
rechten - in die sich stets die Kriminalisierung irgendwelcher Hand-
lungen umsetzt - "auf das zur Wahrung anderer verfassungsmäßig
geschützter Rechte oder Interessen Notwendige zu begrenzen sind". Die
Forderung eines i. S. des hier vertretenen Standpunktes wechselseitigen
Beziehungsverhältnisses zwischen der verfassungs rechtlichen Wertord-
nung und der gesetzlichen Rechtsgüterordnung wird auf diese Weise
unbestreitbar.
In diesem, und nur in diesem Sinne erlaube ich mir die Schlußfolge-
rung, daß die vom Justiz- oder Kernstrafrecht geschützten Rechtsgüter
als Konkretisierungen der mit den persönlichen Grundrechten verbun-
denen Verfassungswerte anzusehen sind, während die vom Verwal-
tungs- oder Nebenstrafrecht geschützten Rechtsgüter Konkretisierun-
gen der mit den Sozialrechten und mit der Wirtschaftsordnung verbun-
denen Verfassungswerte darstellen. Diese Argumentation scheint mir
noch dadurch verstärkt zu werden, daß die relative Verselbständigung
der beiden Grundrechtsbereiche in der portugiesischen VerfassungG2
gerade in der Anerkennung der zweifachen Art der Entfaltung des
Menschen in der Gemeinschaft ihren Grund hat und damit auch eine
entsprechend unterschiedliche Art der Staatstätigkeit festlegt: Auf der
einen Seite findet sich der Weg des Menschen zu seiner persönlichen
Verwirklichung "als dieser Mensch" - und hier ist dem Staat die Pflicht
auferlegt, den Wirkungsbereich der Person selbst unmittelbar zu schüt-
zen, indem er sich ihr gegenüber selbst beschränkt. Auf der anderen
Seite findet sich der Weg der sozialen Entfaltung des Menschen "als

6l Es ist mir bewußt, daß hier zum Verständnis ein Gesamtüberblick über
die Wertordnung der Verfassung erforderlich wäre. Allerdings muß ich mir
hier eine Rechenschaft versagen über die umfangreichen Ausarbeitungen
durch Lehre und Rechtsprechung, die ihren Grund darin hatten, daß sich
die portugiesische Verfassung von 1976 nicht mit einer Klausel oder Begriffs-
bestimmung sozialer Rechtsstaatlichkeit begnügte, sondern eine lange Liste
von sozialen Grundrechten verankert hat; vgl. jedenfalls Vieira de Andrade
(Anm. 11, 1978), S. 97 ff., 198 ff.; Games Canatilha (Anm. 11, 1983), S. 97 ff.,
512 ff.; Miranda (Anm. 11, 1978), S. 303 ff. Ich begnüge mich damit zu betonen,
daß eine derartige Tatsache für das von mir behandelte Problem größte
Bedeutung haben kann und als Ausgang für feststellbare Entwicklungen in
der portugiesischen Strafrechtslehre in Betracht kommt.
102 J orge de Figueiredo Dias

Mitglied der Gemeinschaft" - und hier ist der Staat an die positive Auf-
gabe gebunden, die Befriedigung der Interessen zu fördern, die aus den
Grundsätzen und Zielen der Gestaltung der sozialen Gemeinschaft ent-
stehen.
VIII.
Vor dem Hintergrund des Verständnisses der spezifischen Rechtsgel-
tung des Verwaltungs- und Nebenstrafrechts müßten nunmehr die be-
sonderen dogmatischen Konsequenzen erörtert werden, die es hier zu
erkennen gilt: Zum Beispiel im Hinblick auf die zeitliche Geltung der
Gesetze, die Bestimmbarkeit und die Bildung der Tatbestände, die
Pflichtdelikte und die abstrakten Gefährdungsdelikte, die Anerkennung
der Verantwortlichkeit der juristischen Personen, die Irrtumsregelung,
die Schuld und die Prävention zum Zwecke der Auswahl und Zumes-
sung der Strafe und vieles andere mehr. Aber eine solche Aufgabe
würde deutlich die Grenzen überschreiten, die der vorliegende Beitrag
zu beachten hat.
Ich muß also schließen und versuchen, die wichtigsten Ergebnisse aus
den vorstehenden Betrachtungen zusammenzufassen. Das Verwaltungs-
strafrecht ist in seiner gegenwärtigen Gestalt nicht mit dem Ordnungs-
widrigkeitenrecht identisch: Dieses bildet eher eine negative, normative
Begrenzung, indem es sich auf einen Bereich erstreckt, zu dem Verhal-
tensweisen gehören, die sich unabhängig von den sie betreffenden Ver-
boten als axiologisch neutral erweisen. Demgegenüber hat es das Ver-
waltungs- oder Nebenstrafrecht mit einem für sich genommen sozial-
ethisch bedeutsamen Verhalten zu tun und gehört zum Strafrecht. Die-
ser sozialethischen Relevanz entspricht aber in ihrer rechtlichen Umset-
zung eine besondere Artung, die eine (relative) Verselbständigung des
Verwaltungs- oder Nebenstrafrechts gegenüber dem Justiz- oder Kern-
strafrecht gestattet83 •
Diese besondere Wesensart gründet sich auf die ebenfalls besondere
Resonanz, die den Aufgaben der sozial ethischen Gestaltung der Ge-
meinschaft im Rahmen des materiellen Rechtsstaates entspricht. Sie
stellt sich in einer gesetzlichen Ordnung der Rechtsgüter dar, deren
spezifische Eigenart die verfassungsrechtliche Wertordnung der sozialen
Grundrechte und der Wirtschaftsordnung zum Maßstab hat. Die so zu-
standekommende gesetzliche Ordnung gewinnt deshalb eine relative
Autonomie gegenüber der Rechtsgüterordnung des Kernstrafrechts, die
ihrerseits an der verfassungsrechtlichen Wertordnung der persönlichen
Grundrechte orientiert ist. Die relative Unterscheidung zwischen Kern-

83 Ich nähere mich damit - wenn nicht in der Begründung, so doch we-
nigstens in der Schlußfolgerung - der von Lange, JZ 1956, S. 77 f. angedeu-
teten und besonders von Michels (Anm. 30), S. 23 ff., begründeten Dreiteilung.
Vom Verwaltungs strafrecht zum Nebenstrafrecht 103

und Nebenstrafrecht - oder zwischen Justiz- und Verwaltungsstraf-


recht - findet daher ihre letzte Legitimierung in der doppelten Auf-
gabe, die die menschliche Persönlichkeit im Zusammenhang mit dem
materiellen Rechtsstaat erfüllt: obwohl der Mensch für die Rechtsord-
nung immer als konkretes und sozialisiertes Wesen erscheint, entfaltet
er seine Persönlichkeit in der doppelten Sphäre seiner persönlichen und
gemeinschaftsbezogenen Betätigung, ohne daß sich die eine über die
andere in ihrer ursprünglichen Bedeutung und Gültigkeit hinwegsetzt.
Das Justizstrafrecht - in diesem Sinne Kernstrafrecht - bezieht sich
auf den Schutz der erstgenannten Betätigung; auf den Schutz der zwei-
ten bezieht sich das Verwaltungsstrafrecht - in diesem Sinne Neben-
strafrecht.
JüRGEN BAUMANN

Dogmatik und Gesetzgeber. Vier Beispiele

I. Zur Problematik allgemein

1. Der Jubilar gehört zu den Strafrechtslehrern, die sich in hervor-


ragender Weise um Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit im Straf-
recht verdient gemacht haben, ohne doch dabei die Notwendigkeit der
Lösung moderner, d. h. vom historischen Gesetzgeber nicht bedachter
Probleme aus den Augen zu verlieren.
So erinnere ich mich an Strafrechtslehrertagungen, bei denen das
ceterum censeo des unvergessenen Kollegen Hellmuth Mayer 1 gegen
die ständige Rechtsprechung2 und herrschende Meinung3 zur Straf-
barkeit der unechten Unterlassung nicht von allen, wohl aber vom
Jubilar nachdenklich und verständnisvoll aufgenommen wurde - und
auch heute noch' finden sich im "Jescheck" wegweisende Ausführun-
gen zum Analogieverbot 5 und zum Bestimmtheitsgrundsatz8 , auch bei
der Strafbarkeit der unechten Unterlassung.
So liegt es m. E. nahe, ein Thema aus diesem Bereich zu wählen
und das um so mehr, als der Jubilar sowohl die deutsche Strafrechts-
dogmatik als auch die deutsche Strafgesetzgebung7 entscheidend ge-
fördert hat. Jescheck ist wie kein anderer immer Strafrechtsdogmati-
ker und Rechtspolitiker gewesen, und die Entscheidung, ob der Gesetz-
geber in der Pflicht sei oder ob eine richterliche und dogmatische
Fortentwicklung des geltenden Rechts ohne Inanspruchnahme des Ge-

1 Vgl. H. Mayer, Strafrecht AT, Studienbuch, 1967, S. 75 ff.; ders., Straf-


recht AT, 1953, S. 111 ff.; ders., Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. I,
S. 277; Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen und Strafgesetz, 1974.
! Seit RGSt. 10, 101.
a Vgl. statt vieler die Nachweise bei Jescheck, AT, 3. Aufl. 1978, § 58 IV.
4 Stärker bis zur 2. Auflage des AT.
5 AT, § 58 IV 2 i. V. mit § 15 III 2 a.
6 AT, §58 IV2 i. V.mit § 15 III 3.

7 Man denke nur an die Mitarbeit in der Großen Strafrechtskommission,


an die zahlreichen, die Strafrechtsreform fördernden rechtsvergleichenden
Arbeiten aus seiner Feder und aus seinem Institut, aber auch an die jeweils
einflußreichen Arbeiten und Stellungnahmen zu aktuellen Problemen der
Strafgesetzgebung (auch in Hearings vor Bundestagsausschüssen).
106 Jürgen Baumann

setzgebers ausreiche, anstehende Probleme zu lösen, wird gerade ihm


auch als langjährigem Richter nicht immer sehr leicht gefallen sein.
"Den Schmerz der Grenze"8 zwischen Auslegung und Analogie, zwi-
schen Bestimmtheitsgrundsatz und richterlicher Rechtsfortbildung wird
er häufig empfunden haben.

2. Während in fast allen anderen Rechtsgebieten, vor allem im Zi-


vilrecht, die Aufgabe richterlicher Rechtsfortbildung9 heute nahezu
unangefochten ist und die Rechtsdogmatik Grenzen nur in sehr weiter
Ferne vom Gesetzeswortlaut und von der gesetzlichen Interessenab-
wägung anzuerkennen bereit ist10 , steht einer solchen Praxis im ma-
teriellen Strafrecht das Verfassungsverbot des Art. 103 11 GG entgegen,
jedenfalls für Analogie in malam partern. Auch mit dem Bestimmt-
heitsgrundsatz ist man großzügiger nur, quoties de commodo (eius)
agiturl l • Gleichwohl ist die Rechtsprechung und ihr folgend die Dog-
matik auch auf dem Gebiete des Strafrechts bemüht, an die Grenzen
der Auslegung und an die Grenzen des Bestimmtheitsgrundsatzes12 zu
gehen, um (vorgeblich) besserer Erkenntnis Rechnung zu tragen, oder
um das praktisch hie et nune geltende Recht "auf die Höhe der Zeit"
zu bringen = modernen Verbrechensbegehungsmethoden die Verbre-
ehensbekämpfung anzupassen.
Alles das kann natürlich nur geschehen, wenn man die Basis für
einen solchen Anpassungsprozeß schafft, wenn man also von der Ver-
bindlichkeit der ratio des historischen Gesetzgebers13 zur Verbindlich-
keit der ratio legis, also von der subjektiven zur objektiven Interpre-

8 H.Mayer.
• Hierzu Betti, Ergänzende Rechtsfortbildung als Aufgabe der richter-
lichen Gesetzesauslegung, Festschrift für Raape, 1948, S.379; Germann, Pro-
bleme und Methoden der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1967, S. 135 ff.; Larenz, Me-
thodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 351 ff.; Schwalm, Der
objektivierte Wille des Gesetzgebers, Festschrift für Heinitz, 1972, S. 47.
10 Vgl. etwa grundlegend Esser, Grundsatz und Norm, 3. Aufl. 1956, S. 69 ff.;
Larenz (Fn. 9).
11 Generalklauseln in bonam partem pflegen kaum so erbittert bekämpft
zu werden. Vgl. etwa Naucke, über Generalklauseln und Rechtsanwendung
im Strafrecht, 1973; Class, Generalklauseln im Strafrecht, Festschrift für Eb.
Schmidt, 1961, 2. Auf!. 1971, S. 122; Lenckner, JuS 1968, 249.
12 Bemerkenswert m. E., daß die frühere Warnung Welzels, LB, 7. Auf!.
1960, § 5 11, vor der Unbestimmtheit des "zu schnellen Fahrens" in § 315 a
(anders bei "Gefährdung des sittlichen Wohls" in § 170 b) in späteren Auf-
lagen nicht mehr aufrechterhalten wurde (vgl. LB, 11. Aufl. 1969, § 5 111) und
auch von der Literatur kaum aufgegriffen worden ist (anders § 11 11 1 der
1. Auf!. meines AT).
13 Bemerkenswert der Versuch von Naucke, Der Nutzen der subjektiven
Auslegung im Strafrecht, Festschrift für Engisch, 1969, S.274; ferner ders.,
Zur Lehre vom strafbaren Betrug, 1964, S. 191 ff., mit dem Versuch, Art. 103
II GG in Richtung subjektiver Methode auszulegen.
Dogmatik und Gesetzgeber. Vier Beispiele 107

tationsmethode übergeht l4 • Tut man dieses mit der h. L., und läßt man
dann auch noch die alleräußerste Grenze der Wortbedeutung als Aus-
legungsgrenze zu 1., so darf man sich nicht wundern, wenn das Ana-
logieverbot, jedenfalls was die Rechtspraxis betrifft, ganz in Zweifel
gezogen wird16 •
Wenn also auch im Strafrecht die Bedeutung der richterlichen Rechts-
fortbildung und auch die Bedeutung dogmatischer neuer Ansätze 17
zugenommen haben, freilich stets behindert durch Art. 103 II GG und
§ 1 StGB, so ist es kaum verwunderlich, wenn unterhalb dieser Grenze,
also bei Meidung des Gefahrenfeldes extensive Interpretation/Analo-
gie, der Glaube an die Verbindlichkeit gesetzgeberischer Formulie-
rungskünste zunehmend geschwunden ist. Man bewegt sich, solange das
Analogieverbot und der Bestimmtheitsgrundsatz nicht drohen, in
Rechtsprechung und Dogmatik zunehmend "freier". Und der histo-
rische Gesetzgeber, sein Wollen bei der Formulierung von Vorschrif-
ten, die 1975 oder noch später in Kraft getreten sind, interessieren
kauml8 •
Kaum noch findet man heute in Abhandlungen Hinweise auf die
Begründung des E 62, auf die Sitzungsberichte 19 und Niederschriften!O
der Großen Strafrechtskommission, und 1. und 2. Schriftlicher Bericht
des Sonderausschusses21 interessieren schon gar nicht. Wer sich bei der
Auslegung von Vorschriften des AT hierauf oder bei Auslegungsfra-
gen im BT auf die umfangreichen Gesetzesmaterialien, oder bei der
Auslegung von Vorschriften, die aus den verschiedenen Alternativ-
entwürfen übernommen sind, auf die dortigen Begründungen bezieht,

14 Diese ist denn auch ganz h. M., Nachweise bei Baumann, AT, 8. Aufl.
1977, § 13 12 b; Jescheck, AT, § 17 IV 2; Maurach/Zipf, AT, Bd. 1, 6. Aufl. 1983,
§ 9 11 2. Vgl. gegen die "Vieldeutigkeit" der Berufung auf die ratio legis aber
Stratenwerth, AT, 3. Aufl. 1981, § 3 III, Rn. 100. Zusammenfassend vgl. jetzt
Schroth, Theorie und Praxis subjektiver Auslegung im Strafrecht, 1983.
15 Ebenfalls ganz herrschende Rechtsprechung, vgl. BGHSt. 4, 148; 10, 160;
26, 96. Hier fehlt es nicht an Gegenstimmen in der Lit., vgl. die Nachweise
bei Jescheck, AT, § 17 IV 5; zur eigenen Auffassung Baumann, MDR 1958.394.
13 Vgl. dazu grundlegend Sax, Das strafrechtliche Analogieverbot, 1953;
Arthur Kaufmann, Analogie und Natur der Sache, 2. Aufl. 1982. Weitere
Nachweise Jescheck, AT, § 1511 2 und § 17 IV 3; Baumann, AT, § 1211 3 und
m.
17 Man denke nur an die neueren objektiven Zurechnungslehren, an die
Formel vom Schutzbereich der Norm ete.
18 Zur eigenen Warnung für Studenten, die historische Methode nicht
außer acht zu lassen, vgl. Baumann, AT, § 13 I 2 b. Bei Jescheck, AT, § 17 IV
1 Verbindung von historischer und teleologischer Methode, also Betonung der
Bedeutung für die Ermittlung des Zwecks der Vorschrift.
19 In ZStW ab Bd. 66 (1954).
20 Im Bundesanzeiger sowie in 14 Bänden gesondert publiziert.
!1 1. Schriftl. Bericht, BT-Drucks. V/4094; 2. Schriftl. Bericht, BT-Drueks.
V/4095.
108 Jürgen Baumann

erregt zumeist nachsichtiges Kopfschütteln. Daß bei so kurz zurück-


liegenden gesetzlichen Überlegungen und Wertungen hinsichtlich der
Verbrechensbekämpfung zumindest die Frage aufgeworfen werden
müßte, was sich in der Realität der Verbrechensbegehung eigentlich
seit dieser Zeit geändert hat, müßte doch für jeden, der die überra-
gende Funktion der Legislative und die dienende der Judikative
ernst nimmt, selbstverständlich sein.

11. Vier Beispiele

Prüfen wir, wie es eigentlich mit der Gesetzesgläubigkeit und mit


der Beachtung des Willens des historischen Gesetzgebers heute be-
stellt ist:

1. § 25 StGB und die "objektiven Teilnahmetheorien"


a) Wer des näheren miterlebt hat, wie sich im parlamentarischen
Raum die Gesetzgebungsarbeit gestaltet 22 , wie oft bei der einen oder
anderen Gesetzesfassung Zufälle mitwirken, mit wie schwacher und
zufälliger Besetzung (je nach Verhinderung einzelner Mitglieder) die
Parlamentsausschüsse arbeiten23 , der mag schnell den Glauben daran
verlieren, daß der dann in 3. Lesung im Plenum beschlossene Geset-
zestext die ratio scripta sei. Auch die im parlamentarischen Raum ge-
fundenen Kompromisse24 bei der Gesetzesfassung begeistern den nicht,
der die reine Lehre gefunden zu haben glaubt. Und wenn dann oft
in letzter Minute und fast diskussionslos Formeln hoher dogmatischer
Brisanz schnell ersetzt werden durch andere nicht minder brisante25 ,

22 Man denke etwa an die Entstehung des EGStGB vom 2.3. 1974, kri-
tisch dazu besonders die Aufsatzreihe von Dencker, Zielinski, Dornseifer,
Siegert, Britsch, Schöne, Armin Kaufmann, Strafrechtsreform im Einfüh-
rungsgesetz?, JZ 1973, 144, 193, 267, 308, 351, 446, 494; weitere Nachweise
Baumann, AT, § 5 I 2 e; vgl. auch ders., Strafrechtsreform ohne Gesamtparla-
ment, ZRP 1974,77.
23 So waren bei der Arbeit am EG bei manchen Sitzungen nur einige
wenige Ausschußmitglieder anwesend, sehr in der Minderzahl gegenüber
den Vertretern des Ministeriums und zumeist wohl auch weniger sachver-
ständig. Zu den 17 Sitzungen der "Arbeitsgruppe" (aus den 3 Fraktionen)
und den 10 Sitzungen (!) des Sonderausschusses vgl. dessen Bericht BT-
Drucks. 7/1261 sowie 7/1232.
24 Die aber oft auch ehrlich als solche offengelegt werden, vgl. etwa
Max Güde bei der 2. Lesung des 1. und 2. StrRG im Bundestag am 7.5.1969:
"... und auch zu dem Kompromiß (zwischen E 62 und AE, AT 1966) geführt
hat, den die jetzige Vorlage darstellt"; Prot. der 230. Sitzung, S.12 717.
25 Man denke im Bereich des Strafrechts nur an die in letzter Minute vor-
genommene Ersetzung der "Bewährung der Rechtsordnung" (vgl. § 47 in der
Vorlage des Sonderausschusses) durch die "Verteidigung der Rechtsordnung",
nachdem wohl klar geworden war, daß der erstere Begriff zu schwammig
und zu vieldeutig war. Als ob der letztere insoweit besser wäre!
Dogmatik und Gesetzgeber. Vier Beispiele 109

so verschlägt es manchem Dogmatiker wegen dieses Vorganges (nicht


bezüglich späterer Kritik!26) vollends die Sprache.
Was Wunder also, daß die Ehrfurcht vor dem Willen des subjekti-
ven Gesetzgebers (dazu oben I 2) ständig abnimmt und viele (gerade
herausragende) Dogmatiker glauben, diesen Willen weder erforschen
noch beachten zu müssen. Haben sie recht, wenn sie ihre eigene ratio
der des Legislateurs vorziehen, ja sind sie dazu nicht sogar ver-
pflichtet?

b) Während bekanntlich die Rechtsprechung des BGH seit jeher27


eine, freilich von der engeren Interessentheorie des RG28 gelöste, sub-
jektive Teilnahmetheorie vertritt 2V , herrschen im Schrifttum objek-
tive Teilnahmetheorien bei weitem vor30 . Dagegen ist sicher nichts ein-
zuwenden und Vertreter der objektiven und subjektiven31 Tatherr-
schaftslehren werden darauf hoffen, diese Lehren eines Tages auch
in der Rechtsprechung durchzusetzen. Die Aussichten sind angesichts
einiger BGH-Entscheidungen32 gar nicht einmal so schlecht. - Eine

26 Vgl. die kaum noch zu registrierenden Stellungnahmen zur "Verteidi-


gung der Rechtsordnung" und zur hierbei schwankenden Rechtsprechung der
Obergerichte. Nachweise Jescheck, AT, § 79 I 4 b; Baumann, AT, § 38 II 3 a;
MaurachIGösseZ!Zipf, AT, Bd.2, 5. Aufl. 1978, § 63 l e I b ce; zur eigenen An-
sicht Baumann, DRiZ 1970, 2.
27 In den Anfängen (BGHSt.8, 393) allerdings vehement bestritten von
Welzel, dagegen (mit Nachweisen) Baumann, NJW 1962, 374; 1963, 561; 1969,
1279, sowie ders., JuS 1963, 51, 85,125.
28 Beginnend schon RGSt. 2, 162, kulminierend in der besonders umstritte-
nen und kaum verteidigten Entscheidung RGSt.74, 85 (wobei dann zumeist
übersehen wird, daß das RG andernfalls die Todesstrafe hätte verhängen
müssen).
2V Kulminierend wieder in BGHSt. 18, 87 (BGHSt.8, 393 korrigierend).
Als Ausnahme darf wohl nur die Entscheidung BGHSt. 19, 135 zum fehlge-
schlagenen Doppelselbstmord gelten, obgleich gerade diese Entscheidung
zeigt, daß die subjektive Theorie "zu gerechteren Ergebnissen führt", so
auch Maurach, BT, 5. Aufl. 1969, § 2 IV B 3. Dem stimme ich zu.
Zur Entwicklung der BGH-Rechtspr. vgl. Jescheck, AT, § 61 IV; Baumann,
AT, § 36 I 3 c; eramer, in: SchönkelSchröder, Vorbem. vor §§ 25 ff. Rn. 57 ff.;
Jakobs, AT, 1983, S. 504; MaurachIGösseZ!Zip!, AT, Bd. 2, § 47 II B 2; Schmid-
häuser, AT, 2. Aufl. 1975, S.507, 578 (nicht in AT Stud. Buch, 1982); Straten-
werth, AT, 3. Aufl. 1981, § 12 A I; WesseIs, AT, 12. Aufl. 1982, § 13 11.
30 Besonders gefördert durch die 1. Aufl. 1963 von Roxin, Täterschaft und
Tatherrschaft (4. Aufl. 1984). - Zur Entwicklung der Tatherrschaftslehre in
der Lit. vgl. die Nachweise bei den in der vorigen Fn. zit. Schriften.
31 Subjektiv insoweit, als heute überwiegend zur Tatherrschaft auch der
Herrschaftswille gehören soll, so daß bei nur objektivem Beherrschen des
Geschehens ohne entsprechenden Willen Tatherrschaft und damit Täterschaft
abzulehnen wäre. Nachweise wie zuvor, ferner zur Entwicklung Baumann,
Mittelbare Täterschaft oder Anstiftung bei Fehlvorstellungen über den Tat-
mittler?, JZ 1958, 230; ders., Täterschaft und Teilnahme, JuS 1963, 51, 85, 125.
32 Z. B. BGHSt. 19, 135. Nur bei den Unterlassungsdelikten wird der BGH
kaum auf die subjektive Abgrenzung verzichten wollen (und können, z. B.
110 Jürgen Baumann

andere Sache ist freilich, wenn man zur Begründung materiell-objek-


tiver Theorien auf die Fassung des § 25 StGB (i. d. F. des 2. StrRG)
verweist. So wird die Ansicht vertreten33 , daß die Formulierung in
§ 25 StGB "wer die Straftat selbst" bedeute, daß bei eigenhändiger
Tatbestandserfüllung kraft Entscheidung des Gesetzgebers (I) stets Tä-
terschaft angenommen werden müsse. Darüber hinaus wird verall-
gemeinert 34 : "Der extrem subjektiven Theorie ist jetzt durch § 25 I
1. Alternative die Grundlage entzogen".
Schaut man in die Materialien zu § 25 StGB 35 , so findet man, daß
das keineswegs die Absicht des Gesetzgebers gewesen ist. So heißt es
in der Begründung des E 62 36 : "Der Entwurf gibt dem so verstande-
nen Gedanken der Tatherrschaft Raum. Er verzichtet jedoch darauf,
ihn gesetzlich festzulegen, um einer weiteren Entwicklung in Recht-
sprechung und Rechtslehre nicht vorzugreifen." Mit der Formulierung
"selbst oder durch einen anderen" wollte der E 62 nur bewirken, daß
erstmalig die bis dato nicht im Gesetz verankerte mittelbare Täter-
schaft gesetzlich fixiert würde. Zur Abgrenzung und zu den Teil-
nahmetheorien hat sich der E 62 bewußt nicht geäußert. - § 27 des
AE, AT von 196637 hatte den gleichen Wortlaut wie § 29 E 62 und § 25
StGB 1975. In der Begründung heißt es38 : "Eine weitergehende Fest-
legung der verschiedenen Teilnahmeformen ... ist nicht zu empfeh-
len". Nicht verschwiegen werden soll, daß der AE (hier Roxin folgend)
durch § 27 Abs.1 klarstellen wollte, daß bei voller eigenhändiger Tat-
bestandserfüllung nicht bloß Beihilfe, sondern Täterschaft anzuneh-
men sei. Um diese Begründung hat es heftigen Streit gegeben. - Der
Sonderausschuß des Deutschen Bundestages hat39 § 25 StGB in der
Fassung des 2. StrRG nur wie folgt begründet: "Die Ausschußfassung
entspricht wörtlich den beiden Entwurfsvorschriften" . Aber kaum an-

bei mehreren gleich verpflichteten Garanten). Dazu schon Armin Kaufmann,


Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959, S.294; GTÜnwald, GA 1959,
110; Kielwein, GA 1955,227.
33 So besonders Roxin, JuS 1973, 329, 335; ders., in: LK, § 25 Rn. 22;
und ihm folgend Herzberg, Täterschaft und Tatherrschaft, 1977, S. 5 (entstan-
den aus JuS 1974,237,374, 574, 719; 1975,35, 171,575, 647, 792; 1976,40) u. a.
Etwas vorsichtiger formulierend Jescheck, AT, § 61 IV 3, heute wohl fast als
h. L. zu bezeichnen, vg!. die Nachweise bei Jescheck, a. a. 0.; Baumann, § 36
13 c ß; WesseIs, AT, § 13 II 4; neuerdings Jakobs, AT, S. 508.
34 WesseIs (Fn. 33), als Beispiel in der Formulierung.
3S Vg!. die Hinweise bei emmer, in: Schönke/Schröder, § 25 Rn. 6; Bau-
mann, AT, a. a. 0., Fn. 28.
36 E 62 S. 147/8 zu § 29, wortgleich mit § 25 StGB 1975.
37 Später in der 2. Aufl. 1969 vorliegend (unter Berücksichtigung der Be-
schlüsse des Sonderausschusses, aber nicht mehr berücksichtigt im 2. Schrift!.
Bericht, vg!. BT-Drucks. V/4095, Einleitung S. 1 Fn. 1).
38 AE, AT 1. Aufl., S. 63,2. Aufl., S. 67.

39 Im 2. Schrift!. Bericht, BT-Drucks. V/4095, S. 12.


Dogmatik und Gesetzgeber. Vier Beispiele 111

zunehmen, daß er sich dabei (ausnahmsweise!) die Begründungen des


AE hätte zu eigen machen wollen. Hier wie anderwärts ist die Be-
gründung des Sonderausschusses im dogmatischen Bereich, und dar-
über dürfte kaum Streit bestehen, durch die Begründungen des Re-
gierungsentwurfs. geprägt und zu ergänzen40 •
Also wie steht es mit der Heranziehung des Wortlauts des § 25 Abs. 1
StGB als gesetzlicher Verabschiedung der subjektiven Teilnahme-
theorie, auch der extremen, wie sie in BGHSt 18, 87 41 zum Ausdruck
gekommen ist? Läßt eine solche Berufung auf den Gesetzgeber (also
nicht auf die ratio legis, dagegen wäre nichts einzuwenden, s.o.) nicht
doch den Respekt vermissen, den Rechtsprechung und Dogmatik ihm
schuldig sind? Vielleicht hat der historische Gesetzgeber mit seiner
Fassung "wer ... selbst" wider Willen in den Theorienstreit eingegrif-
fen, das aber wäre dann nicht die Berufung auf den Willen des Ge-
setzgebers, sondern die auf den objektiven Willen des Gesetzes, und
dieser Widerstreit müßte wohl als solcher kenntlich gemacht werden.
Nur dagegen wende ich mich, daß man das mitunter unterläßt42 • Dog-
matik hat sich mit dem gesetzgeberischen Willen auseinanderzusetzen.
Sie tut das nicht, wenn sie diesen Willen von vornherein in ihrem
Sinne interpretiert.

2. Analogieverbot im AT
a) Man sollte meinen, daß bezüglich des Analogieverbots in malam
partem der Grundgesetzgeber in Art. 103 II GG und der Gesetzgeber
in § 1 StGB klar gesprochen haben. Wenn hier auf die "Strafbarkeit"
abgehoben wird, so ist eben diese und nicht etwa die Verfolgbarkeit
gemeint43 • Und klar müßte eigentlich auch sein, daß andererseits
"Strafbarkeit" alle materiell rechtlichen Voraussetzungen der Strafbar-
keit meinen muß, gleich, ob sie nun im AT oder BT geregelt sind, und
gleichgültig auch, wie sie dogmatisch einzuordnen wären. Wir können
kaum vermuten, daß der Parlamentarische Rat und später der Gesetz-
geber zu § 1 StGB besonderen Respekt vor dem jeweiligen dogmati-
schen Streit über die Einordnung verschiedener Erscheinungen des
materiellen Rechts (im System der Straftat) gehabt haben. Verschie-
bungen zwischen AT und BT sowie dementsprechende Gewichtsver-
änderungen dürften dem Gesetzgeber höchst gleichgültig gewesen

40 Vgl. auch die Vorbem. zu den "dogmatischen" Bestimmungen im


2. Schriftl. Bericht (Fn. 39), S. 7/8.
41 Zur eigenen Stellungnahme zu dieser Entscheidung vgl. NJW 1963, 561.
42 Richtig eramer (Fn. 35).
43 Mag man das auch, etwa bezüglich des Rückwirkungsverbots bei Pro-
zeßvoraussetzungen bedauern. Dazu, sowie zu BVerfGE 25, 269, Baumann,
AT, § 12 I 2 b, ähnlich übrigens auch BGHSt. 18, 140.
112 Jürgen Baumann

sein, soweit es sich nur um "Strafbarkeit" (also nicht Verfolgbarkeit)


handelt'4.

b) Um so erstaunter ist man über den Streit, der sich bei einem so
klaren Ausspruch des Gesetzes ergeben hat. Es ist zwar h. M., daß das
Analogieverbot auch für die Vorschriften im AT des StGB gilt45 . Aber
diese ist nicht unbestritten. Schon früher 46 wunderte ich mich, als ich
im "Maurach"47 fand, daß das Analogieverbot nicht für Vorschriften
des AT gelte 48 • Also keine Garantie hinsichtlich Rückwirkung, Be-
stimmtheit und Analogieverbot etwa für die Frage des Umfangs der
Versuchsbestrafung? Doch kaum vernünftig, hier, bei größerem Wir-
kungsbereich der Regelungen im AT, einen geringeren Umfang der
Geltung der Grundsätze des § 1 StGB anzunehmen.
J escheck49 nimmt insofern einen vermittelnden Standpunkt ein, als
es bei ihm heißt: "Auch die Vorschriften des AT, soweit diese eine
den Strafwürdigkeitsgehalt einer Norm unmittelbar betreffende Re-
gelung enthalten, binden den Richter, so daß zu Lasten des Angeklag-
ten nicht davon abgewichen werden darf. Soweit die allgemeinen Leh-
ren dagegen wirklich Gewohnheitsrecht sind ... , können sie auch nicht
an der Garantiefunktion teilnehmen". Lassen wir sowohl das Problem
der "allgemeinen Lehren" als auch das der Bindungswirkung stän-
diger höchstrichterlicher Rechtsprechung 50 beiseite, und damit auch das
(m. E. anders zu entscheidende) Problem des strafrechtlichen Gewohn-
heitsrechts - was das Gesetzesrecht des AT betrifft, und darum geht
es hier beim Verhältnis Gesetz/Dogmatik, kann doch kaum gezweifelt
werden, daß § 1 StGB auch für die Vorschriften des AT gilt, die die
"Strafbarkeit bestimmen".

44 Vgl. BGHSt. 18, 140; Jescheck, AT, § 15 III 2m. w. N.


45 Nachweise vgl. Jescheck (Fn.44), Anm.27; Eser, in: Schönke/Schröder,
§ 1 Rn. 28.
46 In der 1. Auflage meines AT 1960 hatte ich auf S. 97 f. zur Garantie-
funktion des Tatbestandes im StGB, AT a. F. kühn (aber mit Lit. Nachweisen)
behauptet: "Allerdings gilt das ... auch für Vorschriften des AT und auch
für die nicht im AT enthaltenen (oder nur andeutungsweise enthaltenen)
allgemeinen Strafrechtslehren" und das an § 43 II a. F. exemplifiziert. Auf-
rechterhalten in 8. Aufl. § 12 I 2 a, Verweisung bei Analogie § 13 II 3.
47 Maurach, AT, 4. Aufl. 1971, § 10 II B 3. Aufgegeben mit zutreffender Be-
gründung in Maurach/Zipf, AT, Bd. 1, § 10 11 B 3 (Rn. 21).
48 Ähnlich Haft, AT, 1980, S.36, bezüglich "der (zum großen Teil unge-
schriebenen) Lehren des AT"; Tröndle, in: LK, § 1 Rn. 38, § 2 Rn. 10; Dreher/
Tröndle, § 1 Rn. 11 C, nur zur Frage des Rückwirkungsverbotes bei höchst-
richterlicher Auslegung (gegen die von mir vertretene Auffassung); Jakobs.
AT, S. 73.
49 Jescheck, AT, § 15 III 2 C.

50 Vgl. dazu die Nachweise bei Dreher/Tröndle (Fn. 48).


Dogmatik und Gesetzgeber. Vier Beispiele 113

An dieser doch Unklarheiten nicht aufweisenden Regelung des Ge-


setzgebers durch dogmatische Überlegungen zu rütteln, kann nicht
Aufgabe der Strafrechtsdogmatik sein. M. E. muß ihr darüber hinaus
auch versagt werden5t, durch weitere Interpretationen auf dem Grenz-
gebiet Prozeßrecht/materielles Recht durch Akzentverschiebungen an
der Aushöhlung der Garantiefunktion mitzuwirken. Nur die umge-
kehrte Zielrichtung, also die Erweiterung dieser Funktion muß ver-
stattet bleiben, weil mit der Zielrichtung des § 1 vereinbar52 •

3. §§ 14, 15 StGB und die Redlichkeit

Manchmal könnte man schon die rhetorische Frage aufwerfen, ob


nun die Dogmatik für das Gesetz oder das Gesetz für die Dogmatik
da sei. M. E. ist Dogmatik gesetzesgebundene Gesetzesinterpretation53
und (in bonam partem) Gesetzesergänzung.
Seit Radbruch 54 gegen den gemeinsamen Oberbegriff von Tun und
Unterlassen mit dem Argument zu Felde gezogen war, für a und
non a könne es nichts Gemeinsames geben, hat sich diese Auffassung,
gefördert vor allem durch die großartige Arbeit von Armin Kaut-
mann55 , in der Lehre überwiegend durchgesetzt 56 • Auch kaum ein Lehr-
buch für Studenten faßt Deliktsverwirklichung durch Tun und solches
durch Unterlassen noch zusammen. Alles das doch wohl mit der Be-
hauptung, daß das auch die gesetzliche Regelung sei! Oder sollte eine
abweichende gesetzliche Regelung (etwa gemeinsamer Oberbegriff)
zwar vorhanden, aber für die Dogmatik völlig unbeachtlich sein? -

61 Ohne hier die Diskussion um BVerfGE 25, 269 und die Rechtsnatur der
Verfolgungsverjährung neu beleben zu wollen. Vgl. dazu die Lit. Angaben
bei Dreher/Tröndle (Fn.48).
52 Zur eigenen Ansicht der Ausweitung aller 4 Grundsätze des § 1 StGB
auf Prozeßvoraussetzungen (de lege ferenda) Baumann, AT, § 12 I 2 b, § 13
11 3. Vgl. auch bezüglich des Rückwirkungsverbots ähnlich Jescheck, AT, § 15
IV 4 (weitere Nachweise bei Baumann a. a. 0.).
53 Die u. a. in hervorragender Weise der Rechtssicherheit dient. Ich denke
hier an frühere Diskussionen an der Martin-Luther-Universität Halle-Wit-
tenberg, in einer Zeit, in der in der DDR zwar noch das StGB von 1871 galt,
aber die West-Kommentare nicht benutzt werden durften und eigene (DDR)
dogmatische Lit. kaum vorhanden war. Die daraus folgende Zersplitterung
der Rechtsprechung und die Rechtsunsicherheit waren gewichtige Argumente
in jeder Dogmatik-Diskussion.
54 Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Straf-
rechtssystem, 1904; ferner ders., Festgabe für Frank, Bd. 1, 1930, S.158.
55 Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959; ihm
folgend Gallas, ZStW 67 (1955), S. 8; Welzel, LB, S. 200, usw.
68 Vgl. die Nachweise bei Jescheck, AT, § 59 11; Baumann, AT, § 16 11 4 b;
Roxin, ZStW 74 (1962), S. 547; Stree, in: Schönke/Schröder, vor §§ 13 ff. Rn. 139,
wonach von der h. L. allenfalls das "Verhalten" noch als gemeinsamer Ober-
begriff anerkannt wird (so auch Jescheck, AT, § 23 IV 1).

8 Festschrift für H.-H. Jescheck


114 Jürgen Baumann

Gewiß gibt es Vorschriften im StGB 1975 die Menge, die Sonderrege-


lungen für Tun und Unterlassen enthalten. Man denke neben § 13 nur
z. B. an §§ 8 und 9. Wer aber einen gemeinsamen Handlungsoberbegriff
im Gesetz finden will, hat es leicht, er findet ihn gleich nebenbei in
§§ 1457 und 15 StGB. Noch nie ist behauptet worden, daß diese Vor-
schriften nicht auch für das Unterlassen gelten würden. Auch das
"Ansetzen" in § 22, wohl mehr auf das positive Tun zugeschnitten58 ,
gilt nach allgemeiner Meinung auch für das Unterlassen. Soll etwa
§ 75 StGB nicht für das Unterlassen, also für das non a gelten, da doch
nur von a die Rede ist?
Um nicht mißverstanden zu werden: ich wende mich keineswegs
gegen einen eigenständigen Unterlassungsbegriff und einen Sonder-
aufbau der Unterlassungstat 59 • Wer wollte auch bestreiten, daß ein
spezieller Unterlassungsbegriff mehr Abschichtungsfunktion haben
kann (und muß), als ein allgemeiner Handlungsoberbegriff. Ich wende
mich nur dagegen, daß der Legaloberbegriff der Handlung geleugnet
oder beiseite geschoben wird, wozu m. E. um so weniger Anlaß besteht,
als gerade die moderne Medizin uns zahlreiche Probleme auf der
Grenze zwischen Tun und Unterlassen beschert60 und zunehmend be-
scheren wird 61 • Ist also der Gesetzgeber in § 15 mit einern klaren Hand-
lungsoberbegriff durch juristische Logik beiseite zu schieben oder hat
die Dogmatik auch hier vorn Gesetz auszugehen? Für mich ist die Ant-
wort klar.

4. §§ 177,178 GVG und die Rechtsprechung

Damit auch die Rechtsprechung "nicht zu kurz kommt", sei das


nächste und letzte Beispiel aus dem Strafprozeßrecht gewählt. Der
Wortlaut der §§ 177, 178 GVG ist, soweit es sich um den betroffenen Per-
sonenkreis handelt, eigentlich klar. Nur gegen die in diesen Vorschrif-
ten genannten Personen können die dort genannten Maßnahmen ge-
troffen bzw. Ordnungsmittel wegen Ungebühr verhängt werden.

57 Zur Sonderproblematik des § 14 bei der Unterlassung vgl. Lenckner, in:


Schönke!Schröder, § 14 Rn. 6.
58 Auch ein Grund des Streites über Beginn des Versuchs der Unterlas-
sung, vgl. Baumann, AT, § 33 13m. w. N.
59 So auch Jescheck, AT, §§ 23 I, 59 I.
60 So bei Abstellen oder nicht Weiterbedienen von Reanimationsgeräten
usw. Vgl. wohl zuerst die nicht publizierte Habilitationsschrift von Herbert
Friedrich, Das Güterabwägungsprinzip und seine Bedeutung für Rechtspro-
bleme der modernen Medizin, Tübingen 1974; ferner Stree, in: Schönke/
Schröder, vor §§ 13 ff. Rn. 158; Eser, in: Schönke!Schröder, Vorbem. vor § 211
Rn. 32 mit zahlreichen Nachweisen zum sog. "technischen Behandlungsab-
bruch".
61 Vgl. etwa die Annäherung bei Jakobs, AT, S. 119 ff., 637 ff., und die For-
mulierung bei Jescheck, AT, § 23 IV 1, zum sozialen Handlungsbegriff.
Dogmatik und Gesetzgeber. Vier Beispiele 115

Für den Rechtsanwalt als Beschuldigten ist klar62 , daß er trotz sei-
ner Anwaltseigenschaft zu diesem Personenkreis gehört, wie umge-
kehrt der Anwalt des Privatklägers nach § 378 StPO oder des Neben-
klägers nach § 397 I StPO wegen der Nichtnennung von Privat- und
Nebenkläger in §§ 177, 178 GVG nicht zu diesem Personenkreis gehört,
Maßnahmen also unzulässig sind83 . Die Verteidiger des Beschuldigten
sind nach dem klaren Wortlaut des GVG ebenso wie die Vertreter der
Staatsanwaltschaft und die Beisitzer und Laienrichter nicht irgendwel-
chen Zwangsmaßnahmen64 unterworfen.

Anders contra legern die obergerichtliche Rechtsprechung. So hat


der BGH Maßnahmen gegen den Prozeßbevollmächtigten zugelassen 65
und auch das OLG Hamm66 hat für den Verteidiger in diesem Sinne
entschieden67 . Vorläufer waren die "Robenentscheidungen" (Zurück-
weisung von Anwälten, die ohne Robe auftraten) nach § 176 GVG, also
nach der Vorschrift über die Sitzungspolizei68 . Auch in der Literatur war
schon vertreten, daß ein Anwalt bei gröbsten Dauerstörungen notfalls
nach § 177 GVG durch Gerichtsbeschluß aus der Hauptverhandlung
ausgeschlossen werden könne 69 •
Daraus wird heute gefolgert und als Standpunkt der Rechtsprechung
genannt, daß "bei schwersten Dauerstörungen ... dem Gericht das
Recht zuzuerkennen (sei), den Verteidiger gemäß §§ 176, 177 GVG aus
dem Sitzungssaal entfernen zu lassen"70. Die Rechtslage sei also so,
daß bei kleineren Verstößen des Verteidigers Ordnungs- und Rügerufe
möglich seien - und nur bei extrem schweren Störungen die Entfer-

62 BVerfG NJW 80, 1678: er kann nicht sein eigener Verteidiger sein.
83 H. M., vgl. Kleinknecht/Meyer, 36. Auf!. 1983, § 177 Rn. 3. Umgekehrt
kann, weil der Zeuge genannt ist, gegen den Rechtsanwalt des Zeugen nach
§§ 177,178 vorgegangen werden, BVerfGE 38,105.
U Dahingestellt (aber zu verneinen I), ob während der Hauptverhandlung
dem Hausrecht.
85 BGH NJW 1977, 437, jedenfalls für Extremfälle und unter Beachtung
des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.
86 OLG Hamm JMBl. NRW 1980, 215: ..... nicht von vornherein rechtlich
unmöglich" .... "Bei schwersten Dauerstörungen ist dem Gericht das Recht
zuzuerkennen, den Verteidiger gern. §§ 176, 177 GVG aus dem Sitzungssaal
entfernen zu lassen."
G7 Vgl. zu diesen Entscheidungen Greiser, JA 1983, 431; Wolf, NJW 1977,
1063.
88 OLG Karlsruhe NJW 1977, 309; gebilligt BVerfGE 34, 138. Vgl. auch die
früheren Entscheidungen BVerfGE 15, 234; 28, 21, über die Zurückweisung
von Anwälten.
89 So Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, 22. Aufl.., § 176 GVG Anm.3 c bb, wo-
rauf sich der BGH in NJW 1977,437 auch beruft.
70 Greiser, Störungen und Sabotageversuch in der Hauptverhandlung,
JA 1983, 429, 431, allerdings mit dem Bedauern, daß unklar bleibe, wann
ein "Extremfall" oder eine "schwerste Dauerstörung" vorliegen soll.
116 Jürgen Baumann

nung aus dem Sitzungssaal. Der mittlere Bereich weise eine Lücke
auF1 • Nun, Lücken müssen eigentlich durch den Gesetzgeber geschlos-
sen werden und das um so mehr, als eine Rechtsunsicherheit gerade
in diesem Bereich (Schutz des Angeklagten 72 ) unerträglich ist. Gegen
die Rechtsprechung im "Extrembereich" ist aber auch noch geltend
zu machen, daß gerade die Spezialregelung in §§ 138 a ff. StPO ein wei-
teres Argument gegen Maßnahmen nach §§ 177,178 GVG liefert, könn-
ten doch die Vorschriften über die Ausschließung eines Verteidigers
durch Maßnahmen der Sitzungspolizei unterlaufen werden73 •
Also contra legern Entscheidungen, die Rechtsunsicherheit in einem
besonders empfindlichen Bereich geschaffen haben und zusätzlich die
Gefahr eines Unterlaufens der Regelung der §§ 138 a ff. StPO schaffen.
Wäre eine Verweigerung der Rechtsprechung in diesem Bereich, ge-
stützt auf den klaren Wortlaut des Gesetzes, nicht besser gewesen,
mit der Folge, daß der Gesetzgeber ähnlich wie bei §§ 138 a ff. StPO tätig
geworden wäre 74 ?

III. Nutzanwendung

Man mag zweifeln, ob schon diese vorstehend aufgezeigten Beispiele


ein Fazit zulassen. Aber vielleicht zeigen sie doch, daß das Verhältnis
von Gesetz und Gesetzesauslegung im Bereich des Strafrechts i. w. S.
einer Neuüberdenkung bedarf, will man der dominierenden Rolle
des Gesetzes, trotz aller erkannten oder vermuteten Mängel des Ge-
setzes, gerecht werden. Bei aller Einsicht darin (dazu oben I), daß
"Gesetzesgläubigkeit" vielen von uns mit Recht (besonders angesichts
vieler mit heißer Nadel genähter ad hoc-Gesetze)'5 etwas abhanden
gekommen ist, gilt es m. E. doch heute, die Akzente ein wenig in Rich-
tung Gesetzesgehorsam zu verschieben. Das bedeutet andererseits die
Forderung nach größerer Bereitwilligkeit des Gesetzgebers, wenn es

71 Greiser (Fn. 70), S. 432.


72 Also nicht nur, wie meist bei der ratio der §§ 177, 178 GVG ausgeführt,
die Stellung des Anwalts als Organ der Rechtspflege.
73 Denn besonderes prozeßordnungsgemäßes Verhalten kann man dem
in §§ 138 a ff. angesprochenen Personenkreis, soweit es sich um die sog.
Terroristenprozesse handelt, nur in wenigen Fällen attestieren. - Sympto-
matisch, daß im Falle des OLG Hamm auch mit § 138 a StPO gearbeitet
worden war.
74 Bei §§ 138 a ff. ging es ja auch, sogar mit Nachbesserung bezüglich des
Verdachtsgrades, dazu Baumann, Strafprozeßreform in Raten, ZRP 1975, 38,
41; zur Herabsetzung der Verdachtsschwelle ders., JZ 1979, 556.
75 Man denke nur an das Kontaktsperregesetz, an Einführung und Auf-
hebung von §§ 88 a und 130 a StGB, an das Hin und Her beim sog. Demon-
strationsstrafrecht, dazu Baumann, Freiheit des Bürgers und Gewaltmonopol
des Staates, Festschrift für Wassermann, 1984 m. w. N.
Dogmatik und Gesetzgeber. Vier Beispiele 117

darum geht, wirklich drängende Probleme76 zu lösen. Diese dürfen


dann nicht auf die Rechtsprechung und Rechtslehre abgeschoben77 wer-
den!
1. Der (notwendig enge) Spielraum der Dogmatik
Der menschlichen Neugier und Entdeckerfreude, dem Zuwachs an
neuen Erkenntnissen in den Naturwissenschaften, sind keine Grenzen
gesetzt. Sicher ist auch in diesem Bereiche von der sittlichen Verant-
wortung des Wissenschaftlers zunehmend die Rede, doch dabei geht
es mehr um die Nutzanwendung als um die Beschaffung neuen Wis-
sens. Der Physiker mag und soll neue Zusammenhänge und Natur-
gesetze entdecken, der Astronom neue Sternhaufen, schwarze Löcher
und was es sonst noch im All geben mag, usw. - Auch bei den Sozial-
wissenschaften gilt grundsätzlich nichts anderes. Bei der Rechtswissen-
schaft, insbesondere im Bereich des Strafrechts, beginne ich zu zwei-
feln. Gilt auch für das Strafrechtsgebiet die grundsätzliche Unbe-
grenztheit für die Aufstellung neuer Theoreme, oder ist der Spielraum
der Strafrechtswissenschaft auch über § 1 StGB hinaus eingeengter?
Sind nicht im Bereiche des Strafrechts die gesetzlichen Wertungen
(auch in bonam partem) verbindlicher als in anderen Bereichen der
Rechtswissenschaft, von den anderen Sozialwissenschaften oder gar den
Naturwissenschaften ganz zu schweigen? Müssen wir uns nicht dort, wo
es um die schärfsten Eingriffe des Staates in die bürgerlichen Frei-
heiten geht, nach beiden Richtungen hin, also sowohl bezüglich der
Verhängung als auch der Nichtverhängung solcher Eingriffe, stärker
an den gesetzlichen Wertungen orientieren? Mir scheint das nicht
zweifelhaft. M. E. dürfte auch hier ein Grund dafür liegen, daß man
zu allen Zeiten versucht hat, das Strafrecht an überstaatliche Ord-
nung und Regelungen zu binden und nach religiösen und ethischen
Begründungen für Strafrecht und Strafe zu suchen78 , denn die bloße
rationale Begründung der Notwendigkeit von Strafrecht und Strafe
läßt vielfach und bei vielen ein Unbehagen und Zweifel zurück. Aber

76 Hier sind nicht ad hoc-Gesetze gemeint! Vielmehr Lösungen und Wert-


entscheidungen, die vom Gesetzgeber und nicht von der Rechtsprechung er-
wartet werden müssen. Man denke etwa an das seit mehreren Legislatur-
perioden beabsichtigte Transplantationsgesetz, an eine gesetzliche Regelung
der Sterilisation, an ein Untersuchungshaftvollzugsgesetz usw.
77 So hätte nach dem Dohm-Prozeß, dazu die vielfach und zu Recht
angegriffene Begründung des BGH (Wegfall des § 226 b!) in BGHSt.20, 81,
aller Anlaß für den Gesetzgeber bestanden, in diesem Bereich tätig zu wer-
den. Aber auch der E 62 arbeitete in § 152 mit der Klausel der "Verwerflich-
keit", dazu Begr. S. 286. Diese Problemlösungen werden dann an die Gerichte
weitergeschoben, dazu Baumann, AT, § 11 11 1, über vermeidbare Unbe-
stimmtheit von Strafrechtsnormen.
78 Zur eigenen Ansicht vgl. Baumann, Strafe als soziale Aufgabe, Ge-
dächtnisschrift für NoU, 1984 m. w. N.
118 Jürgen Baumann

wenn schon Grenzziehung zwischen Strafe und Nichtstrafe (incl. der


Nichtverfolgbarkeit) profan und irdisch79 erfolgen müssen, dann soll
diese Grenzziehung durch den Souverän, also das Volk, repräsentiert
in seiner Legislative, erfolgen. An Grenzziehungen und Wertentschei-
dungen des Gesetzgebers sollten weder die Dogmatik noch die Recht-
sprechung rütteln. Die Aufgabe der Dogmatik de lege ferenda würde
dadurch keinesfalls geschmälert. Die Furcht, sich von der Wertung
des Gesetzgebers zu entfernen, läßt mich etwas größere "Gesetzes-
gläubigkeit" in Kauf nehmen.

2. Strafrechtsverschärfung durch Dogmatik?


Und dazu eine letzte überlegung: Bei aller Anerkennung der Rechts-
fortentwicklung auf dem Gebiete des Strafrechts erstaunt doch immer
wieder, wie schnell wir dabei sind, den Bereich von Strafbarkeit (und
Verfolgbarkeit) auszudehnen, wenn uns das aus Gründen juristischer
Logik zwingend zu sein scheint. Ohne das Problem des Gewohnheits-
rechts und das eines Rückwirkungsverbots bei Änderung ständiger
Rechtsprechung (beides schon oben zu I ausgeklammert) hier auf-
werfen zu wollen: gehört nicht auf die Waagschale bei jeder dogma-
tischen Erörterung das Gewicht der Strafrechtsverschärfung?
So könnte ich ein Unbehagen selbst dann nicht unterdrücken, wenn,
wie auf der Berner Strafrechtslehrertagung 1983 BO behauptet, die
Strafbarkeit des agent provocateur zwingend nachgewiesen worden
wäre. In der ganzen Auseinandersetzung zwischen Schuldtheorie und
Vorsatztheorie haben mich immer besonders Lösungsansätze ge-
schreckt, die aus Gründen juristischer Logik die Strafbarkeit über die
RG-Rechtsprechung zu § 59 a. F. StGB hinaus notwendig machten. Muß
nicht dochBI die schwerere Vorsatzschuld bzw. die schwerere Schuld
bei der Vorsatztat durch eine besonders große Stufe von der Fahrläs-
sigkeitsschuld geschieden sein und ist eine so große Stufe nicht nur
dann gegeben, wenn der Täter der Vorsatztat sich bewußt "gegen das
Recht auflehnt"? Und müssen sich dogmatische Konstruktionen nicht
danach richten, daß eine solche Abstufung erreicht wird: muß also
nicht die dogmatische Konstruktion des Vorsatzes Konsequenz dieses
Zieles - statt umgekehrt die Abstufung Konsequenz der Vorsatzkon-
struktion sein? Da der Gesetzgeber gesprochen hat, bleibt hier nur
der Kummer über sich aus § 17 StGB ergebende Härten. Aber das Bei-

79 Gegen eine (allein) "metaphysische Begründung" der Strafe habe ich


mich in meinen Streitschriften zur Strafrechtsreform (Bd. I 1965, Bd.1I 1969)
und an anderen Orten häufig genug gewandt.
BO Vgl. das Referat von Seelmann, ZStW 95 (1983), S. 797.
81 Binding ("animus hostilis") folgend, Normen Bd.lI, 1914, S.326, Grund-
riß, S. 116. Weitere Nachweise Baumann, AT, § 27 III 2.
Dogmatik und Gesetzgeber. Vier Beispiele 119

spiel bleibt gültig. Als weitere Einengung des dogmatischen Spielraums


müßte eben doch der Grundsatz in dubio pro libertate gelten. Das
Strafgesetz und seine Auslegung, also Rechtswirklichkeit im Straf-
recht, bestimmen die Freiräume des Rechtsunterworfenen und bestim-
men seine Fesseln, die er im Interesse der Sozietät und anderer Rechts-
genossen zu dulden hat. Und hier Verschiebungen aufgrund neuer
dogmatischer Erkenntnisse in Richtung Fesseln hinzunehmen, ohne
daß der Gesetzgeber entsprechend gewertet hätte, ist mir nur schwer
möglich.
"Ich will mein volles Freiheitsrecht, empfinde ich die geringste Be-
schränknis, so verwandelt sich mir das Paradies82 in Hölle und Be-
drängnis"83. Strafrechtsdogmatik hat einen Spielraum, vielleicht einen
engeren, als wir heute meinen, aber einen "Spiel"-Raum hat sie nicht.

82 Auch das besserer Kriminalitätsbekämpfungl


83 Heinrich Heine.
HANS LüTTGER

Bemerkungen zu Methodik und Dogmatik des Strafschutzes


für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter

A.
Bei der Frage, ob ein ausländisches Rechtsgut - d. h. ein Rechtsgut,
dessen Träger ein Ausländer oder ein ausländischer Staat ist 1 - durch
eine Strafnorm der Bundesrepublik Deutschland geschützt ist, geht es
um den tatbestandlichen Schutzbereich der jeweiligen Strafvorschrift2 •
Deren Untersuchung kann eine normimmanente Selbstbegrenzung auf
den Schutz inländischer Rechtsgüter, aber auch eine Ausdehnung des
Schutzbereichs der Norm durch die Tatbestandsfassung oder durch sie
erweiternde Sondervorschriften auf ausländische Rechtsgüter ergeben3 •
Soweit dies nicht schon aus dem klarstellenden Wortlaut der Straf-
vorschrift selbst oder aus solchen den Straftatbestand gezielt erwei-
ternden Sondervorschriften hervorgeht4, ist es durch Auslegung der
Strafvorschrift zu ermitteln5 • Dabei besteht Einigkeit darüber, daß
Individualrechtsgüter ohne Rücksicht darauf geschützt sind, ob sie
einem inländischen oder einem ausländischen Rechtsgutträger zuste-
hene. Das Problem stellt sich praktisch also nur bei Strafnormen, die
"öffentliche" Rechtsgüter (des Staates oder der Allgemeinheit) schüt-

1 Zur Unterscheidung zwischen inländischen und ausländischen Rechts-


gütern nach der Nationalität der Rechtsgutträger vgl. etwa Binding, Hand-
buch des Strafrechts, 1. Bd., 1885, § 80 II 1, S.391; von Weber, Der Schutz
fremdländischer staatlicher Interessen im Strafrecht, in: Festgabe für von
Frank, Bd. H, 1930, Neudruck 1969, S.269, 276; aus neuerer Zeit Reschke, Der
Schutz ausländischer Rechtsgüter durch das deutsche Strafrecht, Diss. Frei-
burg i. Br., 1962, S. 28 - 30; heute wohl allg. Sprachgebrauch.
2 Vgl. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 3. Aufi. 1978 (im
folg.: AT), § 18 III 8, S. 141; ganz h. M.
3 Grundlegend dazu Vogler, Geltungsanspruch und Geltungsbereich der
Strafgesetze, in: Aktuelle Probleme des Internationalen Strafrechts, Geburts-
tagsgabe für Grützner, 1970, S. 149, 150 - 153.
4 Vgl. Vogler (Fn. 3), S. 152 - 153.
5 Vgl. Jescheck, Gegenstand und neueste Entwicklung des Internationalen
Strafrechts, in: Festschrift für Maurach, 1972, S.579, 583 = in: Strafrecht im
Dienste der Gemeinschaft, Ausgewählte Beiträge, 1980 (im folg.: Beiträge),
S. 615,618 - 619; Jescheck, AT (Fn. 2), S. 141.
6 Näheres dazu bei Jescheck (Fn.5). - Siehe ferner unten Abschnitt B
IV 1 a mit weiteren Einzelheiten.
122 Hans Lüttger

zen. Entsprechendes gilt, wenn Rechtsgüter überstaatlicher Gemein-


schaften in Rede stehen1 • Nur der Strafschutz für solche "fremden
öffentlichen" Rechtsgüter ist unser Thema.
Bei unseren folgenden Erörterungen hierüber ist nicht an eine
rechtshistorische, rechtsvergleichende oder rechtstheoretische Grund-
legung gedacht; damit befassen sich bereits gründliche Monographien.
Ebensowenig ist eine Auflistung aller erdenklichen Anwendungsfälle
und Einzelprobleme beabsichtigt; Großkommentare leisten dies ohne-
hin längst. Wir wollen vielmehr - gestützt auf eine Reihe von Bei-
spielen - einige methodische und dogmatische Aspekte des Straf-
schutzes für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter behandeln, bei denen
wir Bedenken gegen verbreitete Lehren anmelden möchten; es geht
also nur um einen Ausschnitt aus der Gesamtproblematik. Dabei soll
der Schutz ausländischer (öffentlicher) Rechtsgüter im Mittelpunkt ste-
hen; supranationale Rechtsgüter werden nur gelegentlich erwähnt
werden.
Aus Raumgründen müssen wir unser Thema noch in einer weiteren
Hinsicht eingrenzen: Die in völkerrechtlichen Verträgen bzw. den
dazu ergangenen Ausführungsgesetzen, im Recht der Europäischen
Gemeinschaften und in verwandten Regelungsbereichen enthaltenen
(inzwischen zahlreichen) Sondervorschriften, die den tatbestandlichen
Anwendungsbereich von Strafnormen ausdrücklich auf den Schutz von
ausländischen oder supranationalen Rechtsgütern erweiternB, bleiben
außer Betracht; sie werfen Probleme eigener und anderer Art auf,
die einer gesonderten Erörterung bedürfen9 •
Eine andere Einschränkung unseres Themas ergibt sich aus der
Natur der Sache: Die hier zu behandelnde Frage nach dem tatbestand-
lichen Einschluß oder Ausschluß fremder öffentlicher Rechtsgüter ist
wesensverschieden von der anderen Frage nach dem internationalen
Geltungsbereich der nationalen Strafnormen, die das sog. Internatio-
nale Strafrecht oder Strafrechtsanwendungsrecht10 beantwortet; über

7 Vgl. Vogler (Fn.4).


8 Vgl. dazu die übersichten über die Sondervorschriften zum Schutze von
ausländischen und überstaatlichen Rechtsgütern bei Oehler, Internationales
Strafrecht, 2. Aufi. 1983 (im folg.: IntStrR), Rdnr. 21 ff., 34, 150, 720, 808 f.,
847 ff., 912 ff., 1004. Ferner etwa Pabsch, Der strafrechtliche Schutz der über-
staatlichen Hoheitsgewalt, 1965.
9 § 152 StGB ist keine "Sondervorschrift" im hier gemeinten Sinne, weil
er nur gesetzestechnisch getrennt Fragen regelt, die bis zum Inkrafttreten
des EGStGB vom 2. März 1974 (BGBL 1974, Teil I, S. 469 ff.) in den Straftat-
beständen der §§ 146 ff. a. F. StGB selbst ihren Platz hatten.
10 Der Streit um die richtige Bezeichnung dieser Materie muß hier auf sich
beruhen; vgl. dazu statt vieler Jescheck, AT (Fn.2), § 18 I 1, S. 129; Maurachl
Zipf, Strafrecht, Allg. Teil, Teilbd. 1, 6. Aufi. 1983 (im folg.: AT 1), § 11 I,
S. 132 f.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 123

die strikte Trennung beider Materien besteht auch zwischen Vertre-


tern unterschiedlicher Grundkonzeptionen betreffend die "logische Rei-
henfolge" dieser beiden Fragen Einigkeitl l • Fragen nach dem inter-
nationalen Geltungsbereich der zu erörternden Strafvorschriften blei-
ben daher ebenfalls durchweg außer Betracht12 •
Unser Thema engt sich also auf ausgewählte methodische und dog-
matische Probleme ein, die sich bei der Frage nach dem Schutz frem-
der öffentlicher Rechtsgüter aus den Tatbeständen der inländischen
Strafnormen selbst ergeben. Bei der Untersuchung dieser Probleme
sind Strafnormen, die einen - wie auch immer gearteten - "Aus-
landsbezug" aufweisen, ebenso zu bedenken wie Straftatbestände, die
insoweit "neutral" abgefaßt sind, denn daraus werden sich unter-
schiedliche Argumentationsprobleme ergeben. Gestützt auf solche Bei-
spiele wollen wir zunächst die methodischen und dogmatischen Grund-
satzfragen herausarbeiten, um die es uns geht (Abschnitt B I - IV). An-
schließend wollen wir auf dieser Basis gesondert vier (teils umstrit-
tene, teils vernachlässigte) Beispiele - nämlich die §§ 132 a Abs. 1 Nr.1
und 4, 152, 184 Abs.1 Nr.9 und 264 Abs.6 StGB - einer kritischen
Einzeluntersuchung unterziehen (Abschnitt B V). Ein kurzes Schluß-
kapitel (Abschnitt C) soll die wenig ermutigende Bilanz ziehen und
die Frage nach dem richtigen Weg für einen rechtsstaatlich einwand-
freien Schutz fremder öffentlicher Rechtsgüter aufwerfen.

B.
Die Fragestellung, ob die tatbestandliche Auslegung von Straf-
normen zum Ausschluß oder zur Einbeziehung fremder öffentlicher
Rechtsgüter führt, ist längst über die "klassischen" Beispiele der
Staatsschutzdelikte i. w. S. (§§ 81-101 a, 105 -109 k StGB) einerseits und
der Straftaten gegen ausländische Staaten (§§ 102 -104 a StGB) ande-
rerseits hinausgewachsen; sie hat in den letzten Jahrzehnten immer
weitere wichtige Materien des Strafrechts erfaßt, über die verdienst-

11 Vgl. einerseits Jescheck, AT (Fn.2), S.129 und 141; Vogler (Fn.3), in:
Geburtstagsgabe für Grützner, 1970, S. 149, 150; andererseits Gehler, Theorie
des Strafanwendungsrechts, in: Geburtstagsgabe für Grützner, 1970, S. 110,
116, und ders., IntStrR (Fn. 8), Rdnr. 123.
12 Die (unbestritten notwendige) Trennung der beiden Materien (tat-
bestandlicher Schutzbereich und internationaler Geltungsbereich der Straf-
norm) hat daher - wie im Blick auf unsere späteren Erörterungen in Ab-
schnitt B III und IV bemerkt sei - auch nichts damit zu tun, ob das Ubiqui-
tätsprinzip des § 9 StGB beispielsweise bei Distanzdelikten (hier etwa bei
§§ 145 d, 164 StGB) sowie bei Anstiftung und Beihilfe (hier etwa zu § 154
StGB) neben dem ausländischen auch einen inländischen Tatort bereitstellt,
da der Tatort nichts über den tatbestandlichen Ausschluß oder Einschluß
fremder (öffentlicher) Rechtsgüter aussagt; vgl. dazu Gehler, IntStrR (Fn.8),
Rdnr. 240 und 783.
124 Hans Lüttger

volle Zusammenstellungen13 Aufschluß geben. Das Hin und Her in


dieser Entwicklung und manche Kontroversen im gegenwärtigen Stand
zeigen: Die Lösungen sind seit altersher von Regellosigkeit geprägtH •
Der Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter ist heute
ebenso wie früher mit vielen Zweifeln behaftet l5 ; und diese Unsicher-
heit hat auch solche Strafvorschriften erfaßt, die einen ausdrücklichen
Bezug auf das Ausland enthalten16 • Alles dies liegt nicht zuletzt an den
in Rechtsprechung und Lehre zur Lösung unserer Frage verwendeten
Kriterien.
I.
Wenn es um die Auslegung solcher Strafnormen geht, deren Tat-
bestände einen ausdrücklichen "Auslandsbezug" aufweisen, fällt auf,
mit welcher Unbefangenheit die Doktrin sich gelegentlich selbst dann
vom Wortlaut des Gesetzes freizeichnet, wenn sich in ihm das Ge-
wollte deutlich manifestiert, und wie weit auch sonst in weniger deut-
lichen Fällen die Emanzipation der Interpretation vom Gegenstand
der Exegese fortgeschritten ist; anders ausgedrückt: wie sehr theore-
tische Konzepte - nicht selten gestützt auf Historie und auf Äuße-
rungen im Gesetzgebungsverfahren - die Anknüpfung an die positiv-
rechtliche Regelung überspielen.
Bevor wir dies exemplifizieren, ist es hilfreich, sich auf die Grund-
sätze zu besinnen, die das Bundesverfassungsgericht für die Hand-
habung der grammatischen, systematischen, historischen und teleolo-
gischen Interpretation aufgestellt hat: Maßgebend für die Auslegung
einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck gekommene
"objektivierte Wille des Gesetzgebers", so wie er sich aus dem Wort-
laut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in
den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die sub-
jektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe
und Personen. Die Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kann nur
mit einer gewissen Zurückhaltung - in der Regel bloß unterstützend
(zur Bestätigung eines gewonnenen Ergebnisses, zur Beseitigung ver-
bliebener Zweifel) - verwertet werdenl7 •

13 Vgl. Oehler, IntStrR (Fn.8), Rdnr. 232 ff. und 779 ff.; Tröndle, in: Leip-
ziger Kommentar, 10. Aufl. 1978 (im folg.: LK), Vor § 3 Rdnr. 25 - 40; Reschke
(Fn.1), S. 175 ff.; Sandweg, Der strafrechtliche Schutz auswärtiger Staats-
gewalt, Diss. Berlin, 1965, S. 70 ff.
t« Vgl. von Weber (Fn. 1).
15 Vgl. Jescheck, Straftaten gegen das Ausland, in: Festschrift für Rittler,
1957, S.275, 277; Oehler, Strafrechtlicher Schutz ausländischer Rechtsgüter,
insbesondere bei Urkunden, in der Bundesrepublik Deutschland, JR 1980,485.
18 Vgl. vorerst nur die §§ 102 ff. StGB und dazu Jescheck (Fn. 15).
17 Vgl. BVerfGE 1, 299, 312; 10, 234, 244; und besonders 11, 126, 130 - 131.
- Grundlegend dazu mit zahlreichen weiteren Nachweisen Schwalm, Der
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 125

Ein krasses Beispiel für ein Ausscheren aus diesen Grundsätzen ist
die Auslegung der §§ 102 - 104 a StGB durch einen Teil der Rechts-
lehre. Zwar ist bei den Straftaten gegen ausländische (früher: be-
freundete) Staaten das geschützte Rechtsgut seit jeher umstritten ge-
wesen; die Lehre hat stets geschwankt, ob hier die ausländischen
Staaten selbst (in ihren Organen, Repräsentanten und Symbolen) ge-
schützt seien oder ob das eigene (deutsche) Interesse an ungestörten
Beziehungen zum Ausland das geschützte Rechtsgut seP8. Und auch
anläßlich der Einführung der heutigen §§ 102 ff. StGB durch das
3. StÄG 19 hat es Stimmen im Gesetzgebungsverfahren gegeben, die wei-
terhin vom Schutz freundschaftlicher internationaler Beziehungen der
Bundesrepublik Deutschland sprachen20 • Indessen kommt es auf alles
dies nicht entscheidend an; maßgebend ist in erster Linie, ob in der
Neufassung des Gesetzes selbst der Wille, ausländische Rechtsgüter
zu schützen, Gestalt angenommen hat. Dies ist in der Tat der Fall:
Die neue Abschnittsüberschrift "Straftaten gegen ausländische Staa-
ten" gibt bereits die Deliktsrichtung an; die in den §§ 102 - 104 StGB
umschriebenen ausländischen Tatobjekte (Organe, Vertreter und Ho-
heitszeichen) repräsentieren in völkerrechtlicher Sicht den ausländi-
schen Staat, so daß die in §§ 102 ff. StGB vertypten Tathandlungen sich
gegen den ausländischen Staat richten!l; dem Umstand, daß der aus-
ländische Staat selbst durch die Tat verletzt ist, trägt schließlich das
in § 104 a StGB normierte Erfordernis eines Strafverlangens der aus-
ländischen Regierung Rechnung. Es ist nicht zu sehen, auf welche
andere Weise die Intention des Gesetzes, ausländische Rechtsgüter
zu schützen, in der Gesetzessprache noch deutlicher hätte zum Aus-
druck kommen können22 . Dennoch finden sich auch unter der Neufas-

objektivierte Wille des Gesetzgebers, in: Festschrift für Heinitz, 1972, S. 47 ff.
- Wenn Nagler, Die Widersetzlichkeit gegen die ausländische Staatsgewalt,
in: Festgabe für Heilborn, 1931, S. 31, 36, gerade für unseren Bereich eine
solche Anknüpfung an die positiv-rechtliche Regelung abgelehnt hat, so ist
dies nur noch von historischem Interesse.
18 Vgl. die Nachweise über die ältere Lit. bei Jescheck (Fn. 15). - Die ver-
einzelte ältere Lehre, daß die Vorläufer der heutigen §§ 102 ff. StGB "Delikte
gegen den Frieden" enthalten hätten (so Gerland, Feindliche Handlungen
gegen befreundete Staaten, VDStB, Bd.l, 1906, S.113, besonders S.158, 167,
205 - 206, 209), wird zum heutigen Recht nicht mehr vertreten; vgl. hiergegen
von Weber (Fn. 1), S. 277 ff., und Jescheck (Fn. 15).
19 Vgl. 3. StÄG vom 4. August 1953 - BGBL 1953, Teil I, S. 735 ff.
20 Die durch das 3. StÄG (Fn. 19) eingeführten §§ 102 - 104 a StGB gingen
auf den unerledigten Rest des Entwurfs eines (1.) StÄG 1950 zurück: (vgl.
Dreher, Das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz, JZ 1953, 421). Vgl. daher aus
den Materialien zu beiden Gesetzen BT-Druck:s.I/1307, besonders S.39; Ver-
handlungen des Deutschen Bundestages, 265. Sitzung vom 12. März 1953,
1. WP, S. 13016 (BMJ Dehler).
21 Vgl. Reschke (Fn. 1), S. 109 - 110.
22 Vgl. dazu statt vieler Dreher, JZ 1953,421,426 - 427.
126 Hans Lüttger

sung des Gesetzes noch einzelne Stimmen, die den §§ 102 ff. StGB ein
ausländisches Rechtsgut absprechen und nach wie vor nur ein inlän-
disches Rechtsgut - das Interesse an ungestörten Beziehungen zum
Ausland - anerkennen23 • Die h. M. ist dem - wie wir meinen: aus
zwingenden Gründen - nicht gefolgt; sie nimmt entweder an, daß
durch die §§ 102 ff. StGB nur ausländische Rechtsgüter - die auslän-
dischen Staaten in ihren Organen, Repräsentanten und Symbolen -
geschützt seien 24 , oder sie geht von einer Mehrheit von Rechtsgütern
aus, indem sie neben diesen ausländischen Schutzgütern auch das
erwähnte nationale Rechtsgut bejaht 25 • Darauf wird noch zurückzu-
kommen sein.
Die Frage, ob in anderen weniger deutlichen Fällen die Anknüpfung
an den Wortlaut der positiv-rechtlichen Regelung zu kurz gekommen
ist, werden wir - im Verein mit anderen methodischen Fragen - bei
den angekündigten Beispielen der §§ 132 a, 152, 184 und 264 StGB er-
örtern, die sämtlich einen ausdrücklichen "Auslandsbezug" enthalten.
Hier ging es zunächst nur darum, an einem schon "klassischen" und
vielerörterten Beispiel die grundsätzliche Problematik sichtbar zu
machen, die sich bei einer (unstatthaften) Vernachlässigung der Fin-
gerzeige des Gesetzes selbst einstellt.

II.

Bei dem (wirklichen oder vermeintlichen) nationalen Rechtsgut des


Interesses an ungestörten Beziehungen zum Ausland begegnen wir
einer ebenso charakteristischen wie aufschlußreichen Unsicherheit. Die-
ses Rechtsgut findet sich in der Lehre nicht nur bei den schon erwähn-
ten Straftaten gegen ausländische Staaten (§§ 102 -104 a StGB), son-

23 Vgl. Sandweg (Fn.13), S. 56 - 58, 74 - 80; Preisendanz, 30. Aufl. 1978, Vor
§ 102; Blei, Strafrecht 11, Besonderer Teil, 12. Aufl. 1983 (im folg.: BT), § 120,
S.471; Schmidhäuser, Strafrecht, Besonderer Teil, 2. Aufl. 1983 (im folg.: BT),
20. Kap., S. 222.
24 Vgl. Dreher, JZ 1953, 421, 426 - 427; Dehler, Die Grenzen des aktiven
Personalitätsprinzips im internationalen Strafrecht, in: Festschrift für Mez-
ger, 1954, S. 83, 97; Maurach/Schroeder, Strafrecht, Besonderer Teil, Teilbd.2,
6. Aufl. 1981 (im folg.: BT 2), § 89 IV 1, S.288; DreherjTröndle, 41. Aufl. 1983,
Vor § 102 Rdnr.2; Dehler, IntStrR (Fn. 8), Rdnr. 232.
25 Vgl. Jescheck (Fn. 15); Willms, in: LK, Vor § 102 Rdnr. 1; Rudolphi, in:
Systematischer Kommentar, 1982 (im folg.: SK), Vor § 102 Rdnr.2; Lackner,
15. Auf!. 1983, Vor § 102. - Ähnlich, aber mit Vorrang des inländischen
Rechtsgutes Eser, in: Schönke/Schröder, 21. Auf!. 1982, Vor § 102 Rdnr.2;
Dtto, Grundkurs Strafrecht, Die einzelnen Delikte, 1977 (im folg.: BT), § 86 I,
S. 401. - Wieder anders Arzt/Weber, Strafrecht, Besonderer Teil, LH 5, 1982,
All, S. 10. - Endlich Reschke (Fn.l), S.181, der zusätzlich als 3. Rechtsgut
noch die Individualrechtsgüter der angegriffenen ausländischen Repräsen-
tanten als geschützt ansieht; vgl. hiergegen statt vieler BT-Drucks.I/1307,
S.39.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 127

dern auch sonst, beispielsweise bei dem noch zu erörternden Unter-


nehmen der Ausfuhr pornographischer Schriften, um sie im Ausland
unter Verstoß gegen die dort geltenden Strafvorschriften zu verbreiten
(§ 184 Abs.1 Nr.9 StGB)2B. Bei der ebenfalls noch zu besprechenden
Fälschung von Geld eines fremden Währungsgebietes (§§ 146 ff., 152
StGB) taucht es jedoch nirgends auf27 • Wo dieses Rechtsgut bejaht
wird, erscheint es teils kumulativ, teils exklusiv: im letzteren Falle
fehlt gelegentlich - wie fast stets bei § 184 Abs. 1 Nr.9 StGB - jed-
wede Untersuchung der Frage, ob daneben noch ein anderes - etwa
ausländisches - Rechtsgut in Betracht kommt. Und wo umgekehrt
die Frage nach dem Schutz ungestörter Auslandsbeziehungen - wie
bei § 152 StGB - gar nicht erwähnt wird, ist offen, warum dies ge-
schieht.
In dieser Regellosigkeit sind Grundsätze nicht zu erkennen. Wenn
wir richtig sehen, hat es bisher nur einen grundlegenden Versuch zur
methodischen Klärung dieser Problematik, und zwar durch von Weber,
gegeben2B ; in Anlehnung an seine Studie ließe sich in stark verkürzter
Form sagen: Es müsse unterschieden werden zwischen Straftatbestän-
den, in denen der Gesetzgeber Störungen der auswärtigen Beziehun-
gen als eines innerstaatlichen Rechtsgutes unter Strafe stelle, und
solchen Straftatbeständen, bei denen die Erhaltung dieser ungestörten
Beziehungen nur gesetzgeberisches Motiv für den Schutz anderer
Rechtsgüter sei. Im ersteren Falle strafe der Staat, weil die auswär-
tigen Beziehungen (durch die Tat) gestört worden seien; im letzteren
Falle hingegen, damit sie nicht (durch Nichtverfolgung der Tat) ge-
stört würden. Das bloße gesetzgeberische Motiv sei für den Tatbestand
gleichgültig; so aber liege es im deutschen Strafrecht beim Schutz aus-
ländischer Interessen.
Man wird dieser Lehre heute nicht mehr in vollem Umfange folgen
können; dennoch lassen sich in ihr Anstöße für eine kritische über-
prüfung der von uns soeben konstatierten Regellosigkeit finden:
Einerseits erscheint es nicht mehr angängig, die Frage nach dem
Vorliegen oder Nichtvorliegen eines bestimmten Rechtsgutes "gene-
rell" für alle in Betracht kommenden Deliktstatbestände lösen zu
wollen, seien es nun (in der Sprache von Webers) "ausländische Inter-
essen" oder sei es das nationale "Interesse an ungestörten Auslands-

26 Vgl. dazu unten Abschnitt B V 1.


21 Vgl. dazu unten Abschnitt B V 3.
28 Vgl. von Weber (Fn. 1), S. 276 ff. Dort war - in Auseinandersetzung mit
Gerland (Fn. 18) - freilich die Rede vom "Interesse an Vermeidung von Stö-
rungen in den äußeren Beziehungen des Staates", verstanden als "Interesse
an der Erhaltung des Friedens". Letzteres wollen wir - weil nicht mehr
aktuell (Fn. 18) - beiseite lassen.
128 Hans Lüttger

beziehungen"; es ist heute selbstverständlich, daß die Frage nach dem


geschützten Rechtsgut für jede einzelne Strafnorm gesondert geprüft
werden muß 29 • Auch ein strikter Monismus des Schutzgutes ist heute
nicht mehr akzeptabel; es gehört zum gesicherten Bestand der Rechts-
güterlehre, daß ein und dieselbe Strafnorm dem Schutze mehrerer
Rechtsgüter dienen kann30 ; daher können sehr wohl ein ausländisches
Rechtsgut und das nationale Rechtsgut der ungestörten internationalen
Beziehungen zusammentreffen. Es ist deshalb sicher, daß in den hier
gemeinten Fällen die Bejahung eines Rechtsgutes - des nationalen
Interesses an ungetrübten Auslandsbeziehungen - nicht die Frage
nach dem Vorliegen eines weiteren - etwa ausländischen - Rechts-
gutes (und umgekehrt) erspart oder gar abschneidet. Mithin ist es
methodisch richtig, wenn die Rechtslehre bei den §§ 102 ff. StGB nach
beiden Rechtsgütern fragt; und es ist methodisch fragwürdig, wenn
die Doktrin bei anderen Tatbeständen mit Auslandsbezug - beispiels-
weise bei § 184 Abs.1 Nr.9 StGB - nach der Bejahung eines deut-
schen Rechtsgutes (des Interesses an ungestörten Beziehungen zum
Ausland) abbricht, ohne nach einem ausländischen Rechtsgut weiter-
zufragen. Bei unseren angekündigten vier Beispielen wollen wir daher
anders verfahren.
Was andererseits die durch von Weber betonte rechtsbegriffliche
Unterscheidung zwischen Rechtsgut und bloßem gesetzgeberischem
Motiv anlangt, so muß ihr im Grundsatz zugestimmt werden; denn
daß das Rechtsgut31 nicht mit der ratio legis und schon gar nicht mit
den Gründen gleichgesetzt werden darf, die den Gesetzgeber zur Nor-
mierung der Straftatbestände bewogen haben, entspricht der heute
herrschenden Rechtsgüterlehre 32 • Indessen geht es nicht an, ein be-
stimmtes "Interesse" - seien es nun "ausländische Interessen", sei
es das nationale Interesse an ungestörten Auslandsbeziehungen - bei
Tatbeständen mit Auslandsbezug "pauschal" als bloßes gesetzgebe-
risches Motiv abstempeln zu wollen; die Unterscheidung zwischen

29 Vgl. allgemein Blei, Strafrecht I, Allg. Teil, 18. Auf!. 1983 (im folg.: AT),
§ 24 II u. III, S. 89 ff.; Maurach/Zip!, AT 1 (Fn. 10), § 19 II A 1, S. 251 ff. - Für
die Frage, ob nur inländische oder auch ausländische Rechtsgüter durch eine
Strafnorm geschützt sind, gilt nichts anderes: Dies ist für jede Strafnorm
gesondert zu prüfen; vgl. insbesondere Nowakowski, Anwendung des inlän-
dischen Strafrechts und außerstrafrechtliche Rechtssätze, JZ 1971, 633, 634;
Oehler (Fn. 15), JR 1980, 485 ff.; Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdnr. 23.
30 Vgl. statt vieler Maurach/Zip!, AT 1 (Fn. 10), § 19 II A 3, S. 257 ff. - Die
Frage, ob dann beide Rechtsgüter gleichrangig nebeneinander stehen oder ob
eines dieser Rechtsgüter dem anderen im Range nachgeordnet ist (dazu
Maurach/Zip!, a. a. 0.), braucht hier nicht weiter verfolgt zu werden.
31 Den Begriff "Rechts gut" verstehen wir wie Jescheck, AT (Fn.2), S.6
und S. 205 ff.
32 Vgl. dazu statt vieler Rudolphi, Die verschiedenen Aspekte des Rechts-
gutsbegriffs, in: Festschrift für Honig, 1970, S. 151, 152 - 154.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 129

Rechtsgut und gesetzgeberischem Motiv kann vielmehr sinnvoll nur


für jeden Straftatbestand gesondert vorgenommen werden. Und hier
fällt nun auf, daß diese heute doch durchweg anerkannte Unterschei-
dung seltsamerweise in unserem Bereich kaum je auftaucht. In der
Besinnung hierauf könnte aber ein Mittel liegen, das regellose pragma-
tische Hantieren mit dem (wirklichen oder vermeintlichen) Rechtsgut
des nationalen Interesses an ungestörten internationalen Beziehungen
zu problematisieren und so den Blick auf andere - etwa ausländi-
sche - Rechtsgüter freizumachen.

Die somit prinzipiell notwendige Unterscheidung zwischen dem


Rechtsgut eines Straftatbestandes und einem bloßen gesetzgeberischen
Motiv für die Pönalisierung begegnet bei ihrer praktischen Realisie-
rung freilich nicht unerheblichen Schwierigkeiten. Es fragt sich daher,
ob die weitere erläuternde Unterscheidung von Webers danach, ob der
Staat strafe, weil die auswärtigen Beziehungen durch die Tat gestört
worden seien, oder ob er strafe, damit diese Beziehungen nicht durch
Nichtverfolgung der Tat gestört würden, dabei weiterhilft. Das will
auf den ersten Blick so scheinen; denn wenn das Strafrecht Rechts-
güterschutzrecht ist und wenn das Verbrechen (zumindest auch) als
Angriff auf ein gewährleistetes Gut (als dessen Verletzung oder Ge-
fährdung) verstanden wird, wie es der h. M. entspricht, dann liegen
Bedenken dagegen nahe, eine Tat, die das in concreto in Rede ste-
hende Rechtsgut gar nicht angreift, als tatbestandsmäßige Handlung
zu begreifen33 , und dieses Manko könnte schwerlich durch die ander-
weitigen Folgen einer Nichtverfolgung kompensiert werden. Gleich-
wohl glauben wir nicht, daß eine solche Argumentation unser Problem
löst; denn die Antwort darauf,- ob die Tat oder erst ihre Nichtver-
folgung die auswärtigen Beziehungen beeinträchtigt, beantwortet nicht
die hier gemeinte logische Vortrage, ob überhaupt die betreffende
Strafnorm das nationale Interesse an ungestörten Auslandsbeziehun-
gen schützt: Rechtsgut einer Strafnorm ist nicht alles das, was durch
die Tat verletzt werden kann; umgekehrt ist zunächst der Tatbestand
zu befragen, welches Rechtsgut er meint; erst danach kann geprüft
werden, ob in einer Handlung eine Verletzung dieses Rechtsgutes
liegt34 • Frühestens hier - also dann, wenn das Rechtsgut schon aus-
gemacht ist - könnte die "Kontrollfrage" von Webers ihren systema-
tischen Platz haben. Wir bleiben also auch in unseren Beispielsfällen
darauf angewiesen, zunächst das geschützte Rechtsgut - mit Hilfe
der anerkannten Interpretationsmethoden - durch Auslegung des je-

33 Vgl. zu verwandten Gedankengängen Baumann, Strafrecht, Allg. Teil,


8. Aufl. 1977 (im folg.: AT), § 12 II 3 c ß, S. 14l.
34 Vgl. dazu näher Bockelmann, Literaturbericht: Strafrecht - Besonderer
Teil II, ZStW 74 (1962), S. 311, 314 - 315.

9 Festschrift für H.-H. Jescheck


130 Hans Lüttger

weiligen Straftatbestands und seines Sinnzusammenhangs zu ermit-


teln und dabei die Unterscheidung zwischen Rechtsgut und bloßem
gesetzgeberischem Motiv vorzunehmen.
Wenn wir nun unser bisheriges Hauptbeispiel als Erprobungsmodell
weiterführen, dann ergibt sich dafür folgendes: Daß bei den Straf-
taten gegen ausländische Staaten ausländische Rechtsgüter geschützt
sind, folgt - wie erörtert - zwingend aus Wortlaut und Sinn der
§§ 102 -104 a StGB. - Ob zu diesem ausländischen Rechtsgut noch das
nationale Rechtsgut des Interesses an ungestörten Auslandsbeziehun-
gen hinzutritt, ist hingegen weniger deutlich35 , aber wohl zu bejahen.
Zwar läßt sich dafür nicht mehr - wie früher - die Abschnittsüber-
schrift ins Feld führen, die nicht mehr von "befreundeten", sondern
von "ausländischen" Staaten spricht. Auch muß der Umstand, daß die
§§ 102 ff. StGB entstehungsgeschichtlich eine Wurzel in dem Grundsatz
"aut dedere, aut punire" haben, durchaus nicht dafür sprechen, daß
die ungestörten Auslandsbeziehungen ein Rechtsgut der §§ 102 ff. StGB
seien3ß ; denn dies könnte ebensogut auf ein bloßes gesetzgeberisches
Motiv (für den Schutz der ausländischen Rechtsgüter) hindeuten37 •
Schließlich ist das in der Rechtslehre übliche Rekurrieren auf die Aus-
legung der (anderslautenden) Vorläufer und auf die Entstehungs-
geschichte der heutigen §§ 102 ff. StGB 38 schon aus den früher erwähn-
ten grundsätzlichen Erwägungen 39 nur eine schwache Hilfe. Die Lösung
kann nur in der eingangs postulierten Anknüpfung an Wortlaut und
Sinn der positiv-rechtlichen Regelung40 liegen: Das in § 104 a StGB auf-
gestellte Erfordernis des Bestehens diplomatischer Beziehungen deu-
tet darauf hin, daß es auch um den Schutz eben dieser Beziehungen
geht; dann aber läßt sich die nach § 104 a StGB notwendige Verfol-
gungsermächtigung der Bundesregierung als Ausdruck dieses eigenen
Interesses der Bundesrepublik Deutschland verstehen41 • Dies erlaubt
den Schluß, daß das deutsche Interesse an ungestörten internationalen
Beziehungen nicht nur ein gesetzgeberisches Motiv, sondern ein zu-

35 Möglicherweise hat Jescheck, AT (Fn.2), S.141 - im Gegensatz zu sei-


nen Ausführungen in: Festschrift für RitUer (Fn. 15), S. 277 f. - aus diesem
Grunde neuerdings davon gesprochen, daß bei den §§ 102 - 104 StGB "nur an
das Ausland gedacht" sei.
38 So aber anscheinend Jescheck, in: Festschrift für Rittler (Fn. 15), S. 277 -
278.
37 So möchten wir Gerland (Fn. 18), VDStB, Bd. I, S. 113, 122, auf den diese
Anknüpfung an Hugo Grotius zurückgeht, verstehen, wenn er von den Fol-
gen von Nichtbestrafung und Nichtauslieferung spricht.
38 Vgl. oben zu und mit Fn. 18 - 20.

39 Vgl. den Text oben vor Fn. 17.


40 Vgl. oben Abschnitt B I.

41 Vgl. dazu statt vieler Jescheck (Fn.36); Willms, in: LK, Vor § 102 Rdnr. 1.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 131

sätzliches Rechtsgut der §§ 102 ff. StGB ist42 ; sein Schutz ist in den
§§ 102 - 104 a StGB unmittelbar angelegt und deshalb nicht nur eine
sog. Reflexwirkung des Strafschutzes für die ausländischen Rechts-
güter43 •
Wie schon mehrfach angedeutet, werden auch diese Fragen bei der
späteren Erörterung unserer angekündigten Beispiele eine erhebliche
Rolle spielen; es ging vorerst vor allem darum, ihre grundsätzliche
Bedeutung für unser Thema darzutun, die weit über die ausgewählten
Fälle hinausgeht.
III.

Die meisten Strafvorschriften zum Schutze öffentlicher Rechtsgüter


enthalten keinen ausdrücklichen Auslandsbezug der bisher besproche-
nen Art, sondern sind insoweit "neutral" abgefaßt. Bei ihnen scheidet
folglich eine Anknüpfung an den Wortlaut der Straftatbestände aus;
die Frage, ob sie auch nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter schützen,
läßt sich hier nur aus Sinn und Zusammenhang des jeweiligen Tat-
bestands beantworten. Bei der Behandlung dieser Frage in Rechtspre-
chung und Lehre findet sich eine überraschend große Fülle von Argu-
menten, die nur selten miteinander verbunden, zumeist aber punk-
tuell gestreut sind. Aus methodologischen Gründen wollen wir ver-
suchen, sie zu systematisieren: Zunächst werden wir den Ausgangs-
punkt und diejenigen Thesen behandeln, die der Problematik durch
Ausschlußgründe beizukommen suchen (hier III 1- 4); anschließend
werden wir diejenigen Lehren erörtern, die (umgekehrt) nach Krite-
rien für den Einschluß fremder öffentlicher Rechtsgüter fragen (Ab-
schnitt IV). Bei alledem sollen nicht Einzelfälle, sondern rechtsgrund-
sätzliche überlegungen im Mittelpunkt stehen; diese werden sich zum
Teil auch auf unsere angekündigten Beispiele auswirken.

1. Ausgangspunkt pflegt durchweg die (zutreffende) Erwägung zu sein,


daß es primär Aufgabe jedes Strafrechts ist, die nationalen Rechts-

42 Die Frage, ob beide Rechtsgüter im Verhältnis der Kumulation oder der


Alternativität zueinander stehen und welche Auswirkung diese Einordnung
hätte, kann hier nicht weiter verfolgt werden. Da beide hier in Rede stehen-
den Rechtsgüter "öffentliche" Rechtsgüter sind, müssen die hier auftauchenden
Fragen nicht notwendig in allen Einzelheiten identisch mit denjenigen Fra-
gen sein, die für das Zusammentreffen eines öffentlichen Rechtsgutes mit
einem Individualrechtsgut charakteristisch sind; vgl. zu letzterem etwa Her-
degen, in: LK, § 164 Rdnr. 1 - 3; eingehend Langer, Die falsche Verdächtigung,
1973, und Hirsch, Zur Rechtsnatur der falschen Verdächtigung, in: Gedächt-
nisschrift für Schröder, 1978, S. 307 ff.; ferner Lenckner, in: Schönke/Schrö-
der, § 164 Rdnr. 1 - 2.
43 Vgl. zu den Reflexwirkungen im Rechtsgüterbereich allgemein etwa
Langer (Fn.42), S. 38 und 40; Burgstaller, Zur Einwilligung im Strafrecht,
ÖRZ 1977, 1,2; Hirsch (Fn.42), S.322; Maurach/Schroeder, BT 2 (Fn.24), § 97
I, S. 315; Rudolphi, in: SK, § 164 Rdnr. 1.

9'
132 Hans Lüttger

güter zu schützen 44 • Ebenso findet sich oft die (gleichfalls zutreffende)


Feststellung, daß in der Regel nUr inländische Rechtsgüter geschützt
sind bzw. - umgekehrt gewendet - daß nur ausnahmsweise auslän-
dische Rechtsgüter in den Strafschutz einbezogen sind 45 • Bei letzterem
handelt es sich jedoch nur um eine Beschreibung des tatsächlich be-
stehenden Zustands im geltenden Strafrecht, nicht aber - wie im
Blick auf unsere anschließenden Erörterungen betont sei - um einen
Rechtsgrundsatz nach Art eines (rechtlichen) Regel-Ausnahme-Verhält-
nisses, das die Auslegung der einzelnen Tatbestände von vornherein
einengen würde. Das ist auch in Rechtsprechung und Lehre zum Aus-
druck gekommen; so wenn betont wurde, aus dem Umstand, daß man-
che Strafvorschriften ausdrücklich ausländische Rechtsgüter schützen 46
und manche andere Strafnormen ausdrücklich nUr für inländische
Rechtsgüter gelten47 , dürften keine Umkehrschlüsse gezogen werden48 ;
ferner wenn darauf hingewiesen wurde, daß auch sonst (d. h. außer-
halb dieser Fälle) keine Vermutung für den Ausschluß ausländischer
Rechtsgüter spreche, zu deren Widerlegung es anderweitiger positiver
Bestimmungen bedürfe 49 ; VOr allem aber, wenn immer wieder betont
wird, auch der (soeben erwähnte) Umstand, daß es primär Aufgabe
jedes Strafrechts ist, die nationalen Rechtsgüter zu schützen, schließe
es nicht aus, daß in den Strafschutz auch ausländische Rechtsgüter
einbezogen seien50 • Damit harmoniert es, wenn die heute h. M. - mit
Recht, wie wir früher sahen51 - davon ausgeht, daß die Frage nach
dem etwaigen Ausschluß oder Einschluß nichtdeutscher Rechtsgüter
für jeden Straftatbestand gesondert (nach seinem Wortlaut und Sinn-
zusammenhang) geprüft werden muß 52 • Für diese Auslegung sind die
"neutral" abgefaßten Straftatbestände prinzipiell "offen"; ihre Aus-
legung ist nicht durch "rechtliche Ausgangszwänge" von vornherein
generell eingeengt53 ; sie hängt von weiteren überlegungen ab.
44 Vgl. Z. B. BGHSt.22, 282, 285; OLG Saarbrücken NJW 1975, 506, 507,
OLG Stuttgart NJW 1977, 1601, 1602.
45 Vgl. Z. B. Oehler (Fn.24), Festschrift für Mezger, S.83, 97; Jescheck
(Fn. 5), Festschrift für Maurach, S. 579,583; Vogler, Der Fall KappIer in inter-
national-strafrechtlicher Sicht, NJW 1977, 1866, 1867; Jescheck, AT (Fn.2),
S.141.
48 Hier werden zumeist die §§ 102 ff. StGB genannt; vgl. dazu oben Ab-
schnitt B I.
47 Hierfür werden zumeist die Staatsschutzdelikte angeführt; vgl. zu den
bei diesen geschützten Rechtsgütern Lüttger, Internationale Rechtshilfe in
Staatsschutzverfahren?, GA 1960,33,43 - 58.
48 Vgl. RGSt.8, 53, 56 - 57; von Weber (Fn.l), Festgabe für von Frank,
Bd. II, S. 269, 281.
49 Vgl. von Weber (Fn. 1), Festgabe für von Frank, Bd. II, S. 283.

50 Vgl. z. B. OLG Saarbrücken und OLG Stuttgart wie Fn.44; ferner


BGHSt. 21,277,280.
51 Vgl. oben Abschnitt B II bei Fn. 29.
52 Vgl. BGHSt. 21,277,280; Nowakowski, Gehler und Trändle wie Fn. 29.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 133

2. In Rechtsprechung und Lehre findet sich häufig ein (anderes) Prin-


zip, mit dessen Hilfe ein Teil der ausländischen öffentlichen Rechts-
güter aus den Tatbeständen der "neutral" abgefaßten Strafnormen
zum Schutze öffentlicher Rechtsgüter eliminiert werden soll: Auf
Angriffe gegen einen fremden Staat, soweit es dabei um seine Souve-
ränität und Staatsgewalt, seine innere Ordnung, seine hoheitliche
(z. B. rechtsprechende) Tätigkeit oder seine Verwaltungs- und Fiskal-
interessen gehe, seien die entsprechenden deutschen Strafvorschrif-
ten nicht anwendbar 54 • Dieser - mithin auf bestimmte Deliktsgrup-
pen beschränkte55 -Rechtsgedanke wird teils als dort ausnahmslos
geltendes Prinzip formuliert 56 , teils mit der Einschränkung "grund-
sätzlich" bzw. "in der Regel" versehen 57 • Die Begründungen für diese
These 58 sind unterschiedlich: Gelegentlich wird gesagt, die betreffen-
den deutschen Straftatbestände seien unanwendbar, weil es nicht
Aufgabe des deutschen Strafrechts sei, die vorbezeichneten Rechts-
güter ausländischer Staaten zu schützen59 • Oft wird betont, eine Aus-
dehnung des Strafschutzes auf die beschriebenen fremden öffentlichen
Rechtsgüter stelle eine unzulässige Einmischung in fremde Souveräni-
tät dar60 • Ferner findet sich die Begründung, daß eine solche Erstrek-
kung des Strafschutzes Vertrauen in die Integrität der fraglichen
Staatstätigkeit bzw. ein Urteil über die Schutzwürdigkeit dieser frem-

53 Im Ergebnis ebenso Nowakowski (Fn. 29). - Unausgesprochen liegt dies


den zahlreichen Stimmen in Rspr. und Lehre zugrunde, die ohne solche Vor-
bedingungen (zutreffend) für jede Strafnorm gesondert aus deren eigenem
Verständnis heraus die Frage der Einbeziehung fremder öffentlicher Rechts-
güter prüfen.
54 Vgl. dazu im einzelnen Eser, in: SchönkelSchröder, Vor § 3 Rdnr. 16, an
dessen Formulierung sich der Text anlehnt. Ferner BGH in LM, § 3 StGB,
Nr.2; BGHSt.22, 275, 285; 29, 85, 89; OLG Hamm JZ 1960, 576; OLG Düssel-
dorf NJW 1982, 1242, 1243; Oehler (Fn.24), Festschrift für Mezger, S.83, 99;
Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdnr.24; von Bubnoff, in: LK, § 113 Rdnr.7. Zahl-
reiche weitere Nachweise bei Jescheck, Zur Reform der Vorschriften des
StGB über das Internationale Strafrecht, IRuD 1956, 75, 81 mit Anm.46 dort-
=
selbst in: Beiträge, S. 521, 528.
55 Samsan, in: SK, § 3 Rdnr. 13, will das deutsche Strafrecht ohne die oben
im Text gemachten materiellen Einschränkungen (also schlechthin) auf "An-
griffe gegen (seil.: öffentliche) Rechtsgüter fremder Staaten" nicht anwenden.
56 Vgl. Z. B. BGHSt. 29,85, 89.

57 Vgl. Z. B. Eser und Tröndle wie Fn. 54.

58 Oehler hat die von ihm in: Festschrift für Mezger (Fn.24), S.99, gege-
bene (weitere) Begründung, der deutsche Gesetzgeber könne nicht Gehorsam
gegenüber ausländischen Normen verlangen, in seinen späteren Schriften -
soweit ersichtlich - nicht wiederholt. Es geht hier in der Tat ja auch nicht
um Gehorsam gegenüber ausländischen Normen, sondern gegenüber deut-
schen Strafgesetzen, die ggf. ein ausländisches Rechtsgut in ihren Schutz ein-
beziehen; im Ergebnis ebenso Nowakowski, JZ 1971,633,634.
59 Vgl. etwa: OLG Düsseldorf NJW 1982, 1242, 1243.
60 Vgl. z. B. BGHSt.22, 275, 285; 29, 85, 89; von Bubnoff, in: LK, § 113
Rdnr.7.
134 Hans Lüttger

den Rechtsgüter voraussetze, das der deutsche Richter nicht fällen


könne 61 • Und sc.'1ließlich wird darauf hingewiesen, daß eine grenzen-
lose Ausdehnung auf die entsprechenden Rechtsgüter aller übrigen
Staaten den Verlust der tatbestandlichen Garantiefunktion bewirke 62 , 63.
Zwar hat sich die praktische Bedeutung dieser Thesen drastisch
verringert, seit der Gesetzgeber durch das 2. StrRG64 mit Hilfe der
Begriffsbestimmungen des § 11 Abs. 1 Nr. 2 - 4 StGB den tatbestand-
lichen Anwendungsbereich aller Strafnormen über sog. Amtsdelikte
und über Straftaten gegen Amtsträger auf die Verantwortlichkeit und
den Strafschutz deutscher Amtsträger usw. beschränkt hat G5 , soweit
nicht besondere Ausnahmen bestehen66 • Gleichwohl bleiben zahlreiche
andere Straftatbestände~7, von denen insbesondere die §§ 145 d, 153 ff.,
164, 170 b StGB hier eine besondere Rolle in Rechtsprechung und Lehre
gespielt haben68 • Wir müssen daher den geschilderten Argumenten
nachgehen.

a) Keine Lösung können jene Stimmen bringen, welche die Unan-


wendbarkeit der gemeinten Strafvorschriften damit "begründen" wol-
len, daß es nicht Aufgabe des deutschen Strafrechts sei, ausländische

61 Vgl. z. B. Schröder, Grundlagen und Grenzen des Personalitätsprinzips


im internationalen Strafrecht, JZ 1968, 241, 244; Eser, in: Schönke!Schröder,
Vor § 3 Rdnr.17; Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdnr.28; Samson, in: SK, § 3
Rdnr.13.
62 Ähnlich schon Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts,
Besonderer Teil, Bd. II/2, 1905, § 190 II, S.373 ("Blankettstrafgesetze von ge-
radezu unheimlichem Umfange"); heute etwa Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdnr. 28;
Oehler, IntStrR (Fn. 8), Rdnr.782; Niewerth, Strafrechtlicher Schutz der
öffentlichen Gewalt der DDR als inländische Staatsgewalt?, NJW 1973, 1219.
- Vgl. in diesem Zusammenhang ferner Jescheck (Fn.15), Festschrift für
Rittler, S. 275, 284; Schröder, Urteilsanmerkung, JZ 1954,672.
63 Die vorstehend aufgezählten Argumente tauchen innerhalb der voran-
gestellten Deliktsgruppe (vor Fn. 54) oft nur bei einigen der dazugehörenden
Straf tatbestände auf; ihre zusammenfassende Darstellung ist aber metho-
disch gerechtfertigt, weil sie sämtlich ihrer Art nach auf einen pauschalen
Ausschluß fremder öffentlicher Rechtsgüter der hier behandelten Gruppe
hinauslaufen. - Eine abweichend strukturierte Lehre wird anschließend
(sub B Irr 3) getrennt behandelt.
6' Vgl. 2. StrRG vom 4. Juli 1969 - BGBl. 1969, Teil I, S. 717 ff.
65 Daß die Legaldefinitionen des § 11 Abs. 1 Nr.2 - 4 StGB auf alle ein-
schlägigen Tatbestände des BT anwendbar sind, ist unstreitig; vgl. Eser, in:
Schönke!Schröder, § 11 Rdnr. 15. - In der Sache war diese Einschränkung
schon vor Inkrafttreten des 2. StrRG (Fn. 64) weithin anerkannt; vgl. statt
vieler BGHSt. 2, 396, 397 - 398, mit Nachweisen.
66 Vgl. die übersicht über Sondervorschriften in völkerrechtlichen Ver-
trägen und in Spezialgesetzen bei Dreher!Tröndle, § 113 Rdnr.2. - Zu der
Frage, ob sonstige ungeschriebene Erweiterungen bestehen, vgl. unten Ab-
schnitt B IV 2 a und b.
67 Vgl. die übersichten bei Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdnr. 26 - 40.

88 Zur Frage des internationalen Geltungsbereichs vgl. oben zu und mit


Fn. 11 und 12.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 135

öffentliche Rechtsgüter der hier gemeinten Art zu schützen. Denn ein-


mal wird dabei vorausgesetzt, was zu begründen war; und zum ande-
ren kann mit solchen apodiktischen Aussagen nicht a limine ausge-
schlossen werden, daß der "objektivierte Wille des Gesetzgebers"
gleichwohl nach Sinn und Zusammenhang einer konkreten Strafnorm
ein solches ausländisches Rechtsgut mit einschließt.

b) Auch die These, ausländische öffentliche Rechtsgüter der geschil-


derten Art seien deshalb nicht erfaßt, weil eine solche Ausdehnung
des Strafschutzes eine unzulässige Einmischung in fremde Souveräni-
tät darstelle, greift nicht durch. Es ist anzunehmen, daß dieser Ge-
danke irgendwann einmal aus dem sog. Internationalen Strafrecht oder
Strafrechtsanwendungsrecht69 entlehnt worden ist. Hier bestehen in
der Tat völkerrechtliche Schranken für die Ausdehnung des inter-
nationalen Geltungsbereichs des nationalen Strafrechts; denn eine sol-
che Ausdehnung erfordert "sinnvolle Anknüpfungspunkte", wie sie sich
in den anerkannten Prinzipien des Internationalen Strafrechts ent-
wickelt haben, und hat ihre Grenze im völkerrechtlichen Mißbrauchs-
verbot70 • Und dort findet sich der Rechtsgrundsatz, daß es eine völker-
rechtswidrige Einmischung in fremde Souveränität darstellt, wenn ein
Staat durch sein Strafrecht ein Verhalten im Ausland verbietet, das
dort entweder vorgeschrieben oder doch erlaubt ist 71 • Um derartiges
geht es hier aber nicht: Hier steht nicht der internationale Geltungs-
bereich des nationalen Strafrechts, sondern der tatbestandliche Schutz-
bereich von Strafnormen in Rede 72 • Ein völkerrechtliches Verbot, aus-
ländische öffentliche Rechtsgüter in den tatbestandlichen Schutzbereich
des inländischen Strafrechts einzubeziehen, existiert aber nicht 73 • Damit
reduziert sich das Argument von der Einmischung in fremde Souve-
ränität hier auf eine rechtspolitische Erwägung, von der nicht einmal
sicher ist, ob sie de lege ferenda durchgreift; denn der fremde Staat
wird kaum etwas dagegen einzuwenden haben, daß sein eigenes Straf-
recht von jenseits der Grenzen her gedeckt und unterstützt wird 74, es
sei denn, man wollte bei Reformplänen Revolution und Umsturz zum
Maß der Dinge machen 75 •
69 Vgl. oben Fn. 10.
Vgl. dazu statt vieler Jescheck, AT (Fn.2), § 18 I 2, S.130, und § 18 11
und 111, S. 132 ff.; ders. (Fn. 5), Festschrift für Maurach, S. 579, 580 - 581 = in:
70

Beiträge, S. 615, 616 - 617.


71 Eingehend dazu Jescheck, in: Niederschriften über die Sitzungen der
Großen Strafrechtskommission, Allg. Teil, 38. Sitzung, 4. Bd., S. 11 ff., beson-
ders S. 14 - 15. - Vgl. auch die allgemeinen Nachweise bei Reschke (Fn.1),
S.96-97.
72 Vgl. oben zu und mit Fn. 10 - 12.
73 Vgl. Nowakowski, JZ 1971, 633, 634.

74 So in bezug auf das Internationale Strafrecht J escheck (Fn. 71). Das


muß für den tatbestandlichen Schutzbereich aber erst recht gelten.
136 Hans Lüttger

c) Bedenken begegnet auch jene These, die mit den Stichworten


"nicht feststellbare Vertrauenswürdigkeit (Integrität) oder Schutzwür-
digkeit" die geschilderten fremden öffentlichen Rechtsgüter pauschal
aus dem Strafschutz herausnehmen will. Eine solche Begründung wäre
nur akzeptabel, wenn sich die Geltung eines derartigen einschränken-
den Prinzips nachweisen ließe; bloße Unterstellungen könnten jene
Folgerung nicht tragen. Unser Strafrechtssystem kennt aber keine sol-
che "Diskriminierung auf Verdacht" mit der Folge eines generellen
Ausschlusses von (wirklich oder vermeintlich) nicht "vertrauenswür-
digen" Staaten und ihren Rechtsgütern.
Das zeigt sich zunächst beim Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland
in Strafsachen nach dem IRG76 • Ihm ist ein pauschaler Ausschluß von
Staaten mit in rechtsstaatlicher Sicht bedenklichen Strukturen fremd;
auch die ordre-public-Klausel77 des § 73 IRG ermöglicht derartiges
nicht, sondern sperrt nur die Leistung von Auslieferung und sonstiger
Rechtshilfe im davon betroffenen EinzelfalFs. Dabei hat die gesetzliche
Beschränkung dieses ordre public auf den Widerspruch der nachge-
suchten Rechtshilfe mit "wesentlichen" Grundsätzen der deutschen
Rechtsordnung eine Ausdeutung erfahren, die nicht nur zahlreiche
zwingende Grundsätze des einfachen deutschen Rechts, sondern sogar
manche grund gesetzlich verankerte Prinzipien ausklammert und so den
nationalen Verschiedenheiten der Rechtsordnungen in (erstaunlich)
hohem Maße Rechnung trägt 79 • Dahinter steht der Gedanke, daß das
Grundgesetz keine Werturteile über fremde Rechtsordnungen fällt und
daß nicht auf dem Umwege über Auslieferung und sonstige Rechts-
hilfe den eigenen (deutschen) Vorstellungen vom Rechtsstaat "Allge-
meinverbindlichkeit" verschafft werden kannso. Von einer "pauschalen"
Diskriminierung nicht "vertrauenswürdiger" Staaten kann also selbst
bei der aktiven Unterstützung ausländischer Strafverfahren durch Lei-
stung von Rechtshilfe nicht die Rede seinsI.

75 BGHSt.22, 282, 285, spricht zurückhaltender von "innenpolitischen Aus-


einandersetzungen" .
76 Vgl. Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG)
vom 23. Dezember 1982 - BGBl. 1982, Teil I, S. 2071 ff.
77 Vgl. dazu näher Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, 1970,
S. 202 ff. und 219 ff.; ders., in: Vogler/Wilkitzki/Walter, § 73 IRG Rdnr.5 - 9,
in: Grützner/Pötz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 2. Aufl.
1984.
78 Dasselbe gilt für die §§ 6 Abs. 2 und 49 Abs. 2 Nr. 2 IRG.
79 Vgl. die umfassende Darstellung bei Vogler (Fn. 77), § 73 IRG Rdnr. 1 - 3,
12 - 43, mit zahlreichen Nachweisen.
so Vgl. dazu Vogler (Fn. 77), § 8 IRG Rdnr.4 und 8, sowie § 73 IRG Rdnr.4
und 25.
SI Das hat bedeutsame Konsequenzen: Der ordre public des § 73 IRG be-
darf nicht nur als (lediglich) allgemeine Richtschnur der rechtlichen Konkre-
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 137

Noch deutlicher wird dies bei der innerdeutschen Rechts- und Amts-
hilfe in Strafsachen nach dem RHG 82 • Bei ihr wird in Kauf genommen,
daß Gerichtsorganisation und Strafverfahren der DDR bei weitem
nicht den rechtsstaatlichen Vorstellungen unseres Grundgesetzes ent-
sprechen; und dennoch ist Rechts- und Amtshilfe - freilich unter den
sehr engen Voraussetzungen der §§ 1, 2 RHG - zulässig 83 • Auch hier
führt mithin nicht etwa "mangelnde Vertrauenswürdigkeit" der Justiz
der DDR zu einem generellen Ausschluß aktiver Unterstützung ihrer
Strafverfahren durch Leistung von Rechtshilfe 84, mag auch die Recht-
sprechung des Bundesverfassungsgerichts zu einer Reduzierung auf
seltene Fälle geführt haben 85 •
Auch im materiellen Strafrecht findet sich keine Stütze für die er-
örterte These. So schützen die §§ 102 -104 a StGB keineswegs nur "ver-
trauenswürdige" Staaten88 , sondern alle ausländischen Staaten, mit
denen die Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen
unterhält, auch wenn es sich dabei um kommunistische Staaten oder
um Diktaturen handelt 87 • Und in einem Strafverfahren wegen Mein-
eids - also bei einem Straftatbestand, der hinsichtlich des geschützten
öffentlichen Rechtsgutes "neutral" abgefaßt ist - hat der Bundes-
gerichtshof es abgelehnt, den Begriff "Gericht" i. S. des § 154 StGB da-

tisierung; seine Anwendung muß auch die Umstände des konkreten Falles
und die Art der erbetenen Rechtshilfe berücksichtigen; vgl. dazu Vogler
(Fn. 77), § 73 IRG Rdnr. 10 und 11. In der Praxis haben sich bereits Fallgestal-
tungen ergeben, in welchen aus diesem Grunde die Ablehnung des konkreten
Rechtshilfeersuchens als unzulässig mit der allgemeinen Begründung, die
Justiz des ersuchenden Staates biete derzeit keine Gewähr für die Einhal-
tung der international anerkannten Mindestregeln eines rechtsstaatlichen
Verfahrens, schlicht rechtsfehlerhaft war; vgl. dazu Vogler, a. a. 0., § 73 IRG
Rdnr.l0.
82 Vgl. Gesetz über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe in Straf-
sachen vom 2. Mai 1953 - BGBL 1953, Teil I, S. 161 ff.; in der jetzt geltenden
Fassung abgedruckt bei Kleinknecht/Meyer, 36. Aufl. 1983, Anh. D 1.
83 Vgl. BVerfGE 11, 150, 158 ff.; 37, 57, 64 ff.; eingehende Darstellung bei
Schäfer, in: Löwe/Rosenberg, 23. Aufl. 1979 (im folg.: LR), 5. Bd., vor und zu
§§ 1, 2 RHG. - Allgemein zum Strafrechtssystem der DDR Jescheck, Straf-
recht und Strafrechtsanwendung in der sowjetisch besetzten Zone Deutsch-
lands, 1962.
84 Von einer derartigen Folgerung ist aus gesamtdeutschen Erwägungen
ganz bewußt abgesehen worden; vgl. Schäfer, in: LR, Vor § 1 RHG Rdnr.6
und 8 a.
85 Vgl. Schäfer, in: LR, Vor § 1 RHG Rdnr. 19, mit Nachweisen. Es bleiben
aber die übernahme eines Verfahrens aus der DDR und die Durchführung
eines neuen Verfahrens nach Verurteilung in der DDR gemäß §§ 10 ff. RHG.
88 Daß die §§ 102 ff. StGB ausländische Rechtsgüter schützen, ist oben Ab-
schnitt B I dargetan.
87 Vgl. dazu Jescheck (Fn. 15), Festschrift für Rittler, S.275, 282. - Ein
Regulativ liegt (nur und erst) in dem prozessualen Erfordernis der Ermäch-
tigung zur Strafverfolgung durch die Bundesregierung nach § 104 a StGB.
138 Hans Lüttger

von abhängig zu machen, ob das (fremde) Gericht, vor dem der Eid
geleistet worden war, nach rechtsstaatlichen Grundsätzen zusammen-
gesetzt gewesen sei und ob es nach solchen Grundsätzen amtiert habe88 •
In der Sache läuft dies auf eine Ablehnung der These vom Ausschluß
wegen präsumtiven Mangels an Vertrauens- und Schutzwürdigkeit
hinaus, denn der dort entschiedene Fall hätte sich dafür geradezu an-
geboten 89 • Auch sonst läßt sich im materiellen Strafrecht eine pau-
schale Diskriminierung der öffentlichen Rechtsgüter fremder Staaten
auf den bloßen "Verdacht" mangelnder Vertrauenswürdigkeit hin
nicht nachweisen. Die Vertreter dieser Lehre bemühen sich auch gar
nicht, diesen von ihnen propagierten Grundsatz aus dem geltenden
Recht abzuleiten. Die von ihnen als Begründung angeführte praktische
Schwierigkeit, daß der Richter in concreto die "Vertrauens- oder
Schutzwürdigkeit" kaum feststellen könne, rechtfertigt aber nicht die
weitergehende Schlußfolgerung, daß deshalb der Strafschutz ohne
Rücksicht auf die wirkliche Lage schon "auf Verdacht" von Rechts
wegen generell ausgeschlossen sei. Die befremdlichen Konsequenzen
dieser Lehre zeigen sich schließlich darin, daß hier gestandene Rechts-
staaten mit demselben Mißtrauen behandelt werden wie weltweit be-
rüchtigte Unrechtssysteme.
Aus alledem folgt: Einen Rechtsgrundsatz des Inhalts, daß fremde
öffentliche Rechtsgüter der hier in Rede stehenden Art wegen prä-
sumtiv mangelnder Vertrauenswürdigkeit der fraglichen Staatstätig-
keit und nicht feststellbarer Schutzwürdigkeit jener Rechtsgüter un-
besehen90 generell aus dem Strafschutz eliminiert seien, gibt es eben-
sowenig, wie es derartige generelle Schranken im Recht der inter-

88 Vgl. BGH GA 1955, 178 ff., betr. ein Gericht der DDR. - In einer Reihe
von Verfahren wegen falscher Verdächtigung gegenüber fremden Behörden
hat die Rechtsprechung die sich dort aufdrängende Frage nach der "Ver-
trauenswürdigkeit" der fremden Staatstätigkeit und der "Schutzwürdigkeit"
des fremden öffentlichen Rechtsgutes - und zwar zumeist durch ein Rekur-
rieren auf das nach einer verbreiteten Ansicht von § 164 StGB zusätzlich
geschützte Individualrechtsgut (vgl. dazu die Nachweise in Fn.42) - still-
schweigend übergangen; vgl. BGH NJW 1952, 1385, betr. eine Dienststelle
der Besatzungsbehörden; BGH JR 1965, 306 f., betr. eine polnische Dienst-
stelle; OLG Celle HESt. 1, 42, 45, betr. eine Dienststelle der Besatzungsmacht;
OLG Köln NJW 1952, 117, betr. die Volkspolizei der DDR.
89 Die Rechtsprechung hat vielmehr statt dessen betont, daß die Strafbar-
keit gerade hier mit Rücksicht auf besondere Konfliktslagen aus anderen
Erwägungen - insbesondere wegen Rechtfertigungsgründen - entfallen
könne; vgl. BGH GA 1955, 178 ff., betr. Meineid; ferner die bei Dreher/
Tröndle, § 34 Rdnr.22, mitgeteilte unveröffentlichte Entscheidung des BGH
vom 25. Juni 1953 - 5 StR 699/52 -, betr. Urkundenfälschung. - Grund-
legend Schroeder, Zur Strafbarkeit der Fluchthilfe, JZ 1974, 113 ff., mit zahl-
reichen Nachweisen.
90 Zu einem differenzierenden anderen Lösungsversuch vgl. unten Ab-
schnitt B 111 3.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 139

nationalen und der innerdeutschen Rechtshilfe gibt. Dabei stellen wir


vorsorglich noch einmal klar: unsere Kritik gilt der geschilderten Be-
gründung, nicht den - möglicherweise anders zu rechtfertigenden -
Ergebnissen.

d) Wieder anders steht es mit der These, die uneingeschränkte Ein-


beziehung aller fremden öffentlichen Rechtsgüter der hier gemeinten
Gruppe in den Schutz der einschlägigen deutschen Strafvorschriften
führe zum Verlust der tatbestandlichen Garantiefunktion; dieses Argu-
ment geht zurück auf Bindings viel zitiertes Wort über die dann dro-
henden "Blankettstrafgesetze von geradezu unheimlichem Umfange"91.
lIierzu können wir uns kurz fassen. Zunächst kann dahinstehen, daß
es sich hier nicht um "Blankettgesetze" im technischen Sinne handelt92 ;
denn Binding ging es ersichtlich um eine drastische Verdeutlichung
seiner Bedenken hinsichtlich der tatbestandlichen Bestimmtheit der
Strafvorschriften. Ebenso mag auf sich beruhen, daß dieses Problem
seit Inkrafttreten des § 11 Abs.1 Nr. 2 - 4 StGB - wie schon erörtert93
- für einen weiten, besonders neuralgischen Bereich von Strafvor-
schriften gegenstandslos geworden ist. Wir brauchen auch nicht zu ent-
scheiden, ob in dem verbliebenen Bereich - insbesondere bei den
Delikten gegen die Rechtspflege i. w. S.94 - allein schon durch die große
Zahl der möglicherweise einzubeziehenden fremden öffentlichen Rechts-
güter - etwa der fremden Rechtspflege-Institutionen - Art. 103 Abs.2
GG auf den Plan gerufen würde, sofern dies durch Auslegung als der
objektivierte Wille des Gesetzgebers eindeutig feststellbar wäre und
somit von einer tatbestandlichen Unbestimmtheit im gewohnten Sinne
gar keine Rede sein könnte 95 ; denn keine heute vertretene Richtung in
Rechtsprechung und Strafrechtslehre nimmt derartiges an oder läßt
es auch nur im Ungewissen. In der Literatur fungiert der Hinweis auf
die tatbestandliche Bestimmtheit hier durchweg auch nur zur Unter-
stützung anderer auf den Ausschluß der fremden öffentlichen Rechts-
güter gerichteten Argumente96 ; es ist gelegentlich wohl mehr eine
"juristische Drohgebärde", und das trifft sogar den Kern: Denn da
die Interpretation des einfachen Rechts der Prüfung der Vereinbarkeit

91 Vgl. Binding (Fn. 62); dazu Jescheck, Gehler und Niewerth wie Fn. 62.
92 Vgl. statt vieler BVerfGE 14, 245, 252; Jescheck, AT (Fn.2), § 12 III 2,
S. 86 f.
93 Vgl. dazu oben zu und mit Fn. 64 - 65.
94 Vgl. dazu Gehler und Schröder wie Fn. 62.
95 Vgl. zum Grundsatz von der gesetzlichen Bestimmtheit der Straftat-
bestände statt vieler BVerfGE 26, 41, 42 - 43; eingehende übersicht über die
Rspr. des BVerfGs bei Leibholz/Rinck, 6. Auf!. ab 1979, Art. 103 GG, Anm. 20;
ferner Jescheck, AT (Fn.2), § 15 III 3, S. 107 f., mit zahlreichen Nachweisen
aus der strafrechtlichen Literatur.
96 Vgl. Binding, Tröndle, Gehler und Schröder wie Fn. 62.
140 Hans Lüttger

einer Norm mit dem Grundgesetz vorauszugehen hat97 , wird die ganze
Frage schon aus methodischen Gründen gegenstandslos, wenn die
Auslegung des Strafrechts eine Lage, die das Eingreifen der Verfas-
sung heraufbeschwört, gar nicht erst entstehen läßt.
Da auch wir - wenngleich aus anderen (strafrechtlichen) Gründen -
nicht zu einer uneingeschränkten Einbeziehung fremder öffentlicher
Rechtsgüter kommen werden, brauchen wir uns auch zur Abstützung
unserer eigenen Ansicht mit dieser (verfassungsrechtlichen) pauschalen
Radikallösung nicht weiter zu befassen.

3. Gesonderter Betrachtung bedarf eine anders strukturierte, von


Gehler vertretene Lehre, welche die Frage des Ausschlusses fremder
öffentlicher Rechtsgüter bei "neutral" abgefaßten Straftatbeständen
ohne Beschränkung auf bestimmte Deliktsgruppen und ohne Pauschal-
urteil lösen will. Sie besagt mit den Worten einer von Gehler ge-
gebenen Definition: "Sind die öffentlichen Rechtsgüter ganz eng mit
den Eigenarten des deutschen staatlichen Aufbaus, der deutschen
Rechtsorganisation oder Rechtsstruktur, den deutschen kulturellen,
sozialen oder sittlichen Verhältnissen verbunden, so daß sie inhaltlich
nicht auf entsprechende ausländische Güter übertragen werden kön-
nen, dann werden diese um ihrer selbst willen von der entsprechen-
den deutschen Vorschrift nicht geschützt" .98 Dazu ist mehreres zu be-
merken:
Zwar hat Gehler vereinzelt - statt von öffentlichen Rechtsgütern -
von "speziell aus dem Hoheitsrecht Deutschlands sich ergebenden
Rechtsgütern" gesprochen 99 ; eine gegenständliche Beschränkung auf be-
stimmte Materien war damit jedoch offensichtlich nicht gemeint. Denn
Oehler hat seine Lehre nicht nur bei Delikten durchgespielt, die sich
gegen Rechtsgüter "hoheitlicher" Art im eigentlichen Sinne des Wortes
richten, wie etwa die Rechtspflege i. w. S. bei den §§ 153 ff., 145 d, 164
StGB und wie etwa die fiskalischen Belange bei § 370 AO und § 170 b
StGB 100 • Er hat vielmehr in seine Überlegungen auch Strafvorschrif-

97 Vgl. dazu BVerfGE 50, 142, 152 - 153, mit zahlreichen Nachweisen. -
Zu einem Fall von methodisch verfehlter umgekehrter Prüfungs-Reihenfolge
vgl. Tröndle, in: LK, § 1 Rdnr. 51.
98 Vgl. Oehler, JR 1980, 485 ff.; ders., Urteils anmerkung, JR 1980, 381 f.;
ders., IntStrR (Fn.8), Rdnr. 233 - 240, 778 - 788, insbesondere Rdnr.233 und
778. Die Formulierungen schwanken im einzelnen; der Text folgt wörtlich
der Definition Oehlers, in: JR 1980, 485.
99 Vgl. Oehler, IntStrR (Fn. 8), Rdnr. 233.
100 Vgl. hierzu und zu den im Text folgenden Beispielen jeweils die Stel-
lungnahmen Oehlers in den bei Fn.98 bezeichneten FundsteIlen. - Wegen
der Rechtsgüter, die durch die im Text aufgezählten Strafnormen geschützt
sind, muß hier summarisch auf die Literatur verwiesen werden, ohne daß
wir auf bestehende Kontroversen eingehen können.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 141

ten einbezogen, die - summarisch gesprochen - den Rechts- und


Beweisverkehr (§§ 271- 273. 277 - 279 StGB) bzw. die öffentliche Ord-
nung, die innere Sicherheit und den Gemeinschaftsfrieden schützen
(§§ 111, 124 -127, 129, 129 a, 131 StGB). Es ist also davon auszugehen,
daß diese Lehre Geltung für alle öffentlichen Rechtsgüter (des Staates
und der Allgemeinheit) beansprucht 101 • - Daß weiter die Frage nach
der geschilderten engen Verbundenheit der öffentlichen Rechtsgüter
mit den deutschen Verhältnissen nicht generell beantwortet werden
kann, sondern für jede Strafnorm gesondert zu prüfen ist, hat Oehler -
wohl zur Abgrenzung von anderen, mit Pauschalurteilen operierenden
Lehren - wiederholt betont l02 . Es kommt also auf das Funktionieren
der Definition zur Lösung der darunter fallenden Einzelfälle an.
Befassen wir uns zunächst mit der Kernfrage der Definition, wann
die strafrechtlich geschützten öffentlichen Rechtsgüter "ganz eng mit
den Eigenarten des deutschen staatlichen Aufbaus, der deutschen
Rechtsorganisation oder Rechtsstruktur, den deutschen kulturellen,
sozialen und sittlichen Verhältnissen verbunden" sind. Oehler hat
selbst eingeräumt, daß die Grenzziehung schwierig seP03; wir haben
jedoch in zweifacher Hinsicht ganz erhebliche grundsätzliche Beden-
ken gegen eine solche Formel als Mittel tatbestandlicher Abgrenzung.
Diese Bedenken gründen sich zunächst auf die umfassende Häufung
großräumiger "Einbettungs-Materien", welche die Formel zu einem
Blankett von unbestimmter Weite machen; denn damit stellt sich die
Frage nach der rechts staatlichen Bestimmtheit dieser die Reichweite
der Straftatbestände mitbestimmenden Formel. Auch wenn man einen
Unterschied zwischen einer den Straftatbestand begrenzenden unbe-
stimmten Formel und den die Strafbarkeit mitbegründenden unbe-
stimmten, wertausfüllungsbedürftigen Begriffen machen will, liegt es
nahe, sich vergleichsweise - zumindest grundsätzlich - an den für
letztere vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Prinzipienl04 zu
orientieren, damit die Handhabung der Formel nicht in individuelles
Belieben abgleitet. Dann wäre zu fordern, daß sich auch hier mit Hilfe
der üblichen Auslegungsmethoden oder auf Grund einer gefestigten
Rechtsprechung eine - einigermaßen - zuverlässige Grundlage für
die Auslegung und Anwendung der Formel gewinnen ließe. Die her-

101 Gehler hat in diesem Zusammenhang übrigens auch Strafnormen er-


örtert, die ein Individualrechtsgut schützen, wie Hausfriedensbruch (§ 123
StGB), Auswanderungsbetrug (§ 144 StGB) und einzelne Straftaten gegen die
sexuelle Selbstbestimmung (§§ 176, 182 StGB); vgl. Gehler, IntStrR (Fn.8),
Rdnr. 235, 237, 78l.
102 Vgl. Gehler, JR 1980, 381, und ders., IntStrR (Fn. 8), Rdnr. 233.
103 Vgl. Gehler, IntStrR (Fn. 8), Rdnr. 233.
104 Vgl. BVerfGE 45, 363, 370 - 372; 47, 109, 120 - 121; 48,48,56 - 57.
142 Hans Lüttger

kömmlichen Auslegungsmethoden können indessen allenfalls noch zu


einer Konkretisierung der Verbundenheit eines Rechtsgutes mit der
deutschen Rechtsorganisation führen, soweit darunter beispielsweise
die Rechtspflege verstanden wird; sie stoßen aber schon auf Schwie-
rigkeiten, wenn es um die Verbundenheit mit den Eigenarten des
deutschen staatlichen Aufbaus oder mit der deutschen Rechtsstruktur
geht, denn was dazu gehört, kann Gegenstand trefflichen Streits sein;
und die Verbundenheit mit den - schlechthin allumfassenden - deut-
schen kulturellen, sozialen und sittlichen Verhältnissen entzieht sich
gänzlich einer interpretatorischen Verfestigung. Eine gefestigte Recht-
sprechung, die ebenfalls die Formel präzisieren könnte, existiert nicht,
weil die Judikatur auch dort, wo sie mit den von Gehler entwickelten
Ergebnissen übereinstimmt, nicht dessen Formel, sondern andere
Lösungskriterien verwendet105 • Somit bleibt schon die Basis der For-
mel weitgehend unbestimmt.
Hinzu kommen sodann Bedenken gegen den Maßstab, den die Defi-
nition anlegt, wenn sie sagt, daß die erwähnte Verbundenheit mit den
deutschen Verhältnissen "ganz eng" - der Gegensatz wäre: "weniger
eng" oder "lose" - sein müsse; denn auch diesem Merkmal gehen
hinreichend bestimmte oder bestimmbare Konturen ab; seine Ausfül-
lung ist eine Frage des Rechtsgefühls. Auch wer die (wiederentdeckte)
Rolle des Rechtsgefühls in der Rechtswissenschaft106 nicht gering ach-
tet, wird aber nicht bereit sein, Fragen der tatbestandlichen Bestimmt-
heit weitgehend dem Gefühl zu überlassen.
Auch der Schlußteil der Definition - daß eine "inhaltliche übertra-
gung" auf die entsprechenden fremden Rechtsgüter ausscheide -
ändert an diesem Ergebnis nichts. Wir sind nicht sicher, wie Gehler
die Funktion dieses Zusatzes seiner Definition verstanden wissen will:
Möglicherweise handelt es sich dabei nur um die Schlußfolgerung aus
dem Kernsatz der Definition, denn Gehler hat bei der Darlegung seiner
Lehre wiederholt auf diesen Zusatz verzichtet107 • Möglicherweise ist
dieser Schluß teil der Definition aber auch als eine Art von "Gegen-
probe" zu verstehen; denn Gehler hat wiederholt darauf abgestellt,
daß das betreffende Rechtsgut bei einer übertragung auf ein fremdes
Gut einen "anderen Sinn und Inhalt" bekäme108 • Doch auch dann

1{J5 Vgl. beispielsweise zu §§ 153 ff., 145 d, 164 StGB OLG Düsseldorf NJW
1982, 1242 f.; zu § 164 StGB ferner BGHSt. 18,333 f.; zu § 170 b StGB BGHSt.
29, 85 ff.; zu § 370 AO OLG Hamburg JR 1964, 350 ff., und BayOLG JR 1980,
514 ff.; zu § 140 StGB BGHSt. 22, 282 ff.; zu §§ 271 ff. und 277 ff. StGB BGHSt.
18,333 - 334, und BayObLG NJW 1980, 1057 f.
106 Vgl. Rehbinder, Fragen an die Nachbarwissenschaften zum sog. Rechts-
gefühl, JZ 1982, 1 ff., mit zahlreichen Nachweisen.
107 SO Z. B. in JR 1980, 381, und in IntStrR (Fn. 8), Rdnr. 233.

108 Vgl. die Erörterungen Oehlers in IntStrR (Fn. 8), Rdnr. 778 und 779 a. E.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 143

könnte der Zusatz dem Kernsatz der Definition nicht die nötige Be-
stimmtheit geben, da er allenfalls eine - zwar nützliche, aber eben
nur - allgemeine Wertung erlaubt, mit deren Hilfe sich konkrete
Grenzlinien nicht finden lassen. Im Bemühen um ein korrektes Ver-
ständnis wollen wir jedoch auch die letztgenannte Deutungsmöglich-
keit berücksichtigen.
Eine kurze Bemerkung zur Anwendung dieser Lehre auf einige von
ihr erfaßte öffentliche Rechtsgüter mag das bisher Gesagte verdeut-
lichen: Bei der Rechtspflege (§§ 153 ff., 145 d, 164 StGB) läßt sich wegen
ihrer spezifischen Ausformung gewiß eine "enge Verbundenheit mit
der deutschen Rechtsorganisation" feststellen, so daß dieses Rechtsgut
nicht auf eine fremde Rechtspflege übertragbar ist 109 , wenngleich Gehler
die für die Struktur unserer Rechtspflege maßgeblichen Prinzipien nur
sehr knapp angedeutet hat 110 ; wir lassen daher offen, ob hier Raum
für Grenz- und Zweifelsfälle bleibt 111 • - Bei den Steuerforderungen
und den Leistungen der Sozialkassen (§ 370 Abs. 1 - 5 AO; § 170 b StGB)
läßt Oehler "die enge Verbundenheit" mit der deutschen Souveränität
bzw. Finanzhoheit als Ausschlußgrund genügen112 • Damit reduziert sich
aber die Verbundenheit dieser Rechtsgüter mit den deutschen staat-
lichen und sozialen Verhältnissen (und damit der Kernsatz der Defi-
nition) bereits auf eine Art von "Ursprungs-Zertifikat". Der Zusatz zur
Definition läuft hier ersichtlich leer, denn es ist schwerlich darzutun,
wodurch sonst diese Forderungen und Leistungen sich "inhaltlich" von
den entsprechenden fremden Rechtsinstituten unterscheiden würden. -
Bei den Rechtsgütern "öffentliche Ordnung, innere Sicherheit und Ge-
meinschaftsfriede" (§§ 111, 124 -127, 129, 129 a, 131 StGB), die Oehler
ebenfalls als nicht übertragbar bezeichnet 113 , müßte die Definition je-
doch zum gegenteiligen Ergebnis führen: Hier beschränken sich die
Besonderheiten der Rechtsgüter auf ihre "Lokalisation" und den darin
liegenden Bezug auf die staatlichen Verhältnisse der Bundesrepublik.
Es ist schon schwer, darin eine Verbundenheit "mit den Eigenarten des

109 Vgl. Gehler, IntStrR (Fn. 8), Rdnr.234. - Hingegen hat Gehler, a. a. G.,
Rdnr.782, ohne Rücksicht auf die Definition die Verknüpfung der Rechts-
pflege mit der Souveränität als Ausschlußgrund genügen lassen; darüber so-
gleich im Text.
110 Vgl. Gehler, IntStrR (Fn. 8), Rdnr. 234 und 782.

111 Solche Grenz- und Zweifelsfälle können nicht auftauchen, wenn man
die Verknüpfung der Rechtspflege mit der Souveränität als Ausschlußgrund
genügen läßt (so Gehler, IntStrR [Fn. 8], Rdnr.782), wohl aber, wenn man
die im Text geschilderte Definition zugrunde legt (so Gehler, a. a. G., Rdnr.
234), denn es gibt auch der deutschen Rechtsstruktur sehr eng verwandte
Rechtspflegesysteme, bei denen es ohne Herausarbeitung der als maßgeblich
erachteten Strukturprinzipien schwer fällt, zu sagen, daß das Rechtsgut
"Rechtspflege" einer Übertragung auf sie "inhaltlich" nicht fähig wäre.
112 Vgl. Gehler, JR 1980,486; ders., IntStrR (Fn. 8), Rdnr. 236 und 786.

113 Vgl. Gehler, IntStrR (Fn. 8), Rdnr. 237 und 781.
144 Hans Lüttger

deutschen staatlichen Aufbaus, der deutschen Rechtsorganisation oder


Rechtsstruktur, den deutschen kulturellen, sozialen und sittlichen Ver-
hältnissen" zu finden; gewiß aber handelt es sich nicht um eine ,,(ganz)
enge" Verbundenheit mit diesen Bezugsmaterien, wenn Worte noch
einen Sinn haben sollen. Und ganz sicher ließen sich diese Rechtsgüter
"inhaltlich" auf die entsprechenden Güter jedes anderen rechtsstaat-
lich strukturierten Staates übertragen, ohne einen "anderen Sinn und
Inhalt" zu bekommen. Bei der gegenteiligen Auslegung Oehlers zeigt
sich, daß nicht nur der Zusatz der Definition seine Wirkung verfehlt,
sondern auch ihr Kernsatz offenbar beliebig dehnbar istlU. - Aus
Raumgründen müssen wir es bei diesen drei Beispielsgruppen bewen-
den lassen.
Die Schwäche dieser Lehre besteht also keineswegs nur in Unklar-
heiten bei Einzelfällen, wie sie sich aus Abgrenzungsschwierigkeiten
ergeben können und dann durchaus tolerierbar sind 115 , sondern darin,
daß sie einen Blankettbegriff verwendet, der sich - von einem Kern-
bereich abgesehen - der notwendigen Verfestigung entzieht und der
die Ergebnisse in wichtigen Anwendungsbereichen dem Rechtsgefühl
des Rechtsanwenders überantwortet. Wir vermögen darin eine brauch-
bare Methode nicht zu erblicken.

4. Wenn wir richtig sehen, haben wir damit das Feld derjenigen Leh-
ren abgesteckt, welche die Frage nach dem Strafschutz für fremde
öffentliche Rechtsgüter durch Ausschlußgründe einengen wollenll8 ; wir
haben sie sämtlich verworfen. Damit ist jedoch für unser Problem noch
nichts verloren: In einem primär mit dem Strafschutz für nationale
Rechtsgüter befaßten Strafrechtssystem kommt es gar nicht (so sehr)
darauf an, in welchen Fällen eine Erstreckung des Strafschutzes auf
fremde Rechtsgüter ausscheidet, sondern vielmehr darauf, ob Krite-
rien vorliegen, die umgekehrt ihren Einschluß begründen117 • Anders
ausgedrückt: Auch wenn (negativ) kein solcher Ausschlußgrund vor-
liegt, bedarf es noch (positiv) der Suche nach einem Einbeziehungs-
grund. Dieser anderen Seite unseres Themas wollen wir uns nunmehr
zuwenden.

114 Hier zeigt sich auch die Gefahr, daß die als Differenzierungsmethode
gedachte Lehre (Fn. 102) zu einem Pauschalurteil über öffentliche Rechtsgüter
wird.
115 Vgl. dazu BVerfGE 50, 142, 164 - 166.
116 Nicht hierhin gehört die Lehre Nowakowskis, JZ 1971, 633, 634, welche
die Frage nach dem "Wesensgehalt" der inländischen Rechtsgüter und nach
dem "Sinngehalt" der entsprechenden ausländischen Rechtsgüter erst ins
Spiel bringt, nachdem festgestellt ist, daß die jeweilige Strafvorschrift über-
haupt ausländische Rechtsgüter in den nationalen Strafschutz einbezieht.
117 Vgl. oben Abschnitt B III 1.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 145

IV.
In Rechtsprechung und Lehre gibt es eine Reihe von Theorien, die
sich bei "neutral" abgefaßten Straftatbeständen um die Aufstellung
von Kriterien für den Einschluß fremder Rechtsgüter in den natio-
nalen Strafschutz bemühen. Sie betreffen gelegentlich nur einzelne
Strafnormen oder bestimmte Gruppen von Strafvorschriften; in ande-
ren Fällen fehlt ihnen eine solche gegenständliche Beschränkung. Öfter
sind in diesen überlegungen fremde Individualrechtsgüter und fremde
öffentliche Rechtsgüter verbunden; unser Augenmerk gilt aber vor-
nehmlich den letzteren, wie es der Begrenzung unseres Themas ent-
spricht.

1. Die wohl am meisten verbreitete These beurteilt die Ausdehnung


des Strafschutzes auf fremde Rechtsgüter nach der Formel, ob es sich
um allen zivilisierten Staaten gemeinsame Rechtsgüter (Rechtswerte)
handele118 • Manchmal lautet die Formel auch, ob es um allgemein in
der zivilisierten Welt anerkannte (elementare) Rechtswerte (Rechts-
güter) gehe119 • Gelegentlich wird gefragt, ob es um den Schutz von
Werten gehe, die nicht mehr als eine Angelegenheit eines einzelnen
Landes betrachtet werden könnten bzw. ein gemeinsames Anliegen
der zivilisierten Staaten seien12O • Vereinzelt ist die Rede davon, daß
diese allgemein anerkannten Rechtswerte allgemeinen (also auch deut-
schen) Schutz verdienten bzw. allgemein schutzwürdig seienl2l • Oft-
mals finden sich auch Mischformen und Doppelungen dieser Wendun-
gen, namentlich bei den beiden erstgenannten Formeln, die ersichtlich
synonym gebraucht werden; die Bezeichnungen "Rechtsgut" und
"Rechtswert" werden vielfach austauschbar verwendet. Alle diese For-
meln finden sich vorwiegend in der Rechtsprechung, aber nur selten
in der neueren Literaturl22 ; sie erwecken vielfältige Bedenken. Bei
118 Vgl. BGHSt. 21, 277, 280; OLG Saarbrücken NJW 1975, 506, 507; OLG
Stuttgart NJW 1977, 1601, 1602; OLG Karlsruhe NJW 1978, 1754, 1755; Oehler
(Fn.24), Festschrift für Mezger, S.83, 98; Kunz, Ist die Strafbewehrung der
Unterhaltspflicht auch auf Ausländer anwendbar?, NJW 1977, 2004.
119 Vgl. BGHSt.29, 85, 88; OLG Saarbrücken NJW 1975, 508; OLG Karls-
ruhe NJW 1978, 1754, 1755.
120 Vgl. BGSt.8, 349, 355; 18, 333, 334; 21, 277, 281. - In BGHSt.18, 333,
334, heißt die Formel, daß die geschützten Belange ein gemeinsames Anliegen
der zivilisierten Staaten seien "und ... damit ihrem Wesen nach keine be-
sondere Beziehung zum Inland" hätten. Dieser in den übrigen Entscheidungen
fehlende Zusatz dürfte nur als (pleonastische) Verdeutlichung des voran-
gestellten Gedankens zu verstehen sein.
121 Vgl. OLG Saarbrücken NJW 1975, 506, 507; OLG Karlsruhe NJW 1978,
1754,1755.
122 Bei KOhlrausch/Lange, 43. Aufl. 1961, § 3 Anm. 2, findet sich eine andere
Formel: Entscheidend sei, ob die Handlung ihrer Natur nach als Verbrechen
erscheine, ob ein Rechtswert gemeinsames Kulturgut sei oder nur Bestand-
teil einer positiven fremden Ordnung (Sperrungen im Original). Wir lassen

10 Festschrift für H.-H. Jescheck


146 Hans Lüttger

deren Darlegung beginnen wir mit den beiden erstgenannten Ver-


sionen, die schon wegen der Häufigkeit ihres Auftretens das Bild
prägen.
In der Literatur ist die Formel von den "allen zivilisierten Staaten
gemeinsamen Rechtsgütern" vereinzelt bereits deshalb abgelehnt wor-
den, weil dieser Begriff dem Gedankenkreis des Internationalen Straf-
rechts angehöre 123 • Man darf vermuten, daß der Grund dafür in der
verbalen Verwandtschaft dieser Formel mit dem Begriff der "inter-
national geschützten Rechtsgüter" liegt, der zum Begriffsarsenal des
Internationalen Strafrechts gehört und den heute beispielsweise § 6
StGB als Normüberschrift verwendet. Kategorien des Internationalen
Strafrechts wären in der Tat - wegen der strikten Trennung von
tatbestandlicher Reichweite und internationalem Geltungsbereich einer
Strafnorm124 - für die hier in Rede stehende Frage der Tatbestands-
mäßigkeit ohne Bedeutung125 • Wir nehmen jedoch nicht an, daß das
Internationale Strafrecht bei jener Formel Pate gestanden hat, weil
dies keinen Sinn ergäbe: Die internationalstrafrechtliche Kategorie der
"international geschützten Rechtsgüter" dient als Sammelbezeichnung
für die nach dem Weltrechtsprinzip dem deutschen Strafrecht unter-
stellten - ihrer Art nach völlig unterschiedlichen - Rechtsgüter126 ;
sie stellt nur einen rechtstechnischen Ausdruck ohne weitere definito-
rische Ambitionen dar. Die strafrechtliche Formel von den "allen
zivilisierten Staaten gemeinsamen Rechtsgütern" hat aber (in allen
ihren geschilderten Spielformen) eine definitorische Intention: Sie will
offensichtlich als ein Begriff verstanden werden, aus dem im Wege der
Deduktion die Antwort auf die Frage nach der Einbeziehung nicht-
deutscher Rechtsgüter gewonnen werden könnte. Dies wollen wir in
zwei Schritten überprüfen: Zunächst wollen wir fragen, welchen sach-
lichen Anwendungsbereich es für eine solche Formel überhaupt gibt;
anders ausgedrückt: inwieweit besondere Rechtssätze die von dieser
Formel erhoffte Antwort bereits vorwegnehmen. Sodann wollen wir
für den verbleibenden Bereich untersuchen, ob die Formel nach Inhalt
und Aussage tauglich ist, die ihr aufgegebene Frage zu beantworten.

a) Zu den "allen zivilisierten Staaten gemeinsamen Rechtsgütern" ,


die aus eben diesem Grunde auch dann Strafschutz genießen sollen,
diese Formel beiseite, weil sie offensichtlich zu unbestimmt und nicht prakti-
kabel ist (vgl. Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdnr. 23), wenn sie nicht gar - abge-
sehen von Individualrechtsgütern - nur eine Leerformel darstellt (vgl. Wie-
denbrug, Schutz ausländischer öffentlicher Urkunden durch §§ 271,273 StGB?,
NJW 1973, 301, 303). - Anders aber Reschke (Fn. 1), S. 86 ff.
123 Vgl. Nowakowski, JZ 1971, 633, 635 und 636.

124 Vgl. Abschnitt A zu und mit Fn. 10 - 12.


125 Vgl. Eser, in: Schönke/Schröder, Vor § 3 Rdnr. 14.
1~6 Vgl. Eser, in: Schönke/Schröder, Vor § 3 Rdnr. 14.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 147

wenn sie nichtdeutschen Rechtsgutträgern zustehen, zählt die Recht-


sprechung (zunächst) Individualrechtsgüter wie Leben, Leib, Freiheit,
Ehre, Eigentum und Vermögen127 • Indessen beruht der Einschluß die-
ser (und auch anderer) fremder Individualrechtsgüter in den natio-
nalen Strafschutz nicht auf jener Formel, sondern auf zwingenden
Rechtssätzen; dabei ist wie folgt zu unterscheiden: Die Ausdehnung
des Strafschutzes auf Individualrechtsgüter nichtdeutscher Personen
ergibt sich daraus, daß nach völkerrechtlichem Fremdenrecht Delikte
gegen Fremde (Ausländer und Staatenlose128), die sich im Inland auf-
halten, ebenso zu ahnden sind wie solche gegen Inländer; die insoweit
gegebene Gleichstellung von Fremden und Inländern ist eine allge-
meine Regel des völkerrechtlichen Fremdenrechts129 , die nach Art. 25
GG Bestandteil des Bundesrechts ist13O • Es kommt deshalb in der Regel
gar nicht mehr darauf an, daß bei denjenigen Individualrechtsgütern,
die Ausdruck eines nicht nur den Deutschen, sondern jedermann zu-
stehenden Grundrechts sind, eine Ungleichbehandlung auch aus (son-
stigen) verfassungsrechtlichen Gründen unzulässig wäre 1S1 • Mit Recht
haben daher auch Autoren, welche die erwähnte Formel ablehnen
oder sie ignorieren, den Strafschutz auch auf Individualrechtsgüter
von Nichtdeutschen erstreckt132 • - Soweit fremde Staaten Träger von
Individualrechtsgütern wie Eigentum und Vermögen sind, beruht deren
Einbeziehung in den Strafschutz nicht auf völkerrechtlichem Fremden-
recht, das die Rechtsstellung von Individuen regelt, sondern auf einer

127 Vgl. z. B. BGHSt.21, 277, 281; 29, 85, 88; OLG Saarbrücken NJW 1975,
506,507; OLG Stuttgart NJW 1977, 1601, 1602; BayObLG NJW 1980, 1057.
128 Vgl. Doehring, Die allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Fremden-
rechts und das deutsche Verfassungsrecht, 1963, S. 19 ff.; Bleckmann, Grund-
gesetz und Völkerrecht, 1975, S. 342.
128 Vgl. Schnitzer, Art. "Fremdenrecht", in: StTupp!Schlochauer, Wörter-
buch des Völkerrechts (WVR), 1. Bd. 1960, S.566, 568; Doehring (Fn. 128),
S. 81; Bleckmann (Fn. 128), S.344; VerdrosslSimma, Universelles Völkerrecht.
2. Aufl. 1981, S. 587; Seidl-Hohenjeldern, Völkerrecht, 5. Aufl. 1984, Rdnr. 1199;
Jescheck (Fn.5), Festschrift für Maurach, S.579, 583 = in: Beiträge, S.615,
618 - 619; ders., AT (Fn.2), § 18 III 8, S.141; Vogler, NJW 1977, 1866, 1867;
Lackner, Vor § 3 Arun.5; Hettinger, Die völkerrechtliche Verpflichtung der
Staaten zur Bestrafung einzelner und das materielle Strafrecht der Bundes-
republik Deutschland, jur. Diss. München, 1965, S. 40 ff.; mit anderer Begrün-
dung auch Reschke (Fn. 1), S. 136 ff.
130 Vgl. zum Verhältnis zwischen völkerrechtlichem Fremdenrecht und
Art.25 GG allgemein Doehring und Bleckmann wie Fn.128, passim; ferner
Doehring, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik
Deutschland, VVDStRL, Bd.32, 1974, S.7 ff.; Bleckmann, Allgemeine Grund-
rechtslehren, 1977, S. 90 ff.
lSl Vgl. dazu OLG Karlsruhe NJW 1978, 1754, 1756; eingehend zum Ver-
hältnis zwischen Art.25 GG und Art. 3 GG Doehring und Bleckmann wie
Fn. 128 und 130, passim; vgl. zu verfassungsrechtlichen Fragen des Eigentums-
schutzes für Ausländer auch Reschke (Fn. 1), S. 136 ff.
132 Vgl. Jescheck, Vogler und Lackner wie Fn.129; Tröndle, in: LK, Vor
§ 3 Rdnr. 24; Eser, in: SchönkejSchröder, Vor § 3 Rdnr. 15 und 22.

10'
148 Hans Lüttger

anderen - ebenfalls nach Art. 25 GG bindenden - allgemeinen Regel


des universellen Völkerrechts; danach hat jeder Staat dem Eigentum
anderer Staaten, das sich erlaubtermaßen auf seinem Staatsgebiet
befindet, denselben Schutz zu gewähren, der dem Eigentum von Aus-
ländern allgemein nach dem internationalen Standard zu gewähren
ist133 • Da der Begriff "Eigentum" im Zusammenhang mit seinem völ-
kerrechtlichen Schutz in einem weiteren, auch Vermögens rechte um-
fassenden Sinne zu verstehen ist 134, hat die Strafrechtslehre mit Recht
Eigentum und Vermögen fremder Staaten - ohne Rückgriff auf die
geschilderte Formel - in den tatbestandlichen Strafschutz einbezo-
gen135 • - Der Bereich, in dem die Formel überhaupt von Bedeutung
sein könnte, ist also drastisch eingeschränkt.

b) Im übrigen aber bleibt zu prüfen, ob die Formel von den "allen


zivilisierten Staaten gemeinsamen Rechtsgütern (Rechtswerten)" -
oder eine ihrer Spielformen - geeignet ist, Antwort auf die Frage
nach der Einbeziehung fremder Rechtsgüter zu geben. Davon kann
indessen nicht die Rede sein; bei der Darlegung unserer Bedenken
wollen wir - ohne Auseinandersetzung mit der Kasuistik - von der
Exegese der Formelbestandteile zu prinzipiellen Erwägungen über den
Aussagewert der Formel vordringen, weil auf diese Weise am ehesten
eine übersicht über die vielfältigen Gründe ihrer Untauglichkeit ge-
wonnen werden kann.
Beginnen wir mit der anspruchsvollen Floskel: "alle zivilisierten
Staaten"; bei ihr drängen sich in zweifacher Richtung Bedenken auf:
Wollte man das Wort "alle" so nehmen, wie es dasteht, dann wäre für
eine Bejahung der Formel buchstäblich eine weltweit greifende Rechts-
vergleichung nötig. Freilich könnte die Spielform von den in der zivi-
lisierten Welt "allgemein" anerkannten Rechtswerten dafür sprechen,
sich - wie bei ähnlichen Formeln in anderen Rechtsmaterien - mit
einer Anerkennung durch die "überwiegende Mehrheit der Staaten"
bzw. durch die "hauptsächlichsten Rechtssysteme der Welt" zu begnü-
gen13S , was immer dies bedeuten mag; indessen müßte auch dies fest-
gestellt werden. Uns ist jedoch kein Fall bekannt, in dem die Recht-

133 Vgl. Wengler, Völkerrecht, Bd.lI, 1964, S.1054. Wengler verlangt für
das Eigentum fremder Staaten in völkerrechtlicher Sicht sogar einen - an
Person und Eigentum von Diplomaten orientierten - verstärkten Schutz;
das kann hier auf sich beruhen.
m Vgl. Dahm, Völkerrecht, Bd. I, 1958, S. 506.
135 Vgl. Schröder, Urteilsanmerkung, JR 1964, 351, 353; Jescheck, AT
(Fn.2), § 18 III 8, S.141; Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdnr.37; Reschke (Fn.1),
S. 139 ff., mit weiteren Einzelheiten.
138 Vgl. zu ähnlichen Formeln im Völkerrecht etwa BVerfGE 15, 25, 34;
16, 27, 33; 46, 342, 367; Verdross/Verosta/Zemanek, Völkerrecht, 5. Aufl.. 1964,
S.149.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 149

sprechung derartiges auch nur versucht hätte; sie hat vielmehr zur
Bejahung ganz summarische Beurteilungen genügen lassen137 • Dies mag
daran liegen, daß der hohe Anspruch jener Floskel in der Praxis gar
nicht erfüllbar ist; eben dies zeigt aber die erste Schwäche der Formel
an. - Für besonders mißlich halten wir so dann die Wendung von den
"zivilisierten Staaten"; sie hat hier zentrale Bedeutung, weil es der
Formel zufolge nur auf die Gemeinsamkeiten dieser "zivilisierten"
Staaten ankommen soll, während die Befindlichkeiten anderer - eben
"nicht zivilisierter" - Staaten per definitionem unerheblich sein sol-
len. Damit stellt sich unentrinnbar die Frage, nach welchen Kriterien
zu beurteilen ist, welche Staaten als "zivilisiert" anzusehen wären:
Soll es auf die Erreichung eines Mindeststandes "kultureller" Ent-
wicklung ankommen und wie soll dieser angesichts der gravierenden
Unterschiede in den Kulturen der Völker bestimmt werden? Soll die
"rechtliche Struktur" der Staaten maßgeblich sein und was soll dann
angesichts der Vielfalt der staatlichen Systeme und der Unbegrenzt-
heit der Anknüpfungspunkte einer solchen rechtlichen Bewertung als
unverzichtbarer "Mindeststandard" gelten? Soll auch der organisato-
rische, wirtschaftliche oder soziale Entwicklungsstand eine Rolle spie-
len und wie weit muß dann ein Staat "entwickelt" sein, um "zivili-
siert" zu heißen? Sollen schließlich auch junge Staaten am "Zivilisa-
tionsgrad" alter Staaten gemessen werden, was immer dies bedeutet?
Und wie sollen endlich Strafgerichte feststellen, ob ein Staat solchen
oder anderen Mindestanforderungen genügt, ohne in unvertretbare
Pauschalurteile mit allen ihren (auch politischen) Implikationen ab-
zugleiten? Wir müssen nicht erst beweisen, daß solche Fragen schlicht
unlösbar sind. Es sollte zu denken geben, welches Schicksal der in
Art. 38 Abs. 1 lit. c der Satzung des IGH138 verwendete Begriff "civilized
natiOns" erlitten hat: Es besteht heute weithin Einigkeit darüber, daß
dieser historisch erklärbare Begriff antiquiert ist, daß die dort impli-
zierte Unterscheidung zwischen zivilisierten und anderen Staaten hin-
fällig ist und daß die Formel von den "civilized nations" entweder
leer läuft oder ein Synonym für alle souveränen Staaten - namentlich
die Mitglieder der UNO - ist 13o • Jedenfalls täuscht die hier bespro-
chene Formel mit ihrem Rekurs auf die "zivilisierten Staaten" eine

137 Vgl. z. B. BGHSt. 18, 333, 334; 21, 277, 281. - Daß umgekehrt zur Ver-
neinung der Formel die negativ ausfallende Prüfung einzelner Auslands-
rechte genügen soll, ergibt sich z. B. aus OLG Saarbrücken NJW 1975, 506,
508; BGHSt. 29, 85, 89.
138 Vgl. Statut des Internationalen Gerichtshofs i. d. F. vom 26. Juni 1945
- BGBl. 1973, Teil 11, S. 505 ff.
139 Vgl. statt vieler Verdross/Verosta/Zemanek (Fn.136); Kimminich, Ein-
führung in das Völkerrecht, 2. Auf!. 1984, S. 243 ff.; Billib, Die allgemeinen
Rechtsgrundsätze gemäß Art. 38 I c des Statuts des Internationalen Gerichts-
hofs, jur. Diss. Göttingen, 1972, S. 45 ff., mit Nachweisen.
150 Hans Lüttger

Differenzierung vor, die nicht realisierbar ist; das ist ihre zweite
Schwäche.
Auf Bedenken stößt auch die Methode, mit der die Rechtsprechung
feststellt, ob ein von den zivilisierten Staaten "anerkanntes Rechtsgut"
vorliegt. In den Entscheidungen, die sich damit näher befassen, dient
als Kriterium hierfür der Umstand, ob das betreffende Rechtsgut in
den ausländischen Staaten strafrechtlich geschützt ist 140 . Gelegentlich
hat die Rechtsprechung sogar darauf abgestellt, ob Unterschiede in
der Ausgestaltung der materiellrechtlichen Tatbestände und Besonder-
heiten in den Verfahrensvoraussetzungen - verglichen mit dem deut-
schen Strafrecht - bestehenl41 ; andere Entscheidungen haben solche
Unterschiede für nicht maßgeblich erklärt H2 • Geblieben ist jedoch das
Grundkonzept: Das Vorhandensein von Strafnormen bedeutet Aner-
kennung der Rechtsgüter durch den ausländischen Staat; das Fehlen
solcher Strafnormen bedeutet Nichtanerkennung143 • Dies ist aber alles
andere als selbstverständlich; um das zu erläutern, wollen wir ver-
gleichsweise vom deutschen Recht ausgehen und dann weiterfragen:
In der deutschen Rechtsgüterlehre ist es ein altes Problem, ob Rechts-
güter erst durch das Strafrecht geschaffen werden oder ob Rechtsgüter
Werte (Interessen, Zustände, Funktionseinheiten) sind, die dem Straf-
recht vorgegeben sind und durch dieses lediglich - und zwar nur unter
bestimmten Voraussetzungen - einen besonderen Schutz beigemessen
erhaltenl44 • Wir folgen der letztgenannten, heute überwiegend vertre-
tenen Auffassung, die auch das Bundesverfassungsgericht praktiziert
hat, als es erörterte, wann ein (dort: in der Verfassung) vorgegebenes
Rechtsgut mit außerstrafrechtlichen Mitteln geschützt werden darf und
wann es mit den Mitteln des Strafrechts geschützt werden muß145. Das
heißt aber: Die Pönalisierung von Angriffen ist nicht der Existenz-
grund eines Rechtsgutes; das Fehlen einer schützenden Strafnorm ist
allein kein Beweis für seine Nichtexistenz; Existenz und "Anerken-
nung" eines Rechtsgutes können sich nicht nur in strafrechtlichen
140 VgI. z. B. OLG Saarbrücken NJW 1975, 506, 508; OLG Stuttgart NJW
1977, 1601, 1602; OLG Frankfurt NJW 1978, 2460; BGHSt.29, 85, 89 (sämtlich
zu § 170 b StGB); ferner BGHSt. 21,277,282 (zur StVO).
141 VgI. OLG Saarbrücken NJW 1975, 506, 508; OLG Stuttgart NJW 1977,
1601, 1602; OLG Frankfurt NJW 1978,2460; BGHSt. 29, 85, 89.
142 VgI. BGHSt. 21,277,282; OLG Karlsruhe NJW 1978, 1754, 1756.

143 VgI. noch die Nachweise in Fn. 137 a. E.

lU VgI. aus der unübersehbaren Literatur etwa Rudolphi (Fn.32), Fest-


schrift für Honig, S. 151 ff., mit zahlreichen Nachweisen; umfangreiche Nach-
weise auch bei Günther, Genese eines Straftatbestandes, JuS 1978, 8, 9. -
Wie im anschließenden Text Nowakowski, JZ 1971,633,637.
145 VgI. BVerfGE 39, 1, 36, 44 - 47, 57. - Zum Schutz von Rechtsgütern
durch das Ordnungswidrigkeitenrecht vgl. Jescheck, AT (Fn.2), § 37 V 3 b,
S. 45 f.; zum zivil- und öffentlich-rechtlichen Schutz von Rechtsgütern vgl.
etwa Müller-Dietz, Strafe und Staat, 1973, S. 9.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 151

Schutzvorschriften, sondern auch auf mannigfache andere Weise kund-


tun. - Nun ist es gewiß unzulässig, die Subtilitäten der deutschen
Rechtsgüterlehre unbesehen auf ausländische Rechtssysteme zu über-
tragen; aber es ist ebenso ausgeschlossen, unbesehen für alle auslän-
dischen Staaten zu unterstellen, in ihren Rechtssystemen seien nur
strafrechtlich geschützte Werte als "Rechtsgüter anerkannt". Die Ant-
wort kann sich nur aus dem jeweiligen ausländischen Recht selbst
ergeben. Sie kann theoretisch vom Nichtvorhandensein wirklich ver-
gleichbarer Begriffe - mit manchen Zwischenstufen - über einen
formalen Rechtsgutsbegriff bis hin zu einem materiellen Rechtsguts-
begriff gehen l46 ; und Existenz oder "Anerkennung" eines Rechtsguts
mögen sich auch in ausländischen Rechten - abgesehen von auch dort
etwa "vorgegebenen" Rechtsgütern - nicht nur in schützenden Straf-
normen, sondern auch in Normen manifestieren, die repressive staat-
liche Sanktionen anderer Art für Verletzungen androhen147 • Nur eines
ist gewiß: Die unbesehene, pauschale Gleichsetzung von mangelndem
Strafschutz mit Nichtanerkennung eines Rechtsgutes (Rechtswertes) für
alle ausländischen Rechte ist voreilig und läuft Gefahr, sich als Rechts-
fehler herauszustellen. Darin liegt eine dritte Schwäche der bespro-
chenen Formel.
Erhebliche Bedenken bestehen aber vor allem gegen die den bisher
behandelten Formeln eigene Schlußfolgerung: Die Rechtsprechung
stellt zunächst fest, ob ein Rechtsgut in der zivilisierten Welt "all-
gemein anerkannt" - d. h. also jetzt: strafbewehrt - ist, wobei sie
dann oft von einem "gemeinsamen" Rechtsgut der zivilisierten Staaten
spricht. Aus dieser Prämisse folgert die Judikatur, daß der jeweilige
deutsche Straftatbestand auch das entsprechende ausländische Rechts-
gut schütze. Indessen wird diese Schlußfolgerung von jener Prämisse
nicht getragen: Wenn ausländische Rechte ein bestimmtes Rechtsgut
gleichförmig oder in ähnlicher Weise strafrechtlich (oder sonstwie)
schützen, dann besagt dies nur, daß sie - ebenso wie das deutsche
Recht - allesamt je in ihrem Bereich einen Schutz für das betreffende
nationale Rechtsgut eingerichtet haben; insoweit mag man - mit den
oben erörterten Vorbehalten - von einem "allgemein anerkannten
Rechtsgut" reden. Es ist aber schon schief, hier von einem "gemein-
samen Rechtsgut" zu sprechen; denn dieser terminus erweckt - um es
bildhaft auszudrücken - fälschlich den Eindruck eines "horizontalen
Rechtsguts-Verbunds", während es in Wirklichkeit um "vertikal ge-

146 Zur Rechtsgüterlehre in ausländischen Rechten kann hier nur auf die
Literatur-Nachweise bei Jescheck, AT (Fn.2), S. 203 ff., und S.206, Anm.11,
verwiesen werden.
147 Zur Rechtsvergleichung betr. Verwaltungsstrafrecht und Ordnungs-
widrigkeitenrecht vgl. Mattes, Untersuchungen zur Lehre von den Ordnungs-
widrigkeiten, 1. Halbbd., 1977, S. 183 ff.
152 Hans Lüttger

trennte", parallel nebeneinander stehende Rechtsgüterschutz-Systeme


geht. Die hier entscheidende Frage, ob das deutsche Strafrecht - außer
den allemal geschützten nationalen Rechtsgütern - zusätzlich auch
fremde Rechtsgüter schützt, hat aber mit der Frage, wie es andere
Staaten mit dem Strafschutz ihrer eigenen Rechtsgüter halten, nichts
zu tun; ein Schluß von der ausländischen "Anerkennung" einer be-
stimmten Rechtsgutart auf die Einbeziehung fremder Rechtsgüter die-
ser Art in den nationalen Strafschutz ist daher gar nicht möglich. Es
ist schwer verständlich, wie es zu dem Fehlschluß von den ausländi-
schen "Parallel-Regelungen" auf eine "übergreifende Ausdehnung" des
deutschen Strafschutzes kommen konnte.

c) Einige besondere Bemerkungen erfordert jedoch die Formelver-


sion, welche die Einbeziehung fremder Rechtsgüter in den deutschen
Strafschutz danach beurteilen will, ob es um den Schutz von Werten
gehe, die nicht mehr als Angelegenheit eines einzelnen Landes be-
trachtet werden könnten bzw. die ein gemeinsames Anliegen der zivi-
lisierten Staaten seien148 • Der Sinn der Formel ist nicht eindeutig:
In diesen Formulierungen könnte zunächst die Vorstellung einer Art
von "Internationalisierung" der betreffenden Rechtsgüter zum Aus-
druck kommen und es fragt sich, ob dies einen plausiblen Grund hätte.
Die Rechtsprechung hat - soweit wir sehen - bisher mit dieser For-
mel Rechtsgüter wie die Sicherheit des Rechts- und Beweisverkehrs
oder die Sicherheit des Straßenverkehrs erfaßt. Rechtsgüter dieser
Art werden (bei nicht einheitlicher Terminologie) zumeist innerhalb
der Gruppe der Universalrechtsgüter (= öffentlichen Rechtsgüter) -
im Unterschied von den staatlichen Rechtsgütern - zu den sog. über-
staatlichen Gemeinschaftswerten (= Rechtsgütern der Allgemeinheit)
gezähltu8 . Die Zugehörigkeit eines Rechtsgutes zur Sparte der über-
staatlichen Gemeinschaftswerte hat indessen nichts mit einer "Inter-
nationalisierung" dieser Rechtsgüter zu tun l50 , denn jener terminus
meint nicht Rechtsgüter mit "Allerwelts-Bezug", sondern eine Gruppe
nationaler Rechtsgüter. die sich durch den Rechtsgutträger von den
Rechtsgütern des Staates unterscheiden; er enthält also keine Aussage
über eine Ausdehnung des tatbestandlichen Schutzbereiches der be-
treffenden Strafnorm auf fremde Rechtsgüter15l • Eine derartige Deu-
tung der Formel scheidet daher aus.

148 Vgl. die Nachweise in Fn. 120.


149 Vgl. statt vieler Jescheck, AT (Fn.2), § 26 I 3, S.207; Maurach/Zipf,
AT 1 (Fn. 10), § 19 11 1, S. 254 f.
150 So aber anscheinend Schroeder, JZ 1974, 113, 115, mit Nachweisen. Es
dürfte sich um eine Vermengung der Begriffe "überstaatlicher Gemeinschafts-
wert" und "allen Staaten gemeinsamer Rechtswert" (oben Abschnitt B IV 1 b)
handeln.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 153

Denkbar ist weiter, daß die Formel nur eine andere Umschreibung
für die schon behandelte Formel von den "allen zivilisierten Staaten
gemeinsamen Rechtsgütern" sein soll. Daß daraus jedoch kein Schluß
auf die Einbeziehung fremder Rechtsgüter in den nationalen Straf-
schutz gezogen werden kann, haben wir soeben eingehend dargetan.
Im Zusammenhang mit dem hier in Rede stehenden Schutzaspekt
könnte die Formel schließlich dahin zu verstehen sein, daß es sich um
(fremde) Rechtsgüter handele, die auch deutschen Strafschutz verdien-
ten; dann wäre die Formel inhaltsgleich mit der nunmehr zu erörtern-
den letzten Version. Eine eigenständige, zum Ziel führende Bedeutung
ist jedenfalls nicht zu erkennen.

d) Die letzte Formel beurteilt die Einbeziehung fremder Rechtsgüter


danach, ob es sich um allgemein anerkannte Rechtswerte handele, "die
allgemeinen Schutz verdienen" bzw. "allgemein schutzwürdig" seien15!.
Soweit wir sehen, sind die letztgenannten Wendungen niemals isoliert,
sondern nur im Verbund mit den anderen, schon behandelten Formeln
verwandt worden; da wir diese jedoch sämtlich bereits abgelehnt
haben, müssen wir den eigenen Aussagewert jener Wendungen prü-
fen l53 • Indessen glauben wir nicht, daß sie einen Beitrag zur Lösung
unseres Problems leisten können; dies näher auszuführen, halten wir
auch deshalb für angebracht, weil hinter allen bisher erörterten For-
meln im Grunde dasselbe Anliegen steht.
Daß ein Rechtsgut "Schutz verdient" bzw. "schutzwürdig" ist, besagt
noch nicht, ob es auch "Schutz genießt". Welches Rechtsgut geschützt
ist, bestimmt sich nach dem in der lex lata verkörperten, ggf. durch
Auslegung zu ermittelnden objektivierten Willen des Gesetzgebers.
Welches Rechtsgut Schutz verdient, ist hingegen eine kriminalpoliti-

151 Zu den (übrigens nicht immer scharf von den "staatlichen" Rechts-
gütern abgrenzbaren) "überstaatlichen Gemeinschaftswerten" rechnen zahl-
reiche Rechtsgüter, bei denen eine solche "Internationalisierung" geradezu
absurd wäre; vgl. die Aufzählung bei Maurach/Zip! (Fn. 149). - Zu den (nur
teilweise durch die Gesetzeslage überholten) Folgen einer solchen "Inter-
nationalisierung" bei dem Rechtsgut "Sicherheit des Straßenverkehrs" vgl.
Lackner, Urteilsanmerkung, JR 1968, 268 ff. (zu BGHSt. 21, 277 ff.).
152 Vgl. OLG Saabrücken NJW 1975, 506, 507, und OLG Karlsruhe NJW
1978, 1754, 1755.
153 Daran ändert es nichts, daß diese Wendungen in der Rspr. vornehmlich
an Individualrechtsgütern erprobt worden sind, die wir bereits mit Hilfe
völkerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Erwägungen aus dem Anwen-
dungsbereich der besprochenen Formeln herausgenommen haben (vgl. oben
Abschnitt B IV 1 a); denn sie sind nicht expressis verbis hierauf beschränkt
worden und haben prinzipielle Bedeutung auch für solche öffentlichen Rechts-
güter, welche die Rspr. - wie erörtert - als "allgemein anerkannte Rechts-
werte" ansieht.
154 Hans Lüttger

sehe Frage l5 \ von der erst darzutun ist, ob und welche Rolle sie bei
dieser Auslegung spielt; m. a. W.: ob mit ihrer Hilfe fremde Rechts-
güter in den (primär für nationale Rechtsgüter geltenden) Strafschutz
einbezogen werden können. Dabei stehen hier gar nicht die anerkann-
ten vielfältigen Verflechtungen zwischen Kriminalpolitik und Straf-
recht zur Debatte: Es geht nicht um die Verknüpfung der Kriminal-
politik mit den Allgemeinen Lehren des Strafrechts155 • Es geht auch
nicht um den Einfluß der kriminalpolitischen Frage des Strafschutz-
bedürfnisses auf die teleologische Auslegung der Merkmale eines
Straftatbestandes, dessen geschütztes Rechtsgut schon feststeht 156 • Da
wir sämtliche erörterten Formeln für die Einbeziehung fremder Rechts-
güter abgelehnt haben, ist unsere Ausgangslage eine andere: Es geht
um die Frage, ob aus dem kriminalpolitischen Grunde der "Schutz-
würdigkeit" bzw. des "Schutz-verdienens" ein fremdes Rechtsgut in
den nationalen Strafschutz einbezogen werden kann, für dessen Ein-
schluß sonst kein Anhalt besteht. Diese Frage ist eindeutig zu ver-
neinen: Wenn die Strafbarkeit im Gesetz selbst nicht mehr angelegt
ist, kann dieser Mangel durch noch so gewichtige kriminalpolitische
Gründe nicht überspielt werden I57 • Die Bestimmung der schutzwürdi-
gen Werte ist eine Aufgabe des Gesetzgebers, der damit die "Straf-
zone" festlegt l58 ; nur er kann daher ein hinsichtlich schutzwürdiger
ausländischer Rechtsgüter bestehendes Vakuum schließen I59 ; wollte der
Richter derartiges unternehmen, so würde er in den Kompetenzbereich
des Gesetzgebers einbrechenl60 • In der Sache läge dann nicht mehr
Auslegung, sondern unzulässige Analogie vor, denn dies wäre eine
Ausdehnung der Strafzone über den vom gesetzlichen Tatbestand ge-
zogenen Rahmen hinaus auf eine vom Gesetz nicht geregelte Materie;
mangels gesetzlicher Grundlage für die Kriminalisierung wäre es
unzulässige freie Rechtsfindung. Art. 103 Abs.2 GG verbietet dies un-
zweideutig.

154 Auf den ungeschlichteten Streit um die Abgrenzung zwischen Kriminal-


politik und Rechtspolitik wollen wir uns gar nicht erst einlassen. Ebenso
lassen wir die (von uns nicht geteilte) gelegentlich vertretene Minderheits-
meinung beiseite, daß sich Rechtsanwendung und Rechtspolitik nicht trennen
ließen; dagegen mit Recht Krey, Zur Problematik richterlicher Rechtsfort-
bildung contra legem, JuS 1978, 361, 367 - 368, mit Nachweisen.
ISS Vgl. Roxin, Kriminalpolitik und Strafrecht, 1970.
156 Vgl. Z. B. BGHSt. 10, 194, 196 - 197; Blei, Strafschutzbedürfnis und Aus-
legung, in: Grundfragen der gesamten Strafrechtswissenschaft, Festschrift
für Henkel, 1974, S. 109 ff.; Schünemann, Methodologische Prolegomena zur
Rechtsfindung im Besonderen Teil, in: Festschrift für Bockelmann, 1979,
S. 117,131.
157 Vgl. zu einem eng verwandten Fall Lackner, JR 1968,268,269.
158 Vgl. Maurach/Zipf, AT 1 (Fn. 10), § 7 I, S. 81.
m Vgl. OLG Hamm JZ 1960,576,577.
160 Vgl. dazu näher Schünemann (Fn. 156), S. 126.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 155

Rein vorsorglich wollen wir anfügen, daß wir auch Bedenken da-
gegen hätten, bei der Suche nach dem geschützten Rechtsgut solchen
kriminalpolitischen Erwägungen dann eine (auch nur) unterstützende
Rolle zuzubilligen, wenn die (sonstige) Auslegung eines Straftatbestan-
des den Einschluß fremder Rechtsgüter immerhin als möglich, jedoch
nicht als sicher erscheinen ließe. Erwägungen über die Schutzwürdig-
keit fremder öffentlicher Rechtsgüter sind seit jeher ein Beispiel für
den zeitlichen Wandel der Anschauungen und für ihre Abhängigkeit
von politischen Wertungen l61 ; die komplexen Probleme, die sich all-
gemein mit den Stichworten "Strafwürdigkeit" und "Strafbedürftig-
keit" verbinden l62 , kommen hinzu; vielfach sind deshalb unterschied-
liche Entschließungen möglich. Die Beurteilung der "Schutzwürdig-
keit" fremder öffentlicher Rechtsgüter ist daher eine genuin legis-
latorische Aufgabe; in der Hand des Richters müßte es zwangsläufig
zu unterschiedlichen Deutungen der Strafzone kommenl83 • Dies bedeu-
tet: Wenn das von einer Strafnorm geschützte Rechtsgut festliegt, mag
es (gemäß der h. M.) angehen, mit Hilfe einer kriminalpolitisch orien-
tierten teleologischen Interpretation der Tatbestandsmerkmale den
Strafschutz dieses Rechtsgutes enger oder weiter zu bemessen, denn
hier ändert sich nicht die Identität der Strafzone, nur ihre Ränder
verschwimmen. Wenn aber kriminalpolitische Erwägungen bereits den
Ausschlag dafür geben, ob und welche fremden Rechtsgüter in den
Strafschutz einbezogen werden, dann betrifft dies die Strafzone selbst,
denn damit ändern sich die zu ihr zu zählenden Rechtsgut-Materien.
In diesem Falle kann der Rechtsunterworfene die Abgrenzung zwi-
schen Erlaubtem und Verbotenem schon dem Schutzgegenstand nach
nicht mehr durch Auslegung des Straftatbestandes erkennen l84 ; krimi-
nalpolitische Wertungen, die hinsichtlich der Regelungsmaterie objek-
tiv und subjektiv unterschiedlich ausfallen können, sind für ihn un-
berechenbar. Hier zeigt sich eine entscheidende Einbuße des Bestimmt-
heitsgebots, die sowohl die Garantiefunktion der Strafgesetze als auch
die von den Strafnormen ausgehende Generalprävention in Mitleiden-
schaft zieht. Fazit: Wo erst kriminalpolitische Erwägungen den Aus-
schlag dafür geben, ob ein fremdes Rechtsgut in den Strafschutz ein-
zubeziehen ist, zwingt der Grundgedanke des Art. 103 Abs.2 GG dazu,
diese Entscheidung der Prärogative des Gesetzgebers zu überlassen.
161 Vgl. dazu statt vieler von Weber (Fn. 1), Festgabe für von Frank, Bd.2,
S. 269, 283 - 284, und die Nachweise in OLG Hamm JZ 1960, 576 ff.
162 Vgl. Müller-Dietz (Fn.145), S. 32 H.; Günther, JuS 1978, 8, 11 - 13, mit
zahlreichen Nachweisen.
163 Vgl. auch die Warnungen von Schröder, JZ 1968, 241, 244. - Subjektiv
eigenmächtige Entscheidungen des Richters über die Reichweite der Straftat-
bestände zu verhindern, ist aber gerade Sinn des Bestimmtheitsgebots; vgl.
Jescheck, AT (Fn. 2), § 13 III 3, S. 108.
164 Vgl. dazu die Nachweise in Fn. 95.
156 Hans Lüttger

Das sollte zu ertragen sein, denn der "Schmerz der Grenze" ist ohne-
hin unaufhebbar.
e) Bei alledem haben wir jene versprengten Einzelentscheidungen
außer Betracht gelassen, die einfach aus der "neutralen" Fassung von
Strafvorschriften gefolgert haben, daß (deshalb) auch fremde Rechts-
güter in den Strafschutz einbezogen seien. Wir haben nämlich ge-
glaubt, daß Absurdes nicht erst aufwendig dargestellt werden müsse:
Die "neutrale" Fassung dieser Tatbestände ist ja die Voraussetzung
unseres Problems, nicht seine Lösung.
Damit haben wir alle bisher besprochenen Formeln abgelehnt. Die
auffällige Zurückhaltung der Standardliteratur gegenüber diesen For-
meln hat sich als wohlberechtigt herausgestellt. Zur Abrundung des Bil-
des sind jedoch noch einige andere Fragen zu untersuchen.

2. In Rechtsprechung und Lehre gibt es noch einige andere Thesen, die


sich unter Beschränkung auf bestimmte Straftatbestände mit der Ein-
beziehung fremder öffentlicher Rechtsgüter in den deutschen Straf-
schutz befassen.
a) Zu den ältesten Lehren im Bereich unseres Themas gehört die
These, daß Widerstand gegen die Amtsgewalt (§ 113 StGB)165 auch dann
strafbar sei, wenn die Tat sich gegen ausländische Beamte richte, die
mit Ermächtigung der zuständigen deutschen Amtsstellen für ihren
Heimatstaat im (deutschen) Inland amtlich tätig seienl66 • Diese These
hat sich aus der Zeit, in der Rechtsprechung und Lehre (nach altem
Recht) - zumindest teilweise - angenommen haben, daß § 113 StGB
nicht nur die deutsche, sondern auch ausländische Amtsgewalt
schütze167 , über die Zeit, in der die Rechtsprechung die Anwendbarkeit
des § 113 StGB auf den Schutz der deutschen Amtsgewalt be-
schränktel6B , in die Gegenwart herübergerettet, obgleich inzwischen
durch § 11 Abs. 1 Nr.2 StGB die Anwendbarkeit des § 113 StGB gesetz-
lich auf den Widerstand gegen Personen, die nach deutschem Recht
Amtsträger sind, begrenzt worden ist l69 • Jene These ist unhaltbar170:
165 Und einige damit verwandte Delikte.
106 Vgl. M. E. Mayer, Der Widerstand gegen Amtshandlungen, in: VDBSt.
Bd. I, 1906, S.434, 439 Anm.4, mit Nachweisen; Binding, LB 11/2 (Fn.62),
S.376; von Weber (Fn. 1), Festgabe für von Frank, Bd.2, S.269, 285 f.; Nagler
(Fn.17), Festgabe für Heilborn, S.31, 42 ff., mit Nachweisen; Reschke (Fn.1),
S. 189 f.; Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdnr. 37; von BubnotJ, in: LK, § 113 Rdnr.7;
Maurach/Schroeder, BT 2 (Fn. 24), § 68 11 2, S. 136; Eser, in: Schönke/Schröder,
§ 113 Rdnr. 7; zahlreiche weitere Nachweise bei Sandweg (Fn. 13), S. 112 ff.
167 Vgl. die Nachweise bei von Weber (Fn.1), Festgabe für von Frank,
S. 269 ff.
16B Vgl. BGHSt. 2,396 ff.; OLG Hamm JZ 1960, 576 ff.
169 Vgl. die Nachweise in Fn. 65.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 157

Wenn ein fremder Beamter für seinen Heimatstaat im (deutschen)


Inland Amtshandlungen vornimmt, dann bleibt er trotz der ihm von
den zuständigen deutschen Stellen erteilten Ermächtigung Vertreter
einer fremden Staatsgewalt171 ; das gilt für den ausländischen Richter,
dem Beweisaufnahmen im Inland gestattet werden, ebenso wie für
den ausländischen Polizeibeamten, dem eigene Ermittlungen erlaubt
werden172 , wie für alle sonstigen kraft Ermächtigung im Inland hoheit-
lich tätig werdenden fremden Beamten. Die den fremden Amtsträgern
erteilte Ermächtigung beseitigt lediglich die völkerrechtliche Sperre,
die jedem Staat die Vornahme hoheitlicher Handlungen auf fremdem
Staatsgebiet als Einmischung in die dortigen inneren Verhältnisse
untersagt l73 ; sie macht (nur) das Handeln des fremden Amtsträgers
völkerrechtlich erlaubt. In der Literatur ist zur Begründung dafür,
daß in dieser Ermächtigung zugleich die Einbeziehung in den Straf-
schutz liege, wiederholt - sehr emotional - bemerkt worden, daß es
eine Perfidie sei, die Tätigkeit zu gestatten und sie zugleich für "vogel-
frei" zu erklärenl74 ; dies geht indessen am Problem vorbei175 : Ganz
abgesehen davon, daß schon in tatsächlicher Hinsicht in der bloßen
Ermächtigung zur Tätigkeitsaufnahme durchaus nicht die Zusicherung
von Strafschutz nach § 113 StGB für fremde hoheitliche Tätigkeit
liegt 176 , wäre eine solche Zusicherung auch strafrechtlich belanglos: Sie
macht weder den ausländischen Richter oder Beamten zum Amtsträger
nach deutschem Recht noch deren Betätigung fremder Hoheitsgewalt
zur Ausübung deutscher Amtsgewalt; vor allem aber kann eine solche
behördliche Zusicherung nicht - gewissermaßen "gesetzesvertretend"
- die gesetzlichen Grenzen des Straftatbestandes erweitern177• Die An-
wendung des § 113 StGB auf diese Ermächtigungsfälle - und damit
seine partielle Ausdehnung auf den Schutz fremder Amtsgewalt - ist
mithin verbotene Analogie (Art. 103 Abs. 2 GG).

170 Ablehnend Sandweg (Fn. 13), S. 113 ff.; wohl auch Gehler, IntStrR
(Fn. 8), Rdnr.232.
171 So auch Nagler (Fn.17), Festgabe für Heilborn, S.31, 42 ff.; Sandweg
(Fn. 13), S. 113 ff.
172 Vgl. Nr.186 ff. der RiVASt. (Richtlinien für den Verkehr mit dem Aus-
land in strafrechtlichen Angelegenheiten), abgedruckt unter I A 4 in GTÜtz-
ner!Pötz (Fn. 77).
173 Vgl. Wengler (Fn. 133), Bd.2, S. 962 ff. und 968; Berber, Lehrbuch des
Völkerrechts, 1. Bd., 1975, S.309; Seidl-Hohenveldern (Fn. 129), Rdnr. 1085,
1133 - 1135. - Vgl. auch Nr. 160 RiVASt. (Fn. 172).
17' Vgl. Binding und Nagler wie Fn. 166.
175 Das Wort "vogelfrei" stimmt in Ansehung allgemeiner Delikte (z. B.
§§ 185 ff., 223 ff., 240 StGB) ohnehin nicht.
170 Vgl. Sandweg (Fn. 13), S. 113 ff.

177 Vgl. Fn. 176.


158 Hans Lüttger

Mit diesen Ermächtigungsfällen dürfen jene Fälle nicht verwechselt


werden, in denen fremde Amtsträger - etwa als Spezialisten - zur
Unterstützung deutscher Behörden hinzugezogen, zeitweilig in die deut-
sche Behörde aufgenommen und an der Ausübung deutscheT Amts-
gewalt beteiligt werden. Hier können - je nach der konkreten tat-
sächlichen und rechtlichen Ausgestaltung - durchaus die Vorausset-
zungen des § 11 Abs.l Nr. 2 b oder c StGB vorliegen. Dies ist aber
nicht der Regelfall der internationalen behördlichen Zusammenarbeit,
die - beispielsweise im Polizeibereich - vielfach nur im Zusammen-
wirken mehrerer ("getrennt" bleibender) nationaler Staatsgewalten
besteht. Infolgedessen ist es auch unrichtig, wenn die Literatur ohne
weitere Differenzierung sagt, § 113 StGB sei im Falle der "krimina-
listischen Zusammenarbeit" auch auf die beteiligten ausländischen Be-
amten anwendbar178 • Dasselbe gilt - entgegen Stimmen in der Lite-
ratur 179 - für die Zusammenarbeit der deutschen Paß- und Zollkon-
trolle mit den entsprechenden ausländischen Beamten, die ja nur
räumlich bedingt ist und deren Tätigkeit nicht zur Ausübung deut-
scher Amtsgewalt macht.
Hingegen ist eine vielfältige Erweiterung des tatbestandlichen
Schutzbereichs des § 113 StGB 180 auf den Schutz ausländischer Amts-
träger durch ratifizierte völkerrechtliche Verträge bzw. durch dazu
ergangene Ausführungsgesetze181 erfolgt182 • Manche von ihnen betreffen
den zuvor erwähnten Paß- und Zollkontroll-Bereich183 und liefern da-

178 So aber von Bubnoff, MaurachlSchroeder und Eser wie Fn.166. -


INTERPOL/Paris bleibt außer Betracht, weil sie nicht deutsche Amtsgewalt
ausübt. INTERPOL ist ein von den Mitgliedstaaten zu unterscheidendes Völ-
kerrechtssubjekt; vgl. dazu Randelzhofer, Rechtsschutz gegen Maßnahmen
von INTERPOL vor deutschen Gerichten?, in Staatsrecht - Völkerrecht -
Europarecht, Festschrift für Schlochauer, 1981, S. 531, 539 ff., mit Nachweisen.
- Vgl. zur Frage der Völkerrechtssubjektivität weiter unten Abschnitt B
IV 2 b (2).
179 Vgl. von Bubnoff und Eser wie Fn. 166.
180 Vgl. Fn. 165.

181 Je nachdem, ob die Verträge self-executing-Charakter hatten oder eine


Staatenverpflichtung zum Erlaß (erweiternder) Strafrechtsnormen enthiel-
ten; vgl. dazu Wengler (Fn. 133), Bd. 1, S. 460 f.; Berber (Fn. 173), S.98; Seidl-
Hohenveldern (Fn. 129), Rdnr. 394 ff.
182 Es kommt auch hier nicht - wie von Weber und Eser (Fn.166) sagen-
darauf an, ob die ausländischen Beamten "aufgrund internationaler Ver-
träge" im Inland tätig werden, sondern darauf, ob diese Verträge zugleich
die im Text besprochene strafrechtliche Gleichstellung betreffen und dies
durch Ratifikation bzw. Ausführungsgesetz (Fn. 181) innerstaatlich geltendes
Recht geworden ist. Ein solcher strafrechtlicher Vertragsinhalt ist bei Ko-
operationsverträgen durchaus nicht selbstverständlich, ganz abgesehen da-
von, daß solche Vereinbarungen aus vorübergehendem Anlaß und für be-
grenzte Zeit - mangels völkerrechtlicher Formvorschriften (vgl. Seidl-
Hohenveldern (Fn. 129), Rdnr. 149 ff.) - auch mündlich abgeschlossen werden
können. Dann gilt das zu den Ermächtigungsfällen Gesagte.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 159

mit ein bedeutsames argurnenturn e contrario gegen die soeben er-


örterte "stillschweigende" Ausdehnung des Strafschutzes auf auslän-
dische Grenzbeamte an den von den Verträgen nicht erfaßten Teilen
der Staatsgrenzen. Andere Sondervorschriften dieser Art betreffen den
Strafschutz für Soldaten und Beamte der NATO-Stationierungstrup-
pen1S4 sowie für ausländische Amtsträger im See- und Fischerei-Be-
reich185 • Sie alle sind nicht unser Thema, zeigen aber, welchen Weg der
Gesetzgeber für notwendig hält, wenn es um die tatbestandliche Aus-
dehnung des § 113 StGB (und anderer Vorschriften) geht 186 •

b) Ein ebenfalls sehr alter Streit dreht sich um die Frage, ob die
Strafvorschriften über Aussage- und Eidesdelikte (§§ 153 ff. StGB)
außer der deutschen auch eine ausländische Rechtspflege schützen187 •
Eine - meist ältere - Minderheitsmeinung bejaht dies 188 ; die heute

183 Vgl. Art.11 Abs.l des Abkommens zwischen der Bundesrepublik


Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Errichtung
nebeneinander liegender Grenzabfertigungsstellen und die Grenzabfertigung
in Verkehrsmitteln während der Fahrt vom 1. Juni 1961 - BGBL 1962, Teil
11, S. 879 ff.; Art. 15 des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und der Republik Österreich über den Durchgangsverkehr auf der Roßfeld-
straße vom 17. Februar 1966 - BGBL 1967, Teil 11, S. 2085 ff.; Art. 16 des
übereinkommens zwischen Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, Frank-
reich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden über die gegenseitige Unter-
stützung ihrer Zollverwaltungen vom 7. September 1967 - BGBL 1969, Teil
11, S. 65 ff.; Art. 8 Abs. 1, und 9 Abs. 1 des Vertrags zwischen der Bundesrepu-
blik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Straße
zwischen Lörrach und Weil am Rhein auf schweizerischem Gebiet vom
25. April 1977 - BGBL 1978, Teil 11, S. 1201 ff.
184 Vgl. Art.29 des Zusatzabkommens zu dem Abkommen zwischen den
Parteien des Nordatlantikvertrages über die Rechtsstellung ihrer Truppen
hinsichtlich der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten ausländi-
schen Truppen vom 3. August 1959 - BGBL 1961, Teil 11, S. 1218 ff., und Art. 7
(Abs.2 Nr.5) des 4. StAG vom 11. Juli 1957 - BGBL 1957, Teil I, S. 597 ff., in
der nach mehrfachen Änderungen heute geltenden Fassung abgedruckt in
SchönteIder, Nr.86.
185 Vgl. die Aufzählung bei Dreher/Tröndle (Fn.24), § 113 Rdnr.2; ferner
die bei GTÜtzner, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 1. Aufl.,
Teil 111, unter Nr.III N 2, 111 T 1 und 111 U 1 abgedruckten Verträge und
Gesetze.
188 Zur geplanten Erweiterung des Strafschutzes auf die Beamten und
anderen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften vgl. die (z. Z. ruhen-
den) Vertragsentwürfe nebst zugehörenden Strafrechts-Protokollen und Be-
gründungen in BR-Drucks. 546/76, S. 1 - 20.
187 Hier geht es nicht um die Frage, ob ein vor einem fremden Gericht
(bzw. einer sonstigen zuständigen Stelle) begangenes Aussage- oder Eides-
delikt deshalb vom deutschen Strafrecht erfaßt wird, weil mittelbar Indivi-
dualinteressen verletzt seien; vgl. dazu mit Recht ablehnend Tröndle, in: LK,
Vor § 3 Rdnr. 29; Samson, in: SK, § 3 Rdnr. 13, jeweils mit Nachweisen.
188 Vgl. RGSt.3, 70 ff.; 64, 15 ff.; Binding, LB 11/2 (Fn.62), S.375 Anm.3;
Frank, 18. Auf!. 1931, § 153 Anm. I, und § 154 Anm. I 1; Jescheck (Fn. 15), Fest-
schrift für Rittler, S.275, 285; Reschke (Fn. 1), S. 194 - 198; Sandweg (Fn. 13),
S. 124 ff., 131 - 132.
160 Hans Lüttger

h. M. verneint es jedochl88 . Hier wirken sich deutlich die früher be-


sprochenen Grundkonzeptionen aus: Die Antwort muß unterschiedlich
ausfallen, je nachdem ob fremde Rechtspflege wegen eines der ge-
schilderten Ausschlußgründe aus dem Strafschutz eliminiertl90 oder
aufgrund eines der erörterten Einschließungsgründe - etwa wegen
ihrer Schutzbedürftigkeit - einbezogen werden SOll19l. Zwar haben
wir alle diese (positiven wie negativen) Erwägungen verworfen; indes-
sen sind auch sonstige Ausdehnungsgründe nicht ersichtlich, die (in
einem primär mit dem Schutz nationaler Rechtsgüter befaßten Straf-
recht) eine Ausweitung des Strafschutzes begründen könnten. Daher
bleibt es in unserer Sicht bei dem Ausgangsgrundsatz, daß "neutral"
abgefaßte Strafnormen zum Schutze öffentlicher Rechtsgüter dann
eben nur das entsprechende deutsche Rechtsgut schützen; wir stimmen
also mit der heute h. M. im Ergebnis überein: Die §§ 153 ff. StGB schüt-
zen eine ausländische Rechtspflege nicht. Es fragt sich nur, ob es davon
Ausnahmen gibt.
(1) In Rechtsprechung und Lehre finden sich Stimmen, die eine sol-
che Ausnahme für die Rechtspflege der aufgrund des NATO-Truppen-
statutsl92 und des Zusatzabkommensl93 in der Bundesrepublik Deutsch-
land stationierten nichtdeutschen NATO-Streitkräfte annehmen194 • Die
Begründungen dafür sind unterschiedlich; zum besseren Verständnis
ist es nützlich, zunächst den rechtlichen Status dieser Militärgerichte
klarzustellen und dabei mit einem verdeutlichenden Vergleich zu be-
ginnen.
Die seiner Zeit geplante, aber am Votum Frankreichs gescheiterte
Europäische Verteidigungs gemeinschaft (EVG) war als überstaatliche
Gemeinschaft mit eigenen Hoheitsrechten, überstaatlichen Streitkräf-
ten, europäischen Gerichtsbehörden und übernationalem Strafrecht

189 Vgl. Oehler (Fn.24), Festschrift für Mezger, S.83, 99; Vogler (Fn.3),
Festgabe für Grützner, S. 149, 151; Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdnr.28; Eser, in:
Schönke/Sch.röder, Vor § 3 Rdnr.22; Rudolphi, in: SK, § 3 Rdnr. 13; Samson,
in: SK, Vor § 153 Rdnr.4; Oehler (Fn.8), IntStrR, Rdnr.234 und 782; Dreher/
Tröndle, § 3 Rdnr.2 a, und § 153 Rdnr.2; Vogler, Strukturen und Methoden
der internationalen und regionalen Zusammenarbeit in der Strafrechtspflege,
Generalbericht, ZStW 96 (1984), S. 531, 540.
190 Vgl. oben Abschnitt B III 2 und 3.
IUI Vgl. oben Abschnitt B IV l.
192 Vgl. Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrags vom
19. Juni 1951 über die Rechtsstellung ihrer Truppen (NATO-Truppenstatut)
- BGBL 1961, Teil II, S. 1190 ff.
193 Vgl. Fn. 184.

194 Vgl. AG Tauberbischofsheim mit Anm. von Theisinger, NStZ 1981,


221 f.; Wagner, Zur Ablösung des Anhangs A zum Truppenvertrag durch
Art. 7 des Vierten Strafrechtsänderungsgesetzes (Teil II), MDR 1964, 93, 95;
Willms, in: LK, § 153 Rdnr.7; MaurachlSchroeder, BT 2 (Fn.24), § 68 II 2,
S. 136, und § 73 III 2, S. 173 f.; Rudolphi, in: SK, Vor § 153 Rdnr. 4.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 161

konzipiert195 ; ihre Gerichtshöfe wären als Gerichte einer überstaat-


lichen Gemeinschaft und daher eines "anderen" Völkerrechtssubjekts
eine "fremde Rechtspflege" gewesen. - Die NATO ist zwar als Ver-
teidigungsbündnis souveräner Staaten selbst kein Völkerrechtssub-
jekt196 ; an der "Fremdheit" der gemeinten Militärgerichte ändert dies
jedoch - aus anderen, in der Struktur der NATO und in den zitierten
Verträgen begründeten Erwägungen - nichts: Die Stationierungs-
truppen bleiben nämlich (ausländische) nationale Kontingente, über
die der jeweilige Entsendestaat die Hoheitsgewalt behält; die Streit-
kräfte und ihre Einrichtungen sind Träger fremder Hoheit; ihre Mili-
tärgerichte sind deshalb nationale Institutionen des Entsendestaates
und üben dessen hoheitliche Justizgewalt aus 197 ; sie repräsentieren
mithin eine - zwar nicht überstaatliche, aber ausländische (US-ameri-
kanische, britische, französische) und daher - "fremde" Rechtspflege. -
Entgegen vereinzelten Stimmen in der Literatur198 dürfen die in Ber-
lin (West) stationierten Truppen der Schutzmächte und ihre Militär-
gerichte damit nicht vermengt werden; ihre Anwesenheit beruht nicht
auf dem NATO-Truppenstatut und dem Zusatzabkommen, sondern auf
BesatzungsrechtlY9 ; sie üben daher aus einem gänzlich anderen Grunde
eigene (und damit "fremde") Hoheitsgewalt aus200 • Für unsere folgen-
den Erörterungen bleiben sie deshalb außer Betracht. - Nach dieser
Vorbemerkung wollen wir uns den Lehren zuwenden, welche die
Militärgerichte der nichtdeutschen NATO-Stationierungstruppen in den
Strafschutz der §§ 153 ff. StGB einbeziehen möchten.

195 Vgl. Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG)


vom 27. Mai 1952 - BGBl. 1954, Teil II, S.342. - Eingehend dazu Jescheck,
Das Strafrecht der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, ZStW 65 (1953),
S. 113 ff.
196 Vgl. Moritz, Die gemeinsame Anwendung des Kriegsvölkerrechts in
den Streitkräften der NATO, Wehrwissenschaftl. Rundschau 1961, 63, 67 - 69;
ders., Völkerrechtliche Probleme der NATO-Integration, NZWehrrecht 1965,
53, 58 - 59; Ipsen, Die rechtliche Institutionalisierung der Verteidigung im
atlantisch-westeuropäischen Raum, JöR n. F. 21 (1972), S. 1 ff. (passim);
Tomuschat, in: BK, Art. 24 GG Rdnr. 113.
m Vgl. Menzel, Nationale und internationale Strukturformen der NATO,
Europa-Archiv 1963 (Bd. 16), Teil I, S.593, 598; Neubauer, Die Rechtsstellung
ausländischer NATO-Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland, AVR
1964 (Bd.12), S.34, 43; Rumpf, Das Recht der Truppenstationierung in der
Bundesrepublik, 1969, S.15; Sennekamp, Die völkerrechtliche Stellung der
ausländischen Streitkräfte in der BundesrepubIik Deutschland, NJW 1983,
2731,2732 Anm. 5, mit Nachweisen.
198 Vgl. Willms, in: LK, § 153 Rdnr. 7.

189 Vgl. Neubauer, AVR 1964, 34,41; Sennekamp, NJW 1983, 2731, 2733. -
Art. 29 Abs. 1 Satz 2 ZusAbk. hat daher zu einer gesonderten Einbeziehung
der im Land BerIin anwesenden Truppen der Drei Mächte in den Strafschutz
nach Art. 7 des 4. StAG geführt.
200 Vgl. Wengler (Fn.133), Bd.2, S. 1415 - 1430; Seidl-Hohenveldern (Fn.
129), Rdnr. 1339.

11 Festschrift für H.-H. Jescheck


162 Hans Lüttger

Vereinzelt ist gesagt worden, zwar sei durch die §§ 153 ff. StGB allein
die inländische Rechtspflege geschützt; dies dürfe jedoch nicht in einem
zu engen organisatorischen Sinne verstanden werden; Organe der
"inländischen Gerichtsbarkeit" seien daher auch die im Inland be-
stehenden Gerichte der verbündeten NATO-Truppen201 • Dieser Argu-
mentation kann nicht gefolgt werden202 : Wenn Rechtsprechung und
Rechtslehre von einem ,,inländischen" Rechtsgut sprechen, dann ist
dies ein Synonym für ein nationales, deutsches Rechtsgut; dabei er-
folgt die Unterscheidung zwischen deutschen und ausländischen Rechts-
gütern nach der Nationalität der (individuellen oder öffentlichen)
Rechtsgutträger 203 • Es gibt keinen Anhalt dafür, daß den Aussage- und
Eidesdelikten ein von der allgemeinen Rechtsgüterlehre abweichender
Rechtsgutsbegriff eigen sein könnte. Bei den §§ 153 ff. StGB ist daher
mit dem Rechtsgut "inländische Rechtspflege" ausschließlich die Rechts-
pflege der Bundesrepublik Deutschland - und zwar ohne Rücksicht
auf den Raum des Amtierens ihrer Organe204 - gemeint, nicht aber
eine Rechtspflege mit ausländischem Rechtsgutträger, selbst wenn die
fremde Justiz im (deutschen) Inland amtiert; denn der Ort des Tätig-
werdens der Organe besagt nichts über die Nationalität der dahinter-
stehenden Rechtsgutträger. Mit dieser Begründung lassen sich also die
Militärgerichte der NATO-Stationierungstruppen nicht in den Straf-
schutz der §§ 153 ff. StGB einbeziehen.
Weiter ist versucht worden, die Anwendbarkeit der §§ 153 ff. StGB
mit der Erwägung zu begründen, die Gerichte der in der Bundesrepu-
blik stationierten NATO-Truppen seien aufgrund des NATO-Trup-
penstatuts und des Zusatz abkommens den Organen der inländischen
Strafrechtspflege gleichgestellt205 • Vereinzelt ist dies näher erläutert
worden mit den vertraglichen wechselseitigen Verpflichtungen zur
Unterstützung in Strafverfahren; ferner mit dem Hinweis, der Be-
griff der zuständigen Stelle in den §§ 153 ff. StGB sei völkerrechts-
freundlich auszulegen; und schließlich mit der These, die Justiz des
Vertragspartners entscheide materiell über den deutschen Strafan-

201 So Rudolphi, in: SK, Vor § 153 Rdnr. 4.


202 Die "gegenständliche" Ausdrucksweise bei Rudolphi, in: SK, Vor § 153
Rdnr.4, und in unserem folgenden Text wird zwar der Vergeistigung des
Rechtsgutsbegriffs als eines ideellen Wertes der Sozialordnung (vgl. Jescheck,
AT [Fn. 2], § 26 I 2, S. 206) nicht gerecht, läßt sich aber verbal hier nur schwer
vermeiden.
203 Vgl. oben zu und mit Fn. 1.

204 Vgl. dazu insbesondere den Fall, daß ein deutsches Gericht mit Ermäch-
tigung der ausländischen Regierung eine Beweisaufnahme im Ausland durch-
führt; Nr. 189 ff. RiVASt. (Fn. 172).
205 Vgl. Maurach/Schroeder, BT 2 (Fn.24), § 68 II 2, S. 136, und § 73 III 2,
S. 173 f.; AG Tauberbischofsheim mit Anm. von Theisinger, NStZ 1981, 221 f.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 163

spruch, der aufgrund der Konkurrenzregeln des NATO-Truppensta-


tuts vom anderen Teil ausgeübt werde206 • - Nichts von alledem greift
durch: Daß zunächst NTS und ZusAbk. eine förmliche Gleichstellung
der fremden Militärgerichte mit der deutschen Rechtspflege zur An-
wendung der §§ 153 ff. StGB nicht enthalten, zeigen die Vertragstexte.
Das in Erfüllung der Staatenverpflichtung zur Gewährung von Straf-
schutz für die Stationierungs-Streitkräfte (Art. 29 ZusAbk.) ergangene
4. StÄG207 stellt zwar in seinem Art. 7 Rechtsgüter der Streitkräfte für
zahlreiche Strafvorschriften den deutschen Rechtsgütern gleich; die
§§ 153 ff. StGB befinden sich aber nicht darunter. Das argurnenturn e
contrario liegt auf der Hand 208 • - Aber auch sinngemäß ergibt sich
eine solche Gleichstellung nicht: Die wechselseitigen Pflichten der Ver-
tragsparteien zur Unterstützung ihrer jeweiligen Strafverfahren (vgl.
z. B. Art. VII Abs. 5 ff. NTS, Art. 37 ZusAbk.) haben schon inhaltlich mit
einer Ausweitung bestehender Straftatbestände nichts zu tun. Im übri-
gen kann von "Gleichstellungsklauseln" nur die Rede sein, wenn sie
dies auch zum Ausdruck bringen. Das geschieht, wie zahlreiche andere
Verträge zeigen209 , stets in ausdrücklicher Form. Etwas anderes wäre
auch mit dem Gesetzlichkeitsprinzip nicht zu vereinbaren. - Was
weiter die erwähnte "völkerrechtsfreundliche Auslegung" der §§ 153 ff.
StGB anlangt, so kann dahinstehen, was dieser Begriff im einzelnen
bedeutet 210 ; denn keinesfalls können damit die verfassungsrechtlichen
Anforderungen des Bestimmtheitsgebots unterlaufen und Straftatbe-
stände auf Materien erweitert werden, die der objektivierte Wille des
Gesetzgebers nicht einmal andeutungsweise einbezogen wissen will211 •
- Fehl geht auch die geschilderte Deutung der im NTS (Art. 7) ent-
haltenen "Konkurrenzregeln" , welche die Auf teilung der Strafgerichts-
barkeit zwischen den Militärjustizbehörden und den deutschen Rechts-
pflegeorganen bestimmen. Der dort verwendete Begriff der Straf-
gerichtsbarkeit ist nämlich rein strafprozessualer Natur und läßt da-
her unstreitig sowohl die materielle Strafgewalt (das jus puniendi) der
beteiligten Staaten als auch das sonstige materielle Strafrecht unbe-
rührt212 • Es bleibt also dabei: Die Militärgerichte üben ihre eigene
hoheitliche Strafgewalt aus und nehmen nicht etwa stellvertretend

206 Vgl. AG Tauberbischofsheim mit Anm. von Theisinger, NStZ 1981, 221 f.
207 Vgl. Fn. 184.
208 Vgl. zu einer verwandten Problematik Vogler, NJW 1977, 1866, 1867.

209 Vgl. die Nachweise in Fn. 183, 185, 186,235 und 236.

210 Vgl. dazu: BVerfGE 6, 309, 362 f.; 18, 112, 121; 31, 58, 75 ff.; Doehring
(Fn. 128), S. 122 ff.; Isensee, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in
der Bundesrepublik Deutschland, VVDStRL, Bd. 32, S. 45, 57 ff.
211 Vgl. die Nachweise in Fn. 95.

212 Vgl. Jescheck, AT (Fn.2), § 18 I 3, S. 130 f.; Maurach!Zipf, AT 1 (Fn.10),


§ 11 11 B 3, S. 146.

11·
164 Hans Lüttger

einen deutschen Strafanspruch wahr 213 ; und an den Straftatbeständen


der §§ 153 ff. StGB ändert sich gar nichts.
Schließlich ist noch angenommen worden, die Einbeziehung der
gegenüber den Militärjustizbehörden der in der Bundesrepublik sta-
tionierten NATO-Streitkräfte begangenen Aussage- und Eidesverlet-
zungen in den Strafschutz der §§ 153 ff. StGB ergebe sich aus § 3 StGB,
da auf Inlandstaten deutsches Strafrecht anzuwenden sei, auch wenn
die Tat ausländische Interessen berühre oder ausländische Rechtspflege
im Inland ausgeübt werde214 • Dieses Rekurrieren auf § 3 StGB geht
jedoch schon deshalb fehl, weil es hier nicht um den Geltungsbereich
des nationalen Strafrechts, sondern um den tatbestandlichen Schutz-
bereich einer Strafnorm geht, der mit Fragen des Internationalen
Strafrechts nichts zu tun hat 215 • Das Internationale Strafrecht nimmt
die Straftatbestände so, wie es sie vorfindet: Weder ersetzt es feh-
lende Straftatbestände noch modifiziert es den tatbestandlichen Schutz-
bereich bestehender Strafnormen; Lücken und Grenzen der Straftat-
bestände lassen sich daher mit seiner Hilfe nicht überspielen. Wenn
eine Strafnorm nur deutsche Rechtsgüter, nicht aber fremde Rechts-
güter schützt, so ändert das Internationale Strafrecht hieran folglich
nichts; dazu hat es gar nicht die Kraft 216 • Auf die Einzelheiten der
geschilderten Argumentation kommt es daher nicht mehr an; wir
haben sie im wesentlichen schon vorher widerlegt.
Das Fazit unserer überlegungen lautet also: Die Rechtspflege der
NATO-Stationierungstruppen ist - ebenso wie eine (sonstige) aus-
ländische Rechtspflege - kein von den §§ 153 ff. StGB geschütztes
Rechtsgut. Dies mag man durchaus als bedauerliche Lücke empfinden,
zumal Art. 12 des früheren Truppenvertrags217 eine Erweiterung des
deutschen Strafrechts auf Meineid und andere strafbare Handlungen
vor Militärjustizbehörden der Streitkräfte enthielt 218 • Warum eine
ähnliche Vorschrift nicht in Art. 7 des 4. StÄG aufgenommen worden
213 Da wir nicht wissen, ob es sich bei der im Text abgelehnten These um
einen mißverstandenen Begriff aus dem (hier gar nicht in Rede stehenden)
Internationalen Strafrecht handelt, sei ergänzend auf folgendes hingewiesen:
Selbst in den Fällen der sog. "stellvertretenden Strafrechtspflege" des Inter-
nationalen Strafrechts üben die deutschen Strafgerichte nicht eine fremde,
sondern deutsche Strafgewalt aus; vgl. Jescheck, AT (Fn.2), § 18 II 6, S.136.
214 Vgl. Wagner wie Fn. 194.
215 Vgl. dazu oben Abschnitt A zu und mit Fn. 10 - 12.
!16 So Oehler (Fn. 11), Geburtstagsgabe für Grützner, S. 110, 116; ders.
(Fn.8), IntStrR, Rdnr.123; ganz h. M.; vgl. etwa noch BGHSt. 21, 277, 280;
OLG Hamm JZ 1960,576,577.
!17 Vgl. Vertrag über die Rechte und Pflichten ausländischer Streitkräfte
und ihrer Mitglieder in der Bundesrepublik Deutschland vom 26. Mai 1952 -
BGBL 1955, Teil II, S. 321 ff.
218 Vgl. dazu Jescheck, Das Strafrecht nach dem Truppenvertrag, ZStW 65
(1953), S. 293, 304.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 165

ist, läßt sich den veröffentlichten Materialien nicht entnehmen2l9 • Wahr-


scheinlich ist es die Folge davon, daß es bei der Schaffung des 4. StÄG
ganz bewußt nicht darum ging, ein lückenloses Netz von Strafvor-
schriften aufzubauen22o , sondern nUr darum, den Strafschutz der Sta-
tionierungstruppen mit demjenigen der Bundeswehr gleichzustellen221 ;
das hatte dann mit Aussage- und Eidesdelikten nichts zu tun. Man
kann dies für eine sachlich falsche legislatorische Entschließung hal-
ten; aber nun muß sich der Gesetzgeber beim Wort nehmen lassen;
die Gerichte können ihn nicht korrigieren und das Vakuum nicht schlie-
ßen; dies ist Sache der Legislative 222 •

(2) In der Literatur findet sich vereinzelt die These, der Schutz-
bereich der §§ 153 ff. StGB erstrecke sich auch auf Verfahren vor inter-
nationalen und supranationalen Gerichtshöfen mit für die Bundes-
republik Deutschland relevanter Entscheidungsgewalt223 bzw. auf über-
staatliche Rechtsprechungsgremien, an denen die Bundesrepublik be-
teiligt seF24. Das trifft in dieser Form nicht zu. Dabei brauchen wir
uns auf die wissenschaftlichen Kontroversen um den Begriff "supra-
national" nicht einzulassen; denn supranationale Organisationen sind
in jedem Falle internationale Organisationen, wenn auch solche eines
besonderen Typs 225. Entscheidend für uns ist nur die Frage, ob es sich
um internationale Organisationen mit eigener (wenn auch auf be-
stimmte AufgabensteIlungen beschränkter) Völkerrechtssubjektivität
handelt, so daß ihre etwaigen Gerichtshöfe eine für die Mitgliedstaa-
ten - und damit ggf. für die Bundesrepublik Deutschland - "fremde"
Hoheitsgewalt ausüben. Das ist für die hier interessierenden und in
der strafrechtlichen Literatur oft erwähnten Beispiele der Fall:
Die Europäischen Gemeinschaften (EAG, EWG und Montanunion)
sind (von den Mitgliedstaaten verschiedene) Völkerrechtssubjekte; ihre
Organe üben eine selbständige, unabhängige öffentliche Gewalt und
nicht etwa deutsche öffentliche Gewalt aus. Der Umstand, daß die
Bundesrepublik an den Europäischen Gemeinschaften beteiligt ist und
219 Vg!. Entwurf eines 4. StÄG - BT-Drucks. 2. WP/3039; Schrift!. Bericht
- BT-Drucks. 2. WP/3407 und zu 3407; Prot. der 190., 191. und 192. Sitzung
des BT, 2. WP, S. 10850 ff., 10908 ff. und 10930 ff.; dazu Lackner, Das 4. Straf-
rechtsänderungsgesetz, JZ 1957,401 f. und 405 f.
220 So BMJ von Merkatz, BT-Prot. 2. WP, S. 10854.
221 Vg!. Entwurf des 4. StÄG - BT-Drucks. 2. WP/3039, Begründung S.22.
222 Vgl. BVerfGE 47, 109, 124, - eine überaus bedeutsame KlarsteIlung der
Grenzen jeder Interpretation.
223 So Willms, in: LK, Vor § 153 Rdnr.3.

224 So RudoZphi, in: SK, Vor § 153 Rdnr.4.


225 Vgl. BZeckmann (Fn.128), S.199; Berber (Fn.173), 3. Bd., § 38, S. 318 ff.
MenzeZ/Ipsen, Völkerrecht, 2. Auf!. 1979, § 28 111, S.208; SeidZ-HohenveZdern,
Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der Supranatio-
nalen Gemeinschaften, 3. Auf!. 1979, Rdnr. 0113 ff.; ders. (Fn. 129), Rdnr. 600 ff.
166 Hans Lüttger

daß deren Organe eine für die Bundesrepublik relevante Entschei-


dungsgewalt haben, ändert daran nichts 226 • Der (gemeinsame 227 ) Ge-
richtshof der drei Europäischen Gemeinschaften repräsentiert daher
eine "fremde" - nämlich von einem "anderen" Rechtsgutträger ge-
tragene - Rechtspflege. -- Der Europarat hat nach inzwischen über-
wiegender Ansicht ebenfalls den Charakter eines Völkerrechtssub-
jekts228 • Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 229 übt daher
nicht deutsche, sondern fremde Rechtspflege aus. - Das im Rahmen
der OECD (früher OEEC) bei der Europäischen Kernenergie-Agen-
tur - einem Völkerrechtssubjekt mit eigener Hoheitsgewalt23o - als
Instanz zur Anfechtung von Kontrollanordnungen errichtete Gericht23t
stellt ebenfalls eine fremde Rechtspflege dar. - Und auch das auf-
grund des Überleitungsvertrags 232 in Berlin errichtete Oberste Rück-
erstattungsgericht hat internationalen Charakter und übt - trotz der
Mitbeteiligung der Bundesrepublik - keine deutsche öffentliche Ge-
walt aus 233 • - Diese Beispiele mögen genügen.
Da - wie erörtert - die §§ 153 ff. 8tGB nur die Rechtspflege, deren
Rechtsgutträger die Bundesrepublik Deutschland ist, schützen, sind
internationale und supranationale Gerichtshöfe, welche die Hoheits-
gewalt eines anderen Völkerrechtssubjekts repräsentieren, nur dann
in den 8trafschutz gegen Aussage- und Eidesdelikte einbezogen, wenn
und soweit durch 8ondervorschriften - in der Regel durch ratifizierte
völkerrechtliche Verträge - mit Hilfe von ausdrücklichen Gleichstel-
lungsklauseIn eine entsprechende Erweiterung des tatbestandlichen
8chutzbereichs der §§ 153 ff. 8tGB erfolgt ist 234 • Dies ist nur für ein-

226 Vgl. BVerfGE 22, 293, 296 - 297; 37, 271, 277 - 278; Tomuschat, in: BK,
Art. 24 GG, Rdnr.39 und 42; Seidl-Hohenveldern (Fn.225), Rdnr.0107, 0302,
0306; ders. (Fn. 129), Rdnr. 602, 605, 609 f.
227 Vgl. Art. 3 u. 4 des Abkommens über gemeinsame Organe für die euro-
päischen Gemeinschaften vom 25. März 1957 - BGBL 1957, Teil 11, S. 1156 ff.,
neueste Fassung in: SartoTius 11, Nr.220.
228 Vgl. Berber (Fn.173), 3. Bd., § 3111, S. 285; Seidl-Hohenveldern (Fn.225),
Rdnr. 0112; ders. (Fn. 129), Rdnr. 609 d und 609 zzg; Bleckmann (Fn. 128), S. 153.
229 Vgl. Art. 19,38 ff. der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten vom 4. November 1950 - BGBL 1952, Teil 11, S.686, 953;
neueste Fassung in: SartoTius 11, Nr. 130.
230 Vgl. Tomuschat, in: BK, Art. 24 GG Rdnr.110; Rojahn, in: von Münch,
2. Aufl. 1983, Art.24 GG Rdnr. 24 a; ferner allgemein Seidl-Hohenveldern
(Fn. 225), Rdnr. 0225 und 0240.
231 Vgl. Teil 111, Art. 12 ff. des übereinkommens über die Errichtung einer
Sicherheitskontrolle auf dem Gebiet der Kernenergie vom 20. Dezember 1957
- BGBL 1959, Teil 11, S. 985 ff.
232 Vgl. 111. Teil, Art. 6 des Vertrages zur Regelung aus Krieg und Besat-
zung entstandener Fragen vom 26. Mai 1952 - BGBL 1955, Teil 11, S. 405 ff.
233 Vgl. BVerfGE 6, 15, 17 - 18; Seidl-Hohenveldern (Fn.225), Rdnr. 0307 a.
23t So im Ergebnis mit Recht Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdnr.30; Eser, in:
Schönke!Schröder, Vor § 3 Rdnr. 22; Zieher, Das sog. Internationale Strafrecht
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 167

zeIne der genannten internationalen und supranationalen Gerichtshöfe


geschehen, wie für den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften23:;
und für das Gericht der nuklearen Sicherheitskontrolle236 ; in anderen
Fällen fehlt es daran noch237 • Diese Sondervorschriften sind nicht unser
Thema; sie zeigen jedoch, welchen Weg der Gesetzgeber zur Einbezie-
hung einer supranationalen oder internationalen Rechtspflege in den
Strafschutz der §§ 153 ff. StGB für erforderlich hält und drängen einen
unsere Auffassung zusätzlich bestärkenden Umkehrschluß betreffend
sonstige internationale Gerichtshöfe der geschilderten Art auf.

3. Somit haben sich auch diejenigen Lehren, die unter Beschränkung


auf einige spezielle Fälle eine Ausdehnung des deutschen Strafrechts
auf den Schutz fremder öffentlicher Rechtsgüter erstreben, als ver-
fehlt erwiesen. Zugleich aber hat sich dabei die überragende Bedeu-
tung von Sondervorschriften zur Erweiterung des Strafschutzes her-
ausgestellt, die wir noch einmal aufgreifen werden.

Bei alledem haben wir die Probleme beiseite gelassen, die dann
entstehen, wenn eine Strafnorm eine Doppelnatur hat, indem sie

nach der Reform, 1977, S.120; wohl auch Oehler, IntStrR (Fn.8), Rdnr.782
und 912 ff.
235 Vgl. folgende durch völkerrechtliche Verträge der Mitgliedsstaaten ge-
schaffene Vorschriften: Art. 27 des Protokolls über die Satzung des Gerichts-
hofs der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 17. April 1957 - BGBl.
1957, Teil 11, S. 1166 ff. - (neueste Fassung in Sartorius 11, Nr.221); Art. 28
des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Atom-
gemeinschaft vom 17. April 1957 - BGBl. 1957, Teil 11, S. 1194 ff. - (gleich-
lautend). - Ferner Art. 28 Abs. 4 des Protokolls über die Satzung des Ge-
richtshofs der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18. April
1951 - BGBl. 1952, Teil 11, S. 482 ff. - (neueste Fassung in: Sartorius 11,
Nr. 222), mit einer höchst problematischen Klausel; vgl. dazu Sandweg (Fn. 13),
S. 155 ff.; Johannes, Das Strafrecht im Bereich der Europäischen Gemein-
schaften, Europarecht 1968, 63, 95 ff.; Oehler, IntStrR (Fn. 8), Rdnr. 912 ff.
236 Vgl. Art. 13 des (durch völkerrechtlichen Vertrag der Mitgliedsstaaten
geschaffenen) Protokolls über das durch das übereinkommen zur Einrichtung
einer Sicherheitskontrolle auf dem Gebiet der Kernenergie errichtete Gericht
vom 20. Dezember 1957 - BGBl. 1959, Teil 11, S. 585, 610 ff.; dazu Sandweg
(Fn. 13), S. 157 f.
237 Art.43 Satz 2 der Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte vom 18. September 1959 i. d. F. vom 17. Januar 1979 -
BGBl. 1979, Teil 11, S. 212 ff. - (Sartorius 11, Nr. 137) ist nicht durch völker-
rechtlichen Vertrag der Mitgliedsstaaten geschaffen, sondern durch den Ge-
richtshof selbst erlassen worden und enthält keine Gleichstellungsklausel,
sondern regelt nur die "Mitteilungen" von Eidesverletzungen an den jewei-
ligen Mitgliedsstaat; eine tatbestandliche Erweiterung der §§ 153 ff. StGB
liegt aus diesen Gründen nicht vor; vgl. dazu Sandweg (Fn.13), S. 158 f.;
Schellenberg, Das Verfahren vor der Europäischen Kommission und dem
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, 1983, S. 227 f. - Der noch bei
Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdnr. 30, zitierte Art. 57 der Verfahrensordnung der
Europäischen Kommission für Menschenrechte ist in deren Neufassung (Sar-
torius 11, Nr.136) nicht mehr enthalten; vgl. dazu: Schellenberg, a. a. 0.,
S. 137 f.
168 Hans Lüttger

neben einem deutschen öffentlichen Rechtsgut auch ein Individual-


rechtsgut schützt und wenn die Tat sich dann gegen ein tatbestandlich
nicht geschütztes fremdes öffentliches Rechtsgut richtet 238 • Ebenso haben
wir die Fälle außer acht gelassen, in denen eine Strafnorm nur ein
deutsches öffentliches Rechtsgut, nicht aber zugleich ein Individual-
rechtsgut schützt, jedoch von der gegen ein tatbestandlich nicht ge-
schütztes fremdes öffentliches Rechtsgut gerichteten Tat - mittelbar,
sekundär, als Nebenwirkung - normfremde deutsche Interessen nach-
teilig betroffen sind23P • Denn alle dort auftretenden Schwierigkeiten
haben nichts mit den fremden öffentlichen Rechtsgütern zu tun, son-
dern resultieren aus jenen zusätzlichen Konstellationen. Diese sind
aber nicht unser Thema.

V.
Wenden wir uns nun den angekündigten vier Beispielen der §§ 132 a
Abs. 1 Nr.1 und 4, 152, 184 Abs.1 Nr.9 und 264 Abs.6 StGB zu, die
sämtlich einen ausdrücklichen "Auslandsbezug" aufweisen. Die Erwar-
tung, daß deshalb in diesen Fällen die Bestimmung des jeweils ge-
schützten Rechtsgutes keine Schwierigkeiten bereite, wäre indessen
trügerisch. Diese Beispielsfälle belegen nämlich - je zu ihrem Teil -
die Angelpunkte unserer bisherigen Ausführungen: eine Vernachläs-
sigung der positiv-rechtlichen Regelung bei der Suche nach dem ge-
schützten Rechtsgut; eine überbewertung von Äußerungen in gesetz-
gebenden Organen gegenüber Wortlaut und Sinn der lex lata; das
Fehlen einer Frage nach dem Zusammentreffen mehrerer Rechtsgüter;
den Mangel einer Unterscheidung zwischen Rechtsgut und gesetz-
geberischem Motiv; und das Totschweigen des Unterschieds zwischen
Rechtsgüterschutz und Schutzreflex. Insgesamt ist die Szene hier -
wo das Gesetz selbst Fingerzeige gibt - von einer überraschenden
spröden Zurückhaltung gegenüber nichtdeutschen Rechtsgütern ge-
kennzeichnet. Eben deshalb haben wir diese Beispiele gewählt, weil
es uns auch hier weniger um die Exegese einzelner Straftatbestände
als vielmehr um das methodische Anliegen geht. Bei der Erörterung
der Beispiele dreht es sich nur noch um Spezifika; das Grundsätzliche
ist bereits gesagt. Wir machen nur noch die Probe aufs Exempel.

1. § 184 Abs. 1 Nr.9 StGB pönalisiert - kurz ge faßt - das Unterneh-


men der Ausfuhr pornographischer Schriften, um sie im Ausland unter
Verstoß gegen die dort geltenden Strafvorschriften zu verbreiten. Die
weit überwiegende Lehre nimmt an, daß mit dieser Strafnorm Kon-
flikten mit dem Ausland vorgebeugt werden solle, wie sie - nach der
238 Vgl. betr. § 164 StGB die Nachweise in Fn. 24 a. E.
239 Vgl. betr. §§ 153 ff. StGB die Nachweise in Fn. 187.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 169

sog. Liberalisierung des Sexualstrafrechts in der Bundesrepublik -


eintreten könnten, wenn von hier aus ausländische Staaten, die ein
Pornographie-Verbreitungsverbot kennen, mit Pornographie über-
schwemmt würden. Die h. M. ist daher der Ansicht, geschütztes Rechts-
gut sei hier das deutsche (staatliche, außenpolitische) Interesse an
ungestörten Beziehungen zum Ausland; mit der Freiheit der sexuellen
Selbstbestimmung habe die Vorschrift nichts zu tun; sie stehe daher
im 13. Abschnitt des BT des StGB am falschen Platz. Bei alle dem stützt
sich die h. M. auf Äußerungen in den parlamentarischen Beratungen24o .
Dem kann nicht gefolgt werden. Richtig ist zwar, daß diese h. M.
einer Ansicht entspricht, die mehrfach im Gesetzgebungsverfahren ge-
äußert worden ist 241 , doch hat es damit eine eigenartige Bewandtnis.
Im Zusammenhang mit der Reform des Sexualstrafrechts hat die Bun-
desrepublik seiner Zeit das Abkommen zur Bekämpfung der Verbrei-
tung unzüchtiger Veröffentlichungen!42 gekündigt. Namentlich die
Schweiz nahm dies zum Anlaß, auf rechtliche Vorkehrungen gegen
eine überflutung mit (deutscher) Pornographie zu dringen243 . Zu die-
sem Zweck wurde zunächst erwogen, die Ausfuhr von Pornographie
aufgrund von § 7 Abs.1 Nr.3 AWG244 - strafbewehrt durch § 34 AWG
- zu untersagen, um "zu verhüten, daß die auswärtigen Beziehungen
der Bundesrepublik Deutschland erheblich gestört" würden. Dagegen
erhoben sich jedoch Bedenken, weil durch eine Ausfuhr von Porno-
graphie keine Störungen mit dem vom Gesetz geforderten Erheblich-
keitsgrad zu erwarten seien245 • Daraufhin entschloß man sich, das Aus-
fuhrverbot in § 184 StGB aufzunehmen und nannte dabei als Grund
weiterhin die Gefahr von Störungen der auswärtigen Beziehungen24e •

240 Vgl. im einzelnen Laujhütte, Viertes Gesetz zur Reform des Strafrechts,
JZ 1974, 46, 49; Dreher, Die Neuregelung des Sexualstrafrechts - eine ge-
glückte Reform?, JR 1974, 45, 47; MaurachlSchroeder, BT 1, 1977 (Fn.24),
§ 23 11, S. 197 - 198; Dtto, BT (Fn.25), § 66 VIII 2, S.326; Preisendanz (Fn.23),
§ 184 Anm.4 e; Horn, in: SK, § 184 Rdnr. 62; Lenckner, in: SchönkelSchröder,
§ 184 Rdnr.3; Arzt/Weber (Fn.25), LH 2, 1983, G Nr.488; DreherlTröndle,
§ 184 Rdnr. 5; Lackner, § 184 Anm. 1.
2H Vgl. die Prot. über die 65. und 66. Sitzung des Sonderausschusses für
die Strafrechtsreform (SA) des BT vom 19. und 20. Januar 1972, 6. WP (im
folg.: Prot.), S. 1910 - 1911, 1925 - 1926, 1937 - 1938; Schriftl. Bericht des SA in
BT-Drucks. VI/3521, S. 61.
242 Vom 4. Mai 1910 - RGBl. 1911, S. 209 ff.; abgedruckt bei GTÜtzner
(Fn. 185) unter Nr. 111 U 2.
243 Vgl. Prot. (Fn.241), S. 1910, 1925.
244 Außenwirtschaftsgesetz vom 28. April 1961 - BGBI. 1961, Teil I,
S. 481 ff., in der jetzt geltenden Fassung abgedruckt in ErbslKohlhaas, Straf-
rechtliche Nebengesetze, Nr. A 217.
245 Vgl. Prot. (Fn.241), S. 1910 - 1911, 1937 - 1938. - Vgl. zu dem Begriff
"erhebliche Störung" Fuhrmann, in: ErbslKohlhaas (Fn.244), § 34 A WG,
Anm.4.
248 Vgl. Prot. wie Fn. 241,243, 245.
170 Hans Lüttger

Diese Erörterungen hatten indessen einen ganz ungewöhnlichen Haut-


gout: Bei den parlamentarischen Beratungen war nämlich wiederholt
die Rede davon, daß diese Vorschrift "nur eine Alibifunktion" habe,
um sich "scheinbar entschuldigen zu können", wenn vom Ausland der
Vorwurf erhoben werde, durch die Freigabe der Pornographie trage
die Bundesrepublik zur Überschwemmung des Auslands mit Porno-
graphie bei 241 • Wir wollen hier nicht vertiefen, ob solche - für parla-
mentarische Beratungen befremdliche - Alibi-Planungen bei der
Suche nach dem geschützten Rechtsgut überhaupt ernst genommen
werden können; denn entscheidend ist dafür ohnehin nicht die Mei-
nung der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten; ausschlaggebend ist
vielmehr, welches Rechtsgut sich aus Wortlaut und Sinnzusammen-
hang der lex lata ergibt 24B • Fragt man danach, so ergibt sich ein anderer
objektivierter Wille des Gesetzgebers:
§ 184 Abs. 1 Nr. 9 StGB verbietet das Unternehmen der Ausfuhr nur,
wenn es in der Absicht geschieht, die pornographischen Schriften
unter Verstoß gegen die im Ausland geltenden Strafvorschriften zu
verbreiten, öffentlich zugänglich zu machen oder eine solche Verwen-
dung zu ermöglichen. Bezugspunkt der Absicht sind also ausländische
Verwendungsarten, die den dort bestehenden Strafgesetzen zuwider-
laufen; bei diesen ausländischen Strafvorschriften handelt es sich um
Normen des Sexualstrafrechts. Mit anderen Worten: § 184 Abs.1 Nr. 9
StGB gibt diesen ausländischen Verboten eine Hilfestellung von außen
her; § 184 Abs. 1 Nr. 9 StGB ist objektiv darauf angelegt, zu verhüten,
daß Verbote des ausländischen Sexualstrafrechts mit Hilfe von aus
Deutschland eingeschleuster Pornographie verletzt werden. Dieser un-
mittelbar aus dem Gesetz selbst ablesbare Grundgedanke ist - was
die Literatur bisher nicht zur Kenntnis genommen hat - auch in den
parlamentarischen Beratungen von einzelnen Beteiligten erkannt wor-
den; es hieß dort nämlich: Für die Eingliederung der Nr. 9 in § 184
StGB spreche, daß es hier um die Beteiligung an in einem fremden
Land unter dem Gesichtspunkt des Sexualstrafrechts strafbaren Hand-
lungen gehe 249 • Das ist zwar recht untechnisch ausgedrückt; aber wir
können ohnehin darauf verzichten, solche Bemerkungen aus den kon-
troversen parlamentarischen Beratungen - auch nur unterstützend 250
- heranzuziehen, denn aus dem Gesetz selbst ergibt sich:
Die parlamentarischen Überlegungen über den Schutz der deutschen
auswärtigen Beziehungen waren ein - nachgerade klassischer - Fall
eines bloßen gesetzgeberischen Motivs, das zur Schaffung eines Straf-
247 Vgl. Prot. (Fn. 241), S. 1926, 1937, 1938.
248 Vgl. oben Abschnitt B I zu und mit Fn. 17.
219 Vgl. Prot. (Fn. 241), S. 1938.
250 Fn.248.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 171

tatbestands geführt hat, in dem sich nach Wortlaut und Sinn ein ganz
anderes Rechtsgut manifestiert: die ausländische Sexualordnung251 •
§ 184 Abs.1 Nr.g StGB steht also am rechten Fleck. Er schützt ein
ausländisches Rechtsgut, und zwar nur dieses 252 ; denn sonstige Rechts-
güter haben in dem auf den Beistand für ausländisches Sexualstraf-
recht ausgerichteten Gesetz keinen Niederschlag gefunden. Wenn die
auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik von dem deutschen
Strafschutz für die ausländische Sexualordnung profitieren, dann han-
delt es sich dabei nicht um ein weiteres Rechtsgut, sondern um einen
bloßen Schutzreflex.
Freilich geht infolge der Bezugnahme auf das jeweilige ausländische
Sexualstrafrecht der helfende Schutz des § 184 Abs.1 Nr.g StGB zu-
gunsten der ausländischen Sexualordnung u. U. weiter als der Inlands-
schutz des § 184 StGB für die sexuelle Selbstbestimmung; denn die
Ausfuhr ist nicht nur dann strafbar, wenn die beabsichtigte Verbrei-
tung im Ausland gegen ähnlich eng verklausulierte Tatbestände wie
in den übrigen Alternativen des § 184 StGB verstoßen würde, sondern
auch dann, wenn sie dort einem - in der Bundesrepublik nicht existie-
renden - allgemeinen Pornographie-Verbreitungsverbot zuwiderlau-
fen würde 253 • Aber mit dem Mehr an Schutz für das Ausland wird
nicht der Gegenstand des Schutzes verändert; es geht allemal nur um
die - eben anders strukturierte - jeweilige ausländische Sexual-
ordnung.

2. § 132 a Abs.1 Nr.1 und 4 StGB pönalisiert die unbefugte Führung


inländischer oder ausländischer Amts- oder Dienstbezeichnungen, aka-
demischer Grade, Titel oder öffentlicher Würden sowie das unbefugte
Tragen inländischer oder ausländischer Uniformen, Amtskleidungen
oder Amtsabzeichen.
Soweit es sich dabei um inländische Titel usw. handelt, wird als
geschütztes Rechtsgut nahezu einhellig das besondere Vertrauen der
(inländischen) Allgemeinheit angesehen, das diese den Trägern von
Titeln, Amtsbezeichnungen, Uniformen us"v. entgegenbringe und das
vor Hochstaplern geschützt werden müsse 254 • Die Frage, ob daneben

251 Es ist verfehlt, wenn die Literatur (oben Fn.240) bei § 184 Abs. 1 Nr.9
StGB ein Delikt gegen die "sexuelle Selbstbestimmung" vermißt, denn diese
deutschen Rechtsbegriffe lassen sich nicht unbesehen auf ausländische Straf-
rechte übertragen; ganz abgesehen davon, daß § 184 StGB ganz unterschied-
liche Rechtsgüter zum Gegenstand hat; vgI. Lackner, § 184 Anm. 1.
252 So mit Recht Jescheck, AT (Fn. 2), § 18 III 8, S. 141.

253 VgI. Lenckner, in: SchönkefSchröder, § 184 Rdnr. 3.

254 VgI. BayObLG NJW 1979, 2359; von BubnofJ, in: LK, § 132 a Rdnr.2;
Rudolphi, in: SK, § 132 a Rdnr.2; emmer, in: SchönkefSchröder, § 132 a
Relnr.3. - Kritisch MaumchfSchroeder, BT 2 (Fn.24), § 77 I, S.207.
172 Hans Lüttger

als weiteres - ggf. sekundäres - Rechtsgut auch die Autorität der


Titel oder der titelvergebenden Stellen bzw. die durch die Amts-
bezeichnungen repräsentierten Behörden usw. geschützt sind, ist hier
ganz zurückgetreten; sie wird ersichtlich nirgends ausdrücklich ver-
neint, gelegentlich sinngemäß dahingestellt, vereinzelt bejaht 255 • In bei-
den Fällen geht es um nationale Rechtsgüter.
Anders liegt es bei den ausländischen Titeln usw. Zwar wird auch
hier überwiegend angenommen, daß es um den Schutz des besonderen
Vertrauens gehe, das im Inland auch ausländischen Titeln, Amtsbe-
zeichnungen, Uniformen usw. entgegengebracht werde 256 • Ob daneben
auch ein ausländisches Rechtsgut geschützt sei, hat die Rechtsprechung
offengelassen, wobei sie vom "Interesse des betreffenden ausländischen
Staates" sprach 257 • In der Rechtslehre wird der Schutz eines auslän-
dischen Rechtsgutes jedoch vereinzelt lapidar bejaht, ohne daß sich
eine präzise Benennung dieses ausländischen Rechtsgutes findet 258 • Da-
bei ist oft unklar, ob das fremde Rechtsgut allein oder zusätzlich ge-
meint ist. Dazu ist folgendes zu sagen:
Es mag unterstellt werden, daß auch heute noch zumindest ein Teil
der inländischen Bevölkerung - selbst ausländischen - Titeln, Amts-
bezeichnungen, Uniformen usw. im allgemeinen ein besonderes Ver-
trauen entgegenbringt. Indessen sind längst nicht alle ausländischen
Bezeichnungen - namentlich bei "entlegenen Sprachen" - für die
Masse der sprachunkundigen Inländer in gleicher Weise verständlich
wie die in vielen Sprachen ähnlich klingenden Doktor- und Professor-
Titel. Was so aus Gründen der Sprachbarriere für viele ausländische
Amts- oder Dienstbezeichnungen, akademische Grade, Titel und öffent-
liche Würden gilt, mag aus Gründen mangelnder Verständlichkeit auch
für manche fremdartige Amtskleidungen und Amtsabzeichen sowie
vielleicht auch für exotische Uniformen gelten. Zwar kommt es für
den Tatbestand des § 132 a StGB nicht darauf an, ob durch das un-
befugte Führen des Titels oder das unbefugte Tragen der Uniform ein
anderer getäuscht worden ist259 ; aber wo infolge von Unverständlich-

255 Zurückhaltend ("nicht in 1. Linie", ete.) von Bubnoff, Rudolphi und


Cramer wie Fn.254; Otto, BT (Fn.25), § 89 IV 1, S. 409. - Bejahend Maurachl
Schroeder (Fn.254), ("Schutz der staatlichen Amterzuweisung und der Ver-
leihung von Berufsbezeichnungen"); Reschke (Fn. 1), S. 213 - 214 (Schutz der
Titel selbst). - Daß die "berechtigten Träger" der Titel usw. geschützt seien,
wird ersichtlich nicht mehr angenommen.
256 Vgl. BGH GA 1966, 279; von Bubnoff, Rudolphi und Cramer wie Fn. 254;
Lackner, § 132 a Anm. 1.
257 Vgl. BGH GA 1966, 279 ("nicht, jedenfalls nicht nur").

258 Vgl. Sandweg (Fn. 13), S. 100; Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdnr.32; Dreher!
Tröndle, § 3 Rdnr.2 a; Oehler, IntStrR (Fn. 8), Rdnr. 238.
259 Vgl. RGSt. 61, 7,8; BGH MDR 1976,413.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 173

keit sich ein auf jene Merkmale gestütztes besonderes Vertrauen von
vornherein gar nicht mehr - oder nur noch bei Experten - bilden
kann, erklärt der Vertrauensschutz das Rechtsgut des § 132 a StGB nur
noch unvollständig, und nur darum geht es hier: Wo sich die Funktion
des Tatbestands zum Schutze des Vertrauens der Allgemeinheit nicht
mehr halten läßt, muß die Strafnorm noch einen anderen Schutzzweck
haben260 •
Dafür gibt das Gesetz selbst mit dem ausdrücklichen Auslandsbezug
in § 132 a Abs.1 Nr.1 und 4 StGB den richtungweisenden Fingerzeig201 :
Die Lösung liegt in der Bejahung eines ausländischen Rechtsgutes 262 •
Welcher der genannten Versionen dabei der Vorzug zu geben ist, ist
hier ohne größere Bedeutung; wir neigen dazu, das Interesse des aus-
ländischen Staates an der Autorität seiner Titel, Amtsbezeichnungen,
Uniformen usw. als geschütztes Rechtsgut anzusehen. Es dürfte der
Sachlage am ehesten entsprechen, hier ein Zusammentreffen des natio-
nalen Rechtsguts des Vertrauensschutzes und des vorbezeichneten aus-
ländischen Interesses anzunehmen263 •

3. Die Strafvorschriften der §§ 146 ff. StGB schützen nach ganz h. M.


das öffentliche Interesse an der Sicherheit und Funktionsfähigkeit des
Geldverkehrs bzw. des Rechtsverkehrs mit Wertzeichen und Wert-
papieren264 • Dabei handelt es sich zunächst - wie stets - um ein
nationales Rechtsgut. Die Frage ist nur, ob infolge der Einbeziehung
von Geld, Wertzeichen und Wertpapieren eines fremden Währungs-
gebietes (§ 152 StGB; früher ähnlich betr. ausländisches Geld: § 146
a. F. StGB) ein fremdes öffentliches Rechtsgut hinzutritt 265 • In der älte-
260 Vgl. dazu (wenn auch mit umgekehrtem Vorzeichen) MaumchlSchroeder
(Fn. 254). - Vgl. zur Verfehlung des Schutzzwecks des § 132 a StGB allgemein
BayObLG MDR 1973, 778 f., mit Nachweisen.
261 Wenn emmer (Fn.254) dahin zu verstehen sein sollte, daß in dem aus-
drücklichen "Auslandsbezug" des § 132 a StGB ein Argument gegen die An-
nahme eines ausländischen Rechtsgutes liege, dann würden wir eine solche
Umkehrung in einen "Auslands-Ausschluß" für verfehlt halten. emmers
weiteres Argument, daß das StGB normalerweise ausländische staatliche
Institutionen nicht schütze, muß selbst für die Anhänger dieser von uns
(oben Abschnitt B III 2) abgelehnten Lehre versagen, wo das Gesetz wie hier
ausdrückliche Bezüge zum Ausland herstellt.
262 Im Ergebnis ebenso die in Fn. 258 genannten Autoren.
263 Die Annahme von Alternativität der beiden Schutzzwecke könnte nahe-
liegen; vgl. dazu Fn.42.
204 Gelegentlich wird zusätzlich vom Vertrauen in die Sicherheit und Zu-
verlässigkeit des Geldverkehrs usw. gesprochen; vgl. statt vieler RGSt. 67,
294, 297; BGH NJW 1974, 564; Stree, in: SchönkelSchröder, § 146 Rdnr. I, § 148
Rdnr.1.
265 Die bei MaumchlSchroeder, BT 2 (Fn.24), § 67 I 3, S. 128 - 129, vertre-
tene Auffassung, daß § 152 StGB nur klarstellende Bedeutung habe, lassen
wir beiseite; sie beruht auf einer Vermengung der Begriffe "überstaatliches
Rechtsgut" und "wegen der Schutzwürdigkeit allen Staaten gemeinsames
174 Hans Lüttger

ren Literatur ist gelegentlich angenommen worden, der Strafschutz


für ausländisches Geld erfolge vornehmlich deshalb, weil durch dessen
Fälschung der inländische Geldverkehr in Mitleidenschaft gezogen
werde, ohne daß damit der Schutz eines ausländischen Rechtsgutes
ausgeschlossen wurde 266 • Seit der Reform der §§ 146 ff. StGB durch das
EGStGB 1974267 pflegt die Literatur (mit dem Blick auf § 152 StGB)
davon zu sprechen, durch die §§ 146 ff. StGB seien die Sicherheit und
Funktionsfähigkeit des nationalen und internationalen Geldverkehrs
(bzw. Verkehrs mit Wertzeichen und Wertpapieren) geschützt268 • Diese
Formel beantwortet jedoch noch nicht die Frage, welcher Rechtsgut-
träger mit der sehr allgemeinen Bezeichnung "internationaler Geld-
verkehr" gemeint ist. Andere Stimmen sprechen insoweit davon, daß
hier ein ausländisches Rechtsgut geschützt seF 69, ohne daß eine nähere
Begründung hierfür gegeben und das gemeinte ausländische Rechtsgut
näher bezeichnet wird.
Was die erste Frage anlangt, so sind wir zwar der Meinung, daß der
ausdrückliche Auslandsbezug des § 152 StGB durchaus genügen würde,
um die Einbeziehung eines fremden Rechtsgutes zu begründen; indes-
sen gibt es dafür noch einen weiteren triftigen Grund: Die tatbestand-
liche Ausdehnung des Strafschutzes auf ausländische Wertträger ent-
sprach, soweit es sich um Geld und Postwertzeichen handelt, Ver-
pflichtungen, welche Deutschland in zwei völkerrechtlichen Verträgen
eingegangen war, an denen die meisten Staaten der Welt beteiligt
sind, nämlich im Internationalen Abkommen zur Bekämpfung der
Falschmünzerei270 und im Weltpost-Vertrag271 ; diese Staatenverpflich-
tung realisiert § 152 StGB. Wenn Staaten solche Verträge abschließen,
dann verfolgen sie zwar gewiß das eigene Interesse, ihre Währung
(usw.) weltweit geschützt zu sehen; aber dieses Ziel erreichen sie nur,

Rechtsgut" (vgl. dazu oben Abschnitt B IV 1 c und d; siehe besonders oben


Fn.150); die bei Maurach/Schroeder, a. a. 0., zitierten Fundstellen besagen
das Gemeinte nicht.
206 Vgl. von Weber (Fn. 1), Festgabe für von Frank, Bd. 2, S.269, 279, 285.
267 Vgl. EGStGB vom 2. März 1974 - BGBL 1974, Teil I, S. 469 ff.
268 Vgl. Dreher/Kanein, Der gesetzliche Schutz der Münzen und Medaillen,
1975, Vor § 146 StGB, S.67; Rudolphi, in: SK, Vor § 146 Rdnr.2; Schmid-
häuser, BT (Fn. 23), S. 179.
269 Vgl. Jescheck, AT (Fn.2), § 18 III 8, S.141; Tröndle, in: LK, Vor § 3
Rdnr.32; Oehler (Fn.8), IntStrR, Rdnr.238 u. 792; Dreher/Tröndle, § 3 Rdnr.
2 a; Sandweg (Fn. 13), S. 100.
270 Vgl. Art. 3 und 5 des Internationalen Abkommens zur Bekämpfung der
Falschmünzerei vom 20. April 1929 - RGBL 1933, Teil II, S. 913 ff.; abge-
druckt bei Grützner (Fn. 185) unter Nr. III F 1.
271 Vgl. Art.14 des Weltpostvertrags vom 10. Juli 1964 - BGBL 1965,
Teil II, S. 1609 ff.; dazu aus der Zeit des Erlasses des EGStGB (Fn.267): BT-
Drucks. 7/550, S.231. - Heute Art.13 des Weltpostvertrags i. d. F. vom
26. Oktober 1979 - BGBL 1981, Teil II, S. 704 ff.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 175

indem sie auch das Interesse fremder Staaten am auswärtigen Schutz


ihrer jeweiligen Währung akzeptieren; dieses ausländische Interesse
schützt § 152 StGB.
Daß bei § 152 StGB ein ausländisches Rechtsgut im Spiel ist, bestä-
tigt indirekt § 6 Nr.7 StGB, der ebenfalls teilweise auf eine internatio-
nale Verpflichtung zurückgeht 272 und der auch in den Fällen des § 152
StGB - ohne Rücksicht auf das Recht des Tatortes und die Staats-
angehörigkeit des Täters - Auslandstaten der Geld- und Wertpapier-
fälschung sowie deren Vorbereitung dem Weltrechtsprinzip unterstellt;
mit anderen Worten: Nach den §§ 146,152 StGB ist auch ein Brasilianer
strafbar, der in Kolumbien mexikanische Banknoten fälscht, um sie
in Peru unauffällig umzusetzen. Das ist nicht mehr erklärlich, wenn
§ 152 StGB nicht ausländische Rechtsgüter schützt: Denn das Inter-
nationale Strafrecht nimmt - wie schon erörtert273 - die Strafvor-
schriften so, wie es sie vorfindet, ohne ihren tatbestandlichen Schutz-
bereich - namentlich die von ihnen geschützten Rechtsgüter - zu
verändern. Was diese anlangt, läßt sich zwar sagen, jeder Staat -
also auch die Bundesrepublik - habe ein Interesse daran, daß nir-
gendwo in der Welt durch Falsifikate der internationale Geldkreislauf
beeinflußt werde 274 ; aber dieses Interesse ist derart vage, daß es nicht
mehr die Konturen eines Rechtsgutes hat, sondern nur die ratio legis
oder gar lediglich die Gründe bezeichnet, die den Gesetzgeber bei der
Normierung (mit-)beeinflußt haben275 • Diese Probleme sind gelöst, wenn
§ 152 StGB - richtigerweise - auch ausländische Rechtsgüter schützt276 •

Das in § 152 StGB gemeinte ausländische Rechtsgut ist das Interesse


desjenigen Staates an der Sicherheit und Zuverlässigkeit seiner Wert-
träger, gegen dessen Währung usw. die Tat sich richtet.

4. Welches Rechtsgut die Strafvorschrift gegen Subventionsbetrug


(§ 264 StGB) schützt, ist Gegenstand eines noch andauernden wissen-
schaftlichen Streits; genannt werden insbesondere: die Planungs- und
Dispositionsfreiheit der öffentlichen Hand im Bereich der Wirtschaftsför-
derung, die Subventionierung als Instrument der staatlichen Wirt-

272 Vgl. Art. 9 des in Fn.270 bezeichneten Abkommens; dazu näher ZieheT
(Fn. 234), 8. 163 ff.
273 Vgl. oben Abschnitt B IV 2 b (1) zu und mit Fn. 215 - 216.
274 Vgl. ZieheT (Fn.272).

275 Vgl. dazu näher oben Abschnitt B 11 zu und mit Fn.31 und 32. - Die
Fälle des § 152 8tGB liegen eben anders als Auslandstaten nach §§ 146, 149,
151 8tGB, die sich auf Geld und Wertpapiere der Bundesrepublik Deutsch-
land beziehen.
276 Der Grundsatz der Alternativität der 8chutzzwecke (vgl. Fn. 42) würde
die im Text gemeinten Fälle lösen, in denen nicht von einem Angriff auf ein
deutsches Rechtsgut gesprochen werden könnte.
176 Hans Lüttger

schaftsförderung und die damit verbundenen wirtschaftspolitischen


Zwecke, das Interesse an einer wirksamen staatlichen Wirtschaftsför-
derung, das Vermögen des staatlichen Subventionsgebers u. a. m., wo-
bei unterschiedliche Kombinationen das Bild noch weiter verwirren277 •
Dem kann hier nicht nachgegangen werden; wir neigen zu der An-
nahme, daß § 264 StGB in erster Linie die Subventionierung als Instru-
ment der staatlichen Wirtschafts förderung und zusätzlich das Vermö-
gen des Subventionsgebers schützt.
In diesem Streit ist die Frage nahezu untergegangen, ob es sich
dann, wenn die Subvention eine Leistung aus öffentlichen Mitteln nach
dem Recht der Europäischen Gemeinschaften ist (§ 264 Abs.6 StGB),
um ein nichtdeutsches Rechtsgut, nämlich ein solches der EG handelt.
Diese Frage ist zu bejahen, weil der Auslandsbezug - besser: "Europa-
bezug" - insoweit besonders deutlich ist: Es handelt sich nicht nur
der Herkunft nach um öffentliche Mittel der EG; auch die Gewährung
dieser Mittel muß nach Gemeinschaftsrecht erfolgt sein21B ; die Subven-
tionierung ist hier ein wirtschaftsförderndes Instrument der EG. Ge-
schützt sind daher Rechtsgüter der Europäischen Gemeinschaften279 •
Soweit es dabei um die Subventionierung als Gemeinschaftsinstrument
geht, hat damit ein öffentliches Rechtsgut supranationaler Gemein-
schaften Einzug in das StGB gehalten 2BO •

c.
Nun bleibt uns noch, eine kurze Bilanz zu ziehen und einen Ausblick
zu wagen.
Strafschutz für nichtdeutsche Rechtsgüter haben wir nur in einigen
Fallgruppen bejahen können: Zunächst aus völkerrechtlichen und ver-
fassungsrechtlichen Gründen bei Individualrechtsgütern, die wir auf
diesem Wege aus der Umklammerung durch fragwürdige Formeln her-
ausgelöst haben. Ferner bei öffentlichen Rechtsgütern - abgesehen

211 Vgl. statt vieler Hack, Probleme des Tatbestands Subventionsbetrug,


§ 264 StGB, 1982, passim; übersicht auch bei Tiedemann, in: LK, § 264
Rdnr.8 ff.
218 Das ist nicht nur dann der Fall, wenn die EG-Subventionen unmittel-
bar von Stellen der EG vergeben werden, sondern auch dann, wenn sie nach
dem Vergaberecht der EG von deutschen Stellen gewährt werden; vgl. BT-
Drucks. 7/5291, S. 10; h. M.
m Vgl. Oehler (Fn.8), IntStrR, Rdnr.926 (geschützt werden "Rechtsakte
der Gemeinschaften"); Samson, in: SK, § 264 Rdnr.29 ("Subventionsbetrug
zum Nachteil der Europäischen Gemeinschaften").
280 Ein solches öffentliches Rechtsgut supranationaler Gemeinschaften liegt
auch dann vor, wenn man die Planungs- und Dispositionsfreiheit der EG
oder die Wirtschaftsförderung der EG als hier geschütztes öffentliches
Rechtsgut ansieht.
Strafschutz für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter 177

von Sondervorschriften - dann, wenn ein ausdrücklicher Auslands-


bezug - wie bei den §§ 102 ff., 132 a, 152, 184, 264 StGB - einen auf
Einbeziehung fremder Rechtsgüter gerichteten objektivierten Willen
des Gesetzgebers erkennen läßt; hier fanden wir uns oftmals über-
raschend im Gegensatz zu verbreiteten Lehren. Hingegen haben wir
bei den "neutral" abgefaßten Strafnormen zum Schutze öffentlicher
Rechtsgüter eine Ausdehnung auf fremde Rechtsgüter abgelehnt; da-
bei haben sich Divergenzen zu Rechtsprechung und Lehre teilweise
schon bei Rechtsgütern des Staates, vor allem aber bei Rechtsgütern
der Allgemeinheit (sog. überstaatlichen Rechtsgütern) herausgestellt.
Wir sind uns bewußt, daß diese Gedanken bestenfalls den Beginn
einer Diskussion darstellen können. Aber wir hoffen, gezeigt zu haben,
daß die von uns behandelte Materie ein unterentwickeltes Gebiet ist,
das dringend der Entwicklungshilfe bedarf. Daß diese Hilfe - unbe-
schadet aller wissenschaftlichen Bemühungen - letztlich nur vom Ge-
setzgeber kommen kann, ist schon aus berufenerem Munde gesagt
worden281 ; vom Boden unserer Konzeption aus können wir dem nur
zustimmen: Nur der Gesetzgeber kann die Frage, welche nichtdeut-
schen öffentlichen Rechtsgüter deutschen Strafschutz genießen, dem
Meinungsstreit entreißen; Muster dafür gibt es genug.

Ein vorläufiges Programm für wünschenswerte legislatorische Klar-


stellungen ist leicht zusammengestellt: Da sind zunächst die Fälle des
Widerstands gegen ausländische Amtsträger, die mit Ermächtigung der
zuständigen deutschen Stellen im Inland hoheitlich tätig werden282 ;
ihre gesetzliche Klärung ist schon vor Jahrzehnten angeregt worden283 •
Da sind weiter die Aussage- und Eidesverletzungen vor den Gerichten
der NATO-Stationierungstruppen, die nur durch eine Erweiterung der
§§ 153 ff. StGB auf diese nichtdeutsche Rechtspflege erfaßt werden kön-
nen284 • Dasselbe gilt für Aussage- und Eidesdelikte vor solchen inter-
nationalen Gerichtshöfen, für die noch keine Gleichstellungsklauseln
in Sondervorschriften existieren 285 • Und daß die so oft vorgeschlagene
Erweiterung der §§ 102 ff. StGB auf den Schutz der Organe über- oder
zwischenstaatlicher Einrichtungen286 noch immer nicht realisiert ist,
bleibt ein Anachronismus.

281 Vgl. von Weber (Fn. 1), Festgabe für von Frank, Bd.2, S.269, 285 - 286;
Schröder, JZ 1968, 241, 245 - 246.
282 Vgl. oben Abschnitt B IV 2 a.
283 Vgl. Jescheck (Fn. 15), Festschrift für Rittler, S. 275,284 f.
284 Vgl. oben Abschnitt B IV 2 b (1).
285 Vgl. oben Abschnitt B IV 2 b (2), besonders Fn.237 betr. den Europäi-
schen Gerichtshof für Menschenrechte.
286 Vgl. Jescheck (Fn.283), S. 279 ff.; §§ 480 - 484 des StGB - E 1962, BT-
Drucks. IV/650.

12 Festschrift für H.-H. Jescheck


178 Hans Lüttger

Vom Standpunkt unserer Konzeption aus müßte aber vor allem


überprüft werden, bei welchen (sonstigen) Strafvorschriften zum
Schutze von Rechtsgütern des Staates und der Allgemeinheit durch
ausdrückliche Klauseln die Einbeziehung fremder Rechtsgüter klar-
gestellt werden soll. So war es in unserer Sicht durchaus kein Ver-
dienst, daß 1943 der bis dahin in § 267 StGB enthaltene Auslandsbezug
gestrichen worden ist287 • Und daß bei den Straßenverkehrsdelikten eine
solche Klärung bitter nötig ist 288 , bedarf kaum der Erwähnung. Diese
Beispiele genügen, um zu zeigen, was gemeint ist.
Wir glauben, daß manches davon - namentlich in der letztgenann-
ten Gruppe - dringlich ist, weil die von der h. M. zur Ausdehnung
des Strafschutzes auf fremde öffentliche Rechtsgüter benutzten For-
meln und Thesen schwerwiegende rechtsstaatliche Bedenken auslösen.
Doch wer will schon Hoffnung auf Reformen bei einem Thema hegen,
bei dem seit einem halben Jahrhundert die Einsicht in die Notwendig-
keit eines Eingreifens des Gesetzgebers mit der resignierenden Fest-
stellung verbunden ist, daß die Zeiten dafür nicht günstig seien28G und
daß das Ziel noch in weiter Ferne liege 290 ! Das Idealbild eines Straf-
rechts, in dem der Gesetzgeber diejenigen Strafvorschriften zum Schutze
öffentlicher Rechtsgüter, welche auch fremde Rechtsgüter einschließen,
durch Gleichstellungsklauseln abschließend - also unter Ausschluß
aller anderen Fälle - kennzeichnet, wird wohl eine Utopie bleiben.

287 Vgl. va vom 29. Mai 1943 - RGBl. 1943, Teil I, S. 339 ff.; vgl. zu den
bei §§ 267 ff. StGB bestehenden Schwierigkeiten Tröndle, in: LK, Vor § 3
Rdnr. 34, mit Nachweisen.
288 Vgl. dazu die Problem-übersicht bei Tröndle, in: LK, Vor § 3 Rdnr.
38 - 40.
289 Vgl. Nagler (Fn. 17), Festgabe für Heilborn, S. 31,49 - 5I.
290 Vgl. von Weber (Fn. 1), Festgabe für von Frank, Bd. 2, S. 286.
GüNTER SPENDEL

Unrechtsurteile der NS-Zeit

Die vorliegende Untersuchung ist aus einem Vortrag erwachsen, den


der Verfasser am 20. Februar 1984 auf einer als "Geschwister-Scholl-
Woche" überschriebenen Veranstaltung des Kartellverbandes Katholi-
scher Deutscher Studentenvereine gehalten hat, und zwar in dem Schwur-
gerichtssaal des Münchener Justizpalastes, in dem am 22. Februar 1943
der NS-Volksgerichtshof unter Vorsitz des berüchtigten Roland Freisler
die Geschwister Scholl und ihren Mitstudenten Christoph Probst zum
Tode verurteilt hat. Die Arbeit dürfte für Hans-Heinrich Jescheck
als Beitvag zu der ihm gewidmeten Festschrift von näherem Interesse
sein, zählt doch der verehrte Jubilar zu den wenigen deutschen Mit-
gUedern der Redaktion, die in den Niederlanden unter dem Titel "Justiz
und NS-Verbrechen" die große, wenngleich bei uns weder von der
Rechtslehre noch der Rechtsprechung beachtete und ausgewertete Ent-
scheidungs-Sammlung aus der deutschen Nachkriegsjudikatur zu NS-
Tötungsverbrechen, also auch zu Justizmorden unter dem NS-Regime,
herausgibt. Die Auseinandersetzung mit diesem dunklen Kapitel unserer
Justizgeschichte sollte zugleich jedem ,anderen Leser um so weniger un-
erwünscht sein, als heute viele Autoren nicht müde werden, theoretische
Probleme und abstrakte Begriffe in oft zähflüssigen und wenig ,ergiebi-
gen Abhandlungen hin- und herzuwenden, sich dagegen nicht sonderlich
wach und aufgeschlossen für die Aufgabe zeigen, praktische Fragen und
"peinliche" Fälle aus der NS-Zeit hinreichend zu überdenk,en. -
Am 30. Januar 1983 jährte sich zum 50. Male der Tag, an dem die
"nationalsozia1i'stische Bewegung" in unserem Staat die Regierungsge-
walt erlangte. Mit dieser "Machtergreifung" begann ein Terrorregime,
das es bis dahin in Deutschland noch nicht gegeben hatte und das auch
in der Welt seinesgleichen suchte, vergleichbar nur mit dem bolsche-
wistischen Sowjetsystem unter Stalin. Angetreten unter den Schlag-
worten einer völkischen Wiedergeburt, einer rassischen Erneuerung und
einer nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, propagierten deren
Verfechter den Satz, daß der einzelne nichts und eben diese Gemein-
sc1laftalles sei, proklamierten aber zugleich im Widerspruch dazu das
Dogma, daß der Wille eines einzigen Mannes, des "Führers" Adolf
Ritler, schlechthin für alle und alles verbindlich sei. Die drei klassi-

12·
180 Günter Spendel

schen Staatsgewalten hatten sich nach der allein zugelassenen NS-


Partei und ihrem "Führer" auszurichten, der schließlich in einem wi-
derwärtigen Personenkult nicht nur zum obersten Regierungs- und
Verwaltungschef, sondern auch zum obersten Gesetzgeber und Ge-
richtsherrn erklärt wurde!. Die vollziehende Gewalt, insbesondere die
polizeiliche und militärische, wurde vorherrschend - aus einem Rechts-
staat wurde ein Militär- und Polizeistaat, der immer mehr zu einer
brutalen Diktatur und einem Unrechtsregime entartete. Die Gesetz-
gebung, von der Regi,erung selbst ausgeübt 2 , hatte der juristischen Be-
günstigung und Bemäntelung des neuen Zustandes zu dienen. Als z. B.
im Sommer 1934 in der Röhm-Affäre Hitler ehemalige "Kampfgefähr-
ten" und politische Gegner hatte ermorden lassen, wurden diese Morde
nachträglich durch das schändliche, aus einem einzigen Artikel be-
stehende Gesetz vom 3. Juli 1934 in "die zur Niederschlagung hoch-
und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 voll-
zogenen Maßnahmen" umgefälscht und "als Staatsnotwehr" für "rech-
tens" erklärt 3 • Die richterliche, insbesondere die strafende Gewalt
wurde als Terrorinstrument benutzt, um andersdenkende und jüdische
Mitbürger einzuschüchtern oder "auszumerzen", wie ein beliebter Aus-
druck der damaligen Zeit lautete. Während im ersten Weltkrieg von
der bürgerlichen Strafjustiz 141, von der militärischen des Landheeres
150 Todesurteile verhängt worden sind, sollen es im zweiten Weltkrieg
etwa 16000 in der zivilen, weit über 10000 in der Wehrmachtsgerichts-
barkeit gewesen sein4 • So kann man zusammenfassend sagen: Schand-
gesetze wurden als Recht, Schandtaten als rechtliche Maßnahmen,
Schandurteile als Rechtsprechung ausgegeben.

1 Beschluß des Großdeutschen Reichstags vom 26. April 1942 (RGBl. I,


S.247): "... Der Führer muß daher - ohne an bestehende Rechtsvorschrif-
ten gebunden zu sein - in seiner Eigenschaft als Führer der Nation, als
Oberster Befehlshaber der Wehrmacht, als Regierungschef und oberster
Inhaber der vollziehenden Gewalt, als oberster Gerichtsherr und als Führer
der Partei jederzeit in der Lage sein ...".
2 Vgl. das zunächst bis zum 1. April 1937 befristete verfassungsändernde
"Ermächtigungsgesetz", genau: "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und
Reich" vom 24. März 1933, nach dem die Reichsregierung nicht nur Gesetze
beschließen, sondern auch darin weitgehend von der Reichsverfassung ab-
weichen konnte (RGBl. I, S.141), verlängert durch Gesetz vom 30. Januar
1937 bis zum 1. April 1941 (RGBl. I, S. 105), durch Ges. v. 30. Januar 1939 bis
zum 10. Mai 1943 (RGBl. I, S.95), nach "Führererlaß" (I) vom 10. Mai 1943
"auch weiterhin" geltend (RGBl. I, S. 295).
3 "Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr" vom 3. Juli 1934 (RGBl. I,
S.529).
4 Nach Düsing, Die Geschichte der Abschaffung der Todesstrafe in der
Bundesrepublik Deutschland, 1952, S. 219 ff., 220; Messerschmidt, Die Wehr-
macht im NS-Staat, 1969, S.379 Anm. 1273/S. 380 (über 16000); Schweling/
Schwinge, Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus,
1977, S. 266, 280 (ca. 10 - 12000 in der Kriegsgerichtsbarkeit).
Unrechtsurteile der NS-Zeit 181

Wie die richterliche Gewalt den neuen Machthabern dienstbar war,


soll im folgenden an einigen Fällen und Entscheidungen veranschau-
licht werden. Das Gesamturteil hat leider zu lauten, daß die Justiz
unter dem NS-Regime in zweifacher Hinsicht enttäuscht, ja man muß
sagen: versagt hat. Einmal hat sie dem Verlangen, im Sinne des NS-
Geistes und nicht nur streng nach dem Recht zu urteilen, zu wenig
widerstanden; zum anderen hat sie der Versuchung, von sich aus noch
über das von der Staatsführung Vorgeschriebene oder Erwartete hin-
auszugehen, zu viel nachgegeben, sei es aus politischem Fanatismus,
sei es aus opportunistischem Karrierestreben. Dafür zunächst ein Fall
aus der freiwilligen Gerichtsbarkeit, der an anderer Stelle schon näher
rechtlich analysiert worden ist5 :

(1) Am 15. September 1935 wurden in Nürnberg auf dem "Reichs-


parteitag der Freiheit" die "Nürnberger Gesetze", vor allem das Auf-
sehen erregende "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der
deutschen Ehre" verkündet, das die Eheschließung zwischen "Juden
und Staatsangehörigen deutschen und artverwandten Blutes" verbot
und die übertretung des V,erbots sowie den außerehelichen Geschlechts-
verkehr an dem männlichen Partner (sei es ein Jude oder ein "Arier")
als "RassenschClJIl!de" mit Gefängnis oder Zuchthaus bestrafte. Wenige
Monate vor Erlaß dieses berüchtigten Gesetzes, das angesichts der histo-
rischen und rechtlichen Umstände in unserem Lande wohl als gesetz-
liches Unrecht zu bezeichnen ist und damit als Schandgesetz die Grund-
lage für Schandurteile bildete, beantragte ein Mann im Kreis Wetzlar
bei dem zuständigen Standesbeamten, das Aufgebot zur Eheschließung
mit seiner jüdischen V,erlobten zu bestellen. Der Standesbeamte, ein
fanatischer "Hoheitsträger der Partei", empfand diesen Antrag als
"Provokation" und war auch nicht durch den Hiillweis des Gesuchstel-
lers auf die eindeutige, sein Begehren rechtfertigende Rechtslage und
die Anweisungsmöglichkeit des Amtsrichters zu bewegen, das Aufgebot
zu erlassen. Der daraufhin nach dem Personenstandsgesetz mit dem
Fall befaßte Richter, ein sich fanatisch gebärdender Nationalsozialist,
lehnte durch Beschluß vom 17. Juni 1935 den Aufgebotsantrag eben-
falls ab, obwohl, wie er zugab, "die bestehenden gesetzlichen Bestim-
mungen" eine "Mischehe" nicht verbieten würden, und zwar mit der
Begründung, daß diese im Widerspruch zur nationalsozialistischen
Rechtsanschauung stünde6 • Er nahm damit das NS-Rasse- und Un-
rechts gesetz drei Monate vor dessen Verkündung vorweg.

5 Spendel, Zur Problematik der Rechtsbeugung, in: Radbruch-Gedächtnis-


schrift, 1968, S.312 = Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, 1984,
S. 21 mit Abdruck der bei den Entscheidungen, S. 117 ff.
S V gl. den nach den Originalakten vollständig abgedruckten Beschluß des
AG bei Spendel, Rechtsbeugung (Fn. 5), S. 117.
182 Günter Spendel

Der Amtsrichter hat seinen gesetzwidrigen Beschluß an alle mögli-


chen Dienststellen versandt und auch in einer juristischen Fachzeit-
schrift veröffentlicht7 • Keine Stimme der Kritik, weder von einem
Rechtsgelehrten noch von einem Rechtspraktiker, hat sich in der juri-
stischen Fachwelt erhoben, einer Kritik, die 1935 in vorsichtiger Form
noch möglich gewesen wäre und -etwa hätte geltend machen können,
daß sich ein Gericht nicht selbstherrlich über eindeutige und seit Jahr-
zehnten anerkannte und angewandte Gesetzesvorschriften zur Ehe-
schließung hinwegsetzen dürfe B• Selbst der damalige Reichsinnenmini-
ster Dr. Frick hat in einem auf Grund des genannten Beschlusses her-
ausgegebenen Ministerialerlaß die Entscheidung nicht etwa als Rich-
terrecht begrüßt, sondern die Standesbeamten nur angewiesen, ähnli-
che Anträge zurückzustellen und eine gesetzliche Regelung abzuwar-
ten9 •
Auch das Rechtsmittelgericht, eine dreiköpfige Zivilkammer des LG
Limburg, zel1störte die Hoffnung des Gesuchstellers, wenn schon nicht
in der Verwaltung, so doch vor einem Gericht sein Recht zu bekommen.
Es verwarf seine Beschwerde, und zwar mit einer kurzen Begründung,
in der es sich dem erstinstanzlichen Beschluß voll anschloß. Auch ein
anderes Amts- und ein weiteres Landgericht entschieden wie im Wetz-
larer Fall, bis dann die Nürnberger Gesetze ergingen10 •
Es bleibt noch festzuhalten, welches die Folgen des geschilderten
Rechtsbruchs waren: Der Antragsteller, der nunmehr mit seiner jüdi-
schen Braut in wilder Ehe zusammenlebte, wurde nach Erlaß des
"Blutschutzgesetzes" wegen "Rassenschande" angeklagt und in Unter-
suchungshaft genommen, in der er sich erhängte. Der alsbald zum
Landgerichtspräsidenten ernannte Amtsrichter wurde zwar nach 1945
wegen seines Beschlusses und anderer Handlungen nach dem "Ent-
nazifizierungsgesetz" zu drei Jahren Internierungshaft verurteilt, ein
wieder in den Richterdienst gelangtes Mitglied der früheren Beschwer-
dekammer pensioniert. Ein gegen den Amtsrichter wegen Rechtsbeu-
gung -eingeleitetes Strafverfahren ist aber offenbar im Sande verlaufen.

7 AG Wetzlar JW 1935, 2083 (Beschl. v. 17. Juni 1935).


B So im Ergebnis das AG Königsberg in seinem - dann allerdings von
der Beschwerdekammer aufgehobenen - Beschluß, s. LG Königsberg DJ
1935, 1387. Vgl. auch RGZ JW 1934, 2613/2614 r. Sp., das gegenüber einer
Eheanfechtungsklage die Anfechtbarkeit einer rassischen Mischehe nach dem
1934 "geltenden" Recht noch verneint hatte! Vgl. dagegen z. B. die Rechts-
anwälte Herb. Schneider, JW 1934, 868, und Matzke, JW 1934, 2593.
9 RdErl. d. RuPrMdI. vom 26. Juli 1935, DJ 1935, 1086, Nr. 230.

10 So AG Bad Sülze (Beschl. v. 8. Juli 1935) JW 1935, 2309; LG Königsberg


(Besehl. v. 26. Aug. 1935) DJ 1935, 1387.
Unrechtsurteile der NS-Zeit 183

(2) Eine andere Unrechtsentscheidung ,sei aus der Arbeitsgerichtsbar-


keit angeführt 11 • Im Jahre 1940 klagte ein jüdischer Arbeitnehmer auf
Vergütung seines ihm nach der einschlägigen Tarifordnung zustehen-
den, aber nicht gewährten Urlaubs. Das ArbG Frankfurt a. M. ver-
neinte mit Urteil vom 4. September 1940 die Schlüssigkeit der Klage,
da die Bestimmung über die Beudaubung von "Gefolgschaftsange-
hörigen" nicht auf einen Juden anwendbar sei. "Nach jüdischer Auf-
fassung" sei "der Lohn die Gegenle1stung für die von einem Arbeit-
nehmer geleisteten Dienste", die selbst nichts anderes als "Ware" be-
deuteten und als solche einen Marktpreis hätten. Dieselbe der "jüdisch-
liberalistischen Weltanschauung" entstammende Ansicht habe früher
auch für den Urlaub gegolten, der ebenfalls als Gegenleistung für die
vom Arbeitnehmer erbrachte Arbeit angesehen worden sei. Nach der
NS-Auffassung sei dagegen der Urlaub "Ausfluß der Fürsorgepflicht
des Unternehmers" und diese wiederum "eine Folgeerscheinung der
personenrechtlichen Treuepflicht des Gefolgsmanns" ; Arbeitgeber und
Arbeitnehmer ständen sich nicht wie bei dem Austausch von Waren
als Gläubiger und Schuldner, sondern in einem gegenseitigen Treue-
und Fürsorgeverhältnis gegenüber. In ein solches Arbeitsverhältnis
könne aber ein Jude nicht zu einem "arischen Betriebsführer" treten,
so daß er auch nur Lohn für seine Arbeit, nicht jedoch Urlaub oder
Vergütung für nicht gewährten Urlaub beanspruchen dürfe. Mit dieser
nicht mehr rabulistischen, sondern ganz einfach aberwitzigen und
rechtswidrigen "Begründung" wies das ArbG die berechtigte Klage ab.
Es ließ.en sich noch zahlreiche derartige Unrechtsentscheidungen bei-
bringen, in denen der Prozeßpartei, nur weil sie der von den NS-Macht-
habern verfemten und verfolgt,en rassischen Minderheit ,angehörte, vor
Gericht ihr Recht verweigert wurde. Die "Rechtsprechung" wurde hier
eindeutig zur Rechtsbeugung. Am krassesten und fühlbarsten mußte
sich dies in der Strafjustiz auswirken, und in der Tat sind hier die
schwersten Justizverbrechen begangen worden. Hatten die NS-Macht-
haber am Zivilrecht weniger Interesse und erwarteten sie insoweit
eine dem Zeitgeist angepaßte Anwendung bestehender Gesetze, so
suchten sie durch drakonische Strafgesetze die Justiz zu einem willfäh-
rigen Werkzeug ihrer Herrschaft zu machen. Viele Gerichte traten
denn auch allzu bereitwillig für eine extensive Auslegung der NS-
Vorschriften, so z. B. der Rassegesetze, ein.

(3) Hierbei hat es sich nicht etwa nur um Exzesse einer niederen Ge-
richtsbarkeit gehandelt. Auch das frühere höchste deutsche Strafgericht,
das Reichsgericht, hat sich rechtsbeugende Entscheidungen zuschulden

11 Nach Noam/Kropat (Hrsg.), Justiz und Judenverfolgung, I. Bd.: Juden


vor Gericht 1933 - 1945, 1975, S. 99 f.
184 Günter Spendel

kommen lassen, so z. B. in seinem Plenarbeschluß vom 23. Februar 1938


zur Frage der Strafbarkeit einer von Deutschen im Ausland begange-
nen "Rassenschande"12. Ein deutscher Jude, der sich mit der Absicht
trug, nach Südamerikaauszuwandern, und im September 1935 zunächst
zur Arbeitssuche in die Tschechoslowakei gegangen war, hatte seine
frühere Verlobte im Oktober nach Prag kommen lassen, um dort von
ihr Abschied zu nehmen. Während ihres dreitägigen Aufenthalts im
Ausland kam es zwischen den beiden zu mehrfachem Geschlechtsver-
kehr. Nach dem eindeutigen Wortlaut des zur Tatzeit geltenden Ge-
setzes war di,eses Verhalten außerhalb Deutschlands straflos. Denn
nach dem damals anzuwendenden § 4 I StGB früh. F. sollte "wegen
der im Auslande begangenen Verbrechen und Vergehen in der Regel"
keine Strafverfolgung stattfinden und nach § 4 II Nr.3 StGB dam. F.
konnte (also nicht: mußte!) ein Deutscher für eine im Ausland began-
gene, nach inländischen Gesetzen als Verbrechen oder Vergehen straf-
bare Handlung nur belangt werden, wenn sie auch nach den Gesetzen
des Tatorts mit Strafe bedroht war. Das RG sah jedoch in dem Verhal-
ten des Mannes eine "Umgehung des Blutschutzgesetzes" , das es als
"eines der Grundgesetze des nationalsozialistischen Staat,es" (sie!) be-
zeichnete (RGSt.72, S. 96). Die Tat erschien ihm "nach gesundem Volks-
empfinden ebenso strafwürdig" wie intime Beziehungen zwischen jüdi-
schen und "arischen" Deutschen auf deutschem Boden (RG a. a. O. S. 95);
schon aus dem "BlutschutzGes." ergab sich für das frühere höchste
deutsche Strafgericht die Strafbarkeit des Angeklagten.
W'enn hier von einer "Umgehung" des Gesetzes zu sprechen ist,
dann nicht durch den Gerichteten, sondern durch die Richter, die sich
übereifrig über § 4 II Nr.3 StGB dam. F. hinweggesetzt und damit un-
zweifelhaft objektiv, ja wohl auch subjektiv eine Rechtsbeugung (§ 336
StGB) verübt haben. Denn sie haben vorsätzlich eine seit Jahren gel-
tende eindeutige Gesetzesregelung, dazu noch zugunsten eines mehr
als fragwürdigen Gesetzes, nicht angewandt, und zwar bei Entscheidung
einer Rechtssache zum Nacht,eil des Angeklagten.
Ein solches Klima mangelnder Rechtstreue mußte vor allem bei den
Sondergerichten übelste Früchte treiben. Es sind sogar zwei unerhörte
Todesurteile wegen "Rassenschande" gefällt worden und nach 1945
abzuurteilen gewesen, zwei Fälle, die nicht anders denn als "Justiz-
mord durch Rechtsbeugung" zu bezeichnen sind. Die Verhängung der
Todesstrafe für das genannte "Delikt" war nur mit einem - man kann
nicht mehr sagen: juristischen Kunstgriff, sondern - üblen Trick mög-
lich, und zwar durch Verknüpfung des "BlutschutzGes." mit einem ande-

12 RGSt. 72 (GrS), 91 und dazu Reifner, Juristen im Nationalsozialismus,


ZRP 1983, 13, 18; s. ferner RGSt. 72, 385.
Unrechtsurteile der NS-Zeit 185

ren Gesetz, das die Höchststrafe zuließ. In dem einen Fall war es die
VolksschädlingsVO von 1939, in dem anderen das Gewohnheitsverbre-
cherGes. von 1933 i. V. m. § 1 Ges. zur Änderung des RStGB v. 4. Sep-
tember 1941 (RGBl. I, S. 549).

(4) Der erste Sachverhalt, der auch in der Öffentlichkeit bekannt ge-
worden ist, war folgender 13 : 1941/42 wurde in Nürnberg der verheira-
tete 68jährige jüdische Kaufmann Katzenberger beschuldigt, mit einer
36 Jahre jüngeren Ehefrau von September 1939 bis zum März 1940 in-
time Beziehungen unterhalten zu haben, was diese unter Eid abge-
stritten hatte und was auch nicht nachweisbar war. Da der Angeklagte
während der Verdunkelung die Wohnung der Frau aufgesucht habe
- so die groteske "Begründung" -, habe er "unter Ausnutzung der
durch den Kriegszust,and verursachten außergewöhnlichen Verhält-
nisse" die "Rassenschande" begangen (§ 4 VolksschädlingsVO), weiter
damit "unter Ausnutzung der zur Abwehr von Fliegergefahr getroffe-
nen Maßnahmen" eine Straftat "gegen den Leib" der Frau verübt (§ 2
VolksschädlingsVO). Um dem Verdächtigten möglichst jeden Entla-
stungsbeweis abzuschneiden, d. h. die Frau als Entlastungszeugin aus-
zuschalten, hatte man sie ebenfalls angekl,agt und neben den jüdischen
Kaufmann auf die Anklagebank gesetzt, und zwar wegen Meineids
auf Grund ihrer im Ermittlungsverfahren beeideten Aussage, mit Kat-
z·enberger keinen Geschlechtsverkehr gepflogen zu haben. Abgesehen
von der üblen Verfahrensmanipulation wurde hier das Recht in drei-
facher Hinsicht gebeugt: bei der Tatsachenteststellung (Bejahung in-
timer Beziehungen entgegen dem Grundsatz "In dubio pro reo"), bei
der Rechtsanwendung (Annahme der unanwendbaren Volks schädlings-
VO) und bei der Stratmaßbestimmung (Verhängung der Todesstrafe
trotz krasser Unverhältnismäßigkeit). Selbst der berüchtigte Roland
Freisler, damals noch Sta,atssekretär im Reichsjustizministerium und
später erst Präsident des Volksgerichtshofs, hat das Todesurteil als zwar
"vertretbar", aber "kühn" bezeichnet14 •
Fragen wir, wie die deutsche Justiz die NS-Richter abgeurteilt hat,
so werden wir ,erneut enttäuscht. Während der Sondergerichts-Vor-
sitzende Rothaug im Nürnberger Juristenprozeß vom amerikanischen
Militärgerichtshof am 3./4. Dezember 1947 zu lebenslanger Freiheits-
strafe (später im Gnadenwege auf 20 Jahre ermäßigt) verurteilt worden
ist, erhielten seine beiden Beisitzer erst 1969/70, also über 20 Jahre da-
nach, vom SchwG Nürnberg wegen eines auf Rechtsbeugung beruhenden
13 Dazu näher Spendel, Justizmord durch Rechtsbeugung, NJW 1971, 537
= Spendel, Rechtsbeugung (Fn.5), 1984, S.37 mit Abdruck von Sonder-
gerichts- und BGH-Urteil, S. 120 ff.
14 Nach BGH NJW 1971, 571, 572 r. Sp. = Spendel, Rechtsbeugung (Fn.5),
S.132.
186 Günter Spendel

Totschlags 3 bzw. 2 Jahre Freiheitsstrafe. Diese Entscheidung hatte aber


keinen Bestand und wurde vom BGR aufgehoben, da die Sonderrichter
mit ihrem Todesurteil möglicherweise einen Mord begangen hatten.
Danach zog sich das Strafverfahren hin und wurde 1976 wegen alters-
und gesundheitsbedingter Verhandlungsunfähigkeit der ehemaligen
Sonderrichter eingestellt. Es fand damit sein "biologisches Ende"15.

(5) Das andere Todesurteil wegen "Rassenschande" betraf folgenden


nicht so bekannt gewordenen Fall 16 : 1943 wurde ein 28jähriger jüdi-
scher Diplomingenieur ungarischer Staatsangehörigkeit namens Hol-
länder, der unwiderlegt auf Grund s'einer familiären Verhältnisse bis
Anfang 1941, d. h. bis zu seinem 26. Lebensjahr seine jüdische Abstam-
mung nicht sicher gekannt hatte, vor dem Sondergericht Kassel wegen
"Rassenschande" angeklagt, weil er seit seiner Studienzeit im ganzen
vier Liebesverhältnisse mit "arischen" Mädchen angeknüpft hatte.
Nach dem GewohnheitsverbrecherG von 1933 = § 20 a II a. F. StGB konn-
te ein Täter wegen dreier vorsätzlicher Delikte strenger bestraft wer-
den, d. h. eine schwerere oder höhere Freiheitsstrafe erhalten, wenn
"die Gesamtwürdigung der Taten" ergab, daß er ein "gefährlicher Ge-
wohnheitsverbrecher" war. Dabei war z. B. an Sittlichkeitsverbrechen,
Raubüberfälle, Einbrüche und ähnliche schwere Straftaten gedacht.
Keiner war bis zu dem Kasseler Fall auf den Gedanken gekommen,
auch die "Rassenschande" als ein Delikt anzusehen, das unter § 20 a
StGB fallen könnte. Diesen ersten Schritt taten aber die Kasseler
Sonderrichter. Aber nicht nur ihn, sie gingen noch weiter und trafen
die Ermessensentscheidung, daß der Angeklagte nicht aUein eine Ver-
schärfung der Freiheitsstrafe, sondern sogar die Todesstrafe verdient
habe. Eine solche war erst nach dem ÄndGes. von 1941 möglich, wenn
"der Schutz der Volksgemeinschaft oder das Bedürfn~s nach ger,echter
Sühne" ,es erforderte.
Keinem Richter wäre selbst unter der NS-Diktatur ein Haar ge-
krümmt worden, wenn er den Beschuldigten wegen der Verstöße gegen
das "Blutschutzgesetz" nur zu einer Freiheitsstrafe verurteilt hätte!
Wie unsachlich und ungerecht, fanatisch und feindselig das Gericht ur-
teilte, wird aus seinen Entscheidungsgründen deutlich, in der von "jü-
discher Frechheit", vom erheblichen Grad der "inneren Verkommen-
heit", von der charakterlichen "Niedrigkeit" und "Gefährlichkeit" des
"hemmungslosen Trieblebens" des Angeklagten gesprochen wird, ob-
wohl dieser einen guten und sympathischen Eindruck machte, wie die

15 Vgl. Spendel (Fn. 13), S. 54.


16 Dazu einerseits SonderGer. Kassel in: Noam/Kropat (Hrsg.), Justiz und
Judenverfolgung, I. Bd.: Juden vor Gericht 1933 - 1945, 1975, S. 168 ff., ande-
rerseits SchwG Kassel in: MOritz/Noam (Hrsg.), 11. Bd.: NS-Verbrechen vor
Gericht 1945 - 1955, 1978, S. 308 ff. (1. Urt.), S. 316 ff. (2. Urt.).
Unrechtsurteile der NS-Zeit 187

Sonderrichter später selbst zugegeben haben17 • Die völlig unverhältnis-


mäßige Todesstrafe wurde u. a. mit folgenden Phrasen zu begründen
versucht: "Es ist nach deutschem Rechtsempfinden ein Gebot gerechter
Sühne, daß der Angeklagte, der während eines Krieges Deutschlands
mit den Anhängern des Welt judentums die deutsche Rassenehre in den
Schmutz zu treten wagte, vernichtet wird"18.
Man sollte in seiner Empörung über solch ein unerhörtes Schand-
urteil der NS-Justiz wieder nicht den skandalösen Freispruch der Nach-
kriegsjustiz für zwei Mitglieder des Sondergerichts vergessen (das
dritte Kollegialmitglied hatte gegen die Todesstrafe gestimmt und war
daher nicht angeklagt worden). Das SchwG Kassel hat in zwei Ver-
handlungen 1950 und - nach der Aufhebung seiner ersten freispre-
chenden Entscheidung durch das OLG Frankfurt a. M. - 1952 nur
von einem "Fehlurteil" der Sonderrichter gesprochen und keinen
Rechtsbeugungsvorsatz feststellen können, da der Sondergerichtsvor-
sitzende und sein Berichterstatter "fanatische Nationalsozialisten" und
"verblendet" gewesen seien und "die Möglichkeit der Rechtsblindheit"
nicht auszuschließen sei 19 • Die Fl'eisprechung des SchwG Kassel nach
1945 tritt damit höchst unrühmlich an die Seite der Verurteilung des
Sondergerichts Kassel von 1943 - beidemal ist das Recht gleichermaßen
verfehlt und verfälscht worden, im Falle des NS-Urteils zum Nachteil,
im Falle des Nachkriegsurteils zum Vorteil des Angeklagten.
Dabei darf nicht vergessen werden, daß der Boden, auf dem solche
Exzesse möglich wurden, schon länger, und nicht erst ab 1933, vorbe-
reitet worden war, wie unlängst der Historiker und Politologe Gruch-
mann in einer verdienstlichen Studie dargelegt hat 20 • Angefangen bei
Nr.4 und 5 des Parteiprogramms der NSDAP vom 24. Februar 1920,
wonach nur ein Mensch "deutschen Blutes", aber kein Jude Staatsbür-
ger sein und ein Nichtstaatsbürger nur "als Gast in Deutschland leben"
könne und "unter Fremdengesetzgebung" stehen müsse, läßt sich diese
Linie über unverhohlen propagierte Unterdrückungsmaßnahmen bis
zu einem unerhörten Gesetzesentwurf schon in der Weimarer Republik
verfolgen. So hat der NS-Ideologe Alfred Rosenberg in seinem "welt-
anschaulichen Hauptwerk" des Nationalsozialismus gefordert: "Ehen
zwischen Deutschen und Juden sind zu verbieten ... Geschlechtlicher
Verkehr, Notzucht usw. zwischen Deutsch·en und Juden ist je nach der
Schwere des Falles mit Vermögensbeschlagnahme, Ausweisung, Zucht-

17 Noam/Kropat (Fn.16), 1. Bd. S.172 und Moritz/Noam (Fn.16), II. Bd.


S.311.
18 SonderG Kassel in: NoamlKropat (Fn. 16), S. 168, 173.
19 MoritzlNoam (Fn. 16), S. 315 (1. Urt.) u. 326 (2. Urt.).
20 Gruchmann, "Blutschutzgesetz" und Justiz, Vierteljahrsh. f. Zeitge-
schichte 1983,418 ff.
188 Günter Spendel

haus und Tod zu bestrafen"(!)21. Im März 1930 brachten der vorstehend


schon erwähnte spätere Reichsinnenminister Dr. Frick und NS-Genos-
sen im Reichstag einen Gesetzentwurf ein, nach dem "wegen Rasse-
verrats" mit Zuchthaus und in besonders schweren Fällen mit dem
Tode bestraft werden sollte, wer durch Vermischung mit Angehörigen
der jüdischen Blutsgemeinschaft oder farbiger Rassen zur rassischen
Verschlechterung und Zersetzung des deutschen Volkes beitrüge oder
beizutragen drohe 22 . Der österreichische Strafrechtsgelehrte Graf Gleis-
pach äußerte auf der 25. Tagung der Deutschen Landesgruppe der "In-
ternationalen Kriminalistischen Vereinigung" vom 12./13. September
1932 ganz unverhüllt, daß "der gedankliche Inhalt" dieses Gesetzent-
wurfs zum Schutze der "Fruchtbarkeit der deutschen Rasse" und des
deutschen Volkstums "der wissenschaftlichen Untersuchung und Gestal-
tung wert" sei! Kein scharfer Protest der anwesenden deutschen Straf-
rechtler gegen den angeführten Passus hat sich in der anschließenden
Diskussion erhoben23 • Auch in juristischen Fachzeitschriften wurde dann
nach 1933 hartnäckig dafür plädiert, daß eine Mischehe zwischen Deut-
schen und Juden nicht zulässig und eheliche wie außer.eheliche Bezie-
hungenam "deutschblütigen" T·eil als "Rasseverrat", am jüdischen als
"Rassenschande" zu bestrafen seien~.

(6) Aber nicht nur dem Rassenwahn wie in früheren Jahrhunderten


dem Hexenwahn zollten vi.ele Richter beflissen Tribut,auch sonst
dienten sie willig dem Terrorregime 25 • Bekannt und bedrückend sind
die vielen Todesurteile des Volksgerichtshofs, besonders unter seinem
fanatischen Präsidenten Roland Freisler. Ein Fall, für den sich nach
1945 Freislers berufsrichterlicher Beisitzer KGRat Rehse verantworten
mußte, mag für viele stehen. Es ist der des katholischen Priesters Dr.
Metzger, des Gründers der "Christkönigsgesellschaft" und eines Ver-
tr·eters der Una-sancta-Bewegung 28 . Er hatte 1942 eine Denkschrift für
den evangelischen Bischof Eidern in Uppsala verfaßt, in der er Gedan-
ken für die Gestaltung Deutschlands nach dem von ihm für verloren

21 Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts (1. Auf!. 1930),
5. Auf!. 1933, S. 579.
22 RT-Drucks. IV/Nr. 1741, ausgegeben am 13.3.1930.
23 Graf Gleispach, Mitteil. d. IKV, NF 6. Bd. (1933), S. 160, 168 und Dis-
kussionsbeiträge, S. 172 ff.
24 Vgl. z. B. "Hauptamtsleiter" Ludwig Fischer, Rasseschande als straf-
bare Handlung, ZAkDR 1935, 536 und die bereits (Fn.8) angeführten Auf-
sätze von Rechtsanwälten.
25 Weitere praktische Fälle bei Spendel, in: LK, 10. Auf!., 28. Lfg. 1982,
§ 336 StGB, Rdn. 11 f., 64, 131 f.; Spendel, Rechtsbeugung (Fn.5), 1984, S. 4, 12.
26 Vgl. Fall und Urteil bei Benedicta Maria Kempner, Priester vor HitIers
Tribunalen, 1966, S. 273 ff., 282 ff. Dazu mittelbar das Urteil des BGH NJW
1956, 1485 = BGHSt. 9, 302/303, 304.
Unrechtsurteile der NS-Zeit 189

gehaltenen Krieg entwickelte. Der schwedische Kirchenfürst sollte das


Memorandum an englische Bischöfe und nach Möglichkeit über diese
an d~e englische Regierung weiterleiten und bei den Alliierten um
einen für Deutschland erträglichen Frieden bitten. Die Schrift hatte Dr.
M. einer Schwedin übergeben, die sich in sein Vertrauen geschlichen
hatte, aber ein weiblicher Gestapo-Spitzel war.
Vom 1. Senat des VolksGH unter Vorsitz Freislers mit dem juristi-
schen Beisitzer Rehse wurde der Priester am 14. Oktober 1943 "als für
alle Zeit ehrloser Volksverräter" zum Tode verurteilt. Die Verhand-
lung hat insgesamt nur 70 Minuten gedauert; sie war durch gehässige
und kirchenfeindliche Ausfälle, hysterische Wutausbrüche und üble
Schimpftiraden Freislers gekennzeichnet; die Urteilsberatung währte
nur wenige Minuten. Die schriftliche Urteilsbegründung erwähnte le-
diglich ganz allgemein § 91 b StGB a. F. (die Vorschrift gegen "Feind-
begünstigung") und ließ jede "rechtlichen Erwägungen" vermissen27 •
Mangels einer Tatbestandsprüfung und Sachverhaltssubsumtion war
überhaupt nicht dargelegt und erkennbar, worin eine Feindbegünsti-
gung liegen sollte. Dazu hätte gehört, daß es ein "Deutscher im In- oder
Ausland unternimmt, während eines Kri,eges gegen das Reich ... der
feindlichen Macht Vorschub zu leisten oder der Kriegsrnacht des Rei-
ches ... einen Nachteil zuzufügen". Hierfür war die Denkschrift weder
objektiv geeignet noch subjektiv bestimmt; der Priester hatte nicht den
Willen, den ausländischen Gegner zu begünstigen und das eig,ene Land
zu benachteiligen, sondern beabsichtigte gerade, Schaden vom Reich
bei Kriegsende nach Möglichkeit abzuwenden und zum Nutzen Deutsch-
lands zu wirken28 •
Auch der BGH hat in seinem Urteil gegen die Denunziantin aner-
kannt, daß hier die "Rechtsprechung" als "Terrorinstrument" benutzt
worden sei. Nach seiner ausdrücklichen Feststellung waren "die Ver-
urteilung Dr. M.s und die Vollstreckung des Todesurteils gegen ihn
daher eine vorsätzliche rechtswidrige Tötung unter dem Deckmantel
der Strafrechtspflege" . Um so bedauerlicher und befremdlicher ~st 'es,
daß der BGH bei der Veröffentlichung seines Urteils in der amtlichen
Entscheidungssammlung diesen wes,entlichen Satz und den dazu gehö-
renden Absatz ohne erkennbaren Grund weggelassen hat 29 • Und noch
unbegreiflicher ist, daß die Nachkriegsrichter in dem erst Jahre später

27 So treffend BGHSt. 9, 302, 307/308, nicht abgedruckt in BGH NJW 1956,


1485, 1486 r. Sp. ob.
28 So auch BGHSt. 9, 302, 308 im Prozeß gegen die Gestapo-Agentin;
SchwG Berlin (1. Urt. vom 3.7. 1967) DRiZ 1967, 390, 392/393 im Prozeß gegen
den NS-Richter Rehse.
28 Vgl. einerseits BGH NJW 1956, 1486 r. Sp., andererseits BGHSt. 9, 3081
309 und dazu die Kritik von SpendeI, Rechtsbeugung (Fn. 5), 1984, S. 14, 15.
190 Günter Spendel

durchgeführten Strafverfahren gegen den an dem Unrechtsurteil be-


teiligten Beisitzer Freislers, das Mitglied des VolksGH Rehse, plötzlich
nicht mehr dessen Rechtsbeugungsvorsatz sicher feststellen zu können
glaubten 30 •

(7) Daß sich schließlich gegen Ende des letzten Kri,eges die Stand-
gerichte in Terrorurteilen überschlugen, nimmt unter einem solchen
Regime nicht wunder. Dafür noch ein Beispiel, und zwar den Regens-
burger Standgerichts-Fa1l 31 •

Am späten Nachmittag des 23. April 1945 hatten u. a. der Dompre-


diger Dr. Johannes Maier und der 70jährige Rentner Zirkl an einer von
vielen hundert Menschen besuchten Kundgebung teilgenommen, auf
der man bitten wollte, vOn einer Verteidigung Reg,ensburgs gegen die
schon bis auf 20 km herangekommenen amerikanischen Truppenabzu-
sehen, um eine Zerstörung der Stadt zu vermeiden. Da die Menschen-
ansammlung in einen Volksaufruhr umzuschlagen drohte, versuchte
der Geistliche, die 'erregte Menge durch eine kurze Ansprache zu be-
ruhigen, wobei er und andere Kundgebungsteilnehmer, so auch der
auf die "Bonzen" schimpfende Rentner, festgenommen wurden. Um
ein Exempel zu statuieren, ließen die örtlichen Machthaber die hei-
den Genannten mit drei anderen Männern vor ein Standgericht stellen.
Dieses verurteilte unter Vorsitz eines LGDir. Schwarz noch am Abend
des gleichen Tages den Domprediger und den Rentner wegen "Wehr-
kraftzersetzung" zum Tode. Die Verurteilten wurden bereits in der
Morgenfrühe des nächsten Tages von Gestapo-Leuten öffentlich er-
hängt. In der von 20 Uhr bis nach Mitternacht dauernden, also über vier-
stündigen Verhandlung, ließ das Gericht die Angeklagten bis zur kör-
perlichen und geistigen Erschöpfung stehen und gewährte ihnen kei-
nen Verteidiger. In der Urteilsberatung täuschte der juristische Vor-
sitzende die beiden Laienbeisitzer über die Rechtslage, vOn den Tat-
bestandsvoraussetzungen der "Wehrkraftzersetzung" abgesehen, ins-
besondere darüber, daß nach § 5 II KSStVO statt der Todesstrafe "in
minder schweren Fällen" eine Zuchthaus- oder Gefängnisstrafe zulässig
war; er tat dies, um die widerstrebenden anderen Kollegialmitglieder zur
Stimmabgabe für die Höchststrafe bewegen zu können und dann selbst
nicht für die Todesstrafe votieren zu müssen - eine "unglaubliche Tat-
sache", wie das 1948 mit dem Fall befaßte SchwG Weiden mit Recht
gesagt hat 32 • Der Standgerichts-Vorsitzende ist denn auch wegen Tot-

30 Vgl. BGH NJW 1968, 1339, 1340 unter Nr.2. Dazu kritisch Spendel, in:
LK, 10. Aufl., 28. Lfg. 1982, § 336 Rdn. 92 f., 100.
S1 SchwG Weiden LV. m. OLG Nürnberg in: Justiz und NS-Verbrechen,
II. Bd. (1969), S. 233 ff., 318 ff.; dazu schon kurz Spendel, in: LK, 10. Aufl.,
28. Lfg. 1982, § 336 Rdn. 9, 58, 115.
32 SchwG Weiden (Fn. 31), S. 233, 249, 285 ff., 287.
Unrechtsurteile der NS-Zeit 191

schlags in Tateinheit mit Rechtsbeugung und wegen unzulässiger Straf-


vollstreckung jeweils in zwei Fällen zu 51/2 Jahren Zuchthaus verurteilt
worden, wobei strafmildernd berücksichtigt wurde, daß der 54jährige
Richter als Beinamputierter besonders strafempfindlich war33 •

(8) Die vorstehende Schilderung einiger krasser Unrechtsentschei-


dungen aus der NS-Zeit dürfen wir hier nicht abschließen, ohne an ein
Terrorurteil zu erinnern, das im Münchner Schwurg,erichtssaal vor über
41 J,ahren, am 22. Februar 1943, vom Volksgerichtshof unter Vorsitz
Freislers gefällt worden ist, das Todesurteil gegen die Studenten Hans
und Sophie Scholl und Christoph Probst als Mitglieder der Wider-
standsgruppe "Weiße Rose"34. Am 18. Februar 1943 waren die Ge-
schwister Scholl in der Universität München dabei überrascht worden,
wie sie Flugblätter, in denen zur Auflehnung gegen die NS-Tyrannei
aufgerufen wurde, in die Hörsäle gelegt und in den Lichthof des Ge-
bäudes geworfen hatten. Bereits am 21. Februar 1943, an einem Sonn-
tagnachmittag, wurde ihnen und Probst in einem überstürzten Verfah-
ren die Anklageschrift zugestellt, die auf Vorbereitung eines hoch-
verräterischen Unternehmens (§ 83 II und III Nr. 1- 3 StGB), versuch-
ten Verfassungshochverrat (§ 80 II StGB), landesverräterische Feind-
begünstigung (§ 91 b StGB) und Wehrkraftzersetzung (§ 5 KSStVO)
lautete 35 , schon am folgenden Tag von dem aus Berlin herbeigeeilten
Freisier der Prozeß gemacht, noch am Nachmittag desselben Tages
(17 Uhr) an ihnen das Todesurteil vollstreckt. Auch dieser "kurze Pro-
zeß", den man mit den jungen Angeklagten machte (Sophie Scholl war
erst 21 Jahre alt), zeigte: hier ging es nicht um Rechtsfindung und Recht-
sprechung, sondern allein um Rache und Terror, um Abschreckung
und Vernichtung politischer Gegner. Daß dies das Ziel solcher Proze-
duren war, soll Hitler ein Jahr später auf einer Zusammenkunft mit
Generälen am 22. Juni 1944, einen Monat vor dem Aufstand am 20. Juli
1944, ganz offen zugegeben haben, als er sich bewogen fühlte, noch ein-
mal auf den Fall der Geschwister Scholl zurückzukommen und auf den
Vorwurf einzugehen, manche fänden es "unverständlich, mit welcher
Rücksichtslosigkeit der Volksgerichtshof" vorginge. Er erklärte, er
werde weiterhin "j.eden sofort durch den Volksgerichtshof hinrichten
lassen", der der Front irgendwie in den Rücken falle 36 , muß heißen:
der seine Gewaltherrschaft zu stürzen suche.

33 SchwG Weiden (Fn. 31), S. 315/316.


34 Dazu Walter Wagner, Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen
Staat, 1974, S. 201 ff.; Drobisch, Wir schweigen nicht, 4. Auf!. 1983, S.138;
Petry, Studenten aufs Schafott, 1968, S. 124 ff.; lnge Scholl, Die weiße Rose,
1952 (1972).
35 Abdruck der Anklageschrift bei Petry (Fn. 34), S. 175 ff.

36 Nach Drobisch (Fn. 34), S. 53.


192 Günter Spendel

In Freislers Vorgehen gegen die Geschwister Scholl und ihren Lei-


densgenossen wurden schon die Formen, die in einem rechtmäßigen Ge-
richtsverfahren zu wahren sind, gröblichst mißachtet. Das ist auch von
juristischer Seite zugegeben worden, wenngleich nur in allgemeinen
Wendungen und ohne jede nähere Begründung37 •
Zunächst wurde von der besonderen Regelung der Zuständigkeit
abgewichen. Die Beschuldigten Hans Scholl und Probst, die als Solda-
ten zum Medizinstudium abkommandiert war-en, unterstanden der
Wehrmachtsgerichtsbarkeit. Eine Abgabe des Verfahrens an die allge-
meinen Gerichte, hier: an den Volksgerichtshof, war zwar gemäß § 18
KStVerfO i. d. F. der 7. DVO vom 18. Mai 1940 möglich und ist ,angeb-
lich ,erfolgt38 • Es sind aber offenbar doch nicht alle Zuständigkeitsvor-
schriften eingehalten worden; denn nach dem späteren Eingeständnis
des Reichsjustizministeriums "konnte das am 22. Februar -ergangene
Urteil noch am Tage seiner Fällung vollstreckt werden, weil sich der
Herr Minister zufällig in München aufhielt und sich wegen der Eigenart
des Falles über di'e an sich gegebene Zuständigkeit des OKW hinweg-
setzen zu können glaubte"(!)39.
Sodann wurde das Stra!prozeßrecht verletzt. Eine sofortige Aburtei-
lung "ohne Einhaltung von Fristen" war, soweit ersichtlich, nur durch die
(in jedem Oberlandesgerichtsbezirk bei einem oder mehreren Land-
gerichten gebildeten) Sondergerichte möglich, und zwar dann, "wenn
der Täter auf frischer Tat betroffen" wurde "oder sonst seine Schuld
off,en zutage" lag40 • Der ursprünglich als "Sondergericht" angesehene
Volksgerichtshof war jedoch gemäß Art. I § 1 des Ges. vom 18. April
1936 (RGBl. I, S.369) ausdrücklich zum ordentlichen Gericht erklärt
worden. Auch in der Rechtslehre wurde vor und nach dem Todesurteil
gegen die Geschwister Scholl die Möglichkeit eines Absehens von Fri-
sten nur für die Sondergerichte vermerktU. Nach der VO über die Be-
seitigung des Eröffnungsbeschlusses in Strafsachen vom 13. August 1942
(RGBl. I, S.512) betrug die Frist für Einwendungen gegen die Anord-
37 Wagner (Fn.34), S.202: "bei dem Verfahren handelte es sich nicht um
Ausübung der Rechtspflege, sondern um den Vollzug eines der Abschreckung
dienenden Racheaktes, der unter gröblichem Mißbrauch eines gesetzlich ge-
ordneten Gerichtsverfahrens vor sich ging."
38 Vgl. Absolon, Das Wehrmachtstrafrecht im 2. Weltkrieg, 1958, S.204
und die Anklageschrift bei Petry (Fn.34), S. 175 ff., 182; ferner Drobisch
(Fn. 34), S. 48.
39 Petry (Fn.34), S.129 i. V. m. S.244 Anm.20 und das dort angeführte
Schreiben des Reichsjustizministeriums vom 8. August 1943.
40 § 23 VO über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte
und sonstige strafverfahrensrechtl. Vorschriften vom 21. Febr. 1940 (RGBl. I,
s. 405, 408).
41 Vgl. Schwarz, StPO, 11. Aufl. (6. Großdtsch. Ausg.) 1942, 12. Aufl. (7. Groß-
dtsch. Ausg.) 1943, jeweils § 217 Anm. 1; Henkel, Das deutsche Strafverfahren,
1943, S. 364 und Anm. 3.
Unrechtsurteile der NS-Zeit 193

nung der Hauptverhandlung durch den Vorsitzenden42 und für die


Stellung von Beweisanträgen in der Regel eine Woche (§ 201 II 1 StPO
dam. Fass.); bei Anklagen vor dem Volksgerichtshof, dem Oberlandes-
gericht oder der Strafkammer konnte sie jedoch der Vorsitzende "aus
wichtigen Gründen... bis auf vierundzwanzig Stunden abkürzen"
(§ 2Gl II 3 StPO dam. F.). Freisler hat aber den Angeschuldigten über-
haupt keine (also noch nicht einmal eine 24stündige) Frist für die Erklä-
rung zur Anklage eingeräumt, sondern sofort die Hauptverhandlung an-
geordnet und den Termin dafür auf den folgenden Morgen angesetzt. Er
hat sich mithin selbstherrlich über seine Pflicht, den Betroffenen recht-
liches Gehör zu gewähren und die Beschuldigung einer richterlichen
Vorprüfung zu unterziehen, hinweggesetzt.
Außer dem § 201 II 3 StPO dam. F. mißachtete er die Vorschrift des
§ 217 I StPO, nach der zwischen der Ladung und dem Tag der Haupt-
verhandlung eine weitere Frist "von mindestens einer Woche liegen"
mußte. Erst später auf Grund der 3. VereinfVO vom 29. Mai 1943 43 -
also erst nach dem Prozeß gegen die Geschwister Scholl! - konnte der
Vorsitzende des VolksGH diese einwöchige Einl'assungsfrist ebenso wie
schon vorher die Frist für die Erklärung zur Anklage "aus wichtigen
Gründen bis auf vierundzwanzig Stunden abkürzen" (§ 217 I 2 StPO
i. d. F. ab Juni 1943). Da der VolksGH bereits am Morgen nach der
(zudem noch an einem Sonntagnachmittag in der Haft erfolgten) Zu-
stellung der Ladung verhandelte, wurde auch insoweit den Beschul-
digten praktisch gar keine Frist, noch nicht einmal eine "verkürzte",
gewährt. Damit nahm ihnen Freisler jede Möglichkeit, sich sachgemäß
auf die Hauptverhandlung und die Verteidigung vorzubereiten. Die in
der Rechtsprechung entwickelten, aber problematischen Lehren zum
(stillschweigenden) Verzicht des Angeklagten auf Einhaltung der La-
dungsfrist oder gar zur Verwirkung seiner Rechte bei Fristverkürzung44
42 Diese Anordnung des Vorsitzers war an die Stelle des Eröffnungs-
beschlusses des Gerichts getreten, für den VoZksGH schon auf Grund des
Art. IV § 5 Ges. vom 24. April 1934 (RGBl. I, S.341, 347), allgemein für alle
Gerichte auf Grund der (2.) VO zur weiteren Vereinfachung der Strafrechts-
pflege vom 13. August 1942 (RGBl. I, S.508) und der VO über die Beseiti-
gung des Eröffnungsbeschlusses im Strafverfahren vom 13. August 1942
(RGBl. I, S. 512).
43 Art. 3 der 3. VO zur Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 29. Mai
1943 (RGBl. I, S. 342, 343).
U Dazu jetzt BGHSt. 24, 143, 151, wonach "die Einhaltung der Ladungs-
frist nicht zu den Verfahrensmodalitäten gerechnet werden kann, die rechts-
staatlich unabdingbar die Justizförmigkeit des Verfahrens sicherstellen sol-
len" und auch bei Nichteinhaltung der Ladungsfrist eine "ordnungsgemäße
Ladung" vorliege. Man sieht, wie eine solche Rechtsprechung sich leicht in
den Dienst einer Terrorjustiz stellen läßt. Vgl. demgegenüber OLG Hamburg
NJW 1967, 456 = JR 1967, 193 mit zustimm. Anm. von KojJka; Eb. Schmidt,
Lehrkomm. zur StPO u. zum GVG, 11. Teil, 1957, § 217 Rdn.9 und Nach-
tragsbd. 1,1966, § 217 Rdn.2, 11; KMR-PauZus, Komm. zur StPO, 7. Aufl. 1980,
§ 217 Rdn. 14; KurZ Peters, Strafprozeß, 3. Aufl. 1981, S. 517.

13 Festschrift für H.-H. Jescheck


194 Günter Spendel

sind hier nicht anwendbar; denn angesichts der außergewöhnlichen Pro-


zeßsituation vor einem Bluttribunal und der widerrechtlichen Prozedur
seines Vorsitzenden kann von der Freiwilligkeit eines solchen Verzichts
oder von der Verschuldung einer unterlassenen Rüge keine Rede sein.
Der auf Ausschluß der Verteidigung hiIl!auslaufenden Vorbereitung
der Hauptverhandlung entsprach deren Durchführung, d. h. die ganze
Sachleitung des Vorsitzenden Freisler, der nach einem Augenzeugen-
bericht durch Schärfe und Schreien die Angeklagten einzuschüchtern
suchte, sie beleidigte und offensichtlich einen Schauprozeß inszenierte,
der keine Rechts- und Wahrheitsfindung zuließ 45 • Die von ihm ausge-
suchten Pflichtv,erteidiger wagten daher nicht, gegen den gefürchteten
und gefährlichen Vorsitzenden aufzutreten und für ihre Mandanten
einzutreten.
Die schriftlichen Urteilsgründe enthielten statt einer rechtlichen
Würdigung nur wenige Phrasen. Sie ließen wie so oft bei den von
Freisler selbst abgesetzten Entscheidungen jede Tatbestandsprüfung
und -begründung vermissen. Es wurden lediglich die Paragraphen für
"Wehrkraftz,ersetzung" (§ 5 KSStVO) und "Feindbegünstigung" (§ 91 b
StGB) kurz erwähnt. Weder aus dem Tenor noch aus den Gründen des
Urteils ging hervor, ob und welche Hochverratsbestimmung gegeben
sein sollte. § 267 III 1 StPO dam. F. war daher auch verletzt.
Ebenso ungenügend wie die Gesetzesanwendung waren die Aus-
führungen zur Strafzumessung. Von einer "Begründung" der Todes-
strafe konnte keine Rede sein. Sie bestand allein aus dem Satz: "Wenn
solches Handeln anders als mit dem Tode bestraft würde, wäre der
Anfang einer Entwicklungskette gebildet, deren Ende einst - 1918 -
war" und in der Behauptung, der VolksGH wüßte sich "darin mit un-
seren Soldaten einig", daß es für die Angeklagten "nur eine gerechte
Strafe: die Todesstrafe" gäbe48 •
Infolgedessen war eine sachgemäße überprüfung der Urteilsgründe
kaum möglich. Sie konnten daher keine ausreichende Grundlage für
die Entschließung über die Ausübung des Gnadenrechts bilden. Eine
solche aber war nach § 453 StPO dam. F. zwingend vorgeschrieben. Da
das Todesurteil noch am Nachmittag des 22. Februar 1943, also wenige
Stunden nach seiner Verkündung, vollstreckt worden ist, erscheint es
ausgeschlossen, daß die Entschließung zur Gnadenfrage, die Hitler
vorbehalten war (s. § 1 II Nr. 1 a Gnadenordn. v. 6. 2. 1935), einwandfrei
herbeigeführt und sachgemäß getroffen worden ist47 •

45 Vgl. den Bericht des Zuhörers Dr. Samberger bei Drobisch, Wir schwei-
gen nicht, 4. Auf!. 1983, S. 136 ff.
46 Urteil des VolksGH vom 22. Februar 1943 bei Drobisch (Fn.45), S. 138,
142.
Unrechtsurteile der NS-Zeit 195

Das Verfahren zielte ersichtlich nicht auf die Verhängung eines ge-
rechten Urteils, sondern allein auf die Vernichtung verhaßter Gegner.
Nach alledem muß die ganze Prozedur, d. h. die Vorbereitung, Ver-
handlung, Verurteilung und Vollstreckung schon nach damaligem
Recht formell als rechtswidrig betrachtet werden.
Der juristische Laie, aber auch ein kritischer Jurist wird demgegen-
über vielleicht mit Befremden fragen, wieso wir hier zunächst so sehr
auf die Rechtswidrigkeit des Verfahrens, so sehr auf die Verletzung von
Formen abstellen, statt in der Sache selbst zu urteilen und die Taten
der Angeklagten materiell als rechtmäßig, das Urteil der NS-Richter
daher als rechtswidrig zu werten. Zu dieser berechtigten Frage ist fol-
gendes zu bemerken:
Einmal ist in formeller Hinsicht an das Wort des Schriftstellers und
Dramaturgen Heinrich Laube zu erinnern, das wie für die Kunst so
auch für den Prozeß gilt: "Die Tyrannei der Form ist schrecklich; aber
außer der Form ist Barbarei". Daher wird schon die ganze Prozedur
Freislers von jedem gebildeten Menschen als "barbarisch", d. h. als jeder
Rechtskultur ,spottend und jeder Rechtlichkeit entbehrend empfun-
den. Daß selbst nach damals gesetztem und geltendem Recht formell,
d. h. prozessual rechtswidrig "verfahren" wurde, ist bereits ein starkes
Indiz dafür, wie sehr die Urteile gegen die Vertreter der "Weißen Rose"
auch inhaltlich der Berechtigung ermangelten.
Zum andern ist auf die vorstehend aufgeworfene Frage in materieller
Hinsicht einzuräumen: In der Tat ist es für den Juristen wegen der
weitreichenden Konsequenz.en ein schwieriges und schwerwiegendes,
kaum endgültig lösbares Problem, wieweit dem einzelnen Staatsbürger
in einer Tyrannei ein Widerstandsrecht zusteht, das sein insbesondere
unter dem Gesichtspunkt des Hoch- und Landesverrats straftatbe-
standsmäßiges Verhalten objektiv rechtfertigen kann48, mit der wei-
teren Folge, daß auch die Verurteilung seiner Widerstandstat durch
ein Gericht des herrschenden Regimes objektiv als Unrecht erscheint48 •

47 Vgl. bereits Fn.39! Offenbar ist im vorliegenden Falle noch nicht ein-
mal nach der sonst schon summarischen allgemeinen Gnadenpraxis im
Kriege verfahren worden, s. dazu (und zum allmählichen Übergang des Ent-
scheidungsrechts von Hitler auf den Reichsjustizminister) Wagner, Der Volks-
gerichtshof im nationalsozialistischen Staat, 1974, S. 806 ff.
48 So klar WeinkaujJ, Die Militäropposition gegen Hitler und das Wider-
standsrecht, in: Vollmacht des Gewissens, hrsg. v. d. Europ. Publik. e. V.,
1960, S. 139, 156.
48 Diese Konsequenz zieht auch BGHZ NJW 1962, 195, 196 1. Sp. in einer
sonst problematischen Entscheidung (dazu kritisch Ad. Arndt. AGRAPHOI
NOMOI, NJW 1962, 430); s. zum Unrecht des Fehlurteils vor allem Eb.
Schmidt, Lehrkomm. zur StPO u. zum GVG, Teil I, 2. Aufl. 1964, Rdn.284
(S. 165/166). Dazu und zu den weiteren Folgerungen näher SpendeZ, in: LK,
10. Aufl., 30. Lfg. 1982, § 32 Rdn. 104 ff., 106, 109; 28. Lfg. 1982, § 336 Rdn. 120 f.

13*
196 Günter Spendel

Noch unter der NS-Diktatur hat der namhafte Militärstrafrechtler


Schwinge Ln einem Aufsatz und dann in einer auf einer Rede beruhen-
den, vom Reichspropagandaministerium bald darauf verbotenen Schrift
"Soldatischer Gehorsam und Verantwortung"50, unter Berufung auf
historische Beispiele wie den Fall des Generals Yorck von Wartenburg
1812 und auf den Grundsatz der Güterabwägung (damals übergesetzli-
chenNotstand), di.eAuffassung vertreten, daß es für den höheren Militär-
führer eine Grenze gebe, an der seine Gehorsamspflicht gegenüber der
politischen Führung ende, und zwar in den Fällen "veränderter Sach-
lage" oder "ernstester Bedrohung von Volk und Staat"Sl. Was hier nur
in einem besonderen Bereich für das soldatische Verhältnis von Befehl
und Gehorsam in einem sonst noch intakten Staatswesen anerkannt
und allein dem hohen Offizier gegenüber seinem obersten militärischen
oder politischen Vorgesetzten zugebilligt wird - ein Gehorsamsverwei-
gerungsrecht, das muß man ausnahmsweise auch dem einzelnen in der
allgemeinen Staats- und Rechtsordnung für das staatsbürgerliche Ver-
hältnis von Gesetzesgebot und Gesetzesbindung zuerkennen - ein Wi-
derstandsrecht 52 . Ein .entscheidender Unterschi.ed zwischen den beiden
vorstehend ins Auge ge faßten Sachlagen ist der: im ersten Falle wird
das Bestehen eines noch unversehrten, dem Recht grundsätzlich ver-
pflichteten Staates angenommen, im zweiten wird von dem Vorliegen
einer verbrecherischen, das Recht weitgehend verachtenden Tyrannei
ausgegangen. Wer in einem geordneten und rechtlichen Gemeinwesen
als Weltverbesserer, "Friedenskämpfer", Rüstungsgegner oder Staats-
verdrossener bestehende Gesetze verletzt, kann sich nicht etwa auf ein
Widerstandsrecht berufen, wie eigentlich selbstverständlich sein sollte,
heute aber klarzustellen vielleicht nicht ganz unnötig ist. Wenn dage-
gen in einer Extremsituation wie unter dem NS-System der Staatsap-
parat zum großen Teil korrumpiert ist und die Staatsorgane selbst
Straftaten (KZ-Massenmorde, Terrorurteile, Rechtsbrüche usw.) be-
fehlen oder begehen lassen, dann schuldet der einzelne Staatsbürger
solch einem Regime keine Loyalität mehr. Wer sich gegen die NS-Herr-
50 Schwinge, Gehorsam und Verantwortung, Deutsch. Rechtswiss. 2. Heft
1939, S. 119; ders., (Soldatischer) Gehorsam und Verantwortung, in: Mitteil.
des Universitätsbundes Marburg, 3. Heft (Sept.) 1939, 2. (im Elwert-Verlag
Marburg erschienene und verbotene) Auf!. (Ende) 1939.
51 Eine solche Situation war z. B. für die 1942/43 vor Stalingrad einge-
schlossene 6. deutsche Armee gegeben, als General v. Seydlitz-Kurzbach
den Oberbefehlshaber Paulus vergeblich aufforderte, entgegen Hitlers Befehl
zur "Einigelung" aus dem Kessel auszubrechen, um über 200 000 Mann zu
retten; s. Gribbohm, Zwischen Widerstand und Verrat - Der Fall Seydlitz
vor dem Reichskriegsgericht, JuS 1976, 629.
52 Es ist nicht überzeugend, dieses Recht - in seltenen Ausnahmefällen!
- nicht auch dem militärischen Unterführer oder einfachen Soldaten zubil-
ligen zu wollen. Daß das Widerstandsrecht nicht nur hohen Amtsträgern,
sondern auch einzelnen Bürgern zustehen muß, dafür ebenfalls Weinkauff
(Fn. 48), S. 152 ff.; s. ferner Art. 20 IV GG.
Unrechtsurteile der NS-Zeit 197

schaft auflehnte, handelte daher, wie der BGH in einer den Fall des Prie-
sters Dr. Metzger (5. vorstehend Nr.6) mittelbar betreffenden Entschei-
dung richtig bemerkt hat, "unter äußeren Umständen, die zum geistigen
und sittlichen Widerstand herausforderten und berechtigten"53.
Ein solches Widerstandsrecht war und ist nicht nur in Weiterent-
wicklung des Rechts aus (rechtfertigendem) Notstand (Güterabwägungs-
prinzip)54, sondern auch in Fortbildung des Rechts zur Staatsnothilfe
(Staatsnotwehr im weit. Sinne) Kämpfern gegen die NS-Diktatur wie
den Geschwistern Scholl und ihren Mitstreitern oder den Männern des
20. Juli 1944 zuzubilligen55. Denn sie haben zwar gegen das national-
sozialistische Unrechtsregime, aber für den von diesem korrumpierten
und pervertierten Rechtsstaat gehandelt 56 • Damit waren ihre Hand-
lungen, soweit sie objektiv-tatbestandsmäßig i. S. d. StGB usw. waren,
selbst nach damaligem ungeschriebenen Recht richtig und gerechtfer-
tigt, ihre Verurteilungen und Hinrichtungen durch den VolksGH infol-
gedessen auch materiell rechtlich gesehen eine rechtswidrige Tötung.
Dafür spricht schließlich noch die Tatsache, daß der Nachkriegsgesetz-
geber die Urteile, die auf den von den NS-Machthabern vorzugsweise
zur Vernichtung ihrer politischen Gegner herangezogenen Gesetzen
beruhten, "zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in
der Strafrechtspflege" - wenngleich in einer teils zu allgemeinen, teils
zu engen, auch nicht einheitlichen Regelung57 - aufgehoben hat 58 , wei-

53 BGHSt. 9, 302/303, 306 = NJW 1956, 1485, 1486 1. Sp. Zur Rechtsprechung
s. noch BVerfGE 5, 85/86, 376 ff.; BGHZ JZ 1959, 770; BGHZ NJW 1962, 195;
BGH, in: Justiz und NS-Verbrechen, XIII. Bd. (1975), S.344, 352, und zu die-
sem Urteil über die "Standgerichtsverfahren" gegen Admiral Canaris u. a.
kritisch Spendel, Klug-Festschrift, 1983, 11. Bd., S.375, 391 f. = ders., Rechts-
beugung durch Rechtsprechung, 1984, S.89, 108 ff., 110 ff. Zur Rechtslehre
z. B. Weinkauff (Fn.48), S. 139 ff., 157 ff.; v. Schlabrendorff, Staat und Wider-
stand, Leibholz-Festschrift, 1966, I. Bd., S.441, 451; Scheidle, Das Wider-
standsrecht, 1969, S. 38 ff., 63 ff., 153 f. Zur jetzigen Gesetzesregelung s. ab
1968 Art. 20 IV GG.
54 Dafür im wesentlichen Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, 3. Aufl. 1978,
S. 321 f., 322 zu Anm.33, S.273, der in dem jetzt verfassungs rechtlich ver-
ankerten Widerstandsrecht des Art. 20 IV GG "einen Ausschnitt aus dem
Staatsnotstandsrecht" sieht.
55 Ebenso ausdrücklich für die Geschwister Scholl Weinkauff (Fn.48),
S.155.
58 Spendel, in: LK, 10. Aufl., 30. Lfg. 1982, § 32 Rdn. 159 ff., 161 Anm.340;
s. auch Weinkauff (Fn.48), S. 148; Ernst v. Hippel, Zum Problem des Wider-
standes gegen rechtswidrige Machtausübung, in: Arthur Kaujmann/Backmann
(Hrsg.), Widerstandsrecht, 1972, S. 416, 417.
67 So können schwerlich alle Strafurteile aus der NS-Zeit, die gemäß § 83
oder § 91 b StGB ergangen sind, als rechtswidrig angesehen werden, da diese
Vorschriften nicht typisch nationalsozialistisch, vielmehr damals geltendes
Recht waren, so z. B. BGHSt. 9, 302/303, 305; s. weiter die heute wieder be-
stehenden Bestimmungen gegen Hoch- und Landesverrat.
68 Vgl. die einschlägigen Wiedergutmachungsgesetze wie das Bayer. Ges.
Nr.21 vom 28. Mai 1946 (Bay. GVB1. 1946, S. 180), nach dem die Todesurteile
198 Günter Spendel

ter die Präambel des BundesentschädigungsGes. i. d. F. vom 29.6.1956,


wonach den Verfolgten des NS-Regimes "Unrecht geschehen ist".
Den vorstehend angeführten Fällen und Entscheidungen ließen sich
noch viele hinzufügen. Sie allein reichen schon hin, um auf die Justiz
unter dem NS-Regime einen dunklen Schatten zu werfen. Zusammen
mit den zahlreichen anderen Unrechtsurt,eilen, seien sie nun vom Volks-
gerichtshof, von den Sonder-, Kriegs- oder Standgerichten, seien sie von
den Zivil-, Arbeits- oder VerwaItungsgerichten gefällt, ergeben sie ein
erschütterndes Bild, wie leicht und wie schnell eine Perversion der
Rechtsordnung und der Rechtsprechung eintreten kann. An diesem
schmerzlichen Eindruck ändert auch nichts die Tatsache, daß sich Rich-
ter in so manchen kritischen Fällen um gerechte oder doch vertretbare
Entscheidungen bemüht und in ,einer Vielzahl üblicher Fälle wie vor
1933 geurteilt haben59•
Eine Richterschaft und eine Rechtswissenschaft aber, die weder zur
Selbsterkenntnis und Selbstkritik noch zur Verurteilung fremder
SchandurteHe bereit sind, werden nicht zu einer wahren Rechtspre-
chung findenGO, sondern bestenfalls zu einer mehr oder minder brauch-
baren Rechtstechnik führen, die allzu leicht wieder in den Dienst
totalitärer Mächte gestellt werden kann. Die Nachkriegsjudikatur hat
mit so manchem bedauerlichen Freispruch und Fehlurteil zu den
Justizverbrechen der NS-Zeit eine Geisteshaltung offenbart, die nicht
immer hoffnungsvoll stimmt. Vergessen wir jedoch nie, daß wir Men-
schen zum Leben das Recht wie die Luft zum Atmen brauchen und daß
nach einem alten Wort Gerechtigkeit das Fundament der Staaten ist!

gegen die Geschwister Scholl und Probst in Bayern aufgehoben sind, s.


Weber/Engel, Der Film die "Weiße Rose" und die Rechtslage bei Urteilen
des Volksgerichtshofs, JZ 1983, 192; Fikentscher/Koch, Strafrechtliche Wie-
dergutmachung nationalsozialistischen Unrechts, NJW 1983, 12, 13 1. Sp.;
Verlautbarung des Bayer. Justizministeriums in Südd. Zeit., Nr.248 v. Mi.,
27. Okt. 1982, S. 2.
so Ebenso im wesentlichen Gribbohm, Richter und Strafrechtspflege im
Dritten Reich, in: Justiz und Drittes Reich, Schriftenr. d. Akad. Sankelmark,
NF 57, 1984, S. 15, 16/17.
60 Wenn neuerdings Rezensenten zu des Verfassers Buch "Rechtsbeugung
durch Rechtsprechung" (1984) meinen, eine Charakterisierung der Justizver-
brechen als "Schandurteile" , "NS-Greuel" usw. und die Kritik an der unzu-
reichenden Nachkriegsjustiz seien zu sehr von "moralischer Entrüstung"
(Küper in JZ 1984, 470) und "Emotionen" (Gribbohm in ZRP 1984, 334) ge-
prägt, so ist dem zu entgegnen: Man kann ein Todesurteil wegen "Rassen-
schande" oder andere richterliche Rechtsbrüche nicht in lauer und innerlich
unbeteiligter Stellungnahme wie ein anfechtbares falsches Betrugsurteil etwa
bloß als "Fehlurteil" bezeichnen (s. auch Wassermann, in: "Recht u. Politik",
1984, S.112; UZr. Weber, JR 1984, 394). Jurisprudenz erfordert nicht nur einen
kühlen und wägenden Rechtsverstand, sondern auch ein warmes und siche-
res Rechtsgefühl. Wissenschaftlicher Gleichmut wird sonst allzu leicht zur
ethischen Gleichgültigkeit.
Strafrecht - Allgemeine Lehren
JOsE MARtA RODRtGUEZ DEVESA

Nullum crimen sine culpa


en Ia reforma deI C6digo penal espaiiol en 1983

Los penalistas deI mundo que habla espanol tenemos una incon-
mensurable deuda de gratitud con el Profesor Dr. Hans-Heinrich
Jescheck, Director deI Max-Planck-Institut für ausländisches und in-
ternationales Strafrecht, no se limito a dotarle deI mejor fondo bi-
bliogräfico que hoy existe para conocer el derecho penal iberoameri-
cano. Gracias a la ayuda economica y a la cordialidad dispensadas
a los que a el hemos acudido, ha elevado el nivel de los estudios juri-
dico-penales en nuestros paises y ha permitido establecer contactos
personales que perduran tras el regreso. La apertura de J escheck a
los sistemas juridicos de raiz hispana se ha caracterizado siempre
por la ausencia de dogmatismos incompatibles con su profunde cono-
cimiento deI derecho comparado. Una frase revela su espiritu abierto
a la inacabable busqueda de los ideales de Justicia que deben inspirar
a los juristas: «Es gibt keine Verbrechenslehre, die mehr sein kann als
ein vergänglicher Entwurf»1. Una conciencia de la relatividad intrin-
seca al Derecho penal, que suele estar ausente en aquellos que des-
conocen la verdadera indole de la llamada Ciencia deI Derecho, puro
invento para acercarnos a esa dificil meta de la convivencia. Pu es el
Derecho, en definitiva, pretende elevar a categorias conceptuales una
realidad que, de continuo, escapa a ese tratamiento, porque el ser
humano, su protagonista, es individual e irrepetible al modo de las
hojas de un arbol jamäs identicas.
La influencia alemana sobre el derecho penal espanol comienza en
1914, con la version castellana deI primer volumen de la Parte general
deI Tratado de Franz von Liszt por Quintiliano Saldafia y Jimenez de
Asua. Siguio la traduccion en 1936, por Prieto Castro y Aguirre Car-
denas de Die Lehre vom Tatbestand, con el titulo de «EI rector de los
tipos deI delito» y deI Tratado de Mezger con notas de derecho espanol
por mi maestro Jose Arturo Rodriguez Mufioz, quien acuno la termino-
logia que aun se utiliza. Se intensifica dia a dia a una y otra parte
1 Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 3" ed.1978. Hay
traducci6n y adiciones de Derecho espaiiol por Mir PuigfMufioz Conde, en dos
volumenes, 1981.
202 J ose Maria Rodriguez Devesa

deI Atlantico. Una cadena cada vez mas s6lida nos une: la perma-
nente inquietud por lograr construceiones juridicas mas acabadas. EI
eslab6n mas fuerte de esa cadena es Jescheck, con su enorme capaeidad
para penetrar en otros idiomas juridicos demostrada en multitud de
confereneias en Espafia e Hispanoamerica.

I.
Mi aportaei6n al mereeidisimo homenaje al amigo, maestro y colega,
a quien me vinculan estrechos lazos ha largo tiempo, requeriria un
desarrollo mucho mas extenso deI que me puedo permitir. EI alcance
deI nullum crimen sine culpa esta condieionado al concepto deI delito
y al lugar que en el se otorgue a cada una de sus caracteristicas.
Establecer las bases previas para enjuieiar la reforma deI C6digo
penal espafiol en 1983 equivaldria a exponer unos puntos de vista
fruto, eierto es, de un seguimiento atento de la evoluei6n alemana,
pero que se separan de ella desde que se difunde el finalismo, el cual,
pese a no encontrar eco en la doctrina2 , renov6 la dogmatica y la
praxis. Las secuencias secundarias deI finalismo impregnan en creeiente
medida las soluciones a problemas que continuan preocupand03 •
No es momento para destacar corno, por retorcidos caminos, asisti-
mos a un retorno de concepciones cuasi bipartitas y analiticas deI
delito. Acaso de modo deliberado, se elude la implacable critica de
la escuela de Kiel al metodo analitico y la idea de que el delito, en
cuanto comportamiento humano, nos coloca ante un acto vital deI que
no cabe aislar los componentes. Las connotaeiones politicas de la escue-
la de Kiel y su fracaso a la hora de sustituir los viejos elementos por
una concepei6n sintetica, impracticable, no invalidan el hecho de que
el delito haya de considerarse corno un todo, no corno una simple suma
de elementos. Ni quiza sea inutil denuneiar c6mo, por tortuosas vere-
das, resueita un derecho penal de voluntad que se daba por extinto.
La acei6n, termino convencional que utilizo en su mas amplio sen-
tido, sigue en el centro deI universo delictivo. No es posible ya, sin
embargo, establecer, a mi juieio, una tajante distineion entre 10 ob-
jetivo y 10 subjetivo, 10 descriptivo y 10 valorativo, la tipieidad, la
antijuridieidad y la culpabilidad. Sobre todo si se admite que las dos

2 J escheck, Lehrbuch, 170: «Der finale Handlungsbegriff hat sich in Deutsch-


land nur in einem Teil der Strafrechtswissenschaft durchgesetzt ... Im Aus-
land ist der finale Handlungsbegriff überwiegend auf Ablehnung gestoßen ...»
Mas radical, Tiedemann, Estado actual y tendencias de la ciencia juridico-
penal y de la criminologia en la Republica Federal de Alemania en Cuadernos
de Politica Criminal, mim. 14 (1981), 267: «EI finalismo no ha podido imponerse
corno teoria general de la accion».
3 Cfr. Jescheck, Lehrbuch, 170.
Nullum crimen sine culpa en la reforma deI C6digo penal 203

uItimas caracteristicas mencionadas son graduables, algo que se mani-


fiesta en la diversa desaprobacion legal.
Me separo de la opinion dominante al estimar que la ausencia de
causas de justificacion es un elemento negativa deI tipo deI injusto4.
Por ello infiero, corno es obvio, consecuencias muy distintas de las que
algunos atribuyen al error sobre el tipo y al error de prohibicion tras
la reforma alemana de 1975, terminologia que no pasa de ser una no-
menclatura condicionada al concepto deI delito que se sustente5 •

H.
A pesar de ello he elegido este tema. La reforma producida por la
«Ley organica 8/1983, de 25 de junio, de Reforma Urgente y Parcial deI
Codigo Penal» (B.O.E. num. 152 deI 27), no se limita a modificar el
art. 1 e introducir dos nuevos preceptos sobre el error y el caso
0

fortuito. Han creido con tales novedades consagrar «explicitamente


el principio de culpabilidad, eliminando la responsabilidad objetiva
y la cualificacion por el resultado y admitiendo la operatividad juri-
dico-penal deI error», segun declaro el Ministro de Justicia ante el
Senado (Diario de Sesiones, 618) al iniciarse la discusion deI Proyecto
de reforma parcial y urgente deI C. p. de 26 febrero 1983. No estuvo
afortunado en el turno de replica, al dej arse llevar por el calor deI
debate y aseverar que con la reforma se prescindia en los delitos
contra la propiedad (recte, en determinados delitos contra la propie-
dad) de que la pena este en funcion de la cuantia. Inexacto, porque
la cuantia sigue pesando, en menor medida que antes, en los delitos
de robo con fuerza en las cosas y para trazar la fronte ra entre los
delitos y las faltas de hurto, estafa, apropiacion indebida, incendio y
daiios 6 • La reforma esta inspirada, en los arts. 1 Y 6° bis a), en la ale-
0

mana de 1975 de 1a que toma literalmente algunas expresiones.


EI presente trabajo se contrae a un acopio de materiales para faci-
litar estudios posteriores mas detenidos. Expondre el confuso debate
4 Cfr. Jescheck, Lehrbuch, 199: «..• dieser verbreiteten Theorie ... » Sobre
las consecuencias en orden a la interpretaci6n deI § 16 deI C6digo penal aleman,
op. cit. 374.
~ Las dificultades para delimitar el error sobre el tipo y el error de prohibi-
ci6n se muestran, por ejemplo, en los que Jescheck, Lehrbuch, 372, denomina
«casos limites», y en el error sobre circunstancias que de concurrir obligarian
a apreciar una causa de justificaci6n, un error «eigener Art», segun Jescheck,
op. eit. 373.
• Aparte de dejar intactos los delitos y faltas de incendios y danos, se
mantiene el criterio deI valor de la cosa 0 deI perjuicio, causado en los delitos
y faltas de hurto, estafa y apropiaci6n indebida. Ademas se consideran hurtos
cualificados los que revistan «especial gravedad atendiendo al valor de los
efeetos» (art. 516, 3a ), 10 mismo que en la estafa cualificada deI art. 529, 73 ; un
factor de indeterminaci6n que perfora el principio de legalidad.
204 Jose Maria Rodriguez Devesa

parlamentario, previa transcripci6n deI Proyecto 1983. Son inevitables


unas breves consideraciones criticas sobre el texte definitivo. Para
terminar, se imponen unas conclusiones provisionales que resuman
el alcance de la reforma respecto al nullum crimen sine culpa.

III.

EI Proyecto 1983 proponia redactar el art 1 0 deI C. p., corno sigue:


«Son delitos y faltas las acciones y omisiones dolosas 0 culposas pe-
nadas por la ley.
No hay pena sin dolo ni culpa. Cuando la pena venga determinada
por la producci6n de un ulterior resultado mas grave, s610 se respon-
dera de este si se hubiere causado, al menos, por culpa7 ».
Redacci6n anterior: «Son deli tos 0 faltas las acciones y omisiones volun-
tarias penadas por la 1ey. - Las acciones y omisiones penadas por 1a 1ey se
reputan siempre vo1untarias a no ser que conste 10 contrario. - EI que come-
tiere voluntariamente un delito 0 falta incurrirä en responsabilidad criminal,
aunque el mal causado fuere distinto deI que se habia propuesto ejecutar.»
Varias enmiendas se presentaron en e1 Congreso, una de ellas a la
totalidad por el grupo centrista (enm. 97), para que no se introdujera
modificaci6n alguna. La enm. 62 (Calero Rodriguez) pedia que s610 se
suprimiera la palabra «voluntarias» y se sustituyera «delitos y faltas»
por «delitos 0 faltas»8. La enm. 186 CPerez Royo) perseguia sustituir
«culposas» y «culpa» por «imprudentes» e «imprudencia», palabras
que «son las que utiliza ya el propio C6digo y se corresponden con las
que emplea 1a doctrina contemporanea», ademas de ser mas compren-
sibles «para el lego». EI grupo popular (enm. 1) solicit6 la supresi6n
deI parrafo segundo «por innecesario».
La Ponencia acept6 la enm. 62 en 10 relativo a emp1ear la conjun-
ci6n «0». En la Comisi6n se di6 por decaida la enm. 97 y se retir6 la
enm. 62, dandose por satisfecho el enmendante con la aceptaci6n por
la Ponencia de una parte de ella, retirandose la enm. 1. La enm. 186
obtuvo un solo voto a su favor. EI texto deI proyecto se aprob6, con
la unica alteraci6n indicada, por unanimidad CD. Sesiones, 510 s.). EI
Pleno deI Congreso rechaz6 la enm. 186 por 229 votos en contra, 38 a
favor y 2 abstenciones, si bien el grupo socialista, por boca de Cuesta
Martinez, manifest6 que 1a propuesta estaba de acuerdo con «la dogma-

7 Proyecto 1980, art. 3°: «No hay pena sin culpabilidad. Cuando 1a pena
venga determinada por 1a produecion de un ulterior resultado mas grave,
solo se responderä de este si se hubiere causado, al menos, por culpa».
8 Fundamento: «Suponemos que es un error de imprenta sustituir la con-
juncion disyuntiva tradicional correctamente incluida en nuestros Codigos,
incluso en el Proyecto de 1980, por la copulativa».
Nullurn crirnen sine culpa en Ia reforrna deI C6digo penal 205

tica moderna», fundando el rechazo en que admitirla retrasaria la


«tramitaci6n, por cuanto acarrearia la necesidad de plantear concor-
dancias con el reste deI articulado» (D. Sesiones, 1193); el texte se
aprob6 por 260 votos a favor, 9 en contra y 5 abstenciones (D. Sesiones,
1194). En el Senado no se formul6 ninguna enmienda.

IV.
EI Proyecto 1983 postulaba introducir un nuevo art. 6° bis a) deI
siguiente tenor:
«EI error invencible sobre un elemento integrante de la infracci6n
penal 0 que grave (sie) la pena, excluye la responsabilidad criminal
o la agravaci6n en su caso.
Si el error a que se refiere el pärrafo anterior fuere vencible, aten-
didas las circunstancias deI hecho y las personales deI autor, la in-
fracci6n sera castigada corno culposa.
La creencia err6nea e invencible de estar obrando licitamente ex-
cluye la responsabilidad criminal. Si el error fuere vencible se obser-
varä 10 dispuesto en el articulo 66»9.
EI (mico antecedente es Proyecto 1980, art. 20 «EI error probado 0 invencible
sobre un elernento integrante de Ia infracci6n penal 0 que agrave Ia pena,
excluye la responsabilidad crirninal 0 la agravacion en su caso. - Si el error
fuere vencible. atendidas las circunstancias deI hecho y Ia personalidad deI
autor, la infraccion sera castigada, en su caso, corno culposa. - La creencia
err6nea probada e invencible, de estar obrando licitarnente excluye Ia respon-
sabilidad crirninal. Si el error fuere vencible se observant 10 dispuesto en el
art.8Po.» Fue objeto de nurnerosas enrniendas que no llegaron a discutirse
por concluir Ia Iegistatura. EI grupo socialista pidi6 que se suprimiera el
adjetivo «probado» (enm. 268), que el parrafo segundo se sustituyera por un
texto alternativo, igual al deI Proyecto 1983 salvo pequefias variantes, corno
afiadir al final «tmicarnente cuando este prevista en Ia ley corno culposa»
(enm.269) y que se agregara al parrafo tercero «0, atendiendo a las circuns-
tancias deI hecho y deI autor, se declarara en su caso, la exenci6n de respon-
sabilidad crirninal deI sujeto.» Adernas se presentaron otras, hasta un total
de oncel l .
Solicitaron la supresi6n deI nuevo articulo, en el Congreso, las
enms. 98 (grupo centrista) y 267 (minoria catalana). La enm. 187 (grupo
mixto) ofreci6 un texto alternativo ubicado en un cap. V bis, a situar
despues de las eximentes, atenuantes y agravantes, con el mIm. 11 bis,

g EI art. 66, pärrafo prirnero, se refiere a la pena a imponer si concurren


exirnentes incornpletas. EI parrafo segundo rnantiene una inutil referencia
al art. 64 que ha quedado sin contenido despues de la reforma.
10 EI art. 81 deI Proyecto 1980 irnponia, caso de exirnentes incornpletas, la
pena inferior en un grado.
11 Una transcripci6n de las restantes enrniendas en rni Derecho penal
espafiol Parte general, 8a ed. 1981, 601.
206 J ose Maria Rodriguez Devesa

por entender que anteponerlo <diene efectos perturbadores» y la justi-


ficaba a titulo de mejora «tc~cnica» al distinguir entre error sobre ele-
mentos esenciales y agravantes, y eliminar la palabra «err6nea» deI
pärrafo ultimo a fin de evitar «que se prejuzgue la posici6n sistemä-
tica deI error en la teoria deI delito». Rechazadas, con el resto de las
enmiendas por la Ponencia, estas que se referian a la totalidad 10 fue-
ron tambien en la Comisi6n12 •
La Comisi6n comenz6 por las enmiendas que propugnaban que se
eliminara el articulo. La enm. 98 se mantuvo a los efectos de votaci6n.
La enm.267 no se fund6 en que no fuera regulado el error, sino en que
la redacci6n no era la «optima» y haber carecido de tiempo para «con-
seguir u obtener una redaccion distinta 0 alternativa al texto deI pro-
yecto», por 10 que - afirm6 Trias de Bes - «seria conveniente posponer
la introducci6n de un elemento tan importante corno es el deI error»
para el futuro Codigo penal, anunciado por el Gobierno, a 10 que
replic6 Cuesta Martinez considerando positiva la inclusi6n «de la
teoria dei error, entre otras cosas porque acuiia el contenido de inten-
sificar la vigencia deI principio de culpabilidad ... acuiiando esta
imagen por 10 novedoso que significa dentro de la reforma penal
espaiiola» (D. Sesiones, 511).
La enm.63 (Calero Rodriguez) para suprimir el «error dei tipo»,
fue retirada. La enm.285 (grupo vasco) basada en que por «ser ele-
mento deI dolo el significado antijuridico deI acto y el falt ar la con-
ciencia de la antijuridicidad en los supuestos de error vencible sobre
la prohibicion, resuIta mas adecuado en tales supuestos calificar la
conducta corno culposa», fue defendida por Vizcaya Retama, a quien
opuso Cuesta Martinez que el texto dei proyecto era «mas tecnico»,
que entraba en distinciones «que la filosofia deI proyecto no establece»
y que no ofrecia «una formula expresa» (D. Sesiones, 512). La enm.58
(grupo popular) para subsanar el «grave» sustituyendolo por «agrave»
se acepto por asentimiento (D. Sesiones, 513). La enm.2 (grupo popu-
lar) trataba de incluir, corno en el Proyecto 1980, que el error fuere
«probado» y adicionar al parrafo un inciso: «sin perjuicio de la res-
ponsabilidad en que pudiera haberse incurrido si el hecho fuera en-
cuadrable en al gun otro tipo delictivo»; defendida por Ruiz Gallard6n
se opuso Cuesta Martinez «por dos motivos: en primer lugar, la parte
final de la formulaci6n de esta enmienda parece que incurre en cierta
contradiccion y que dej aria el texto deI proyecto con una oscuridad
absoluta, porque parece que hay una cierta contradicci6n entre 10
que se pretende con el error y el giro gramatical <sin perjuicio de la
12 La enm.98 obtuvo un voto a favor, 19 en contra y 10 abstenciones; la
enm. 187, uno a favor, 29 en contra; la enm. 267, uno a favor, 19 en contra con
10 abstenciones (D. Sesiones, 517).
Nullum crimen sine culpa en Ia reforma deI C6digo penal 207

responsabilidad> », y de otra parte, la precisi6n de que el error ha de


ser probado «es obvia» (D. Sesiones, 513), replicando Ruiz Gallard6n
que el adjetivo probado «equivale a sefialar la excepcionalidad de la
alegaci6n deI error, es decir, obligar a aquel que pretende ampararse
en el error a que acredite de manera suficientemente convincente
-naturalmente los Tribunales penales juzgan en conciencia- que no
sea simplem ente una alegaci6n», insistiendo en que no se estimaba su-
perflua la adici6n deI ultimo inciso porque «hay muchas conductas
en las cuales el error sobre una de las circunstancias integrantes de
la infracci6n penal puede hacer surgir a la vida punitiva deI De-
recho ... la aparici6n de una nueva figura delictiva que, si no se dice
expresamente, pudiera entenderse que quedaba tambien sin posibili-
dad de pena» (D. Sesiones, 513 s.); contest6 Granados CaZderon, aunque
solo en cuanto «no podemos admitir una inversion de la prueba» (D.
Sesiones, 514).
Respecto al pärrafo segundo, la enm. 63 (CaZero Rodriguez) justi-
ficaba la supresion «por la razon de precisar sobre que aspecto de
la infracci6n delictiva versa el error y debe dejarse a criterio judicial
apreciar la circunstancia de cada caso, porque puede originar ciertas
complicaciones a la hora de interpretar el precepto y las consecuen-
cias de hecho que concurren en la infraccion delictiva» (D. Sesiones,
514 s.); replico Lopez Riafio que «eI error de tipo .. se refiere a los
elementos objetivos integrantes de la infracci6n y el error de pro-
hibicion, . .. estä en relacion con el tema de la antijuridicidad con-
templada en cada uno de los tipos que recoge nuestro C6digo, por 10
que si se aceptase esta enmienda quedaria sin sentido la estructura
total deI articulo» (D. Sesiones, 515). La enm.64 (g. popular) para
eliminar el adverbio «unicamente» se aprobo por asentimiento (D.
Sesiones, 516).
EI grupo popular (enm.2) torno a pedir, respecto al parrafo ter-
cero, que se hiciera constar que el error ha de ser probado, enfren-
tandose con los mismos argumentos alegados a proposito de la misma
enmienda al parrafo primero. Excepto las enms. 58 y 64, admitidas
por asentimiento, la Comision rechazo todas, aprobando el articulo
por 20 votos a favor, con 11 abstenciones13 •
Garcia Agudin, en el Pleno deI Congreso, al defender Ia enm. 98,
manifesto que era «un concepto dificil y de alguna forma innecesario ...
porque a la luz deI art. 1 0 • • • cuando haya un error invencible habra
que predicar la exc1usi6n deI delito» , afiadiendo una «raz6n sistema-

13 D. Sesiones, 518. La enm.2 obtuvo 10 votos a favor, 20 en contra y una


abstencion; Ia enm.63 consiguio 11 votos a favor, 19 en contra y una absten-
cion; Ia enm. 285, un vota a favor, 18 en contra, 10 abstenciones.
208 J ose Maria Rodriguez Devesa

tica», pues «eI tema encajaria mejor en el articulo que ha ce referen-


cia a las circunstancias eximentes» y, por ultimo, que la «definici6n
entre error vencible e invencible esta acufiada por la jurisprudencia ...
de suerte que, en su caso, el hecho de que sea consciente 0 no justi-
ficado el error en el que ha actuado, puede dar lugar a mas compli-
caciones, porque si no hay elemento punitivo, si no hay ni siquiera
culpa, se excluye la responsabilidad» (D. Sesiones, 1194). Trias de Bes,
defendiendo la enm. 267, dijo que «tal corno viene redactado el pre-
cepto ... quedan conceptos indeterminados; que no quedan suficien-
temente explicitadas 0 determinadas las diferencias entre el error en
el tipo 0 error de prohibici6n» y que, a causa de «la rapidez con que
se ha debatido el proyecto nos ha sido imposible presentar una en-
mienda de texto alternativo, en conceptos tan dificiles», de modo que
«seria bueno reflexionarlo con serenidad y, en comparaci6n con otras
legislaciones, introducirlo en un articulo que no suscite las dudas que
este puede suscitar», estimando, a titulo de ejemplo, «que es mucho
mejor ... la regulaci6n que hace el Codice penale italiano, el cual de-
dica tres articulos enteros con matizaciones mucho mas precisas».
L6pez Riafio refut6 las enmiendas a la totalidad por considerar que
el art. 6 0 bis a) es una consecuencia ineludible deI art. 10 al introducir
«una doctrina y una tecnica sobre el error. Porque l,que es el dolo?
Conocer y creer (sie) los elementos objetivos deI tipo legal. Y, l,cuando
se da el elemento intelectual deI dolo? l, Cuando puede ocurrir el cono-
cimiento 0 desconocimiento deI tipo? Es decir, es imposible de se-
fialar ... de que forma puede incurrirse en error respecto deI cono-
cimiento de esos elementos objetivos», siendo, a su juicio, el articulo
en cuesti6n «verdaderamente magistral», y explic6 el diverse alcance
deI error vencible sobre el tipo 0 la prohibici6n, porque en este «puede
coexistir un desconocimiento de la antijuridicidad vencible con una
acci6n dolosa» (D. Sesiones, 1196 s.). Ambas enmiendas fueron recha-
zadas14 •
Calero Rodriguez, al pedir que se suprimiera el primer parrafo
(enm.63), volvi6 a invocar el C6dice penale italiano, insisti6 en que
el art. 1 10 hacia innecesario y afiadi6 que «eI error en sus dos di-
0

mensiones y en sus dos aspectos, vencible e invencible, 6 se regul6


bien 6 no se regula, y para regularlo bien habria sido preciso ... algun
articulo mas, teniendo en cuenta todas las aristas que presenta este
arduo probIerna». L6pez Riafio, al contestar, reconoci6 que «realmente
es dificil cuando se tratan problemas doctrinales, establecer en la
14 D. Sesiones, 1202. La enm.98 se rechaz6 por 165 votos en contra, 39 a
favor y 70 abstenciones; la enm.267, a favor 36, en contra 167, abstenciones
70; la enm. 63, a favor 93, en contra 165, abstenciones 17; Ia enm. 2, a favor 99,
en contra 165, abstenciones 10. EI articulo se aprob6 por 182 votos a favor,
77 en contra y 15 abstenciones.
Nullum crimen sine culpa en Ia reforma deI C6digo penal 209

Camara si una cosa esta bien 0 mal hecha», pero creia «sincera y hon-
radamente que no hay otra solucion en terminos tecnico-juridico-pe-
nales, despues de admitido el art. 1 0 ». Calero Rodriguez indico que
retiraria su enmienda si se admitiese la adicion de que el error fuera
«probado», de acuerdo con la enm.2, defendida a seguido por Ruiz
Gallard6n (D. Sesiones, 1197 ss.). Subrayo este que el Consejo General
deI Poder Judicial se habia limitado a valorar de modo positive «la
acentuacion deI caracter culpabiIista de nuestra legislacion penal, me-
diante un acertado retoque deI art. 1 Y la especificacion de los efec-
0
,

tos deI error segun sus diferentes clases» y, al no afiadir nada mas, no
impedia el examen de las formulas empleadas. Adujo, corno doctrina
mas clasica, la de Jimenez de Asua que, «eI mismo 10 reconoce», se
apoya en Beling, a favor de que el error, ademas de esencial e in-
vencible, ha de ser probado. Asevero que el proyecto dejaba «sin re-
gulacion 10 que la doctrina llama el remanente culposo ... Puede haber
un error que excluya el dolo, pero ese mismo error puede no excluir
la culpabiIidad, la necesidad, por tanto, de ese segundo inciso ultimo ...
de preservar la posibilidad de que el hecho sea encuadrable en otro
tipo deIictivo», aludiendo a «la mas reciente doctrina que se ha
ocupado deI tema ... , en la obra de Luis Rodriguez Ramos, publicada
en la revista juridica La Ley»15. Lopez Riafio agradeciendo el recuerdo
de «la figura deI profesor JimEmez de Asua», se opuso, porque «la tec-
nica y la doctrina jurisprudencial avanza» y «la redaccion de los pa-
rrafos 15, 16, 17 Y 59 deI vigente Codigo penal aleman pu so fin a esta
discusion planteada en la doctrina de otros paises centroeuropeos» (D.
Sesiones, 1199). Ruiz Gallardon objeto de nuevo los inconvenientes que
podian seguirse en aquellos casos en los que «se hubiera alegado el
error, por ejemplo, en todos los supuestos de preterintencionalidad
que hayan sido estimados de una u otra manera y que resulte de las
consecuencias f:kticas de los hechos declarados probados» 10 que
introduciria «un elemento de inseguridad juridica en orden a la revi-
sion de las penas y, consiguientemente, y antes de la sentencia, poste-
riormente la paralizacion de la Administracion de Justicia", repro-
chando a L6pez Riafio no haber dicho «una sola palabra» sobre el «re-
manente culposo» (D. Sesiones, 1200), el cual reconocio la omision,
pero advirtio que «si lee serenamente el art. 6 0 vera que es justamente
el parrafo segundo deI proyecto» (D. Sesiones, 1200).
Al defender la enm. 285 al parrafo tercero, Vizcaya Retama observo
que estaba mal recogida «por culpa de este portavoz» y deberia «sefia-
lar en el parrafo tercero, en el ultimo inciso <si el error fuere vencible
se observara 10 dispuesto en el parrafo anterior> ». L6pez Riafio, al

15 Rodrigllez Ramos, Error sobre el tipo y error de prohibici6n en el pro-


yecto deI C6digo penal en La Ley, 5 diciembre 1980, 1 s.

14 Festschrift für H.-H. Jescheck


210 J ose Maria Rodriguez Devesa

oponerse, advirtiO que, «cuando se habla al final deI articulo de la


remisi6n al art. 66 . .. es porque la antijuricidad vencible... supone
que estamos viviendo en una sociedad 10 suficientemente civilizada
para que los ciudadanos venzan habitualmente esa ignorancia respecto
de las leyes 0 respecto de las prohibiciones», aunque «podria ocurrir
que en un momento determinado, un sujeto no estuviese en esa linea
media de entendimiento de que determinados hechos son antijuri-
dicos», ello no es obstaculo «para que su acci6n haya sido dolosa», si
bien da existencia probada a 10 largo deI juicio de un cierto grado
de error vencible, atenua ... la responsabilidad», argurnentos que mo-
tivaron el que Vizcaya Retama se die ra por «convencido» y retirase
la enmienda (D. Sesiones, 1201). EI art. 6° bis a) se aprob6 en el Con-
greso por 182 votos a favor, 77 en contra y 15 abstenciones (D. Sesio-
nes, 1202).
En el Senado, la Ponencia admiti6 por unanimidad la enm.44 (grupo
nacionalista vasco) para introducir en el parrafo segundo el adjetivo
«esencial», y rechaz6 por mayoria la enm.1 (grupo popular) para
aiiadir al parrafo tercero un ultimo inciso, despues de la referencia
al art.66, al objeto de que «atendiendo a la estructura deI delito en
concreto 0 a las circunstancias deI hecho y personales» el tribunal
pudiera «fundadamente eximir de pena». La enm.47 (grupo Cataluiia),
de supresi6n deI articulo por no corresponder al «propio objetivo deI
proyecto» de reforma urgente y ser la regulaci6n propuesta «incom-
pleta y poco clarificadora», se rechaz6 por unanimidad.
Defendida la enm.47 en el Pleno deI Senado por Oliveira y Terra-
das, su oponente, Rodriguez Pardo, manifest6 que «de 10 unico de que
se trata es de intro duc ir el error corno concepto de exculpaci6n dentro
de las circunstancias genericas para la comisi6n deI delito». Retirada,
el articulo se aprob6 por unanimidad (D. Sesiones, 621).

V.

EI Proyecto 1983 incluia, tambien, un nuevo articulo 6° bis b) de


este tenor:
«Si el hecho se causare por mero accidente, sin dolo ni culpa, deI
sujeto, se reputara fortuito y no sera punible».
Proyecto 1980, art. 21: "Si el hecho se cometiere por mero accidente, sin
dolo ni culpa deI sujeto, se reputara fortuito y no sera reprochable a su autor».
De las tres enmiendas presentadas, la 271 (grupo socialista) ofrecia un texto
alternativo igual al deI Proyecto 1983, excepto en la coma que sigue a «culpa»
y una minima discrepancia «<comete» en lugar de «causare»); la 862 (grupo
comunista) 10 reput6 superfluo, y la 1445 (coalici6n democrätica) sostuvo
debia incluirse en el art.26 (causas de exenci6n) con el mim. 4 bis. No figu-
0
Nullum crimen sine cu1pa en 1a reforma deI C6digo pena1 211

raba en e1 Proyecto 1982, pero 1a enm.226 (grupo socialista) solicitaba 1a


inc1usi6n en los mismos terminos que en 1983.

Hubo cuatro enmiendas en e1 Congreso. La 3 (grupo popu1ar) para


sustituir «no sera punib1e» por «no sera reprochab1e al autor». La 98
(grupo centrista), coineidia con 1a 188 (Perez Royo) y 1a 286 (grupo
vasco) en pedir que se suprimiera. La Poneneia rechaz6 todas. Vizcaya
Retama (enm.286) calific6, en 1a Comisi6n, e1 articu10 de «innecesario
y reiterativo», a 10 que opuso L6pez Riafio que responde a «pura
estrategia ... no porque carezcan de eierto fundamento» las razones
invocadas (D. Sesiones, 521). La enm.2, ca1ificada de «eminentemente
tecnica» por su defensor Ruiz Gallard6n, «porque e1 hecho en si mismo
es punib1e», pero «no es reprochab1e a1 autor, por cuanto tiene ... una
excusa abso1utoria .. », fue contestada por Sotillo Marti de modo 1a-
pidario: «Yo creo que si se 1een las tesis de 1a doctrina finalista a1e-
mana, que estan actua1mente en vigor en cua1quier pais europeo eivi-
lizado y progresista, encontraran corno los conceptos de culpabilidad
se tras1adan haeia la antijuridicidad corno elemento de 1a definici6n
deI delito clasico 16 ... 10 que se esta discutiendo es 10 que antigua-
rnente se llamaba eximente 8a deI C. p.17 ... ya no ligada a los temas de
cu1pabilidad 0 no». Todas las enmiendas fueron rechazadas l8 , apro-
bandose e1 texto de 1a Poneneia por 17 votos a favor, 2 en contra y
10 absteneiones (D. Sesiones, 521).
Garcia Agudin reiter6 en el Pleno deI Congreso 1a enm.98 para
mantener 1a eircunstaneia 8a deI art. 8° sin alterar. Vizcaya Retama
ape16, a favor de 1a supresi6n deI art. 6° bis b), a las manifestaeiones
de L6pez Riafio en la Comisi6n. Vo1vi6 a repetir Ruiz Gallard6n que
1a propuesta de 1a enm. 3 era una mejora tecnica, de acuerdo, primero,
con 1a doctrina a1emana y, segundo, con el espiritu deI art. 1 0, trayendo
a co1aciOn e1 discurso deI Ministro de Justieia (D. Sesiones, 1203). De
1a repuesta de Granados Calero (D. Sesiones, 1204) entresaco estas
frases: «en el Derecho pena1 no se estan enjuieiando solamente hechos,
se estan enjuiciando conductas, claro; pero cuando se enjuicia una
conducta, se va fundamentalmente a 1a imputabilidad y, entonces,
si no es imputable e1 autor, tanto da corno decir que no es punib1e,
en e1 supuesto a que se refiere de que se causare por mero aceidente,
sin do10 ni cu1pa; no es imputab1e, no es punib1e». Rechazadas las tres

16 D. Sesiones, 520. Quedan de un p1umazo fuera de 1a civilizaci6n y de


Europa no solo austriacos, franceses, italianos, suizos e ing1eses, sino aquellos
a1emanes que no comparten 1a doctrina finalista de 1a accion, Vid. supra n. 2.
17 La eximente 88 deI art. 8, hoy sin contenido, recogia antes, segun 1a
opinion dominante que nunca he compartido, e1 caso fortuito.
18 Las enmiendas 98, 188 Y 287 por 27 votos en contra y 2 a favor; 1a enm. 3
por 19 votos en contra y 10 a favor.
212 J ose Maria Rodriguez Devesa

enmiendas 19 , el texto se aprob6 por 180 votos a favor, 14 en contra


y 82 abstenciones (D. Sesiones, 1205).
La Ponencia deI Senado rechaz6 por mayoria la enm. 2 (grupo po-
pular), que proponia un texto alternativo, y por unanimidad la 45
(grupo nacionalista vasco) de supresi6n. Zabala Alcibar-Jauregui man-
tuvo en el Pleno la enm.45, con cita de Ruiz Vadillo, «porque si s610
las infracciones dolosas 0 culposas expresamente tipificadas tienen
el caracter de delitos 0 faltas y, por otro lado, no hay pena sin delito
o culpa (sie), no hay nada, penalmente hablando, en este art. 6° bis b)>>
(D. Sesiones, 622). Replic6 Pardo G6mez que «eI requisito subjetivo
deI dol0 0 de la culpa ... es una cosa y otra distinta es conceptualizar
y dar la definici6n de 10 que se entiende por accidente 0 de 10 que se
entiende por caso fortuito», agregando: «Y lcuando se produce un
mero accidente 0 estamos ante un caso? Precisamente cuando la ac-
ci6n u omisi6n concreta estan carentes de esos dos tintes esenciales
que llevarian consigo la existencia deI delito 0 la falta; es decir, que
no exista dol0 y que no exista culpa. En cualquiera de esos casos esta-
mos ante un mero accidente 0 un caso fortuito». La enm.2 rezaba
asi: «Si el hecho se causare por mero accidente deI sujeto, se reputara
fortuito y no sera punible». Guimera Gil adujo, en su defensa, que la
menci6n «sin dolo ni culpa», no es «en modo alguno clarificadora;
todo 10 contrario, porque ... es un grave error introducir en una defi-
nici6n elementos negativos ... pues ... no se sabe bien cual es su fun-
ci6n y maxime existiendo con caracter generico el art. 1 ° deI C. p.»;
aiiadi6 que podia llevar «a pensar en responsabilidades objetivas»,
que habia una «confusa repetitividad y afirm6 que «modernamente
se sostiene que la culpa inconsciente (que es el caso fortuito) (sic) sale
fuera de la esfera deI Derecho pena1»20. Ambas fueron rechazadas21
por el que debi6 parecer potisimo argumento esgrimido por Rodri-
guez Pardo de que «quiza 10 que abunda no daiia» (D. Sesiones, 624),
con el extraiio resultado de aprobar el art. 6° bis b) por unanimidad
(D. Sesiones, 625).
VI.
Tras el periplo por las Cortes Generales, los tres articulos han que-
dado redactados asi:
19 Las enms. 98 y 286 fueron rechazadas por 166 votos en contra, 39 a favor
y 71 abstenciones; la enm.3 por 173 votos en contra, 89 a favor y 15 absten-
ciones.
20 D. Sesiones, 624. En contra Jescheck, Aufbau und Behandlung der Fahr-
lässigkeit im modernen Strafrecht, 1965, 29: «Die unbewußte Fahrlässigkeit
besitzt eigenen Schuldgehalt und kann nicht aus dem Strafrecht ausgeschie-
den werden», posici6n que mantiene en el Lehrbuch, 450 s.
21 La enm.45 se rechaz6 por 126 votos en contra, 11 a favor y una absten-
cion; la enm. 2 por 100 votos en contra, 42 a favor y 9 abstenciones.
Nullum crimen sine culpa en la reforma deI C6digo penal 213

Art. 1°: «Son delitos 0 faItas las acciones y omisiones dolosas 0 cul-
posas penadas por la Ley. -No hay pena sin dolo 0 culpa. euando la
pena venga determinada por la produccion de un uIterior resultado
mas grave solo se respondera de este si se hubiere causado, al menos,
por culpa».
Art.6° bis a): «EI error invencible sobre un elemento, esencial in-
tegrante de la infraccion penal 0 que agrave la pena, excluye la res-
ponsabilidad criminal 0 la agravaci6n en su caso. - Si el error a que
se refiere el parrafo anterior fuere vencible atendidas las circunstan-
cias deI hecho y las personales deI autor, la infraccion sera castigada,
en su caso, corno culposa. La creencia erronea e invencible de estar
obrando licitamente excluye la responsabilidad criminal. Si el error
fuere vencible se observara 10 dispuesto en el art. 66».
Art. 6° bis b): «Si el hecho se causare por mero accidente, sin dolo
ni culpa 22 deI sujeto, se reputara fortuito y no sera punible».
La Exposici6n de Motivos diee: «Entrando con mayor precisi6n en las ma-
terias abordadas por el presente proyecto (recte, ley), destaca en primer lugar.
la modificaci6n deI texte deI art. 1 deI actual C.p. Con elle se pretende, de
0

un lado, resolver la equivocidad de la referencia a 1a voluntariedad en el modo


en que 10 hace el texte actua1; de otra parte se desea sentar el principio basieo
para desterrar de nuestro si sterna punitivo 1a responsabilidad objetiva y todas
sus manifestaciones. La exigencia deI dolo 0 culpa corno unicos fundamentos
de la responsabilidad criminal se juzga, por consiguiente, corno inaplazable.
Evidentemente las consecuencias de la modificaci6n deI art. 1 deI actual
0

C6digo inciden, por las mismas razones, en los arts. 8°, num. 8, 64 Y 50, parrafo
primero deI mism0 23 , asi corno en la interpretaci6n que habra de (sie) dar a
los diferentes supuestos de responsabilidad criminal se entiende preciso,
ademas, regular los efectos deI error, seglin sus clases, sobre el tipo 0 sobre
la prohibici6n, si bien las reglas punitivas que se ofrecen se acomodan a las
que en el texto actual existen en materia de determinaci6n de pena 0 de titulo
de imputaci6n».
La Propuesta de Anteproyecto deZ nuevo C6digo PenaZ, publicado
sin fecha a primeros de octubre de 1983, fresca alm la tinta de la re-
forma de 25 de junio, no mantuvo los mismos criterios ni la termi-
nologia.
Propuesta 1983, art. 3: «No hay pena sin dolo 0 imprudencia»; art. 14: «Son
deli tos 0 faltas las acciones u omisiones dolosas 0 imprudentes penadas por
la Ley»; art. 17: «1. EI error invencible sobre el hecho constitutivo de la in-
fracci6n penal 0 elemento que agrave la pena, excluye Ia responsabilidad

22 En el Proyecto 1983 habia una coma entre «culpa» y «deI sujeto». Ninguna
enmienda pidi6 la supresi6n de la coma. Desapareci6 en el texto que la Ponen-
cia someti6 al Senado. Por fortuna, porque en eI proyecto el accidente, grama-
tiealmente, se referia al sujeto.
23 Todos eIl os dejados sin contenido en 1983. EI art. 50 contenia Ia regla
para el caso deI parrafo tercero deI art. 1 es decir, cuando el mal causado
0
,

fuera distinto deI que se proponia ejecutar el sujeto.


214 Jose Maria Rodriguez Devesa

criminal 0 la agravacion en su caso. - 2. Si el error fuere vencible, la infrac-


cion sera castigada, en su caso, corno imprudente. - 3. EI error invencible
sobre la ilicitud deI hecho constitutivo de la infraccion penal excluye la res-
ponsabilidad criminal. Si el error fuere vencible, se aplicara la pena inferior
en uno 0 dos grados».
VII.

Creo, a la vista de la hipertrofia de la problernätica de la Parte


general que padece el Derecho penal, que no es ocioso recordar que
la rnedula, la colurnna vertebral, la espina dorsal deI derecho puni-
tivo, es la Parte especial. Los pornposos principos resultan rneras
declaraciones verbales si no hallan eco en la estructura de las diver-
sas figuras de delito. EI nullum crimen sine culpa, la exclusion de
todo vestigio de responsabilidad objetiva, no tropieza solo con los
deli tos cualificados por el resultado, unicos que parece haber tenido
a la vista el legislador espaiiol 24 • La reforrna de 1983 no ha advertido
que persisten los llarnados delitos de sospecha25 cuya estructura ha ce
inutiles las previsiones deI art. 1 0 •
Ejemplos: Arts. 408, parrafo primero: «Cuando rifiendo varios y acometi€m-
dose entre si confusa y tumultuariamente hubiere resultado muerte y no
constare su autor, pero si los que hubieren causado lesiones graves, seran
estos castigados con la pena de prision mayor» (la pena de las lesiones graves
oscila, seg11n el art.420, entre arresto mayor con multa de 30.000 a 150.000
pesetas hasta prision mayor, seg11n la gravedad deI resultado). Otros ejem-
plos: arts. 408, parrafo segundo, 424 (lesiones graves en rifia tumultuaria), 583,
70 (lesiones menos graves en riiia tumultuaria), 483 (detenciones ilegales) 485
(encargado de la guarda de un menor que no diere satisfactoria explicacion
sobre su desaparicion).
Lo rnisrno puede decirse cuando la pena de los delitos dolosos de
lesiones se establece en funcion de la gravedad deI resultado 0 se rnan-
tiene en los deli tos contra la propiedad corno criterio para separar los
deli tos y las faltas la cuantia deI valor de la cosa 0 deI dafio causado.
Ejemplos: arts.420 (lesiones graves), 422 (lesiones menos graves), 583, 1 0

(lesiones leves), 505 parrafo primero (robo con fuerza en las cosas inferior
a 30.000 pesetas), 515, 10 (hurto por mas de 30.000 pesetas), 587, 10 (hurto que no
excediere de 30.000 pesetas), 528 (estafa por mas de 30.000 pesetas), 587 3 0

estafa 0 apropiacion indebida no superior a 30.000 pesetas), art. 597 (daiios


que no excedan de 30.000 pesetas), etc.28 •

24 Antiguos deli tos cualificados por el resultado que subsisten: art. 348
(delitos contra la salud publica con resultado muerte), 411, parrafo ultimo
(aborto con resultado muerte oiesiones graves deI art. 420, 1 488, parrafo
0
).

ultimo (abandono de nifios en circunstancias que pongan en peligro su vida,


si sobreviniere la muerte).
25 Sobre los problemas que plantean los deli tos de sospecha, cfr. mi Derecho
penal espafiol. Parte general, 1981, 425.
26 La Propuesta 1983 no soluciona el probierna. En ella la frontera entre
la falta y el delito de lesiones se fija en ocho dias para la sanidad 0 asistencia
Nullum crimen sine culpa en la reforma deI C6digo penal 215

La divisi6n de las aeciones en dolosas y eulposas, eon pretensiones


exhaustivas, tropieza en el C6digo penal espanol, eon la atenuante 4"
deI art. 9: «La de no haber tenido el eulpable intenci6n de eausar un
mal de tanta gravedad corno el que produjo». En tales hip6tesis es
difieil aeogerse a 10 dispuesto en el art. 1 0, parrafo segundo, ineiso
segundo, porque no existe una figura espeeifiea de homicidio preter-
intencional, ni la produeci6n deI resultado mas grave da lugar a una
asperatio de la pena, sino a una atenuaei6n 27 •
La Propuesta 1983 hace desaparecer deI catälogo de las atenuantes (art. 23)
la preterintencionalidad, siguiendo la linea deI Proyecto 1980, art. 27.

VIII.

La reforma de 1983 ha dejado intactos los argurnentos a favor de la


teoria de que euando se eontraponen dolo y eulpa, el dolo ha de in-
terpretarse corno dolus malus 28 • La imprudencia temeraria se eastiga
euando se «ejeeutare un heeho que si mediare malicia, eonstituiria de-
lito» (art. 565, parrafo primero). Entre las faltas se inseribe el heeho
eometido por «los que, por simple imprudeneia 0 negligencia, sin eo-
meter infraeci6n de los re gl amen tos, causaren un mal a las personas
que, si media re malicia, eonstituiria delito, y los que por eualquier
clase de imprudencia causaren un mal a las personas que, si mediare
malicia, eonstituiria falta (art. 586, 3°), f6rmula que se repite en el
art. 600 para los que «eausen dano en las eosas».
Esta teeniea eonduee a dos eonseeuencias inexorables. La primera
es la de que, mientras no se desprenda otra eosa de la propia ley, las
eonduetas tipifieadas en ella son siempre dolosas. La segunda es que
la malicia es eompatible desde luego, eon las eategorias deI dolo de
prop6sito y dolo de impetu, y eon las formas deI dolo ineondieionado,
sea inmediato 0 direeto de primer grade 0 directo de segundo grade
(resultados neeesariamente uni dos) , pero no eon 10 que se denomina
dolo eondicionado 0 eventual, que en el derecho espanol ha de identi-
fiearse eon la imprudencia temeraria.

mediea (art. 149.1), y considera graves las que dejen al ofendido estern, im-
potente, deforme, eon enfermedad fisiea 0 psiquica ineurable 0 le causen
perdida de miembro, 6rgano 0 sentido 0 le dejen <<impedido de el» (art. 150, 2°);
mantiene la divisoria entre delitos y faltas de hurto, estafa y apropiaci6n
indebida en 30.000 pes etas (arts.227, 243, 247), cifra que marcaria tambien la
divisoria entre delito y falta de utilizaci6n indebida de vehiculos de motor
(art. 237.1).
27 Sobre la direcci6n jurisprudencial al interpretar esta atenuante, cfr. mi
Derecho penal espaiiol. Parte general, 1981, 676 n.59. Tambien Gonzdlez
Liano y otros, C6digo penal. Comentarios y jurisprudencia, 1983, 26 Y 29 s.
28 Cfr. Rodriguez Munoz, Notas al Tratado de Mezger, 3" ed. 1955, 11, 178 ss.
216 Jose Maria Rodriguez Devesa

La politica criminal seguida por el legislador espafiol consiste en


sancionar en principi029 , toda conducta descrita y penada por la Iey
tanto en su forma dolosa, como en Ia culposa. EI C6digo penaI, asigna
siempre una pena inferior a Ia que se impondria al delito doIos030.
Esta politica desemboca en una tecnica simplificadora y se traduce en
las llamadas clausulas generales de los arts. 565,586,3° Y 600.
Parrafo tercero deI art. 565: «Lo dispuesto en los dos primeros parrafos de
este articul0 31 no tendra lugar cuando la pena seiialada al delito (sub inteli-
genda, doloso) sea igual 0 menor que las contenidas en los mismos, en cuyo
caso los Tribunales aplicaran la inmediata inferior a la que corresponda en
cl grado que estimen conveniente».
La cuesti6n de si esta tecnica consagra un crimen culpae 0, por el
contra rio, estamos ante crimina culposa, planteada por primera vez
por Rodriguez Munoz en sus Notas a Ia traducci6n deI Tratado de
Mezger, fue resuelta, con firme apoyo en Ia Ietra de Ia Iey, a favor de
esta ultima tesis. No hay un crimen culpae en el Derecho espafioJ32.
Sin embargo, Ia praxis y un sector de Ia doctrina continuan influidas
por el C6digo penal 1822, que contraponia, como fuentes distintas de
imputaci6n, el delito a la culpa33 10 que explica Ia atenci6n que los
finalistas alemanes y espafioles han prestado a las clausulas generales
para robustecer con su terminologia una pretendida distinci6n entre
desvalor deI acto (imprudencia) y desvalor deI resultado.

IX.
Es preciso esclarecer, al efecto de poder interpretar el alcance deI
error en el art. 6° bis a) de modo correcto, Ia diferencia entre igno-
rantia legis y error iuris 34 . EI C6digo civil espafioI, art. 6, 1 pärrafo
29 Hay numerosas excepciones. En el sentido deI texto, Mir Puig, Adiciones
de Derecho espaiiol al Tratado de Jescheck, 1981, 792 s. Tono L6pez, Sobre
los limites de la ejecuci6n por imprudencia en Anuario de Derecho penal,
1972, 53 ss., llega a una interpretaci6n muy restrictiva en repudio de «la hiper-
trofia de la funci6n penal propia de la epoca» (56).
30 EI C6digo de Justicia Militar de 17 julio 1945 se aparta de esta politica
criminal. No contiene clausulas generales, ni tampoco la pena ha de ser
siempre inferior, alli donde por excepci6n se castigan conductas culposas, a
la correspondiente conducta dolosa.
31 Los dos primeros parrafos se refieren, respectivamente, a los deli tos
cometidos por imprudencia temeraria 0 por imprudencia simple 0 negligencia
con infracci6n de reglamentos. Advh~rtase que la negligencia no equivale en
el derecho espaiiol a la culpa consciente.
32 Cfr. Rodriguez Munoz, Notas a Mezger, Tratado, 3a ed. I (1955) 206 ss.,
88 C6digo penal 1822, art. 1 ° «Comete delito el que libre y voluntariamente
y con malicia hace u omite 10 que la ley prohibe 0 manda bajo alguna pena»;
art. 2°: «Comete culpa el que libremente, pero sin malicia, infringe la ley
por alguna causa que puede y debe evitar».
84 Vease: De Castro y Bravo, Derecho civil de Espaiia. Parte general, 1949,
525 ss.
Nullurn crirnen sine culpa en la reforrna deI C6digo penal 217

primera, declara: «La ignorancia de las leyes no excusa de su eumpli-


miento». Es el mismo prineipio no eserito que informa la jurispruden-
cia franeesa: «nul n'est eense ignorer la 10i»35 y eonsagra de modo
expreso el C6diee penale italiano en el art. 5: «Nessuno pub invoeare
a propia seusa l'ignoranza della legge penale»36.
La ignarantia legis es pro du eta de un desarrollo hist6rico en euyos
origenes se halla el Liber iudieiorum (s. VII) eonocido, en versi6n me-
dieval eastellana, par Fuero Juzg0 37 • La ley ha de observarse «magüer
que diga que non sabie las leyes ni el Derecho» . EI Fuero Real (1255)
continua en esta direeei6n al sostener que las leyes obligan incluso
a las mujeres, los no sabios y los forasteros38 • Las Partidas (1265) esta-
blecieron: «Eseusar no se puede ninguno de las penas de las leyes, par
deeir que las non sabe»39. La confusi6n entre «la neeesidad de irnponer
las leyes a todos (sin excusa) y la valoraci6n deI error juridie040 , hizo
exeeptuar a una serie de personas deI eumplimiento de la ley: «loeo
de tal locura que no sabe 10 que se faze», «mo~o que fuese menor de
eatorzeafios, 0 la moc;a menor de doee», «eaualleros que an adefender
la tierra, e eonquerir la de los enemigos», «aldeanos que labran la
tierra», «0 moran en lugares d6 non ay poblados, 0 de los pastores
que andan eon los ganados en los montes 0 en los yermos, e de las
mugeres, que morasen en tales lugares corno estos»41. Comparto la
opini6n de Federico De Castro y Brava 42 de que reina la mayor de
las eonfusiones entre la ignorantia legis y el error iuris, «Si se admite
la falsa premisa de que el necesario cumplimiento de la ley (la igno-
rancia no excusa) se basa en el deber de eonocer el Dereeho (inexcusa-
bilidad de conocimiento), se llega a la conclusi6n de que todo error
de Dereeho es culpable e inexcusable (errar iuris non excusat»>. En
realidad la regla deI antiguo art. 2°, hoy art. 6°, 1, pärrafo primero,
deI C6digo civil, se refiere «a la eficacia de la ley y deja a las dispo-

35 Cfr. Pradel, Droit penal. Torne I. Introduction generale. Droit penal


general, 1977,39555.
36 Cfr. Bettiol, Diritto penale. Parte generale, 11" ed., 1982,508 5S.
37 Vease Fuero Juzgo, 2 (1,2 Y 3).

38 Vease Fuero Real, 1,6, 1.

39 Prirnera Partida, Tit. I, Ley XX «<Porque razon los ornes no se pueden


excusar deI juyzio de las leyes por dezir que las non saben»). Cfr. Aristateles,
Etica a Nicornaco, trad. Patrido de Azcarate, Buenos Aires, 1942,91: «Tarnbien
castigan los legisladores a los que ignoran las disposiciones de la ley que deben
saber».
40 De Castro y Bravo, op. cit., 526.

41 Prirnera Partida, Tit. I, Ley XXI. Un antiguo precedente de la R.O. 16


febrero 1891, que ordena la preceptiva lectura de las leyes penales rnilitares
a las clases de tropa y rnarineria antes de su ineorporaei6n a filas.
42 De Castro y Bravo, op. eit. 520.
218 J ose Maria Rodriguez Devesa

slclones especiales que determinen el significado deI error juridico


en cada caso. No contiene ninguna condenaci6n deI error juridico43 •
«Nuestro Dereeho no aeoge, ni tiene por que aeudir, a la farsa gigantesea y
monstruosa de suponer en toda persona una sabiduria inasequible hasta a los
mejores juristas: la de no ignorar nada deI Dereeho»44. Este eonstante equivoeo,
que eneontramos en la doetrina franeesa 0 italiana45 es, sin duda, el que
ha eonducido a agregar al que antes era art. 2°, hoy 6°, 1, un segundo parrafo
para afirmar: «EI error de dereeho produeira Unicamente aquellos efeetos que
las leyes determinen». Tal arbitraria e inneeesaria disposici6n induee a identi-
ficar ignorancia de la ley y error de dereeho, 10 que era y sigue siendo inexaeto
e inadmisible.
EI que la eficacia de la ley no se haga depender de su conocimiento
es hoy tanto mas evidente cuanto que al numero de trabajadores ex-
tranjeros emigrantes, que no conocen bien 0 ignoran el idioma deI
pais en que trabajan, se suma el enorme trasiego de personas que
supone el turismo, la politica internacional y el crecido aumento de
organismos internacionales supra 0 interestatales. Nadie hace depen-
der el cumplimiento de la legislaci6n administrativa, fiscal, civil,
aduanera, deI pais extranjero en que se encuentra de que sean cono-
cidas sus disposiciones. Se exige el cumplimiento riguroso incluso a
quien desconoce el idioma.
Ahora bien, los ejemplos que se manejan en la literatura y la ju-
risprudencia sobre el llamado error de prohibici6n directo son todos
ellos casos de ignorancia de la ley: extranjera que aborta en Espafia
creyendo, equivocadamente, licita su conducta por serlo en su pais;
medico que priva de cuidado al enfermo por creer que la eutanasia
esta permitida (Rodriguez Ramos); trabajador extranjero italiano que
yace con su hija menor de 18 afios ignorando que en la legislaci6n
alemana no ocurre, corno en el Codice penale italiano, art. 564, que el
incesto sea impune a no mediar escandalo publico (Jescheck).
No creo inutil recordar que, aunque la Exposici6n de Motivos hable
de «error sobre el tipo y error de prohibici6n», esta terminologia, ma-
nejada en los debates parlamentarios, es ajena al art. 6° bis a). Lo
decisivo es la ratio legis, no la ratio legislatoris. Las consecuencias son
importantes en el momente de interpretar y aplicar la ley. No pu eden
transponerse, sin mas, las complicadas sutilezas que en la teoria y la
practica alemanas engendran las rubricas «Irrtum über Tatumstände»
(error sobre las circunstancias deI hecho) y «Verbotsirrtum» (error
de prohibicion), con las que se trata de sintetizar el contenido de los

43 De Castro y Bravo, op. cit. 520.


44 De Castro y Bravo, loe. cit.
45 Cfr. Pradel, op. eit. 395: «L'erreur de droit est indifferente»; Bettiol, op.
cit., 511: «Nel nostro ordinamento giuridico l'errore di diritto non scusa».
Nullum crimen sine cu1pa en 1a reforma deI C6digo pena1 219

paragrafos 16 y 17 deI Codigo. penal aleman. Las multiples dis tin-


ciones y subdistinciones a que da lugar el error de prohibicion, donde
encuentran fertil campo las mas dispares opiniones 46 son una buena
muestra de que estamos muy lejos de una formula clara e inequivoca.
EI general reconocimiento deI error de prohibicion en la literatura
germana, no impide las discrepancias sobre sus limites con el error
sobre las circunstancias deI hecho, aparte de admitir casos limites y
casos mixtos de error sobre el tipo y error de prohibicion, de un error
de prohibici6n directo e indirecto y, dentro de este, diferenciar los
supuestos en que el sujeto yerra sobre la existencia de una causa de
justificacion, sobre sus limites 0 sobre circunstancias que si concurrie-
ran justificarian el acto que en otro caso seria ilicito. No son de des-
preciar las complicaciones jurisprudenciales que pueden derivarse
de la versatilidad de la interpretacion judicial sobre la extension de
las causas de justificacion, de manera que segun una direccion cabe
estimar justificada una conducta que, por eso, el sujeto cree licita,
mientras que se niega la licitud en otras sentencias. Aiiadase, en el
derecho espaiiol, la ambigüedad de la Constitucion de 1978, que genera,
no solo numerosos recursos de presunta inconstitucionalidad, sino la
posibilidad de que un ciudadano es time que su conducta es licita, a
pesar de estar prevista y penada por 1a Iey, por considerar que Ia Iey
misma contradice Ia Constitucion. La alarma de Angel Tono L6pez
al analizar el parrafo tercero deI art. 20 deI Proyecto 1980 estaba muy
justificada. No solo el art. 6° bis a) es «incoherente con una de las
premisas basicas de la teoria de la culpabilidad,,47, sino que esta
teoria «constituye un peligro para el ciudadano que accidentalmente
obra en un sector en que existen normas de Derecho penal adminis-
trativo»48. La sentencia deI Tribunal Supremo de 30 de marzo 1976
acogio abiertamente la teoria deI dolo. EI problema adquiere particular
virulencia si se entendiera que la reforma de 1983 obliga a un cambio
radical en Ia teoria deI delito. Pienso, con Quintero Olivares 49 , que por
mas que el parrafo tercero deI art. 6° bis a) obligue a castigar corno
deli tos dolosos con una atenuacion equivalente a la de las eximentes
incompletas en los casos de error vencible sobre la licitud de su con-
ducta, esto no significa una tajante inclinacion a favor deI concepto
finalista de la accion.
48 Cfr. Cmmer, en: Schönke/Schröder, 21" ed. 1982, 242ss. Jescheck, Lehr-
buch, 368 SS.
47 Tono L6pez, EI error evitable de prohibiei6n en el Proyeeto de C6digo
penal. Indicaciones de politiea 1egis1ativa sobre 1a «Teoria de 1a eu1pabilidad»
en La referma pena1 y penitenciaria, 1980, 259.
48 Tono L6pez, lee. cit., 257.
4D Quintero Olivares en Quintero OlivareslMunoz Conde, La referma penaI
de 1983, 53 ss.
220 J ose Maria Rodriguez Devesa

Es mas, me atreveria a decir, que el parrafo tercero se re fiere unica-


mente a aquellos que Jescheck denomina casos limites, no a todos los
comprendidos bajo el error de prohibicion. Esto es, tan solo a las cau-
sas de justificacion putativas, ese error de indole especial, que se halla
en la zona fronteriza entre el error sobre el tipo y el error de prohibi-
cion, de modo que, presupuesta la admision de la teoria de los elemen-
tos negativos deI tipo, correcta a mi entender, no sera factible la puni-
bilidad si no cabe la forma culposa, 10 mismo que sostiene un sector de
la doctrina alemana 5o •
x.
Resta, por fin, hacer un analisis somero deI nuevo y desconcertante
art. 6° bis b). No es facil comprender su inclusion en el Codigo. La Me-
moria unida al Anteproyecto 1979 explicaba el trato particular, re co-
gido despues en el Proyecto 1980, por la necesidad de eliminar <doda
veleidad versarista», y porque no se concibe corno «una eximente mas»,
sino corno «autentico limite de la culpabilidad 0 si se prefiere corno
una tipica causa de inculpabilidad».
EI absoluto desprecio por Ia legisIaci6n penal especial, no afectada por Ia
reforma, hace que persista en el C6digo de Justicia Militar de 1945, art. 185, 8",
Ia antigua f6rmula deI art.8 a deI C.p. EI parrafo segundo deI art. 7° deI C.p.,
aiiadido por la reforma de 1983, obliga a tener en cuenta en el derecho penal
especial 10 dispuesto en el art. 6° bis b), pero deja inc61ume el art. 185 CJM.
Adviertase que en el CJM 1945 no existe ningun precepto paralelo al antiguo
art. 64 deI C.p. que Ia reforma ha dejado sin contenido. La cuesti6n carece de
importancia si se admite Ia interpretaci6n que propugno.
Un estudio sosegado deI art. 6° bis b) hace resaltar de inmediato que
no abarca todos aquellos casos que pudieran calificarse de fortuitos. EI
empleo deI verbo causar (<<si el hecho se causare»), pone de manifiesto
que no comprende mas que los delitos de resultado. No alcanza ni a los
delitos puros de omision, ni a los de simple actividad, ni tampoco a los
de cornision por omisi6n (en los que no existe una genuina relacion de
causalidad entre la accion y el resultado, y ha de acudirse a una rela-
cion de causalidad hipotetica). La visible redundancia (<<por mero acci-
dente, sin dolo ni culpa deI sujeto») no tiene a todas luces otro objeto
que el de eliminar la anterior exigencia, contenida en la circunstancia 8a
deI art. 8° (hoy sin contenido) de que se causare un «mal por mero acci-
dente, sin culpa ni intencion de causarlo» precisamente «con ocasion de
ejecutar un acto licito». Ahora es indiferente que, si no hay dolo ni
culpa, el sujeto este realizando un acto licito 0 ilicito. Y antes tambien51 •
La declaracion de que «se reputara fortuito y no sera punible» no puede

50 Vease Jescheck, Lehrbuch, 374 n. 37.


51 Ejemplos en mi Derecho penaI espaiiol, Parte general, 1981, 612 s.
Nullum erimen sine eulpa en la reforma deI C6digo penal 221

tomarse en serio. No signifiea que no existan otros easos en que el


hecho haya de reputarse fortuito. Ni que los casos no comprendidos en
el art. 6° bis b) sean punibles aunque no coneurran ni dolo ni culpa,
conclusi6n que, ademas de absurda, se opone de manera terminante al
primer inciso deI parrafo segundo deI art. 1° .
Es de alabar, en cambio, la supresi6n deI antiguo art. 64 que precep-
tuaba la aplicaciOn deI art. 565 euando no concurriera alguno de los
requisitos exigidos en el viejo art. 8°, circunstancia 8a, para eximir de
responsabilidad. Este precepto no tenia efecto alguno en la practica,
pues de constituir el hecho una falta culposa de los arts.586, 3° 0 600
habria que aplicar estos, y si estaba ausente la «intenci6n» y la «culpa»
era materialmente imposible reeonducir el «mero accidente» a ninguna
de las hip6tesis previstas en el art. 565 52 •

XI.
Resumiendo, a titulo de eonc1usiones provisionales. Ni con anteriori-
dad a la reforma de 1983 desconocia la ley el principio de que no hay
pena sin culpabilidad, ni despues de la reforma desaparecen todas las
excepciones que impiden su plena vigencia. Por otra parte, la culpa-
bilidad no se reduce al dolo 0 la culpa. Las variaciones que, con el mejor
de los prop6sitos, ha introducido la reforma de 1983, lejos de c1arificar
la situaci6n, deparan dificultades sin cuento a la teoria y a la praxis.
Es imposible prever en estos momentos sus consecuencias.

52 Cfr. mi Dereeho penal espaiiol, Parte general, 1981, 611.


RUDOLF SCHMITT

Der Anwendungsbereich von § 1 Strafgesetzbuch


(Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz)

"Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetz-
lich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde". - Mit gutem
Grund ist dieses Elementarprinzip unseres Strafrechts anläßlich der
Neufassung des Allgemeinen Teils an die Spitze des Strafgesetzbuchs
gerückt worden!. Die gleichlautende Fixierung des Prinzips in Art. 103
Abs.2 GG hat es zudem "verfassungs fest" gemacht. Ja, es wird sogar
gesagt, es handle sich um ein naturrechtliches Prinzip, das der Gesetz-
geber bereits vorgefunden habe 2 •
Angesichts dieser unstreitig großen Bedeutung muß es wundernehmen,
daß der Streit und die Unklarheit über den Anwendungsbereich des
§ 1 bis heute nicht behoben sind. Eine vollständige Darstellung des
Streitgegenstandes wäre eine lohnende Aufgabe, läßt sich aber im
Rahmen einer Festschrift nicht verwirklichen. Wir müssen uns viel-
mehr damit begnügen, in einem Einleitungsabschnitt (I) die aus § 1
abzuleitenden Normen zusammenzustellen und danach in einem Haupt-
teil (11) zu jeder dieser Normen eine Streitfrage zu diskutieren.

I.

Aus § 1 folgen eine Gebots- und drei Verbotsnormen, nämlich:


1. Das Verbot, strafrechtliche Unrechtsfolgen aus einer anderen
Grundlage als dem (geschriebenen) Gesetz herzuleiten (Gewohnheits-
rechtsverbot).
2. Das Gebot, die Voraussetzungen der strafrechtlichen Unrechts-
folgen in diesem Gesetz hinreichend genau zu umschreiben (Bestimmt-
heitsgebot).
3. Das Verbot, strafrechtliche Unrechtsfolgen auf ein zur Zeit der
Tatbegehung noch nicht geltendes Gesetz zu stützen (Rückwirkungs-
verbot).

1 Alle im folgenden genannten Paragraphen ohne Gesetzesangabe sind


solche des Strafgesetzbuchs.
! Vgl. Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 1961, S. 92 Fn. 31.
224 Rudolf Schmitt

4. Das Verbot, Strafgesetze nicht unmittelbar, sondern entsprechend


(analog) anzuwenden (Analogieverbot).
Diese Vierheit der aus § 1 folgenden Normen wird heute allgemein
anerkannt, und zwar nicht nur in der Literatur3 , sondern auch vom
Bundesverfassungsgericht4 • Unstreitig ist auch, daß die vier genannten
Normen nur zum Schutze des Beschuldigten bestimmt sind. Wirkt sich
also die Nichteinhaltung einer der Normen in favorem rei aus, so ist sie
erlaubt.
H.

1. Es ist sicher und auch allgemein anerkannt, daß es keine gewohn-


heitsrechtlichen Straftatbestände geben kann. Ebenso uneingeschränkt
dürfte das Gewohnheitsrechtsverbot - entgegen mancher weitgehen-
den Formulierung - auch im Bereich des Sanktionenrechts des Allge-
meinen Teils gelten. Gewohnheitsrecht kann also weder neue Sank-
tionen schaffen noch bereits bestehende verschärfen.

a) Der bis heute nicht befriedigend ausgetragene Streit beschränkt


sich auf die Partien des Allgemeinen Teils, die der Verbrechenslehre
zuzuordnen sind (sog. dogmatischer Teil). Hierfür hat Maurach noch
in der letzten von ihm selbst besorgten Auflage seines Lehrbuchs Ge-
wohnheitsrecht, und zwar auch strafbegründendes und -ausdehnendes,
als schlechthin unentbehrlich bezeichnet5 • Sein Nachfolger in der Her-
ausgabe des Lehrbuchs, Heinz Zipf, hat diese Ausführungen seines
Lehrers wörtlich übernommenB. Schließlich hat Tröndle dieselbe Auf-
fassung eingehend verteidigt und auch darauf hingewiesen, daß der
Allgemeine Teil ohne Gewohnheitsrecht gar nicht auskommen könne7 •
Entschiedene Ablehnung dieser These findet man eigentlich nur bei
Jakobs und unserem Jubilar8 • Es überwiegen heute durchaus die Stim-
men, die das heikle Problem zwar umreißen, aber eine eindeutige
Stellungnahme vermeiden8 • - Ein eigener Standpunkt zu dieser Frage

3 Vgl. nur die neue Monographie von Krey, Keine Strafe ohne Gesetz,
1983, S. 35 ff., 48 ff., 70 ff., 84 ff.
4 Vgl. BVerfGE 25, 285.
5 Vgl. Maurach, Deutsches Strafrecht, Allg. Teil, 4. Aufl. 1971, S. 96.

8 Vgl. Maurach/Zip!, Strafrecht, Allg.Teil, Teilband 1, 6. Aufl. 1983, S.106.


Rdn. 40 und 41.
7 Vgl. Tröndle, in: LK, 10. Aufl., § 1, Rdn. 27.
8 Vgl. Jakobs, Strafrecht, Allg. Teil, 1983, S. 74, Rdn. 46 und Jescheck, Lehr-
buch des Strafrechts, Allg. Teil, 3. Aufl. 1978, S. 107.
8 Vgl. für diese Richtung nur Eser, in: Schönke!Schröder, 21. Aufl. 1982,
§ 1, Rdn. 18; Rudolphi, in: SK, Bd. 1, 3. Aufl. 1981, § 1, Rdn. 18 und 21; Lackner,
15. Aufl. 1983, § 1, Anm. 1 b; Stratenwerth, Strafrecht, Allg. Teil I, 3. Aufl. 1981,
S. 47, Rdn. 92.
Der Anwendungsbereich von § 1 Strafgesetzbuch 225

scheint mir jedoch nicht so schwierig zu finden, wenn man bedenkt, daß
Praxis und Lehre tagtäglich mit Gewohnheitsrecht auch in mal am
partem arbeiten.
Ein besonders instruktives Beispiel bietet die Rechtsfigur der actio
libera in causa. Sie ist im Gesetz auch nicht andeutungsweise erwähnt,
jedoch prinzipiell anerkannt, also Gewohnheitsrecht. Sie wirkt sich
aber auch ungünstig für den Beschuldigten aus, da sie in ihrem Haupt-
anwendungsfall zu einer Einschränkung des für den Beschuldigten
günstigen § 20 führt.
Die actio libera in causa ist zwar ein besonders einleuchtendes, aber
vielleicht nicht besonders wichtiges Beispiel. Doch lassen sich auch weit
bedeutsamere Fälle von Gewohnheitsrecht zu Lasten des Beschuldigten
im Bereich der Verbrechenslehre des Allgemeinen Teils finden 10 • Die
Strafrechtsreform hat uns zu den unechten Unterlassungsdelikten nicht
mehr beschert als den § 13. Aus ihm ergibt sich immerhin, daß eine im
Besonderen Teil beschriebene Handlung auch als Unterlassung be-
straft werden kann, sofern der Unterlassende "rechtlich dafür einzu-
stehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt". Unter welchen Voraussetzun-
gen jemand verpflichtet ist, den Erfolgseintritt zu verhindern, ist jedoch
dem Gesetz nicht zu entnehmen. Der Alternativ-Entwurf hatte eine
abschließende Regelung vorgeschlagen11 , sie ist jedoch nicht Gesetz
geworden. Hier waltet nun Gewohnheitsrecht12 - und nicht nur die-
ses. Trotz des Wortes "rechtlich" neigen unsere Gerichte nämlich dazu,
die Bestrafung auch auf die Verletzung rein ethischer Pflichten zu
stützen.
Nicht viel anders ist die Rechtslage bei der mittelbaren Täterschaft.
Der neue § 25 Abs. 1 ergibt nur, daß es außer dem unmittelbaren Täter
auch einen mittelbaren Täter gibt. Wann aber eine Person mittelbarer
Täter (und nicht etwa nur Anstifter) ist, kann dem Gesetz nicht ent-
nommen werden, weil es über die Voraussetzungen der mittelbaren
Täterschaft überhaupt schweigt. - Damit ist der Katalog aber noch
keineswegs erschöpft. Die Notwendigkeit eines Kausalzusammenhangs
(Ursachenzusammenhangs) bei den Erfolgsdelikten ist im Besonderen
Teil nur selten angesprochen; nähere Darstellung im Allgemeinen Teil
fehlt überhaupt. Die Fahrlässigkeit wird zwar genannt, aber nirgends

10 Die Einwilligungslehre, die Fortsetzungstat und die "Gesetzeskonkur-


renz" gehören aber nicht hierher. Zwar handelt es sich in allen diesen Fäl-
len um Gewohnheitsrecht, aber um solches, das dem Beschuldigten günstig
ist.
11 Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Allgemeiner Teil, 2. Auf!.
1969, S. 48 (§ 12).
12 Andere Autoren sehen eher eine Verletzung des Bestimmtheitsgebotes.
Vgl. in diesem Sinne Jescheck (Anm.8), S.495 und Stree, in: Schönke/Schrö-
der, 21. Auf!. 1982, § 13, Rdn. 5 m. w. N.

15 Festschrift für H.-H. Jescheck


226 Rudolf Schmitt

definiert, ebensowenig wie die Leichtfertigkeit. Auch die Wahlfeststel-


lung hat seit langem keine gesetzliche Grundlage mehr. Wenn hier nicht
das einschlägige Gewohnheitsrecht eingreifen würde, müßte in allen
derartigen Fällen freigesprochen werden.
b) Im Ergebnis muß daher festgestellt werden, daß die Verbrechens-
lehre des Allgemeinen Teils unseres Strafgesetzbuchs ohne Heranzie-
hung von Gewohnheitsrecht (auch zu Lasten des Beschuldigten) gar
nicht praktiziert werden könnte. Anders ausgedrückt: Wenn ich aus
meinem Vorlesungsmanuskript über den Allgemeinen Teil alle Par-
tien, die sich auf Gewohnheitsrecht beziehen, streichen würde, bliebe
eine Vorlesung, die ich in annähernd drei Wochenstunden bequem
durchführen könnte, während jetzt fünf Wochenstunden kaum aus-
reichen.
Eine andere, wesentlich seltener gestellte Frage ist die, ob man sich
mit der derzeitigen Rechtslage abfinden soll. De lege ferenda scheint
eine Zurückdrängung des Gewohnheitsrechts in unserer Verbrechens-
lehre nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert. Ein Restbereich
Gewohnheitsrecht wird aber immer bleiben müssen, wenn man nicht
eine bedenkliche "Versteinerung" dieser Materie in Kauf nehmen will.

2. a) Das Bestimmtheitsgebot wird heute leider schon von der Ge-


setzgebung nicht hinreichend beachtet und auch vom Bundesverfas-
sungsgericht nicht mit der erforderlichen Akribie überwacht. Dies ist
schon früher beanstandet worden13 • Hier darf ein typisches Beispiel
aus dem Ordnungswidrigkeitenrecht angeführt werden, für welches
unser Grundsatz natürlich auch giIt14. Schon in der Zeit der übertre-
tungen hatte die Praxis die Tendenz, die Verurteilung von Verkehrs-
sündern auf § 24 Straßenverkehrsgesetz in Verbindung mit § 1 Abs.2
Straßenverkehrsordnung zu stützen. Eine uferlosere Generalklausel
als die letztgenannte Vorschrift läßt sich freilich kaum denken. Umso
erstaunlicher ist es, daß das Bundesverfassungsgericht diese Rechtspre-
chung gebilligt hat15• Prompt findet man daher heute diese unheilige
Kombination ausdrücklich in § 49 Abs. 1 Nr.l Straßenverkehrsordnung.
b) Doch soll hier keineswegs versucht werden, die zu unbestimmt
geratenen und gleichwohl vom Bundesverfassungsgericht nicht bean-
standeten Straf- und Bußgeldtatbestände aneinander zu reihen. Uns
interessiert vielmehr die Frage, ob das Bestimmtheitsgebot nur für die
Tatbestandsmerkmale im engeren Sinne oder aber für alle Voraus-
setzungen der Strafbarkeit gilt.

13 Vgl. Hanack, JZ 1970, 41 links.


14 Vgl. den (an sich überflüssigen) § 3 OWiG.
15 BVerfG NJW 1969, 1164 (rechts oben).
Der Anwendungsbereich von § 1 Strafgesetzbuch 227

Diese Frage stellt sich zunächst bei den "offenen" Tatbeständen der
§§ 240, 253. Bei ihnen muß die Rechtswidrigkeit positiv festgestellt wer-
den, und zwar nach dem Kriterium, ob "die Anwendung der Gewalt
oder die Androhung des übels zu dem angestrebten Zweck als verwerf-
lich anzusehen ist". Die Verurteilung oder Nichtverurteilung hängt also
letztlich davon ab, was der Richter als "verwerflich" ansieht. Daher hat
schon Hellmuth Mayer die gegenwärtige Fassung des § 240 als ver-
fassungswidrig bezeichnet 16 , und Welzel ist ihm darin nach anfäng-
lichem Widerstreben gefolgt17 • - Besonders umstritten ist in diesem
Zusammenhang die Vorschrift des § 226 a. Danach vermag auch eine
mangelfreie Einwilligung eine Körperverletzung nicht zu rechtfertigen,
wenn diese Körperverletzung "trotz der Einwilligung gegen die guten
Sitten verstößt" . Hier wird die Frage der Strafbarkeit also von der Aus-
legung einer Generalklausel abhängig gemacht, die zudem aus einem
nicht dem Recht zugehörigen Gebiet entnommen ist. Ich habe schon
an früherer Stelle diejenigen Autoren zusammengestellt, die deshalb
die Verfassungsmäßigkeit des § 226a verneinen oder doch bezweifelnl8 •
Zu ihnen kommen inzwischen noch zwei weitere Autoren, nämlich
Eser und ich selbst19 • - Für die Gegenmeinung hat sich eigentlich nur
ein Autor nachdrücklich stark gemacht, der deshalb besondere Beach-
tung verdient. Tröndle sagt in seinem Kommentar zu § 226 a folgen-
des20 : "Die These ... , daß § 226a wegen Verstoßes gegen Art. 103 II GG
nichtig sei, geht zu Unrecht davon aus, daß auch Rechtfertigungsgründe
dem Bestimmtheitsgrundsatz dieses Artikels unterlägen ... ; wäre es
so, so wären alle gewohnheitsrechtlichen Rechtfertigungsgründe grund-
gesetzwidrig ...". Der Fehler dieses Schlusses liegt auf der Hand. Recht-
fertigungsgründe sind stets günstig für den Beschuldigten und werden
daher von § 1 und den aus ihm folgenden Normen gar nicht tangiert.
§ 226 a enthält jedoch keinen Rechtfertigungsgrund; vielmehr schränkt
diese Vorschrift den allgemein anerkannten Rechtfertigungsgrund der
Einwilligung ein, wirkt also für den Beschuldigten nachteilig. Daher
muß sich § 226a, anders als die Rechtfertigungsgründe, an § 1 bzw. Art.
103 Abs.2 GG messen lassen, und damit verfällt er dem Verdikt der
Verfassungswidrigkeit. Die bei Dreher anklingende Auffassung21 , daß
das Bestimmtheitsgebot lediglich für die Tatbestandsmerkmale gelte,
läßt sich nicht halten; denn § 1 und Art. 103 Abs.2 GG sprechen nicht

16 H. Mayer, Strafrecht, Allg. Teil, 1967, S. 35.


17 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 327.
18 Vgl. Schmitt, § 226 a StGB ist überflüssig, Gedächtnisschrift für Schrö-
der, 1978, S. 265 Fn. 14.
19 Vgl. Eser (Anm. 9), § 1, Rdn. 23 a. E.
20 Vgl. Dreher/Tröndle, 41. Aufl. 1983, § 226 a, Rdn. 1.
21 Vgl. Dreher, Der Irrtum über Rechtfertigungsgründe, Festschrift für
Heinitz, 1972, S. 221/222.

15*
228 Rudolf Schmitt

von der "Tatbestandsmäßigkeit" , sondern von der "Strafbarkeit", mit-


hin von den gesamten Voraussetzungen, die zusammen erst die Straf-
barkeit ergeben.
Die Folgen der hier vertretenen Ansicht sind keineswegs gefährlich.
§ 226 a ist ohnehin überflüssig, wie ich bereits an anderer Stelle darge-
tan habe22 • Für § 240 hat der Alternativ-Kreis einen sehr überzeugen-
den "geschlossenen" Vorschlag präsentiert23 • § 253 schließlich braucht
gar nicht als offener Tatbestand ausgestaltet zu werden, da die Um-
schreibung des Tatbestandes (im engeren Sinne) durchaus hinreichend
ist.

3. a) Für das Rückwirkungsverbot sollen hier nicht die Ausnahmen,


die bereits das Strafgesetzbuch vorsieht 2\ näher erläutert werden. Viel-
mehr wollen wir uns mit der Frage beschäftigen, ob § 1 bzw. Art. 103
Abs.2 GG auch im Strafverfahrensrecht anwendbar sind. Dieser Frage
müssen freilich drei Klarstellungen vorangestellt werden:
aal Bei den Vertretern beider Meinungen wird im allgemeinen über-
sehen, daß es sich nur um eine analoge Anwendung handeln kann. Die
gesetzliche Formulierung ist eindeutig und beschränkt die von uns un-
tersuchte Vorschrift auf das materielle Strafrecht. Dies steht aber einer
analogen Anwendung auf das Strafverfahrensrecht an sich nicht ent-
gegen.
bb) Dabei muß weiter beachtet werden, daß die Rückwirkung von
belastenden Gesetzen ein allgemeines verfassungsrechtliches Problem
weit über Art. 103 Abs. 2 GG hinaus darstellt. Dementsprechend
hat das Bundesverfassungsgericht bereits verhältnismäßig früh ein
grundsätzliches Verbot der Rückwirkung verschlechternder Gesetze
statuiert, gleichzeitig aber auch vier Gruppen von Ausnahmen zuge-
lassen25 • Näher befassen brauchen wir uns mit diesen Ausführungen
nicht, da das "absolute Rückwirkungsverbot im Strafrecht" vom Bun-
desverfassungsgericht von vornherein aus seinen Ausführungen ausge-
klammert worden ist.
ce) Schließlich bedeutet es an sich eine unzulässige Verkürzung des
Problems, wenn die Literatur fast ohne Ausnahme die Frage des Rück-
wirkungsverbots im Strafverfahrensrecht auf den Wegfall von Prozeß-
hindernissen beschränkt. Im allgemeinen wird selbst dieser Bereich

22 Vgl. Anm. 18.


23 Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Besonderer Teil, Straf-
taten gegen die Person, Erster Halbband, 1970, S. 62 - 64 (§ 116).
24 § 2 Abs. 3 bis 6 StGB.

25 BVerfGE 18,439.
Der Anwendungsbereich von § 1 Strafgesetzbuch 229

noch einmal eingeschränkt. Man findet fast immer nur die beiden glei-
chen Fragestellungen, nämlich
a) ob im Falle eines Antragsdelikts, bei dem Strafantrag nicht ge-
stellt wurde, die rückwirkende Beseitigung des Strafantragserforder-
nisses und damit die Umwandlung in ein Offizialdelikt zulässig ist;
ß) ob eine Verjährungsfrist verlängert oder gar gestrichen werden
darf.
Leider müssen wir die Beschränkung des Problems auf die strafpro-
zessualen Verfahrenshindernisse mitmachen; doch wollen wir innerhalb
dieses Bereichs keine weiteren Einschränkungen vornehmen.

b) Da der Fall des nachträglich gestrichenen Strafantragserfordernis-


ses mehr ein Kathederbeispiel ist 26 , hatte sich das Bundesverfassungs-
gericht bisher vor allem mit der Frage der Verlängerung einer Ver-
jährungsfrist zu befassen. Hierzu ist das bekannte Urteil in Band 25
S. 269 ff. ergangen. Das umfangreiche Urteil ist in den drei voran-
gestellten Leitsätzen vollständig zusammengefaßt. Das Bundesverfas-
sungsgericht argumentiert wie folgt: Art. 103 Abs. 2 GG betrifft nur
das materielle Strafrecht. Die Verjährungsvorschriften gehören jedoch
dem Strafverfahrensrecht an. Also läßt sich aus Art. 103 Abs.2 GG
nichts gegen eine Verlängerung einer Verjährungsfrist herleiten. Da
auch keine anderen Verfassungsgrundsätze einer derartigen Verlänge-
rung entgegenstehen, ist sie zulässig.
Die politisch zweifellos sehr erwünschte Entscheidung ist im straf-
rechtlichen Schrifttum keineswegs auf ungeteilte Zustimmung gesto-
ßen27 • Sie hat aber jedenfalls bewirkt, daß seither die Frage des Rück-
wirkungsverbots im Strafprozeß fast nur noch auf der Ebene der Ver-
jährung diskutiert wurde. Dabei geriet ein älteres Urteil des Bundes-
verfassungsgerichts in Vergessenheit, das sich ebenfalls mit den Aus-
wirkungen des Wegfalls eines strafprozessualen Verfahrenshindernis-
ses zu befassen hatte. Der Entscheidung BVerfGE 12, 296 lag folgender
Sachverhalt zugrunde:
Mit Urteil vom 17.8. 1956 (BVerfGE 5, 85) hatte das Bundesverfassungs-
gericht die Verfassungswidrigkeit der KPD festgestellt. Alsbald begannen
die Staatsanwaltschaften, die KPD-Funktionäre aufgrund des damaligen
§ 90 a wegen ihrer vor dem KPD-Urteil liegenden Tätigkeit zu verfolgen.
Der Einwand, daß diese Funktionäre ja davon ausgegangen seien, für eine

26 Die viel zitierte Entscheidung RGSt. 77, 106/107 stammt aus einer Zeit,
in der auch für das materielle Recht kein Rückwirkungsverbot bestand.
27 Eindeutig ablehnend Jescheck in der 2. Aufl. seines Lehrbuchs, S.110.
Ablehnend auch Jakobs (Anm. 8), S. 55, Rdn. 9. Ablehnend schließlich Böcken-
förde in seiner Stellungnahme vor dem Rechtsausschuß des Bundestages am
12.6. 1979 (Herr Kollege Böckenförde war so freundlich, mir sein Manuskript
zu überlassen; vgl. auch ZStW 91 (1979),888 ff.). .
230 Rudolf Schmitt
zugelassene und im politischen Leben unangefochten tätige Partei gearbeitet
zu haben, wurde mit folgendem Argument weggewischt: Die KPD sei schon
immer eine verfassungswidrige Partei gewesen. Lediglich die noch nicht
vorliegende Feststellung dieser Verfassungswidrigkeit durch das Bundes-
verfassungsgericht habe ein Verfahrenshindernis für Strafverfahren gegen
die KPD-Funktionäre gebildet. Nachdem nun dieses Verfahrenshindernis
weggefallen sei, stehe einer Strafverfolgung nichts mehr im Wege, zumal
sich Art. 103 Abs.2 GG auf Verfahrenshindernisse nicht beziehen könne. -
Diese Auffassung hat sich damals in einem großen Teil des Schrifttums und
auch beim Bundesgerichtshof durchgesetzt 28 .
Erst das hier besprochene Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat
diesen Strafverfolgungen ein Ende bereitet. Es erkannte: "Die Rechts-
ordnung kann nicht ohne Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtsstaat-
lichkeit die verfassungs rechtlich eingeräumte Freiheit, eine Partei zu
gründen und für sie im Verfassungsleben zu wirken, nachträglich als
rechtswidrig behandeln"29.

c) Unsere erste Frage geht dahin, ob dieses Urteil mit dem oben
behandelten Verjährungsurteil des Bundesverfassungsgerichts auf
einen Nenner gebracht werden kann. Ich möchte dies bejahen, und zwar
unter Bezugnahme auf eine Passage des Verjährungsurteils, die wegen
ihrer Wichtigkeit hier wörtlich wiedergegeben werden soll30:
"Der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz gilt also nicht ausnahmslos.
Der Bürger kann sich insbesondere auf Vertrauensschutz als Ausprägung
des Rechtsstaatsprinzips dann nicht berufen, wenn sein Vertrauen auf den
Fortbestand einer gesetzlichen Regelung eine Rücksichtnahme durch den
Gesetzgeber billigerweise nicht beanspruchen kann (...), das Vertrauen auf
eine bestimmte Rechtslage also sachlich nicht gerechtfertigt ist (... ständige
Rechtsprechung)" .
Dies besagt doch: Eine Rückwirkung ist dann unzulässig, wenn sie
einer berechtigten Vertrauensposition die Grundlage entziehen würde.
So lag es bei den KPD-Funktionären, die vor dem KPD-Urteil darauf
vertrauen konnten und durften, daß sie für eine erlaubte Partei arbei-
teten. Anders liegt es jedoch im Falle der Verjährung. Zwar ist der
Streit über Sinn und Zweck der Verjährung so heftig wie eh und je.
Man kann aber doch wohl mit Sicherheit sagen, daß die gesetzlichen
Verjährungsvorschriften nicht das Ziel verfolgen, dem Verbrecher eine
Garantie zu geben, daß er nach Ablauf einer gewissen Frist nicht mehr
verfolgt werden, sondern sich mit seiner Tat brüsten kann. Hier liegt
also eine schutzwürdige Vertrauensposition nicht vor.

28 Vgl. das in BVerfGE 12, 299 wiedergegebene Urteil 3 StH 4/57 vom
3.4.1957.
29 3. Leitsatz von BVerfGE 12,296/297.
30 BVerfGE 25, 291.
Der Anwendungsbereich von § 1 Strafgesetzbuch 231

d) Wenn somit eine einheitliche Linie des Bundesverfassungsgerichts


im Hinblick auf die Rückwirkung nach Wegfall eines strafprozessualen
Verfahrenshindernisses festgestellt werden kann, so ist damit noch
nichts für unser eigentliches Thema, nämlich die analoge Heranziehung
von Art. 103 Abs.2 GG, gesagt. Das Verjährungsurteil hatte, wie erin-
nerlich, diese Bestimmung für unanwendbar im Bereich des Strafver-
fahrensrechts angesehen. Dagegen sagt das Urteil im 12. Bande am
Ende: " ... erübrigt sich die Prüfung, ob auch das Rückwirkungsverbot
des Art. 103 Abs.2 GG verletzt ist". Das besagt mit anderen Worten,
daß auch Art. 103 Abs.2 GG einschlägig war, aber nicht herangezogen
zu werden brauchte, weil sich der Urteilstenor bereits aus anderen ver-
fassungsrechtlichen Bestimmungen herleiten ließ.

e) Mit der gebotenen Zurückhaltung kann man zu folgender Zusam-


menfassung gelangen: Das aus Art. 103 Abs. 2 GG fließende Rückwir-
kungsverbot kann auch im Bereich der Prozeßhindernisse des Strafver-
fahrens Anwendung finden31 , freilich nach meiner Ansicht nur analog.
Die Verfassungs gerichtsbarkeit ist aber auf die genannte Bestimmung
nicht angewiesen, weil sie das Rückwirkungsverbot auch aus anderen
Verfassungsnormen herleiten kann, insbesondere aus dem Rechtsstaats-
prinzip (Art. 20, 28 GG). So und so gilt das Rückwirkungsverbot nach
Wegfall strafrechtlicher Prozeßhindernisse nicht uneingeschränkt, son-
dern nur nach Maßgabe der oben entwickelten Richtlinie.

4. a) Beim Analogieverbot erhebt sich zunächst die gleiche Frage wie


beim Gewohnheitsrecht, nämlich ob es auch im Bereich der Ver-
brechenslehre des Allgemeinen Teils gilt. Maurach hat noch in der letz-
ten von ihm selbst besorgten Auflage seines Lehrbuchs den Standpunkt
eingenommen, die Auffassung, daß Gesetzesanalogie auf dem Gebiet
des Allgemeinen Teils "unbeschränkt, also auch zuungunsten des Täters"
zulässig sei, entspreche der herrschenden Lehre32 • Das wird man heute
nicht mehr sagen können. Schon Maurachs Nachfolger in der Her-
ausgabe des Lehrbuchs hat die Auffassung seines Lehrers zu diesem
Punkt aufgegeben33• Derzeit ist Trändle wohl der einzige Autor, der
nachhaltig die unbeschränkte Zulässigkeit der Analogie für den Bereich
des Allgemeinen Teils (gemeint ist wohl nur die Verbrechenslehre) ver-
tritt 34 • Verhehlt werden darf freilich nicht, daß ich mich an einer etwas

31 Ebenso Eser (Anm.9), § 2, Rdn.8; Jakobs (Anm.8), S.80, Rdn.57, mit


S. 55, Rdn.9 und Baumann, Strafrecht, Allg. Teil, 8. Aufl. 1977, S. 123/124. Für
die Gegenansicht vgl. Rudolphi (Anm.9), § 1, Rdn. 10 und TrändIe (Anm.7),
§ 2, Rdn. 8, 9. Zweifelnd Jescheck (Anm. 8), S. 110.
32 Maurach (Anm. 5), S. 111.

33 Maurach/Zip! (Anm. 6), S. 125.


34 TrändIe (Anm.7), § 1, Rdn.38. Für die Gegenmeinung vgl. Eser (Anm. 9),
§ 1, Rdn. 28 m. w. N.
232 Rudolf Schmitt

entlegenen Stelle dieser Auffassung zwar nur kurz, aber entschieden an-
geschlossen habe 35 • So sicher wie bei der entsprechenden Frage nach dem
Gewohnheitsrecht in der Verbrechenslehre bin ich meiner Sache hier
freilich nicht.

b) Immerhin erscheint mir die Zulassung der Analogie auch in malam


partem für den Bereich der Verbrechenslehre erträglich, wenn man sich
vergegenwärtigt, daß unsere Praxis laufend gegen das Analogieverbot
im Besonderen Teil verstößt. Grünwald hat schon im Jahre 1963 fest-
gestellt, daß man in der neueren Rechtsprechung (anders als noch beim
Reichsgericht) vergeblich nach einem Fall sucht, in dem eine Tat, ob-
wohl sie strafwürdig erschien, mit Rücksicht auf das Analogieverbot
unbestraft blieb36 • Leider ist es seither kaum besser geworden87 • Der
Bundesgerichtshof und auch sein Großer Strafsenat haben in einer
Vielzahl von Fällen contra reum gegen das Analogieverbot verstoßen;
freilich sind diese Verstöße in ihrer großen Mehrzahl später vom Ge-
setzgeber legalisiert worden.
Es kann hier nur eine kleine Auswahl zusammengestellt werden.
So hat der Große Strafsenat in Band 6 S. 147 entschieden, daß ein
Selbstmordversuch als "Unglücksfall" im Sinne des (damaligen) § 330c
anzusehen sei. Dadurch ist der jetzige § 323 c über Sinn und Wortlaut
hinaus überdehnt worden. Bis heute ist diese Entscheidung weder von
der Rechtsprechung korrigiert noch von der Gesetzgebung bestätigt
worden. In Band 9 S.390 hat der Große Strafsenat unter den damali-
gen § 330 a auch den Fall gebracht, daß die Zurechnungsfähigkeit des
Täters nicht festgestellt werden konnte, sofern nur die erhebliche Ver-
minderung dieser Fähigkeit sicher war. Dies bedeutete, ebenso wie die
ganze Konstruktion der "Auffangstrafdrohung", einen klaren Verstoß
gegen das Analogieverbot; er ist aber durch die jetzige Fassung des
§ 323 a Abs. 1 geheilt worden. In Band 10 S. 94 ließ der Große Strafsenat
die Maßregel der Fahrerlaubnisentziehung auch gegenüber einer Ange-
klagten zu, die eine Fahrerlaubnis nicht besaß. Die erforderliche ge-
setzliche Bestimmung ist erst später geschaffen worden und findet sich
jetzt in § 69 a Abs. 1 Satz 3. Auf die erstaunliche Rechtsprechung des
4. Strafsenats zu § 142 a. F. (BGHSt. 14, 89; 14, 213; 18, 114) hat bereits
Grünwald nachdrücklich hingewiesen 36 ,38. Diese kurze Zusammenstel-
lung zeigt freilich bereits, daß der Gesetzgeber der eigentlich Schuldige

35 Schmitt, Zwei Strafrechtsklausuren für Anfänger, Jura 1982, 549, 553.


36 Grünwald, Bedeutung und Begründung des Satzes "nulla poena sine
lege", ZStW 76 (1964),2/3.
37 Eine löbliche Ausnahme wäre das Urteil BGHSt. 31, 348 gewesen, wenn
die Entscheidung auf das Analogieverbot gestützt worden wäre.
38 Für eine unzulässige Analogie auch bei der Neufassung des § 142 StGB
vgl. BayObLG NJW 1982, 1059.
Der Anwendungsbereich von § 1 Strafgesetzbuch 233

ist. Er zögert die Entscheidung von Zweifelsfragen so lange hinaus,


bis die Praxis darauf nicht mehr warten kann.
Aus der neueren Rechtsprechung sei noch ein Beispiel erwähnt, das
der Gesetzgeber wohl nicht übernehmen dürfte. In der bekannten Ent-
scheidung BGHSt. 26,95 wurde die Verurteilung eines Diebes aus § 252
bestätigt, obwohl er "auf frischer Tat" nicht einmal gesehen, geschweige
denn "betroffen" worden war. Freilich ist diese Entscheidung auf er-
hebliche Kritik gestoßen, nicht nur in der Literatur, sondern auch in-
nerhalb des BGH selbst39 •

c) Die hier bestehende Problematik ist als solche seit langem erkannt.
Da zwar die Analogie in malam partem verboten ist, die extensive Ausle-
gung zum Nachteil des Beschuldigten jedoch nicht, kommt es darauf
an, eine sichere Grenze zwischen Analogie und Auslegung zu ziehen.
An Literatur zu dieser Frage fehlt es nicht, aber eine auch nur einiger-
maßen übereinstimmende Ansicht kann bislang nicht festgestellt wer-
den. Lediglich ein gewisser Trend scheint sich abzuzeichnen: Die im
Gewande der teleologischen Auslegung einherschreitende rein kriminal-
politische Zielsetzung muß ihre Grenze am Wortlaut des Straftatbestan-
des finden 40 • Wer aber glaubt, damit sei das Problem gelöst, der irrt.
Nach Baumann darf sich die Auslegung nur im Rahmen der allgemein
verständlichen, natürlichen Wortbedeutung bewegen41 ; nach Ansicht
unseres Jubilars endet jedoch die Auslegung erst am "möglichen Wort-
sinn als äußerster Grenze"42. Aber selbst wenn man diese weiter-
gehende Erstreckung der Auslegung zugrunde legt, müßte konsequenter-
weise manche fest eingefahrene Rechtsprechung aufgegeben werden,
etwa im Rahmen der §§ 246 und 303. Wie kann man nur von einer
"berichtigenden Auslegung" sprechen, wo doch diese Worte einander
eindeutig widersprechen?

III.

Unsere notwendig kurze Untersuchung hat leider aufgezeigt, daß der


Elementargrundsatz unseres Strafrechts, der in § 1 StGB und Art. 103
Abs.2 GG festgelegt ist, von Gesetzgebung und Rechtsprechung in ver-
schiedener Hinsicht nicht so respektiert wird, wie er respektiert werden
müßte.

30 Vgl. BGHSt. 28,227 m. w. N.


40 Besonders schön BVerfGE 64, 389, 393: "Die Strafgerichte ... müssen
in Fällen, die vom Wortlaut einer Strafnorm nicht mehr gedeckt sind, zum
Freispruch gelangen."
41 Baumann, Die natürliche Wortbedeutung als Auslegungsgrenze im
Strafrecht, MDR 1958, 394 ff.
42 Jescheck (Anm. 8), S. 126 oben (Fettdruck).
ANDRZEJ SPOTOWSKI

Das Rückwirkungsverbot im polnischen Recht

I.

Das Rückwirkungsverbot bildet einen wichtigen Bestandteil der mei-


sten Rechtssysteme der Gegenwart. Es gibt Rechtssysteme, in denen
das Prinzip .. lex retro non agit" in der Weise in der Verfassung ver-
ankert ist, daß sich sein Anwendungsbereich auf alle Rechtsgebiete
erstreckt. In anderen Ländern bezieht sich das verfassungsrechtliche
Rückwirkungsverbot nur auf bestimmte Rechtsgebiete, insbesondere
auf das Strafrecht. In wieder anderen Rechtssystemen stellt der Grund-
satz ..lex retro non agit" lediglich eine Norm des einfachen Gesetzes-
rechts dar, die jederzeit vom Gesetzgeber geändert werden kann1 •
Besondere Bedeutung kommt dem Rückwirkungsverbot auf dem
Gebiet des Strafrechts zu. Diese Bedeutung hebt auch der verehrte
Jubilar2 in seinen Werken hervor. In jüngster Zeit ist die Proble-
matik des Rückwirkungsverbots und insbesondere seine geschicht-
liche Entwicklung in der deutschen Strafrechtsliteratur erneut ein-
gehend erörtert worden3 • Da in den entsprechenden deutschen Ab-
handlungen nur die Entwicklung in den westlichen Ländern berück-
sichtigt wird, mag es von Interesse sein, diese Problematik aus pol-
nischer Sicht darzustellen.
Der Grundsatz ..lex retro non agit" wird in der Strafrechtslehre
vielfach als eine Konsequenz aus dem Prinzip .. nullum crimen sine
lege" verstanden4 • In der Rechtstheorie wird demgegenüber hervor-
gehoben, daß die Grundsätze ..nullum crimen sine lege" und ..nulla
poena sine lege" ihrerseits als Folgerungen aus dem allgemeineren

1 Nowacki, Pewnosc prawa a zasada .. Lex retro non agit" (Die Rechts-
sicherheit und der Grundsatz ..lex retro non agit"), Zeszyty Naukowe Uni-
wersytetu l..6dzkiego 1964, H. 35, S. 25.
2 J escheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 3. Aufl. 1978, S. 108.

3 Schreiber, Gesetz und Richter. Zur geschichtlichen Entwicklung des Sat-


zes nullum crimen, nulla poena sine lege, 1976; Schünemann, Nulla poena
sine lege?, 1978; Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, 1983.
4 Andrejew, Polskie prawo karne w zarysie (Grundriß des polnischen
Strafrechts), 1976, S.39; Buchala, Prawo karne materialne (Das materielle
Strafrecht), 1980, S. 84.
236 Andrzej Spotowski

Prinzip "lex retro non agit" anzusehen seien5 • Sicher sind alle diese
Grundsätze eng miteinander verbunden; es scheint mir aber nicht
angebracht, nach einem über- oder Unterordnungsverhältnis zu suchen,
da die Regelungsbereiche dieser Grundsätze nur teilweise überein-
stimmen. Das Rückwirkungsverbot hat schon deshalb einen weiteren
Anwendungsbereich als das Prinzip "nullum crimen sine lege", weil
es auf andere Rechtsgebiete als das Strafrecht bezogen werden kann.
Andererseits besagt aber auch der Satz "nullum crimen sine lege"
mehr als ein bloßes Rückwirkungsverbot.
Im übrigen geht aus dem Grundsatz "nullum crimen sine lege" nur
hervor, daß Strafgesetze, die die Strafbarkeit bisher nicht strafbarer
Handlungen einführen, sich keine rückwirkende Kraft beilegen dür-
fen. Der nullum crimen-Satz bezieht sich dagegen nicht auf den Fall,
daß ein neues Strafgesetz nicht die Strafbarkeit neu einführt, sondern
nur andere Rechtsfolgen an eine schon früher für strafbar erklärte
Handlung knüpft. Hier stoßen wir auf das sehr umstrittene Problem
des Anwendungsbereichs des Rückwirkungsverbots 6 •
Es stellt sich die Frage, ob das Rückwirkungsverbot auf Gesetze
begrenzt werden soll, die die Strafbarkeit statuieren oder ob es auch
für andere Strafgesetze gilt. In der Lehre wurde erwogen, ob das
Rückwirkungsverbot auch auf Gesetze anzuwenden ist, die lediglich
Rechtsfolgen ändern oder das Strafverfahren anders gestalten. Ich
möchte auf diese Fragen an dieser Stelle nicht eingehen, sondern die
Differenzierung des Anwendungsbereichs des Rückwirkungsverbots
im Zusammenhang von dessen geschichtlicher Entwicklung im polnischen
Recht darstellen. Als allgemeine Einsicht voranzustellen ist nur, daß
die Anerkennung des Rückwirkungsverbots an sich wenig besagt; ent-
scheidend ist vielmehr, wie dieses Verbot verstanden und befolgt wird 7 •

Ir.
Die geschichtliche Entwicklung des Grundsatzes, daß neues Recht
nicht zurückwirken darf, reicht in Polen bis zu den ersten Quellen des
statuierten Rechts zurück. Der Grundsatz wurde schon Mitte des
14. Jahrhunderts in den Statuten für Kleinpolen angedeutet, die im
Jahre 1346 von König Kazimierz Wielki (Kasimir d. Großen) in Wislica
erlassen wurden. In Art. 1 (Kr61.) der Statuten wurde festgestellt, daß
das Recht Rechtsfolgen nur an gegenwärtige oder zukünftige, nicht
aber an vergangene Sachverhalte knüpft. Dies wurde in lateinischer

Nowacki (Anm. 1), S. 27.


6 Schreiber (Anm. 3), S. 140 H.
7 Mangakis, über die Wirksamkeit des Satzes "nulla poena sine lege",
ZStW 81 (1969), S. 998 H.
Das Rückwirkungsverbot im polnischen Recht 237

Sprache so formuliert: "Cum omnes constitutiones et statuta legern


imponant rebus et negotiis futuris et non praeteritis, volumus, ut
omnes nostrae constitutiones editae nunc in colloquio generali in
Wislicza non respiciant praeterita, sed tantummodo praesentia et
futura 8."
Diese Bestimmung, die in der der damaligen Zeit entsprechenden
Weise formuliert ist, bildet die Grundlage der weiteren Entwicklung
des Grundsatzes "lex retro non agit" in Polen; dies um so mehr, als
der Kern des von König Kazimierz Wielki statuierten Rechts ohne
wesentliche Änderungen über Jahrhunderte gegolten hat9 •
Die im Jahre 1494 vom Sejm in Piotrk6w beschlossene Verfassung
weist noch deutlicher darauf hin, daß das Recht Rechtsfolgen nur an
Sachverhalte anknüpfen darf, die in der Zukunft liegen10 •
Im 16. Jahrhundert wurde immer deutlicher herausgearbeitet, daß
das in den Statuten von Kazimierz Wielki formulierte Rückwirkungsver-
bot übergeordneten Charakter besitzt und sich daher nicht nur auf
die in den Statuten selbst enthaltenen Normen bezieht, sondern auch
dem späteren Gesetzgeber untersagt, rückwirkendes Recht zu statu-
ieren. Diese Meinung besagte also, daß die angeführte Regel der Sta-
tuten als allgemeiner Grundsatz zu betrachten sei, der auch an den
Gesetzgeber adressiert ist und dessen legislatorische Befugnisse be-
schränkt.
Im Jahre 1532 wurde der Entwurf einer Kodifikation des polnischen
Rechts ausgearbeitet, in dem sich der Grundsatz "lex retro non agit"
formuliert findet; zugleich wurden dort allerdings verschiedene Aus-
nahmefälle bestimmt. Nach diesem Entwurf darf ein Gesetz, das auf
frühere Sachverhalte anwendbar sein soll, nur dann erlassen werden,
wenn dies für die Gemeinschaft notwendig und nützlich ist ("aliqua
necessitas vel utilitas publica"). Der Entwurf aus dem Jahre 1532
wurde zwar vom Sejm nicht verabschiedet, hatte aber trotzdem große
Bedeutung für die Rechtsentwicklung in Polen.
Die oben genannten Bestimmungen bezogen sich auf das gesamte
polnische Recht, nicht nur auf das Strafrecht, das uns hier beson-

8 Grajewski, Granice czasowe mocy obowiqzujqcej norm dawnego prawa


polskiego (Die zeitlichen Grenzen der Geltung von Normen des alten pol-
nischen Rechts), 1970, S. 37.
9 Mogilnicki sah den Ursprung des Satzes "lex retro non agit" in einem
im Jahre 1425 von König Wladyslaw JagieUo erlassenen Gesetz, das mit den
Worten begann: "Neminem captivabimus nisi jure victum", Revue Inter-
nationale de Droit Penal 1937, S. 339 ff. Dieses Gesetz kann jedoch nur als
Ergänzung des oben angeführten Statuts angesehen werden, nicht als selb-
ständiger Ursprung der Sätze "lex retro non agit" oder "nullum crimen sine
lege".
10 Grajewski (Anm. 8), S. 38 ff.
238 Andrzej Spotowski

ders interessiert. Nunmehr soll untersucht werden, ob im alten pol-


nischen Strafrecht der Grundsatz "lex retro non agit" respektiert
worden ist.
In den Bestimmungen des alten polnischen Strafrechts von den
ersten bekannten Quellen bis zur Teilung Polens Ende des 18. Jahr-
hunderts läßt sich kein einziger Fall finden, in dem ein Strafgesetz
in der Weise mit rückwirkender Kraft erlassen worden wäre, daß es
die Strafbarkeit einer zuvor nicht strafbaren Handlung bestimmt
hätte. Das Rückwirkungsverbot bei strafbarkeitsstatuierenden Geset-
zen wurde demnach in Polen damals ausnahmslos beachtet.
Es gab jedoch im alten polnischen Recht Strafgesetze, die die Stra-
fen für schon früher strafbare Handlungen rückwirkend erhöhten,
wie beispielsweise das im Jahre 1510 vom Sejm in Piotrk6w verab-
schiedete Gesetz "De poena contra homicidas instituta", dem rückwir-
kende Kraft verliehen wurde. Es wurde dort ausdrücklich bestimmt,
daß das Gesetz auch auf Tötungen Anwendung findet, die zwischen
dem 24. Januar 1507 und dem 22. Februar 1510 verübt wurden; es sei
denn, sie waren schon vor dem 22. Februar 1510 (dem Tag der Verab-
schiedung des Gesetzes) abgeurteiltl1 •
Es ist also festzustellen, daß der Grundsatz "lex severior retro non
agit" im alten polnischen Strafrecht vielfach mißachtet worden ist.
Die Rechtsfolgen strafbarer Handlungen wurden des öfteren rückwir-
kend geändert, während die Strafbarkeit selbst nie rückwirkend an-
geordnet wurde.
Als kurz vor der Teilung Polens in der zweiten Hälfte des 18. Jahr-
hunderts der Versuch einer Kodifizierung des polnischen Strafrechts
unternommen wurde, schrieb der an diesen Arbeiten maßgeblich be-
teiligte Jurist Szymanowski: "Straftat ist nur eine Handlung, die durch
ein ausdrückliches Gesetz verboten ist; für die Straftat darf keine
andere Strafe verhängt werden als diejenige, die durch das Gesetz
ausdrücklich bestimmt ist12 ."
Es kann also gesagt werden, daß die Grundsätze "nullum crimen,
nulla poena sine lege" der Sache nach in Polen ebenso wie in anderen
Ländern schon damals voll anerkannt wurden, auch wenn Feuerbach
erst im Jahre 1801 die heute übliche Formulierung geprägt hat1s• Das-
selbe gilt für das mit diesen Prinzipien verbundene Rückwirkungs·
verbot.
11 Grajewski (Anm. 8), S. 78 ff.
12 Kodeks Stanislawa Augusta, Zbi6r dokurnent6w (Das Gesetzbuch von
Stanislaw August), 1938, S. 185 !f.
13 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen
Rechts, 1801, § 24, S. 20.
Das Rückwirkungsverbot im polnischen Recht 239

Die selbständige Entwicklung des polnischen Rechts wurde durch


die Teilung Polens für längere Zeit unterbrochen. Auf dem geteilten
polnischen Gebiet galten die von den Teilungsmächten Preußen, Öster-
reich und Rußland aufgezwungenen unterschiedlichen Rechtsordnungen.

III.
Die Auffassung des Rückwirkungsverbots in den oktroyierten
Rechtsordnungen war keineswegs einheitlich, obwohl im österreichi-
schen ebenso wie im preußischen Strafrecht das strafrechtliche Gesetz-
lichkeitsprinzip normiert war. Der strafrechtliche Gesetzesvorbehalt
wurde in beiden Rechtsordnungen im Laufe des 19. Jahrhunderts unter
dem Einfluß des Code penal Napoleon formuliert, der in Art.4 be-
stimmte: "Keine übertretung, kein Vergehen und kein Verbrechen
kann mit Strafen geahndet werden, die das Gesetz vor ihrer Begehung
nicht vorgesehen hatteu ."
Vom französischen Strafrecht ging auch direkter Einfluß auf die
Rechtsentwicklung in Polen aus. So wurde im Jahre 1811 erwogen,
im Fürstentum Warschau (Ksi~stwo Warszawskie) den Code Penal ein-
zuführen; dieser Vorschlag wurde jedoch verworfen. Bei der Vorberei-
tung eines Strafgesetzbuches für das Königreich Polen im Jahre 1818
zog man die Strafgesetze von Österreich, Preußen und Frankreich als
Vorbilder heran, wobei letztlich das österreichische Strafrecht das
Strafgesetzbuch für das Königreich Polen geprägt hat15 •
Es kann gesagt werden, daß der Grundsatz "nullum crimen sine
lege" und das mit ihm verbundene Rückwirkungsverbot für strafbar-
keitsbegründende Gesetze in dem auf polnischem Gebiet geltenden
Strafrecht im 19. Jahrhundert fest verankert waren. Die insbesondere
von Binding16 vorgebrachte Kritik dieser Grundsätze fand bei den
polnischen Strafrechtlern keinen Widerhall. Krzymuski 17 lehnte die
Meinung Bindings ab, und Makarewicz 19 fand zwar einige Einwände
begründet, verwarf aber Bindings Schlußfolgerungen.
Sowohl die geltenden Rechtsordnungen als auch die Meinungen in
der Strafrechtslehre gingen hinsichtlich der Behandlung der Rückwir-
kung von Strafgesetzen auseinander, die nur Rechtsfolgen ändern.

14 Krey (Anm. 3), S. 17 fi.


15 Sliwowski, Kodeks karzqcy Kr6lestwa Polskiego (1818 r.) (Strafgesetz-
buch des Königreichs Polen von 1818), 1958.
10 Binding, Die Normen und ihre übertretung, Bd. I, 1872, S. 175 fi., vgl.
dazu Schreiber (Anm. 3), S. 169 fi.
17 Krzymuski, Wyklad prawa karnego ze szczeg6lnym uwzglE:dnieniem
ustaw austriackich, 1885, S. 264 (Vortrag des Strafrechts).
18 Makarewicz, Einführung in die Philosophie des Strafrechts, 1905, S. 97 fi.
240 Andrzej Spotowski

Wenn nach Begehung der verbotenen Handlung, aber vor ihrer Ab-
urteilung das Strafgesetz geändert wird, sind folgende Regelungen
möglich:
1. Das alte Strafgesetz, zu dessen Geltungszeit die Handlung began-
gen worden ist, muß immer Anwendung finden;
2. das alte Gesetz findet Anwendung, außer, wenn das neue Gesetz
milder ist;
3. das neue Gesetz wird angewandt, außer wenn es strenger ist als
das alte;
4. das neue Gesetz wird immer angewandt19 •
Regelungen 2 und 3 führen praktisch zum gleichen Ergebnis, nur
daß bei gleicher Härte der Gesetze nach Regelung 2 das alte und nach
Regelung 3 das neue Gesetz anzuwenden ist.
In den auf polnischem Gebiet geltenden Rechtsordnungen galten
unterschiedliche Regelungen. Für den von Österreich annektierten Teil
Polens wurde schon am 17. Juni 1796 das Strafgesetzbuch für West-
galizien erlassen, das am 1. Januar 1797 in Kraft trat. Die Vorschriften
dieses Strafgesetzbuches konnten auf die vor seinem Inkrafttreten
begangenen Straftaten Anwendung finden, soweit sich dies zugunsten
des Angeklagten auswirkte. Ähnlich wurde die Frage bei der Einfüh-
rung der späteren österreichischen Strafgesetze gelöst20 •
Art. IV des Einführungsgesetzes zum Preußischen Strafgesetzbuch
von 1851 regelte die Frage der Rückwirkung mit den Worten: "Die
Strafbarkeit einer Handlung, welche vor dem 1. Juli 1851 begangen
ist, wird nach bisherigen Gesetzen beurteilt. Ist aber eine solche
Handlung in dem gegenwärtigen Strafgesetzbuche mit keiner Strafe
oder mit einer gelinderen als der bisher vorgeschriebenen bedroht, so
soll diese Handlung nach dem gegenwärtigen Strafgesetzbuche be-
urteilt werden." Der Sache nach dieselbe Regelung enthielt das StGB
für das Deutsche Reich von 1871 21 •
Das russische Strafgesetzbuch von 1903 enthielt eine hiervon ab-
weichende Regelung. Art. 14 dieses Strafgesetzbuches bestimmte, daß
das neue Strafgesetz auf alle strafbaren Handlungen angewandt wer-
den solle, die vor seinem Inkrafttreten begangen worden waren, soweit
sie zur Zeit der Begehung überhaupt strafbar waren 22 • Diese Regelung

19 Binding, Grundriß des gemeinen Deutschen Strafrechts, 1897, S.65.


Traeger, Die zeitliche Herrschaft des Strafgesetzes, VDA, Allg. Teil Bd. VI,
1908, S. 321 ff.
20 Salmonowicz, Prawo karne oswieconego absolutyzmu (Das Strafrecht
des aufgeklärten Absolutismus), 1966, S. 117.
21 Krey (Anm. 3), S. 21 ff.
Das Rückwirkungsverbot im polnischen Recht 241

entspricht der in der deutschen Strafrechtslehre insbesondere von


Binding vertretenen Meinung, daß Strafgesetze durchaus zurückwir-
ken können. Diese Auffassung von Binding fand zwar in der deut-
schen Strafrechtslehre nur wenige Befürworter23 und hatte auch kei-
nen Einfluß auf das deutsche Strafrecht, blieb aber im polnischen
Recht nicht ohne Widerhall, wie sich auch noch zu viel späterer Zeit
zeigte.
Interessanterweise machte das russische Strafgesetzbuch bei den
Verjährungsfristen eine Ausnahme von der Rückwirkung neuer Straf-
gesetze. Sah das alte Gesetz eine kürzere Verjährungsfrist vor als das
neue, so war die Verjährung nach dem alten Gesetz zu bemessen.
Hier war also die Frage der Rückwirkung von Verjährungsfristen
eindeutig geregelt, obwohl es damals in der Strafrechtslehre durchaus
strittig war, ob Verjährungsfristen rückwirkend geändert werden dür-
fen24 • In der deutschen Strafrechtslehre des 19. Jahrhunderts wurde
die Verlängerung von Verjährungsfristen mit rückwirkender Kraft
auch von solchen Autoren für zulässig erklärt, die eine generelle
Rückwirkung von Strafgesetzen ablehnten25 • Das russische Strafgesetz-
buch machte es umgekehrt: Es ließ die Rückwirkung strengerer Straf-
gesetze im allgemeinen zu und schloß die rückwirkende Verlängerung
von Verj ährungsfristen aus.

IV.
Als Polen nach dem Ersten Weltkrieg die Unabhängigkeit wieder-
gewann, begann ein neu es Kapitel der Entwicklung des polnischen
Strafrechts. Zunächst blieben jedoch die Strafgesetzbücher der Besat-
zungsmächte in Kraft und somit auch die in ihnen enthaltenen Grund-
sätze "nullum crimen, nulla poena sine lege" sowie das damit verbun-
dene Rückwirkungsverbot. Diese Grundsätze wurden auch in der pol-
nischen Strafrechtslehre dieser Zeit übereinstimmend anerkannt 26 •
Glaser27 ging von der Geltung des Grundsatzes "lex retro non agit"
aus, machte jedoch den Vorbehalt, daß das neue Gesetz auf die vor

22 Glaser, 0 mocy obowiqzujqcej ustawy karnej pod wzgl~dem czasu


(über die zeitliche Geltung des Strafgesetzes), 1921, S. 25.
23 Schreiber (Anm. 3), S. 169 ff.

24 Schreiber, Zur Zulässigkeit der rückwirkenden Verlängerung von Ver-


jährungsfristen früher begangener Delikte, ZStW 80 (1968), S. 348 ff.
25 Zachariae, über die rückwirkende Kraft neuer Strafgesetze, 1834, S. 43 ff.;
Seeger, über die rückwirkende Kraft neuer Strafgesetze, 1862, S. 167 ff.
2B Glaser (Anm.22), S.21; Makarewicz, Prawo karne og6lne (Das allge-
meine Strafrecht), 1914, S. 55; Makowski, Prawo karne, cz~sc og6lna (Das
Strafrecht, Allg. Teil), S. 114.
27 Glaser (Anm.22), S.21; Nullum crimen sine lege, Juristische Blätter
1935, S. 252 ff.

16 Festschrift für H.-H. Jescheck


242 Andrzej Spotowski

seiner Geltung begangenen Handlungen anzuwenden sei, wenn es


milder ist als das alte. Er führte aus, die jedem Bürger zustehende
Freiheit lasse es nicht zu, eine Handlung, die zur Zeit der Begehung
nicht verboten war, später für strafbar zu erklären. Glaser führte wei-
ter aus, daß jede menschliche Handlung ziel gerichtet sei: Bevor der
Mensch zu handeln beginne, überlege und untersuche er die Verhält-
nisse und Umstände. Er entscheide sich erst dann, etwas zu tun, was
die Verwirklichung seines Handlungszieles ermögliche. Das Bestehen
gesetzlicher Bestimmungen zum Zeitpunkt der Handlung bilde aber
häufig einen der Umstände, von denen der Mensch sein Handeln ab-
hängig mache.
Krzymuski meinte, der Täter erwerbe aufgrund des zur Zeit der
Begehung der Tat geltenden Strafgesetzes einen Anspruch darauf, daß
seine Schuld nicht aufgrund eines strengeren Strafgesetzes beurteilt
werde 28 •
Auch andere Vertreter der polnischen Strafrechtslehre haben das
Rückwirkungsverbot voll anerkannt und ihm große Bedeutung bei-
gemessen. Dies karn besonders klar in den polnischen Landesberichten29
zum IV. Kongreß der Association Internationale de Droit Penal in Paris
von Mogilnicki, Glaser und Wolter sowie in zahlreichen polnischen
Diskussionsbeiträgen auf diesem Kongreß zum Ausdruck30 •
Die Haltung der Strafrechtslehre, in der damals niemand die Mei-
nung vertrat, das strengere Strafgesetz solle zurückwirken können,
wenn es sich auf eine schon vorher strafbare Handlung bezieht, fand
ihren Niederschlag in dem polnischen Strafgesetzbuch des Jahres 1932,
das die bis dahin in Polen geltenden Strafgesetze aus der Teilungszeit
ersetzte.
Art. 1 des StGB von 1932 besagte, daß derjenige strafrechtlich ver-
antwortlich ist, der eine Handlung begeht, die durch ein zur Zeit ihrer
Begehung geltendes Gesetz unter Androhung von Strafe verboten ist.
Makarewicz, der als Vater dieses Strafgesetzbuches gelten kann, kom-
mentierte, daß diese Vorschrift dem Standpunkt des modernen Straf-
rechts entspreche, das das Gesetzbuch als Magna Charta des Bürgers
auffasse; es sei unzulässig, jemanden wegen einer Handlung zu be-
strafen, wenn die Gesellschaft die Strafe nicht vor Begehung der Tat
angedroht habe s1 •

28 Krzymuski, Wyklad prawa karnego (Vortrag des Strafrechts), Bd. I,


1911, S. 273.
2g Siehe Revue Internationale de Droit Penal1937, S. 337 ff.
so Siehe Quatrieme Congres, 1939, S. 65,72,81,87 und 97.
31 Makarewicz, Kodeks karny z komentarzem (Strafgesetzbuch mit Kom-
mentar), 1932, S. 45.
Das Rückwirkungsverbot im polnischen Recht 243

Makarewicz berief sich in diesem Zusammenhang auf Art. 98 der


polnischen Verfassung von 1921, der bestimmte, daß die Verfolgung
eines Bürgers und die Zumessung von Strafe nur aufgrund eines gel-
tenden Gesetzes zulässig ist. Diese Verfassung enthielt jedoch in Art. 3
auch die Bestimmung, daß ein vom Sejm beschlossenes Gesetz in der
Zeit gelte, die es selbst bestimmt. Diese Formulierung läßt auch die
rückwirkende Geltung eines Gesetzes zu. Es muß daher gesagt wer-
den, daß die polnische Verfassung des Jahres 1921 kein allgemeines
Rückwirkungsverbot festlegte. Dennoch wurden unter der Geltung
dieser Verfassung keine rückwirkenden Strafgesetze erlassen. Im Jahre
1935 wurde eine neue polnische Verfassung verabschiedet, die in Art. 68
Nr.4 ausdrücklich den Grundsatz "nullum crimen sine lege" aner-
kannte. Dadurch erlangte auch das aus diesem Grundsatz abgeleitete
Rückwirkungsverbot den Rang einer Verfassungsnorm. Dieser Rechts-
zustand war aber nur von kurzer Dauer, denn schon im September
1939 verhinderte der Zweite Weltkrieg die weitere Anwendung der
Verfassung von 1935 in Polen. Durch Manifest vom 22. Juli 1944 der
neu in Polen etablierten Staatsmacht wurde die Verfassung von 1935
formell außer Kraft gesetzt und die Geltung der Grundsätze der Ver-
fassung von 1921 wiederhergestellt. Diese Verfassungsänderung war
auch für die hier erörterte Problematik von großer Bedeutung, denn
sie beseitigte die Verfassungsnorm, die den Grundsatz "nullum crimen
sine lege" statuierte. Dies blieb nicht ohne Folgen.
Es ist noch hinzuzufügen, daß das Strafgesetzbuch von 1932 in Art. 2
die Rückwirkung neuer Gesetze anordnete; das alte Gesetz blieb jedoch
für die unter seiner Geltung begangenen Taten anwendbar, wenn
es milder war. Die Änderung der Verjährungsfristen wurde nicht ge-
sondert geregelt, in der Lehre verwies man insoweit auf die Ergeb-
nisse der deutschen Strafrechtslehre32 •

V.
Das Strafgesetzbuch von 1932 blieb in Polen auch nach 1944 noch
viele Jahre in Kraft, obwohl eine sozialistische Gesellschaftsordnung
und eine neue Rechtsordnung geschaffen worden waren. So blieben
die Grundsätze "nullum crimen, nulla poena sine lege" und das damit
verbundene Rückwirkungsverbot weiterhin im polnischen Strafrecht
erhalten. Auch in der Strafrechtslehre wurden diese Grundsätze wei-
terhin anerkannt33 • Dem Rückwirkungsverbot wurde sogar noch grö-
ßere Bedeutung zugemessen.
32 Glaser (Anm. 22), S. 32.
33 Sliwi1tski, Polskie prawo karne materialne (Polnisches materielles
Strafrecht), 1946, S. 40 ff.; Walter, Wyklad prawa karnego (Vortrag des Straf-
rechts), 1947, S. 27.

16·
244 Andrzej Spotowski

Andrejew, LerneIl und Sawicki schrieben in ihrem "Lehrbuch des


Strafrechts", das durchweg von der marxistischen Ideologie geprägt
war, daß der Grundsatz "lex retro non agit" in einer Volksrepublik
von besonderer Bedeutung sei. In der neuen Gesellschaftsordnung
komme der Strafgesetzgebung eine besonders wichtige Erziehungs-
rolle zu, in einem Grade, der über die Erziehungsfunktion des Straf-
rechts in anderen Systemen hinausgehe. Die Anwendung des neuen
Gesetzes auf vorher begangene Taten entspreche dessen Erziehungs-
aufgabe nicht mehr. Der Grundsatz "lex retro non agit" hat nach An-
sicht von Andrejew, Lernell und Sawicki besondere Bedeutung auch
im Hinblick auf die sozialistische Gesetzlichkeit und bildet eine Garan-
tie für die Sicherheit der Bürger, die im Rahmen des geltenden Rechts
völlig frei handeln können, ohne das Risiko einzugehen, daß nach
einer Gesetzesänderung ihr Verhalten zum Gegenstand eines Straf-
verfahrens wird 34 • Diese Begründung des Rückwirkungsverbots ist
nicht neu; sie verdient aber deswegen besondere Aufmerksamkeit,
weil sie gerade für das sozialistische Strafrecht gelten soll.
In den Jahren 1944 und 1946 wurden allerdings in Polen Strafgesetze
erlassen, die eindeutig rückwirkende Kraft haben sollten. Der Grund-
satz "lex retro non agit" sollte nicht gelten für bestimmte Taten, die
vor oder während des Zweiten Weltkrieges begangen wurden. Es han-
delt sich hierbei um die folgenden Dekrete: Dekret vom 31. August 1944
über die Strafzumessung für faschistisch-hitlerische Verbrecher, die
der Tötung und Mißhandlung von Zivilpersonen und Kriegsgefangenen
schuldig sind, und für Verräter des polnischen Volkes; Dekret vom
22. Januar 1946 über die Verantwortlichkeit für die Septembernieder-
lage und die Faschistisierung des Staatslebens; Dekret vom 28. Juni
1946 über die strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Verleugnung
der Nationalität während des Krieges 1939 _1945 35 •
Diese Dekrete enthielten Rückwirkungsklauseln. Art. 9 des Dekrets
vom 31. August 1944 bestimmte, daß die Vorschriften dieses Dekrets
auf Taten Anwendung finden, die in der Zeit vom 1. September 1939
bis zum 9. Mai 1945 begangen wurden; und Art. 10 des Dekrets vom
22. Januar 1946 lautete: "Dieses Dekret tritt am Tage seiner Veröffent-
lichung in Kraft und findet Anwendung auf alle Straftaten, die in die-
sem Dekret beschrieben sind und vor dem 1. September 1939 begangen
wurden."
Die Rückwirkung dieser Dekrete wurde damit begründet, daß die
dort inkriminierten Taten der polnischen Nation großen Schaden zu-

34 AndrejewjLernelljSawicki, Prawo karne Pol ski Ludowej (Das Straf-


recht von Volkspolen), 1954, S.271.
35 Geilke, Die polnische Strafgesetzgebung seit 1944, 1955, S. 83 ff.
Das Rückwirkungsverbot im polnischen Recht 245

fügten und daß zur Zeit ihrer Begehung kein polnischer Gesetzgeber
existierte, der entsprechende Strafgesetze hätte erlassen können,
außerdem seien die in diesen Dekreten beschriebenen Handlungen
schon zur Zeit ihrer Begehung als gesellschaftlich verwerflich ange-
sehen worden3e • Schließlich wurde hervorgehoben, daß das Rückwir-
kungsverbot nicht den Rang einer Verfassungsnorm besitze und daß
daher von ihm abgewichen werden dürfe31 •
Bei der Erörterung der Rückwirkung der angeführten Dekrete muß
zwischen den Dekreten von 1946 und dem Dekret von 1944 unter-
schieden werden. In der polnischen Strafrechtslehve wird nämlich
darauf hingewiesen, daß das Dekret von 1944, das die Verantwortlich-
keit für NS-Verbrechen regelte, den Grundsatz "nullum crimen si ne
lege poenali anteriori" nicht verletzt hat. So führt Kubicki 38 aus, daß
es keinem Zweifel unterliege, daß alle von diesem Dekret erfaßten
Taten schon zur Zeit ihrer Begehung rechtswidrig und strafbar ge-
wesen seien. Das Dekret habe die Rechtswidrigkeit der Taten nicht
ex post facto bestimmt, sondern nur eine neue, synthetische Rechts-
konstruktion geschaffen, die das Recht näher an die konkreten sozia-
len Geschehnisse herangeführt habe. Das Dekret habe lediglich die
richtige Qualifizierung der Straftaten erleichtert und die Strafen im
Hinblick auf die besonderen Umstände der Tatbegehung verschärft.
Die Rückwirkung dieses Dekrets verletze daher nur den Grundsatz
"lex poenalis retro agit cum exceptione legis severioris". Kubicki ver-
weist in diesem Zusammenhang auf die in der deutschen Strafrechts-
lehre insbesondere von Binding vertretene Meinung, daß strengere
neue Strafgesetze auch auf früher begangene Straftaten Anwendung
finden sollen.
Bei den polnischen Prozessen gegen Kriegsverbrecher wurden die
Straftaten einer doppelten Qualifikation unterzogen. In den Anklage-
schriften und gelegentlich auch in Urteilen wurden die Delikte sowohl
unter die Bestimmungen des polnischen Strafgesetzbuches von 1932
als auch unter die Tatbestände des Dekrets von 1944 subsumiert, wobei
letzteres die Grundlage für die Strafzumessung bildete89 • Wahrschein-
lich wurde diese Vorgehensweise gewählt, um die Strafbarkeit der
Taten auch nach dem zur Zeit der Begehung der Straftat geltenden
polnischen Strafrecht zu unterstreichen.
Die beiden Dekrete von 1946 erklärten dagegen eindeutig rückwir-
kend die Strafbarkeit von Handlungen, die zur Zeit der Begehung
36 Andrejew (Anm. 4), S. 42; Buchala (Anm. 4), S. 84.
31 Wolter (Anm. 33), S. 27.
88 Kubicki, Zbrodnie wojenne w swietle prawa polskiego (Die Kriegs-
verbrechen nach polnischem Recht), 1963, S. 70 ff.
30 Kubicki (Anm. 38), S. 59.
246 Andrzej Spotowski

straflos waren und verletzten damit das aus dem Grundsatz "nullum
crimen sine lege" abgeleitete Rückwirkungsverbot.
In der polnischen Strafrechtslehre wird der Ausnahmecharakter die-
ser Dekrete unterstrichen. So meint etwa 8wida, daß die Interessen
des einzelnen in der damaligen Situation dem Interesse der Gesell-
schaft hätten weichen müssen40 , und Wolter bezeichnet die Abweichung
vom Rückwirkungsverbot in bezug auf die verbrecherische Kollabora-
tion mit der Besatzungsmacht als soziale Notwendigkeit41 • Diese Argu-
mentation erinnert an die im Jahre 1532 formulierte Regel, daß "neces-
sitas vel utilitas publica" das Abweichen vom Grundsatz "lex retro
non agit" rechtfertige. Ähnliche Gesetze, die die Kollaboration mit der
Besatzungsmacht rückwirkend unter Strafe stellten, wurden auch in
anderen Ländern (Belgien, Dänemark, Niederlande) erlassen42 •
Vergegenwärtigt man sich noch das Londoner "Abkommen über die
Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse" vom
8.8.1945 sowie das Kontrollratsgesetz (KRG) Nr.10 über die Bestra-
fung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den
Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben, vom
20.12.1945 43 , so fügen sich die angeführten polnischen Dekrete ohne
weiteres in die Rechtsentwicklung der damaligen Zeit auf internatio-
naler Ebene ein. Die ganz und gar außergewöhnlichen Umstände der
Kriegsführung und der Besetzung führten dazu, daß das Rückwir-
kungsverbot an Bedeutung verlor und vielfach verletzt wurde.

VI.
Die geltende Verfassung der Volksrepublik Polen, die im Jahre 1952
vom Sejm verabschiedet wurde und im Laufe der Jahre mehrere
Änderungen erfahren hat, enthält keine ausdrückliche Bestimmung
über das Rückwirkungsverbot im allgemeinen oder im Strafrecht. Ein
namhafter Verfassungsrechtler 44 behauptet zwar, daß die Verfassungs-
kraft der Grundsätze "nullum crimen, nulla poena sine lege" ohne
Zweifel feststehe, obwohl es in keiner Bestimmung der Verfassung
eigens geregelt sei. Diese Meinung wurde jedoch von der Lehre nicht
übernommen.

40 Swida, Prawo karne (Strafrecht), 1978, S. 92.


41 Wolter (Anm. 33), S. 27.
42 Vgl. dazu Guradze, Die Europäische Menschenrechtskonvention, 1968,
S.115; Vrij, Kanttekeningen op het besluit buitengewoon Strafrecht, Tijd-
schrift voor Strafrecht 1946, S. 159 ff.
43 Krey (Anm. 3), S. 65 ff.

44 Rozmaryn, Ustawa w Polskiej Rzeczypospolitej Ludowej (Das Gesetz


in der Volksrepublik Polen), 1964, S. 170.
Das Rückwirkungsverbot im polnischen Recht 247

Das geltende Strafgesetzbuch von 1969, das das Strafgesetzbuch von


1932 abgelöst hat, regelt die Frage der Rückwirkung in gleicher Weise
wie das frühere Recht. Auch das neue StGB baut auf den Grundsätzen
"nullum crimen, nulla poena sine lege" auf und Art. 2 § 1 verbietet
die Rückwirkung eines strengeren Strafgesetzes.
In der Strafrechtslehre wird das Rückwirkungsverbot nach wie vor
allgemein befürwortet. In letzter Zeit kam es jedoch zu Meinungsver-
schiedenheiten über das Rückwirkungsverbot, genauer gesagt über
den Begriff der Rückwirkung. Den Anlaß hierzu gab das Dekret vom
12.12.1981 über den Kriegszustand45 , das in dem vom 14.12.1981 datie-
renden Gesetzblatt amtlich verkündet wurde, sowie die Einführung
des Kriegszustandes in Polen am 13. 12. 1981.
Das Dekret über den Kriegszustand enthielt auch Strafbestimmun-
gen, die sowohl die Strafen für einige schon zuvor strafbare Hand-
lungen erheblich erhöhten als auch zuvor rechtmäßige Handlungen
neu unter Strafe stellten. Das Dekret enthielt auch eine besondere
Klausel, die den Beginn seiner Geltung bestimmen sollte. Art. 61 des
Dekrets besagte, daß es vom Tage seiner Verkündung an gelten sollte,
jedoch mit Wirkung von dem Tage an, an dem es beschlossen wurde 46 •
Diese Klausel führte in der polnischen Strafrechtslehre zu Meinungs-
verschiedenheiten darüber, seit wann das Dekret in Kraft sei, ob die
Klausel als Anordnung der Rückwirkung zu verstehen sei und ins-
besondere ob die in dem Dekret enthaltenen Strafbestimmungen auf
Handlungen anzuwenden seien, die zwischen der Einführung des
Kriegszustandes am 13.12.1981 und der Verkündung des Dekrets be-
gangen wurden.
Teilweise wird die Meinung vertreten, daß es bei dem geschilderten
Sachverhalt keine Rückwirkung gebe, da Art. 61 des Dekrets den Be-
ginn der Rechtswirkung auf den Tag des Beschlusses festlege. Da das
Dekret am 12. 12. 1981 beschlossen worden sei, könne keine Rede von
Rückwirkung sein, wenn es vom 13.12.1981 an angewandt werde47 •
Dem wird jedoch entgegengehalten, daß der erste Teil der in Art. 61
enthaltenen Klausel nicht außer acht gelassen werden dürfe und daß
kein Gesetz ohne rechtmäßige Verkündung im amtlichen Gesetzblatt
Rechtswirkung erlangen könne. Maßgeblich für den Beginn der Rechts-

45 E. Weigend, Das Straf- und Strafprozeßrecht in Polen unter der Mili-


tärregierung, JR 1982, S. 133 ff.
46 Auf polnisch lautet die Klausel: "Dekret wchodzi w zycie z dniem
ogloszenia z mOCq od dnia uchwalenia".
47 Szwacha, Dwa sporne zagadnienia (Zwei strittige Fragen), Panstwo i
Prawo 1983, H. 1, S. 103 ff. Auch der polnische Justizminister Zawadzki be-
stritt die Rückwirkung des Dekrets, s. Polityka vom 20. 3. 1982.
248 Andrzej Spotowski

wirkung sei daher nicht der Tag des Beschlusses, sondern der Tag der
amtlichen Verkündung. Wenn aber der Tag der Verkündung ent-
scheide, dann müsse die Anwendung des Dekrets auf vorher began-
gene Handlungen als Rückwirkung bezeichnet werden 48 •
Die Vertreter dieser Auffassung führen weiter aus, daß Art. 1 StGB
die Rückwirkung nicht auszuschließen vermöge, weil das Rückwir-
kungsverbot nicht in der Verfassung verankert sei und weil nach
Art.121 StGB die Bestimmungen des Allgemeinen Teils auf die in
anderen Gesetzen geregelten Straftaten nur insoweit Anwendung fän-
den, als diese Gesetze keine anderen Regelungen treffen. Das Dekret
vom 12. 12. 1981 enthalte also eine Rückwirkungsklausel, die dem Art. 1
StGB vorgehe 49 •
Dem wird wiederum entgegengehalten, daß der polnische Gesetz-
geber daran gehindert sei, das Rückwirkungsverbot durch Gesetz auf-
zuheben, da Polen im Jahre 1977 den Internationalen Pakt über bür-
gerliche und politische Rechte unterzeichnet habeSO. Art. 15 dieses Pak-
tes bestimmt bekanntlich, daß niemand wegen einer Handlung oder
Unterlassung verurteilt werden darf, die zur Zeit ihrer Begehung
nicht nach inländischem oder internationalem Recht strafbar ist. Die-
ser Hinweis ist zwar von großer Bedeutung; ihm liegt jedoch die in
Polen vielfach bestrittenes I Annahme zugrunde, daß die Normen des
Völkerrechts im Inland unmittelbar anwendbar oder daß die gegen
diese Normen verstoßenden Gesetze nichtig seien.
Die Anwendung der im Dekret über den Kriegszustand enthaltenen
Strafgesetze auf die vor seiner amtlichen Verkündung begangenen
Taten wird schließlich auch aus dogmatischen Gründen für unzulässig
erklärtS2 . Das polnische StGB von 1969 steht bei der Regelung des Ver-
botsirrtums auf dem Standpunkt der Schuldtheorie und verlangt als
Voraussetzung der Strafbarkeit die Einsicht in die Rechtswidrigkeit

48 Kochanowskilde Virion, Glosa do wyroku z 1. 3. 1982, V KRN 50/82 (An-


merkung zum Urteil des Obersten Gerichts vom 1. 3. 1982), Panstwo i Prawo
1982, H. 9, S. 148 ff.
49 Kochanowski/de Virion (Anm. 48).
50 Maurer, Uwagi na temat glosy J. Kochanwskiego i T. de Virion (Bemer-
kungen zu der Anmerkung von J. Kochanowski und T. de Virion), Panstwo
i Prawo 1983, H. 1, S. 107.
51 Vgl. Bafia, Ratyfikacja Pakt6w praw czlowieka w PRL (Die Ratifizie-
rung des Paktes der Menschenrechte in der Volksrepublik Polen), Panstwo
i Prawo 1977, H.4, S.3.
U Kochanowski/de Virion, Zagadnienie swiadomosci bezprawnosci a od-
powiedzialnosc z dekretu 0 stanie wojennym (Das Unrechts bewußtsein und
die Verantwortlichkeit nach dem Dekret über den Kriegszustand), Panstwo
i Prawo 1983, H.3, S.96; ders., Z zagadnien ogloszenia ustawy (formuly pro-
mulgacyjne a zasada lex retro non agit) (über die Verkündung des Gesetzes),
Studia Prawnicze (im Druck).
Das Rückwirkungsverbot im polnischen Recht 249

der Handlung oder zumindest die Möglichkeit dieser Einsicht. Solange


eine Tat nicht durch ein wirksames Gesetz für rechtswidrig erklärt
wird, könne aber niemand die Rechtswidrigkeit erkennen, da sie gar
nicht vorhanden ist. Habe der Täter aber keine Unrechtseinsicht be-
sessen und habe er sie auch nicht erlangen können, so dürfe er wegen
seiner Handlung auch nicht bestraft werden. Daraus ergebe sich, daß
die durch das Dekret unter Strafe gestellten Taten, die vor dessen
amtlicher Verkündung begangen wurden, straflos bleiben müßten und
zwar ungeachtet der Tatsache, daß das Dekret schon am 13. 12. 1981
durch Fernsehen und Rundfunk bekanntgegeben wurde. Eine derartige
Bekanntgabe könne weder einem Gesetz Rechtswirkung verleihen noch
die Rechtswidrigkeit der von diesem Gesetz verbotenen Taten begrün-
den. Sie informiere lediglich über die zukünftige Rechtswidrigkeit;
die Einsicht in die zukünftige Rechtswidrigkeit könne aber nicht mit
der Einsicht in die aktuelle Rechtswidrigkeit gleichgestellt werden.
Es handelt sich nach dieser Argumentation keineswegs darum, daß
Kenntnis des Strafgesetzes selbst verlangt wird. Es gehe vielmehr
darum, daß die Rechtswidrigkeit der durch das Dekret über den
Kriegszustand verbotenen Taten vor dessen Verkündung nicht vorhan-
den gewesen sei und daher von niemandem habe erkannt werden
können, selbst von demjenigen nicht, der den Wortlaut der später in
Kraft tretenden Gesetze kannte. Diese Argumentation fand jedoch
nicht die Zustimmung der Rechtsprechung. Das Oberste Gericht stellte
in einem Urteil vom 1. 3.1982 vielmehr fest, daß man sich auf das Feh-
len der Unrechtseinsicht nicht berufen könne, wenn die im Gesetz
(Dekret) bestimmten Verbote, Gebote oder Einschränkungen vor der
Verkündung im Gesetzblatt durch die Massenmedien bekannt gegeben
wurden und der Täter durch diese Medien von den Verboten, Geboten
und Einschränkungen erfahren hat oder erfahren konnte 53 • In der
Praxis wurde das Dekret tatsächlich auch auf vor seiner amtlichen
Verkündung begangene Taten angewandt. Dies muß kritisiert werden.

VII.

Die dargestellte Entwicklung des Rückwirkungsverbots im polni-


schen Recht zeigt, daß dieses Verbot seit langer Zeit in der polnischen
Rechtsordnung und insbesondere im polnischen Strafrecht verankert
ist. Das Verbot bedeutete ursprünglich vor allem, daß strafbarkeits-
begründende Gesetze nicht zurückwirken dürfen. Erst viel später trat
das Verbot der Rückwirkung von Strafschärfungen hinzu. Die rück-
wirkende Verlängerung von Verjährungsfristen war ausdrücklich nur

53 Wyrok Sqdu Najwyzszego z 1. 3. 1982, V KRN 50/82, Pailstwo i Prawo


1982, H. 9, S. 148.
250 Andrzej Spotowski

nach dem russischen StGB von 1903, das kurze Zeit in einem Teilgebiet
Polens galt, verboten.
Die Berechtigung des Rückwirkungsverbots wurde in der polnischen
Strafrechtslehre nie grundsätzlich in Frage gesteIlt, wenn auch die
Nichtbefolgung dieses Verbots in Ausnahmesituationen als gerechtfer-
tigt angesehen wurde.
Der Grundsatz "lex retro non agit" wurde in der polnischen Lehre
unterschiedlich begründet. Die unterschiedlichen Begründungen wur-
den jedoch von Nowacki 54 auf einen gemeinsamen Nenner gebracht:
Allen Begründungen des Rückwirkungsverbots liege letztlich der Ge-
danke der: Rechtssicherheit zugrunde. Die Rechtssicherheit stelle einen
festen Wert im Rechtsleben dar, und das Rückwirkungsverbot diene
dem Schutz dieses Wertes. Die Auffassung des Rückwirkungsverbots
sei davon abhängig, welcher Werthierarchie man sich verpflichtet fühle
und insbesondere an welcher Stelle der Hierarchie die Rechtssicherhen
rangiere. Es sei selbstverständlich, daß es manchmal zu Kollisionen
zwischen verschiedenen Werten komme. Auch der Wert der Rechts-
sicherheit könne in Widerspruch zu anderen anerkannten Werten
treten; wie dann zu verfahren sei, hänge wiederum von der Stellung
der widerstreitenden Werte in der Hierarchie ab. Der niedriger ein-
gestufte Wert müsse in der Regel dem höher eingestuften Wert wei-
chen; dies gelte auch für die Rechtssicherheit.
Die Stellung des Rückwirkungsverbots im Rechtssystem und die
Beachtung dieses Verbots hängen nach dieser Auffassung davon ab,
wo der Wert der Rechtssicherheit in der vom Gesetzgeber anerkannten
Werthierarchie eingestuft wird. Als je wichtiger der Wert der Rechts-
sicherheit angesehen wird, desto bedeutender ist die Rolle, die das
Rückwirkungsverbot im ReChtssystem spielt, desto umfangreicher ist
sein AnwendungsbereiCh und desto seltener wird das Verbot verletzt.
Diese Auffassung des Rückwirkungsverbots erklärt dessen Funk-
tion im Rechtssystem meiner Ansicht nach am besten. Sie begründet
auch die Fälle der DurchbreChung dieses Verbots in Ausnahmefällen.
Solche Fälle liegen nämlich dann vor, wenn der Gesetzgeber meint,
einen höher eingeschätzten Wert nur unter Preisgabe der ReChtssicher-
heit wirksam sChützen zu können. Diese Situation bestand wohl auCh
in den dargestellten Fällen der Rückwirkung von Strafgesetzen in
Polen.

54 Nowacki (Anm. 1), S. 32 ff.


ARMIN KAUFMANN·

"Objektive Zurechnung" beim Vorsatz delikt?

I. Vorbemerkungen

1. Teleologische Imputationslehren
a) Imputativitas und imputatio, diese beiden Begriffe verdankt das
Strafrecht Putendort. Jedenfalls ein Jahrhundert lang, bis gegen Ende
des vorigen, hat die "Zurechnungslehre" die Strafrechtswissenschaft
dominiert. Der Streit der Hegelianer um die Imputationen und der
Durchbruch zum schuldlosen Unrecht brachten auch die alten Begriffe
in Mißkredit. In der Fachsprache (Zurechnungsfähigkeit) haben sie sich
bis heute gehalten. Von modernen Zurechnungslehren dürfen wir aller-
dings nicht ohne weiteres erwarten, daß sie an alte "Imputationen" an-
knüpfen.
b) Von der "Teleologie" eines Systems oder einer Zurechnungslehre
ist wohl erst neuerdings häufiger die Rede. Das darf nicht zu dem
Fehlschluß verleiten, die Teleologie selbst sei etwas für das Strafrecht
Neues. Ich kenne aus den letzten 200 Jahren kein ernsthaftes System-
konzept, das nicht als "teleologisch" in dem Sinne gekennzeichnet wer-
den müßte, daß dem Strafrecht eine Aufgabe gesetzt wird, auf die hin
oder in deren Rahmen die Dogmatik zu entfalten ist. Daß dies fast nie
völlig friktionsfrei gelungen ist - zumal, wenn de lege lata kon-
zipiert wurde - ist eine andere Frage. - Auch die in Betracht kom-
menden Zielsetzungen sind so mannigfaltig nicht. Zur Wende ins
19. Jahrhundert sind die möglichen "Strafzwecke" überwiegend kon-
zipiert, zum Teil schon oder alsbald kodifiziert: die Zweispurigkeit im
ALR für die Preußischen Staaten und die abschreckende Generalprä-
vention im Bayerischen StGB. Selbst das, was - von Verbindungen
abgesehen - sehr viel später neu hinzugekommen ist, nämlich Welzels
"sozial-ethische Funktion" des Strafrechts ("der positive Aspekt der
Generalprävention")l hat in Ansätzen frühe Vorläufer. - Die Teleolo-

* Meinem Forschungsseminar im WS 1983/84 danke ich für die anregen-


den Diskussionen.
1 Dazu Armin Kaufmann, Strafrechts dogmatik zwischen Sein und Wert,
S.288.
252 Armin Kaufmann

gie des Konzeptes ist evident bei Feuerbach oder bei v. Liszt, ebenso
bei SWbel oder bei Binding; aber auch in den vielen anderen Systemen
fehlt sie keineswegs.
Damit soll selbstverständlich nicht geleugnet werden, daß es in zwei
Jahrhunderten ein entschiedenes Fortschreiten gegeben hat, sowohl in
der Strafzwecklehre als auch in der Dogmatik, ebensowenig, daß von
neuen Konzepten weitere Erkenntnis erwartet werden kann. Nur die
Teleologie selbst ist nicht das Neue.

c) Von "objektiver Zurechnung" ist schon sehr viel früher gelegent-


lich und unbefangen gesprochen worden. Die heute moderne Begriffs-
verwendung, wie sie in der "Lehre von der objektiven Zurechnung"
Gestalt gewonnen hat, führt - sehe ich recht - in zwei Entwicklungs-
linien zu Hegel zurück, ohne jedoch in dessen Philosophie einen festen
Ausgangspunkt zu besitzen. Gleichwohl hat Larenz aus den Gedanken
Hegels für das Zivilrecht eine "objektive Zurechnung" entwickelt2 •
Diese Lehre ("objektive Bezweckbarkeit") ist von Honig 3 in das Straf-
recht übernommen worden mit der deutlichen Tendenz, die kausale
Handlungstheorie zu ergänzen. Von dort wird die objektive Zurech-
nung" als "moderne Zurechnungslehre" (oder deren Teil?) in die Dog-
matik übernommen, vor allem von Roxin und Rudolphi4 • - Die andere
Linie führt unmittelbar von den Hegelianern zu Hellmuth Mayer, der
den Grundabschnitt seines (objektiven) Tatbestandes überschreibt: "Die
objektive Zurechnung (imputatio facti) oder die Lehre vom Kausalzu-
sammenhang"s. Diese Gleichsetzung von "objektiver Zurechnung" und
"imputatio facti" ist allerdings dogmengeschichtlich ganz irreführend 6 •
Wenn deshalb im folgenden gerade die moderne "objektive Zurech-
nung" auch als "imputatio obiectiva" bezeichnet wird, so nicht wegen
der Alt-Ehrwürdigkeit des Begriffes, sondern um die Novität des In-
halts vor Verwechslungen zu bewahren.
Eine dritte Linie, von J escheck repräsentiert, entwickelt den Grund-
gedanken der Adäquanztheorie weiter (s. unten 3.).

2 Larenz, Hegels Zurechnungslehre und der Begriff der objektiven Zu-


rechnung, 1927.
S Frank-Festgabe I, S.174 ff.

4 S. die Nachweise bei Rudolphi, in: SK, 3. Aufl., vor § 1 Rdn.57; Roxin.
Grundlagenprobleme, S. 145 f.
5 AT 1953, S. 131; ders., Grundriß, 1967, S. 72. - H. Mayer ist von Larenz
und von Bindings "Tatlehre" beeinflußt. Binding allerdings kennt nur einen
Zurechnungsbegriff, die Zurechnung zur schuldhaften Handlung.
6 Vgl. etwa Feuerbach, Revision I, S. 156; - v. Bubnoff, Handlungsbegriff,
S.43 ff., versteht unter "objektiver Zurechnung" i. S. Hegels die Zurechnung
zur Handlung, d. h. zur Zweckverwirklichung des freien Willens (eines Zu-
rechnungsfähigen). - Das ist die "imputatio facti" der meisten Hegelianer;
vgl. Köstlin, System, § 57.
"Objektive Zurechnung" beim Vorsatzdelikt? 253

Wenn - wie bei Jakobs - die ganze Dogmatik des Allgemeinen Teils
"Zurechnungslehre" genannt wird, so ist es vielleicht naheliegend, die
Lehre vom objektiven Tatbestand als "objektive Zurechnung" zu be-
zeichnen; gegenüber der im folgenden zu erörternden "imputatio obiec-
tiva" ist die Terminologie different und mißverständlich7 • Eine Ausein-
andersetzung mit dem Konzept von Jakobs müßte weiter ausholen, als
es im folgenden möglich ist. Von der Kritik an der objektiven Imputa-
tion ist deshalb Jakobs, der sich deren Formel nicht zu eigen gemacht
hat, in seiner Lehre von der "Zuständigkeit für die Kausalität" (impu-
tativitas obiectiva?) nur am Rande oder mittelbar betroffen.

2. Prämissen und Grenzen der Untersuchung


a) Die Begrenzung auf die Vorsatztaten wird möglich dadurch, daß
deren Tatbestandsverschiedenheit gegenüber dem fahrlässigen Delikt
heute fast allgemein anerkannt ist, mögen auch über eine angebliche
übereinstimmung in einem objektiven Tatbestandsteil noch häufig
Fehlvorstellungen bestehen.
b) Zugrunde gelegt wird die Tatbestandslehre im "dreistufigen" Auf-
bau, wie sie sich von Beling bis zu Welzel entwickelt hat. Das entspricht
der unter den Anhängern der "objektiven Zurechnung" überwiegen-
den Meinung; doch scheint die Einbeziehung der Rechtfertigungsgründe
in einen "Gesamtunrechtstatbestand" keinen Einfluß auf die Proble-
matik zu haben. - Nicht berücksichtigt ist die Unterscheidung zwischen
Delikts- und Verbrechenstatbestand i. S. Bindings, mag deren Relevanz
sich auch am Rande zeigen.
c) Die imputatio obiectiva ordnet sich selbst in den (objektiven) Tat-
bestand ein. Ihre Affinität zur Handlungstheorie - nicht nur bei
Honig und bei H. Mayer - kann deshalb beiseite bleiben. Ihr Transfer
in den Handlungsbegriff würde auch nur zu einer über-Tatbestands-
lehre führen 8 •
d) Zwischen tauglichem und untauglichem Versuch ist eine Unter-
scheidung nicht möglich (und nicht nötig). Das entspricht der ganz h. M.,
nenne sie sich subjektive Theorie oder Eindruckstheorie9 • - Wer dem-
gegenüber glaubt, nach der Gefährlichkeit differenzieren zu können,
wird möglicherweise zu der Konsequenz geführt, daß es auch ungefähr-

7 S. dazu Jakobs selbst, AT, 7/5.


8 Zur Funktion des Handlungsbegriffs s. Armin Kaufmann, Strafrechts-
dogmatik, S. 21 ff.
o Vgl. Jescheck, LB, 3. Auf!. 1978, S.429. - Unberührt bleibt selbstver-
ständlich die Möglichkeit, unter den Voraussetzungen des § 23 III von Strafe
abzusehen. - Zur Terminologie vgl. Schmidhäuser, AT Studienbuch, 2. Aufl.
1984,11/21; Kühl, JuS 1980,506 f.
254 Armin Kaufmann

liche Versuche geben muß, die gleichwohl den Erfolg herbeiführen, der
dann nicht zurechenbar ist. Auf solche Erwägungen kann im folgenden
nicht eingegangen werden.

3. Die Formel der imputatio obiectiva


Frühzeitig hat Jescheck den Grundgedanken formuliert: "Unter ob-
jektiver Zurechnung (Haftung) ist das Urteil über die Frage zu ver-
stehen, ob ein Erfolg als die ,Tat' eines bestimmten Menschen anzuse-
hen ist ... "10. "Der sachliche Grund für den Adäquanzgedanken liegt
darin, daß nur die Eingehung eines rechtlich mißbilligten Risikos dem
Sinn der Verbotsnorm entsprechen kann, und daß auch nur Erfolge zu-
rechenbar sind, in denen sich dieses Risiko verwirklicht hat."l1 Daraus
wird die Formel entwickelt: "Objektiv zurechenbar kann ein durch
menschliche Handlung (i. S. der Bedingungstheorie) verursachter Erfolg
nur dann sein, wenn die Handlung eine rechtlich mißbilligte Gefahr
geschaffen und diese Gefahr sich in dem tatbestandsmäßigen Erfolg
verwirklicht hat.'<12 - Diese Fassung bietet gegenüber anderen Um-
schreibungen zwei entschiedene Vorteile:
1. Sie stellt klar, daß es sich um einen tatbestandsmäßigen Erfolg
handeln muß, für den die Frage nach der Zurechnung gestellt wird.
2. Vorausgesetzt wird, daß Kausalität i. S. der Bedingungstheorie
vorliegt.
Beides wird jedoch von Anhängern der "objektiven Zurechnung"
teilweise insofern in Frage gestellt, als dies wiederum ein Problem der
objektiven Imputation sein soll. Darauf ist deshalb zunächst einzu-
gehen.

11. Die Tatbestandsmäßigkeit des Erfolges -


ein Problem von dessen Zurechnung?

1. Lebensverkürzung und Risikoverringerung


Um was es geht, ist bekannt. Die Interpreten der Äquivalenztheorie
hatten hier manchmal schwer verständliche Schwierigkeiten. Begreif-
lich, daß eine moderne Zurechnungslehre Besseres bieten will. Und
doch handelt es sich um eine schlichte Auslegungsfrage: "Töten eines
anderen Menschen" ist (auch) zu definieren als "Verkürzen des Lebens"

10 LE, 2. Auf!. 1972, S.207; sehr ähnlich schon ders., 1. Aufl. 1969, S. 188.
u LE, 2. Aufl., S.213 (= 3. Aufl., S.229); übereinstimmend vor allem Ru-
dolphi, in: SK, 1. Aufl. 1975, vor § 1 Rdn.57, und Roxin, neuestens in Klug-
Festschrift 1983, S. 311.
12 LE, 3. Aufl., S. 231.
"Objektive Zurechnung" beim Vorsatzdelikt? 255

eines Menschen. Es ist eine schon fast banale Interpretation, weil hier
die Axiologik - ausnahmsweise - gar keine Alternative zuläßt l3 •
Es geht also um die generelle, durch Auslegung erfolgende Bestim-
mung dessen, was ein tatbestandsmäßiger Erfolg ist. Erst wenn ein i. S.
der richtigen Auslegung tatbestandsmäßiger Erfolg eingetreten ist, mag
ich nach dessen "objektiver Zurechnung" fragen (oder mich - wie
früher - mit Kausalität und Vorsatz begnügen). Anders formuliert:
Hier geht es gar nicht um die objektive Imputation des Erfolges, son-
dern um die Frage, ob überhaupt ein tatbestandsmäßiger Erfolg vor-
liegt; erst wenn der richtig bestimmte Erfolg eingetreten ist, kann als
weitere Frage diejenige gestellt werden, die die objektive Zurechnung
doch eigentlich vor Augen hat: ob dieser tatbestandsmäßige Erfolg dem
Täter zuzurechnen ist.
Daß die Problematik der Lebensverkürzung mit der oben erörterten
Formel der imputatio obiectiva nichts zu tun hat, liegt auf der Hand.
Auch der Gedanke der Risikoverringerung läuft hier leer. Den Lebens-
rettern (dem Chirurgen, dem Bergführer, der Mutter) zu sagen, sie
hätten das Todesrisiko verringert, weshalb ihnen der spätere Tod der
Geretteten "nicht objektiv zugerechnet" werde, wäre doch wohl weni-
ger ein teleologischer, als vielmehr ein theologischer Hinweis darauf,
daß der Mensch sterblich ist.

2. Minderung des Gesundheitsrisikos als Zurechnungsmangel?

Der Fall ist bekannt: A lenkt den Schlag, der sonst den Kopf des X
erheblich verletzt hätte, auf dessen Schulter ab. Weil diese vorsätzlich
bewirkte Schulterverletzung die Gesundheit des X in (erheblich) gerin-
gerem Maße beeinträchtigt als die sonst erfolgte Kopfverletzung, soll es
an der imputatio obiectiva und damit an der Tatbestandsmäßigkeit
fehlen. - Der Fall ist wohl so gedacht, daß das Ablenken des Schlages
auf die Schulter erforderlich ist, um den Kopf des X zu verschonen.
Dann freilich steht die Rechtfertigung im Hintergrund, und die Proble-
matik ist reduziert.
Interessant und brisant wird der Fall erst, wenn der A durchaus die
Möglichkeit gehabt hätte, den Schlag ganz abzulenken, aber etwa der
Meinung war, einen Denkzettel solle der X schon erhalten. - Hier mag
man argumentieren, die Gesundheitserwartung sei nicht verringert,

13 Man mag die Frage aufwerfen, wie bei - kaum vorstellbarer - Gleich-
zeitigkeit des Todeserfolges gegenüber dem sonstigen Ablauf oder gar bei nur
geringfügiger Verkürzung des Lebens zu entscheiden ist. Aber auch das sind
normative Erwägungen, die die Auslegung des tatbestandsmäßigen Erfolges
und die Rechtsgutslehre betreffen. S. zum Ganzen - noch immer maßgeb-
lich - Samson, Hypothetische Kausalverläufe, S. 86 ff., S. 142 f.
256 Armin Kaufmann

sondern vergrößert worden. (§ 323 c wäre außerdem in Betracht zu


ziehen.)
Wandele ich den Fall dahingehend ab, daß der abgelenkte Schlag auf
den Kopf zum Tode des X geführt hätte, so läßt sich vielleicht immer
noch sagen, da das Leben, also die Basis der Gesundheit, erhalten wor-
den sei, sei insgesamt die Gesundheitserwartung gestiegen. - Wandele
ich den Fall weiter dahin ab, daß der Schlag nicht auf die Schulter, son-
dern auf die wertvolle Vase gelenkt wird (immer noch als Denkzettel), so
wird es schwieriger: Immerhin ließe sich erwägen, daß das Eigentums-
recht die Emanation der menschlichen Freiheit sei, dieses Rechtsgut
wiederum auf der Existenz des Menschen basiere usw. usf.
Ich kann hier abbrechen; ich habe diese Fälle nicht zu lösen, sondern
nur die Lösungsbemühungen methodologisch einzuordnen: Es geht um
die Rechtsgutslehre, die wiederum das Fundament bildet für die rich-
tige Bestimmung der tatbestandsmäßigen Erfolge, etwa i. S. der §§ 223
und 303. Das ist hier schwieriger als bei der Lebensverkürzung im vori-
gen Abschnitt. Das Ergebnis bleibt gleichwohl unverändert: Erst wenn
die Tatbestandsmäßigkeit des Erfolges durch Auslegung ermittelt ist,
kann die ganz andere Frage auftauchen, wann ein etwa eingetretener
tatbestandsmäßiger Erfolg dem Täter "zuzurechnen" ist.

111. Objektive Zurechnung als Kausalitätsersatz?

Manche Vertreter der imputatio obiectiva vermitteln den Eindruck,


als seien Zurechnungsüberlegungen schon an die Stelle des Kausal-
nexus getreten. Da für Entwicklung und Streitstand kein Raum ist,
muß die Problematik anhand von zwei Fällen erledigt werden:

1. Hypothetische (?) Kausalverläufe beim


vorsätzlichen Begehungsdelikt
Der Arzt gibt seinem Patienten bei einer Infektionskrankheit ein
(sonst nutzloses) Medikament, dessen dem Arzt bekannte Nebenwir-
kung in 50 % der Fälle darin liegt, die Abwehrkräfte des Körpers er-
heblich zu mindern. - Nach dem Tod des Patienten läßt sich nicht fest-
stellen, ob die Krankheit auch ohne das Medikament tödlich verlaufen
wäre, weil sich grundsätzlich über das "Ansprechen" auf dieses Medi-
kament keine Aussage treffen läßt.
Die subjektiv-vorträgliche Prognose eines ex-ante-Mannes wie die
objektiv-nachträgliche Prognose des Richters führen doch wohl - mag
der Unterschied beider beschaffen sein, wie er will - zu demselben
Ergebnis, daß die Gabe des Medikamentes eine wesentliche "Risiko-
erhöhung" bedeutete. Solange indessen offen bleibt, ob es sich über-
"Objektive Zurechnung" beim Vorsatzdelikt? 257

haupt ausgewirkt hat, kann ein Kausalzusammenhang nicht festgestellt


werden. (Im übrigen: in dubio pro reo, also Versuch.)
Das Ergebnis entspricht, sehe ich recht, der noch immer h. M. Anzu-
merken ist, daß die befragten Sachverständigen versuchen mußten. den
Krankheitsverlauf ohne das Medikament "zu rekonstruieren", d. h. hin-
zuzudenken!

2. Hypothetische Kausalverläufe
beim (quasi-) vorsätzlichen Unterlassungsdelikt
Der Arzt A, der den Tod seines an einer schweren Infektion leiden-
den Patienten P wünscht, unterläßt es, dem P ein Medikament darzu-
reichen, das - wie auch A weiß - in 50 Ofo der Fälle die Abwehrkräfte
steigert und lebenserhaltend wirkt. - Auch hier erklären die Gutach-
ter, ob das Medikament im Falle des Plebenserhaltend oder auch nur
lebensverlängernd gewirkt haben würde, sei nicht feststellbar. Sie er-
läutern ferner, es sei nach dem Stande der Wissenschaft generell aus-
geschlossen, festzustellen, ob ein bestimmter Patient auf dieses Medi-
kament "anspreche", es sei denn, man gebe es und beobachte die
Wirkung.
Ob der hier - beim Unterlassungsdelikt - erfragte Zusammenhang
als "Quasi-Kausalität" oder anders zu bezeichnen ist, kann völlig da-
hinstehen. Einmütigkeit bestand bis vor kurzem darüber, daß - wie es
schon das RG in früher Anwendung des Umkehrprinzips getan hat -
die Formel der Bedingungstheorie mit umgekehrten Vorzeichen anzu-
wenden ist: An die Stelle des "Hinwegdenkens" tritt das "Hinzuden-
ken", hier der Medikation. Bleibt die Prüfung des hypothetischen Ab-
laufs ohne Ergebnis, so hat es zugunsten des A dabei sein Bewenden.
Gewiß läßt sich hier sagen, daß die unterlassene Handlung die
Lebensgefahr vermindert hätte l 4, und zwar um 50 Ofo. Aber einmal
dient der Risikoerhöhungsgedanke an seinem dogmatischen Herkunfts-
ort, dem fahrlässigen Begehungsdelikt, nur der Auswahl unter Fällen
feststehender Kausalität; zum anderen ist die Unterscheidung zwischen
prinzipieller und situationsbezogener Unaufklärbarkeit des hypotheti-
schen Ablaufs nicht durchführbar. Vor allem aber: Der Unterlassungs-
fall kann unmöglich anders entschieden werden als der Begehungsfall.
Solange das materielle Recht auch beim Unterlassungsdelikt zwischen
Versuch und Vollendung unterscheidet, erzwingt das formelle Recht
den Respekt davor, daß die Vollendung nicht feststeht 15 •

14 Stratenwerth, AT, 3. Aufl., Rdn. 1028; Rudolphi, in: SK, vor § 13 Rdn.16.
16 übereinstimmend: Jescheck, LB, 3. Aufl., S.503; Jakobs, AT, 29/20 (dort
die Nachweise zum Streitstand).

17 Festschrift für H.-H . .Jescheck


258 Armin Kaufmann

IV. Die Anwendung der Zurechnungsformel


1. Die Formel als generelles Tatbestandsmerkmal
Für die einfach strukturierten Verbotstatbestände der §§ 212 und 223,
um die die Diskussion ja ganz überwiegend kreist, wäre im objektiven
Tatbestand zu fordern: a) der Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges;
b) die Kausalität als das "generelle Merkmal" aller Tatbestände
(Engisch); c) die objektive Zurechnung im Sinne der obigen Formel.
Daß deren Anwendung dann ebenfalls als generelles Erfordernis,
"generelles Tatbestandsmerkmal" , erscheint, liegt nahe. Objektive Zu-
rechnung sagt dann aus, daß die Verursaehung des tatbestandsmäßigen
Erfolges noch nicht allein den Tatbestand erfüllt, sondern erst zusam-
men mit dem Vorliegen der Kriterien der imputatio obieetiva.
Positiv festgestellt werden muß nach der Formel dreierlei: 1. Die
Handlung des Täters hat - vor dem Erfolgseintritt - eine "Gefahr
geschaffen". 2. Diese Gefahr muß "rechtlich mißbilligt" sein. 3. Gerade
"diese Gefahr" muß sich im tatbestandsmäßigen Erfolg verwirklicht
haben. - Es werden also aus den zwei Tatbestandsmerkmalen (Er-
folgseintritt und Verursachung) deren fünf.
Aber das ist noch das geringste Bedenken. Schwerer wiegt, daß die-
ser Formel die Herkunft aus dem fahrlässigen Delikt auf die Stirn
geschrieben steht. Dort meint sie offenbar zwei Problemkreise, einmal
den Verstoß gegen die im Verkehr objektiv erforderliche Sorgfalt, d. h.
die eigentliche Problematik der Tatbestandsbildung beim fahrlässigen
Delikt, und so dann den Problemkreis, den wir seit Engisch als "Rechts-
widrigkeitszusammenhang" zwischen Sorgfaltsverletzung und Erfolgs-
eintritt zu bezeichnen gewohnt waren. Müssen diese komplexen Pro-
blemkreise nun aus dem fahrlässigen Delikt in den Tatbestand des
Vorsatzdeliktes übertragen werden? Ist das überhaupt zulässig? Ist
insbesondere die Bewertung als "rechtlich mißbilligt" schon im objek-
tiven Tatbestande vereinbar damit, daß erst die Tatbestandsverwirk-
liehung insgesamt eine Beurteilung ergibt, die - mit M. E. Mayer zu
reden - die Rechtswidrigkeit "indiziert"? (Es ist verständlich, daß
Stratenwerth l6 deshalb diese Bewertung in die Stufe der Rechtswidrig-
keit verschiebt.)
Nach alle dem bleibt Unsicherheit, ob man dem "Anliegen" der ob-
jektiven Imputation gerecht wird, wenn man sie zum generellen objek-
tiven Tatbestandsmerkmal macht. Dies erst recht, wenn man überlegt,
wie das objektiv Zugerechnete seinerseits dem Vorsatz zuzurechnen
ist, ein Problem, über das man wohl erst ansatzweise nachgedacht hat17 •
16 AT, 3. Aufl., Rdn. 230.
17 S. Wolter, Objektive und personale Zurechnung, 1981, S. 350 ff., bes.
S. 354: direkte Anwendung der §§ 16, 17.
"Objektive Zurechnung" beim Vorsatzdelikt? 259

- Wie endlich steht es bei den Delikten, bei denen es kein fahrlässiges
Erfolgsdelikt als Parallele gibt, etwa bei Urkundenfälschung oder
Betrug?
2. Die Subsumtion
Erste Klarheit mag es bringen, wenn wir den nach der obigen For-
mel ergänzten objektiven Tatbestand des § 212 anzuwenden trachten.
Bei einem konkreten Fall hätte bislang zur Bejahung des objektiven
Tatbestandes ausgereicht, daß der Täter T seine Pistole abgezogen hat
und X durch die Schußverletzung zu Tode gekommen ist. Weitere In-
formationen und Wertungen sind jedoch erforderlich, um die drei zu-
sätzlich dem objektiven Tatbestand inkorporierten, aus der Formel ent-
wickelten Tatbestandsmerkmale festzustellen:

1. Die Schaffung der Gefahr ließe sich allenfalls dann ohne weiteres
bej ahen, wenn man dafür die erfolgreiche Verursachung des Todes ge-
nügen ließe. Aber das ist bekanntlich höchst umstritten und wird über-
wiegend abgelehnt, jedenfalls in unserem Zusammenhang; der von
Horn entwickelte, von anderen fälschlich so genannte "naturwissen-
schaftliche" Gefahrbegriff will nur für die konkreten Gefährdungs-
delikte gelten, und auch für diese nur de lege lata lB • Es kommt - von
den meisten Positionen aus - auf die Prognose eines "objektiven Be-
urteilers" an, dessen Eigenschaften wir der Retorte unserer Wissen-
schaft entnehmen. (Die Ingredienzen an "nomologischem" Wissen und
an "ontologischer" Kenntnis oder Erkenntnisfähigkeit, die wir in diese
Retorte hinein tun, bestimmen sich nach dem, was wir an "billigen"
oder "vertretbaren" Ergebnissen für die Beurteilung erwarten.) -
Setzen wir den Fall so, daß T die Pistole beim Abziehen auf X gerich-
tet hatte, so würde wohl nach jeder Konstruktion unseres Homunkulus
die "Gefahrschaffung" zu bejahen sein (allerdings wohl nur dann, wenn
die Anwesenheit des X dem Beurteiler - oder dem Tl - bekannt
war). - Diese Prognosen problematik braucht hier nicht vertieft zu
werden. Die verkappte Normativität - gleichgültig, ob der Gefahr-
begriff im Gesetzestext selbst enthalten oder durch Auslegung in ihn
hineingebracht ist - macht den Begriff der Gefahr zu einer Gefahr für
die Tatbestandsbestimmtheit. -

2. Die rechtliche Mißbilligung dieser Gefahr zu bejahen liegt nahe,


gilt doch das Hantieren mit einer geladenen Waffe in Richtung auf
einen Menschen per se als "sorgfaltswidrig" . (Damit freilich würde
explizit die Tatbestandsmäßigkeit im Sinne eines fahrlässigen Deliktes
zum Tatbestandsmerkmal des VorsatzdeliktesI)

IB Horn, Konkrete Gefährdungsdelikte, S. 51 fI.; ders., in: SK, vor § 306


Rdn.5 fI.

17'
260 Armin Kaufmann

Anders läge es hinsichtlich der "rechtlichen Mißbilligung", wenn etwa


der Schuß auf einem Pistolenschießstand abgefeuert worden und der
X regelwidrig in die Schußbahn gelaufen wäre. (Wieder anders aber
doch wohl, wenn der T dies vor dem Abziehen erkannt hätte!)

3. Das dritte nach der Formel der objektiven Zurechnung dem ob-
jektiven Tatbestand des Vorsatzdeliktes hinzuzufügende Tatbestands-
merkmal ist die Verwirklichung gerade dieser Gefahr, die rechtlich
mißbilligt ist, im Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges. - Nehmen
wir deshalb an, unser X sei erst im Krankenhaus gestorben. Dann
müßte man, bekannten, wenn auch umstrittenen Bahnen folgend,
eruieren, ob bei der Nichthinderung des Todeseintritts ein grober oder
ein zarter Kunstfehler, das Fehlen eines Narkosearztes oder nur das
fehlsame Narkotisieren, die im über- oder im Normalmaß vorhande-
nen, gegen Antibiotika resistenten Stämme eine Rolle gespielt haben
usw. usf. - Dies alles muß auch hier ein "objektiver Beobachter"
beurteilen, diesmal wohl derjenige, den wir vom Adäquanzurteil her
kennen. Ob er in seinen Kenntnissen und Fähigkeiten ebenso zusam-
mengesetzt ist wie der oben erörterte Gefahrbeurteiler, kann ich nicht
entscheiden. Jedenfalls muß auch dieser Homunkulus ein normatives
Urteil abgeben, wobei ihm nach altem Brauch das Wissen des Täters
(aber doch wohl nur das zutreffende!) zu imputieren ist, auch hier, "um
unbillige Ergebnisse zu vermeiden"; damit dekuvriert sich die Norma-
tivität dieser Beurteilung uneingeschränkt. -
Es zeigt sich also, daß bei allen Merkmalen, die aus der Formel der
imputatio obiectiva zu entwickeln sind, offensichtlich das Wissen des
Täters als Beurteilungsgrundlage unentbehrlich ist: so schon für die
"Gefahrschaffung" und erst recht für die "rechtliche Mißbilligung", die
sonst noch mehr als ohnehin in der Luft hinge. Ob der Täter ver-
sehentlich, in der Meinung, die Waffe sei gesichert, oder ob er absicht-
lich den Schuß ausgelöst hat, ob er das Nahen des X erkannte, aber
noch glaubte, vorher die Scheibe zu treffen, oder ob er gar die Gele-
genheit nutzte, um den X zu erledigen, ferner, ob er etwas wußte über
die Zustände im Krankenhaus, - dies alles ist nicht nur wesentlich,
sondern doch wohl entscheidend für die Frage, ob im richtigen Ver-
ständnis jener Formel von "Schaffung einer rechtlich mißbilligten Ge-
fahr" und von der Verwirklichung gerade dieser Gefahr die Rede sein
darf.
3. Die Entscheidungsrolle des Tatvorsatzes
a) Hier sind wir am Kern des Problems, den Tatbestand des Vor-
satzdeliktes durch objektive Imputation einzuschränken: Im Lichte des
Tatvorsatzes schmilzt die komplexe Problematik zusammen wie April-
schnee in der Sonne. Zwei Alternativen bestehen:
"Objektive Zurechnung" beim Vorsatzdelikt? 261

1. Entweder der Tatvorsatz umfaßt - nach allgemeinen Regeln -


die Verursachung des tatbestandsmäßigen Erfolges samt denjenigen
tatsächlichen Momenten, die Anlaß zu überlegungen im Sinne der
objektiven Zurechnung bieten mögen; dann hat sich die Problematik
sozusagen von selbst erledigt: Die Handlung ist eben deswegen "ge-
fährlich", weil sie wissentlich (und erfolgreich) eingesetztes Mittel zur
Verwirklichung dieses Erfolges ist; und wiederum ist der Eintritt des
tatbestandsmäßigen Erfolges gerade die vom Täterplan umfaßte Ver-
wirklichung dieses zu seiner Erreichung eingesetzten "gefährlichen"
Mittels. - Die "rechtliche Mißbilligung" ergibt sich von selbst, weil mit
der Vorsätzlichkeit der Verwirklichung des objektiven Tatbestandes
die ganze Tatbestandsmäßigkeit im Sinne des § 212 StGB vorliegt.
Auf die "rechtliche Mißbilligung" der vom Vorsatz umspannten,
"Gefahr schaffenden" Handlung kann sich der Tatvorsatz ohnehin
nicht beziehen, soll die Unterscheidung zum Bewußtsein der Rechts-
widrigkeit nicht preisgegeben werden. Zwar wird heute gelegentlich im
Rahmen moderner Zurechnungslehren das Bewußtsein der Rechtswid-
rigkeit zum Bestandteil des Tatvorsatzes gemacht und damit das Be-
wußtsein von der Rechtswidrigkeit zu deren Voraussetzung. Aber eine
bewußte Abkehr vom schuldlosen Unrecht und eine Rückkehr zur Dog-
matik der Hegelianer ist mit diesem Lapsus wohl nicht beabsichtigt.

2. Die zweite Alternative ist die, daß der Vorsatz gerade fehlt. Auch
dann war jede vorherige Spekulation innerhalb des objektiven Tat-
bestandes darüber, ob imputatio obiectiva vorliege, in einer schon qual-
vollen Weise überflüssig19 •
Gegen dieses Zwischenergebnis, daß das Fehlen oder Vorliegen des
Vorsatzes entscheidet und daß es daneben auf die Kriterien der ob-
jektiven Imputation nicht ankommt, sind Einwände denkbar:
b) Der erste Einwand geht dahin, daß die eben aufgewiesene Alter-
native - Vorliegen oder Fehlen des Vorsatzes - gar keine sei. Gibt es
nicht noch eine dritte Möglichkeit, diejenige der Abweichung vom vor-
gestellten Kausalverlauf (einschließlich des dolus generalis), bei der die
Anwendung des Adäquanzurteils, das der objektiven Zurechnung in-
härent ist, seit langem häufig auftritt, ja üblich ist? - Kein Wunder
deshalb, daß die Lehre von der objektiven Zurechnung in diesem Be-
reich einen festen Stützpunkt gefunden zu haben glaubt20 •
Freilich betreten wir bei der Differenz zwischen tatsächlichem und
vorgestelltem Ablauf ein zwar seit alters bekanntes, aber doch recht

19 Treffend bemerkt WesseIs, AT, 13. Aufl., § 6 11 3, daß die Prüfung der
objektiven Zurechnung in der Regel entfallen könne.
20 s. vor allem WolteT, ZStW 89 (1977), S. 649 ff.
262 Armin Kaufmann

schlüpfriges Terrain. Das macht - gerade in unserem Zusammenhang


- einige Vorbemerkungen notwendig:
1. Es geht hier nicht um jene Abweichungen, in denen der Täter
mangels präzisen Kausalwissens nicht die genaue Art der Wirkung des
eingesetzten Mittels - die Wirkweise des Giftes oder den Vorgang in
der Waffe beim Schuß - oder den genauen Zeitpunkt und die Begleit-
umstände des Todeseintritts erkannt hat, sondern um diejenigen Fälle,
in denen nur mit Hilfe des Adäquanzurteils oder einer letztlich ebenso
normativ bestimmten anderen Beurteilungsweise die "Zurechnung zum
Vorsatz" erfolgt.
2. Ungeklärt scheint die Frage, wieso diese Konstellation als voll-
endetes Vorsatz delikt erfaßt werden kann, obwohl "eigentlich" die
Regel über die "Nichtzurechnung" gemäß § 16 eingreift 21 •
3. Klar sollte sein, daß es hier um eine Ausdehnung des Bereichs
des vollendeten Delikts geht. - Die objektive Zurechnung bezweckt
im objektiven Tatbestand gerade eine Einschränkung, die - folgerich-
tig - auch den Versuch betreffen muß.
4. Die Begründung für die Einbeziehung der adäquat verursachten
Abweichungsfälle steht und fällt mit der Erwägung, daß der Täter ja
ohnehin den vollen Tatvorsatz besitze, diesen auch bis zum beendeten
Versuch durchgeführt habe und es deshalb der Gerechtigkeit zumindest
nicht widerspreche, wenn er nun bei adäquat herbeigeführtem Erfolg
auch diesem entsprechend bestraft werde 22 •
Bereits aus diesen Hinweisen ergibt sich:
1. Die Problematik der Abweichungsfälle läßt sich nicht in toto
"schon" im objektiven Tatbestand bei der "objektiven Zurechnung"
erledigen23 • Denn die Beurteilung muß hier, will man die bisherige
Lösungsrichtung beibehalten, an dem ansetzen, was der Täter vorsätz-
lich an Fakten geschaffen hat, - also am Tatplan. Statt einer vermeint-
lichen Vereinfachung ergibt sich also eine Komplizierung: Zunächst
muß im objektiven Tatbestand "objektiv" zugerechnet werden; so dann
muß im subjektiven Tatbestandsteil dem (vorhandenen!) Tatvorsatz
21 So bekannte sich Herzberg, ZStW 85 (1973), S.884 (einschränkend aller-
dings nunmehr JA 1981, 369 ff., 374), "bei der Vorsatzabgrenzung ohne Ab-
striche dazu", "daß ein unvorhergesehenes konkretes Geschehen nicht vor-
sätzlich bewirkt sein kann" ("Versuchslösung"). - Vom Gegenstandpunkt
aus ("Vollendungslösung") stellt Wolter, ZStW 89 (1977), S.650, in "dogma-
tisch moderner Fassung" die "Leitfrage": "In welchem Umfange können dem
Täter von ihm ausgelöste Kausalverläufe auch dann noch als vorsätzlich be-
wirkt objektiv zugerechnet werden, wenn sich sein Vorsatz auf sie gerade
nicht mehr erstreckt?"
22 Vgl. hierzu Noll, ZStW 77 (1965), S. 5.
23 Jescheck, LB, 3. Aufl., S. 250 f., bes. bei Note 74 a. Teilweise überein-
stimmend Jakobs, AT, 8/64 ff., bes. 65 und 67.
"Objektive Zurechnung" beim Vorsatzdelikt? 263

noch etwas "subjektiv" (?) zugerechnet werden, wobei - wie Jescheck


und Jakobs zeigen - die Grundsätze der "objektiven" Zurechnung
entsprechend anzuwenden wären.
2. Ein Einwand gegen das bisherige Ergebnis - Entscheidungsrolle
des Tatvorsatzes - ergibt sich aus den Abweichungsfällen zwar nicht.
Aber ein anderes Problem hat die Lehre von der objektiven Zurech-
nung in diesem Bereich erneut aufgedeckt: Gehen wir ruhig einmal
von dem Regelfall (?) aus, daß die Anwendung der Kriterien der Im-
putation im objektiven wie im subjektiven Tatbestande zum gleichen
Ergebnis führen würde, nämlich Zurechnung zum objektiven Tatbe-
stand und zum Tatvorsatz. Etwa: Der Tod nach der Schußverletzung ist
infolge einer Infektion im Krankenhaus eingetreten. Beim Tatvorsatz
stelle ich fest, daß der Täter nicht einmal an das Krankenhaus gedacht
hatte, sondern nur daran, daß sein Schuß sofort den Tod des Opfers
herbeiführt. Wieso eigentlich verlange ich nun nicht, daß der Vorsatz
sich auf die (tatsächlichen) Grundlagen der objektiven Zurechnung be-
zieht? Das ist die Kernfrage, die sich für die objektive Zurechnungs-
lehre schärfer stellt als bisher24 •
Eine Bestrafung wegen Vollendung, obwohl der Vorsatz diese Art
der Vollendung gerade nicht erfaßt, bedarf im Schuldstrafrecht einer
Begründung. Diese Rechtfertigung läßt sich nur in der schon wieder-
gegebenen Erwägung finden, daß ja - wegen des jedenfalls vorliegen-
den beendeten Versuchs - der volle Tatvorsatz und die volle Schuld
ohnehin vorhanden seien. Diese Begründung für die Einbeziehung der
Fälle irrelevanter Abweichung entfällt, wenn man der Meinung ist, daß
im Falle des Erfolgseintrittes nach Qualität oder Quantität schwerere
Schuld vorliege. Dies aber ist, teilweise polemisch überspitzt, die wohl
heute vorherrschende Auffassung. Für diesen Standpunkt muß es -
gelinde gesagt - befremden, wenn das für die Quantität der Tatschuld
beim Vorsatzdelikt entscheidende Ereignis, der Erfolgseintritt, nur im
Wege einer objektiv-normativen Betrachtung, deren Kriterien noch
dazu umstritten bleiben, zur Tat, zum Tatvorsatz und zur Schuld zu-
gerechnet wird.
Hängt die volle Schuld, nach dieser Auffassung, notwendigerweise
ab vom wirklichen Eintritt des konkreten Erfolges, so muß sich der
Vorsatz folgerichtig auch auf die konkrete Herbeiführung dieses Er-
folges beziehen; d. h., über § 16 hinaus ist keine Einbeziehung von Tat-
abläufen zulässig, so daß der sog. "Versuchslösung" zu folgen wäre.
Anders von dem Standpunkt aus, nach dem schon mit dem beendeten
Versuch (dem alten "delictum perfectum") die volle Vorsatzschuld ge-
geben ist; diese Meinung war wohl früher - oft unausgesprochen -

24 S.o., bei und in Fn. 21.


264 Armin Kaufmann

überwiegend25 • Sie hat, da volle Schuld gegeben ist, bei den Abwei-
chungsfällen keine Begründungsprobleme. Sie kann die "Versuchslö-
sung" ebenso vertreten wie die "Vollendungslösung"; letzterenfalls
geht es dann nur darum, vom abweichenden Tatverlauf einen sinnvol-
len (vielleicht auch "zweckrationalen") Bezug herzustellen, der mit dem
Adäquanzurteil gegeben sein mag 26 •
3. Folgt man der "Vollendungslösung" und legt an den vom Täter-
plan abweichenden Tatverlauf den Maßstab der kausalen Adäquität an,
so bleibt die dogmatische Frage, wie dieses Kriterium zu klassifizieren
ist. Die Antwort hat Engisch schon vor über 50 Jahren gegeben27 : Die
Einbeziehung in den Irrtumstatbestand scheidet aus; sonst müßte sich
die Vorstellung des Täters auf den nicht vorgestellten Kausalverlauf
beziehen. Was bleibt, ist eine "objektive Strafbarkeitsbedingung" , die
durchaus im Verbrechenstatbestand (i. S. Bindings) verbleiben kann. Sie
ist jedenfalls nach dem Tatvorsatz einzufügen, da die Abweichung von
diesem gerade Gegenstand der Beurteilung ist. Das bedeutet: die Pro-
blematik kann und muß wie bisher dem Vorsatz attachiert bleiben.
Damit sind die Würfel über die Abweichungsproblematik gefallen:
Sie hat mit der Lehre von der objektiven Imputation und deren Formel
nichts zu tun28 •

!5 So z. B.: Radbruch, VDAT Bd.lI, 1908, S.227; Engisch, Untersuchungen,


S.331; Kadecka, MSchrKrim. 1931, 65 ff., 67 f.; Welzel, AT, 1. Aufl. 1940, S.93;
Germann, Das Verbrechen im neuen Strafrecht, 1942, S. 19 und S. 42; Seuffert,
Ein neues StrGB für Deutschland, 1902, S. 53 f.; vgl. auch: MerkeI, LB, 1. Aufl.
1889, S. 125 f.; Dohna, ZStW 32 (1911), S. 337 f.; Hold v. Ferneck, ZStW 32
(1911), S. 256 f.; Frank, VDAT Bd. V, 1908, S. 225 f.
28 Das ist z. B. auch der Ausgangspunkt Wolters, um seine objektive Zu-
rechnungslehre zu entwickeln (Fn.17), S. 26 ff., bes. S.27. - In der Zusam-
menfassung Wolters, S. 356 ff., wird das freilich nicht mehr deutlich. Doch
selbst die scharfe Auseinandersetzung mit dem verpönten "Subjektivisten"
Zielinski kann nicht verdecken, daß Wolter mit diesem dieselbe Ausgangs-
position teilt. - Verdunkelt wird das Ganze bei Wolter dadurch, daß später
ein teleologisch-generalpräventiver Schuldbegriff entwickelt wird.
Vorangegangen aber war Schmidhäuser, für den "die Verletzung des
Achtungsanspruchs, der vom Rechtsgut ausgeht", d. h. der Versuch, Unrecht
und Schuld in vollem Maße konstituiert, während "der Eintritt eines schäd-
lichen Erfolges" "doch eben nur unter dem Gesichtspunkt der Strafwürdig-
keit von Bedeutung" ist; dabei schließt "Strafwürdigkeit" im Verständnis
Schmidhäusers die Frage nach dem Strafbedürfnis und damit schuld fremde
Zweckerwägungen ein, AT, 1. Aufl., 8/89 ff.; vgl. 2. Aufl., 8/79 ff. Wenn Schmid-
häuser jetzt mit Bezug auf den so verstandenen Erfolgseintritt ebenfalls von
"objektiver Zurechnung" spricht, so betrifft ihn die Kritik an der "imputatio
obiectiva" nicht.
27 Engisch, Untersuchungen, S. 80.
28 Die "Vollendungslösung" ist nicht begründbar, und zwar von jedem
Standpunkt aus, für folgende Fallgruppe: Der Täter weiß nicht, daß er schon
im Vorbereitungsstadium oder während der Spanne des unbeendeten Ver-
suchs die Ursache für den Eintritt des (bezweckten) Erfolges setzt. Kommt es
nicht zu einer dem Tatplan entsprechenden Beendigung des Versuchs, so
"Objektive Zurechnung" beim Vorsatzdelikt? 265

c) Ein zweiter Einwand gegen die entscheidende Rolle des Vorsatzes


könnte dahin gehen, daß das Wissen des Täters ja einbezogen werden
müsse in die objektive Zurechnung. Den beiden objektiven Beurteilern,
die einerseits die Gefahr, anderseits die Verwirklichung eben dieser
Gefahr im Erfolg zu beurteilen haben, sei das Täterwissen zu impu-
tieren, das damit schon hier und nicht erst beim Tatvorsatz entschei-
dend werde.
Ganz abgesehen davon, daß hier vieles umstritten ist, geht diese
Rechnung nicht völlig auf. Vor allem aber: Es müßte dann zumindest
die ganze Wissensseite des Vorsatzes in den objektiven Tatbestand ver-
schoben werden. Dabei könnte es sein Bewenden nicht haben. Sollte
ein einigermaßen klarer dogmatischer Aufbau für die Abfolge der Ver-
brechenselemente herauskommen, wäre der ganze Tatvorsatz zu ver-
schieben. In letzter Konsequenz und um alle Friktionen zu beseitigen,
müßte der Tatvorsatz an die erste Stelle gelangen.
Gegen einen solchen Aufbau wie beim Versuch gibt es keine strin-
genten Einwände. Doch was wäre damit eigentlich gewonnen? Offen-
sichtlich nichts; die Entscheidungsrolle des Vorsatzes wäre nur auch
äußerlich bestätigt. Und so mögen wir denn auch weiterhin aus Grün-
den der Praktikabilität und der Tradition mit der vertrauten Prüfung
des objektiven Tatbestandes beginnen, freilich ohne dort eine objektive
Imputation zu stationieren.

4. Anlegen der Formel an die Vorsatztat?


Die Probleme der Bestimmung des tatbestandsmäßigen Erfolges, der
"Risikoerhöhung" als Kausalitätsersatz und der Abweichung vom vor-
gestellten Tatverlauf sind aus dem Bereich der objektiven Imputation
endgültig ausgeschieden. Zugunsten der "modernen Zurechnungslehre"
bleibt jedoch zu erwägen, ob sie auf die ganze Vorsatztat bezogen wer-
den könnte.
Wäre die Formel vielleicht erst an die vorsätzliche Erfolgsverur-
sachung anzulegen, d. h. an die - von der Formel abgesehen - tat-
bestandsmäßige Handlung im Sinne .z. B. des § 212? - Die Antwort sei
aus folgendem Fall heraus entwickelt:

a) A setzt seine Frau in einem Bus "in Marsch" zu dem südlichen


Ferienhaus, wo schon die Flasche mit dem vergifteten Brandy auf die
Trinkerin lauert. - Wenn A all dies wußte, ist das Ergebnis der

kommt nur eine Bestrafung wegen (unbeendeten) Versuchs in Frage, die


gegebenenfalls wegen Rücktritts entfällt. So Jakobs, AT, 8/76; Hruschka, AT,
S.34; Schroeder, in: LK, 10. Aufl., § 16 Rdn.34. - Vorangegangen war Horst
Schröder mit der Lösung, daß der Rücktritt des Täters durch Abstandneh-
men vom Tatplan zur Straffreiheit führt, JuS 1962, 82.
266 Armin Kaufmann

Subsumtion eindeutig. Und dies, obwohl das von A geschaffene Risiko


des Reisens mit Autobussen sicherlich nicht "rechtlich mißbilligt" ist
(und sich nicht im Erfolg realisiert hat). Der Fall zeigt, daß durch ein
und dieselbe Handlung mehrere "Gefahren" für mehrere gleichermaßen
tatbestandsmäßige Erfolge geschaffen werden können. Daß dann der
Vorsatz sozusagen die Auswahl trifft, ist evident. - Zum anderen aber
lehrt der Fall, daß mit der Fassung unserer Formel irgend etwas nicht
stimmt: Die Frage, ob das vorsätzliche Setzen einer Vergiftungsgefahr
"rechtlich mißbilligt" wird, ist überflüssig, ja sinnlos, weil durch den
Tatbestand des § 212 schon beantwortet. Dagegen könnte es eher sinn-
voll sein, geradezu umgekehrt zu fragen, ob eine Gefahrschaffung aus-
nahmsweise rechtlich nicht mißbilligt wird; das zeigt sich bei folgender
Abwandlung unseres Falles: Wenn A, vom vergifteten Brandy nichts
wissend, nur darauf gesetzt hätte, daß seine Frau vielleicht bei einem
Busunglück zu Tode kommt, dann ist es sinnvoll zu fragen, ob das
Setzen dieses Risikos als rechtlich nicht mißbilligt (als erlaubt, als sozial
adäquat) zu beurteilen ist.
So läßt sich zwar das bei der Subsumtion erörterte intrikate Pro-
blem, woher denn im objektiven Tatbestand eines Vors atz deliktes die
"rechtliche Mißbilligung" einer Handlung abzuleiten ist, nunmehr
lösen: Auf diese kommt es überhaupt nicht an, sondern auf die (aus-
nahmsweise) "rechtliche Billigung" von (vorsätzlich verwirklichten)
Risiken. Doch schrumpft der Anwendungsbereich der Formel, selbst
wenn sie nunmehr auf vorsätzliche Erfolgsherbeiführungen bezogen
wird, auf eine Fallgruppe zusammen, die nur wenige Delikte betrifft.
Es handelt sich allerdings um ein echtes Tatbestandsproblem; deshalb
betrifft es auch den Versuch!

b) Doch auch für diese Fallgruppe muß geprüft werden, ob der Vor-
satz insofern "durchschlägt", als sich etwa diese Fälle schon durch die
Vorsatzdoktrin erledigen: Wenn A seine Frau zu der Busfahrt verleitet,
wissend, daß die Bremsen nicht in Ordnung sind, so liegt zwar Vorsatz,
aber - doch wohl unbestritten - kein Fall des "rechtlich gebilligten"
Risikos vor. - Wenn hingegen A seine Hoffnung nur auf die allgemeinen
Verkehrsrisiken setzt, werden vielIach schon die Mindestvoraussetzun-
gen des Tatvorsatzes verneint; so von Frank, dem Bockelmann und
Hirsch folgen, "wenn die Möglichkeitsvorstellung eine bloß generelle
ist, d. h. sich darauf stützt, daß bei Handlungen dieser Art ein bestimm-
ter Erfolg eintreten kann (Tötung bei einer Autofahrt)"29. Welzepo ver-
neint den Verwirklichungswillen; Engisch, dem ich gefolgt bin, fordert,

29 Frank, StGB, 18. Aufl., § 59 Anm. V u. IX; Hirsch, in: LK, 9. Aufl., vor
§ 51 Rdn. 25; Bockelmann, AT, § 14 IV 2 a.
30 Strafrecht, 11. Aufl., S. 66.
"Objektive Zurechnung" beim Vorsatzdelikt? 267

daß "ein objektives Adäquanzurteil psychologisch realisiert sein" muß31.


Auch Jescheck lehnt in solchen Fällen "mangels Beherrschbarkeit des
Kausalverlaufs eine vorsätzliche Tötungshandlung" ab32 •
So scheint schon die Doluslehre die richtige Lösung zu bringen. Doch
wie auch der Aprilschnee in der Sonne nicht völlig verdunstet, sondern
ein Teil als Schmelzwasser in den Boden dringt, so bleiben auch hier
Konstellationen übrig, die durch die Vorsatzdoktrin noch nicht erledigt
sind:
v. Das unverboten riskante Handeln

1. Wenn der Kraftfahrer K zum Überholen eines Motorrades und


eines PKWs ansetzt, so mag er sich dabei durchaus der Gefahr bewußt
sein, daß der Motorradfahrer X "plötzlich" - ohne sich zu vergewis-
sern und ohne es rechtzeitig anzuzeigen - seinerseits zum überholen
ausschert. Die Möglichkeit des Unfalltodes des X, die sich K vorstellt,
ist nicht so "generell" oder so "entfernt", als daß sie nicht für den
Vorsatz ausreichen kann, zumal wenn K weiß, daß er während des
überholens keinen Einfluß mehr auf das Unfall geschehen haben
würde 33•
Trotz prinzipieller Bejahung des Vorsatzes i. S. von § 212 (selbst Ab-
sicht kann vorliegen) besteht aber doch wohl kein Zweifel am Ergebnis
der Beurteilung, gleichgültig, ob man bei Bindings "erlaubtem Risiko",
bei der "Relevanz" i. S. von Mezger und Blei, bei Welzels "sozialer
Adäquanz", beim "Vertrauensgrundsatz" oder bei der "modernen Zu-
rechnungslehre" ansetzt; auch die genauere dogmatische Fixierung als
Ausschluß der Tatbestandsmäßigkeit dürfte heute überwiegen. (Anders
fällt die Beurteilung aus, wenn K Anzeichen dafür erkennt, daß X
überholen will.)34

31 Annin Kaufmann, ZStW 70 (1958), S. 81 (= Strafrechtsdogmatik, S. 73 f.).


- Engisch, Untersuchungen, S.220, S. 157 ff., meint hier die "Adäquanz im
weiteren Sinne" (im Gegensatz zur oben bei den Abweichungsfällen erörter-
ten "Adäquanz im engeren Sinne"; s. S.80). Ihm ist wohl auch darin zuzu-
stimmen, daß diese Begrenzung des Vorsatzes "ein Resultat der wertenden
Stellungnahme" ist, a. a. 0., S. 167; vgl. auch Schönke/Schröder/Lenckner,
StGB, 21. Aufl., vor § 13 Rdn. 40. - Selbstverständlich hat diese Bewertung
nichts zu tun mit der positiven Beurteilung des Risikos.
32 LB, 3. Aufl., S.231.
33 Vgl. hierzu und zum ganzen Abschnitt Stratenwerth, AT, 3. Aufl., Rdn.
337 ff., bes. 346; Jakobs, AT, 7/39 ff.; Preuß, Untersuchungen zum erlaubten
Risiko, 1974, S. 194 ff.
34 Sicher zu weit geht Roxin, Klug-Festschrift, S.305, mit der Formulie-
rung: "Die Verursachung von Todesfolgen, die sich aus der Teilnahme am
modernen Verkehr ergeben, ist keine Tötungshandlung im Sinne der §§ 212 ff.,
wie immer der Wille des Verursachers beschaffen gewesen sein mag." - Hier
müßten die "exakteren Methoden der Tatbestandsbegrenzung" , die die mo-
derne Zurechnungslehre zur Verfügung haben will, doch zu einer präziseren
Aussage führen!
268 Armin Kaufmann

2. Es war deshalb wichtig, daß Roxin sein Zurechnungskonzept mit


Welzels Gedanken über die soziale Adäquität und mittelbar auch mit
anderen Lösungsansätzen konfrontiert hat. Er kritisiert den Begriff der
sozialen Adäquität u. a. als "schlagwortartiges, generalklauselhaftes
Kriterium", das "sich für die verschiedensten Zwecke verwenden" lasse 35 •
Fast noch schärfer ist die Kritik des Welzel-Schülers Hirsch ausgefal-
len36 • Ich stehe nicht an, dem zuzustimmen, besonders angesichts der
Entwicklung, die die Verwendung des Begriffes auch außerhalb des
Strafrechts genommen hat. Zutreffend sagt Roxin "zusammenfassend",
"daß das Prinzip der Sozialadäquanz ein richtiges Ziel verfolgt, wenn
man es benutzt, um den Tatbestand auf deliktstypisches, generell ver-
botenes Verhalten einzuschränken" 37. Auch Welzeps hat die soziale
Adäquanz als ein "allgemeines Auslegungsprinzip" verstanden. Deshalb
ist der von Hirsch eingeschlagene, von Roxin ebenfalls verfolgte Weg
richtig, durch Auslegung der einzelnen Tatbestände den Gedanken der
sozialen Adäquität zu berücksichtigen und damit gleichsam zu erle-
digen39 •
Auch wir befinden uns mit unseren Überlegungen mitten im Beson-
deren Teil, nämlich beim Tatbestand des § 212 (oder des § 223). Wenn
Roxin am altbekannten Fall des Neffen, der den Erbonkel zu Bahn-
fahrten überredet, durch Anwendung der Formel der imputatio obiec-
tiva darlegen will, daß "die moderne Zurechnungslehre" "in solchen
Fällen sehr viel genauere Regeln für die Haftungsbegrenzung"40 er-
mögliche, so befriedigt das noch nicht. Interessanter wäre die Abwand-
lung: Der Stiefvater, der soeben zufällig erfahren hat, daß der Stell-
wärter an der nächsten Station betrunken ist, setzt den zwölf jährigen
Stiefsohn schleunigst in den Unglückszug. Das Ergebnis - kein Tatbe-
standsausschluß - bereitet der Formel nicht nur die bekannten Schwie-
rigkeiten hinsichtlich der Einbeziehung des entscheidenden Täterwis-
sens; hier geht es um die Herkunft der Bewertungskriterien, die den
mit Tötungsvorsatz überholenden Kraftfahrer als nicht tatbestands-
mäßig handelnd erscheinen lassen, den Stiefvater aber wohl. Diese
Kriterien ergeben sich aber gerade noch nicht aus den verwendeten
Begriffen der "rechtlichen Irrelevanz" (Roxin) oder der "sozialen

35 Roxin, Klug-Festschrift, S. 305, S. 310.


36 LK, 9. Aufl., vor § 51 Rdn.22.
37 (Fn. 35), S. 310.

38 Strafrecht, 11. Aufl., S. 58.


38 Hirsch, ZStW 74 (1962), S. 87 ff.; ders., in: LK, 9. Aufl., vor § 51 Rdn.22;
Roxin, Klug-Festschrift, S. 312 f. - Roxins Orientierung "am Schutzbereich
des betreffenden Tatbestandes" setzt allerdings einen seinerseits wieder
höchst ausfüllungsbedürftigen Begriff an die Stelle des Gedankens der sozia-
len Adäquität.
40 (Fn. 35), S. 311.
"Objektive Zurechnung" beim Vorsatzdelikt? 269

Adäquanz" (WelzeZ), der Unverbotenheit oder der Erlaubtheit. Ein


Vorzug an Genauigkeit ist nicht erkennbar. Allenfalls taugt die - ge-
wiß nicht neue - Verwendung des Begriffes "Risiko" besser zur Mar-
kierung dieser beim Vorsatzdelikt seltenen Fallkonstellationen41 •
Auch hier geht es um "Typenkorrektur" an einzelnen Tatbeständen.
("Erlaubtes Risiko" bei der Falschaussage?) Auch hier ist die Rechts-
gutslehre unentbehrlich.

VI. Methodologisches Fazit

1. Allgemeiner und Besonderer Teil


a) Genuin in den Allgemeinen Teil gehören nur zwei der Probleme,
die von der Entwicklung der objektiven Imputationslehre erfaßt wor-
den sind: die Kausalität und die irrelevante Abweichung vom vorge-
stellten Tatverlauf.
1. Der Kausalnexus bleibt, wie Jescheck erkannt hat, unverändert;
er ist zu erfassen i. S. der richtig verstandenen Bedingungstheorie.
Objektive Zurechnung (Risikoerhöhung) kann ihn nicht ersetzen.
2. Der Streit um die Einbeziehung der Abweichungsfälle in die
objektive Zurechnung hat das Verdienst, letztlich die alte Einsicht
Engischs wieder verdeutlicht zu haben: Wer - wie die sog. "Vollen-
dungslösung" - vom Täterplan abweichende Kausalverläufe dem Be-
reich der vorsätzlichen Vollendung zuschlägt, kann dies nur unter Ein-
fügung einer objektiven Bedingung der Strafbarkeit; dies ist unbe-
denklich (falls nicht systemimmanent widersprüchlich). über das sinn-
volle Maß der Ausdehnung ist damit noch nicht entschieden.
Diese Einbeziehung der adäquaten Abweichungen kann auch als
objektive Strafbarkeitsbedingung nicht im objektiven Tatbestandsteil
erfolgen, sondern muß - wie bisher - dem Vorsatz attachiert bleiben.

b) Alle anderen Probleme und Fälle sind solche des Besonderen


Teils. Die Untersuchungen der einzelnen Fallgruppen machen deutlich,
daß der imputatio obiectiva eine Tendenz zur grenzüberschreitenden
Begriffsverschiebung innewohnt: Angetreten mit dem Ziel, über den
Nexus zwischen Erfolg und Täter Näheres und Besseres auszusagen als
die Äquivalenztheorie, wird sie hierin vom Vorsatznexus sozusagen

41 Ob das tatbestandseinschränkende unverbotene Risiko in den Tat-


bestand des § 212 (oder des § 223) eingefügt werden kann als "negativ gefaß-
tes, normatives objektives Tatbestandsmerkmal" oder ob zu einer "gegen-
läufigen Handlungsumschreibung" gegriffen werden muß (Armin Kaufmann,
Klug-Festschrift, 8.280 f.), kann hier dahinstehen; jedenfalls handelt es sich
um "teleologische Reduktion" des Tatbestandes i. 8. Roxins, Klug-Festschrift,
8.312.
270 Armin Kaufmann

überrollt; sie gelangt zur Einbeziehung verschiedenartiger Auslegungs-


probleme, die auf einem ganz anderen Felde liegen. Was den tatbe-
standlichen Erfolgen recht ist, müßte anderen Tatbestandsmerkmalen
billig sein. Und beim Ausgangspunkt vieler Anhänger der imputatio
obiectiva - den fahrlässigen Erfolgsdelikten - ist es in der Tat ja die
Aufgabe, die im Gesetz nicht vorhandenen Tatbestandskriterien über-
haupt erst zu ermitteln. - Auf diesem Wege gäbe es kein Halten. Im
Orkus der so verstandenen modernen Zurechnungslehre verschwänden
nicht nur die "Auslegungsprinzipien" der Tatbestandlichkeit, sondern
die Tatbestände selbst.
Das ist gewiß nicht das Ziel der objektiven Zurechnung. Doch die
Affinität zum Besonderen Teil ist nicht neu, sie liegt klar zutage.
Rudolphi42 hat nachdrücklich darauf hingewiesen, daß es sich um Pro-
bleme des Besonderen Teils handelt. Doch müssen daraus methodolo-
gische Konsequenzen gezogen werden. - Die Relevanztheorie (Mezger,
Blei) hat von vornherein auf die besonderen Tatbestände verwiesen.
Diese Problematik betrifft nun auch - von der Kausalität abgesehen
- die objektive Zurechnung im Verständnis von Jakobs: Für das
"erlaubte Risiko" ist dies schon evident geworden; es muß von Vor-
satzdelikt zu Vorsatzdelikt gefragt werden, ob es überhaupt relevant
wird, und wenn ja, in welcher Weise. Entsprechendes gilt für die tat-
bestandsausschließende Einwilligung, deren Kriterien aus der Beson-
derheit des jeweiligen Tatbestandes zu entwickeln sind. - Auch die
Garantenstellungen sind bei den Unterlassungsdelikten ein Problem
des Besonderen Teils, das nur aus den bekannten Gründen der Dog-
men- und Gesetzesgeschichte im Allgemeinen Teil abgehandelt zu wer-
den pflegt. Die Übertragung der Garantenlehre auf das Begehungs-
delikt ändert daran nichts. - Der verführerische Satz, daß "nicht jeden
alles angeht" 43, ist gewiß, auch im Verständnis von Jakobs, kein allge-
meines Prinzip. Schon im Bereich der Unterlassungen wäre dem ent-
gegenzuhalten, daß jeder Unglücksfall jeden angeht, und im Bereich
des Tötungsverbotes gilt doch wohl: Jeden vorsätzlich Tötenden geht
sein Opfer etwas an. - Kurz, bei alledem ist die Frage, ob es sich
nicht nur um Probleme der jeweiligen Tatbestandsauslegung handelt.
In den Allgemeinen Teil würde man mit der "objektiven Zurech-
nung" erst gelangen, wenn sich allgemeine Strukturen aufweisen lie-
ßen, an denen sich die Normativität "festmachen" läßt.

42 SK, 3. Aufl., vor § 1 Rdn.62; ähnlich Roxin, Klug-Festschrift, S.312.


43 Jakobs, ZStW 89 (1977), S. 30.
"Objektive Zurechnung" beim Vorsatzdelikt? 271

2. Auslegungsgesichtspunkte?
Was bleibt von der objektiven Imputation? Ein besonderer Nexus
zwischen dem tatbestandsmäßigen Erfolg und dem Täter, der sich als
"objektive Zurechnung" bezeichnen ließe, ist nicht aufweisbar. Es
bleibt ein Ensemble von Topoi, nützlich für die Auslegung dieses oder
jenes Tatbestandes, manchmal sogar von Tatbestandsgruppen.
Das scheint bei Vorstößen in dieser Richtung der dogmengeschicht-
liche Gang der Dinge zu sein. H. Mayer hat mit Recht darauf aufmerk-
sam gemacht, daß Bindings Tatlehre nichts anderes als der Versuch
gewesen sei, eine objektive Zurechnungslehre zu entwickeln. Damit ist
Binding gescheitert - im Allgemeinen Teil; und doch liegt hier der
Ansatz für Bindings meisterhafte Bearbeitung des Besonderen Teils, der
wir Bleibendes verdanken.
Auch Welzel ist gescheitert mit dem vorübergehenden Versuch, die
Lehre von der Sozialadäquanz zum allgemeinen, gewohnheitsrecht-
lichen Rechtfertigungsgrund zu erheben. Seine Lehre, von ihm selbst
wieder zurückgenommen auf ein "Auslegungsprinzip" zur Begrenzung
der Tatbestände des Besonderen Teils, bleibt hier weiterhin unent-
behrlich.
Es wäre das Schlechteste nicht, wenn die Periode der objektiven
Imputation in solcher Befruchtung des Besonderen Teils endete.
ARTHUR KAUFMANN

Kritisches zur Risikoerhöhungstheorie

1.
In meinem Beitrag zur Festschrift für Eberhard Schmidt, 1961 1 , habe
ich festgestellt, daß das Problem der sogenannten hypothetischen Kau-
salität - T führt pflichtwidrig die Folge F herbei, F wäre aber auch
bei pflichtgemäßem Verhalten des T oder infolge der bereitstehenden
Ersatzursache E "sowieso" in juristisch gleichwertiger Weise eingetre-
ten - , daß dieses Problem, im Zivilrecht seit langem heftig diskutiert,
von der Strafrechtsdogmatik noch kaum aufgegriffen worden ist. Jetzt,
mehr als zwanzig Jahre später, kann man dies gewiß nicht mehr be-
haupten. Es gibt eine Reihe von Monographien, viele Abhandlungen
und noch mehr Stellungnahmen in Lehrbüchern und Kommentaren
zu diesem Thema. Daß dabei meine damaligen Darlegungen in diesem
oder jenem Punkt Kritik erfahren haben, kann nicht verwundern, am
allerwenigsten mich selber, da mir die Vorläufigkeit mancher meiner
Ausführungen von Anfang an bewußt war. Im Kern freilich hat sich
mein Standpunkt als richtig erwiesen.
Ich will im folgenden hauptsächlich auch nur zum Kernproblem der
Diskussion, wie es sich in den vergangenen zwanzig Jahren heraus-
geschält hat, Stellung nehmen, andere Fragen dagegen weitgehend
vernachlässigen. Ich werde mich daher auch nicht mit allen Äußerun-
gen im Schrifttum auseinandersetzen, und auch die vielbehandelten
Problemfälle - Ziegenhaarfall, Apothekerfall, Narkosefall, Radfah-
rerfall ... - sollen hier nicht erneut vorgestellt werden; es wird un-
terstellt, daß sie dem Leser bekannt sind. Eine kurzgefaßte Antwort
auf die Haupteinwände meiner Kritiker erscheint mir allerdings gebo-
ten, weil es hier einige Mißverständnisse auszuräumen gibt. Ich will
dabei aber nicht auf Biegen und Brechen "recht gehabt" haben.

1 Arthur Kaufmann, Die Bedeutung hypothetischer Erfolgsursachen im


Strafrecht, Festschrift für Eb. Schmidt, 1961 (Neudruck 1971), S. 200 ff.; auch
in: Arthur Kaufmann, Schuld und Strafe, 2. Aufl. 1983, S. 49 ff.

18 Festschrift für H.-H. Jescheck


274 Arthur Kaufmann

H.

Am heftigsten hat mich Raxin kritisiert!, teils zu Recht, teils zu


Unrecht. Berechtigt ist der Vorwurf, daß ich zu sehr von zivilrecht-
lichen Problemlösungen aus argumentiert habe. Dieser Fehler lag
nahe, weil es seinerzeit nur in der Zivilrechtsdogmatik eine systema-
tische Durchdringung unseres Problems gab, in der Strafrechtsdogma-
tik dagegen waren auch nicht Ansätze einer solchen erkennbar. Des-
halb ging es mir in erster Linie darum, den Anstoß zu geben, um
damit die Diskussion auch im Strafrecht in Bewegung zu bringen.
Diesen Anstoß fand Raxin in einigen Punkten als "anstößig". Ich
räume ohne Wenn und Aber ein, daß mir einige Formulierungen miß-
glückt sind. Verwahren muß ich mich allerdings gegen die Behaup-
tung, daß nach meiner Theorie gewisse Menschengruppen außerhalb
der Rechtsordnung gestellt würden. Ich habe derartiges nicht gesagt,
das Gegenteil läßt sich meinen Ausführungen entnehmen. Roxin spal-
tet hier allzu grobe Klötze. Der Stein des Anstoßes sind offenbar die
Euthanasiefälle. Es wird mir unterstellt, daß es nach den von mir ent-
wickelten Grundsätzen erlaubt sein müsse, fahrlässig einen Moribun-
den zu töten. Das ist aber nicht richtig. Die Tatsache, daß ein Mensch
früher oder später "sowieso" sterben muß, kann nicht als Ersatz-
ursache gelten. Auch wenn er "bald" sterben muß, ist es doch nicht
der (im juristischen Sinne) gleiche Tod wie der, der ihn durch die
Euthanasiehandlung ereilt3 • Im "Hinrichtungsfall" (bei der Hinrich-
tung des Mörders seines Kindes stößt der Vater den Scharfrichter zur
Seite und löst an dessen Stelle im seI ben Augenblick, wie dieser es
vorhatte, das Fallbeil aus) ist es absichtlich so konstruiert (der Fall
hat sich nicht wirklich ereignet), daß der Delinquent "im gleichen
Moment" und "auf die gleiche Weise" ebenso zu Tode gekommen
wäre (allerdings durch einen anderen Handelnden!). Bei der lebens-
verkürzenden Euthanasie liegt es. gerade nicht so.
Es ist mir verständlich, daß meine Argumentation mit dem ver-
minderten oder fehlenden Erfolgsunwert in den Fällen der hypothe-
tischen Kausalität als ein Ärgernis empfunden wird. Aber es muß die
Frage erlaubt sein, ob und wie dieses Ärgernis auszuräumen ist.

2 Raxin, Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei fahrlässigen Delikten, ZStW 74


(1962), S. 411 ff., bes. 425 ff. Der Aufsatz von o. Ranft, Berücksichtigung hypo-
thetischer Bedingungen beim fahrlässigen Erfolgsdelikt, NJW 1984, 1425 ff.,
ist erst nach Fertigstellung des vorliegenden Beitrags erschienen. Meine Ant-
wort auf Ranfts z. T. abweichende Auffassung ergibt sich mühelos aus dem
nachfolgenden Text. Dasselbe gilt für Krumpelmann, GA 1984, 491 ff.
3 Zu dem Problem, welche Lebensverkürzung strafrechtlich relevant ist
und welche nicht, vgl. BGH NStZ 1981, 218, und die lesenswerte Anmerkung
hierzu von Gabriele Woljslast (S. 219 f.).
Kritisches zur Risikoerhöhungstheorie 275

Wenn die von Roxin inaugurierte Risikoerhöhungstheorie besagt,


es komme in den Problemfällen darauf an, ob durch das kausale und
pflichtwidrige Verhalten des Täters das Risiko für das Opfer erhöht
worden ist, dann ist das nur ein vordergründiges Argument, das die
eigentliche Frage, warum Risikobegründung und -erhöhung Unrecht
ist, noch nicht beantwortet. Wenn man dieser Frage nachgeht, muß
man auf das geschützte Rechtsgut abstellen, also auf einen Wert, von
dem die Handlung des Täters ihrerseits ihren Wert oder Unwert emp-
fängt. Und dann stößt man auf das "Ärgernis", daß eine pflichtwidrige
und erfolgverursachende Handlung anders zu bewerten ist (und von
der ganz überwiegenden Mehrheit ja auch anders bewertet wird),
wenn der Erfolg auch ohne sie eingetreten wäre, als wenn dies nicht
der Fall ist. Die quantitative Risikoerhöhung sagt noch nichts über den
qualitativen Unwert.
Auch das Argument, daß das menschliche Leben ein Höchstwert sei,
der durch nichts vermindert werden könne, ist so unproblematisch,
wie es die Kritiker hinstellen, nicht. Man ist natürlich schnell bei der
Hand, seinen Gegner mit dem Hinweis auf den Ungedanken vom
"lebensunwerten Leben" mundtot zu machen. Doch das ist unfair,
weil die Probleme verwischend. Schon vor Jahren hat Stratenwerth,
ein gewiß unverdächtiger Beobachter, darauf hingewiesen, daß ange-
sichts der modernen Entwicklung in der Medizin von einem "absolu-
ten" Lebensschutz nicht mehr gesprochen werden kann4 • Die Medizin
kann heute in vielen Fällen das Leben über dessen "natürliches"
Ende hinaus verlängern, nicht selten sogar um eine beträchtliche Zeit-
spanne. Gälte der Grundsatz des "absoluten" Lebensschutzes unein-
geschränkt, dann müßten beim Moribunden zwingend lebens- (und lei-
dens-) verlängernde Maßnahmen ergriffen werden, und zwar auch ge-
gen seinen Willen - eine Konsequenz, die außer Bockelmann heute
wohl kaum mehr jemand zieht. Man darf also Menschen sterben las-
sen, obwohl man ihr Leben hätte verlängern können - in anderer
Terminologie: obwohl das Unterlassen entsprechender Maßnahmen
das Risiko eines früheren (als des möglichen) Todes erhöht hat. Man
kann das natürlich "anstößig" finden.
Die Risikoerhöhungstheorie muß denn auch in ihrer Konsequenz
zur Strafbarkeit des Arztes führen, der lebensverlängernde Maß-
nahmen bei einem Sterbenden unterläßt, selbst wenn er das mit des-
sen Einwilligung tut. Diese Konsequenz mag man vielleicht noch hin-
nehmen, obwohl sie lebensfremd ist und für viele Menschen eine Tor-
tur bedeutet. Aber dies ist ja kein Ausnahmefall. Die Risikoerhöhungs-

• Stratenwerth, Sterbehilfe, SchwZStr.95 (1978), S. 77 f. Dazu eingehend


Arthur Kaufmann, Strafrecht zwischen Gestern und Morgen, 1983, S. 117 ff.,
137 ff.

18·
276 Arthur Kaufmann

theorie führt - jedenfalls in ihrer von Roxin vertretenen Version -


in praktisch allen Fällen der hypothetischen Kausalität zur Verurtei-
lung des Täters und damit zu einer höchst unerfreulichen Ausweitung
der Strafbarkeit (auch hieran kann man Anstoß nehmen). Denn da-
nach soll schon eine mögliche Risikoerhöhung strafbar sein5 • Daß eine
erfolgsverursachende und pflichtwidrige Handlung das Risiko für das
Opfer möglicherweise erhöht hat, läßt sich, wie Ulsenheimer mit Recht
gegen Roxin ausführt, in praxi ja nie ausschließen6 • Nur in dem theo-
retisch angenommenen Fall, in dem als sicher unterstellt wird, daß
alles genauso passiert wäre auch ohne die pflichtwidrige Handlung
des Täters, also in dem konstruierten Hinrichtungsbeispiel, in dem der
Vater das Risiko für den Mörder, in diesem Augenblick getötet zu
werden, mit Gewißheit nicht erhöht hat, nur in diesem Fall kommt
die Risikoerhöhungstheorie zur Straflosigkeit. Doch gerade in dem
Hinrichtungsfall ist die Straflosigkeit nicht plausibel. Die Risikoerhö-
hungstheorie paßt eben allenfalls für Fahrlässigkeitsdelikte, nicht für
Vorsatztaten7 , indessen ist das Problem der hypothetischen Kausali-
tät keineswegs nur - was vielfach verkannt wird - ein Fahrlässig-
keitsproblem.
Roxin hat gegen Ulsenheimer eingewandt, bei einer Gefahrbeurtei-
lung ex ante unter Zugrundelegung des wirklichen Sachverhalts lie-
ßen sich durchaus Fälle denken, in denen keinerlei Risikoerhöhung
eintrittS. Aber dieses Argument sticht nicht, weil, wie Ulsenheimer
richtig repliziert hat, hier von einem falschen Gefahrbegriff ausge-
gangen wird. Ich zitiere Ulsenheimer: "Wenn Roxin das Gefahrurteil
als ein ex-ante-Urteil auffaßt, das aufgrund des ,wirklichen Sachver-
halts' oder, anders formuliert, aufgrund der ,wirklich eingetretenen
Situation' zu fällen sei, so liegt eben hierin ein sachlicher Widerspruch.
Denn durch den Rückgriff auf die ,wirklich eingetretene Situation',
d. h. die Sachlage, wie sie sich tatsächlich entwickelt hat, wird der fak-
tisch-reale Geschehensablauf nach der Tathandlung, also ein ex-post-
Gesichtspunkt, fälschlich zur Grundlage der ex-ante-Betrachtung der
Gefahr gemacht. Demgegenüber stellt von Hippel mit Recht fest, die
Beurteilung der Gefahr sei nicht ,aufgrund der erst nach der Tat be-
kannt gewordenen Verhältnisse abzugeben' und Welzel verlangt zu-
5 Vgl. Roxin, Pflichtwidrigkeit (Fn.2), passim; ders., Gedanken zur Pro-
blematik der Zurechnung im Strafrecht, Festschrift für Honig, 1970, S. 133 ff.
Siehe auch Spendel, Conditio-sine-qua-non-Gedanke und Fahrlässigkeit, JuS
1964,14 ff.
t Ulsenheimer, Das Verhältnis zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei
den Fahrlässigkeitsdelikten, 1965, S. 134 f.
7 Hier will Roxin auf die Risikoverringerung abstellen; Festschrift für
Honig (Fn.5), S. 136; vgl. hierzu und hiergegen Samson, Hypothetische Kau-
salverläufe im Strafrecht, 1972, bes. S. 154.
8 Roxin, ZStW 78 (1966), S. 221.
Kritisches zur Risikoerhöhungstheorie 277

treffend, das Gefahrurteil müsse ,von den zu einem bestimmten Zeit-


punkt nicht erkennbaren Realfaktoren' absehen. Wenn demnach ein
Autofahrer eine Ampelkreuzung bei Rotlicht überfährt, ohne die
Querstraße einsehen zu können, so ist dies eine gefährliche Handlung,
auch wenn sich ex post ergibt, daß aus der anderen Richtung weit
und breit kein Fahrzeug kam. 9 " An sich ist das alles eine Selbstver-
ständlichkeit. Logisch kann eine Gefahr (eine Möglichkeit, ein Ri-
siko) nur aus der Sicht ex ante bestimmt werden, d. h. der Richter muß
sich bei seiner nachträglichen Beurteilung in die Situation ex ante
versetzen und darf nur berücksichtigen, was zu diesem Zeitpunkt er-
kennbar war to • Man kann allenfalls darüber streiten, ob in den Fällen
der hypothetischen Kausalität der Gefahrbegriff ganz aus dem Spiel
bleiben und generell auf eine Betrachtung ex post abgestellt werden
soll11; man müßte einmal analysieren, zu welchen Ergebnissen das
führen würde, prima vista scheint mir diese Auffassung zu weit zu
gehen.
III.
Die ganze Diskussion um die Problematik der hypothetischen Kau-
salität krankt maßgebend daran, daß die materiellrechtliche Seite des
Problems nicht exakt von der formellrechtlichen unterschieden wird.
Vor allem Roxins Lehre ist in diesem Punkt fehlerhaft. Mag man
auch das Prinzip der Risikoerhöhung akzeptieren - wobei es, wie
gesagt, allenfalls für die Fahrlässigkeit Geltung haben kann -, so
ist doch Roxins Auffassung, daß hier Beweisprobleme und vor allem
der Grundsatz des in dubio pro reo nichts zu suchen hätten t2 , ganz
gewiß falsch. Zwar bringt auch Ulsenheimer hier einiges durchein-
ander - er projiziert beweisrechtliche Fragen in die materiellrecht-
lichen13 - , aber daß hier auch prozessuale Probleme auftreten - wie
ist zu entscheiden, wenn Zweifel hinsichtlich des erforderlichen Wahr-
scheinlichkeitsgrades bleiben? -, ist sicher. Das hat Jescheck schon vor
zwanzig Jahren klar herausgestelltu.
a Ulsenheimer, Erfolgsrelevante und erfolgsneutrale Pflichtverletzungen
im Rahmen der Fahrlässigkeitsdelikte, JZ 1969, 364 ff., 366.
10 Zutreffend Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. T., 3. Aufl. 1978,
S.230: objektiv-nachträgliche Prognose. - Damit erledigt sich auch der
Selbstmörderfall (nachträglich stellt sich heraus, daß der Getötete Suizid
begehen wollte). Ich räume ein, daß meine früheren Ausführungen insofern
nicht unmißverständlich waren.
11 So in der Tendenz Stratenwerth, Bemerkungen zum Prinzip der Risiko-
erhöhung, Festschrift für Gallas, 1973, S. 227 ff. - Von diesem Standpunkt
aus wird dann in der Tat der Einwand Ulsenheimers gegenstandslos (S.230).
12 Roxin, ZStW 78 (1966), S. 218 f.
13 Ulsenheimer, Pflichtwidrigkeit (Fn.6), bes. S. 77 ff. Vgl. dazu Lampe,
SchwZStr. 83 (1967), S. 320 ff.
14 Jescheck, Aufbau und Behandlung der Fahrlässigkeit im modernen
Strafrecht, 1965, S. 17; siehe jetzt auch Lehrbuch (Fn. 10), S. 473 f.
278 Arthur Kaufmann

Materiellrechtlich dürfte inzwischen nahezu Einmütigkeit bestehen,


daß das Problem der hypothetischen Kausalität15 kein Kausalitätspro-
blem ist. Auch der BGH hat seine in BGHSt. 11, 1 dokumentierte ab-
weichende Auffassung jetzt in BGHSt. 30, 228 korrigiert, worüber
auch nicht seine Behauptung hinwegtäuschen darf, es handle sich in
den beiden Entscheidungen um verschiedene Dinge. Ebenfalls nichts
mit Kausalität hat zu tun, was man in einer verwirrenden Redeweise
"Rechtswidrigkeitszusammenhang" oder "Kausalität der Pflichtwidrig-
keit" nennt. Das sollte nach den klärenden Untersuchungen von Inge-
borg Puppe nicht mehr zweifelhaft sein1G . Denn hier geht es, wie Puppe
ganz zutreffend sagt, um einen fiktiven Geschehensablauf, um die
Frage, was geschehen wäre, wenn sich der Täter sorgfaltsgemäß ver-
halten hätte. Wörtlich: "Eine Sorgfaltspflichtverletzung kann nicht Be-
standteil einer Kausalerklärung oder einer Risikobestimmung sein,
nicht weil sie ein abstrakter Begriff oder ein Wertbegriff wäre - es
geht durchaus um eine ,konkrete Sorgfaltspflichtverletzung' , d. h. um
einen Einzelfall von Unsorgfältigkeit - sondern weil sie ein Verhält-
nis in der Metasprache ist. Das Substantiv ,Sorgfaltspflichtverletzung'
bezeichnet den Sachverhalt, daß ein Verhältnis im Widerspruch zu
einer Sorgfaltsnorm steht, das ist ein Verhältnis von Sätzen zuein-
ander. Auch wenn man bei der Bestimmung dessen, was als Bestand-
teil einer Kausalerklärung zulässig sein soll, noch so großzügig ist,
wird man einen Widerspruch zwischen Sätzen nicht dazu zählen kön-
nen, weil das eine Stufenkonfusion bedeuten würde. Kausalfaktor oder
auch Gefahrfaktor kann allenfalls der Sachverhalt sein, der die Sorg-
faltsnorm verletzt, also die irgendwie beschriebene Handlung des Tä-
ters."17 Natürlich kann man mit der etwas modischen Unterscheidung
von Objekt- und Metaebene die anstehenden sachlichen Probleme
nicht lösen, aber man kann Widersprüche auflösen und die Probleme
der jeweils richtigen "Stufe" zuordnen. Und da ist es eben so, daß
das Problem des "Rechtswidrigkeitszusammenhangs" , der "Erfolgs-
relevanz der Sorgfaltspflichtverletzung" oder der "hypothetischen Kau-
salität" nicht auf der Objektebene des kausalen Geschehensablaufs
liegt, sondern auf der Metaebene (ist es nur eine sprachliche Ebene?)
der Wahrscheinlichkeit (das gilt ganz entsprechend für die Unterlas-
sung, die als solche nicht kausal ist, bei der aber das hypothetische

15 Jescheck, Lehrbuch (Fn.10), S.473, spricht vom "Fall des rechtmäßigen


Alternativverhaltens" . Das ist indessen nur der praktisch wichtigste Problem-
fall, aber nicht der einzige; in der Rechtsprechung haben auch Fälle eine
Rolle gespielt, bei denen andere Ersatzursachen bereitstanden (vgl. etwa
BGHSt. 30, 228).
11 Ingeborg Puppe, Zurechnung und Wahrscheinlichkeit. Zur Analyse des
Risikoerhöhungsprinzips, ZStW 95 (1983), S. 285 ff.; vgl. auch schon dies., Der
Erfolg und seine kausale Erklärung im Strafrecht, ZStW 92 (1980), S. 863 ff.
17 Puppe (Fn. 16), S. 290.
Kritisches zur Risikoerhöhungstheorie 279

Tun mit soundsogroßer Wahrscheinlichkeit den tatbestandsmäßigen


kausalen Erfolg abgewendet hätte).
Die materiellrechtliche Kernfrage in den Fällen der "hypothe-
tischen Kausalität" lautet nach allem so: welcher Grad von Wahr-
scheinlichkeit ist für die hypothetische Kausalität der sorgfaItsgemä-
ßen Handlung des Täters bzw. einer anderen Ersatzursache zu ver-
langen, damit dem Täter der fahrlässig-pflichtwidrig herbeigeführte
Erfolg nicht zuzurechnen bzw. der vorsätzlich verwirklichte Erfolg
nur vermindert zuzurechnen ist? Auf der logischen Wahrscheinlich-
keitsskala reichen die Grade von Null bis Eins, wobei Null (es spricht
nichts dafür) und Eins (es besteht Gewißheit) Grenzwerte sind '8 • Roxin
verlangt - notabene: praktisch! - Eins. Das führt, wie schon gesagt,
zu einer mit der fragmentarischen Natur des Strafrechts nicht zu ver-
einbarenden Ausweitung der Strafbarkeit. Jescheck bejaht die Straf-
barkeit, "wenn die Verletzung der Sorgfaltspflicht ... eine gegenüber
der Normalgefahr erheblich gesteigerte Gefährdung des Handlungs-
objekts mit sich brachte, weil die jeweils in Betracht kommenden
Sorgfaltspflichten zwecks Vermeidung des Erfolgs auch dann beach-
tet werden müssen, wenn nicht sicher ist, ob ihre Einhaltung dieses
Ergebnis haben wird"'v; danach wird eine Wahrscheinlichkeit von
etwa 0,9 zu fordern sein. Puppe verlangt als Strafbarkeitserfordernis
eine "erhebliche Risikoerhöhung"20, d. h. also, daß für die Ersatz-
ursache eine Wahrscheinlichkeit von vielleicht 0,5 ausreicht. Das trifft
sich ungefähr mit dem, was ich in meiner früheren Arbeit vorgeschla-
gen habe: der gleiche wie der eingetretene Erfolg müsse zufolge des
hypothetischen Umstands "nach menschlichem Ermessen zu erwarten"
gewesen sein2l ; ich würde das bei etwa 0,6 ansetzen. Viel niedriger
ist der von Ulsenheimer veranschlagte Wahrscheinlichkeitsgrad; nach
ihm ist in allen Fällen, in denen "bei ordnungsgemäßem Täterverhal-
ten der Erfolg in gleicher Weise eingetreten wäre, bzw. dies nicht aus-
geschlossen ist, das Rechtsgut also durch Beobachtung der Sorgfalts-
pflichten nicht geschützt werden konnte, ... die Verletzung dieser
Pflicht hinsichtlich des strafrechtlichen Erfolgsdelikts irrelevant und
daher in jedem Fall Freispruch mangels Tatbestandsmäßigkeit ge-
boten"22. Nach dieser Auffassung, bei der ersichtlich Materiellrecht-

18 Vgl. Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile in juristischen Entscheidungen,


1983, bes. S. 95.
19 Jescheck, Lehrbuch (Fn.10), S.474. Vgl. auch Dtto, Risikoerhöhungs-
prinzip statt Kausalitätsgrundsatz als Zurechnungskriterium bei Erfolgs-
delikten, NJW 1980,417 ff., 420.
20 Puppe, Kausalität und Sorgfaltspflichtverletzung, JuS 1982, 660 ff., 663.

21 Arthur Kaufmann, Festschrift für Eb. Schmidt (Fn. 1), S.229 (bzw. S. 76).

22 Ulsenheimer, Pflichtwidrigkeit (Fn. 6), S. 149.


280 Arthur Kaufmann

liches und Prozessuales vermengt wird, die aber im Ergebnis der herr-
schenden Meinung entspricht23 , ist zur Bejahung der Frage, ob der
hypothetische Umstand (die Ersatzursache) den gleichen Erfolg ver-
ursacht hätte, nur ein sehr geringer Grad von Wahrscheinlichkeit von-
nöten, denn es soll genügen, daß diese Möglichkeit nicht auszuschlie-
ßen ist (also nur 0,1, höchstens 0,2). Es ist sozusagen der Umkehrfall
zu Roxin, und darin, daß Ulsenheimers Lösung zu ungebührlichen
Freisprüchen führen muß, ist Roxins Kritik an dieser Lösung auch
berechtigt.
Aber ist es nun im übrigen eine Frage der subjektiven Wertung,
ob man in den gemeinten Fällen einen Wahrscheinlichkeitsgrad von
0,25 oder 0,4 oder 0,5 oder 0,8 ... verlangt? Natürlich läßt sich keine
mathematisch exakte Grenze ziehen (und wenn, ließe sie sich in der
Wirklichkeit nie genau feststellen), aber Grenzpfähle lassen sich aus-
machen. Stratenwerth hat sehr scharfsinnig gegen Roxin festgestellt,
"daß eine Handlung, die nach dem Stand unseres Wissens auch nur
möglicherweise gefährlich ist, Sorgfaltspflichten verletzt", daß "für
die Zurechnung eines Erfolges ... diese bloße Möglichkeit jedoch nicht
genügen" kann2'. In der hergebrachten Sprache der Strafrechtsdogma-
tik heißt das, daß der Aktunwert allein bei Fahrlässigkeitsdelikten zur
Strafbarkeit nicht ausreicht. Sie!
Andererseits läßt sich auch die Unhaltbarkeit der Gegenmeinung, wo-
nach schon ein geringer Grad von Wahrscheinlichkeit der alterna-
tiven Erfolgsverursachung zur Straflosigkeit ausreichen soll, rational
begründen. Der Gedanke der Risikoerhöhung verdeckt den Umstand,
daß es in unseren Problemfällen um Fälle der Strafausschließung (ich
lasse dahingestellt, ob schon Unrechts- oder Schuldausschließung) bzw.
der Strafmilderung (bei Vorsatztaten) geht. Und diesbezüglich gilt, wie
bei allen "negativen" Voraussetzungen der Strafbarkeit - Unrechts-,
Sehuld- und sonstige Strafausschließungsgründe -, daß es grundsätz-
lich nicht der positiven Feststellung ihres Nichtvorliegens bedarf; denn
es spricht eine natürliche Vermutung dafür, daß der Täter nicht in
Notwehr oder im Notstand gehandelt hat, daß die Tat nicht verjährt
ist usw. usw. Erst wenn konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die auf
das Gegebensein von solchen Ausnahmen hindeuten, müssen Feststel-
lungen getroffen werden. Dieses Prinzip ist praktisch allgemein an-
erkannt, und seine Anerkennung hängt keineswegs von der Einstel-
J,ung zur Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen ab. Jede

23 Vgl. statt vieler anderer SchönkelSchröder/Cramer, 21. Aufl. 1982, Rdn.


172 zu § 15, m. w. N.
24 Stratenwerth, Festschrift für Gallas (Fn. 11), S. 235. Mit Recht rügt auch
Samson, Kausalverläufe (Fn.7), S. 159, daß die Risikoerhöhungstheorie die
Verletzungsdelikte zu Gefährdungsdelikten umbildet.
Kritisches zur Risikoerhöhungstheorie 281

andere Handhabung wäre ja auch unsinnig. Schon bei der bloßen


Nichtausschließbarkeit von Notwehr freizusprechen, wäre schlechthin
unerträglich (das wäre analog die Lösung Ulsenheimer). Aber es geht
ebensowenig an, daß eine Rechtfertigung wegen Notwehr nur dann
statthaben könne, wenn Notwehr mit Sicherheit gegeben ist (das
wäre analog die Lösung Roxin). Man wird hier vielmehr einen
"mittleren" Grad von Wahrscheinlichkeit für erforderlich und genü-
gend erachten müssen (und die Praxis verfährt in dieser Weise ja
auch seit eh und je). Um etwas präziser zu sein, möchte ich sagen,
daß bei "negativen" Strafbarkeitsvoraussetzungen2ä auf die "überwie-
gende Wahrscheinlichkeit" abzustellen ist. Danach gilt als wahrschein-
lich "ein Ereignis nur dann, wenn sein Eintritt wahrscheinlicher ist
als sein Nicht-Eintritt, m. a. W.: wenn ... ein jedenfalls über 0,5 lie-
gender Wahrscheinlichkeitsgrad vorliegt"26. Es ist klar, daß wir keine
Möglichkeit der genauen Messung von solchen Wahrscheinlichkeiten
haben. Aber es ist für den Richter ganz entscheidend wichtig zu wissen,
ob es in den Fällen der hypothetischen Kausalität bzw. der Risikoerhö-
hung um "entfernte", "hinreichende", "überwiegende", "hochgradige",
"an Sicherheit grenzende" usw. Wahrscheinlichkeit geht. Und diese
Frage, das muß man angesichts der Konfusion in Literatur und Judi-
katur betonen, ist eine Frage des materiellen Rechts.

IV.
Eine prozessuale Frage hingegen ist, wann der erforderliche Grad
von Wahrscheinlichkeit als mit genügender Sicherheit dargetan zu
erachten ist. Was dies angeht, so ist zunächst mit Jescheck nachdrück-
lichst zu betonen, daß die gesteigerte Gefährdung des Handlungs-
objekts "nachweisbar" sein muß 27 , oder mit Stratenwerth, daß die Stei-
gerung des Risikos "wirklich festgestellt" werden muß 28 • Freilich sind,
wie oben erläutert, besondere Feststellungen dann unnötig, wenn kei-
nerlei Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß die pflichtwidrige Erfolgs-
verursachung auch bei pflichtgemäßem Verhalten oder infolge einer
anderen Ersatzursache ebenfalls eingetreten sein könnte. Aber nicht
angängig ist die Auffassung von Roxin, wonach für die Bestrafung
die bloße (und praktisch immer zu bejahende) Möglichkeit der Risiko-
steigerung genügen und sich daher jedes Beweisproblem erübrigen,

25 Es ist mir wohl bewußt, daß man die gleiche Voraussetzung sowohl
positiv als auch negativ formulieren kann; es ist mir aber auch bewußt, daß
die Art der Formulierung keineswegs gleichgültig ist; vgl. Arthur Kauf-
mann, Schuld und Strafe (Fn. 1), S. 113.
28 Nell, Wahrscheinlichkeitsurteile (Fn. 18), S. 117.
27 Jescheck, Lehrbuch (Fn. 10), S. 474.
28 Stratenwerth, Festschrift für Gallas (Fn. 11), S. 235.
282 Arthur Kaufmann

die Anwendung des In-dubio-pro-reo-Grundsatzes gar als "schlecht-


weg falsch" erweisen so1l29.
Wenn Anhaltspunkte für eine Ersatzursache vorliegen, müssen dar-
über Feststellungen getroffen werden. Das sollte ebenso selbstver-
ständlich sein wie beispielsweise bei Notwehr oder Notstand, wo auch
nur dann, aber immer dann Feststellungen nötig sind, wenn konkrete
Umstände auf deren mögliches Vorliegen hinweisen. Die Frage, was
denn nun in unseren Problemfällen festgestellt, also bewiesen wer-
den muß, ist leicht zu beantworten: Für den Strafausschluß muß be-
wiesen werden, was materiellrechtlich erforderlich ist, also die "über-
wiegende Wahrscheinlichkeit", daß der gleiche Erfolg "sowieso" ein-
getreten wäre. Nicht mehr und nicht weniger.
Bleibt noch die Frage, wer das Beweis- bzw. Aufklärungsrisiko
trägt30 , also ob sich der Zweifel hinsichtlich des Gegebenseins einer
überwiegenden Wahrscheinlichkeit zugunsten oder zuungunsten des
Täters auswirkt. Es ist kein einziger rationaler Grund ersichtlich,
warum hier das Strafrecht auf den Kopf gestellt und der In-dubio-
pro-reo-Grundsatz ausgeschlossen werden soll31. Man muß ihn nur
richtig anwenden und die prozessuale Frage von der materiellrecht-
lichen sauber trennen. Läßt die Beweisaufnahme den Zweifel übrig,
ob für die hypothetische Ursache (die Nichterhöhung des Risikos) eine
Wahrscheinlichkeit von mehr als 0,5 spricht, ist dies aber auch nicht
auszuschließen, so muß Freispruch ergehen. Dagegen ist zu verurtei-
len, wenn zwar zweifelhaft bleibt, ob der Wahrscheinlichkeitsgrad 0,3
oder 0,4 beträgt, das Gericht indessen davon überzeugt ist, daß es
jedenfalls nicht mehr als 0,5 sind, m. a. W. daß keine "überwiegende
Wahrscheinlichkeit" vorliegt. Also nicht schon jeder Zweifel, daß eine
Ersatzursache "vielleicht" bereitgestanden haben könnte, wirkt sich
zugunsten des Täters aus, andererseits kommt sie ihm auch nicht erst
dann zugute, wenn selbst der "leiseste" Zweifel, daß seine Tat das Ri-
siko nicht erhöht hat, zum Schweigen gebracht ist. Es geht bei der
Anwendung des In-dubio-pro-reo-Prinzips in unserem Zusammenhang
vielmehr darum, und nur darum, ob das Gericht von der "überwie-
genden Wahrscheinlichkeit", daß das gleiche Ereignis "sowieso" ein-
getreten wäre, "überzeugt" ist oder nicht. Jene Wahrscheinlichkeits-
frage und diese überzeugungsfrage sind säuberlich auseinanderzu-
halten. Nur bei der überzeugungsfrage spielt die Formel von der "an

2D Roxin, ZStW 78 (1966), S. 218 f.


30 Diese Frage wird zutreffend von Jakobs, Strafrecht, Allg. T., 1983, S. 195
gestellt.
81 So auch die ganz herrschende Lehre; vgl. (mit weiteren Nachweisen)
Cramer (Fn.23), Rdn.170 ff. zu § 15. Siehe außerdem noch Jakobs, Strafrecht
(Fn. 30), S. 197.
Kritisches zur Risikoerhöhungstheorie 283

Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit" eine Rolle, d. h. man muß


unterscheiden: einerseits, welche Wahrscheinlichkeit hinsichtlich des
hypothetischen Verlaufs vonnöten ist, und andererseits, mit welchem
Grad von Wahrscheinlichkeit die erstere (materiellrechtIiche) Wahr-
scheinlichkeit festgestellt werden muß (wann der Richter von ihr
überzeugt sein darf).
Hinsichtlich der Anwendung des In-dubio-Grundsatzes kann es
einen sinnvollen Streit hier meines Erachtens nicht geben. Nur über
die materiellrechtIiche Frage, nämlich welcher Grad von Wahrschein-
lichkeit für die hypothetische Ursache (die Nichterhöhung des Risikos)
zu verlangen ist, kann man diskutieren. Aber auch hier gibt es keine
beliebigen Möglichkeiten. Die "Lösungen" Null und Eins scheiden je-
denfalls aus.
GüNTER STRATENWERTH

Zur Individualisierung des Sorgfaltsmaßstahes


heim Fahrlässigkeitsdelikt

Man kann die Entwicklung der strafrechtlichen Unrechtslehre in den


letzten Jahrzehnten im ganzen (auch) als den Versuch begreifen, ihren
Gegenstand, das Substrat der "Strafrechtswidrigkeit"l, genauer zu um-
schreiben, als dies zuvor gelungen war. Hier liegt wohl die eigentliche
Bedeutung der Auseinandersetzung um die finale oder eine soziale
Handlungslehre, um die Fragen der SoziJaladäquanz und des erlaubten
Risikos, um den Deliktsaufbau usw. In aUen diesen Beziehungen ging
es darum, nur solche Verhaltensweisen als strafrechtlich "r,elevant" zu
qualifizieren, die als strafwürdiges Unrecht und damit als Anlaß zu
einer strafrechtlichen Sanktion erscheinen können, und sie auch unter-
einander präziser abzugrenzen. Eben dies dürfte auch der Angel-
punkt der seit langem umstrittenen Frage sein, ob über das Unrecht
des Fahrlässigkeitsdeliktes nach einem generellen oder einem indivi-
dualisierten Sorgfaltsmaßstab zu urteilen sei: W,er sich zu dem Grund-
satz bekennt, daß als möglicher Gegenstand eines strafrechtlichen Un-
werturteils von vornherein nur solche Geschehensabläufe in Betracht
kommen, die ein bestimmter "Täter" entweder tatsächlich beherrscht
hat oder doch hätte beherrschen können, muß sich notwendigerweise
näher darüber aussprechen, auf wessen "Können" es dabei ankommen
soll, auf das eben dieses Täters oder auf das einer wie immer definier-
ten Sozialperson, auf die individuellen oder auf als generell vorhanden
vorausgesetzte Fähigkeiten. Dabei ist Hans-Heinrich Jescheck, dem
diese Zeilen in herzlicher kollegialer Verbundenheit gewidmet sind,
von Anfang an dafür eingetreten, in der Wertungsstufe der Rechts-
widrigkeit des Fahrlässigkeitsdeliktes von einem objektiv-gener,ellen
Sorgfaltsmaßstab auszugehen2 , und hat diesen Standpunkt auch in sei-
nem Lehrbuch mit eindrucksvollen Argumenten verteidigt 3 • Wenn das

1 Zur Unterscheidung von Rechtswidrigkeit und Strafrechtswidrigkeit


jetzt Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983, S. 89 ff.
Z Jescheck, Aufbau und Behandlung der Fahrlässigkeit im modernen
Strafrecht, 1965, S. 7 ff.
3 Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 3. Auflage 1978, S. 457 f.
Gleicher Ansicht sind unter anderen Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt
im Strafrecht, 1974, S. 23 f.; Armin Kaufmann, Festschrift für Welzel, 1974,
286 Günter Stratenwerth

Thema hier erneut aufgegriffen wird, so weniger, um die gegenteilige


Auffassung ein weiteres Mal zu begründen" als vielmehr in dem Be-
streben, die zahlreichen, zum Teil schwerwiegenden Mißverständnisse
und Fehldeutungen aus dem Wege zu räumen, die die bisherige Dis-
kussion belasten. Nur so besteht Aussicht, in der Sache weiterzukom-
men.
1.

Am häufigsten ist der These, daß schon das Unrecht des Fahrlässig-
keitsdeliktes von den individuellen Fähigkeiten des Täters abhänge,
entgegengehalten worden, sie laufe auf "die heute allgemein abgelehnte
radikale Imperativentheorie mit ihrer Ineinssetzung von Unrecht und
Schuld" hinaus s• Nach Schünemann droht sie sogar "unsere gesamte,
auf der Unterscheidung von Unrecht und Schuld aufbauende Verbre-
chenslehre in Grund und Boden zu stampfen"8. Bevor solche dramati-
schen Konsequenzen ins Auge gefaßt werden, dürfte sich empfehlen,
die Differenz der Standpunkte noch einmal zu verdeutlichen.

1. Nach beiden hier zur Diskussion stehenden Auffassungen kommt


es für das Handlungsunrecht des Fahrlässigkeitsdelikt'es auf bestimmte
menschliche Fähigkeiten an. Auch wer solches Unrecht im Verstoß
gegen "objektive" Sorgfaltsanforderungen erblickt, schreibt dem Täter
die Fähigkeit zu, sie zu erfüllen: Unsorgfältig kann nur handeln, wer
sorgfältig handeln könnte. Meinungsverschiedenheiten können daher
von vornherein nur in der einen und einzigen Frage bestehen: welche
Fähigkeiten über das Unrecht entscheiden und wie sie von den weiteren
Fähigkeiten abzugrenzen sind, auf die es erst bei der Schuld ankom-
men soll.
Die Anhänger eines generaUsierten Sorgfaltsmaßstabes äußern sich
vielfach so, als liege die Antwort bereits in der Gegenüberstellung einer
- wie immer definierten - "normalen" und eben der individuellen
Fähigkeit des Täters zu sorgfaltsgemäßem Handeln. Wenige Hinweise
genügen, um zu zeigen, daß dies nicht richtig ist. Ganz gleich, welcher

S. 406 ff.; Schünemann, Festschrift für Schaffstein, 1975, S. 160 ff.; ders., JA
7 (1975), S. 512 ff.; Maiwald, Festschrift für Dreher, 1977, S. 451 ff.; Schroeder,
in: LK, 10. Auflage 1980, Rdn. 144 ff. zu § 16; Hirsch, ZStW 94 (1982), S. 266 ff.
, Siehe dazu unter anderen Jakobs, Studien zum fahrlässigen Erfolgs-
delikt, 1972, S. 64 ff.; ders., Beiheft zur ZStW 1974, S.20 Fn.45; ders., Straf-
recht, Allg. Teil, 1983, S. 261 ff.; Stratenwerth, Allg. Teil I, 3. Auflage 1981,
Rdn. 1094 ff.; Samson, in: SK, 3. Auflage 1983, Rdn. 10 ff. Anh. zu § 16.
S Hirsch (Fn.3), S.269; Schmidhäuser, Festschrift für Schaffstein, 1975,
S.152 Fn.70; Schünemann, JA 1975, 513; Mylonopoulos, über das Verhältnis
von Handlungs- und Erfolgsunwert im Strafrecht, 1981, S. 104 f.
8 JA 1975, 513; dagegen schon Wolter, Objektive und personale Zurech-
nung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straf-
tatsystem, 1981, S. 155.
Zur Individualisierung des Sorgfaltsmaßstabes 287

Stufe des Deliktsaufbaus man die Frage nach den individuellen Fähig-
keiten zurechnen will - es sind in jedem Falle zwei ganz verschiedene
Bereiche, auf die sie sich beziehen müssen. Fahrlässig handelt nur, wer
einerseits in der Lage ist, das unedaubte Risiko, das er schafft, zu er-
kennen und zu beherrschen, also über das "instrumentelle" Können
verfügt, um dieses Risiko auszuschließen, und wer andererseits auch
die "sittliche" Anstrengung aufbringen kann, deren es dazu bedarf, also
entsprechend v,erantwortlich und gewissenhaft zu handeln vermag.
Diese Unterscheidung hat, wie auf der Hand liegt, mit der Gegenüber-
stellung von generellen und individualisierten Sorgf,altsgeboten nicht
das geringste zu tun. Sie ist innerhalb der individuellen Fähigkeiten
zu treffen. Wird das verkannt, so muß die Diskussion schon im Ansatz
scheitern. Denn natürlich steht überhaupt nur die Zuweisung der "in-
strumentellen" Fähigkeiten zum Unrecht zur Debatte.
Das scheint freilich durchaus nicht als selbstverständlich angesehen
zu werden. So hat etwa Schünemann Jakobs "in freier Zusammenfas-
sung" dahin verst,anden, daß dem habituell Leichtsinnigen, der auch
in der gefährlichsten Situation keinerlei Skrupel verspürt, die Fähig-
keit zur Einhaltung der verkehrserforderlichen Sorgfalt abgesprochen
werde, mit der Konsequenz, daß "die Tat des Zurechnungsunfähigen
für nicht pflichtwidrig erklärt" werden müßte7 • Schmidhäuser hat der
individualisierenden Auffassung vorgehalten, daß sie Pflicht und
Pflichterlebnis vermenge und "das Pflichterlebnis schon in die Un-
rechtsbetrachtung" einbeziehe8• Und Maiwald meint, man befinde sich
"mitten in der ... Kontroverse der Literatur über das Unrecht der
F,ahrlässigkeitsdelikte", wenn man im Blick auf einen Angetrunkenen
die Frage aufwirft, ob hier eine Pflicht nur entsprechend dem herab-
gesetzten Hemmungsvermögen best,ehe, ob die "Wirksamkeit des
Rechts" also "an den Gremien des Hemmungsvermögens der ihm Unter-
worfenen"ende8 • Nichts von alledem trifft zu.
Jakobs, auf den sich jene Bemerkungen in erster Linie beziehen, hat
von jeher unzweideutig zwischen der Erkennbarkeit des Erfolges, die
zur Verhaltensnorm gehört, und der Sorgfaltskenntnis als solcher un-
terschieden, die das Verhältnis zum Recht betrifft10 • Der Verstoß gegen
7 Festschrift für Schaffstein, S. 163 mit Fn. 26.
8 Festschrift für Schaffstein, S. 152 f.
D Festschrift für Dreher, S. 449.

10 Studien (Fn.4), S. 66 f. Am deutlichsten ist vielleicht folgende Bemer··


kung: "Wenn die Verhaltensnorm dahin konkretisiert wird, daß der indi-
viduelle Täter bestimmte Erfolge vermeiden soll, die er vermp.iden kann, so
wird die Pflicht zur Vermeidung durch das Erkennen-Können des Täters
- unabhängig von seinem Vermeidemotiv - konstituiert. Diese Erkennbar-
keit (oder die gegebene Erkenntnis) bezieht sich aber nicht auf etwas Nor-
matives, die Pflicht, die Verhaltensnorm, sondern auf den Erfolgseintritt"
(Studien, S. 64 f.; Hervorhebung von mir).
288 Günter Stratenwerth

die Verhaltensnorm, also das Unrecht des Fahrlässigkeitsdeliktes, setzt


für ihn allein die Vermeidbarkeit des Erfolges, nicht die Möglichkeit
entsprechender Normkenntnis voraus ll • Das heißt nichts anderes, als
daß die ~enntnis oder die Erkennbarkeit der Sorgfaltspflicht und die
Möglichkeit, sich durch sie motivieren zu lassen, auch für Jakobs -
selbstverständlich - eine Frage erst der Schuld sind. Wie man ihm
die Auffassung unterstellen kann, der habituell Leichtsinnige, der "von
der Verhaltensnorm apriori nicht motiviert werden" könne, verstoße
nicht gegen die Norm, oder gar: der Schuldunfähige könne nicht pflicht-
widrig handeln12, ist unerfindlich: Die Verhaltensnorm muß "von der
aktuellen Motivation ·auf Vermeidung der bestimmten Folge ... zwin-
gend absehen" und sich "mit der hypothetischen Macht eines Vermeide-
motivs" begnügen'3 • Mit der hypothetischen Macht: weil die hier ent-
scheidende Frage der Unrechtslehre dahin geht, worauf sich ein gesetz-
liches Verbot oder Gebot erstrecken kann, wenn der Täter sich durch
das Gesetz bestimmen läßt. Pflicht und "Pflichterlebnis" werden also,
entgegen Schmidhäuser, nicht vermengt, sondern deutlich getrennt.
Ebensowenig wie die Kenntnis oder Erkennbarkeit der Norm kann na-
türlich das Hemmungsvermögen, identisch mit der Motivationsfähig-
keit, das Unrecht fahrlässigen Verhaltens berühren. Auch dabei geht
es allein um die Schuld.
Da es schwierig zu sein scheint, diese Unterscheidung nachzuvollzie-
hen, sei sie am Beispiel des angetrunkenen Kraftfahrers noch etwas
näher ,erläut,ert. Alkoholkonsum beeinträchtigt bekanntlich die Fahr-
tüchtigkeit und die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen oder
nach dieser Einsicht zu handeln. Nur die Foahrtüchtigkeit besteht in
"instrumentellen" Fähigkeiten: das Fahrzeug zu beherrschen, Gefah-
ren r,echtzeitig zu erkennen, angemessen zu reagieren, und nur auf
diese Fähigkeiten käme es nach der individualisierenden Auffassung
für das Unrecht an, nicht auf die Fähigkeit des Täters, sich zum recht-
lich Gesollten zu bestimmen. Nimmt man, um das übernahmeverschul-
den zunächst auszuschalten, beispielsweise 'an, daß jemand durch einen
Notfall gezwungen wird, in alkoholisiertem Zustand mit dem Auto zum
nächsten Arzt zu fahren, so hätte er nach jener Auffassung, um es mit
Maiwald '4 zu formulieren, in der Tat nur die Sorgfalt ,eines "gewissen-
haften und besonnenen Angetrunkenen" aufzubringen und nicht, per
impossibile, die Sorgfalt eines nüchternen Kraftfahrers. Das heißt, er
müßte so langsam und vorsichtig fahren, daß er andere möglichst trotz

11 Studien, S. 48.
12 Schünemann, Festschrift für Schaffstein, S. 163. Dieser Leichtsinnstäter
ist übrigens auch in sich ein seltsames Artefakt.
13 Jakobs, Studien, S. 48.
14 Festschrift für Dreher, S. 450.
Zur Individualisierung des Sorgfaltsmaßstabes 289

seines Rausches nicht gefährden würde 15 • Täte er das nicht, nähme er


auf sein reduziertes Wahrnehmungs- und Reaktionsvermögen infolge
alkoholbedingter Enthemmung keine oder nicht genügend Rücksicht,
so würde diese Beschränkung seiner persönlichen Fähigkeiten am Un-
recht seines Verhaltens nicht das geringste ändern. Ganz ebenso wäre
im Prinzip zu entscheiden, wenn sich jemand im Zustand eingeschränk-
ter Fahrtüchtigkeit ohne Not ans Steuer setzt: Bei einer seinen Fähig-
keiten angepaßten Fahrweise könnte das Unrecht nur darin gefunden
werden, daß er überhaupt Auto fährt, nicht darin, daß er es an Fahr-
künsten fehlen läßt, die er nicht hat ls • Was auch immer also gegen eine
individualisierende Auffassung sprechen mag - daß sie die Trennung
von Unrecht und Schuld in Frage stelle, kann nur meinen, wer sie ver-
zeichnet.
Der "zweite intrasystematisch nachweisbare Mangel", den Schüne-
mann den Vertretern jener Auffassung vorhält, soll freilich gerade
darin liegen, daß sie an der Unterscheidung von Unrecht und Schuld
festzuhalten gedenken. Der Einwand lautet, wörtlich zitiert, mit Bezug
auf die Schuldunfähigkeit folgendermaßen: "Wenn der noch relativ
erträgliche Einsichts- und Geschicklichkeitsmangel, der die individuelle
Sorgfaltspflicht ausschließt, zum Unrechtsausschluß führt, so kann das
gravierende Persönlichkeitsdefizit, das die strafrechtliche Ansprech-
barkeit des Täters völlig beseitigt, nicht gut die Rechtswidrigkeit wie-
derherstellen, zum al irgendein qualitativer Unterschied zwischen der
Unfähigkeit, den allgemeinen rechtlichen Anforderungen nachzukom-
men, und der Unfähigkeit, eine gefährliche Situation den Rechtsanfor-
derungen entsprechend zu meistern, in diesem Zusammenhang nicht
ersichtlich ist"17. Zwischen dem "instrumentellen" und dem "sittlichen"
Können sollt,e also, im Klartext, kein qualitativer Unterschied beste-
hen? Wäre dies richtig, so spräche es (auch) gegen die Position, die
Schünemann gel'ade verteidigen möchte. Die allererste Voraussetzung
jeder strafrechtlichen Zurechnung liegt nach allgemeiner Auffassung
in der "natürlichen" Handlungsfähigkeit, der Fähigkeit zu zweckratio-
nalem Verhalten. Fehlt sie, wie unter Umständen beim kleinen Kind
oder beim psychisch schwer gestörten Täter, so erscheint die Verletzung
eines Rechtsgutes von vornherein nicht als strafrechtlich relevante
Handlung und damit auch nicht als Unrecht. Wer behaupten wollte,
daß zwischen dieser Konstellation und der des zwar handlungs-, aber

15 Vgl. BGHSt.24, 31, 35 f. Daß der Notfall unter Umständen auch die
Eingehung erhöhter Risiken rechtfertigen könnte, bleibe dabei außer Be-
tracht.
16 Das entspräche der zuvor zitierten Entscheidung des BGH; anders
Maiwald (Fn. 3), S. 457.
17 Festschrift für Schaffstein, S. 164.

19 Festschrift für H.-H. Jescheck


290 Günter Stratenwerth

nicht schuldfähigen Täters kein qualitativer Unterschied bestehe, hätte


keinerlei Grund mehr, Unrecht und Schuld voneinander zu trennen.
Das gilt, mutatis mutandis, auch dann, wenn die Handlungsfähigkeit
nicht als ganze, sondern nur im Hinblick auf einen bestimmten straf-
rechtlich relevanten Erfolg fehlt: Wird dem Ausschluß der Schuldfähig-
keit rechtlich dieselbe (oder sogar größere) Bedeutung beigemessen wie
einem Mangel an instrumentellen Fähigkeiten, der den Täter außer-
stande setzt, "eine gefährliche Situation den Rechtsanforderungen ent-
sprechend zu meistern", dann ist wirklich nicht mehr zu sehen, was
gegen die Imperativentheorie einzuwenden wäre - der zuzuneigen
Schünemann und seine Mitstreiter doch gerade den Vertretern der
Gegenmeinung unterstellen.

2. Daß vom Verfasser dieses Beitrages bei der Begründung der indi-
vidualisierenden Auffassung vergleichend auf die bei den Unterlas-
sungsdelikten vorausgesetzte Handlungsmöglichkeit hingewiesen wor-
den ist, hat überwiegend Widerspruch erfahren l8 • Ein solcher Vergleich
fügt dem bisher Gesagten sicherlich keine neuen Sachgesichtspunkte
hinzu. Er dürfte jedoch sehr wohl geeignet sein, die Unterscheidung
zwischen dem "instrumentellen" und dem "sittlichen" Können noch
etwas zu verdeutlichen. Denn bei der Unterlassung ist es ein längst
vertmuter Gedanke, daß bereits die Tatbestandsmäßigkeit von der
Fähigkeit des Täters abhängen könnte, die gebotene Handlung vorzu-
nehmen, so sehr, daß einzelne Kritiker der individualisierenden Auf-
fassung geglaubt haben, sie könnten lästige Beispiele (wie etwa das
vom besonders befähigten, aber nur mittelmäßig operierenden Chirur-
gen) dadurch erledigen, daß sie sie kurzerhand in den Bereich der Un-
terlassung verweisen19 • Andere haben die Parallele explizit kritisiert,
und dazu ist hier noch ein Wort zu sag,en.
Geltend gemacht wird in erster Linie, daß das (fahrlässige) Begehungs-
delikt, anders als das Unterlassungsdelikt, lediglich die Unterlassungs-
fähigkeit voraussetze, die auch bei demjenigen gegeben sei, "der zur
Vornahme einer sorgfaltsgemäßen Handlung nicht in der Lage wäre":
Als solche sei die Nichtvornahme fahrlässiger Handlungen "auch dem
Einfältigsten und Untüchtigsten möglich"20. Dabei fragt sich natürlich,
wie die Mindesterfordernisse solcher Unterlassungsfähigkeit ihrerseits
aussehen sollen: Genügt es, daß man fähig ist, die eigenen Körperbe-

18 Schünemann, Festschrift für Schaffstein, S. 162 f.; ders., JA 1975, 514;


Hirsch (Fn.3), S.269; Samsan (Fn.4), Rdn. 14.a Anh. zu § 16; anders immer-
hin Maiwald (Fn. 3), S. 454.
18 Schmidhäuser (Fn.5), S.154; Wolter, GA 1977, 271; vorsichtiger Armin
Kaufmann (Fn. 3), S. 405 Fn.35.
20 Schünemann, Festschrift für Schaffstein, S.163; ähnlich ders., JA 1975,
514; ihm folgend Hirsch (Fn. 3), S. 269; Mylonopoulos (Fn. 5), S. 106.
Zur Individualisierung des Sorgfaltsmaßstabes 291

wegungen zu steuern? Oder muß man etwa auch wissen können, was
man tut? Für die Antwort wird zum Teil dann doch eine Analogie zum
Begehungsdelikt gezogen: Die tatbestandsmäßige Unterlassung erfor-
dere nur, daß der Verpflichtete zur Vornahme der gebotenen Handlung
"in corpor,e"21 oder "physisch-real" in der Lage seF2. Das geht am ent-
scheidenden Punkt gerade vorbei.
Bei der Unterlassung setzt eine verbreitete Lehre heute die "indi-
viduelle Handlungsfähigkeit" voraus, die auch von den physischen
Kräften, technischen Kenntnissen, intellektuellen Fähigkeiten usw.
des Täters abhängen so1l23. Gefordert wird also offenkundig mehr als
die bloße Fähigkeit, bestimmte Körperbewegungen vorzunehmen. Daß
der Blinde, der den Rettungsring nicht sehen kann, den er dem Ertrin-
kenden zuwerfen könnte, solche Hilfe nicht unterläßt, ist dementspre-
chend allgemein anerkannt24 . Dann aber fragt sich, ob nicht schon jene
"physisch-reale" Fähigkeit zur Vornahme der gebotenen Handlung
ganz von den individuellen Verhältnissen abhängt. Zumindest hin-
sichtlich der Erkennbarkeit der möglichen Rettungshandlung noch den
objektiven Maßstab eines einsichtigen Beobachters zugrunde zu legen25 ,
leuchtet schwerlich ein: Soll es bei einem bloß Sehbehinderten, im
Unterschied zum Blinden, auf die Fähigkeiten eines "einsichtigen Be-
obachters" ankommen? Sollte von ihm gesagt werden können, daß er
"physisch-real" in der Lage sei, die Rettungshandlung vorzunehmen,
auch wenn er das ·erforderliche Gerät ebenfalls nicht sehen kann? Man
kann, mit anderen Worten, bei den Fähigkeiten, die nötig sind, um eine
bestimmte Rettungshandlung auszuführen, nur ganz oder gar nicht
individualisieren. Zwischen der Fähigkeit, eine bestimmte Handlung
"überhaupt" vorzunehmen (z. B. ärztliche Hilfe zu leisten), und der
Fähigkeit zu erkennen, welche Rettungsmöglichkeiten im konkreten
Fall (z. B. für einen Arzt) bestehen, läßt sich keine sinnvolle Grenze
ziehen. Entweder muß beim instrumentellen Können in jeder Bezie-
hung auf die individuellen Fähigkeiten des einzelnen Verpflichteten
abgestellt werden oder aber es wäre auch hier zu generalisieren - wo-

21 So Schünemann, JA 1975, 514, unter Bezugnahme auf Blei, Strafrecht I,


jetzt 18. Auflage 1983, S.312; differenzierter noch Schünemann, Grund und
Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 20 ff.
22 So Hirsch (Fn.3), S.269, mit unzutreffender Bezugnahme auf Welzel,
Das deutsche Strafrecht, 11. Auflage 1969, S.205. Welzel fordert dort auch,
"daß dem Untätigen der Weg zur Realisierung der gebotenen Handlung er-
kennbar war (Planungsfähigkeit)" .
2S Repräsentativ Jescheck (Fn.3), S.501; ähnlich Schönke!Schröder!Siree,
21. Auflage 1982, Rdn. 142 vor §§ 13 ff.
24 VgI. noch Schmidhäuser, Strafrecht, Allg. Teil, 2. Auflage 1975, S. 678.
680.
25 So die in Fn. 23 Zitierten.

19"
292 Günter Stratenwerth

bei man denn doch wohl zögern würde, stets vom überhaupt Menschen-
möglichen auszugehen 26 •
Die Schwierigkeit, die in der Frage nach der Handlungsfähigkeit
steckt, läßt sich also beim Unterlassungsdelikt sehr rasch deutlich ma-
chen, während sie beim Begehungsdelikt, bei dem s~e prinzipiell in
ganz derselben Weise besteht, allzu leicht durch den Umstand verdeckt
wird, daß der Täter ja "gehandelt" hat. Natürlich kann man sagen,
auch der "Einfältigste und Untüchtigste" könne eine Körperbewegung
untedassen, durch die er beispielsweise eine Lawine auszulösen droht.
Nur sollte der vergleichende Blick auf die Unterlassung lehren, daß
dies noch gar nichts besagt, daß es ebensowenig genügen kann wie die
bloße Fähigkeit zur Vornahme bestimmter Körperbewegungen, wenn
der Handelnde etwa völlig außerstande ,ist, die Gefährlichkeit seines
Verhaltens zu erkennen. Ein rechtliches Verbot, das der Gefahr entge-
genwirken soll, müßte sonst offensichtlich die Körperbewegung als sol-
che untersagen, jedenfalls an schneebedeckten Hängen, und würde da-
mit, wie Jakobs hervorgehoben hat, blinden Gehorsam fordern 27 , ganz
ebenso wie ein Gebot, rettende Körperbewegungen vorzunehmen, deren
Sinn der Verpflichtete nicht erkennen kann. Ob es stichhaltige Gründe
gibt, rechtliche Verhaltensnormen so zu fassen (oder zu interpretieren),
wird sogleich noch zu erörtern sein. Die Parallele zur Unterlassung
z·eigt jedenfalls in aller Schärfe, was es heißt, wenn solche Verhal-
tensnormen an der Handlungsfähigkeit (oder Tatmacht) des Einzelnen
ihre Grenze finden. Und sie zeigt zugleich noch einmal, daß die Fähig-
keit, strafrechtlich relevante Folgen als möglich zu erkennen und zu

28 Maiwald (Fn.3), S. 453 f., der sich für eine Generalisierung ausspricht,
möchte sie auf Handlungen beschränken, bei denen "für eine solche
Generalisierung im Sozialleben Leitbilder existieren". Seine Beispiele des
verkaterten Rettungsschwimmers und des Feuerwehrmannes, der seine Fort-
bildung "verschlafen" hat, sind indessen klassische Fälle einer vom Ver-
pflichteten selbst aktiv oder passiv herbeigeführten Unfähigkeit, rettend
einzugreifen, deren strafrechtliche Beurteilung allein davon abhängt, inwie-
weit der Verpflichtete schon für dieses Vorverhalten verantwortlich gemacht
werden kann.
27 Jakobs, Studien, S. 66 f.; ders., Allg. Teil, S. 262 f.; ebenso Samson
(Fn.4), Rdn. 14 a Anh. zu § 16. - Dies allein ist übrigens der Sinn des
von Jakobs gebildeten Beispiels eines Arztes, der sich bewußt ist, einer lex
artis zuwiderzuhandeln, aber an die Richtigkeit seines Vorgehens glaubt
und nicht mit einem Verletzungserfolg rechnet: Die bloße Kenntnis des
Verstoßes gegen die lex artis genügt zum Vorsatz ebensowenig wie die bloße
Erkennbarkeit eines solchen Verstoßes zur Fahrlässigkeit, sofern nicht auch
der Verletzungserfolg vorhersehbar ist. Es ist ein klares Mißverständnis,
wenn Armin Kaufmann (Fn. 3), S. 407, meint, hier solle wegen der über-
zeugung des Arztes, richtig zu handeln, die individuelle Vorhersehbarkeit
des Erfolges in Frage gestellt werden. Unter welchem Gesichtspunkt diese
individuelle Vorhersehbarkeit auch immer geprüft wird, dem des Unrechts
oder dem der Schuld - die bloße Tatsache, daß jemand trotz gegenteiliger
Erfahrungsberichte glaubt, richtig zu handeln, schließt natürlich die Fahr-
lässigkeit niemals ausl
Zur Individualisierung des Sorgfaltsmaßstabes 293

vermeiden, mit der ander-en Fähigkeit, sich zum rechtlich Gesollten


zu bestimmen, auch dann nicht das geringste zu tun hat, wenn man
auf die individuellen Fähigkeiten des Einzelnen abstellt.

11.

Ernster zu nehmen sind die mannigfachen Einwände, die auf die


eine oder andere We~se geltend machen, daß eine Iindividualisierung
der Sorgfaltsanforderungen die Auflösung "objektiver" oder genereller
Verhaltensnormen bedeute. So hat vor allem wieder Schünemann mit
Nachdruck argumentiert: Individualisiere man schon im Unrechtsbe-
reich, so tauge das Strafrecht nicht mehr als Handlungsanweisung an
den Bürger. Es verliere seine Motivationsfunktion: "Eine generalprä-
ventiv wirksame Norm muß plakativ-generell formuliert sein und für
alle Rechtsunterworfenen den gleichen Verbotsbereich festlegen, wenn
sie Chancen auf allgemeine Anerkennung besitzen soll"28. Auf die
Notwendigkeit der Standardisierung rechtlicher Verhaltensregeln und
die Bedürfnisse der Generalprävention wird auch sonst häufiger hin-
gewiesen 29 • Auch hier dürfte es, vor jeder Stellungnahme in der Sache
selbst, wieder nötig sein, die eigentliche Differenz der Standpunkte
schärf.er herauszuarbeiten.

1. An erster Stelle ist dazu ein weiteres Mal die scheinbar unaus-
rottbare Fehlvorstellung zurückzuweisen, als folge aus der Abwesen-
heit des spezifisch strafrechtlichen Handlungsunwertes, daß die Verlet-
zung oder Gefährdung fremder Rechtsgütererlaubt, rechtmäßig oder
doch nicht rechtswidrig sei. Schon der Hinweis etwa auf eine fahr-
lässige Sachbeschädigung, die keinen Straftatbestand erfüllt, sollte
genügen, um klarzustellen, daß auch strafrechtlich unverbotenes Ver-
halten selbstverständlich rechtswidrig sein kann. Wie wäre sonst die
Rechtswidrigkeit verbotener Eigenmacht zu begründen? Wenn man
also zum strafrechtlich relevanten Unrecht, unabhängig von allen Mei-
nungsverschiedenheiten im einzelnen, überhaupt so etwas wie einen
Handlungsunwert fordert, so v-erbietet sich der Umkehrschluß, man
"dürfe" überall dort, wo ein solcher Handlungsunwert fehlt, in fremde
Rechtsgüter eingreifen, von vornherein30 • Die unerfahrene Kranken-
schwester, die nicht erkeilinen kann, daß dem Arzt bei der Medikation

28 Festschrift für Schaffstein, S. 163, 164 f.; ders., JA 1975, 514.


2t Vgl. nur Wolter (Fn. 19), S. 265 f.; Maiwald (Fn. 3), S. 452 f.; Schroeder
(Fn.3), Rdn.146 zu § 16; Hirsch (Fn.3), S. 270 f.; Jescheck (Fn.3), S.458
("Garantiefunktion"); Triffterer, Festschrift für Bockelmann, 1979, S. 208 ff.;
und wohl auch Schmidhäuser (Fn.5), S.151: Ergebnisse, "die sich mit der
Bedeutung der Rechtsgüter in der Gesellschaft und in der Rechtsordnung
nicht mehr vereinbaren lassen".
30 Näher Stratenwerth (Fn. 4), Rdn. 186.
294 Günter Stratenwerth

ein Irrtum unterlaufen ist, "darf" deshalb keineswegs eine lebensge-


fährliche Injektion vornehmen3 t, und ebensowenig "darf" der sklero-
tische Autofahrer, der dem Verkehr nicht mehr gewachsen ist, nun
einfach Verheerungen anrichten32 • Wäre der gegenteilige Schluß richtig,
so würde er sich auch gegen die Vertreter einer generalisierenden Auf-
fassung richten, und zwar dann, wenn der Handelnde alle "objektiven"
Sorgfaltspflichten erfüllt. Um Schmidhäusers Beispiel entsprechend
abzuwandeln: Sollte der Irrtum des behandelnden Arztes selbst für die
erfahrenste und sorgfältigste Krankenschwester nicht erkennbar sein,
sondern nur für den zufällig anwesenden "befreundeten Arzt oder
Apotheker", so hieße das doch immer noch nicht, daß die Schwester
den Patienten nunmehr umbringen "dürfe"33! Und ebenso wird nie-
mand die Tötung eines Straßenpassanten bloß deshalb für "erlaubt"
erklären wollen, weil der entsprechende Verkehrsunfall trotz größt-
möglicher Sorgfalt nicht zu vermeiden war. Dann aber sollte jenes
"Argument" bei der Diskussion über die Fahrlässigkeit endlich aus
dem Spiel bleiben.

2. Größere Schwierigkeiten könnte die Frage bereiten, wie man sich


die "Generalisierung" strafrechtlich sanktionierter Verbote oder Ge-
bote sinnvollerweise vorzustellen hat. Der Versuch einer Antwort mag
zunächst für eine jener zahllosen nicht näher reglementierten Verhal-
tensweisen unternommen werden, die unter bestimmten Umständen
das Leben eines anderen gefährden können.
Kehren wir zu diesem Zweck noch einmal zu dem Skifahrer zurück,
der sich im Tiefschnee so verhalten, seine Spur so wählen sollte, daß
er keine Lawine auslöst, die andere in Gefahr bringen könnte: Hier
gäbe es je nach Schneeverhältnissen, Tageszeit, Sonneneinstrahlung
usw. möglicherweise eine "ideale" Fahrtroute, bei der sich eine Gefähr-
dung ausschließen ließe. Allerdings bedürfte es hochspezialisierter Er-
fahrung, um sie zu erkennen. Da sich eine solche Erfahrung nicht nor-
mativ voraussetzen läßt, ist von vornherein klar, wie eine generelle
Norm nicht lauten könnte: Sie könnte nicht für jedermann in dem
Verbot bestehen, das kritische Gebiet auf einer anderen als der Ideal-
spur zu durchqueren. In dieser Form gäbe sie vielmehr nur für den-
jenigen einen Sinn, der über die nötige Erfahrung verfügt. Jedem an-

31 Das aber unterstellt Schmidhäuser (Fn.5), S. 152, der individualisieren-


den Auffassung als notwendige Konsequenz.
32 So aber Armin Kaufmann (Fn.3), S.405, wenn das gefährliche Manö-
ver eines kurzsichtigen und sklerotischen Kraftfahrers nicht mehr rechts-
widrig sein soll, und ebenso Schünemann, Festschrift für Schaffstein, S.167
("rechtmäßig").
33 Wie Schmidhäuser (Fn. 5), S. 153, freilich auf anderer systematischer
Grundlage, zutreffend feststellt.
Zur Individualisierung des Sorgfaltsmaßstabes 295

deren könnte nur verboten werden. jenes Gebiet überhaupt zu betre-


ten. Auch wer einen "objektiven" Sorgfaltsmaßstab zugrundelegt,
müßte also differenzieren3 \ mit der Konsequenz, daß ein und dasselbe
äußere Verhalten, je nachdem, wer sich so verhält, unter dem Ge-
sichtspunkt der gebotenen Sorgfalt unterschiedlich zu beurteilen wäre.
Schon daran zeigt sich, daß es bei der "Generalisierung" von Verhal-
tensnormen nicht auf die äußeren Eigenschaften einer Handlung an-
kommen kann, sondern allein auf das Risiko, das von ihr ausgeht 35 •
Das gilt im Prinzip auch bei Tätigkeiten, die einer gen aue ren Regle-
mentierung unterliegen. Soweit nicht formalisierte Sicherheitsvor-
schriften in Fl'ag,e stehen, wie eine Begrenzung der Höchstgeschwindig-
keit im Straßenverkehr38, bilden wIederum Art und Maß des Risikos,
das bei dieser Tätigkeit geschaffen oder auch nicht geschaffen werden
darf,' den eigentlichen Bezugspunkt der Verhaltensnorm. Bleibt man
bei dem Beispiel der zulässigen Geschwindigkeit im Straßenverkehr,
so besagt die allg,emeine Regel, der Fahrzeugführer dürfe "nur so
schnell fahren, daß er sein Fahrzeug ständig beherrscht" (§ 3 Abs. 1
StVO). Verboten ist ihm, Risiken zu schaffen, die bei mangelnder Be-
herrschung des Fahrzeugs auftret,en. Deshalb hat er, wie schon das
Gesetz selber sagt, "seine Geschwindigkeit insbesondere den Straßen-,
Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen sowie seinen persönlichen
Fähigkeiten(!) und den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung anzu-
passen". Auch seinen persönlichen Fähigkeiten, seinem Geschick, seiner
Erfahrung, seinem augenblicklichen Leistungsvermögen usw. Kann er
das nicht, ist er außerstande, ein Fahrzeug sicher zu führen, so darf er
es überhaupt nicht benutzen (§ 315 c StGB). Generell normiert wird
also nur das zulässige Risiko, durch Begrenzung auf jenes Maß, das
sich auch bei Beherrschung des Fahrzeugs nicht ausschließen läßt 37,

34 Nach Burgstaller (in: Lawinenschutz und Recht, 1983, S. 127 ff.; 132)
sind "für die Beurteilung von Lawinenunfällen" dementsprechend "mehrere
Modellfiguren zu bilden, die jeweils verschiedene Sorgfaltsstandards reprä-
sentieren. Je nach dem Verkehrskreis, dem der Tatverdächtige angehört, ist
das Verhalten maßgebend, das ein einsichtiger und gewissenhafter Berg-
und Skiführer, ein einsichtiges und gewissenhaftes Mitglied einer örtlichen
(I) Lawinenkommission, ein einsichtiger und gewissenhafter Betriebsleiter
einer Liftanlage usw. gesetzt hätte".
35 Wem das Beispiel des Skifahrers nicht genügt, mag sich am Messer-
werfer im Va riete orientieren: Dasselbe Verbot, fremdes Leben zu gefähr-
den, führt je nachdem, was man kann, zu unterschiedlichen Handlungs-
anweisungen.
38 Oder das Gebot, "möglichst weit rechts zu fahren" (§ 2 Abs.2 StVO),
das sich schon aus diesem Grunde, entgegen Schünemann, Festschrift für
Schaffstein, S. 166, nicht dazu eignet, die Frage der Sonderbefähigung zu
diskutieren. Dieses Gebot bedeutet natürlich nicht, daß man unter höchster
Anspannung aller Kräfte den gerade noch verantwortbaren Mindestabstand
einzuhalten hat, sondern nur, daß so weit rechts zu fahren ist, wie es die
Verkehrssituation zuläßt.
296 Günter Stratenwerth

während von den persönlichen Fähigkeiten des Einzelnen abhängt,


was er zu tun hat, um es einzuhalten38 • Das ist exakt jene Individuali-
sierung der Sorgfaltsanforderungen, die "die präzise tatstrafrechtliche
Verhaltensnorm . .. in eine generalklauselartige ,Besinnungsnorm'"
verwandeln und ihre Motivationskraft aushöhlen so1l39!
Man sollte also die Kirche im Dorf lassen. An der allgemeinen Gel-
tung eines Verletzungs- oder Gefährdungsverbotes ändert sich nicht
das geringste, wenn bei seiner Konkretisierung auf die individuellen
Fähigkeiten des Sorgfaltspflichtigen abgestellt wird. "Plakative Ver-
haltensrichtlinien" lassen sich, wie das soeben erörterte Beispiel zeigt,
selbstverständlich auch dann formulieren 40 • Die "Objektivierung" der
Sorgfaltsanforderungen dagegen leistet insoweit gar nichts. Abgese-
hen davon, daß sich ohnehin nur einig.e Strafrechtsdogmatiker für sie
interessieren, könnte sie höchstens den Eindruck erwecken, als beharre
die Rechtsordnung auf der Befolgung auch solch-er Verhaltensnormen,
die den Einzelnen überfordern, statt ihm in solchem Falle die entspre-
ch·ende Tätigkeit ganz zu verbieten41 • Auch Bedürfnisse der Generalprä-
vention werden infolgedessen nicht berührt 42 • Bekräftigt werden kann
immer nur die Geltung der allgemeinen Verhaltensnorm, nicht der
konkreten Handlungsanweisung, die sich in einer bestimmten Situa-
tion für einen bestimmten Adressaten aus ihr ergibt. Und bewirken
läßt sich auch im besten Falle nicht mehr, als daß der Einz·elne sich
nach Kräften bemüht, rechtlichen Anforderungen zu genügen. Oder
noch einmal anders gesagt: Da sich der Umkreis der strafbaren Ver-
haltensweisen nach beiden hier zur Diskussion stehenden Auffassungen
im Ergebnis, das heißt bei Berücksichtigung auch der Schulderforder-

37 Das hebt auch Hirsch (Fn.3), S.275, hervor, wenn er vom SorgfaIts-
maßstab sagt, er sei darauf gerichtet, "daß das Risiko, das die Teilnahme
am Straßenverkehr mit sich bringt, bei allen Verkehrsteilnehmern in etwa
gleich hoch ist". Nur hält er dies zu Unrecht für einen Einwand gegen die
Individualisierung des Maßstabes - sie wird von hier aus gerade gefordert.
38 Dasselbe folgt aus § 41 Abs.2 Ziff.7 StVO, wenn es dort, wo eine Min-
destgeschwindigkeit einzuhalten ist, "Fahrzeugführern, die wegen mangeln-
der persönlicher Fähigkeiten oder wegen der Eigenschaften von Fahrzeug
und Ladung nicht so schnell fahren können oder dürfen", verboten wird, die
betreffende Straße zu benutzen.
30 So Schünemann, Festschrift für Schaffstein, S. 164 f.

40 Anders offenbar Schünemann, JA 1975, 514.

41 Es ist ein weiteres merkwürdiges Mißverständnis, wenn der indivi-


dualisierenden Auffassung entgegengehalten wird, sie kehre unter dem Ge-
sichtspunkt des übernahmeverschuldens "doch wieder" zu einem objektiven
Maßstab zurück (Annin Kaufmann [Fn. 3], S.406; Wolter [Fn. 19], S. 265 f.;
vgl. auch Schroeder [Fn. 3], Rdn.146 zu § 16) - als hätte sie je geleugnet,
daß die individuellen Fähigkeiten auf objektive Anforderungen bezogen
werden müssen (Jakobs, Allg. Teil, S. 260 Fn. 10)!
42 Zutreffend Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 130 mit Fn. 44.
Zur Individualisierung des Sorgfaltsmaßstabes 297

nisse, fast vollständig deckt 43 , und da die Generalprävention natürlich


in der Androhung und Verhängung von Strafe liegt, nicht in esoteri-
schen Mitteilungen über die strafrechtliche Bewertung eines Verhal-
tens, sollte eigentlich von vornherein außer Frage stehen, daß hier mit
Argumenten der Prävention nichts auszurichten ist.

III.

Eine weitere Gruppe von Einwänden, die in diesem Zusammenhang


zur Sprache kommen mögen, stützt sich auf das für einige strafrechtli-
che Maßregeln (§§ 63 ff.) und für den Tatbestand des Vollrauschs
(§ 323 a StGB) geltende Erfordernis einer "rechtswidrigen Tat", die
nach § 11 Abs.l Ziff.5 den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirkli-
chen muß. Auch der "sozial untaugliche" Täter, so heißt es, müsse
nach der Wertentscheidung des Gesetzgebers einer Maßregel unterwor-
fen, auch derjenige, der infolge Trunkenheit nicht fähig gewesen sei,
mögliche Folgen seines Verhaltens vorauszusehen, wegen einer Rausch-
tat verurteilt werden können44 • Die Vertreter der individualisierenden
Auffassung haben darauf vor allem erwidert, daß der Begriff der
"rechtswidrigen Tat" differenziert, nach den jeweiligen sachlichen Zu-
sammenhängen, verstanden werden müsse 45 • Bei näherem Zusehen
zeigt sich jedoch, daß die behaupteten Schwierigkeiten entweder für
beide konkurrierenden Auffassungen oder für keine von ihnen be-
stehen.

1. Beginnen wir mit den strafrechtlichen Maßregeln und hier mit


dem nach Schünemanns Worten "offenbar unmöglichen" Ergebnis, daß
"Maßr,egeln wie etwa das Berufsv·erbot gegen den besonders unfähigen
und daher besonders gefährlichen Täter (etwa einen völlig verkalkten
Chirurgen) nicht getroffen werden" könnten, wenn die individuelle
Unfähigkeit wirklich schon den Tatbestand ausschlösse 48 • Die Frage,
ob eine solche Lösung wirklich unannehmbar ist, kann dabei noch einen
Augenblick beiseite bleiben - die eigentliche Pointe des Einwands
liegt darin, daß eine generalisierende Auffassung zu gen au demselben
Ergebnis kommen muß.

43 Eine Differenz dürfte überhaupt nur bei Sonderfähigkeiten bestehen,


während die individuelle Unfähigkeit zu sorgfaltsgemäßem Handeln allemal
zur Frage des übernahmeverschuldens führt.
44 Vgl. im einzelnen Schünemann, JA 1975, 515; ders., Festschrift für
Schaffstein, S.169; Wolter (Fn.19), S.265; Hirsch (Fn.3), S.272; Jescheck
(Fn. 3), S. 458.
45 Samson (Fn. 4), Rdn. 14 Anh. zu § 16; Jakobs, Allg. Teil, S. 262.
46 JA 1975, 515; mitsamt dem Beispiel übernommen von Hirsch (Fn.3),
S.272.
298 Günter Stratenwerth

Sollte der Chirurg nicht mehr fähig sein, kunstgerecht zu operieren,


und deshalb etwa den Tod eines Patienten herbeiführen, so könnte
er wegen fahrlässiger Tötung nur verurteilt werden, wenn er immer-
hin noch imstande war, diesen Mangel an "instrumentellem" Können
und die mit ihm verbundenen Risiken zu erkennen. Das gilt ganz un-
abhängig davon, ob man die Einschränkung auf das individuell Mög-
liche schon beim Unrecht oder erst bei der Schuld vornehmen will. In
solchem Falle nun setzt ein Berufsverbot nach dem unzweideutigen
Gesetzeswortlaut voraus, daß der Täter "nur deshalb" nicht v,erurteilt
worden ist, weil er möglicherweise oder sicher schuldunfähig war. An
dieser Voraussetzung aber fehlt es in unserem Falle: Wer die indivi-
duelle Vermeidbarkeit des Erfolges zum Schuldtatbestand rechnet,
muß sie als selbständiges Schulderfordernis behandeln47 , so daß die
Verurteilung, wenn sie fehlt, eben nicht nur an der Schuldfähigkeit
scheitert. Ein Mangel an instrumentellen Fähigkeiten muß ja auch
keineswegs in jedem Falle mit Schuldunfähigkeiteinhergehen: Es gibt
viele alte Leute, die nicht mehr Auto fahren können (und sollten),
aber doch nicht etwa schuldunfähig sind. Kurz: Unserem Chirurgen
kann die Berufsausübung allein dann verboten werden, wenn er ent-
weder schuldhaft handelt oder nur schuldunfähig ist; ein Mangel an
ärztlichem Können ,allein genügt in keinem Falle.
Man braucht wohl kaum hinzuzufügen, daß es bei den Maßregeln
der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64) und der Ent-
ziehung der Fahrerlaubnis (§ 69), ang,esichts übereinstimmender gesetz-
licher Regeln, prinzipiell nicht anders liegen kann. Aber auch für die
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63) müssen,
schon wegen ihrer engen sachlichen Verwandtschaft mit der Unterbrin-
gung in einer Entziehungsanstalt, dieselben Grundsätze gelten. Das
ist, wie vielleicht doch noch gesagt werden sollte, auch in der Sache
richtig48 • Strafrechtliche Maßregeln der hier in Frage stehenden Art
sind historisch und systematisch nicht auf einen Mangel an Handlungs-
kompetenz, sondern an Verantwortlichkeit zugeschnitten - sei es, daß
der Täter verantwortungslos handelt, oder sei es eben auch, daß er
für sein Verhalten nicht verantwortlich gemacht werden kann. Wer in
diesem Zusammenhang pauschal von "sozial untauglichen" Tätern
spricht, setzt sich über eine wesentliche Wertungsdifferenz hinweg.
So bliebe denn als einzige Maßregel, bei der die individualisierende
Auffassung zu einem ,anderen Ergebnis führen könnte als die generali-
sierende, gerade noch die Anordnung des V,erfalls (§ 73). Ob eine solche
Anordnung auch dann angemessen oder vertretbar wäre, wenn der

47 Vgl. nur Jescheck (Fn. 3), S. 480 f.


48 So schon Wolter (Fn. 6), S. 156 f.
Zur Individualisierung des Sorgfaltsmaßstabes 299

Täter nach seinen individuellen Fähigkeiten zum Beispiel nicht er-


kennen konnte, daß em von ihm in Verkehr gebrachter Stoff gesund-
heitsschädlich war 49 , ist sicherlich des Nachdenkens wert. Doch bildet
diese Möglichkeit allein wohl eine etwas magere Ausbeute, wenn der
Nachweis geführt werden soll, daß die individualisierende Auffassung
bei den Maßregeln "versage", zumal wenn man sich erinnert, daß der
E 1962 den Verfall noch auf schuldhaftes VerhaUen beschränken
wollteso.

2. Was schließlich den Tatbestand des Vollrausches anbetrifft, so ist


allerdings nicht zu leugnen, daß die individualisierende Auffassung
sich für die Rauschtat nicht mit einem Verstoß gegen "objektive" Sorg-
faltspflichten begnügen kann, wenn der Täter infolge des Rausches
auß.erstande war, die von ihm geschaffene Gefahr zu erkennen oder zu
beherrschen. Es gibt ohne Zweifel einen rauschbedingten Ausschluß
instrumentellen Könnens, wie übrigens auch der natürlichen Hand-
lungsfähigkeit als ganzer. Nur läge es mehr als nahe, diese Konstella-
tion grundsätzlich ebenso zu behandeln wie den rauschbedingten Aus-
schluß des Vorsatzes, das heißt den rauschbedingten Irrtum. Wer den
Tatbestand auf jede durch den Rausch begründete Gefährdung erstrek-
ken will, müßte dies auch bei einem solchen Irrtum befürworten, unge-
achtet der Legaldefinition der "rechtswidrigen Tat" und der in § 323 a
Abs. 2 statuierten Bindung des Strafrahmens an die Strafdrohung der
im Rausch begangenen Tat 51 • Wer die eigentliche ratio legis dagegen
in dem Versuch sieht, zu verhindern, daß der rauschbedingte Ausschluß
der Schuldunfähigkeit strafbefreiende Wirkung haben könnte, sollte
sich mit Hilfe des § 323 a nur über das Fehlen der Schuldfähigkeit,
nicht auch anderer Voraussetzungen der Strafbarkeit hinwegsetzen. Es
wäre dann hier dieselbe Unterscheidung von Handlungskompetenz und
Schuldfähigkeit geboten, wie sie soeben für die Maßregeln erörtert
worden istS2 • In jedem Falle aber läge der Schwerpunkt der Frage bei
der angemessenen Interpretation des § 323 a, nicht beim Aufbau des
Fahrlässigkeitsdeliktes.
IV.
Zum Schluß noch einige Bemerkungen zur Frage der Sonderfähig-
keiten. Hier werden bekanntlich die unterschiedlichsten Positionen ver-
treten53 • Einig ist man allenfalls darüber, daß das Problem weiterer

49 Vgl. das Beispiel von SchönkelSchröderlEser (Fn.24), Rdn.4 zu § 73.


50 Amtl. Begründung, S. 241.
51 Vgl. SchönkelSchröderlCramer (Fn. 24), Rdn. 18 zu § 323 a.
52 So schon Jakobs, Studien, S.69 Fn.99; sachlich ebenso auch Wolter
(Fn. 6), 8. 156 f.
53 Vgl. nur die Nachweise bei Jakobs, Allg. Teil, 8.173 Fn. 89.
300 Günter Stratenwerth

Klärung bedürfte, zumal es praktisch keineswegs ohne Bedeutung ist54 •


Eine genauere Untersuchung würde den Rahmen dieses Beitrages frei-
lich überschreiten. Doch scheint wenigstens insoweit ein Wort zur Sache
selbst und nicht nur die Abwehr VOn Mißverständnissen geboten.
Dabei geht es vor allem um den Einwand, die Individualisierung der
Sorgfalts anforderungen laufe darauf hinaus, den besonders Befähigten
zu ständigen Höchstleistungen zu verpflichten, was den Erwerb ent-
sprechender Fähigkeiten geradezu verhindern könnte 55 • Demgegenüber
ist zunächst dal"lan zu erinnern, daß die vom Sorgfaltspflichtigen zu er-
bdngende "Leistung" nach jeder der in Rede stehenden Auffassungen
VOn Art und Maß des Risikos abhängt, das er für fremde Rechtsgüter
schaffen (oder gerade nicht schaffen) darf. Die Reglementierung einer
Tätigkeit, wie z. B. der Teilnahme am Straßenverkehr, kann infolge-
dessen auch den Sinn haben, bestimmte Risiken zuzulassen 56 • Wer, bei
normalen Fahrkünsten, die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit ein-
hält, darf damit r,echnen, den bei solcher Geschwindigkeit üblicher-
weise auftretenden Verkehrsproblemen gewachsen zu sein, und muß
sich gerade nicht durch höchste Aufmerksamkeit und angespannteste
Reaktionsbereitschaft auf jeden nur erdenklichen Zwischenfall ein-
stellen; er wird insofern entlastet57• "Höchstleistungen" werden also
schon VOn dem normal befähigten Autofahrer in der Regel nicht ver-
langt, und natürlich erst recht nicht vom besonders befähigten, der
das verbleibende Risiko mit geringerer Anstrengung zu meistern v,er-
mag, während umgekehrt der Anfänger unter Umständen a11 seine
Kräfte zusammennehmen muß, um auch nur die üblichen Schwierig-
keiten zu bewältigen. Daß die Individualisierung der Sorgfaltsanfor-
derungen darauf hinauslaufe, freiwillige Vorkehrungen zur Erfolgsver-
hütung oder den Erwerb besonderer Fähigkeiten mit deren Inpflicht-
nahme zu "bestrafen", trifft deshalb in dieser Form nicht ZU 58 •

54 So hat sich das schweizerische Bundesgericht verschiedentlich veranlaßt


gesehen, eine Verletzung der Sorgfaltspflicht auch auf das besondere Fach-
wissen und die langjährige Erfahrung des Täters (BGE 97 IV 172 f.) oder auf
seine "außergewöhnliche, in vielen Kursen und Lagern erworbene Berg-
und Skierfahrung" (BGE 98 IV 177) usw. zu stützen (vgl. noch BGE 100 IV
213).
55 Schroeder (Fn.3), Rdn. 147 zu § 16; siehe auch Wolter (Fn. 19), S. 270 f.

56 Vgl. Stratenwerth (Fn. 4), Rdn. 1102.


57 Das ist mit Recht verschiedentlich hervorgehoben worden; so von
Jescheck (Fn.3), S.458; Schünemann, JA 1975, 514; Wolter (Fn.19), S.270.
58 Damit erledigen sich die von Schroeder (Fn.3), Rdn. 147 zu § 16, vor-
gebrachten Beispiele der Anschaffung eines Heckscheibenwischers, kom-
plizierter Voruntersuchungen vor einer Operation usw.: Soweit entspre-
chende Maßnahmen rechtlich oder nach der lex artis nicht geboten sind, löst
die (einmalige?) Anwendung natürlich auch keine Verpflichtung aus, sie stets
vorzukehren.
Zur Individualisierung des Sorgfaltsmaßstabes 301

Sachliche Differenzen ergeben sich allerdings dann, wenn die kon-


krete Gefahr des Eintritts eines bestimmt,en tatbestandsmäßigen Er-
folges zur Diskussion steht. Keine Reglementierung oder Standardisie-
rung einer Tätigkeit kann den Sorgfaltspflichtigen davon entbinden,
alle seine Fähigkeiten zur Vermeidung eines solchen Erfolgeseinzuset-
zen, wenn er konkr,et einzutreten droht. Insofern gehen die auf Be-
dürfnisse der Standardisierung gestützten Argumente ohnehin an der
Sache vorbei su • Der Vertrauensgrundsatz findet bekanntlich dort seine
Grenze, wo das verkehrswidrige Verhalten anderer konkr,et zu ,erwar-
ten ist, und der Hinweis auf das dem "normal" Befähigten Mögliche
kann dort nicht maßgebend sein, wo der Täter über spezielle Fähig-
keiten verfügt. Wer einem unverhofft auft.auchenden Fußgänger auf
die Gefahr hin ausweichen könnte, ins Schleudern zu geraten, muß dies
tun, wenn er, als erfahrener Rallyefahrer, ein schleuderndes Fahrzeug
zu beherrschen vermag, und kann nicht geltend machen, daß ein Durch-
schniUsfahrer dabei vermutlich verunglückt wäre. Wer als zufälliger
Zeuge eines Verkehrsunfalles einen Verletzten unsachgemäß lagert und
dadurch seinen Tod herbeiführt, kann sich nicht damit entlasten, daß
er das für einen Laien Naheliegende getan hat, wenn er als Arzt wis-
sen konnte, daß es falsch war, usw. Das ist vom Ergebnis her die einzig
vertretbare Lösung. Es wäre unerträglich, wenn man demjenigen, der
aus Gleichgültigkeit gegenüber fremden Rechtsgütern, gemessen an
seinen Fäh~gkeiten, unsorgfältig handelt, die Begrenzung zugute hal-
ten würde, der solche Fähigkeiten bei anderen, aber eben nicht bei
ihm, normalerweise unterliegen60 •
Das dürfte zugleich bedeuten, daß die im Blick auf die Frage der
Sonderbefähigung vielfach vorgeschlagenen Unt,erscheidungen zwi-
schen standardisierten und nicht standardisierten Tätigkeiten61 oder zwi-
schen dem privaten und dem beruflichen Lebensbereich62 oder nach
"Zuständigkeiten"63 nicht den entscheidenden Punkt treffen. Die eigent-
liche Differenz liegt vielmehr in Art und Maß der bei einem bestimm-
ten Verhalten in der Regel anzuwendenden Sorgfalt und den Sorg-
falts anforderungen in einer konkreten Gefahrensituation. Generelle
Sorgfaltsanforderungen kann es zwar nur bei standardisierten Tätig-

59 Zutreffend hervorgehoben von Frisch (Fn. 42), S. 130 Fn.44.


60 Hirsch (Fn.3), S.274, versucht die Frage der Sonderfähigkeiten deshalb
dadurch zu entschärfen, daß er (zumindest) den Informationsvorsprung des
Sorgfaltspflichtigen in die "Situation" des Täters, in seine Lage, hinein-
nimmt. Aber dann fragt sich natürlich, weshalb nicht alle individuellen
Fähigkeiten zu dieser "Lage" gehören sollen und auch die Begrenzung sol-
cher Fähigkeiten nicht.
61 Frisch (Fn. 42), S. 132 ff.
82 Wolter (Fn. 19), S. 270 f.

83 Jakobs, Allg. Teil, S. 173 f.


302 Günter Stratenwerth

keiten geben, und das mag einer der Gründe für jene Lehren ,gein.
Die Begrenzung der gebotenen Sorgfalt auf ein normales oder durch-
schnittliches Maß muß jedoch auch bei an sich standardisiertem Ver-
halten entfallen, wenn es um die Abwendung konkreter Gefahren geht.
Um es mit einem Beispiel zu sagen64 : Auf deutschen Autobahnen darf
man in der Regel sicherlich darauf vertrauen, nicht rechts überholt
.m werden, und das gilt dann auch für den Berufsrennfahrer, der bei
einem Rennen mit der gegenteiligen Möglichkeit zu rechnen hat. Wer
aber zufällig bemerkt, daß jemand sich anschickt, ihn rechts zu über-
holen, darf natürlich nicht, etwa aus "pädagogischen" Gründen, so tun,
als hätte er das nicht gesehen, und muß alle fahrerischen Fähigkeiten,
über die er verfügt, aufbieten, um einen Unf,all zu verhüten, auch
wenn er selbst wenig zu fürchten häUe. Das Beispiel zeigt zugleich,
daß generelle Regeln zumeist schon für d~e Frage gelten, auf welche
Gefahren man überhaupt zu achten hat. Es ist also, genau genommen,
nicht die Gefahr als solche, die die Begrenzung der Sorgfaltspflichten
außer Kraft setzt, sondern es sind die konkreten Anhaltspunkte für
eine solche Gefahr aus der Perspektive des Sorgfaltspflichtigen, die
diese Wirkung entfalten (wie vom Vertrauensgrundsatz her seit langem
bekannt). Bei nicht standardisiertem Verhalten dagegen können immer
nur die individuellen Fähigkeiten maßgebend sein. Das sind die The-
sen, d~e zu widerlegen wären.

84 Das Beispiel stammt von WalteT (Fn. 19), S. 271.


HANS-JOACHIM BEHRENDT

Das Prinzip der Vermeidbarkeit im Strafrecht

Die einfache Selbstwahrnehmung lehrt, daß feindselige Regungen,


böswillige Verhaltenstendenzen und zerstörerische Impulse in aller
Regel von einer inneren Instanz aufgefangen und unterdrückt werden.
Bei freundlichen und wohlwollenden Regungen sowie bei konstruktiven
Antrieben ist eine solche Hemminstanz hingegen nicht in gleicher Weise
zu beobachten. Dieser Unterschied zwischen den Reaktionsformen bei
feindlich-zerstörerischen Triebimpulsen und solchen eines freundlich-
konstruktiven Charakters verbietet es, schädliches oder gefährliches
Verhalten nach dem gleichen Muster wie aufbauendes oder wohlwollen-
des Verhalten zu beurteilen.
Bei gefährlichem oder zerstörerischem Verhalten, mit welchem es das
Strafrecht allein zu tun hat - oder jedenfalls rechtverstanden zu tun
haben sollte -, muß stets gefragt werden, warum die Hemm- oder
Gegensteuerungsinstanz des Delinquenten nicht oder nicht genügend
angesprochen hat, während eine solche Frage bei ungefährlichem oder
unschädlichem Handeln offenbar gegenstandslos ist. Für jede strafrecht-
liche Betrachtung delinquenten Verhaltens muß also neben der Frage
nach einer bestehenden Gefahr das Problem der Gegensteuerungs- oder
Tatvermeidefähigkeit und ihrer etwaigen Aktivierung im Mittelpunkt
stehen. Die Elemente der Gefahr, der Gefahrvermeidemöglichkeit oder
-fähigkeit und der etwaigen Gefahrvermeidung bilden danach die
Grundbausteine einer jeden strafrechtlichen Dogmatik1 •
Untersuchen wir danach die Strukturen des heute vorherrschenden
Begriffs vom Verbrechen, welcher auf dem Prototyp des sogenannten
aktiven oder positiven Tuns aufbaut, so erkennen wir, daß die dogma-
tischen Einzelelemente hier - jedenfalls soweit es um ihre explizite Be-

1 Daß es im Strafrecht grundsätzlich um das Problem der Nichtvermei-


dung einer vermeidbaren Gefahr geht, wird jedenfalls im Ansatz zunehmend
erkannt. Freilich fehlt es zumeist an einer dogmatischen Durcharbeitung der
verschiedenen Ansätze. Vgl. etwa Herzberg, Die Unterlassung im Strafrecht
und das Garantenprinzip, 1972, oder neuerdings Jakobs, Strafrecht, Allge-
meiner Teil, 1983. - Der Verfasser des vorliegenden Beitrags hat versucht,
den Gedanken der Vermeidbarkeit in seinen dogmatischen Konsequenzen zu
verfolgen, vgl. Behrendt, Die Unterlassung im Strafrecht, 1979, und ders.,
Affekt und Vorverschulden, 1983. Die dort erzielten Ergebnisse bilden die
Grundlage des obigen Beitrages.
304 Hans-Joachim Behrendt

nennung und die bewußte Organisation ihres Zusammenhangs geht -


nicht um jene drei Zentral begriffe der Gefahr, der Gefahrvermeide-
fähigkeit und der Nichtvermeidung herum gruppiert werden. Dies ge-
schieht auch dort nicht, wo wenigstens im Prinzip erkannt wird, daß
die strafrechtliche Zurechnung es vor allem mit der Frage nach der Ver-
meidbarkeit einer gegebenen und nicht vermiedenen Gefährdung zu
tun hat 2 •
Um so größer aber ist unsere Überraschung, wenn wir erkennen, daß
es gar keine besondere Mühe macht, die von der vorherrschenden
Dogmatik herausgearbeiteten Einzelelemente den hier für relevant ge-
haltenen Zentralbegriffen zuzuordnen. Unbewußt, so muß man wohl
annehmen, lassen sich strafrechtliche Praxis und Theorie von der Ein-
sicht leiten, daß es stets auf die drei Zentralpunkte der Gefahr, der
Gefahrvermeidefähigkeit und ihrer Aktivierung ankommt. Wissen-
schaft und Praxis wissen also offenbar von der entscheidenden Relevanz
einer nicht oder nicht vollständig aktivierten Fähigkeit zur Gefahren-
oder Tatvermeidung für ihr Theoriesystem, aber sie wissen anscheinend
nicht, daß sie es wissen.
Was den Begriff der Gefahr anlangt, bei welchem jede strafrechtliche
Bemühung ihrem Schutzzweck entsprechend ihren Ausgang nimmt, so
ist dieses Element im von der herkömmlichen Dogmatik konstruierten
Unrechtstatbestand unschwer zu erkennen. Wird das Moment der Ge-
fährdung gelegentlich (etwa in den Vorschriften der §§ 315 ff. StGB)
unvermittelt angesprochen, so findet sich häufiger eine indirekte Kon-
kretisierung der Gefahr durch Festlegung eines bestimmten Verlet-
zungserfolgs oder durch Nennung bestimmter Ausführungsmodalitäten.
Die Intensität einer Gefahr wird zudem nicht nur in objektiver Hinsicht,
sondern auch anhand subjektiver Kriterien wie bestimmter Absichten
oder Tendenzen festgelegt. Im Schuldtatbestand dienen die sogenannten
schuldspezifischen Gesinnungsmerkmale3 der Erfassung des Gefähr-
dungselements von seiner subjektiven Seite her.
Ist danach das Gefahrenmoment im traditionellen Verbrechensbegriff
unschwer auszumachen, so wirft auch die Identifizierung des 2. Haupt-
moments der Vermeidbarkeitsauffassung, der Fähigkeit zur Gefahren-
oder Tatvermeidung, keine unüberwindbaren Schwierigkeiten auf. Be-
schränken wir die Betrachtung zunächst auf den Bereich des Unrechts-
tatbestandes, so ist auch hier eine Aufspaltung der Perspektive zu
erkennen: Einmal wird nach den objektiven Möglichkeiten zur Vermei-
2 Vgl. e. g. Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1983, und ders., Die juri-
stische Perspektive zum Aussagewert der Handlungsanalyse einer Tat, in:
Gerchow (Hrsg.), Zur Handlungsanalyse einer Tat, 1983, S. 21 fI.
3 Zu diesen Merkmalen siehe Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg.
Teil, 1978, S. 380 fI.; Wessels, Strafrecht, Allg. Teil, 1983, S. 99 f.
Das Prinzip der Vermeidbarkeit im Strafrecht 305

dung der Tat, das andere Mal nach der subjektiven Befähigung zur
Tatvermeidung gefragt.
Die objektive Seite der Möglichkeit der Tatvermeidung wird - rich-
tig verstanden - durch das Kriterium der Kausalität bezeichnet. Es
geht hier nicht um die Frage, ob der Täter die Tat (und nicht etwa nur
den Erfolg) kausal herbeigeführt hat, sondern richtigerweise darum, ob
der Täter die Tat hätte vermeiden können, wie es ja auch der pragma-
tisch formulierte Kausalitätstest der Äquivalenztheorie nahelegt.
Subjektiv wird die Befähigung des Täters zur Gefahren- und Tat-
vermeidung stets anhand eines generellen Maßstabs aufgrund intellek-
tualistischer und voluntaristischer Kriterien ex negativo festgestellte.
So schließen etwa Bewußtlosigkeit und Tatbestandsirrtum die Befähi-
gung des Täters zur Gefahrvermeidung ebenso aus wie vis absoluta
und Notwehr. Es wird also gefragt, ob der Täter von seinem Wissen und
Wollen her in der Lage ist, der Tatbegehung entgegenzusteuern, sie zu
vermeiden. Bei der Erfassung der subjektiven Seite der Fähigkeit des
Täters zur Tatvermeidung, seiner Gefahr- oder Tatvermeideinstanz,
durch die herrschende Strafrechtsdogmatik fällt auf, daß hier durch-
gängig zwischen dem Fehlen der grundsätzlichen Befähigung des Täters
zur Tatvermeidung und der lediglich unterlassenen Aktivierung einer
(prinzipiell intakten) Tatvermeideinstanz unterschieden wird. Termino-
logisch können wir also zwischen den Strukturdefekten der Selbststeue-
rungsinstanz und den Funktionsdefiziten derselben differenzieren5 •
Bei intellektuellen oder voluntativen Strukturdefekten, also bei Be-
wußtlosigkeit oder bei reinem Reflexverhalten sowie bei vis absoluta,
ist die Fähigkeit des Täters zur Tatvermeidung durch Gegensteuerung
vollends zerstört. Demgegenüber ist die Tatvermeideinstanz des Täters
bei intellektuellen oder voluntativen Funktionsdefiziten in ihrer Struk-
tur intakt, ihre Funktion ist jedoch aus bestimmten Gründen gestört.
Bei intellektuellen Funktionsdefiziten, den Tatbestandsirrtümern,
spricht die Tatvermeideinstanz nicht an, weil es dem Täter an der
Kenntnis der Tatbestandsmerkmale fehlt, also an der Kenntnis der Ge-
fahrentwicklung, der Möglichkeit der Gefahrunterbindung, des die Ge-
fahrabwendungspflicht begründenden Sachverhalts oder des Ausblei-
bens der Gefahrenabwehr. Bei den voluntativen Funktionsdefiziten

4 Näheres zu diesem für das zeitgenössische Strafrecht nicht nur in


Deutschland typischen Muster der Erfassung der Tatvermeideinstanz bei
Behrendt, Die Unterlassung im Strafrecht, 1979, S. 107 ff., S. 114 ff., S. 184 ff.
und S. 200 ff.
5 Die Differenzierung zwischen Strukturdefekten und Funktionsdefiziten
der Tatvermeideinstanz hat der Verfasser an anderer Stelle detailliert ab-
gehandelt, vgl. Behrendt, Affekt und Vorverschulden, 1983, S. 59 ff. und
S. 107 ff.

20 Festschrift für H.-H. Jescheck


306 Hans-Joachim Behrendt

der Tatvermeideinstanz, den Rechtfertigungsgründen, hat es der Täter


wegen des Vorliegens bestimmter Situationen unterlassen, die Tat
durch Bildung und Betätigung eines Willens zur Gegensteuerung zu
vermeiden. Bei Notwehr- und Notstandssituationen etwa sind es ge-
wisse Zwangslagen, welche die Bildung und Betätigung eines Tatver-
meidewillens in der Regel psychologisch ausschließen. Vom Recht wird
die Tatvermeidung hier jedenfalls nicht erwartet.
Die strafrechtliche Unterscheidung von Struktur und Funktion
menschlicher Selbststeuerung sowie ihrer jeweiligen Störungen ist
keineswegs willkürlich. Sie steht in übereinstimmung mit den der ein-
fachen Selbstwahrnehmung zugänglichen empirischen Befundene, mit
dem Sprachgebrauch und mit der Systematik des Gesetzes 7 • Die qua Be-
wußtlosigkeit ausgeschlossene Gegen-Handlungsfähigkeit etwa ist kein
Tatbestandsirrtum. Ganz im Gegenteil läßt sich feststellen, daß die
Handlungsfähigkeit, verstanden als die Fähigkeit zur Gefahren- und
Tatvermeidung, jedenfalls mit ihrer kognitiven Kapazität für die Be-
jahung eines Tatbestandsirrtums vorausgesetzt wird: Nur wenn die
Fähigkeit zum vollständigen Kenntniserwerb gegeben ist, kann von
einem Irrtum gesprochen werden.
In analoger Weise wird im voluntativen Bereich zwischen den Defek-
ten der grundlegenden Gegensteuerungsfähigkeit und den Rechtferti-
gungsgründen als Defiziten bei der Bildung und Betätigung des aktuel-
len Tatvermeidewillens unterschieden. Auch hier wird schon für die
Diskussion eines Rechtfertigungsgrundes vorausgesetzt, daß die Gegen-
Handlungsfähigkeit strukturell intakt ist: Nur wenn die Bildung und
Betätigung eines Tatvermeidewillens nicht schon durch vis absoluta
oder einen Reflex strukturell ausgeschlossen ist, kann die Frage eines
Notstands etwa überhaupt erörtert werden.
Tritt damit der Unterschied zwischen Struktur und Funktion der
Tatvermeideinstanz einschließlich der jeweiligen speziellen Störungen
deutlich hervor, so bedarf doch sogleich der enge Zusammenhang beider
Elemente einer besonderen Hervorhebung. Für das richtige Verständnis
des Zusammenspiels beider Elemente ist es vor allem wichtig, im Auge
zu behalten, daß es sich bei der Tatvermeideinstanz in natura um eine
im wesentlichen unbewußt arbeitendeS seelische Kapazität von einheit-

8 Sehr deutlich äußert sich zu diesem Punkt Gschwind, Die Bedeutung des
Unbewußten für die Zurechnungsfähigkeit, in: Eisen (Hrsg.), Handwörter-
buch der Rechtsmedizin, Bd. 11, 1974, S. 78 !f.
7 Die Systematik des Gesetzes tritt am deutlichsten für den Schuldbereich
hervor. Hier werden als strukturelle Defekte fehlende Einsichts- und Steue-
rungsfähigkeit genannt (§§ 20, 21 StGB), als funktionelle Defizite werden der
Verbotsirrtum (§ 17 StGB) und die Entschuldigungsgrunde (§§ 33, 35) aufge-
führt.
Das Prinzip der Vermeidbarkeit im Strafrecht 307

lichem Charaktere handelt. Es liegt lediglich an der der Alltagsauffas-


sung verpflichteten bewußtseinspsychologischen Sichtweise des Straf-
rechts, daß diese auf einem unbewußten Fundament ruhende einheit-
liche Kapazität zur Gefahrvermeidung nach dem Schema von Wissen
und Wollen in eine intellektuelle und eine voluntative Seite aufgespal-
ten wird, bei welchen jeweils zwischen Struktur- und Funktionsdefek-
ten unterschieden wird.
Der angesichts der realen psychologischen Sachlage nicht über-
raschende enge strafrechtliche Zusammenhang zwischen Struktur und
Funktion der Tatvermeideinstanz wie auch zwischen ihren intellek-
tuellen und voluntativen Elementen findet seinen deutlichsten Ausdruck
in der Forderung des Strafrechts, daß (im Bereich der Fahrlässigkeit)
vermeidbare Tatbestandsirrtümer vermieden werden müssen und daß
auch die Herbeiführung vermeidbarer an sich rechtfertigender Situa-
tionen unterbunden werden muß. Es ist klar, daß die hier verlangte
Vermeidung vermeidbarer Irrtümer und vermeidbarer Rechtfertigungs-
lagen nur von einer strukturell intakten Tatvermeideinstanz gelei-
stet werden kann. Nur sie ist in der Lage, auf ihrem Weg zur end-
gültigen Tatvermeidung gegebenenfalls als Zwischenetappen die Aufga-
ben der Behebung vermeidbarer Irrtümer oder des Ausschlusses
vermeidbarer für sich genommen rechtfertigender Zwangslagen zu er-
füllen. Die sprachliche übereinstimmung in den Formulierungen "ver-
meidbarer Irrtum" und "vermeidbare Tat" ist also durchaus kein Zu-
fall. Diese übereinstimmung verweist der Natur der Sache gemäß
darauf, daß schon bei der Behebung eines Tatbestandsirrtums dieselbe
Tatvermeideinstanz am Werke ist, die schließlich auch die Verhinde-
rung der Tatbegehung überhaupt bewerkstelligt.
Die bisher für den Bereich des Unrechtstatbestandes diagnostizierte
eigentümliche Form der strafrechtlichen Erfassung der subjektiven Be-
fähigung zur Tatvermeidung, welche zwischen Struktur und Funktion
unterscheidet und anhand intellektualistischer und voluntaristischer
Kriterien nur ex negativo definiert, findet in einer analogen Behand-
lung der Tatvermeideinstanz im Schuldbereich ihre Ergänzung. Durch
diese systematische Symmetrie beider Wertungsstufen gewinnt das
Modell der Vermeidbarkeitslehre ein hohes Maß an Plausibilität.
Auch auf der Wertungsstufe der Schuld werden Strukturdefekte und
Funktionsdefizite der Selbststeuerungsinstanz anhand intelle~tueller

8 Vgl. Gschwind, Die Bedeutung des Unbewußten für die Zurechnungs-


fähigkeit, in: Eisen (Hrsg.), Handwörterbuch der Rechtsmedizin, Bd.lI, 1974,
S. 78 ff.
e Armin Kaufmann hebt den einheitlichen Charakter dieser Befähigung
hervor, wenn er von "der ganzheitlichen Fähigkeit zur Motivation" spricht,
Festschrift für Eb. Schmidt, 1961, S. 319 ff., S. 321.

20·
308 Hans-Joachim Behrendt

und voluntativer Kriterien erfaßt. Der fehlenden Einsichts- und Steue-


rungsfähigkeit stehen so der Verbotsirrtum und die Entschuldigungs-
gründe gegenüber. Entsprechend den Verhältnissen im Unrechtstatbe-
stand wird im Schuldtatbestand für den Verbots-Irrtum die Einsichts-
fähigkeit und für das Nicht-Gegensteuern bei den Entschuldigungs-
gründen die Steuerungsfähigkeit vorausgesetzt. Die Regelung überdies,
daß nur ein unvermeidbarer Verbotsirrtum und nur eine unvermeid-
bare Entschuldigungssituation von Schuld völlig freistellen, läßt auch
für den Schuldbereich den Grundsatz deutlich hervortreten, daß Struk-
tur und Funktion der Gefahrvermeideinstanz nicht beziehungslos
nebeneinander stehen, sondern daß es zu den Aufgaben einer struk-
turell intakten Tatvermeideinstanz gehört, vermeidbare (Verbots-)Irr-
tümer aufzuklären und vermeidbare Zwangslagen von vornherein
auszuschließen. - Der Vollständigkeit halber sei hier der Hinweis ge-
stattet, daß sich die Unrechts- und Schuldbetrachtung der Gegensteue-
rungsinstanz letztlich auf denselben Gegenstand richten, was für die
Beziehungen zwischen den Elementen des Unrechts und denen der
Schuld dogmatisch folgenreich ist. -
Das dritte Hauptelement des Verbrechenskonzepts, das auf dem Ge-
danken der Tatvermeidung durch Gegensteuerung aufbaut, ist das-
jenige der Nichtaktivierung einer im Grunde intakten Tatvermeide-
instanz. Dieses Element bietet im Regelfall einer völligen Inaktivität
der Vermeidefähigkeit keine besonderen Schwierigkeiten. Anders ist es
nur, wenn in gewisser Weise unzureichende Gegenaktivitäten zu be-
obachten sind. Hier soll für den Augenblick der Hinweis genügen, daß
wir in den Fällen einer verspäteten Aktivierung der Gegensteuerungs-
instanz im Unrechtsbereich von einem Versuch und im Schuldbereich
von einem Rücktritt sprechen.
Erweist sich damit ein auf den drei Elementen der Gefahr, der Ge-
fahrvermeidefähigkeit und der Nichtvermeidung der Gefahr aufbauen-
der Begriff vom Verbrechen auch für den Verhaltenstypus des aktiven
Tuns als tragfähig, so ergibt sich, weil das hier vertretene Konzept alle
Elemente des dogmatischen Unterlassensbegriffs besitzt, die Folgerung,
daß die für das Verbrechenssystem grundlegende Kategorie ausschließ-
lich diejenige des Unterlassens iseo. Fraglich könnte bei dieser Sicht
lediglich noch sein, woher eigentlich im Falle des aktiven Tuns die
strafrechtliche Verpflichtung zur Tatvermeidung kommen soll. Es läßt
sich zeigen, daß in den Fällen aktiven Tuns die Pflicht zur Gegensteue-
rung aus dem Prinzip der Ingerenz folgt, welches, abweichend vom üb-

10 Vgl. hierzu insbesondere Herzberg, Die Unterlassung im Strafrecht und


das Garantenprinzip, 1972, S. 177 ff.; ferner Behrendt, Die Unterlassung im
Strafrecht, 1979, S. 121 ff.
Das Prinzip der Vermeidbarkeit im Strafrecht 309

lichen Verständnis, auch eingreift, wenn das (absehbar) gefährliche Ver-


halten erst in der Zukunft liegtl1 • Der Grund der Verpflichtung zur
Vermeidung auch solcher zukünftiger Gefahren liegt in dem Prinzip
der Verantwortlichkeit des Täters für sein eigenes Verhalten.
Ist somit die Unterlassung als das für die gesamte strafrechtliche
Dogmatik maßgebende Grundkonzept zu betrachten, so muß sich die
theoretische Konstruktion auf den verschiedenen Problemfeldern des
Strafrechts bewähren.
Einmal läßt sich zeigen, daß auf der Grundlage der Vermeidbarkeits-
lehre der Versuch unternommen werden kann, das Problem des straf-
rechtlichen Vorverschuldens einer befriedigenden Lösung zuzuführen.
Daß die Problematik des Vorverschuldens - etwa in den Fällen des nur
im Vorfeld der eigentlichen Tatbegehung vermeidbaren Verbotsirrtums
oder in den Fällen der nur durch Informationen und Maßnahmen in der
Tatvorphase vermeidbaren FahrlässigkeH1! - mit der Kategorie des
aktiven Tuns jedenfalls nicht zu bewältigen ist, steht außer Zweifel, da
das Element der Aktivität in der Regel nur von kurzer Dauer ist und
keine Ausdehnung in das Vorfeld der Tat verträgt. Demgegenüber er-
laubt die Kategorie der Unterlassung zwanglos auch eine Einbeziehung
des Tatvorfeldes. Der Unterlassungsbegriff macht verständlich, warum
jedermann bei absehbaren und vermeidbaren zukünftigen Tatbestands-
oder Verbotsirrtümern schon in der Gegenwart zu entsprechenden Ver-
meideaktivitäten verpflichtet ist. Gleiches gilt für die Pflicht zu Gegen-
maßnahmen im Tatvorfeld bei vermeidbaren in der Zukunft liegenden
an sich rechtfertigenden oder entschuldigenden Zwangslagen. Wegen
des dargestellten engen Zusammenhangs von Struktur und Funktion
der Selbststeuerungsinstanz ist für solche (zeitlich durch die Fahrlässig-
keitskriterien der Voraussehbar- und Vermeidbarkeit eingegrenzten)
Vorverpflichtungen vorausgesetzt, daß die grundlegende Vermeide-
kapazität in ihrer Struktur intakt ist. Andernfalls hätte es keinen Sinn,
ihre Aktivierung zu fordern. Ist eine Zerstörung der Gegensteuerungs-
instanz selbst in der Zukunft absehbar und vermeidbar, so besteht auch
hier eine Verpflichtung zur Gefahrvermeidung bei Vorliegen der wei-
teren Voraussetzungen schon in der Gegenwart, solange die Vermeide-
instanz strukturell noch intakt ist. Es handelt sich hier um die Fälle der
sogenannten actio libera in causa.

11 Zu dieser Erweiterung des Ingerenzbegriffs vgl. im einzelnen Behrendt,


Affekt und Vorverschulden, 1983, S. 90 ff.
12 Zu diesen Vorbereitungs- und Informationspflichten vor Ausführung
der gefährlichen Handlung als Ausfluß der erforderlichen Sorgfalt bei der
Fahrlässigkeit vgl. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 1978,
S.469 ff.
310 Hans-Joachim Behrendt

Einen weiteren Beitrag zur Problemlösung kann die Vermeidbar-


keitslehre auf dem Gebiet der Strafzumessungstheorie leisten. Das hin-
ter der strafrechtstheoretischen Vermeidbarkeitsauffassung mit ihren
Elementen Gefahr, Gefahrvermeidefähigkeit und Nichtvermeidung der
Gefahr stehende empirisch begründete Persönlichkeitsmodell mit den
Merkmalen destruktiver Antrieb, Gegensteuerungsinstanz und Nichtak-
tivierung der Gegensteuerung gibt zugleich ein Muster ab, nach dem eine
rationale Ordnung der Strafzumessungstatsachen13 erfolgen kann. So
lassen sich - Andeutungen müssen im Rahmen dieses Aufsatzes genü-
gen - die in § 46 Absatz 2 StGB zuerst genannten Elemente, die Be-
weggründe und Ziele des Täters, seine Gesinnung und der bei der Tat
aufgewendete Wille, das Maß der Pflichtwidrigkeit sowie Ausführungs-
art und Tatauswirkung ohne Zwang dem Merkmal des destruktiven An-
triebs zuordnen. Das Vorleben des Täters, seine persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnisse stehen in deutlichem Zusammenhang mit
der Gegensteuerungsinstanz des Täters. Die in § 46 Absatz 2 StGB zu-
letzt aufgeführten Merkmale des Verhaltens nach der Tat, insbesondere
des Bemühens um Wiedergutmachung, schließlich haben einen klaren
Bezug zum Element der Aktivierung dieser Instanz. Daß die Strafzu-
messungstatsachen im Gesetz im übrigen in genau derjenigen Reihen-
folge aufgeführt werden, die ihrer psychologischen Ordnung entspricht,
ist gewiß kein Zufall.
Die Identität des für die Theorie der strafrechtlichen Zurechnung wie
auch für die Theorie der Strafzumessung maßgeblichen Persönlichkeits-
modells stellt den engen Zusammenhang zwischen den beiden Teilgebie-
ten des Strafrechts her und verdeutlicht zudem, inwieweit die Strafzu-
messungstheorie die Lehre von der Zurechnung ergänzt und vervollstän-
digt. So kann etwa - um ein Beispiel zu geben - bei der Frage nach der
realen Gestalt der Gegensteuerungsinstanz eines Täters das unter dem
Zurechnungsaspekt lediglich negativ gezeichnete Bild unter dem Ge-
sichtspunkt der Strafzumessung durch positive Feststellungen komplet-
tiert werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn in einem zweiten Ver-
fahrensabschnitt (nach Einführung des Schuldinterlokuts) das Wissen
der empirischen Wissenschaften in größerem Umfang zum Zuge kommt.
Der Gedanke von der primären Bedeutung der gefahrvermeidenden
menschlichen Selbststeuerung für das Strafrecht kann überdies auf vie-
len weiteren Gebieten zu neuen Einsichten führen, so in der Lehre von
Täterschaft und Teilnahme, bei der Konkurrenzlehre und beim prozes-
sualen Tatbegriff, um nur einige zu nennen.

13 Zur systematischen Einteilung und zur Bedeutung der Strafzumessungs-


tatsachen im einzelnen Bruns, Leitfaden des Strafzumessungsrechts, 1980,
S. 118 ff., und Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 1978, S. 708 ff.
Das Prinzip der Vermeidbarkeit im Strafrecht 311

Zu bedenken ist bei alledem stets, daß das Verständnis für die Eigen-
tümlichkeit menschlicher Selbststeuerung und für ihre Bedeutsamkeit
im Strafrecht ohne Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion auf Seiten
der Strafrechtler nicht zu gewinnen ist. Die Kategorie des aktiven Tuns
in ihrer derzeit überragenden Bedeutung für das Strafrecht bezieht ihre
Wichtigkeit jedenfalls daher, daß sie es erlaubt, beurteilereigene
Destruktivität im Verbrechensbegriff unterzubringen.
JUSTUS KRüMPELMANN

Die normative Korrespondenz zwischen Verhalten


und Erfolg bei den fahrlässigen Verletzungsdelikten

I.
Im Streit um die Zurechnung des Erfolges bei möglicher Unver-
meidbarkeit hat sich Jescheck schon bald zur Risikoerhöhungslehre be-
kannt und zu ihrem raschen Vordringen wesentlich beigetragen. "Sinn
und Tragweite des Gebots", so führt er aus, machen "es einleuchtend,
daß schon eine erhöhte Gefährdung strafrechtlich erfaßt werden muß"1.
Der Gedanke der normativen Zurechnung liegt dieser frühen und
überzeugenden Kritik an der Zurechnungspraxis des Bundesgerichts-
hofes und der lange Zeit herrschenden Meinung zugrunde. Die Risiko-
erhöhungslehre hat scharfsinnige Kritiker gefunden; sie ist auch
scharfsinnig verteidigt worden2 • Im "Patt" der heutigen Diskussion
liegt die Frage nach einem verborgenen Widerspruch in der Basis bei-
der Lehren nicht ferne. Ich meine ihn darin zu sehen, daß die Zurech-
nung einen Wertbegriff, die Pflichtwidrigkeit, mit einem Faktum, dem
Erfolg, verbindet und daher in verschiedenen Kategorien denkt, ob-
wohl es auf normative Kriterien ankommen soll. Nun ist jedoch der
Erfolg, wie Jescheck betont hat, als Komponente des Unrechts nor-
mativ gefärbt. Er leitet das aus der Bewertungsfunktion des Rechts
ab, doch sieht er den Grundgehalt des Normativen gerade in der
Wirkungsmacht des Rechts 3 • Einen Versuch, sie auch aus der Sicht des
Verletzten aufzuzeigen' und die Zurechnung nach der normativen Kor-
respondenz zwischen der Pflicht und dem Schutzanspruch des Ver-

1 Jescheck, Aufbau und Behandlung der Fahrlässigkeit im modernen


Strafrecht, 1965, S. 17; vgl. ders., AT, 3. Aufl. 1978, S. 473 f.
2 Gegen Roxins grundlegenden Aufsatz ZStW 74 (1962), S. 411 ff. vgl. nur
Ulsenheimer, Das Verhältnis zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei den
Fahrlässigkeitsdelikten, 1965, S. 132 ff.; ders., JZ 1969, 364 ff.; Samson, Hypo-
thetische Kausalverläufe im Strafrecht, 1972, S. 42 ff.; ders., in: SK, Rdn.
26 ff. nach § 16; dagegen etwa Stratenwerth, Festschrift für Gallas, 1973, S. 227;
Rudolphi, in: SK, Rdn. 65 ff. vor § 1.
3 Jescheck, AT, S. 189 ff.
, Auf die "Gewährleistungsnorm" stützt das Unrecht im Erfolg Gallas,
Festschrift für Bockelmann, 1979, S.162; zustimmend Wolter, Objektive und
personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funk-
tionalen Straftatsystem, 1981, S. 28; wohl auch Küper, GA 1980,217 f.
314 Justus Krümpelmann

letzten vorzunehmen, habe ich in anderem Zusammenhang unter-


nommen5• Das soll im folgenden ausgeführt und auf die Fälle des Ri-
sikozusammenhangs übertragen werden. Der Entwurf, der sich in
manchen Ergebnissen, aber auch in zentralen Fragen, wie der Bedeu-
tung des hypothetischen Alternativverlaufs und der Konsistenz des
maßgebenden Gefahrurteils6 von der Risikoerhöhungslehre trennt7 ,
verdankt ihr freilich die entscheidenden Impulse zu einer rein norma-
tiven Zurechnung. Eine nicht nur in diesen Punkten noch undifferen-
zierte Fassung des Gedankengangs hatte ich 1972 in meinem unver-
öffentlichten Freiburger Habilitationsvortrag dargestellt. So soll die
Wiederaufnahme des Themas als Festschriftbeitrag zum 70. Geburts-
tag des verehrten Lehrers auch ein Zeichen der dankbaren Erinne-
rung sein.

11.
1. Ausgangspunkt sei die Überlegung Ulsenheimers, die Zu rech-
nungsfrage könne "nur durch eine Rückbesinnung auf den Grundge-
danken der fahrlässigen Erfolgstatbestände befriedigend" entschieden
werdens. Die Vertreter beider Lehren artikulieren dazu indessen keine
grundsätzlich verschiedenen Standpunkte, soweit die Frage überhaupt
behandelt wird. Die normative Funktion des Erfolgstatbestandes soll
in der Bestandsgarantie des Objektes liegen, das den Eingriff erleidet.
Konnte das verletzte Gut ex post betrachtet durch die verletzte Pflicht
nicht geschützt werden, war sie untauglich und genügt nicht zur Zu-
rechnung9 • Die Berechnung der Pflicht auf ihren Effekt wird auch
vorgenommen, wenn man die noch als sinnvoll für den Bestand des
Gutes erscheinenden Pflichten für die Zurechnung genügen läßt, aber
die ex post "untauglichen" Pflichten jedenfalls aussondertto • Nun läßt

5 KTÜmpelmann, Festschrift für Bockelmann, S. 443 ff.

a Die Risikolehre vergleicht einen durch die Handlung bereits vermittel-


ten Gefahrerfolg; der von mir verwendete Begriff der "Gefährdetheit" (Fest-
schrift für Bockelmann, S. 448 ff.) betrachtet die Gefahrenlage des Opfers noch
vor der faktischen Einwirkung des Täterverhaltens. Diesen Unterschied habe
ich damals noch nicht klar gesehen.
7 Meine Bedenken gegen die Risikolehre habe ich an anderer Stelle zu-
sammengefaßt, vgl. GA 1984, Heft 11.
8 Ulsenheimer, JZ 1969, 367; Vgl. schon ders., Pflichtwidrigkeit (Anm.2),
S.144 f.
g Jakobs, Studien zum fahrlässigen Erfolgsdelikt, 1972, S.24. Seine Konse-
quenz, die Anerkennung der enthaftenden Wirkung von Ersatzbedingungen
(a. a. O. Fn.23), hat er aufgegeben (AT 1983, S. 194 Fn. 144), nicht aber die
Ausgangsthese. Vgl. ferner Samson, Hypothetische Kausalverläufe im Straf-
recht, 1972, S. 90, 92, 96, 102; Schünemann, JA 1975, 648.
10 Vgl. Schünemann, JA 1975, 648, der die Bestandsgarantie kurz darauf,
S.652, in den nachträglich noch "sinnvoll erscheinenden" Rechtsgüterschutz
verändert; vgl. ferner Wolter, Straftatsystem (Anm.4), S. 331 ff.; Straten-
werth, AT, 3. Auf!. 1981, Rdn. 227 f.
Die normative Korrespondenz zwischen Verhalten und Erfolg 315

sich das untergegangene Gut nach der Tat nicht mehr schützen, und
so bedarf die normative Funktion des Erfolgstatbestandes einer wei-
terreichenden Begründung: Eine Pflichtverletzung mit Schadensfolge
mindere die Eindruckskraft der Norm mehr als der folgenlose Ver-
stoß II • Der Erfolgstatbestand und in seinem Dienst die Zurechnung
gewinnt so eine spezifisch generalpräventive Richtung12 • Ich halte diese
Deutung für irreführend 13 • Zutreffend ist dagegen die limitative Funk-
tion des Erfolgsdeliktes hervorgehoben worden. Nicht soll schwerer
bestraft werden, wer "Pech" hatte; der "Rest von Erfolgshaftung" be-
steht nach J escheck darin, "daß, wer Glück gehabt hat, milder oder
gar nicht bestraft wird"u. Das Strafrecht darf an Vorstadien der Ver-
wirklichung des Erfolges bei Versuch, Tendenz·· und Gefährdungsde-
likt anknüpfen, verlangt beim Erfolgstatbestand aber gerade mehr.
Die Voraussetzung des Erfolges im Tatbestand ist daher die strengste
Form der objektiven Unrechtslimitation. Das fragmentarische Prinzip
wirkt nicht nur in der Auswahl der Unrechts arten, sondern auch in
der Auswahl der Unrechtsstadien15 • Seine wichtigste Funktion hat der
Erfolgstatbestand für die Entwicklung von Situationspflichten. Der
Erfolg ist als erlittenes Unrecht "eines Menschen" (§ 222 StGB) kein
bloßes Kausalresultat der Handlung, sondern er beschreibt den Ver-
lust normativ gewährter Interessen des Verletzten16 • Nur weil der Er-
folgstatbestand die Situation des Verletzten in den Sachverhalt ein-
spiegelt, sind die konkreten Pflichten bestimmbar, die das Subjekt

11 Vgl. etwa Jakobs, AT, S. 140 f.; ders., Studien, S. 120 ff.; Wolter, Straf-
tatsystem (Anm.4), S. 127 ff.; Lampe, Das personale Unrecht, 1966, S. 210 ff.;
Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechts begriff, 1973, S. 202 ff.,
sieht darin die einzige Rechtfertigung des Erfolgstatbestandes; den Erfolg
verbannt er deswegen folgerichtig aus dem Unrecht; ähnlich Horn, Konkrete
Gefährdungsdelikte, 1972, S. 97 ff.; Lüderssen, Festschrift für Bockelmann,
S. 189 ff.
12 Während man häufig vom Rechtsgut spricht und das Tatobjekt meint,
spricht man hier vom Tatobjekt und trifft allenfalls den Rechtsgüterschutz.
13 Bei den fahrlässigen Verletzungsdelikten dürfte kaum etwas so kathar-
tisch wirken, wie das Erlebnis des drastischen Schadens. Was man in Wirk-
lichkeit "schützen" könnte, ist ein erhöhtes Sanktions bedürfnis; man unter-
stützt so das dubiose Gefühl, daß "alles nicht so schlimm war, wenn es noch
einmal gut gegangen ist", vgl. Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte,
1961, S.21. In der generalpräventiven Funktion hat der Erfolgstatbestand
vermutlich seine schwächste Stelle.
14 Jescheck, AT, S. 472.
15 Das "Fragmentarische" hat hier nicht den Charakter des Irrationalen.
Es ist gewiß sinnvoll, wenn man die Vollform des erlittenen Unrechts zur
Haftungsgrenze wählt. Eher vernachlässigt das Strafrecht bei manchen Vor-
verlegungen des Schutzes in die abstrakte Gefährdung oder in manchen
Tendenzdelikten rationale Prinzipien der Haftungsgrenze.
10 Vgl. besonders Gallas (Anm.4). Den Begriff des Erfolgsunrechts unter
dem gestaltenden Aspekt der Gewährleistungsnorm hat Paejjgen, Der Ver-
rat in irriger Annahme des illegalen Geheimnisses (§ 97 b StGB) und die allge-
meine Irrtumslehre, 1979, S. 110 ff., erheblich vertieft.
316 Justus Krümpelmann

ihrer Schutzwirkung betreffen. Mit abstrakten Gefährdungstatbestän-


den erreicht man einmal zu wenig, zum anderen aber zu viel, denn
was hier vernünftiger Leitsatz war, kann dort zur Pedanterie und
manchmal sinnlos werden17 • Der Erfolgstatbestand ist daher kriminal-
politisch betrachtet der zurückhaltendste, aber meist hinreichend funk-
tionale Schöpfer von Situationspflichten, und durch Kausalität und
Schadensverwirklichung auch ihr rechtsstaatlich präzisestes Verfesti-
gungsmittel. Die pflichten stiftende und haftungsbegrenzende Funk-
tion des Erfolgstatbestandes läßt ihn allein - ohne Rücksicht auf wei-
tere zweifelhafte Zwecksetzungen - nicht nur als funktionell legi-
timiert, sondern geradezu als unersetzbar erscheinen18 •

2. Handlung, Erfolg und ihre kausale Verknüpfung sind Teile des


Unrechtssachverhalts, die vom Text der hier relevanten §§ 222, 230
StGB vorgeschrieben sind. Die Beurteilung der Kausalität setzt im-
mer eine ex-post-Situation voraus. Wenn wir uns auch Kausalität ener-
getisch und ex ante wirkend vorstellen, so verlangt doch jede Beurtei-
lung, die Fakten nach Kausalgesetzen ordnet, ein geschlossenes System.
Solange mögliche Determinanten, die unerkannt sind, nicht eliminiert
werden können, fehlt es an der Aussagemöglichkeit über Kausalver-
läufe überhaupt 19 • Weil man außerhalb logischer Konstruktionen oder
außerhalb physikalisch vorformulierter Experimente keine Kenntnis
aller möglichen Determinanten hat, wird bei der juristischen Betrach-
tung das System prozessual geschlossen, und zwar erstens mit der
Ausklammerung bloß gedanklicher Möglichkeiten, für die der Sachver-
halt keinen Anlaß bietet, zum zweiten - bei einem non liquet -
mit Beweisregeln wie "in dubio pro reo", nach denen die Unsicher-
heiten aufgelöst werden, bis die Kausalität zu bejahen oder zu vernei-
nen ist. Das ist nicht nur eine Beweismaxime oder ein Hinweis auf die
Grenzen menschlicher Erkenntnis, sondern die logische Prämisse für
die Frage nach der naturgesetzlichen Bedingung überhaupt20 • Die

17 Jede neue Situation kann neue Pflichten schaffen. Man stelle sich nur
eine Parallele zur StVO nach der medizinischen lex artis vor, die überdies
oft heuristisch und nicht regulativ ist. Diesen Fragen wird ein rein verhal-
tensnormatives Unrecht (vgl. besonders Armin Kaufmann, Das fahrlässige
Delikt, in: Strafrechtsdogmatik zwischen Sein und Wert, 1982, S. 140 ff.) nicht
gerecht.
18 Gewiß reicht der Erfolgstatbestand für alle Gefährdungen des moder-
nen Lebens, in denen die Kausalgesetze nicht erforscht sind, nicht aus, vgl.
Armin Kaufmann, JZ 1971, 575 f. mit Hinweisen de lege ferenda. Die Funk-
tion des Erfolgstatbestandes kann so aber nur ergänzt, nicht ersetzt werden;
anders Horn, Konkrete Gefährdungsdelikte, S. 214 f.
19 Zutreffend Jakobs, AT, S.157.
20 Damit verliert die von Fincke, Arzneimittelprüfung, 1977, S. 74 f. be-
tonte Unterscheidung zwischen dem materiellrechtlichen Kausalurteil und
seiner prozessualen Feststellung ihre Bedeutung. Die materielle Kausalaus-
sage setzt einen prozessual geschlossenen Sachverhalt notwendig voraus.
Die normative Korrespondenz zwischen Verhalten und Erfolg 317

vielzitierte Vorhersagbarkeit eines Kausalverlaufs betrifft den Sonder-


fall des reproduzierten geschlossenen Systems, bei dem man sich frei-
lich an den Anfang zurückversetzen und die Folgen ansagen kann.
Natürlich kann die Reproduktionsdifferenz, die im nicht durchtechni-
sierten Bereich theoretisch immer besteht, praktisch gegen Null gehen
wie beim Kopfschuß. Wegen solcher Approximationen können wir die
Zwischendeterminanten meistens ungeklärt lassen; schießt der Jäger,
und das Kaninchen ist an einer Kugel verendet, besteht kein Zweifel
an der Kausalität, solange nicht Indizien für einen anderen Schuß auf-
tauchen. Wir brauchen dann nur Handlung und Erfolg als System-
rahmen der Kausalbeurteilung, und die Zwischenursachen nur, um
Zweifel zu beseitigen, daß der Erfolg anders als aus dieser Handlung
entstanden sein könnte. Der Erfolg als Systemgrenze bedeutet, daß
der Sachverhalt perfekt sein muß; wir müssen ihn ex post betrachten.
Vorher ist alles - bestenfalls sicherheitsnahe - Wahrscheinlichkeits-
aussage.
Das Zustandekommen des immanent kausalgesetzlich zu beurteilen-
den Sachverhalts selbst ist unberechenbar und zufällig. Warum die
Determinanten Wirklichkeit wurden oder störende Bedingungen da-
zwischentraten, ist von unüberschaubaren Determinanten außerhalb des
vom Tatbestand gesetzten Systems abhängig, für deren Feststellung
in unserem Zusammenhang kein Bedürfnis besteht. Von diesem "ge-
netischen Zufall"21 ist der "Aufklärungs fall" zu unterscheiden, daß wir
mögliche Determinanten nicht als sicher verwirklicht nachweisen
oder mögliche Störbedingungen nicht sicher ausschließen können. Wäh-
rend wir bloß gedankliche Möglichkeiten, für die sich keine Indizien
ergeben haben, als nichtexistent aus dem System ausschließen, sind
bei indizierten Zweifeln die fraglichen Tatsachen, solange wir Kau-
salität diagnostizieren, durch die Möglichkeitsspannen anderer Tat-
sachen zugunsten des Angeklagten zu ersetzen und daraufhin zu über-
prüfen, ob sie noch einen Ursachenzusammenhang zwischen Handlung
und Erfolg festzustellen gestatten.

III.

1. Der kausal beurteilte Sachverhalt ist seinerseits nur die Basis des
Unrechtsurteils; ob sich auf einem Kausalprozeß von der Handlung
zum Erfolge hin ein Unrecht aufbaut, das hängt von der normativen
Zurechnung ab. Honig, einer der Väter der normativen Zurechnungs-
lehre, hat der Kausalität die kategorieverschiedene Teleologie als

21 Diese Zufallsherrschaft gilt nicht nur für den tatbestandlichen Sach-


verhalt. Die Motivation selbst mag von zufälligen äußeren Sinnenreizen
abhängen; treffend Paeffgen, Verrat (Anm.16), S. 112 f.; ähnlich Jakobs, AT,
S. 140; dagegen aber Wolter, Straftatsystem (Anm. 4), S. 128 Fn. 267 a.
318 Justus Krümpelmann

allein rechtserheblich gegenübergestelW!. Erst der Teleologie verdankt


es denn auch der Tatbestand, daß er nicht nur Sachverhaltsbeschrei-
bung, Tatbild, Unrechtsmaterie, sondern auch ein Normwidrigkeits-
urteil, typisiertes Unrecht, Unrechtsmaterie ist 23 • Natürlich kann man
auch den perfekten Unrechtssachverhalt nach teleologischer Gesetz-
lichkeit prüfen und fragen, ob der Erfolg von der Handlung als
"zweckhaft gesetzt gedacht" werden kann24 • Das hätte die Aussonde-
rung nicht beherrschbarer Momente des Sachverhalts zur Folge. Aber
es geht ja nicht um die Frage, warum etwas Ausgesondertes kein Un-
recht ist, sondern es ist gerade zu begründen, warum das Verbleibende
als Unrecht betrachtet wird. Wollte man das Zweckprinzip vom zeit-
lichen Verlauf abstrahieren, wäre die teleologische Betrachtung ihrer
eigentlichen normativen Funktion beraubt: Der Tatbestand soll Nor-
men stiften; er soll das Verbot begründen, in der gegebenen Situation
erfolgsträchtig zu handeln. Normativ wirken - ein Sollen stiften -
kann er aber nicht ex post. Er befiehlt dem Täter in der gegebenen
Situation, gar nicht zu handeln oder für den Fall des HandeIns Re-
geln zu beachten25 • So wie die Kausalbetrachtung ex post erst möglich
wird, ist die Pflicht nur ex ante wirksam. Teleologische Betrachtung,
die ex post vorgenommen wird, ist mit ihrer zweckgesetzlichen Um-
formung noch keine normative Betrachtung, denn dafür fehlt ihr der
Gestaltungswille. Dieser kommt ihr erst zu, wenn er in der Tatsitua-
tion, aber vor der Handlung, in eine noch unentschiedene Zukunft ge-
richtet, gebietet. Das Normative ist notwendig und kategoriell prog-
nostisch. Die Pflicht ist ein kurzlebiges Gebilde, sie entsteht mit der
Situation, besteht in der Zeitdauer ihrer Erfüllbarkeit und vergeht
mit der pflicht erfüllenden oder verletzenden Verhaltensweise. Armin
Kaufmann hat das im Begriff der "Pflichtlage" analysiert26 •

Mit der Pflichtlage läßt sich erreichen, was die Kausalbetrachtung


mit ihrer Angewiesenheit auf den verwirklichten Erfolg und der da-
mit vermittelten Grenzenlosigkeit seiner Determinanten nicht leisten
kann: Die Aussonderung eines zeitlich begrenzten Tatsachenfeldes vor

22 Honig, Festgabe für Frank, Bd. 1, 1930, S. 184.


23 Vgl. Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 49 f.
24 Honig, Festgabe für Frank, Bd. 1, S. 184.
25 Diese Regeln sind nicht nur bloße Bewertung, sondern sie stiften ein
Sollen für den Fall der Vornahme einer Handlung überhaupt. Grundlegend
Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, 1954,
S. 138 ff., 170 f.; als bloßer ex-post-Maßstab und "heuristischer Zwischenakt"
erscheinen die Sorgfaltspflichten hingegen bei Horn, Konkrete Gefährdungs-
delikte, S. 196.
26 Armin Kaufmann, Normentheorie (Anm.25), S. 138 ff., S. 170. Honig,
Festgabe für Frank, Bd. 1, S. 185 spricht von der "Erreichbarkeit oder Ab-
wendbarkeit des Erfolges für jemanden, der in der in Betracht kommenden
Situation steht (Sperrung nicht im Text).
Die normative Korrespondenz zwischen Verhalten und Erfolg 319

der Erfolgsverwirklichung. Stößt jemand auf eine Situation, die von


der Kausalerfahrung her auf eine gefährliche Entwicklungsmöglich-
keit hindeutet, so können sich Pflichten ergeben, deren Inhalt in der
Ausrichtung auf die Gefahrvermeidung ex ante besteht. Sie beruhen
auf - theoretisch allen - Tatsachen des Feldes in diesem Zeitpunkt
und der Prognose ihrer Entwicklung. Die notwendige Prognose siebt
die Tatsachen nach ihrer größeren und geringeren Entwicklungswahr-
scheinlichkeit aus. Die erfolgsträchtigen Tatsachen formen den Risiko-
inhalt, die Tatsachen fehlender, unwahrscheinlicher, aber auch hem-
mender Erfolgsprognostik den möglichen Pflichtinhalt. Die Handlung
ist in ihrer Verwirklichung der Initialpunkt des Kausalurteils: In der
Zeitdauer der Pflichtenlage ist sie Gegenstand einer Prognose.
Die Zurechnung des Erfolges zur pflichtwidrigen Handlung, wie sie
die Vermeidbarkeitslehre und die Risikolehre im hypothetischen Ver-
laufsurteil vornehmen, wird nur um den Preis einer Kategorienver-
wischung durchgeführt: Die Pflicht wird von ihrer eigentlichen Quali-
tät, der Prognostik, getrennt und verspielt folglich ihre Funktion, die
prinzipiell ungewisse Zukunft zu bewältigen. Das Ergebnis spiegelt
die Kategorienverwischung in der Verbindung eines Wertbegriffes -
"Pflichtwidrigkeit" - mit einem Faktum: "Erfolg". Man kann das
"Zurechnung" nennen, aber den normativen Erklärungsgrund für sie
ist man schuldig geblieben. Dafür bedarf es des Korrespondenzpart-
ners der gleichen Kategorie. Das Recht ist, und sogar in erster Linie,
Gestaltungskraft, nicht nur Bewertung!7. Als Gegenstand der recht-
lichen Beurteilung brauchen wir zwar einen kausalstrukturierten
Sachverhalt, aber für die Frage, ob er Rechts- oder Unrechtsprädi-
kate erhält, müssen wir in seine Genese zurückgehen: Die Tatsachen-
lage ex ante und die Prognose ad futurum ist die Perspektive, die wir
nicht verlassen dürfen, auch wenn der prozessuale Anlaß die Beurtei-
lung nachträglich erfordert und die weitere Perspektive des ex post
an sich eröffnet wäre.
2. Erfolgszurechnung in normativer Dimension setzt daher voraus,
daß auch der Erfolgssachverhalt prognostischer Betrachtung zugäng-
lich ist. Schon bei Honig scheint sich das anzudeuten. Er bringt den
Satz von der Zweckgesetzlichkeit als Grundlage der normativen Zu-
rechnung auch in folgender Umkehrform: Das Verhalten sei rechts-
erheblich nur, "wenn es in Hinblick auf die Bewirkung bzw. Vermei-
dung des Erfolges als zweckhaft gesetzt gedacht werden kann"28. Der
Zusamenhang spricht dafür, das nur als eine Absicherung des bereits
Gesagten zu verstehen. Jedoch können wir über eine Tautologie hin-
ausgelangen, wenn wir den Blick nicht nur auf den Zweck der Ver-
27 Eindrucksvoll Jescheck, AT, S. 188 f.
28 Honig, Festgabe für Frank, Bd. 1, S. 188.
320 Justus Krümpelmann

haltensnormen richten, für die Honigs Äußerung gelten soll. Ein "Je-
mand", der in einer für die Erreichbarkeit oder Abwendbarkeit des
Erfolges "in Betracht kommenden Situation" steht 29 , ist nicht nur der
Täter, sondern auch das spätere Opfer. Bezieht man das teleologische
Prinzip auf die zeitliche Realität, in der es wirkt, so läßt sich die
zweite Formel als Umschlag der Perspektive vom Täter auf den Trä-
ger des geschützten Gutes verstehen mit einer spiegelbildlichen Ver-
kehrung des Verhältnisses von Prognose und prognosebegründenden
Tatsachen. "Zweckgesetzlich gedacht" ist, zeitlich gewendet, jeweils
wörtlich zu nehmen. Beim Täter wird aus den ihm gegebenen Tatsa-
chen der Erfolg und der Weg zu ihm hin gedanklich weiterentwickelt.
Umgekehrt wird die tatsächliche Situation des bedrohten Subjekts, die
notwendig vor dem Erfolg und noch vor der Einwirkung der Hand-
lung liegt, auf den Einfluß einer "gedachten" Handlung und ihrer
Wirkungen hin gedeutet, d. h. es wird auf einer vom Handlungs-
effekt noch nicht berührten Tatsachenbasis prognostiziert. Teleolo-
gisch ist das Denken der Handlung als Mittel zum Zweck der Verän-
derung (oder auch Konservierung:lO) der gegenwärtigen Tatsachensitua-
tion zum Erfolge hin oder von ihm weg. Auch hier bedient sich das
Recht der Prognose zum Mittel der Bewältigung des zeitlich sich ent-
wickelnden, im gegebenen Zeitpunkt noch offenen Systems nach dem-
selben Prinzip der Wahrscheinlichkeitserwartung, die an der gene-
rellen Kausalerfahrung geschult ist und auf die konkrete Situation
bezogen wird. Natürlich läßt sich das, aus der Perspektive des Gefähr-
deten, nicht als Sollen darstellenJ1 , wohl aber in der Korrespondenz-
kategorie des Anspruchs. Auch der Anspruch ist teleologisch, prog-
nostisch und eine rechtliche Gestaltungskraft, und deswegen ist er
normativ32 • Wichtig ist hier, daß er, nicht anders als die Pflicht, einen
Tatsachenkreis auf dem Weg zwischen Handlung und Erfolg auszu-
sondern vermag, also leistet, wozu eine Betrachtung der äquivalenten
Determinanten nicht imstande ist; man darf diesen Kreis analog als
Anspruchslage bezeichnen. Mit dem Zeitpunkt der Erfüllung oder

29 Vgl. Anm. 26.


30 Bei der Unterlassungserwartung.
31 Hier bricht denn auch Honigs auf die Verhaltensnorm gerichtete Ent-
wicklung des Prinzips ab.
32 "Anspruch" sei hier als rechtlich gewährleistete Schutzforderung ad
incertam personam verstanden und soll nicht auf seine Verflechtungen mit
der Diskussion dieses Begriffs in der allgemeinen Rechtslehre oder gar im
Zivilrecht belastet werden. Zur Rückführung auf die teleologische, nicht nur
bewertende Gewährleistungsnorm vgl. Anm. 16. Die Auseinandersetzung
mit den Vereinseitigungen der Imperativentheorie, in denen er nach Binding
(Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen, Bd. 1, 1915, S. 539) als
das "Loch im Zentrum eines Normenkreises" erscheint, ist freilich beim
gegenwärtigen, nur die Verhaltensnorm berücksichtigenden Diskussionsstand
keine leichte Aufgabe.
Die normative Korrespondenz zwischen Verhalten und Erfolg 321

Mißachtung ist mit der veränderten Tatsachenbasis auch der Anspruch


untergegangen. Ob er bestand, darauf kommt es für das Erfolgsunrecht
an. Wie die Beurteilung des Verhaltensrisikos die Verwandlung der
Prognose zur Pflicht vermittelt, so ist die Beurteilung der Gefährdet-
heit die Verwandlung der entgegengesetzten prognostischen Perspek-
tive zum Anspruch. Der Zeitablauf mit den Fixpunkten von Anfang
und Ende sondert die beweisthematischen Tatsachen von denen ab,
die nur Gegenstand VOn Prognose und Wahrscheinlichkeitsurteil wer-
den können33 •
IV.

1. Nehmen wir so die Zeit in die normative Zurechnung mit hinein,


dann ist der von Samson für die Zurechnungslehren außerhalb der ex-
post-Vermeidung geforderte "abstrakte Maßstab" entwickelt34 , nach
dem die Unterscheidung von beweispflichtigen Tatsachen und dem Ge-
genstand des Wahrscheinlichkeitsurteils im vorhinein getroffen werden
kann 3s • Beweisthema ist die Anspruchslage, Thema des Wahrscheinlich-
keitsurteils die Prognose der Entwicklung im Hinblick auf mögliche
Handlungen (wie umgekehrt die Pflichtlage Beweisthema und das sich
Entwickelnde der Gegenstand der Prognose ist). Die Lehren der Ri-
sikozurechnung haben der Kritik der herrschenden Lehre die Bastion,
die Gefahr sei ein ex-ante-Urteil, zu früh geräumt38 • Sowohl die Ge-
33 Eingehende und treffende Analysen zum Verhältnis von Tatsachen-
basis und Urteil im Gefahrenbegriff bei Horn, Konkrete Gefährdungsdelikte,
S. 31 ff., 44, vgl. Horn, in: SK, Rdn.4 vor § 306; Küper, NJW 1976. 544 f.
gegen BGHSt. 26, 176, 181. Wichtig ist jedoch der Unterschied: Auf der Basis
der Anspruchslage ist die erfolgsbezogene Prognose nur die Mitvorausset-
zung der entscheidenden Prognose der schützenden Verhaltensweisen. Nur
Tatsachen, die sie als sinnlos erweisen, bedürfen der unbeschränkten pro-
zessualen Aufklärung.
34 Samson, Festschrift für Welzel, 1974, S. 593 Fn. 68.
3S Der Erfahrungsregelvergleich Roxins, ZStW 74 (1962), S. 431 ff., 434,
entwickelt diese Differenz nicht; der Versuch, die "prinzipiell unaufklär-
baren" Tatsachen festzulegen, befindet sich trotz Ingeborg Puppes Bemü-
hungen, ZStW 95 (1983), S. 293 ff., nicht in einem hoffnungsvollen Stadium.
36 Der erstmals von Roxin, Festschrift für Honig, 1970, S. 138 Fn. 18 aus-
drücklich anerkannte ex-post-Standpunkt bei der Risikobeurteilung wird als
die entscheidende Richtigstellung der ursprünglichen Lehre angesehen, vgl.
Rudolphi, in: SK, Rdn.69 vor § 1. Jedoch ist noch genauer zu unterschei-
den: Auch die Anspruchslage ist wie die Pflichtenlage freilich durch Tat-
sachenfeststellungen jenseits der Grenze der Erkennbarkeit zu korrigieren.
In grundlegender Weise hat Gallas, Festschrift für Heinitz, 1972, S. 189, ge-
zeigt, daß darin keine Verletzung der ex-ante-Perspektive liegt. Die durch
nachträgliche Feststellung damaliger Tatsachen widerlegte Pflichtlage kann
die Strafbarkeit des untauglichen Versuchs bestehen lassen; in anderen
Rechtsgebieten kann auch der unerfüllbare Anspruch relevant sein (die
Kosten des ergebnislos verschriebenen Medikaments werden vom Sozial-
hilfeempfänger nicht zurückgefordert). Die Grundsatzdifferenz zum Gefahr-
begriff der Risikoerhöhungslehre besteht darin, daß diese auch die Auswir-
kungen der Handlung auf die Gefährdetheit im Vorstadium des Erfolges bei
der Tatsachenbasis mitberücksichtigt.

21 Festschrift für H.-H. Jescheck


322 Justus Krümpelmann

fährlichkeit, aus der sich die Pflicht, wie die Gefährdetheit, aus der
sich der Anspruch entwickeln kann, sind ex ante zu bestimmende Be-
griffe. Es handelt sich nicht um einen Wechsel der Zeitrichtung, son-
dern um den Wechsel der Perspektive vom Täter zum potentiellen
Opfer. Was sich auf dem Weg von der Gefährdetheit zum Erfolg fak-
tisch noch abspielt, und das ist gewiß nur Gegenstand eines ex-post-
Urteils, interessiert uns allein in der Sachverhaltskategorie der Kau-
salität, nicht für die normative Zurechnung.
Der Rückgriff auf hypothetische Tatsachen wird nicht nur überflüs-
sig, sondern ist ausgeschlossen. Die Basistatsachen der Gefährdetheit
haben sich wie die der Gefährlichkeit wirklich ereignet und sind nicht
hinzugedacht. Man mag den Gegenstand der jeweiligen Verlaufs-
prognose eine Hypothese nennen; aber wir ersetzen nicht wirkliche
Tatsachen durch andere und wirkliche Kausalabläufe durch andere
und prüfen nicht ex post einen Effekt.

2. Die Tatsachenbasis der Gefährlichkeit wie die der Gefährdetheit


ist beweisbedürftig und darf nicht durch Wahrscheinlichkeitsüberle-
gungen ersetzt werden. Welche Umstände in den für den Täter und
den Gefährdeten jeweils maßgebenden Zeiträumen auftreten, ist rest-
los, d. h. mit der prozessual erreichbaren Sicherheit aufzuklären. Nichts
anderes gilt für jedes andere Merkmal des Sachverhalts schlechthin.
Ein non liquet darf nicht durch ein Wahrscheinlichkeitsurteil ersetzt
werden, sondern ist durch die dem Angeklagten günstigste Tatsachen-
möglichkeit zu füllen. Gibt es Erfahrungsregeln, daß eine festgestellte
Tatsache mit der anderen verbunden aufzutreten pflegt, dann ist auch
diese anzunehmen, wenn die Erfahrung über die "bloß gedankliche
Möglichkeit" signifikant hinausführt und nicht durch Einzelumstände
widerlegt werden kann37 •
Hier liegen die entscheidenden Schwierigkeiten, denn der Aufklä-
rungszufall und die Aufklärungsgrenzen des Prozesses können dabei
nicht ausgeklammert werden. Die Anspruchslage, im medizinischen
Bereich etwa der Status des Patienten beim Eingriff oder im Zeitpunkt
des pflichtmäßigen Eingriffs, ist nun zwar nicht hypothetisch, sondern

37 Vgl. Gollwitzer, in: LöwelRosenberg, 23. Aufl. 1978, Rdn. 60 ff. zu § 261;
Horn, Konkrete Gefährdungsdelikte, S. 111 ff. Auch der prozessual unbe-
schränkt aufzuklärende Sachverhalt der Anspruchslage ist notwendig für
die materiellrechtliche Zurechnung vorausgesetzt. Da es um die Tatsachen
geht, die einen Anspruch unerfüllbar machen, dürfte es an entsprechenden
Indikationen im Sachverhalt eines eingetretenen Erfolges meistens fehlen,
so daß sich Horns Bedenken gegen die Praktikabilität des Gefahrbegriffs,
die beim ausgebliebenen Erfolg eines konkreten Gefährdungsdeliktes berech-
tigt sind, erledigen (vgl. S.212). Beim eingetretenen Erfolg nach fehlge-
schlagener Rettung verhindern die von Horn aufgezeigten Schwierigkeiten
indessen oft die Zurechnung, vgl. unten V, 2 und den folgenden Text.
Die normative Korrespondenz zwischen Verhalten und Erfolg 323

war im gegebenen Moment verwirklicht, ist aber meist nur teilweise


aufklärbar; zum Teil ist das Urteil auf non-liquet-Regeln, also auf
die Annahme von Tatsachen zugunsten des Angeklagten angewiesen.
Verschiedene Konstellationen sind denkbar: Der Tatsachenstatus im
Augenblick des pflichtmäßigen Eingriffs kann offenstehen: Neben dem
behandlungsfähigen Leiden A zeigt der Obduktionsbericht, daß da-
mals schon ein nicht behandlungsfähiges Leiden B mit derselben
Prognose zum Tode hin bestand. Meistens ist aber der Status im frag-
lichen Zeitpunkt unsicher und muß rekonstruiert werden. Dafür er-
geben sich mehrere Wege. Das inkurable Leiden B, das keine diagno-
stizierten und diagnostizierbaren Symptome aufwies, mag mit dem er-
kennbaren Leiden A nach der Erfahrung signifikant häufig verbun-
den sein. Der Wahrscheinlichkeitsgrad mag so hoch liegen, daß er sich
nicht mehr als bloße gedankliche Möglichkeit abtun läßt, so daß ein
non liquet eröffnet wird. In dubio pro reo ist das Leiden B dann an-
zunehmen 38 • Oft kann der damalige Krankheitsstatus aus der Erfolgs-
situation oder der Obduktion nach Erfahrungsgesetzen rekonstruiert
werden: Feststellungen etwa über den Stand der Metastasenausbrei-
tung beim Tode geben Raum für Erfahrungsregeln über einen be-
stimmten Zeitpunkt auch davor. Auch hier ist der ungünstigste nach
solcher Erfahrung ableitbare Zustand anzunehmen. Schließlich ent-
hält manche Prognose über die Krankheitsentwicklung auch eine Aus-
sage über den möglichen Krankheitsstatus. Die gute, aber nicht sichere
Prognose über die Erfolgsaussichten enthält auch einen Bestandteil
von Negativprognose. Der Blinddarmpatient hatte gute Aussichten auf
Heilung, "wenn nicht" unvorhergesehene Komplikationen mitwirken,
deren Wahrscheinlichkeit niedrig sein mag. Hinter solchen Restun-
sicherheiten können sehr verschiedene Aussagen stehen. Die Aussage
kann sich nur auf allgemeine, nicht substantiierte Risikoerfahrung38
oder auf nach solchen Eingriffen häufiger beobachtete Zwischenfälle
beziehen 40 • Sie ist dann im ersten Fall nach dem Prinzip des Ausschlus-
ses theoretischer Möglichkeiten, im zweiten als mögliches Faktum, das
aber erst nach dem Zeitpunkt der Anspruchslage auftritt, zu vernach-
lässigen. Indessen kann die Prognose auch eine unaufgeklärte Status-
möglichkeit indizieren. Der Koeffizient, der die Chance bei der Be-

38 Beispiel: Bei einem nicht operierten bösartigen Tumor besteht eine


signifikante Wahrscheinlichkeit auf hoffnungslose Metastasenbildung schon
zur pflichtmäßigen Zeit des Eingriffs, vgl. von Brandis/Pribilla, Arzt und
Kunstfehlervorwurf, 1973, S. 27 (Fall 19).
38 Z. B.: Letalität bei Blinddarmoperationen x %. Eine solche Ergebnis-
statistik ist aber selbst bei hoher Mißlingensquote nicht aussagekräftig, so-
lange sie nicht über den Grund des Mißlingens eine Erfahrungsregel enthält,
die auf den möglichen Status des Patienten hin konkretisiert werden kann.
40 Z. B.: Häufigkeit der vorher nicht indizierten Embolie nach der Opera-
tion.

21·
324 Justus Krümpelmann

handlung des erkannten leicht kurablen Leidens A herabsetzt, kann


auf der relativen Häufigkeit des gleichzeitig auftretenden unaufge-
klärten Leidens B beruhen. Liegt die relative Häufigkeit über der für
§ 261 StPO ausreichenden Schwelle, dann enthält die Prognostik einen
Rückverweis auf einen möglichen ungünstigen Tatsachenstatus, der
ausreichend für ein non liquet zugunsten des Angeklagten sein kann.
Unsicherheiten der Erfolgsprognose mit Tatsachenimplikationen sper-
ren daher in vielen Fällen den prozessual festgestellten Sachverhalt
für die normative Zurechnung. Schließlich ist der Fall denkbar, daß
sich der Status der Anspruchslage weder unmittelbar noch rekon-
struktiv aufklären läßt. Auch hier darf kein Wahrscheinlichkeitsurteil
eingreifen, "wie es vermutlich gewesen sein dürfte", sondern das nun
totale non liquet ist in dubio pro reo zu behandeln: Bei fehlender Ba-
sis des Zurechnungsurteils kann es auch nicht gefällt werden41 •

3. So bringt die Sachverhaltsfeststellung über die Rekonstruktion


des Status der Gefährdetheit mittelbar doch wieder eine Reihe von
Daten ein, die wir durch die Trennung der Anspruchslage vom progno-
stizierten Verlauf zum Erfolg zunächst ausgeschlossen hatten: Der
Aufklärungszufall hat dabei erhebliche und unvermeidbare Räume.
Diese Betrachtungsweise zwingt uns, generelle Formeln wie die Mög-
lichkeit, Wahrscheinlichkeit, aber auch die "Komplexität", am Sach-
verhalt nach § 244 Abs. 2 StPO und § 261 StPO zu konkretisieren. Ins-
besondere geben die "Komplextatsachen" mit ihrer praktischen Un-
möglichkeit der Aufklärung entgegen der neue ren Risikolehre nicht
das Recht, das "Aufklärungsrisiko" allein dem Angeklagten aufzuer-
legen42 • Bei der Beurteilung der Gefährdetheit handelt es sich, gerade
im medizinischen Raum, oft um ein komplexes Bild. Das faktisch un-
aufklärbare, statistisch rekonstruierte Leiden B braucht ja kein um-
zirkeltes Phänomen zu sein, sondern kann den komplexen Vitalkreis
des schwächlichen, kreislaufgestörten usw. Patienten betreffen. Das
OLG Koblenz hatte bei einer infolge von Diagnosefehlern versäumten
Behandlung einer Bauchfellentzündung (Peritonitis) über einen sol-
chen komplexen Sachverhalt zu urteilen43 • Die Ursache der Peritonitis,
ein Dünndarmriß, der im pflichtmäßigen Zeitpunkt der gebotenen
Operation schon 24 Stunden zurücklag, stand fest. Wieweit die Perito-
nitis damals fortgeschritten war, ob sich ein akuter oder schleichen-
der Verlauf abgespielt hatte, konnte schlechthin nicht rekonstruiert

41 Vgl. dazu den - eine grob fahrlässig versäumte Behandlung des


Arztes - betreffenden Fall bei von BrandislPribilla (Anm. 38), S. 101 (Fall 32).
42 Dagegen zutreffend Jakobs, AT, S. 196.

43 OLGSt. § 222, S.63; die sorgfältige Entscheidung weist den Klage-


erzwingungsantrag im Anschluß an BGHSt. 11, 1 zurück.
Die normative Korrespondenz zwischen Verhalten und Erfolg 325

werdenu. Der Status der vitalen Funktionen gehört ebenfalls zur


hier wohl unerfüllbaren Beweispflicht, nicht weil das prinzipiell un-
aufklärbar wäre - der Patient war ein älterer, aber rüstiger Bauer,
der vor dem Unfall noch Feldarbeit geleistet hatte -, sondern weil
die Belastung der fortgeschrittenen Entzündung für den Kreislauf usw.
nicht mehr meßbar war. Das alles darf für die Frage, ob bei diesem
Status überhaupt noch eine Rettung möglich war, nicht mit dem Ur-
teil abgeschnitten werden: "Vermutlich sah es doch noch viel günsti-
ger aus", auch wenn dafür eine Wahrscheinlichkeit spricht, die sogar
hoch sein kann. Es ist eben der schlimmste, aber nur der auf Indizien
und die bezeichneten Rekonstruktionsmöglichkeiten zu stützende Zu-
stand anzunehmen und auf seiner Basis die Prognostik der Gefähr-
detheit des Patienten und der Gefahrabwendungsmöglichkeit für das
Gegebensein von Pflicht und Anspruch zu bemessen.
Auf der anderen Seite reicht zur Entlastung des Arztes nicht die
lakonische Erfahrung "Prognose stets dubiös"4l, um das non liquet zu-
gunsten des Angeklagten zu füllen. Der Satz ist die statistische Quer-
summe des Endverlaufs vieler unter sich differenter Fälle. In diese
Prognose gehen postoperative Komplikationen ebenso ein wie beson-
dere, im zu begutachtenden Fall aber nicht verwirklichte Gegeben-
heiten erhöhter Gefährdung. Solche Folgerungen tragen der An-
spruchslage entweder gar keine Fakten zu, oder sie sprechen stati-
stische Erfahrungen aus, die auf den Einzelfall bezogen "bloß gedank-
liche Möglichkeiten" bleiben, und daher nach § 261 StPO nicht berück-
sichtigt werden dürfen.
Daran wird man bei der unsicheren Rettungsprognose im nur äußer-
lich ähnlich liegenden Peritonitis-Fall des BGH 46 denken müssen. Die
Symptome der Peritonitis zeigten sich schon bald nach einer als er-
folgreich beendeten Blinddarmentfernung und legten einen frühzei-
tigen Pflichtzeitpunkt für den Nacheingriff fest - für eine früher
schon bestehende Bauchfellentzündung, einen abnormen Vitalstatus
der 14jährigen Patientin gab es keine Indizien. Ob daher nicht für
den Pflichtzeitpunkt der Nachoperation ein Statusbild der Peritonitis
und des sonstigen Befundes, das die Prognose "unrettbar" heraufbe-
schworen hätte, als eine "theoretische Möglichkeit" ausgeschlossen
werden konnte, ist doch sehr die Frage. Vermutlich aber hat der Sach-
verständige das Restrisiko neben der von ihm bejahten hohen Ret-
44 Das macht das Gutachten von der ungeklärten Frage abhängig, wie groß
der Dünndarmriß und erheblich der Austritt des Darminhalts nach der
Verletzung war.
45 Vgl. Pschyrembel, Auf!. 1972, S. 924, Stichwort: "Peritonitis".
46 BGH NStZ 1981, 218 mit Anm. Wal/slast. Das Urteil kam nur mit der
"sicheren Lebensverlängerung um einen Tag" über die Klippe der hypothe-
tischen Kausalität hinweg.
326 Justus Krümpelmann

tungswahrscheinlichkeit auf andere Erwägungen gestützt: Das erhöhte


generelle Risiko eines Zweiteingriffs47 , die Möglichkeit, daß der ret-
tende Eingriff den Gefahrenherd nicht ganz beseitigt hätte usw. Das
aber gehört nicht zur Tatsachenbasis der Gefährdetheit im Pflichtzeit-
punkt, sondern zur Verlaufshypothese des gar nicht verwirklichten
Eingriffs nach konkret nicht substantiierter Statistik. Der Richter muß
also erfragen, worauf die vom Gutachten behauptete Rettungsunsi-
cherheit inhaltlich beruht. Wenn greifbare Unsicherheiten bleiben, daß
im Zeitpunkt des pflichtmäßigen Eingriffs vor der Operation bereits
ein Krankheitsbild vorlag, das die ärztliche Kunst hilflos machte, dann
ist keine Zurechnung möglich; die - auch begründete - Möglichkeit,
daß es noch besser stand, betrifft den Sachverhalt und darf nicht
contra reum angenommen werden. Ist dagegen ein inkurables Krank-
heitsbild nicht rekonstruierbar, auch nicht mit den prozessualen Er-
gänzungsmethoden der Feststellung, kann eine normative Zurechnung
die veränderten Rettungschancen grundsätzlich einbeziehen. Für die
Behandlungsfähigkeit ist auch die Unterstützung der gefährdeten vi-
talen Systeme durch gebotene Gegenmaßnahmen zu berücksichtigen.

V.
1. Die Tatsachen der Pflicht- und Anspruchslage bilden die Basis
der normativen Zurechnung, nicht ihren Gegenstand. Es geht nicht
um eine Verbindung von Pflicht oder Pflichtwidrigkeit mit Tatsachen,
sondern um die Korrespondenz der Prognoseteile von Pflicht und An-
spruch. Ihr Zweckzusammenhang, und zwar aus der jeweiligen Per-
spektive des Täters und des potentiellen Opfers, jeweils ex ante, ist
der Zurechnungsgegenstand. Mit der jeweiligen Prognose wird die
Sicherheit prinzipiell von einem Wahrscheinlichkeitsurteil abgelöst,
das einer Ergebniskorrektur nicht unterzogen werden darf. Die Pflicht
muß den Zweck haben, der dem Täter erkennbaren Gefahr zu begeg-
nen; welcher Grad von Wahrscheinlichkeit, sie auch zu bezwingen,
das Verhalten zur Pflicht macht, ist Frage des Einzelfalles und wer-
tend zu bestimmen. Das hängt von der Nähe und Höhe der Gefahr
ab, von Gegeninteressen und dem Interessenwert der geplanten Hand-
lung. Diese Fragen sind für die Verhaltenspflicht längst diskutiert
und zu einem gewissen Konsens gebracht worden. Keineswegs ist für
die Zurechnung eine Pflicht zu verlangen, die eine hohe Wahrschein-
lichkeit oder gar Sicherheit der Erfolgsabwendung verbürgt. Je nach
der Zweckrichtung und Gefahrenlage reicht schon die niedrige Prognose
der Erfolgsvermeidung zur Begründung aus. Fehlt es an dieser Aus-
sicht ganz, kann freilich keine Pflicht entstehen. Mit dem Anspruch

47 Vgl. Wachsmuth, Festschrift für Bockelmann, S. 477.


Die normative Korrespondenz zwischen Verhalten und Erfolg 327

verhält es sich in umgekehrter Form ebenso. Er richtet sich progno-


stisch auf das Verhalten eines anderen; sein Zweck richtet sich nach
der Art der Gefährdetheit und der Möglichkeit, den daraus drohen-
den Erfolg abzuwenden. Ist die Gefährdetheit aussichtslos, oder läßt
sie sich nicht ohne gleiche Gefahrsetzung bekämpfen 48 , entsteht kein
Anspruch. Die Gefährdetheit kann nur im allgemeinen Lebensrisiko
der Verletzung liegen; dann resultiert der allgemeine Unterlassungs-
anspruch, auf den Täter bezogen: ein Eingriffsverbot 49 • Die Gefährdet-
heit kann spezifischer Natur sein und spezifische Verhaltensweisen er-
forderlich machen50 • Können Pflicht- und Anspruchslage diagnostisch
zusammengeführt werden, korrespondieren in diesem Fall Pflicht
und Anspruch, aber manchmal ist das nur teilweise, manchmal gar
nicht möglich. Dann tritt die Täterprognose für die Auswirkung des
Verhaltens auf die unerkannten, aber vielleicht "typischen" Tatsachen
ein. Auch diese liegen im Möglichkeitsfeld der Prognose, und die nor-
mative Beziehung kommt zustande; die Grenze der Erkennbarkeit
setzt aber auch die Grenze der Zurechnung. Der auf "atypischer" Ba-
siserwachsende Schutzanspruch bleibt ohne die Korrespondenz einer
tatsächlich begründeten Verhaltenspflicht. Richtet sich ein Schutz an-
spruch auf eine Heilmaßnahme, die für den Arzt keinen erkennbaren
Anlaß hat, so kann eine Zurechnung auf eine aus anderen Gründen
indizierte und kunstwidrig durchgeführte Maßnahme nicht gestützt
werden, auch wenn das gebotene Verhalten eine günstige oder sogar
rettende Nebenwirkung gehabt hätte (bei der pflichtwidrig unterlas-
senen Operation wäre ein bis dahin unerkennbarer Tumor leicht er-
kannt und beseitigt worden). Ist eine Pflicht jedoch entstanden, ein
Schutz anspruch überhaupt begründet, dann kommt es auf die Chan-
cenhöhe der jeweiligen Prognose nicht mehr an. Hier färbt das auch
unsichere Wahrscheinlichkeitsurteil die normative Zurechnung; darin
liegt die Distanz der Korrespondenzzurechnung zur Vermeidbarkeits-
doktrin. In den Peritonitis fällen, vorausgesetzt, daß ein hoffnungsloser
Zustand im gebotenen Zeitpunkt des Eingriffs ausgeschlossen werden
konnte, ist auch eine geringe Höhe der Rettungschance, wenn sie über-
haupt bestand, für die normative Zurechnung kein Ausschlußgrund.

48 Wachsmuth (Anm.47), S.478, beschreibt einen Grenzfall, bei dem das


Zustandsbild des Patienten nach der Bauchdeckenöffnung den Abbruch der
Operation, radikale und palliative Maßnahmen gleichermaßen rechtfertigte.
49 Vgl. etwa BGHSt. 6, 282. Ein Eingriffsverbot war hier nur durch die
Medikamentenverwechslung der Krankenschwester verletzt. Dagegen ist die
dem angeklagten Arzt vorgeworfene Versäumnis der Beaufsichtigungspflicht
auf die spezifische Gefährdetheit des Patienten durch unvorsichtiges Pflege-
personal gerichtet und nur in diesem Zusammenhang Korrespondenzglied.
Ähnlich der "Rouxhaken-Fall", BGH NJW 1955, 1487.
50 Z. B.: Ein Herzleiden läßt nur eine gelindere Narkoseform zu, vgl.
BGHSt. 21, 59.
328 Justus Krümpelmann

Allerdings ist die Chancenhöhe eines Schutzanspruches nicht gleich-


gültig. Vermutlich wird der Arzt den moribund Unfallverletzten bis
zur minimalen Chance operieren, vielleicht auf das gute Glück hin;
dergleichen liegt aber nicht mehr im Bereich normativer Zurechnung.
Steht es um das Krankheitsbild nämlich so, daß schon die Durchfüh-
rung einer Maßnahme nicht mehr Gegenstand einer Rechtspflicht ist,
so kann auch bei Kunstfehlern der Arzt wegen der fehlgeschlagenen
Rettung nicht verantwortlich gemacht werden. Anders ist es, wenn
der Fehler schon das allgemeine Lebensrisiko berührt, obwohl gleich-
zeitig eine über dieses Maß gesteigerte oder gar aussichtslose Gefähr-
detheit vorliegt: Der Arzt zertrennt eine lebenswichtige Ader, er ver-
wechselt das Narkosemittel mit einem lebenszerstörenden Stoff. Was
bei jedermann tödlich wirkt, bleibt Unrecht und wird nicht Unglück,
weil der Patient schwer krank ist.
Besonders in der Medizin wird die Pflichtlage mit der Anspruchs-
lage durch die vorgeschaltete Diagnose zur übereinstimmung gebracht.
Aber schon bei unklarer Diagnose entfernen sich die Tatsachengrund-
lagen voneinander. Mit fortschreitendem Eingriff, etwa bei der Ope-
ration ohne möglichen Operationsplan5 t, vergrößert sich die Tatsachen-
basis der Pflichtlage; das kann die Pflicht, den Heileingriff fortzusetzen,
zum Erlöschen bringen: bei erkannter hoffnungsloser Gefährdetheit.
Aber denkbar ist natürlich auch der umgekehrte Fall: Gelangt das
befallene Organ während der Operation ad oculos, kann sich die Ge-
fährdetheit als geringer erweisen und statt der geplanten Resektion
eine Teilresektion die gebotene Handlung sein. Pflichtenlage und An-
spruchslage können aber auch völlig differieren und nur noch in
prognostischer Korrespondenz stehen: Das ist bei allen Prophylaxe-
maßnahmen der Fall.

2. Wie schon die Beispiele zeigten, bietet die normative Korrespon-


denz ein Zurechnungsprinzip auch bei den Unterlassungsdelikten und
solchen Begehungsdelikten, in denen das Täterhandeln im Zusammen-
hang mit einer Negativ-Bedingung zu sehen ist, wie beim Eingriff
in rettende Kausalverläufe 52 •
Auch bei den Fällen der mißlungenen Rettung ist die Gefährdetheit
ein Brennpunkt der Erfolgszurechnung. Der von Armin Kaufmann aus-
gearbeitete Begriff der "tatbestandsmäßigen Situation"5a setzt nicht

51 Zur Bedeutung solcher Eingriffe Wachsmuth (Anm. 47), S. 476.


52 Zur Strukturparallele Puppe, ZStW 92 (1980), S.903; dies., ZStW 95
(1983), S. 289 f.; Jescheck, in: LK, Rdn.17 zu § 13, der aber das Erfordernis
der hypothetischen Kausalität für alle Fälle der fehlgeschlagenen Rettung
festhält.
53 Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, S. 96 f. Der
Begriff ist bei Kaufmann allerdings von vornherein mehr unter dem Ge-
Die normative Korrespondenz zwischen Verhalten und Erfolg 329

nur das "Vorhandensein eines Einwirkungsobjektes" voraus, sondern


gerade auch seinen Status vor Eintritt des abzuwendenden Erfolges.
Schwierig könnte es mit der Pflichtlage stehen. Man hat sich sehr
daran gewöhnt, die Basis nur im hypothetischen Tatsachenmaterial
des Rettungshandelns zu sehen. Sie liegt aber auch hier im Faktischen,
nämlich zunächst innerhalb der tatsächlichen Vorgänge, die sich ex
post als positive, abgesehen vom Fall der Ingerenz nicht einmal täter-
bezogene Bedingungen des nicht abgewendeten Erfolges nach der Kau-
salbeurteilung enthüllen. In diese Vorgänge, deren Entwicklung der
Täter freilich nur prognostizieren kann, soll er eingreifen, und sie -
reale Faktoren - bilden das Tatsachenmaterial einer Pflichtenlage.
Im Falle der beobachteten Gefährdetheit ist die Basis teilidentisch,
aber aus der Sicht des Handlungspflichtigen gehören dazu die Tat-
sachen außerhalb des Kausalstranges, die eine Prognose der Erfolgs-
abwendung zulassen: Das Vorhandensein des Rettungsrings, des erfor-
derlichen Medikaments usw. Armin Kaufmann impliziert diese Ele-
mente im Begriff der physischen HandlungsmöglichkeW', für den sie
die Basis bilden. Auch sie sind nicht hypothetisch, sondern müssen
wirklich vorhanden sein. Auch bei der unterlassenen oder unterbro-
chenen Rettung ergibt sich eine prinzipiell getrennte, praktisch oft
zusammenfallende Pflichten- und Anspruchslage mit umgekehrter
Prognostik, und korrespondiert sie, ist die Zurechnung möglich. Bei-
des ist oft getrennt: Der Brand mag im Keller schwelen, bevor der
Mieter im Oberstock nach Hause zurückkehrt und in die Gefahr tritt,
aus der ihn der Hausbesitzer als Garant retten soll. Aber die zeitliche
Relation ist beliebig, der Hausbesitzer mag zum Brandherd erst tre-
ten, wenn er den Mieter schon bedroht. Der Arzt tritt durchweg in eine
gefährdete Situation, doch sein Eingriff setzt auch neue Gefahren,
denen er begegnen muß usw. Ist die Gefährdetheit unüberwindbar
und bietet die Situation in beiden Perspektiven keine sinnvollen Chan-
cen zur Rettung, entsteht weder Anspruch noch Pflicht, und alle un-
aufgeklärten Umstände jenseits der Grenze des bloß theoretisch Mög-
lichen sind in dubio pro reo als wirklich zu behandeln. Aber es bleibt
Raum für die normative Korrespondenz unterhalb von sicheren Ret-
tungserwartungen. Der Rettungsring mag den Ertrinkenden wegen
hoher und unberechenbarer Wellen verfehlen. Kann er wenigstens
etwas schwimmen, um aus eigener Kraft zum wegtreibenden Ring
zu gelangen, so ist die Rettungsprognose eröffnet.

sichtspunkt der Erkennbarkeit geformt, was hier aber ein noch zu weitrei··
chender Schritt wäre. Der Sache nach ist die objektive Basis von der Wis-
sensbasis der Erkennbarkeit trennbar; zutreffend Behrendt, Die Unterlassung
im Strafrecht, 1979, S. 123 Fn.2.
54 Armin Kaufmann (Anm. 53), S. 35 f.
330 Justus Krümpelmann

Ein Eingriffsgebot, das wie ein Eingriffsverbot die Zurechnung stets


begründet, wäre zu überlegen für den Fall der für sich betrachtet ab-
solut indizierten, aber unterlassenen Versorgung bei akuter Gefähr-
dung vitaler Funktionen; dies kann auch beim aussichtslosen Fall gel-
ten: Beim moribunden Unfallopfer läßt sich die normative Korre-
spondenz nicht mehr herstellen, die die Unterlassung einer nur im
Glücksfall gelingenden komplizierten Gehirnoperation in den Zurech-
nungsrahmen stellt. Aber bei der Nichtversorgung einer offenen
Schlagader, die zum Verbluten führt, ist eine Zurechnung wohl un-
abhängig von der Frage, ob der Tod dann etwas später oder möglicher-
weise etwas später eingetreten wäre, nicht unbillig.
Von der Sache her bestehen keine Gründe, für die Prognostik den
höchsten Grad der Wahrscheinlichkeit im hypothetischen Kausalurteil
zu verlangen und, was bei Pflicht und Anspruch Prognose ist, ex post
zur negativen Bedingung zu erheben. Dafür könnten Gründe der Be-
grenzung des rechtsstaatlich heiklen UnterlassungsdeIiktes sprechen,
aber das wäre eine Stütze von außen an ein Haus, dessen Fundamen-
ten man nicht vertraut (nämlich wegen der schwierigen Bestimmbar-
keit der Garantenstellung). Für die Gleichstellung ist die hypothetische
Kausalität jedoch nicht die rechte Kategorie, denn dann entscheidet
über die Zurechnung ein normativ nicht steuerbares Zufallsmoment.
An der Gleichstellung der unterlassenen Rettung des möglicherweise
auch bei Pflichterfüllung nicht Geretteten hindert uns die irre-
führende Stilisierung der Kausalkategorie zum Zentralnerv des Un-
rechts. Die zahlreichen Fälle "echter", d. h. positiver Begehungskau-
salität, in denen unwahrscheinliche Begegnungsfälle mitgewirkt ha-
ben, zufällige Mitbedingungen, Fehlverhalten des Verletzten usw.,
ohne die alle das Handeln den Erfolg nicht verursacht hätte, stehen
unter dem Wertaspekt vermutlich den Fällen nicht nach, in denen eine
hohe Gefährdetheit die Erfolgsabwendung zweifelhaft erscheinen läßt.
Die Zurechnung nach der normativen Korrespondenz bietet die Mög-
lichkeit, einer übermaßhaftung in beiden Bereichen, auch beim Bege-
hungsdelikt, entgegenzuwirken55 •

55 Da viele Pflichten des Straßenverkehrs nur eine "typische" Gefährdet-


heit anderer Verkehrsteilnehmer ausgleichen, ergeben sich bei einem uner-
kennbaren Mitverschulden des Unfallopfers Restriktionen der strafrecht-
lichen Haftung, die die heutige Praxis oft übersieht. Aber gerade hier ist
das Zusammentreffen leichten Verschuldens und schwerer Folgen häufig.
Eine Generalprävention durch "blinde" Zurechnung ist kriminalpolitisch
fragwürdig und geht am Sinn der Erfolgstatbestände vorbei.
Die normative Korrespondenz zwischen Verhalten und Erfolg 331

VI.

Für die Zurechnung nach der normativen Korrespondenz haben die


Streitfälle um BGHSt. 11, 1 keine spezifische Problemstruktur, nur sind
die Sachverhalte schwieriger und die Umstände lassen sich, da sie für
die Lösungsformel des BGH meist nicht ergebnis relevant sind, den
Urteilen und Falldarstellungen nicht immer ausreichend entnehmen.
Beginnen wir mit dem "Radfahrerfall" der BGH-Entscheidung. Auch
nach der normativen Korrespondenz ist Freispruch geboten. Der Zweck
der Sorgfaltspflicht des überholabstandes von 1 bis 1,5 Meter dient
dem Ausgleich von typischen Fehlreaktionen von Radfahrern. Der
Radfahrer selbst ist zu möglichst geraden Fahrlinien verpflichtet; ein
Spielraum von einem Meter steht ihm nicht zur Verfügung. Nun ge-
hören Ausschlagbewegungen aber zum häufigen Fehlverhalten von
Radfahrern; daher baut die Sorgfaltsregel von vornherein eine Schutz-
zone ein. Die Trunkenheit des Radfahrers steigert die Gefährdetheit
über das Maß dessen, was als typisches Risiko zu erkennen ist. Der
Radfahrer hätte einen anderen, weiteren Schutzraum gebraucht. Er
steht ihm prinzipiell auch zu: Hätte der Angeklagte die Trunkenheit
erkennen können, hätte der Abstand von einem Meter nicht genügt;
er hätte gar nicht überholen dürfen. Bei der unerkennbaren Trunken-
heit korrespondiert die spezifische Gefährdetheit, der daraus begrenzte
Schutzanspruch, nicht mehr mit dem Zweck der Pflicht58 • Die etwa
verbleibende Chance ist nur eine Reflexwirkung. Auf der anderen
Seite könnte aber selbst eine an der Sicherheitsgrenze liegende Er-
fahrungsregel, daß betrunkene Radfahrer blind in die Geräuschquelle
fahren, die Zurechnung entgegen der Risikotheorie nicht verhindern,
wenn der Angeklagte nur im Abstand von einer Handbreite vorbei-
gefahren wäre. Dann verletzt die Handlung eine Pflicht, die zum Aus-
gleich des Jedermannsrisikos dient, denn Ausweichbewegungen in die-
ser Größenordnung sind unvermeidlich, und die Schutzpflicht gegen-
über der Jedermann-Gefahr, dem allgemeinen Lebensrisiko, umfaßt
auch den Hochgefährdeten. Der Angeklagte hätte gegen ein "Eingriffs-
verbot" verstoßen, und eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung

58 Roxin, ZStW 74 (1962), S.432, 434, neigt wohl zu einer ähnlichen Lö-
sung; Jescheck, Aufbau (Anm.1), S.17, möchte zurechnen. Auch die Fälle der
möglichen Unvermeidbarkeit der Tötung eines unvorsichtigen Straßentraver-
santen bei überhöhter Geschwindigkeit lassen sich so zweckgerecht lösen.
Statt der Frage, ob der Wagen beim Pflichttempo noch rechtzeitig vor dem
Fußgänger zum Stehen gekommen wäre, mit ihren oft peinlichen und von
Zufallsmomenten der räumlichen Relation abhängigen Berechnungsresul-
taten, führt die Frage, welchen Schutzraum das fehlerhafte Verhalten bean-
sprucht, und ob die Pflicht des Täters zweckentsprechend war, zu angemes-
seneren Ergebnissen; in dieser Richtung gegen die kausalmechanistische
Betrachtungsweise der Vorinstanz BGH VRS 26, 208; vgl. auch OLG Köln
VRS 20, 353; zweifelhaft BGH VRS 54,436.
332 Justus Krümpelmann

wäre - wohl entgegen dem Prinzip der Risikotheorie und sicher ent-
gegen dem BGH - angemessen.
Dieselbe Problemstruktur begegnet uns im Zahnarztfall (BGHSt.21,
59). Der Zahnarzt hatte der übernervösen, fettsüchtigen Patientin, die
zudem über Herzbeschwerden geklagt hatte, in einer Chloräthyl-Voll-
narkose zwei Backenzähne ziehen wollen, ohne sorgfalts gemäß einen
Anästhesisten hinzuzuziehen. Es kam zum tödlichen Narkoseschock.
Nach dem Obduktionsbericht hatte die Patientin an einer chronischen
Herzmuskel-Entzündung (isolierte Myokarditis) gelitten, die die Nar-
koseempfindlichkeit ganz unverhältnismäßig erhöht. Die Myokarditis
ist, wie mir Ärzte versichert haben, ein seltenes, diagnostisch nur
durch Zufallsbefunde zu erkennendes und nicht gezielt anvisiertes
Leiden. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wäre die Schockwirkung auch
bei der gelinderen Lachgasnarkose eingetreten, die bei fehlender
Diagnose der Myokardie wegen des Allgemeinzustandes der Patientin
angezeigt war 57 • Die Wahrscheinlichkeit war aber geringer, so daß die
Risikolehre möglicherweise zu einer meßbaren Chancendifferenz käme.
Aber wenn die Myokarditis eine durch zweckgerechte Diagnostik nicht
nachweisbare Krankheit ist, dann handelt es sich um eine atypische
Gefährdetheit, die breitere Schutzräume beansprucht, hier das Unter-
lassen jeder Narkose. Auf die Erkennung dieser Situation war die
versäumte Diagnosepflicht aber nicht ausgerichtet; es fehlt an der nor-
mativen Korrespondenz 58 •
Im Ziegenhaarfall (RGSt. 63, 211) ist eine differenzierende Betrach-
tung notwendig. Es ging um die Anwendung des § 222 StGB nach dem

57 Zutreffend hat Roxin, ZStW 74 (1962), S.435, für den vergleichbaren


Apothekerfall RGSt.15, 151 aufgezeigt, daß es auf die objektiven Kunst-
regeln ankommt, nicht darauf, was der konkret hinzuzuziehende Spezialist
gesagt hätte.
58 Das 1967 beurteilte Verhalten wäre beim heutigen Stand der Anäs-
thesiologie möglicherweise als Verstoß gegen ein Eingriffsverbot zu beur-
teilen. Nach dem "Pschyrembel u der Urteilszeit war Chloräthyl noch für die
Vollnarkose zugelassen (vgl. Stichwort: "ChloräthyIU); schon in der Auflage
von 1972 findet sich die schwarzumränderte Warnung: "Wegen der häufigen
Zwischenfälle (plötzlicher Atem- und Herzstillstand) darf Chloräthyl heute
weder zur Voll- noch zur Rauschnarkose verwandt werden!". Hier ist offen-
bar das Jedermann-Risiko ausgelöst, so daß selbst bei der Sicherheit des
tödlichen Narkoseschocks auch bei indizierten Mitteln die Zurechnung an-
gemessen wäre. Ähnliche Fragen erörtert Roxin, ZStW 74 (1962), S. 439 f.,
beim Novokain-Kokain-Fall, RG HRR 1926, 1936. Als Verstoß gegen ein
Eingriffsverbot dürfte die vom LG Kiel (vgl. von Brandis/Pribilla, Kunst-
fehlervorwurf, S.38, 112) beurteilte Verwendung des unerprobten und un-
üblichen Präparats Urografin als diagnostisches Kontrastmittel statt des ge-
bräuchlichen Abrodil zu beurteilen sein. Da die Sachverständigen mangels
Erfahrung mit dem unüblichen Mittel nicht feststellen konnten, ob sich
nicht nur das auch im Abrodil generell steckende (geringe) Risiko verwirk-
licht hatte, reichte dem Gericht der Fehlgriff nicht aus; nur wegen sonstiger
Sorgfaltsmängel kam es zur Verurteilung.
Die normative Korrespondenz zwischen Verhalten und Erfolg 333

Tode von Arbeiterinnen, die sich an dem sorgfaltswidrig nicht des-


infizierten Arbeitsmaterial mit Milzbrandbakterien angesteckt hatten.
Die damals vorgeschriebenen Desinfektionsmethoden verbürgten die
Vernichtung der Krankheitserreger nicht. Steht fest, daß die Milz-
branderreger durch die Desinfektionsmethode nicht beinflußbar wa-
ren, fehlt es an der normativen Korrespondenz. Besteht oberhalb blo-
ßer Theorie die praktische Möglichkeit, daß die Erreger resistent wa-
ren, muß das in dubio pro reo gleichbehandelt werden; es geht um ein
Faktum des Gefährdetheitsurteils, das darüber entscheidet, ob der
Anspruch in den Schutzraum fällt, den die Pflicht gewähren soll. Sind
die Milzbrandbazillen aber nicht absolut resistent, dann ist die Zu-
rechnung grundsätzlich geboten59 • Selbst die hohe Möglichkeit, daß
auch dann die Bakterien nicht sämtlich abgetötet worden wären oder
ihre gesamte Virulenz verloren hätten, ist eine notwendig prognostisch
bleibende Erwägung, die bei Versäumnis der Desinfektion auch nie-
mals Wirklichkeit und daher auch nicht Beweisthema werden kann.
Aber damit ist die Frage, als dem Prognosebereich zugehörig, nun
Gegenstand eines Wahrscheinlichkeitsurteils. Allerdings ist es eine
wertende, erst endgültig über die Zurechnung entscheidende Frage,
welche Wahrscheinlichkeit der Effektivität man von der Desinfektions-
pflicht erwartet. Das kann nicht generell für die Zurechnung bei elen
Erfolgstatbeständen schlechthin festgelegt werden, sondern es erfolgt
aus der Zweckbestimmung der jeweiligen Sorgfaltspflicht. Das Des-
infektionsgebot ist sicher nicht gezielt auf bestimmte mit hoher Er-
folgschance zu bekämpfende Bakterien gerichtet, sondern es will
"keimfrei" oder "möglichst keimfrei" machen. Die "hohe Wahrschein-
lichkeit" wäre viel zu großzügig zugeschnitten; eine meßbare Chance
muß ausreichen. Nicht ohne Grund äußert sich die Risikolehre zur
Frage der Risikodifferenz nur unbestimmt 80 , denn diese Frage ist un-
abhängig vom Zweck der einzelnen Pflicht gar nicht zu beantworten.
Das zeigt sich auch bei der unterlassenen post infektiösen Tetanus-
injektion. Schon die Wahrscheinlichkeit der Infektion nach einer Ver-
letzung ist - statistisch gesehen - äußerst gering; aber wegen der
hohen Gefährlichkeit besteht ein korrespondierender Pflicht- und
Schutzanspruch, wenn überhaupt die Chance einer günstigen Beein-
flussung besteht61 • Immerhin ist eine Zurechnung fraglich. Geht es
auch hier um das Risiko einer vielleicht nicht totalen Bekämpfung, so
könnte bei ungünstigem Ausgang zugerechnet werden. Vermutlich

58 Weitgehend ebenso Roxin, ZStW 74 (1962), S. 437 f.


80 Vgl. Wolter, Straftatsystem (Anm. 4), S. 336 f.
61 Das war lange umstritten, scheint aber jetzt geklärt zu sein, vgl.
von BrandislPribilla (Anm. 38), S. 42 f.; der Meinungsumschlag spiegelt sich in
der Entscheidung des OLG Celle von 1967, OLGSt. § 222, 13.
334 Justus Krümpelmann

hängt jedoch die Wirkung von der Ausbreitungsgeschwindigkeit der


Bazillen ab, und hier ist die ungünstigste mögliche Situation zugunsten
des Angeklagten anzunehmen.
Damit ist bereits die normative Korrespondenz bei den Unterlas-
sungsdelikten berührt. Bei den Peritonitisfällen des BGH und des
OLG Koblenz hatte sich die Anwendbarkeit des Prinzips bereits ge-
zeigt, aber auch der fortbestehende große Einfluß des Aufklärungs-
zufalls bei der faktischen Situation der Gefährdetheit, der gerade im
medizinischen Zusammenhang Grenzen strafrechtlicher Haftung setzt.
Ein Fall des OLG Koblenz (OLGSt. § 222, S.69) ist aufschlußreich: Der
Angeklagte, ein Psychiater, hatte ein magersüchtiges, hochgradig un-
terernährtes Kind nach der Einlieferung in seine Klinik psychosoma-
tisch behandelt. Künstlichen Ernährungsversuchen hatte sich das Kind
zu entziehen gewußt. Nach einigen Tagen starb es dann an Unter-
ernährung. Nach Auffassung des Gutachters war die sofortige über-
führung in die Intensivstation einer inneren Klinik erforderlich ge-
wesen, besonders wegen der dortigen überwachungsmöglichkeiten der
künstlichen Nahrungszufuhr. Die entscheidende Frage, ob der körper-
liche Zustand des Kindes möglicherweise aussichtslos war, oder ob die
vom Gutachter eingeräumte Möglichkeit, daß magersüchtige Patien-
ten sich gelegentlich allen Versuchen der künstlichen Ernährung er-
folgreich widersetzen, die fehlende Sicherheit der Rettung begründete,
ließ das OLG folgerichtig offen, denn es weist den Klageerzwingungs-
antrag mangels hypothetischer Kausalität der pflichtmäßigen Maß-
nahme zurück. Sieht man im gesundheitlichen Zustand - m. E. un-
zutreffend - einen prinzipiell unaufklärbaren Tatsachenkomplex, so
käme die Risikoerhöhungslehre wohl ohne Differenzierung zu einer
Zurechnung. Angemessen scheint mir, einen auch nur möglicherweise
unrettbaren Zustand zugunsten des Angeklagten zu verwerten; welche
Mittel das Kind jedoch gefunden hätte, um sich der Ernährung zu entzie-
hen, aber auch, welche Gegenmittel dies verhindert hätten, entzieht
sich der Tatsachenfeststellung, weil es nie verwirklicht wurde. Schon
die Versäumnis einer meßbaren Chance reicht zur Verurteilung aus 82 •

62 Die neuere Risikolehre würde für dieses Ergebnis wohl weniger die
prinzipielle Indeterminiertheit infolge des Freiheitspostulats (beim Neu-
rotiker?) als vielmehr die Unberechenbarkeit des neurotischen Verhaltens-
schemas und der Umstände benutzen, unter denen dem Kind die Nahrungs-
zufuhr in der Intensivstation verabreicht worden wäre. Der Zufall könnte
übrigens die Aufklärung bringen (im fraglichen Zeitpunkt hätte z. B. in der
in Betracht kommenden Station die Aufsicht nicht funktioniert).
Die normative Korrespondenz zwischen Verhalten und Erfolg 335

VII.
Fassen wir zusammen: Auch in der Zurechnung nach der normati-
ven Korrespondenz 63 sind Zufall und Kausalität, Gefahr, Wahrschein-
lichkeit und Sicherheit im Spiel, aber sie stehen an ihrem gehörigen
Ort. Die angebliche Zufallshaftung nach dem Erfolgsdelikt erwies sich
nicht als Haftungserweiterung, sondern als eine Haftungsbeschränkung
aus dem Gedanken des fragmentarischen Charakters des Strafrechts.
Der "Zufall" spielt dort hinein, wo er prinzipiell nicht vermieden wer-
den kann: Beim Zustandekommen eines Sachverhalts, der - dann
immanent - nach Kausalstrukturen Gesetzlichkeit erlangt, und beim
Aufklärungszufall der Basistatsachen: Das alles ist keine Besonder-
heit der Zurechnungslehre oder des Erfolgstatbestandes. Dieser Er-
eignis- und Aufklärungszufall berührt die Zurechnungsfrage nicht.
Die "Wahrscheinlichkeit" hängt daher nicht mit der Unbestimmtheit
des Sachverhalts zusammen, sondern folgt aus der Notwendigkeit der
Prognosen von Pflicht und Anspruch. Sie können nie vom Ergebnis
widerlegt werden, weil sie notwendig auf eine Zukunft bezogen sind,
die durch das Ereignis der Tatbestandsverwirklichung überholt wird.
Die "Sicherheit" hat, abgesehen von der Sachverhaltsfeststellung und
dem an ihr vollzogenen Kausalurteil vor der eigentlichen Zurech-
nungsfrage keinen Anwendungsbereich. Die sicherheitsnahe Prognose
aber eröffnet zwei Zurechnungs aspekte: Beim Verhaltensrisiko begrün-
det sie in der strikten Unterlassungspflicht ein Eingriffsverbot, das
immer zur Zurechnung führt. Bei der Gefährdetheit läßt sie einen
Schutzanspruch und damit ein Korrespondenzglied der normativen
Zurechnung entfallen, wenn nicht ein Eingriffsverbot verletzt wurde.
Eine besondere Zurechnungslehre für die Problemfälle um BGHSt.ll,
1 aber hat sich als nicht erforderlich erwiesen.

63 Auch Gimbernat Ordeig, Die innere und äußere Problematik der in-
adäquaten Handlungen in der deutschen Strafrechtsdogmatik, Diss. Hamburg
1963, S. 126 ff., 133 ff., führt sein Zurechnungsprinzip der "ratio legis" auf die
konkreten Beziehungen zwischen dem Täter und dem Opfer zurück. Die
von Ulsenheimer, Pflichtwidrigkeit (Anm.2), S. 117, daran geübte Kritik von
der "Unbestimmtheit und Zufälligkeit" der Ergebnisse, die sich auch gegen
die hier vorgetragene Lösung richten müßte, halte ich nicht für zutreffend.
Es gilt nur das auf der Verletztenseite durchzuführen, was auf der Pflicht-
seite immer schon Aufgabe der Rechtsprechung war. Die Würdigung der
Situation des Verletzten ist für die Rechtsprechung auch kein neues Thema;
im Zusammenhang mit dem Geltungsbereich des Vertrauensgrundsatzes
etwa werden solche Fragen immer wieder von den Gerichten behandelt.
SANTIAGO MIR PUIG

Die "ex ante"-Betrachtung im Strafrecht

A ist tief ergriffen, als B ihm den Tod seines Sohnes mitteilt. Diese
Nachricht führt wegen plötzlich auftretender Herzschwäche des Adessen
Tod herbei. Nach der Untersuchung der Tatumstände besteht kein Zwei-
fel, daß B den Tod des A verursacht hat; ex ante hingegen, in dem
Moment der Übermittlung der Nachricht, erschien das Verhalten des B
für das Leben von A nicht gefährlich. Hat B gegen das Tötungsverbot
verstoßen? Vom Standpunkt der ex post-Betrachtung müßte man dies
bejahen; bezieht sich aber das Verbot auf den Zeitpunkt der Handlung
(ex ante) und fragt man, ob das Recht B in jenem Augenblick verbot,
A den Tod seines Sohnes mitzuteilen, so muß die Antwort negativ sein.

I. Zeitlichkeit und Relativität

Das Bewußtsein von der Zeitlichkeit und der Relativität des Beobach-
terwissens ist eines der Merkmale unseres Jahrhunderts1 • Das traditio-
nelle Denken neigte dazu, die Welt von einem abstrakten Standpunkt
aus zu betrachten und aus der konkreten, räumlich und zeitlich beding-
ten Beobachterperspektive herauszulösen. Dies ist der Gesichtspunkt der
klassischen Metaphysik, aber auch der der traditionellen praktischen
Philosophie: so wie das Sein als Realität verstanden wird, das die zeit-
liche Dimension des konkreten empirischen Gegenstandes transzendiert,
so wird dem Guten und dem Bösen ein Sein zuerkannt, das unabhängig
von dem jeweiligen Untersuchungszeitpunkt aufgezeigt werden kann.
Eine Sache ist gut oder schlecht, und dies bezieht sich sowohl auf die
Zeit, bevor sie geschieht, als auch auf den Zeitpunkt ihrer Verursachung
oder danach. Andererseits ist das Gute oder Böse einer Sache nicht ab-
hängig davon, wie sie uns als Beobachtern in einem bestimmten Zeit-
punkt erscheint, sondern davon, ob sie an sich tatsächlich gut oder
schlecht ist. Dies ist grob gesagt die klassische Auffassung: eine ab-
strakte, ahistorische, ontologische Betrachtung, die die Gegenstände nicht
von einer konkreten räumlich-zeitlichen Erscheinungsweise aus sieht
und die die Perspektive des Beobachters nicht berücksichtigt.

1 Vgl. Heidegger, Was ist Metaphysik?, 1929; vgl. spanische Übersetzung


von Zubiri, 1963, S. 16.

~2 Festschrift tür H. - H. J escheck


338 Santiago Mir Puig

Auch die Rechtswissenschaft hat diesen Standpunkt einer zeitlosen


Betrachtungsweise geteilt. Die Rechtsnormen sind jedoch nicht abstrakte
Begriffe ohne Leben, sondern soziale Realitäten, die sich zu einer be-
stimmten Zeit und an einem bestimmten Ort ereignen!. Die durch die
Rechtsnormen geregelten Handlungen sind ebenfalls historische Phäno-
mene, die mit den Normen zu einem gegebenen Zeitpunkt in Kontakt
treten. Der Adressat einer Norm erfüllt diese oder verstößt gegen sie
in dem Augenblick, in dem er ihr gemäß oder ihr zuwiderhandelt. Durch
die Normen soll das Verhalten der Bürger und Rechtsanwender geregelt
werden. Um dies zu erreichen, müssen die Normen zu einem Zeitpunkt
vorliegen, der es Bürgern und Rechtsanwendern zeitlich ermöglicht, ihr
Verhalten den vom Gesetz vorgesehenen Normen anzupassen. Dies
würde nicht erreicht, bezögen sie sich auf den Zeitpunkt, in dem sich
die zu regelnden Verhaltensweisen schon ereignet haben. Im Strafrecht
bedeutet dies, daß das Verbot, eine Straftat zu begehen, nur sinnvoll
ist, wenn es vor der Begehung einer Straftat an den Bürger gerichtet
wird (ex ante): würde es sich auf die schon begangene Straftat beziehen
(ex post), käme es zu spät. Und dies bedeutet zuerst, daß sich die Straf-
androhung nicht darauf beschränken kann, die Funktion einer Antwort
auf eine bereits begangene Straftat zu erfüllen, sondern sie muß vom
Bürger zum Zeitpunkt seines HandeIns begriffen werden, wenn die Straf-
androhung auf sein Verhalten einwirken soll. All dies führt zu einer
präventiven Strafrechtsauffassung und zu einer ex-ante-Einstellung der
Deliktstheorie.
Bevor ich auf diese beiden Aspekte näher eingehe, muß ich betonen,
daß die traditionelle Auffassung ganz anders ist. Gemäß der zeitlosen
und von der historischen Perspektive des Beobachters unabhängigen
Auffassung hat die traditionelle Strafrechtswissenschaft das Delikt und
die Strafe als abstrakte Begriffe betrachtet im folgenden Sinne: die
Straftat wurde nicht als ein Verhalten angesehen, das so bewertet wer-
den muß, wie es sich zeitlich dem Beobachter darstellt; auch die Strafe
wurde gewöhnlich nicht explizit aus der Perspektive des Ereignisses in
dem Moment verstanden, in dem der Bürger handelt. Dies hat den Ver-
geltungsgedanken für die Strafe begünstigt, und die Straftat wurde als
Verursachung eines wertwidrigen Zustandes verstanden.

2 Treffend bemerkt Dta Weinberg er in: Die logischen Grundlagen der er-
kenntnistheoretischen Jurisprudenz, Rechtstheorie, 1978, S. 126, daß die sozia-
len Institutionen, darunter das Recht, in der realen Welt existieren, das heißt
räumlich und zeitlich. Die reale Existenz der sozialen Institutionen als Pro-
dukt des menschlichen Geistes und unabhängig von ihren möglichen phy-
sischen Grundlagen gibt auch Popper zu in: EI yo y su cerebro, 1977, S. 44 f.
Vgl. Mir Puig, Sobre la posibilidad y limites de una ciencia social deI Derecho
penal, in: Mir Puig (Hrsg.), Derecho penal y Cienclas sociales, 1982, S. 20.
Die "ex ante"-Betrachtung im Strafrecht 339

11. "Ex ante"-Betrachtung und präventive Strafrechtsauffassung

Keiner der Verfechter des Vergeltungsgedankens wird bestreiten, daß


der Strafe die Aufgabe zukommt, auf das Verhalten oder zumindest auf
das Bewußtsein der Bürger einzuwirken. Nicht einmal Kant wagte die-
ses Extrem in seinem berühmten Beispiel von der Insel aufzuführen,
deren Bevölkerung beschließt, sich für immer aufzulösen. Der deutsche
Philosoph sagt, daß der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher
hingerichtet werden müßte, "damit", so fügt er hinzu, "jedermann das
widerfahre, was seine Taten wert sind"3. Es handelt sich offensichtlich
um eine auf die Zukunft gerichtete Finalität, die über die bloße Antwort
auf die begangene Straftat hinausgeht. Jedoch scheinen die reinen Ver-
treter des Vergeltungsgedankens, wie Kant, diese zeitlich auf die Zu-
kunft gerichtete Dimension nicht wahrzunehmen, die nicht geleugnet
werden kann, ohne daß die strafrechtliche Reaktion absurd erscheint:
ohne zu dem Schluß zu gelangen, daß es bedeuten würde, umsonst zu
bestrafen. Sie bemerken es nicht, weil sie die Vergeltung des Bösen nicht
als eine Handlung sehen, die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt ereig-
net und die zeitlich nur Sinn haben kann, nachdem sie sich gegenüber
bestimmten Beobachtern ereignet hat.
Wenn man nun anerkennt, daß die Strafandrohung nur Sinn hat.
sofern sie bestimmte spätere Auswirkungen im Verhalten oder Bewußt-
sein der Bürger hervorrufen kann, gibt man zu, daß das, was dem Straf-
recht Sinn gibt, die mögliche zukünftige Auswirkung auf diese Bürger
ist. Die Grundlage der reinen Vergeltungstheorie bricht dann zusam-
men. Der nächste Schritt besteht darin, explizit anzuerkennen, daß das
Strafrecht das soziale Leben regeln soll. Es taucht somit die präventive
Funktion des Strafrechts auf: das Strafrecht dient dem Schutz der Ge-
sellschaft durch die Prävention von besonders verletzenden Verhaltens-
weisen, die sich in der Zukunft ereignen können. Zur Steuerung und
Vermeidung von Verhaltensweisen ist die präventive Strafrechtsauf-
fassung am sinnvollsten: dieses Ziel kann nur durch ein vorheriges und
auf die Zukunft gerichtetes Einwirken auf das zu steuernde Verhalten
erreicht werden, das heißt: aufgrund einer "ex ante"-Betrachtung. Weil
die Vergeltung an sich nur auf die Vergangenheit ausgerichtet ist, stellt
sie nur eine "nachträgliche" Antwort auf die bereits begangene Tat dar,
und sie erscheint nicht als ein Mittel zur Steuerung der Verhaltenswei-
sen der Bürger. Sie kann allein danach trachten, die Handlungen der
Richter zu steuern, die sich in der Zukunft mit Straftaten befassen: sie
sollen auf solche Taten mit Strafe antworten. Aber diese Steuerung des
richterlichen HandeIns bedeutet keinerlei Steuerung der Verhaltens-
weisen der Bürger: sie verfolgt weder das Ziel der Vermeidung von
3 Vgl. Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797. S. 455.
340 Santiago Mir Puig

Straftaten noch das des Schutzes der Gesellschaft. Warum wird also die
Strafe verhängt? Man kann zwar antworten: um Zeugnis davon abzu-
legen, daß das Böse bestraft wird - damit aber wird anerkannt, daß
man die Vergeltung nicht als bloß nachträgliche Antwort rechtfertigt,
sondern darum, einen bestimmten nachfolgenden Zweck mit der Strafe
zu erreichen (Zeugnis ablegen). Und fragt man weiter, wozu ein solches
Ziel erreicht werden soll, so lautet die vernünftigste und wahrschein-
lichste Antwort, daß man damit auf das zukünftige Verhalten der Bür-
ger einwirken möchte, um dadurch, daß das Böse seine Strafe erhält,
dessen Verwirklichung zu vermeiden. Auf diese Weise ist man aber
gerade zu einer präventiven Strafrechtsauffassung gelangt.
Das Ergebnis meiner Überlegungen ist damit einsichtig: jegliche Kon-
zeption des Strafrechts, die auf irgendeine Weise das Verhalten der
Bürger zu steuern beabsichtigt, muß auf die Zukunft hin verstanden
werden und nicht nur als Antwort auf die Vergangenheit. Dies ist der
spezifische Bereich der Präventionstheorie.
Dies bedeutet nicht, daß die präventive Funktion des Strafrechts nur
auf diesem Weg begründet werden könnte. Die hier dargelegte Auffas-
sung beruht auf einer für uns Heutige offensichtlich richtigen Wertent-
scheidung, die zu anderen Zeiten fraglich erscheinen könnte: allein die
Notwendigkeit, rechtsgüterverletzende Verhaltensweisen zu steuern und
zu vermeiden, kann das Strafrecht legitimieren. Deshalb wären straf-
rechtliche Eingriffe unzulässig, dienten sie nicht entschieden dazu, die
genannten Verhaltensweisen zu steuern; anders erschiene die Strafe als
ein unnötiges und unnützes Übel. Dies kann mit der Idee des Rechts
im sozialen und demokratischen Rechtsstaat begründet werden, mit der
in der politischen Philosophie vorherrschenden Vorstellung, die die Ver-
fassungen der Länder unseres Kulturbereiches beeinflußt und beherrscht
(zum Beispiel das deutsche Grundgesetz und die spanische Verfassung).
Ein solches Recht findet seine Berechtigung in der Verwirklichung der
Aufgabe des Staates, das soziale Leben aktiv (Sozialstaat) und demokra-
tisch seiner Form und seinem Inhalt nach (demokratischer Rechtsstaat)
umzuwandeln (zu steuern). Im Strafrecht bedeutet dies, die Gesellschaft
durch Prävention (Sozialstaat) zu schützen, die dem Sinn und den Gren-
zen eines demokratischen Rechtsstaates angepaßt ist. Diese Auffassung
habe ich jedoch schon andernorts ausgeführt" und sie stellt nicht das
spezifische Anliegen dieser Arbeit dar. Hier geht es nur darum hervor-
zuheben, daß eine Strafrechts auffassung, die als Ziel die Steuerung der

f Vgl. Mir Puig, Die Funktion der Strafe und die Verbrechenslehre im so-
zialen und demokratischen Rechtsstaat, ZStW 95 (1983), S. 417 f.; ders., Funci6n
de la pena y teoria deI delito en el Estado social y democratico de Derecho,
2. Aufi. 1982, S. 29 f.; ders., Introducci6n a las bases deI Derecho penal, 1976,
S.123 f.
Die "ex ante"-Betrachtung im Strafrecht 341

Verhaltensweisen der Bürger zuläßt, notwendigerweise die zeitliche


Dimension der Zukunft mitumfaßt.

III. "Ex ante"-Betrachtung und Rechtswidrigkeit

1. Betrachtet man die Straftat in ihrer konkreten Zeitlichkeit, so er-


scheint die kausalistische Theorie der Rechtswidrigkeit als eine nach-
trägliche Betrachtung der Tat. Für den Kausalismus ist Ausgangspunkt
der Rechtswidrigkeit der verursachte Erfolg, der aus der Perspektive
eines schon stattgefundenen Augenblicks betrachtet wird. Die rechts-
widrige Tat wird wie eine vergangene Tat angesehen. Deshalb ist das
materielle Wesen der Rechtswidrigkeit für den Kausalismus im wesent-
lichen ein für Rechtsgüter wertwidriger Zustand, der verursacht wurde.
Der Finalismus geht von einer zeitlich entgegengesetzten Perspektive
aus. Er knüpft am subjektiven Moment der geistigen Vorwegnahme des
Zieles, der Finalität, an, welche die Handlung steuert: es ist also der
anfängliche Moment der Handlung entscheidend, nicht der Augenblick
des verursachten Erfolges. Die Betrachtungsweise wird so vorverlegt,
und die Tat wird aus der Sicht der Finalität untersucht, die der äußeren
Verwirklichung vorausgeht.
Die moderne Theorie der objektiven Zurechnung hat auf anderem
Wege auf die Notwendigkeit der ex ante-Betrachtung hingewiesen, um
das Vorliegen des Tatbestandes festzustellen. Darauf machte schon die
Adäquanztheorie aufmerksam, als sie die Adäquanz der Handlung zur
Herbeiführung des Erfolges vom Standpunkt eines einsichtigen Beob-
achters beurteilte, der die Tat in dem Moment betrachtet, in dem der
Täter handelt (ex ante) und mit dem Sonderwissen, das dieser über die
Situation haben kann. Heute wird die Adäquanztheorie nicht als eine
Kausalitätstheorie betrachtet - die nur durch die Theorie der Äquiva-
lenz aller für den Erfolg notwendigen Bedingungen zu bestimmen ist -,
aber doch als eine Theorie, die die objektive Zurechnung des Handlungs-
erfolges zuläßt 5 •

2. Die ex post-Betrachtung des Kausalismus stimmt mit der ex post-


Betrachtung der Vergeltungstheorie überein. Wenn man aber zugibt,
daß dem heutigen Staat die Aufgabe zuteil wird, das soziale Leben zu

5 Vgl. für alle Jescheck, Tratado de Derecho penal, übersetzung und An-
merkungen zum spanischen Recht von Mir PuiglMufioz Conde, 1981, I, S. 386 f.
So auch das Urteil des spanischen Obersten Gerichtshofes vom 20. Mai 1981 in
diesem Sinne, zu dem Luz6n Pefia einen glänzenden Kommentar verfaßte:
Causalidad e imputaci6n objetiva corno categorias distintas dentro deI tipo
de injusto, Actualidad juridica, 1981 (VII), S. 78 f. In Spanien ist die Mono-
graphie von Gimbernat Ordeig grundlegend: Delitos cualificados por el re-
sultado y causalidad, 1966, passim.
342 Santiago Mir Puig

steuern, und daß sein Einschreiten durch das Strafrecht nur legitimiert
wird, wenn es zur Vermeidung deliktischer Verhaltensweisen notwen-
dig ist, dann wird schon deutlich, daß eine Vergeltungstheorie nicht
aufrechterhalten werden kann, die als bloße ex post-Antwort begriffen
wird: vorzuziehen ist eine präventive Theorie, die das Strafrecht als
eine ex ante-Steuerung versteht. Eine konsequente präventive Straf-
rechtsauffassung muß also auch zur Aufgabe des ex post-Gesichtspunk-
tes führen, den der Kausalismus in der Analyse der rechtswidrigen Tat
einnimmt6• Die präventive Strafnorm zielt auf den Moment ab, in dem
die Realisierung der Verhaltensweisen noch vermieden werden kann,
und will dadurch zu dieser Vermeidung motivieren. Deshalb muß das
Urteil über die Rechtswidrigkeit ex ante gefällt werden, also in dem
Augenblick, in dem der Täter zu handeln beginnt. Betrachten wir dies
eingehender.
Wenn in einem sozialen und demokratischen Rechtsstaat das Straf-
recht durch die Notwendigkeit, Straftaten zu vermeiden, legitimiert
wird, so kann dies nur durch eine strafrechtliche Norm angestrebt wer-
den, die die Bürger zu motivieren versucht, keine deliktischen Hand-
lungen zu begehen. Dies bedeutet, daß die Vermeidung sozialschäd-
licher Erfolge nur durch Strafrechtsnormen erreicht werden kann, die
zur Unterlassung von Verhaltensweisen motivieren, welche einen sol-
chen Erfolg herbeiführen können. Das Recht kann nicht verbieten, daß
schädliche Erfolge verursacht werden - es kann nicht verbieten, daß
Menschen sterben oder krank werden! -, sondern nur, daß die Bürger
willentlich sich so verhalten, daß die genannten Erfolge verursacht
werden können7 • Ein Erfolg an sich kann weder gegen Rechtsnormen
verstoßen noch demzufolge rechtswidrig sein - auch wenn dies die
Verletzung eines rechtlich geschützten Gutes bedeutet.
Wenn mit den strafrechtlichen Normen nur die Steuerung mensch-
licher Verhaltensweisen beabsichtigt wird und mit diesen nicht ver-
boten werden kann, daß anderweitig schädliche Erfolge eintreten, so
können diese Normen nur solchen Verhaltensweisen entgegenwirken,
die sich von den durch die Norm vorgeschriebenen unterscheiden. Und
da das Strafrecht eines sozialen Staates sich als eine Gesamtheit von

8 LüdeTssen schreibt: " ... die Vergeltung hat immer an den Erfolg ange-
knüpft." Vgl. Erfolgszurechnung und Kriminalisierung, in: LüdeTssenlSack,
Vom Nutzen und Nachteil der Sozialwissenschaften für das Strafrecht, 1980,
T, S. 28.
7 Annin Kaufmann, Zum Stand der Lehre vom personalen Unrecht, Fest-
schrift für Welzel, 1974, S.393; Dtto, Personales Unrecht, Schuld und Strafe,
ZStW 87 (1975), S. 567; Rudolphi, in: SK, 1975, vor § 1 Anm. 17 und 50; Luz6n
Peria, Aspectos esenciales de la legitima defensa, 1978, S.253; BustoslHonna-
zabal, Significaci6n social y tipicidad, in: Estudios penales y crimino16gicos.
hrsg. von Fernandez AlboT, 1982, S. 35.
Die "ex ante"-Betrachtung im Strafrecht 343

Steuerungsnormen (Präventivnormen) verstehen muß, können nur sol-


che Verhaltensweisen als strafrechtswidrig angesehen werden, die sich
von den durch diese Normen beabsichtigten unterscheiden. Die Rechts-
widrigkeit muß als Normwidrigkeit verstanden werden, das heißt, als
Widerspruch zu der vom Strafrecht erstrebten Steuerungs.
Das strafrechtliche Verbot muß also in dem Augenblick wirksam
sein, in dem sich der Täter dazu anschickt, die Verhaltensweise zu rea-
lisieren, deren Vermeidung das Recht beabsichtigt und der es vorbeu-
gen will. Um festzustellen, ob ein bestimmtes Verhalten durch die
Strafgesetze verboten ist oder nicht, muß es ex ante betrachtet werden,
wenn es noch verhindert werden kann. Man muß also nicht solange zu-
warten, bis die Tat ausgeführt wurde: in einem präventiven Recht muß
die Entscheidung, ob die Tat zu verbieten ist oder nicht, endgültig
getroffen werden, bevor diese sich ereignet hat.

Die Theorie der objektiven Zurechnung fordert also für den Un-
rechtstatbestand der Verletzungsdelikte zu Recht, daß ex ante voraus-
gesehen werden muß, daß die Handlung den Erfolg herbeiführen wird.
Aber diese heute allgemein anerkannte Auffassung findet in der kau-
salistischen Lehre, die die Tat ex post betrachtet, keine ausreichende
Begründung: wenn nach der Verursachung des Erfolges festgestellt
wird, daß dieser durch die Handlung herbeigeführt wurde, wie kann
dann geleugnet werden, daß der Tatbestand, der in der Verursachung
des Erfolges besteht, erfüllt wurde? Der Finalismus kann auf diese
Frage in vielen Fällen eine Antwort geben, indem er den Tatbestand
verneint, wenn der Täter weder vorsätzlich noch fahrlässig handeW.
Was geschieht aber, wenn der Täter mit der Absicht handelte, den
Erfolg durch ein Verhalten zu verursachen, das ex ante nicht so gefähr-
lich erschien, um als "adäquate" Herbeiführung des Erfolges betrachtet
zu werden? Man denke nur an das klassische Beispiel des Neffen, der
seinen Erbonkel während eines Gewitters in den Wald schickt in der
Hoffnung, der Blitz möge ihn treffen.
Die allgemeine Forderung nach einer minimalen Gefährlichkeit ex
ante kann allein damit hinlänglich begründet werden, daß es sinnlos
ist, solche Handlungen zu verbieten, die im Moment ihrer Ausführung
nicht schädlich genug erscheinen. Wie könnte die strafrechtliche Norm
ihren Adressaten verbieten, eine Handlung vorzunehmen, deren Ge-

S Aus der Sicht eines präventiven Strafrechts muß die ausdrückliche For-
mulierung von Mezger, in: Die subjektiven Unrechtselemente, GS 89 (1924),
S. 245 f. - "Unrecht ist Veränderung eines rechtlich gebilligten bzw. Herbei-
führung eines rechtlich mißbilligten Zustandes, nicht rechtlich mißbilligte
Veränderung eines Zustandes" - also umgekehrt werden.
9 Vgl. Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Auf!. 1969, S. 45 f.
344 Santiago Mir Puig

fährlichkeit für das Rechtsgut, dessen Schutz der einzige Grund für
die Strafe darstellt, erst nach deren Durchführung bemerkt werden
kann 10 ?
Wenn der Finalismus viele der Fälle mit anfänglich inadäquatem
verletzendem Verhalten befriedigend lösen kann, so deshalb, weil er
in der Konzeption der Rechtswidrigkeit einen ex ante-Standpunkt ein-
nimmt: der Zweck, den der Täter anstrebte, wird als Ausgangspunkt
des Unrechts aufgefaßt. Wenn er aber die Lösung aller Fälle inadäqua-
ten Verhaltens nicht korrekt begründen kann, dann deshalb, weil er
von einer subjektiven Vorstellung des Unrechtsinhalts ausgeht. Für
den Finalismus liegt der Kern des Unrechts im Unwert der Handlung,
und dieser wiederum ist vor allem der Unwert des subjektiven Aspekts
der Tat, so daß die finalistische Konzeption des Unrechts in jedem Fall
als Theorie des personalen Unrechts erscheintl1 • Einem Strafrecht, das
die liberale Grenze des inneren Bereichs respektieren möchte (damit
also einem Strafrecht in einem demokratischen Rechtsstaat), ist dieser
subjektive Ausgangspunkt nicht adäquat. Ein solches Strafrecht ist nur
dazu legitimiert, externe Verhaltensweisen wegen ihrer potentiellen,
objektiv rechtsgutsbeeinträchtigenden Wirkung zu verbieten und ihnen
vorzubeugen, und zwar nur hinsichtlich jener Rechtsgüter, die dieses
Strafrecht schützen soll. Gegenstand dieses Strafrechts kann es hin-
gegen nicht sein, daß der Täter keine rechtsgutswidrigen "Entschei-
dungen treffe"; diesen inneren Bereich trachtet das Strafrecht nicht
zu steuern, sondern den der Prozesse der sozialen Interaktion. Zwar
richtet sich die strafrechtliche Motivation auf eine Entscheidung des
Adressaten, die notwendigerweise subjektiv ist, keine Straftat begehen
zu wollen; dies soll aber nicht auf einer Entwertung der subjektiven
Entscheidung selbst beruhen, sondern auf dem Zweck, eine externe
schädliche Verhaltensweise zu vermeiden. Der Kern des Unrechts hat
also weder in einem internen Ungehorsamsakt zu bestehen noch in
dem Willen, eine verbotene Handlung zu begehen, sondern in der wil-
lentlichen Verwirklichung des sozialen Verhaltens, dessen Prävention
das Recht beabsichtigt.

10 So schon Engisch, Der Unrechtstatbestand im Strafrecht, Festschrift zum


hundertjährigen Bestehen des deutschen Juristentages, 1960, I, S.419: "Nur
ein Verhalten ... , das ex ante als inkorrekt angesehen wird, kann verboten
werden" (vgl. die spanische übersetzung des Auszuges von Gimbernat Or-
deig, Estudios de Derecho penal, 1976, S. 145, Fn.40, der sich im gleichen Sinne
äußert und die Begründung bestätigt, die er schon in seiner Monographie
(Anm. 5), S. 99 f., gegeben hat). Vgl. auch Mir Puig, Funktion der Strafe, ZStW
95 (1983), S. 436 f.
11 Vgl. Welzel, Das deutsche Strafrecht, S.62 ("Unrecht ist täterbezogenes,
,personales' Unrecht"), obgleich er auch die Relevanz der persönlichen Sonder-
pflichten für den Handlungsunwert zugibt, die durch das Verhalten des Tä-
ters objektiv verletzt werden, und vor allem die Zugehörigkeit der objektiven
Sorgfaltspflicht zum Handlungsunrecht bei den Fahrlässigkeitsdelikten.
Die ..ex ante"-Betrachtung im Strafrecht 345

Bei der Beurteilung der Rechtswidrigkeit muß man also von einer
ex ante-Perspektive ausgehen, die die Tat grundsätzlich objektiv be-
trachtet. Dies verweist auf den Standpunkt der Durchschnittsperson,
die sich geistig in die Lage des Täters in dem Augenblick versetzt, in
dem die Handlung vollzogen wird und die über die Kenntnisse der
Situation verfügt, die jener (der Täter) haben könnte. Dieses Krite-
rium der Adäquanztheorie wird so von einer schwerlich in die dog-
matischen Kategorien passenden Einschränkung zu einem Standpunkt,
der generell zur Beurteilung der Rechtswidrigkeit einer Tat einzuneh-
men ist. Die Handlung ist dann verboten, wenn sie sich der Durch-
schnittsperson ex ante so darstellt, daß sie die mit dieser Handlung
typischerweise verbundene Verletzung oder Gefährdung verursachen
kann, wobei die Kenntnisse zu berücksichtigen sind, die der Täter bei
der Handlung hatte.

3. Welche Rolle spielen also Erfolg und Vorsatz?


a) Der Erfolg kann nur ex post festgestellt werden, wenn er nicht mehr
zu vermeiden ist. Aus der Sicht einer präventiven Norm, die bewirken
soll, daß gefährliche oder verletzende Verhaltensweisen vermieden wer-
den, bedeutet dies, daß der Erfolg nicht nach seiner Feststellung verboten
werden kann: ist er einmal eingetreten, kann er nicht mehr vermieden
werden. Es darf aber auch nicht zugelassen werden, daß der Erfolg bei
den Verletzungsdelikten den Bereich der verbotenen rechtswidrigen Ver-
haltensweisen in der Weise einschränkt, daß nur die gefährlichen Ver-
haltensweisen verboten werden, die tatsächlich zur eingetretenen Ver-
letzung führten. Man kann nicht bloß solche erfolgsverursachende
Handlungsweisen verbieten, um die man erst nach ihrer Vornahme
weiß. Will man verletzende Verhaltensweisen verbieten, um sie zu
vermeiden, gibt es kein anderes Mittel, als alle Handlungen zu ver-
bieten, die ex ante als möglicherweise verletzend erscheinen, denn
ex ante besteht dann kein feststellbarer Unterschied bei ihnen.
Das Unrecht (das Verbotene) kann folglich nicht von der Verur-
sachung des Erfolges abhängig gemacht werden, ohne daß das Verbot
für den Adressaten unerreichbar würde. Es stimmt jedoch, daß die
Forderung nach der Verursachung eines Erfolges wichtige kriminal-
politische Funktionen erfüllt. Es geht nicht darum, die Notwendigkeit
des Erfolges zu verneinen bzw. seine Bedeutung zu verringern, viel-
mehr muß dieses Element einen systematischen Ort finden, der sich
vom Unrecht unterscheidet. Der Erfolg muß als ein Element betrachtet
werden, das die Strafbarkeit einer Tat aus Gründen der Rechtssicher-
heit, dem Fehlen der Strafnotwendigkeit, etc. bedingt oder begrenzt12 •
12 Vgl. näher Mir Puig, Funci6n (Anm.4), S. 65 f. Vgl. auch im Ergebnis
ebenso Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, 1973, S. 6,
346 Santiago Mir Puig

b) Auch wenn die Rechtswidrigkeit objektiv nach der Verletzungs-


oder Gefährdungsfähigkeit eines Verhaltens ex ante zu berücksichtigen
ist, muß zugegeben werden, daß die vorsätzlichen Delikte einen schwer-
wiegenderen Unrechtsinhalt besitzen als die fahrlässigen Delikte -
Vorsatz und Fahrlässigkeit sind folglich nicht Formen der Schuld. Dies
ist auf zwei verschiedene Gründe zurückzuführen.
aal Einerseits kann der Vorsatz die objektive Gefährlichkeit eines
Verhaltens verstärken. Ein präventives Strafrecht muß diejenigen Ver-
haltensweisen rigoroser verbieten, die es wegen ihrer besonderen Ge-
fährlichkeit ex ante vermeiden will, und dies sind vor allem diejenigen,
die auf die vorsätzliche Verletzung von Rechtsgütern gerichtet sind.
Der vorsätzliche Versuch der Verletzung bedeutet im allgemeinen
ex ante eine größere Gefahr für das konkret betroffene Rechtsgut als
eine fahrlässige Verhaltensweise, die die Verletzung jedoch vermeiden
möchte.
bb) Andererseits kann der Mechanismus der strafrechtlichen Moti-
vation nicht mit der gleichen Strenge gegenüber derjenigen Person
eingesetzt werden, die bemerkt, daß ihre Handlungsweise auf die Ver-
letzung eines Rechtsgutes gerichtet ist (direkter Vorsatz), oder die zu-
gibt, daß eine Verletzung wahrscheinlich ist (bedingter Vorsatz), wie
gegenüber denjenigen Personen, die sich der Gefährlichkeit ihrer
Handlungsweise entweder überhaupt nicht bewußt sind (unbewußte
Fahrlässigkeit) oder die, obgleich sie sich dessen bewußt sind, in ihrem
Falle eine Verletzung nicht für wahrscheinlich halten (bewußte Fahr-
lässigkeit). Im ersten Fall (Vorsatz) muß das Recht versuchen, daß die
gefährliche Verhaltensweise vermieden wird, und zwar in dem Um-
fang, den die objektive Gefährlichkeit erfordert (ex ante), denn die
Strafandrohung richtet sich an ein Individuum, das diese Gefahr voll
erkennt. Im zweiten Falle hingegen (Fahrlässigkeit) kann sich die
Rechtsnorm nur an ein Individuum richten, das die objektive Gefähr-
lichkeit (ex ante) seiner Handlung für das Rechtsgut nicht bemerkt
oder das es nicht für wahrscheinlich hält, daß sich in seinem Falle eine
Verletzung ereignen wird. Und da sich das strafrechtliche Verbot, will
es erfolgreich sein, auf Taten beziehen muß, die dem Adressaten be-
kannt sind, können nur die gefährlichen Verhaltensweisen verboten
werden in dem Maße, wie dieser Adressat über Kenntnisse der Situa-
tion verfügt.

128 ff., 200 ff.; Armin Kaufmann, Festschrift für Welzel, 1974, S. 399 ff., 403,
411; SchajJstein, Handlungsunwert, Erfolgsunwert und Rechtfertigung bei den
Fahrlässigkeitsdelikten, Festschrift für Welze!, S. 561 ff.; Horn, Konkrete Ge-
fährdungsdelikte, 1973, S. 78 ff.; Dito, ZStW 87 (1975), S.567; Lüderssen, Er-
fo!gszurechnung (Anm. 6), S. 14 ff.
Die "ex ante"-Betrachtung im Strafrecht 347

IV. "Ex ante"-Betrachtung und "Andershandelnkönnen"

Wir gelangen somit an einen äußerst wichtigen Punkt der Delikts-


theorie, der jedoch nicht zufriedenstellend mit der traditionellen
ex post-Betrachtung gelöst werden kann. Ich beziehe mich auf die
Frage des "Andershandelnkönnens" , das sich seinerseits in so wich-
tigen Aspekten wie der unbewußten Fahrlässigkeit, dem Verbotsirr-
tum und vor allem der materiellen Begründung der Schuld widerspie-
gelt. Ich gehe zunächst auf die unbewußte Fahrlässigkeit ein.
1. Die Bestrafung der unbewußten Fahrlässigkeit wird gewöhnlich
mit der Behauptung begründet, der Täter, der die Gefahr nicht be-
merkt hat, hätte diese bemerken können. Ex post wurde aber lediglich
festgestellt, daß der Täter die Gefahr nicht erkannt hatte. Die Behaup-
tung, daß das Individuum trotzdem, auch wenn sich dieselben Um-
stände wiederholt hätten, die wir ex post kennen, die Gefahr hätte
bemerken können, ist nur zulässig auf der Grundlage des Glaubens
an das nicht beweisbare philosophische Postulat der Willensfreiheit.
Wenn wir unten die Begründung der Schuld untersuchen, erklären
wir, warum im Strafrecht nicht vom freien Willen ausgegangen wer-
den kann. Wie kann man also die Strafbarkeit der unbewußten Fahr-
lässigkeit begründen?
Von der ex post-Betrachtung gehen wir zu der ex ante-Betrachtung
über. Es ist dann viel leichter, die Bestrafung der unbewußten Fahr-
lässigkeit zu rechtfertigen. Ex ante ist es sehr sinnvoll, an die Bürger
das Gebot zu richten, die Gefährlichkeit der von ihnen zu verwirk-
lichenden Handlungen wahrzunehmen - ein Gebot, das Binding die
"Vorprüfungspflicht" , auch die "innere Sorgfaltspflicht" genannt hat 13 •
Es geht nicht um die Frage, ob der Täter die Gefahr bemerken konnte -
eine nicht beweisbar zu beantwortende Frage - , sondern darum, ob
ex ante die Durchschnittsperson in der Lage des Täters die Gefahr
bemerkt hätte. Ist die Antwort positiv, gibt es ex ante keinen Grund,
dem Individuum die Vorprüfungspflicht nicht aufzuerlegen. In der
Mehrheit der Fälle ist dieses Gebot wirksam, und viele gefährliche
Handlungen werden dadurch vermieden. Wird der Adressat durch die-
ses Gebot nicht motiviert und kümmert er sich nicht um die Wahr-
nehmung der Gefahr, so muß die dadurch herbeigeführte Verletzung
als rechtswidrig angesehen und gegebenenfalls - falls bei dem Täter
eine normale normative Ansprechbarkeit (s. unter 3) vorliegt - als
schuldhaft bestraft werden: denn allein dadurch wird die Ernsthaf-
tigkeit der Strafandrohung bestätigt, die die innere Sorgfaltspflicht
stützt. Der Determinist wird sagen, so, wie sich die Tat ereignete und

13 Vgl. Jescheck, Tratado (Anm. 5), II, S. 797.


348 Santiago Mir Puig

unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Täters ex post fest-


gestellt wurde, konnte die Gefahr nicht wahrgenommen werden. J e-
doch stimmen sowohl der Determinist als auch der Verfechter der
Willensfreiheit darin überein, daß die Strafandrohung ihren Sinn
gegenüber der Gemeinschaft verlieren würde, würde sie nicht dem-
jenigen gegenüber ausgesprochen, der die ex ante bestehende innere
Sorgfaltspflicht verletzte. Anders würde die motivierende Wirksamkeit
der Strafdrohung gegenüber der großen Mehrheit der Bürger, die der
Vorprüfungspflicht nachkommen, völlig verlorengehen. Auch gegen-
über dem unbewußt fahrlässig handelnden Täter würde die Norm in
der Zukunft keinen motivierenden Einfluß mehr haben.
Kurz gesagt: Will man die Strafe für die unbewußte Fahrlässigkeit
als nachträgliche Vergeltung der Tat begründen, so stößt man auf die
Schwierigkeit, daß nicht bewiesen werden kann, ob der Täter die Ge-
fahr hätte bemerken können. Es ist hingegen aus der Sicht der Not-
wendigkeit völlig logisch, gefährliche Taten ex ante zu verhindern und
das Gebot, die Gefahr wahrzunehmen, immer dann auszusprechen,
wenn die Durchschnittsperson sie ex ante wahrnehmen würde, und
ebenso ist es aus dieser Sicht durchaus logisch, die Ernsthaftigkeit der
Strafandrohung zu bekräftigen, indem gegebenenfalls - bei einer
normalen normativen Ansprechbarkeit - die Nichtbefolgung dieser
Pflicht bestraft wird 14 •
2. Eine weitere Problematik wirft der Verbotsirrtum auf, wenn also
dem Täter die Rechtswidrigkeit der Tat nicht bekannt ist. Nach der
herrschenden Doktrin zieht nur der unvermeidbare Verbotsirrtum
Straflosigkeit nach sich. Der vermeidbare Verbotsirrtum hat entweder
Strafe wegen Fahrlässigkeit (Vorsatz-Theorie) zur Folge oder die Mög-
lichkeit der Schuldminderung (Schuldtheorie). Diese Art der Bestrafung
des vermeidbaren Verbotsirrtums stößt jedoch eindeutig auf ähnliche
Schwierigkeiten wie die traditionelle Begründung der unbewußten
Fahrlässigkeit. Das Individuum nahm das Verbot nicht wahr, und es
ist nicht beweisbar, ob es dieses hätte wahrnehmen können. Zwei 1969
zu diesem Thema erschienene Monographien stimmen seltsamerweise
darin überein, die Schwierigkeiten einer derart begründeten Strafe
im Falle des vermeidbaren Verbotsirrtums hervorzuheben. Das Pro-
blem kann z. B. dann entstehen, wenn der Täter nicht einmal den
geringsten Zweifel an der Zulässigkeit der Tat hat und überhaupt nicht
daran denkt, daß sie verboten sein könnte. Wie kann er es dann für
notwendig erachten, sich entsprechend zu informieren? Damit erscheint

14 Roxin verweist auf die Unmöglichkeit, die unbewußte Fahrlässigkeit


aus einer Sicht zu verstehen, die die "präventiven Bedürfnisse" nicht berück-
sichtigt, in: Roxin, Culpabilidad y prevenci6n en Derecho penal, übersetzt von
Muiioz Conde, 1981, S. 169, Fn. 53.
Die "ex ante"-Betrachtung im Strafrecht 349

die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums selbst in dem Moment fraglich,


in dem er schon vorliegt, und dies würde entweder zur Unmöglichkeit
einer Bestrafung bzw. einer Auferlegung von Maßregeln der Besse-
rung und Sicherung führen 15 oder aber dazu, die Strafe mit der Fahr-
lässigkeit wegen eines Verstoßes gegen eine spezielle Pflicht zur Er-
kenntnis des Verbots zu begründen16 • Nach Stratenwerth weist a11 dies
eindeutig darauf hin, daß die kriminal politische Effizienz des Straf-
rechts ernsthaft in Gefahr wäre, hinge die Schuld tatsächlich von der
individuellen Freiheit ab, sich gemäß der Norm zu verhalten17 •
Die ex ante-Betrachtung von verletzenden oder gefährlichen Verhal-
tensweisen in einem Strafrecht der Prävention wirft wiederum ein
neu es Licht auf das Problem, wodurch wir es mit größerer Klarheit
betrachten können. Es ist möglich, daß ex post ernsthaft gezweifelt
werden muß, ob aufgrund des Verlaufes der Ereignisse derjenige, der
im Verbotsirrtum handelte, tatsächlich seinen Irrtum hätte vermeiden
können. Der Determinismus wird behaupten, eine solche Möglichkeit
habe nicht bestanden. Es ist andererseits offensichtlich, daß ein Straf-
recht, das seine Adressaten zur Deliktsvermeidung motivieren möchte,
ihnen gegenüber das Gebot aussprechen muß, sich zu informieren und
das strafrechtliche Verbot immer dann wahrzunehmen, wenn ex ante
nicht Umstände vorliegen, in denen die Durchschnittsperson auch einem
Verbotsirrtum unterliegen würde. Ein solches Gebot ist in den meisten
Fällen wirksam, und allein dadurch wird sein Vorhandensein gerecht-
fertigt. Bleibt es unwirksam und erkennt das Individuum das Verbot
nicht, so kann dieser Irrtum ex post immer als unvermeidbar erschei-
nen; trotzdem aber muß die Strafandrohung aufrechterhalten werden,
damit sie die vorausgegangene gesetzliche Androhung bestätigt und
ihren Willen, sich in der Zukunft gegenüber den späteren Handlungen
des Individuums und der übrigen Bürger zu behaupten. Das stünde
sicherlich in Gegensatz zur Logik der auf die Vergangenheit gerich-
teten Vergeltung, aber aus der Sicht einer General- und Spezialprä-
vention mit Blick auf die Zukunft ist sie durchaus notwendig l8 •
15 So Horn, Verbotsirrtum und Vorwerfbarkeit, 1969, S. 150 f.
16 So Rudolphi, Unrechtsbewußtsein, Verbotsirrtum und Vermeidbarkeit
des Verbotsirrtums, 1969, S. 254 f., 279 f.
17 Vgl. Stratenwerth, EI futuro deI principio juridico-penal de culpabilidad,
spanische Fassung von Bacigalupo unter Mitarbeit von Zugaldia, 1980, S. 10I.
18 Gegenüber den Bemühungen eines Teils der Lehre (so Rudolphi), die
Bestrafung der in vermeidbarem Irrtum ausgeführten Tat mit der Schuld
wegen des Verhaltens zu begründen, schreibt Stratenwerth (Anm. 17), S. 123
" ... muß man sich fragen, ob nicht zu untersuchen wäre, bis zu welchem Punkt
die Regeln, die heute aus dem Blickwinkel der Schuld wegen der Lebens-
weise diskutiert werden, nicht einen Sinn haben könnten, wenn man sie auf
die Generalprävention stützt." Nach Ansicht dieses Autors wird die zuvor
angeführte Unterscheidung von Rudolphi, nach der nur der Verbotsirrtum bei
speziellen Normen zu bestrafen ist und nicht der auf allgemeine Normen be-
350 Santiago Mir Puig

3. Die materielle Begründung der Schuld kann von dem umstritte-


nen Gedanken des "Andershandelnkönnens" getrennt werden, wenn
man von der ex ante-Betrachtung ausgeht, die jedenfalls in einem
Strafrecht möglich und notwendig ist, welches der Deliktsbegehung
vorbeugen will. Diese Trennung ist auch äußerst angebracht: begrün-
det man die Schuld der Tat damit, der Täter habe das Unrecht der Tat
vermeiden können, so bedeutet dies, die Strafe auf die Hypothese der
Willensfreiheit zu gründen. Ich werde zuerst kurz erörtern, warum
eine solche Begründung der Schuld vermieden werden muß.
a) Die Begründung des "Andershandelnkönnens" darf der nicht zulas-
sen, der der Auffassung ist, der Begriff des freien Willens sei deshalb
wissenschaftlich nicht verwendbar, weil er eine nicht beweisbare meta-
physische Annahme beinhalte und deshalb zur Legitimierung der straf-
rechtlichen Verantwortlichkeit nicht verwendet werden könne. Aus
dieser Sicht würde ein auf dem Dogma der Willensfreiheit beruhendes
Strafrecht einem Gebäude gleichen, das sich auf die zerbrechlichen
Fundamente einer nicht nachweisbaren Hypothese stützt. Andererseits
hat auch derjenige, der die Willensfreiheit bejaht, nicht notwendiger-
weise zugegeben, daß es allen denjenigen, die ohne Schuld unrecht-
mäßig handeln, an der Willensfreiheit mangele. Hiermit möchte ich
den zuerst aufgeführten Einwand untersuchen 19 •
Es wird allgemein zugegeben, daß die Existenz des freien Willens -
im allgemeinen und selbstverständlich im konkreten Fall - eine wis-
senschaftlich nicht nachweisbare Position darstelIt2°. Das einzige Ver-
fahren zum Beweis, ob eine bestimmte Entscheidung "frei" in dem
Sinne gewesen ist, daß das Individuum stattdessen eine andere Ent-
scheidung hätte treffen können, bestünde darin, mehrmals die gleichen
Bedingungen zu wiederholen, unter denen sie getroffen wurde und zu

zogene, von Rudalphi durch eine im wesentlichen kriminalpolitische (präven-


tive) Auffassung begründet, wenn er die Strafe für die erste Verbotskategorie
(gegen spezielle Normen) darauf stützt, daß "die Erfüllung dieser Normen
anderweitig nicht garantiert werden könnte"; vgl. Stratenwerth (Anm. 17),
S. 123, Fn. 98.
19 Zum zweiten Einwand siehe Mir Puig, Fundamento de la irresponsabili-
dad penal dee inimputable, Psicopatologia 1982, 158.
20 In diesem Sinne unter vielen anderen Danner, Gibt es einen freien
Willen?, 3. Aufl. 1974, passim; Engisch, Die Lehre von der Willensfreiheit in der
strafrechtsphilosophischen Doktrin der Gegenwart, 2. Aufl. passim und S. 24 f.;
Gimbernat Ordeig, Tiene un futoro la dogm:Hica juridico-penal?, in: Estudios
de Derecho penal, S. 109; Raxin, Schuld und Verantwortlichkeit als strafrecht-
liche Systemkategorien, Festschrift für Henkel, 1974, S. 185 f. übers. und
Anm. von Luz6n Pena, in: Raxin, Problemas basicos de Derecho penal, 1976,
und Raxin, Culpabilidad y prevenci6n en Derecho penal, 1981, S. 62 und Fn. 21;
van Liszt, Aufsätze und Vorträge, H, 1905, S. 38 f.; Munaz Cande im Vorwort
seiner spanischen Übersetzung von Roxin, Culpabilidad y prevenci6n en De-
recho penal, S. 23.
Die "ex ante"-Betrachtung im Strafrecht 351

beobachten, ob sich die gleiche Entscheidung in allen Fällen wiederholt


oder nicht. Ein solches Experiment ist unmöglich, weil man nicht exakt
die gleichen in der Vergangenheit herrschenden Bedingungen repro-
duzieren kann. In jedem Fall würde immer ein Faktor anders sein:
die zurückliegende Zeit würde in dem Individuum eine Akkumulie-
rung der Erinnerungen und eine Reihe physischer Veränderungen her-
beiführen, die ihn bei jeder neuen Entscheidung mit anderen Bedin-
gungen konfrontieren würde.
Dies kann nicht geleugnet werden. Aber diejenigen, welche die straf-
rechtliche Verantwortlichkeit auf die Willensfreiheit gründen wollen,
erwidern bisweilen, dieses Konzept sei so wenig nachweisbar wie die
Behauptung seiner Nichtexistenz. Danach wäre der Determinismus, das
heißt die Lehre, die die Willensfreiheit leugnet, nicht weniger meta-
physisch als der Indeterminismus. Diesem Einwand zur Verteidigung
der klassischen Auffassung kann auf folgende Weise begegnet werden:
Erstens: Lehnt man die Willensfreiheit als eine wissenschaftliche
Begründung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ab, so bedeutet
das nicht, diese Verantwortlichkeit mit dem Determinismus zu begrün-
den, also mit der Nichtexistenz der Willensfreiheit. Man kann durch-
aus die die Strafbarkeit legitimierende Wirkung des freien Willens
ablehnen und die Begründung der Strafe in etwas anderem als dem
Dilemma FreiheitlDeterminismus suchen. Tatsächlich begründen die
Deterministen das Strafrecht gewöhnlich nicht mit der Abwesenheit
der Willensfreiheit, sondern mit etwas ganz anderem, wie zum Bei-
spiel der sozialen Notwendigkeit der Strafe.
Zweitens: Auch wenn man zugibt, daß wissenschaftlich nicht bewie-
sen werden kann, daß der Mensch dem Kausalitätsprinzip unterworfen
ist, so ist doch richtig, daß diese Annahme wissenschaftlich vernünf-
tiger erscheint als deren Ablehnung. Warum sollte der Mensch eine
Ausnahme des Prinzips sein, das die makroskopische Welt regiert,
demzufolge jede Tat einer Ursache entspricht? Wer den Menschen als
ein mit einer immateriellen Seele ausgestattetes Wesen betrachtet,
kann darin einen Grund für die Behauptung finden, daß sich der
Mensch jenseits der kausalen Beziehungen der materiellen Welt be-
findet. Die Wissenschaft kann aber nicht von einem Glauben ausgehen,
der sich jenseits des sinnlich Wahrnehmbaren befindet21 • Und aus dieser
Sicht erscheint der Mensch als eine materielle Realität, deren grund-
legende Elemente an der Natur der physischen Welt teilhaben. Aus

21 Schöreher, Zum Streit um die Willensfreiheit, ZStW 77 (1965), S.242,


zit. von Gimbernat Ordeig, in: Estudios (Anm.20), S. 109, Fn.15: "Zugunsten
der freien Selbstbestimmung gibt es keinen schlüssigen Beweis. Im Gegen-
teil, alle naturwissenschaftlichen Erfahrungen, einschließlich der der Psycho-
logie und Tiefenpsychologie, sprechen dagegen."
352 Santiago Mir Puig

dieser wissenschaftlichen Perspektive erscheint es also am vernünftig-


sten, von der Hypothese auszugehen, daß auch das Verhalten des Men-
schen Ursachen entspricht. Dies bedeutet jedoch nicht, daß es vernünf-
tig wäre, einen mechanischen Determinismus zuzulassen, der die offen-
sichtliche Kraft der kulturellen Faktoren bei den menschlichen Ent-
scheidungen nicht anerkennt. Der Mensch wird durch seine intellek-
tuellen Vorstellungen beeinflußt, die er zum großen Teil über die Spra-
che erwirbt. Nicht nur die Instinkte oder das biologische Funktionieren
des Menschen bestimmen seine Entscheidungen, sondern auch die sozia-
len, moralischen und rechtlichen Gewohnheiten und Normen. Nicolai
Hartmann weist mit Recht darauf hin, daß dem Menschen eine Art
spezifischer, nicht naturalistischer, sondern dem Sollen entsprechender
Determinierung innewohnt22 • Dies bedeutet aber nicht, daß die Ent-
scheidung des Menschen nic.l}t durch Ursachen zu erklären wäre, es
bedeutet nicht, daß sie nicht determiniert ist, da auch die kulturellen
Motive Ursachen darstellen, die dazu beitragen, diese Entscheidungen
zu bestimmen. Es ist richtig, daß die kulturellen Motive nicht bei jedem
Menschen die gleiche Wirkung ausüben und daß z. B. moralische Nor-
men nicht immer bei allen Individuen wirksam sind. Dies kann aber
vollkommen mit der andersartigen Persönlichkeit und der Umwelt
erklärt werden, die jedem Individuum zu eigen sind. Es gibt keine
identischen Personen, und ein und derselbe Mensch befindet sich nicht
zweimal in genau denselben Umständen (vgl. das zuvor über die Akku-
mulierung von Erinnerungen im Laufe der Zeit Gesagte). Die bis-
herigen Ausführungen reichen aus, um zu zeigen, daß die Willensfrei-
heit keine wissenschaftlich zulässige Grundlage darstellt, mit der die
Schuld begründet werden könnte. Ich verweise auf die überlegungen,
die ich in diesem Sinne andernorts angestellt habe 23 •
b) Wenn man nicht zugibt, daß der Täter einer rechtswidrigen Tat
diese aufgrund des konkreten Verlaufs der Ereignisse, die ex post fest-
gestellt werden, hätte vermeiden können (oder nicht zugibt, daß dies
bewiesen werden kann), so ist es nicht zulässig, die Schuld als einen
wegen der getroffenen Entscheidung auf die Vergangenheit gerichteten
Vorwurf zu verstehen. Mit der ex ante-Betrachtung hingegen ist es
durchaus vereinbar, daß sich die Strafandrohung an alle diejenigen
richtet, von denen apriori erwartet werden kann, daß sie durch die
Strafe normal motiviert werden können. Die Erfahrung zeigt, daß in
bestimmten persönlichen oder umweltbedingten Situationen eine nor-
mal motivierende Wirkung der Strafe nicht erwartet werden darf, so
22 Vgl. Hartmann, Ethik, 4. Aufl., 1962, S.766, der die Sollensgesetzlichkeit
der Naturgesetzlichkeit gegenüberstellt. Man lese aber meine Einwände dazu
in Mir Puig, ZStW 95 (1983), S. 450 Fn. 90.
23 Vgl. Mir Puig, ZStW 95 (1983), S. 450 f.; ders., Fundamento (Anm.19),
Psicopatologia 1982, 158.
Die "ex ante"-Betrachtung im Strafrecht 353

in den Fällen von Geisteskrankheit, vorübergehender Bewußtseins-


störung, Strafunmündigkeit und bei Vorliegen sonstiger Entschuldi-
gungsgründe. Angesichts der bewiesenen geringeren Möglichkeiten, die
der Täter dann besitzt, von der strafrechtlichen Norm angesprochen
zu werden, wäre es ungerecht, die "Drohung", die die Strafnorm für
diejenigen bedeutet, die sich in einer normalen Motivationssituation
befinden, weiterhin auch an diese normal eben nicht motivierbaren
Täter zu richten. Bei denjenigen, die sich in einer normalen Motiva-
tionssituation befinden, gibt es jedoch keinen Grund, ex ante anzuneh-
men, daß sie nicht normal durch die Norm motiviert werden könnten.
Dies bedeutet selbstverständlich nicht, man könne mit der Strafandro-
hung mit Sicherheit verhindern, daß das Individuum eine Straftat be-
geht. Es bedeutet nur, daß im Moment der Entscheidung normale Be-
dingungen vorliegen, die erwarten lassen, daß die Strafandrohung von
dem Adressaten unter den normalen Bedingungen, die als ausreichend
betrachtet werden, berücksichtigt werden kann.
Dieser Gedankengang verbindet die Begründung der Schuld auch
mit der Funktion der Prävention von Delikten, die dem Strafrecht zu-
kommt, und unterwirft sie der Grenze der realen Gleichheit vor dem
Gesetz, die ein demokratischer Staat respektieren muß.
Die Notwendigkeit der Prävention zum Schutz der Gesellschaft er-
möglicht es, die Strafandrohung an alle Bürger zu richten, die sich
in einer normalen Motivationssituation befinden und die ex ante er-
warten läßt, daß diese Androhung einen bestimmten Grad an Wirk-
samkeit erzielt. Wenn die Strafandrohung ihr Ziel nicht erreicht und
eine Straftat begangen wird, muß die Strafe auferlegt werden, um
der Gemeinschaft die Ernsthaftigkeit der Androhung zu zeigen (Gene-
ralprävention) und auch in bezug auf das künftige Leben des Delin-
quenten (spezielle Prävention). Dies muß unabhängig davon geschehen,
ob zugegeben wird oder nicht, daß das Individuum anders hätte han-
deln können, denn es geht nicht mehr darum, ihm ex post seine ver-
gangene Entscheidung vorzuwerfen, sondern nur darum, die präven-
tive Strafandrohung im Hinblick auf die Zukunft aufrechtzuerhalten
und zu bestätigen24 •
Diese Notwendigkeit der Prävention muß aber die demokratische
Grenze der realen Gleichheit vor dem Gesetz berücksichtigen. Diese
Grenze verbietet es, diejenigen. deren normale Motivierbarkeit aus-
geschlossen ist, ebenso zu behandeln wie diejenigen Täter, die normal

24 Vgl. KTÜmpelmann, Die Neugestaltung der Vorschriften über die Schuld-


fähigkeit, ZStW 88 (1976), S. 32 f. Der Strafvorwurf darf nicht das Urteil be-
deuten, daß das Individuum besser hätte handeln können, sondern muß als
ein Mittel zum Zweck gesehen werden, nämlich "Verantwortungsappelle an
die Allgemeinheit zu entsenden".

23 Festschrift für H.-H. Jescheck


354 Santiago Mir Puig

handeln. Der Schuldunfähige besitzt ex ante eine geringere Fähigkeit,


das normative Gebot zu erfüllen: würde trotzdem die für normal han-
delnde Menschen vorgesehene Strafe auch ihm geIten und auferlegt
werden, so würde dies eine ungleich härtere Behandlung bedeuten.
Diese Grenze ist notwendig, um den Verzicht auf die Strafandrohung
gegenüber Schuldunfähigen zu begründen, denn der Gedanke der Prä-
ventionsnotwendigkeit allein reicht nicht aus, um einen solchen Ver-
zicht zu rechtfertigen. Er würde ausreichen, wenn, wie ein Teil der
Lehre behauptet25 , die Schuldunfähigen überhaupt nicht durch die
Strafnorm zu motivieren wären. In einem solchen Falle wäre es nutz-
los und folglich unnötig, die Strafandrohung auf sie anzuwenden. Diese
Auffassung könnte auch mit der ex ante-Betrachtung gerechtfertigt
werden, die für ein präventives Strafrecht angemessen ist26 • Meiner
Meinung nach kann man jedoch ex ante nicht sagen, daß die Schuld-
unfähigen überhaupt nicht durch die Norm motiviert werden können,
sondern nur, daß sie nicht normal motivierbar sind. So zeigt die Er-
fahrung, daß die Mehrheit der Unzurechnungsfähigen keine Straftaten
begeht - man denke insbesondere an die Minderjährigen in einem
bestimmten AIter27 , was als Beweis dafür angesehen werden kann, daß
die Rechtsnormen in gewisser Weise doch einen Eindruck auf sie
machen. Andererseits verlieren diejenigen, die in einer Situation der
Unzumutbarkeit handeln (in einer Situation der sogenannten "Ent-
schuldigungsgründe"), nicht notwendigerweise ihre Fähigkeit, der
Strafandrohung nachzukommen, wie dies nicht nur die Möglichkeit
heroischer Taten beweist, sondern auch die Tatsache, daß in bestimmten
Fällen (Feuerwehr, Militär, etc.) das Gesetz ein höheres Maß der Zu-
mutbarkeit festlegt 28 • All dies ist darauf zurückzuführen, daß im Unter-
schied zum Fehlen einer eigenen Handlung dem Schuldunfähigen nicht
jegliche Möglichkeit fehlt, mit der Norm in intellektuellen Kontakt zu
treten, und die Norm, soweit der Schuldlose bewußt handeIt 29, dessen

25 So Noll, Schuld und Prävention unter dem Gesichtspunkt der Rationali-


sierung des Strafrechts, Festschrift für H. Mayer, 1966, S.223, 225, 233; Gim-
bernat Ordeig, Estudios (Anm.20), S. 104 f., 162 f.; Roxin, Zur jüngsten Dis-
kussion über Schuld, Prävention und Verantwortlichkeit im Strafrecht, Fest-
schrift für Bockelmann, 1979, S. 298 f. (= Culpabilidad y prevenci6n, S. 172 f.).
26 Auf diese ex ante-Betrachtung bezieht sich Gimbernat Ordeig teilweise
ausdrücklich, in: Estudios (Anm. 20), S. 148.
27 Vgl. in diesem Sinne Jescheck, Tratado, I (Anm. 5), S. 320.

28 Vgl. Roxin, Festschrift für Bockelmann, S. 283 f. (= Culpabilidad y pre-


venci6n, S. 152 f.).
29 Über die komplexe dogmatische Natur der Geisteskrankheit, Oligophre-
nie, Strafmündigkeit etc., die nicht nur die Schuld ausschließen könnte, son-
dern auch die Handlung selbst oder den Unrechtstatbestand, je nach Intensität
und Auswirkung auf das Individuum (so fehlt die eigentliche Handlung, wenn
bei dem Individuum Bewußtlosigkeit eintritt), vgl. Mir Puig, Funci6n (Anm. 4),
S. 71 Fn. 103; ders., ZStW 95 (1983), S. 453 Fn. 99.
Die "ex ante"-Betrachtung im Strafrecht 355

Motivationsprozeß beeinflussen kann. Wenn dies geschieht, kann die


Strafandrohung indessen die motivierende Intensität, die sie normaler-
weise besitzt, nicht entfalten30 •

c) Auch wenn sowohl das Unrecht als auch die Schuld von einem
ex ante-Standpunkt aus begründet werden müssen, muß doch auf einen
Unterschied hingewiesen werden. Der Charakter einer Tat als verboten
oder nicht verboten muß je nach dem bestimmt werden, wie sie sich
einer Durchschnittsperson ex ante in ihrer verletzenden Fähigkeit oder
in ihrer Gefährlichkeit darstellt. Demzufolge schließt der unvermeid-
bare Irrtum das Unrecht aus. Demgegenüber ist die normale Motivier-
barkeit, die die Schuld bedingt, auch wenn sie ex ante vorliegen muß,
zu bejahen, wenn der Täter mit einer (auch für die Durchschnittsper-
son) unvermeidbaren Unkenntnis seiner normalen Motivierbarkeit han-
delt (der Täter glaubte z. B. geisteskrank zu sein, während dies nicht
der Fall ist). Mag auch jener ex ante irrtümlich geglaubt haben, der
Täter sei nicht schuldig, so ist dieser doch schuldig, wenn später fest-
gestellt wird, daß er tatsächlich über eine normale Fähigkeit verfügte.
Und umgekehrt ist auch derjenige nicht zu bestrafen, der schuldlos ist,
auch wenn ex ante weder er noch die übrigen dies gewußt haben31 •
Worauf beruht diese unterschiedliche Behandlung des Irrtums im
Falle des Unrechts und der Schuld? Wer einem Tatbestandsirrtum
erliegt, glaubt, eine nicht-verbotene Tat auszuführen, während der-
jenige, der seine Schuld nicht anerkennt, trotzdem weiß, daß er eine
verbotene Tat ausführt. Da dies so ist, muß letzterer das Begehen des
Unrechts (das er als solches wahrnimmt) unterlassen, und er kann sich
nicht hinter der Unkenntnis seiner Schuld verschanzen, weil er tat-
sächlich über eine normale normative Ansprechbarkeit verfügte. In der
Schuld wird nicht das Verbot in Frage gestellt, sondern nur, ob dieses
vom Täter normal aufgenommen werden kann. Wenn die verletzende
30 Zu der vorstehenden Auffassung s. umfassender Mir Puig (Anm.29),
S.91; ders., ZStW 95 (1983), S. 449 ff. Vor kurzem hat sich Octavio de Toledo,
Sobre el concepto deI Derecho penal, 1981, S. 137 f., ausdrücklich dieser Auf-
fassung der Schuld als normaler Motivierbarkeit angeschlossen, die eine de-
mokratische Grenze der auf dem Prinzip der Gleichheit vor dem Recht be-
ruhenden Prävention festsetzt. Auch Luz6n Pena, Medici6n de la pena y
sustitutivos penales, 1979, S. 44 f., gibt zu, daß dem Schuldunfähigen nur die
normale Motivierbarkeit fehlt, aber er ist der Meinung, daß dies an sich
schon die Prävention unnötig macht. In diesem Punkt gehen unsere Meinun-
gen auseinander.
31 Ich gehe hier nicht auf die Problematik des vermeidbaren Irrtums unter
der Voraussetzung eines Entschuldigungsgrundes ein, wenn dieser Irrtum die
tatsächliche Anormalität im Motiv bestimmt. Auch hier muß das Fehlen der
Schuld zum Zeitpunkt der Tat zugegeben werden, aber es muß wegen der
vorausgegangenen Fahrlässigkeit bestraft werden, die zu dem Irrtum führte,
der die Situation der Schuldlosigkeit verursachte (actio libera in causa); vgl.
Mir Puig, Adiciones de Derecho espafiol al Tratado de Jescheck (Anm.5), 1,
S. 694 f.

23'
356 Santiago Mir Puig

Fähigkeit oder die Gefährlichkeit einer Handlung ex ante nicht erkenn-


bar ist, kann das Recht diese nicht verbieten, denn es kann nicht ver-
langen, daß die Bürger sie vermeiden. Hingegen müssen die Bedin-
gungen der Motivierbarkeit des Täters so bewertet werden, wie sie
effektiv vorliegen, weil die normale Motivierbarkeit eine demokra-
tische Grenze zieht, die mit dem Prinzip der realen Gleichheit vor dem
Gesetz verbunden ist, und diese darf nicht überschritten werden, auch
wenn es so scheint, daß sie nicht vorläge: wer schuldunfähig ist, kann
nicht so behandelt werden, als ob er den anderen gleich wäre, nur weil
dies so erscheint. Und wer auf der anderen Seite den anderen gleich
ist, darf nicht als schuldunfähig behandelt werden, auch wenn er
glaubt, daß er es ist.
MANFRED BURGSTALLER

Erfolgszurechnung hei nachträglichem Fehlverhalten


eines Dritten oder des Verletzten seIhst

Hans-Heinrich Jescheck nimmt in Österreich unter den deutschen


Strafrechtslehrern einen ganz besonderen Platz ein. Die in klarer
Sprache formulierten und inhaltlich ebenso umfassenden wie ausgewo-
genen Ausführungen seines Lehrbuches bringen es mit sich, daß er hier-
zulande vielfach als Repräsentant der deutschen Strafrechtswissenschaft
schlechthin gilt. Äußeres Zeichen dieser außerordentlichen Wertschät-
zung ist, daß Jescheck nicht nur von der österreichischen Strafrechtstheo-
rie laufend mitverwertet wird, sondern auch - was viel zählt - echter
Zitierjurist der österreichischen Strafrechtspraxis ist. Dementsprechend
sei dem verehrten Jubilar hier auch eine kleine Studie gewidmet, deren
primäre Adressaten Richter und Staatsanwälte waren*. Sie versucht, die
Lehre von der objektiven Erfolgszurechnung, deren Durchsetzung Hans-
Heinrich Jescheck maßgeblich gefördert hat, für eine spezielle Konstel-
lation anhand zweier praktischer Fälle näher zu konkretisieren.

I. Ausgangsposition

Die Wiederentdeckung und Neuadaptierung der Lehre von der objek-


tiven Erfolgszurechnung gehören zu den wichtigsten Fortschritten der
Strafrechtsdogmatik der jüngsten Zeit. Die Grundeinsicht, daß ein Er-
folgstatbestand erst dann als erfüllt anzusehen ist, wenn der eingetre-
tene Erfolg vom Täterverhalten nicht nur - was man lange Zeit genü-
gen ließ - verursacht wurde, sondern mit ihm auch in differenzierter
Weise spezifisch normativ verknüpft ist, ist heute im Prinzip bereits
allgemein anerkannt1 • In Österreich gilt das jedenfalls für den Bereich
der Fahrlässigkeitsdelikte und der erfolgsqualifizierten Delikte!. Nach
der jüngsten Entwicklung ist aber durchaus zu erwarten, daß die zur

* Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um einen mit Fuß-


noten versehenen Vortrag, den der Verfasser beim 7. Bezauer Fortbildungs-
seminar für Richter und Staatsanwälte am 1. Juni 1983 gehalten hat.
1 Zusammenfassend etwa Jescheck, AT, 3. Auf!. 1978, S.221, 230, 472, 473,
sowie Rudolphi, in: SK, 3. Auf!. 1981, vor § 1 Rz. 38 ff., 57 ff.
2 Belege bei Burgstaller, Wiener Kommentar zum StGB (WK) , 1979, § 6
Rz. 60 ff., § 7 Rz. 21 und § 80 Rz. 55 ff.
358 Manfred Burgstaller

Kausalität hinzutretenden normativen Zurechnungserfordernisse bald


auch allgemein für die reinen Vorsatzdelikte als wesentlich erachtet
werden3•
Dieser breite Grundkonsens, der sich erfreulicherweise auch auf die
österreichische Rechtsprechung erstreckt, kann freilich nicht verdecken,
daß es bei der konkreten Anwendung der Lehre von der objektiven Er-
folgszurechnung eine Reihe von Schwierigkeiten gibt. Zu den am meisten
umstrittenen Bereichen gehört dabei die Konstellation des nachträgli-
chen Fehlverhaltens eines Dritten oder des Verletzten selbst. Da diese
Konstellation zugleich von erheblicher praktischer Bedeutung ist, er-
scheint es zweckmäßig, sie einmal gesondert zu untersuchen.
Anknüpfungspunkt und ständiger Begleiter für unsere Untersuchung
sollen zwei bekannte Entscheidungen des österr. OGH sein: Die E 7.1.
1976, 10 Os 146/75, publiziert in SSt 47/1, EvBl1976/203 und ZVR 1976/
178 (mit Anm. Liebseher), sowie die E 28. 5. 1980, 11 Os 42/80, publiziert
in SSt 51125, EvBl1981115 und ZVR 1981165 (ebenfalls mit Anm. Lieb-
scher). Beiden Entscheidungen wird, wie ihre mehrfache Veröffentli-
chung zeigt, allgemein große Bedeutung beigemessen. Und sie sind auch
in der Tat sowohl von den entschiedenen Sachverhalten wie von der
juristischen Argumentation her sehr illustrativ. Allerdings haben
SSt 47/1 und SSt 51125 gleichermaßen jeweils eine vorsätzliche Körper-
verletzung zum Gegenstand, während die erörterte Konstellation in der
Praxis naturgemäß am häufigsten im Zusammenhang mit einer fahrläs-
sigen Körperverletzung oder einer fahrlässigen Tötung aktuell wird.
Das tut aber der Repräsentativität der beiden Entscheidungen für die
anstehenden Probleme keinerlei Abbruch.

11. Problemstellung anhand zweier Fälle

1. Boxer-Fall
Die Konstellation des nachträglichen Fehlverhaltens eines Dritten
betrachten wir anhand des Falles, den SSt 47/1 zu entscheiden hatte.
Aus didaktischen Gründen soll der Sachverhalt freilich vorerst in einem
wichtigen Punkt vereinfacht 4 wiedergegeben werden:
Der Angeklagte, ein Boxer, streckte im Zuge eines Streites den alkoholi-
sierten X mit einem heftigen Faustschlag ins Gesicht nieder. X schlug mit

3 Vgl. vor allem LeukauflSteininger, StGB, 2. Aufl. 1979, Vorbem. § 1 Rz.


32 ff., sowie zuletzt Moos, in: Fälle und Lösungen zum Strafrecht, S.38 (43/44
mit weiteren Nachweisen in Fn.13 und 14) und TrijJterer, ebendort, S.143,
147, sowie Steininger, Die moderne Strafrechtsdogmatik und ihr Einfluß auf
die Rechtsprechung, ÖJZ 1981, 365, 369 f. - Für die Bundesrepublik Deutsch-
land etwa Jescheck, AT, S. 230, und Rudolphi, in: SK, vor § 1 Rz. 57 ff.
4 Zur originalen Fallgestaltung unten V 1.
Erfolgszurechnung bei nachträglichem Fehlverhalten 359

dem Kopf auf dem Steinboden auf und blieb bewußtlos liegen. Er erlitt einen
Schädeldachbruch mit Aufsprengung der Naht sowie einen Bruch des rechten
Schläfenbeins. Diese Verletzungen wurden jedoch bei der sogleich erfolgten
Einlieferung des X ins Krankenhaus infolge unzulänglicher Untersuchung
nicht erkannt. So wurde X lediglich ambulant versorgt und dann in häus-
liche Pflege entlassen. Die Schädel operation, die an sich sofort notwendig
gewesen wäre, wurde infolgedessen erst viele Stunden später vorgenommen,
nachdem X bewußtlos in der elterlichen Wohnung aufgefunden und neuer-
lich in das Krankenhaus eingeliefert worden war. Die nunmehrige Operation
und die fachärztliche Nachbehandlung konnten nicht mehr verhindern, daß
X einige Zeit darauf an den Folgen der erlittenen Verletzung starb. Wäre X
dagegen sofort bei der ersten Einlieferung ins Krankenhaus operiert worden,
hätte er gerettet werden können.
Das Problem, das sich in diesem Fall - ich nenne ihn künftig kurz
"Boxer-Fall" - für uns stellt, liegt klar zutage: Ist der Angeklagte mit
Rücksicht darauf, daß sein Verhalten letztlich den Tod des X zur Folge
hatte, wegen Körperverletzung mit tödlichem Ausgang gemäß §§ 83,
86 öStGB schuldig zu erkennen? Oder darf man im vorliegenden Fall
lediglich eine schwere Körperverletzung gemäß §§ 83, 84 Abs. 1 öStGB
annehmen, weil doch der Tod des Verletzten auch auf das Fehlverhalten
des bei der ersten Krankenhauseinlieferung tätig gewordenen Arztes
zurückzuführen ist?

2. Weinglas-Fall
Die Konstellation eines nachträglichen Fehlverhaltens des Verletzten
selbst repräsentiert der Sachverhalt, der SSt 51/25 zugrundeliegt. Zur
leichteren Bewältigung der komplexen Problemlage wird zunächst auch
dieser Fall in einem wichtigen Punkt vereinfacht5 dargestellt:
Der Angeklagte schleuderte in einem Wiener Gasthaus dem alkoholisierten
Y, der ihn wiederholt belästigt hatte, mit zumindest bedingtem Verletzungs-
vorsatz ein Weinglas ins Gesicht. Y erlitt dadurch eine Wunde unmittelbar
über dem rechten Oberlid und eine perforierende Verletzung des rechten
Auges mit Blutung in die Augenvorderkammer. Die Wunde über dem Ober-
lid wurde noch in derselben Nacht in der 11. Universitätsklinik für Unfall-
chirurgie des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien genäht. Am Mor-
gen darauf wurde Y in die I. Augenklinik des genannten Krankenhauses
überwiesen, wo man die erwähnte schwere Augenverletzung feststellte und
dem Verletzten dringend die stationäre Aufnahme sowie eine sofortige Ope-
ration des Auges empfahl. Y lehnte das jedoch ab und wurde daraufhin
gegen Unterfertigung eines Reverses entlassen. Etwa 2 Wochen später begab
sich Y ins Krankenhaus Braunau und ließ sich dort die Nähte über dem rech-
ten Oberlid entfernen. Dabei wurde er wegen Beeinträchtigung des Sehver-
mögens des verletzten Auges an einen Augenarzt überwiesen, suchte diesen
jedoch nicht auf. Y behandelte das Auge vielmehr nur selbst mit Borwasser.
In der Folgezeit kam es zu einer fortschreitenden Verschlechterung des Zu-
standes des Auges und zunehmenden Schmerzen. Schließlich mußte vier

5 Zur originalen Fallgestaltung wieder unten V 1.


360 Manfred Burgstaller

Monate nach der Tat das verletzte Auge im Krankenhaus Wels operativ ent-
fernt werden. Hätte Y den ihm in der Wiener Augenklinik dringend emp-
fohlenen Eingriff rechtzeitig durchführen lassen, wäre der Verlust des Auges
zu vermeiden gewesen.
Die prinzipielle Frage, die dieser Fall - ich nenne ihn künftig kurz
"Weinglas-Fall" - aufwirft, ist wiederum klar: Soll der Angeklagte mit
Rücksicht darauf, daß sein Verhalten letztlich eine dauernde schwere
Schädigung des Sehvermögens des Y zur Folge hatte, wegen Körperver-
letzung mit schweren Dauerfolgen gemäß §§ 83,85 Z 1 öStGB verurteilt
werden? Oder ist ihm lediglich eine schwere Körperverletzung gemäß
§§ 83, 84 Abs. 1 öStGB anzulasten, weil doch die angeführte Dauerfolge
auch darauf zurückzuführen ist, daß der Verletzte die zur Rettung des
Auges erforderliche Operation verweigert hat?

3. Weiterer Untersuchungsgang
Die Untersuchung der aus den beiden Fällen sichtbar gewordenen
Probleme erfolgt am besten so, daß wir die Voraussetzungen, die heute
in Österreich für die Zurechnung eines Erfolges als erforderlich ange-
sehen werden, der Reihe nach durchgehen. Von den vier Elementen der
objektiven Erfolgszurechnung erweisen sich freilich zwei bereits nach
einer kurzen Vorprüfung als nicht weiter erörterungsbedürftig: Der
Kausalzusammenhang zwischen Täterverhalten und Enderfolg sowie
eine auf diesen Erfolg bezogene Risikoerhöhung gegenüber rechtmäßi-
gem Alternativverhalten sind sowohl im Boxer-Fall als auch im Wein-
glas-Fall problemlos zu bejahen und werden bei der Konstellation des
nachträglichen Fehlverhaltens überhaupt generell vorausgesetzt. Näher
zu untersuchen sind im gegebenen Zusammenhang dagegen die bei-
den anderen Erfordernisse der objektiven Erfolgszurechnung, also
Adäquanzzusammenhang und Risikozusammenhang8 • Das soll in der
Folge geschehen, wobei das Schwergewicht unserer Erörterungen, der
praktischen Bedeutung entsprechend, klar beim Erfordernis des Risiko-
zusammenhanges liegen wird. Zum Abschluß ist dann noch kurz zu
überlegen, ob die in Rede stehende Konstellation auch spezielle Fragen
für die subjektive Erfolgszurechnung aufwirft.

111. Adäquanzzusammenhang

Dieses erste zur Kausalität im Sinne der Äquivalenztheorie hinzutre-


tende Erfordernis einer objektiven Erfolgszurechnung wird üblicher-

e Mit diesem zuletzt genannten Ausdruck wird in Österreich - abwei-


chend von einem verbreiteten Sprachgebrauch in der Bundesrepublik Deutsch-
land - allgemein gezielt das Erfordernis bezeichnet, daß der eingetretene
Erfolg innerhalb des Schutzbereichs der übertretenen Norm liegen muß.
Näher dazu unten IV.
Erfolgszurechnung bei nachträglichem Fehlverhalten 361

weise negativ formuliert. Am Adäquanzzusammenhang fehlt es, wenn


der zu beurteilende Erfolgseintritt völlig außerhalb des Rahmens der
gewöhnlichen Erfahrung liegt 7 • Eine präzisere Formulierung ist im Hin-
blick darauf, daß der Adäquanzgedanke nicht an den konkreten Sorg-
faltsverstoß anknüpft, sondern ganz allgemeine Relevanz beansprucht,
nicht möglich. Dementsprechend bildet das in Rede stehende Zurech-
nungserfordernis auch nur ein sehr grobes Filter, dessen praktische Be-
deutung gering ist.
Die erste Beziehung, an die man den skizzierten Zurechnungsmaßstab
meist anzulegen pflegt, ist die zwischen der vom Täter gesetzten Hand-
lung einerseits und dem - zunächst isoliert gedachten - eingetretenen
Erfolg andererseits. Demonstriert an unseren belden Beispielsfällen
heißt das: Man fragt, ob es völlig außerhalb der menschlichen Erfahrung
liegt, daß zum ersten ein heftiger Faustschlag, der einem auf einem
Steinboden stehenden Menschen ins Gesicht versetzt wird, den Tod die-
ses Menschen zur Folge hat, bzw. daß zum zweiten das Ins-Gesicht-
Schleudern eines Weinglases dazu führt, daß der solcherart Insultierte
ein Auge verliert. Daß beide Fragen zu verneinen sind und daher ein
Ausschluß der Erfolgszurechnung unter dem in Rede stehenden Ge-
sichtspunkt nicht in Betracht kommt, ist evident.
Mit der angestellten überlegung darf man sich aber bei der Prüfung
des Adäquanzzusammenhanges - was manchmal übersehen wird -
keinesfalls begnügen. Die entscheidende8 Frage des erörterten Zurech-
nungserfordernisses geht nämlich erst dahin, ob der in concreto zum
Erfolgseintritt führende Kausalverlauf völlig außerhalb der gewöhn-
lichen Erfahrung liegt. Das heißt: Man muß im Boxer-Fall überlegen,
ob es gänzlich atypisch ist, daß ein Faustschlag deshalb zum Tode des
Getroffenen führt, weil der durch den Schlag bewirkte Schädeldach-
bruch vom Krankenhausarzt zunächst nicht erkannt und daher nicht

7 Vgl. Burgstaller, WK, § 6 RZ.62. Für die Bundesrepublik Deutschland


etwa Jescheck, AT, S. 230.
8 Nach dem vom Verfasser vertretenen Deliktsaufbau braucht die Ad-
äquanzbeziehung zwischen dem Täterverhalten und dem eingetretenen Er-
folg als solchem im Rahmen der Erfolgszurechnung üblicherweise überhaupt
nicht gesondert geprüft zu werden; sie wird nämlich im NormaIfaII bereits
vom systematisch vorrangigen Erfordernis der deliktstypischen objektiven
Sorgfaltswidrigkeit des Täterverhaltens vorausgesetzt (vgl. Burgstaller, WK,
§ 6 Rz. 62). Anders ist es nur bei den erfolgsqualifizierten Delikten, soweit
man hier ein objektiv sorgfaltswidriges Verhalten in bezug auf den qualifi-
zierenden Erfolg aus Vereinfachungsgrunden im Grunddelikt stets mitent-
halten erachtet (vgl. Burgstaller, WK, § 7 Rz.20). Hier bildet die immerhin
mögliche KonstelIation, daß - vom konkreten Täterverhalten her gesehen
- der eingetretene Erfolg bereits als solcher als vö11ig außerhalb der ge-
wöhnlichen Erfahrung liegend einzustufen ist, notwendigerweise einen Unter-
fall des Ausschlusses der Erfolgszurechnung mangels Adäquanzzusammen-
hang.
362 Manfred Burgstaller

sofort operiert wird. Und beim Weinglas-Fall geht es darum, ob es völlig


außerhalb der gewöhnlichen Erfahrung liegt, daß ein Mensch, dem ein
Weinglas ins Gesicht geschleudert wird, deshalb ein Auge verliert, weil
er sich trotz dringender ärztlicher Empfehlung weigert, am verletzten
Auge die erforderliche Operation vornehmen zu lassen. Darüber, ob
auch die so formulierten Fragen verneint werden sollen, kann man
wohl, vor allem was die Frage zum Weinglas-Fall anlangt, verschiede-
ner Meinung sein. Unter Betonung dessen, daß der Adäquanzzusammen-
hang nur die Zurechnung solcher Kausalverläufe ausschließen soll, die
völlig außerhalb der gewöhnlichen Erfahrung liegen bzw. die gänzlich
atypisch sind 9 , wird man aber das in Rede stehende Zurechnungserfor-
dernis letztlich doch für beide unsere Fälle zu bejahen haben. Der
gleichlautenden Auffassung des OGH in SSt 47/1 und SSt 51/25 ist also
zuzustimmen: Der Adäquanzgedanke schließt die Zurechnung des End-
erfolges zum Täterverhalten sowohl im Boxer-Fall als auch im Wein-
glas-Fall nicht aus. Und zu diesem Ergebnis wird man wohl bei der
Konstellation des nachträglichen Fehlverhaltens in der Praxis fast
immer kommen.
In aller Regel entscheidend ist danach, ob bzw. in welchen Fällen der
erörterten Konstellation der Risikozusammenhang zu verneinen ist.

IV. Risikozusammenhang

1. Prinzipielle Bedeutung
Dieses in der Praxis besonders wichtige Erfordernis besagt ganz all-
gemein, daß ein adäquat verursachter Erfolg seinem Urheber nur dann
objektiv zuzurechnen ist, wenn er sich als Verwirklichung gerade des-
jenigen Risikos erweist, dem die übertretene Verhaltensnorm gezielt
entgegenwirken wollte. Oder anders ausgedrückt: Der eingetretene
Erfolg muß, soll er objektiv zurechenbar sein, innerhalb des Schutz-
zwecks der vom Täter verletzten Verhaltensnorm liegen. Das wird heute
generell einmütig anerkannt10 •
Für uns entscheidend ist nun, daß dieser Risikozusammenhangsge-
danke ganz gezielt auch auf die Konstellation des nachträglichen Fehl-
verhaltens anzuwenden ist. Erfreulicherweise hat mein diesbezüglicher
9 Ganz gezielt in diesem Sinne auch SSt 46/67 und EvBl 1979/118: Der
Adäquanzzusammenhang liegt auch dann vor, wenn der Erfolg nur mittels
einer zum Täterverhalten hinzukommenden Zwischenursache eintrat, die
"zwar nicht schon nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwarten ge-
wesen, aber doch nicht ganz außergewöhnlich und deswegen außerhalb der
menschlichen Erwartung gelegen war".
10 Vgl. nur Burgstaller, WK, § 6 Rz. 65 ff. Für die Bundesrepublik Deutsch-
land etwa Jescheck, AT, S.231, 474, sowie Rudolphi, in: SK, vor § 1 Rz.64
und 71 ff.
Erfolgszurechnung bei nachträglichem Fehlverhalten 363

Vorschlag aus dem Jahr 197411 inzwischen in der österreichischen Litera-


tur und Judikatur mehrfach Zustimmung gefunden12 • Das gilt im Prinzip
gerade auch für die beiden Entscheidungen des OGH, die zum Boxer-Fall
und zum Weinglas-Fall ergangen sind: Sowohl SSt47/1 als auch SSt51125
erörtern das in Rede stehende Zurechnungsproblem ausdrücklich unter
Anführung des Erfordernisses des Risikozusammenhanges. Das ist be-
sonders zu registrieren, weil sich dieser Ansatz in der Rechtsprechung
leider noch nicht allgemein durchgesetzt hat. In mehreren Rechtsmittel-
entscheidungen der letzten Jahre wird vielmehr Beschwerdeführern, die
- sei es auch in ungeschickter Form - eine Erfolgszurechnung wegen
nachträglichen Fehlverhaltens eines Dritten bestreiten wollen, einfach
entgegnet, ihr Vorbringen müsse erfolglos bleiben, weil das nachträg-
liche Fehlverhalten eines anderen am Kausalzusammenhang zwischen
dem Enderfolg und dem Verhalten des Erstverursachers nichts zu
ändern vermöge l3 • Eine derartige Argumentation geht aber ersichtlich
ins Leere. Der Kausalzusammenhang steht bei der in Rede stehenden
Konstellation ja von vornherein außer Zweifel. Entscheidend ist eben
erst die Frage nach dem Risikozusammenhang. Diese Frage stillschwei-
gend zu verneinen, indem man sie mit den zuletzt angeführten Entschei-
dungen gar nicht stellt, kann heute nicht mehr akzeptiert werden.

2. Voraussetzungen des Zurechnungsausschlusses


Mit der Grundsatzerkenntnis, daß bei der Zurechnung von Erfolgen,
die durch das nachträgliche Fehlverhalten eines Dritten oder des Ver-
letzten selbst mitbedingt sind, stets gezielt auch der Risikozusammen-
hang geprüft werden muß, ist es freilich nicht getan. Es kommt vielmehr
entscheidend auf die konkreten Voraussetzungen an, die bei der erör-
terten Konstellation nun wirklich den Risikozusammenhang und damit
die Erfolgszurechnung für den Täter des Ausgangsdeliktes entfallen
lassen. Leider gibt es zu diesem Punkt derzeit noch keine allgemein an-
erkannte Auffassung.

a) Weithin einig ist man sich in Österreich allerdings darin, daß dem
Täter ein Erfolg dann nicht mehr zugerechnet werden darf, wenn das
nachträgliche14 Fehlverhalten eines Dritten oder des Verletzten selbst

11 Vgl. Burgstaller, Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, 1974, S.116,


121.
12 Vgl. die Nachweise bei Burgstaller, WK, § 6 Rz. 70 und 72, sowie zuletzt
Steininger, OJZ 1981, 369. Im Prinzip übereinstimmend aber auch Rudolphi,
in: SK, vor § 1 Rz. 71 ff.
13 Vgl. SSt 48/68 und ZVR 1977/273, aber auch OLG Wien ZVR 1976/239.
U Diese Grundvoraussetzung unserer überlegungen darf man hier und im
folgenden nicht aus den Augen verlieren. Wird das Fehlverhalten eines Drit-
ten oder des Opfers nicht erst nach dem Ersterfolg gesetzt, sondern trägt es
364 Manfred Burgstaller

in bezug auf diesen Erfolg vorsätzlich!' erfolgte18 • Dieser Konstellation


kommt aber in der Praxis kaum Bedeutung zu. Fälle, in denen der
Zustand des Opfers eines Körperverletzungsdelikts von einem Dritten
oder vom Verletzten selbst vorsätzlich verschlimmert wird, sind erstens
an sich schon selten und lassen zweitens die Zurechnung des erschwerten
Erfolges für den Erstverursacher in der Regel bereits infolge Fehlens
des Adäquanzzusammenhanges entfallen17 •

b) Praktisch ungleich wichtiger ist natürlich die Konstellation, daß


das nachträgliche Fehlverhalten eines anderen in bezug auf den End-
erfolg nicht vorsätzlich, sondern bloß fahrlässig gesetzt wurde. Auf der
Suche nach einer einigermaßen gesicherten Position in diesem Bereich
kann man für Österreich18 immerhin eine Teilübereinstimmung im
Negativen registrieren: Ein bloß leicht fahrlässiges nachträgliches Fehl-
verhalten kann den Risikozusammenhang und damit die Erfolgszurech-
nung für den Täter des Ausgangsdeliktes nicht ausschließen. Das dürfte
heute in der Lehre ebenso unangefochten sein wie in der Rechtspre-
chung. Ausgesprochen streitig ist dagegen in Österreich die Konstella-
tion des grob fahrlässigen Fehlverhaltens. Während die neue re Lehre
bei dieser Konstellation den Risikozusammenhang zwischen Enderfolg
und Täterverhalten entfallen läßt!9, konnte sich diese Lösung in der
Rechtsprechung bisher nicht durchsetzen. Zwar hat gerade SSt 47/1, also
die Entscheidung des OGH im Boxer-Fall, für die Position der Lehre
prinzipielle Sympathie erkennen lassen2o ; in anderen Entscheidungen
bereits unmittelbar zu diesem selbst bei, gelten durchaus andere Regeln. Für
diese Konstellation lassen sich über den Risikozusammenhang überhaupt
keine allgemeinen Aussagen machen; es kommt vielmehr ganz auf den indi-
viduellen Schutzzweck der jeweils übertretenen Verhaltensnorm an. Vgl.
Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S.118 Fn.l11, 119 Fn.120 und 123 bei
Fn.137.
15 Soweit es um das Fehlverhalten des Verletzten selbst geht, sind die Aus-
drücke "vorsätzlich" sowie - gleich weiter im Text - "fahrlässig" nur ana-
log zu verstehen. Den Begriffsbestimmungen der §§ 5 und 6 öStGB kann in
diesem Zusammenhang, da Selbstbeschädigungen keinem Tatbild unterfal-
len, selbstredend nicht genügt werden. Vgl. Burgstaller, Fahrlässigkeits-
delikt, S. 121 mit Fn. 127 und 123 bei Fn. 133.
18 Vgl. Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 117 und 121; LeukautlSteinin-
ger, StGB, Vorbem. § 1 Rz.34; Moos, in: Fälle und Lösungen zum Strafrecht,
S.47 sowie ausdrücklich auch OLG Wien ZVR 1976/239.
17 Beispiele bei Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S.117 und 121 f., sowie
- für den Entfall des Risikozusammenhanges bei ausnahmsweise gegebenem
Adäquanzzusammenhang - S. 122 bei Fn. 13l.
18 In der Bundesrepublik Deutschland ist die Situation offensichtlich
anders. Informativ dazu Rudolphi, in: SK, vor § 1 Rz. 73 f.
19 Ausdrücklich Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 119 und 123, Lieb-
scher, ZVR 1976, 179; ders., ZVR 1981, 87 sowie zuletzt Moos, in: Fälle und
Lösungen zum Strafrecht, S.47. Der Sache nach wohl auch Kienapfel, ZVR
1977, 164.
20 Treffend hervorgehoben von Liebseher, ZVR 1976, 179.
Erfolgszurechnung bei nachträglichem Fehlverhalten 365

wurde aber die Auffassung, ein grob fahrlässiges nachträgliches Fehl-


verhalten eines anderen schließe die Erfolgszurechnung für den Täter
aus, der Sache nach eindeutig abgelehnt 2!. Und in der Tendenz gilt dies
auch klar für die zum Weinglas-Fall ergangene Entscheidung in
SSt 51/25. Formell hat sich der OGH hier allerdings auf die Aussage zu-
rückgezogen, daß sich im genannten Fall das erörterte und vom Erstge-
richt ausdrücklich im Sinne der Lehre gelöste Problem gar nicht stelle.
Dieses Ausweichen spricht immerhin dafür, daß die These, wonach grob
fahrlässiges nachträgliches Fehlverhalten den Risikozusammenhang
ausschließt, beim Höchstgericht jedenfalls noch Chancen hat 22 •
Ich selbst möchte für die angeführte These hier nochmals ausdrücklich
plädieren. Sie ist gewiß keineswegs zwingend. Ich glaube aber doch,
daß sie für das mit der Lehre von der objektiven Zurechnung insgesamt
verfolgte Anliegen, die Haftung für Zufallsentwicklungen angemessen
zu begrenzen, eine vernünftige und praktikable Formel bietet. Bei
grober Fahrlässigkeit des nachträglichen Fehlverhaltens eines anderen
erhält m. E. dieses Verhalten für den eingetretenen Enderfolg ein derart
großes erlebnismäßiges Gewicht, daß es den Zusammenhang zwischen
Enderfolg und Täterverhalten ganz in den Hintergrund treten läßt.
Liegen die Dinge so, besteht aber von den Zwecken des Strafrechts her
kein Bedürfnis mehr, den Enderfolg neben dem nachträglichen Fehlver-
halten eines anderen zusätzlich auch noch dem Täter des Ausgangs-
deliktes zuzurechnen. Das gilt unter generalpräventiven Gesichtspunk-
ten genauso wie unter spezialpräventiven. Aus diesem Befund gibt es
für eine teleologisch orientierte Zurechnungslehre aber nur eine Kon-
sequenz: Ist der letztliche Erfolg eines Körperverletzungsdeliktes un-
mittelbar auf ein nachträgliches Fehlverhalten eines Dritten oder des
Verletzten selbst zurückzuführen, das als grob fahrlässig zu bewerten
ist, so ist der Risikozusammenhang zwischen dem Enderfolg und dem
Verhalten des Täters des Ausgangsdeliktes zu verneinen. Ob sich das
nachträgliche Fehlverhalten als positives Tun oder als Unterlassung
darstellt, kann dabei keinen Unterschied machen23 •

c) Der vorstehend verwendete Begriff der groben Fahrlässigkeit ent-


spricht im Ansatz voll der in Lehre und Rechtsprechung allgemein unter
diesem Namen verstandenen Erscheinung: Es ist ein auffallender und

2! Vgl. SSt 48/68 und ZVR 1977/273 sowie OLG Wien ZVR 1976/239.
22 Dies umso mehr, als der OGH erst jüngst einen anderen heiklen Risiko-
zusammenhangsfall ganz im Sinne der heutigen Lehre gelöst hat. Vgl. RZ
1981/35 mit zustimmender Anm. Kienapfels, dessen Einordnung des Falles in
die Konstellation des nachträglichen Fehlverhaltens allerdings von meinem
Verständnis dieser Konstellation abweicht.
23 Dazu Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 118 f. Ausdrücklich gegen-
teiliger Auffassung Rudolphi, in: SK, vor § 1 RZ.74.
366 Manfred Burgstaller

ungewöhnlicher Sorgfaltsverstoß gemeint, der den eingetretenen Erfolg


nicht bloß als entfernt möglich, sondern geradezu als wahrscheinlich
erwarten ließ24. Damit sind Fehlverhalten, wie sie jedermann hin und
wieder unterlaufen können, aus dem Begriff der groben Fahrlässigkeit
eindeutig ausgeschlossen. Das erscheint gerade auch in unserem Zusam-
menhang richtig und wichtig. Man darf die Anforderungen für den
erörterten Begriff aber auch nicht überspannen. Grobe Fahrlässigkeit
nur bei Sorgfaltsverstößen anzuerkennen, die völlig außerhalb der ge-
wöhnlichen Erfahrung liegen, wäre im Rahmen unserer Problemstel-
lung offensichtlich verfehlt. Denn nachträgliche Fehlverhalten, die der
zuletzt genannten Anforderung genügen, schließen die Zurechnung des
Enderfolges zum Täterverhalten ja schon wegen des Fehlens des Ad-
äquanzzusammenhanges aus. Das Zurechnungs erfordernis "Risikozu-
sammenhang" wäre danach für die erörterte Fallgestaltung insgesamt
funktionslos und damit in Wahrheit überhaupt preisgegeben.
Ein besonderes Problem ergibt sich daraus, daß der Begriff der groben
Fahrlässigkeit als solcher nicht bloß in der beschriebenen Weise ge-
steigertes Fahrlässigkeitsunrecht bedeutet, sondern auch spezifische An-
forderungen an die Fahrlässigkeitsschuld stellt25 . Auf diese Komponente
sollte man aber wohl in unserem Zusammenhang verzichten. Die Zu-
rechnung eines Enderfolges an den Täter des Ausgangsdeliktes ist von
den Strafzwecken her m. E. schon dann nicht mehr geboten, wenn das
nachträgliche Fehlverhalten als objektiv grob fahrlässig zu bewerten
ist. Das heißt nicht, daß hier auf den subjektiven Sorgfaltsverstoß ganz
zu verzichten ist. Man sollte sich im gegebenen Zusammenhang aber mit
den Mindesterfordernissen der Fahrlässigkeitsschuld schlechthin be-
gnügen.

3. Konkrete Anwendung auf die beiden Fälle


Zur Konkretisierung der hier vertretenen Auffassung wollen wir
uns wieder unseren beiden Fällen zuwenden.

a) Beginnen wir mit dem Boxer-Fall. Hier hat das Erstgericht, ge-
stützt auf ein Sachverständigengutachten, ausdrücklich festgestellt, daß
die Gefährlichkeit einer Verletzung, wie sie das Opfer durch den Faust-
schlag erlitt, häufig selbst von Ärzten nicht erkannt wird. Das muß man
wohl so verstehen, daß damit dem Arzt, der bei der ersten Kranken-
hauseinlieferung des Verletzten eine falsche Diagnose stellte und diesen
infolgedessen in häusliche Pflege entließ, keine grobe Fahrlässigkeit

24 Vgl. Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 119 und 203 ff., sowie ausführ-


lich Burgstaller, Das "schwere Verschulden" des berufsmäßigen Parteien-
vertreters in § 34 Abs. 3 FinStrG, öStZ 1982, 108, 118.
25 Näher dazu Burgstaller, ÖStZ 1982, 120 f.
Erfolgszurechnung bei nachträglichem Fehlverhalten 367

angelastet werden kann. Legt man das zugrunde, ist nach den vor-
stehend skizzierten Regeln die Entscheidung klar: Der Tod des Verletz-
ten steht trotz des geschilderten nachträglichen Fehlverhaltens des
Arztes noch im Risikozusammenhang mit dem Täterverhalten und ist
diesem daher objektiv zuzurechnen. Der gleichlautenden Lösung des
Erstgerichtes und des OGH in SSt 47/1 ist daher schon jetzt zuzustim-
men. Auf einen Umstand, der den Täter bei der realen Fallgestaltung
zusätzlich belastete, komme ich noch zurück26 •

b) Wesentlich größere Schwierigkeiten bereitet der Weinglas-Fall.


Hier hat das Erstgericht die Weigerung des Verletzten, sich der dringend
empfohlenen Augenoperation zu unterziehen, ausdrücklich als grob
fahrlässiges Fehlverhalten des Opfers beurteilt und konsequenterweise
auch die Zurechnung des Verlustes des verletzten Auges zum Täterver-
halten abgelehnt. Der OGH war aber in SSt 51/25 gegenteiliger Auffas-
sung. Er führte dazu zwei Argumente an, von denen eines bereits für die
Fallgestaltung zu überlegen ist, wie wir sie bisher aus Vereinfachungs-
gründen geschildert haben.
Das Höchstgericht hebt hervor, daß das Opfer im Tatzeitpunkt - wie
dem Angeklagten bekannt - unter erheblicher Alkoholeinwirkung
stand, und ergänzt dazu aus dem Akt, daß der Verletzte auch nach der
Überstellung in die Wiener Augenklinik als "wegen seiner Alkoholisie-
rung noch nicht vernehmungsfähig" beschrieben wurde. "Angesichts
dieses Zustandes mußte", so folgert der OGH, "auch damit gerechnet
werden, daß der Verletzte die Diagnose nicht erfassen oder an der Rich-
tigkeit der ihm mitgeteilten ärztlichen Prognose oder am Erfolg einer
Operation Zweifel hegen könnte."
Mit diesem Aspekt muß man sich im vorliegenden Fall in der Tat
auseinandersetzen. Zur groben Fahrlässigkeit eines nachträglichen
Fehlverhaltens, die die Erfolgszurechnung an den Täter des Ausgangs-
deliktes ausschließt, wird nach der hier vertretenen Auffassung zwar
kein gesteigerter subjektiver Sorgfaltsverstoß verlangt, aber doch die
Existenz von Fahrlässigkeitsschuld schlechthin27 • Das bedeutet für den
Weinglas-Fall, daß man als Mindesterfordernis eine Feststellung
bräuchte, wonach der Verletzte trotz seiner Alkoholisierung fähig war
zu erfassen, daß ihm bei einer Ablehnung der von der Wiener Augen-
klinik dringend empfohlenen Operation der Verlust des verletzten
Auges drohe. Das Ersturteil enthält zu dieser Frage keine Aussage. Nach
der hier vertretenen Auffassung wäre dieses Urteil daher aufzuheben

26 Vgl. unten V 1 und 2 b.


27 Anderer Auffassung möglicherweise Liebseher, ZVR 1981, 87, der zum
vorliegenden Fall ausführt, daß die Alkoholisierung des Verletzten seine
Eigenverantwortlichkeit nicht aufzuheben vermochte.
368 Manfred Burgstaller

gewesen, damit in einem zweiten Rechtsgang die erforderlichen Fest-


stellungen nachgeholt werden können.

V. Präzisierungen zum Risikozusammenhang

1. Zusatzschwierigkeiten in den realen Fallgestaltungen


Wie bereits mehrfach erwähnt, weisen die realen Gestaltungen un-
serer beiden Fälle gegenüber der bisherigen Schilderung jeweils eine zu-
sätzliche Schwierigkeit auf. Wir gingen bis jetzt aus Vereinfachungs-
gründen davon aus, daß im Boxer-Fall ohne das Fehlverhalten des
ersten Arztes der Verletzte nicht gestorben wäre und daß im Weinglas-
Fall ohne das Fehlverhalten des Opfers selbst das verletzte Auge nicht
verlorengegangen wäre. In der Realität war aber der Zusammenhang
zwischen nachträglichem Fehlverhalten und Enderfolg jeweils un-
sicher.
Im Boxer-Fall gab der Sachverständige laut SSt 47/1 in seinem
schriftlichen Gutachten lediglich an, daß der Verletzte bei einer frühe-
ren Operation "unter Umständen" am Leben geblieben wäre, und
ergänzte das in der Hauptverhandlung dahin, daß bei Verletzungen der
vorliegenden Art der Eintritt des Todes "üblicherweise" zu erwarten
sei. Eine nähere Erörterung der damit angesprochenen Frage unterblieb
in diesem Verfahren, weil sie - im Hinblick auf die Verneinung grober
Fahrlässigkeit des in Rede stehenden nachträglichen Fehlverhaltens mit
Recht - als nicht entscheidungswesentlich erachtet wurde.
Anders im Weinglas-Fall. Hier wurde der Zusammenhang zwischen
nachträglichem Fehlverhalten des Verletzten und Enderfolg ganz ge-
zielt erörtert. Der Sachverständige kam zum Ergebnis, daß es bei
Augenverletzungen der vorliegenden Art zwar auch bei sofortiger Ope-
ration zu einer Infektion mit nachfolgender Eintrübung der Linse und
Netzhautabhebung kommen könne; mit "überwiegender Wahrschein-
lichkeit" sei jedoch anzunehmen, daß der Verlust des verletzten Auges
bei einem sofortigen fachgerechten Eingriff zu vermeiden gewesen wäre.
Das Erstgericht erachtete diese Aussage als ausreichend, um die Zu-
rechnung der in Rede stehenden Dauerfolge an den Täter auszuschlie-
ßen; der Sachverständige habe mit seinem Gutachten jedenfalls klar zum
Ausdruck gebracht, daß der vorliegende Verlust des Auges bei entspre-
chender Behandlung keinesfalls als typischer Erfolg anzusehen gewesen
wäre 28 • Anders der OGH. Er stellt in SSt 51/25 darauf ab, daß nach dem
zitierten Sachverständigengutachten die von der Wiener Augenklinik

28 In der verkürzten Wiedergabe des Ersturteils durch 55t 51/25 ist diese
vom LG5t Wien in seiner E vom 14. 12. 1979, 5 a Vr 5560/79-24, gebrauchte
Argumentation verlorengegangen.
Erfolgszurechnung bei nachträglichem Fehlverhalten 369

empfohlene Operation das verletzte Auge nicht mit einer an Sicherheit


grenzenden Wahrscheinlichkeit gerettet hätte. Die Entscheidung, sich
einer solchen "risikobehafteten" Operation zu unterziehen, müsse aber,
meint das Höchstgericht, der Verletzte letztlich stets nach eigenem
Gutdünken treffen. Aus diesem Grund stelle sich im vorliegenden Fall
das Problem einer grob unvernünftigen Ablehnung eines Eingriffes zur
Verminderung der Tatfolgen gar nicht, und der Verlust des verletzten
Auges sei dem Täter ohne weitere Überlegung zuzurechnen.
Diese Argumentation 'des OGH muß näher analysiert werden. In ihr
sind zwei Probleme miteinander verschmolzen, die getrennt zu erörtern
sind.
2. Zusammenhang zwischen Enderfolg und
nachträglichem Fehlverhalten

Vorrangig geht es eindeutig um die Beziehung, in der das - als


solches feststehende - nachträgliche Fehlverhalten zum eingetretenen
Enderfolg stehen muß, um die Zurechnung eben dieses Erfolges zum
Täterverhalten auszuschließen. Soviel ich sehe, ist diese Frage, obwohl
sie in der Praxis offensichtlich von großer Bedeutung ist, noch nirgends
ausdrücklich untersucht worden.

a) Zunächst liegt es wohl nahe, für die in Rede stehende Beziehung


einfach auf die Kausalitätsformel der Äquivalenztheorie zurückzugrei-
fen. Folgte man dem, so müßte man nach der traditionellen Auffassung
verlangen, daß beim Wegdenken des nachträglichen Fehlverhaltens der
eingetretene Enderfolg mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrschein-
lichkeit entfiele. Offensichtlich ist auch genau das die Auffassung des
OGH in SSt 51/25. Bei näherer Überlegung erweist sich diese Position
aber zumindest dann als fragwürdig, wenn das nachträgliche Fehlver-
halten eines Dritten bzw. des Verletzten selbst - wie in unseren beiden
Beispielsfällen - in einer Unterlassung besteht. Denn bei dieser Gestal-
tung der diskutierten Konstellation, die in der Praxis meistens anzu-
treffen sein wird, könnte die erwogene Kausalitätsprüfung nur hypo-
thetisch, das heißt in bezug auf die vermutete Wirkung des unterlas-
senen positiven Tuns, vorgenommen werden. Auf diese Weise zur
Konstatierung einer Erfolgsverhinderung mit einer an Sicherheit gren-
zenden Wahrscheinlichkeit zu gelangen, wird aber gerade im gegebenen
Zusammenhang nur sehr selten möglich sein. Denn eine retrospektive
Prognose absolut auszusprechen, ist - wie bereits Liebscher betont hat
- für einen seriösen ärztlichen Sachverständigen überaus schwierig29 •
Gewiß stellt sich dieses Problem auch für die Erfolgszurechnung bei
Unterlassungsdelikten. Daraus kann man aber für die hier erörterte
29 Vgl. Liebseher, ZVR 1981,87.

24 FestschrIft für H.-H. Jescheck


370 Manfred Burgstaller

Frage keine Schlüsse ziehen. Denn bei der Erfolgszurechnung der Un-
terlassungsdelikte wirken sich die angesprochenen praktischen Schwie-
rigkeiten zwangsläufig stets zugunsten des Angeklagten aus. Bei Be-
urteilung der Beziehung zwischen nachträglichem Fehlverhalten und
Enderfolg verhält es sich dagegen genau umgekehrt. Hier würde die
erwogene Auffassung dazu führen, daß die Schwierigkeit, einen Kau-
salzusammenhang zwischen den genannten Umständen als unzweifel-
haft zu erweisen, notwendigerweise zu Lasten des Angeklagten geht.
Denn das Mißlingen des geforderten Nachweises bedeutete ja stets, daß
der betreffende Enderfolg dem Angeklagten zuzurechnen ist.
Geht man von dieser Einsicht aus, könnte man unter Berufung auf
den Grundsatz "in dubio pro reo" sogar zu einer radikalen Gegenthese
kommen: Ein Enderfolg ist dem Täter schon dann nicht zuzurechnen,
wenn die Möglichkeit, daß dieser Erfolg ohne das nachträglich gesetzte,
grob fahrlässige Fehlverhalten eines Dritten bzw. des Opfers selbst
nicht eingetreten wäre, jedenfalls nicht auszuschließen ist. Diese Auf-
fassung scheint in der Tat das Erstgericht in dem in ZVR 1977/273 be-
urteilten Fall vertreten zu haben. Eine derart weitreichende Einschrän-
kung der Erfolgszurechnung ist aber wohl von den oben IV 2 b als
maßgeblich erkannten Zwecken des Strafrechts her nicht mehr zu be-
gründen. Insoweit kann man der Entscheidung des OGH im bezogenen
Fall durchaus zustimmen.
Zu überlegen bleibt, ob es nicht eine Lösung zwischen den beiden
erwogenen Positionen gibt. Kehren wir noch einmal zurück zu unserer
Grundeinsicht: Bei nachträglichem Fehlverhalten eines Dritten oder des
Verletzten selbst den Risikozusammenhang auszuschließen, ist dann an-
gebracht, wenn das nachträgliche Fehlverhalten für den eingetretenen
Enderfolg ein derart großes erlebnismäßiges Gewicht erhält, daß es den
Zusammenhang dieses Erfolges mit dem Verhalten des Täters ganz in
den Hintergrund treten läßt. Die entscheidende Frage ist nun, ob man
das unter Umständen auch dann sagen kann, wenn eine Kausalbezie-
hung zwischen nachträglichem Fehlverhalten und Enderfolg zwar zu
vermuten, aber nicht sicher ist. Nach einigem Zögern möchte ich diese
Frage bejahen. Ich meine, daß es für einen Ausschluß des Risikozusam-
menhanges zwischen Täterverhalten und Enderfolg genügen sollte, daß
dieser Erfolg ohne das grob fahrlässige nachträgliche Fehlverhalten
wahrscheinlich unterblieben wäre. Bei dieser Konstellation ist das
Risiko, das das Fehlverhalten eines Dritten bzw. des Verletzten selbst
für den Enderfolg begründet hat, gegenüber dem vom Täter ausgelösten
Risiko für eben diesen Erfolg sozi al psychologisch bereits so dominant,
daß es mir sachgerecht erscheint, auf eine Zurechnung des Enderfolgs
zum Täterverhalten zu verzichten.
Erfolgszurechnung bei nachträglichem Fehlverhalten 371

b) Legt man das zugrunde, so sind unsere beiden Beispielsfälle unter


dem erörterten Aspekt verschieden zu behandeln.
Die Beziehung zwischen nachträglichem Fehlverhalten und Enderfolg,
wie sie im Boxer-Fall konstatiert wurde, ist nach dem Gesagten unzu-
reichend. Daß der Tod des Verletzten ohne das festgestellte ärztliche
Fehlverhalten bloß "unter Umständen" nicht eingetreten wäre, ist für
einen Ausschluß der Zurechnung dieses Erfolges zum Täterverhalten
prinzipiell zu wenig. Das heißt: Bei der geschilderten Fallgestaltung
wäre dem Täter der Tod des Verletzten selbst dann zuzurechnen gewe-
sen, wenn das nachträgliche Fehlverhalten als grob fahrlässig zu beur-
teilen gewesen wäre.
Anders verhält es sich im Weinglas-Fall. Zwar konnte auch hier nicht
festgestellt werden, daß der Enderfolg ohne das nachträgliche Fehlver-
halten sicher ausgeblieben wäre: es war nicht auszuschließen, daß das
vom Täter verletzte Auge unter Umständen auch dann verlorengegan-
gen wäre, wenn die vom Opfer verweigerte sofortige Operation durch-
geführt worden wäre. Nach dem Sachverständigengutachten steht aber
jedenfalls fest, daß die angeführte Dauerfolge ohne das bezeichnete
Fehlverhalten des Verletzten "mit überwiegender Wahrscheinlichkeit"
vermieden worden wäre. Das reicht - grobe Fahrlässigkeit des Fehl-
verhaltens unterstellt - nach der hier vertretenen Auffassung aus, um
die Zurechenbarkeit des Enderfolges zum Täterverhalten zu verneinen.
Das heißt: Ich gehe in diesem Punkt, wie das auch bereits Liebseher
getan hat 80 , konform mit der Entscheidung des Erstgerichtes und halte
die gegenteilige Auffassung des OGH in SSt 51/25 für nicht überzeu-
gend.
3. Ergänzungen zum Begriff des Fehlverhaltens
Zu beachten ist allerdings, daß die zitierte höchst gerichtliche Entschei-
dung im gegebenen Zusammenhang noch ein zusätzliches Problem auf-
wirft, das bei unseren überlegungen bisher unberücksichtigt blieb.
SSt 51/25 hat aus der Tatsache, daß im Weinglas-Fall die von den Ärzten
empfohlene Operation das verletzte Auge nicht mit einer an Sicherheit
grenzenden Wahrscheinlichkeit gerettet hätte, abgeleitet, daß diese
Operation risikobehaftet und der Verletzte deshalb überhaupt nicht ver-
pflichtet war, sich ihr zu unterziehen. Das ist wohl so zu verstehen, daß
der OGH in der vorliegenden Operationsverweigerung gar kein Fehl-
verhalten des Verletzten erblickte, womit dann natürlich in der Tat für
einen Ausschluß der Zurechnung des Enderfolges zum Täterverhalten
jedwede Grundlage fehlt. - Dieser Argumentation ist aber nicht zu
folgen.

80 VgI. Liebseher, ZVR 1981,87.

24·
372 Manfred Burgstaller

Auszugehen ist davon, daß es bei der Frage, ob ein bestimmtes nach-
trägliches Verhalten des Verletzten als Fehlverhalten im hier interes-
sierenden Sinn einzustufen ist, nicht darauf ankommt, ob zur Unterlas-
sung des betreffenden Verhaltens eine echte rechtliche Verpflichtung
bestand3!. Es genügt vielmehr, daß ein einsichtiger und gewissenhafter
Mensch zur Abwehr des ihm drohenden weiteren Schadens entspre-
chende Gegenmaßnahmen ergriffen hätte 32 •
Ob man dies in einem konkreten Fall überhaupt bzw. sogar in der
qualifizierten Form bejahen kann, daß die Unterlassung bestimmter
Handlungen zur Schadens abwehr dem Verletzten nicht bloß als fehler-
haft schlechthin, sondern als grob fehlerhaft anzulasten ist, hängt unter
anderem sicher auch davon ab, mit welchem Wahrscheinlichkeitsgrad
die unterlassenen Maßnahmen den Eintritt des Enderfolges hätten ver-
hindern können. Soweit der OGH in SSt 51/25 diesen Zusammenhang
bewußt macht, ist das daher durchaus verdienstlich. Man darf den ange-
sprochenen Aspekt aber keinesfalls verabsolutieren. Ob - um gleich bei
unserem Beispielsfall zu bleiben - die Verweigerung einer Operation
als grob fahrlässiges Fehlverhalten des Verletzten zu beurteilen ist, hängt
selbstredend nicht nur davon ab, mit welchem Wahrscheinlichkeitsgrad
diese Operation das mit ihr angestrebte Ziel voraussichtlich erreichen
wird. Offensichtlich ist vielmehr eine Gesamtabwägung einer Vielzahl
von Faktoren erforderlich: Es kommt einerseits darauf an, welche Fol-
gen mit welcher Wahrscheinlichkeit ohne Operation zu erwarten sind,
und anderseits darauf, welche Chancen und welche Risiken die Durch-
führung der Operation eröffnet. Versucht man das für den Weinglas-
Fall zu konkretisieren, so ergibt sich folgende Situation: Ohne Operation
war das verletzte Auge offenbar mit Sicherheit verloren. Die Durchfüh-
rung der Operation dagegen hätte das Auge zwar nicht sicher, aber doch
mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gerettet. Dafür, daß die Opera-
tion für den Verletzten irgendwelche Risiken begründet hätte, die über
den Verlust des ohne Operation sicher verlorenen Auges hinausgegan-
gen wären, findet sich kein Anhaltspunkt.
Bei dieser Sachlage muß man die Auffassung des OGH, die in Rede
stehende Operation sei in einem solchen Maße "risikobehaftet" gewe-
sen, daß ihre Verweigerung nicht als Fehlverhalten anzulasten sei, mit
Liebscher eindeutig ablehnen33 • Die vorliegende Operationsverweige-
rung ist vielmehr als grobe Fahrlässigkeit des Verletzten einzustufen
und bildet daher durchaus eine Grundlage dafür, den Risikozusammen-

3! Vgl. Burgstaller, Fahrlässigkeitsdelikt, S. 122.


82 Aufschlußreich zum Parallelproblem der zivilrechtlichen Schadensmin-
derungspflicht Koziol, Osterr. Haftpflichtrecht I, 2. Aufl. 1980, S. 257 ff., 261.
83 Vgl. Liebseher, ZVR 1981, 87.
Erfolgszurechnung bei nachträglichem Fehlverhalten 373

hang zwischen dem Verlust des Auges und dem Täterverhalten zu ver-
neinen31 •
Voraussetzung für diesen Ausschluß der Erfolgszurechnung bleibt im
konkreten Fall allerdings - daran ist nochmals zu erinnern - , daß der
Verletzte die geschilderte Sachlage zumindest in ihrem Kern richtig er-
fassen konnte. Wäre er in dem Zeitpunkt, als er in der Augenklinik die
dringend empfohlene Operation verweigerte und auf seiner Entlassung
bestand, wirklich noch so stark unter Alkoholeinfluß gestanden, daß er
gar nicht fähig war zu begreifen, daß diese Operation zur Rettung des
verletzten Auges erforderlich war, müßte man insoweit aus subjektiven
Gründen ein grob fahrlässiges Fehlverhalten des Verletzten verneinen.
Möglicherweise käme man im vorliegenden Fall freilich dennoch zu
einem Ausschluß der Zurechnung des Enderfolges zum Täterverhalten.
Unter Umständen kann man nämlich an das in der Fallschilderung mit-
geteilte weitere Geschehen anknüpfen. Schließlich wurde der Verletzte
etwa zwei Wochen nach der Tat vom Krankenhaus Braunau neuerlich
an einen Augenarzt überwiesen, hat dieser überweisung aber nicht
Folge geleistet35 • Ob hierin eine grobe Fahrlässigkeit des Verletzten zu
erblicken ist und ob in diesem Zeitpunkt eine Rettung des Auges noch
immer mit ausreichender Wahrscheinlichkeit möglich gewesen wäre,
läßt sich aber nach den vom Erstgericht getroffenen Feststellungen nicht
abschätzen.

VI. Subjektive Erfolgszurechnung

Sind in einem konkreten Fall die Bedingungen, unter denen das nach-
trägliche Fehlverhalten eines Dritten oder des Verletzten selbst den
Risikozusammenhang zwischen Täterverhalten und Enderfolg entfallen
läßt, gegeben, so steht damit der Ausschluß der Zurechenbarkeit dieses
Erfolges bereits endgültig fest: Die Frage der subjektiven Erfolgszu-
rechnung stellt sich gar nicht mehr. Aktuell werden kann diese zweite
Zurechnungsebene im gegebenen Zusammenhang also nur dann, wenn
ein nachträgliches Fehlverhalten vorliegt, das - sei es, weil es nur als
leicht fahrlässig zu beurteilen ist, sei es, weil sein Zusammenhang mit
dem Enderfolg nicht ausreicht - die objektive Zurechnung dieses Erfol-
ges zum Täterverhalten nicht hindert. Ob sich bei dieser Fallgestaltung
für die subjektive Erfolgszurechnung spezielle Probleme ergeben, soll
zum Abschluß kurz überlegt werden.
Nach der traditionellen Auffassung könnte man derartige Probleme
durchaus erwarten. Denn diese Auffassung verlangt für die subjektive

34 Ebenso ausdrücklich Liebseher, ZVR 1981,87.


35 Darauf weist ausdrücklich auch Liebseher, ZVR 1981, 87 hin.
374 Manfred Burgstaller

Zurechnung bekanntlich, daß Vorsatz bzw. subjektive Fahrlässigkeits-


komponente nicht nur den Erfolg als solchen, sondern in den wesentli-
chen Zügen auch den zu ihm führenden Kausalverlauf erfassen38 • Und
darüber, ob man das Dazwischentreten eines nachträglichen Fehlverhal-
tens nicht auch in solchen Fällen, in denen die objektive Zurechenbar-
keit des Enderfolges zum TäterverhaIten zu bejahen ist, als wesentliche
und dem Täter nicht voraussehbare Abweichung vom normalen Kausal-
verlauf beurteilen sollte, wäre sicher oft zu streiten.
Glücklicherweise braucht man sich aber auf die angesprochenen
heiklen Fragen heute nicht mehr einzulassen. Denn die geschilderte
Auffassung über die subjektive Erfolgszurechnung dürfte nach der
neu esten Entwicklung zumindest für Österreich als überholt anzusehen
sein. Wenn man die Lehre von der objektiven Erfolgszurechnung wirk-
lich ernst nimmt, ist für die Forderung, Vorsatz bzw. subjektive Fahr-
lässigkeitskomponente müßten sich - wenngleich eingeschränkt auf die
wesentlichen Züge - auch auf den konkreten Kausalverlauf erstrecken,
in Wahrheit kein Bedarf mehr 37 • Es genügt vielmehr, daß der Erfolg
in einer Weise zustandekommt, die den Anforderungen des Adäquanz-
und Risikozusammenhanges entspricht38 • Trifft dies zu, ist die Tatsache,
daß das konkrete Kausalgeschehen anders ablief als vom Täter erwartet
werden konnte, in jedem Fall irrelevant. Diese Einsicht findet man nicht
nur im jüngsten Schrifttum39 , sondern erfreulicherweise auch bereits
mehrfach in der österreichischen Rechtsprechung40 •
Die Auswirkungen der skizzierten neuen Auffassung auf die Kon-
stellation des nachträglichen Fehlverhaltens liegen auf der Hand: Die
angeführte Konstellation ist allein ein Problem der objektiven Erfolgs-
zurechnung. Spezielle Fragen der subjektiven Zurechnung des End-
erfolges zum Täterverhalten stellen sich generell nicht mehr.

38 Umfassende Nachweise bei Schmoller, Die Kategorie der Kausalität und


der naturwissenschaftliche Kausalverlauf im Lichte strafrechtlicher Tat-
bestände, ÖJZ 1982, 449 ff.
37 Grundlegend für Österreich Schmoller, ÖJZ 1982, 449 ff. und 487 ff. Für
die Bundesrepublik Deutschland vor allem Rudolphi, in: SK, § 16 Rz. 31.
38 So - aufbauend auf Rudolphi, JuS 1969, 552 - Burgstaller, Fahrlässig-
keitsdelikt, S. 187 und WK, § 6 Rz. 94.
30 Vgl. namentlich Schmoller, ÖJZ 1982, 449 ff. und 487 ff., der theoretisch
noch einen Schritt über die Auffassung des Textes hinauszugehen scheint,
aber mit ihr im praktischen Ergebnis m. E. voll übereinstimmt.
co Vgl. ZVR 1976/198 und 305 sowie zuletzt ÖJZ-LSK 1983/36.
Erfolgszurechnung bei nachträglichem Fehlverhalten 375

VII. Ergebnis

1. Das nachträgliche Fehlverhalten eines Dritten oder des Verletzten


selbst schließt die Zurechnung des Enderfolges zum Täterverhalten bei
zwei Fallgestaltungen aus:
a) Wenn der zum Enderfolg führende Kausalverlauf aufgrund des
nachträglichen Fehlverhaltens völlig außerhalb des Rahmens der ge-
wöhnlichen Erfahrung liegt, fehlt es am Adäquanzzusammenhang.
b) Wenn das nachträgliche Fehlverhalten in bezug auf den Enderfolg
vorsätzlich oder grob fahrlässig gesetzt wurde und dieser Erfolg ohne
das bezeichnete Fehlverhalten zumindest wahrscheinlich nicht eingetre-
ten wäre, fehlt es am Risikozusammenhang.

2. Liegt keine der angeführten Fallgestaltungen vor, bildet das Da-


zwischentreten eines nachträglichen Fehlverhaltens für die Zurechnung
des Enderfolges zum Täterverhalten kein Hindernis. Spezielle Probleme
der subjektiven Erfolgszurechnung entstehen nicht.
KAZIMIERZ BUCHALA

Der Dolus eventualis in der polnischen


Strafrechtslehre und Rechtsprechung

I.

Der sogenannte "dolus eventualis" gehört schon seit dem vorigen


Jahrhundert zu den umstrittensten Problemen der Strafrechtslehrei.
Der hartnäckigste Streit um das Wesen dieser Vorsatzart, um seine
Rechtsform, seine Abgrenzung von der bewußten Fahrlässigkeit und
seine Stellung in der Struktur der Straftat und im Verbrechensauf-
bau wurde in der deutschen Wissenschaft ausgefochten. Die im Laufe
des 20. Jahrhunderts geführten Auseinandersetzungen liefen auf eine
Reihe von Abgrenzungstheorien hinaus, die sich in drei Hauptgruppen
ordnen lassen. Zur ersten Hauptgruppe gehören die Auffassungen, die
das Abgrenzungsmerkmal auf der intellektuellen Ebene suchen, be-
sonders die Wahrscheinlichkeitstheorie2 und die Theorie, die auf die
Kenntnis der konkreten Gefahr abstellt 3 • Die zweite Hauptgruppe
umfaßt die Auffassungen, die das entscheidende Abgrenzungsmerkmal
auf der voluntativen Ebene suchen. Hierher gehören: die Theorie, nach
der es neben dem Wissen um die konkrete Gefährlichkeit der Tat auf
das Billigen der Tatbestandsverwirklichung ankommen soll4, die Ein-
willigungstheorie mit ihren verschiedenen Erscheinungsformen5 , die
Theorie mangelnder Betätigung eines VermeidungswillensG, die Theo-
rie, nach der es auf das Ernstnehmen der Gefahr ankommF und die

1 Stratenwerth, Dolus eventualis und bewußte Fahrlässigkeit, ZStW 71


(1959), S. 51.
2 Mayer, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1953, S. 520 ff.

3 Schröder, Aufbau und Grenzen des Vorsatzbegriffs, Festschrift für Sauer,


1949, S. 247 ff.; Schmidhäuser, Zum Begriff der bewußten Fahrlässigkeit, GA
1957, S. 312 ff.
4 Maihofer, Zur Systematik der Fahrlässigkeit, ZStW 70 (1958), S. 159.

5 Vgl. Ambrosius, Untersuchungen zur Vorsatzabgrenzung, Dissertation


Freiburg i. Br., 1964, S. 36 ff.
6 Armin Kaufmann, Der Dolus eventualis im Deliktsaufbau. Die Auswir-
kungen der Handlungs- und der Schuldlehre auf die Vorsatzgrenze, ZStW 70
(1958), S. 64 ff.
7 Stratenwerth, Dolus eventualis und bewußte Fahrlässigkeit, ZStW 71
(1959), S. 55 ff.
378 Kazimierz Bucha1a

neueste Theorie des Sich-Abfindens mit der Verwirklichung des ernst-


lich für möglich gehaltenen Erfolgs 8 • Zur dritten Hauptgruppe gehören
die Auffassungen, die das Abgrenzungsmerkmal in die Gesinnungs-
ebene verlegenD. Diese Auseinandersetzungen über Wesen und Ab-
grenzungskriterien haben unter dem Einfluß der finalen Handlungs-
lehre neue Einsichten ergeben, aus denen weitere Impulse folgten,
insbesondere in bezug auf Wesen und Stellung des bedingten Vorsat-
zes im Verbrechensaufbau. Eine der wichtigsten Auswirkungen dieser
neuen Lehre war die Herauslösung des Vorsatzes aus dem Schuld-
bereich und dessen Eingliederung in den Begriff der tatbestandsmäßi-
gen Handlung. Der verehrte Jubilar hat einen wesentlichen Beitrag
zur Bestimmung von Wesen, Stellung und Abgrenzungskriterien des
bedingten Vorsatzes geleistepo.
Dieses aktuelle Thema wird auch in der Literatur anderer Länder
aufgegriffen. Das beweist die Arbeit von Alt Ross, in der ein Vergleich
zwischen Wissenschaftsanschauungen und Rechtsprechung in Däne-
mark, Schweden, England und der Bundesrepublik Deutschland vor-
genommen wurdeu. Auch in der polnischen Wissenschaft schrieb man
im 20.Jahrhundert viel zu diesem Thema. Diese Form des Vorsatzes
spielte schon eine gewisse Rolle in der polnischen Gerichtspraxis der
Jahre 1918 -1939, aber diese Rolle verstärkte sich wesentlich in den
fünfziger Jahren im Zusammenhang mit den Verkehrs- und Wirt-
schaftsdelikten. In Verbindung mit den Verkehrsdelikten äußerte sich
das Oberste Gericht sehr oft zum bedingten Vorsatz. Das jetzt geltende
Strafgesetzbuch von 1969 änderte zwar nicht die auf den bedingten
Vorsatz bezügliche Formel des Strafgesetzbuches von 1932, jedoch
änderten sich die Vorschriften zu den Verkehrsdelikten, was gewisser-
maßen automatisch zu einer viel selteneren Anwendung dieser Form
des Vorsatzes führte, aber nicht heißen soll, daß es heute keine Pro-
bleme mit der Anwendung des bedingten Vorsatzes gäbe. Dieses
Thema betreffende Urteile finden wir vor allem beim Totschlag. Die
umfangreiche und kontroverse Rechtsprechung veranlaßte natürlich

8 Jescheck, Aufbau und Stellung des bedingten Vorsatzes im Verbrechens-


begriff, Festschrift für E. Wolf, 1962, S. 473 ff.
9 Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit, 1930, S.233;
Gallas, Zum gegenwärtigen Stand der Lehre vom Verbrechen, ZStW 67 (1955),
S. 1 ff.
10 Jescheck, Besprechung von Welzel, Strafrecht, 5. Auf!. 1956, MDR 1956,
S.447; ders., Der strafrechtliche Handlungsbegriff in dogmengeschichtlicher
Entwicklung, Festschrift für Eb. Schmidt, 1961, S. 139 ff.; ders., Aufbau und
Stellung des bedingten Vorsatzes im Verbrechensbegriff, Festschrift für E.
Wolf, 1962, S. 473 ff.; ders., Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 3. Auf!. 1978,
S. 235 ff.
11 Ross, über den Vorsatz, Studien zur dänischen, englischen, deutschen
und schwedischen Lehre und Rechtsprechung, 1979.
Der Dolus eventualis in der polnischen Strafrechtslehre 379

die Strafrechtstheorie zur kritischen Analyse der Urteile, besonders


des Obersten Gerichts, doch beschränkte sich die Theorie nicht nur auf
deren Kommentierung, sie versuchte vielmehr, auch neues Licht auf
das Wesen und die Abgrenzungskriterien des bedingten Vorsatzes zu
werfeni!.
Ir.
In der polnischen Strafrechtswissenschaft wurden über das Wesen
des bedingten Vorsatzes noch vor der Veröffentlichung des Strafge-
setzbuches von 1932 Kontroversen geführt, die sich vor allem mit den
Namen E. Krzymuski, W. Wolter und J. Makarewicz verbinden. Die
genannten Autoren repräsentieren Auffassungen, die zur Einwilli-
gungstheorie zu zählen sind. In dieser Diskussion fand jedoch die von
R. Frank erfundene Formel für den bedingten Vorsatz in der ersten
wie auch in der zweiten Fassung ebenso wenig Verwendung l3 wie die
Formel von R. von Hippel 14 • Das Interesse der polnischen Autoren
konzentrierte sich hauptsächlich auf die Abgrenzung zwischen Fahr-
lässigkeit und bedingtem Vorsatz, unter der Voraussetzung, daß die
Abgrenzung zum direkten Vorsatz selbstverständlich ist und keine
Schwierigkeiten bereitet. Der Täter, der nur den möglichen Neben-
erfolg billigend in Kauf nimmt, will diesen Erfolg nicht, denn Billigen
und Erfolgswille schließen sich als Komplementärbegriffe gegenseitig
aus. Die meist angewandten Formeln des bedingten Vorsatzes in die-
ser Diskussion sind folgende: 1. Der Täter sieht die Möglichkeit des
Begehens einer Straftat voraus und nimmt diese in Kauf, er billigt sie
also, oder 2. er sieht die Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung
voraus und akzeptiert dieses Risiko, oder 3. er handelt mit dem Be-
wußtsein der Gefahr des Erfolgseintritts und ist damit einverstandenl5 •
Hinzufügen kann man, daß E. Krzymuski in einer späteren Arbeit ein
Beispiel anführte, in dem er den bedingten Vorsatz in einer an Frank
erinnernden Formel charakterisierte. Er schrieb nämlich: "Wenn der
Besitzer eines sehr abgenutzten und hochversicherten Schiffes sich ent-
scheidet, Personen oder Ware auch in dem Fall zu transportieren, daß

12 Die finale Handlungslehre wurde von der polnischen Wissenschaft nicht


übernommen. Aus diesem Grunde behandelt die Mehrheit der Autoren den
Vorsatz als eine Form der Schuld. Ein Teil der Autoren geht davon aus, daß
der Vorsatz eine DoppelsteIlung innehat, sie behandeln ihn als ein Merkmal
des Tatbestandes wie auch als ein Merkmal der Schuld; vgl. Buchala, Prawo
karne materialne (Materielles Strafrecht), 1980, S. 245.
13 Frank, Das Strafgesetzbuch, 18. Aufl. 1931, § 59 Anm. V.
14 von Hippel, Vorsatz, Fahrlässigkeit, Irrtum, in: Vergleichende Darstel-
lung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Allg. Teil, III. Band, 1908,
S. 491 ff.
15 Wolter, Studia z zakresu prawa karnego. Problematyka zamiaru wyni-
kowego (Studien aus dem Strafrechtsbereich. Die Probleme des bedingten
Vorsatzes), 1947.
380 Kazimierz Buchala

das Schiff samt Besatzung untergeht, so haben wir es mit dolus even-
tualis zu tun 18 ."
Der Streit um das Wesen des bedingten Vorsatzes wurde in gewis-
sem Maße durch das Strafgesetzbuch von 1932 entschieden, das neben
dem direkten Vorsatz auch den bedingten Vorsatz regelte 17 und ihn
entsprechend der Einwilligungstheorie definierte - als Voraussicht
der Möglichkeit der Begehung einer Straftat und als Einverständnis
mit der Begehung (Akzeptieren der Begehung der Straftat). Nach die-
sem Strafgesetzbuch beruht die Fahrlässigkeit auf der Voraussicht
der Möglichkeit des Begehens einer Straftat und der unbegründeten
Erwartung, daß diese nicht eintreten werde (Handeln im Vertrauen
darauf, daß der Straftatbestand nicht eintreten werde). Man entschied
sich also dafür, daß der bedingte Vorsatz das Bewußtsein der Mög-
lichkeit der Tatbestandsverwirklichung und eine bestimmte Willens-
einstellung (Einwilligung, Einverständnis, Billigung)18 verlangt. Man
entschied sich weiterhin dafür, daß der bedingte Vorsatz nicht nur bei
Erfolgsdelikten, sondern auch bei Tätigkeitsdelikten in Betracht
kommt. Die Formel des Strafgesetzbuchs von 1932 konnte jedoch den
Weg zur wissenschaftlichen Analyse des bedingten Vorsatzes nicht er-
setzen. An der Diskussion über das Wesen des bedingten Vorsatzes,
über seine Stellung im Rahmen der Struktur der subjektiven Seite
der Straftat und über die Abgrenzung von anderen Formen des Vor-
satzes und von der Fahrlässigkeit nahmen viele Wissenschaftler und
in der Praxis tätige Juristen teil. Die Diskussionen führten jedoch zu
keiner Abwandlung der Formel des bedingten Vorsatzes, die im Straf-
gesetzbuch von 1969 eigentlich ohne Änderungen wiederholt wurde.
Um die Diskussion über den bedingten Vorsatz zu charakterisieren,
muß festgestellt werden, daß die überwiegende Mehrheit der Autoren
einen der Einwilligungstheorie entsprechenden Standpunkt einnahm,
obwohl man verschiedene Formulierungen zur Beschreibung des Moti-
vationsprozesses benutzte. Nur A. Berger versuchte, den direkten Vor-
satz vom bedingten auf der Grundlage des intellektuellen Faktors ab-
zugrenzen, weshalb er auch die Vorstellungstheorie vertrat. Er kam
zu dem Ergebnis, daß bedingter Vorsatz dann gegeben ist, wenn der
Täter die Möglichkeit des Erfolges seines HandeIns als wahrscheinlich
voraussieht, direkter Vorsatz hingegen, wenn der Täter die Straftat
als unvermeidliche Folge seines Verhaltens betrachtetl9 • Dieser Vor-

16 Krzymuski, System prawa karnego (Das Strafrechtssystem), 1921, S. 112.


17 Das polnische Strafgesetzbuch verwendet nicht den Begriff der "Absicht".
18 Diese Willenseinstellung wird meistens durch die erwähnten Begriffe
ausgedrückt.
19 Berger, Usilowanie cum dolo eventuali (Versuch eum dolo eventuali),
Glos Sqdownictwa 1934, Nr. 2, S. 140.
Der Dolus eventualis in der polnischen Strafrechtslehre 381

schlag fand jedoch keine Anerkennung, weder in der Wissenschaft


noch in der Rechtsprechung.
Weiter muß aus der wissenschaftlichen Diskussion der Vergangenheit
berichtet werden, daß J. Makarewicz ähnlich wie schon vorher E. Krzy-
muski20 , den Standpunkt einnahm, daß das Wesen des bedingten Vorsat-
zes auf den bedingten Willen zurückzuführen sei, dagegen trete im
Falle des direkten Vorsatzes direkter Wille auf. Nach Makarewicz be-
steht der bedingte Vorsatz darin, daß der Täter so wie beim direkten
Vorsatz den Erfolg erreichen will, aber nur dann, wenn er tatsächlich
eintritt 21 • Diese Anschauung wurde schon durch von Hippel bekämpft,
unter den polnischen Autoren vor allem von W. Wolter 22 , und auch ich
hatte die Gelegenheit, mich kritisch dazu zu äußern23 • Es lohnt heute
nicht, auf diesen Streit zurückzukommen. Vielmehr genügt das Argu-
ment, daß der Wille entweder existiert oder nicht existiert, denn der
Wille ist der steuernde Faktor, der bestimmte Änderungen in der Um-
welt verwirklicht. Der Wille kann nicht vom Erreichen des Erfolges als
Voraussetzung abhängig gemacht werden, in dem Sinne, daß er existiert,
falls der Erfolg eintritt, jedoch fehlt, wenn er nicht eintritt. Zusätzliche
Argumente gegen diesen Standpunkt des bedingten Willens lieferte das
Strafgesetzbuch von 1969, das nämlich klarstellt, daß bei bedingtem
Vorsatz auch der Versuch möglich ist. Wenn der bedingte Vorsatz tat-
sächlich auf dem Erreichen des Erfolges beruhte und von seinem Ein-
tritt abhängig wäre, so könnte ein Versuch überhaupt nicht möglich sein.
Man muß auch hervorheben, daß in der polnischen Literatur dieser
Periode keine Anschauungen hervortraten, die der Konzeption eines
hypothetischen Willens entsprachen. Alle Autoren, die sich in dieser
Sache äußerten, waren sich darin einig, daß der dolus eventualis eine
Sonderart des Vorsatzes ist, mit anderen Worten: Er ist ein Willens-
akt, er ist ähnlich dem Wollen der Verwirklichung von Tatbestands-
merkmalen nur dahingehend anderen Inhalts, als er auf dem Billigen
bzw. Akzeptieren des Erfolges beruht 24 • Man muß hinzufügen, daß diese
20 Krzymuski, Wyklad prawa karnego (Vortrag des Strafrechtssystems),
3. Auf!. 1911, S. 38.
21 Makarewicz, Kodeks karny z komentarzem (Strafgesetzbuch mit Kom-
mentar), 3. Auf!. 1934, S. 64 ff.
22 Wolter, W sprawie tzw. zamiaru ewentualnego (über den sogenannten
dolus eventualis), Nowe Prawo 1957, Nr. 5, S. 38.
23 Buchala, Problemy zamiaru wynikowego (Probleme des bedingten Vor-
satzes), Panstwo i Prawo 1960, Nr. 5, S. 605 ff.
24 Wolter, Zarys systemu prawa karnego (Grundriß des Strafrechts), 1933,
S.98; ders., Prawo karne (Strafrecht), 1947, S. 146 ff.; ders., Studia (Anm.15),
S.8 ff.; Sliwinski, Prawo karne materialne (Materielles Strafrecht), 1946,
S. 234 ff.; Bugajski, Element woli w zamiarze ewentualnym (Willenselement
in dem bedingten Vorsatz), Nowe Prawo 1960, Nr.1, S. 65 ff.; Papierkowski,
Glosa do wyr. SN z 3. 11. 1958 (Erklärende Bemerkung zum Urteil des Ober-
sten Gerichts vom 3. 11. 1958), OSPiKA 1958 Nr. 10.
382 Kazimierz Buchala

Anschauung in der Rechtsprechung des Obersten Gerichts vorherrschte


und weiterhin vorherrscht. Die sie vertretenden Autoren sind davon
überzeugt, daß ein derartiger Willensakt tatsächlich auftritt. Manche
von ihnen erhalten die Bestätigung für diese überzeugung auf dem
Wege der Betrachtung der eigenen Lebenserfahrung. Mitunter berufen
sie sich auch darauf, daß die Zustimmung zum Handeln, die nur für
den Fall des Eintritts des Erfolgs des Handelns auf diesen bezogen ist,
nicht nur im Zivilrecht auftritt, sondern auch ein Merkmal einiger Straf-
tatbestände darstellt. So bedeutet z. B. bei der Abtreibung mit Zustim-
mung der Schwangeren das Wort "Zustimmung" im Polnischen das
gleiche wie das Wort "akzeptieren", und hier finden wir also eine Ana-
logie zum Akzeptieren als einer Art des Vorsatzes. Die angebliche Ana-
logie mit dem von einem fremden Willen abhängigen Billigen als Wil-
lensakt wurde jedoch einer Kritik unterzogen, in der die wesentlichen
Unterschiede zwischen dem Willensakt derjenigen Person, die sich mit
dem vorgesehenen Erfolg der Tat abfindet, und dem zweiten Willensakt,
der auf das Verlangen einer anderen Person zurückgeht, hervorgehoben
wurden 2ä • Die Diskussion über diese Probleme führte jedoch zur Formu-
lierung charakteristischer Merkmale des psychischen Sachverhalts des
bedingten Vorsatzes, die in der Folgezeit als Kriterium für seine Fest-
stellung in der Praxis dienten, unabhängig davon, ob es sich tatsächlich
um konstitutive Merkmale des bedingten Vorsatzes als eines Willens-
aktes handelte oder nur um gewöhnliche Begleitumstände seines Auf-
tretens. Gemeint sind die folgenden Kriterien: 1. Der bedingte Vorsatz
tritt niemals selbständig, sondern immer in Begleitung eines direkten
Vorsatzes auf, der aber entweder auf einen erlaubten Erfolg gerichtet
ist oder aber auf einen solchen, der zwar strafbar, aber mit einer gerin-
geren Schädlichkeit verbunden ist; 2. Die Verwirklichung des Zieles
verbindet sich untrennbar mit der Gefahr eines Nebenerfolges, den der
Täter nicht will, dessen Zusammenhang mit dem angestrebten Ziel je-
doch so eng bzw. so naheliegend ist, daß das beabsichtigte Ziel ohne
das Auftreten der erheblichen Gefahr des Eintretens dieses Nebenerfol-
ges nicht erreicht werden kann; 3. Die Motivation, das Ziel zu erreichen,
ist jedoch so stark, daß sie im Entscheidungsprozeß einen ausschlag-
gebenden Einfluß auf den Willen des Täters ausübt, was zur Akzeptie-
rung des Eintritts des nicht gewollten Nebenerfolges führt bzw. zum
Sich-Abfinden mit seinem Eintritt; 4. Der nicht gewollte, aber akzep-
tierte Erfolg kann vom Standpunkt des Täters kein solcher Erfolg sein,
der den Sinn der Zielerreichung durchkreuzt. Wenn jedoch im Motiva-
tionsprozeß des Täters die überzeugung dominiert, daß der Nebenerfolg
nicht auftreten wird und deshalb die Handlung vorgenommen wird, so
liegt nicht dolus eventualis, sondern bewußte Fahrlässigkeit vor8 •
%5 Wolter Studia (Anm.15); Buchala, Problemy zamiaru wynikowego
(Anm.23). '
Der Dolus eventualis in der polnischen Strafrechtslehre 383

In der polnischen Literatur über den bedingten Vorsatz wird auch die
Anschauung vertreten, die die ontologische Struktur dieses Vorsatzes
als Sich-Abfinden bzw. Billigen oder Akzeptieren in Frage stellt. In den
60er Jahren waren es M. Szerer und St. Plawski, die wesentliche Argu-
mente gegen die herrschende Einwilligungstheorie erhoben. Szerer
meinte, daß es den bedingten Vorsatz in Gestalt des Sich-Abfindens
bzw. der Billigung oder des Inkaufnehmens in Wirklichkeit nicht gebe,
daß es vielmehr nur eine Erfindung der Wissenschaftler sei, um die
Lücke zwischen dem direkten Vorsatz und der Fahrlässigkeit zu füllen.
Nach Szerers Ansicht sollte man besser drei Formen der Schuld unter-
scheiden27 • Eine ähnliche Ansicht vertrat auch Plawski 28 • Die Mittelform,
die den ganzen psychischen Sachverhalt, der bisher im bedingten Vor-
satz untergebracht war, sowie die bewußte Fahrlässigkeit umfassen
sollte, beruht nach diesen Autoren auf dem Bewußtsein der Möglichkeit
der Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale, ungeachtet ihrer Wahr-
scheinlichkeit im konkreten Einzelfall. Dies ist indessen keine neue Auf-
fassung, obwohl sie noch heute vertreten wird, sondern lediglich eine
unwesentliche Modifikation der Anschauungen Löfflers und Miiickas 29 ,
gegen die schon eine Vielzahl begründeter Argumente ontologischer und
teleologischer Natur vorgebracht worden ist 30 •
Ein wenig näher soll die Theorie W. Wallers, die er 1957 vorlegte und
1981 überarbeitete, besprochen werden, die als Gleichgültigkeitstheorie
bezeichnet wurde, aber nicht mit der Gefühlstheorie Engischs überein-
stimmt31 • Bevor wir zu ihrer Analyse kommen, muß hervorgehoben wer-
den, daß Wolter noch 1933 die Möglichkeit erwog, den bedingten Vor-
satz, vermutlich unter dem Einfluß von Engisch, als "nicht näher be-
stimmte Gleichgültigkeit" aufzufassen, deren gute Seite - wie er selbst
schrieb - darin besteht, "daß dem Täter jeder Erfolg zugeschrieben
werden konnte, obwohl er unmittelbar nicht beabsichtigt war". Von
dieser Theorie nahm er jedoch Abstand, da nach ihr der bedingte Vor-
satz dadurch gekennzeichnet wäre, daß ein auf den Eintritt des Erfolges
gerichteter Wille fehlt, während gleichzeitig ein auf den Nichteintritt
!16 Wolter, Studia (Anm. 15); ders., Nauka 0 przest~pstwie (Die Lehre vom
Verbrechen), 1973, S. 126 ff.; Buchala, Prawo karne materialne (Anm. 12),
S. 340 ff.; Andrejew, Polskie prawo karne (Polnisches Strafrecht), 3. Auf!.
1975, S. 121 ff.; Swida, Prawo lmrne (Strafrecht), 1982, S. 183 ff.; Sliwowski,
Prawo karne (Strafrecht), 1975, S. 209 ff.
27 Szerer, W sprawie zamiaru ewentualnego (über den dolus eventualis),
Panstwo i Prawo 1959, Nr. 3, S. 450 ff.
28 Plawski, Trzecia wina (Dritte Form der Schuld), Nowe Prawo 1952,
Nr. 10, S. 24 ff.
28 Löffler, Die Schuldformen des Strafrechts, 1895; Mii'"icka, Die Formen
der Strafschuld und ihre gesetzliche Regelung, 1903.
30 Wolter, W sprawie (Anm. 22).

81 Engisch, Untersuchungen (Anm. 9), S. 235.


384 Kazimierz Buchala

dieses Erfolges gerichteter Wille vorhanden wäre, also ein auf etwas
Negatives gerichteter Wille, was bei ihm selbst grundlegende Zweifel
weckte 32 • Zu der Gleichgültigkeitstheorie kehrte Wolter unter dem Ein-
fluß der wissenschaftlichen Psychologie zurück, denn diese untermauerte
seine überzeugung, daß so etwas wie "Sich-Abfinden", "Akzeptieren"
oder "Billigen", das "Wille" sein sollte, nicht besteht oder zumindest
der Psychologie als eine Art des Willens nicht bekannt ist. Wolter fol-
gerte so: Wenn eine solche Art des Empfindens nicht besteht, das Gesetz
aber mit einer Formel operiert, die auf die Existenz von etwas hinweist,
was bedingter Vorsatz genannt wird, so muß der ontologische Gehalt
dieses Begriffes festgestellt werden. Natürlich gab es auch einen ande-
ren Lösungsweg für das entstandene Dilemma, die Annahme nämlich,
daß der Gesetzgeber sich geirrt und eine Institution ohne psychische
Grundlage eingeführt hat bzw. daß dieser Inhalt eben nicht eine Son-
derart des Willens ist. Diesen Weg beschritt Wolter nicht, da er davon
überzeugt war, daß der Vorsatz ein Willensakt sein müsse, und wenn
zwischen direktem Vorsatz und bewußter Fahrlässigkeit eine Lücke be-
steht, die der bedingte Vorsatz ausfüllen solle, daß man dann den eigent-
lichen psychischen Sachverhalt dieses Vorsatzes finden müsse.
Im Ergebnis stellte Wolter das Wesen des bedingten Vorsatzes folgen-
dermaßen dar: Eine erste deutliche Grenze bildet im Bereich des Vor-
satzes der Wille, eine Straftat zu begehen - der Täter will die Verwirk-
lichung der Tatbestandsmerkmale. Die zweite, ebenfalls scharfe Grenze
bildet die bewußte Fahrlässigkeit, die Wolter als Wille der Nichtver-
wirklichung der Tatbestandsmerkmale versteht. Daraus zog er die Fol-
gerung: Wenn der Täter handelnd der Meinung ist, daß die Erfüllung
der Tatbestandsmerkmale nicht eintreten wird, so bedeutet dies, daß er
will, daß diese Erfüllung nicht eintrete. Auf diese Weise erhalten wir
nach Wolter zwei scharfe Grenzen, zwischen denen eine psychische Emp-
findung folgenden Inhalts ihren Platz hat: Der Täter sieht die Möglich-
keit der Erfüllung der Tatbestandsmerkmale, jedoch will er ihre Erfül-
lung nicht, er will aber auch nicht, daß die Erfüllung nicht stattfindet,
also will er weder das eine noch das andere. Diesen charakteristischen
Inhalt des Empfindens nennt er "Gleichgültigkeit des Willens", "Wil-
lenspassivität" oder "Willensindifferenz"33.
Diese Anschauung W~Iters teilte ich noch in den 6Der Jahren34 , machte
aber schon damals auf zwei Gesichtspunkte aufmerksam. Der erste war
32 Walter, Zarys (Anm. 24), S. 103.
33 Walter, W sprawie (Anm.22); ders., Nauka 0 przestE:pstwie (Anm.26),
S. 127; ders., Glosa do wyr. SN z 19. XI. 1980 (Erklärende Bemerkung zum
Urteil des Obersten Gerichts vom 19. XI. 1980), Panstwo i Prawo 1981, Nr. 10,
S.145.
34 Buchala, Problemy zamiaru wynikowego (Anm.23), S. 605 ff.
Der Dolus eventualis in der polnischen Strafrechtslehre 385

mit der Feststellung verbunden, daß das Bewußtsein der Möglichkeit


der Erfüllung der Tatbestandsmerkmale ein Bewußtsein hoher Wahr-
scheinlichkeit ihrer Erfüllung sein könne. In diesem Falle könne die
strafrechtliche Verantwortlichkeit dem direkten Vorsatz gleichgestellt
werden. Es könne aber auch ein Bewußtsein geringer Wahrscheinlich-
keit der Erfüllung der Tatbestandsmerkmale vorliegen. Dann dürfe die-
ses Bewußtsein dem direkten Vorsatz nicht gleichgestellt werden. Nach
der Fahrlässigkeitsformel sei es jedoch auch schwierig, diese Bewußt-
seinsform als Fahrlässigkeit anzusehen, da Fahrlässigkeit erst anzu-
nehmen sei, wenn der Täter der Meinung ist, daß er den Erfolg vermei-
den werde. Um diese Bewußtseinsform in die Fahrlässigkeit einzube-
ziehen, müßte also eine entsprechende Änderung der Gesetzesformel
für die Fahrlässigkeit vorgenommen werden. Die zweite kritische Be-
merkung bezog sich auf die Anwendung des Begriffs "Willenspassivi-
tät" , der keine Bewertungselemente einschließt, und des austauschbaren
Begriffs "Willensgleichgültigkeit" , mit dem sich jedoch eine negative
Bewertung verbindet, deren Voraussetzung die Möglichkeit der Akti-
vität des Willens ist, natürlich in der vom Gesetz geforderten Richtung,
d. h. der Wille, den Erfolg nicht zu erreichen. Diese Unterscheidung kann
Bedeutung haben, je nachdem, ob man der psychologischen Schuldtheo-
rie folgt, zu der sich in Polen in den 50er Jahren zahlreiche Autoren
bekannten, oder aber der normativen Schuldtheorie anhängt, die alle
Bewertungsmerkmale der psychischen Einstellung des Täters vom Han-
deln bis zum Erfolg im Zusammenhang des Schuldurteils betrachtet.
Hier ist hinzuzufügen, daß in den 50er Jahren das Problem der Einord-
nung des Vorsatzes in den Tatbestand in der polnischen Strafrechtslehre
noch nicht bekannt war. Deshalb war man sich der Schwierigkeiten
nicht bewußt, die die Gleichgültigkeitstheorie ihren Anhängern unter
diesem Gesichtspunkt bereiten kann 35 •
Die genannten Zweifel ergänzte ich 1980 durch neue Einwände. Sie
beziehen sich darauf, daß der Wille bei Wolter mit Doppelcharakter
auftritt, zum ersten als Vorsatz, als bestimmtes Empfinden, als Wille
zur Verwirklichung von Umweltveränderungen und zur Steuerung des
Ablaufs dieser Veränderungen, zum zweiten wiederum als Willenspas-
sivität, die kein Empfinden ist, sondern ein bloßer Zustand jenes An-
triebsapparates des Menschen, den man Wille nennt. Der Wille tritt hier
also in zwei verschiedenen Bedeutungen auf, denen ontologisch zwei
verschiedene Sachlagen entsprechen. Ihre Einbeziehung in den Vorsatz
und schließlich ihre Gleichstellung in der rechtlichen Konsequenz muß
Vorbehalte erwecken. Der zweite Einwand bezog sich auf eine gewisse
Eigenmächtigkeit, und dies in einer Situation, in der der Gesetzgeber ent-

35 JescheCk, Aufbau und Stellung des bedingten Vorsatzes im Verbrechens-


begriff, Festschrift für E. Wolf, S. 473 ff.

25 Festschrift für H. -H. Jescheck


386 Kazimierz Buchala

schied, daß das sogenannte Fahrlässigkeitsbewußtsein auf der Voraus-


sicht der Möglichkeit beruht, eine Straftat zu begehen, bei gleichzeitiger
unbegründeter Annahme, daß es nicht zu dieser Verwirklichung kom-
men werde. Denn ich bin der Meinung, daß die Formulierung "er will,
daß die Verwirklichung des Tatbestandes nicht eintritt", nicht eine Art
des Vorsatzes auf Nichtverwirklichung des Tatbestandes bezeichnet,
sondern eine Art Wunsch oder eine Meinung über die zukünftige Sach-
lage, die auf einer intuitiven Wahrscheinlichkeitsannahme beruht bzw.
eine Art eines assertorischen Urteils. In dieser Situation ist das Benut-
zen des Begriffes "Wille" nicht angemessen. Man kann auch Zweifel
äußern, ob jeder, der der Meinung ist, daß die Verwirklichung des Tat-
bestandes nicht eintreten werde, und dennoch handelt, gleichzeitig will,
daß der Tatbestand nicht eintrete36 • Zu diesen Bedenken können weitere
hinzukommen, die aus dem personalen Handlungsunrecht folgen. Von
diesem Standpunkt aus entspricht die Willenspassivität eher der fahr-
lässigen Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale.
Gegen meine Einwände polemisierte Walter 1981 37 und erklärte, daß
die Passivität des Täters - er benutzte nicht mehr den Begriff "Wil-
lenspassivität" - in Wirklichkeit eine aktuelle Willenseinstellung be-
deute. Er stellte auch klar, daß er den sogenannten bedingten Vorsatz
nicht als Vorsatz betrachte, denn wenn kein Wille besteht, so besteht
auch kein Vorsatz. In anderen Bereichen änderte er seine Meinung je-
doch nicht.
Um das Bild der polnischen Wissenschaft vom Wesen des bedingten
Vorsatzes abzurunden, sollen noch die Anschauungen von J. Waszczynslci
erwähnt werden, nach denen das Wesen des bedingten Vorsatzes auf
der Absicht der Rechtsgutsgefährdung und auf der Gleichgültigkeit
gegenüber ihren Folgen beruht38 • Es handelt sich hierbei um eine ge-
wisse Modifikation der Anschauungen Walters, die neben der Gleich-
gültigkeit hinsichtlich der Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale
den direkten Vorsatz hinsichtlich der der Verwirklichung dieser Merk-
male vorausgehenden Lage einführt. Wenn diese Rechtsgutsgefährdung
keine besondere Straftat darstellt, so ist die Absicht dieser Gefährdung
gesetzlich unwesentlich. Wenn sie aber eine Straftat ist, so haben wir
es mit Gesetzeskonkurrenz zu tun, was zum Wesen des bedingten Vor-
satzes nichts Neues beiträgt. Es ist hinzuzufügen, daß der Wille zur
Rechtsgutsgefährdung den Vorsatz in bezug auf den Erfolg der Gefähr-
dung überhaupt nicht impliziert, denn z. B. ist die vorsätzliche Herbei-
führung einer lebensbedrohlichen Situation bei gleichzeitigem Vorlie-

8G Buchala, Prawo karne material ne (Anm. 12), S. 340 ff.


87 Walter, Glosa (Anm. 33).
88 Waszczynski, Jeszcze w sprawie zamiaru ewentualnego (Nochmals zum
Problem des bedingten Vorsatzes), Palestra 1977, Nr. 5, S. 69 ff.
Der Dolus eventualis in der polnischen Strafrechtslehre 387

gen der Ansicht denkbar, daß der Tod dank der Geschicklichkeit des
Täters, verschiedener Umstände und anderer Gegebenheiten nicht ein-
treten werde.
Zum Schluß der übersicht über die Anschauungen der polnischen
Strafrechtswissenschaft möchte ich erwähnen, daß ich in meinem Lehr-
buch von 1980 eine Meinung vertrete, die eigentlich der Wahrscheinlich-
keitstheorie entspricht. Nach dieser Anschauung ist für den bedingten
Vorsatz gegenüber dem direkten der Umstand kennzeichnend, daß der
Täter sich das Erreichen des Nebenerfolgs nicht als Ziel oder antizipier-
tes Mittel zum Ziel vorstellt und auch sein Erreichen nicht als unver-
meidlich betrachtet, jedoch das Bewußtsein hoher Wahrscheinlichkeit
seines Eintritts hat, und ohne zu dieser Tatsache Stellung zu nehmen,
es dem Laufe der Ereignisse und dem Spiel der von ihm in Gang gesetz-
ten äußeren Kräfte überläßt, ob der Erfolg eintritt oder nicht. Er geht
auch nicht davon aus, daß er den Erfolg vermeiden werde, handelt also
nicht im Vertrauen auf das Ausbleiben des Nebenerfolges. Dieses dem
Täter bewußte Erfolgsrisiko wird also in die Grundlage des Handlungs-
entschlusses einbezogen, was uns berechtigt zu sagen, daß der Neben-
erfolg durch den Täter zusammen mit dem antizipierten Erfolg "auch
mitgewollt" war 3g •
III.
In der Rechtsprechung des Obersten Gerichts finden wir, wie schon
gesagt, viele Urteile, die im Zusammenhang mit dem bedingten Vorsatz
ergangen sind. Der besondere Aufschwung des bedingten Vorsatzes war
mit der großen Leichtigkeit verbunden, diesen Vorsatz festzustellen, und
zwar trotz des Fehlens eindeutiger Inhaltsdeterminanten des Empfin-
dens, die der Formel des Strafgesetzbuchs entsprochen hätten. Das Fest-
stellen dieses Vorsatzes, besonders bei Verkehrs- und Wirtschaftsdelik-
ten, erfolgte unter dem Druck der Bedürfnisse der Kriminalpolitik, die
auf Generalprävention gerichtet war. Das Strafgesetzbuch von 1932 sah
für fahrlässige Verkehrsdelikte sehr milde Strafen vor (z. B. die grund-
legende Vorschrift des Art. 215 § 2 8tGB bis zu einem Jahr Arrest oder
Geldstrafe), ähnlich bei den Tatbeständen der Amtsdelikte, die bei fahr-
lässigen Wirtschaftsstraftaten angewandt wurden (Art. 286 8tGB, wel-
cher in § 2 bis zu sechs Monaten Arreststrafe vorsah). Um ein härteres
Strafmaß zu erreichen, mußte man zu vorsätzlichen Straftaten über-
gehen. Dies war mit Hilfe des bedingten Vorsatzes leicht zu erreichen,
weil sein Wesen fraglich war und seine Merkmale nicht präzise be-
schrieben wurden. Die Rechtsprechung verwendete zwar beim Feststel-
len des bedingten Vorsatzes die Formel der Billigung bzw. des Akzep-
tierens, legte jedoch in der überwiegenden Mehrheit der Entscheidun-

89 Buchala, Prawo karne materialne (Anm. 12), S. 340 ff.


388 Kazimierz BuChaHl

gen den größten Nachdruck auf die Vorstellung des Täters. In der Regel
wurde angenommen, daß der Täter den unerwünschten Erfolg billigend
in Kauf genommen habe - Verkehrskatastrophe oder großer Wirt-
schaftsschaden - , wenn aus den Begleitumständen der Tat hervorging,
daß er das Bewußtsein hoher Wahrscheinlichkeit des Eintretens des Er-
folges gehabt hatte. Es wurde zum Beispiel angenommen, daß der Auto-
fahrer die Folgen von Alkoholeinfluß am Lenkrad in Gestalt weitgehen-
der Einschränkung der psychomotorischen Funktionen kennt. Wenn er
daher trotz dieses Bewußtseins das Fahrzeug unter Alkoholeinfluß oder
unter Verletzung von Sicherheitsvorschriften führt, so findet er sich mit
dem Erfolg ab 40 • Diese Praxis wurde erst 1959 eingestellt, als ein Gesetz
verabschiedet wurde, welches eine hohe Strafdrohung für fahrlässig
verursachte Verkehrsunfälle vorsah. Aber auch nach diesem Zeitpunkt
finden wir noch Urteile, die in dieselbe Richtung weisen wie vorher,
nur mit dem Unterschied, daß bei der Anwendung des bedingten Vor-
satzes die Feststellung von Umständen für erforderlich gehalten wur-
de, die eindeutig auf die hohe Wahrscheinlichkeit des Erfolges hin-
deuteten und einen Unfall als naheliegend erscheinen ließen, wie z. B.
das Führen eines Fahrzeugs im Rausch oder unter schwerwiegender
Verletzung der Sicherheitsvorschriften41 • Ähnliche Schlußfolgerungen
finden wir auch in anderen Urteilen. So hat das Oberste Gericht früher
in manchen Urteilen angenommen, daß allein die Art des benutzten
Gegenstands, z. B. Axt, Gabel oder die Anwendungsweise die Annahme
des bedingten Vorsatzes begründen können. Seit einigen Jahren festigt
sich jedoch die Praxis, daß für sich genommen weder die Art des Werk-
zeuges noch die Anwendungsweise für die Annahme des bedingten Vor-
satzes ausreichen, sondern daß die gesamten Umstände, unter denen die
Tat begangen wurde, auf eine hohe vom Täter erkannte Wahrschein-
lichkeit der Verursachung des Todes hinweisen müssen, um den beding-
ten Vorsatz feststellen zu können. Zu diesen Umständen zählt das Ober-
ste Gericht: die Art des Werkzeugs, seine Anwendungsweise, die Zahl
der beigebrachten Wunden, die Art der verursachten Körperverletzung,
das Verhältnis des Täters zum Opfer, Trunkenheit usw. 42 • In einem Ur-
teil wies es auch darauf hin, daß das Verhalten nach schwerer Mißhand-
lung, insbesondere das Im-Stich-Lassen des Opfers nach der Tat, auf
den bedingten Vorsatz der Todesverursachung hinweisen kann43 •
Diese Schlußfolgerung des Obersten Gerichts deutet nicht nur auf die
Beweisführung zur Feststellung des Bestehens oder Fehlens des beding-
40 Wyr. z 20. VIII. 1973 (Urteil vom 20. VIII. 1973), Nowe Prawo 1974, Nr.2
S.339.
41 Wyr. z. 18. VI. 1974 (Urteil vom 18. VI. 1974), Gazeta Sqdowa 1974, Nr. 19.
42 Zum Beispiel OSNKW (Rechtsprechung des Obersten Gerichts) 1974,
Nr.170, 171; OSNKW 1978, Nr.93.
43 Urteil vom 19. XI. 1980, Panstwo i Prawo 1981, Nr. 10, S. 145.
Der Dolus eventualis in der polnischen Strafrechtslehre 389

ten Vorsatzes hin, sondern auch auf die Überzeugung des Obersten Ge-
richts, daß dieser Vorsatz erst dann besteht, wenn der Täter das Be-
wußtsein hoher Wahrscheinlichkeit der Verwirklichung der Tatbestands-
merkmale besitzt. Die Argumentation zum Bestehen des bedingten Vor-
satzes verläuft jedoch gewöhnlich in einer Weise, die mehr auf die
Anerkennung der Einwilligungstheorie hindeutet. In der Regel finden
wir in den Urteilen folgende Schlußfolgerung: wenn eine hohe, dem
Täter bewußte Wahrscheinlichkeit der Verwirklichung der Tatbestands-
merkmale gegeben war, so mußte er diese billigen, akzeptieren bzw. in
Kauf nehmen. Diese Schlußfolgerung verläuft aber in einer Weise, die
an die von H.-H. Jescheck vertretene Formel vom bedingten Vorsatz,
d. h. des Ernstnehmens der Gefahr und des Sich-damit-Abfindens er-
innertH •
Abschließend möchte ich feststellen, daß die Anschauung, die auf das
Bewußtsein der hohen Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts den größ-
ten Wert legt, immer mehr Anhänger findet 4ä • Ausdruck dessen ist auch
der Änderungsvorschlag zu Art. 7 § 1 des Strafgesetzbuches, den beding-
ten Vorsatz im Sinne des § 5 Abs. 1 des neuen österreichischen Strafge-
setzbuches auf die Notwendigkeit des Bewußtseins ernstlicher Möglich-
keit des Eintretens des Erfolges und auf Billigung des Eintretens abzu-
stellen.

44 Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, AT, 3. Auf!. 1978, S. 240.


45 Buchala (Anm. 12), S.340; Waszczynski (Anm.38), S. 69 ff. Vgl. auch
Andrejew, Projekt zmian kodeksu karnego. Wprowadzenie do proponowa-
nych zmian kodeksu karnego (Entwurf der Änderung zum StGB. Einführung
zu den vorgeschlagenen Änderungen des StGB) S. XIII.
GUNTHER ARZT

Falschaussage mit bedingtem Vorsatz


Bemerkungen zu Zweifeln des Täters an der Rechtfertigungslage
oder am Tatbestandsausschluß

1.
Hans-Heinrich Jescheck 1 definiert in seinem großen Lehrbuch zum
AT des Strafrechts den bedingten Vorsatz dahin, "daß der Täter die
Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes ernstlich für möglich
hält und sich mit ihr abfindet". Als "Komplementärbegriff" zum Ab-
finden mit dem Erfolgseintritt betrachtet Jescheck! das Vertrauen auf
das Ausbleiben des Erfolges, ein Vertrauen, das aus dem Vorsatz hin-
aus und in die (bewußte) Fahrlässigkeit hineinführt.
Ziel dieses Beitrags ist es nicht, in die nach wie vor lebhafte Diskus-
sion um den bedingten Vorsatz einzugreifen. Ich habe gegen die vor-
stehende Begriffsbestimmung nichts einzuwenden, vorausgesetzt, man
beachtet dabei den richtigen Kern der sog. Wahrscheinlichkeitstheorie:
Das Vertrauen des Täters darf kein bloßes Lippenbekenntnis sein.
Ein bloßes Wiederschließen des die Wahrscheinlichkeit des Erfolgsein-
tritts sehenden Auges genügt nicht, um Vorsatz zu verneinen. Zu be-
achten ist das Vertrauen auf das Ausbleiben des Erfolges nur, wenn
das Risiko des Erfolgseintritts entweder von vornherein nicht sehr
hoch war oder wenn der Täter das zunächst hohe Risiko durch Sicher-
heitsmaßnahmen reduziert hat. Erst unter diesen Voraussetzungen
kann das Handeln des Täters in Kenntnis des verbleibenden Risikos
als Vertrauen auf das Ausbleiben des Erfolges gewertet werdenS.
Im vorliegenden Zusammenhang können solche und andere Nuancen
der Definition des bedingten Vorsatzes auf sich beruhen. Es kommt
1 Jescheck, Strafrecht AT, 3. Aufl. 1978, § 29 III 3 a.
! Jescheck (wie Anm. 1), § 29 III 3 c.
3 Zutr. Armin Kaufmann, ZStW 70 (1958), S. 64 ff., 74, sowie Jescheck, Nie-
derschriften der Großen Strafrechtskommission Bd. 12, 1959, S. 114 (unter
Hinweis auf Armin Kaufmann) mit dem Formulierungsvorschlag zur bewuß-
ten Fahrlässigkeit, daß fahrlässig (auch) handelt, wer "die Verwirklichung
zwar für möglich hält, sie aber durch sein Verhalten zu vermeiden sucht"
(ebenda S.437). - Vgl. ferner Jescheck, Festschrift für Erik Wolf, 1962,
S. 473 ff., 483.
392 Gunther Arzt

auf sie so wenig an wie auf Details der Interpretation der §§ 153, 154.
Mir geht es vielmehr darum, Spannungen aufzuzeigen, die sich aus der
Verbindung der (im Kern weithin nicht umstrittenen) dolus eventualis-
Doktrin mit dem (im Kern ebenfalls weithin nicht umstrittenen) Ver-
bot der Falschaussage ergeben.
Unter vorsätzlichem Handeln im Sinne des § 15 ist nach allgemeiner
Ansicht auch der bedingte Vorsatz zu verstehen. Damit genügt für
alle Straftatbestände des BT der dolus eventualis, es sei denn, es er-
gäbe sich aus dem besonderen Straftatbestand eine Ausnahme. Muster-
beispiele für solche Ausnahmen sind Absichtsdelikte und Tatbestände,
die den Ausdruck "wissentlich" verwenden, vgl. z. B. § 258 I, II. Da
§§ 153, 154 weder von Absicht noch von Wissentlichkeit sprechen,
wird die Falschaussage mit bedingtem Vorsatz als unproblematisch
angesehen. So heißt es bei Lackner': "Der Vorsatz (bedingter genügt)
muß sich darauf erstrecken, daß die Aussage falsch ist, daß sie unter
die Wahrheitspflicht fällt und daß die vernehmende Stelle zuständig
ist". - Soweit es um die beiden zuletzt genannten Kriterien geht, also
um die Zugehörigkeit der Bekundung zur wahrheitspflichtigen Aus-
sageS und um die zuständige Stelle6 , sehe ich bezüglich des dolus even-
tualis keine Besonderheiten.

11.
1. Auch bezüglich der Unrichtigkeit der Aussage scheint klar zu sein,
daß ein Zeuge es ernstlich für möglich halten kann, daß er die Un-
wahrheit sagt und daß er sich mit dieser Möglichkeit abfinden kann -
und deshalb wegen bedingt vorsätzlicher Falschaussage zu bestrafen
ist. Dabei ist nach der objektiven wie nach der subjektiven Aussage-
theorie die Richtigkeit bzw. Falschheit einer Aussage am Aussage-
gegenstand zu messen 7 • Der Unterschied der beiden Theorien liegt des-
halb in dem Bestreben der objektiven Theorie, den Aussagegegenstand
möglichst objektiv zu bestimmen und ihn vom Erinnerungsbild des
Zeugen zu trennen.

• Lackner, 15. Aufl. 1983, § 153 Bem. 4.


5 Vg1. BGHSt. 3, 221; BGH NStZ 82, 464.
e Wahrheitspflicht und zuständige Stelle hängen zusammen, weil Aus-
sagen vor gemäß § 153 unzuständigen Stellen grundsätzlich nicht unter straf-
rechtlich abgesicherter Wahrheitspflicht stehen, vgl. aber die halbherzige Re-
gelung des § 161 aStPO.
7 Mit Recht betont von Schönke/SchröderILenckner, 21. Aufl. 1982, Bem.5
vor §§ 153 ff. Deshalb ist der Theorienstreit irrelevant, wenn Aussagegegen-
stand innere Tatsachen beim Zeugen sind, Weber (Arzt/Weber, Strafrecht BT,
LH 5 1982) Bem. 268. - Durch Kreuzung der objektiven und subjektiven Aus-
sagetheorie sind verschiedene vermittelnde Auffassungen entstanden, auf die
hier nicht eingegangen werden kann, vgl. zuletzt Dito, JuS 1984, 161 ff.
Falschaussage mit bedingtem Vorsatz 393

Ausgangsbeispiel8 : Ein Alibizeuge Z wird gefragt, ob der Angeklagte A


am fraglichen Abend bis 23 Uhr mit ihm Karten gespielt habe. Bejaht Z die
Frage, ist seine Aussage nach der objektiven Theorie richtig, wenn Z mit A
wirklich bis 23 Uhr Karten gespielt hatte. Ob "objektiv" gefragt wird oder
"subjektiv" (wie lange saßen Sie nach Ihrer Erinnerung mit dem Angeklag-
ten zusammen), ist nach der objektiven Theorie grundsätzlich ebenso irrele-
vant wie die objektive oder subjektive Formulierung der Antwort durch den
ZeugenD.

2. Prüfen wir die dolus eventualis-Situation zunächst anhand der


herrschenden objektiven Aussagetheorie. Dann ist im Beispiel die
Antwort objektiv falsch, wenn Z mit A nur bis 22 Uhr zusammen war.
Z würde dann bedingt vorsätzlich falsch aussagen, wenn er ein Zu-
sammensein bis 23 Uhr behauptet und dabei ernstlich mit der Möglich-
keit rechnet, daß A schon um 22 Uhr gegangen ist (und Z sich mit der
Unwahrheit abfindet). - Ist die Antwort des Z in derselben Situation
objektiv richtig, läge eventualvorsätzlicher Versuch vor (strafbar bei
§ 154).
Diese Anwendung der dolus eventualis-Doktrin auf §§ 153, 154 ist
jedoch nur scheinbar unproblematisch. Die Abweichung von einer be-
dingt vorsätzlich verwirklichten "normalen" Straftat liegt darin, daß
der bedingte Vorsatz der Falschaussage in der Regel identisch ist mit
dem Quasi-Vorsatz, richtig au~zusagen. Dieser auf richtige Aussage
gerichtete Wille entspricht in der Regel dem dolus directus.
"Vorsatz" ist als terminus technicus auf den objektiven Tatbestand be-
zogen. Insofern ist ein Vorsatz, richtig auszusagen, nicht denkbar. Das ändert
nichts daran, daß der auf eine richtige Aussage bezogene Wille mit dem be-
grifflichen Arsenal der Vorsatzdefinition strukturell korrekt umschrieben wer-
den kann. Dabei ist leicht zu zeigen, daß die für dolus eventualis unverzicht-
bare Unsicherheit (falsch/richtig) natürlich umkehrbar ist (richtig/falsch), daß
aber das bloße Abfinden mit der einen Möglichkeit (= falsch) grundsätzlich
nicht im Sinne eines gleichzeitigen bloßen Abfindens mit der anderen Mög-
lichkeit (= richtig) zu deuten ist, sondern daß jedenfalls im Normalfall10 aus

8 Klassisches Beispiel, vgl. nur Gallas, GA 1957, 315, 321 und öfter; ähn-
lich Willms, in: LK, 10. Auf!. 1979, Bem.8 vor § 153 (unter Berufung auf
KohlrauschjLange).
8 Es ist hier nicht der Ort, die Ausnahmefälle näher zu untersuchen, in
denen durch "subjektiv" formulierte Frage des Richters (oder subjektiv for-
mulierte Antwort des Zeugen) das Erinnerungsbild des Zeugen Aussage-
thema werden kann. Ich halte es jedoch für ganz verfehlt, wenn gelegentlich
so getan wird, als läge die Verschiebung des Beweisthemas vom objektiven
zum subjektiven auch vom Boden der objektiven Theorie aus im Belieben
des Richters.
10 Ausnahmsweise ist eine solche Gleichgültigkeit des Täters denkbar, daß
er richtige bzw. unrichtige Aussage gleichermaßen einkalkuliert: Ich sage x
aus, ob x nun zutrifft oder nicht - wie es wirklich war, ist mir gleichgültig.
Das ist nicht die für dolus eventualis charakteristische Inkaufnahme, denn
für sie ist kennzeichnend ein Hauptziel, um dessentwillen sich der Täter mit
Nebenerfolgen abfindet. Wo beim Handeln aufs Geratewohl (in Kenntnis
394 Gunther Arzt

dem bloßen Abfinden mit der Unrichtigkeit folgt, daß der Wille primär auf
eine richtige Aussage zielt. Dieser Wille entspricht strukturell dem dolus
directus, meist in der Form der Absicht.

Akzeptiert man diese Verbindung des bedingten Vorsatzes, falsch aus-


zusagen, mit dem direkten Quasi-Vorsatz, richtig auszusagen, ist weiter
zu fragen, ob wir eigentlich mehr (oder etwas anderes) vom Zeugen ver-
langen können als eine Aussage mit direktem Quasi-Vorsatz, die Wahr-
heit zu sagen. Stellt man die Frage so, liegt ihre Verneinung nahe. Die
Konsequenz ist die ebenso einfache wie weittragende These: §§ 153,154
sind nur mit dolus directus zu verwirklichenIl.

3. a) Gegen diese These liegt der Einwand nahe, der Zeuge müsse
seine Unsicherheit dem Richter mitteilen. Das klingt vernünftig, doch
ist es die Vernunft der subjektiven Aussagetheorie. Vorn Boden der
objektiven Aussagetheorie aus ist festzuhalten, daß der Aussagegegen-
stand objektiv zu bestimmen ist, im Beispiel also das Alibi des Ange-
klagten und das Zusammensein mit Z am fraglichen Abend. Nuancen
im Erinnerungsbild des Zeugen sind nicht Aussagethema. Die Straf-
freiheit des dem Richter seine Ungewißheit offenbarenden Zeugen kann
nach der objektiven Theorie nicht darauf gestützt werden, daß seine
Aussage dadurch richtig wird. Sie bleibt auch dann objektiv falsch,
wenn (Ausgangsbeispiel) Z aussagt, er sei nicht sicher, glaube aber, mit
Abis 23 Uhr zusammen gewesen zu sein (während A in Wirklichkeit
schon um 20 Uhr gegangen ist). Für die objektive Theorie muß deshalb
die Straffreiheit des dem Richter die Unsicherheit offenbarenden Zeu-
gen gleich zu begründen sein wie die Straffreiheit des Zeugen, der dem
Richter die Unsicherheit nicht offenbart: Der Zeuge hat mit direktem
Quasi-Vorsatz wahrheitsgetreu ausgesagt. Das muß genügen, denn
sonst entstünde angesichts des Zweifels beim Zeugen (wahr/unwahr)
eine "Zwickmühle" zwischen vollendeter und versuchter Falschaus-
sage - der Zeuge würde den Tatbestand der vollendeten oder versuch-
ten Falschaussage verwirklichen, wie immer seine Aussage lautet.

b) Unterstützend kann man die Überlegung anführen, daß der Zeuge


auch nicht in eine Zwickmühle zwischen Aussagepflicht und Wahrheits-
pflicht (Verbot, vielleicht falsch auszusagen), versetzt werden darf. Aus

eines erheblichen Risikos) noch dolus eventualis vorliegt - und wo schon


dolus directus anzunehmen ist - mag im vorliegenden Zusammenhang da-
hinstehen. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die im Text ge-
schilderten "normalen" dolus eventualis-Fälle.
11 Zwei Einschränkungen ergeben sich aus den bisherigen Ausführungen:
(1) Es geht mir nur um das Tatbestandsmerkmal "falsch"; die viel seltener
auftretenden Vorsatzfragen bei anderen Elementen der §§ 153, 154 werden
hier nicht behandelt. (2) Ausnahmefälle des dolus eventualis (Anm. 10) wer-
den ebenfalls ausgeklammert.
Falschaussage mit bedingtem Vorsatz 395

dieser Zwickmühle gäbe es vom Boden einer konsequenten objektiven


Aussagetheorie aus nur dann ein Entrinnen, wenn man Unsicherheit
des Zeugen als Zeugnisverweigerungsrecht einführen würde.

4. Anders liegen die Dinge, wenn man sie vom Boden der subjektiven
Aussagetheorie aus betrachtet. Der Zeuge wird nach seinem Erinne-
rungsbild gefragt. Wenn er (Ausgangsbeispiel) vorhandene Unsicher-
heit verschweigt, retuschiert er dieses Erinnerungsbild. Er sagt falsch
aus. Freilich kommt man auch vom Boden der subjektiven Theorie
praktisch nie zur Falschaussage mit dolus eventualis, denn der Zeuge
sagt dann im Ausgangsbeispiel direkt vorsätzlich falsch aus (und zwar
gleichgültig, was am fraglichen Abend geschehen ist!)12.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß sich die dolus eventualis-
Doktrin in den Aussagedelikten erst Zug um Zug mit der Verdrängung
der subjektiven Aussagetheorie festsetzen konnte 13 • Freilich ist auch
zuzugeben, daß die Praxis zwar nominell vom Boden der objektiven
Aussagetheorie ausgeht, die bedingt vorsätzliche Falschaussage aber mit
dem aus der subjektiven Theorie entlehnten Argument absichert, der
Zeuge müsse eben seine Zweifeloffenlegen".

5. Entgegen dieser h. M. ist als Zwischenergebnis festzuhalten: §§ 153,


154 können bezüglich des Tatbestandsmerkmals der Falschheit vom
Boden der objektiven Aussagetheorie aus nicht mit dolus eventualis
verwirklicht werden. Vom Boden der subjektiven Aussagetheorie aus
ist dolus eventualis ebenfalls praktisch ausgeschlossen. Allerdings sind
die kritischen Fälle des an der Richtigkeit seiner Darstellung zweifeln-

12 Konstruktionen der bedingt vorsätzlich (oder fahrlässig) abgegebenen


falschen Aussage sind vom Boden der subjektiven Theorie aus rein theore-
tisch möglich. Beispiel: Z ist sich des sprachlichen Bedeutungsgehalts einer
von ihm gebrauchten Formulierung nicht sicher, verwendet diese Formulie-
rung trotzdem und findet sich damit ab, daß er in einer Weise verstanden
wird, die seinem Erinnerungsbild nicht entspricht = bedingt vorsätzliche
falsche Aussage nach der subjektiven Theorie. Vgl. ferner Willms, in: LK,
§ 153 Bem. 16 (bed. Vorsatz genügt auch vom Boden der subj. Aussagetheorie
aus).
13 Franz Eduard v. Liszt, Die falsche Aussage vor Gericht oder öffentlicher
Behörde nach deutschem und österreichischem Recht, Graz 1877, bes. S.38.
Obwohl das Gesetz Wissentlichkeit verlangt hatte, ist ein Teil der Literatur
schon damals für die Einbeziehung des dolus eventualis eingetreten, vgl.
v. Olshausen, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 10. Aufl. Berlin 1916, § 153
Bem.5 m. w. N. - Zu der mit der falschen Aussage verwandten falschen
Anschuldigung und den dort beim dolus eventualis und bei der Leichtfertig-
keit aufgetretenen Spannungen vgl. BGHSt.14, 240; Arzt/Weber, Strafrecht
BT, LH 5 1982, Bem. 399, 401.
14 BGH GA 1973, 376, 377 bemerkt zu § 163, bewußte Fahrlässigkeit sei "so
gut wie unmöglich. Denn sie würde voraussetzen, daß die Angekl. über die
Richtigkeit ihrer Aussagen gezweifelt hätten". Könne die Strafkammer
solche Zweifel nachweisen, "hätte sie die Angekl. mit der Begründung, daß
sie ihre Zweifel nicht offenbart haben, wegen Meineides verurteilen müssen".
396 Gunther Arzt

den Täters, der seine Zweifel nicht offenbart, von der subjektiven
Theorie als Falschaussage mit direktem Vorsatz zu erfassen.

IlI.

1. Ob sich aus diesem Zwischenergebnis ein Argument für die sub-


jektive Aussagetheorie gewinnen läßt, kann erst entschieden werden,
nachdem man vergleichbare Konstellationen bei Tatbeständen unter-
sucht hat, in denen wir nicht - wie bei §§ 153 ff. mittels der objektiven
bzw. subjektiven Aussagetheorie - das Ergebnis "intern" so oder an-
ders begründen können.
Mit unserer Problematik verwandte Erscheinungen hat Warda in
zwei Beiträgen unter den Stichworten des bedingten Unrechtsbewußt-
seins15 und der ungewissen Tätervorstellung 16 erörtert. Zunächst einige
Beispiele 17 - die beiden ersten in Anlehnung an Warda l8 ;
Beispiel (1); Der Täter T hat Körperverletzungsvorsatz im Sinne des § 223 a,
wobei er mit direktem Verteidigungswillen sein Notwehrrecht ausüben will.
Gleichzeitig hält T es für möglich, daß der Angriff rechtmäßig ist (oder seine
Abwehr nicht erforderlich usw.) - trotzdem setzt sich T zur Wehr.
Beispiel (2): Der Angestellte T hilft seinem Chef C beim Umsatz von
Waren, mit deren hehlerischem Erwerb durch C er rechnet.
Beispiel (3); Der Täter T wendet Gewalt an, um zum Beischlaf mit 0 zu
kommen. Den Widerstand der 0 hält T primär für bloße Ziererei, doch hält
T es immerhin für möglich, daß 0 ihren Widerstand ernst meint, § 177.
Beispiel (4): Der Täter T nimmt sexuelle Handlungen mit einer Person vor,
die er im Sinne eines direkten Quasi-Vorsatzes für über 14 Jahre hält, bei
der er es aber für möglich hält, daß es sich um eine Person unter 14 Jahren
handeln könnte, § 176.
Betrachten wir diese Fälle näher, so ist im FalZ (1) und damit ver-
gleichbaren Rechtfertigungssituationen die Zwickmühle offensichtlich,

15 Warda, Schuld und Strafe beim Handeln mit bedingtem Unrechts-


bewußtsein, Festschrift für Welzel, 1974, S. 499 ff.
16 Warda, Vorsatz und Schuld bei ungewisser Tätervorstellung über das
Vorliegen strafbarkeitsausschließender Umstände, Festschrift für Lange, 1976,
S. 119 ff.
17 Daß Vorsatzkonstruktionen nicht ausreichen, zeigt sich bei § 258 beson-
ders deutlich, wo die Wissentlichkeit eine interne Lösung ermöglicht, die aber
den die Strafbarkeit tragenden Sachgedanken mehr verschleiert als verdeut-
licht, vgl. Arzt/Weber, Strafrecht BT, LH 4 1980, Bem.256, sowie neuerdings
die fast völlig übereinstimmenden Ausführungen von Frisch, JuS 1983, 915,
920 ff. (nur mit Verlagerung von der Rechtswidrigkeits- auf die Tatbestands-
ebene), dazu auch unten III 3 b.
18 Warda (wie Anm.15), S.507 (zweifelhaftes Festnahmerecht) bzw. S.506
(zweifelhaftes Warenvertriebsverbot); Warda (wie Anm.16), S.119 (zweifel-
hafte Notwehrlage, in Auseinandersetzung insbesondere mit BGH VRS 40,
104; Baumann, AT, 7. Auf!. 1975, S.320 (jetzt 8. Auf!. 1977, S.323).
Falschaussage mit bedingtem Vorsatz 397

denn der Verteidiger muß so oder so einen Verlust hinnehmen: Ent-


weder muß er einen wahrscheinlich rechtswidrigen Angriff dulden18 ,
oder er wird wegen seiner Abwehr bestraft (im Beispiel wegen Körper-
verletzung nach § 223 a: Versuch, wenn der Angriff rechtswidrig war,
sonst Vollendung). - Im Fall (2) ist die Zwickmühle nicht ganz so ein-
deutig. Immerhin geht der Angestellte A bei Verweigerung seiner
Dienstleistung (gestützt auf den gegen seinen Chef gehegten Verdacht)
zivil rechtlich ein erhebliches Risiko ein, das freilich näher nur bei der
umgekehrten Situation (Verdachtskündigung durch den Chef!) disku-
tiert wird.
Im Fall (3) und Fall (4) besteht keine echte Zwickmühle. Selbst wenn
man unterstellt, daß die Zustimmung bzw. das Alter in der konkreten
Situation nicht zuverlässig zu klären ist, steht es dem Täter frei, die
Tat zu unterlassen.

2. Das klassische Instrumentarium zur Lösung von Interessenko11isio-


nen hat die Notstandsdoktrin entwickelt, die sich in §§ 34, 35 und in der
noch allgemeineren Zumutbarkeitsdoktrin niedergeschlagen hat. Was
den rechtfertigenden Notstand nach § 34 betrifft, kann zur Abwehr
einer Gefahr in ein geringerwertiges Interesse eingegriffen werden.
Keiner der vier Fälle ist durch einen Rückgriff auf § 34 zu lösen. Für
Fall (3) und (4) bedarf dies keiner Begründung. Daß Fall (1) als Not-
wehrproblem zu betrachten ist, dürfte ebenfalls auf der Hand liegen.
Auch das bekannte Problem der Ergänzung der Notwehr durch Not-
stand in notwehrähnlichen Situationen ändert nichts daran, daß die
Zwickmühle im Fall (1) nicht in einer Interessenkollision besteht, die
nach Notstandsgesichtspunkten zu lösen wäre. Das zeigt schon der
Umstand, daß die Zwickmühle grundsätzlich unverändert bleibt, ob
man nun von einem hohen oder niedrigen Gut auf Seiten des Angegrif-
fenen ausgeht bzw. ob man einen schwereren bzw. leichteren Eingriff
in Güter des vielleicht rechtswidrig handelnden Angreifers annimmt. -
Aus Fall (2) wird eine Notstandslage, wenn die Mitwirkung an der
Hehlerei das Mittel wäre, eine ungerechtfertigte Kündigung abzuwen-
den, man denke an den bekannten Leinenfängerfall und die Diskussion
um die Ausdehnung von Zumutbarkeitserwägungen vom Fahrlässig-
keits- auf das Vorsatzdelikt. Die Pointe liegt jedoch in der Unsicherheit
bezüglich der Tatbestandsverwirklichung, und sie läßt sich jedenfalls
mit den gängigen Notstandsfällen nicht vergleichen. Zuzugeben ist
freilich, daß die den entschuldigenden Notstand ausdehnende Zumutbar-
keits- und Vorwerfbarkeitsdoktrin vage genug ist, um solche Fälle zu
18 Auch hier sind noch "interne" Lösungen denkbar, z. B. Konstruktion
einer ausnahmsweisen Pflicht zur Konfliktlösung durch Ausweichen (Flucht)
in Fällen eines zweifelhaften (zweifelhaft-rechtswidrigen) Angriffs. Solche
internen Lösungen werden hier nicht weiter verfolgt.
398 Gunther Arzt

erfassen2o • - So ist die Entschuldigung des Täters in folgendem, von


Warda 21 konstruierten Fall einer Zwickmühle (Warda spricht von
Dilemma) die zutreffende Lösung: Ein Straßenverkehrsteilnehmer muß
nach einer Rechtsansicht eine bestimmte Handlung vornehmen, wäh-
rend ihm nach einer anderen Rechtsansicht gerade diese Handlung ver-
boten ist. Das eigentliche Unglück dieses Verkehrsteilnehmers liegt
dabei darin, daß ihm die juristische Kontroverse bekannt ist. Nach
Warda 22 "dürfte außer Frage stehen", daß der Täter "auch in einem
solchen Fall, wenn er mit seiner Entschließung nicht die später im
Strafverfahren gegen ihn für allein rechtmäßig erkannte Verhaltens-
variante trifft, keinen Vorwurf verdient". - Warda ist zuzustimmen,
daß bei zwei ungefähr gleich seriösen Rechtsansichten, die miteinander
so kollidieren, daß an den Bürger konträre Verhaltensanforderungen
gestellt werden, dem Bürger aus seiner Entscheidung für eine der bei-
den Auffassungen kein Vorwurf gemacht werden kann. Bemerkenswert
ist allein das "auch", denn damit deutet Warda an, daß uns bei dem
Täter, der die richtige Alternative wählt, die Entschuldigung (einer
Versuchsbestrafung!) noch leichter fällt 23 • Auf diese überlegung, die -
wie gesagt - bei Warda nur angedeutet ist und die in seinem späteren
Beitrag nicht aufgenommen wird, ist noch zurückzukommen. Die von
Warda diskutierte ganze oder teilweise Entschuldigung löst also einen
Teil der Sachverhalte, insbesondere im Bereich des hier nicht diskutier-
ten Verbotsirrtums. Im Fall (1) und den weiteren hier zur Diskussion
gestellten Fällen bleibt jedoch zu fragen, ob diese Minimallösung dem
Täter genug gibt - ganz abgesehen davon, daß z. B. im Fall (3) und
im Ausgangsfall der falschen Aussage dem Täter nicht einmal dieses
Minimum zugebilligt werden könnte!

3. a) Deshalb ist zu prüfen, ob es andere dogmatisch-konstruktive


Begründungen dafür gibt, daß der Täter, der in zweifelhafter Lage
im Ergebnis richtig von einem Tatbestandsausschluß bzw. von einer

20 Warda plädiert für eine Entschuldigung, die er nicht über die Unzumut-
barkeit, sondern direkt über die Vorwerfbarkeit entwickelt (wie Anm. 15,
S. 517 ff. bzw. wie Anm.16, S. 135 ff.). - Der vage Maßstab erlaubt es dann,
als im Einzelfall gerecht empfundene weitere Voraussetzungen aufzustellen,
etwa im Fall (1) müsse der Verteidiger Höchstwerte bedroht sehen (wie
Anm. 16, S. 142), "Entscheidungszwang" müsse vorliegen, woraus sich dann
die Aufklärung des Zweifels als "Primärmaßnahme" ableitet (wie Anm. 16,
S. 143 f.) und - m. E. besonders unbillig - dem Verteidiger dürfe kein Sorg-
faltsmangel zur Last fallen (wie Anrn.16, S. 143 f., 145 - sonst Vorsatz-
strafe!).
21 Warda (wie Anm. 15), S. 510.

22 Warda (wie Anm. 15), S. 510.

2B VgI. auch BGH bei Dallinger, MDR 1953, 597: "Ein Zeuge, der aussagt,
er wisse eine Tatsache bestimmt, obgleich ihm bewußt ist, daß er sich irren
könne, begeht keine fahrI. falsche Aussage, sondern, jedenfalls dann, wenn er
sich in Wahrheit irrt, einen Meineid" (Hervorhebung nicht im Original).
Falschaussage mit bedingtem Vorsatz 399

Rechtfertigungssituation ausgeht, nicht wegen Versuchs zu bestrafen


ist. Es scheint mir bezeichnend zu sein, daß sich Warda auf den Fall
des Täters konzentriert, der eine im Ergebnis falsche Entscheidung
trifft24 • Will man im Fall (1) den Verteidiger nicht vor eine gleichwertige
Wahl zwischen Vollendung und Versuch des § 223a stellen, kann man
dies zunächst dadurch erreichen, daß man die Reziprozität zwischen
dolus eventualis und subjektivem Rechtjertigungselement sprengt.
Wie der Vorsatz aus Wissens- und Willenselementen besteht, kann man
auch beim subjektiven Rechtfertigungselement eine voluntative und
eine kognitive Seite unterscheiden. Läßt man auf der kognitiven Ebene
für die Rechtfertigung weniger genügen als das sichere Wissen um das
Vorliegen der objektiven Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes,
muß damit denknotwendig die reziproke Situation beim Vorsatz (Zwei-
fel an der Rechtfertigungslage) aus der allgemeinen dolus eventualis-
Doktrin ausgeklammert werden25 • Welche Anforderungen man an das
kognitive Rechtfertigungselement stellt, wäre für jeden einzelnen
Rechtfertigungsgrund zu untersuchen26 • Bei der Notwehr wird, soweit
ich sehe, dem Verteidiger kein sicheres Wissen bezüglich des rechts-
widrigen Angriffs oder der Erforderlichkeit der Abwehr abverlangt.
Im Beispiel (1) scheidet deshalb schon wegen des ausreichenden sub-
jektiven Rechtfertigungselementes eine Versuchsbestrafung aus. Kon-
sequenterweise ist dann die Haftung des Täters für die vollendete vor-
sätzliche Tat (wenn objektiv keine Notwehrlage gegeben war) eben-
falls auszuschließen, d. h. der Entscheidung BGH VRS 40, 107 ist im
Ergebnis zuzustimmen.
b) Bis zu diesem Punkt bewegt sich meine Argumentation - so
scheint es mir jedenfalls - auf einigermaßen gefestigtem Boden. Schon
mit dem nächsten Schritt betreten wir jedoch gewissermaßen dogmati-
schen Morast: Fragen wir, ob für den Tatbestandsausschluß gilt, was
wir für die Rechtfertigung festgestellt hatten, nämlich daß die dolus
eventualis-Doktrin keine geeignete Basis für die allgemeine These dar-
stellt, Rechtfertigung (Tatbestandsausschluß) setze ein kognitives Ele-
24 Warda (wie Anm. 16), S. 141, meint, "Die Rechtsordnung hat grundsätz-
lich keinen Anlaß, ihm (sc. dem Täter) das bewußt eingegangene Risiko
eines strafbaren Rechtsverstoßes abzunehmen". Der Witz ist jedoch, daß die
Rechtsordnung dem Täter nicht nur das Risiko abnimmt, wenn es zum schäd-
lichen Erfolg kommt, sondern die von Warda befürwortete Lösung den Täter
auch belastet, wenn sich das Risiko nicht verwirklicht. Insofern kann von
Risiko gar nicht mehr die Rede sein, denn der Täter wird nach Warda mit
Sicherheit belastet!
26 Richtig Schönke/Schröder/Lenckner (wie Anm.7), § 32 Bem.28 unter
Aufgabe des von Schröder in früheren Auflagen vertretenen abweichenden
Standpunktes; dagegen Schroeder, in: LK, 10. Aufl. 1980, § 16 Bem. 55.
20 Bei der mutmaßlichen Einwilligung werden zum Teil besonders strenge
Anforderungen an das Wissenselement gestellt, vgl. z. B. Jescheck (wie
Anm. 1), § 34 VII 3.
400 Gunther Arzt

ment voraus, im Sinne der Annahme des Täters, die Rechtfertigungs-


(Tatbestandsausschließungs-) Situation sei zweifels frei gegeben. Die
Frage liegt deshalb nahe, weil sich der fließende Übergang von der
Rechtfertigung zum Tatbestandsausschluß immer wieder zeigt, wobei
man gegenwärtig schon fast von einer Mode der Vorverlagerung der
Rechtfertigung auf die Tatbestandsebene sprechen kann. Lassen wir
dies auf sich beruhen und heben wir nur noch hervor, daß es auch
keine präzise Grenze zwischen negativen, d. h. den Tatbestand aus-
schließenden und positiven, d. h. den Tatbestand begründenden Merk-
malen gibt. Muß sich der Täter des Tatbestandsausschlusses so wenig
sicher sein wie einer Rechtfertigung (trotz solcher Zweifel Vorsatz aus-
schluß), dann müssen wir konsequenterweise umgekehrt für die Vor-
satzbegründung Sicherheit bezüglich der Tatbestandsverwirklichung
fordern. - Damit wird freilich die dolus eventualis-Doktrin grundsätz-
lich in Frage gestellt, wie ein Blick zurück auf die obigen Beispiele
rasch zeigt:
Fordern wir in Beispiel (3) für das tatbestandsausschließende Einver-
ständnis so wenig Sicherheit des Täters wie bezüglich einer rechtferti-
genden Einwilligung, ist schwer zu sehen, warum wir in Beispiel (4)
bezüglich der tatbestandsbegriindenden Altersgrenze für Vorsatzaus-
schluß Sicherheit des Täters verlangen, daß sein Opfer der Altersgrenze
entwachsen ist. Verlangen wir eine solche Sicherheit jedoch im Bei-
spiel (4) nicht, können wir uns bei § 176 bezüglich des Tatbestandsmerk-
mals "unter 14 Jahren" nicht mit dolus eventualis begnügen. Die Paral-
lele zum Ausgangsfall der falschen Aussage dürfte auf der Hand lie-
gen27 • Die weit von meinem Ausgangsfall abirrenden Ausführungen
zu anderen Sachverhalten zeigen für §§ 153 ff., daß der Schlüssel zur
Lösung wohl nicht in der Zwickmühle zwischen Aussage- und Wahr-
heitspflicht zu suchen ist, sondern in grundsätzlichen Problemen des
dolus eventualis.

4. a) Nun ist unsere Dogmatik seit langem so verfeinert, daß gleiche


Sachgedanken in verschiedener konstruktiver Einkleidung wieder-
kehren. Wenn die hier zur Diskussion gestellten Einwände gegen den
Einsatz des dolus eventualis auch nur zum Teil begründet sind, sind
dogmatische Friktionen auch außerhalb der bisher erwogenen Rechts-
figuren der Interessenkollision und des Umkehrverhältnisses zwischen
subjektivem Rechtfertigungselement und Tatbestandsvorsatz zu er-
warten. Dabei wollen wir uns der von Warda angedeuteten, gefühls-
mäßig (vielleicht) einleuchtenden Privilegierung des Täters zuwenden,
der einen erlaubten Erfolg erreicht, also im Ausgangs/all die Wahr-

27 Auch bezüglich der Ausnahme bei Gleichgültigkeit des Täters bezüglich


der Altersgrenze, Anm. 10.
Falschaussage mit bedingtem Vorsatz 401

heit sagt, in Fall (1) sich gegen einen rechtswidrigen Angriff angemes-
sen zur Wehr setzt, in Fall (2) ordnungsgemäß seinem Chef bei legalen
Geschäften hilft, im Fall (3) mit einer willigen Frau und im Fall (4)
mit einem der Altersgrenze entwachsenen Mädchen verkehrt. - Für
die bisher erwogenen Ansätze ist der Unterschied, ob der Täter das
Richtige oder das Falsche trifft, nur insoweit erheblich, als er wegen Ver-
suchs bzw. Vollendung zu bestrafen ist. Nimmt man die hier vorge-
tragenen Bedenken ernst, wäre der Täter dagegen nicht zu bestrafen28 ,
und zwar unabhängig vom richtigen bzw. falschen Resultat seiner
Handlung.
Eine unterschiedliche Behandlung des Täters je nachdem, ob die als
zweifelhaft angesehene Rechtfertigungslage29 vorliegt oder nicht, müßte
in die Rechtfertigungssituation ein Stück objektive Straflosigkeitsbe-
dingung hineininterpretieren. Dann wäre es möglich, den Täter straf-
los zu lassen, der an der Rechtfertigung zweifelt und trotzdem handelt,
vorausgesetzt, die Rechtfertigungslage ist objektiv gegeben. Dann
könnte man zugleich den Täter wegen vollendeter rechtswidriger Tat
bestrafen, bei dem die Rechtfertigungslage nicht gegeben ist - insoweit
gestützt auf die allgemeine dolus eventualis-Doktrin (Identität zwischen
dem Zweifel an der Rechtfertigungssituation und bedingtem Vorsatz).

b) Auf den ersten Blick scheint eine solche Objektivierung der Recht-
fertigungsgTÜnde der einhelligen Lehre zu widersprechen. Eine nähere
Betrachtung, die auch hier wieder für jeden einzelnen Rechtfertigungs-
grund getrennt erfolgen müßte, zeigt jedoch mindestens entsprechende
Ansätze. Beschränken wir uns auf die Notwehr. Nach h. M. ist die Er-
forderlichkeit der Abwehr objektiv ex post zu beurteilen. Das Risiko für
den Verteidiger liegt in der möglichen Divergenz zwischen objektivem
und subjektivem Maßstab, zusätzlich in der möglichen Divergenz zwi-
schen ex ante- und ex post-Beurteilung. Dieses Risiko würde sich ver-
vielfachen, wenn die übereinstimmung der subjektiven ex ante-Beur-
teilung mit der objektiven ex post-Betrachtung für die Rechtfertigung
nicht ausreichen würde, sondern subjektiv und ex ante Sicherheit des
Verteidigers auch bezüglich der objektiven ex post-Betrachtung ge-
fordert werden würde. Anders ausgedrückt, die objektive ex post-Be-
trachtung hat für den Verteidiger nicht nur Nachteile, sondern auch
den Vorteil, daß er bei zweifelhafter ex ante-Beurteilung der Erfor-
derlichkeit gerechtfertigt ist, wenn sich ex post und objektiv heraus-
stellt, daß er das Richtige getroffen hat! Da Zweifel bezüglich der ex
post-Betrachtung nach dem Grundsatz in dubio pro reo zugunsten des
28 Wegen eines Vorsatzdeliktes; die Frage einer Fahrlässigkeitsbestrafung
bleibt hier schon aus Raumgründen ausgeklammert.
2V Zur Ausdehnung der folgenden überlegungen auf tatbestandsausschlie-
ßende oder tatbestandsbegründende Merkmale siehe schon oben 111 3 b.

26 Festschrift für R-H. Jescheck


402 Gunther Arzt

Verteidigers ausschlagen, ist der Verteidiger gerechtfertigt, der sub-


jektiv von zweifelhafter Erforderlichkeit ausgegangen ist, und bei dem
sich ex post objektiv die Erforderlichkeit herausstellt (oder die Situa-
tion zweifelhaft bleibt).
Nun ist die ex post-Betrachtung der Erforderlichkeit nicht unbe-
stritten. Armin Kaufmann hat aus einer personalen Unrechtslehre die
Konsequenz gezogen, die Notwehrvoraussetzungen seien objektiv ex
ante zu beurteilen ("einsichtiger Mensch in der Tatsituation")30. Aber
die "Prüfungslast"31 desjenigen, der von einer Erlaubnis Gebrauch
macht und das Aufbürden des Risikos, "die Voraussetzungen des Er-
laubtseins richtig zu erkennen"32, kann den Fall des ex ante objektiv
gegebenen Zweifels nur dadurch bewältigen, daß vom Handelnden der
Verzicht gefordert wird. Die Angemessenheit dieses Verzichts gilt es
jedoch gerade zu begründen!33

c) Eine weitere, in der Judikatur entwickelte pragmatische Lösung


der vielleicht nicht erforderlichen Verteidigung sei erwähnt: Ist der
Verteidiger nicht sicher, ob der Angriff mit einem milderen Mittel ab-
zuwehren wäre, als er es einsetzt, hilft ihm die Rechtsprechung mit der
These, erforderlich sei, was den Angriff sicher abwehre, vgl. BGHSt 27,
336. Einmal mehr wird eine Unsicherheit (hier im Bereich der Erfor-
derlichkeit) durch eine materiell-rechtliche Um definition bewältigt.

d) Wenn man die einzelnen Rechtfertigungsgründe untersucht, wird


man auf weitere punktuelle, "interne" Lösungen der zweifelhaften
Rechtfertigungssituation stoßen. Bezüglich der Einwilligung erinnere
ich an meine auf die Selbstverantwortung des Rechtsgutsinhabers ge-
stützte These, daß das "Risiko mißverständlicher oder irrtümlicher Er-
klärungen" nicht auf den Täter abgewälzt werden darf34 .
30 Armin Kaufmann, Festschrift für Welzel, 1974, S. 393 ff., 402. - Daß
"Gefahr" ein ex ante-Element enthält, das durch die ex post-Betrachtung
nicht eliminiert werden darf, sollte selbstverständlich sein und den theore-
tischen Gegensatz zwischen ex post- und ex ante-Urteil mildern; problema-
tisch deshalb Warda (wie Anm. 16), S. 138.
31 Armin Kaufmann (wie Anm. 30), S. 402.
32 Armin Kaufmann (wie Anm. 30), S. 400.
33 Konsequent für den Verzicht Warda (wie Anm.16), S.141, denn nach-
dem man sich im Bereich der Entschuldigung bewegt, fällt die Anlehnung an
das Notstandskriterium der Ausweglosigkeit leicht. - Nimmt man mit Ar-
min Kaufmann eine Prüfungslast an, folgt aus ihrer Ausrichtung am ex ante-
Maßstab nicht notwendig, daß darin eine Milderung im Vergleich zur ex
post-Betrachtung zwar vorteilhaft sein kann, aber nicht sein muß, und das
eigentliche Risiko des Verteidigers, das in der Differenz zwischen subjekti-
vem und objektivem Maßstab liegt, vom übergang zur ex ante-Betrachtung
kaum berührt wird. - Philipps, ZStW 85 (1973), S.27, sieht den dolus even-
tualis grundsätzlich "als Problem der Entscheidung unter Risiko"; zur Be-
rührung mit den hier vorgetragenen überlegungen vgl. S. 39 mit Anm. 22.
34 Arzt, Willensmängel bei der Einwilligung, 1970, S. 48.
Falschaussage mit bedingtem Vorsatz 403

5. Darüber hinaus kommt über den Beweis in die dolus eventualis-


Doktrin eben die Zufallskomponente hinein, die man bei der Fahrläs-
sigkeitsdoktrin als sachlich unbefriedigendes Relikt des Erfolgsstraf-
rechts empfindet. Hat im Ausgangsbeispiel der Zeuge die Wahrheit ge-
sagt und beschworen, hat in Fall (1) der Täter sich angemessen gegen
einen rechtswidrigen Angriff gewehrt, in Fall (2) der Angestellte dem
Chef bei legalen Geschäften geholfen, in Fall (3) der Täter eine willige
und in Fall (4) eine im richtigen Alter befindliche Partnerin gefunden,
dann besteht "objektiv" kein Anlaß für Nachforschungen über die sub-
jektive Einstellung der betreffenden Täter. Die Versuchsbestrafung
steht somit nur auf dem Papier. Wer dies bedauert, dem haben die
bisherigen Ausführungen nicht eingeleuchtet. Wer es begrüßt, daß
die auf dolus eventualis gestützte Versuchskonstruktion nur auf dem
Papier steht, muß die Frage stellen, was das für ein materielles Recht
ist, das sich schamhaft hinter der Beweisbarriere verstecken muß. An-
gesichts der totalen Subjektivierung unseres Strafrechts ist es nicht
leicht, eine objektive Zufallskomponente dogmatisch befriedigend zu
begründen. Letzten Endes geht es um ein Risiko, das mit der liberalen
Grenzmoral des Bestimmtheitsgrundsatzes eng verwandt ist. Der Ge-
setzgeber ist gehalten, dem Bürger präzise zu sagen, was verboten ist,
und ihm damit zu ermöglichen, bis an die Grenze des Erlaubten zu
gehen - statt durch unbestimmte Begriffe den Bürger zu zwingen,
wegen der unbestimmten Verbotsgrenze einen zusätzlichen Sicherheits-
abstand zu wahren. Der Richter sollte deshalb den Bürger in Fällen,
in denen ein erlaubtes Handeln von der Entscheidung einer zweifel-
haften Rechtfertigungslage, eines zweifelhaften Tatbestandsausschlus-
ses oder einer zweifelhaften Tatbestandsverwirklichung abhängt, nicht
zwingen, das vielleicht erlaubte Handeln zu unterlassen. Strafe sollte
frühestens dem drohen, der in dieser Lage einen Schaden anrichtet.

IV.
Damit kehren wir zur Ausgangsfrage zurück. Gerade weil die
Situation bei der Falschaussage nicht einmalig ist, besteht kein Anlaß,
die hier dargestellten Spannungen mit Hilfe einer punktuellen, inter-
nen Lösung zu bereinigen, d. h. auf die subjektive Aussagetheorie zu-
rückzugreifen. Dem oben I, 113 aus der konsequenten Anwendung der
objektiven Theorie entwickelten Konflikt zwischen Aussagepflicht und
Wahrheitspflicht könnte man zwar durch eine solche interne Lösung
aus dem Wege gehen. Dies würde jedoch bezüglich des Zeugen und der
am Aussagedelikt beteiligten außenstehenden Personen zu einem wenig
einleuchtenden Unterschied führen, vgl. dazu das folgende Beispiel.
Schluß/all - zugleich Abwandlung des Ausgangsbeispiels35 : A ist wegen
Vergewaltigung der 0 angeklagt. B, der Bruder des A, hält primär die Un-
404 Gunther Arzt

schuldsbeteuerungen des A für richtig. B hält es aber auch für denkbar, daß
o seinen Bruder zutreffend beschuldigt. B bietet der 0 Geld für eine ent-
lastende Aussage, die B primär für richtig, zugleich mit dolus eventualis
aber für falsch hält.
Der Reiz des vorstehenden Beispiels liegt darin, daß es von der
Zwickmühle zwischen Wahrheits- und Aussagepflicht absieht und daß
die Lösung nicht intern (durch Rückgriff auf die subjektive bzw. objek-
tive Aussagetheorie) getroffen werden kann. Der Anstifter will primär
eine nach der objektiven und subjektiven Theorie richtige Aussage.
Es liegt also primär eine mit direktem Quasi-Vorsatz vorgenommene
"Abstiftung" von der Falschaussage vor, gekoppelt mit einer bedingt
vorsätzlichen Anstiftung zur Falschaussage.
Mit meinem Beitrag wollte ich zeigen, daß derartige Fälle nur als
Beispiel für eine allgemeine Spannung in der dolus eventualis-Konzep-
tion zu begreifen sind. Die oben II 3 a, III 3 erwogene Maximallösung
dieser Spannung bestünde in der generellen Lösung des Umkehr-
verhältnisses zwischen dem subjektiven Rechtfertigungs-(Tatbestands-
ausschließungs-)Element einerseits und dem bedingten Tatbestands-
vorsatz andererseits zu Lasten des bedingten Vorsatzes. Genügt es ob-
jektiv zum Tatbestandsausschluß bei §§ 153, 154, daß der Zeuge die
Wahrheit sagt, muß es subjektiv zum Vorsatzausschluß genügen, daß
er mit direktem Quasi-Vorsatz die Wahrheit sagen will. Folglich kann
beim zweifelnden Zeugen für den bedingten Vorsatz (vielleicht die
Unwahrheit zu sagen) das Spiegelbild dieses subjektiven Tatbestands-
ausschließungselementes nicht genügen. Die mit dieser Maximallösung
verbundene Reduktion des Anwendungsbereichs des dolus eventualis
ist in ihrer Tragweite erst abzuschätzen, wenn man den in Betracht
kommenden Anwendungsbereich umfassend untersucht. Dies würde
den Rahmen dieses Beitrags sprengen. - In dieselbe Richtung, wenn
auch weniger weit, geht die Einführung eines Risiko- und Zufallsele-
mentes in die dolus eventualis-Doktrin derart, daß der Täter dann
straflos bleibt, wenn er das angestrebte erlaubte bzw. nicht tatbe-
standsmäßige Primärziel erreicht, s. o. III 4, 5. Dies scheint mir die
richtige Lösung zu sein, so ungewohnt eine solche Anleihe der Vorsatz-
doktrin bei der Fahrlässigkeitsdogmatik auch scheinen mag.
35 In Anlehnung an den Sachverhalt der Entscheidung BGH, 5 StR 639/82
vom 15.2. 1983, nicht veröffentlicht. Der BGH ist auf die Problematik des
dolus eventualis nicht eingegangen. Das tat richterliche Urteil wurde bezüg-
lich der Strafzumessung aus anderen Gründen aufgehoben. - Da ich in die-
sem Fall den Verteidiger beraten habe und meiner Meinung nach Partei-
gutachten von Beiträgen zur allgemeinen wissenschaftlichen Auseinander-
setzung schärfer getrennt werden sollten, als dies üblich geworden ist, sei
mir der Hinweis gestattet, daß dies in den letzten fünf Jahren der einzige
Fall einer solchen Beratung gewesen ist. Das mag es plausibel machen, daß
mein Interesse an den im Text behandelten Fragen Anlaß für das Gutachten
und nicht mein Interesse um Gutachten Anlaß für die im Text behandelten
Fragen war.
MANFRED MAIWALD

Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs "erlaubtes Risiko"


für die Strafrechtssystematik

I. Das erlaubte Risiko als "Rechtsfigur"

Daß das "erlaubte Risiko" im Strafrecht in irgendeiner Form eine die


Strafbarkeit ausschließende Rolle spielt, ist heute allgemein anerkannt.
Es gibt Fälle, in denen es zulässig ist, ein Rechtsgut zu gefährden,
wenn bestimmte Werte auf dem Spiel stehen, deren Preis eben die
Rechtsgutsgefährdung ist. Und mündet die zulässige Rechtsgutsgefähr-
dung in einem solchen Fall in eine Verletzung ein, so kann der Täter
um der Zulässigkeit seines HandeIns willen nicht bestraft werden1 •
Nach wie vor knüpfen sich aber an den Gedanken eines erlaubten
Risikos zahlreiche Zweifelsfragen. Sie kreisen zumeist um das Problem,
ob es das erlaubte Risiko überhaupt als eigenständige RechtsfiguT gibt2 •
Man diskutiert diese Fragestellung an verschiedenen Stellen des Ver-
brechensaufbaus, indem man etwa zu klären sucht, ob das erlaubte
Risiko als tatbestandseinschränkende Maxime, als spezieller Recht-
fertigungsgrund oder auch als Schuldausschließungsgrund die Straf-
losigkeit des Täters begründen kann.
Ein Teil der Autoren verneint nun die Möglichkeit, das erlaubte
Risiko als eigenständige Rechtsfigur im Strafrechtssystem unterbringen
zu können. So wird etwa von Kienapfel ausgeführt, unter dem Begriff
des erlaubten Risikos seien Probleme verborgen, deren Lösung rich-
tigerweise durch einen sozialen Handlungsbegriff, die Tatbestandsaus-
legung, durch spezielle Rechtfertigungsgründe oder im Bereich der
Fahrlässigkeit erfolge, eigenständige Bedeutung habe diese Rechtsfigur
nicht3 • Auch Bockelmann betont: "In Wahrheit bedarf es eines solchen
Rechtfertigungsgrundes des erlaubten Risikos gar nicht"; wer zulässige
Risiken auf sich nehme, versäume nicht die im Verkehr erforderliche

1 Vgl. etwa die einleitenden Bemerkungen bei Jescheck, Lehrbuch AT,


3. Aufi. 1978, S. 322 f.
2 Vgl. Preuß, Untersuchungen zum erlaubten Risiko im Strafrecht, 1974,
S. 18 f.; Maurach/Zipf, Strafrecht AT 1, 6. Aufi. 1983,28/20 ff.; Lackner, 15. Aufi.
1983, vor § 32, 14.
3 Kienapfel, Das erlaubte Risiko im Strafrecht, 1966, S. 29.
406 Manfred Maiwald

Sorgfalt, verwirkliche also keinen strafrechtlich erheblichen Hand-


lungsunwert und begehe somit keine straftatbestandsmäßigen Handlun-
gen4 • Und ebenso erklärt Baumann, daß die Formel vom erlaubten
Risiko verschiedene Dinge zusammenfasse, die richtigerweise im Straf-
rechtssystem an verschiedenen Stellen als Problem ihren Sitz hättens.
Schließlich kommt auch Preuß in seiner monographischen Behandlung
der Frage zu dem Ergebnis, es bestehe kein Bedürfnis für die Anerken-
nung des erlaubten Risikos als Tatbestandsausschluß, Rechtfertigungs-
oder Schuldausschließungsgrund, "da alle Beispielsfälle mit Hilfe an-
derer Verbrechenselemente gelöst werden können"6.
Demgegenüber wird von einigen Literaturstimmen das erlaubte Risi-
ko als durchaus eigenständiger Topos gesehen. Freilich ist diese An-
sicht in sich wiederum sehr unterschiedlich ausgeformt. Was die
systematische Einordnung betrifft, so spricht man teilweise von einem
besonderen Rechtfertigungsgrund des erlaubten Risikos7 , teilweise von
einer Handlungsbefugnis im Rahmen fahrlässiger Delikte, die - je
nachdem - den Tatbestand oder die Rechtswidrigkeit ausschließe8 ,
teilweise - zusammen mit der Sozialadäquanz - von einem Tatbe-
standsausschlußD. In sachlicher Hinsicht wird darüber diskutiert, für
welche Fallgestaltungen dieser eigenständige Topos erforderlich sei.
Während ihm bisher das Schrifttum zum Teil einen weiten Anwen-
dungsbereich zugestanden hat lO , gibt es jetzt Stimmen, die dem Ge-
sichtspunkt des erlaubten Risikos eine Bedeutung nur in einigen eng
begrenzten Fällen zuerkennen wollen. Jescheck, ein Vertreter dieser
Ansicht, erkennt das erlaubte Risiko als eigenständige Lösungsformel
nur für drei Fallgestaltungen an: für riskante Rettungshandlungen, für
die Wahrnehmung berechtigter Interessen gemäß § 193 StGB und für
riskante Spekulationsgeschäfte eines gemäß § 266 StGB Vermögensbe-
treuungspflichtigentl • Diese einschränkende Betrachtung wird, wie
soeben erwähnt, im Grundsätzlichen von einigen Autoren geteilt l2 •
Die skizzierten Meinungsverschiedenheiten lassen nicht immer deut-
lich erkennen, worum überhaupt gestritten wird. Worüber man freilich
4 Bockelmann, Strafrecht AT, 3. Auft. 1979, S. 108.
S Baumann, Strafrecht AT, 8. Aufl. 1977, S. 331.
6 Preuß, Untersuchungen zum erlaubten Risiko im Strafrecht, 1974, S.227.
7 Schmidhäuser, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1975, 9/30 ff.; Samson, in: SK, vor
§32 Rdn. 53.
8 SchönkelSchröder/Lenckner, 21. Aufl. 1982, vor §§ 32 ff. Rdn. 94 ff.
9 Geppert, ZStW 83 (1971), S. 995.
10 Vgl. z. B. Schmidhäuser, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1975, 9/30 ff.; Schönke/
Schröder/Lenckner, 21. Aufl. 1982, vor §§ 32 ff. Rdn. 94 ff.
11 Lehrbuch AT, 3. Aufl. 1978, S. 324 ff.
12 Preisendanz, StGB, 30. Auft. 1978, vor § 32, II 6; Maurach/Zip!, Straf-
recht AT 1,6. Aufl. 1983, 28{23 ff.
Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs "erlaubtes Risiko" 407

nicht streiten kann, ist, daß das Phänomen an sich, nämlich die Erlaub-
nis, sich unter bestimmten Voraussetzungen riskant zu verhalten, recht-
liche Anerkennung gefunden hat: Das Recht verlangt nicht schlechthin
ein Verhalten, das jede Gefährdung von Rechtsgütern Dritter von
vornherein völlig ausschließt 13 • Aber die Frage, ob das erlaubte Risiko
eine eigenständige Rechtsfigur sei, berührt in Wahrheit zwei dogma-
tische Problemkreise, die in der Diskussion bisher nicht immer mit der
notwendigen Deutlichkeit getrennt wurden. Dabei kann ganz außer
Betracht bleiben der Streit um die Einordnung des erlaubten Risikos
als Tatbestandsausschluß oder als Rechtfertigungsgrund. Gedacht ist
vielmehr einerseits an das Problem, was man eigentlich meint, wenn
man fragt, ob es sich beim erlaubten Risiko um eine eigenständige
Rechtsfigur handle und andererseits an die Frage, welche Gründe es
dafür gibt, zur Lösung bestimmter dogmatischer Probleme das Argu-
ment ins Feld zu führen, es handle sich um ein erlaubtes Risiko, und
durch welche Gründe somit überhaupt der Wunsch entsteht, einen ge-
meinsamen Begriff für solche Lösungsansätze zur Verfügung zu haben.
Die nachfolgende Skizze bemüht sich um Klärung dieser zwei Pro-
blemkreise. Die Anregung zu ihr beruht wesentlich auf den überle-
gungen des Jubilars in seinem Lehrbuch, das, wie oben dargestellt, das
erlaubte Risiko nur in sehr eingeschränktem Umfang als strafrechts-
systematische Figur anerkennt. Daß die Skizze zu einem anderen Er-
gebnis gelangt als der Jubilar, hat seinen Grund darin, daß sie nach
dem Verständnis ihres Verfassers den Weg konsequent weitergeht, der
in der Konzeption Jeschecks an sich schon beschritten ist. Ihre Ergeb-
nisse sind also nicht eigentlich ein Gegensatz zu dieser Konzeption,
sondern der Versuch einer Weiterentwicklung von Gedankengängen,
die das Lehrbuch des Jubilars bereits enthält.

11. Erlaubtes Risiko und Sozialadäquanz

Um herauszufinden, was es mit der Frage auf sich hat, ob das er-
laubte Risiko eine eigenständige Rechtsfigur sei, ist es lehrreich, ein-
mal die Diskussion um die Abgrenzung zwischen dem erlaubten Risiko
und der Sozialadäquanz zu betrachten. Die Erlaubnis, sich unter be-
stimmten Voraussetzungen riskant zu verhalten, könnte systematisch
gesehen aufgehen in jener anderen, in der Lehre zum Teil anerkann-
ten weiteren Ausnahme vom Gefährdungsverbot, die mit dem Stich-
wort "Sozialadäquanz" bezeichnet wird 14 • Handlungen, die sich voll im
13 Vgl. hierzu etwa Rehberg, Zur Lehre vom "Erlaubten Risiko", 1962,
S. 18 ff.; Preuß, Untersuchungen zum erlaubten Risiko im Strafrecht, 1974,
S. 15 ff.
14 So z. B. Schmidhäuser, Lehrbuch AT, 2. Aufl. 1975,9/31 Fn. 39; Baumann,
Lehrbuch AT, 8. Auf!. 1977, S. 279. - Andere Autoren gestehen indessen dem
408 Manfred Maiwald

Rahmen der Sozialordnung halten, sind unverboten und begründen


kein Handlungsunrecht, da die Konkordanz mit den anerkannten Regeln
des Soziallebens materiell die Bewertung als Unrecht ausschließt l5 •
Versucht man nun, eine solche Lehre von der Sozialadäquanz abzu-
grenzen von einer rechtlichen Erlaubnis, riskant zu handeln, so drängt
sich zunächst folgende Erwägung auf: Sozial adäquat im dargestellten
Sinne kann eine Handlung sowohl dann sein, wenn sie für Rechtsgüter
gefährlich ist, als auch dann, wenn sie für Rechtsgüter ungefährlich ist.
An zwei Beispielen gezeigt: Es ist (unter normalen Umständen) unge-
fährlich, einem anderen zur Begrüßung die Hand zu schütteln; und es
ist jedenfalls terminologisch möglich, das Händeschütteln als eine so-
zialadäquate Handlung zu bezeichnen. Es ist andererseits gefährlich,
bei einem Fußballspiel in vollem Lauf dem Gegner den Ball vom Fuß
wegzuschießen, auch wenn man sich dabei völlig regelgerecht verhält;
weithin wird eine solche Handlung als sozialadäquat und aus diesem
Grund rechtmäßig betrachtet16 •
Offensichtlich ist im ersten Beispiel keine Berührung mit einem er-
laubten Risiko vorhanden, da die Gefahrlosigkeit (unter normalen Um-
ständen) per definition em ein Risiko ausschließt. Im Beispiel des Fuß-
ballspiels dagegen geht es gerade um eine riskante Handlung, und
diese Handlung ist, weil regelgerecht, erlaubt. Geht man einmal davon
aus, daß die Sozialadäquanz die zutreffende Einordnung für Gefähr-
dungen im Sport darstellt17 , so zeigt das Beispiel, daß - zunächst
terminologisch betrachtet - Sozialadäquanz und erlaubtes Risiko ein-
ander nicht widersprechen. Denn die Bezeichnung "erlaubtes Risiko"
bringt ja nur zum Ausdruck, daß an ein bestimmtes Verhalten keine
(rechtliche) Mißbilligung geknüpft wird - aus welchen Gründen auch
immer.
Für das Verhältnis zwischen Sozialadäquanz und erlaubtem Risiko
folgt daraus, daß die beiden Begriffe auf zwei verschiedenen gedank-
lichen Ebenen liegen. Während der Begriff der Sozialadäquanz den
sachlichen Grund bezeichnet, warum eine Handlung zulässig ist und
insofern auf die geschichtlich gewachsene Ordnung des Soziallebens
Gedanken der Sozialadäquanz keinerlei dogmatischen Eigenwert zu; so etwa
Hirsch, ZStW 74 (1962), S. 134 f.; Samsan, in: SK, Rdn. 15 vor § 32.
15 Welzel, ZStW 58 (1939), S. 515 ff.; Schaffstein, ZStW 72 (1960), S.369;
Zipf, ZStW 82 (1970), S.633; Stratenwerth, Strafrecht AT I, 3. Auf!. 1981,
Rdn.340.
16 Zur Sozialadäquanz im Rahmen sportlicher Betätigung vgl. etwa
Jescheck, Lehrbuch AT, 3. Auf!. 1978, S.323; Zipf, ZStW 82 (1970), S.651;
Preuß, Untersuchungen zum erlaubten Risiko im Strafrecht, 1974, S. 95.
17 Bekanntlich stellt insbesondere die Rechtsprechung bei Verletzungen in
Sportwettkämpfen auf den Gedanken der Einwilligung der Teilnehmer ab;
vgl. BGH 4, 24, 31; BayObLG NJW 1961,2072; dazu Eser, JZ 1978, 372 ff.
Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs "erlaubtes Risiko" 409

verweist, besagt der Begriff des erlaubten Risikos nur, daß die riskante
Handlung - aus welchen Gründen auch immer - vorgenommen wer-
den darf; das erlaubte Risiko stellt somit einen Formalbegriff dar, der
erst noch seinen Inhalt bekommen muß durch die Gründe, die zur Er-
laubnis des Risikos führen. Das bedeutet, daß es eine "Abgrenzung"
der bei den Begriffe voneinander nicht geben kann, da ihre strafrechts-
systematische Funktion verschieden ist: Der Begriff des erlaubten
Risikos bringt zum Ausdruck, daß unter bestimmten Voraussetzungen
Risiken eingegangen werden dürfen, und der Begriff der Sozial-
adäquanz bezeichnet einen Komplex von sachlichen Gründen, der -
neben zahlreichen anderen - die Voraussetzung für solch zulässiges
riskantes Handeln bilden kann l8 •
Vergleicht man also die beiden "Rechtsfiguren" der Sozialadäquanz
und des erlaubten Risikos im Hinblick auf die Kriterien, nach denen sie
gebildet werden, so kann man feststellen, daß sich das erlaubte Risiko
im Hinweis auf das Erlaubtsein bestimmter riskanter Handlungen er-
schöpft, während Sozialadäquanz Sachgründe für das Erlaubtsein be-
stimmter Handlungen zum Ausdruck bringt.

111. Zur Funktion des "Formalbegriffs" des erlaubten Risikos

Ist das erlaubte Risiko in diesem Sinne ein Formalbegriff, so wird


daraus auch die Unsicherheit über die Frage verständlich, ob es eine
eigenständige Rechtsfigur bilde. Denn soweit es andere Rechtsfiguren
gibt, die ihrerseits Sachgründe für Risikoerlaubnisse angeben, ist eine
Abgrenzung diesen gegenüber - wie dargestellt - aus logischen
Gründen nicht möglich.
Außer der Sozialadäquanz kennt unser Strafrecht eine ganze Reihe
weiterer Bestimmungen und Rechtsfiguren, die für bestimmte Fälle
Rechtsgutsgefährdungen erlauben, möglicherweise auch - was hier
dahingestellt bleiben kann - der Besondere Teil des StGB, etwa im
Rahmen des § 193. Gefährdungserlaubnisse sind etwa im Bereich der
Fahrlässigkeitsdelikte anerkannt, wo beispielsweise die Einhaltung der
Straßenverkehrsvorschriften grundsätzlich die Bewertung des Verhal-
tens als Unrecht ausschließt10 • Gefährdungserlaubnisse sind weiterhin
beim ärztlichen Heileingriff gegeben, wenn der mit Einwilligung des

18 Allerdings ist auch der Begriff der Sozialadäquanz insofern "formal",


als er seinerseits die Gründe nicht bezeichnet, die dazu geführt haben, daß
die betreffenden Handlungen im Sozialleben allgemein akzeptiert werden.
Aber er enthält immerhin mehr an sachlichem Gehalt als der bloße Hinweis
im Begriff des erlaubten Risikos, daß eine riskante Handlung erlaubt sei.
19 Vgl. Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Straf-
recht, 1930, S. 286 ff.; Jescheck, Lehrbuch AT, 3. Aufl. 1978, S.470; Schänke/
Schröder!Cramer, 21. Aufl. 1982, § 15 Rdn. 143 f.; BGHZ 24, 21,28.
410 Manfred Maiwald

Patienten handelnde Arzt die lex artis einhält 20 • Und sie werden
schließlich etwa in bestimmtem Umfang bei riskanten Rettungshand-
lungen angenommen, wenn diese - als einzig erfolgversprechende Mit-
tel der Rettung - für das zu bergende Rechtsgut nicht ungefährlich
sind2l •
In den geschilderten Beispielsfällen werden als Sachgesichtspunkie,
die zur Verneinung unrechten HandeIns führen, die Einwilligung des
Rechtsgutsträgers oder dessen mutmaßliche Einwilligung diskutiert,
bei Einhaltung der Straßenverkehrsvorschriften der Umstand, daß
durch die Zulassung des Straßenverkehrs der soziale Nutzen gefördert
werde, so daß im Rahmen der Vorschriften um dieses Nutzens willen
auch Gefährdungen in Kauf genommen würden; beim ärztlichen Heil-
eingriff wird überwiegend - von den Vertretern einer "Tatbestands-
lösung" - auch betont, hier werde schon der Wert gar nicht verletzt,
dessen Schutz der Körperverletzungstatbestand im Auge habe. Diese
Sachgesichtspunkte bilden gleichzeitig dogmatische Kategorien, Rechts-
figuren, wobei im Zusammenhang der Straßenverkehrsvorschriften
nachzutragen ist, daß ihre Einhaltung in der Fahrlässigkeitsdogmatik
als Einhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt gesehen wird 22 ,
was fahrlässiges Handeln aber gerade ausschließe.
Da demgemäß eine ganze Reihe von sachlich begründeten Rechtsfigu-
ren bereitsteht, die Gefährdungserlaubnisse enthalten, wenn sie auch
systematisch an ganz unterschiedlicher Stelle auftauchen, so erklärt
sich der erwähnte Zweifel, ob überhaupt ein Bedürfnis besteht, noch
eine besondere Rechtsfigur "erlaubtes Risiko" einzuführen, die nur den
formalen Umstand des Erlaubtseins riskanter Handlungen zum Aus-
druck bringt. Ein solches Bedürfnis könnte allerdings darin bestehen,
ein Sammelbecken zur Verfügung zu haben, in dem solche Gefähr-
dungserlaubnisse untergebracht werden können, die nicht bereits nach
Sachgesichtspunkten bezeichnet sind und in dieser Form dann eine ge-

20 Bekanntlich ist die sachliche Begründung für das Erlaubtsein des ärzt-
lichen Heileingriffs umstritten. Während vor allem die Rspr. auf den Gedan-
ken der Einwilligung abstellt und den Heileingriff nur bei ihrem Vorliegen
als rechtmäßig ansieht (vgl. z. B. BGH 11, 111), wird im Schrifttum ganz über-
wiegend das Erlaubtsein des Heileingriffs schon aus dessen Natur (mit der
Folge des Tatbestandsausschlusses) abgeleitet (vgl. z. B. Engisch, ZStW 58
(1939), S.l, 5; Jescheck, Lehrbuch AT, 3. Aufl. 1978, S.305; Schönke/Schröder/
Eser, 21. Aufl. 1982, § 223 Rdn. 32 ff.). Für die bei den Ansichten ergibt sich
also die Erlaubnis, das Leben des Patienten durch den Heileingriff möglicher-
weise zu gefährden, aus einem je verschiedenen Sachgrund.
21 Vgl. die Beispiele bei Jescheck, Lehrbuch AT, 3. Aufl. 1978, S.324, u. a.
den Hinweis auf BGH bei Dallinger, MDR 1971, S.361 (der Vater unterläßt
es, im brennenden Haus seine kleinen Kinder aus dem Fenster zu werfen
und sie durch unten bereitstehende Retter auffangen zu lassen).
22 Dazu Jakobs, Strafrecht AT, 1983, 7/39 ff.; Jescheck, Lehrbuch AT,
3. Aufl. 1978, S.470.
Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs "erlaubtes Risiko" 411

sonderte Rechtsfigur bilden. Aber systematisch gesehen wäre ein sol-


ches Sammelbecken höchst unbefriedigend, da doch immer von Fall zu
Fall die Sachgesichtspunkte anzugeben wären, die zur Risikoerlaubnis
führen, so daß es ohne praktischen Nutzen bliebe. Es könnte jedoch
einen ganz anderen Grund geben, der es geraten erscheinen ließe, den
Begriff "erlaubtes Risiko" nicht über Bord zu werfen, sondern in das
Strafrechtssystem einzubauen: Es könnte sein, daß die aus verschiede-
nen Sachgesichtspunkten sich ergebenden Gefährdungserlaubnisse eine
gemeinsame Struktur aufweisen, die sich immer dann bemerkbar
macht, wenn die erlaubte Gefährdung in eine Verletzung des Rechts-
guts übergeht. Auf diesen Umstand wird weiter unten noch näher ein-
zugehen sein.

IV. Der Topos "erlaubtes Risiko"


und die anerkannten Gefährdungserlaubnisse

Bevor nun die erwähnte zweite Fragestellung nach der gemeinsamen


Struktur der Gefährdungserlaubnis behandelt wird, sei zunächst noch
einmal ein Schlaglicht geworfen auf ihre "Unterbringung" in den sonst
existierenden Rechtsfiguren. Dabei sollen einige problematische Fallge-
staltungen dahingehend durchgemustert werden, ob ihre Lösung in
sachlich zufriedenstelIender und systematisch stimmiger Weise durch
andere dogmatische Kategorien erreicht werden kann. Zweck dieser
Überlegungen soll es sein, noch einmal das Bewußtsein zu schärfen für
den Umstand, daß das "erlaubte Risiko" im geschilderten Sinne einen
"Formalbegriff" darstellt.

1. Das erlaubte Risiko und die im Verkehr erforderliche Sorgfalt


Einer der Punkte, an dem besonders häufig auf die Entbehrlichkeit
einer Kategorie des erlaubten Risikos hingewiesen wird, ist bekannt-
lich die Dogmatik der Fahrlässigkeitsdelikte: Im Sozialleben dürfen in
vielfältigen Zusammenhängen gefahrgeneigte Handlungen vorgenom-
men werden, weil sie wegen ihres sozialen Nutzens nicht entbehrt
werden können. Wer denjenigen Standard nicht überschreitet, der als
zulässige Gefährdung allgemein akzeptiert ist, handelt nicht sorgfalts-
widrig. In diesem Zusammenhang wird von J escheck betont: "Hier
geht die Sorgfaltspflicht dahin, bei Ausführung der Handlung alle er-
forderlichen Vorsichts-, Kontroll- und Überwachungsmaßregeln anzu-
wenden, um die damit verbundenen Gefahren auszuschalten oder doch in
Grenzen zu halten (Sorgfalt als vorsichtiges Handeln in Gefahrsituatio-
nen). Die h. L. spricht auch an dieser Stelle von ,erlaubtem Risiko' "23.

23 Jescheck, Lehrbuch AT, 3. Aufl. 1978, S.470; ebenso Maurach/Gössel,


Strafrecht AT 2, 5. Aufl. 1978, S. 74 f.; Stratenwerth, Strafrecht AT 1,3. Aufl.
412 Manfred Maiwald

Kurz gesagt: Das erlaubte Risiko ist hier nichts anderes als die for-
malisierte Umschreibung des Maßes an Sorgfalt, das eingehalten wer-
den muß, damit dem Täter der Vorwurf fahrlässigen HandeIns erspart
bleibt. Der Sachgesichtspunkt, der zur Erlaubnis solcher riskanten
Handlungen führt, ist der soziale Nutzen, der allgemein mit ihrer Zu-
lässigkeit verbunden ist, wie etwa bei der Verwendung gefährlicher
Maschinen, beim Straßen- und Luftverkehr, bei der Anwendung von
Medikamenten mit möglichen schädlichen Nebenwirkungen, weshalb
einige Autoren mit Recht auf die Nähe zur Interessenabwägung beim
Notstand hinweisen 24 • Es geht in bei den Fällen um eine Wertabwä-
gung, die zu dem Urteil führt, eine bestimmte Handlung sei zulässig
oder unzulässig.
Bei den Fahrlässigkeitsdelikten ist das Maß der in den jeweiligen
Verkehrskreisen in Kauf genommenen Gefährdungen in der tatbe-
standlichen Umschreibung nicht näher präzisiert. Das Maß schlägt sich
indessen teilweise in anderen gesetzlichen Bestimmungen nieder, wie
z. B. in der StVO, teilweise in autonomen Satzungen, wie etwa in den
Unfallverhütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften; teilweise er-
gibt es sich aus verallgemeinerungsfähigen Entscheidungen der Recht-
sprechung, die von Fall zu Fall einen situationsbezogenen Sorgfalts-
maßstab entwickeln muß, der in abstracto im Begriff der Fahrlässigkeit
der betreffenden Tatbestände enthalten ist 25 • Es spielt im vorliegenden
Zusammenhang keine Rolle, soll aber gleichwohl festgehalten werden,
daß die Einhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt nicht erst
ein Rechtfertigungsgrund ist, der ein "an sich" verbotenes Handeln
ausnahmsweise als erlaubt erscheinen ließe. Dies deshalb, weil jeden-
falls für eine personale Unrechtslehre schon die Feststellung, daß über-
haupt Unrecht geschehen ist, voraussetzt, daß der Täter von einem
ge sollten Verhalten abgewichen ist; und diese Voraussetzung läßt sich
nur unter Zuhilfenahme eben dieses Sorgfaltsmaßstabes ermitteln26 •
Im Hinblick auf den Begriff "erlaubtes Risiko" verbleibt hier nach
alledem wiederum der Befund, daß er als Formalbegriff keine Aus-
kunft darüber gibt, warum es erlaubt ist, sich in bestimmtem Umfang
gefährlich zu verhalten, und welches die Gesichtspunkte sind, die für
die dabei vorzunehmende Abwägung eine Rolle spielen. Immerhin hat

1981, Rdn. 1101; Schönke/Schröder/Cramer, 21. Aufl. 1982, § 15 Rdn. 142;


Jakobs, Strafrecht AT, 1983, 9/7.
24 Samson, in: SK, Anh. zu § 16 Rdn.19; Schünemann, JA 1975, 575 ff.;
Jakobs, Beiheft ZStW 86 (1974), S. 13.
2S Dazu wieder Jescheck, Lehrbuch AT, 3. Aufl. 1978, S. 471.

28 Ebenso Gallas, ZStW 67 (1955), S.26; Schatfstein, Welzel-Festschrift,


1974. S.559; Jescheck, Lehrbuch AT, 3. Aufl. 1978, S.479; Jakobs, Strafrecht
AT, 1983,7/39.
Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs "erlaubtes Risiko" 413

er hier gegenüber der "im Verkehr erforderlichen Sorgfalt"27 eine Ver-


deutlichungsfunktion und bringt insofern einen Erkenntnisgewinn: Er
stellt klar, daß "sorgfältig" auch der handeln kann, der andere gefähr-
det, wenn er nur die oben angedeuteten Gefährdungserlaubnisse nicht
überschreitet.
Soweit man - wie dies in der Literatur teilweise geschieht - er-
klärt, es handle sich bei den für die Fahrlässigkeitsdelikte maßgeben-
den Gefährdungserlaubnissen um Fälle der Sozialadäquanz28 , wechselt
man gegenüber dem erlaubten Risiko die Argumentationsebene: Man
verweist mit der Sozialadäquanz auf den Grund der Erlaubnis riskan-
ten Verhaltens. Ein Widerspruch in der Verwendung der Begriffe kann
demgemäß damit nicht verbunden sein.

2. Die Einhaltung des erlaubten Risikos


im Rahmen von Rettungshandlungen

Im Rahmen von Rettungshandlungen stellt sich das Problem des er-


laubten Risikos gleich in dreifacher Weise. Es geht einmal um die Ge-
fährdung von Rechtsgütern des zu rettenden Rechtsgutsträgers selbst;
so etwa, wenn die Rettung eines verunglückten Bergsteigers in schwie-
rigem Gelände die Gefahr in sich birgt, daß dieser durch die Rettungs-
handlung zu Tode kommt. Es geht zweitens um die Gefährdung von
Rechtsgütern Dritter durch die Rettungshandlung; beispielsweise, wenn
der zu einem lebensbedrohlich Erkrankten gerufene Arzt mit seinem
Auto sehr schnell fährt, so daß Passanten in Gefahr geraten. Schließ-
lich wird in diesen beiden Konstellationen die Frage akut, wie die
Fälle des Vorsatzes zu behandeln sind; dann nämlich, wenn der jewei-
lige Retter bei seiner Handlung den rechtsgutsverletzenden Erfolg her-
beiwünscht oder ihn für den Fall des Eintritts wenigstens in Kauf
nimmt. Auf diese Fragen vorsätzlichen HandeIns im Rahmen des er-
laubten Risikos soll jedoch weiter unten gesondert eingegangen wer-
den.
Soweit bei einer Rettung Rechtsgüter des zu Rettenden gefährdet
werden, haben wir unter dem Blickwinkel der zur Verfügung stehen-
den dogmatischen Kategorien das Problem der Einwilligung oder auch
der mutmaßlichen Einwilligung vor uns 29 • Das gilt etwa dann, wenn im
Falle des Bergsteigers bei der Bergung dessen Kleidung und Aus-

27 Auch bei der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt handelt es sich - wie


nebenbei bemerkt sei - um einen Formalbegriff, der inhaltlich erst durch
den jeweiligen für die Entscheidung maßgebenden Sachgesichtspunkt ausge-
füllt werden muß.
28 SchönkefSchröderfCramer, 21. Auf!. 1982, § 15 Rdn. 144.
29 Vgl. Jescheck, Strafrecht AT, 3. Auf!. 1978, S.310; Schönke/Schröder/
Lenckner, 21. Aufl. 1982, Vorbem. §§ 32 ff. Rdn. 55.
414 Manfred Maiwald

rüstung zerstört zu werden drohen, das gilt aber auch für den Fall, daß
für ihn bei der Bergung Todesgefahr besteht. Freilich ist problema-
tisch, wie weit die unrechtsausschließende Kraft der Einwilligung
reicht - und diese ihre Reichweite wird auch durch die Größe der
Gefahr bestimmt, die die Rettungshandlung mit sich bringt. Eindeutig
ist die Lösung zwar sicher im Falle der Gefährdung nur der Kleidung
und Ausrüstung, da insoweit das gegenüber dem Leben geringerwer-
tige Rechtsgut preisgegeben wird. Aber für den Fall, daß die Rettungs-
handlung für das Leben des zu Rettenden nicht ungefährlich ist, ist zu
bedenken, ob nicht die Reichweite der Einwilligung bestimmt wird
durch die Größe dieser Gefahr: Wäre im Extremfall sicher, daß der ab-
gestürzte Bergsteiger auch durch die Rettungsbemühungen zu Tode
kommen wird (so daß in Wahrheit gar keine "Rettungs"-Handlung
vorliegt), so bedeutet seine Einwilligung in diese Handlungen der
Sache nach nur die Wahl einer anderen Todesart, so daß eine unrechts-
ausschließende Wirkung der Einwilligung wegen § 216 StGB nicht in
Frage kommt30 • Im Bereich ärztlicher Heileingriffe pflegt bekanntlich
von der Rechtsprechung die lex artis des Arztes als maßgebend dafür
angesehen zu werden, ob die vom Patienten erteilte Einwilligung den
Eingriff "deckt", während die h. L. allein die Kunstregeln des Arztes
darüber entscheiden läßt, ob der Arzt mit seinem Eingriff Unrecht
getan hat oder nicht 3!, sieht man einmal von einer möglichen Nötigung
gegenüber dem Patienten ab.
Wie kommt nun hierbei das erlaubte Risiko ins Spiel? Nun - es
läßt sich an den dargestellten Rettungshandlungen wiederum die Natur
des erlaubten Risikos als eines Formalbegriffs zeigen. Was den ärztlichen
Heileingriff betrifft, so wird mit der Einwilligung in den Eingriff der
Sachgrund bezeichnet, der nach Ansicht der Rechtsprechung allein für
seine Zulässigkeit maßgebend ist. Das erlaubte Risiko enthält dem-
gegenüber nur den Hinweis, allerdings auch die Verdeutlichung, daß
dieser Sachgrund auch in bestimmtem Umfang Gefährdungen erlaubt.
Zieht man mit der h. L. für den ärztlichen Heileingriff allein die lex
artis als maßgebend für den Unrechts ausschluß heran, so ist die Sach-
lage zwar komplizierter, aber nicht grundlegend anders: Mit dem Hin-
weis auf die Einhaltung der lex artis ist stillschweigend die Aussage
verbunden, daß derartige ärztliche Eingriffe entweder schon keine
Körperinteressenverletzung darstellen - so beim gelungenen Ein-

30 Es geht dann in Wahrheit um eine Form der Sterbehilfe, deren Beurtei-


lung bekanntlich umstritten ist. Setzt man im obigen Beispiel voraus, daß
die andere Art des Todes nicht früher eintritt als der sonst zu erwartende
Tod, so steht man zusätzlich vor der Frage, ob für das tatbestandliche Un-
recht eines Tötungsdelikts das Moment der Lebensverkürzung essentiell ist;
dazu z. B. Samson, Hypothetische Kausalverläufe im Strafrecht, 1972, S. 96 ff.
3! Vgl. Fn. 20.
Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs "erlaubtes Risiko" 415

griff - , oder doch um der Heilungschance willen, die sich aus der Ein-
haltung der lex artis ergibt, nicht als Unrecht bewertet werden können
- so beim mißlungenen Eingriff 32 • Ebenfalls ist damit gegenüber dem
erlaubten Risiko auf die Gründe für die Gefährdungserlaubnis Bezug
genommen. Sagt man, ein Arzt habe sich im erlaubten Risiko gehalten,
so ist demgegenüber ungeklärt, warum er berechtigt gewesen sein soll,
sich riskant zu verhalten.
Bei nichtärztlichen Rettungshandlungen, bei denen keine lex artis
zur Verfügung steht - wie etwa im Bergsteiger-Fall - ist die Sach-
lage nicht grundsätzlich anders. Denn natürlich willigt auch dort der
Verunglückte nur in "sorgfältige" Rettungshandlungen ein, zu denen
der Retter im übrigen auch gemäß § 323 c StGB verpflichtet ist: Geht
der Retter in völlig unsachgemäßer Weise vor, läßt er die Vorsicht
nicht walten, die jedermann in einer solchen Lage aufbringen könnte,
so ist er bei tödlichem Ausgang der Rettung aus § 222 StGB verant-
wortlich, sofern ihm das auch persönlich vorwerfbar ist, während er,
wenn er die in dieser Situation erforderliche Sorgfalt einhält, den Be-
reich des erlaubten Risikos nicht überschritten hat, weil dessen Reich-
weite hier durch die Einwilligung abgesteckt wird. Auch hier ist mit
der Verwendung des Formalbegriffs "erlaubtes Risiko" nur der Er-
kenntnisgewinn verbunden, daß aus dem Sachgrund, der mit dem
Prinzip der Einwilligung angegeben ist, bestimmte Gefährdungser-
laubnisse folgen; der Sachgrund selbst und damit der Umfang der
Erlaubnisse wird damit nicht bezeichnet.
Werden durch die Rettungshandlung Rechtsgüter eines Dritten ge-
fährdet, so gerät man in den Anwendungsbereich des § 34 StGB. Diese
Vorschrift enthält die Erlaubnis, zur Abwendung bestimmter Gefahren
eine "Tat" zu begehen, wenn die widerstreitenden Interessen, vor
allem die kollidierenden Rechtsgüter, zu dem Ergebnis führen, daß das
geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt.
Im oben erwähnten Falle des Arztes, der unter Mißachtung der
Verkehrsvorschriften schnell zu einem lebensbedrohlich Erkrankten
fährt, sind die kollidierenden Rechtsgüter gleichwertig; es steht das
Leben der durch die rasche Fahrt gefährdeten Passanten gegen das
Leben des Patienten. Aber es ist denkbar, in die anzustellende Interes-
senabwägung gemäß § 34 StGB auch die Erwägung einfließen zu lassen,
daß hier zur Verhinderung eines sicheren Todes des Patienten eine
Handlung vorgenommen wird, die nur die Gefahr der Tötung eines
Passanten schafft, und daß die Abwägung: sicherer Tod gegen Gefahr
des Todes, für den Arzt zur Handlungserlaubnis führt. Ob das wirk-

32 Zu diesen überlegungen um den Heileingriff MaurachjSchroeder, Straf-


recht BT 2, 6. Aufl. 1977, S. 85 f. m. w. N.
416 Manfred Maiwald

lich so zu sehen und der Arzt demgemäß vom Unrechtsvorwurf freizu-


sprechen ist, wenn er einen Passanten tödlich verletzt, kann hier da-
hingestellt bleiben33 • Hier geht es nur darum herauszustellen, daß bei
einer solchen Lösung der Sachgrund für das Ergebnis im Prinzip des
§ 34 StGB zu suchen ist, während der Begriff "erlaubtes Risiko", wenn
man ihn auf das Verhalten des Arztes anwendet, nur wieder formal
zum Ausdruck bringt, daß der Arzt riskant handeln darf.

3. Außerachtlassung der "erforderlichen Sorgfalt"


in Ausnahmesituationen

Besondere Beachtung wird in der Literatur der Situation geschenkt,


daß eine Handlung, für die "an sich" Sorgfaltsmaßstäbe existieren, aus-
nahmsweise unter Bedingungen vorgenommen wird, die die Einhal-
tung dieser Sorgfaltsmaßstäbe unmöglich machen, oder daß bei Aus-
führung einer Notstandshandlung nicht sicher ist, ob nicht ungefähr-
lichere Wege vorhanden sind, auf denen dasselbe Ziel erreicht werden
kann. In diesen Konstellationen wird teilweise ein eigenständiger An-
wendungsbereich für die Rechtsfigur des erlaubten Risikos gesehen, da
im ersteren Fall die Situation nicht mit dem Fahrlässigkeitsmaßstab
der Einhaltung der erforderlichen Sorgfalt erfaßt werden könne, im
letzteren Fall das Notstandsmerkmal "nicht anders abwendbare Ge-
fahr" nicht zweifelsfrei feststehe.
Zwei Beispiele werden zur Illustration der gemeinten Situationen
genannt: Ein Landarzt nimmt eine komplizierte Entbindung in einem
abgelegenen Einödhof vor, da ein rechtzeitiger Transport der Frau in
eine Klinik nicht mehr möglich ist; mangels Spezialausbildung und
moderner technischer Hilfsmittel gelingt es ihm nicht, die Frau zu
retten 3'. Und: Ein Feuerwehrmann versucht bei einem Großbrand,
einen zögernden Menschen in ein Sprungtuch zu werfen, obwohl dieser
Mensch vielleicht auf weniger gefährliche Weise hätte gerettet werden
können; der Gefährdete verfehlt das Sprungtuch und kommt zu Tode 35 •
Im ersten Beispiel ist jedoch die Annahme, es werde bei der Ent-
bindung die erforderliche Sorgfalt nicht eingehalten, andererseits halte
sich der Arzt im erlaubten Risiko, durchaus anzuzweifeln36 • Denn die
Frage nach der erforderlichen Sorgfalt ist stets situationsbezogen zu

33 Vgl. zum Sachproblem OLG Frankfurt DAR 1963, 244; Jescheck, Lehr-
buch AT, 3. Auf!. 1978, S. 291; Schmidhäuser, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1975,9/74;
Schönke!Schröder!Lenckner, 21. Aufl. 1982, Vorbem. §§ 32 ff. Rdn. 1Ol.
34 Preisendanz, StGB, 30. Auf!. 1978, II 6 vor § 32; Maurach/Zip!, Strafrecht
AT 1,6. Auf!. 1983,28/24.
85 Jescheck, Lehrbuch AT, 3. Auf!. 1978, S.324; dazu auch Preuß, Unter-
suchungen zum erlaubten Risiko im Strafrecht, 1974, S. 23 f., 191 ff.
3B Zweifel auch schon bei Maurach/Zip!, Strafrecht AT 1, 6. Auf!. 1983,28/24.
Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs "erlaubtes Risiko" 417

stellen: Maßstab für die an den Täter beim Fahrlässigkeitsdelikt zu


stellenden Anforderungen ist zwar der "gewissenhafte und besonnene
Mensch des Verkehrskreises, dem der Handelnde angehört"37, aber doch
ein solcher Mensch "in der konkreten Situation, in der er sich befun-
den hat"38. So sind also die Sorgfalts anforderungen an den Arzt in
einem hochmodernen Operationssaal andere als in einem Einödhof;
während man im Operationssaal verlangen kann, daß er die dort vor-
handenen technischen Hilfsmittel und möglicherweise weitere Spezia-
listen heranzieht, kann man im Einödhof nur die Nutzung der dort
gegebenen Möglichkeiten fordern. Werden letztere bestmöglich ver-
wertet, so hat der Arzt in seiner Situation die an ihn zu stellenden An-
forderungen erfüllt, und er hat nicht fahrlässig gehandelt, wenn die
Frau gleichwohl stirbt.
Man sieht: Zwar ist der Sorgfaltsmaßstab in verschiedenen Situatio-
nen jeweils nach der Situation verändert, für den Formalbegriff des
erlaubten Risikos ergibt sich jedoch kein eigener Anwendungsbereich.
Da er nur zum Ausdruck bringt, daß ein Risiko erlaubt ist, bleibt er
vom verschiedenartigen Sorgfaltsmaßstab unberührt. Und er dient
wiederum nur der Verdeutlichung, daß die Rechtsordnung auch in die-
sem Fall nicht völlig ungefährliches Handeln verlangt; einen sachlichen
Grund hierfür gibt er nicht an.
Im Beispiel des Feuerwehrmannes, der einen in Gefahr befindlichen
zögernden Menschen ins Sprungtuch wirft, kreuzen sich zwei Pro-
bleme. Würde man davon ausgehen, daß der Gefährdete gar nicht ge-
rettet werden will oder jedenfalls auf diese Weise nicht gerettet wer-
den will, so müßte man die Frage stellen, ob der Feuerwehrmann sich
überhaupt über diesen Willen hinwegsetzen darf. Würde man dies
grundsätzlich bejahen, so wäre die Konsequenz, daß er zur Rettung
selbstverständlich die erforderliche Sorgfalt walten lassen muß, die
hier wiederum situationsbezogen und nach den Fähigkeiten eines
Feuerwehrmannes beurteilt werden muß. Das erlaubte Risiko würde
hier wiederum nicht einen eigenen Sachgrund bezeichnen, der zur Ge-
fährdungserlaubnis führt, sondern nur den formalen Gesichtspunkt,
daß aus bestimmten Gründen - die zu benennen wären - ein ris-
kantes Verhalten des Feuerwehrmannes nicht rechtswidrig ist.
Würde man davon ausgehen, daß das Zögern des Gefährdeten nicht
ein Sich-Widersetzen gegen die Rettungshandlung bedeutet, sei es, weil
der Zögernde vor Angst gelähmt ist, sei es, weil er die Gefahrenlage

37 So die berühmte Formulierung in RGZ 126, 329, 331.


38 Jescheck, Lehrbuch AT, 3. Aufl. 1978, S.428; Burgstaller, Das Fahrlässig-
keitsdelikt im Strafrecht, 1974, S. 31 ff.; Hirsch, in: LK, 9. Aufl. 1974, Vorbem.
§ 51 Rdn. 160.

27 Festschrift für H.-H. Jescheck


418 Manfred Maiwald

verkennt, so würde als Sachgrund für die Handlungserlaubnis des


Feuerwehrmannes die Einwilligung oder mutmaßliche Einwilligung
des Gefährdeten anzunehmen sein39 • Und selbstverständlich würde
diese Handlungserlaubnis nur für eine - soweit nach den Umständen
möglich - "sorgfältige" Rettungshandlung gelten.
An diesem Punkt kommt nun die Schwierigkeit ins Spiel, daß der
Gefährdete im Beispiel "vielleicht" auf weniger gefährliche Weise hätte
gerettet werden können, und dieses Vielleicht soll gerade der entschei-
dende Gesichtspunkt sein, der nach Ansicht jener Literaturstimmen
dem erlaubten Risiko einen eigenen Anwendungsbereich eröffnet. Bei
näherem Hinsehen trifft jedoch auch dies nicht zu. In der Tat setzt eine
sorgfältige Rettungshandlung voraus, daß der Retter unter mehreren
Möglichkeiten die wählt, die die größte Rettungschance enthält. Wäre
es im Beispiel sicher, daß gegenüber dem Wurf ins Sprungtuch risiko-
losere Möglichkeiten der Rettung existieren, so müßte der Feuerwehr-
mann auf sie zurückgreifen. Ist aber - wie im Beispiel tatsächlich vor-
ausgesetzt - ungewiß, ob andere Rettungsmöglichkeiten gefahrloser
sind als das Herabwerfen ins Sprungtuch, so muß der Richter entschei-
den wie immer, wenn im Prozeß eine Sachverhaltsfrage ungeklärt
bleibt: Er muß den Satz in dubio pro reo anwenden und annehmen,
daß keine günstigere Rettungschance vorhanden war. Es handelt sich
also insofern gar nicht um die materiell rechtliche Frage, ob der Feuer-
wehrmann sich aus einem bestimmten Sachgrund im erlaubten Risiko
befunden hat, weil er eine "vielleicht" vorhandene ungefährlichere
Rettungsmöglichkeit außer Betracht ließ, sondern um einen Anwen-
dungsfall des prozeßrechtlichen Satzes in dubio pro reo.
Demgemäß bleibt festzuhalten: Während das Beispiel der Entbin-
dung unter provisorischen Bedingungen lediglich die Verschiedenheit
des Sorgfaltsmaßstabs in verschiedenen Situationen illustriert und
zeigt, daß ein erlaubtes Risiko in der Höhe unterschiedlich sein kann,
gehört die "vielleicht" vorhandene bessere Rettungschance im Falle des
Feuerwehrmannes in den Anwendungsbereich des Satzes in dubio pro
reo. Einen besonderen Sachgrund erlaubter Gefährdung, der mit dem
Begriff "erlaubtes Risiko" zu erfassen wäre, demonstriert keines der
beiden Beispiele.

4. Erlaubtes Risiko in Notwehrsituationen


Einen selbständigen Anwendungsbereich des erlaubten Risikos könnte
man schließlich noch bei der Notwehrproblematik erwägen. Dies frei-
lich nicht in Hinsicht der Fälle, in denen der Angegriffene den An-

39 Ebenso Preuß, Untersuchungen zum erlaubten Risiko im Strafrecht,


1974, S. 191 f.
Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs "erlaubtes Risiko" 419

greifer selbst durch eine Abwehrhandlung gefährdet. Denn soweit die


Abwehrhandlung "durch Notwehr geboten" ist, gibt sie dem Ange-
griffenen sogar ein Eingriffsrecht. Aber man könnte daran denken, von
einem erlaubten Risiko dort zu sprechen, wo in einer Notwehrsituation
die Abwehrhandlung versehentlich einen unbeteiligten Dritten ver-
letzt. Ein Beispiel für diese Konstellation bildet RG 58, 27: A wird von
B körperlich angegriffen. Er setzt sich mit einem Stock zur Wehr, der
aber die F trifft, die ihren Ehemann B zurückhalten will.
Aber es läßt sich leicht zeigen, daß auch hier von einem selbständi-
gen Anwendungsbereich, von einer eigenständigen Rechtsfigur, keine
Rede sein kann. Auch hier wird die formale Natur des Begriffs "er-
laubtes Risiko" sofort deutlich. Denn angenommen, man würde be-
haupten, die Verletzung der F sei durch das erlaubte Risiko gedeckt, so
würde dies ja nur die weitere Frage provozieren, warum es erlaubt sei,
so riskante Abwehrhandlungen vorzunehmen. Damit wäre man ge-
zwungen, den Sachgrund anzugeben, der hinsichtlich der Verletzung
der F das Unrecht ausschließt, und erst dieser Sachgrund wäre eine
systematisch zufriedenstellende Antwort, während der Hinweis auf
ein erlaubtes Risiko nur die Behauptung enthielte, daß A kein Unrecht
getan habe.
Der Sachgrund dürfte im Beispiel das im § 34 StGB umschriebene
Prinzip sein40 • Zwar sind die gegeneinander abzuwägenden Rechtsgüter
in abstracto gleichwertig, denn A begeht (versehentlich) eine Körper-
verletzung, um die Verletzung des eigenen Körpers zu verhindern.
Aber erforderlich ist es, in die Interessenabwägung gemäß § 34 StGB
auch die Erwägung einfließen zu lassen, daß hier zur Verhinderung der
eigenen Verletzung eine Abwehrhandlung vorgenommen wird, die nur
die Gefahr der Verletzung eines Dritten schafft, daß also m. a. W. hin-
sichtlich des gleichartigen Rechtsguts die sichere Verletzung der bloßen
Gefahr einer Verletzung gegenübersteht4t • Spricht man in diesem Zu-
sammenhang von einem erlaubten Risiko, so ist dies also lediglich der
Hinweis, daß auch in diesen Fallgestaltungen in bestimmtem Umfang
Gefährdungen erlaubt sind, während der Sachgrund hierfür in dem in
§ 34 StGB ausgesprochenen Prinzip zu sehen ist.

40 Dazu SchajJstein, Welzel-Festschrift, 1974, 5.575 ff.; Schönke/Schröder/


Lenckner, 21. Aufl. 1982, Vorbem. §§ 32 ff. Rdn.101; auch schon Engisch,
Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 1930, 5.288 f.
U So in der Tat die Lösung der Fn. 40 genannten Autoren; vgl. weiter
Jescheck, Lehrbuch AT, 3. Aufl. 1978, 5.291.

27*
420 Manfred Maiwald

v. Funktion eines Formalbegriffs "erlaubtes Risiko"

Die bisherigen Überlegungen haben zu dem Ergebnis geführt, daß


der Begriff "erlaubtes Risiko" deshalb keine eigenständige Rechtsfigur
darstellen kann, weil er nicht mehr zum Ausdruck bringt als den Um-
stand, daß jemand riskant handeln darf, während der Sachgrund die-
ser Erlaubnis jeweils aus anderen - vorhandenen - dogmatischen
Kategorien zu entnehmen ist. Die weitere Untersuchung zielt nun da-
hin herauszufinden, ob etwa den auf verschiedenen Sachgründen be-
ruhenden Gefährdungserlaubnissen eine gemeinsame Struktur inne-
wohnt, die es rechtfertigt, am erlaubten Risiko als einem Begriff fest-
zuhalten, der bestimmte Strukturelemente zusammenfassend bezeichnet.
Derartige Strukturelemente lassen sich herausarbeiten, wenn man ein-
mal der oft erörterten Frage nachgeht, wie das vorsätzliche Handeln
im erlaubten Risiko zu beurteilen ist.

1. Erlaubtes Risiko in abstracto und in concreto


Betrachten wir zur Analyse der Strukturfragen zunächst den in der
Literatur immer wieder erwähnten Fall des gefährlichen Betriebs: Ein
Unternehmer schickt einen ihm mißliebigen Arbeiter in sein ordnungs-
gemäß geführtes Bergwerk, um ihn dort umkommen zu lassen. Zu der-
artigen Konstellationen findet sich in der Literatur einerseits die Er-
wägung, Sozialadäquanz sei kein Deckmantel für absichtliche Rechts-
verletzungen42 , was zur Lösung führt, daß der Unternehmer im Falle
des Todes des Arbeiters wegen vorsätzlicher Tötung zu bestrafen wäre.
Andererseits wird demgegenüber geltend gemacht, ein identischer
Handlungsvollzug könne unmöglich einmal strafbar und das andere
Mal straflos sein, nur weil - bei gleicher Steuerung des Geschehens -
der Täter einmal den schädlichen Erfolg billige oder sogar herbeisehne,
ihm das andere Mal aber ablehnend gegenüberstehe43 •
Doch erfordert die Lösung solcher Fälle vor derartigen Erwägungen
eine Klarstellung. Soweit es um die Frage einer fahrlässigen Tötung
geht, wenn der Unternehmer ohne böse Absicht den Arbeiter in das
Bergwerk schickt und der Arbeiter dort tödlich verunglückt, macht es
offenbar einen Unterschied, ob wir hier nach einer Sorgfaltspflichtver-
letzung zum Zeitpunkt der Aufforderung, im Bergwerk zu arbeiten,
fragen, oder ob wir die Frage nach der Sorgfaltspflichtverletzung in

42 Zipf, ZStW 82 (1970), S. 633 ff.; im Ergebnis ebenso Rehberg, Zur Lehre
vom "Erlaubten Risiko", 1962, S. 85; Roeder, Die Einhaltung des sozialadäqua-
ten Risikos und ihr systematischer Standort im Verbrechensaufbau, 1969,
S.40.
43 In diesem Sinne Preuß, Untersuchungen zum erlaubten Risiko im Straf-
recht, 1974, S. 214 f.
Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs "erlaubtes Risiko" 421

der konkreten Unglückssituation stellen. Angenommen, der Unterneh-


mer sei in der konkreten Unglückssituation zufälligerweise anwesend
und habe zugleich die Möglichkeit, das Unglück in letzter Sekunde zu
verhindern, so ist er sicherlich wegen fahrlässiger Tötung zu bestrafen,
wenn er aus Achtlosigkeit die Situation verkennt und das Unglück
nicht verhindert: Er kann sich dann sicher nicht darauf berufen, es sei
ja nicht sorgfaltswidrig, einen Arbeiter in ein ordnungsgemäß geführ-
tes Bergwerk zu schicken. M. a. W.: Die Frage nach der Sorgfaltspflicht-
verletzung ist situationsbezogen zu stellen.
Auch die Gefährdungserlaubnisse des Straßenverkehrs beispielsweise
sind nach den Anforderungen der konkreten Situation zu modifizieren.
Generell und abstrakt ist es erlaubt, sich im Straßenverkehr so zu ver-
halten, wie es den Regeln der StVO entspricht. Aber die StVO selbst
enhält in § 1 das Gebot, über die abstrakten Regeln hinaus situations-
bezogen zu reagieren, und die Frage nach der Fahrlässigkeit im Stra-
ßenverkehr beantwortet sich nach den Anforderungen in der konkreten
Situation. Stellt sich in der konkreten Situation heraus, daß die ab-
strakte Regelung zur Verhütung von Schäden nicht ausreicht, muß -
in gewissen Grenzen - ein anderer Vorsichtsmaßstab herangezogen
werden.
Entsprechendes muß aber auch für den Vorsatz gelten. Gerät ein
Autofahrer in eine Situation, in der die Beachtung des Rechtsfahrge-
bots mit Sicherheit zu einer Schädigung anderer führt (weil etwa auf
der rechten Straßenseite ein verletzter Passant liegt), so darf er selbst-
verständlich nicht auf der rechten Straßenseite fahren; und tut er es in
Kenntnis der Folgen und mit der Möglichkeit, es zu vermeiden, so hat
er bei tödlichem Ausgang vorsätzlich und rechtswidrig getötet. Ein
"Handeln im erlaubten Risiko" liegt in dieser Konstellation gar nicht
vor, da der Autofahrer gegen ein aus der Situation folgendes Verbot
verstößt. Entsprechendes gilt, wenn der Unternehmer den Arbeiter im
Bergwerk in einer gefährlichen Situation, in der er zufällig anwesend
ist, bewußt verunglücken läßt, obwohl er helfend einschreiten könnte.
Für unsere Strukturüberlegungen folgt daraus: Will man prüfen, ob
ein bestimmter Sachgesichtspunkt ein Risiko erlaubt, so ist diese Frage
zunächst situations bezogen zu stellen. Es genügt nicht - wie oben ge-
zeigt wurde - festzustellen, daß der Inhaber eines gefährlichen Be-
triebs überhaupt zulässigerweise und ordnungsgemäß handelt, viel-
mehr ist die Frage gefährlichen HandeIns zuvor immer zu prüfen im
Hinblick auf die Sorgfaltsanforderungen in der kritischen Situation44 •

4( Das entspricht übrigens der in der Fahrlässigkeitsdogmatik allgemein


akzeptierten Ansicht, daß die Einhaltung allgemeiner Sorgfaltsregeln, etwa
in Form von gesetzlichen oder anderen Vorschriften, nicht immer ausreichend
ist, um ein fahrlässiges Verhalten auszuschließen. Die Besonderheit der
422 Manfred Maiwald

2. Risikoerlaubnis auch für vorsätzliches Handeln?


Nur selten freilich wird der Bergwerksunternehmer unseres Beispiels
in der kritischen Situation an Ort und Stelle sein. Liegt es so, dann
kann die Frage seines sorgfältigen HandeIns naturgemäß eben doch nur
bezogen werden auf die Organisation seines Betriebes nach generell-
abstrakten Sorgfaltsmaßstäben, etwa nach den Unfallverhütungsvor-
schriften der Berufsgenossenschaften. Hat der Unternehmer sie bei der
Organisation seines Betriebes beachtet, so kann ihn insoweit ein Vor-
wurf rechtswidrigen HandeIns nicht treffen. Aber gilt dies auch dann,
wenn er den ordnungsgemäß arbeitenden Betrieb nur als "Deckmantel"
für sein Vorhaben benutzt, anderen Personen Schaden zuzufügen?
Oder: Der kunstgerecht operierende Arzt hofft im Innersten, daß der
von ihm gehaßte Patient durch die Operation zu Tode kommen werde;
ist er wegen vorsätzlicher Tötung zu bestrafen, wenn seine Hoffnung
in Erfüllung geht4il ?
Zur Lösung dieser Fälle sei hier auf folgende überlegungen hinge-
wiesen: Für eine Strafbarkeit des Arztes und des Unternehmers könnte
eine Parallele zur Struktur des untauglichen Versuchs sprechen. Denn
auch beim untauglichen Versuch ist es die Intention des Täters, die eine
objektiv unverfängliche Handlung zu einer strafbaren macht. Man
denke an den Mörder, der sein Opfer vergiften will und versehentlich
die falsche - völlig ungefährliche - Flüssigkeit in dessen Glas gießt.
Das an sich unverbotene Verhalten - Verabreichen eines ganz unge-
fährlichen Getränks - wird durch den Vorsatz des Täters zu einem
strafbaren untauglichen Versuch der Tötung.
Dennoch besteht hier ein Unterschied zum Beispiel des kunstgerecht,
wenn auch mit bösen Gedanken operierenden Arztes. Er besteht darin,
daß der Arzt sich jedenfalls beim Handlungsvollzug an die lege artis
erforderlichen Sorgfaltsmaßstäbe halten wird; er wird also ungeachtet
seiner bösen Gedanken - sozusagen zähneknirschend - alles tun, um
den von ihm an sich erwünschten Todeserfolg zu verhindern 46 • Und

Situation kann mehr oder anderes verlangen als das, was allgemein vorge-
schrieben ist; vgl. hierzu etwa Jescheck, Lehrbuch AT, 3. Aufl. 1978, S.471;
MaurachIGössel, Strafrecht AT 2, 5. Aufl. 1978, S.71, 79; SchönkelSchröder!
eramer, 21. Aufl. 1982, § 15 Rdn. 181.
45 Das Beispiel findet sich schon bei Niese, Streik und Strafrecht, 1954,
S.31, der Straflosigkeit wegen des Sachgesichtspunkts der Sozialadäquanz
annimmt.
46 Aus dieser Struktur folgert Rehberg, Zur Lehre vom "Erlaubten Risiko",
1962, S. 91, daß hier gar kein Tötungsvorsatz vorliege, da derselbe Handelnde
das Kausalgeschehen nicht gleichzeitig auf die Vermeidung einer Verletzung
und auf deren Herbeiführung hinzulenken vermöge. Dagegen wendet jedoch
Preuß, Untersuchungen zum erlaubten Risiko im Strafrecht, 1974, S.210, mit
Recht ein, es gehe hier darum, daß der Täter in derartigen Fällen die Ver-
letzung erreichen wolle, und zwar mit Mitteln, die ihn straflos lassen.
Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs "erlaubtes Risiko" 423

auch der Unternehmer des Beispiels tut alles, was Schaden von seinen
Arbeitern abwenden kann, wenn er - wie vorausgesetzt - seinen
Betrieb nach den für diesen geltenden Sorgfaltsanforderungen leitet.
Im Falle des untauglichen Versuchs dagegen ist die Lage anders. Unser
Giftmörder wird beim Handlungsvollzug gerade umgekehrt alles tun,
um den Todeserfolg, der möglicherweise durch sein "Versehen" ver-
hindert zu werden droht, doch noch herbeizuführen, wenn er den Feh-
ler merkt. Daraus resultiert im Sozialleben eine unterschiedliche Be-
trachtung. Im letzteren Fall des Giftmörders haben wir einen in die
Wirklichkeit getretenen planenden Geist vor uns, bei dem es gleich-
sam Zufall geblieben ist, daß er den schädlichen Erfolg nicht herbei-
geführt hat: Die vielzitierte "Rechtserschütterung" beim untauglichen
Versuch17 resultiert aus dem Erschrecken, daß die Ungefährlichkeit des
objektiven Teils des Geschehens vom Plan des Täters aus gesehen nur
Zufall war. Dagegen sind beim vorsätzlichen Handeln im erlaubten
Risiko Handlungsvollzug und Plan des Täters kongruent; auch bei ge-
treuer Durchführung des Täterplans wird nichts geschehen, was über
das objektiv Erlaubte hinausgeht, und dem bösen Gedanken des
Täters wird von vornherein nicht gestattet, sich im Handlungsvollzug
auszuwirken. Das rechtfertigt es, bei vorsätzlichem Handeln im erlaub-
ten Risiko dasjenige Handlungsunrecht, das für eine Vorsatztat typisch
ist, zu verneinen, während allerdings ein zusätzliches Schuldmoment
gegeben ist, das sich im Handlungsvollzug nicht ausgewirkt hat.
Lenkt man nun den Blick wieder auf die Frage einer gemeinsamen
Struktur des aus verschiedenen Sachgründen sich ergebenden erlaubten
Risikos, so ist zu beachten, daß vorsätzliches Handeln im Rahmen des
erlaubten Risikos nach der zur Lösung des Falles herangezogenen Ar-
gumentation stets straflos bleiben muß, welcher Sachgrund auch immer
zur Gefährdungserlaubnis führt. Wir haben also eine gemeinsame
Struktur vor uns, die es rechtfertigt, hierfür einen sie kennzeichnenden
Begriff zu verwenden - den des erlaubten Risikos.

3. Die Frage nach dem EingrijJsrecht


Nach den oben angestellten Erwägungen zur situationsbezogenen
Beurteilung des erlaubten Risikos gibt das erlaubte Risiko dem Han-
delnden keinen Freibrief. Hält er sich auch generell bei seiner Tätig-
keit im Rahmen des Erlaubten, so entbindet ihn das nicht davon, in
einer konkreten Situation mehr zu tun, als er nach solchen generellen
Sorgfaltsanforderungen zu leisten hat. Ist in der konkreten Situation
die Realisierung des Risikos zu befürchten, so besteht eine Vermeide-
47 Vgl. Jescheck, Lehrbuch AT, 3. Aufl. 1978, S.416; Maurach/Gössel, Straf-
recht AT 2, 5. Aufl. 1978, S.18; Schönke!Schröder/Eser, 21. Aufl. 1982, § 22
Rdn.65.
424 Manfred Maiwald

pflicht, wenn der gefährlich Handelnde in diesem Augenblick den


schädlichen Erfolg noch steuernd verhindern kann: Der Autofahrer, der
die Verkehrsregeln beachtet, darf nicht den auf die Straße torkelnden
Betrunkenen überfahren, wenn er dies durch eine schnelle Reaktion
noch verhindern kann.
Wie ist aber die rechtliche Lage, wenn er den Unfall nicht mehr ver-
hindern kann, etwa, weil der Bremsweg des Kraftfahrzeugs infolge der
- zulässigen - Geschwindigkeit zu lang ist? Hinsichtlich dieser Frage-
stellung wird bekanntlich heftig darüber diskutiert, ob von Seiten des
Gefährdeten oder eines Dritten Notwehr oder Nothilfe geübt werden
darf48 •
Damit ist nun in der Tat wiederum eine übergreifende Struktur an-
gesprochen. Es ist der Umstand, daß das erlaubte Risiko kein Eingriffs-
recht gewährt, sondern daß in den so bezeichneten Fallgestaltungen
lediglich das Handlungsunrecht ausgeschlossen ist. Ob bei einer solchen
Struktur der Gefährdete das Notwehrrecht auf seiner Seite hat oder
auf rechtfertigenden oder entschuldigenden Notstand zu verweisen ist,
kann im Rahmen unserer Überlegungen durchaus unentschieden blei-
ben. Hier geht es nur darum zu zeigen, daß diese Frage auf einer ge-
meinsamen Struktur der Fälle des erlaubten Risikos beruht, die ihrer-
seits die Erlaubnis zum riskanten Handeln aus verschiedenen Sach-
gründen ableiten können. Zur zusammenfassenden Bezeichnung dieser
gemeinsamen Struktur hat der Formalbegriff "erlaubtes Risiko" durch-
aus eine strafrechtssystematische Funktion.

VI. Zusammenfassung

Die Unsicherheit im Schrifttum über die strafrechtssystematische


Leistungsfähigkeit des Begriffs des erlaubten Risikos resultiert aus der
üblichen Fragestellung, ob es für das erlaubte Risiko einen selbstän-
digen Anwendungsbereich gebe. Damit meint man - ohne sich dies
immer bewußt zu machen - die Frage, ob das erlaubte Risiko ein
materiales Prinzip bezeichne, das als selbständige dogmatische Figur
zum Ausschluß des Handlungsunwerts führe, sei es in Form eines
Rechtfertigungsgrunds, sei es bereits als tatbestandseinschränkendes
Prinzip. Diese Frage muß eindeutig mit Nein beantwortet werden. Das
"erlaubte Risiko" enthält als Begriff nur den Hinweis darauf, daß es

48 Für ein Notwehrrecht Jescheck, Lehrbuch AT, 3. Aufl. 1978, S.273; Bau-
mann, Strafrecht AT, 8. Aufl. 1977, S. 310; Bockelmann, Strafrecht AT, 3. Aufl.
1979, S.93; Spendel, in: LK, 10. Aufl. 1982, § 32 Rdn.57. - Gegen ein Not-
wehrrecht Hirsch, Dreher-Festschrift, 1977, S. 214 f., 222 ff.; SchatJstein, MDR
1952,132; Schmidhäuser, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1975,9/86; Schönke/Schröder!
Lenckner, 21. Aufl. 1982, § 32 Rdn.21; MaurachlZipf, Strafrecht AT 1, 6. Aufl.
1983,26/14 ff.; Jakobs, Strafrecht AT, 1983, 12/14.
Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs "erlaubtes Risiko" 425

Fälle erlaubten riskanten HandeIns gibt. Die Sachgründe dafür ergeben


sich aus recht verschiedenartigen dogmatischen Kategorien. Das "er-
laubte Risiko" ist unter diesem Blickwinkel ein Formalbegriff, der die
dogmatischen Kategorien lediglich formal zusammenfaßt, ein Befund,
der das Ergebnis der Analyse von Preuß bestätigt, daß es sich um einen
zusammenfassenden Begriff für eine mehrfach auftretende normative
Struktur handele49 •
Der Formalbegriff "erlaubtes Risiko" hat aber auch eine systema-
tische Funktion, die es unzweckmäßig erscheinen ließe, auf den Begriff
zu verzichten. Sie liegt darin, daß unter dieser Bezeichnung Fälle ge-
fährlichen HandeIns zusammengefaßt werden, denen der Ausschluß
lediglich des Handlungsunwerts gemeinsam ist. Das "erlaubte Risiko"
gewährt kein Eingriffsrecht, was aus der fortbestehenden Vermeide-
pflicht hinsichtlich des schädlichen Erfolgs deutlich wird. Welche Kon-
sequenzen man aus dieser Struktur zu ziehen hat - etwa im Hinblick
auf Notwehrrechte des gefährdeten Dritten - kann hier außer Be-
tracht bleiben. Jedoch bleibt als Ergebnis festzuhalten, daß diese
sachliche Gemeinsamkeit der vom Begriff erfaßten Fälle es rechtfertigt,
an ihm als einem systematischen Begriff festzuhalten.

49 Preuß, Untersuchungen zum erlaubten Risiko im Strafrecht, 1974, S. 225.


GIULIANO VASSALLI

La dottrina italiana dell' antigiuridicita

I.
La dottrina italiana dell'antigiuridicita si e svolta in questo secolo
sulle stesse linee della dottrina tedesca; ma la stagione dell'antigiuridi-
cita oggettiva e generica e quella della tripartizione deI reato (connessa
aHa precedente, ma non necessariamente) sono state di durata piu breve
e piu contrastata di quanto non sia avvenuto nella letteratura tedesca.
La posizione negatrice dell'antigiuridicita ha in Italia origini oramai
remote. A ben guardare, questa negazione e gia insita nel generale rifiuto
della Normentheorie deI Binding. Se non e possibile riconoscere auto-
nomi comandi 0 divieti dell'ordinamento giuridico generale, dei quali
le leggi penali altro non rappresentino ehe la sanzione, se viceversa deve
ritenersi ehe ogni norma penale e fatta di un suo propria precetto oltre
ehe di una sua sanzione, altro non esiste ehe una «illiceita giuridica uni-
camente penale» ed altro non e il reato ehe «una azione penalmente
antigiuridica»l. Con questa presa di posizione si cominciava a sbarrare
la strada all'idea di una antigiuridicita 0 illiceita giuridica generica, ehe
viceversa formera la base di una parte delle dottrine deHa tripartizione
e sara strettamente connessa a quelle dell'antigiuridicita oggettiva. Ed
infatti il Rocco affermera ehe «l'illiceita giuridica 0 antigiuridicita pe-
nale costituisce non un elemento costitutivo deI reato, ma l'essenza stes-
sa, la natura intrinseca, l'in se deI reato»2.
Egualmente fu il Rocco tra i primi in Italia a prender posizione contro
l'idea di un «torto obiettivo 0 incolpevole», aderendo decisamente alla
posizione di A. Merkel e di Hold von Ferneck, oltre ehe, per questa parte,
ad un celebre passo deI Binding 3 •
L'insegnamento deI Rocco fu molto seguito, specialmente per il gene-
rale ripudio deI carattere sanzionatorio deI diritto penale; ma non tutti
gli studiosi italiani rinunciarono all'idea dell'antigiuridicita come ele-

1 Questa la p08izione di Arturo Rocco, L'oggetto deI reato e c;ella tutela


giuridica penale, Torino, 1913, cap. V (ri8tampato in: Opere giuridiche, Roma
1932, vol. I, p. 467 88.).
Arturo Rocco, op. cit., p. 474.
3 Artllro Rocco, op. cit., p. 141 nt. 8, 143 nt. 10.
428 Giuliano Vassalli

mento deI reato. Aeeanto alla bipartizione, largamente aeeoIta4, continuo


ad avere largo eredito la tripartizione, quanta meno eome metodo da se-
guire nella eonsiderazione analitiea deI reato. La disputa si sviluppo
piuttosto, nell'ambito stesso della eoneezione tripartita, tra i sostenitori
dell'antigiuridicita obiettiva e quelli dell'antigiuridicita soggettiva. Pro-
tagonisti di questa disputa furano da un lato il Delitala 5 ed il Bettiol6 ,
dall'altra il Petrocelli. L'opera di queste studioso a sostegno deI earatte-
re soggettivo dell'antigiuridieita (ehe egli tuttavia, deeiso seguaee della
tripartizione, eonsidera vero e propria elemento deI reato) merita di
esse re rieordato per la sua organieita e eoerenza oltre ehe per la ehiarez-
za dell'espressione 7 • Per il Petrocelli non esistono mere Bewertungsnor-
men ne esiste una funzione autonoma di valutazione nell'ambito di eia-
seuna norma. Il diritto e essenzialmente eomando e dove non vi e svolgi-
mento di una funzione imperativa non vi e diritto: reeiproeamente non
puo esistere una antigiuridieita od iIIieeita oggettiva. L'obbligo e il
fulero della diseiplina giuridiea e il valore della norma e tutto nella
ereazione dell'obbligo e neIl'imposizione della sua osservanza 8 • L'iIIeeito
e ad un tempo, e sempre, violazione della norma e violazione dell'obbligo
(oltre ehe violazione dell'interesse, dato ehe il Petrocelli nega recisa-
mente la possibilita di distinguere una antigiuridieita materiale da una
antigiuridieita formale). Precetto e sanzione so no termini indissolubili,

4 Per una panoramiea in materia cfr. Riz, Zum derzeitigen Stand der Ver-
brechenslehre in Italien. Überlegungen zum dreiteiligen Verbrechen aufbau,
ZStW 93 (1981), p. 1005 sS.; id., La teoria generale deI reato nella dottrina
italiana. Considerazioni sulla tripartizione, in Indiee penale, 1981, p. 607 ss.
5 Delitala, Il datto» nella teoria generale deI reato, Padova, 1930 (ristam-
pato in Delitala, Diritto penale. Raeeolta degli seritti, Milano, 1975, p.3 a 162).
- Sul pensiero deI Delitala efr., tra gli altri, Vassalli, Giaeomo Delitala,
in Giust. pen., I, 1973, 175 sS.; id., Il fatto negli elementi deI reato, in Riv. it.
dir. e proc. pen., 1984, p. 529 ss.: Marinucci, Fatto e seriminanti, ibid., 1983,
p. 1190 ss. Lo seritto deI Marinucci e una vigorosa rivendicazione deI valore
della tripartizione anehe in chi ave ideologiea e politiea. E' peraltro da notarsi
ehe il Marinueci non parla mai espressamente dell'antigiuridieita eome di un
vero e propria elemento deI reato, preferendo sottolineare ehe il reato e un
fatto antigiuridieo e eolpevole.
6 Bettiol, Diritto penale, Xl a ed., Padova, 1982, p. 210 sS., 221 sS., 293 S5.

7 Petrocelli, L'antigiuridicita, I" ed.1945, Padova. La 3a edizione riveduta


edel 1955 e la 4" ed., pressoche immutata, edel 1956. L'opera fa parte di una
trilogia, la eui prima parte e rappresentata dai Principi di diritto penale
(nuova ed., Napoli, 1955, ult. ristampa inalterata 1964), in cui e contenuta la
trattazione deI datto» e la terza da La eolpevolezza (3 a ed. riveduta, Padova,
1955). A sostegno deI proprio ordine di idee il Petrocelli e tornato in modo
organico (anehe se con qualche lieve rettifiea) nell'ampio seritto Riesame
degli elementi deI reato, in Studi in anore di Francesco Antolisei, Milano,
1965, vol. III, p. 3 a 67 (anehe in Riv. it. dir. e proc. pen., 1963, p. 337 ss.).
8 In questa presa di posizione eontro un'autonoma funzione valutativa deI
diritto il Petroeelli fu particolarmente seguito dal suo allievo Aldo Moro,
L'antigiuridicita penale, Palermo, 1947. Diver5amente dal Petroeelli, il Moro
e seguaee di una considerazione unitaria deI reato.
La dottrina italiana dell'antigiuridicita 429

eosicehe non esiste un illecito senza eonseguenze giuridiehe 0 senza re-


sponsabilita: ad ogni sanzione di diversa natura (penale, eivile, ammini-
strativa) necessariamente eorrisponde un diverso tipo di illeeito, penale,
civile 0 amministrativo. Non puo dunque parlarsi di una antigiuridieita
generiea, anche se deve rieonoscersi (p. es. nei easi delle cause di giusti-
fieazione dell'esereizio deI diritto 0 dell'adempimento di un dovere)
ehe «tutto l'ordinamento conco1'1'e adeterminare esattamente i limiti
della norma ehe prevede l'illeeito (penale)>>. Considerato l'illeeito eome
violazione di un obbligo, l'antigiuridieita (ehe per il Petroeelli e una sola
eosa eon l'illiceita 0 to1'to) non puo ehe esse re riferita all'azione: eioe
non al fatto nel suo insieme, non all'evento, non agli «status», non
alle situazioni di persone 0 eose anehe se derivanti dall'azione umana,
ma «alla sola parte deI fatto ehe costituisee la manifestazione della volon-
ta di un soggetto eapaee». Le azioni degli ineapaei so no da eonsiderarsi
non eome eontrarie al diritto, ma eome eontrarie soltanto all'interesse,
un interesse ehe l'ordinamento tutelera in modi diversi da quello della
posizione di una norma giuridiea nei eonfronti deI soggetto. Non esistono
responsabilita senza eolpa, ma piuttosto easi di responsabilita senza torto
o senza illeeito. Va infine negato ogni valore alla teoria degli elementi
soggettivi dell'antigiuridicita, «astrusa eomplieazione, ehe inutilmente
e dannosamente rampe l'unita dei vari eoeffieienti soggettivi». L'anti-
giuridieita e sempre e soltanto soggettiva: e qui Petroeelli critica eon
particolare vigore Beling ed Hegler, oltre ehe Delitala e Bettiol.
Soffermarsi su una valutazione eritica dell'opera deI Petroeelli non
e qui possibile. Rileviamo solo ehe la massima forzatura, ehe essa eportata
a compiere, e rappresentata, a nostro sommesso avviso, dalla trattazione
dedieata al problema delle azioni eontrarie alla legge penale eommesse
dagli ineapaei. Tali azioni sarebbero da eonsiderarsi eome eontrarie agli
interessi tutelati dal diritto, ma non antigiuridiehe; e i provvedimenti eon
i quali 10 Stato provvede alla relativa protezione e reazione (es. misure
di sieurezza) non basterebbero in aIcun modo ad imprimere alle azioni
stesse il earattere di contrarie (obbiettivameüte) al diritto. Gli autori
ehe parlano di azioni antigiuridiehe degli ineapaci eadrebbero nell'erro-
re di eonsiderare «il eontrasto ehe da esse si produee eon gli interessi
tutelati alla stessa stregua di quello ehe deriva dalla eosciente e eolpevole
disobbedienza al eomando giuridieo»9. A me sembra ehe quest'aeeusa
sia priva di fondamento perehe, al eontrario, i sostenitori dell'antigiuri-
dicita oggettiva non postulano menomamente tale assimilazione, ma
pongono la distinzione nel momento della eolpevolezza. Nell'analisi deI
reato una delle funzioni della eolpevolezza (ehe, a nostro avviso, ed al-

9 Petrocelli, L'antigiuridicita, eit., p.49. Questo stesso ordine di idee era


stato svolto dal Petrocelli anni prima, nel volume La pericolosita criminale
e la sua posizione giuridica, Padova, 1940.
430 Giuliano Vassalli

meno fino a ehe duri l'attuale sistema di sottrarre gli incapaci aHa pena,
non puo riconoscersi nelle azioni dei non imputabiIi) e appunto quella
di riehiedere, per determinati soggetti, un elemento in piu rispetto alla
commissione deI fatto antigiuridico; e non e giusto pretendere di spostare
indietro la distinzione tra capaci ed incapaci portandola al momento
delI'antigiuridicita.
D'aItra parte il riferimento a situazioni oggettivamente antigiuridiehe
nella materia penale va ben al di la deI problema della pericolosita cri-
minale dei soggetti incapaci 0 anehe soHanto della valutazione delle loro
azioni contrarie alle previsioni delle leg gi penali. Sempre piu ci si trova
di fronte a provvedimenti ehe il giudice penale deve assumere al di fuori
di presupposti di coIpevoIezza 0 di responsabilita.
Basta pensare alle confische previste dal codice penale e da numerose
leggi speciali, adottate in relazione alla presunta pericolosita dell'oggetto
o comunque in relazione all'esistenza di reati dei quali non sia stato
accertato 0 non sia stato condannato l'autore. In queste contesto non
e rara trovare anehe nelle sentenze dei giudici italiani (piuttosto con-
trarie al riconoscimento dell'antigiuridicita come elemento deI reato)
l'affermazione dell'esistenza di «situazioni obbiettivamente antigiuri-
diche».
11.

Naturalmente 1a dottrina penalistica italiana non e sempre rimasta


conclusa entro gli sehemi tradizionali finora ricordati. Per esempio esi-
stono anche in Italia i sostenitori della concezione finalistica, per i quali
l'antigiuridicita, in quanta espressione di contrasto tra norma e condotta,
deve essere riportata a un comp1esso di e1ementi oggettivi e soggettivi,
comprendendo quella dei delitti dolosi iI dolo e quella dei delitti colposi
1a negligenza. In questa dimensione oggettivo-soggettiva l'antigiuridicita,
anehe per i seguaci italiani deIl'indirizzo finalistico, continua ad espri-
mere la relazione di contraddizione tra l'azione e l'ordinamento giuridico,
ma mantiene la propria autonomia soprattutto per il modo con cui e con-
cepita la colpevolezza, identificata come riprovevolezza della formazione
deI volere delI'agente.
Quanto poi ai rapporti tra scriminanti e struttura deI reato una cospi-
cua ed autorevole parte della dottrina italiana ha da tempo negato la
necessita di risalire dalle cause di giustificazione ad una categoria 0
qualifica ontologica, qua1e appunto l'antigiuridicitatO ; e si e sviluppata
in misura crescente la tendenza a spie gare le norme ehe prevedono 1e

10 Cfr. in proposito, per la rigorosa impostazione deI probIerna, Dell'Andro,


Antigiuridicita, in Enc. Dir., val. 11 (1958), p. 542 55.; ma la posiziane e, piu
o meno avvertitamente, molto diffusa.
La dottrina italiana dell'antigiuridicita 431

eause stesse eome limiti delle norme ineriminatrici e eondizioni negative


dei loro effettill , eoltivandosi eosi la nota eostruzione degli «elementi ne-
gativi deI fatto». Da ultimo, proseguendosi su questa strada, si e arrivati
a sostenere ehe «il fondamento teenieo-dogmatico delle cause di giustifi-
eazione consiste nell'assenza di tipicita deI fatto scriminante»u.
Non molto sviluppata e un'autonoma dottrina delle cause di giustifi-
cazione co me cause di esclusione della sola «antigiuridicita penale», vista
quest'ultima come un elemento essenziale deI reato accanto alla tipicita
penale e alla colpevolezza penale13 : anehe se deve constatarsi ehe le
trattazioni relative alle cause di giustificazione generali e speciali sono
caratterizzate da impostazioni e valutazioni squisitamente proprie deI
diritto penale e delle sue particolari problematiehe, COS! come e gene-
ralmente ribadita l'autonomia degli istituti penalistici dai concetti civi-
listici.
Per contro esistono anehe in Italia posizioni di pensiero tendenti ad
escludere tutte le eause di non punibilita, a cominciare dalle scriminanti,
dalla struttura deI reato, considerandole come facienti parte di altre ed
autonome fattispecie giuridiehe ehe prevalgono, in sede di applicazione
deI diritto, sulle fattispeeie incriminatrici. Questa dottrina riconosce ehe
la presenza di queste autonome fattispecie, quando esse corrispondono

11 Nuvolone, I limiti della norma penale, Palermo, 1947; ed oggi, piu sin-
tetieamente, Il sistema deI diritto penale, 2' ed., Padova, 1982, p.122, 203 ss.;
Dell'Andro, op. eit., loe. eit., p.556 nota 41. - La eoneezione delle eause di
giustifieazione eome «elementi negativi deI fatto» e sviluppata anehe da
M. Gallo (La teoria dell'azione finalistiea nella piu reeente dottrina tedcsea,
Milano, 1950, p. 57 ss.; voee Dolo, in Ene. Dir., vol. VIII (1964), p. 770; Appunti
di diritto penale. L'elemento oggettivo deI reato, Torino 1975, p. 102 ss.) ed
e aeeolta dall'Antolisei, ehe tuttavia aggiunge, non senza una qualche eon-
traddizione, ehe per l'esistenza deI reato basta ehe esistano «la eonformita
deI fatto ad una figura di reato e l'assenza di eause di giustifieazione» (Ma-
nuale di diritto penale. Parte generale, aggiornata da Conti, Milano, 1982,
p. 164 s.). - Anehe il Grosso (L'errore sulle seriminanti, Milano, 1961, p. 58 ss.;
Difesa legittima e stato di neeessita, Milano, 1964, p. 285 55.) e tra quegli
autori ehe preferiseono vedere nelle eause di giustifieazione «elementi nega-
tivi di una nozione lata di fatto». Tuttavia il Grosso aeeoglie il nueleo della
teoria dell'antigiuridieita oggettiva e generiea perehe eonsidera l'impedibilita
eome indiee sanzionatorio dell'illieeita oggettiva deI fatto (Difesa legittima
e stato di neeessita, p. 134 ss,' 290 e passim). - Contro la dottrina degli ele-
menti negativi efr. Pannain, Manuale di diritto penale, Parte generale, 4" ed.,
Torino, 1967, p. 276 ss., ehe peraltro e sostenitore della bipartizione; ed ara,
eon stringenti argomentazioni, MarinlLcci, op. cit., loe. cit., p. 1195 ss.
12 Mantovani, Diritto penale, Padova, 1979, p.220. - Per l'inelusione del-
l'assenza di seriminanti nel fatto tipieo cfr. anehe M. Gallo, Appunti cit.,
p. 101, 109.
IS Come p. es. neUa reeente opera deI Günther, Strafreehtswidrigkeit
und Strafunreehtsaussehluß, 1983. Tuttavia bisogna riconoscere ehe nel sistema
tripartito proposto dal Petroeelli e da altri scrittori nel quadro di una totale
autonomia dell'antigiuridicita penale da ogni alt ra illieeita si trovano le basi
per una simile trattazione.
432 Giuliano Va55a1li

a norme generali dell'ordinamento (quali quelle ehe sanciscono deter-


minati diritti 0 determinati doveri giuridici), «fa venir meno quel ca-
rattere di contrarieta globale ed irripetibile ehe qualifica il fatto nei
confronti dell'ordinamento totalmente considerato» ed e pertanto di-
versa dalla presenza delle cause di semplice speciale non punibilita;
ma ritiene ehe la costruzione della loro assenza come un elemento deI
reato sia una inutile complicazione dommatica l4 •

III.

Nella dottrina civilistica l'antigiuridicita oggettiva deI fatto dan-


no so cagionato dall'incapace e spesso riconosciuta, facendosi netta
distinzione tra antigiuridicita e responsabilita. Si ammette ehe gli atti
degli incapaci possano essere «oggetto di valutazione negativa, pur
non assurgendo a riprovazione morale per mancanza dell'elemento su-
biettivo della colpa» e ehe pertanto il danno dagli stessi cagionato
possa qualificarsi come «antigiuridico in sense obiettivo»15. In questo
stesso ordine di idee si qualifica espressamente come ingiusto ed og-
gettivamente antigiuridico ogni evento contrastante con una situazione
giuridicamente tutelata e lesivo di un interesse giuridicamente pro-
tetto; dalla capacita deI soggetto si fa invece dipendere esclusivamente
la sua responsabilita 16.
Autorevoli studiosi vanno anehe oltre, osservando ehe per legitti-
mare il concetto di antigiuridicita oggettiva non occorre neanehe ri-
correre ad una funzione valutativa, ma basta constatare la reazione
dell'ordinamento giuridico, quando questo interviene a rimuovere una
determinata situazione per restaurare quella preesistente, «0 appre-
stando comunque misure eguali 0 contrarie per ripristinare l'equili-
brio turbato dell'ordinamento stesso»17.
Tuttavia an ehe tra i civilisti e stata rilevata <da crisi della conce-
zione oggettiva dell'antigiuridicitä.» e si e fatta strada l'idea di distin-
guere nettamente l'aggressione antigiuridica, «ehe e tale in quanto
contraria ad un comando», dal danno (ehe l'art. 2043 deI codice civile
qualifica come «ingiusto»), «ehe non si ha il dovere di subire in quanto

14 Contento, Limiti della norma e fattispecie non punibili, in Arch. pen.,


1965, I, p. 323 sS.: id., Istituzioni di diritto penale, Milano, 1974, p. 187 55., 227 55.
- Su que5ti problemi cfr. Marinueci, op. cit., loe. cit., p. 123655.
15 De Cupis, I fatti illeciti, Milano, 1961, p. 18 55.: id., 11 danno. Teoria gene-
rale della re5pon5abiliHI civile, Milano, 1979, p. 18 55., 3255.
16 Corsaro, L'imputazione deI fatto illecito, Milano, 1969, p. 45 55.

11 Seaduto e Rubino, voce Illecito (atto) , in Nuovo Dig. It., vol. VI. (1938),
p.704.
La dottrina italiana dell'antigiuridicita 433

l'aggressore non ha per se un diritto di invadere l'altrui sfera giuri-


dica»".
Per quanta poi attiene alle cause di giustificazione, la dottrina civili-
stica, in linea con espresse disposizioni deI codice deI 1942, esclude
l'antigiuridicita nel caso di legittima difesa, rinviando aHa nozione
penalistica, mentre e divisa neHa valutazione deH'azione dannasa com-
messa in stato di necessita, per la quale l'art. 2045 stabilisee ehe «e do-
vuta al danneggiato un'indennita, la cui misura e rimessa all'equo
apprezzamento deI giudice». Una parte deHa dottrina, con una parte
della giurisprudenza, ama parlare in questi casi di «responsabilita. at-
tenuata», in contrapposizione a quella inerente aHa piena risarcibilita
deI danno; ma altri autorevolmente inquadra questo tipo di respon-
sabilita in quella per l'atto lecito dannaso, riconoscendo cosi ehe
l'azione commessa in stato di necessita non puo mai considerarsi ille-
cita neanehe per il diritto civile u .
Bisogna tuttavia riconoscere ehe i problemi ehe occupano la dottri-
na e la giurisprudenza civili in materia di atto illecito dannaso sono
diversi da quelli, prevalentemente sistematici, ehe tormentano i pena-
listi. Il principale e quella consistente nel sapere se l'ordinamento con-
sacri un generico e generale abbliga di alterum non laedere 0 se invece,
perehe il danno possa ritenersi ingiusto, occorra anehe la specifica esi-
stenza di un diritto soggettivo violata, 0 anehe soltanto di uno speci-
fico interesse tutelato dal diritt0 20 • E quanta al dibattito propria della
dottrina penalistica, mentre alcuno ne riconosce tutta Ia importanza
teorica2l , altri esprime fastidio per un concetto di antigiuridicita 0 di
disformita al diritto «troppo vago ed equivoco» altre ehe di mera de-
rivazione concettualistica~2, 0 quanta meno avanza dubbi circa la reale
utilizzabilita deI concetto di antigiuridicita nel diritto civile23 •

18 Cian, Antigiuridicita e colpevolezza, Saggio per una teoria dell'illecito


civile, Padova, 1966, cap. II, p. 37.
18 Questa conclusione e condivisa, tra i penalisti, dal MoZari, Profili dello
stato di necessita, Padova, 1964, p. 149 ss.
~o Nel prima sense cfr. Pugliatti, Alterum non laedere, in Enc. Dir., vol. II
(1958), p. 59 ss.; Schlesinger, La «ingiustizia» deldanno nell'illecito civile, in
Jus, 1960, p. 336 ss. Nel secondo sense Messineo, Manuale di diritto civile e
commerciale, Milano, 1958, vol. X, p. 553. Sul tema cfr. anche Saceo, L'in-
giustizia di cui all'art.2043, in Foro pad., 1960, I, 1420 ss. - Qualehe volta
questa disputa ha preso anche il norne di disputa tra una ctendenza ogget-
tiva» e una «tendenza soggettiva».
21 P. es. Cian, Antigiuridicita e colpevolezza cit., ehe profila una concezione
dell'antigiuridicita valida sia per il diritto civile ehe per il diritto penale.
!t Seognamiglio, voce IIlecito (Diritto vigente), in Noviss., Dig. It., vol. VIII
(1962), p. 166.
Z3 Cfr. p. es., Inzitari, voce Necessita (Diritto privato), in Enc. Dir., vol.
XXVII (1977), p. 855 ss.

28 Festschrift für H.-H. Jescheck


434 Giuliano Vassalli

IV.
A proposito dell'antigiuridicita oggettiva e generica anche nella dot-
trina italiana sono stati oggetto di dibattito argomenti collegati alla
disciplina positiva di determinati istituti: difesa legittima, ricettazione
da delitti commessi dall'incapace, concorso criminoso nel fatto dell'inca-
pace, scriminanti ignorate.
L'argomento relativo all'ammissibilita di una difesa legittima contro
le azioni degli incapaci e ampiamente dibattuto nella dottrina e nella
giurisprudenza della Germania, i cui codici penali hanno sempre de-
finito l'aggressione contro 1a quale e data reazione difensiva come
«rechtswidrig». In Italia la situazione legislativa non e sostanzial-
mente diversa, anche se l'art. 52 deI codice, seguendo una vecchia tra-
dizione, definisce l'aggressione stessa come «ingiusta», e non come an-
tigiuridica 24 • 11 Petrocelli, rifacendosi anche ad una osservazione dello
Hold von Ferneck, osserva anzitutto che non e detto che i1 legislatore
abbia usato quella locuzione avendo un esatto concetto dell'antigiu-
ridicita (rispettivamente dell'ingiustizia). Aggiunge, comunque, che
«il fondamento logico e giuridico della limitazione contenuta nel ter-
mine «offesa ingiusta» non e nel carattere propriamente antigiuridico
dell'offesa, bensi nella mancanza di un obbligo giuridico di subirla
senza reagire». Conclude negando che contra le aggressioni degli inca-
paci sia data legittima difesa, dovendosi invece in tal caso applicare
le norme sullo stato di necessita. In quest'ultima affermazione i1 Pe-
trocelli si trova in accordo con le rarissime decisioni della giurispru-
denza della Cassazione italiana in argomento (una deI 1933 e una deI
1951), che (diversamente dalla giurisprudenza tedesca) hanno ritenuto
ricorrere 10 stato di necessita e non la legittima difesa nel caso di
aggressioni compiute da non imputabili!5. Senonche una tale limita-
zione e per noi inaccettabile perche 10 stato di necessita si riferisce
esclusivamente a pericoli corsi da beni della persona e questa acce-
zione, per quanto largamente intesa, non potrebbe mai comprendere
i beni patrimoniali, difendibili solo in virtu della norma che consacra
la difesa legittima: e sembra impossibile affermare che nessuno po-
trebbe difendersi, in alcun modo, contro l'aggressione patrimoniale
di un minore 0 di un infermo di mente. Certamente la difesa legittima
contra l'aggressione di un minore a di un infermo di mente, anche
quando sia diretta contro la persona, dovra essere ispirata a maggiore
oculatezza e prudenza che nei casi ardinari, e l'aggredito dovra, se pos-

24 «Fericolo attuale di un'offesa ingiusta» nel codice Rocco (1930), evio-


lenza attuale ed ingiusta» nel codice Zanardelli (1889).
t5 Cass. 20 ottobre 1933, in Giust. pen., 1933, 11, 1943, m. 483 e Cass. 13 luglio
1951, in Giur. Compl. Cass. pen., 1951, 11,219, m. 2205.
La dottrina italiana dell'antigiuridicita 435

sibile, studiare modi per impedire l'aggressione diversi dalla reazione


difensiva. Ma queste creseente avvieinamento dei requisiti di neees-
sita propri dello stato di neeessita ai requisiti di neeessita propri della
legittima difesa e un earattere deI diritto eontemporaneo, ispirato a
maggior rispetto della vita e dell'ineolumita individuale, tanto ehe
si arriva oggi a ritenere preferibile in ogni easo alla reazione la fuga
purehe questa non sia vergognosazs .
La dottrina italiana prevalente edel resto per l'ammissibilita della
difesa legittima contro le aggressioni dei non imputabili, e queste vale
non solo per i sostenitori di un generale concetto di antigiuridicita
oggettiva, ma anehe per alcuni fra eoloro ehe non seguono detta con-
cezione27 . Qua1cuno, seguendo un argomento deI Petrocelli, ha eura
di sottolineare eome questa eonc1usione interpretativa non val ga in
aleun modo a dare fondamento alla eoneezione dell'antigiuridieita og-
gettiva perehe «la ingiustizia dell'offesa, di cui all'art. 52 e. p., e quali-
fiea normativa ehe non ha aleun rilievo fuori della problematiea ese-
getiea intorno alla difesa legittima e ehe, per giunta, impliea il rinvio
a momenti normativi non solo extrapenali, ma addirittura pregiuri-
diei»28.
Questa presa di posizione mi sembra minimizzatriee e non motivata.
La norma sulla legittima difesa dimostra infatti ehe esistono fatti anti-
giuridici, per 10 piu eorrispondenti ad una fattispecie legale di reato
ma non punibili per difetto di imputabilita delsoggetto aggressore, i
quali danno tuttavia luogo a un diritto di impedire l'aggressione. L'ar-
gomento si riallaecia al piu generale problema dell'impedibilita delle

28 Cfr. ad es. Antolisei, Manuale eit., Parte generale, p.257 e giurispru-


denza ivi eitata; nonehe Grosso, Legittima difesa, in Ene. dir., vol. XXIV,
Milano, 1974, p. 32.
27 AntoZisei, op. cit., p. 254; Ranieri, Manuale di diritto penale. Parte gene-
rale, 4a ed., Padova, 1968, p. 165 s.; G. Battaglini, Diritto Penale, Padova, 1949,
p.323; BetnoZ, Diritto penale, cit., p. 343; Maggiore, Dirittopenale, Parte gene-
rale, 5a ed., Bologna, 1951, p.309; Mantovani, Diritto penale, Padova, 1979,
p.236; Pagliaro, Principi di diritto penale, Parte gen., 2" ed., Milano, 1980,
p.435; Penso, La legittima difesa nel nuovo codiee penale, Messina, 1936,
p.117; Grosso, Difesa legittima e stato di neeessita, Milano, 1964, p. 167 ss.;
id., Legittima difesa, in Ene. dir., eit., p. 40 ss.; U. MieZe, L'ingiustizia dell'of-
fesa nella legittima difesa, in Seuola pos., 1942, I, p. 19 sS.; Musotto, Diritto
penale, Palermo, 1981, p.230 ed aItri. Sotto il eodiee Zanardelli cfr. nello
stesso senso: Maino, Commento al codiee penale, I, n.223. Tra i civilisti:
ScognamigZio, voee Responsabilita civile, in Noviss. Dig. It., vol. XV (1968), p. 654.
- Contra, per l'ammissibilita deI rieorso al solo stato di neeessita: Manzini,
Trattato di diritto penale, vol. Il, n.404 delle varie edizioni; Vannini, Ma-
nuale di diritto penale, Parte generale, Firenze, 1947, p.151; Peveran, Con-
siderazioni sulla legittima difesa, Torino, 1942, p.93; Altavilla, Difesa legit-
tima, in Noviss. Dig. It., vol. V (1960), p.625; Pannain, Manuale di diritto
penale, 4" ed., Torino, 1967, p. 733 S.
28 PagZiaro, Principi, cit., p. 241.

28*
436 Giuliano Vassalli

azioni illecite, ehe rappresenta uno dei maggiori significati dell'anti-


giuridicita oggettiva.
Co si pure non mi sembra ehe sia giusto sottovalutare e considerare
estranei al tema (come fanno appunto il Petrocelli e il Pagliaro) gli
argomenti tradizionalmente desunti dal cOncorso di persone nel reato
e dalla punibilita della ricettazione di cose provenienti da delitto com-
messo da soggetto non imputabile (art. 648 cpv. deI codice penale ita-
liano, § 259 deI codice della Repubblica federale nella nUova formu-
lazione, ehe ha sostituito al presupposto della «strafbare Handlung»,
o a quello di titoli delittuosi specificamente indicati, il presupposto
della «reehtswidrige Tat»). L'antigiuridicita deI fatto dell'autore non
imputabile 0 non colpevole e un elemento ehe nel concorso di persone
nel reato ha un suo rilievo, si segua 0 non si segua la teoria della na-
tura accessoria della partecipazione criminosa28 • Ed infatti per la puni-
bilita nel concorso basta sicuramente ehe l'azione di uno degli autori
sia antigiuridica e conforme al modello legale, senza ehe occorra la
col pevolezzaso .
I1 codice penale italiano stabilisee deI resto esplicitamente nell'art.
112 di considerare concorrente nel reato anehe il sog getto non impu-
tabile.
Egualmente e indiscutibile il rilievo ehe il fatto antigiuridico con-
forme al modello legale assume, nonostante l'assenza di colpevolezza
deI soggetto autore deI reato presupposto, nel delitto (<<accessorio»
o «famulativo») di ricettazione. Si obbietta ehe si tratta soltanto di
«vedute pratiehe delle leggi edella coscienza sociale», non traducibili
ad aIcuna conseguenza sul piano della costruzione teorica 31 • Repli-
ehiamo ehe tali vedute pratiehe (universalmente seguite dai legisla-
tori) si armonizzano con l'idea di un fatto antigiuridico esistente a
prescindere dalla colpevolezza e ehe ciö conferma l'opportunita di
quella visione per quanto possibile armonica e coerente dell'ordina-
mento ehe e ragion d'essere della teoria dell'antigiuridicita oggettiva.
Si potrebbe obbiettare ehe la stessa norma e dettata (tanto nel con-
corso di persone ehe nella ricettazione) per il soggetto non punibile,
p. es. per il soggetto immune e ehe quindi l'argomento desunto dalle

29 E' peraltro giusto ricordare ehe la tesi della dipendenza della punizione
deI concorrente dal carattere oggettivamente antigiuridico dell'azione dell'au-
tore principale si e sviluppata, almenD all'inizio, soprattutto nel quadro del-
l'adesione alla teoria della natura accessoria della partecipazione. Per l'Italia
si veda soprattutto Bettiol, Diritto penale, 11" ed., p. 594 ss.
30 Di questa ideae anche l'Antolisei (Manuale, Parte gen., 9a ed., pag.475
e 484) ancorche respinga la teoria della natura accessoria della partecipazione
criminosa.
Si Petrocelli, L'antigiuridicita, cit., p. 67.
La dottrina italiana deIl'antigiuridicita 437

suddette disposizioni noneprobante. Si pu<'> rispondere che nel caso


in cui si tratti di soggetti nei quali manca non solo la punibilita ma anche
la colpevolezza, l'autonomia deI fatto antigiuridico non costituente
reato balza agli occhi con tutta evidenza.
Dn argomento a favore di una antigiuridicita non soggettiva rimane
quello relativo alle conseguenze giuridiche saneite dall'ordinamento
nei confronti di soggetti non imputabili autori di fatti previsti dalla
legge come reato: le misure di sicurezza. Vi e una larga corrente che
oppone che si tratta di veri e propri reat( non punibili per la condi-
zione personale deI soggetto che li commette; e che pertanto e in essi
presente anche la colpevolezza32 • Ma questa colpevolezza senza impu-
tabilita crea un concetto di colpevolezza deI tutto anomalo, che coin-
eide con il mero elemento psicologico, e che pertanto e difficile accet-
tare. Meno ancora, poi, si pu<'> accettare la tesi di coloro che conside-
rano le misure di sicurezza deI tutto al di fuoridel diritto penale e la
pericolosita uno stato di cose «non soddisfacente», che il diritto si
prende cura di rimuovere al di fuori di ogni giudizio di antigiuridi-
eiti\83.
Tra gli argomenti connessi al diritto positivo resta quelle delle scri-
minanti ignorate.
Se le cause di giustificazione sono cause di esclusione dell'antigiuri-
dicita, la cui esistenza dovrebbe essere considerata prima ancora di
indagare sull'esistenza dell'elemento soggettivo. deI reato, l'argomento
deeisivo a favore di questa seissione tra antigiuridieita ed elemento
soggettivo, per cui l'antigiuridieita si colloca al secondo posto tra gli
elementi deI reato, dovrebbe esser rappresentato proprio dalla possi-
bilita di riconoscere che le cause di giustificazione sOno operanti anche
a favore di chi non le conosca.
Il codice penale italiano regola esplicitamente questa materia sta-
bilendo che «salvo che la legge disponga altrimenti, le eircostanze che
escludono la pena sono valutate a favore dell'agente, anche se da lui
non conoseiute 0 da lui per errore ritenute inesistenti» (art. 59 comma
primo).
Sappiamo che anche contro il valore decisivo di queste argomento
potrebbero portarsi molte considerazioni.
Anzitutto la disposizione ora citata e dettata per tutte le cause di
esclusione della punibilita, anche per quelle chenon siano riconduei-

32 Cosi Antolisei, Manuale, Parte gen., 9 ed., p. 534 ss.


3

33 Cosi PetTocelli, La pericolosita criminale e la sua posizione giuridica,


Padova, 1940, p. 106 ss. contro cui v. gia il nostro volume La potesta punitiva,
Torino, 1942, p. 307.
438 Giuliano Vassalli

bili nella categoria delle cause di giustificazione (p. es. per la non pu-
nibilita deI furto tra stretti congiunti).
In secondo luogo, la stessa disposizione e dettata anehe per le eir-
co stanze attenuanti ignorate (ovviamente quando si tratti di attenuanti
oggettive, rispetto alle quali una ignoranza e possibile).
In terzo luogo la disposizione e inapplicabile nei confronti di tutte
quelle cause di giustificazione, 0 ritenute tali, ehe impliehino la pre-
senza di un elemento soggettivo. Uno studio recente ha cercato di di-
most rare con finezza di analisi ehe tra tutte Ie scriminanti 0 «cause di
giustificazione» ehe sono previste nella parte generale e nella parte
speciale deI codice l'unica ehe pu<'> considerarsi sempre ed esclusiva-
mente oggettiva e il consenso dell'avente diritto 34 • Tutte le altre, a co-
minciare dall'esercizio deI diritto e dell'adempimento di un dovere,
sarebbero, per 10 meno in un gran numero di casi, necessariamente
sorrette da un elemento soggettivo, senza la cui presenza non potrebbe
parlarsi di giustificazione deI fatto. Anehe nella difesa Iegittima, Ia
cui rilevanza oggettiva e largamente accolta dalla dottrina italiana, la
costrizione deI soggetto a reagire alI'offesa ingiusta non potrebbe in-
vece esse re intesa se non in sense soggettivo; e si rileva ehe deI resto
queste speciale atteggiamento psicologico deI soggetto rientra tra i re-
quisiti della legittima difesa secondo le tradizioni della scuola classica,
secondo i1 sense comune e secondo la giurisprudenza praticau .
Tuttavia queste stesso autore, al termine della sua indagine, rieo-
nosce ehe i1 prineipio della scriminante ignorata, stabilito nel codiee
eon l'art.59 prima comma, non vale solo per il consenso dell'avente
diritto, ma anehe per «tutti gli elementi delle cause di non punibilita
ehe siano suscettibili di una valutazione oggettiva»: e eioe per l'attua-
lita deI perieolo, per l'ingiustizia dell'offesa, per la gravita deI danno
alla persona, per i1 tipo di diritto 0 il tipo di danno difeso od evitato con
I'azione neeessitata, per l'inevitabilita deI perieolo. Questi requisiti «pos-
sono dall'agente essere ignorati 0 ritenuti insussistenti senza ehe ci<'> im-
pedisca la non punibilita deI fatto»36. La stessa dottrina tripartita non
risulterebbe smentita dall'esistenza di «elementi subiettivi di giusti-

34 G. Spagnolo, Gli elementi soggettivi nella struttura delle scriminanti,


Padova, 1980. - Cfr. gift Grosso, L'errore sulle seriminanti, Padova, 1961,
p.115 ss.
35 Spagnolo, op. cit., p. 32 ss., 55 ss. - Tra gli autori che sostengono invece
il carattere oggettivo della legittima difesa e pertanto la piena applicabilita
della scriminante ancorche ignorata pu6 ricordarsi il Grosso, Difesa legittima
e stato di necessita, p. 240 ss. - Quanto alla giurisprudenza, oltre a quella
ricordata dallo Spagnolo, va tenuta presente quella eompiutamente esplorata
e menzionata dal Riz, op. cit., loc. cit., p. 612 55.
38 Spagnolo, op. cit., p. 96 ss. - Analoghe conc1usioni in Riz, op. cit., loc. cit.
La dottrina italiana dell'antigiuridicita 439

ficazione», non essendovi motivo per non ammettere ehe «in determi-
nati casi il giudizio di antigiuridicita oggettiva, pur restando tale, possa
esse re condizionato dalla necessita di verifica della sussistenza di ta-
luni elementi subiettivi»37.
A noi sembra ehe l'argomento derivante dalla norma di carattere
generale dettata per le scriminanti ignorate sia, nonostante le limita-
zioni portatevi da possibili eccezioni espresse oltre ehe dall'esistenza
di elementi soggettivi di giustificazione, di grande rilievo a favore
deI concetto di antigiuridicita oggettiva. Basterebbe il caso deI con-
sense dell'avente diritto, la cui ignoranza - come abbiamo visto -
non e di ostacol0 all'applicabilita della causa di giustificazione. Come
non riconoscere (anehe al di fuori di una previsione espressa della
legge) ehe in queste caso ciö ehe conta e l'inesistenza di illiceita ogget-
tiva deI fatto e ehe dunque il reato e escluso prima e all'infuori di
ogni elemento psicologico? e ehe pertanto e inutile indagare sulla col-
pevolezza quando l'antigiuridicita e esclusa? Ma 10 stesso ragiona-
menta vale per quei casi di esercizio deI diritto e di adempimento deI
dovere ehe non riehiedono la presenza di alcun atteggiamento psicolo-
gico. Senza riferimento all'antigiuridicita oggettiva resta difficile com-
prendere perehe nel caso di uccisione 0 di ferimento deI nemico in una
azione conforme alle leggi e agli usi della guerra non si possa ipotiz-
zare omicidio 0 lesione personale nonostante la conformita deI fatto alla
fattispecie legale dei relativi reati sia sotto il profile oggettivo ehe
sotto quello soggettivo. Ma queste ed altri esempi danno all'antigiu-
ridicita oggettiva anehe la sua giusta collocazione, tra il fatto in sense
stretto e la colpevolezza: perehe in casi deI genere ogni indagine sulla
colpevolezza e preclusa dalla constatazione dell'esistenza di una causa di
giustificazione.
v.
Terminati questi accenni ad alcune tra le principali questioni di di-
ritte positivo venute in considerazione a proposito dell'antigiuridicita,
deve peraltro rilevarsi ehe la dottrina italiana e sempre meno propensa
a riconoscere il valore di queste discussioni per la costruzione di una
teoria generale deI reato. Non solo prevale infatti la tendenza al su-
peramento radicale dell'antitesi tra concezione oggettiva e concezione
soggettiva dell'antigiuridicita38 , ma si afferma anehe la tendenza, gia
ricordata, ad escludere ehe dalle cause di giustificazione sia necessario
37 Spagnolo, op. cit., p. 122 5., richiamando per questa parte l'opera deI
Waider, Die Bedeutung der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungs-
elementen für die Methodologie und Systematik des Strafrechts, 1970, p. 83 55.,
10755., 120 55.
38 In questo senso sono significative le opere di 111. Gallo, gin sopra ricor-
date.
440 Giuliano Vassalli

o legittimo risalire ad una categoria generale atta ad inserirsi con di-


gnita autonoma tra il fatto e la colpevolezza. L'affermazione ehe ancora
si legge neU 'ultima edizione deI Diritta penale deI Bettial, secondo
cui «il sistema tripartito pUD dirsi dominante in Italia»" non risponde
phi alla realta. E mentre cresce il disinteresse per l'antigiuridicita
come elemento autonomo deI reato, si fa qualehe volta strada, nella
pratica, un concetto di «antigiuridieita penale» ehe finisce per diven-
tare sinonimo della pura e semplice previsione deI fatto come reato,
nella completezza di tutti i suoi elementi costitutivi: come sinonimo,
eioe, della esistenza deI reato 0 della sua punibilita.
Nella giurisprudenza le cause di giustificazione tendono sempre phi
a confondersi con le altre cause di esc1usione della punibilita; ed e un
fatto ehe la distinzione delle une dalle altre e sempre meno avvertita,
cosi come e scarsamente avvertita dagli interpreti giudiziali deI diritto
l'esigenza di quell'ordine mentale ehe un tempo presiedette all'analisi
tripartita e di cui l'antigiuridicita rappresenta l'espressione saliente.
Qualehe volta, anzi, detto ordine e apertamente contrastato e tutte
le cause di esc1usione della punibilita (in esse comprese tutte le cause
di giustificazione) vengono considerate «cause esterne al reato», im-
peditive della sola punibilitä di esso, oggetto di un giudizio ehe va
fatto dopo constatata l'esistenza degli elementi oggettivi deI reato.
Per una parte della giurisprudenza italiana le cause di giustificazione
risehiano co si di ritornare verso quell'indistinto ehe caratterizza le ge-
neral defences deI diritto penale inglese 0 le legal defenses deI diritto
penale nordamericano.
eiD pUD dispiacere agli epigoni dell'antigiuridieita generica, tra
i quali si annovera l'autore di queste note, ma si tratta di una realta
della quale occorre prendere atto.

38 Bettial, ap. cit., p. 219.


JOSf: CEREZO MIR

Consideraciones generales sohre las causas


de justificacion en el derecho penal espaiiol

Es para mi un gran honor poder contribuir al Libro Homenaje al


Profesor Hans-Heinrich Jescheck, bajo cuya direcci6n trabaje en el
verano de 1968 en el Max-Planck-Institut für ausländisches und in-
ternationales Strafrecht, de Friburgo en Brisgovia. EI Profesor Je-
scheck es una de las figuras mas destacadas de 1a moderna Ciencia
deI Derecho Penal alemana y su Tratado de Derecho Penal, Parte Ge-
neral, traducido al espaiiol por Francisco Mufioz Conde y Santiago
Mir Puig, esta ejerciendo una gran influencia en la moderna Ciencia
deI Derecho Penal espaiiola. Corno contribuci6n al Libro Homenaje
envio un capitulo, alm inedito, deI Curso de Derecho Penal Espaiiol,
Parte General, que estoy escribiendo teniendo siempre presente el De-
recho Penal aleman y la moderna evoluci6n en la Ciencia deI Derecho
Penal alemana.
Toda acci6n comprendida en un tipo de 10 injusto de los delitos de
acci6n dolosos 0 culposos sera antijuridica si no concurre una causa
de justificaci6n. Si al tipo de 10 injusto pertenecen todos los elementos
que fundament an 10 injusto especifico de una figura delictivat, no
podran existir acciones tipicas juridicamente neutrales, indiferentes
para el Derecho 0 meramente no prohibidas2 • Si concurre una causa
de justificaci6n la acci6n tipica sera licita, conforme aDerecho.

I Vease mi Cursa de Derecho Penal Espaiiol, Parte General, I, Introduc-


ciön. Teoria Juridica deI Deuto/!. 2" ed. 1981, Capitulo XV, pägs. 386 y ss.
2 Vease, en este sentido, Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner
Teil, 3a ed. 1978, päg. 267 (Tratado de Derecho Penal, Parte General, trad. y
adiciones de Derecho espaiiol par Mir PuigjMufioz Conde, val. I, 1981, päg.
452); Baumann, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8" ed. 1977, päg.270; Hirsch,
LK, 9a ed. 1974, estudio preliminar al art. 51, n° 44; el mismo, Strafrecht und
rechtsfreier Raum, Festschrift für Bockelmann, 1979, pägs. 96 y ss.; Lenckner,
en: SChönkejSchröder, 21" ed. 1982, estudio preliminar a los arts.32 y ss.,
n° 8, päg. 387, que rechazan, por ello la distinciön - realizada entre otros par
Beling y Zimmerl; vease, a este respecto, Jimenez de AS1la, Tratado de De-
recho Penal, III, 3" ed., päg. 1055; Luz6n Peiia, Aspectos esenciales de la legi-
tima defensa, 1978, pägs.l11 Y SS. - entre causas de justificaciön y meras
causas de exclusiön de la antijuridicidad 0 de 10 injusto (que na implicarian
la licitud de la canducta tipica, sino su condiciön de meramente na prahibida
o su neutralidad juridica).
442 J ose Cerezo Mir

Las causas de justifieaeion llevan implicito un precepto permlslvo,


que interfiere las normas de caräeter general, mandatos 0 prohibicio-
nes, dando lugar a que la condueta prohibida 0 la no realizacion de la
eonducta ordenada, en los delitos de omision, sea licita3 • Se habla de
preceptos permisivos 0 autorizaciones desde la perspeetiva deI De-
reeho Penal, pues se trata de preeeptos independientes, que persiguen
sus propios fines 4 y la realizacion de la eondueta tipiea puede ser, in-
cluso, obligada, corno sueede en los supuestos de aplieaeion de la causa
de justifieacion de obrar en cumplimiento de un deber (n°. 11 deI
art. 8°)".
La mayor parte de las causas de justificacion estän eontenidas en
el eatäIogo de eximentes deI articulo octavo de nuestro C6digo penal.
Son eausas de justificacion la legitima defensa (nO 4°. deI art. 8°), el
estado de necesidad, euando el mal causado sea menor que el que se
trate de evitar y no se infrinja gravemente el principio deI respeeto
a la dignidad de la persona humana, a su condicion de persona auto-
noma (nO 7°. deI art. 8°), el obrar en eumplimiento de un deber 0
en el ejercicio legitime de un derecho, oficio 0 cargo (nO 11 deI art. 8°)
y la obediencia debida (n ° 12 deI art. 8°)6.
Algunas causas de justificacion no estän contenidas en el eatälogo
de eximentes deI artieulo 8°, corno sueede eon el consentimiento deI
ofendido, euando el sujeto pasivo sea un individuo (una persona fisica
o juridica), se trate de bienes juridicos disponibles y el consentimiento
no excluya ya la tipicidad de la conducta, por tratarse de figuras de-
lictivas que protejan la libertad individual (detenciones ilegales, arts.
480 y ss., coaeciones, arts. 496 y 496bis), 0 que tutelen junto a un bien
juridieo la libertad de disposicion deI mismo (por ejemplo, el hurto,
art. 514, la violaci6n, art. 429 0 el allanamiento de morada, arts. 490
y ss.)1. En la parte especial deI Codigo se regulan tambien algunas
3 Los elementos que sirven de base a las eausas de justificacion no son
elementos negativos deI tipo de 10 injusto; vease a este respecto, mi Curso,
capitulo XV, pägs. 375 y 55.
4 Vease, en este sentido, Jescheck, Lehrbuch, pags. 259 - 260 (Tratado,
vol. I, pag. 442).
5 Vease, en este sentido, Rodriguez Mourullo, Consideraciones generales
sobre la exclusion de la antijuridicidad, en Estudios Penales, Libro Home-
naje al Prof. J. Anton Oneca, 1982, päg. 510.
6 Causas de justificacion contenidas tambien en el catalogo de eximentes
deI art. 22 de la Propuesta de Anteproyecto deI nuevo Codigo Penal, de 1983:
legitima defensa (n° 50), estado de necesidad (6 0), cumplimiento de un deber
o ejercicio legitimo de un derecho, oficio 0 cargo (9 0) y obediencia debida
(100). Estas eximentes conservan la misma redacion, salvo la de estado de
necesidad, donde se han introducido algunas modificaciones intrascendentes.
7 Vease, en este sentido, Romeo Casabona, EI medico y el Derecho penal,
I, La actividad curativa (Licitud, responsabilidad penal), 1981, pägs.300 y 55.;
el mismo, EI consentimiento en las lesiones en el Proyecto de Codigo Penal
de 1980, en Cuadernos de Politica Criminal, 1982, pags. 275 - 6.
Las causas de justificaci6n en el derecho penal espaiiol 443

causas de justificacion especificas, cuyo campo de aplicaeion se eir-


cunscribe a aigunas figuras delictivas, corno la exceptio veritatis en
el delito de injurias (art. 461) cuando se trate de imputaciones diri-
gidas a los funeionarios publicos sobre hechos concernientes al ejer-
eieio de su cargoR, y los supuestos de estado de necesidad deI articulo
491, en la regulacion deI delito de allanamiento de morada siempre
que el mal causado sea menor que el que se trate de evitarD• 10.
A traves de las causas de justificacion de obrar en el cumplimiento
de un deber - que ha de ser' naturalmente un deber juridico, no
bastando un simple deber moral - 0 en el ejereicio legitime de un
derecho, se tiene en cuenta la totalidad dei ordenamiento juridico;
pu es el deber y el derecho pueden dimanar de los preceptos de cual-
quier sector deI mismo. Encuentra reconoeimiento de este modo la

8 Corno pu so de manifiesto Rodriguez Munoz en las notas a su traducci6n


deI Tratado de Derecho Penal, de Mezger, 1,1955, pags. 160 - 1; vease, tambien
en este senUdo, Rodrfguez Devesa, Derecho Penal Espaiiol, Parte Especial,
9" ed. 1983, pags. 227 - 8 y Munoz Conde, Derecho Penal, Parte Especial, 5" ed.
1983, pag. 102. Esta causa de justificaci6n estä contenida en el art. 203 de la
Propuesta de Anteproyecto deI nuevo C6digo Penal, donde se amplia a las
imputaciones que constituyan falta.
D La eximente de estado de necesidad deI art.491 es mas amplia que la
deI n° 7° deI art. 8°, corno seiialaba mi maestro Ant6n Oneca en las explica-
ciones de cätedra, pues en ella no se exige que el mal causado no sea mayor
que el que se trate de evitar, que el estado de necesidad no haya sido provo-
cado intencionadamente por el sujeto, ni que el necesitado no tenga por su
oficio 0 cargo obligaci6n de sacrificarse. En la Propuesta de Anteproyecto
deI nuevo C6digo Penal de 1983 no se incluye un precepto equivalente al deI
art. 491 deI C6digo penal vigente.
10 EI parrafo 3° deI art. 497, que exime de responsabilidad «a los padres,
tutores 0 quienes hagan sus veces en cuanto a los papeles 0 cartas de sus
hijos 0 menores que se hallen bajo su dependencia», no tiene, ami juicio, la
naturaleza de una causa de justificaci6n (corno estiman, por ejemplo, Rodri-
guez Munoz, nota a su traducci6n deI Tratado de Derecho Penal, de Mezger,
I, päg. 159, Jimenez de Asua, Tratado de Derecho Penal lII, päg. 1060, Anton
Oneca, Derecho Penal, Parte General, 1949, päg.318, Rodriguez Devesa, De-
reche Penal Espaiiol, Parte Especial, pag.31 y Munoz Conde, Derecho Penal,
Parte Especial, päg. 131), sino de una excusa absolutoria; vease, en este sen-
tido, Quintano Ripolles, Tratado de la Parte Espccial deI Derecho Penal, I, 2,
Infracciones contra la personalidad, 2" cd., pu es ta al dia por Gimbernat, 1972,
pägs. 1019 y ss., Bajo Fernandez, EI parentesco en el Derecho Penal, 1973,
pags. 155 y ss. y la tesis inedita de mi discipulo chileno Juan Carlos Ccircamo
Olmos, Descubrimiento y revelaci6n de secretos, leida en la Universidad de
Zaragoza, 1980, pags. 140 Y ss., especialmente pags. 163 y ss. En la Propuesta
de Anteproyecto deI nuevo C6digo penal, de 1983 no se incluye un precepto
equivalente al parrafo 3° deI art.497 deI C6digo penal vigente. No tiene
tampoco, a mi juicio, la naturaleza de una causa de jusUficaci6n, sino de
inculpabilidad, basada en el principio de no exigibilidad de la obediencia al
Derecho, la salvedad «cuando pudiera hacerlo sin riesgo propio ni de ter-
ceros», en la figura delicUva de omisi6n de socorro (art. 489 bis deI C6digo
penal vigente y 192 de la Propuesta de Anteproyecto deI nuevo C6digo penal);
de otra opini6n, Rodriguez Mourullo, Consideraciones generales sobre la ex-
clusi6n de la antijuricidad, lug. cit., päg. 511.
444 J ose Cerezo Mir

unidad deI ordenamiento juridico u . Los deberes y los derechos pueden


derivarse, por otra parte, tanto de un precepto legal, corno de otras
disposiciones juridicas de rango inferior (decretos-leyes, decretos,
6rdenes ministeriales 0 disposiciones dictadas por cualquier autoridad
administrativa), de convenios 0 tratados internacionales suseritos por
Espafia y que hayan quedado incorporados a nuestro Derecho interno,
o deI Derecho consuetudinario. Ello no es contrario al principio de
legalidad de los delitos y de las penas, proclamado en la Constituci6n
(art. 25,1) y en el C6digo penal (arts. 1 y 23) porque aquel afecta uni-
camente a la creaci6n de figuras delictivas y al establecimiento 0
agravaci6n de las penas12 • Seria perfectamente licita la apreciaci6n
de causas de justificaci6n por analogia, al tratarse de analogia in bon am
partem13 , 0 incluso eon base unicamente en los principios generales
deI Derechou (eausas de justifieaci6n supralegales).
Las causas de justificaci6n excluyen la antijuridicidad de la eon-
ducta, determinan que la eondueta sea licita e impiden, por ello, la
aplicaci6n de medidas de seguridad postdelietuales, pues estas exigen
la realizaci6n de una aeei6n u omisi6n tipica y antijuridiea.
Al ser licita la conducta amparada por una causa de justificaci6n
queda excluida no solo la responsabilidad penal, sino tambien la res-
ponsabilidad civil derivada de la realizaci6n de un acto ilicito.

I. Intentos de sistematizaci6n

En la Ciencia deI Derecho Penal alemana se han llevado a cabo di-


versos intentos de sistematizaci6n de las causas de justificaci6n en
funci6n de los principios que les sirven de fundamento. Especial re-
percusi6n ha tenido en nuestro pais la clasifieaci6n de Mezger, segun
que se basen en el principio de la ausencia deI interes (eonsentimiento
deI ofendido, consentimiento presunto) 0 en el deI interes preponde-
rante15• Stratenwerth considera que el principio de la ponderaci6n de

11 Vease, a este respecto, Jescheck, Lehrbuch, pag.262 (Tratado, vol. I,


pag.445).
12 Vease mi Curso, Capitulo VII, pags. 179 - 80 Y 190 Y ss.

13 Sobre la analogia in bonam partem y la apreciaci6n de eximentes por


analogfa, vease mi Curso, pags. 204 y 206 - 7.
1( Vease, en este sentido, Rodriguez Mourullo, Consideraciones generales

sobre la exclusi6n de la antijuricidad, lug. cit., pags. 510 - 11.


15 En este ultimo grupo incluia Mezger las restantes causas de justifica-
ci6n; vease, Mezger, Tratado de Derecho Penal, trad. y notas de Rodriguez
Munoz, I, pags. 409 y ss. Despues modific6 Mezger su terminologia y hablaba
ultimamente deI principio de ausencia de injusto (consentimento deI ofen-
dido, consentimiento presunto) y deI derecho preponderante; vease, Mezger,
Strafrecht, I Allgemeiner Teil, Ein Studienbuch, 8a ed., 1958, pag. 110. Siguen
Las causas de justificacion en el derecho penal espai'iol 445

bienes resulta s6Io suficiente para fundamentar Ia justificaci6n en los


deli tos contra Ia sociedad y el Estado. Si el portador deI bien juridico
protegido es un particular es preciso tener en cuenta, ademas, corno
principio de justificaci6n el respeto a Ia condici6n deI ser humano
corno persona aut6noma l8 •
Se ha intentado, incluso, hallar un fundamento unico a todas las
causas de justificaciOn (teorias monistas). Para Dohna se hallaria en
el principio deI medio adecuado (correcto) para alcanzar un fin reco-
nocido por el Derecho 17 • Segun Sauer, es Iicita toda conducta que «pro-
cura a Ia comunidad estatal (a Ia comunidad popular unida en el
Estado) mas utilidad (ideal, culturaI) que daiio»18. EI fundamento de
todas las causas de justificaci6n se hallaria, segun Schmidhäuser, en
Ia prevalencia de la exigencia de respeto de un bien fr ente a Ia deI
bien juridico Iesionado19 , para Jimenez de Asua, en el principio deI
interes 0 deI deber preponderante20 y para NaZI en el principio de Ia
ponderaci6n de valores!1.

esta clasificaci6n, con esta nueva terminologfa, Blei, Strafrecht, Allg. Teil,
17 ed., 1977, pag.121 y, con Ia terminologfa originaria, Rodriguez Muiioz, en
sus notas a la traducci6n deI Tratado de Derecho Penal, de Mezger, I, pag. 412;
Rodriguez Devesa, Derecho Penal Espaiiol, Parte General, 8a ed. 1981, päg.483
(aunque incurre luego en contradicci6n al estimar que la legitima defensa no
puede basarse exclusivamente en el principio de la ponderaci6n de intereses,
vease, pag. 536); Sainz Cantero, Lecciones de Derecho Penal, Parte General,
11, 1982, pags. 337 - 8 y Lenckner, en: Schönke/Schröder, 21 ed. 1982, obser-
vaci6n preliminar n° 7 al art. 32 y 55., pägs. 386 - 7 (aunque concibe el ter-
mino interes en un sentido amplio, comprensivo no solo deI bien jurfdico
sino de todos los aspectos merecedores de protecci6n y que aiiade, corno
principio de justificaci6n, en los delitos de omisi6n, la defensa de intereses
iguales).
16 Puesto que si el titular deI bien juridico protegido es el individuo, en el
tipo se protege al mismo tiempo un bien 0 interes y la autodeterminacion deI
ser humano. Vease Stratenwerth, Prinzipien der Rechtfertigung, ZStW 68
(1956), pags. 41 y ss., especialmente 65 y ss.
17 Vease Graf zu Dohna, Der Aufbau der Verbrechenslehre, 4" ed. 1950,
pägs. 30 - 1 y Jescheck, Lehrbuch, päg. 260 (Tratado, vol. I, pag. 443).
18 Vease Sauer, Allgemeine Strafrechtslehre, 3a ed. 1955, pg. 56 (DerechC'
Penal, Parte General, trad. por DeI Rosal y por mf, 1956, päg. 101).
I' Vease Schmidhäuser, Strafrecht, Allg. Teil, Lehrbuch, 2' ed. 1970, pägs.
280 y ss. y especialmente pägs. 288 - 9; el mismo, Strafrecht, Allgemeiner
Teil, Studienbuch, 1982, pags. 132 - 3 (para Schmidhäuser, el consentimiento
no es una causa de justificaci6n, sino un caso de mera lesi6n aparente de un
bien juridico; vease, Strafrecht, Allg. Teil, Lehrbuch, pägs. 260 y ss., especial-
mente, pägs. 267 y ss. y Strafrecht, Allgemeiner Teil, Studienbuch, pägs. 107
y ss. y 111 y ss).
20 Vease Jimenez de Asua, Tratado de Derecho Penal, 111, pags. 1059, 1064
y ss., y 1071/2. EI consentimiento no es, para Jimenez de AsUa, una causa de
justificaci6n, sino solo una causa de exclusi6n de la tipicidad; vease, Tratado
de Derecho Penal, IV, 3a ed., pägs. 629 - 30. Carbonell considera, invocando a
Noll (vease la nota siguiente) que el consentimiento corno causa de justifica-
ci6n encuentra tambien su fundamento en el principio de ponderaci6n de
intereses; vease Carbonell Mateu, La justificaci6n pennI. Fundamento, natu-
446 J ose Cerezo Mir

EI fundamento de las causas de justificaci6n es mas complejo, sin


embargo, y en el se entrecruzan diversos principios 2!. La legitima de-
fensa, por ejemplo, no puede explicarse de un modo plenamente sa-
tisfactorio atendiendo unicamente al principio de la ponderaci6n de
intereses, pu es en ella no se exige la proporcionalidad y el bien juri-
dico lesionado en la reacci6n defensiva (la vida, por ejemplo) puede ser
de mayor valor que el defendido frente a Ia agresi6n ilegitima (la in-
tegridad corporal, Ia propiedad, etc.)23. S6Io si se tiene en cuenta que
en la legitima defensa se defiende al mismo tiempo que el bien juri-
dico agredido el ordenamiento juridico, puede el principio de la pon-
deraci6n de intereses conducir a soluciones satisfactorias. Ünicamente
entonces puede considerarse que el interes preponderante esta siempre
de parte deI agredido. Con elle se ha rebasado ya, sin embargo, el marco
deI principio de la ponderaci6n de intereses y se invoca, junto a el,
para Ia fundamentaci6n de la legitima defensa, el principio de que el
Derecho no debe ceder ante 10 injust0 24 • En el estado de necesidad no

raleza y fuentes, 1982, pags. 47 y ss., especialmente pag.53 y, en el mismo sen-


tido, Cobo deZ Rosal/Vives Anton, Derecho Penal, Parte General, IH, 1982,
pags. 30 - 1.
21 Vease Noll, en: Tatbestand und Rechtswidrigkeit, Die Wertabwägung
als Prinzip der Rechtfertigung, ZStW 77 (1965), pags. 1 y ss. Noll considera
que debe hablarse de ponderaci6n de valores y no de intereses, dada la
distincion en la moderna teoria de 10 injusto (de los delitos dolosos y culpo-
sos) deI desvalor de Ia accion y el desvalor deI resultado. Considera, por otra
parte, que el consentimiento deI ofendido se basa tambien corno las restantes
causas de justificacion, en el principio de Ia ponderacion de valores. En el
consentimiento se pondera 0 compara Ia libertad con el bien juridico
agredido 0 Iesionado (vida, integridad corporaI, etc.); si el Derecho concede
prelacion a Ia libertad, el consentimiento operarä corno causa de justificacion.
EI ämbito de eficacia deI consentimiento corno causa de justificacion varia,
pues, en cada ordenamiento juridico, seg11n Ia relevancia concedida en tH a 1a
libertad humana.
22 Vease, en este sentido, Roxin, Kriminalpolitik und Strarrechtssystem,
2" ed. 1973, pags. 26 y ss. (Politica criminal y sistema deI Derecho penaI, trad.
e introduccion por Muiioz Conde, 1972, pags.57 y ss.); Maurach/Zipf, Straf-
recht, Allg. Teil, 1, 6" ed., 1983, pags.326 y ss.; Jescheck, Lehrbuch, pägs.260
y ss. (Tratado, vol. I, pags.443 y ss.) y Rodriguez Mourullo, Consideraciones
generales sobre la exclusi6n de la antijuridicidad, lug. cit., pags. 512 - 3.
23 Vease, en este sentido, Stratenwerth, Prinzipien der Rechtfertigung,
pags. 59 - 60.
u Luz6n Peiia rechaza de un modo absoluto la fundamentacion de la legi-
tima defensa en el principio de la ponderacion de bienes por estimar que en
ella no existe un conflicto de bienes juridicos, al quedar los deI agresor pri-
vados de Ia proteccion deI Derecho, en la medida en que sea necesaria su
lesion para rechazar la agresi6n ilegitima; vease Luz6n Peiia, Aspectos esen-
ciales de Ia Iegitima defensa, pags.72 y 89 - 90. Los bienes juridicos deI agre-
sor no quedan privados por completo, sin embargo, de la proteccion deI De-
recho, corno se advierte en las llamadas limitaciones etico-sociales que se
establecen a la legitima defensa en Ia moderna Ciencia deI Derecho Penal;
vease, a este respecto, Roxin, Die «sozial ethischen Einschränkungen» des
Notwehrrechts, ZStW 93 (1981), pag. 68 y ss.
Las causas de justificacion en el derecho penal espafiol 447

siempre que el mal eausado sea menor que el que se trate de evitar
sera la eondueta licita. EI principio de la ponderaei6n de intereses
neeesita ser eomplementado por el deI respeto a la dignidad de la
persona humana, a su eondici6n de persona aut6noma 25 • De 10 eontrario
habria que estimar licita la eondueta deI que extrae a otro violenta-
mente, sin su eonsentimiento, un riii.6n para llevar a eabo un tras-
plante que salve la vida de un paciente2B •
No es posib1e llevar a eabo, por ello, una autentica sistematizaci6n
de las eausas de justifieaci6n27 •

11. Elementos subjetivos

En la moderna Ciencia deI Dereeho penal alemana se puso de mani-


fiesto que deI mismo modo que existen elementos subjetivos de 10
injusto en los tipoS28, es neeesario apreciar la existeneia de elementos
sub}etivos en las eausas de justifieaci6n2U • Esta tesis ha hallado tam-

25 Vease, en este sentido, Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem,


pag. 27 (Politica criminal y sistema deI Derecho penal, pag. 58) y Rodriguez
Mourullo, Consideraciones generales sobre la exclusi6n de la antijuricidad,
pag.513.
Z6 No creo que el principio deI respeto a la dignidad de la persona humana,
que es un principio material de justicia, de validez apriori (vease mi Curso,
Capitulo I, pag.21), pueda ser considerado corno un interes mas a incluir en
la correspondiente ponderaci6n, tal corno proponen Lenckner, en: Schönke!
Schröder, 21 ed. 1982, pags.457 y ss. (n° 43 Y ss.), especialmente pag.459
(n° 47); Hirsch, LK, 9" ed. 1974, observaciones preliminares al art. 51, n° 64 y ss.,
especialmente n° 75 y 81 Y Carbonell, La justificaci6n penal, pag. 54. La invo-
caci6n de este principio en el marco de la ponderaci6n de intereses privaria
a esta de limites y contornos precisos, al introducir en la misma un juicio
de valor de naturaleza esencialmente diferente; vease a este respecto, Gallas,
Der dogmatische Teil des Alternativ-Entwurfs, ZStW 80 (1968), pag.27. Por
otra parte, seda dWcil concebir en nuestro Derecho la ponderaci6n de inte-
reses con esa amplitud, al exigir el C6digo exclusivamente que el maZ causado
no sea mayor que eZ que se trate de evitar.
zr Vease, especialmente, en este sentido, Baumann, Strafrecht, Allg. Teil,
8a ed. 1977, pag.286 y Maurach/Zipj, ob. cit. pag.328. La tesis mantenida por
Carbonell (La justificaci6n penal, pags. 64, 128 Y ss. Y 131 Y ss.) Y Cobo deZ
Rosal/Vives Anton (Derecho penal, Parte General, III, pag. 31) de que la causa
de justificaci6n de obrar en cumplimiento de un deber 0 en el ejercicio legI-
timo de un derecho, oficio 0 cargo (n° 11 deI art. 8°) es una clatlsula general
de justificaci6n 0 una causa de justificaci6n generica, que engloba a las
restantes, tiene, por ello un valor meramente formal.
28 Vease mi Curso, Capitulo XVII, pags. 407 y ss.

29 Fischer fue tambien el primero en descubrir la existencia de elementos


subjetivos en las causas de justificaci6n (vease su opinion en Polaino Na-
vaTTete, Los elementos subjetivos deI injusto en el Codigo penal espafiol,
1972, pags.94 y ss.) y Mezger uno de los principales impulsores de la nueva
concepci6n (vease, Mezger, Tratado de Derecho Penal, trad. de Rodriguez
Muiioz, I, 1955, pags. 358 - 9). La opinion dominante admite hace ya tiempo en
Alemania la existencia de elementos subjetivos en las causas de justificaci6n y
448 J ose Cerezo Mir

bien un amplio eco en la moderna Ciencia deI Derecho penal espafiola.


La opini6n dominante considera que el animo 0 voluntad de defensa
es un elemento de la causa de justificaci6n de la legitima defensa
Cn ° 4 0. deI art. 8°)30 y que con la expresi6n «impulsado» se requiere un
elemento subjetivo en el estado de necesidad corno causa de justifica-
ci6n (n° 7°. deI art. 8°)31.

en la moderna Ciencia deI Derecho penal alemana la mayor parte de los autores
consideran que es necesario apreciar elementos subjetivos en todas las causas
de justificaci6n; vease, por ejemplo, von Weber, Grundriß des deutschen
Strafrechts, 1948, pag. 88; Welzel, Das deutsche Strafrecht, pags. 83 - 4;
Jescheck, Lehrbuch, pags.263 y ss. (Tratado, Vol. I, pags.447 y ss.); Maurach/
Zipf, Strafrecht, Allg. Teil 1, pags. 331 - 2; Lenckner, en: Schönke/Schröder,
observaciones preliminares a los art.32 y ss., n° 13 y ss., pags.388 y ss.;
Hirsch, LK, 9" ed. 1974, observaciones preliminares al articulo 51, n° 36 y ss.;
Stratenwerth, Strafrecht, Allg. Teil, I, Die Straftat, 3" ed., pags. 149 y ss.
(n° 485 y ss.); Samson, SK, 1, Allg. Teil, 3' ed., observaciones preliminares al
art. 32, n° 23 y ss., pags.228 y ss. y Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Die
Grundlagen und die Zurechnungslehre, Lehrbuch, 1983, pag. 295. Admiten
s610 la existencia de elementos subjetivos en algunas causas de justificaci6n.
Baumann, Strafrecht, Allgemeiner Teil, pag.307; Waider, Die Bedeutung der
Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen für Methodologie und
Systematik des Strafrechts, 1970, pags. 109 y ss.; Schmidhäuser, Strafrecht,
Allg. Teil, Lehrbuch, pags. 291 - 2; el mismo, Strafrecht, Allgemeiner Teil,
Studienbuch, pags. 133 - 4 (s610 en las causas de justificaci6n que se basan
en la persecuci6n de un fin individual, pero no en aquellas que tienen su
fundamento en un fin supraindividual) y Gallas, Zur Struktur des straf-
rechtlichen Unrechtsbegriffs, Festschrift für Bockelmann, 1979, pags. 172 y ss.
Niega la existencia de elementos subjetivos en las causas de justificaci6n, en
la moderna Ciencia deI Derecho penal alemana, Oehler, Das objektive Zweck-
moment in der rechtswidrigen Handlung, 1959, pags. 165 y ss.
30 Vease, por ejemplo, Cuello Calon/Camargo, Derecho Penal, I, Parte
General, vol. 10, 18 ed. 1980, pag. 378; Ferrer Sama, Comentarios al C6digo
Penal, I, Murcia 1946, pags. 189, 190 y 193, Jimenez de Asua, Tratado de De-
reche Penal, IV, tercera edici6n, 1976, pags.206 y ss.; Cordoba Roda, notas a
su traducci6n deI Tratado de Derecho Penal, de Maurach, I, 1962, pags. 371
y ss., Una nueva concepci6n deI delito. La doctrina finalista, 1963, pags. 94 - 5,
Las eximentes incompletas en el C6digo penal, 1966, pags. 107 y ss. y Comen-
tarios al Codigo Penal, en colaboracion con Rodriguez Mourullo, I, 1972,
pags.247 y ss.; Diaz Pa los, La legitima defensa, 1971, pags. 121 - 2; Magaldi,
La legitima defensa en la Jurisprudencia espafiola, 1976, pags.228 y ss.; Sainz
Cantero, Lecciones de Derecho Penal, Parte General 11, pags. 368 - 9 Y 372 - 3;
Cobo del Rosal/Vives Anton, Derecho penal, Parte General, 111, pags. 62 - 3
Y entre la jurisprudencia mas moderna, las sentencias deI Tribunal Supremo
de 7 de marzo de 1978 (A. 870), 30 de setiembre de 1978 (A.2953), 4 de diciem-
bre de 1978 (A.3862), 12 de diciembre de 1978 (A.3948), 26 de marzo de 1979
(A. 1395), 20 de marzo de 1982 (A. 1730) y 4 de febrero de 1983 (A. 727). Rodri-
guez Mufioz admitia la existencia de un elemento subjetivo unicamente en la
antigua eximente de legitima defensa de un extrafio (al exigir entonces el
Codigo, en el n° 6° deI art. 8°., que el defensor no fuera impulsado por ven-
ganza, resentimiento u otro motivo ilegitimo); veanse sus notas a la tra-
duccion deI Tratado de Derecho Penal, de Mezger, I, 1955, pags. 350 - 1. Este
era tambien el criterio de Ant6n Oneca, Derecho Penal, Parte General, Ma-
drid 1949, pag.240; De Rivacoba y Rivacoba, DeI fundamento a la defensa en
la legitima defensa, Estudios Penales, Homenaje al R. P. Julian Pereda, S. J.,
1965, pags. 273 y ss. y de Rodriguez Devesa, Derecho Penal Espafiol, Parte;>
General, 8' ed. 1981, pags. 484 - 5.
Las causas de justificaci6n en el derecho penal espafiol 449

Desde el momento en que nuestro C6digo se inspira en una concep-


ci6n de 10 injusto que distingue un desvalor de la acci6n y un desvalor
deI resultad032 , es necesario apreciar elementos subjetivos en to das
las causas de justificaci6n33 • En las de legitima defensa (n° 4 ° deJ
art. 8°), estado de necesidad (n° 7°. deI art. 8°, cuando el mal causado
sea menor que el que se trate de evitar y no se infrinja gravemente
el principio deI respeto a la condici6n deI ser humano corno persona
aut6noma), obrar en el cumplimiento de un deber 0 en el ejercicio
legitime de un derecho, oficio 0 cargo (n° 11 deI art. 8°) y la obediencia
debida (n° 12 deI art. 8°) es preciso que el sujeto actue no s610 con el
conocimiento de la concurrencia de los elementos objetivos que sirven
de base a las causas de justificaci6n, sino, ademas, con el animo 0 vo-
luntad de defensa, de superar el estado de necesidad, de cumplir con
su deber 0 de ejercer su derecho, oficio 0 cargo. La exigencia de este
31 vease, por ejemplo, FeTTer Sama, Comentarios al Codigo Penal, I, pag.
201, Anton Oneca, Derecho Penal, Parte General, pag.266, Jimenez de Asua,
Tratado de Derecho Penal IV, pags. 427 - 8, Cordoba Roda, notas a su traduc-
cion deI Tratado de Derecho Penal, de Maurach, I, pag. 371; Una nueva con-
cepcion deI delito, pag. 94; Las eximentes incompletas en el Codigo Penal,
pags. 174 y ss.; Comentarios al Codigo Penal, en colaboracion con Rodriguez
Mourullo, I, pags.281 y ss.; Rodriguez Devesa, Derecho Penal Espafiol, Parte
General, pag. 550; Sainz Cantero, Lecciones de Derecho Penal, Parte General.
I1, pag. 385 y Cobo deZ Rosal/Vives Anton, Derecho Penal, Parte General, II!,
pags. 78 y ss.
32 Vease mi Curso, Capitulo XVII, pags.445 y ss. y mi articulo EI tipo de
10 injusto de los deli tos de accion culposos, Anuario de Derecho Penal !i
Ciencias Penales, 1983, pags. 471 y ss.
33 Como dice acertadamente Cordoba Roda: «Si el cumplimiento deI orden
- la conducta justificada cumple el orden - ha de ser de la misma naturaleza
que su perturbacion (accion tipica), no podra menos que pertenecer a las
circunstancias de exclusion deI injusto, la finalidad de defensa, de cumplir
un deber, de ejercer legitimamente un derecho, oficio 0 cargo, etc. (elemen-
tos subjetivos de justificacion). Puede pues afirmarse, en terminos generales,
que para la apreciacion de una causa de exclusion deI injusto resulta necesa-
ria la concurrencia deI elemento subjetivo de justificacion»; notas a su tra-
duccion deI Tratado deI Derecho Penal, de Maurach, I, pag. 371, y en el mismo
sentido, Las eximentes incompletas en el Codigo penal, pags. 107 - 8 Y Co-
mentarios al Codigo Penal, en colaboracion con Rodriguez Mourullo, 1, pag.
247. Se adhiere al criterio de Cordoba Roda, MagaZdi, La legitima defensa en
Ia Jurisprudencia espafiola, pags. 228 - 9. Subrayan la necesidad de apreciar
elementos subjetivos en todas las causas de justificacion si se parte de una
concepcion personal de 10 injusto, que distinga un desvalor de la accion y un
desvalor deI resultado, en la moderna Ciencia deI Derecho Penal, alemana,
por ejemplo, WeZzeZ, Das deutsche Strafrecht, 11" ed., 1969, pags. 83 - 4;
Jescheck, Lehrbuch, 3" ed. 1978, pag.264 (Tratado, vol. I, pag.448); Maurach/
Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1, 6" ed., pags. 331 - 2; Samson, SK, I,
Allg. Teil, observaciones preliminares al art. 32, pag. 228, n° 23; Lenckner, en:
SchönkelSchröder, 21 ed., observaciones preliminares al art.32, n° 13, pags.
388 - 9 Y Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil, I, Die Straftat, n° 485-
487, pag.149. La necesidad de apreciar elementos subjetivos en todas las
causas de justificacion solo puede derivarse de la concepci6n de 10 injusto
que inspire un determinado Codigo penal y no de la estructura finalista de
la accion, como observa, con razon, Rodriguez Mourullo, Consideraciones
generales sobre la exclusi6n de la antijuricidad, lug. cit., pags. 515 y ss.

29 Festschrift für H. - H. J escheck


450 Jose Cerezo Mir

ammo 0 voluntad eneuentra, ademas, apoyo en la misma regulaeion


legal de las eausas de justifieaci6n, pues s610 euando eoneurra puede
decirse que el sujeto actua en defensa de la persona 0 dereehos pro-
pios 0 ajenos, impulsado por el estado de neeesidad, en cumplimiento
de un deber, en el ejercicio de un dereeho, ofieio 0 cargo 0 en virtud
de obediencia debida 34 • Este animo 0 voluntad es compatible, sin duda,
con la eoncurrencia de otros motivos. En el consentimiento, corno causa
de justificacion, el sujeto no solo ha de conocer la existeneia deI con-
sentimiento deI ofendido, sino que este ha de ser tambien al menos
uno de los motivos que le impulsen a actuar35 •
En la eximente de eumplimiento de un deber se plantea el problema de si
no es necesaria la concurrencia de un elemento subjetivo adicional, deI

34 Rechaza esta interpretaci6n finalista de la preposici6n Rodriguez Devesa,


Derecho Penal Espaiiol, Parte General, pägs. 484 - 5.
35 Gimbernat considera suficiente, en cambio, en todas las causas de justi-
ficaci6n que el sujeto haya tenido «conciencia de que objetivamente eon-
curria una causa de justificaci6n»; vease, Gimbernat Ordeig, Introducci6n a
la Parte General deI Derecho penal espaiiol, 1979, päg. 51 (Das spanische
Strafrecht, en: Das ausländische Strafrecht der Gegenwart, VI, 1982, päg.
331); vease tambien en este sentido, Mir Puig, adiciones a la traducci6n deI
Tratado de Dereeho Penal, Parte General, de Jescheck, I, päg.456 y Funci6n
de la pena y teoria deI delito en el Estado social y democrätico de Derecho,
23 ed., 1982, päg. 89. Rodriguez Mourullo consideraba suficiente en la legitima
defensa propia ) de parientes (antiguas eximentes 4 y 5" deI articulo 8°) «eI
3

conocimiento de que se actua en una situaci6n de defensa, 10 que, a su vez,


implica el conocimiento de que existe una agresi6n ilegitima»; vease, Rodri-
guez Mourullo, Legitima defensa real y putativa en la doctrina penal deI Tri-
bunal Supremo, 1976, päg. 49. En la legitima defensa de extraiios consideraba
necesaria, en cambio, «una determinada tendencia subjetiva 0 motivaci6n
(. .. el änimo de defender al extraiio y no m6vil de vengarse deI agresor
injusto)>>; vease Rodriguez Mourullo, Consideraciones generales sobre la ex-
clusi6n de la antijuricidad, lug. cit., päg.517. Parece inspirarse en este crite-
rio de Rodriguez Mourullo la sentencia deI Tribunal Supremo de 2 de octubre
de 1981 (A. 3597). En la moderna Ciencia deI Derecho penal alemana con-
sideran, en general, suficiente el conocimiento de las circunstancias que sir-
yen de base a las causas de justificaci6n, apartändose de la opini6n domi-
nante, Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil, I, pags.149 y ss. (n° 488
y ss.), Lenckner, en: Schönke!Schröder, observaciones preliminares al art.32,
n° 14 - 16, pägs. 389 - 90, Maurach!Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 63 ed.,
päg.332, n° 28 y Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, pag.295, nums.20 y 21.
Stratenwerth precisa que el sujeto habra de considerar segura la concurren-
cia de los elementos objetivos que sirven de base a las causas de justificaci6n
y en caso de considerarla meramente posible habra de confiar en ella. Los
elementos subjetivos de las causas de justificaci6n constituyen, pues, para
el, unieamente el correlato deI dolo, no siendo necesaria la concurrencia de
ningun elemento subjetivo adicional, salvo que su exigencia se derive necesa-
riamente deI tenor literal de la ley (vease, lug. cit. n° 490). Para Jakobs, los
elementos subjetivos de las causas de justificaci6n se reducen tambien, gene-
ralmente, al eorrelato deI dolo, pero en caso de que el autor dude acerca de
la eoneurrencia de las circunstancias que sirven de base a las causas de justi-
fieaci6n, establece unas reglas especiales de distribuci6n deI riesgo deI error;
vease, Strafrecht, Allgemeiner Teil, pägs. 298 - 9, n° 29. En contra deI criterio
de Stratenwerth y Lenckner, vease especialmente Hirsch, LK 93 ed., observa-
ciones preliminares al art. 51, n° 39 - 40.
Las causas c1e justificaci6n en el derecho penal espaiiol 451

«examen conforme a deber»38 cuando la ley haga depender la intervenci6n


deI funcionario de su apreciaci6n racional de la concurrencia de determina-
das circunstancias; por ejemplo, en los supuestos de los nOS 3 ° Y 4 ° deI art. 492
de la Ley de Enjuiciamiento criminal. En el n° 4°, por ejemplo, se obliga a las
autoridades y agentes de la policia judicial, cuando se trate de deli tos casti-
gados con pena inferior a la de prisi6n mayor, a detener a una persona cuando
concurran las dos circunstancias siguientes: I". Que la autoridad 0 agente
tengan motivos racionalmente bastantes para creer en la existencia de un
hecho que presente los caracteres de delito. 2". Que los tenga tambien bastan-
tes para creer que la persona a quien intente detener tuvo participati6n en
el». Creo que no es preciso este supuesto elemento subjetivo (en realidad no
es tal), sino que basta con que el sujeto conozca las circunstancias que justi-
fican legalmente su intervenci6n, en nuestro ejemplo las circunstancias que
constituyan los motivos racionalmente bastantes y actue con el animo 0
voluntad de cumplir con su deber37 . De 10 contrario, a pesar de darse dicho
conocimiento y animo, habria que negar la apreciaci6n de la causa de justi-
ficaci6n si el conocimiento habia sido adquirido a la ligera, sin haber llevado
a cabo un examen conforme a deber.
Las causas de justificaci6n son aplicables, en principio, tanto en los
delitos dolosos corno en los culposos (de acci6n y de omisi6n) y al no
establecer el C6digo diferencia alguna, deben concurrir todos sus re-
quisitos -incluidos los subjetivos- para su aplicaci6n en cada cas0 38 .

III. Valor de la acciön y valor dei resultado


en las causas de justificaciön
DeI mismo modo que 10 injusto de los deli tos de aCClOn dolosos 0
culposos sOlo queda constituido cuando al desvalor de la acci6n se
36 Vease en este sentido, Rudolphi, Die pflichtgemäße Prüfung als Erfor-
dernis der Rechtfertigung, Gedächtnisschrift für Schröder, 1978, pags. 90 y ss.,
Samson, SK, 1, Allg. Teil, 3" ed., pägs. 229 - 30, n° 26 - 28 y Jakobs, Strafrecht,
Allgemeiner Teil, päg. 297, n° 25.
37 De otra opini6n, Carbonell, La justificaci6n penal, pags. 91 - 2 y 165 y ss.,
que invoca a Lenckner, que exige dicho elemento subjetivo en todas las
causas de justificaci6n deI Derecho penal aleman en las que se concede,
segtin el, una simple facultad de actuar, con base en la idea deI riesgo per-
mitido; vease, Lenckner, en: SchönkelSchröder, pag. 390, n° 17 y ss., especial-
mente 19 y 19 a. Siguen el criterio de Lenckner, en Alemania, Hirsch, LK,
9" ed. 1974, comentario previo al art. 51, n° 39 y Jescheck, Lehrbuch, pägs.
265 - 6 (Tratado, pag. 450).
38 Exigen tambien la concurrencia de los elementos subjetivos de las
causas de justificaci6n en los delitos culposos, Welzel, Das deutsche Straf-
recht, päg.97, MaurachIGössel, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2, 5" ed., 1978,
pag.l07, Hirsch, LK, 9" ed., Observaciones preliminares al art. 51, n° 40 y
Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, 1973, pags.
255 y ss.; consideran, en cambio, que, son, en general, innecesarios, Straten-
werth, Allgemeiner Teil, I, n° 1118 y ss., pags. 299 - 300; Lenckner, en:
SchönkelSchröder, observaciones preliminares a los arts.32 y ss., n° 97 y ss.,
pags. 409 - 410; Jescheck, Lehrbuch, päg.477 (Tratado, vol. 11, päg.811); Sam-
son, SK, 1, Allg. Teil, comentario al art. 16, n° 32, pag. 81, y Jakobs, Strafrecht,
Allgemeiner Teil, pag.299, n° 30, pues al concurrir los elementos objetivos
que sirven de base a las causas de justificaci6n queda exluido, segtin ellos, el
desvalor deI resultado y la conducta imprudente en si es, en general, impune.

29'
452 J ose Cerezo Mir

afiade el desvalor deI resultado 39 , la exclusi6n de 10 injusto requiere


la concurrencia deI valor de la acci6n y deI valor deI resultado de las
causas de justificaci6n, es decir la concurrencia de todos los elementos
subjetivos que sirven de base a las mismas.
La concurrencia de los elementos objetivos que sirven de base a una
causa de justificaci6n (por ejemplo, la agresi6n ilegitima, la necesidad
de la defensa, la necesidad racional deI medio empleado para impedir
o repeler la agresi6n y la falta de provocaci6n suficiente por parte
deI defensor, en la legitima defensa, n° 4 0 deI art o. So) no puede justi-
ficar una acci6n u omisi6n tipica (un homicidio doloso por acci6n, por
ejemplo), si faHa el elemento subjetivo de dicha causa de justificaci6n
(en este caso el animo 0 voluntad de defensa)40.

Un sector doctrinal, en la moderna Ciencia deI Derecho penal ale-


mana y espafiola considera, sin embargo, que en caso de concurrencia
de los elementos objetivos de las causas de justificaci6n queda excluido
el desvalor deI resultado, debiendo responder el sujeto unicamente
por delito frustrado 0 tentativa (idonea 0 inid6nea)4t, si faltaba el

3g Vease mi Curso, Capitulo XVII, pags.445 y ss. y mi articulo EI tipo de


10 injusto de los delitos de acci6n culposos, Anuario de Derecho Penal y
Ciencias Penales, 1983, pags. 502 y ss.
40 Los penalistas espafioles que admiten la existencia de causas de justi-
ficaci6n meramente objetivas, es decir, que no requieren la concurrencia de
elemento subjetivo alguno, estiman, en cambio, que en ellas la presencia de
los elementos objetivos determina la licitud de la conducta; vease, por
ejemplo, Rodriguez Munoz, notas a su traducci6n deI Tratado de Derecho
Penal, de Mezger, I, pags. 350 - 1 Y 458; Anton Oneca, Derecho Penal, Parte
General, pag.240; Rodriguez Devesa, Derecho Penal Espafiol, Parte General,
pag.483; De Rivacoba y Rivacoba, DeI fundamento a la defensa en la legi-
tima defensa, lug. cit., pag.278; Rodriguez Mourullo, Consideraciones gene-
rales sobre la exclusi6n de la antijuricidad, pag. 517 y Carbonell Mateu, La
justificaci6n penal, pags. 89 y ss., especialmente pag. 107.
41 En el C6digo penal aleman (arts. 22 - 24) no se hace formalmente la
distinci6n entre delito frustrado y tentativa, que aparece en el art. 3° de
nuestro C6digo. Para nosotros, se trataria siempre de un delito frustrado,
pues si el resultado material se ha producido se habran realizado todos los
actos de ejecuci6n. En la Propuesta de Anteproyecto deI nuevo C6digo Penal
espafiol, de 1983 desaparece tambien la distinci6n entre tentativa y delito
frustrado. La tentativa en sentido amplio (comprensivo de la tentativa y deI
delito frustrado) seria id6nea cuando la concurrencia de los elementos ob-
jetivos que sirven de base a la causa de justificaci6n no fuera objetivamente
previsible ex ante. Considera, en cambio, que se trataria en todo caso de una
tentativa inid6nea, Gallas, por estimar que la concurrencia de las circunstan-
cias que sirven de base a las causas de justificaci6n excluye no s610 el des-
valor deI resultado, sino tambien el desvalor objetivo de la acci6n (vease, mi
Curso de Derecho Penal Espafiol, Parte General, I, Introducci6n. Teoria Juri-
dica deI Delitoll. Capitulo XVII, nota 137 y Gallas, Zur Struktur des straf-
rechtlichen Unrechtsbegriffs, lug. cit. pag. 173 y ss.). En nuestro pais estima
que se trataria siempre de un delito frustrado imposible, Gimbernat; vease
Introducci6n a la Parte General deI Derecho penal espafiol, pag. 51, en cam-
bio, en la versi6n alemana de este trabajo alude solo a la tentativa, en sen-
Las causas de justificaci6n en el derC2cho penal espafiol 453

elemento subjetivo de la causa de justificaci6n correspondiente42 • En


el caso, por ejemplo, de que un cazador dispare contra otro con inten-
ci6n de producirle la muerte y causfmdole unas lesiones corporales, pero
ignorando que en ese momento la victima se disponia inmediatamente a
disparar contra un tercero con el fin de darle muerte 43 • La aplicaci6n
de la figura deI delito frustrado (de lesiones corporales) resulta, a mi
juicio, forzada, pues de su regulaci6n en el art. 3°. de nuestro C6digo

tido amplio, con 10 que parece admitir que puede ser id6nea 0 inid6nea,
vease Das spanische Strafrecht, lug. cit., päg. 331. Segun Rodriguez Mourullo.
estos supuestos estarän comprendidos en el pärrafo 2° deI art. 52, que con-
tiene, segu.n el, un titulo de incriminaci6n independiente (delito imposible),
de la tentativa y el delito frustrado deI art. 3°.; vease, Rodriguez Mourullo,
Legitima defensa real y putativa en la doctrina penal deI Tribunal Supremo,
päg.55 y Consideraciones generales sobre la exclusi6n de la antijuricidad,
lug. cit., päg. 519. En contra de la consideraci6n deI delito imposible corno un
titulo de incriminaci6n independiente de la tentativa y el delito frustrado,
deI art. 3°., vease mi Curso de Derecho Penal Espafiol, Parte General, I,
Introducci6n. Teoria Juridica deI Delito/. Capitulo XVII, nota 25, pägs. 413 - 4.
42 Vease, por ejemplo, en este sentido, von Weber, Grundriß des deutschen
Strafrechts, 2" ed. 1948, päg.88; Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil,
I, n° 492 y ss., päg.151 (aunque admite algunas excepciones, cuando s6lo la
persecuci6n de un determinado tin hace posible la justificaci6n, corno en el
ejercicio deI derecho de correcci6n, asi corno en la detenci6n provision al de un
presunto delincuente, de acuerdo con 10 dispuesto en el art. 127 de la Ley de
Enjuiciamiento criminal alemana; en estos casos la ausencia deI elemento sub-
jetivo determina, segu.n Stratenwerth, una responsabilidad por deUto doloso
consumado); Jescheck, Lehrbuch, pägs. 264 - 5 (Tratado, vol. I, pägs. 448 - 8);
Baumann, Strafrecht, Allgemeiner Teil, päg. 307 (incluso en las causas de justi-
ficaci6n que no requieren, segu.n el, la presencia de elementos subjetivos);
Maurach/Zipt, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1, pägs. 333 - 4, n° 34; Lenckner,
en: Schönke/Schröder, observaciones previas a los arts. 32 y SS., n° 15, pag. 389
(aunque hace una excepci6n tambien para aquellos casos en que es necesaria
la concurrencia de una determinada intenci6n corno elemento subjetivo de
una causa de justificaci6n; vease lug. cit. n° 16, pägs. 389 - 90); Samson, SK,
1, Allg. Teil, 3a ed., observaciones preliminares al art. 32, n° 24, pag.228;
Gallas (en las causas de justificaci6n en las que no admite la existencia de
elementos subjetivos, corno e1 consentimiento; cuando es precisa la con-
currencia de un elemento subjetivo, en cambio, corno en 1a legitima defensa
y el estado de necesidad, 1a ausencia de dicho elemente impide, segun Gallas,
la excIusi6n no solo deI desvalor de Ia acci6n, sino incluso deI desvalor deI
resultado; vease Gallas, Zur Struktur des strafrechtlichen UnrC2chtsbegriffs,
lug. cit., pägs.l72 y ss.) y Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, pags. 296 - 7
(a falta de una regulaci6n especial de estos supuestos, que considera necesa-
rial y en nuestro pais, Rodriguez Mourullo, Legitima defensa real y putativa
en la doctrina penal deI Tribunal Supremo, pags. 53 y ss. y Consideraciones
generales sobre la exclusi6n de la antijuricidad, lug. cit., pägs. 518 - 9 (siempre
que se trate de causas de justificaci6n que requieran la presencia de un ele-
mento subjetivo); Luz6n Pefia, Aspectos esencia1es de la legitima defensa,
päg. 125 (siempre que se trate de causas de justificaci6n que excluyan el des-
valor deI resultado);Gimbernat, Introducci6n a la Parte General deI Derecho
penal espafio1, pag. 51 (Das spanische Strafrecht, päg. 331) y Huerta Tocildo,
Sobre el contenido de la antijuridicidad, pags. 121 y ss.
43 Aqui se dan todos los elementas objetivos que sirven de base a la legi-
tima defensa, pero falta el elementa subjetivo deI animo 0 voluntad de
defensa.
454 Jose Cerezo Mir

se deduce que la falta de producci6n deI resultado es un requisito 0


elemento de la misma". Cabria unicamente una apIicaci6n de la figura
deI delito frustrado (art. 3 0. y en su caso en relaci6n con el parrafo
2°. deI art. 52) por analogia, pues en estos casos se ha producido el
resultado material, pero faltaria el desvalor deI resultado (al estar en
nuestro ejemplo, las lesiones corporales amparadas objetivamente en
la causa de justificaci6n de la legitima defensa)'5. Ello estaria en con-
tradici6n, sin embargo, con la concepci6n de 10 injusto corno infrac-
ci6n de una norma de determinaci6n (un mandato 0 una prohibici6n)
y no corno infracci6n de una norma de valoraci6n46 • EI Derecho prohibe
la realizaci6n de acciones dirigidas por la voluntad deI sujeto a la
produccion de la lesion de un bien juridico 0 que no respondan al
cuidado objetivamente debido y no puede valorar positivamente la
producci6n de resultados que esten solo amparados de un modo obje-
tivo y casual en una causa de justificaci6n. DeI mismo modo que no basta
con que al desvalor de la acci6n siga la producci6n de un resultado
para que quede constituido 10 injusto de los delitos dolos os 0 culposos,
sino que es preciso que entre ellos exista una relaci6n interna'7. EI
desvalor deI resultado no puede fundamentarse ni quedar excluido
con independencia deI desvalor 0 el valor de la acci6n'8. La soluci6n
alternativa que ofrecen Mir Puig y Cobo deZ RosaZ/Vives Ant6n'9 de
apreciar, en estos casos, una eximente incompleta (causa de justifica-
don incompleta) corno atenuante (nO 1 0. deI art. gO) no me parece
viable, pues la apreciacion de eximentes incompletas exije la COl1-
U Vease tambien, en este sentido, Mir Puig, adiciones a la traducci6n deI
Tratado de Derecho Penal, Parte General, de Jescheck, vol. I, pag.457; en su
libro Funci6n de la pena y teoria deI delito en el Estado social y democratico
de Derecho, pag. 89, se inclinaba, en cambio, por la soluci6n de 1a tentativa.
45 Vease, en este sentido, Stratenwerth, Strafrecht, Allg. Teil, I, n° 493,
pag.151; Jescheck, Lehrbuch, pags. 264 - 5 (Tratado, vol. I, pag.448) y Mau-
rach/Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1, pags. 333 - 4, n° 34. Se trataria de
una analogia in bonam partern, pues daria 1ugar a 1a exc1usi6n de 1a pena
deI delito consumado, corno sefiala, con raz6n, Jescheck, Lehrbuch, pag.264,
nota 33 (Tratado, vol. I, pag. 449, nota 33).
45 Vease mi Cmso, Capitu10 XVII, pags. 417 - 18.
47 Vease mi Curso, Capitu10 XVI, pags. 394 - 5, Capitulo XVII, pags. 428 y ss.
Y 448 y mi articulo EI tipo de 10 injusto de los deli tos de acci6n culposos,
Anuario de Derecho Penal y Ciencias Penales, 1983, pags. 502 y ss.
48 Huerta TociZdo considera que la concurrencia de las circunstancias
objetivas que sirven de base a las causas de justificaci6n no exc1uye sino
que s610 disminuye el desvalor deI resultado deI delito doloso consumado,
siendo este desvalor deI resultado disminuido similar al que, segun ella, con-
curre en la tentativa imposible (Vease, a este respecto, mis observaciones
criticas en la nota 134 de mi Curso, Capitulo XVII). Huerta se inclina, por
ello, por la aplicaci6n de la pena de la tentativa; vease Sobre el concepto de
la antijuridicidad, pags. 121 y ss.
40 Vease Mir Puig, adiciones a la traducci6n deI Tratado de Derecho Penal,
Parte General, de Jescheck, vol. I, pag.457 y eobo deZ Rosal/Vives Anton,
Derecho Penal, Parte General, 111, pag. 63, nota 12.
Las causas de justificaci6n en el derecho penal espaiiol 455

currencia de los elementos esencia1es de 1a eximente respectiva50 y


dada 1a concepcion de 10 injusto que inspira nuestro C6digo, en la que
se distingue un desvalor de 1a acciOn y un desvalor deI resultado, es
preciso considerar corno esenciales los elementos subjetivos de las
causas de justificaci6n51 . La falta de estos elementos subjetivos impe-
dira 1a aplicacion de las causas de justificacion comp1etas e incomp1e-
tas y determinara, en principio, 1a responsabilidad deI sujeto por de1ito
consumado (en nuestro ejemp10, por un delito consumado de 1esiones
corporales dolosas)52. Ünicamente cabria aplicar en estos casos una
atenuante por ana10gia (n° 10 deI art. gO), corno sugieren Gaba deZ Ra-
sal/Vives Ant6n 53 •
Cuando e1 sujeto crea erroneamente que concurren los elementos
objetivos que sirven de base a una causa de justificacion (por ejemplo,
la 1egitima defensa) y actue con el elemento subjetivo correspondiente
(animo 0 voluntad de defensa), no queda exc1uida la antijuridicidad
de la conducta5\ ni queda exc1uido 0 compensado el desvalor de la
50 Vease mi Curso, Capitulo XV, pag. 382.

51 Vease tambien en este sentido, Huerta Tocildo, Sobre el contenido de la


antijuridicidad, nota 34, pags. 97 - 8.
52 Consideran tambien que esta es la soluci6n correcta, en la moderna
Ciencia deI Derecho Penal alemana, POl' ejemplo Welzel, Das deutsche Straf-
recht, pags. 83 - 4; Maurach, Deutsches Strafrecht, Allg. Teil, 4" ed. 1971,
pag.305; Hirsch, LK, 9" ed., observaciones preliminares al art. 51, n° 41 Y ss.;
Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, pags.259 y ss.,
y Schmidhäuser, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Studienbuch, pag.135, n° 24
(en las causas de justificaci6n que se basan en la persecuci6n de un fin indi-
vidual).
53 Vease Caba del Rasal/Vives Anton, Derecho penal, Parte General, 111,
pag. 63, nota 12, que sugieren tambien la posibilidad de que el Tribunal haga
uso de la facultad que le confiere el parrafo 2° deI art. 2° si considera la pena
notablemente excesiva.
5' Cordoba Roda considera, basandose en un estudio de la antigua juris-
prudencia deI Tribunal Supremo, que la creencia deI sujeto, racional y fun-
dada, con arreglo a un juicio objetivo de exigibilidad, de que concurren los
requisitos de una causa de justificaci6n, debe dar lug ar a su aplicaci6n y par
tanto, a la exclusion de la antijuridicidad de la conducta; vease Cordoba
Rada, Las eximentes incompletas en el C6digo Penal, pags. 126 y ss., 158 y ss.
y 317 Y ss. Y Comentarios al C6digo Penal, I, pägs. 260 y ss., 272 Y ss. Y 381 y ss.
Vease en contra de la tesis de Cordoba Roda, Diaz Palos, La legitima defensa,
1971, pags. 134 y ss.; Rodriguez Mourullo, Legitima defensa real y putativa en
la doctrina penal deI Tribunal Supremo, pägs. 29 y ss. y Gimbernat Ordeig,
EI estado de necesidad. Un problema de antijuridicidad, en Estudios de De-
recho Penal, 2" ed. 1980, pag. 159, nota 15. EI Tribunal Supremo ha abando-
nado ya, afortunadamente, el criterio de equiparar la creencia racional y
fundada en la presencia de los requisitos de una causa de justificaci6n con su
real presencia; equiparaci6n que se advierte, par ejemplo, en relaci6n con la
legtima defensa, en las sentencias de 14 de abri! de 1887, 30 de mayo de 1935,
29 de setiembre de 1942 (A. 1072) 22 de diciembre de 1947 (A. 1451) Y 28 de
junio de 1962 (A. 3087), y en relaci6n con la causa de justificaci6n deI cum-
plimiento de un deber, deI n° 11 deI art. 8" en las sentencias de 9 de enero
de 1899, 11 de febrero de 1919 y 10 de abri! de 1959 (A. 1309). Vease sobre
el cambio de orientaci6n jurisprudencial Magaldi, La legitima defensa en
456 J ose Cerezo Mir

accion55 , sino que estaremos ante un supuesto de error de prohibi-


cion, que dara lugar a una disminucion 0 exclusion de la culpabilidad,
segun fuera vencible 0 invencible56 (parrafo tercero deI art 6° bis a)
de nuestro Codigo penal). Los elementos objetivos de las causas de
justificacion deben concurrir realmente, sin perjuicio de que, en al gun
caso, para constatar su presencia el juez deba realizar un juicio ex
ante colocandose en Ia posici6n deI autor, por ejemplo para determinar
si el medio era 0 no racionalmente necesario para impedir 0 repeler Ia
agresion, en la Iegitima defensa ö7 .

la Jurisprudencia espaiiola, pags. 134 y ss. Rodriguez Mourullo, Legitima


defensa real y putativa en la doctrina penal deI Tribunal Supremo, pags.
41 - 2, 66 - 68 y 75 Y ss. En la legitima defensa putativa, el Tribunal Su-
premo, en su moderna jurisprudencia, excluye la culpabilidad, cuando la
creencia err6nea estaba racionalmente fundada y era ademas invencible
personalmente para el sujeto; vease, a este respecto, Rodriguez Mourullo,
Legitima defensa real y putativa en la doctrina penal deI Tribunal Su-
premo, pags. 87 y ss. y las sentencias deI Tribunal Supremo, de 4 de julio
de 1978 (A.2791), 19 de diciembre de 1979 (A.4623), 20 de marzo de 1980
(A. 1168), 21 de abri! de 1980 (A. 1459), 26 de octubre de 1982 (A. 5692) Y 1 de
diciembre de 1982 (A.7360).
55 Vease mi Curso, Capitul0 XV, pag.379. Al considerar Zielinski que 10
injusto de los deli tos de acci6n dolosos y culposos se agota en el desvalor
de la acci6n y estimar, por otra parte, que la creencia err6nea en la con-
currencia de los elementos objetivos de las causas de justificaci6n excluye
el desvalor de la acci6n de los delitos de acci6n dolosos y si el sujeto habia
examinado a conciencia, conforme a deber, Ia posible concurrencia de
dichos elementos, queda excluido, ademas, el desvalor de la accion de los
delitos culposos, llega a una concepci6n esencialmente subjetiva de las causas
de justificacion; vease Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Un-
rechtsbegriff, pags. 218 y ss., 266 - 7 Y 268 Y S5. Vease la acertada critica
de esta concepcion esencialmente subjetiva de la justificacion que realiza
Stratenwerth, en: Zur Relevanz des Erfolgsunwertes im Strafrecht, Fest-
schrift für Schaffstein, 1975, pägs. 189 y ss.
58 Vease mi articulo, La conciencia de la antijuridicidad en el Codigo
Penal espaiiol, Revista de Estudios Penitenciarios, n° 166, 1964, recopilado en
rni libro Problemas fundamentales deI Derecho, 1982, pägs. 74 y ss.
57 Vease, en este sentido, especialmente Rodriguez MouruZlo, Legitima
defensa real y putativa en la doctrina penal deI Tribunal Supremo, pags. 38 - 9.
En la Ciencia deI Derecho penal alemana es opinion casi unänime que solo
debe juzgarse ex ante, con un criterio objetivo, la concurrencia de los ele-
mentos de las causas de justificacion que impliquen un pronostico; vease, por
ejemplo, Jescheck, Lehrbuch, päg.266 (Tratado, vol. I, päg.450); Lenckner, en:
Schönke/Schröder, observaciones preliminares al art. 32, n° 20, päg.391 y
Gallas, Zur Struktur des strafrechtlichen Unrechts begriffs, lug. cit., pägs.
178 - 9. Unicamente Armin Kaufman considera que debe enjuiciarse ex ante
la concurrencia de todos los elementos objetivos que sirven de base a las
causas de justificacion, con arreglo a un criterio, posiblemente diferenciador,
que no llega aprecisar; vease, Armin Kaufman, Zum Stande der Lehre vorn
personalen Unrecht, Festschrift für Welzel, 1974, pags. 401 - 2. En nuestro
pais se ha adherido al criterio de Armin Kaufmann, argumentando con base
en los fines preventivos deI Derecho Penal, Mir Puig, Funcion de la pena y
teoria deI deUto en el Estado social y democrätico de Derecho, pag. 88. Para
Jakobs, el enjuiciamiento ex ante 0 ex post depende en cada caso de quien
deba soportar el riesgo deI error; vease Strafrecht, Allgemeiner Teil, pägs.
289 y ss.
CLAUS ROXIN

Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand

1.
Wir haben früher den defensiven Notstand nur in Gestalt der Sach-
wehr (§ 228 BGB) gekannt; auch die repräsentative Darstellung unseres
Allgemeinen Teils durch J escheck 1 räumt ihm nur in dieser Form einen
eigenen Abschnitt ein. Die praktische Bedeutung der Sachwehr ist ge-
ring und beschränkt sich im wesentlichen auf die Abwehr angreifender
Hunde. Denn unbewegliche Sachen bringen nur selten Gefahren mit
sich; und wenn sie es tun (z. B. bei Explosionsgefahr), ist die in § 228
BGB allein geregelte "Beschädigung" oder "Zerstörung" wieder nur
selten ein erforderliches oder auch nur geeignetes Mittel zu ihrer Ab-
wendung.
Ein defensiver Notstand, der andere als Sachangriffe betraf, schien
schwer vorstellbar. Denn alle Gefahren, die von Menschen drohen, sah
man als durch die Notwehr geregelt an. Noch Ortrun Lampe, die
eigentliche "Erfinderin" des "defensiven übergesetzlichen Notstandes"2
als eines in Analogie zu § 228 BGB zu bildenden selbständigen Recht-
fertigungsgrundes, hielt den Anwendungsbereich ihrer neuen Katego-
rie für "sehr beschränkt". "Geht nämlich die Gefahr von einem Menschen
aus, so ist die Tat bereits aus dem Gesichtspunkt der Notwehr gerecht-
fertigt; geht die Gefahr von einer Sache aus, greift § 228 BGB ein. Ein
Rückgriff auf den defensiven übergesetzlichen Notstand ist demnach in
der Regel nur erforderlich, wenn die Gefahr weder von einem Men-
schen noch von einer Sache ausgeht, also vor allem bei einer Gefähr-
dung durch die Leibesfrucht oder durch Gegenstände, die nicht Sachen
im Sinne des § 90 BGB sind, wie etwa Strahlungen3 ." Da der Fall einer
Abwehr von Strahlungen noch nicht aktuell geworden ist und Gefähr-
dungen durch die Leibesfrucht heute in §§ 218 ff. StGB eine Spezial-
regelung erfahren haben, schien für einen solchen Rechtfertigungs-
grund kein besonderes Bedürfnis zu bestehen.
Aber inzwischen hat sich die Situation verändert, weil erkannt wor-
den ist - was lange übersehen worden war - daß bei weitem nicht

1 Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 3. Auf!. 1978, § 33 II, S. 285 f.


2 Defensiver und aggressiver übergesetzlicher Notstand, NJW 1968, 88 fr.
3 (Wie Anm. 2), S. 91.
458 Claus Roxin

alle von Menschen ausgehenden Gefahren mit Hilfe des Notwehrrech-


tes abgewehrt werden dürfen. Bei der Gewinnung dieser Einsicht
haben zwei Entwicklungen zusammengewirkt: das Vordringen der per-
sonalen Unrechtslehre und eine präzisere Analyse der Notwehrbe-
stimmung.
Man darf heute die Auffassung als herrschend bezeichnen, daß das
strafrechtliche Unrecht zwar in der Regel einen Erfolgsunwert erfor-
dert, sich in diesem aber nicht erschöpft, sondern außerdem auch einen
Handlungsunwert voraussetzt. überträgt man diese Lehre auf das Merk-
mal des "rechtswidrigen Angriffs" und verlangt auch von diesem einen
Handlungsunwert, so muß ein Verhalten zwar nicht vorsätzlich sein, um
ein Notwehrrecht auszulösen, aber es muß doch wenigstens den Hand-
lungsunwert eines fahrlässigen Delikts aufweisen. Daraus folgt dann,
daß jedenfalls kein rechtswidriger Angriff vorliegt, wenn die von einem
Menschen ausgehende Gefahr keine Handlungsqualität aufweist oder
die objektiv im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht verletzt. Der
Kraftfahrer, der von einem anderen Wagen angefahren und im Wege
der vis absoluta auf die gegenüberliegende Fahrbahn geschleudert
wird, wo er zu einer Gefahr für entgegenkommende Autos wird, würde
dann, weil er nicht einmal gehandelt hat, ebensowenig ein Notwehr-
recht auslösen wie ein anderer, der trotz sorgfaltsgemäßer Fahrweise
für einen plötzlich auftretenden Fußgänger zur Bedrohung wird. Da
man von dem Bedrohten jedoch nicht verlangen kann, sich tatenlos
schweren Verletzungen oder gar dem Tode auszusetzen, bietet sich die
Lösung an, ihm ein Abwehrrecht nach den noch näher zu bestimmen-
den Regeln eines defensiven Notstandes zu gewähren.
Freilich ist die bisherige Deduktion nicht zwingend. Denn es besteht
keine systematische Nötigung, die Rechtswidrigkeit des Angriffs nach
den Regeln der strafrechtlichen Unrechtslehre zu bestimmen. So will
z. B. Welzel 4 sogar eigentumsbedrohende Krampfanfälle ohne Hand-
lungsqualität als rechtswidrige Angriffe beurteilen. Jescheck 5 verlangt,
daß der Angriff eine "Handlung" sei, will sich aber für die Rechtswid-
rigkeit im Banne der überlieferten Auffassung mit dem Erfolgsunwert
der von Menschen verursachten Gefahr begnügen. Methodologisch mög-
lich ist eine solche "Spaltung" des strafrechtlichen Rechtswidrigkeits-
begriffes gewiß; doch wer sie vornimmt, trägt die Beweislast für ihre
Notwendigkeit.
Dieser Beweis aber kann nicht gelingen. Denn die Notwehrbestim-
mung selbst verlangt ein personales Unrecht des Angreifers - wenn
auch nicht unbedingt ein strafrechtliches Unrecht - als Voraussetzung

4 Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 85.


(Wie Anm. 1), § 32 II 1 a, S. 271; 1 c, S. 273.
Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand 459

der Notwehr. Es ist nämlich heute fast allgemein anerkannt, daß die
Notwehr nicht nur den Schutz des Angegriffenen bezweckt, sondern
darüber hinaus der "Rechtsbewährung" , d. h. dem general präventiven
Zweck der Behauptung des Rechts gegen das Unrecht, dient 6 ; anders
ließe es sich nicht erklären, daß die Notwehr prinzipiell keine Propor-
tionalität des angerichteten und abgewehrten Schadens, kein Auswei-
chen und keine Herbeiholung obrigkeitlicher Hilfe verlangt. Ist dies
aber richtig, dann können menschliche Bedrohungen, die nicht einmal
Handlungsqualität aufweisen oder nicht auf einer Verletzung der im
Verkehr erforderlichen Sorgfalt beruhen, schlechterdings kein Not-
wehrrecht begründen: Was keine Handlung, dem Menschen also nicht
einmal als Person zurechenbar ist, fordert keine Rechtsbewährung her-
aus; und gegenüber Handlungen, die sich im Rahmen der rechtlichen
Gebote halten, braucht sich das Recht selbstverständlich auch nicht mit
generalpräventiver Intention zu behaupten.
Damit ist - wenigstens für die beiden genannten Fälle - dargetan,
daß es einen defensiven Notstand außerhalb des § 228 BGB tatsächlich
gibt. Einen dritten Fall bildet die Perforation, die Tötung eines Kindes
während der Geburt mit dem Ziel, eine ernste Gefahr für Leben oder
Gesundheit der Mutter abzuwenden. Er gleicht strukturell unserer
ersten Konstellation, der von einem Menschen ausgehenden Gefahr
ohne Handlungsqualität; nur die eigenständige Typik des Lebenssach-
verhaIts rechtfertigt seine gesonderte Anführung.
Eine vordringende Mindermeinung7 will auch noch die Angriffe
schuldloser oder - zum Teil - auch der in erheblich verminderter
Schuld handelnden Menschen aus dem Notwehrrecht herausnehmen.
Dann würde auch diese praktisch wichtige Fallgruppe dem defensiven
Notstand zuzuordnen sein. Das Hauptargument dieser Auffassung liegt
in der These, daß sich das Recht auch gegenüber ganz oder fast ver-
antwortungsunfähigen Menschen nicht zu "bewähren" brauche, das Not-
wehrrecht also ihnen gegenüber nicht am Platze sei. Aber dem ist nicht
zu folgen s. Denn erstens ist es mit dem Wortlaut des § 32 StGB nicht zu
vereinbaren, als "Angriff" oder "rechtswidrigen" Angriff nur einen
schuldhaften Angriff anzusehen oder selbst diesen - bei wesentlich
geminderter Schuld - noch nicht einmal genügen zu lassenD.

e Ich darf zur Begründung auf meine Abhandlung über "Die ,sozialethi-
schen Einschränkungen' des Notwehrrechts" , ZStW 93 (1981), S. 68 ff. ver-
weisen.
7 Vgl. die Nachweise bei Roxin, ZStW 93 (1981), S. 82 - 84; auch Jakobs,
Strafrecht, Allg. Teil, 1983, 12/16 - 20, S. 316 - 319, hat sich inzwischen - mit
Einschränkungen - dieser Auffassung zugesellt.
8 Näher Roxin (wie Anm. 7).

e Jakobs (wie Anm.7), S.316, Fn.24, meint dem Wortlaut des § 32 da-
durch gerecht werden zu können, daß er - wie andere vor ihm - die Schuld
460 Claus Roxin

Zweitens aber verkennt diese Ansicht auch, daß es bei der Notwehr
nicht um die Rechtsbewährung gegenüber der Person des Täters geht
- die Notwehr hat keinen pönalen Charakter! - sondern um die
generalpräventiv wichtige Behauptung des Rechts gegen die unrechte,
mißbilligte Tat; der gebotenen Schonung des Angreifers wird dadurch
Rechnung getragen, daß das Recht sich in solchen Fällen nur in einer
sozialethisch eingeschränkten, auf die Schutzbedürfnisse des Angegrif-
fenen reduzierten Form behaupten darf. Ich lasse diese Fallgruppe
daher im folgenden unter den Konstellationen, die für den defensiven
Notstand in Betracht kommen, beiseite.
Aber es gibt noch einen weiteren Fall, in dem menschliches Verhal-
ten Gefahren schaffen kann, ohne dem Notwehrrecht zu unterliegen;
der noch nicht gegenwärtige, sondern erst bevorstehende Angriff 10 • Der
Fall ist früher meist nur bei "Dauergefahren" beachtet worden, bei
denen schon verübte Attacken - etwa durch den mißhandelnden Fami-
lientyrannen - mit einiger Sicherheit auf bevorstehende weitere An-
griffe schließen ließen. Die Rechtsprechung hat ihrer durch eine Ent-
schuldigung (§ 35 StGB) Herr zu werden versucht; noch der Bundes-
gerichtshof ist diesen Weg gegangenll • Doch es mehren sich die Stim-
men, die unter gewissen Voraussetzungen schon für die Rechtfertigung
vorbeugender Abwehrmaßnahmen gegen noch nicht gegenwärtige An-
griffe eintreten. Dafür bietet sich neben dem von Suppert 12 in Analo-
gie zu § 32 StGB entwickelten Institut der Präventiv-Notwehr ebenfalls
der Defensiv-Notstand an.
Es sind also vier typische Fallgruppen, die unter dem Gesichtspunkt
eines durch § 228 BGB nicht erfaßten defensiven Notstandes gegenüber
von Menschen ausgehenden Gefährdungen untersucht werden müssen:
die Bedrohung durch Nicht-Handlungen (lU, 1) oder sorgfaltsgemäße

schon zur Voraussetzung des "Angriffs" macht. Aber dann hätte der Gesetz-
geber in § 32 nur von einem "Angriff" anstatt von einem "rechtswidrigen
Angriff" sprechen müssen. Der heutige Wortlaut impliziert die Alternative
eines rechtmäßigen Angriffs, den man sich nicht gut schuldhaft vorstellen
kann; denn der Gedanke, daß der Gesetzgeber ein schuldhaft-rechtmäßiges
Verhalten als möglich betrachtet hätte, kann ausgeschlossen werden. Daher
kann man auch die Rechtswidrigkeit des Angriffs nicht "als Hinweis auf das
Erfordernis mangelnder Rechtfertigung eines schuldhaften Verhaltens" lesen,
wie Jakobs meint. Daß ein schuldhafter Angriff zuerst rechtswidrig sein
müsse, war dem Gesetzgeber vielmehr selbstverständlich. Es ist völlig ein-
deutig, daß er ein Notwehrrecht auch gegen schuldlos handelnde Personen
gewähren wollte (BT-Drucksache IV/650, S. 156).
10 Er wird schon von Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 102 f.,
und beiläufig auch von Ortrun Lampe (wie Anm.2), S.91, Fn.47, in diesem
Zusammenhang genannt.
11 Zuletzt in der Entscheidung des merkwürdigen "Spanner"-Falles, NJW
1979,2053.
12 Studien zur Notwehr und "notwehrähnlichen" Lage, 1973.
Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand 461

Handlungen (111, 2), die Perforation (111, 3) und der erst bevorstehende
Angriff (111, 4). Dazu kommen die Konstellationen, auf die § 228 BGB
ebenfalls nicht zutrifft, bei denen die Gefahr aber nicht von Menschen
ausgeht: etwa die Abtreibungsindikationen oder Bedrohungen, die von
Strahlungen herrühren. 8ie sind - weil sie teils 8pezialregelungen
erfahren haben, teils selten sind - in unserem Zusammenhang nicht
näher zu behandeln, sondern nur am Rande zu erwähnen.

11.
Die rechtliche Regelung des Defensivnotstandes ist weithin unge-
klärt. Dabei geht es um die zweifache Frage, welcher Rechtfertigungs-
grund überhaupt in Betracht kommt (11) und unter welchen Voraus-
setzungen er ggf. zur Rechtfertigung führen kann (111). Wir beginnen
mit der ersten Frage, deren Beantwortung den Rahmen liefert, inner-
halb dessen die zweite Frage nach den konkreten Rechtfertigungserfor-
dernissen gelöst werden kann.
Den zentralen 8treitpunkt der gegenwärtigen Diskussion um den
defensiven Notstand bildet das Problem, ob für ihn ein eigener neuer
Rechtfertigungsgrund entwickelt werden muß, oder ob es sich nur um
einen besonderen Fall des Notstandes nach § 34 8tGB handelt. Als neue,
übergesetzliche Rechtfertigungsgründe werden ein in Analogie zu § 228
BGB zu entwickelnder "Defensivnotstand"13 oder ein Rechtfertigungs-
grund der "notstandsähnlichen Lage"l4 angeboten. Für einzelne Fall-
gruppen (den erst bevorstehenden Angriff oder die Kollision von
"Leben gegen Leben") konkurrieren damit der schon erwähnte, eben-
falls außergesetzlich (in Analogie zu § 32 8tGB) gebildete Rechtferti-
gungsgrund der "Präventivnotwehr" und die rechtfertigungsähnliche
Denkfigur des "rechtsfreien Raumes"15. Indem ich die Behandlung der
beiden letzten, nur für Teilgebiete relevanten Lösungsvorschläge auf
die spätere Erörterung der jeweiligen Spezialprobleme verweise, be-
schäftige ich mich zunächst mit der Grundfrage, ob wir für den Defen-
sivnotstand einen neuen, übergesetzlichen Rechtfertigungsgrund brau-
chen oder ob er schon durch § 34 8tGB einer angemessenen Regelung
zugeführt werden kann.

1. Die Idee eines übergesetzlichen Defensivnotstandes stützt sich auf


grammatische, logische und teleologische Argumente. Sie kommen

13 Zuerst Ortrun Lampe (wie Anm. 2), S. 91. Mit Nachdruck dann vor allem
Hruschka, Festschrift für Dreher, 1977, S. 189 ff., 203 ff.; ders., JuS 1979, 385 ff.,
391 f.; ders., NJW 1980, 21, 22; ders., Strafrecht nach logisch-analytischer
Methode, 1983, S. 78 ff.; teilweise auch Jakobs (wie Anm. 7), 13/46 ff., S. 356 f.
14 Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983,
S. 337 ff.
15 Vgl. vor allem Arthur Kaufmann, Festschrift für Maurach, 1972, S. 327ff.
462 Cl aus Roxin

überein in dem Ergebnis, daß man mit § 34 StGB diesen Fällen nicht
gerecht werden kann. Ausgangspunkt dieser Annahme ist der einleuch-
tende Gedanke, daß der Bedrohte in den geschilderten Fällen die Ge-
fahr nicht hinzunehmen braucht, sondern sich gegen sie schützen darf.
Das ist oftmals nur möglich durch eine Verletzung des Gefahrträgers,
im äußersten Fall sogar nur durch Aufopferung seines Lebens. Es
kollidieren also in solchen Fällen auf Seiten des Gefährdenden und des
Bedrohten Gesundheit und Leben. Wenn man sich den Fall so denkt,
daß jemand eine erhebliche Gefahr nur durch eine schwere Verletzung
oder gar nur dadurch, daß er den Tod des Gefährdenden verursacht,
von sich abhalten kann, dann setzt eine Rechtfertigung nach § 34 vor-
aus, daß "das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich über-
wiegt". Das geschützte Rechtsgut ist aber nicht wesentlich überwiegend.
Es überwiegt manchmal (bei der Abwehr einer schweren Beeinträchti-
gung durch eine nicht ganz so schwere) ein wenig, ist meistens gleich-
und nicht selten sogar geringerwertig.
In dem anschaulichen "Spanner"-Fall I6 hatte ein Ehemann einen
fliehenden Unbekannten ins Gesäß geschossen, weil dieser mehrmals
nachts in die Wohnung und sogar in das Schlafzimmer der Eheleute
eingedrungen war und sie dadurch in Angst und Schrecken versetzt
hatte; polizeiliche Hilfe war nicht zu erlangen gewesen, so daß dem
erneuten Erscheinen des "Spanners" nur durch nachhaltige Abschrek-
kung begegnet werden konnte. Der Ehemann hatte also zum Schutze
von Hausrecht und Privatsphäre die Körperintegrität des Spanners
nicht unerheblich verletzt. Die geschützten Rechtsgüter mögen wegen
der Nachhaltigkeit und der beunruhigenden Art des Angriffsverhaltens
nahezu gleichwertig gewesen sein, von einem "wesentlichen" überwie-
gen der geschützten Rechtsgüter kann man jedoch nicht sprechen. Noch
deutlicher wird das Problem bei der Perforation. Wenn ein Kind wäh-
rend der Geburt getötet wird, um einen schweren Körperschaden von
der Mutter abzuwenden, dann ist, sofern das Kind andernfalls am
Leben geblieben wäre, das geschützte Rechtsgut gegenüber dem beein-
trächtigten zweifelsfrei das geringerwertige.
Aus diesem Befund leiten die Befürworter eines übergesetzlichen
Defensivnotstandes die Unanwendbarkeit des § 34 her. Der dort aufge-
stellte Abwägungsmaßstab passe nur für den aggressiven, in unbeteiligte
Rechtsgüter anderer eingreifenden, nicht für den defensiven Notstand,
bei dem die Gefahr vom Rechtsgutsträger selbst ausgehe. Es sei "in § 34
StGB keine Rede davon, daß die Interessen einer Person deswegen
weniger wertvoll sind, weil die Person gefährlich ist. Einen Rechtssatz
dieser Art gibt es nicht, und es kann ihn auch nicht geben", sagt

16 Wie Anm. 11.


Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand 463

Hruschka 17 • Ebenso hält Günther 1S die Heranziehung des § 34 zur Lö-


sung solcher Fälle für ausgeschlossen: "Das von § 34 S.l StGB postu-
lierte Wertverhältnis wird damit geradezu in sein Gegenteil verkehrt".
Für J akobs 19 gilt die "strenge Voraussetzung", wonach das geschützte
Interesse "wesentlich überwiegen" müsse, "nur, wenn in Güter einer
Person eingegriffen wird, die für den Konflikt nicht zuständig ist".
Hruschka 20 hat sogar darzutun versucht, daß es nicht nur gegen
Wortlaut und Sinn der Vorschrift verstoße, eine Rechtfertigung in Fäl-
len des Defensivnotstandes auf § 34 zu stützen, sondern daß dies sogar
logisch unmöglich sei. Er bildet den Fall, daß A, um das vom Versinken
bedrohte Spielzeugschiff eines Kindes X zu retten, den Bootsschuppen
des E aufbrechen will; er will auf diese Weise an das Boot des E kom-
men, mit Hilfe dessen er das Spielzeugschiff vor dem Untergang be-
wahren will. E verhindert das, indem er A festhält. Strafrechtlich kom-
men bei E eine Nötigung durch Festhalten des A sowie eine Sachbe-
schädigung im Hinblick auf das Spielzeugschiff in Betracht, weil E
durch Verhinderung eines rettenden KausalverIaufes den Untergang
des Spielzeugschiffes bewirkt hat. Natürlich erzielt Hruschka das Er-
gebnis, daß E in beiden Fällen gerechtfertigt ist. Die Nötigung sei durch
Notwehr gedeckt. A habe kein Eingriffsrecht aus § 34 StGB, weil das
von ihm verfolgte Interesse des X an der Rettung des Spielzeugschiffes
das Interesse des E an der Unversehrtheit seines Schlosses und dem
ungestörten Besitz seines Bootes nicht wesentlich überwiege, sondern
nur "etwa gleichwertig" sei. Dagegen sei die Sachbeschädigung des E
nur mit Hilfe eines Defensivnotstandes und nicht nach § 34 StGB zu
rechtfertigen, weil auch das Interesse des E das Interesse des X an der
Rettung seines Schiffes nicht wesentlich überwiege. Gestatte man hier
dem E zur Rechtfertigung seiner Sachbeschädigung eine Berufung auf
§ 34, so müsse man sein Interesse als wesentlich überwiegend beurtei-
len. Das impliziere "die Annahme, daß innerhalb ein und desselben
Paares von gegensätzlichen Interessen gleichzeitig verschiedene Wert-
proportionen bestehen: Gleichzeitig müssen die Interessen gleichwertig
sein und muß das eine Interesse das andere wesentlich überwiegen -
ein logisch ausgeschlossenes Ergebnis".
Der übersprung auf den Defensivnotstand scheint demgegenüber
auch teleologisch entscheidende Vorzüge zu bieten. Denn er enthält
einen Abwägungsmaßstab, der eine Rechtfertigung auch bei Beein-
trächtigung eines höherwertigen Rechtsgutes zuläßt; es genügt, daß der

17 NJW 1980, 22; teilweise wörtlich gleichlautend in: Strafrecht nach


logisch-analytischer Methode, S. 82.
18 (Wie Anm. 14), S. 340.

19 (Wie Anm. 7), 13/46, S. 356.

20 Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, S. 72 - 83.


464 Claus Roxin

"Schaden nicht außer Verhältnis zu der Gefahr steht". Der Umstand,


daß die Gefahr aus der Sphäre des durch die Abwehr Geschädigten
stammt, ist nicht nur bei § 228 BGB, sondern in allen Fällen des Defen-
sivnotstandes gegeben. Die analoge übertragung des hier vorzufinden-
den Abwägungsmaßstabes auf einen übergesetzlichen Defensivnotstand
liegt nahe. Der neue Rechtfertigungsgrund würde gleichberechtigt
neben den aggressiven Notstand des § 34 treten, der damit seine Stellung
als zentrale Notstandsvorschrift einbüßen würde.

2. Diese Konzeption wirkt auf den ersten Blick bestechend. Von ihrer
Richtigkeit habe ich mich gleichwohl nicht überzeugen können. Es
trifft sicher zu, daß die Interessenabwägung beim defensiven Notstand
zu einem anderen Ergebnis führt als beim aggressiven und daß dieser
ohne weiteres einleuchtende Befund schon früh in § 228 BGB einen
positiv-gesetzlichen Ausdruck gefunden hat. Lenckner, der dem defen-
siven Notstand erstmals eine über § 228 BGB hinausreichende Auf-
merksamkeit geschenkt hat 21 , hat diesem Gesichtspunkt aber immer nur
im Rahmen des § 34 StGB Rechnung getragen und einen zusätzlichen
Rechtfertigungsgrund als "überflüssige Konstruktion"22 abgelehnt. Nicht
wenige Autoren sind ihm, wenn auch ohne nähere Auseinandersetzung
mit der Problematik, gefolgt 23 .
In der Tat ist entgegen dem namentlich von Hruschka begründeten
Standpunkt die Behandlung des Defensivnotstandes im Rahmen des
§ 34 StGB nicht nur möglich, sondern auch teleologisch geboten. Die
Behauptung, § 34 passe nicht auf den Defensivnotstand, orientiert sich
zu sehr an der Güterabwägungstheorie, die dem früheren "übergesetz-
lichen Notstand" vielfach zugrundegelegt wurde und von der auch die
ersten Entwürfe zum neuen StGB noch ausgegangen waren24 ; denn es
ist gewiß so, daß beim Defensivnotstand das geschützte Rechtsgut das
beeinträchtigte meist nicht wesentlich überwiegt und oft sogar gerin-
gerwertig ist. Aber der Gesetzgeber ist schon bei der zweiten Lesung
des E 1962 von der Idee einer abstrakten Güterabwägung abgekommen
und hat sie durch eine Interessenabwägung ersetzt, bei der sämtliche

21 (Wie Anm. 10), S. 102/103, 136/137.


22 SchönkelSchröder/Lenckner, StGB, 21. Auf!. 19S2, § 34 Rdn. 30.
23 Vgl. etwa Blei, Allg. Teil, lS. Auf!. 19S3, S.167; Hirsch, in: LK, 9. Aufl.
1974, Rdn. 76 vor § 51; ders., JR 19S0, 117; Jescheck (wie Anm. 1), § 33 IV
3 c, S. 291; Küper, Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichten-
kollision im Strafrecht, 1975, S.72, Fn.161; Lackner, 15. Auf!. 19S3, § 34 2 e
cc; Samsan, in: SK, 3. Aufl. 19S1, § 34 Rdn. 16; Schmidhäuser, Studienbuch,
19S2, 6/41, S. 142; Seelmann, Das Verhältnis von § 34 StGB zu anderen Recht-
fertigungsgründen, 1975, S. 34 f.; Wessels, Allg. Teil, 13. Auf!. 19S3, § S IV 3,
S.76.
24 Vgl. Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommis-
sion, 2. Bd., 1955, Anhang Nr. 23 - 2S.
Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand 463

in der konkreten Situation relevanten Entscheidungsgesichtspunkte be-


rücksichtigt werden sollten25 • Nach der Fassung, die schließlich Gesetz
geworden ist, sind, wie Schatheutle 26 damals sagte, "die Interessen der
Betroffenen nach der konkreten Lage des Falles abzuwägen". Eine
solche Abwägung braucht keineswegs immer zu ergeben, daß die In-
teressen dessen schwerer wiegen, dessen Rechtsgut das wertvollere ist;
vielmehr ist der Wert des Rechtsgutes nur ein Gesichtspunkt unter
vielen anderen, die in die Abwägung einzubeziehen sind. Zwar war der
Defensivnotstand aus den anfangs geschilderten Gründen damals noch
kein Diskussionsthema. Daß aber das Ergebnis der Interessenabwägung
nicht durch das Wertverhältnis der kollidierenden Rechtsgüter präjudi-
ziert wird, ist deutlich erkannt worden, wie die Begründung des E 1962
zeigt27 : "Bei dieser konkreten Betrachtungsweise ist es möglich, daß
unter Umständen auch einmal ein Rechtsgut, das seinem absoluten
Range nach höherwertig ist, gegenüber einem - absolut betrachtet -
geringwertige ren Gut dann zurücktritt, wenn das Interesse, das letztere
zu schützen, nach den Besonderheiten des einzelnen Falles gegenüber
dem Interesse, das andere unbeeinträchtigt zu lassen, wesentlich über-
wiegt."
Wenn also Hruschka sagt 28 , es sei "in § 34 StGB keine Rede davon,
daß irgend welche Interessen deswegen weniger wertvoll sind, weil die
Notstandsgefahr gerade von ihnen ausgeht", so ist das irrig. Denn wenn
Interessen nicht ein für allemal in abstracto in ihrem Wert bestimmt
werden, sondern ihr Wertverhältnis von "der konkreten Lage des
Falles" abhängt, kann der Umstand, daß die Gefahr vom Träger des
höherwertigen Rechtsgutes ausgeht, sehr wohl dazu führen, daß dem
Träger des geringerwertigen Rechtsgutes ein wesentlich höheres In-
teresse an seiner Erhaltung zugesprochen wird. Auch das logische Para-
dox, mit dem Hruschka eine solche Möglichkeit widerlegen Will 29 , läßt
sich leicht auflösen. Wenn man nämlich erkennt, daß der Eingriff in
den autonomen Freiheitsbereich eines an der Gefahr Unbeteiligten, wie
er für den aggl"essiven Notstand kennzeichnend ist, einen bei der In-
teressenabwägung erheblichen, zu Lasten des Eingreifenden ins Ge-
wicht fallenden Faktor abgibt, dann mögen in Hruschkas Beispiel vom
Spielzeugschiff zwar die kollidierenden Rechtsgüter in "etwa gleich-
wertig" sein; das ändert aber nichts daran, daß A beim Angriff auf E
ein erheblich geringerwertiges Interesse verfolgt, während das von E

25 Vgl. Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechts kommis-


sion, 12. Bd., 1959, S. 152 - 184, Anhang A, Nr. 36 - 38 (S. 495 - 501).
26 (Wie Anm. 25), S. 175.

27 BT-Drucksache IV!650, 1962, S. 159.

28 Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, S. 82.

29 Oben nach Anm. 20.

30 FestSchrift für H.-H. Jescheck


466 Cl aus Roxin

durch Festhalten des A "geschützte Interesse das beeinträchtigte we-


sentlich überwiegt". Die aus § 34 StGB zu gewinnende Lösung ist also
logisch wie axiologisch gleich einwandfrei.
Die Abwägungsformel des heutigen § 34 S. 1 stellt nicht darauf ab,
wessen Rechtsgut das höherwertige, sondern wessen Interesse das
schutzwürdigere ist. Bei Beurteilung der Schutzwürdigkeit spielen
neben dem Wert der kollidierenden Rechtsgüter auch sonstige rechts-
gutsunabhängige Faktoren eine Rolle: z. B. die Persönlichkeitsauto-
nomie der Betroffenen, etwaige besondere Pflichten oder das Verschul-
den des Notstandstäters und auch die individuelle Bedeutung des abge-
wandten und des verursachten Schadens für die jeweils Betroffenen.
Wie sollte da ausgerechnet der Umstand, aus wessen Sphäre die Gefahr
herrührt, bei der Abwägung der Interessen nicht berücksichtigt werden
dürfen? Im Grunde hat der Gesetzgeber durch den übergang von der
abstrakten Güter- zur konkreten Interessenabwägung die Zwecktheorie
schon in § 34 S. 1 übernommen30 ; was aber das rechte Mittel zum rech-
ten Zweck ist, kann nur unter Berücksichtigung aller entscheidungs-
relevanten Topoi erkannt werden.
Alles Bisherige beweist nur, daß es möglich ist, den Defensivnotstand
nach § 34 StGB zu behandeln. Es ist aber weitergehend auch nötig, weil
die Analogie zu § 228 BGB keinen geeigneten Lösungsmaßstab bietet.
Er enthält für die hier notwendige Abwägung nur einen einzigen,
allerdings wichtigen Gesichtspunkt: den Gedanken, daß die Herkunft
der Gefahr aus der Sphäre des Eingriffsopfers Berücksichtigung finden
sollte31 • Aber das Abwägungsergebnis des § 228 BGB paßt auf den
durch Menschen verursachten Defensivnotstand nicht, weil er entschei-
dend dadurch beeinflußt ist, daß das Eingriffsgut eine Sache ist32 • Man

30 Der Gesetzgeber hat das selbst nicht mit letzter Klarheit durchschaut;
denn er bringt in § 34 S. 2 die "Zwecktheorie" noch ein weiteres Mal ins Spiel.
Lenckner, der sich um die Analyse des § 34 entscheidende Verdienste erwor-
ben hat, nennt deshalb die Angemessenheitsklausel leer laufend (zuletzt
SchönkelSchröder/Lenckner, StGB, 21. Auf!. 1984, § 34 Rdn. 46). Daran
scheint mir richtig, daß alle Abwägungsgesichtspunkte in den Satz 1 ein-
gehen, auch soweit sie die "Gesamtrechtsordnung" betreffen (anders insoweit
Jescheck [wie Anm. 1], § 33 IV 3 d, S. 291 f.), denn die Individualinteressen
werden überhaupt nur nach den Maßstäben der Gesamtrechtsordnung abge-
wogen. Für Satz 2 bleibt aber die Prüfung der Abwägung auf ihre Verein-
barkeit mit der Menschenwürde. Diese gehört gerade nicht zu den sich wech-
selseitig relativierenden Abwägungsgesichtspunkten, sondern bezeichnet die
Grenze, an der jede Abwägung ihr Ende findet.
31 Selbst die Relevanz dieses Gedankens bestreitet Jakobs (wie Anm.7),
indem er ihn nur berücksichtigen will, wenn der Mensch, der abgewehrt wird,
die Gefahr zu verantworten hat 03/46 ff., S. 356 f.); damit würden drei unse-
rer vier Fallgruppen (Angriffe ohne Handlungsqualität oder Rechtswidrig-
keit, Perforation) von vornherein aus dem Einzugsbereich des defensiven
Notstandes herausfallen.
32 Darauf weist auch Günther (wie Anm. 14), S. 339, hin.
Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand 467

wird doch schwerlich mit Menschen (und noch dazu mit solchen, die in
den meisten Fällen die von ihnen verursachte Situation nicht einmal
zu verantworten haben) so verfahren dürfen wie mit Sachen! Wie sehr
die Lösung des § 228 BGB dadurch beeinflußt ist, daß es sich bei dem
beeinträchtigten Rechtsgut "nur" um eine Sache handelt, läßt sich dar-
aus entnehmen, daß die Abwägung unter strafrechtlichen Aspekten um
keinen Deut anders ausfällt, wenn der Abwehrende die Gefahr ver-
schuldet hat, die Situation also in seiner Sphäre ausgelöst worden und
von ihm zu verantworten ist. Auch wer den fremden Hund durch eine
Mißhandlung in provozierender Weise gereizt hat, darf ihn gemäß § 228
S.l BGB immer noch töten, wenn er den Biß nicht anders abwehren
kann, er ist nur gemäß § 228 S.2 BGB zum Schadensersatz verpflichtet.
Es gibt aber keinen Grund, bei einer von Menschen ausgehenden Ge-
fahr die Interessen des Abwehrenden höher zu bewerten, wenn er der
allein Schuldige an der Notstandslage ist. Im Gegenteil!
Es ist also teleologisch verfehlt, den im Rahmen des § 228 BGB sach-
gerechten Abwägungsmaßstab auf von Menschen ausgehende Not-
standsgefahren zu übertragen. Abgesehen davon, daß es schon prinzi-
piell nicht zulässig sein sollte, Menschen außerhalb der Notwehr bis zur
Grenze der Unverhältnismäßigkeit zu schädigen - die Ausschaltung
des Notwehrrechtes beim Defensivnotstand wäre dann ja auch im prak-
tischen Ergebnis sinnlos -, ist der allein auf die Schadensproportiona-
lität abstellende Maßstab des § 228 BGB aber auch viel zu starr. Für
Sachgefahren haben solche holzschnitt artigen Lösungen ihren Sinn; wo
aber höchstpersönliche Rechtsgüter kollidieren, kann eine Abwägung
nur unter Einbeziehung aller Umstände der konkreten Situation erfol-
gen. Diese aber ermöglicht allein § 34 StGB: Nicht nur ein auslösendes
Verschulden des Abwehrenden, auch etwa die Nähe der Gefahr oder
besondere Pflichtenstellungen können bei der Abwägung nach § 34
StGB berücksichtigt werden, während sie für § 228 BGB keine Rolle
spielen. Auch ist leicht ersichtlich, daß die Falltypen des defensiven
Notstandes - etwa die präventive Abwehr noch nicht gegenwärtiger
Angriffe auf der einen und die Perforation auf der anderen Seite -
zum Teil so unterschiedlich gelagert sind, daß sie sich nicht über den
Leisten einer einheitlichen Lösung schlagen lassen; dazu bedarf es
einer Differenzierung, die in § 34 StGB von vornherein angelegt ist, die
§ 228 BGB aber nicht gestattet.
Man wende nicht ein, daß auch ein in Analogie zu § 228 BGB ge-
bildeter übergesetzlicher Defensivnotstand kein Abklatsch der zivil-
rechtlichen Bestimmung sein, sondern den geschilderten konkreten
Besonderheiten Rechnung tragen solle! Denn erstens würde, wenn
man so verfahren wollte, von der Analogie nicht viel übrig bleiben;
und zweitens würde sich, wenn der abstrakte Schadensvergleich durch
468 Claus Roxin

eine konkrete Interessenabwägung im Stile des § 34 StGB ersetzt


würde, die unbeantwortbare Frage stellen, wie sich eine solche Kon-
zeption von der unmittelbaren Anwendung des § 34 noch unterscheidet.
Der Versuch von Günther33 , die Defensivnotstandsfälle bei einem
besonderen "Strafunrechtsausschließungsgrund" der "notstandsähn-
lichen Lage" einzuordnen, vermeidet die Mißhelligkeiten, die sich aus
einer analogen Anwendung des § 228 BGB ergeben. Aber es bedarf
eines solchen "notstandsähnlichen" Rechtfertigungsgrundes für diese
Sachverhalte nicht, weil, wie dargelegt, der § 34 StGB auch für den
Defensivnotstand einen geeigneten Lösungsrahmen bietet. Günthers
Vorschlag34 , wonach es bei der notstands ähnlichen Lage genügen soll,
daß "das geschützte Interesse das beeinträchtigte überwiegt oder ihm
zumindest gleichwertig ist", orientiert sich zu sehr am Wert der kol-
lidierenden Rechtsgüter und schafft zusätzliche Probleme, wo das ge-
schützte Rechtsgut sogar geringerwertig ist, das bewahrte Interesse
aber gleichwohl überwiegt. Freilich hat Günthers "Strafunrechtsaus-
schließungs grund" gegenüber dem "Rechtfertigungsgrund" des § 34
StGB die weitere Besonderheit, daß er nicht die Rechtswidrigkeit
schlechthin, sondern nur das strafrechtliche Unrecht ausschließen und
deswegen auch kein Eingriffsrecht gewähren, sondern dem Betroffe-
nen prinzipiell ein Notwehrrecht eröffnen so1l35. Im praktischen Er-
gebnis würde das darauf hinauslaufen, daß der defensive Notstand
nur die Wirkung eines Entschuldigungsgrundes hätte. Darauf wird
bei Behandlung der einzelnen Fallgruppen noch näher einzugehen
sein.
III.
Der defensive Notstand kann also nur so behandelt werden, daß
man seine einzelnen Erscheinungsformen je für sich einer alle Ge-
sichtspunkte berücksichtigenden Interessenabwägung im Rahmen des
§ 34 StGB unterzieht.

1. Als Beispiele für menschliche Gefahren, die von Nichthandlun-


gen ausgehen, nannte man früher gerne Fälle wie "die durch einen
Krampfanfall drohende Eigentumsverletzung"36. Heute liefert vor
allem der Straßenverkehr ein großes Reservoir denkbarer Möglich-
keiten. Jescheck 37 nennt als Beispiel für die Bedrohung "durch eine

33 Wie Anm. 14.


34 (Wie Anm. 14), S. 329.
35 Vgl. zum defensiven Notstand (wie Anm. 14), S.384. Dabei sollen aller-
dings "Beschränkungen ... gemäß den zur provozierten Notwehrlage gel-
tenden Grundsätzen" gelten.
30 Vgl. Welzel (wie Anm. 4).

37 (Wie Anm. 1); § 32 II 1 c, S. 273.


Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand 469

an sich nicht sorgfaltswidrige Handlung" einen "Kraftfahrer, der bei


Schneeglätte unvermeidbar auf den Bürgersteig gerät". Denkt man
sich den Fall so, daß der Wagen unsteuerbar über das Eis rutscht, läge
sogar eine der vis absoluta vergleichbare Nichthandlung vor. Ähn-
liches gilt, wenn jemand am Steuer plötzlich bewußtlos wird, so daß
sein führerloser Wagen sich zu einer Gefahr für die Umwelt entwik-
kelt, oder wenn jemand durch Einwirkung von außen (etwa ein ram-
mendes Auto) in einer für andere bedrohlichen Weise aus der Fahr-
bahn getragen wird.

a) Es scheint mir sicher, daß man in solchen Fällen mit der Abwehr
nicht bis zur völligen Unverhältnismäßigkeit gehen darf, wie es bei
der Notwehr und in der Situation des § 228 BGB der Fall ist. Das sei
zunächst am einfacheren Beispiel der Abwehr von Sachgüterbeein-
trächtigungen verdeutlicht. In der Notwehr ist es nach h. M. gestat-
tet, zur Verteidigung von Sachwerten selbst schwere Personenschä-
den zuzufügen, also etwa auf den Einbrecher zu schießen. Das kann
hier, da der Abwehr jegliches Rechtsbewährungsinteresse fehlt, nicht
in Betracht kommen. Vielmehr sind zwei andere Gesichtspunkte ge-
geneinander abzuwägen: der Umstand, daß Leben und Körperintegri-
tät ceteris paribus weit höheren Rang haben als bloße Sachwerte, und
das weitere Faktum, daß der Bedrohte seinen Rechtskreis gegen eine
von außen kommende Gefahrenquelle verteidigt, daß also nicht der Ab-
wehrende, sondern der andere der 8törer ist. Der erste Gesichtspunkt
hat das erheblich größere Gewicht, weil dem "Störer" die bloße Ver-
ursachung nicht einmal zur Person zugerechnet werden kann. Da aber
selbst beim aggressiven Notstand leichte Körperbeeinträchtigungen
zur Rettung bedeutender Sachwerte erlaubt sind (etwa das Beiseite-
stoßen Neugieriger zum Zwecke der Brandlöschung), wird man dem
Gesichtspunkt des Gefahrenursprungs beim defensiven Notstand we-
nigstens insoweit Rechnung tragen können, als man leichte Körper-
beeinträchtigungen zur Rettung immerhin gewichtiger Sachwerte ge-
stattet. Wenn also der Eigentümer den im Krampfanfall wild um sich
schlagenden Epileptiker gewaltsam zurückstößt, um die Zertrümme-
rung einer wertvollen Vase zu verhindern, oder wenn er durchge-
henden Pferden in die Zügel fällt und sie, indem er leichte Prellun-
gen der Kutscheninsassen in Kauf nimmt, rechtzeitig zum Stehen
bringt, bevor sie seine Marktbuden unter Verursachung erheblichen
Sachschadens umrennen können, wird man seine Interessen als "we-
sentlich überwiegend" ansehen und ihn nach § 34 8tGB rechtfertigen
müssen. Aber damit ist auch die Grenze des Zulässigen erreicht. Der
Eigentümer wird also den Gefahrverursachern in den geschilderten
Beispielsfällen zur Rettung seiner Sachwerte nicht etwa Knochen-
brüche und schwere Gehirnerschütterungen zufügen dürfen; denn
470 Claus Roxin

das Wertgefälle zwischen der menschlichen Gesundheit und bloßen


Sachgütern ist zu erheblich, als daß es durch das rechtlich nicht zu-
rechenbare Faktum der bloßen Gefahrverursachung bei der Interes-
senabwägung mehr als geringfügig modifiziert werden könnte.
Freilich gestattet und fordert § 34 StGB die Berücksichtigung wei-
terer Besonderheiten. Wenn der Eigentümer durch die nicht nur ge-
ringfügige Verletzung des Gefahrverursachers zwar primär sein
Eigentum schützt, zudem aber auch den Gefahrverursacher vor gleich-
schweren Körperverletzungen bewahrt, die zu erwarten gewesen wä-
ren, wenn der Abwehrende den Dingen ihren Lauf gelassen hätte, wird
die Abwägung wieder zu seinen Gunsten ausfallen. Wenn anderer-
seits der Eigentümer die Gefahr selbst verschuldet hat (indem er z. B.
die Pferde mutwillig scheu gemacht hat), wird er seine Habe über-
haupt nicht durch eine - sei es auch leichte - körperliche Schädigung
des Gefährdenden retten dürfen. Es wäre sogar vernünftig, in einem
solchen Falle bei der Kollision bloßer Sachwerte den allzu starren,
auf die Gefährdung von Personen zugeschnittenen Maßstab des § 228
S.2 BGB als durch § 34 StGB korrigiert anzusehen und dem Eigen-
tümer auch keine größere Beeinträchtigung von Sachwerten (etwa ein
Verhalten, das zu einem Beinbruch der Pferde führt) zum Schutze
seiner Habe und zu Lasten des bloßen Verursachers zu gestatten.
Denn eine verschuldete Verursachung macht das Eigentum weit we-
niger schutzwürdig als eine unverschuldete. So gestattet § 34 StGB -
ganz anders als § 228 BGB - für alle erdenklichen Situationen flexible
und einleuchtend differenzierende Regelungen.

b) In den Bereich tragischer Grenzsituationen gerät man beim De-


fensivnotstand der hier in Rede stehenden Art dort, wo Leben gegen
Leben steht oder wo sehr schwere Gesundheitsbeschädigungen dro-
hen. Es sei gestattet, zur Verdeutlichung der Extremsituation einen
Kathederfall zu bilden.
In einem Gebirgsdorf fährt ein schwerer Transportwagen, dessen Lenker
bewußtlos geworden ist, mit hoher Geschwindigkeit auf einen Pkw zu, der
mit seinem Fahrer F auf dem Marktplatz hält. F erkennt die Gefahr recht-
zeitig und könnte sich durch rasches Gasgeben in Sicherheit bringen. Er sieht
allerdings auch, daß L dann mit seinem Auto den Steil abhang hinunterstürzen
wird, an dem der Marktplatz endet. Der Tod des L ist in einem solchen Fall
höchstwahrscheinlich. F könnte das verhindern und den L retten, indem er
mit seinem Wagen stehen bliebe und diesen als Prellbock dienen ließe. Er
muß dann aber damit rechnen, selbst schwer oder gar tödlich verletzt zu
werden. Ist er durch § 34 StGB gerechtfertigt, wenn er Gas gibt und sich auf
Kosten des L rettet?
Hier stehen gleichwertige Rechtsgüter gegeneinander, und man
kann nur dann zu einer Rechtfertigung des F kommen, wenn man
der Gefahrverursachung durch L so viel Gewicht beimißt, daß man
Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand 471

das Lebensinteresse des F trotz der Gleichrangigkeit der kollidieren-


den Rechtsgüter als wesentlich überwiegend ansieht. Man kann daran
deshalb zweifeln, weil L - wie hier unterstellt sei - die Bewußt-
losigkeit und ihre Folgen nicht voraussehen oder verhindern konnte,
so daß ihm also die von ihm verursachte Gefahr nicht zuzurechnen
ist. Soll wirklich das bloße Faktum der Verursachung die Interessen-
abwägung beeinflussen können? Jakobs 38 würde das wohl bestreiten,
weil er für den Defensivnotstand eine Gefahrbeseitigungspflicht des
Eingriffsopfers verlangt, wie man sie z. B. aus Ingerenz herleiten kann.
Hier aber fehlt es an einer rechtswidrigen Vorhandlung, die inzwi-
schen auch in der Rechtsprechung mehr und mehr zur Voraussetzung
der Ingerenzpflicht erhoben wird 39 • Wenn man nur ein wenigstens zur
Rechtswidrigkeit zurechenbares Verhalten als Abwägungsgesichts-
punkt gelten läßt, kommt man gleichfalls hier zu einer Interessen-
gleichheit und kann den F, sofern dieser sich nicht aufopfert, nur ent-
schuldigen.
Ich meine dennoch mit der im Ergebnis ganz überwiegenden An-
sicht - ob sie sich nun auf § 34 StGB, § 32 StGB oder die Analogie
zu § 228 BGB stützt - daß schon die Tatsache der bloßen Gefahr-
verursachung durch L einen Grund zur Rechtfertigung des F abgibt,
wenn er L nur um den Preis lebensgefährlicher eigener Beeinträch-
tigungen retten könnte. Denn die unzurechenbaren, menschlicher Vor-
sorge entzogenen Schläge des Schicksals muß prinzipiell jeder selbst
tragen. Nur im Rahmen der allgemeinen menschlichen Solidaritäts-
pflicht darf man sie auf andere abwälzen oder andere in sie ver-
stricken. Zwar glaube ich, daß diese Solidaritätspflicht höher anzu-
setzen ist, als es der in diesem Punkt extrem liberalistischen herr-
schenden Meinung entspricht 40 • Aber sie geht jedenfalls nicht so weit,
daß man zur Rettung anderer schwere körperliche Beeinträchtigun-
gen oder gar den Tod hinnehmen müßte. Nach § 323 c StGB muß man
zwar leichte, aber nicht "erhebliche" eigene Gefahren um der Rettung
anderer willen ertragen. Wenn, anders als in der von § 323 c StGB
erfaßten Situation, das rettende Verhalten keine Aktivitäten, sondern
nur ein Unterlassen verlangt, während die aktive Abwendung der
Gefahr von sich selbst zugleich den Gefährdenden schädigt, wird man
verlangen müssen, daß man auch noch mittlere Gefahren auf sich
38 (Wie Anm. 7), 13/46 S. 356. Ganz eindeutig ist seine Stellungnahme nicht,
wie auch seine schwankende und zweifelnde Einstellung zur Perforation zeigt
(13/22, S. 346).
39 Vgl. Z. B. BGHSt. 23,327; 25,218.

40 Sie hält es bekanntlich sogar für zulässig, einen Menschen dadurch dem
sicheren Tod auszuliefern, daß man ihm eine gesundheitlich völlig ungefähr-
liche, zur Lebensrettung unerläßIiche Blutspende verweigert. Diesen Stand-
punkt, der aus der Menschenwürde folgen soll, den ich aber für nicht sehr
human halte, teile ich nicht.
472 Claus Roxin

nimmt, bevor man den anderen durch sein Tun dem Tode ausliefert.
Aber das kann in unserem Beispielsfall nur bedeuten, daß der F, wenn
dadurch das Leben des L zu retten ist, Prellungen, Verstauchungen
oder Hautabschürfungen aushalten muß. Mehr kann nicht verlangt
werden.
Für diesen Standpunkt streitet auch der Parallelfall des schuld-
losen Angriffs. Es entspricht der wohl einhelligen Auffassung, daß
der Schuldunfähige, der das Leben anderer bedroht - wie z. B. der
bewaffnete Amokläufer - notfalls niedergeschossen werden darf. Nun
stehen zwar der Handlungs- und der Schuldunfähige einander nicht
gleich. Aber in dem für die Interessenabwägung entscheidenden Punkt
läßt sich doch eine übereinstimmung feststellen: darin nämlich, daß
derjenige, der durch ein von ihm nicht zu verantwortendes Schicksal
andere Menschen gefährdet, deren erforderliche und durch die all-
gemeine menschliche Solidaritätspflicht nicht verbotene Abwehr hin-
nehmen muß. Der Grundsatz, daß das menschliche Leben im Rahmen
des § 34 StGB niemals in eine Interessenabwägung einbezogen wer-
den darf, muß also für diese Fälle des defensiven Notstandes einge-
schränkt werden. Die Interessen dessen, der in solcher Lage eine Le-
bensgefahr oder eine schwere Körperverletzung von sich abwehrt,
überwiegen nach dem Maßstab der Rechtsordnung auch bei einer
Gleichheit der kollidierenden Rechtsgüter wesentlich die Interessen
des Gefahrverursachers. Das gilt in dieser Allgemeinheit allerdings
auch hier nur, wenn die Verursachung der Gefahr neben dem Rechts-
gütervergleich der einzige in der konkreten Situation relevante Ab-
wägungsgesichtspunkt ist. Hat z. B. der in den Defensivnotstand Ge-
ratene die Situation selbst verschuldet, so ändert sich das Abwägungs-
ergebnis. Insoweit kann auf das oben schon Dargestellte verwiesen
werden.
Mir scheint, daß die hier vertretene prinzipielle Entscheidung zu-
gunsten des Defensivnotstandstäters auch den Kompromißlösungen
vorzuziehen ist, die sich aus den Konzeptionen Arthur Kaufmanns
und Günthers ergeben. Wenn man mit Kaufmann41 in Situationen,
wo Leben gegen Leben steht, wegen der Unentscheidbarkeit des Kon-
flikts einen "rechtsfreien Raum" annimmt und beiden Kontrahenten
und ihren etwaigen Nothelfern die Tötung von Personen der "Gegen-
seite" weder erlaubt noch verbietet, aber als "unverboten" hingehen
läßt42 , so verschlechtert man damit die rechtliche Situation dessen, der
unverschuldet in den Defensivnotstand geraten ist. Denn zu der Be-

{I Wie Anm. 15.


42 So will Arthur Kaufmann (wie Anm. 15), S.342, sogar bei einem recht-
lich indizierten Schwangerschaftsabbruch ein gewaltsames Vorgehen gegen
den Arzt zur Rettung der Leibesfrucht als unverboten ansehen.
Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand 473

drohung durch den Gefahrverursacher selbst kommt nun noch das


Risiko, daß ihn dessen Helfer zur Rettung des Gefahrverursachers
möglicherweise ohne ein Verbot der Rechtsordnung töten. Das scheint
mir aus den oben angegebenen Gründen keine beifallswürdige Inter-
essenabwägung zu sein, und es zeigt auch, daß die Konstruktion des
rechtsfreien Raums nur scheinbar einen Rückzug der Rechtsordnung
aus dem Konflikt, in Wahrheit dagegen eine andere - weniger glück-
liche - Gewichtung der widerstreitenden Interessen bedeutet 43 • Wenn
die Rechtsordnung ihr in den Tatbeständen aufgestelltes Tötungsver-
bot durch Verweisung des Falles in einen rechtsfreien Raum zurück-
nimmt, dann übt sie damit nicht Stimmenthaltung, sondern trifft eine
Entscheidung mit weittragenden praktischen Konsequenzen für den
Rechtsschutz der Beteiligten.
Ähnliche Einwendungen gelten gegenüber den Ergebnissen, zu de-
nen Günther44 mit Hilfe eines "Strafunrechtsausschließungsgrundes"
der "notwehrähnlichen Lage" kommt. Der Strafunrechtsausschlie-
ßungsgrund, den er dem im Defensivnotstand Handelnden zubilligen
will, unterscheidet sich vom hier bejahten Rechtfertigungsgrund des
§ 34 StGB vor allem dadurch, daß er dem Gefahrverursacher gegen
die Abwehr des im Defensivnotstand Befindlichen ein Notwehrrecht
gewährt, das zwar nach den Grundsätzen der provozierten Notwehr-
lage eingeschränkt sein soll45, erforderlichenfalls aber doch die Tö-
tung des in den Defensivnotstand Geratenen durch die Helfer des Ge-
fahrverursachers zulassen müßte. Ich sehe nicht, wie sich eine solche
Benachteiligung dessen, der ohnehin schon ohne sein Zutun das Opfer
einer aus der Sphäre des Gefahrverursachers stammenden Bedrohung
ist, teleologisch könnte rechtfertigen lassen.
2. Bei der zweiten Fallgruppe des Defensivnotstandes beruht die
Gefahr auf dem nicht sorgfaltswidrigen Verhalten eines Menschen.
Die Abwägung der widerstreitenden Interessen ist hier nach densel-
ben Grundsätzen vorzunehmen, die für Bedrohungen ohne Hand-
lungsqualität gelten (vorstehend 1.). Denn ob der Gefahrverursacher
sorgfaltsmäßig gehandelt oder überhaupt nicht gehandelt hat: Jeden-
falls trifft ihn rechtlich keine Mißbilligung, so daß der für die Inter-
essenabwägung entscheidende normative Gesichtspunkt insoweit der-
selbe ist. Andererseits hat aber derjenige, der die objektiv im Ver-
kehr erforderliche Sorgfalt nicht verletzt hat, deshalb noch kein Ein-
griffsrecht gegenüber anderen. Der von ihm Gefährdete braucht also
die Gefährdung nicht hinzunehmen (§ 34 StGB verlangt keine rechts-
43 Vgl. dazu näher Hirsch, Strafrecht und rechts freier Raum, Festschrift
für Bockelmann, 1979, S. 89 ff.
U Wie Anm. 14.
45 Vgl. näher bei und in Anm. 35.
474 Claus Roxin

widrige Gefahr!), während die Gefahrverursachung schon als solche


bei der Abwägung zum Nachteil des Gefährdenden zu Buche schlägt.
Auch insoweit sind also die Abwägungskriterien dieselben wie bei
Gefährdungen ohne Handlungsqualität.
Die Nähe beider Fallgruppen wird auch dadurch sichtbar, daß sie
oft ineinander verschränkt auftreten. In dem schon erwähnten Bei-
spiel Jeschecks tß , daß ein Kraftfahrer "bei Schneeglätte unvermeidbar
auf den Bürgersteig" gerät, ist der Wagenlenker sorgfaltsgemäß ge-
fahren, so daß gerade deshalb das nicht zu verhindernde Weg rutschen
des Wagens ihm schwerlich als seine Handlung zugerechnet werden
kann. Ähnliches gilt für das schon behandelte Beispiel der unvermeid-
bar durchgehenden Pferde oder den keineswegs seltenen Fall, daß ein
Fahrzeug trotz völlig ordnungsgemäßer Führung infolge eines uner-
kennbaren Materialfehlers oder eines unvorhersehbaren Motorscha-
dens während der Fahrt defekt und dadurch zu einer Bedrohung für
andere Verkehrsteilnehmer wird. Für die Lösung der dadurch entste-
henden Defensivnotstandsprobleme kann uneingeschränkt auf das oben
Dargelegte verwiesen werden.
Eine interessante und praktisch wichtige Variante dieser Fallgruppe
stellen die Situationen dar, in denen der Defensivnotstand bei größt-
möglicher Sorgfalt des Gefährdenden durch den Gefährdeten selbst
verschuldet wird. Ein Radfahrer fährt z. B. in völlig verkehrsgerech-
ter Weise eine abfallende Straße hinab, als hinter einem Chaussee-
baum oder einem parkenden Wagen hervor ein Passant so plötzlich
die Straße betritt, daß der Radler nicht mehr rechtzeitig stoppen
kann. Er droht den Fußgänger umzureißen. Wir wollen einmal an-
nehmen, daß dabei der Radler wegen seiner körperlichen Gewandtheit
und der Stärke seines Rades nicht gefährdet ist, wohl aber der Fuß-
gänger erhebliche Verletzungen davontragen kann. Darf er die Gefahr
von sich abwehren, indem er das Rad durch einen Tritt in die Spei-
chen beiseite schleudert und dabei allerdings den Fahrer der Gefahr
eines Knochenbruches oder einer Gehirnerschütterung aussetzt? Unter
Abweichung vom Maßstab des § 228 S.2 BGB, der dem Verschulden
des Notstandstäters keine Bedeutung für die Rechtmäßigkeit seiner
Abwehr beimißt, darf er das nicht; selbst seine Entschuldigung ist im
Hinblick auf § 35 Abs. 1 S.2 StGB zweifelhaft. Die Interessenabwägung
muß, wie schon unter 1. dargelegt, deutlich zugunsten des Radfahrers
ausfallen. Denn die Verursachung durch ihn ist irrelevant gegenüber
der Tatsache, daß die Verursachung ihrerseits auf dem alleinigen Ver-
schulden des Fußgängers beruht. Diese Abwehr ist zwingend auch
deswegen, weil der Radfahrer sich sogar in einer Notwehrlage befin-

46 Bei Anm. 37.


Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand 475

det, wenn, wie es leicht möglich ist, aus der Kollision auch ihm Ge-
fahren drohen; denn dann ist das Verhalten des Spaziergängers ein
rechtswidriger, das des Radfahrers aber ein rechtmäßiger Angriff. Es
ist klar, daß der Fußgänger nicht deswegen den Radfahrer kann schä-
digen dürfen, weil dieser von einer Kollision nichts zu befürchten
hätte.
Die geschilderten Grundkonstellationen nicht rechtswidriger Ge-
fährdungen lassen sich noch abwandeln. Der hier zur Verfügung ste-
hende Raum verbietet es, dem bis ins Detail nachzugehen. Das ist
aber auch nicht nötig. Es genügt, zu erkennen, daß § 34 StGB, gerade
weil er die Berücksichtigung aller Gesichtspunkte gestattet, für jede
konkrete Situation ein rationales und kriminalpolitisch vernünftiges
Abwägungsergebnis erlaubt, während der starre Maßstab des § 228
BGB dazu nicht in der Lage ist.

3. Als Perforation bezeichnet man die Tötung eines Kindes in der


Geburt, um das Leben der Mutter zu retten oder sie vor schweren
Gesundheitsschäden zu bewahren; meist beruht sie auf einer beson-
deren Konstitution des Kindes (z. B. Wasserköpfigkeit). Noch der E
1962 hatte den Fall der Perforation dem des medizinisch indizierten
Schwangerschaftsabbruchs gleichstellen wollen (§ 157 Abs. 2). Das heu-
tige Gesetz schweigt. Im Schrifttum wird teils eine Rechtfertigung
nach § 34 StGB angenommen47 , teils eine außerhalb des § 34 StGB
stehende rechtfertigende Pflichtenkollision48 • Manche Autoren halten
auch - weil hier Leben gegen Leben oder gar "nur" die Gesundheit
steht - eine Rechtfertigung für ausgeschlossen und konstruieren einen
übergesetzlichen entschuldigenden Notstand 49 • Jakobs50 schwankt; er
meint, eine Tötung des Kindes sei nur zu rechtfertigen, "wenn die
Konfliktlage als zum Verantwortungsbereich des Kindes gehörig, also
einen defensiven Notstand auslösend, definiert wird". Die Konstruk-
tion einer solchen "Verantwortlichkeit" des Kindes hält er anschei-
nend für möglich, wenn die Kollision "auf eine besondere Konstitu-
tion des Kindes zurückgeführt werden" kann. Bedenkt man, daß auch
noch die schon behandelten Spezialkonstruktionen des "rechtsfreien
Raumes" und der "notstandsähnlichen Lage" herangezogen werden
können, so wird man wenige Probleme des Allgemeinen Teils finden,
die so umstritten sind wie dieses.

47 So vor allem Jescheck (wie Anm.l), § 33 IV 3 c, S.291; Hirsch, in: LK,


9. Aufl. 1974, Rdn.76 vor § 51; SchönkelSchröderlEser, StGB, 21. Aufl., Rdn.34
vor § 218.
48 MaurachjSchroeder, Bes. Teil, Band 1, 6. Aufl. 1977, § 5, V., 2, S. 65.

48 Rudolphi, in: SK, 3. Aufl. 1981, vor § 218 Rdn. 15; DreherlTröndle, StGB,
41. Aufl. 1983, § 34 Rdn. 51.
50 (Wie Anm. 7), 13/22, S. 346 mit Fn. 44.
476 Claus Roxin

Vom hier vertretenen Standpunkt aus handelt es sich um einen


klassischen Fall des defensiven Notstandes, der sich von der unter
1. behandelten Konstellation im wesentlichen nur durch seine beson-
dere Falltypik unterscheidet: Ein Mensch (das in der Geburt befind-
liche Kind) gefährdet einen anderen Menschen (die Mutter), ohne daß
ihm diese Gefährdung auch nur als Handlung zugerechnet werden
könnte; denn bei der Geburt handelt es sich um einen biologischen
Vorgang, der einer Steuerung durch das Kind in keiner Weise zu-
gänglich ist.
Man wird, so tragisch ein solcher Fall ist, aus den schon unter 1.
dargelegten Gründen die Tötung des Kindes für gerechtfertigt halten
müssen, wenn es keinen anderen Weg gibt, die Mutter vor dem Tode
oder schweren Gesundheitsschäden zu bewahren; ob das Kind, wenn
man den Dingen ihren Lauf ließe, überleben könnte oder nicht, kann
dabei nicht entscheidend sein. Das Argument, mit dem Jescheck 51 seine
Entscheidung zugunsten der Mutter, also des bei einer schweren Ge-
sundheitsgefährdung sogar geringeren Rechtsgutes, begründet, daß
nämlich "Leben und Gesundheit der Mutter mit Rücksicht auf ihren
Status als schon voll in der Gemeinschaft lebender Mensch schutzwür-
diger erscheinen als das Leben des Kindes, das noch nicht ,Namen und
Art' hat", möchte ich nicht in den Vordergrund rücken. Denn es rela-
tiviert den - vom bürgerlichen Status unabhängigen - Lebensschutz
Neugeborener generell und in abstracto, während ich den Grund, war-
um die Interessen der Gebärenden wesentlich höher zu bewerten sind,
allein in der konkreten Konfliktslage sehe. Die Mutter schenkt dem
Kinde das Leben; sie muß dabei die Beschwernisse und Gesundheits-
beeinträchtigungen, die mit der Schwangerschaft üblicherweise ver-
bunden sind, auf sich nehmen. Aber das Opfer des Lebens oder die
Hinnahme dauernder schwerer Gesundheitsschäden dürfen dem Le-
bensspender vom Recht nicht an gesonnen werden. Das ergibt sich nach
geltendem Recht eindeutig aus der seit langem anerkannten medizi-
nischen Indikation für den Schwangerschaftsabbruch, und es ist ganz
richtig, wenn Hirsch 51 hinsichtlich des Schutzes der Mutter von einer
durch den rechtfertigenden Notstand zu schließenden "Lücke" spricht,
die durch die "im Strafrecht erfolgte Vorverlegung des Anfangs des
Menschseins" entstanden sei. Wenn das Strafrecht im Gegensatz zum
Zivilrecht die Existenz als "Mensch" schon auf den Beginn der Geburt
ansetzt, so tut es das, um das Kind während des Geburtsvorganges
gegen vorsätzliche Tötung und gegen fahrlässige Beeinträchtigungen
möglichst wirkungsvoll zu schützen. Es ist aber nicht geschehen, um
den Schutz der Mutter gegen Beeinträchtigungen durch das Kind wäh-

51 Jescheck und Hirsch (wie Anm. 47).


Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand 477

rend des Geburtsvorganges aufzuheben; dafür ließe sich auch kein ver-
nünftiger Grund geltend machen.
Allerdings führt die Interessenabwägung auch hier nicht zu einer
schlichten Umkehrung der Güterproportionen im Stile des § 228 BGB.
Vielmehr wird man, wie auch sonst bei einem vom Gefährdenden
nicht zu verantwortenden defensiven Notstand, vom Gefährdeten (hier:
der Mutter) die Hinnahme mittlerer Körperbeeinträchtigungen noch
erwarten dürfen. Praktisch bedeutet das, daß eine Perforation nicht
erfolgen darf, wenn mit Hilfe eines Kaiserschnitts die Geburt ohne
besonderes Risiko möglich ist52 • Ferner kehrt sich die Interessenab-
wägung um, wenn die Mutter selbst sich für das Kind entscheidet. Er-
klärt sie, auf jeden Fall das Kind gebären und das dabei für sie ent-
stehende Gesundheits- oder gar Lebensrisiko in Kauf nehmen zu wol-
len, so muß der Arzt das respektieren.
Die hier befürwortete Abwägung nach § 34 StGB, die im Regelfall
zur Rechtfertigung führt, erscheint mir als gegenüber allen anderen
Lösungsvorschlägen durchaus vorzugswürdig. Wenn SchToeder"3 den
§ 34 StGB wegen der von ihm angenommenen Unabwägbarkeit von
Menschenleben nicht heranziehen zu können glaubt, dem Arzt aber
eine rechtfertigende Pflichtenkollision zugutehält, so müßte das zu
dem Ergebnis führen, daß der Arzt nach freiem Ermessen auch das
Leben der Mutter dem des Kindes aufopfern dürfte. Denn bei der Kol-
lision zweier gleichrangiger Rettungspflichten tritt eine Rechtferti-
gung - soweit man eine solche überhaupt für möglich hält - schon
dann ein, wenn nur eine der beiden Pflichten erfüllt wird. Das wäre ein
untragbares Ergebnis. Wenn man aber, um ihm zu entgehen, die
Pflicht zur Rettung der Mutter als vorrangig behandelt, hätte man die
vermeintlich unzulässige Abwägung doch schon vorgenommen.
Es scheint mir auch nicht möglich, mit Jakobs 54 eine Rechtfertigung
der Perforation nur bei einer "besonderen Konstitution" des Kindes
zu bejahen und für diesen Fall die "Konfliktslage als zum Verant-
wortungsbereich des Kindes gehörig" zu definieren. Denn erstens ist
es nicht tragbar und auch mit der in §§ 218 ff. StGB zum Ausdruck ge-
kommenen Wertabwägung nicht vereinbar, bei einer normalen Konsti-
tution des Kindes die Mutter dem Kind aufzuopfern. Und zweitens
wird man auch bei einer "besonderen Konstitution" des Kindes die
Gefahr nicht dem "Verantwortungsbereich" des Kindes zuordnen kön-
nen. Wer, wie ein Kind in der Geburt, jeglicher Handlungsfähigkeit
ermangelt, kann sinnvollerweise keinen "Verantwortungsbereich" ha-

52 Schönke/Schröder/Eser (wie Anm. 47).


53 Wie Anm. 48.
54 Wie Anm. 50.
478 Claus Roxin

ben. Die ausweglosen Schwierigkeiten, in die Jakobs bei der Perfora·-


tion gerät, scheinen mir zu zeigen, daß es nicht möglich ist, nur eine
zu verantwortende Gefährdung als Voraussetzung des defensiven Not-
standes gelten zu lassen; schon die Verursachung durch den Gefähr-
denden kann für den Gefährdeten ein entscheidendes Interessenüber-
gewicht begründen (vg1. oben BI, 1.).
Auch die Annahme eines "übergesetzlichen entschuldigenden Not-
standes" bei der Perforation, die wir bei Rudolphi und Dreher/
Tröndle 55 finden, bietet keim! zufriedenstellende Lösung. Denn sie
beruht auf der Voraussetzung, daß die Perforation jedenfalls rechts-
widrig ist. Das heißt: Das Recht mißbilligt die Rettung der Mutter; es
verlangt von ihr, daß sie ggf. ihr Leben für das Kind opfert, und es
fordert vom Arzt, daß er die Mutter sterben läßt, wenn die Geburt
anders nicht möglich ist. Das ist aus den schon geschilderten Gründen
eine untragbare, dem Grundgedanken der §§ 218 ff. StGB und der Be-
handlung anderer Konstellationen des defensiven Notstandes diame-
tral zuwiderlaufende Lösung. Sie würde es außerdem gestatten, die
Rettung der Mutter durch den Arzt in Ausübung eines Nothilferechts
zugunsten des Kindes gewaltsam zu verhindern, wodurch der existen-
tielle Konflikt zwischen Mutter und Kind noch auf andere Personen
mit u. U. lebensgefährdender Wirkung ausgeweitet würde. Schließlich
muß man sich fragen, warum dem Arzt nach dieser Lehre ein über-
gesetzlicher Schuldausschluß zugebilligt werden soll, obwohl er sich
ohne weiteres rechtmäßig im Sinne dieser Konzeption verhalten
konnte. In der Entschuldigung liegt das Eingeständnis, daß dem Arzt
sein Verhalten nicht vorgeworfen werden kann. Der Grund für die
mangelnde Vorwerfbarkeit liegt aber ersichtlich nicht in der Person
des Arztes, sondern in den objektiven Gegebenheiten - und damit
in der verleugneten Rechtmäßigkeit der Perforation, die sich auf die-
sem Umweg doch wieder geltend macht.
Natürlich kann man auch die Konstruktionen des rechtsfreien Rau-
mes und der notstandsähnlichen Lage auf den Fall der Perforation
anwenden. Doch gelten die Einwendungen, die dagegen schon oben
(111, 1. am Ende, bei Anm. 41- 45) vorgebracht worden sind, ohne Ein-
schränkungen auch hier.

4. Einen eigenständigen Sondertypus des defensiven Notstandes bil-


det schließlich die "Präventiv-Notwehr"56, die vorbeugende Abwehr
eines noch nicht gegenwärtigen Angriffs. Die neuere Rechtsprechung 57

55 Wie Anm. 49.


58 Der Terminus stammt von Suppert (wie Anm. 12), S. 404.
57 Über die älteren Ansätze zur Bewältigung des Problems berichtet aus-
führlich Suppert (wie Anm. 12), S. 356 ff.
Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand 479

bietet für diese Konstellation einiges Anschauungsmaterial. In BGHSt


13, 197 hatten Familienangehörige ihre geisteskranke Mutter beim
Herannahen "krankheitsbedingter Erregungszustände" in ihrem
Schlafzimmer eingeschlossen, um zu verhindern, daß sie Sachbeschä-
digungen beginge und anderes Unheil anrichte; der BGH hat diese
Einschließungen als Akte familiärer Fürsorge gerechtfertigt, ohne
den Rechtfertigungsgrund näher zu kennzeichnen. In der Entscheidung
BGH NJW 1979, 2053, hatte ein Ehemann einen Voyeur, der zum wie-
derholten Male nachts in die Wohnung und in das Schlafzimmer des
Ehepaares eingedrungen war, auf der Flucht "in die linke Gesäßhälfte
und in die linke Flanke" geschossen, um ihn von künftigen nächtlichen
Besuchen ein für allemal abzuschrecken; der BGH meinte, daß "nach
Lage der Dinge einiges" für eine Rechtfertigung gemäß § 34 StGB
spreche, hat dies aber "dahingestellt" bleiben lassen und jedenfalls
eine Entschuldigung nach § 35 StGB bejaht. In dem Sachverhalt, der
dem Beschluß des BGH NStZ 1984, 20, zugrundeliegt, hatte eine Ehe-
frau ihren schlafenden Mann getötet, weil dieser die Familie häufig
erheblich mißhandelt und gedroht hatte, er werde den aus Furcht vor
ihm von zu Hause weggelaufenen Sohn Reiner "so lange mit dem
Kopf gegen die Wand klatschen, bis er verreckt sei"; der BGH hob die
Verurteilung der Frau wegen Mordes auf und wies das Schwurge-
richt an, "alle in Betracht kommenden Rechtfertigungs- und Entschul-
digungsgründe ... erschöpfend abzuhandeln". Häufig als Beispiel ver-
wendet wird auch der von Lenckner58 gebildete Fall, daß "der Inha-
ber einer abgelegenen Gastwirtschaft hört, wie seine Gäste verab-
reden, ihn nach Eintritt der Polizeistunde zu überfallen, und ... ihnen
deshalb, weil er ihrem Angriff nicht gewachsen gewesen wäre, ein be-
täubendes Mittel in das Bier schüttet".
Die tastenden Lösungsversuche der Rechtsprechung zeigen, wie we··
nig geklärt das Problem, das solche Fälle stellen, noch heute ist. Das
Thema hätte eine monographische Behandlung verdient, die noch
zahlreiche weitere Beispiele aus der älteren Literatur beiziehen
könnte. In diesem Rahmen muß eine Skizze genügen. Danach ist zu-
nächst der Weg über eine unmittelbare oder analoge Anwendung der
Notwehrvorschrift nicht gangbar. Eine unmittelbare Heranziehung des
§ 32 StGB würde voraussetzen, daß man einen Angriff schon dann "ge-
genwärtig" nennen würde, wenn eine Abwehr, soll sie nicht mögli-
cherweise zu spät kommen, jetzt erfolgen muß. Dies ist aber deshalb
nicht angängig, weil bei Planungen und Drohungen, um die es sich
meist erst handelt, nicht nur kein "gegenwärtiger", sondern überhaupt
noch kein Angriff vorliegt. Eine bloße Ankündigung als "gegenwärti-

58 Schönke/Schröder/Lenckner (wie Anm.22), § 32 Rdn.17; ähnlich schon


in: Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 102.
480 Claus Roxin

gen Angriff" zu behandeln, ist sprachlich und teleologisch ausgeschlos-


sen, denn die Notwehr setzt eine aktuelle "Kampfsituation" voraus 50 •
Aber auch die von Suppert 60 befürwortete analoge Anwendung des
§ 32 StGB ist abzulehnen. Sie hat mit Recht nur wenige Anhänger ge-
funden 6 t, meist aber Ablehnung erfahren62 • Die Analogie verbietet sich
deshalb, weil der Verzicht auf einen Angriff die Ähnlichkeit mit der
Notwehr beseitigt und Suppert selbst63 infolgedessen zu dem Ergebnis
kommt, daß gerade die Rechte, die der Notwehr Übende dem Not-
standstäter voraushat, bei der Präventivnotwehr nicht gelten: Hier
muß, bevor in die Rechte des potentiellen Angreifers eingegriffen wer-
den darf, fremde Hilfe (vor allem die Polizei) herbeigeholt und im
Rahmen des Zumutbaren ausgewichen werden; ist beides nicht mög-
lich, kommt, wenn nicht weitere Gesichtspunkte hinzutreten, höchstens
eine proportionale Abwehr in Betracht. Der entscheidende Grund für
das Versagen der Notwehr-Analogie liegt darin, daß das für die Not-
wehr charakteristische Rechtsbewährungsprinzip hier keine Rolle spie-
len kann6~: Das Recht hat sich nicht gegenüber gefährlichen Gesin-
nungsbekundungen, sondern erst gegenüber gegenwärtigen Angriffen
auf Rechtsgüter zu bewähren!
Verfehlt ist aber auch - hier wie sonst beim defensiven Notstand
- der Rückgriff auf einen in Analogie zu § 228 BGB gebildeten selb-
ständigen Rechtfertigungsgrund. Denn der Maßstab des § 228 BGB legt
die Annahme nahe, daß man zur präventiven Abwehr von Angriffen
erheblich größeren Schaden herbeiführen dürfe als man selbst zu ge-
wärtigen hat, so daß man etwa zur Verhinderung eines geplanten Ein-
bruches schon vorbeugend auf die potentiellen Täter schießen dürfte.
Das alles ginge, wie noch darzulegen sein wird, viel zu weit.
Vielmehr kommt eine Rechtfertigung nur im Rahmen des § 34 StGB
aufgrund einer alle Umstände des konkreten Falles erfassenden Ge-
samtabwägung in Betracht. Daß man nach Möglichkeit Hilfe herbei-
holen und dem Angriff ausweichen muß, bevor man zu präventiven
Maßnahmen greift, ergibt sich allerdings schon daraus, daß § 34 StGB
nur bei einer anders nicht abwendbaren Gefahr eingreifen kann.

59 Vgl. näher meine Arbeit "Von welchem Zeitpunkt an ist ein Angriff
gegenwärtig und löst das Notwehrrecht aus?", Gedächtnisschrift für Tjong,
1984.
60 (Wie Anm. 12), S. 356 ff.
It Samson, in: SK, 3. Aufl. 1981, § 32 Rdn.l0; Jakobs (wie Anm.7), 12/27,
S.321, der aber auf die "bei defensivem Notstand geltenden Proportionali-
tätsgrundsätze" verweist.
62 Vgl. nur Jescheck (wie Anm.l), § 32 II 1 d, S.275; Schönke/Schröder/
Lenckner (wie Anm. 22), § 32 Rdn. 17.
e3 Vgl. nur die Zusammenfassung (wie Anm. 7), S. 404.

64 Insoweit abweichend Suppert (wie Anm. 12), S. 395.


Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand 481

Diese Erfordernisse sind also nicht das Ergebnis einer Abwägung, son-
dern liegen ihr voraus und würden auch bei einer Heranziehung des
§ 228 BGB gelten. Bei der Abwägung selbst sind aber zahlreiche Ge-
sichtspunkte zu bedenken, die in § 228 BGB nicht eingegangen sind.
Wie dies geschehen muß, soll anhand der vorgetragenen Beispielsfälle
kurz verdeutlicht werden.
Bei der vorübergehenden Einschließung der geisteskranken Mutter
(BGHSt. 13, 197) ist nicht nur in Rechnung zu ziehen, daß künftige
Sachbeschädigungen abgewehrt werden sollten. Es würde zu kurz
greifen, wenn man in Analogie zu § 228 BGB die Beeinträchtigung des
abstrakt gesehen höheren Rechtsgutes (persönliche Freiheit) allein
deshalb rechtfertigen würde, weil die Gefahr aus der Sphäre der Mut-
ter kam. Denn zur Einschließung verwahrungsbedürftiger Personen
sind das Entmündigungsverfahren und die Anstaltseinweisung vor-
gesehen; derartige gesetzlich geregelte Verfahren sind bei der Abwä-
gung zu berücksichtigen und schließen prinzipiell eine Rechtfertigung
nach § 34 StGB aus65 • Hier kann man nur deshalb zu einem anderen
Abwägungsergebnis kommen, weil eine vorübergehende Einschließung
im Rahmen der Familienpflege die Mutter selbst weit weniger be-
lastete, als es eine Anstaltseinweisung getan hätte, so daß die kurz-
zeitigen "Freiheitsberaubungen" also letztlich ihrem eigenen Wohl
dienten66 • Darauf beruht wohl auch das rechtfertigende BGH-Urteil,
das in Ermangelung des damals noch nicht existierenden § 34 StGB
keinen konkreten Rechtfertigungsgrund nennt, dessen überlegungen
aber heute im Rahmen einer nach dieser Bestimmung anzustellenden
Interessenabwägung ihren Platz haben müßten.
Auch im "Spanner"-Fall machen die meisten Beurteiler sich die
Sache zu leicht, wenn sie die beiden Schüsse auf den Voyeur allein
damit rechtfertigen, daß die Verletzung der im Verhältnis zu Haus-
recht und Privatsphäre höherwertigen Körperintegrität des Eindring-
lings deswegen erlaubt sei, weil künftigen Angriffen aus der Sphäre
des Täters vorgebeugt werden sollte und deshalb der Maßstab des
§ 228 BGB heranzuziehen sei, der eine überproportionale Abwehr ge-
statte67 • Vielmehr wird man, weil die präventive Gefahrenabwehr
prinzipiell Sache der Polizei ist, um des öffentlichen Friedens willen
mit ihrer subsidiären übertragung auf Privatleute äußerst zurück-
haltend verfahren müssen und Tötungen oder schwere Verletzungen

65 Jakobs (wie Anm. 7), 14/49, S. 357, der von der analogen Anwendung des
§ 228 BGB ausgeht, will sogar in diesem Rahmen auf die Angemessenheits-
klausel des § 34 StGB zurückgreifen und mit ihrer Hilfe eine Rechtfertigung
ausschließen.
88 Vgl. näher Roxin, ESJ Strafrecht, Allg. Teil, 2. Auflage 1984, Fall 29.

87 Vgl. etwa Hruschka, NJW 1980, 21, 22; Jakobs (wie Anm. 7), 12/27, S. 321.

31 Festschrift für H.-H. Jescheck


482 Cl aus Roxin

niemals gestatten dürfen; auch geringere Eingriffe müssen sich im


Rahmen der Proportionalität halten. Bei den hier zu beurteilenden
Schüssen handelt es sich um die Zu fügung mittlerer Verletzungen.
Diese wiegen, abstrakt beurteilt, immer noch ein wenig schwerer als
die gewiß ernst zu nehmenden Beeinträchtigungen der Eheleute. Un-
ter dem Gesichtspunkt der Verhinderung späteren Wiederkommens
allein sind also die beiden Schüsse - entgegen § 228 BGBI - noch
nicht zu rechtfertigen. Das wird ganz deutlich, wenn man sich den
Fall so denkt, daß der Ehemann den Voyeur 14 Tage später auf der
Straße getroffen und nun zur Verhinderung künftiger Besuche ange-
schossen hätte. Das wird man sicher nicht erlauben dürfen68 , auch
wenn es nach dem - aber eben nicht anwendbaren - Maßstab des
§ 228 BGB in Ordnung wäre. Vielmehr wird die Interessenabwägung
nur deshalb zugunsten des Ehemannes ausfallen können, weil in der
konkreten Situation zwei weitere Umstände für ihn ins Gewicht fie-
len: die Tatsache, daß eine (wenn auch allein den Schußwaffenge-
brauch nicht rechtfertigende) Festnahmesituation nach § 127 StPO vor-
lag, und vor allem, daß der Eindringling sich noch in der Sphäre
des Ehepaares aufhielt und allein dadurch eine latente Bedrohung
darstellte, die sich jederzeit aktualisieren konnte. Erst das Zusam-
menwirken dieser drei Faktoren läßt die Interessen des Ehemannes
als wesentlich überwiegend erscheinen und macht eine Rechtfertigung
nach § 34 StGB möglich. Freilich ist es verständlich, wenn der BGH die
Rechtfertigungsfrage dahingestellt hat und auf § 35 StGB ausgewichen
ist; darin spiegelt sich nur die wissenschaftliche Ungeklärtheit des De-
fensivnotstandes, für dessen rechtliche Behandlung nach § 34 StGB
allgemein anerkannte Kriterien erst noch erarbeitet werden müssen.
Im Falle der Tötung des Familientyrannen (BGH NStZ 1984, 20),
der bekanntlich in ähnlicher Form schon früher die Rechtsprechung
beschäftigt hat, wird man dagegen nicht zu einer Rechtfertigung kom-
men können. Auch wenn man davon ausgeht, daß eine Flucht der Fa-
milie nach Lage der Dinge kaum möglich und die Drohung des Vaters
ernst zu nehmen war - was Tatfrage ist -, wird man eine Tötung
des potentiellen Angreifers im Schlaf nicht zulassen können. Sie ist
zwar im defensiven Notstand nicht gänzlich auszuschließen, wie die
unter 1. - 3. behandelten Sachverhalte zeigen; aber man wird sie doch
auf unmittelbar bevorstehende lebensbedrohende Gefährdungen be-
schränken müssen. Wenn von ,einem einzelnen angedrohte und sogar
vorbereitete Tötungen unter dem Gesichtspunkt der §§ 211 ff. StGB
straflos sind, so hat das seinen Grund auch darin, daß die Verwirk-

68 So auch Schönke/Schröder/Lenckner (wie Anm.22), § 34 Rdn.21; ebenso


wohl auch Schroeder, JuS 1980, 340, der diese Variante zur Diskussion ge-
stellt hat.
Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand 483

lichung solcher Entschlüsse immer zweifelhaft ist. Solange eine Tat nicht
versucht wird, ist strafrechtlich noch nichts geschehen; was aber als
Rechtsgutsangriff noch nicht faßbar ist, kann keine Tötung rechtfer-
tigen. Was der Vater bei einer Rückkehr des Sohnes wirklich getan
hätte und ob sein Zorn nicht vielleicht verraucht oder wenigstens ge-
dämpft gewesen wäre, kann niemand wissen. Die Mutter hätte sich be-
waffnen und den Mann mit der von ihr benutzten Schlagwaffe ggf.
in Notwehr töten dürfen; würde man dergleichen aber vorbeugend
erlauben, so würde man die leider nicht seltenen Familientragödien in
sozialpolitisch verhängnisvoller Weise vermehren anstatt sie zu reduzie-
ren. Freilich: Der Maßstab des § 228 BGB würde eine Tötung zulas-
sen; aber selbst ein schlechter und gefährlicher Mensch ist keine Sache,
die auf ein erst bevorstehendes Risiko hin zerstört werden darf. Man
wird daher in diesen Fällen auf dem Wege der älteren Rechtsprechung
bleiben müssen und dem Täter in extremen Situationen eine Entschul-
digung nach § 35 StGB oder einen Putativentschuldigungsnotstand
(§ 35 Abs. 2 StGB) zubilligen können.

In dem von Lenckner gebildeten Beispiel schließlich, daß der Wirt


den Räubern, deren Pläne er belauscht hat, ein Betäubungsmittel ins
Bier schüttet, wird man die Tat, die unter §§ 223, 239 StGB subsumiert
werden kann, nach § 34 StGB rechtfertigen, wenn sich eine rechtzeitige
Alarmierung der Polizei oder ein sicherer Rückzug in die eigenen
Räume nicht durchführen läßt. Hier ist die Grenze proportionaler Ab-
wehr nicht überschritten, und die Defensivsituation, für die allein die
Komplottanten verantwortlich sind, gibt den Interessen des Gast-
wirts ein eindeutiges übergewicht.
Die exemplarisch vorgeführten Sachverhalte zeigen, daß man der
Präventiv-Notwehr mit Hilfe des § 34 StGB - aber nur mit dieser
Bestimmung - sehr wohl gerecht werden kann, wenn auch die weitere
Ausarbeitung und Systematisierung dieser Rechtsfigur späteren Stu-
dien vorbehalten bleiben muß. Hier sei nur noch darauf hingewiesen,
daß bei der Abwägung auch dem in § 34 StGB schon genannten Kri-
terium der "Nähe der Gefahr" eine besondere Rolle zukommt. So
wird man durch § 34 gerechtfertigt sein, wenn man demjenigen, der
in ernstzunehmender Weise mit Gewalttätigkeiten droht, Revolver
und Messer durch an sich verbotene Eigenmacht entzieht und versteckt;
aber man wird in diesem Stadium der Dinge den potentiellen An-
greifer nicht in private Gefangenschaft nehmen dürfen. Wenn dage-
gen der potentielle Gewalttäter Messer und Revolver zu sich steckt,
um zu seiner Tat unverzüglich aufzubrechen, wird man ihn im Keller
einschließen dürfen, bis die herbeizurufende Polizei den Vorfall in die
Hand nimmt. Sogar eine gewaltsame Hinderung, die bei einer Gegen-
wehr das Notwehrrecht auslöst, ist in diesen Situationen als gerecht-

31"
484 Claus Roxin

fertigt anzusehen. Auch ein etwaiges Verschulden des Defensivnot-


standstäters ist bei der Abwägung zu berücksichtigen: Wer einen an-
deren schuldhaft zu einem Angriff provoziert, hat schon das Notwehr-
recht nur eingeschränkt; präventive Maßnahmen wird man ihm in
der Regel nicht zugestehen dürfen. Alle Gesichtspunkte, die für die
Interessenabwägung beim aggressiven Notstand relevant sind, kehr,en
also in der Defensivnotstandssituation der präventiven Notwehr in
abgewandelter Form wieder.

5. Eine - vorsichtige - Analogie zu § 228 BGB kann dagegen dort


erwogen werden, wo ein Angriff zwar nicht von einer Sache, aber
auch nicht von Menschen ausgeht. Das gilt etwa für Bedrohungen,
die durch Strahlen oder Elektrizität, aber auch für die Gefährdun-
gen, die bei einer Schwangerschaft durch die Leibesfrucht ausgelöst
werden können. Insofern hat also Ortrun Lampe69 , die bei der ersten
Behandlung des defensiven Notstandes vornehmlich diese Fälle im
Auge gehabt hat, mit ihrem Rückgriff auf § 228 BGB durchaus nicht
unrecht gehabt. Aber diese Konstellationen spielen nach der Neurege-
lung des Schwangerschaftsabbruchs als Probleme des Allgemeinen
Teils keine wesentliche Rolle und dürfen daher vernachlässigt werden.
Dagegen ist der durch Menschen verursachte Defensivnotstand ein
Thema, das an Bedeutung noch ständig gewinnt. Die vorliegende Ab-
handlung, die ich Hans-Heinrich Jescheck, dem Meister und Repräsen-
tanten unserer Wissenschaft, in dankbarer Verehrung zum 70. Geburts-
tag darbringe, kann auf dem Wege, der bis zur Lösung der durch den
Defensivnotstand aufgeworfenen Probleme zurückzulegen ist, nur ein
Anfang sein.

sv Wie Anm. 2.
EBERHARD SCHMIDHÄUSER

Uber den axiologischen Schuldbegriff


des Strafrechts: Die unrechtliche Tatgesinnung

I. Das Thema und die aktuelle Diskussion

1. Das Thema bezeichnet kein neues Programm; es nennt einen Be-


griff, der schon an anderer Stelle dargetan worden ist. Die Schuld als
Merkmal der Straftat, verstanden als wertwidrige Einzeltatgesinnung
- dieser Begriff war zunächst schon bei Mezger angelegt, wurde dann
von Gallas spezifisch entwickelt, hernach in meiner Habilitationschrift
aufgegriffen und dann von J escheck erstmals in eine geschlossene Lehr-
darstellung des Allgemeinen Teils des Strafrechts eingebaut l .
Will man diesen Begriff terminologisch kurz einordnen, dann sollte
man ihn deutlich von anderen Schuldbegriffen abheben. Wir kennen
den psychologischen und den normativen Schuldbegriff, ferner den -
so ist wohl zu formulieren: - kriminalpolitischen und schließlich
den funktionalen Schuldbegriff. Diesen Begriffen gegenüber ist der
hier darzustellende Schuldbegriff am besten als "axiologischer Schuld-
begriff" zu bezeichnen. Man könnte gewiß auch von "teleologischem"
Schuldbegriff sprechen; aber da er sich in seinem Bezogensein auf
Gesinnung auch außerhalb einer teleologischen Straftatsystematik
findet, ist der Name "axiologisch" vorzuziehen; mit ihm ist die spezi-
fische Wertgebundenheit gerade dieses Begriffs angedeutet; sie soll
im vorliegenden Beitrag näher erörtert werden.

2. Seit einigen Jahren wird der Schuldbegriff in der deutschen


Strafrechtswissenschaft - verglichen mit den vorangegangenen Jahr-
zehnten - besonders lebhaft diskutiert2 • Dabei geht es weniger dar-

I Jescheck, Strafrecht, Allg. Teil, 1. Aufl. 1969, S.277, 281. - Nachweise


im übrigen: s. Anm. 9, 10, 12.
2 Vgl. zur speziellen Diskussion als Anfang: Noll, Schuld und Prävention
unter dem Gesichtspunkt der Rationalisierung des Strafrechts, Festschrift
für Mayer, 1966, S.219; dann u. a.: Roxin, "Schuld" und "Verantwortlichkeit"
als strafrechtliche Systemkategorien, Festschrift für Henkel, 1974, S.I71;
Jakobs, Schuld und Prävention, 1976; Stratenwerth, Die Zukunft des straf-
rechtlichen Schuldprinzips, 1977; Roxin, Zur jüngsten Diskussion über Schuld,
Prävention und Verantwortlichkeit im Strafrecht, Festschrift für Bockel-
mann, 1979, S.279; Schöneborn, Grenzen einer generalpräventiven Rekon-
struktion des strafrechtlichen Schuldprinzips, ZStW 92 (1980), S. 682.
486 Eberhard Schmidhäuser

um, in der Substanz Neues für die Straftat vorauszusetzen, als viel-
mehr darum, den nicht nur grundlegenden, sondern auch in seiner
Schwierigkeit so faszinierenden Begriff der Schuld richtig zu fassen.
Es geht also weniger etwa um rechtspolitische Ziele, als vielmehr um
die Aufgabe, die der Wissenschaft in der Bemühung um den Begriff
schon immer gestellt ist. Und so kontrovers der Schuldbegriff auch
sein mag; das Schuldprinzip erscheint ganz unangefochten.

Freilich verschlingen sich die Linien der Diskussion vielfach. Und


doch dominiert weithin ein einheitlicher Ausgangspunkt: man setzt
für Schuld das "Andershandelnkönnen" des Täters voraus und stellt
von daher immer neu die Frage nach der Willensfreiheit. Sieht man
diese Freiheit als metaphysische Prämisse jedes sittlichen Urteils über
menschliches Handeln, dann ist sie in diesem metaphysischen Sinne
auch für das staatliche Strafen vorausgesetzt. Verlangt man diese Frei-
heit für das staatliche Strafen dagegen unter Zweckgesichtspunkten,
dann ist sie meistens in einem empirischen Sinne gemeint, und es geht
die Frage vornehmlich dahin, ob diese Freiheit als individuelles Kön-
nen je im Einzelfall für die Strafe vorausgesetzt werden muß (ob der
Täter also in der konkreten Situation in diesem empirischen Sinne frei
gehandelt hat) oder ob die Freiheit kriminalpolitisch nach Anforde-
rungen der Strafzwecke nur generalisierend für derartige Handlungs-
situationen bejaht zu werden braucht (ob also in derartigen Situatio-
nen eine Art Durchschnittsbürger den Anforderungen des Rechts zu
genügen vermöge). Gerade auf die Beantwortung dieser Fragen zum
empirischen Freiheitsbegriff hat sich das Gespräch der letzten Jahre
mehr und mehr zugespitzt - oder: verengt3 • Die Folge ist, daß in die
aktuelle Diskussion um den Schuldbegriff der im Thema genannte
axiologische Begriff nur mehr selten einbezogen wird, fast so, als käme
er nach dem Stand der Erkenntnisse nicht mehr in Betracht.

11. Vom Umgang mit wissenschaftlichen Theorien

Wenn eine wissenschaftlich begründete Theorie aus dem Gespräch


verdrängt wird, kann dies im wesentlichen drei verschiedene Ursachen
haben: es geschieht aus der Stärke der im Gespräch dominierenden
Theorien oder aus ihrer Schwäche oder schließlich aus Mode.
Aus relativer Stärke wird eine Theorie übergangen, wenn sie -
bezogen auf den aktuellen Erkenntnisstand, also in diesem Sinne:
"relativ" - falsch ist und als schon hinreichend widerlegt gilt. Ein

3 Vgl. etwa den Bericht SeeZmanns, Neue Entwicklungen beim straf-


rechtsdogmatischen Schuldbegriff, Jura 1980, S.505. - Dagegen z. B.: Dtto,
über den Zusammenhang von Schuld und menschlicher Würde, GA 1981,481.
Über den axiologischen Schuldbegriff des Strafrechts 487

Beispiel für derartiges Nichtbeachten aus relativer Stärke der am Ge-


spräch beteiligten Ansichten findet sich in der Strafrechtswissenschaft
etwa in der Teilnahmelehre; dort ist die Ansicht, die Straftat des Teil-
nehmers setze als Erfolg eine nicht nur unrechte, sondern eine auch
schuldhafte Haupttat voraus, mangels innerer Evidenz schon in den
dreißiger Jahren mehr und mehr aufgegeben und schließlich auch
durch das Gesetz in einer den Sachstrukturen angemessenen Weise
ausgeschlossen worden4 •
Eine nach wissenschaftlichen Kriterien entwickelte Theorie kann
auch aus bloßer Mode übergangen werden; sie mag zunächst durch-
aus Gewicht gehabt haben, aber eine vorläufige oder auch nur par-
tielle Ablehnung ließ man ausreichen, sie unreflektiert außerhalb des
wissenschaftlichen Gesprächs zu lassen. Andere Ansichten drängen
sich in den Vordergrund, suchen sich zu behaupten und bemühen sich
nicht etwa gar um ihre eigene Relativierung. Wie Geistesrichtungen
auch sonst im Leben einer Gesellschaft, so sind auch Theorien inner-
halb des "Betriebs" einer Wissenschaft der Mode und der Gewohn-
heit unterworfen. Als Beispiel aus dem Bereich des Strafrechts läßt
sich etwa das Problem der früher sog. Unterbrechung des Kausalzu-
sammenhangsS anführen; da die gesetzliche Regelung auch heute nur
das vorsätzlich begangene Teilnehmen unter Strafe stellt, hat diese
Theorie der Struktur nach heute noch genauso viel Gewicht wie ein-
stens; aus dem wissenschaftlichen Gespräch der Gegenwart ist sie aber
weitgehend ausgeschieden; unter anderer, freilich eher sachgerechter
Bezeichnung fordert sie jedoch nach wie vor kritische Befassung her-
aus6 •
Schließlich gibt es auch das Verdrängen aus Schwäche: die über-
gangene Theorie ist den anderen an Erkenntnis überlegen. Aber die
an der Diskussion Beteiligten müßten sich auf andere Gedankenbah-
nen begeben, was auch in der Wissenschaft nicht immer leicht fällt;
sie müßten vielleicht gar wesentliche Teile eines größeren Gedanken-
gebäudes aufgeben, wenn sie der für richtig erkannten Ansicht folg-
ten. So hält man die als beunruhigend empfundene Theorie aus dem
Gespräch fern und hält dafür an erkannten oder halberkannten Irr-
tümern fest. Auf die Anführung eines Beispiels soll hier verzichtet
werden. Jedenfalls ist es in solchem Falle die eigene Schwäche, aus
der gängige Theorien eine andere verdrängen. -
4 Vgl. etwa: KantoTOwicz, Tat und Schuld, 1933. Sodann 1943 vor allem
die Neufassung von § 50 I, die dem heutigen § 29 entspricht (bei mehreren
Tatbeteiligten jeder nach seiner Schuld strafbar); bei Anstifter und Gehilfen
nur noch eine "mit Strafe bedrohte" Haupttat.
5 Als "Regreßverbot" behandelt z. B. bei Frank, StGB, 18. Auf!. 1931, S. 14 f.
G Vgl. etwa Naucke, ZStW 76 (1964), S.409; Dito, Grundkurs Strafrecht,
2. Auf!. 1982, S. 54.
488 Eberhard Schmidhäuser

Manches - das soll hier nicht belegt werden - spricht dafür, daß
der im Titel genannte Schuldbegriff aus bloßer Mode übergangen wird.
Um so mehr erscheint es geboten, ihn wieder dem Gespräch zuzu-
führen.

III. Wege zum Schuldbegriff

1. Bei der Frage nach dem Schuldbegriff gehen wir immer schon von
einem Vorbegriff von Schuld aus; er ergibt sich zugleich aus der Tra-
dition früheren Strafens wie aus den Regeln des staatlichen Strafens
der Gegenwart und aus den hierbei jeweils bezeichneten Vorausset-
zungen der Strafe.
Unser Weg wird durch jene Vorschriften des geltenden Strafrechts
markiert, die offensichtlich das Unrecht einer Tat voraussetzen und
auf dieses Unrecht gewisse Erkenntnisse und Erkenntnisfähigkeiten
des Täters beziehen, wobei eine besonders enge Verbindung zur Per-
son des Täters deutlich wird. Nach geltendem StGB sind dies u. a. die
Vorschriften: § 17 über den Verbotsirrtum, § 19 über die Schuldunfä-
higkeit des Kindes, § 20 über die Schuldunfähigkeit wegen seelischer
Störungen, § 29 darüber, daß im Bereiche von Täterschaft und Teil-
nahme "jeder Beteiligte" "ohne Rücksicht auf die Schuld des anderen
nach seiner Schuld bestraft" wird. Hierher gehören auch § 35 über den
entschuldigenden Notstand und § 46 über die Grundsätze der Strafzu-
messung. Ferner muß der Schuldbegriff in Einklang stehen können
mit Feststellungen zur Geschichte, etwa: daß das Strafrecht sich vom
Erfolgs- zum Schuldstrafrecht entwickelt habe - , und auch in Ein-
klang zu grundlegenden Rechtssätzen der übergeordneten Verfassung,
etwa, daß keine Strafe ohne Schuld des Täters verhängt werden dürfe
und daß die Strafe in einem gerechten Verhältnis zur Schuld des Tä-
ters zu stehen habe.
Schließlich wird in die Bestimmung des Schuldbegriffs eine rechts-
ethische Besinnung über das staatliche Strafen als solches mit ein-
gehen. Hierbei wird dann gewiß die unterschiedliche Sicht der Zwecke
des staatlichen Strafens oder gar das unterschiedliche Erlebnis eines
Sinns im staatlichen Strafen Folgen für den Schuldbegriff haben.

2. Innerhalb des Bereichs, der mit dem soeben Gesagten für die
Frage nach dem Schuldbegriff abgesteckt ist, finden sich nun aber
zwei grundlegend verschiedene Blickrichtungen. Knapp formuliert
geht die eine vom Unrecht her auf die Schuld hin, die andere von der
Schuld her auf das Unrecht hin. Das mag zunächst wie ein bloßes
Spiel mit Akzentuierungen aussehen, hat aber doch schließlich Folgen
für den Schuldbegriff.
über den axiologischen Schuldbegriff des Strafrechts 489

Fragt man nach der Schuld vom Unrecht her, dann steht das Unrecht
als gegeben schon fest und es interessiert hauptsächlich, ob es hätte
vermieden werden können. Es ist wie bei unerfreulichen Alltagsereig-
nissen, wo nachträglich derartige Fragen gestellt zu werden pflegen.
So ergibt sich dann bei der Suche nach dem Schuldbegriff die Frage
nach der Vermeidbarkeit des Unrechts, und diese Frage wird regel-
mäßig bejaht, wenn man vom Andershandelnkönnen des Täters aus-
gehen kann; und darin wird dann die Schuld oder doch deren Kern
gesehen.
Blickt man dagegen von der Schuld auf das Unrecht hin, so folgt
man dem zeitlichen Ablauf des Geschehens, wo die Schuld immer vor
der unrechten Tat beginnt (und sei dies auch nur die knappe Zeitspanne
eines raschen Gedankens). Dann fragt man nicht nach einer eher for-
malen Kategorie der Vermeidbarkeit, sondern nach einem material
wertwidrigen Grund im seelischen Erleben des Täters, aus dem seine
unrechte Tat hervorgegangen ist.
Diese Sicht wird von den gesetzlichen Vorschriften durchweg nahe-
gelegt. Es ist ganz selbstverständlich, daß alle Momente, die wir hier
zum Schuldbereich rechnen, zeitlich immer vor dem Unrecht beginnen.
Daß z. B. die Unfähigkeit, das Unrecht der Tat "einzusehen" (§ 20),
nicht etwa eine nachträgliche Einsicht meint, sondern ein Vorausbe-
wußtsein des nachfolgenden eigenen HandeIns, ist evident. Dies gilt
auch für alle sonstigen Momente, die wir richtigerweise in den Be-
reich der Schuld stellen, etwa nach § 216 StGB, daß der vorsätzlich
tötende Täter "durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des
Getöteten zur Tötung bestimmt worden" ist, oder nach § 213, daß der
Totschläger "zur Tat hingerissen worden" ist, oder auch nach § 35, daß
der Täter im entschuldigenden Notstand aus dem Gefahrerlebnis her-
aus gehandelt hat. Gewiß geht man in der Praxis der Strafverfolgung
von einer unrechten Tat als Anknüpfungspunkt aus und fragt dann
nach der Schuld des Täters. Gewiß auch setzt nach den Erkenntnissen
der modernen Straftatsystematik die Schuld das Unr,echt voraus:
denn eine irgendwie beschaffene Schuld ohne das Unrecht, auf das
sie sich bezieht, wäre für die Rechtsanwendung ganz ungreifbar. Aber
für den Begriff dieser Schuld muß es entscheidend sein, daß die see-
lischen Phänomene, in denen sie ihren "Sitz" hat, im Ablauf des Ge-
schehens vor dem Unrecht liegen und daß also Schuld und Unrecht
im Verhältnis von Grund zu Folge stehen.
Dies bedeutet: Ist das Unrecht Wertverfehlung i. S. der Rechtsguts-
verletzung im Willensverhalten nach außen, dann muß die Schuld
diese Wertverfehlung in anderer Weise vorweggenommen haben. Be-
deutet Unrecht, daß der Täter handelt, wie er nicht handeln darf,
490 Eberhard Schmidhäuser

oder nicht handelt, wo er handeln soll, dann bedeutet Schuld in der


Person des Täters den Grund für den fehlerhaften Handlungsentschluß
bzw. für das fehlerhafte Ausbleiben eines solchen Entschlusses - und
zwar gesehen vor dem Hintergrund der Verbote und Gebote, die der
Täter selbst aus seiner Teilhabe an dem Geist der Gesellschaft, in der
er lebt, aufgenommen und verfügbar hat. Es geht damit um das gei-
stige Verhalten des Täters, das wir - vor allem seit der Ethik Kants
- "Gesinnung" nennen.
Schuld meint also den geistigen Boden der unrechten Tat; nach
Jeschecks Worten bekommt die Tat "durch die Gesinnung, aus der
sie erwächst, ihren eigentlichen Wert- bzw. Unwertgehalt"7. Diese Ge-
sinnung aber kann anschaulich nur das Nichternstnehmen des in der
konkreten Situation Achtung fordernden Rechtsgutes sein; und so kann
es in der Frage nach der Schuld im Einzelfall immer nur darum ge-
hen, ob wir den Täter der unrechten (unerlaubt rechtsgutsverletzen-
den) Tat in seinem geistigen Verhalten dahin verstehen müssen, diese
Tat beruhe auf einem unmittelbar vorgängigen Nichternstnehmen
des hernach im Willensverhalten verletzten Rechtsguts.

IV. Die Tatgesinnung als Schuldbegriff des Strafrechts

Schon von Liszt hat einen Begriff von Gesinnung für den Schuld-
begriff herangezogen; er sah den "materiellen Inhalt des Schuldbe-
griffs" "in der aus der begangenen Tat (dem antisozialen Verhalten)
erkennbaren asozialen Gesinnung des Täters" und verstand darunter
im Zusammenhang seiner spezialpräventiven Sicht des Strafens einen
charakterlichen, also auf Dauer gerichteten Mangel an sozialem Pflicht-
gefühlS. - In einem ganz anderen Sinne schlug später Mezger, ohne
an dieser Stelle den Ausdruck Gesinnung zu verwenden, die Brücke
zur Gesinnungsethik Kants, wenn er sagte, "philosophiegeschichtlich"
sei die Verwirklichung des Schuldgedankens "das geistige Erbe vom
,allein guten Willen' bei Kant"9. - Für Gallas kann "in einem finalen
System" "der Unterschied zwischen Unrecht und Schuld nur der zwi-
schen Handlungsunwert und Gesinnungsunwert der Tat sein", und
Schuld ist für ihn in diesem Zusammenhang "Vorwerfbarkeit der Tat
mit Rücksicht auf die darin betätigte rechtlich mißbilligte Gesin-
nung"10. - Und nach Jescheck schließlich ist "Gegenstand des Schuld-
urteils" "die Tat im Hinblick auf die rechtlich fehlerhafte Gesinnung

7 Jescheck, Strafrecht, Allg. Teil, 3. Auf!. 1978, S. 341.


S von Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 21./22. Auf!. 1919, S. 152.
• Mezger, Strafrecht, Bes. Teil, Kurzlehrbuch, 1952, S. 287.
10 Gallas, ZStW 67 (1955), S. 45.
über den axiologischen Schuldbegriff des Strafrechts 491

(tadelnswerte Rechtsgesinnung), aus der der Entschluß zur Tat er-


wachsen ist" 11. - Nach meinem eigenen und nach Langers Vorschlag
schließlich bedeutet Schuld für die nachträgliche Feststellung, "daß
der Täter den Wert, den er in seinem Willensverhalten unerlaubt ver-
letzt hat (Unrecht), in seinem geistigen Verhalten nicht ernst genom-
men hat"; der Täter hat dann schuldhaft Unrecht getan, wenn er es "in
unrechtlicher Einzeltatgesinnung" getan hat 12 •
Es ist hier nicht erforderlich, die drei neueren Schuldbegriffe, die
alle auf "Gesinnung" abstellen, im einzelnen zu unterscheiden. Es sei
erlaubt, im folgenden den zuletzt angeführten Schuldbegriff etwas
näher darzutun und zugleich einige Kritik anzuführen, die sich gele-
gentlich gegen ihn richtete.

1. Schuld ist als unrechtliche Gesinnung geistiges Verhalten. In ihr


ist im Täter jene "Schicht" des Menschen gemeint, in der er als sub-
jektiver Geist teilhat am objektiven Geiste, also als Individuum teil-
hat an der Kultur der Zeit und der Gesellschaft, in der er lebt. Es ist
zwar nicht üblich, diese Zusammenhänge in dieser Terminologie in
der Strafrechtslehre anzusprechen; aber die Strafrechtsdogmatik kann
nicht ohne einen Begriff des Geistigen auskommen. Sogar das formu-
lierte Gesetz bringt den Terminus: nach § 3 JGG ist ein Jugendlicher
"strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner
sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der
Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln". Da das Sittliche
(neben den Werten des Schönen und des Wahren) einen Teilbereich
des Geistigen ausmacht (zu dem in erster Linie die Sprache und dann
die Wertvorstellungen des Kulturbereichs gehören), wäre es freilich
besser, von sittlich-geistiger Entwicklung zu sprechen.
In diesen Zusammenhang gehört es auch, wenn das Kind (§ 19 StGB)
generell als schuldunfähig bezeichnet wird: es ist typischerweise noch
zu jung, um in hinreichenden Kontakt mit den verpflichtenden Rechts-
werten des gesellschaftlichen Zusammenlebens gekommen zu sein. Und
auch § 20 StGB über die Schuldunfähigkeit meint letztlich, daß der
geistige Kontakt zu den grundlegenden Rechtswerten im Zeitpunkt
der Tat in einer Weise fehlte oder gestört war, daß wir den Täter
im Hinblick auf seine unrechte Tat nicht dahin zu verstehen vermö-
gen, er habe sie in unrechtlicher Gesinnung getan, oder: sein Verhal-
ten beruhe auf unrechtlicher Gesinnung.

11 Jescheck (wie Anm. 7).


12 So zuletzt: Schmidhäuser, Strafrecht, Allg. Teil, Studienbuch, 2. Aufl.
1984, Rn. 7/1, 6. - Vgl. schon ders., Gesinnungsmerkmale im Strafrecht, 1958,
S. 168, 182. - Langer, Das Sonderverbrechen, 1972, bes. S. 320 ff.
492 Eberhard Schmidhäuser

"Geistiger Kontakt" meint hier nicht notwendig ein aktuelles Be-


wußtsein der verletzten Werte im Augenblick der Tat 13 ; dieser Kon-
takt ist vielmehr dann gegeben, wenn der Täter den jeweils verletz-
ten Wert, wenn auch unbewußt, als Person zur Tatzeit verfügbar hat.
Vielleicht ist aber ein Mißverstehen deutlicher ausgeschlossen, wenn
lediglich von der "geistigen Teilhabe" am verletzten Wert g,esprochen
wird. In diesem Sinne traf auch der frühere Name "Geisteskrank-
heit" die Sache, soweit nämlich aufgrund krankhafter körperlicher
oder doch seelischer Vorgänge der Kontakt des Kranken zum Objek-
tiv-Geistigen gestört ist.
Wenn wir dem Satze Nicolai Hartmanns folgen: "Der Geist aber
verbindet, das Bewußtsein isoliert" 14, dann ist es wohl auch richtig,
im Unrecht zunächst das Wollen des Täters als sein seelisches Erleben
zu sehen, das nach außen in die soziale Umwelt hineinwirkt oder -wir-
ken sollte (Handeln und Unterlassen), in der Schuld dagegen in sei-
nem seelischen Erleben die Momente zu erfassen, die uns den Täter
als Subjektiv-Geistiges in seinem Verbundensein mit dem Objektiv-
Geistigen der Allgemeinheit zeigen - die ihn uns zeigen als Mitträ-
ger von deren moralischen (oder sozialethischen) Anforderungen, so-
weit er an diesen einfachen Grundwerten des Zusammenlebens geisti-
gen Anteil hat.
Auch das Kind, der unreife Jugendliche, der Geisteskranke und der
momentan Gestörte - jeder kann sich in einer Weise verhalten, wie
man sich nicht verhalten darf. Aber es fehlt dann in den gedachten
Fällen am geistigen Kontakt, wie er hier gemeint ist, so daß von
Schuld keine Rede sein kann. In diesem Sinne ist denn auch Unrecht
als "Willensverhalten" (nämlich auf den menschlichen Willen bezoge-
nes Geschehen), Schuld als "geistiges Verhalten" zu benennen. Damit
wird nicht verkannt, daß menschliches Wollen immer nur über das
Denken, also über das bewußte Handhaben von Begriffen möglich ist,
die eben insoweit auch eine Teilhabe am objektiven Geist bedeuten;
ebensowenig wird verkannt, daß zugleich das Individual-Geistige im-
mer eben den ganzen Menschen voraussetzt, nicht nur Leib und Le-
ben, sondern auch die Seele, ja, daß die Seele der Ort ist, an dem sich
Subjektiv-Geistiges abspielt. Dies ändert jedoch nichts daran, daß
Willensverhalten und geistiges Verhalten zu unterscheiden sind und

13 Die hiergegen geäußerte Kritik von Roxin, Festschrift für Henkel, 1974,
S. 178 f., auch Lenckner, in: Schönke!Schröder, 21. Aufl. 1982~ vor § 13, Rn. 117,
richtet sich gegen ein durch Vorurteil festgelegtes Wortverständnis; vorsorg-
lich ist zu bemerken, daß "geistiger Kontakt" zwischen Anstifter und An-
gestiftetem (vgl. mein Studienbuch, Rn. 10/113) im dortigen Zusammenhang
notwendig etwas anderes meint als bei der Schuldfähigkeit.
14 Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 2. Aufl. 1949, S. 71.
über den axiologischen Schuldbegriff des Strafrechts 493

daß es in unserem Zusammenhang, nämlich für Unrecht und Schuld,


gerade auf diese Unterscheidung ankommt.

2. Schuld ist als geistiges Verhalten nicht etwa Dauergesinnung,


sondern Einzeltatgesinnung. Hier sind (neben anderen Begriffen von
Gesinnung)15 vor allem diese beiden Begriffe zu unterscheiden.
Man darf in einem Tatstrafrecht (im Unterschied zum Gedanken
eines Täterbehandlungsprogramms) natürlich nicht fragen, welche
Gesinnung ein Mensch "hat" (denn damit stellt man sogleich auf eine
Dauergesinnung ab, z. B. auf die beständige unkameradschaftliche Ge-
sinnung eines Schülers in seiner Klasse).
Man wird im Strafrecht vielmehr fragen, "in" welcher Gesinnung
der Täter gehandelt hat, und damit die Frage nach dem geistigen Ver-
halten auf die einzelne Tat beschränken. Mit dem Wort "Gesinnung"
ist also nicht notwendig ein längere Zeit dauerndes geistiges Verhalten
gemeint; terminologisch sind die beiden Begriffe insoweit klar als
Einzeltatgesinnung und Dauergesinnung zu unterscheiden l6 •

3. Schuld ist als geistiges Verhalten, das dem Tatentschluß zugrunde


liegt und das Handeln zwar begleitet, aber ihm zunächst zeitlich vor-
ausgeht, ein Nichternstnehmen des Rechtsguts, das - wir versetzen uns
in den Zeitpunkt, zu dem wir die begangene Straftat beurteilen: - her-
nach im Handeln oder Nichthandeln vom Täter verletzt worden ist.
In der wertwidrigen Gesinnung finden wir den Unwertsachverhalt,
der zusätzlich zum Unrecht für die Strafe vorausgesetzt werden muß,
wenn die Strafe sittlich vertretbar sein soll. Diese sittliche Begrün-
dung des Schuldstrafrechts braucht an dieser Stelle nicht dargetan zu
werden; das Schuldprinzip ist wohl insoweit heute unangefochten.

4. Schuld ist als unrechtliche Gesinnung - vom Täter her gese-


hen: - Entstehensgrund der unrechten Tat; das bedeutet zugleich
für die Rechtsanwendung: die Schuld muß im Einzelfall Verstehens-
grund hinsichtlich dieser unrechten Tat sein. Wir dürfen wegen der
unrechten Tat nur dann bestrafen, wenn wir den Täter dahin verste-
hen, daß seine unrechte Tat auf dem Nichternstnehmen des im Wil-
lensverhalten verletzten Rechtsguts beruht.

15 Vgl. dazu ausführlich: Gesinnungsmerkmale (wie Anm. 12), S. 24 H.,


33 H., 95 H.
18 Entgegen der Kritik Arthur Kaufmanns, Das Schuldprinzip, 1961, S. 152,
mache ich also durchaus "Ernst mit der Auffassung, daß der Gesinnung ein
Moment der Dauer innewohne", allerdings (Gesinnungsmerkmale [wie Anm.
12], S.33, 69) nur dort, wo ich ausdrücklich von der "Dauergesinnung" rede:
dagegen S. 80 ff. ausdrücklich zur "Einzeltatgesinnung" .
494 Eberhard Schmidhäuser

An diesem Verstehensgrund kann es in unterschiedlichen Fallge-


stalten fehlen: einmal dann, wenn der Täter generell oder nur im Tat-
zeitpunkt den geistigen Kontakt, wie wir ihn oben geschildert haben,
zu den rechtlichen Grundwerten des gesellschaftlichen Zusammen-
lebens nicht hat, also z. B. wegen jugendlicher Unreife, wegen krankhaf-
ter seelischer Störungen (i. S. § 20), hier auch wegen eines ganz momen-
tanen Alkoholrausches. Ferner kann es am Verstehensgrund fehlen,
wenn der Täter in der Tatsituation gar keine Anhaltspunkte in seinem
tatsächlichen Erleben hatte, die ihn auf das Unrecht seines bevorste-
henden Verhaltens hinweisen konnten; das ist die Schuldlosigkeit, die
auf dem für den Täter unvermeidbaren Tatirrtum oder entsprechen-
den Unrechtsirrtum beruht. Schließlich kann es am Verstehensgrund
auch fehlen, wenn dem Täter im entscheidenden Zeitpunkt zwar nicht
die Einsicht in seine unrechte Tat, wohl aber die Steuerungsfähigkeit
fehlte (§ 20: "nach dieser Einsicht zu handeln"), d. h. wenn die Wertteil-
habe des Täters in ihrer Kontrollfunktion gegenüber Handlungsan-
trieben aus der Tiefenperson pathologisch gestört war17 • In einem sol-
chen Falle können wir den Täter eben auch nicht dahin verstehen,
daß seine unrechte Tat auf dem Nichternstnehmen des verletzten
Rechtsguts beruhe.

5. Schuld als unrechtliche Gesinnung ist noch nicht gleichbedeutend


mit Rechtsschuld. Soweit nämlich in § 35 StGB gesagt wird, im ent-
schuldigenden Notstand handle der Täter "ohne Schuld", ergibt sich
neben dem zunächst durch Analyse gewonnenen Schuldbegriff der un-
rechtlichen Gesinnung positivrechtlich ein engerer Begriff der Rechts-
schuld. Zwar sagt das Gesetz mit denselben Wörtern sowohl in § 17
(beim unvermeidbaren Verbotsirrtum) wie in § 35 (beim entschuldi-
genden Notstand), der Täter handle "ohne Schuld"; aber während im
Falle des unvermeidbaren Verbotsirrtums der Täter nicht dahin zu
verstehen ist, er habe das Rechtsgut in seinem geistigen Verhalten
nicht ernst genommen, ist dies beim entschuldigenden Notstand an-
ders. Die ethische Analyse ist nicht an die Formulierung des Gesetzes
gebunden. Das Gesetz kann diese Analyse nicht vorschreiben; es kann
aber aus einsichtigen Gründen, die im Bereich der Schuld liegen, die
Strafbarkeit begrenzen. Und gerade dies geschieht u. a. in der Vor-
schrift des § 35: wenn sich der Täter zwar bewußt unerlaubt über
einen Rechtswert hinwegsetzt, dies aber unter dem Eindruck solcher
Not tut, dann erscheint sein Verhalten moralisch "relativ verständ-

17 Die Kritik von Lenckner und Roxin (s. o. Anm. 13) läßt auch zu diesem
Punkt die hermeneutische Billigkeit vermissen; in meinem Lehrbuch ist
nachdrücklich vom "Verstehen" des Täters die Rede; 2. Auf!. 1975, Rn. 10/2,
zur Steuerungsfähigkeit ausdrücklich 10'24. - Im AT 1984 (wie Anm. 12) ist
Rn. 7/16 auf das Verstehen hingewiesen.
über den axiologischen Schuldbegriff des Strafrechts 495

lich", die Strafe würde hier weithin nur noch als leerer und anmaßen-
der sittlicher Appell empfunden werden, da niemand sicher von sich
sagen könnte, im Falle des Täters anders gehandelt zu habenl8 • So
leuchtet der staatliche Verzicht auf Strafe in die!:en Fällen durchaus
ein.
Seltsamerweise ist diese - schon längst vorgetragene - Sicht der
Dinge von verschiedenen Kritikern nur mit Vorurteilen bedacht wor-
den l9 • Es ist aber nicht ersichtlich, warum der Begriff der Schuld in
§ 35 nicht enger sein sollte als der in § 17 . Und es spielt insoweit keine
Rolle, ob man die damit verbundene Einschränkung der Strafbarkeit
nur mit Gerechtigkeitsaspekten oder (- je nach Ansatz: auch) krimi-
nalpolitisch begründet. Letztlich ist es auf grund der Regelungen hin-
zunehmen, daß für die Straftat hier ein gesteigerter Mindestgrad an
Verwerflichkeit der Schuld vorausgesetzt wird. Mag auch die Wertver-
fehlung im geistigen Verhalten des Täters in diesen Fällen durchaus
gegeben sein, so ist diese Verfehlung doch relativ verständlich, und es
liegt in der Freiheit des Gesetzgebers, daher die Rechtsschuld zu ver-
neinen.

6. Die unrechtliche Gesinnung als Schuld meint der Idee nach, daß
der Täter vor seinem eigenen Gewissen sich gegen die Grundanforde-
rungen der Rechtsordnung in verfehlter Weise verhaUen hat, sei es,
daß er bewußt gegen sein Gewissen handelte, sei es auch nur so, daß
er - bei übersehen des Rechtsguts - hernach vor seinem Gewissen
seine eigene Tat als Verfehlung anerkennen müßte20 • Nicht von un-
gefähr ist in den Gerichtsentscheidungen wiederholt von der "Gewis-
sensanspannung" des Täters die Rede21 •

18 So schon die Formulierung in meinem Lehrbuch, 1970, Rn. 11/1; zuletzt


Studienbuch (wie Anm. 12), Rn. 7/l.
19 So meint Roxin, Festschrift für Henkel, 1974, S. 178, diese Deutung ent-
ziehe "den überwiegenden Teil der strafrechtlichen Schuldlehre" von vorn-
herein meinem eigenen Lösungsansatz, der damit "als allgemeines Prinzip"
. .. (usw.) dahinfalle. Aber mit solcher Kritik zäumt man das Pferd beim
Schwanze auf - als stecke "der überwiegende Teil der Schuldlehre" in den
Entschuldigungsgründen! Wenn wir nicht nominalistisch das Wort über den
Begriff und damit über die Sache triumphieren lassen wollen, müssen wir
zuerst einmal die Schuld kennen, d. h. die Substanz des Unwerts, bevor wir
die Entschuldigung erfassen. Wenigstens insoweit läßt sich eine Parallele zie-
hen: man kann auch den Gehalt des Unrechts nicht von den Rechtfertigungs-
gründen her bestimmen. - Auch Jakobs, Strafrecht, Allg. Teil, 1983, Rn.
17117, der sonst meine Konzeption anerkennt, kritisiert zu diesem Punkt
nominalistisch.
20 Köhler, Die bewußte Fahrlässigkeit, 1982, S. 133 ff., steht diesem Schuld-
verständnis nahe, allerdings aus der Sicht einer überempirischen Autonomie
des Subjekts; im Verbrechen dokumentiert sich ein "Willenswiderspruch" ,
ein "Selbstwiderspruch zum allgemeinen Willen des Subjekts selbst" (S. 143).
21 Vor allem: BGHSt. 2, 194,200 H.
496 Eberhard Schmidhäuser

Wie aber nun, wenn den Täter sein eigenes Gewissen zum Rechtsver-
stoß angehalten hat? Wenn wir diesen "Überzeugungstäter" gleichwohl
bestrafen, dann zeigt sich darin, daß der Begriff der Schuld hier von
der Idee der Schuld zu unterscheiden ist. Die praktische Notwendig-
keit staatlichen Strafens bedingt, daß eine Rechtsordnung, die sich
nicht selbst aufgeben will, aus dem Grunde der Allgemeingültigkeit
ihrer Forderungen auch den Überzeugungstäter bestraft - und dies,
obwohl sie als Rechtsordnung darauf angewiesen ist, daß möglichst
alle, die ihr unterworfen sind, sich ihre Grundanforderungen als ein-
sichtig zu eigen machen.
So ergibt sich abschließend: Der Idee nach bedeutet unrechtliche
Gesinnung als Schuld, daß der Täter im entscheidenden Augenblick
seines Verhaltens nach seinem Gewissen selbst sich sagte oder hätte
sagen müssen, er dürfe sich so, wie er es nun vorhabe, nicht verhal-
ten. Und das richterliche Strafurteil beruht dann auf der gleichlaufen-
den Gewissensentscheidung des Richters22 . Der Richter geht der Idee
nach in seiner Entscheidung davon aus, daß der Verurteilte vor der
Tat zur selben Beurteilung seines Verhaltens wenigstens hätte kom-
men können. Hat sich nun aber der Täter in individual-ethischer
Überzeugung über die Anforderung der Rechtsordnung hinwegge-
setzt, dann klaffen Schuldidee und praktizierter Schuldbegriff offen
auseinander; so fehlt es in diesem Falle an der sittlichen Schuld des
Täters, und doch ist die Rechtsschuld zu bejahen.

7. Unrechtliche Gesinnung als Schuld ist sowohl für die Strafbe-


gründung wie für die Strafzumessung vorausgesetzt. Man unterschei-
det für die Rechtsanwendung zutreffend diese beiden Funktionen der
Schuld23 . In der Substanz differieren sie freilich nur insoweit, als es
zur Strafbegründung nicht der Fülle der Momente bedarf, die für die
Strafzumessung eine Rolle spielen.
Für beide Funktionen ist der Grad an Verwerflichkeit der unrecht-
lichen Tatgesinnung bedeutsam; innerhalb des Schuldtatbestandes zeigt
sich dies besonders deutlich dort, wo besondere Schuldmerkmale an-
zuerkennen sind (etwa beim Mord, § 211, die Absicht, eine andere Straf-
tat zu ermöglichen)24. Eine sozusagen nur negativ bestimmte Schuld,

22 In Gesinnungsmerkmale (wie Anm. 12), S. 184 f., meinte ich, die Ge-
wissensentscheidung des Richters stimme der Idee nach mit der des Täters
als Urteil über die Tat überein. Arthur Kaufmann (wie Anm. 16), S. 198 f.,
hat diesen Gedanken übernommen, spricht allerdings von der "stellvertre-
tenden" Gewissensentscheidung des Richters (obwohl die Gewissensentschei-
dung als solche immer an die Person selbst gebunden ist).
28 Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechts-
systematischen Schuldlehre, 1974, S. 4 f., unterscheidet in diesem Sinne Straf-
maßschuld und StrafbegründungSSchuld.
über den axiologischen Schuldbegriff des Strafrechts 497

deren Begriff auf die Vermeidbarkeit festgelegt ist, kann diesen Funk-
tionen des Schuldbegriffs nicht gerecht werden. Denn dazu bedarf es
positiver Kriterien der Schuld, an die überhaupt erst normativ ver-
gleichend angeknüpft werden kann.

V. Andere Schuldbegriffe und Ergebnis

Nachdem die unrechtliche Tatgesinnung als Schuldbegriff des Straf-


rechts in wesentlichen Momenten dargestellt ist, soll noch angedeutet
werden, wie sich dieser axiologische Schuldbegriff im Vergleich mit
anderen Schuldbegriffen der neueren Strafrechtslehre bewährt. Da-
bei geht für diese anderen Schuld begriffe die Blickrichtung offensicht-
lich mehr vom Unrecht auf die Schuld als umgekehrt, wiewohl na-
türlich niemand in Frage stellt, daß die Schuld im Ablauf des Tatge-
schehens dem Unrecht vorausgeht. Aber es wird eben der Grundge-
danke der Schuld meistens auf das "Dafür-Können" des Täters ge-
stützt: er kann etwas dafür, daß er Unrecht getan hat 25 • So kommt es
zur Frage nach dem "Andershandeln-Können" des Täters, und es wird
schließlich entscheidend, welches Material für die Antwort auf die so
gestellte Frage heranzuziehen sei. Dann liegt es nahe, beim Täter eine
Art von Willensfreiheit für die Strafe vorauszusetzen; und ein erster
Hauptunterschied der Meinungen ergibt sich folglich daraus, ob diese
Willensfreiheit in einem metaphysischen oder in einem empirischen
Sinne gemeint ist.

1. Setzt man Willensfreiheit in einem überempirischen (metaphy-


sischen) Sinne für die strafrechtliche Schuld voraus, dann kommt man
notwendig auch zu einem entsprechenden Schuldbegriff. Staatliches
Strafen wird damit an eine Metaphysik der ethischen Phänomene ge-
bunden. Man geht davon aus, wir könnten einem Täter seine rechts-
widrige Tat nur vorwerfen, wenn er in seinem Wollen in diesem Sinne
frei war. Dies ist ganz "grundsätzlich", und zwar eben jenseits aller
verifizierbaren Erfahrung vom Menschenbild selbst her so gemeint26 ;
es kann aber doch auch empirisch für den Einzelfall diese Entschei-
dungsfreiheit des Menschen wieder eingeschränkt erscheinen, etwa
wenn sich der Täter in einer übermächtigen Notstandslage befindet.

24 So Jescheck (wie Anm.7), S.381; Schmidhäuser (wie Anm.12), Rn.


7/124 ff..
n Besonders deutlich in diesem Sinne: Welzel, Strafrecht, 11. Aufl. 1969,
S.140. Ebenso Lenckner (wie Anm.13), Rn.118 mit Hinweisen auf BGH,
Baumann, Hirsch, Kaufmann, Rudolphi, Stratenwerth, Wessels - alle im
selben Sinne.
28 Arthur Kaufmann (wie Anm.16), S. 49 ff. .• 127 ff.; auch Köhler (wie
Anm.20).

32 Festschrift für H,-H, Jescheck


498 Eberhard Schmidhäuser

Doch all diese Fragen können hier nur kurz angeschnitten werden.
Das staatliche Strafen setzt kein Bekenntnis zur Willensfreiheit im
philosophischen Sinne voraus. Der Mensch müßte uns, und wir selbst
müßten uns jeweils voll Objekt sein können, wenn wir die Freiheits-
frage wollten beantworten können. Es genügt, für sittliche Forderun-
gen, für den Vorwurf ihres Verfehlens und für die Strafe, davon aus-
zugehen, daß wir im Handeln unser Wollen praktisch als frei erleben
und daß wir an uns und andere Anforderungen stellen. "Du kannst,
denn du sollst" ist nicht etwa Beweis der Freiheit aus dem Sollen, son-
dern nur Beweis des Freiheitserlebnisses aus der Einsichtigkeit von For-
derungen, die wir an uns und andere stellen; ob ich anders wollen
könnte, als ich frei zu wollen meine - diese Frage können wir nicht
beantworten, und wir brauchen sie auch nicht zu bejahen, um staatliche
Strafe für sittlich vertretbar halten zu können.
Gerade der axiologische Schuldbegriff im oben entwickelten Ver-
ständnis ermöglicht uns, das Unzulängliche zu erfassen, das mancher
weltanschaulichen Position in diesem Zusammenhang anhaftet - etwa
wenn eine Darstellung sagt, der Begriff der Schuld könne im determi-
nistischen Denken keine sinnvolle Bedeutung haben; Schuld sei ein
allein im Menschlichen, aber bei allen Menschen unabweisbar auftre·-
tendes Phänomen; sie sei nicht ohne Freiheit, ohne So-oder-anders-
handeln-Können und ohne Verantwortlichkeit denkbar 27 •
Denn diese Argumentation läßt sich nicht halten. Aus der Sicht des
axiologischen Schuld begriffs kann Schuld "allein im Menschlichen" -
im Vergleich zum Tier - eben auch dann gesehen werden, wenn nicht
auf metaphysische Freiheit, sondern auf die Welt des Geistes abge-
stellt wird; und dann zeigt sich auch, daß Schuld nicht ein bei allen
Menschen "auftretendes Phänomen" ist, so z. B. nicht bei Kindern und
Geisteskranken. Die zitierte Argumentation sieht eben zu Unrecht nur
auf die Alternative von Indeterminismus und Determinismus. Erkennt
man, daß es das Allgemein-Geistige und das je einzelne Teilhaben
daran ist, das den Menschen vor dem Tier auszeichnet, dann ergibt
sich sozusagen zwanglos der Weg, ohne Fixierung auf die Willens-
freiheit im metaphysischen Sinne, die Phänomene von sittlicher An-
forderung und Verstoß und strafender Reaktion einem vernünftigen
Begreifen zugänglich zu machen.
Dies gilt auch für die Problematik der sog. unbewußten Fahrläs-
sigkeit. Es kann hier ganz davon abgesehen werden, daß sich die Un-
terscheidung von bewußter und unbewußter Fahrlässigkeit in den für
die Strafrechts anwendung wesentlichen Strukturen nicht halten läßt 28 ;
27 Griffel, ARSP 1983, S. 360.
23 VgI. zuletzt: Schmidhäuser, Studienbuch Strafrecht AT, 2. Auf!. 1984,
Rn. 7/96 ff.
über den axiologischen Schuldbegriff des Strafrechts 499

für den überempirischen Schuldbegriff jedenfalls ist die Strafbarkeit


der sog. unbewußten Fahrlässigkeit unerträglich, soweit aus diesem
Begriff heraus der postulierte freie Wille auf den tatbestandlichen
Erfolg bezogen wird und bei unbewußter Fahrlässigkeit von vornher-
ein nicht bezogen werden kann. Aber dann weicht das idealistische
Freiheitsverständnis schließlich doch dem realistischen Strafbedürf-
nis: wenn man nämlich gleichwohl an der Strafbarkeit der unbewuß-
ten Fahrlässigkeit festhält 29 • Es gibt auch nicht den Ausweg, auf das
ohnehin schlechte Gewissen des strafenden Richters abzustellen30 ; viel-
mehr wird man entweder die Strafbarkeit der unbewußten Fahrläs-
sigkeit verneinen oder den zuvor gebildeten Schuldbegriff aufgeben
müssen. Dem axiologischen Schuldbegriff entsteht hier keine Schwie-
rigkeit; gleichwohl kann auch er von Willensschuld in dem Sinne aus-
gehen, daß alle Schuld sich auf den Willen bezieht, mag dieser Wille
auch nicht im überempirischen Sinne als frei vorausgesetzt werden3!.

2. Neben dem metaphysischen Schuldbegriff her, teilweise aber auch


sich mit ihm deckend, laufen andere Begriffsbildungen. Sie haben
ihren Ausgang beim sog. psychologischen SchuldbegrifJ genommen32 •
Er entsprach zunächst jenem Verständnis, das die unrechte Tat als
bloß objektiv-außerhalb der Täterseele liegendes Geschehen sehen
zu können meinte. Er erfü11te fürs erste die Aufgabe, die Person des
Täters mit diesem Geschehen zu verbinden. Doch schon für dama-
liges Verständnis ergab sich relativ bald, daß dieser Begriff hinsicht-
lich der Zurechnungsunfähigkeit, auch der sog. unbewußten Fahrläs-
sigkeit und schließlich der Entschuldigungsgründe nicht zu halten
war3S .
So wurde nach relativ kurzer Zeit der psychologische Schuldbegriff
durch den sog. normativen SchuldbegritJ verdrängt, der insbesondere
unter Einbeziehung auch der Zurechnungsunfähigkeit und der Ent-
schuldigungsgründe die Schuld als Vorwerfbarkeit bestimmteS'. Es ist

!g Arthur Kaufmann (wie Anm. 16), S. 156 ff., 210 f.


30 So aber Arthur Kaufmann (wie Anm. 16), S. 164 - als handle es sich
im schlechten Gewissen des Richters um einen ausgleichenden Wert.
3! Lenckner (wie Anm.13), Rn. 117, läßt leider auch hier die hermeneu-
tische Billigkeit vermissen: AT 1975, Rn. 10/6, findet sich kein Widerspruch
in meiner Darstellung, da dort ausdrücklich von Willensfreiheit im philo-
sophischen Sinne die Rede ist.
32 Bei Achenbach (wie Anm.23), S. 62 ff., weitere Differenzierung. Sum-
marisch darf aber wohl als solcher Schuldbegriff bezeichnet werden, was
Frank, Gießener Festschrift, 1907, S. 521 ff., angegriffen hat, nämlich: daß
der Schuldbegriff "nichts weiter als die Summe von Vorsatz und Fahrlässig-
keit" umfasse (S. 524).
33 Frank (wie Anm. 32), S. 524 ff.
St Frank (wie Anm. 32), S. 529: "Schuld ist Vorwerfbarkeit".
500 Eberhard Schmidhäuser

seltsam genug, daß dieser Schuldbegriff (der gar nicht sagt, woraus
sich nun die Vorwerfbarkeit ergibt) schließlich zu der verfehlten An-
nahme geführt hat, es erschöpfe sich die Schuld in einem bloßen Wert-
urteil über Fakten, die als solche schon im Hinblick auf das Unrecht
zu bewerten waren, nur dort eben unter einem anderen Aspekt. Zwar
ist diese Auffassung, die vor allem im Bereiche der finalen Hand-
lungslehre gefördert worden ist 35 , inzwischen deutlich in Frage gestellt
worden36 • Aber geblieben ist doch, daß die Schuld nach verbreiteter
Meinung schon dann als festgestellt erscheint, wenn nach Bejahung der
rechtswidrigen Tat keine Schuld ausschließungs- oder Entschuldigungs-
gründe vorliegen37 •
So bleibt bei dieser negativen, sozusagen subtraktiven Fassung
des Schuldbegriffs nach wie vor offen, wo denn nun die Substanz sei.
die den Unwert trägt, der zusätzlich zum Unrecht für die Strafe vor-
auszusetzen ist. Die Antworten auf die beiden Fragen: warum ist die
Tat rechtswidrig?, - warum ist sie schuldhaft? können nicht aus
demselben Material gegeben werden. Für den axiologischen Schuld-
begriff ist hier kein Problem: beide Antworten sind auf je eigenes
Material bezogen, nämlich einmal auf das Willensverhalten und so-
dann auf das geistige Verhalten des Täters.
In jüngerer Zeit hat man nun - darauf ist schon oben hingewiesen
worden - dem normativen einen "kriminalpolitischen" Schuldbegriff
entgegengestellt38 • In ihm soll der Begriff der Schuld unmittelbar von
den präventiven Zielen staatlichen Strafens her bestimmt werden.
Den Formulierungen nach wird dann primär gefragt, in welchen Fäl-
len menschlichen Fehlverhaltens Strafe präventiv erforderlich sei
(oder: wann nicht?); und was hier - bei gegebenem Unrecht - noch
zusätzlich vorauszusetzen ist, soll dann den Schuld begriff ausmachen.
So umschließt der kriminalpolitische Schuldbegriff schließlich die Mo-
mente der Schuldfähigkeit und der Vermeidbarkeit des Verbotsirr-
tums wie auch das Moment des Freiseins von einem spezifisch entschul-
digenden Motivationsdruck (also vor allem von einem entschuldigen-
den Notstand i. S. des § 35).

35 Vgl. Welzel (wie Anm.25), S. 140, wo Dohna zugestimmt wird, der den
Schuldvorwurf "auf die Wertung des Objekts" beschränkte.
36 Vgl. etwa meine Gesinnungsmerkmale (wie Anm.12), S. 150 ff.; Arthur
Kaufmann, Schuldprinzip (wie Anm.16), S.174 ff.; Jakobs (wie Anm.19),
Rn. 17/13 ff., wo dann allerdings das Unrecht zum Schuldtatbestand gezogen
wird.
37 Man sehe nur bei Rudolphi, Fälle zum Strafrecht, 2. Auf!. 1983, etwa
S.13, 88 (nach Feststellung von obj. und subj. Tatbestand nur dies: "B ist
daher, da Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe nicht vorliegen, einer
... schuldig.").
38 NolZ und Roxin (wie Anm. 2).
über den axiologischen Schuldbegriff des Strafrechts 501

Die Bestimmung dieses Schuldbegriffs hat nun zwar zunächst den


Vorteil, daß sie metaphysische Annahmen vermeidet und der ein-
leuchtenden Forderung nach Zweckrationalität staatlichen Strafens
zu entsprechen scheint. Aber bei näherem Zusehen zeigt sich, daß der
kriminal politische Schuldbegriff auf einem anti-metaphysischen Fehl-
schluß beruht, indem er nämlich zugleich mit einem irrationalen Frei-
heitsbegriff auch den sachlichen Gehalt der Schuld leugnet, soweit er
geistig-wertbezogener Natur ist. Nimmt man dagegen die Phänomene
des gesellschaftlichen Zusammenlebens unbefangen so zur Kenntnis,
wie sie rechtlicher Beurteilung unterliegen, dann zeigt sich als Un-
recht die Verletzung sozialethischer Anforderungen39 , und die Schuld,
aus der ja das Unrecht entspringt, hat es notwendig mit denselben
Kategorien zu tun. Eine Analyse, die sich hierauf bezieht, braucht
keineswegs irrational oder gar metaphysisch zu sein. Hierher gehören
denn auch bei dieser Sicht jene -schon oben genannten Momente: u. a.
geistige Reife und Handlungskontrolle beim Täter, das Unrechtsbe-
wußtsein und seine Erlangbarkeit (die "Gewissens anspannung") , auch
die sozialethische Einsichtigkeit von Anforderungen, die sich gegen
einen Täter richten, der besondere Aufgaben im gesellschaftlichen Zu-
sammenleben übernommen hat (vgl. § 35 Abs.l, Satz 2 beim entschuldi-
genden Notstand). Aus solchen Momenten ergibt sich der sachliche Ge-
halt des Schuldbegriffs und seiner Begrenzung. Dies verkennt ein krimi-
nalpolitischer "Schuld"-begriff; er vermengt den sachlichen Gehalt
des Schuldbegriffs mit dem Urteil über den zweckmäßigen Einsatz
der Strafe. Aber die Entscheidung des Gesetzgebers, etwa in § 35 zur
Entschuldigung des Täters, ergibt den Schuldbegriff nicht, sondern
setzt ihn voraus. "Schuld" ist nicht aus der Effektivität einer Rechts-
folge zu begründen; Schuld ist unter den sachlichen Voraussetzungen
der Strafe mehr und anderes als bloß das, was nicht zum Unrecht gehört.
Diese Kritik trifft auch einen neueren "funktionalen Schuldbe-
griff"40. Er erscheint z. T. noch als Radikalisierung des kriminalpoli-
tischen Ansatzes. Nach ihm soll zur Bestimmung der Schuld "auszu-
handeln" sein, wie viele soziale Zwänge dem von der "Schuldzuschrei-
bung betroffenen Täter" aufgebürdet werden können und wie viele
störende Eigenheiten des Täters von der Gesellschaft getragen wer-
den müssen 4!. Aber eine solche "Schuldzuschreibung" kann überhaupt

39 Vgl. dazu ausführlich meine Gesinnungsmerkmale (wie Anm.12), bes.


S. 161 ff.
40 Jakobs (wie Anm.2), und nun auch in seinem Lehrbuch (wie Anm.19),
Rn. 17/18 ff. - Dabei zeigt sich zugleich an manchen Stellen eine über-
raschende Nähe zum axiologischen Schuldbegriff (so Rn. 17/17, auch Rn. 17/18,
wo vom "Manko an rechtlicher Motivierung" die Rede ist); dagegen rein
funktionale "Schuldzuschreibung" Rn. 17/21 f.
4! Jakobs (wie Anm. 19), Rn. 17/21.
502 Eberhard Schmidhäuser

nur deshalb ohne den völligen Verlust sachlicher Konturen vorge-


schlagen werden, weil man das, was "zugeschrieben" werden soll, mit
anderen Kategorien zuvor schon erfaßt hat, d. h. weil man unaus-
weichlich von einem tradierten Vorbegriff von Schuld ausgeht; das
gilt auch, soweit es das erklärte Ziel dieser Begriffsbildung ist, das
Vorliegen eines entschuldigenden Motivationsdrucks aus dem Schuld-
begriff herauszuhalten. Was sich aus solchem begrifflichen Bemühen
ergibt, ist eine künstliche Konstruktion; und es wird nie wirklich ge-
lingen, die ethische Natur - wenn wir uns des alten Horazwortes
erinnern - aus dem Schuld begriff mit einem wie auch immer gear-
teten dogmatischen Knüppel hinauszutreiben.
Vielmehr ist es wissenschaftlich geboten, in der Analyse des Be-
griffs die ethische Natur der Schuld anzuerkennen - und dies leistet
der Begriff der unrechtlichen Tatgesinnung in brauchbarer Weise. Da
es darin um die reale Welt des Geistigen geht, ist dieser Begriff jeder
metaphysischen Begründung enthoben. Entgegen den Tendenzen neu-
erer Vorschläge, die die Begriffsbildung einer puren Zweckrationalität
unterwerfen, ist daher - gegen alle Mode! - am axiologischen Schuld-
begriff festzuhalten: Er erfaßt - ohne Metaphysik - die ethische
Dimension des Schuldphänomens und kann zugleich den notwendigen
Entscheidungen kriminalpolitischer Natur Rechnung tragen.
HANS THORNSTEDT

Der Rechtsirrtum im schwedischen Strafrecht*

I. Einleitung

Das Legalitätsprinzip (Gesetzlichkeitsprinzip) hat seinen ersten Aus-


druck in der von Feuerbach geprägten Maxime "nulla poena sine lege"
gefunden und ist seit der Aufklärung ein führender Grundsatz des kon-
tinentalen westeuropäischen Strafrechts. Das StGB normiert es in sei-
nem Einleitungsparagraphen. Im schwedischen Strafrecht hat das Lega-
litätsprinzip seit langem als Gewohnheitsrecht gegolten. Offen formu-
Herte Anerkennung hat es erst dadurch erfahren, daß Schweden die
Allgemeine Erklärung der Mensch,enrechte der Vereinten Nationen von
1948 annahm und die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950
ratifizierte; beide Rechtsquellen schreiben die Beachtung des Legalitäts-
prinzips vor (Art. 11.2 bzw. 7). Eine ausdrückliche gesetzliche Stütze
erhielt das Legalitätsprinzip erst durch § 5 des Einführungsgesetzes von
1964 zum Kriminalgesetzbuch von 1962 (KrGB)l. Aufgrund gesetzge-
bungshistorischer Gegebenheiten bekam diese Vorschrift ihren Platz
in einem Einführungsgesetz anstatt im eigentlichen KrGB. Zehn Jahre
danach wurde das Prinzip in einer Vorschrift des Verfassungsgesetzes
von 1974 verankert (jetzt Kap. 2, § 10).
Wenn man vom Legalitätsprinzip spricht, vergißt man indessen oft
die Grenzen seiner Anwendung. Sein traditioneller Anwendungsbe-
reich ist der Besondere Teil des Strafrechts, die einzelnen Tatbestände
des Verbrechens. Daraus ergibt sich die Forderung, daß die Tatbe-
standsmerkmale im Strafgesetz genau beschrieben werden. Die Ge-
richte dürfen m. a. W. keine neuen Straftatbestände schaffen. Demge-
genüber sieht man - jedenfalls in Schweden - keinen V,erstoß gegen
das Legalitätsprinzip darin, daß bestimmte Probleme, die üblicherweise
dem Allgemeinen Teil des Strafrechts zugeordnet werden, nicht vom
Gesetzgeber gelöst, sondern Lehre und Rechtsprechung zur Klärung

" Übersetzung aus dem Schwedischen von Dr. jur. Joachim Heilmann.
1 Siehe allgemein zum Kriminalgesetzbuch und schwedischen Strafrecht
Agge/Thornstedt, Das schwedische Strafrecht, in: Das ausländische Strafrecht
der Gegenwart, hrsg. von Mezger/Schönke/Jescheck, Bd. V, Berlin 1976,
S. 249 ff.; zum Begriff Kriminalgesetzbuch anstelle des schwedischen Wortes
"brottsbalken" vgI. ebenda, S. 264, Fußnote* (d. Ü.).
504 Hans Thornstedt

überlassen werden. In diesem Zusammenhang kann das Legalitäts-


prinzip den Anspruch erheben, daß sich die Rechtsbildung auf eine Art
und Weise vollzieht, daß Gerichtsentscheidungen mit einem gewissen
Maß an Sicherheit voraussehbar sind 2 •
Zu den Fragen, die der schwedische Strafgesetzgeber in dieser Weise
offengelassen hat, gehört die Mehrzahl derJenigen, welche Vorsatz,
Fahrlässigkeit und Irrtum berühren. Zwar werden diese Fragen zu
einem gewissen Teil durch Gesetz geregelt, wie z. B. jetzt stets im KrGB
und zumeist in strafrechtlichen Nebengesetzen angegeben ist, ob ein
Straftatbestand Vorsatz oder Fahrlässigkeit erfordert. Doch hat sich
der Gesetzgeber zum größten Teil einer Regelung dieser Voraussetzun-
gen enthalten. Gleichwohl gibt 'es einige Aussagen in den Gesetzes-
materialien, welche der Rechtsanwendung auf überkommene Art zur
Anleitung dienen können.
Das Gesagte gilt in hohem Maß für die Behandlung von Tatbestands-
und Verbotsirrtum, die vom schwedischen Gesetzgeber überhaupt nicht
geregelt worden sind, abgesehen von einigen Bemerkungen in den Ma-
terialien zum KrGB. Diesem Gesetz fehl,en also Regeln, welche §§ 16
und 17 StGB entsprechen. Die einschlägigen Fragen waren jedoch Ge-
genstand vieler veröffentlichter Urteile, und die Problematik des
Rechtsirrtums ist insbesondere in den letzten drei Jahrzehnten recht
eingehend in der strafrechtlichen Literatur untersucht worden s.

11. Hauptprobleme des Rechtsirrtums

Die Argumentation zur Natur und Behandlung des Rechtsirrtums


hat in der schwedischen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung haupt-
sächlich folgenden Verlauf genommen, wobei sich eine Aufteilung in
- wie man meint - zwei Hauptprobleme als sinnvoll herausgestellt
hat.
Das erste dieser Probleme ist das prinzipiell wichtigste. Aus ideo-
logischen und kriminalpolitischen Gründen hat sich im Strafrecht all-
mählich das Schuldprinzip durchgesetzt. Sein Inhalt wird im allgemei-
nen darin gesehen, daß strafrechtliche Verantwortung regelmäßig vor-
aussetzt, daß eine Person - populär ausgedrückt - mit voller Absicht
gehandelt hat, d. h. mit Vorsatz. Bei bestimmten Vergehen reicht je-

2 Thornstedt, Legalität und teleologische Methode im Strafrecht, Fest-


schrift für Nils HerIitz, 1955, S. 319 ff., bes. S. 335 ff.
3 Siehe z. B. Thornstedt, über den Rechtsirrtum, 1956; und ders., Rechts-
irrtum im Strafrecht - ein Fall von Rechtsentwicklung ohne Stütze im Ge-
setz, in: Schwedisches Recht im Wandel, 1976, S. 553 ff.; Strahl, Schwedische
Juristenzeitung 1962, S. 177 ff.; ders., Allgemeines Strafrecht und Verbrechen,
1976, S. 129 ff.; auch Jareborg, Handlung und Vorsatz, 1969, S. 232 ff.
Der Rechtsirrtum im schwedischen Strafrecht 505

doch Fahrlässigkeit aus. Interessant sind in diesem Zusammenhang in


erster Linie diej.enigen Straftaten, welche Vorsatz erfordern. Normaler-
weise bedeutet das, daß der Vorsatz alle Umstände erfaßt, die zum
gesetzlichen Tatbestand gehören. Fraglich ist indessen, ob darüber
hinaus die Einsicht des Täters zu fordern ist, daß sein Verhalten ver-
boten ist. Es ist ein verlockender Gedanke, daß eine Person von straf-
rechtlicher Verantwortung frei oder jedenfalls nicht wegen vorsätzli-
cher Verwirklichung strafbar sein soll, wenn ihr die Einsicht erman-
gelte, eine Strafbestimmung übertreten zu haben. Die herrschende Auf-
fassung in Schweden geht jedoch dahin, daß es aus kriminalpolitischen
Gründen nicht möglich ist, so weit zu gehen. Vor allem bei nebenstraf-
rechtlichen Tatbeständen hieße das nicht selten, der Anklagebehörde
die unbillige Beweislast dafür aufzuerlegen, daß der leugnende Ange-
schuldigte gewußt hat, daß sein V,erhalten verboten war. Oft würde
es dann für den Bürger sogar vorteilhaft sein, seine Unwissenheit über
bestimmte Rechtsregeln zu bewahren. Wenn nun die Anforderungen an
den Vorsatz so weit zu beschränken sind, daß dieser die Strafbarkeit
der Tat nicht umfassen muß, taucht die Frage auf, ob man nicht auf
andere Weise darauf Rücksicht nehmen kann, daß di,e Tat weniger
strafwürdig erscheint, falls sie der Betreffende für erlaubt gehalten hat.
Sieht man sich nun gezwungen, die Lösung zu wählen, nach welcher
der Vorsatz das Verbotensein der Tat nicht zu umfassen braucht, ent-
steht allerdings eine Komplikation in Gestalt eines besonderen Pro-
blems der Abgrenzung verschiedener Fälle rechtlicher Irrtümer. Es ist
nämlich unzweifelhaft, daß zu bestimmten Vergehens tatbeständen
auch rechtliche Regelungen gehören, so daß eine Bestrafung wegen
vorsätzlicher Begehung .ausgeschlossen ist, wenn sich der Täter in bezug
auf den Inhalt dieser Regelung geirrt hat. Zwei recht einfache Beispiele
pflegen in diesem Zusammenhang erwähnt zu werden. Das eine betrifft
die Doppelehe gern. Kap. 7, § 1 KrGB. Nach dieser Vorschrift wird eine
verheiratete Person bestraft, wenn sie eine neue Ehe eingeht. Die
Eigenschaft, verheiratet zu sein, muß vom Vorsatz erfaßt werden.
Eine strafrechtliche Verantwortlichkeit entfällt daher, wenn der Be-
treffende - und sei es auch grob fahrlässig - irrtümlich glaubt,
unverheiratet zu sein, unabhängig davon, ob diese Fehlvorstellung
auf falschen Tatsachen (ein Mann glaubt z. B., seine Frau sei ertrunken)
oder auf einer falschen Rechtsauffassung beruht (er meint etwa, eine
im Ausland vollzogene Ehescheidung sei auch nach schwedischem inter-
nationalem Privatrecht wirksam).
Das zweite Beispiel bezieht sich auf die Eigentumsfrage beim Dieb-
stahl. Nimmt jemand etwas weg, das er sein eigen wähnt, fehlt ihm
der Vorsatz, etwas zu nehmen, "was einem anderen gehört", wie es
Kap. 8, § 1 KrGB fordert, gleichgültig, ob sein Irrtum auf eine Ver-
506 Hans Thornstedt

wechslung von Gegenständen oder eine rechtliche Fehleinschätzung des


Eigentumsumfangs oder -übergangs zurückzuführen ist.
In vielen Fällen ist es aber schwierig zu entscheiden, ob der Vorsatz
das Vorliegen eines bestimmten rechtlichen Umstandes zu erfassen
hat. Im allgemeinen wird wohl die Auffassung vertreten, daß man
keine abstrakte Lösungsformel für die Frage aufstellen kann, wann
sich der Vorsatz auch auf ein normatives Tatbestandsmerkmal zu be-
ziehen hat und wann demzufolge eine entsprechende Fehlvorstellung
den Vorsatz ausschließt.
Im deutschen Recht unterscheidet man zwischen Tatbestandsirrtum
und Verbotsirrtum. In Skandinavien weicht die übliche Terminologie
hiervon ab. Einen Irrtum in bezug auf die eigentliche Pönalisierung,
d. h. auf die rechtliche Verbotsregel, welche vom Vorsatz nicht erfaßt
zu werden braucht, nennt man eigentlichen Rechtsirrtum. Fehlt der Vor-
satz hinsichtlich eines Tatbestandsmerkmals und beruht dies auf einer
Fehlvorstellung über tatsächliche Verhältnisse, beispielsweise auf dem
Irrglauben, die Ehefrau sei verstorben, liegt ein tatsächlicher Irrtum
vor. Und in den Fällen, in denen der Vorsatz bezüglich eines Tatbe-
standsmerkmals infolge einer Fehleinschätzung rechtlicher Gegeben-
heiten entfällt, z. B. im Hinblick auf die schwedisch-rechtlichen Wir-
kungen einer Auslandsscheidung, spricht man von einem uneigentli-
ehen Rechtsirrtum4 • Einen begrifflichen Unterschied zwischen diesen
beiden Irrtumsformen zu machen, ist m. E. aus pädagogischen und dar-
stellungstechnischen Gründen erforderlich, und zwar sowohl beim Ge-
brauch der traditionellen als auch der gegenwärtigen deutschen Ter-
minologie. Im folgenden bediene ich mich der letzteren, und dies dürfte
kaum zu Mißverständnissen über Inhalte des schwedischen Strafrechts
führen.
111. Tatbestandsirrtum

Aus Hans-Heinrich Jesehecks auch für ausländische Juristen außer-


ordentlich wertvoller Darstellung des Allgemeinen Teils des deut-
schen Strafrechts geht hervor:
"Der Tatbestandsirrtum kann sich ebenso wie der Vorsatz auf sämt-
liche objektiven Merkmale des Tatbestandes beziehen, unter Einschluß
der im Tatbestand enthaltenen Rechtsbegriffe (z. B. Eigentum, Urkunde,
Ehe, Beamter)." Er fährt fort: "Wenn der Täter den Sinngehalt solcher
4 Siehe z. B. Hurwitz, Das dänische Kriminalrecht, Allgemeiner Teil, 1950,
S. 362 ff.; vgl. auch die 4. von Waaben überarbeitete Auflage, 1971, S. 256 ff.;
Waaben, Der kriminelle Vorsatz, 1957, S.129; Thornstedt, über den Rechts-
irrtum, S. 153 ff. Vgl. auch Andenaes, Allgemeines Strafrecht, 2. überarbeitete
Auflage 1974, S. 257 ff., und ders., The General Part of the Criminal Law of
Norway, 1965, S. 235 ff.
Der Rechtsirrtum im schwedischen Strafrecht 507

Merkmale nicht wenigstens im Rahmen der Parallelwertung in der


Laiensphäre richtig verstanden hat, fehlt es am Vorsatz. Der Täter
braucht nicht etwa nur die Tatsachengrundlage des Rechtsbegriffs er-
kannt zu haben5 ."
Diese Erläuterungen der deutschen Rechtslage könnten auch als Be-
schreibung der Rechtsprechung des schwedischen Obersten Gerichts-
hofes (HD = högsta domstolen) dienen, welche dieser im Laufe dieses
Jahrhunderts entwickelt hat, anfangs zögernd, doch dann mit immer
klarerer prinzipieller Ausgestaltung.
Ein frühes Beispiel enthält das HD-Urteil NJA 1907, 471&. In diesem
Fall besaß der Verletzte einen Apfelbaum, dessen Zweige auch auf das
Grundstück des Angeschuldigten überhingen. Entgegen dem Protest
des Verletzten hatte der Angeschuldigte Äpfel von diesen Zweigen ge-
pflückt und sich angeeignet. Der Anklage wegen Diebstahls hielt er
entgegen, er sei der - verfehlten - Auffassung gewesen, daß der in
sein Grundstück ragende Teil des Baumes ihm gehöre. Der HD sprach
ihn frei.
Im Fall NJA 1952, 560 hatte sich der Fahrgast eines Taxis - unbe-
rechtigterweise - geweigert, den Taxifahrer zu bezahlen, weil er nicht
die ganze Strecke bis zur angegebenen Adresse gefahren worden war.
Der Fahrgast wurde wegen einfachen Betrugs nach Kap. 21, § 2 Straf-
GB 1864 (entsprechende Bestimmung heute in Kap. 9, § 2 KrGB) ange-
klagt, vom HD aber freigesprochen, weil ihm in seinem Glauben, für
die zurückgel,egte Wegstrecke nichts entrichten zu müssen, der Vorsatz
gefehlt hat, sich betrügerisch der Bezahlung einer Schuld zu entziehen.
Ein Irrtum in bezug auf die konkursrechtliche Bevorrechtigung einer
Forderung veranlaßte einen Gläubiger zu einer Handlung, die objektiv
eine Konkursstl"aftat i. S. des 11. Kap. KrGB darstellte. Der HD (NJA
1974, 689) sprach den Konkursgläubiger mangels Vorsatzes frei.
Bei Blankettstrafgesetzen bestehen im schwedischen Recht in gewis-
ser Weise dieselben Schwierigkeiten, wie sie auch im deutschen Recht
zur Abgrenzung von Tatbestands- und Verbotsirrtum vorzuliegen schei-
nenT. Die Rechtsprechung ist schwankend, und zu praktisch wichtigen
Vorschriften fehlen noch Feststellungen des HD. Das gilt z. B. für die
Strafbestimmungen in den Gesetzen über Warenschmuggel und Devi-
senverkehr.

5 Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 3. Auflage 1978,


S.247.
8 NJA = Nytt Juridiskt Arkiv = Neues Juristisches Archiv. In Schweden
werden Urteile häufig allein nach ihrer FundsteIle im NJA mit Jahrgang
und Seite zitiert.
T Jescheck (Fn. 5), S. 247 f. und 371 f. m. N.
508 Hans Thornstedt

Ein Beispiel für einen Tatbestandsirrtum anderer Art liefert NJA 1970,
240. In diesem Fall wurde ein Autofahrer von der Anklage der Trunken-
heit am Steuer freigesprochen, weil er sich nicht bewußt war, daß das
von ihm gefahrene Fahrzeug rechtlich als Automobil einzuordnen war;
diese Wertung stützte sich auf Gründe, die den Schluß nahelegten, der
Angeklagte habe keinen Vorsatz gehabt, in alkoholisiertem Zustand
ein Kraftfahrzeug zu führen.
Von großer praktischer Bedeutung ist es, daß die Rechtsprechung
auf dem Gebiet des Steuerstrafrechts seit mehreren Jahrzehnten klar
und eindeutig ist 8 • Die Strafbestimmungen gegen Steuervergehen stehen
im Steuerstrafgesetz von 1971, während die steuerrechtlichen Vorschrif-
ten in zahlreichen Rechtsquellen verschiedenen Alters und Inhalts zu
finden sind. Irrtümer hinsichtlich des Inhalts einer steuerrechtlichen
Regelung, die zu falschen Angaben des Steuerpflichtigen einer Steuer-
behörde gegenüber und demzufolge zu keiner oder zu einer vermin-
derten Steuerschuld führen, bringen es mit sich, daß wegen vorsätzlicher
Steuerhinterziehung nicht bestraft werden kann. An deren Stelle kann
aber die Verantwortung für ein Fahrlässigkeitsvergehen treten, wenn
der Irrtum als fahrlässig eingestuft wird.

IV. Verbotsirrtum

1. Die Entwicklung bis zum KrGB


In den Entscheidungssammlungen gibt es eine Anzahl Fälle, in denen
die Gerichte mit Freispruch oder einer geringen Strafe für den Ange-
klagten auf dessen Verbotsirrtum reagiert haben. Die meisten dieser
Fälle ließen sich in drei relativ klar abgegrenzte Kategorien einordneng •
In die erste Gruppe gehörten Fälle, in denen der Irrtum darauf beruhte,
daß der Täter infolge von Mängeln im Veröffentlichungsverfahren
keine Möglichkeit hatte, Kenntnis vom Inhalt der übertretenen Straf-
bestimmung zu erlangen. In diesen Fällen, die allesamt aus der Zeit
während oder kurz nach Ende des ersten Weltkrieges stammen, han-
delte es sich um Verstöße gegen Rechtsvorschriften, die jeweils kurz
vor der Tat in Kraft getreten und dem Täter noch nicht bekannt ge-
worden waren. Nach Verbreitung moderner Kommunikationsmittel wie
Radio und Fernsehen hat die praktische Bedeutung dieser Fallkatego-
rie stark nachgelassen. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände
wie beispielsweise landesweiter Arbeitskämpfe, die alle Massenkom-
munikationsmittel berühren, könnte es angezeigt sein, sich erneut auf
diese Fallgruppe zu berufen.
8 ThornstedtlEklund, Steuervergehen und Steuerzuschläge, 4. Aufl. 1981,
S. 36 ff., 63 f. und 67.
9 Thornstedt, über den Rechtsirrtum, 1956, S. 169 ff.
Der Rechtsirrtum im schwedischen Strafrecht 509

Zur zweiten Kategorie von Fällen, in denen die Rechtsprechung zu-


weilen einen Rechtsirrtum zur Straffreiheit führen läßt, rechnen solche,
bei denen die verletzte Vorschrift inhaltlich unklar ist. Derartige Fälle
sind in den Entscheidungssammlungen dünn gesät. Ich wäre geneigt,
aus den jüngeren Urteilen dieser Kategorie das allgemeine Rechtsprin-
zip herauszulesen, demzufolge ein Irrtum über den Inhalt einer Straf-
vorschrift dann von Strafe befreit, wenn die Vorschrift in so hohem
Maße undeutlich abgefaßt ist, daß ein daraus resultierender Irrtum
naheliegend erscheint. Demgegenüber könnte aber auf Fallentschei-
dungen verwiesen werden, bei denen der Inhalt einer Strafbestimmung
unscharf und zudem bei den ,an der Entscheidung beteiligten Richtern
höchst umstritten war und gleichwohl kein Freispruch aufgrund eines
Verbotsirrtums gewährt wurde. Im Lichte solcher Urteile erschien
Straffreiheit infolge eines Verbotsirrtums, der seinen Grund in der
Unklarheit ·einer Gesetzesaussage hat, als ausgesprochene Ausnahme,
und man könnte den Eindruck haben, daß ein Freispruch wegen eines
solchen Verbotsirrtums vergleichsweise zufällig zustande kam.

Die dritte Kategorie besteht aus Fällen, in denen eine Behörde dem
Täter mittels einer amtlichen Maßnahme Anlaß dazu gegeben hat, den
Inhalt des verletzten Strafgesetzes abweichend von seiner tatsächlichen
Aussage verstanden zu haben. Unter diesen Entscheidungen ragt das
Urteil NJA 1948,384 hervor. Der Angeklagte war zunächst in bezug auf
ein bestimmtes Verhalten freigesprochen worden. Als der Betreffende
im Vertrauen auf dieses HD-Urteil dasselbe Verhalten fortsetzte, wurde
er erneut angeklagt. Auch diese Sache ging bis zum HD, der nun aller-
dings seine Auffassung vom Gehalt der relevanten Strafbestimmung
geändert hatte und meinte, daß das Verhalten des Angeklagten an und
für sich strafbar sei. Mit Rücksicht auf sein früher,es Urteil befand der
HD indessen, daß der Angeklagte für das ihm vorgeworfene Verhalten
"vernünftigerweise nicht zur Verantwortung gezogen werden" dürfe.
Danach wurde er freigesprochen, offenbar wegen Verbotsirrtums.

Die zu dieser Kategorie gehörenden Fälle zeigten eine Tendenz in


der Rechtsprechung, die Strafbarkeit zu verneinen, wenn der Täter in
bezug auf die Zulässigkeit seines Verhaltens durch eine behördliche
Maßnahme oder Äußerung irregeleitet wurde. Doch waren sie zu gering
an Zahl, um eine Grundlage für die Behauptung abzugeben, daß ein
Freispruch in ähnlichen Fällen gesicherte Gerichtspraxis wäre. Eher
könnte diesen Urteilen zu entnehmen sein, daß der HD aufgrund ,eines
Verbotsirrtums des Täters dann die Strafbarkeit verneinte, wenn er
nach einer pauschalierenden und recht konturenlosen Betrachtung der
Ansicht war, daß eine strafrechtliche Verantwortung als unbillig emp-
funden werden mußte.
510 Hans Thornstedt

In einer vierten Fallgruppe finden sich vereinzelte Entscheidungen,


in welchen ein Rechtsirrtum, der auf falschen Auskünften privater
Sachverständiger oder von Einzelpersonen mit hoher Autorität beruhte,
zu Straffreiheit geführt hat. In aller Regel ist jedoch eine solche Fehl-
information bloß als mildernder Umstand bei der Strafzumessung be-
rücksichtigt worden.
Der allgemeine Eindruck von der Rechtsprechung zum Verbotsirrtum
läßt sich dahingehend zusammenfassen, daß die Gerichte nach einer
im Randbereich unscharfen Gesamtbeurteilung aller Umstände den
Täter freisprachen, wenn der Irrtum entschuldbar erschien.
Im Jahre 1956 habe ich mir erlaubt, eine Lösung des Problems im Rah-
men der Schuldtheorie vorzuschlagen. Mein Vorschlag lag der norwe-
gischen und dänischen Rechtsauffassung nahe und erinnert 'an die Lö-
sung, welche 1969 in Deutschland mit der Einführung des § 17 StGB
gewählt wurde. Der entschuldbare Verbotsirrtum sollte zum Frei-
spruch führen, während den Gerichten in anderen Verbotsirrtums-
fällen ein Strafmilderungsermessen auch unter sonst geltende Mindest-
strafgrenzen zuerkannt werden sollte. An den Bürger waren dabei
nicht allzu niedrige Forderungen zu stellen, sich mittels der gebotenen
Umsicht und Kräfteanspannung in Übereinstimmung mit den Straf-
gesetzen zu verhalten. Diese Anforderungen dürften aber wiederum
nicht so hoch geschraubt werden, daß ,ein entschuldbarer Rechtsirrtum
zur seltenen Ausnahmeerscheinung verkümmerte.
Bei der Beurteilung der Entschuldbarkeit des Rechtsirrtums muß auf
das Gesamtverhalten des Täters abgestellt werden, und es ist zu prü-
fen, ob mit Rücksicht darauf der Rechtsirrtum als vertretbar angesehen
werden kann10•
Zu Recht oder Unrecht habe ich jedoch keine gesetzliche Regelung
des Rechtsirrtums für angezeigt gehalten. Die von mir vorgeschlagene
Lösung, bei einem entschuldbaren Verbotsirrtum freizuspI'Iechen, sollte
m. E. nicht mittels Gesetzgebung, sondern durch eine Liberalisierung
der zu engen und strengen Rechtsprechung in die Praxis umgesetzt wer-
den. Demgegenüber sprach ich mich für eine Gesetzesvorschrift über die
fakultative Strafherabsetzung bei unentschuldbarem Verbotsirrtum aus.

2. Die Gesetzesmaterialien zum KrGß

Im Jahre 1953 legte die Strafrechtskommission den vollständigen Ent-


wurf eines Kriminalgesetzbuches vor, an dem sie seit 1945 gearbeitet
hattelI. Zu Fragen des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit wurden die-

10 Thornstedt (Fn. 9), S. 164.


Der.Rechtsirrtum im schwedischen Strafrecht 511

jenigen Regelungen vorgeschlagen, die mit wenigen Änderungen in


Kap. I, § 2 KrGB eingegangen sind. Eine Vorschrift über den Rechts-
irrtum enthielt der Entwurf also nicht; statt dessen meinte die Kom-
mission, daß das Problem ohne Nachteile wie schon bislang der Lösung
durch die Rechtsprechung überlassen bleiben könne. Dazu erklärte die
Kommission ergänzend, daß die Frage der Wirkung eines Rechtsirrtums
immerhin im Zusammenhang mit Angelegenheiten der Strafmilderung,
des Absehens von Strafe und des Absehens von einer Anklage (Ein-
stellung wegen geringer Schuld) Beachtung verdient; diese Gegen-
stände wurden in anderem Zusammenhang behandelt.
Der Justizminister sagte bei der Vorlage des Entwurfs, ohne damit
während der nachfolgenden parlamentarischen Behandlung des KrGB-
Entwurfs Kritik auszulösen:
"In übereinstimmung mit den meisten ausländischen Rechtssystemen
hat die schwedische Rechtsprechung im Prinzip den Standpunkt einge-
nommen, daß der Vorsatz den Gesetzesinhalt nicht umfassen muß
und daß eine entsprechende Unkenntnis auf die strafrechtliche Ver-
antwortlichkeit keinen Einfluß hat. Ein Verbotsirrtum ist als Straffrei-
heitsgrund allein in bestimmten Ausnahmefällen und nur dann akzep-
tiert worden, wenn 'er für entschuldbar gehalten wurde. Es ist offen-
sichtlich, daß die Bürger im allgemeinen keine gen aue Kenntnis von
den vielfältigen Gesetzesbestimmungen, welche die gegenwärtigen
komplizierten Gesellschaftsverhältnisse regeln, haben können. (. ..) An-
dererseits darf nicht jedes behauptete Unwissen vom Inhalt gesetzli-
cher Vorschriften zur Strafbefreiung führen. Wie auch di,e Kommission
sehe ich keine Notwendigkeit für die Einführung einer einschlägigen
Gesetzesnorm, sondern halte es für ausreichend, die Lösung der damit
verbundenen Probleme der Rechtsanwendung zu überlassen, wobei die
Verhältnisse jedes Einzelfalls besondere Beachtung verdienen. Die (. .. )
vorgeschlagenen Regelungen über die Herabsetzung und Befreiung
von Strafe und anderen Deliktsfolgen ermöglichen im übrigen die Ver-
meidung unbilliger Ergebnisse I2 ."
Damit ist klargestellt, daß sowohl die Strafrechtskommission als
auch der Justizminister auch künftig der Rechtsprechung die Entschei-
dung darüber überHeßen, ob wegen Verbotsirrtums freizusprechen ist;

11 SOU 1953: 14 (SOU sind die staatlichen Untersuchungs- und Kommis-


sionsberichte in Schweden, nach Jahrgang und fortlaufender Numerierung
geordnet, d. ü.).
12 Gesetzentwurf 1962: 10, S. B 61. Siehe zum System der Folgen ("pa-
följder") der Straftat des Kriminalgesetzbuches (Strafe und andere Delikts-
folgen) AggelThornstedt, Das schwedische Strafrecht (Fn.I), S. 277 ff.; zu Her-
absetzung und Absehen von Deliktsfolgen ("judizielle Gnade") gemäß Kap. 33,
§ 4 KrGB siehe ebenda, S. 315.
512 Hans Thornstedt

zugleich verwiesen beide auf die vom Entwurf neugeschaffenen Mög-


lichkeiten der Strafmilderung und des Absehens von einer Anklage.
Die Vorschriften über Strafherabsetzung und Straffreiheit in Kap. 33,
§ 4 KrGB waren nach ausdrücklichen Erläuterungen dazu in den Ge-
setzesmaterialien auch für Fälle von Verbotsirrtum bestimmt. Dasselbe
gilt für die entsprechende Vorschrift über das Absehen von einer An-
klage in Kap. 20, § 7 der Prozeßordnung.

3. Die Entwicklung der Rechtsprechung nach 1962


Seit dem Inkrafttreten des Kriminalgesetzbuches sind eine Anzahl
Entscheidungen zu Verbotsirrtums-Fällen in den Urteilssammlungen
veröffentlicht worden. Ein allgemeiner Eindruck von dieser Rechtspre-
chung geht dahin, daß die Gerichte in übereinstimmung mit den Aus-
sagen in den Begründungen zum KrGB-Entwurfeinen Freispruch
dann für geboten halten, wenn nach den konkreten Fallumständen ein
entschuldbarer Verbotsirrtum vorliegt. Teils ergibt sich das aus einigen
Fällen, in denen ein Freispruch ,erfolgte, und teils 'aus einer größeren
Anzahl von Fällen, in denen der Angeklagte nicht freigesprochen
wurde, was zumeist mit der mangelnden Entschuldbarkeit des Verbots-
irrtums motiviert wurde13 •
Außer Freisprüchen gibt es auch Strafnachlaß gern. Kap. 33, § 4
KrGB.
Die mit einem Freispruch wegen Verbotsirrtums endenden Verfahren
betrafen vor allem solche Fälle, in denen ein falsches Verständnis des
Angeklagten vom Inhalt einer Strafbestimmung durch das Verhalten
einer Behörde verursacht worden war.
Ein in dieser Hinsicht bedeutsamer Fall, der sich von dem oben er-
wähnten Fall NJA 1948,384 unterscheidet, liegt der Entscheidung NJA
1972, 625 zugrunde. Im Urteil von 1948 wurde eine Person deswegen
freigesprochen, weil sie sich auf ein früheres, sie selbst betreffendes
HD-Urteil verlassen hatte. In der Entscheidung von 1972 vertraute der
Angeklagte auf ein OLG-Urteil, von dem er zwar nicht selbst betrof-
fen war, das jedoch allgemein bekannt und diskutiert sowie als Aus-
druck des geltenden Rechts sowohl vom Generalstaatsanwalt (Reichs-
anwalt) als auch von anderen Behördenvertretern öffentlich anerkannt
wurde. Die Entscheidungsgründe deuten darauf hin, daß der HD dazu
gelangt ist, eine etwas großzügigere Einstellung zum entschuldbaren
Verbotsirrtum einzunehmen.
Wie oben schon angedeutet, liegen auch eine Reihe veröffentlichter
Entscheidungen vor, in denen die Gerichte zwar das Vorliegen eines
13 Siehe ThoTnstedt, in: Schwedisches Recht im Wandel (Fn.3), S. 567 H.
Der Rechtsirrtum im schwedischen Strafrecht 513

eigentlichen Rechtsirrtums bejaht, den Irrtum oder das als Einheit be-
trachtete Gesamtverhalten des Angeklagten aber nicht als entschuldbar
und somit nicht als Entschuldigungsgrund angesehen haben.
In einem dieser Fälle, NJA 1972, 316, verwendet der HD erstmals
einen Begriff des Verbotsirrtums, der zur Straffreiheit führen kann.
Der Angeklagte wurde in diesem Fall bestraft, weil sein Irrtum nach
Ansicht des HD "in strafr,echtlicher Hinsicht nicht als entschuldbar"
beurteilt wurde. Diese Abgrenzung hat der HD seitdem in mehreren
Entscheidungen verwandt l4 .
Es wurde bereits angeführt, daß die Regeln über die Strafherabset-
zung und das Absehen von Deliktsfolgen in Kap. 33, § 4 KrGB und über
das Absehen von einer Anklage in Kap. 20, § 7 der Prozeßordnung auch
dazu bestimmt sind, auf Fälle des Verbotsirrtums angewandt zu werden.
In den Entscheidungssammlungen habe ich nur einen einzigen Fall die-
ser Art veröffentlicht gefunden, und zwar NJA 1973, 347. Darin meinte
der HD, daß der Irrtum der Angeklagten "in strafrechtlicher Hinsicht
nicht als entschuldbar" angesehen werden konnte. Die Angeklagte
wurde dementsprechend für ihre Tat verurteilt. Gleichwohl wurde ihr
Absehen von Deliktsfolgen gewährt, weil ihr Irrtum, wenn auch nicht
entschuldbar, so doch als erheblich mildernder Umstand anzurechnen
war. Es scheint, als ob die Rechtsprechung eher einen Freispruch wegen
Verbotsirrtums und bei Ablehnung eines solchen Irrtums unter Um-
ständen eher eine mildere Strafe als ein Absehen von Deliktsfolgen
gewährt.
Die Zahl der veröffentlichten Entscheidungen, in denen Fragen des
Verbotsirrtums Gegenstand der gerichtlichen Beurteilung gewesen sind,
ist nicht besonders groß. Es ist indessen gut denkbar, daß die Anklage-
behörden von einer Anklage immer dann Abstand genommen haben,
wenn ein entschuldbarer Verbotsirrtum gegeben war.

v. Zusammenfassung

Die zusammengestellte übersicht über die veröffentlichte Rechtspre-


chung scheint zu belegen, daß der Verbotsirrtum heute in -etwa genauso
wie vor der Geltung des KrGB behandelt wird. Es herrscht indessen
eine Tendenz zu größerer Nachsicht gegenüber dem Angeschuldigten.
Das läßt sich vor allem von den Fällen sagen, in denen der Irrtum vom
VerhaUen einer Behörde veranlaßt wurde. Für Straffreiheit wird wohl
allgemein vorausgesetzt, daß das Gesamtverhalten des Betreffenden
mit Blick auf den Irrtum und die übrigen Umstände als eindeutig ent-
schuldbar erscheint, oder - wie es in einigen Entscheidungen ausge-
14 Siehe Thornstedt (Fn. 13), S. 571 ff.

33 Festschrift für H.-H. Jescheck


514 Hans Thornstedt

drückt wird - daß der Täter berechtigterweise darauf vertrauen


durfte, sein Verhalten sei rechtmäßig.
Ein Absehen von Strafe und anderen Deliktsfolgen ist demgegen-
über kaum in dem Umfang gewährt worden, den man hätte erwarten
können. Bemerkenswert ist die Entscheidung NJA 1973, 347, in welcher
offenbar zur Strafermäßigung als sekundärer Möglichkeit gegriffen
wurde, um auf einen Rechtsirrtum als erheblichen Milderungsumstand
reagieren zu können, weil der Irrtum nicht in dem Maße entschuldbar
war, daß Freispruch gewährt werden konnte.
Die Rechtsprechung der letzten Jahre hat die Voraussetzungen für
das Entfallen strafrechtlicher Verantwortung beim Verbotsirrtum klarer
abgegrenzt, als dies früher der Fall war. Die Entscheidungen in diesen
Fällen haben nicht mehr den Beliebigkeitscharakter, wie man ihn bei
älteren Urteilen feststellen kann.
Ob die Rechtsprechung auf diesem Wege voranschr,eiten und dem
entschuldbaren Verbotsirrtum mehr Beachtung schenken wird, ist
selbstverständlich schwer zu sagen. Doch gibt es jedenfalls in dem Sinne
Grund zu dieser Annahme, daß derjenige mit einem Freispruch rech-
nen kann, der sich berechtigterweise auf das Verhalten einer Behörde
verlassen hat. Schwieriger ist zu entscheiden, in welchem Ausmaß Straf-
befreiung gewährt wird, wenn jemand auf allgemein verbreitete Auf-
fassungen oder Auskünfte und Ratschläge privater Sachkundiger wie
etwa von Rechtsanwälten und Steuerbemtern vertraut hat. Eine etwas
restriktivere Haltung wird in derartigen Fällen nicht zu vermeiden sein,
verglichen mit Fallgestaltungen, bei denen eine Behörde die Fehlvor-
stellung von der Strafbarkeit der Tat veranlaßt hat. Solche Zurück-
haltung ist aber dann unangebracht, wenn der Irrtum auf Äußerungen
beruht, welche von etablierten Wirtschaftsorganisationen oder Berufs-
verbänden herausgegeben worden sind; dasselbe gilt von juristischer
Literatur anerkannter Verfasser.
S. A. STRAUSS

Liability for a so-called "mere omission"


and the duty to rescue in South African law

Liability, whether for damages ex delicto or in criminal law, flow-


ing from a so-called "mere omission", is a subject which has received
a good deal of attention in South African law in recent years, par-
ticularly also in relation to the question whether there is a duty to
rescue. In this article it is proposed to draw attention to developments
in this area in South African law over the past decade or three, and,
in the light of these, to focus attention brieflyon the legal obligations
of the physician.
The traditional outlook in South African law of delict, an uncodified
amalgam of Roman-Dutch law and English-law concepts, was that
there is no liability for a "mere omission".
Thus, in the third edition of his standard textbook on the law of
delict ' , published in 1947, McKerron propounded the view that "there
is no liability for a mere omission or non-feasance"2. The "textbook"
example sometimes given to law students by their professors was that
if a child fell into a swimming pool, there would be no duty on the
part of astranger to rescue it, even if he could do so merely by stretch-
ing out a hand s. McKerron hirnself was of the opinion that "although
I must not push another into a weIl, if he should chance to fall in, I
am under no legal obligation to render hirn assistance"4.
This view was the manifestation of an individualist philosophy in
law according to which the law need not necessarily have a moral
content. One of the most famous of South African judges, F. P. van
den Heever, had the following to say in 1944 in his monograph on

1 R. G. McKerron, The Law of Delict, 3rd ed. 1947.


2 R. G. McKerron (n. 1), p. 25.
3 This example was given by J. C de Wet/H. L. Swanepoel, Strafreg, 1949, p.27,
n.l, and by Holmes J A in Peri-Urban Areas Health Board v. Munarin, 1965
(3) SA 367 (A) at 373 E: "Negligence is the breach of a duty of care. In general
the law aUows me to mind my own business. Thus if I happen to see some-
one else's child about to drown in a pool, ordinarily I do not owe a legal
duty to anyone to try and save it." See also C. R. Snyman, Strafreg, 1981, p.45.
4 R. G. McKerron (n. 1), p. 24 - 25.

33·
516 S. A. Strauss

Aquilian liability 5." [T]he law's reaction to morals is purely negative:


it refuses to enforce patent immorality, yet does not actively enforce
moral conduct save in so far as legal rules have been made for ethical
considerations. In such instances the duty arises ex lege and not ex
bonis moribus. Secondly our legal system accepts a healthy individual-
ism as the keynote of human conduct; it relies largely upon pride of
ownership and self-interest as spurs to production and the maintenance
of society. To interfere in the affairs of another is in itself blame-
worthy and an unauthorized person does so at his periI. If every in-
dividual were liable for faiIure to protect others against loss, each
would be compelled, in order to avoid liability, to run around and busy
hirns elf with the affairs of his neighbours, to the neglect of his own,
which would lead to chaos. Looked at from the point of view of the
average reasonable citizen, a person can never be blameworthy for
minding his own business6 ."
The standpoint that there is in principle no delictual liability for
a mere omission has been justified on the basis of Roman law as weIl
as English law. "[I] t has always been accepted doctrine," says Law-
son7 , writing on negligence in the Civil Law, "that Roman law gave an
action for omission only in exceptional cases". He refers inter alia to
D.7.1.13,2. According to this text-relating to usufruct-a person who
does damage to another's property is liable under the Lex Aquilia.
However, a person cannot be held liable under the Lex for not plow-
ing his land or for not planting fresh vines, or for letting water-courses
go to ruin.
In commenting on English law elsewhere, and particularIy on the
"duty to care"B, Lawson points out that there is in general no duty
to act positively in order to ward off foreseeable danger from another
man, even if the act can be done easiIy and safely and without expense
to the defendant.
One of the most eminent and influential Roman-Dutch jurists, Jo-
hannes Voet 9 , in his great commentary on the pandects written by the
turn of the 17th century-a work, by the way, which is still regularly
5 Aquilian Damages in South African Law, 1944, p. 37 - 38.
s In 1982, P. Boberg, Liability for Omissions, 1982, 11 BML 194, had the
following to say about Van den Heever's statement: "This reasoning may
strike the socially minded as a little spurious. It reflects the laissez-faire
philosophy of the previous century and accords ill with modern nations of
social responsibility."
7 Negligence in the Civil Law, 1950, p. 26.
B Lawson (n. 7), p. 35.

o Commentarius ad Pandectas, 1698 - 1704, 9.2.3. I have availed myself of


the translation of Voet by P. Gane, The Selective Voet, being the Com-
mentary on the Pandects, 1955 - 1958.
Liability for a so-called "mere omission" in South African law 517

quoted in South African courts-distinguishes between two types of


negligence, namely commission and omission. We should bear in mind,
says Voet, that only damage caused by commission or by commission
and omission together (committendo et omittendo simul datum) was
punished by the Aquilian law, and not that which arises from omission
alone (quod sola contingit omissione). Ergo, according to Voet, he who
has not pulled out another's animal which has fallen into the water
when he could have done so, cannot be held liable under the Aquilian
law. Nor can a doctor be held liable if he refuses to attend a patient.
Almost as an afterthought, though, Voet reminds his reader that "it
would suit the duty of the good man to come to the help of the im-
peri1led fortunes of his ne ar neighbour, if he can do it without hurt
to hirnself". Voet hastens to add that a doctor who performs a good
operation but then abandons the curative treatment, will not escape
liability. But this example, according to Voet, belongs to the category
of persons doing wrong in taking up a duty and not fulfil1ing it after
taking it up - in other words, not cases of pure omission.
The general rule that there is no delictual liability for a pure omis-
sion was qualified by South African jurists by enumerating certain
exceptions or "quasi-exceptions" to the rule. The first of these, accord-
ing to McKerron 10 , was the omissio per commissionem: Liability could
arise from an omission where by some prior act the defendant has
created a potentially dangerous state of affairs which would otherwise
not have existed. This principle was applied in particular in the so-
called "municipality cases". Halliwell v. Johannesburg Municipality"
(1912) may serve as a typical example: H was driving a horse and a
cart along a city street. The horse slipped on cobbles which had been
laid by the municipality along the edge of the tram lines, and H was
thrown out of the cart and injured. The cobbles were originally rough
and properly laid, but they had wo rn smooth and became dangerously
slippery. The municipality was held liable for having introduced a
new source of danger and for failing, subsequently, to take due steps
to guard against the danger.
A second situation in which liability could arise from an omission
was where the defendant has assumed control of a thing which, unless
due precautions are taken, may cause harm to others. The classical
example from the Digest-set forth in the well-known text of Ulpian l2
-is where A has lit a furnace and B has taken over from A the duty
to guard it. If B fails to do so and the fire spreads and causes damage

10 R. G. McKeTTon (n. 1), p. 25.


11 1912 AD 659.
12 D 9.2.27, 9.
518 S. A. Strauss

to neighbouring property, he (B) is liable although it was not he who


lit the fire. A peculiarly South African criminal-law example would
be S. v. Fernandez u (1966): A baboon which a shop-owner, F, kept in
a cage, apparently as a pet, escaped through an opening in the cage.
F persuaded the animal to return to the cage but while he was repair-
ing it, the baboon got out again in the same place, snatched a baby
from a perambulator pushed by the baby's mother who happened to
pass by, sank its teeth into the baby's head and then threw it to the
ground, as a result of which the child died. F was convicted of culp-
able homicide. (It is a well-known fact in South Africa that although
baboons become quite tarne and can be amusing pets, they can turn
vicious at times. A fully-grown baboon has powerful jaws and a pair
of lethaI fangs.)
Duties of a positive nature could also arise by the nature of a per-
son's office. An interesting example from South African case law,
cited by McKerron u , is that of a gaoler whose duty it is to prevent
the escape from custody of a person imprisoned for debt, who is held
liable by the judgment creditor if the prisoner escapes l5 •
Finally. it was said that positive duties could be imposed by statute l6 •
These four categories casuistically described by McKerron in 1947
seem to have "crystallised" in South African law at that time. But
they certainly did not constitute a numerus clausus17 •
De Wet and Swanepoel, in their 1949 textbook on criminal law 1B_
the first work in South Africa which approached this branch of law
on a scientific, analytical basis-drew attention to that truth19• These
authors treated of criminal liability for omissio in their discussion of
the doctrine of causation. Their view was that causation is juridically
possible also by way of an omission. Liability, however, depends on
whether or not there was a legal duty upon the accused to act. The
point of departure is that there is no general legal duty to ward off
danger to others. The authors also specifically cite the "textbook"
example of the drowning man20 : a person may joyfully watch his enemy
13 1966 (2) SA 259 (A).
14 R. G. McKerron (n. 1), p. 34.
15 Sandilands v Tompkins, 1912, A D 171.
18 McKerron (n. 1), p.34. There is of course a wide range of provisions
in South African statutory law imposing a variety of duties upon officials
and ordinary citizens alike.
17 McKerron hirnself in subsequent editions of his book added to that
list.
18 J. C. de Wet/H. L. Swanepoel, Strafreg, 1949.
18 De Wet/Swanepoel (n. 18), p. 28.
20 De Wet/Swanepoel (n. 18), p. 27 n. 1.
Liability for a so-called "mere omission" in South African law 519

drown in shallow water, they say, even though the former may save
hirn with little effort and without danger to hirns elf.
In addition to the examples cited by McKerron, De Wet and Swane-
po el quote two other situations in which a legal duty to act positively
may arise, namely (a) by agreement and (b) in consequence of nego-
tiorum gesti0 21 • Eut the authors are at pains to point out that the
situations in which a duty to act is present do not-and cannot-con-
stitute a numerus clausus. We are here in the frontier zone (grens-
gebied) where law and ethics meet, they say, and the fron tier is not
static. "The living law simply does not allow itself to be fenced in.
Ethical precepts can in due course through custom evolve into legal
precepts ... Where a legal duty is not to be found in a precept of
positive law or has not been assumed voluntarily, only the man with
a thorough knowledge of legal lire and the juristic consciousness of
society will be able to make a satisfactory decision, because he will
have to decide whether or not through custom a legal duty has arisen,
in the particular circumstances of the case, to intervene in the course
of events 22 ."
It is incorrect, De Wet and Swanepoel maintained, to infer from the
me re creation of a danger a duty to act: after all, a person may some-
times be justified in creating a danger and nonetheless be under no
obligation to protect others against the danger.
It took several years before these thoughts, expressed in an "aca-
demic" treatise on criminal law, found support in the decisions of the
South African courts 23 • The tradition al view, after all, was that some
"prior conduct" on the part of the defendant had to be indicated
before he could be held liable for an omission to act, and the courts
continued to insist upon this.
It is only fair to say that De Wet and Swanepoel were not the first
to criticise the insistence on "prior conduct" as aprerequisite for lia-
bility for an omission. A few years before (1944) Van den Heever in his
mono graph referred to above 24, had advanced the argument that so me
of the passages in the Digest said to be cases of liability based upon
"prior conduct", were in fact true examples of liability for me re omis-
sion which could only be explained as cases of omission following upon
prior conduct by a strained interpretation of what amounts to the

21 De Wet/Swanepoel (n. 18), p. 27.


22 My translation.
2S Other academics supported the notion of liability for a mere omission.
See e g N. J. van der MerwelP. J. J. Olivier, Die Onregmatige Daad in die
Suid-Afrikaanse Reg, 1966, p.21 et seq (and subsequent editions).
24 Van den Heever (n. 5), p. 37 - 42.
520 S. A. Strauss

latter. However, apparently Van den Heever hirns elf, in the final
analysis, still postulated the requirement of a prior, potentially nox-
ious activity on the part of the defendant 2s •
The first South African case in which the possibility of civil liability
in respect of a me re omission was canvassed, was Silva's Fishing Cor-
po ration (Pty) Ltd v. Maweza 26 (1957). In that case a seaman drowned
when the ship by the name of Antoinette, on which he had served, was
wrecked in a storm. It appeared that the Antoinette's engine had failed
on its return from the fishing grounds. The vessel drifted for five days
before it was wrecked in the storm. During that period the company
owning the fleet to which the ship belonged, was on several occasions
warned by skippers of other vessels in the fleet of the plight of the
vessel. The company was subsequently sued for damages by the sea-
man's widow on the ground that it had failed to take reasonable steps
to rescue the crew of the Antoinette. The defendant took the point,
inter alia, that there was no liability for a mere omission in the absence
of "prior conduct" which would have created a duty to take action.
In delivering the majority judgment of the Appeal Court, Schreiner
J Arestated the traditional position of the South African courts and
observed that the entering upon a potentially noxious activity might
be described as prior conduct. In casu, the judge said, there had clearly
been previous activity of the owner in concurring in the voyage of
the Antoinette when it set out as part of its fishing fleet. That activity
was beyond question potentially noxious to the crew, and when this
situation crystallised and the owner heard of the boat's distress, a
legal duty arose to act within the means at its disposal.
The court found it unnecessary to consider generally in what cir-
cumstances a fishing fleet owner is legally bound to provide and use
suitable means of rescue. However, Schreiner JA referred to the ar-
gument of counsel on behalf of the owner that in the absence of a
contract or statute "or so me such source of a possible obligation to
act", no legal duty of rescue exists, however obvious the moral duty
may be. The learned judge refused to uphold this argument, ruling
that a duty to rescue is not special or subject to peculiarly restricted
rules. "It is simply a duty to act reasonably and such a duty may arise
out of the circumstances of the case". Although the case was decided
by application of the "prior conduct" principle, it would seem as though
the judge obiter acknowledged the possibility of liability for a "mere"
omission and a concomitant rescue duty.

25 Van den Heever (n.5), p.42. See also the remarks of Schreiner JA in
Silva's case 1957 (2) SA 256, 261 (E - F).
26 1957 (2) SA 256 (A).
Liability for a so-called "mere omission" in South African law 521

It is noteworthy that in aseparate judgment in which he agreed


with the conclusion reached by the majority of the court, Steyn J A,
after carefulanalysis of Roman-Dutch authorities, expressed the opin-
ion that it was not apparent why a factum praecedens should be
strictly adhered to.
The issue of liability for a pure omission was again raised in Regal
v. African Superslate (Fty) Ltd27 , (1963). In that case a landowner, X,
in quarrying for slate on his property, had left slate waste where the
flood waters of a river could reach it. When the river was in flood,
tons of slate were washed into the riverbed on R's property. X sub-
sequently sold his property to Y. Fearing that another flood might wash
more slate waste onto his property, R sought an interdict to compe1
Y to take steps preventing such an occurrence. The Court of Appeal
unanimously denied R the relief sought, although the reasons given
by each of the five judges differed to a certain extent.
The action was of course based upon nuisance and not for the re-
covery of damages ex delicto. Steyn C J, now Chief Justice of South
Africa, restated the general legal position, previously confirmed in
the majority decision in Silva's case, that where liability is sought
on the basis of negligence, a duty to act does not arise in the absence
of a factum praecedens. In the present case, however, it concerned un-
lawfulness (wederregtelikheid) and not culpa, he said. Liability in this
situation flows from ownership. In general it is incumbent upon an
owner-insofar as he is capable of so doing-to prevent direct harm
on his neighbour's land flowing from a condition brought about by
a previous owner. In these circumstances a duty to act would arise
without prior conduct. (In the circumstances of the case, the court
found, however, the only practicable measure was the erection of a
wall in the river, but considering the cost which that would involve
and the location of the wall, it would have been unreasonable to re-
quire Y to build such a wall.)
In his judgment, Rumpff JA agreed with the view that a duty to
act may arise regardless of prior conduct. "There may be a multitude
of circumstances, not all of which are linked with a preceding act," he
said, "which could give rise to the duty to act positively in order to
protect others against damage which is reasonably foreseeable 28 ."
The issue of criminal liability for a "mere" omission arose in a South
African court for the first time-as far as is known-in the 1967 case
of S. v. Russe1l 29 • In this case R, an employee of the State Department
27 1963 (1) SA 102 (A).
28 My translation.
29 1967 (3) SA 739 (N). See my note on the case in 31 THRHR 281 (1968).
522 S. A. Strauss

of Water Affairs, assisted a fellow employee, M, to load pipes from


a lorry onto a railway truck. The loading was done by way of a crane
mounted on the back of the lorry. M operated the crane and was in
charge of the loading. Overhead was an electrical wire with a poten-
tial current of 3000 volts. The practice on that particular railway
station was that the electrical power was only switched on when shunt-
ing took pI ace. On that particular day the shunter went to the section
where the loading was taking place and gave R the customary warn-
ing that the electricity would be switched on almost immediately. R re-
acted by saying "Very weIl". M was not present when this conversa-
tion took place and when he returned shortly afterwards R failed to
tell hirn that the current had been switched on. M continued with the
loading and at one stage the top of the crane touched the overhead
wire, with the result that one of M's assistants was electrocuted. R was
charged with culpable homicide and convicted by the magistrate who
faund that he had made hirns elf guilty of a culpable omission in that
he had failed to warn M that the current was on. A factum praecedens
was not a requirement for an omissio to be unlawful, the magistrate
ruled. Applying the test of reasonableness the magistrate found that
it could not be said to be unreasonable to have expected R merely
to open his mouth and to warn the people who worked with hirn. On
review the Supreme Court confirmed the judgment. In failing to warn
M, R was negligent, the judge said, whether his failure be considered
on the basis of a me re omission or on the basis of an omission follow-
ing prior conduct. By the manner of his acceptance of the warning,
the judge held, R had created a potentially dangerous position.
Although, with respect, it is arguable that it is somewhat artificial
to endeavour to construe the creation of a dangerous situation by the
manner in which the warning was accepted, Van Heerden J's decision
in Russell nevertheless amounts to an unequivocal acceptance of the
possibility of criminalliability on the basis of a pure omission.
Judicial reasoning in favour of li ability for a "mere" omlSSlOn
reached its apotheosis in the 1975 decision of the Appeal Court in Min-
ister van Polisie v. Ewels30 • The facts of the case were simple: an
off-duty policeman assaulted E in the presence of other policemen who
were on duty at the time. E sued the State for damages, and the
question arose whether it could be said that there was an obligation
upon the policemen who were on duty (employees of the State) to
intervene and protect E. The court held that there was in fact such a
duty and that the State could be held liable for damages.

30 1975 (3) SA 590 (A).


Liability for a so-called "mere omission" in South African law 523

The point of departure, said Rumpff C J, is that in general there is


no duty on a person to prevent others from suffering damage, even
if the former could easily do so and even if he could be expected, on
purely moral grounds, to act positively. At the same time, it is ac-
cepted that in certain circumstances there may be a legal duty upon
a person to take steps to prevent another from suffering harm. Failure
to do so can then lead to an unlawful omission which can found a claim
for damages. These cases, the learned judge said, are not limited to
a landowner who through his omission causes someone to suffer dam-
age by a condition pertaining to his land, or, in general, to cases
where there has been "prior conduct". Prior conduct or control of
property is a factor which in the totality of circumstances may lead
to a finding of unlawfulness, but it is not an indispensable element of
unlawfulness. The judge concluded: "It would appear that our law
has developed to the stage where an omission is regarded as unlawful
conduct when the circumstances of the case are such that the omission
does not only evoke moral indignation, but that the juristic con-
viction of society demands that the omission be regarded as unlawful,
and that the damage suffered be compensated by the person who failed
to act positively31."
A qualified duty to rescue has therefore been conclusively estab-
lished by the highest court of the land. It is interesting to note that
this has been achieved without any interference on the part of the
legislature32 • The line of decisions culminating in Ewels represents a
rejection of the laissez-faire philosophy of the previous century and
recognition of a healthy social responsibility 33. Whatever validity the
textbook example of the drowning child may have had in the past, it
has decidedly been given amortal blow.
The Ewels dictum was hedged in such a way that there need be no
fear that the courts will get carried away and "translate" the rescue

31 In casu it was argued that a statutory duty compelling the off-duty


policeman to act had been created by section 5 of the Police Act 7 of 1958.
The section sets forth the activities of the South African Police as inc1uding,
inter alia, "the maintenance of law and order" and "the prevention of crime".
Rumpf! C J found, however, that the Act could not be interpreted in such
a way that failure of a policeman to comply with these provisons invariably
gave rise to civil liability. The statutory duty created by section 5 never-
theless was a factor to be considered in the case in determining whether or
not there was a legal duty to rescue.
32 As was mentioned above, there are of course many positive duties
imposed by statutory law in South Africa. To mention only one: in terms
of the uniform Road Traffic Ordinances 21 of 1966 a motorist involved in a
road accident must stop, ascertain the nature and extent of injury suffered
by any other person and render whatever aid or assistance to the injured
he is capable of giving.
33 Compare BobeTg (n. 6), p. 194.
524 S. A. Strauss

duty into a general duty to meddle in the affairs of others. Negotiorum


gestio will undoubtedly remain essentially a right-or a defence to a
delictual claim or a criminal charge of e g trespass-and not a duty in
an absolute sense.
There can be no doubt, however, that the Ewels doctrine is of par-
ticular significance to people with specialised knowledge which they
could apply in saving the lives of others who find themselves in a dire
emergency. The physician finds hirns elf in the frontline as it were,
because his knowledge, techniques and skill will often and literally
make the difference between life and death for a severely ill or in-
jured person. Voet's statement three centuries aga that a doctor who
refuses to attend a patient cannot be held accountable under the Aquil-
ian law no longer holds good today.
In consequence of Ewels, a South African court may now weIl hold
a doctor liable for damage suffered by an injured or ailing person,
where the doctor was aware of his condition and unreasonably refused
or failed to attend. The word "unreasonably" must be emphasised.
In establishing whether or not a failure to act was unreasonable, the
court will undoubtedly be guided by factors such as the following:
(1) The doctor's actual knowledge of the patient's condition; (2) the
seriousness of the patient's condition; (3) the professional ability of
the doctor to do wh at is asked of hirn; (4) the physical state of the doc-
tor hirnself (he is a human being and if he is completely exhausted,
superhuman efforts will not be demanded from hirn); (6) the interests
of other patients; (7) professional ethical considerations.
The last of these considerations cannot be underrated. The ethical
standards set by the medical profession itself are extremely high. Al-
though the South African Medical and Dental Council's code of ethics
does not explicitly prescribe to doctors not to refuse calls, it can
hardly be doubted that unreasonable refusal to attend would be con-
sidered as improper conduct.
A number of years ago, the Council made the foIlowing ruling: "A
medical practitioner is free to decide whomever he will serve. A prac-
titioner may, however, be required to justify his actions should un-
necessary suffering or death result from his refusal to attend a pa-
tient; in cases of emergency, a practitioner is obliged to render assist-
ance under all circumstances." According to Levenstein34 this ruling
can be interpreted broadly to me an that a doctor may not deliberately
ignore an emergency situation such as a road accident.

34 SA Medical Post, 28 September 1978.


Liability for a so-called "mere omission" in South African law 525

International codes of ethics have repeatedly underlined the duty


of the doctor to respect and protect human life.
As was to be expected, the Ewels ruling soon made itself feIt in the
field of medical liability. In the Zimbabwean case of Magware v. Min-
ister of HeaIth N 0 35 (1981) the Supreme Court of Zimbabwe gave
direct effect to the decision in Ewels in relation to the legal duties
of casualty staff of a hospital.
In this case the patient as a result of an accident sustained a frac-
tu re dislocation of his right ankle. H was treated by the casualty staff
of aState hospital over aperiod of about three months. Later he
brought a claim against the State on the basis of an alleged breach
of the implied agreement between hirn and the defendant, whereby
the defendant undertook through his employees to treat hirn and to
conscientiously employ reasonable care and skill.
The patient alleged that the casualty staff had applied a pIaster of
Paris cast to his ankle without ensuring that it was moulded appro-
priately to stabilise and prevent slippage of the fracture dislocation.
They also failed to check the dislocation at an early stage by me ans
of X-rays after the pIaster cast had been applied. When an X-ray was
ultimately taken, the patient averred, it revealed that the fracture was
in an unacceptable position and required immediate correction, but
the staff failed to take the appropriate action necessary to correct it.
As an alternative ground of action, the plaintiff alleged that the staff
members were negligent in their treatment of hirn. As a result his
injury did not heal as it would otherwise have done, and he claimed
5 000 dollars as damages.
The defendant, the Minister of Health, denied any contractual re-
lationship between the parties. He admitted the negligence alleged
by the patient, but averred "that such negligence consisted only of
acts of omission" and accordingly did not give rise to delictual liability
on the part of the State. The defence was therefore based on the tra-
ditional view that there can be no delictual liability for a "mere omis-
sion" in the absence of prior conduct on the part of the defendant or
a special relationship between the parties.
The patient's counsel cited English authority in support of the prop-
osition that doctors and hospital authorities, whenever they acoept
a patient for treatment, are under a duty to use reasonable care and
skill to cu re hirn of his ailment.
Smith J based his judgment in favour of the patient largely on the
Ewels ruling. The judge held that it was clear that there was a moral
35 1981 (4) SA 472 (2).
526 s. A. Strauss
and professional duty on the part of the casualty staff to act reasonably
towards the patient. Once the staff had undertaken treatment and
had engaged in applying a pIaster cast, there was set up a special
relationship between them and the patient, different from the rela-
tionship between the patient and a disinterested stranger. The patient
was in the care of the medical staff.
"In my judgment," the judge concluded, "on a consideration of the
facts and wh at could be expected of the casualty medical staff as com-
pared with the consequences of inaction, and having regard to the con-
ceptions prevailing in this country, there was a legal duty to act
reasonably. "
It is respectfully submitted that in Magware it was not necessary
for the court to rely on the Ewels doctrine, for the simple reason that
where a patient is admitted to a casualty ward of a hospital, the ulti-
mate accountability of the hospital need not be based on a so-called
"mere omission". Apart from other considerations a casualty officer
in the employ of ahospital authority in terms of his contract of em-
ployment undeniably assumes a duty towards patients brought to the
casualty ward 36 •
There can in my opinion nevertheless be no doubt that in effect the
judgment in Magware will be followed by the South African courts.

38 It may also be safely assumed that somewhere in the regulations gov-


erning State hospitals in Zimbabwe there is a provision imposing a duty
upon doctors working for the State to attend to casualty cases.
FRIEDRICH NOWAKOWSKI

Nochmals zu § 42 öStGB
(Mangelnde Strafwürdigkeit der Tat)*

Wenige Bestimmungen des öStGB 1974 sind so kritisch behandelt


worden wie § 42 1 , die Bestimmung über die Straflosigkeit wegen man-
gelnder Strafwürdigkeit. Die Auseinandersetzung betrifft nicht nur
den rechtspolitischen Gehalt, sondern auch die dogmatische Konstruk-
tion. Moos 2 spricht von acht Auslegungsmöglichkeiten und fügt ihnen
ein Einstellungsurteil als Ergebnis des Verfahrens als neunte hinzu.
Freilich unterscheidet er nicht streng zwischen positivem Recht, rechts-
politischen Forderungen und dogmatisch-begrifflichen Konsequenzen.
Er selbst hat sich mehrmals mit der Regelung befaßt3 , zuletzt ausführ-
lich und wohl auch abschließend 1983 im 95. Band der Zeitschrift für
die gesamte Strafrechtswissenschaft'. Nachdrücklich wendet er sich ge-
gen die Behandlung der einschlägigen Fälle mit Freispruch; damit
steht er nicht allein. Seine Ausführungen sollen ein Anlaß sein, die
Regelung des § 42 öStGB, vor allem auch unter dogmatischen Gesichts-
punkten, nochmals zu untersuchen.

I.
§ 42 erklärt, daß Taten, die mit einer ein Jahr nicht übersteigenden
Freiheitsstrafe, mit Geldstrafe oder mit beiden Strafen belegt sind,
straflos sind, wenn die Schuld des Täters gering ist, die Tat keine oder
nur unbedeutende Folgen nach sich gezogen hat und die Bestrafung
nicht erforderlich ist, um den Täter von strafbaren Handlungen abzu-
halten oder der Begehung strafbarer Handlungen durch andere ent-
gegenzuwirken5 •
* Aus Zeitmangel und Platzmangel muß ich die Arbeit leider auf die Aus-
einandersetzung von Moos mit § 42 öStGB und die Verteidigung dieser Ge-
setzesstelle gegen seine Einwendungen beschränken.
1 Paragraphennummern ohne Beisatz meinen in dieser Arbeit immer das
österreichische Strafgesetzbuch vom 23. 1. 1974, BGBL Nr. 60/1974.
2 Die mangelnde Strafwürdigkeit bei Bagatelldelikten nach § 42 österr.
StGB, ZStW 95 (1983), S. 153 ff. (Auslandsteil, S. 3); vgl. hier insb. S. 164 ff., 205.
S Vgl. Moos (Anm.2), S. 154 Fn. 7; weiter ders., in: Strafrechtliche Pro-
bleme der Gegenwart X (Ottenstein 1982), S. 1 ff.
4 Siehe Anm. 2.
5 Zur Entstehungsgeschichte vgl, Moos (Anm. 2), S. 160 ff.
528 Friedrich Nowakowski

Es liegt nahe, den Inhalt der Bestimmung als eine nur bedingt erfor-
derliche zusätzliche Strafbarkeitsvoraussetzung zu verstehen 6 • Die Ge-
ringfügigkeit von Schuld und Erfolg läßt einen Straf anspruch nicht ent-
stehen, außer es sei eine Bestrafung doch general- oder spezialpräven-
tiv nötig1 . Gegen diese - auch vom OGH vertretene - Auffassung wen-
det sich Moos mit Nachdruck. Sie verstoße gegen das rechtsstaatliche
BestimmtheitsgebotB• Dies insbesondere durch die Abhängigkeit der
Entscheidung vom Vorliegen eines spezial- oder generalpräventiven
Bedürfnisses. Ob eine Handlung strafbar sei oder nicht, dürfe im mo-
dernen Typenstrafrecht nicht im Ermessen des Richters liegen. Es sei
Aufgabe des Gesetzgebers, die Voraussetzungen der Strafbarkeit ein-
deutig festzusetzen. Anders dagegen - so meint Moos - im Bereich der
Strafzumessung. Eine konkrete Strafe zu bestimmen, sei ein richter-
licher Ermessensakt. Dem entspreche es, in den Fällen des § 42 das
Bestehen eines Strafanspruches zu bejahen, wobei der Richter die
Strafe aber mit der Größe Null bemessen könne. Also ein Akt der
Strafbemessung9 !
II.

Dieses Verständnis des § 42 StGB widerspricht eindeutig dem, was


der österreichische Gesetzgeber wollte: Nicht nur die Verhängung einer
Strafe, sondern auch das Unwerturteil eines Schuldspruches sollten
vermieden werden. Das System der außerordentlichen Strafmilderung,
das es schon nach § 41 ermöglicht, bei Strafdrohungen, die eine Frei-

6 Die zusätzlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit betreffen weder den


Unrechts- noch den Schuldgehalt der Tat, sondern tragen rechtspolitischen
Erwägungen anderer Art Rechnung (vgl. Nowakowski, Wiener Kommentar,
Vorbem. zu §§ 3 - 5, Rdz. 72, und die dort Genannten). Eine solche zusätzliche
Voraussetzung ist das Bestehen eines general- oder spezialpräventiven Be-
dürfnisses in § 42. Diese Voraussetzung muß nur dann zur Begründung der
Strafbarkeit eigens geprüft werden, wenn die Strafdrohung und die Schuld
gering und die Folgen unbedeutend sind. Trifft eine dieser Voraussetzungen
nicht zu, so ist ein präventives Bedürfnis aufgrund der Herstellung der übri-
gen Typusmerkmale nicht gesondert zu prüfen. Vgl. auch unten V.
1 Der Unwertgehalt der begangenen Handlung muß die Bestrafung daher
auch ohne diese zusätzliche Voraussetzung decken können, wenn von der
Bestrafung mangels sozialer Notwendigkeit abgesehen werden kann. Gegen
eine Handlung, die keinen kriminellen Unwert aufweist, wird man nach der
Strafrechtsauffassung der Gegenwart auch dann nicht mit Strafe vorgehen
können, wenn ein general- oder spezialpräventives Bedürfnis trotzdem be-
stünde. Sonst könnten Personen, die sich überhaupt nichts Kriminelles haben
zuschulden kommen lassen, dennoch wegen ihrer kriminellen Neigungen be-
straft werden. Daher müssen auch bei § 42 der Unrechts- und der Schuld-
gehalt zur Begründung der Strafbarkeit nach Meinung des Gesetzes groß
genug sein. Aus rechtspolitischen Gründen anderer Art wird von der Bestra-
fung abgesehen. Vgl. Nowakowski, Festschrift Hundert Jahre österreichische
Strafprozeßordnung, 1973, S. 157 Fn. 30, und unten 11.
8 Moos (Anm. 2), S. 195 ff. und passim.
9 Siehe Moos (Anm. 2), S. 183, 186 insb. Fn. 111 und passim.
Nochmals zu § 42 öStGB 529

heitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr oder eine Geldstrafe (oder
beide kumulativ) vorsehen, die konkret zu verhängende Strafe auf
einen Tag oder auf zwei Tagessätze herabzusetzen tO , hätte diese Wir-
kung nicht gehabt. Aber es sollte möglich sein, daß der Täter von Strafe
überhaupt und von dem Vorwurf frei bleibt, etwas Strafbares begangen
zu haben. Man wollte eindeutig klarstellen, daß er kein Krimineller sei.
Man wollte keine Eintragung in das Strafregister und keine Probezeit
ermöglichen, der Täter sollte schlechthin unbescholten bleiben. Man
wollte kein Volk von Vorbestraften entstehen lassen, auch keines von
Verurteilten, die im sozialen Leben toleriert werden können oder müs-
sen. Die Stigmatisierung durch einen Schuldspruch sollte denjenigen
vorbehalten bleiben, die ein solches Stigma durch ihre negative Ab-
weichung vom sozial Gebotenen nach Gewicht und Bedeutung ihres
Zurückbleibens verdienten.
Dieser Zielsetzung des Gesetzgebers würde die Konstruktion eines
Schuldspruchs ohne Strafe, eines Absehens von Bestrafung nicht ent-
sprechen. Bei der Anwendung und Auslegung des geltenden Rechts
muß man das zugrundelegen, was der Gesetzgeber als seinen Willen
zum Ausdruck gebracht und überdies auch im Wortlaut verwirklicht
hat. Rechtspolitisch kann man natürlich anderer Meinung sein und
eine Änderung des Gesetzes verlangen, aber das ist dann eben eine
rechtspolitische Forderung - die als solche von der Auslegung des
geltenden Gesetzes eindeutig zu trennen ist. Besonders dann, wenn
sie mit dem Text des Gesetzes auch bei weitherzigster Auslegung nicht
zu vereinbaren ist.

III.

Eine solche Unvereinbarkeit besteht zumindest mit der Fassung,


die die öStPO durch das Strafprozeßanpassungsgesetz 1974 in Anpas-
sung an das StGB 1974 erhalten hat. Zwar sagt schon § 42 öStGB selbst
ausdrücklich "so ist die Tat nicht strafbar"l" und diese Wendung be-
deutet, wo sie vorkommt, daß aufgrund des geschilderten Sachverhal-
tes kein Strafanspruch entsteht oder kein Strafanspruch mehr be-
steht 12 • Aber die eindeutige Fassung des § 259 Z 4 öStPO und eine Reihe
weiterer Bestimmungen der öStPO schließen eine Deutung in dem
Sinne aus, wie sie nach der Lehre von Moos und nach den bundes-
deutschen Bestimmungen das Richtige treffen mag.

10 Vgl. § 41 Abs. 1 ZifI. 5 und § 19 Abs. 1, § 37 Abs. l.


11 Die hier behandelte Frage hat mit der von Moos ausführlich untersuch-
ten nichts zu tun, ob es richtig ist, daß diese Aussage sachlich auf die Tat
abgestellt ist und nicht in Wahrheit der Täter gemeint ist.
12 Weil ein früher vorhandenes Präventivbedürfnis entfallen ist; vgl.
unten IV.

34 Festschrift für H.-H. Jescheck


530 Friedrich Nowakowski

Im Stufenbau der Rechtsordnung stehen Strafgesetzbuch und Straf-


prozeßordnung einander als einfache Gesetze gleich; im Falle eines
Widerspruchs setzt sich also die lex posterior auch insoweit durch,
in diesen Fällen die neue Fassung der strafprozessualen Bestim-
mungen durch das Strafprozeßanpassungsgesetz. Die einschlägigen
Vorschriften der Menschenrechtskonvention sind als innerstaatliches
Gesetz Verfassungsrecht13 • Im Falle eines Widerspruchs ist nach öster-
reichischem Recht der Verfassungsgerichtshof zur Bereinigung beru-
fen, nach dem Völkerrecht die Organe entsprechend der EMRK. Letzt-
lich müßte der innerstaatliche Gesetzgeber eingreifen.
Auf eine andere Weise ließe sich der Freispruch nach § 259 Z 4 öStPO
- und ebenso die Enderledigung nach § 90 Abs. 2 öStPO - nicht be-
seitigen. Vor allem nicht durch eine Umdeutung des im Gesetze vorge-
sehenen Freispruchs in einen "verdeckten Schuldspruch".

IV.
Ein Freispruch nach § 259 öStPO hat nicht die Aufgabe, zu bestä-
tigen, daß der Freigesprochene die Tat, deren er angeklagt worden ist,
nicht begangen habe, sondern nur, daß im Augenblick des Urteils kein
Strafanspruch aus ihr gegen den Beschuldigten bestanden habe. Das
ergibt sich insbesondere aus der Vielzahl der Freispruchsgründe, die
in Ziffer 3 des § 259 öStPO zusammengefaßt sind: daß die der An-
klage zugrundeliegende Tat nicht mit Strafe bedroht ist oder nicht er-
wiesen ist, daß sie der Angeklagte begangen hat; daß Umstände vor-
liegen, durch die die Strafbarkeit aufgehoben oder ausgeschlossen ist.
In all diesen Fällen ist genauso freizusprechen. Wenn der Gesetzgeber
für den Fall des § 42 öStGB einen Freispruch vorsehen wollte, war es
folgerichtig, diese Vorschrift hier anzuschließen. Allerdings wäre Zif-
fer 4 nicht nötig gewesen, wenn es sich um einen Strafausschließungs-
grund handelte; nach dem alten Text der Ziffer 3 wäre in diesem Falle
ohnedies der Freispruch geboten gewesen. Aber man konnte meinen,
daß eine eindeutige KlarsteIlung des Gewollten zweckmäßig sei -
eine Vorsorge, die, wie die überwiegende Lehre, insbesondere auch die
von Moos vertretene, gezeigt hat, nicht zu weit, sondern eher noch
nicht weit genug getrieben worden ist.
Niemand meint, soweit ich ersehe, daß ein Freispruch nach § 259 Z 3
in Wahrheit ein "verdeckter Schuldspruch" sei, wenn man ihn mit täti-
ger Reue oder mit Verjährung begründet, obwohl hier die - sogar
zunächst strafbare - Begangenschaft der Tat durch den Freigespro-
chenen begrifflich vorausgesetzt und in der Begründung festgestellt

13 Vgl. BGBL Nr. 5911964.


Nochmals zu § 42 öStGB 531

wird. Der Strafanspruch ist vor der Urteilsfällung durch die tätige
Reue erloschen und der Freispruch die Folge. Nicht anders als - nach
ästerreichischem Strafrecht - im Falle der Verjährung t4 • In diesen Fäl-
len hat man die materiell-rechtlichen Ansätze (Strafaufhebungsgrund)
anerkannt; bei § 42 sträubt man sich offenbar dagegen; bei Moos ist das
ja eindeutig. Hier will man die Folgerung, den Freispruch, eben nicht
anerkennen, sondern die materiell-rechtliche Lösung gleichsam von
rückwärts her aufrollen.

V.
Nach Moos widerspricht § 42 öStGB, wie schon gesagt, dem Bestimmt-
heitsgebot l5 • Die Vorschrift überlasse die Bestimmung dessen, was un-
ter die Strafdrohung fällt, zu einem erheblichen Teil dem richter-
lichen Ermessen. Das sei jedoch mit der rechtsstaatlichen Funktion des
Tatbestandes unvereinbar. Im Bereich der Strafzumessung könne sich
das Ermessen dagegen auswirken. Das Strafzumessungsermessen des
Richters sei hier grundlegend und gestaltend. Daher müßte man die
mangelnde Strafwürdigkeit nach § 42 als Ergebnis der richterlichen
Strafzumessung erfassen. In diesem Zusammenhang verweist MOOS 18
auch auf die Lehren von Schmidhäuser, Langer und Bloy17, die das
Strafbarkeitsbedürfnis im Einzelfall in besonderer Weise jeweils in die
analytische Verbrechensdefinition einbauen wollenl8 • Aber selbst wenn
man ein solches Verbrechenselement zusätzlich einfügte, also etwas,
was Moos als Strafzumessungselement qualifizieren will, bliebe eine
Unbestimmtheit bloß durch unbestimmte Maßbegriffe offen. Art und
Inhalt von Rechtsgutsbeeinträchtigung und Schuld blieben durch die
Tatbestandsmerkmale festgelegt l9 •
Der österreichische Gesetzgeber hat das general- oder spezialprä-
ventive Strafbedürfnis jedenfalls unter die Voraussetzungen der straf-

14 Zur Konstruktion als Strafaufhebungsgrund vgl. Foregger, Wiener


Kommentar, Vorbem. zu §§ 57 - 60, Rdz. 1, und die dort Genannten.
15 Siehe schon oben I.
18 (Anm. 2), S. 190.
11 Vgl. die Darstellung bei Moos (Anm.2), S. 190 ff. Siehe auch den Bezug
bei Driendl, zit. bei Moos, a. a. 0., S. 192 Fn.147. Kritisch Moos selbst, a. a. 0.,
S.193.
18 Vgl. dazu auch Nowakowski, Wiener Kommentar, Vorbem. zu §§ 3 - 5,
Rdz. 81. In die allgemeine analytische Umschreibung des Verbrechensbegriffs
braucht das Bestehen eines general- oder spezialpräventiven Bedürfnisses
nicht aufgenommen zu werden, wenn man das Vorliegen eines solchen außer-
halb der Fälle des § 42 als mit den übrigen Verbrechensmerkmalen typischer-
weise dargetan annimmt. Vgl. dazu auch oben Anm. 6.
U Zu Unrecht legt Moos (Anm. 2), insb. S. 193 ff., 199, § 42 so aus, als ob die
nicht strafbare Handlung auch nicht rechtswidrig wäre. Zutreffend im An-
schluß an Kadecka Moos (Anm. 2), S. 193.

34·
532 Friedrich Nowakowski

baren Handlung in § 42 aufgenommen. Allerdings nicht allgemein, son-


dern nur, wenn sie mit nicht mehr als einjähriger Freiheitsstrafe be-
droht, die Schuld gering ist und die Tat keine oder nur unbedeutende
Folgen nach sich gezogen hat. Trifft nur eine dieser Voraussetzungen
nicht zu, so ist die strafbare Handlung mit den drei Merkmalen Tat-
bestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld abschließend ge-
kennzeichnet, die üblicherweise herausgestellt werden 20 •
Mit einem hat Moos sicher recht. Mit dem zusätzlichen Erfordernis
des general- oder spezialpräventiven Bedürfnisses gibt der Gesetzge-
ber zu, daß es ihm nicht gelungen ist, mit den Deliktstypen die Merk-
male erschöpfend darzustellen, die zur Begründung der Strafbarkeit
nötig sind. Aber Grundlegendes, Wesentliches ist doch dem Spiel der
Meinungen über das Strafbare entrückt. Wenn man dem general- oder
spezial präventiven Strafbedürfnis die für die Tatbestandsmerkmale
erforderliche Bestimmtheit absprechen will, bleibt doch die Bestimmt-
heit der Merkmale, die außerhalb der besonders leichten Fälle nach
§ 42 gleichfalls erfüllt sein müssen. Die besondere Prüfung und Berück-
sichtigung der präventiven Bedürfnisse wäre nur ein zusätzliches, ein-
schränkendes Merkmal. Die rechtsstaatliche Bestimmtheit bliebe nur
in dieser Richtung fragwürdig. Auch in den Fällen des § 42 gelten ja
die Verbrechensmerkmale, die allgemein gefordert werden: Tatbe-
standsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld.

VI.
Aber der Behauptung von Moos, der Hinweis auf ein general- oder
ein spezialpräventives Bedürfnis sei zu unbestimmt, um als Voraus-
setzung der Strafbarkeit in einen Deliktstypus aufgenommen zu wer-
den, muß nicht gefolgt werden. Die Begriffe sind im StGB selbst wie-
derholt und in übereinstimmender Weise umschrieben. Allerdings
dient diese "Erforderlichkeitsklausel" in der Regel der näheren Be-
stimmung der Unrechtsfolge, also der Strafbemessung. Aber die Be-
griffe sind in einer längeren wissenschaftlichen Auseinandersetzung
herausgebildet und ausgeformt worden, sie sind keine Unbekannten,
sondern den Juristen altvertraut. Sicher sind sie trotzdem umstrit-
ten21 ; aber das sind viele Begriffe, deren sich das Strafrecht bei der
Bildung von Deliktstypen bedient.

20 Vgl. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 1978,


S.159.
21 Vgl. dazu Jescheck (Anm.20), insb. S.53, 62, 716 f.; Nowakowski, Pro-
bleme der Strafzumessung, Strafrechtliche Probleme der Gegenwart 11 (Ot-
tenstein 1974), S. 167, insb. 173 ff. = Perspektiven zur Strafrechtsdogmatik,
1981, S. 205 ff.; Pallin, Die Strafzumessung in rechtlicher Sicht, 1982, Rdz. 58 ff.,
157.
Nochmals zu § 42 öStGB 533

Insbesondere gilt das für die normativen Begriffe22 , die auf außer-
rechtliche Wertungen verweisen. Dennoch werden solche Begriffe zur
Umschreibung strafbaren Verhaltens verwendet, und das ist wohl auch
unvermeidbar23 • Entsprechendes gilt für unbestimmte Maßbegriffeu.
An diesen Beispielen gemessen, ist die Verweisung auf das general-
oder das spezialpräventive Bedürfnis nicht durch ein nicht tolerierba-
res Maß an Unbestimmtheit oder Unbestimmbarkeit als Typusmerkmal
disqualifiziert.
VII.
Nur nebenbei sei darauf hingewiesen, daß die österreichische Bun-
desverfassung eine Art. 103 Abs. 2 GG entsprechende Bestimmung nicht
enthält. Es ist nicht ohne weiteres ersichtlich, ob die Auffassung über
den grundsätzlichen Unterschied zwischen Typusmerkmalen und Straf-
zumessungsmerkmalen, den Moos heranzieht und der für das bundes-
deutsche Strafrecht von manchen behauptet wird, ebenso auf das
österreichische Strafgesetzbuch übertragen werden könnte. Der öster-
reichischen Tradition entspricht die im positiven Strafrecht vom Ge-
setzgeber in der Strafprozeßordnung festgeschriebene Unterscheidung
von Strafzumessungsmerkmalen und für die Subsumtion wesentlichen
Merkmalen, den "entscheidenden Tatsachen" (§ 281 Abs. 1 Ziff.5 öStPO),
von denen die Subsumtion unter einen bestimmten gesetzlichen Tat-
bestand abhängt. Dem soll hier nicht weiter nachgegangen werden,
zumal diese Auf teilung durch die neue Entwicklung von Lehre und
Rechtsprechung zu § 39 öStGB (qualifizierender Rückfall) in Frage ge-
stellt wird.
Jedenfalls: Nach der überkommenen österreichischen Lehre und
Rechtsprechung kann die Subsumtion eines Sachverhaltes sogar unter
normative Begriffe mit Nichtigkeitsbeschwerde angefochten werden.
Ebenso die unter Ermessensbegriffe und unter unbestimmte Zahlbe-
griffe 25 • Das verweist diese Begriffe auf eine entsprechende objektive

22 Vgl. Nowakowski, Wiener Kommentar, Vorbem. zu §§ 3 - 5, Rdz. 56 ff.


23 Vgl. Nowakowski (Anm. 22), Rdz. 58.
24 Vgl. z. B. Nowakowski, Wiener Kommentar, § 5, Rc1z. 22.

25 Moos (Anm.2), S. 184 f., gibt zu, daß die Grenzen zwischen relativ unbe-
stimmten Gesetzesbegriffen und dem Ermessen im materiellen Sinn ver-
schwommen sind: nach der neueren österreichischen Verwaltungs rechtslehre
gebe es sie überhaupt nicht. Das spricht gegen die "Institutionalisierung", die
Moos (S. 185) zugrunde legt. Für Österreich liegen die Dinge danach jeden-
falls nicht so klar. Moos räumt ein, daß die Erforderlichkeitsklausel in § 42
öStGB als ein unbestimmter Gesetzesbegriff ausgeprägt sei, freilich - so
Moos - nur im Sinn einer äußerlichen oder formalen Betrachtung (S. 186).
Nach der in Österreich herrschenden öffentlich-rechtlichen Lehre darf dieser
Gegensatz aber zumindest nicht überschätzt werden. Ein und dieselbe Merk-
malsgruppe kann in verschiedenen Zusammenhängen auch verschieden zu-
zuteilen und danach auch vielleicht verschieden auszulegen sein, einmal wei-
534 Friedrich Nowakowski

Bestimmbarkeit und Begründbarkeit, die sie als Tatbestandselemente


tauglich sein läßt. Dem entspricht es auch, daß die fehlerhafte An-
nahme oder Nichtannahme des § 42 der überprüfung durch Nichtig-
keitsbeschwerde und nicht durch Berufung unterliegt 26 •

VIII.
Daß der Freispruch nach § 259 öStPO nicht die Aufgabe hat und nicht
dazu bestimmt ist, die erwiesene Unschuld des Angeklagten festzustel-
len, ergibt sich auch daraus, daß nicht im Gesetz festgelegt ist, in wel-
cher Reihenfolge die Freispruchsgründe heranzuziehen sind, wenn
mehrere von ihnen zutreffen. Triffterer 21 meint, sie seien in der Rei-
henfolge anzuwenden, wie das Art. 6 EMRK am besten entspreche.
Auch Foregger 28 nimmt jüngst eine bestimmte Reihenfolge für die
Freispruchsgründe als allgemeingültige Stufenfolge an (ohne das frei-
lich näher zu begründen). Eine Rücksichtnahme auf die EMRK konnte
bei der Entstehung und Fassung des alten Gesetzes natürlich nicht
maßgebend sein, und der Gesetzgeber hat bei der Neufassung 1974
nichts verfügt. Ursprünglich war man wohl der Meinung, das Verfah-
ren sei zu beenden, sobald einer der Gründe - gleichgültig welcher -
endgültig feststehe. Ist ein Freispruchsgrund festgestellt - z. B. tätige
Reue oder Verjährung -, so ist es auch nicht einzusehen, daß zur
Feststellung der ursprünglichen Unschuld des Angeklagten das Ver-
fahren fortzusetzen sei.
Das wird durch die Regelung für den Fall der Entschädigung für
erlittene Untersuchungshaft besonders verdeutlicht. Der Ersatzanspruch
setzt nach dem Strafrechtlichen Entschädigungsgesetz 1969 voraus, daß
der Verdacht, der zu ihrer Verhängung geführt hat, "entkräftet" wor-
den ist 29 • Dazu genügt weder die Einstellung noch der Freispruch30 ,

ter, das andere Mal enger. - Daß die Strafzumessung auch ein selbständiger
Entscheidungsakt des Richters sei, ist sicher kein Idealzustand (vgl. Moos,
S. 187, und die dort Genannten), aber nicht nur die Folge der Unbestimmtheit
des general- und spezialpräventiven Bedürfnisses. Das präventive Bedürfnis
im Einzelfall wird schon im Hinblick auf die verschiedenen Persönlichkeiten
der Betroffenen notwendig ein Element der Unbestimmtheit enthalten müssen.
26 VgI. § 281 Abs. 1 Ziff. 9 lit. b öStPO.

21 Triffterer, Sind § 42 StGB und seine Ausformung im Prozeßrecht mit


Art. 6 EMRK vereinbar? ÖJZ 1982, S. 617 ff., 647 ff., insb. 650. Nichts derglei-
chen ist im Gesetz vorgeschrieben. Der Beschuldigte kann durch die Verzöge-
rung des Verfahrens allenfalls mehr geschädigt werden. Ein Wahlrecht ist
ihm aber nicht eingeräumt.
28 Wiener Kommentar, § 57 Rdz.6; für Foregger hätte der Nachweis eines
Rechtfertigungsgrundes einen klaren Vorrang vor der Unbeweisbarkeit der
Tat, obwohl der Rechtfertigungsgrund die Erfüllung des Tatbestandes vor-
aussetzt.
29 § 2 Abs. 1 lit. b StEG.

30 Vgl. § 259 Ziff. 3 öStPO: "oder nicht erwiesen sei ... ".
Nochmals zu § 42 öStGB 535

sondern ist ein gesonderter Beschluß notwendig, der nach Durchfüh-


rung der etwa erforderlichen zusätzlichen Erhebungen zu ergehen hat3!.
Das Gesetz gewährt demjenigen, gegen den ein Strafverfahren durch
Einstellung oder Freispruch beendet worden ist, kein Rechtsmittel.
Wenn die Verfügung nichts anderes leisten kann als festzustellen, daß
kein Strafanspruch gegen den Beschuldigten festgestellt und ausge-
formt werden könne, kann der Beschuldigte in der Tat nicht beschwert
sein. Davon geht die öStPO aus. Wenn man vom Strafverfahren zur
Entlastung des Beschuldigten mehr erwartet, müßte dem Beschuldigten
ein Rechtsmittel eingeräumt seinS2 , mit dem Ziel einer anderen Begrün-
dung der Einstellung oder allenfalls auch einer Fortsetzung des Verfah-
rens zum Nachweis seiner Unschuld. Nichts dergleichen ist vorgesehen.
Die Verneinung des Strafanspruches und folgerichtig seiner Ausformung
ist im österreichischen Strafprozeß eben das erreichbare Optimum.

Damit seien die Betrachtungen zu den kritischen Untersuchungen,


die Moos in ZStW 1983 dem § 42 öStGB gewidmet hat, vorläufig ab-
geschlossen. Gewiß könnte man zu der Gesetzesstelle noch vieles be-
merken. Aber das Ausgeführte genügt wohl, um zu zeigen, daß der
Weg, den der österreichische Gesetzgeber gegangen ist, weder dogma-
tisch-begrifflich noch rechtspolitisch unvertretbar und schlechthin
abwegig ist 33 • Natürlich sind verschiedene Lösungen für den Gesetz-
geber möglich. Man mag die eine oder die andere bevorzugen; den
Freispruch nach dem österreichischen Gesetz oder einen Schuldspruch
ohne Strafe, ein Absehen von Bestrafung. Wenn man sich zur Frei-
spruchslösung entschlossen hat, muß man auch das aufgrund der Dar-
legungen von Moos nicht als einen Irrweg beklagen. Man kann sich viel-
mehr nach wie vor des positiven Urteils erfreuen, das der hochverehrte
Herr Jubilar, Professor Hans-Heinrich Jescheck, der österreichischen
Lösung zweimal hat zuteil werden lassen34 • Professor Hans-Heinrich
Jescheck hat die österreichische Strafrechtslehre und Strafgesetzgebung
durch die Ergebnisse seiner Forschungen wiederholt sehr wesentlich be-
reichert und gefördert. Dafür sei ihm auch hier herzlich gedankt und der
unbescheidene Wunsch ausgesprochen, daß dies weiterhin so sein möge.

31 § 6 Abs. 2 StEG.
32 Die Versagung eines Rechtsmittels legt den einen Standpunkt begriff-
lich näher als den anderen.
33 Das Urteil von Moos (Anm.2), die Konstruktion des § 42 sei lebens-
fremd, "sie wird sich auf die Dauer nicht halten können" (S. 181), muß nicht
geteilt werden.
3' Jescheck, Die Kriminalpolitik der deutschen Strafrechtsreformgesetze
im Vergleich mit der österreichischen Regierungsvorlage 1971, Festschrift für
Gallas, 1973, S.27, 46; ders., Deutsche und österreichische Strafrechtsreform,
Festschrift für Lange, 1976, S.365, 382; auch in: Strafrecht im Dienste der
Gemeinschaft, 1980, S.340,353.
KARL HEINZ GÖSSEL

Sukzessive Mittäterschaft und Täterschaftstheorien

Die sukzessive Mittäterschaft ist eine Form der Mittäterschaft und


damit der Täterschaft: diese triviale Feststellung beinhaltet die ebenso
triviale Konsequenz, daß die sog. Täterschaftstheorien auch Einfluß
auf die Bestimmung der sukzessiven Täterschaft haben.
Dem nachzugehen, ist Ziel dieses dem verehrten Jubilar gewidmeten
Beitrags. Dabei wird sich zeigen, daß die Rechtsprechung des Bundes-
gerichtshofs vom Standpunkt der subjektiven Täterschaftstheorie zu
ebenso widersprüchlichen wie willkürlichen Ergebnissen kommt, wel-
che dieser Theorie auch im übrigen anhaften. Vom Standpunkt der
überwiegend vertretenen Tatherrschaftslehre dagegen läßt sich die
Problematik der sukzessiven Mittäterschaft mindestens konsequent
lösen.

A. Die sukzessive Mittäterschaft


in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs

I. Die vom BGH entwickelte Dogmatik der sukzessiven Mittäterschaft


a) Wesen
Mittäterschaft ist dem BGH zufolge "sogar in der Form möglich, daß
sich jemand mit einem anderen, der schon in der Ausführung einer
Straftat begriffen ist, vor deren Beendigung zur gemeinschaftlichen
Fortsetzung des strafbaren Vorhabens verbindet, sofern er nur hierbei
noch irgend einen Beitrag zur Ausführung der Tat liefert"I. Dies ent-
spricht der ständigen und gefestigten Rechtsprechung: schon in einer
Entscheidung aus dem Jahre 1883 hat das Reichsgericht als Vorausset-
zung mittäterschaftlicher Begehensweise verlangt, "der Wille der ein-
zelnen" müsse "darauf gerichtet sein, daß die strafbare That durch die
zusammenwirkende Thätigkeit ins Werk gesetzt werde" und dabei
ausdrücklich anerkannt, dies könne "auch bei successiv,en Handlungen
zutreffen"2.

I BGH GA 1966, 210; s. auch BGHSt. 2, 344, 345.


2 RGSt. 8, 42, 43.
538 Karl Heinz Gössel

Damit sind die wesentlichen Probleme der sukzessiven Mittäterschaft


bereits angesprochen: einmal der Zeitpunkt, zu dem man sich noch zur
gemeinschaftlichen Fortsetzung eines im Verlauf befindlichen verbre-
cherischen Geschehens verbinden kann, ferner die Gemeinschaftlichkeit
der Ausführung, endlich die strafrechtliche Haftung des in das laufende
verbrecherische Geschehen Eintretenden.

b) Letztmöglicher Beteiligungszeitpunkt
Die o. e. Entscheidungen des BGH3 geben die allgemeine Auffassung
in der Rechtsprechung wieder, der zufolge der Zeitpunkt der "Beendi-
gung" über die Möglichkeit eines Eintritts des Mittäters in die "Aus-
führung einer Straftat" entscheidet4 •
Bei aller Unsicherheit über diesen entscheidenden Zeitpunkt war
man sich doch bisher darüber einig, daß die sog. "Beendigung" als "ma-
terielle Vollendung"5 der Verwirklichung aller Tatbestandsmerkmale
als bloßer "formeller Vollendung" zeitlich nachfolgt 6 , wobei überwie-
gend darauf abgestellt wurde, ob "das Tatgeschehen über die eigentliche
Tatbestandserfüllung hinaus seinen tatsächlichen Abschluß gefunden
hat"7.
c) Rechtliche Wirkungen
1. Mit Recht weist der BGH darauf hin, daß nach der Auffassung des
Reichsgerichts "der später eintretende Mittäter" damit aber "nicht
auch die Mitverantwortung für die im Zeitpunkt seines Eintritts schon
abgeschlossenen Geschehnisse übernehme", woran auch "die nachträg-
liche Billigung ... nichts ändere"8. Nun hat allerdings das Reichsgericht
die Auffassung vertreten, Beihilfe zu der von (einem) anderen täter-
schaftlich verwirklichten Tat sei zwar ebenfalls bis zur Beendigung
der betreffenden Haupttat möglich9 , allerdings in der Form, in der
sie vom Haupttäter auch schon vor der Beihilfehandlung verwirklicht
worden sei, sofern nur der Vorsatz des Gehilfen sich auch auf die vor
der Gehilfenhandlung liegenden Teile und Merkmale der Haupttat er-
strecke 10 • Die demnach festzustellende unterschiedliche Haftung des Ge-
hilfen einerseits und des Mittäters andererseits für die vor ihrem Tä-

J S.Fn.1.
4 BGHSt. 2, 344, 345.
5 Jescheck, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Auf!. 1978, § 49 III 3.

8 Vgl. MaurachlGössel, Strafrecht, Allgemeiner Teil 2, 6. Auf!. 1984, § 39


Rdn. 6 und 13.
7 Eser, in: SchönkelSchröder, 21. Auf!. 1982, Rdn.4 vor § 22; ähnlich BGH
VRS 13,350.
8 BGH (wie Fn. 4).
9 Ständige Rspr.; s. RGSt. 71, 193, 194 m. w. N.

10 Vgl. RGSt. 52, 202, 203.


Sukzessive Mittäterschaft und Täterschaftstheorien 539

tigwerden vom Haupttäter (beim Gehilfen) oder vom bisherigen Allein-


oder sonstigen Mittäter (beim Mittäter) verwirklichten Akte "entbehrt"
indessen nach der Auffassung des BGH "einer einleuchtenden Recht-
fertigung"l1. Nachdem das RG in einer Entscheidung aus dem Jahre 1923
aber ,auch zur Beihilfe "notwendig die Absicht" forderte, Oldie noch aus-
stehende, erst in der Zukunft liegende Verwirklichung eines Verge-
hens zu fördern"12, hätte es nahegelegen, den Gehilfen unter Berufung
auf diese Entscheidung nun ebenso zu behandeln wie schon bisher den
Mittäter. Statt dessen verfährt der BGH gerade umgekehrt: unter be-
wußter Abkehr von der bisherig,en Reichsgerichtsrechtsprechung wird
dem später eintretenden Mittäter all das ebenfalls zugerechnet, was der
oder die bisherigen Täter verwirklicht haben: "Wenn jemand in Kennt-
nis und Billigung des bisher Geschehenen als Mittäter ,eintritt, so be-
zieht sich sein Einverständnis auf einen verbrecherischen Gesamtplan,
und das Einverständnis hat die Kraft, daß ihm auch das einheitliche
Verbrechen als solches strafrechtlich zugerechnet wird13 ."

2. Indessen gilt diese mittäterschaftsbegründende Kraft des willent-


lichen Einverständnisses nicht unbegrenzt:
"Nur für das, was schon vollständig abgeschlossen vorliegt, vermag das
Einverständnis trotz Kenntnis, Billigung oder Ausnutzung der durch den
anderen Mittäter geschaffenen Lage die strafbare Verantwortlichkeit nicht
zu begründen. Besteht der Gesamtplan aus mehreren selbständigen zeitlich
aufeinander folgenden Straftaten und tritt der Mittäter erst nach vollstän-
digem Abschluß der ersten dieser strafbaren Handlungen ein, so wird also
hierfür keine strafrechtliche Haftung durch das Einverständnis herbei-
geführt"u.
Daß damit die bloße Willenskraft wenigstens in diesem einge-
schränkten Bereich schon täterschaftsbegründend wirke und deshalb
als dolus subsequens in das Schuldprinzip verletzender Weise strafbe-
gründend herangezogen werde, verneint der BGH allerdings: wie der
- für die Unterstützung der gesamten Haupttat haftende - Gehilfe
auch nur den je bevorstehenden T,eil der Haupttat noch fördern könne,
so sei das immerhin "handelnde Eingreifen ... kein bloßer nachfolgen-
der Vorsatz"!5.

II. Einzelfälle in der Rechtsprechung des BGH


Vor einer Kritik dieser sehr fragwürdigen Auffassung soll die An-
wendung dieser Grundsätze in einigen Entscheidungen des BGH zu
11 BGHSt. 2, 344, 346.
12 RGSt. 58, 13, 14.
13 BGHSt. 2, 344, 346.
14 Wie Fn. 12.
15 BGHSt. 2,344,347.
540 Karl Heinz Gössel

den jetzigen16 Paradefällen der sukzessiven Mittäterschaft bei den mehr-


aktigen Delikten des Raubes und der Vergewaltigung aufgezeigt wer-
den. Beide Delikte sind dadurch charakterisiert, daß u. a. Gewalt als
Mittel zur Ermöglichung der - späteren - Wegnahme oder des -
späteren - Vollzugs des außerehelichen Beischlafs eingesetzt wird.
In den hier berücksichtigten vom BGH entschiedenen Fällen führte -
mit einer Ausnahme - der in das laufende Tatgeschehen Eintretende
selbst i. S. des § 25 Abs. 1 StGB nur solche Handlungen aus, die den je-
weiligen zweiten Akt (Wegnahme, außerehelicher Beischlaf) der tat-
bestandlichen Deliktsbeschreibung verwirklichten, ohne sich an der
aktiven Gewaltanwendung durch den bisherigen Alleintäter mit eige-
nen aktiven Handlungen zu beteiligen; in einem weiteren Falle hatte
sich ein Mittäter zwar am ersten T,eilakt (Gewaltausübung), möglicher-
weise aber nicht mehr am zweiten Akt (Wegnahme) beteiligt, gleichwohl
aber das Weggenommene an sich gebracht.

a) Raubfälle
1. Im ersten der hier zu erwähnenden Fälle hatte A dem X dessen
Kraftfahrzeug unter solcher Gewaltanwendung weggenommen, die den
Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung verwirklichte. In dieses
Geschehen trat B unter Beteiligung an der Wegnahme und unter Aus-
nutzung der "von A verübte(n) Gewalt" erst ein, "nachdem A den X
bereits zu Boden geworfen" und dadurch den Tatbestand der gefährli-
chen Körperverletzung bereits vollendet hatte. Im Zeitpunkt seines
Eintritts war B das bisherige Tatgeschehen zwar bekannt und dieses
von ihm auch gebilligt worden, ein vor der Tatausführung herbeige-
führtes Einverständnis zwischen A und B über den gesamten Gesche-
hensablauf ließ sich dagegen nicht nachweisen l7 •
Unter Anwendung der o. I dargelegten Grundsätze hat der BGH in
seiner Entscheidung vom 2.4. 1969 18 in Übereinstimmung mit einer
früheren Entscheidung vom 15.8.195719 zum gleichen Sachverhalt20 den
B als sukzessiven Mittäter des Raubes angesehen, nicht dagegen der
g,efährlichen Körperverletzung 21 : für ein tatbestandsmäßiges Geschehen,
das bei Eintritt eines weiteren Mitwirkenden schon "beendigt" und
"vollständig abgeschlossen" gewesen sei, könne der Entscheidung vom
15.8. 1957 zufolge "das Einverständnis" des B "trotz Kenntnis, Billigung
oder Ausnutzung der durch den anderen Mittäter geschaffenen Lage

1& Nach Umwandlung des § 243 StGB in eine Strafzumessungsregel.


17 BGH bei Dallinger, MDR 69, 533; Urt. v. 2.4. 1969, 4 sm 5/69.
18 Wie Fn. 17.
19 BGH bei Dallinger, MDR 69, 533; Urt. v. 15.8.1957,4 StR 199/57.
20 So ausdrücklich Dallinger in seinem Bericht, MDR 69, 533.
21 Wie Fn. 17.
Sukzessive Mittäterschaft und Täterschaftstheorien 541

die strafbare V,erantwortlichkeit nicht ... begründen"22. Bemerkenswert


erscheint allerdings, daß in der späteren Entscheidung vom 2.4. 1969 23
nur auf den vollständigen Abschluß abgestellt wird, nicht aber, wie in
der früheren Entscheidung aus dem Jahre 1957 2\ auf den Zusammen-
hang des vollständigen Abschlusses mit der Beendigung.

2. Im zweiten Raubfall hatten sich G und R über H geärgert und des-


halb beschlossen, H zu v,erprügeln. Bevor sie ihr Vorhaben verwirk-
lichten, frug R, ob G auch beabsichtige, dem H das Geld wegzunehmen,
was G verneinte. Danach schlugen Rund G derart auf H ein, daß dieser
bewußtlos wurde und in Todesgefahr geriet. Dem bewußtlosen H nahm
R schließlich die Geldbörse ab und gab G 60,- DM, die Hälfte des ge-
samten Inhalts, deren Annahme G zwar zunächst verweigerte, später
aber dann doch an sich nahm.
Das Landgericht verurteilte G wegen gemeinschaftlicher gefährlicher
Körperverletzung und wegen Diebstahls. Diesen Schuldspruch hob der
BGH deswegen auf, weil die Kammer "die rechtlichen Voraussetzungen
der sukzessiven Mittäterschaft v,erkannt" habe. Weil die Wegnahme der
Geldbörse wegen der fortdauernden Wirkung der - körperverletzen-
den - Gewalteinwirkung durch R noch nicht beendet gewesen sei,
könne G Mittäter des von R begangenen Raubes dann sein, wenn G
erkannt und gebilligt habe, daß R dem H die Geldbörse in der Absicht
genommen habe, deren Inhalt mit G zu teilen25 .

b) Vergewaltigungsfälle
Neben der verbrechensschaffenden Kraft der "Kenntnis und Billi-
gung" ist auch bei den nun zu erwähnenden Vergewaltigungsfällen be-
sonders der Zeitpunkt bemerkenswert, bis zu dem sukzessive Mittäter-
schaft möglich sein 'soll. Diesen Fällen ist allerdings vorauszuschicken,
daß mit der Neufassung des Vergewaltigungstatbestandes im Jahre 1973
nunmehr auch schon derjenige tatbestandlich handelt, der gegen eine
Frau Gew.alt anwendet, um sie zum außerehelichen Beischlaf mit einem
Dritten zu nötigen. Mit Recht hat der BGH damit die Möglichkeit mit-
täterschaftlicher Verwirklichung des § 177 8tGB auch dann anerkannt,
wenn sich die aktive Tätigkeit eines Beteiligten allein auf die Gewalt-
anwendung beschränkte, "die einem ander,en den Beischlaf ,ermög-
licht"26.

22 Wie Fn. 19.


23 Wie Fn.17.
24 Wie Fn. 19.
25 BGH JZ 81, 596.
28 BGHSt. 27, 205, 206.
542 Karl Heinz Gössel

1. Im ersten Vergewaltigungsfall hatte A aus nächster Nähe die Ver-


gewaltigung der B durch D und auch die Gegenwehr der B bemerkt
und "unmittelbar anschließend unter bewußter Ausnutzung der durch
D geschaffenen Wehrlosigkeit der physisch und psychisch erschöpften
Frau ebenfalls den Geschlechtsverkehr mit ihr" .ausgeführt, wobei B
"derart kraftlos" war, "daß sie das Verhalten des" A "regungslos über
sich ergehen ließ"27.
Der vom Landgericht in erster Instanz gefällte Schuldspruch wegen
mittäterschaftlich begangener Vergewaltigung entspricht den o. er-
wähnten Entscheidungen zum Raub: die Gewaltanwendung des D
wirkte zum Zeitpunkt des Eintritts des A in das Geschehen noch derart
fort, daß A die durch die Gewalteinwirkung geschaffene Lage für sich
ausnutzen konnte, weshalb das Tatgeschehen über die eigentliche Tat-
bestandserfüllung hinaus eben noch nicht seinen Abschluß gefunden
hatte 28 , also noch nicht beendet war: deshalb kann sich hier - jedenfalls
vom Boden dieser Rechtsprechung aus - die verbrechensschaffende
Kraft der Kenntnis und Billigung des später Eintretenden durchaus
noch entfalten. Gleichwohl hat der BGH den Schuldspruch der Kammer
nicht gebilligt: weder sei dem Urteil zu entnehmen, daß A "im Zeit-
punkt der Gewaltanwendung durch D diese als eigene gewollt und als
Nötigungsmittel angesehen hat, das auch die von ihm beabsichtigte
Ausführung des Beischlafs ermöglichen sollte", noch liege eine vor dem
Abschluß der Vergewaltigungshandlung liegende, zum mittäterschaftli-
chen Zusammenwirken erforderliche "Willensübereinstimmung" vor,
die zwar "auch durch schlüssige Handlungen geschaffen werden" kön-
ne 29 , hier jedoch nicht festgestellt sei.

2. Ähnlich wie in der Raubentscheidung vom 2.4. 1969 entschied der


BGH im zweiten hier zu erwähnenden Fall. A und B hatten die X ver-
gewaltigt, nachdem B der X einen für A überraschenden Schlag ins
Gesicht versetzt hatte. Die von der Kammer für A angenommene mittä-
terschaftlich begangene Körperverletzung lehnt der BGH deshalb ab,
weil A die X erst dann vergewaltigt habe, als der für A "überra-
schende" Schlag als Körperverletzung und damit auch als Gewaltan-
wendung bereits vollständig abgeschlossen vorgelegen habe. Die Ver-
urteilung wegen mittäterschaftlich begangener Vergewaltigung hat der
BGH indessen bestätigt: die durch den Schlag des B "entstandene Si-
tuation" habe A "für sich ausgenutzt. und ... dadurch nachträglich ge-
billigt" 30. Anders als im ersten Vergewaltigungsfall wird hier also die

27 BGH GA 1977, 144.


28 S. o. Fn. 5 und 7.
29 BGH GA 1977, 144, 145.
30 BGH bei Holtz, MDR 1982, 446; Beschl. v. 15. 1. 1982, 4 StR 696/81.
Sukzessive Mittäterschaft und Täterschaftstheorien 543

verbrechensschaffende Kraft der nachträglichen Billigung voraufgegan-


gener Gewaltanwendung hinsichtlich der Vergewaltigung bejaht.

B. Die subjektive Täterschaftstheorie in ihrer Bedeutung


für die Unzulänglichkeit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs

1. Intrasystematische Kritik 30a


a) Allgemeiner überblick
Mißt man die o. II näher erwähnten Entscheidungen an den o. A I
mitgeteilten, vom BGH entwickelten Grundlehren zur sukzessiven Mit-
täterschaft, so läßt sich lediglich eine sichere übereinstimmung fest-
stellen: es ist möglich, in ein im Fluß befindliches verbrecherisches Ge-
schehen bis zu dessen Beendigung noch als Mittäter unter rückwirken-
der übernahme der strafrechtlichen Haftung einzutreten. Die rück-
wirkende Haftung bezieht sich auf das vor dem Eintritt liegende ver-
brecherische Geschehen, soweit es vom später Eintretenden gewußt
und gebilligt oder ausgenutzt wird - nur der "vollständige Abschluß"
des Vorherigen schließt eine rückwirkende Haftung aus.
Damit dürfte der BGH "Beendigung" und "vollständiger Abschluß"
verschiedenen Zeitpunkten zuordnen: bis zum Zeitpunkt der Beendi-
gung ist sukzessive Mittäterschaft bzgl. des verbrecherischen Gesamt-
plans zwar möglich, jedoch ohne die Folge der strafrechtlichen Haftung
für diejenigen Teile der Planverwirklichung, die schon vor der Beendi-
gung vollständig abgeschlossen sind - dies jedoch ist den höchstrichter-
lichen Entscheidungen keineswegs eindeutig zu entnehmen; es ist eben-
so möglich, und darin ist eine ,erste Unklarheit der Rechtsprechung zu
erblicken, die Ausführungen des BGH zum "vollständigen Abschluß"
als nähere Bestimmung des Beendigungszeitpunktesaufzufassen.
Im übrigen aber bestehen weitere erhebliche Unklarheiten einmal
über den letzten Zeitpunkt des mittäterschaftsbegründenden Eintritts
und der rückwirkenden Haftungsübernahme, zum anderen über den
haftungsbegrenzenden vollständigen Abschluß vorherigen Geschehens,
und zwar in doppelter Weise: einmal ist unklar, was Gegenstand des
"vollständigen Abschlusses" ist, zum anderen der Zeitpunkt des voll-
ständigen Abschlusses selbst. Besonders bedauerlich erscheint, daß
diese Fragen in den genannten Entscheidungen uneinheitlich und teil-
weise widersprüchlich beantwortet werden.

30- S. dazu auch Küper, JZ 81, 568, der die Rspr. des BGH unter anderen als
den hier herangezogenen Gesichtspunkten kritisiert.
544 Karl Heinz Gössel

b) Unklarheit und Widersprüchlichkeit


hinsichtlich des "vollständigen Abschlusses"
In der o. A II a 1 mitgeteilten Raubentscheidung vom 15.8.1957 31
wird die Beendigung in übereinstimmung mit den allgemeinen Grund-
sätzen der Lehre von der sukzessiven Mittäterschaft als letzter Z.eit-
punkt eines möglichen mittäterschaftlichen Eintritts angesehen; in der
am gleichen Ort mitgeteilten Entscheidung vom 2.4. 1969 indessen wird
die zu späterer Wegnahme und damit zur Vollendung des Raubes ein-
gesetzte Gewaltanwendung insoweit als vollständig -abgeschlossen an-
gesehen, als sie den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung ver-
wirklicht - insoweit könne der später Eintretende "nicht verantwortlich
gemacht werden"32.
In diesen Entscheidungen werden mehrere Fragen aufgeworfen: ist
der die sukzessive Mittäterschaft begrenzende Zeitpunkt der Beendi-
gung identisch mit dem die strafrechtliche Verantwortlichkeitausschlie-
ßenden Zeitpunkt des "vollständigen Abschlusses" - wessen? vermut-
lich - des tatsächlichen verbrecherischen Geschehens, wie es Dallinger
in seinem Bericht über diese Entscheidungen 33 ,annimmt? Bezieht sich
der vollständige Abschluß ,auf voneinander verschiedene, selbständige,
zeitlich aufeinander folgende Straftaten34 im materiell-rechtlichen oder
im prozessualen Sinne?

1. In den den Entscheidungen zum Raub vom 2.4. 1969ss und zur Ver-
gewaltigung vom 15. 1. 198236 zugrundeliegenden Sachverhalten wurde
die Gewaltanwendung sowohl zur Körperverletzung eingesetzt, als auch
als Mittel der Wegnahme bzw. als Mittel der Nötigung zum -außerehe-
lichen Beischlaf. Im Raubfall werden damit (u. a.) §§ 223 a, 240, 249
StGB und im Vergewaltigungsfall §§ 223, 240, 177 StGB jeweils durch
je eine Handlung verwirklicht. In heiden Fällen stellen die jeweiligen
Tatbestandsverwirklichungen desweg,en je eine Tat im prozessualen
Sinne dar, die ,auch materiell-rechtlich jedenf.alls nicht als zeitlich auf-
einanderfolgende Straftaten betrachtet werden können. Damit kann in
beiden Fällen jedenfalls nach den von BGHSt.2, 344 entwickelten
Grundlinien gar kein vollständiger Abschluß der (gefährlichen) Kör-
perverletzung angenommen werden - die hier betroffenen Entschei-
dungen des BGH 37 verlegen damit - bestenfalls! - den die strafrecht-

31 BGH (wie Fn. 19).


32 Wie Fn. 17.
33 MDR 69, 533.
34 BGHSt. 2, 344, 346.
35 Wie Fn.17.
36 Wie Fn. 30.
37 Wie Fn. 17 und 30.
Sukzessive Mittäterschaft und Täterschaftstheorien 545

liche Verantwortlichkeit begrenzenden Zeitpunkt des tatsächlichen Ab-


schlusses auf den Zeitpunkt der Vollendung eines bestimmten Tatbe-
standes.
Die von Dallinger beim Bericht über die Raubentscheidung vom 2.4.
1969 zum Vergleich herangezogene Entscheidung vom 15. 8. 1957 38 weist
weiter,e Unklarheiten auf: zwar soll auch hiernach der vollständige Ab-
schluß des tatbestandsmäßigen Geschehens "die strafbare Verantwort-
lichkeit" begrenzen - indessen wird dieser Zeitpunkt nunmehr mit der
Beendigung gleichgesetzt, die gleichzeitig den Endpunkt für den nach-
träglichen Eintritt von Mittätern setzen soll.

2. Neben diesen -ersten Unklarheiten sind weitere zu beklagen: wenn


schon der vom BGH angenommene vollständige Abschluß der (gefähr-
lichen) Körperverletzung nicht damit begründet werden kann, diese sei
eine vom übrigen strafbaren Geschehen auch zeitlich getrennte selb-
ständige Straftat39 , so kommen nur noch zwei weitere Begründungs-
möglichkeiten in Betracht.
aa) Zunächst könnte argumentiert werden, es komme rein faktisch
auf den vollständigen Abschluß desjenigen Geschehens an, welches -
u. a. - den Tatbestand der (gefährlichen) Körperverletzung verwirk-
licht habe, damit also auf den Zeitpunkt der Beendigung. Das aber
würde das Ergebnis der hier betroffenen BGH-Entscheidungen37 nicht
tragen können: wegen ihrer die Wegnahme ermöglichenden Wirkung
und wegen der Ausnutzung dieser Wirkung durch B dauert im Raub-
fa1l 40 das faktische, den Tatbestand des § 223 a StGB erfüllende Ge-
schehen im Zeitpunkt des Eintritts des B rein tatsächlich noch an. Hätte
dieses Geschehen - faktisch - seinen Abschluß gefunden, könnte es B
nicht zur - sukzessiv mittäterschaftsbegründenden - Wegnahme aus-
nutzen. Entsprechendes gilt hinsichtlich der Vergewaltigungsentschei-
dungtI: auch hier kann das körperverletzende Verhalten des B von A
nur deshalb zur Vergewaltigung ausgenutzt werden, eben weil das Ver-
halten des B noch fortwirkt.
bb) Scheidet auch diese Möglichkeit aus, so ließe sich immer noch
sagen, der die strafrechtliche Verantwortlichkeit des später Eintreten-
den begrenzende Zeitpunkt sei derjenige, in dem ein bestimmter Tat-
bestand vollständig verwirklicht sei, also der Zeitpunkt der (formellen)
Vollendung.

3~ Wie Fn. 19.


39 So ausdrücklich von BGHSt. 2, 344, 346 als Voraussetzung für den voll-
ständigen Abschluß verlangt.
40 Wie Fn. 17.
41 Wie Fn. 30.

35 Festschrift für H.-H. Jescheck


546 Karl Heinz Gössel

Dies kann aber schon insoweit kaum überzeugen, als zwar die Voll-
endung des § 223 a 8tGB in der Raubentscheidung vom 2.4. 1969 und
ebenso die Vollendung des § 223 8tGB in der Vergewaltigungsentschei-
dung vom 15. 1. 1982 dem später Eintretenden nicht mehr zugerechnet
wird, dabei aber die gleichzeitige Vollendung des § 240 8tGB gänzlich
unberücksichtigt bleibt. Die in der Gewaltanwendung liegende Nöti-
gung wird allein unter dem Gesichtspunkt des Raubes bzw. der Verge-
waltigung betrachtet - und damit muß der BGH wohl davon ausgehen
(wozu er sich allerdings gar nicht äußert), daß die unter dem Gesichts-
punkt des § 240 8tGB vollständig abgeschlossene Gewaltanwendung
unter dem Gesichtspunkt des § 249 8tGB bzw. § 177 8tGB gleichwohl
als nicht vollständig abgeschlossen betr,achtet werden dürfe. Es er-
scheint widersprüchlich, dieselbe identische Nötigung einmal als voll-
ständig abgeschlossen zu betrachten, zum andern aber auch das ge-
naue Gegenteil anzunehmen. Wollte man zur Rechtfertigung anführen,
der vollständige Abschluß sei eben unter den jeweils anzuwendenden
gesetzlichen Tatbeständen zu beurteilen, so würde verkannt, daß der
Raub und ebenso die Vergewaltigung den Tatbestand der Nötigung
mitumfassen 42 und damit §§ 177, 249 8tGB die Bewertung unter dem
Gesichtspunkt des § 240 8tGB notwendig voraussetzen: damit aber muß
auch unter dem Gesichtspunkt der §§ 177, 249 8tGB als vollständig ab-
geschlossen anerkannt werden, was unter dem Gesichtspunkt des § 240
8tGB in dieser Weise beurteilt wird.
Entscheidend gegen diese Möglichkeit spricht aber, daß der vollstän-
dige Abschluß ,entgegen den hier betroffenen Entscheidungen des BGH43
jedenfalls nicht mit dem Zeitpunkt der tatbestandlichen Vollendung
gleichgesetzt werden kann. Dann nämlich würde sich ein Widerspruch
zu dem in der BGH-Rechtsprechungallgemein anerkannten Grundsatz
ergeben, demzufolge sukzessive Mittäterschaft über den Zeitpunkt der
tatbestandlichen Vollendung hinaus bis zur Beendigung möglich sein
soll.

3. Damit muß nun endlich zu der allgemeinen Frage nach dem Ver-
hältnis von Vollendung, Beendigung und vollständigem Abschluß 8tel-
lung genommen werden. Weil Vollendung und Beendigung ausreichend
sicher definiert erscheinen, bleibt es angesichts der bisherigen hier ange-
stellten erfolglosen Bemühungen um eine Bestimmung des "vollständi-
gen Abschlusses" noch sinnvoll, nach den Wirkungen des vollständigen
Abschlusses zu fragen, in der Hoffnung, von diesen Wirkungen auf die
Ursache rückschließen zu können.

42 MaurachlGössel (Fn. 6), § 55 Rdn. 31: Subordination.


43 Wie Fn. 17 und 30.
Sukzessive Mittäterschaft und Täterschaftstheorien 547

Soll sukzessive Mittäterschaft mit der Wirkung möglich sein, daß dem
später Eintretenden der Gesamtplan einschließlich der vor dem Eintritt
verwirklichten Teile dieses Planes zugerechnet wird, so kann in diesem
Zusammenhang der vom BGH sinngemäß verwendete Ausdruck "keine
Begründung strafbarer Verantwortlichkeit"44 sinnvollerweise nur be-
deuten, daß mit diesem Ausschluß eben keine mittäterschaftliche Haf-
tung begründet wird45 , sukzessive Mittäterschaft also nicht möglich ist:
wer sukzessive Mittäterschaft zwar bejahen, gleichzeitig aber strafrecht-
liche Verantwortlichkeit verneinen würde, würde in widersprüchlicher
Weise zwar die Voraussetzung,en der Mittäterschaft bejahen, die damit
verbundene Rechtsfolge mittäterschaftlicher Haftung aber verneinen.
Deshalb kann dem "vollständigen Abschluß" nur die Wirkung zuerkannt
werden, den Eintritt eines sukzessiven Mittäters in das verbrecherische
Geschehen und damit sukzessive Mittäterschaft auszuschließen. Damit
aber bleibt keine andere Möglichkeit, als die Zeitpunkte der Beendigung
und des vollständigen Abschlusses gleichzusetzen46 : wer dies verneint,
würde in den soeben aufgezeigten Widerspruch geraten: er müßte die
Möglichkeit anerkennen, trotz mittäterschaftlichen Zusammenwirkens
mittäterschaftliche Haftung für das zu diesem Zeitpunkt bereits abge-
schlossene verbrecherische Geschehen zu verneinen.
Damit ist es nun immerhin möglich geworden, Zeitpunkt und Inhalt
des "vollständigen Abschlusses" zu bestimmen: es handelt sich um den
gleichen Gegenstand wie bei der Beendigung. Das allerdings kann die
Probleme nicht lösen, die durch die Entscheidungen des BGH vom 2.4.
1969 und vom 15. 1. 198247 aufgeworfen wurden: wie o. 2 aa dargelegt
wurde, hatte das den Tatbestand des § 223 a bzw. des § 223 StGB erfül-
lende Geschehen eben noch nicht seinen Abschluß gefunden - und dieser
fehlende faktische Abschluß steht nach den o. A I b dargelegten Grund-
sätzen der vom BGHangenommenen Beendigung entgegen.

c) Unklarheiten und Widersprüche im übrigen


1. In der oben (A II a 2) weiter mitgeteilten Raubentscheidung vom
16. 12. 1980 48 erkennt der BGH ausdrücklich an, daß die Wegnahme-
handlung durch R bereits vollzogen war - und zwar zu Recht in Über-
einstimmung mit der sonstigen obergerichtlichen Rechtsprechung: als
R die Geldbörse in den Händen hielt, hatte er "die Herrschaft über die

44 So BGHSt. 2, 344, 346.


45 Insoweit unklar BGHSt. 2, 344, 346 und BGH bei Dallinger, MDR 69,
533.
48 Davon dürfte auch Dallinger, MDR 69, 533, ausgehen, wenn er die dort
mitgeteilten Entscheidungen (s. Fn. 17 und 19) für inhaltlich gleich hält.
47 Wie Fn. 17 und 30.

48 BGH JZ 81, 596.


548 Karl Heinz Gössel

Sache derart erlangt, daß er sie ohne Behinderung durch den alten Ge-
wahrsamsinhaber ausüben" konnte49 , und also den Diebstahl bereits
vollendet. Legt man den Maßstab an, den der BGH in der Raubent-
scheidung vom 2.4. 1969 und ebenso in der Entscheidung zur Verge-
waltigung vom 15.1. 198250 verwendete, so hätte sich G an diesem Dieb-
stahl wegen der formellen Vollendung und wegen des vollständigen
Abschlusses desselben daran nicht mehr als Mittäter beteiligen können.
Die Mittäterschaft des G kann nur noch bejaht werden, indem man
wegen Fortwirkens der gegen H geübten Gewalt (so ausdrücklich der
BGH in der Entscheidung vom 16.12.1980) die Wegnahme noch nicht
für beendet erklärt und bis zum Zeitpunkt der Beendigung mittäter-
schaftsbegründende Mitwirkung durch einen Willensakt noch für mög-
lich hält - dies allerdings im klaren Widerspruch zu der soeben genann-
ten Raubentscheidung vom 2.4.1969 wie auch zu der Vergewaltigungs-
entscheidung vom 15. 1. 198250, in denen das Fortwirken der in der Kör-
perverletzung liegenden Gewalt den Beendigungszeitraum der vollen-
deten Körperverletzung nicht hinausschieben konnte; zu den weiter in
den erst,en Raubentscheidungen aufgeworfenen Fragen des vollständi-
gen Abschlusses und dessen Verhältnis zur Beendigung äußert sich die
hier behandelte zweite Raubentscheidung vom 16. 12. 1980 51 nicht.

2. Die o. A II bIerwähnte erste Entscheidung zur Vergewaltigung 52


wirft erneut die gleichen Fragen auf, wie schon die Raubentscheidung
vom 2.4.1969 53 • Auch hier bleibt unklar, warum trotz Fortwirkens der
Gewaltanwendung (die ja auch noch im Vollzug des Geschlechtsver-
kehrs liegt) im Zeitpunkt des Eintritts des später Hinzukommenden
kein mittäterschaftliches Zusammenwirken im Zeitpunkt zwischen Voll-
endung und Beendigung angenommen wird und wie sich diese Beendi-
gung zu dem angenommenen "vollständigen Abschluß" der vor,aufge-
gangenen Gewaltanwendung verhält.

H. Extrasystematische Kritik

Die aufgezeigte Fragwürdigkeit der BGH-Rechtsprechung ist gleich-


sam notwendig. Sie beruht nicht auf Unklarheiten oder Widersprüchen
"im Detail", vielmehr auf verfehlten Prämissen: die verfehlte subjek-
tive Täterschaftstheorie hat in der unheilvollen Verbindung mit der
ebenso verfehlten Beendigungslehre im Institut der sukzessiven Mit-
täterschaft eine ihrer ungenießbarsten Früchte gezeugt.
49 BGHSt. 23, 254, 255 unter zutreffender Berufung auf BGHSt. 16, 271, 273;
ebenso BGH NStZ 81,435.
50 Wie Fn. 17 und 30.

51 Fn.48.
52 Wie Fn. 27.

53 Fn.17.
Sukzessive Mittäterschaft und Täterschaftstheorien 549

a) Der Einfluß der subjektiven Täterlehre


1. Wie bereits o. Ale 1 dargelegt, hat das bloße Einverständnis mit
einem verbrecherischen Gesamtplan nach der Auffassung des BGH
die Kraft, dem in die laufende V,erwirklichung dieses Planes später
Eintretenden sogar noch nach der tatbestandsmäßigen Vollendung alle
Deliktsmerkmale als täterschaftlich begangen zuzurechnen, auch wenn
sie im Zeitpunkt seines Eintritts von dem (den) vorher Tätigen bereits
getan worden waren. Wie dies mit dem nach § 25 StGB täterschafts-
begründenden "Begehen" einer "Straftat" vereinbar sein soll, wird
nur verstehen, wer allein den Willen zur täterschaftlichen Begehung
schon als "Begehen" i. S. des § 25 StGB ausreichen läßt. Diese Auffas-
sung aber muß unausweichlich v,ertreten, wer immer noch dem platten
Naturalismus des vorigen Jahrhunderts anhängt und als Täter jeden
ansieht, der den objektiven tatbestandsmäßigen Erfolg verursacht und
zugleich die naturalistische Formel von der Gleichwertigkeit aller Ur-
sachen für zutreffend erachtet: weil z. B. auch der Anstifter das tat-
bestandsmäßige Geschehen der Haupttat verursacht, und zwar in dem
Täter objektiv gleichwertiger Weise, kann die vom StGB doch vorge-
schriebene Trennung zwischen Täterschaft und Teilnahme nicht mehr
im obj.ektiven Bereich vorgenommen werden, sondern nur noch im
subjektiven: Täter ist, wer die Tat ,als eigene, Teilnehmer, wer sie als
fremde will 54 • Die Notwendigkeit einer Abgrenzung von Täterschaft
und Teilnahme führt aufgrund einer atavistischen Täterdefinition im
Bereich der Vorsatztaten zu einer rein subjektiven Bestimmung des
"Begehens" in § 25 StGB, unter souveräner Mißachtung des mit dem
Wortsinn des "Begehens" jedenfalls auch erfaßten objektiven Gesche-
hens. Dieser Fehler zeugt sich fort: entscheidet der Täterwille über die
Täterschaft, so natürlich ,auch über alle Formen der Täterschaft ein-
schließlich der Mittäterschaft. Damit aber zeigt sich auch im Ergebnis
dem 19. Jahrhundert typisches Denken: der Wille des Menschen und
seine Vorstellung werden zur schöpferischen Kraft, welche die Welt
erschafft - kraft seines Willens wird der Mensch auch zum Schöpfer,
Verursacher und Täter strafbaren Geschehens. Entscheidet aber der
Wille, so existieren keine objektiven Grenzen der Täterschaft mehr -
und so ist es nur konsequent, wenn auch die gesetzlich vorgeschriebene
Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme zum Produkt des
straftatschöpfenden menschlichen Willens wird.
Auch wenn der BGH vom Boden der sog. "eingeschränkt-subjektiven
Theorie" den entscheidenden Täterwillen anhand gewisser objektiver
wie subjektiver Kriterien wertend ermitteln will, ändert sich an der die
Straftat autonom hervorbringenden Wirkung des Täterwillens gar

54 (Wie Fn. 5), § 61 IV 2.


550 Karl Heinz Gössel

nichts, worauf schon der verehrte Jubilar aufmerksam gemacht hat 55 .


Und vom Boden dieser Auffassung aus ist es nur konsequent zuzulas-
sen, sich kraft eigener Vorstellung und eigenen Wollens auch zum
Schöpfer, Verursacher und Täter desjenigen zu machen, was andere
bereits längst get,an haben.

2. Diese Konsequenz zieht der BGH nun glücklicherweise nicht in


vollem Umfang: der rückwirkenden Schöpferkraft setzt er insoweit
Grenzen, als der später Hinzutretende in einen laufenden, noch nicht
beendeten verbrecherischen Prozeß eintreten muß, und zum anderen
kann bereits vollständig ,abgeschlossen Vorliegendes nicht mehr nach-
träglich zum Produkt des Willens des später Eintretenden erklärt wer-
den. Allein, so erfreulich diese Grenzziehung durch den BGH an sich
auch ist: sie entbehrt einer einleuchtenden Begründung! Ist der Wille
entscheidend, schafft er allein als animus auctoris die Straftat des Tä-
ters, so wird es damit prinzipiell möglich, jegliches in der Vergangenheit
Hegende Verbrechen zur T,at des Täters der Gegenwart zu machen -
erst die Verbindung solchen Willens mit mindestens gleichzeitigem ob-
jektiven Geschehen schließt die Grenze zur Vergangenheit und beläßt
sie als Werk des in der Vergangenheit tätigen Urhebers. Fehlt aber sol-
che Verbindung - und das ist der Fall, entscheidet allein der animus
auctoris über die Täterschaft, selbst wenn Indizien für dessen Vorliegen
verlangt werden -, bleibt die Grenze offen, dennoch gezogene Grenzen
bleiben beliebig und ermöglichen willkürliche Entscheidungen - und
dies zeigt sich deutlich in der o. aufgezeigten sehr verschiedenartigen
Bestimmung des Beendigungszeitpunktes und des Zeitpunktes des
"vollständigen Abschlusses", die über das mittäterschaftliche Zusam-
menwirken und über die strafrechtliche Haftung entscheiden sollen.
Damit zeigt sich: die Unklarheit und Widersprüchlichkeit der von der
Rechtsprechung des BGH für die rückwirkende Haftung bei der suk-
zessiven Mittäterschaft gezogenen Grenzen resultieren aus der subjek-
tiven Täterschaftstheorie, die keine Grenzziehung ermöglicht und jede
doch gezogene Grenze als beliebig erscheinen läßt.
Der BGH verneint allerdings die rückwirkende Täterschaft mit dem
Argument, ein der T,at nachfolgender Vorsatz werde ja gerade deshalb
nicht anerkannt, weil der später Eintretende handelnd eingreife, und
"dieses handelnde Eingreifen" sei "kein bloßer nachfolgender Vor-
satz"56. Dieses Argument aber übersieht, daß das "handelnde Eingrei-
f.en" sich jedenfalls nicht auf das beziehen kann, was bereits von ande-
ren handelnd verwirklicht worden ist - und zudem wird übersehen,
daß von vorsätzlicher Tatbestandsverwirklichung nur gesprochen wer-

55 (Wie Fn. 5), § 61 IV 3 und § 63 I 1 b.


S5 BGHSt. 2,344,347.
Sukzessive Mittäterschaft und Täterschaftstheorien 551

den darf, liegt der Vorsatz im Augenblick der Tatbestandsverwirkli-


chung vor, also, wie es der Jubilar treffend ausgedrückt hat, "im Zeit-
punkt der Tat"ö7. Die vom BGH für ,ausr,eichend erachtete Kenntnis
und Billigung bereits verwirklichter Teilakteaber lag im Augenblick
der Verwirklichung dieser Teilakte eben nicht vor, weshalb der BGH
dem Vorsatz des sukzessiven Mittäters eben doch rückwirkende Kr,aft
beilegt.

3. Auch der vom BGH für die rückwirkende Mittäterschaftshaftung


herangezogene Grund angeblich notwendiger Gleichbehandlung zwi-
schen Gehilfen und Mittätern überzeugt nicht. Daß eine solche Gleich-
behandlung für notwendig erachtet wird, ist ebenso nur vom Boden
der subjektiven Täterschaftstheorie aus zu verstehen. Gehilfen wie Täter
unterscheiden sich im objektiven Bereich als gleichwertige Verursa-
cher verbrecherischen Geschehens noch nicht, sondern erst hinsichtlich
ihres Willens, eine fremde Tat zu fördern oder eine eigene zu verwirk-
lichen: wenn aber der Förderungswille auch vergangenes objektives
Geschehen betreffen kann, dann muß es der Wille zur eigenen Täter-
schaft ebenso können. Auch dieses Argument indessen ist nicht überzeu-
gend: bereits Roxin hat treffend darauf hingewiesen, daß damit der
grundlegende Unterschied zwischen der Förderung fremder Tat, der
stets akzessorischen Haftung des Gehilfen einerseits und eigener Täter-
schaft andererseits verkannt wird 58 • Nach der Systematik des StGB
~ann allein der Täter tatbestandlich handeln, und die für den Täter
vorgesehene Strafbarkeit wird auf den tatbestandslos handelnden Ge-
hilfen wegen dessen normwidriger, rechtsgutsbeeinträchtigender Mit-
wirkung an fremdem tatbestandlichen Handeln ausgedehnt 59 - die
Ausdehnung der Strafbarkeit auf den tatbestandslos handelnden Gehil-
fen ist etwas ganz anderes als die rückwirkende Kraft des Täterwillens.
b) Endlich muß erneut betont werden, daß die Tatbestände des Be-
sonderen Teils nicht das gesamte verbrecherische Geschehen für straf-
bar erklären, sondern allein den tatbestandsverwirklichenden Aus-
schnitt aus diesem Geschehen: was außerhalb der Tatbestandsbeschrei-
bung (unter Berücksichtigung etwaiger Straf,ausdehnungsgründe wie
Versuch und Teilnahme) geschieht, ist straflos. Wer also nach der tat-
bestandsmäßigen Vollendung verbrecherischen Geschehens sich daran
noch beteiligt, ohne daß erneut irgendwelche Tatbestände (wie z. B. bei
Dauerdelikten oder fortgesetzten Handlungen) verwirklicht werden,
handelt tatbestandslos. Die Bejahung sukzessiver Mittäterschaft im
Zeitpunkt nach der Tatbestandsvollendung bis zur sog. Beendigung

67 (Wie Fn. 5), § 29 II 2.


58 In: LK, 10. Aufl., § 25 Rdn. 137.
59 Eingehend dazu MaurachlGössel (Fn. 6), § 47 Rdn. 15 ff.
552 Kar! Heinz Gössel

enthält damit einen Verstoß geg,en das verfassungsmäßige Gebot der


gesetzlichen Bestimmtheit strafbaren Verhaltens 60 •

c. Die Möglichkeit sukzessiver Mittäterschaft

Mit der bisherigen Kritik scheint das Urteil über das Institut der
sukzessiven Mittäterschaft gesprochen. Dies allerdings wäre durchaus
voreilig: wie o. B II aufgezeigt wurde, beruhen die Unzulänglichkeiten
der vom BGH entwickelten Lehre von der sukzessiven Mittäterschaft
im wesentlichen auf der subjektiven Tätertheorie in Verbindung mit
der Lehre von der Beendigung der Straftat. Vom Boden einer anderen
Tätertheorie und unter Aufgabe der vom BGH vertretenen Beendi-
gungslehre erscheint es dagegen möglich, das Institut der sukzessiven
Mittäterschaft anzuerkennen, wenngleich in gegenüber der Rechtspre-
chung wesentlich eingeschränkterem Rahmen.

I. Die Tatherrschaftslehre als


Grundlage der sukzessiven Mittäterschaft

a) Finale Tatherrschaft als Tatbestandselement


bei vorsätzlichen Taten
Sukzessive Mittäterschaft kann nur eine bestimmte Form der Mit-
täterschaft sein, die ihrerseits dem Willen des Gesetzes (§ 25 StGB) zu-
folge eine bestimmte Form der Täterschaft darstellt. Die daraus resul-
tierende Frage, wer denn aber Täter sei, kann nur unter Heranziehung
der Strafbarkeitsvoraussetzungen in den gesetzlichen Tatbeständen
beantwortet werden. Derzeit ist wohl allgemein anerkannt, daß die
einzelnen Tatbestände mit der von ihnen beschriebenen Rechtsguts-
beeinträchtigung zugleich auch deren Autor erfassen, entweder allge-
mein jeden Menschen mit dem ,anonymen "Wer" oder aber in besonde-
ren Tatbeständen speziell beschriebene Personenkreise wie z. B. Sol-
daten oder Amtsträger. Die Täterschaftsmerkmale sind damit Tatbe-
standsmerkmale61 •

1. Sind damit auch wesentliche Konsequenzen verbunden, so doch


nicht notwendig schon die Ablehnung des extensiven Täterbegriffs, wie
die Tatbestände der fahrlässigen Delikte zeigen. Indessen soll die fahr-
lässige Täterschaft außer Betracht bleiben: die o. kritisierte Rechtspre-
chung zur sukzessiven Mittäterschaft betrifft nur Fälle vorsätzlicher

M S. dazu MaurachlGössel (Fn. 6), § 39 Rdn. 13 ff. ffi. w. N.


61 So z. B. Jescheck (Fn. 5), § 61 I 2; besonders nachdrücklich Roxin, Täter-
schaft und Tatherrschaft, 3. Auf!. 1975, S.581 und ders., in: LK (Fn.58), § 25
Rdn. 26; s. ferner Maurach/Gössel (Fn. 6), § 47 Rdn. 48.
Sukzessive Mittäterschaft und Täterschaftstheorien 553

Täterschaft, und deshalb soll die vorliegende Untersuchung auch auf


die Fälle vorsätzlicher Täterschaft beschränkt bleiben.

2. Das die vorsätzlich,e Täterschaft gegenüber der Teilnahme kenn-


zeichnende Merkmal wird hier - was an dieser Stelle naturgemäß
nicht weiter begründet werden kann - in Übereinstimmung mit dem
verehrten Jubilar in dem Merkmal der TatheTTschaft erblickt62 • Als Tä-
terschaftsmerkmal ist die Tatherrschaft damit ebenfalls Tatbestands-
merkmal 63 • Vom Boden dieser Lehre aus soll und kann die Problematik
der sukzessiven Mittäterschaft gemeistert werden.

b) Die Merkmale der finalen Tatherrschaft


bei der Mittäterschaft
1. Mit Maurachs berühmter und allgemein anerkannter Kurzformel
wird Tatherrscnaft als "das vom Vorsatz umfaßte In-Händen-Halten
des tatbestandsmäßigen Geschehensablauf,es" v,erstanden 6" oder kürzer
als finale Steuerung des tatbestandsmäßigen Geschehens durch den Tä-
ter. Als Täterschaftsmerkmal ist die so verstandene Tatherrschaft nach
den obigen Darlegungen zu a) Tatbestandselement. In ihrem objektiven
Teil des objektiven In-den-Händen-Haltens des tatbestandsmäßigen
Geschehensablaufs ist sie dabei Merkmal des objektiven Tatbestandes,
auf die sich, wie bei allen anderen objektiven Tatbestandsmerkmalen
auch, der Vorsatz beziehen muß, hier als Wille zur Tatherrschaft. Das
allgemeine Täterschaftsmerkmal wird daher besser unter Einbezie-
hung seines subjektiven Teils als finale TatheTTschaft bezeichnet63 •

2. Damit scheint zugleich das Merkmal der Mittäterschaft geklärt


zu sein: auch der Mittäter ist Täter, und also entscheidet auch über die
Mittäterschaftsqualifikation die Innehabung der Tatherrschaft. Diese
Auffassung allerdings würde nicht nur das Institut der Mittäterschaft
überflüssig machen, sondern zudem übersehen, daß § 25 Abs.2 StGB
die Mittäterschaft als gemeinschaftliche Begehung der Straftat definiert
- und damit ist Mittäterschaft mit der gemeinschaftlichen Innehabung
der finalen Tatherrschaft zu kennzeichnen. Damit ist neben der allei-
nigen finalen Tatherrschaft des Alleintäters die von mehreren Personen
gemeinsam ausgeübte finale Tatherrschaft der Mittäter anzuerkennen,

62 Z. B. Jescheck (Fn.5), § 61 V; s. ferner MaurachlGössel (Fn.6), §47 Rdn.


49 ff. m. w. N.; auf die Lehre von den Pfiichtdelikten wird hier deshalb nicht
eingegangen, weil m. E. auch bei diesen Delikten auf die Tatherrschaft als
Täterschaftselement nicht verzichtet werden kann; näheres s. Maurachl
Gössel (Fn. 6), § 47 Rdn. 54 f.
63 MaurachiGössel (Fn. 6), § 47 Rdn. 52.
64 Maurach, Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufi. 1971, S.627;
ebenso MaurachiGössel (Fn. 6), § 47 Rdn. 50 m. w. N.
85 MaurachiGössel (Fn. 6), § 47 Rdn. 52, 56 f.
554 Karl Heinz Gössel

die Stratenwerth treffend als finale Tatherrschaft eines Kollektivs ge-


kennzeichnet hat G6 • Diese kollektive Tatherrschaft unterscheidet sich
von der Tatherrschaft des Alleintäters dadurch, daß nicht etwa eine
Einzelperson finale Tatherrschaft besitzt, sondern eine zu gemeinsamem
verbrecherischen Tun verbundene Personengesamtheit - jede Einzel-
person, die an dieser kollektiven verbrecherischen Tatherrschaft derart
teilhat, daß sie mit ihrem Beitrag die finale Tatherrschaft des Kollek-
tivs mitbegründet, begeht die Straftat "gemeinschaftlich" i. S. des § 25
Abs.2 StGB und also als Mittäter. Neben diesem objektiven Moment
ist subjektiv der Vorsatz zur Teilhabe an der Tatherrschaft des Kol-
lektivs erforderlich - und dies bedeutet willentliche Teilhabe an dem
gemeinschaftlichen Willen zur Tatherrschaft, also Willenskonnex unter
Unterordnung unter den gemeinsamen Tatplan. Damit wird das Wesen
des § 25 Abs.2 StGB offenbar: diese Vorschrift weitet die Tatsubjekt-
bestimmung vom alleinigen Inhaber der T,atherrschaft auf diejenigen
aus, die an der finalen Tatherrschaft der Personengesamtheit selbst teil-
haben67 •
Nach den grundlegenden Vorarbeiten von Herzberg88 , Roxin80 und Rudol-
phPo lassen sich dabei verschiedene Formen gemeinschaftlicher Tatherrschaft
unterscheiden: einmal die korrelative Tatherrschaft, bei der sich die einzel-
nen Mitwirkungsakte zur gemeinsamen Tatbestandsverwirklichung ergän-
zen, zum andern die additive Tatherrschaft, bei der jeder Mitwirkungsakt
auf die volle Tatbestandsverwirklichung zielt und endlich die alternative
Tatherrschaft, bei der je nach Sachlage nur einer von mehreren Mitwirken-
den die Tatbestandsverwirklichung herbeiführen soll, die Tatbestandsver-
wirklichung aber nur dadurch gesichert ist, daß alle Mitwirkenden zur
Rechtsgutsbeeinträchtigung bereit sind.

c) Finale Tatherrschaft als


Voraussetzung sukzessiver Mittäterschaft
Damit ist sukzessive Mittäterschaft unter den folgenden Voraus-
setzungen möglich:
1. Entscheidend ist die Teilhabe an kollektiver finaler Tatherr-
schaft; neben der objektiven Teilhabe daran ist- subjektiv der Wil-
lenskonnex zwischen den Mittätern als Vorsatz zur Teilhabe an der
finalen Tatherrschaft der Personengesamtheit erforderlich.
2. Mit der Rechtsgutsbeeinträchtigung erfaßt der Tatbestand auch
deren Autor und damit die Tätermerkmale: von einem Täter läßt sich

66 Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 3. Auf!. 1981, Rdn. 807 f.


67 Näheres s. MaurachlGössel (Fn. 6), § 49 Rdn. 4 !f.
68 Täterschaft und Teilnahme, 1977.
89 Die Mittäterschaft im Strafrecht, JA 1979,519.
70 Zur Tatbestandsbezogenheit des Tatherrschaftsbegriffs bei der Mittäter-
schaft, Bockelmann-Festschrift 1979, S. 369.
Sukzessive Mittäterschaft und Täterschaftstheorien 555

also nur in bezug auf eine bestimmte Rechtsgutsbeeinträchtigung re-


den. Ist die tatbestandsmäßige Rechtsgutsbeeinträchtigung in allen
ihren Merkmalen verwirklicht, so ist alles folgende Geschehen, soweit
es nicht erneut einen strafrechtlichen Tatbestand verwirklicht, tatbe-
standslos - und dieses Geschehen kann deshalb keinen Täter i. 8.
des § 25 8tGB zum Herrn haben. Finale Tatherrschaft ist deshalb spä-
testens bis zur - letztmaligen - Vollendung der jeweiligen tatbe-
standlichen Rechtsgutsbeeinträchtigung möglich, nicht mehr aber in
einem der - letztmaligen - Vollendung nachfolgenden tatbestands-
losen Beendigungsstadium. Gleiches gilt für die gemäß § 25 Abs.2 8tGB
über die Alleintäterschaft hinaus erweiterte gemeinschaftliche finale
Tatherrschaft, also die Beteiligung an kollektiver finaler Tatherr-
schaft: sukzessive Mittäterschaft kann damit entgegen der BGH-Recht-
sprechung ebenfalls nicht mehr in einem sog. Beendigungsstadium
möglich sein, das der - letztmaligen - Tatbestandsvollendung nach-
folgt.

H. Einzelfälle sukzessiver Mittäterschaft

a) Möglichkeiten sukzessiver Tatherrschaft


Auch vom Boden dieser Auffassung ist sukzessive Mittäterschaft
möglich, wie schon an folgendem Fall gezeigt werden kann: drei Mit-
täter A, Bund C bemerken bei einem Bankeinbruch, daß sie zwar
im Tresorraum kurz vor dem Ziel stehen, aber zur endgültigen Öff-
nung des Tresors einen Elektronikspezialisten E benötigen. Dieser wird
tatsächlich gefunden und ermöglicht mit seinem Wissen den Zugriff
auf den Tresorinhalt.
E tritt hier in einen im Verlauf befindlichen Diebstahl ein. Das Vor-
dringen bis zum Tresorraum war allein das Werk von A, Bund C:
hieran besitzt E weder die objektive Tatherrschaft noch den Willen
dazu - an der Tatherrschaft der von A, Bund C gebildeten Perso-
nengemeinschaft hat E keinen Anteil. Die etwaige Kenntnis und Bil-
ligung des vorherigen Verhaltens von A, Bund C durch E ändert
daran nichts. Mit dem Eintritt des E allerdings erweitert sich die bis-
her auf drei Personen beschränkte finale Tatherrschaft auf E: erst der
Tatbeitrag des E ergänzt sich mit den vorherigen Tatbeiträgen zur
Vollendung des Diebstahls. E erlangt damit Teilhabe an der kollek-
tiven Tatherrschaft am Diebstahl (korrelative Tatherrschaft), ferner
an dem noch im Vollzug befindlichen Dauerdelikt des Hausfriedens-
bruchs (additive Tatherrschaft). Der Erschwerungsgrund des § 243
Abs.l 8.2 Nr.l 8tGB kann E trotz fehlender Tatherrschaft als reine
8trafzumessungsregel zugerechnet werden. Mangels Teilhabe an der
finalen Tatherrschaft kann E dagegen nicht mehr als Mittäter dafür
556 Kar! Heinz Gössel

verantwortlich gemacht werden, daß A, Bund C gemeinsam den Wach-


mann X zur Ermöglichung des Zutritts zum Bankgebäude umgebracht
haben. Hier fehlt die finale Tatherrschaft aus doppeltem Grunde: ein-
mal besaß E objektiv keine Teilhabe an der Tatherrschaft hinsicht-
lich der Tötungshandlung, zum anderen fehlt der Vorsatz als Wille zur
Teilhabe an der kollektiven Tatherrschaft, der während der Tatbe-
standsverwirklichung vorliegen muß. Dagegen ist hinsichtlich der zur
Tötung verwendeten Schußwaffe Mittäterschaft nach § 244 Abs.1 Nr.1
StGB dann möglich, wenn diese Waffe im Augenblick des Eintritts
von E von A oder B noch bei sich geführt wird - anders nur, wenn sich
A, B der Waffe vor dem Eintritt des E entledigt haben.

b) Sukzessive Mittäterschaft bei mehraktigen Delikten


Damit lassen sich nun auch die Fälle sukzessiver Mittäterschaft bei
mehraktigen Delikten entscheiden. Greift der neu eintretende E erst
in das laufende verbrecherische Geschehen ein, nachdem der andere
Teilakt verwirklicht ist, so fehlt E notwendig die finale Tatherrschaft
bezüglich des ersten Teilakts: mag er mit seinem Beitrag auch erst
den zweiten Teilakt und damit die Vollendung des tatbestandlichen
Geschehens im Wege korrelativer Tatherrschaft ermöglichen, so fehlt
doch E der Vorsatz zur Teilhabe an dieser korrelativen Tatherrschaft
hinsichtlich des Gesamtgeschehens im Augenblick der Ausführung des
ersten Teilakts, und damit der Willenskonnex als Wille zur Tatherr-
schaft.

1. Hinsichtlich des der BGH-Entscheidung vom 2.4.1969 zugrunde-


liegenden Raubfalls71 bedeutet dies, daß sich B mit seiner Mitwirkung
an der Wegnahme des Kraftfahrzeugs nicht mehr in mittäterschafts-
begründender Weise an der vorher in Alleintäterschaft begangenen
Gewaltanwendung als tatbestandliche Nötigung und Körperverlet-
zung beteiligen kann. Weil die Gewaltanwendung auch nicht von einem
Willenskonnex zwischen A und B getragen war, fehlt B der Wille zur
finalen Tatherrschaft zur Gewaltanwendung insgesamt und damit auch
hinsichtlich der Gewaltanwendung als Wegnahmemittel: B kann sich
nur noch am Diebstahl in einem erschwerten Fall nach §§ 242, 243
Abs.1 S.2 Nr.6 StGB (Diebstahl unter Ausnutzung der Hilflosigkeit
eines anderen) strafbar machen, wobei sich der mittäterschaftliche
Konsens allein auf den Diebstahl, natürlich nicht auf die Strafzumes-
sungsregel erstreckt, die nicht Merkmal des Tatbestandes und auch
nicht der Rechtsgutsbeeinträchtigung ist und folglich gar nicht mit-
täterschaftlich verwirklicht werden kann.

71 Fn.17.
Sukzessive Mittäterschaft und Täterschaftstheorien 557

Entsprechendes gilt hinsichtlich der BGH-Entscheidung vom 16.12.


198072 : fehlte hier dem G die finale Tatherrschaft hinsichtlich der Weg-
nahme in objektiver und subjektiver Hinsicht, so konnte er die vor-
her mittäterschaftlich in Form der Körperverletzung geübte Gewalt-
anwendung nicht mittäterschaftlich als Wegnahmemittel einsetzen;
folglich kann G nur haften wegen mittäterschaftlich begangener ge-
fährlicher Körperverletzung (additive Tatherrschaft) in Tatmehrheit
mit Hehlerei in Alleintäterschaft.

2. Entsprechendes gilt für die Vergewaltigungsfälle: in beiden Fällen


fehlt den nach der Gewaltanwendung eintretenden D bzw. B die Teil-
habe an der finalen Tatherrschaft hinsichtlich der Gewaltausübung in
objektiver wie in subjektiver Hinsicht: deshalb hätte der BGH nicht
nur im ersten, sondern auch im zweiten Vergewaltigungsfall (oben
All b) mittäterschaftlich begangene Vergewaltigung ablehnen müs-
sen; statt dessen wäre jeweils Alleintäterschaft des später Eintreten-
den wegen sexuellen Mißbrauchs Widerstandsunfähiger (§ 179 StGB)
anzunehmen gewesen, u. U. - was der Sachverhalt offenläßt - we-
gen Drohung mit der Fortführung der durch den jeweiligen Ersthan-
delnden ausgeübten Gewalt auch wegen Vergewaltigung gemäß § 177
StGB.

D. Ergebnisse

1. Die von der Rechtsprechung zur sukzessiven Mittäterschaft ent-


wickelten allgemeinen dogmatischen Sätze sind nicht überzeugend.
Die Einzelfallentscheidungen stehen zum Teil im Gegensatz zu den
allgemeinen Lehren und sind überdies untereinander widersprüchlich
und im Hinblick auf die zur Begrenzung der sukzessiven Mittäter-
schaft herangezogenen Kriterien der Vollendung, Beendigung und des
vollständigen Abschlusses unklar.

11. Die unbefriedigenden Ergebnisse der Rechtsprechung werden


vom Boden der subjektiven Täterschaftstheorie in Verbindung mit der
verfehlten Beendigungslehre aus gewonnen, die dem Willen des Täters
verbrechensschaffende Kraft zuerkennt, deshalb Grenzsetzungen ob-
jektiver Art nicht anerkennen kann und gleichwohl gezogene Gren-
zen als willkürlich festgesetzt erscheinen läßt.

111. Die Tatherrschaftslehre liefert klare und leicht handhabbare Kri-


terien zur Bestimmung der sukzessiven Mittäterschaft, die gegenüber
der Rechtsprechung zu einer wesentlichen Einschränkung der Straf-
haftung führt.

72 Fn.48.
HANS-JOACHIM RUDOLPHI

Die zeitlichen Grenzen der sukzessiven Beihilfe

I.

Nach § 27 StGB wird als Gehilfe bestraft, wer vorsätzlich einem ande-
ren zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe geleistet
hat. Beihilfe setzt damit stets eine sog. Haupttat voraus, auf die sie
bezogen ist. Aus dieser Akzessorietät folgt nicht nur, daß die Haupt-
tat, zu der die Hilfe geleistet wird, bestimmten rechtlichen Qualifika-
tionen genügen muß, sondern auch eine zeitliche Begrenzung der Mög-
lichkeit strafbarer Beihilfe. Während eine Beihilfe - prinzipiell zeit-
lich unbegrenzt - bereits im Vorbereitungsstadium der Haupttat ge-
leistet werden kann, ist sie nach Abschluß der Haupttat ebenso prin-
zipiell ausgeschlossen. Denn, welche auch immer gearteten Anforde-
rungen man an die Hilfeleistung stellt, nach Abschluß der Haupttat
kann sie sich nicht mehr in der geforderten Weise auf deren Bege-
hung auswirken.
Entscheidende Bedeutung für die zeitliche Begrenzung der Mög-
lichkeit strafbarer Beihilfe erlangt damit die Frage nach dem Ab-
schluß der Haupttat, d. h. der vorsätzlichen und rechtswidrigen Tat-
bestandsverwirklichung des Haupttäters. Von der in Literatur und
Rechtsprechung herrschenden Meinung wird diese Frage dahin be-
antwortet, daß die Haupttat nicht schon mit ihrer ersten tatbestands-
mäßigen Vollendung, sondern erst mit der materiellen Beendigung
des deliktischen Geschehens ihren Abschluß finde, Beihilfe also auch
über die formelle Vollendung der Haupttat hinaus bis zu deren ma-
terieller Beendigung möglich seit. Beihilfe ist danach nicht nur nach
Abschluß des tatbestandsmäßigen Verhaltens bis zum endgültigen Ein-
tritt des tatbestandsmäßigen Erfolges der Haupttat möglich, sondern
ebenso noch nach Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges bis zur
materiellen Beendigung des Unrechtsgeschehens der Haupttat. Zwei
Beispiele mögen diese Konsequenzen verdeutlichen. Setzt A ein Ge-

t BGHSt.2, 245 f.; 3, 43; 4, 133; 6, 251; 19, 325; OLG Hamm JZ 1961, 94;
BayObLG JZ 1981, 241; Baumann, AT, 8. Aufl. 1977, S. 541 f., 106; Dreherl
TröndZe, 41. Aufl. 1983, § 27 Rn.4; Küper, JZ 1981, 251 ff.; Lackner, 15. Aufl.
1983, § 27 2 b; Schmidhäuser, AT, 2. Aufl. 1975, 14/137; Schönke/Schröder/Cra-
mer, 21. Aufl. 1982, § 27 Rn. 17; Stratenwerth, AT, 3. Aufl. 1981, Rn. 869 ff.
560 Hans-J oachim Rudolphi

höft in Brand, um es zu zerstören, so macht sich der Beihilfe schuldig,


wer nach Abschluß des Inbrandsetzens, d. h. nach formeller Vollen-
dung der Brandstiftung i. S. des § 306 StGB, Öl in das Gebäude schüt-
tet und damit ein schnelleres Niederbrennen bewirkt 2 • In gleicher
Weise ist der Beihilfe schuldig, wer nach Abschluß der Wegnahme,
also nach formeller Vollendung des Diebstahls, dem Dieb beim Ab-
transport der Diebesbeute hilft oder verhindert, daß das Opfer dem
auf frischer Tat betroffenen Dieb die Beute wieder abnimmt 3 •
Diese Ausdehnung der Möglichkeiten einer strafbaren Beihilfe auf
die Beendigungsphase der Haupttat ist jedoch nicht ohne Widerspruch
geblieben. So hat ihr bereits Allfeld4 1934 die These entgegengestellt,
daß Beihilfe nur bis zum Abschluß des tatbestandsmäßigen Verhaltens
möglich sei. In die gleiche Richtung zielen die überlegungen von Gal-
lass aus dem Jahre 1937. Er weist darauf hin, daß Beihilfe nur Teil-
nahme an einem gesetzlich typisierten Verhalten, nicht aber "belie-
bige Beteiligung an der Verletzung des geschützten Interesses" sei, und
wendet sich daher gegen die Entscheidung des Reichsgerichts 6 , daß
Beihilfe auch noch in dem Zeitraum zwischen Brandlegung und Ein-
äscherung des Gebäudes möglich sei. In jüngster Zeit mehren sich zu-
dem die Stimmen, die unter Hinweis auf Art. 103 11 GG eine Beihilfe
jedenfalls dann nicht mehr für möglich halten, wenn sowohl das tat-
bestandsmäßige Verhalten als auch der Eintritt des tatbestandsmäßi-
gen Unrechtserfolges der Haupttat ihren Abschluß gefunden haben7 •
Um den gegen die herrschende Meinung erhobenen Einwand, sie
halte die Grenzen der tatbestandsmäßigen Handlung als Anknüpfungs-
punkt der Beihilfe nicht ein, zu entkräften, hat der verehrte Jubilar
in der Festschrift für Hans Welzel im Anschluß an die von ihm ange-
regte Dissertation von Haus dem "Wesen und der rechtlichen Bedeutung
der Beendigung der Straftat" eine eingehende Studie gewidmet9 • Aus-
gangspunkt seiner überlegungen bildet die Erkenntnis, daß die Be-

2 Vgl. dazu OLG Hamm JZ 1961, 94 m. zust. Anm. Stratenwerth; RGSt. 71,
193 m. ablehn. Anm. Gallas, ZAkDR 1937, 438.
S Vgl. dazu BGHSt.4, 132 und 6, 248; ablehn. Kühl, Die Beendigung des
vorsätzlichen Begehungsdelikts, 1974, S. 94 ff. m. eingeh. Nachw. pro und
contra.
4 Lehrbuch des deutschen Strafrechts, AT, 9. Auf!. 1934, S. 228 Fn. 18.

S ZAkDR 1937,438; ebenso z. B. Isenbeck, NJW 1965,2326.

B RGSt. 71, 193.

7 So z. B. Herzberg, Täterschaft und Teilnahme, 1977, S. 71 f.; Jakobs, AT,


1983, S. 559 f.; Kühl (Fn.3), S. 80 ff.; MaurachlGössel, BT/2, 5. Aufl. 1978, 4 f.;
Roxin, in: LK, 10. Auf!. 1978, § 27 Rn. 22; Rudolphi, in: SK, 4. Auf!. 1983, Rn. 9
vor § 22; Samson, in: SK, § 27 Rn. 18.
S Hau, Die Beendigung der Straftat und ihre rechtlichen Wirkungen, 1974.

9 Jescheck, Welzel-Festschrift, 1974, S. 683 ff.


Die zeitlichen Grenzen der sukzessiven Beihilfe 561

endigung der Straftat, weil sonst - angesichts der rechtlichen Aus-


wirkungen vor allem im Bereich der Teilnahme - die Grenzen der
Strafbarkeit ohne gesetzliche Grundlage ausgedehnt würden, nur im
Rahmen des Tatbestandes gesehen werden könne. Bei der Frage, ob
die Beendigungsphase bestimmter Straftaten noch als Tatbestandsver-
wirklichung betrachtet werden könne, handelt es sich für ihn daher
um eine spezifische Auslegungsproblematik. Als Delikte, bei denen
an die Vollendung eine noch tatbestandsmäßige Beendigungsphase
sich anschließt, erkennt er folgende Gruppen an: die Delikte mit vor-
verlegter Vollendung, d. h. die Absichts-, Gefährdungs- und Unter-
nehmensdelikte, die Delikte mit iterativer Struktur, also die Dauer-
und zweiaktigen Delikte, und schließlich die Fälle einer fortlaufenden
Tatbestandsverwirklichung, wie z. B. die fortlaufende Zu fügung kör-
perlicher Schmerzen. J escheck räumt zwar ein, daß die Beendigungs-
phase bei diesen Straftaten häufig formell durch den jeweiligen Straf-
tatbestand nicht mehr beschrieben sei, doch wird sie nach seiner An-
sicht stets noch durch den ihm innewohnenden Verbotssinn erfaßt und
stelle daher bei einem materiellen Verständnis des Tatbestandes noch
einen Teil der Tatbestandsverwirklichung dar.
Es fragt sich jedoch, ob damit die vor allem aus dem nullum-crimen-
Satz hergeleiteten Bedenken gegen die herrschende Meinung bereits
wirklich entkräftet sind. Zwar ist der These zuzustimmen, daß das
dem Täter zurec11enbare tatbestandsmäßige Geschehen sich nicht in
dem tatbestandsmäßigen Verhalten erschöpft, sondern darüber hinaus
auch die Gefährdung und Verletzung des geschützten Rechtsgutes um-
greift. Anzuerkennen ist daher, daß z. B. bei einer Freiheitsberaubung
das dem Täter zurechenbare tatbestandsmäßige Unrecht sich nicht auf
das Einsperren des Opfers als solches beschränkt, sondern auch in der
vom Tätervorsatz umspannten Dauer der Freiheitsentziehung besteht
oder daß z. B. bei den Absichtsdelikten die Verwirklichung der tat-
bestandIich geforderten Absicht ebenfalls noch zu dem dem Täter zu-
rechenbaren tatbestandsmäßigen Unrecht zu zählen ist. Diese Erkennt-
nis, daß die der formellen Tatbestandsverwirklichung nachfolgende
Beendigungsphase des deliktischen Geschehens bei einem materiellen
Tatbestandsverständnis zu dem dem Täter zurechenbaren tatbestand-
lichen Unrecht gehört, bildet jedoch für sich allein zunächst lediglich
eine hinreichende Basis dafür, daraus Rechtsfolgen für den Täter selbst
abzuleiten. Insofern bestehen daher z. B. keine aus dem nullum-cri-
men-Satz ableitbare Bedenken, die materielle Beendigung der Tat
als Anknüpfungspunkt für die Verjährung der Strafverfolgung gegen-
über dem Täter zu wählen 10 und die Beendigungsphase etwa bei der

10 Vgl. dazu § 78 a 5tGB.

36 Festschrift für H.-H. Jescheck


562 Hans-Joachim Rudolphi

Bemessung der gegen den Täter zu verhängenden schuldangemessenen


Strafe zu berücksichtigen l1 • Dagegen läßt sich aus der Erkenntnis, daß
die der formellen Vollendung nachfolgende Phase materieller Beendi-
gung noch zu dem dem Täter zurechenbaren tatbestandlichen Unrecht
gehört, noch nicht zwingend folgern, daß strafbare Beihilfe auch noch
nach Abschluß des tatbestandsmäßigen Verhaltens oder gar nach Ab-
schluß des tatbestandsmäßigen Erfolgseintritts der Haupttat möglich
ist. Der Umstand, daß die Phase materieller Beendigung noch zu der
dem Täter zurechenbaren vorsätzlichen und rechtswidrigen Tatbe-
standsverwirklichung gehört, ist zwar eine notwendige, aber gerade
noch keine zureichende Bedingung für die Möglichkeit einer strafbaren
Beihilfe in dieser Phase. Gefordert ist dafür vielmehr zusätzlich, daß
die in dieser Phase geleistete Hilfe auch den an die Beihilfe zu stel-
lenden tatbestandlichen Anforderungen genügt. Erst wenn dies bejaht
werden könnte, wären die aus dem nullum-crimen-Satz abgeleiteten
Bedenken gegen die herrschende Meinung endgültig entkräftet. Es
handelt sich hier also nicht um ein Problem des dem Täter zu rechen-
baren materiell-tatbestandsmäßigen Geschehens, sondern um eine
Frage der Teilnahmelehre, d. h. speziell des Beihilfetatbestandes. Ent-
scheidendes Gewicht für die Lösung des Problems gewinnen damit
aber die gemäß § 27 StGB an die Beihilfe zu stellenden Anforderungen,
insbesondere also der Strafgrund der Beihilfe.
Zugleich offenbart sich damit ein methodischer Mangel der herr-
schenden Meinung. Er liegt darin begründet, daß sie die tatbestand-
liche Beendigungsphase der Straftaten im Hinblick darauf bestimmt,
was dem Täter noch als vorsätzlich verwirklichtes tatbestandliches
Unrechts geschehen zugerechnet werden kann, diesen so entwickelten
Begriff der materiellen Beendigung dann aber nicht nur für die Be-
stimmung des Beginns der Verjährungs- und Strafantrags frist verwen-
det, sondern ebenso zur Festlegung des Zeitraumes, in dem dem Täter
neu eintretende Qualifikationsgründe noch zugerechnet werden kön-
nen und in dem noch sukzessive Mittäterschaft und Beihilfe möglich
sind, sowie schließlich auch als Grundlage zur Abgrenzung von Tat-
einheit und Tatmehrheit. Denn mit diesem undifferenzierten Vorge-
hen trägt sie dem Umstand, daß diese unterschiedlichen Rechtsfolgen
durchaus auch verschiedene Zwecke verfolgen, nicht in der gebotenen
Weise Rechnung und erliegt der Gefahr, den Sinn und Zweck der
unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen zu verfehlen. Als erforder-
lich erweist sich daher, die Frage nach der rechtlichen Relevanz der
materiellen Straftatbeendigung jeweils gesondert im Hinblick auf die
unterschiedlichen an die Straftatbeendigung anknüpfenden Rechts-

11 Vgl. dazu § 46 II StGB sowie Brons, Leitfaden des Strafzumessungs-


rechts, 1980, S. 135 ff., und Horn, in: SK, § 46 Rn. 63 ff.
Die zeitlichen Grenzen der sukzessiven Beihilfe 563

wirkungen zu untersuchen. Allein ein solches Vorgehen genügt den


Erfordernissen einer teleologischen Begriffsbildung im Strafrecht.
Gegenstand der folgenden Untersuchung wird daher nur die Frage
sein, bis zu welchem Moment des Haupttatgeschehens eine Beihilfe gem.
§ 27 StGB möglich ist. Dabei sollen zunächst durch die Analyse einiger
typischer Fallkonstellationen die Fragwürdigkeit der herrschenden
Meinung aufgezeigt und Ansatzpunkte für eine neue Lösung des Pro-
blems erarbeitet werden. In einem zweiten Schritt gilt es sodann,
diese Ansatzpunkte an den Prinzipien der Teilnahmelehre zu messen
sowie auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen und dogmatisch zu
verankern. Drittens wird es sich schließlich als notwendig erweisen,
die so gewonnenen Lösungsgrundsätze auf ihre Verallgemeinerungs-
fähigkeit hin zu überprüfen, d. h. die Konsequenzen des erarbeiteten
Lösungsansatzes für andere problematische Fallkonstellationen auf-
zuzeigen und kritisch zu würdigen.

II.
1. Betrachten wir zunächst die Problematik der Beteiligung an einer
Brandstiftung nach Abschluß der Brandstiftungshandlung. Ein typi-
sches Beispiel dafür bildet der vom OLG Hamm1! entschiedene Fall.
Unbekannte Täter hatten das Haus des T angezündet. Der Angeklagte
hatte dies erkannt und schüttete, um das Haus des T völlig zu zer-
stören, an mehreren Stellen Öl in das Haus. Dadurch breitete sich das
Feuer schneller aus, brannte heftiger und ergriff auch bisher unver-
sehrte Teile des Hauses, das schließlich völlig niederbrannte. Das OLG
Hamm hat den Angeklagten wegen Beihilfe zur Brandstiftung ver-
urteilt. Die herrschende Meinung13 stimmt dieser Entscheidung zu und
begründet dies vor allem damit, daß das völlige Niederbrennen des
Hauses - weil vom Vorsatz des Täters umfaßt - noch zum tatbe-
standlichen Unrecht der Haupttat gehöre und daher der Angeklagte
durch sein Handeln auch noch den Unrechtserfolg der Haupttat mit-
bewirkt habe. Zweifel an dieser Lösung ergeben sich jedoch bereits,
wenn man den Fall dahin abwandelt, daß das Feuer von einem Drit-
ten fahrlässig oder schuldlos verursacht oder gar durch einen Blitz-
schlag ausgelöst worden ist. In diesem Fall hätte die herrschende Mei-
nung, da mangels einer vorsätzlichen Haupttat eine Beihilfe von vorn-
herein nicht in Betracht kommt, wohl keine Bedenken, den Angeklag-
ten als Nebentäter der Brandstiftung zu strafen. Die Richtigkeit dieser
Lösung soll nun keineswegs bestritten werden. Im Gegenteil, sie ist

12 JZ 1961, 94.
13 Vgl. dazu die in Fn. 1 Genannten; ablehn. jedoch z. B. GaZlas, ZAkDR
1937,438; Jakobs, AT, S. 559 f.

36'
564 Hans-Joachim Rudolphi

durchaus zutreffend. Denn das Handeln des Angeklagten erfüllt alle


tatbestandlichen Voraussetzungen des In-Brand-Setzens. Das Ausschüt-
ten des Öls ist nicht nur eine gesetzmäßige Bedingung für das Ausbrei-
ten des Feuers, sondern hat auch die Gefahr, daß das Haus völlig nie-
derbrennt, in zurechenbarer Weise erhöht 14 • Gleiches muß dann auch
in unserem Ausgangsfall gelten. Der Umstand, daß Dritte den Brand
vorsätzlich gelegt haben, ändert nämlich nichts dar an, daß der Ange-
klagte durch das Ausschütten des Öls in objektiv zurechenbarer Weise
eine gesetzmäßige Bedingung für das Niederbrennen des Hauses ge-
setzt und damit dieses auch selbst i. S. des § 306 StGB in Brand gesetzt
hat. Für die Verneinung einer Beihilfe und die Bejahung einer Neben-
täterschaft spricht, daß das von dem Beteiligten verwirklichte Unrecht
unabhängig davon ist, ob das Feuer von einem Dritten vorsätzlich oder
fahrlässig gelegt oder durch einen Blitz ausgelöst worden ist. Es ist
in allen Konstellationen gleichermaßen dadurch charakterisiert, daß
der Beteiligte durch sein Handeln risikosteigernd auf das Kausalge-
schehen einwirkt und dadurch in objektiv zurechenbarer Weise eine
gesetzmäßige Bedingung für das Ausbreiten des Feuers und damit für
den tatbestandsmäßigen Erfolgseintritt des § 306 StGB setzt. Der Um-
stand, daß das Feuer vorsätzlich von einem Dritten gelegt worden
ist und dieser demgemäß die Tatherrschaft über die Brandlegung
ausübt, ändert daran nichts. Denn der Beteiligte wird ja gerade erst
nach Abschluß dieser von dem Dritten beherrschten Brandlegung
tätig, so daß seine Brandstiftungshandlung, d. h. das Ausschütten des
Öls, ausschließlich von ihm und gerade nicht mehr von dem Dritten
beherrscht wird. Der Einwand Stratenwerths l5 , daß der Begriff der
Tatherrschaft nicht nur auf das Verhalten des Täters, sondern zugleich
auch auf den von ihm gesteuerten Geschehensablauf im ganzen zu
beziehen sei und daher der Beteiligte nur als Gehilfe in Betracht
komme, verkennt, daß der Beteiligte es allein ist, der über das Aus-
schütten des Öls und damit über die Vornahme einer tatbestandsmäßi-
gen Brandstiftungshandlung entscheidet. Gewiß ist es für die Bestim-
mung des vom Täter verwirklichten täterschaftlichen Unrechts not-
wendig, den gesamten von ihm gesteuerten Geschehensablauf in die
Betrachtung einzubeziehen, den Tatherrschaftsbegriff also zu diesem
Zweck auf die vom Täter beherrschten tatbestandsmäßigen Erfolge
zu erstrecken, doch hat dies gerade für das Unrecht einer dem Täter-
verhalten nachfolgenden Beteiligung an dem Unrechts geschehen kei-
nerlei Bedeutung. Derjenige, der Öl in ein bereits entstandenes Feuer
schüttet, verstößt stets - mag dieses Feuer vorsätzlich oder fahrlässig

14 Zu dem Erfordernis der objektiven Zurechnung vgl. Rudolphi, in: SK,


Rn. 57 ff. vor § 1 m. eingeh. Nachw.
15 JZ 1961,97; vgl. dazu auch Kühl (Fn. 3), S. 85 ff.
Die zeitlichen Grenzen der sukzessiven Beihilfe 565

gelegt oder durch Blitz ausgelöst worden sein - selbst unmittelbar


gegen das Verbot des § 306 StGB, Wohnräume in Brand zu setzen. Wenn
die herrschende Meinung gleichwohl über die Nebentäterschaft hin-
aus eine Beihilfe zur Brandstiftung nach Abschluß des Haupttäterver-
haltens als möglich anerkennt, so hat dies letztlich nur dann einen
Sinn, wenn man für die tatbestandliche Wirksamkeit der Beihilfe we-
niger verlangt als für die der Nebentäterschaft, nämlich auf die Kau-
salität der Gehilfenhandlung für das Ausbreiten des Feuers verzichtet
und sich mit einer - wie auch immer zu verstehenden - Förderung
des vom Haupttäter vorsätzlich ausgelösten Kausalgeschehens begnügt.
Diese vor allem von der Rechtsprechung 16 vertretene Ansicht vermag
jedoch, wie in der Literatur 17 bereits vielfach dargelegt worden ist,
nicht zu überzeugen. Unerklärt bliebe nach der Ansicht der Recht-
sprechung zudem, warum die bloße nicht-kausale Förderung eines
Brandgeschehens in seiner Strafbarkeit gerade dadurch bedingt sein
soll, daß dieses Brandgeschehen ein Dritter vorsätzlic..""I ausgelöst hat.
Als Ergebnis unserer Analyse der Brandstiftungsfälle können wir
damit festhalten: Setzt jemand in objektiv zurechenbarer Weise eine
gesetzmäßige Bedingung dafür, daß ein bereits (vorsätzlich oder fahr-
lässig von einem Dritten oder durch Naturgewalten) in Brand gesetz-
tes Wohnhaus weiter niederbrennt, so verstößt er selbst unmittelbar
gegen das Verbot des § 306 StGB und verwirklicht das tatbestandliche
Unrecht des § 306 selbständig als Nebentäter. Für eine Beihilfe ist daher
in dieser Phase des Brandgeschehens selbst dann kein Raum, wenn
es von einem Dritten vorsätzlich ausgelöst worden sein sollte. Etwas
anderes könnte nur dann gelten, wenn man entgegen der herrschen-
den Lehre sich für die Beihilfe - im Gegensatz zur Nebentäterschaft
- mit einer bloßen nicht-kausalen Förderung des Haupttatgeschehens
begnügt.

2. Bestätigt werden diese Ergebnisse, wenn wir die Möglichkeit


einer Beihilfe zu dem Dauerdelikt der Freiheitsberaubung näher be-
trachten. Als Beispiel mag der folgende Fall dienen: T sperrt 0 in
einem Zimmer ein, indem er die einzige Tür verschließt und den
Schlüssel an sich nimmt. Seinem Vorsatz gemäß öffnet er erst nach
10 Tagen die Tür und gibt 0 seine Freiheit wieder.
Durch das Verschließen der Tür verwirklicht T den Straftatbestand
des § 239 StGB. Formell vollendet ist diese Straftat bereits mit dem Ein-

16 Vgl. dazu RGSt. 6, 169; 67, 193; 71, 178; 73,54; BGHSt. 8,390; BGH VRS
8, 201; VRS 23, 209; BGH bei Dallinger, MDR 1967, 173; MDR 1972, 16;
OGHSt. 1, 330.
17 Vgl. dazu Roxin, in: LK, § 27 Rn. 1 tf., und Samsan, in: SK, § 27 Rn. 6 ff.,
jeweils mit eingeh. Nachw.
566 Hans-J oachim Rudolphi

sperren des 0, doch dauert die Verwirklichung des tatbestandlichen


Unrechts bis zur Freilassung des 0 an. Das tatbestandliche Unrecht
dieses Begehungsdelikts umgreift das Einsperren des 0 bis zu seiner
Freilassung und ist erst in dem Moment materiell beendet, in dem
T dem 0 die Freiheit zurückgibtl8 • Zu beachten bleibt jedoch, daß T den
Tatbestand des § 239 8tGB nicht nur durch das Einsperren, d. h. aktives
Tun, sondern nachfolgend auch durch garantenpflichtwidriges Unter-
lassen, nämlich dadurch verwirklicht, daß er 0 nicht durch sofortiges
Öffnen der verschlossenen Tür die Freiheit zurückgibt. Dieses nach-
folgende unechte Unterlassungsdelikt bildet mit dem vorangegange-
nen Begehungsdelikt des 0 eine tatbestandliche Unrechtseinheit. Bei
der Bestrafung des T gewinnt es damit zwar keine selbständige Be-
deutung, sondern wird durch die Ahndung des Begehungsdelikts mit-
bestraft19 , doch kann es durchaus als Anknüpfungspunkt für Teilnahme-
handlungen eine. eigenständige Bedeutung erlangen.
Eine Beteiligung an dem dem T zurechenbaren tatbestand lichen Un-
rechtsgeschehen nach dem Verschließen der Tür, d. h. der formellen
Vollendung der Freiheitsberaubung, ist in unterschiedlicher Form
möglich. Möglich ist zunächst eine Teilnahme an dem von T begange-
nen Unterlassungsdelikt, und zwar sowohl in Form der Anstiftung
als auch der (psychischen) Beihilfe. Eine Anstiftung zum Unterlas-
sungsdelikt des T läge vor, wenn jemand T seinen Entschluß, 0 zu
befreien, ausredet und dadurch das Fortdauern der Freiheitsberau-
bung bewirkt20 • Eine psychische Beihilfe zu dem Unterlassungsdelikt
wäre demgegenüber zu bejahen, wenn jemand den wankelmütig ge-
wordenen T in seinem ursprünglichen Entschluß, 0 erst nach 10 Ta-
gen freizulassen, bestärken und dadurch die weitere Freiheitsberau-
bung mitbewirken würde 21 • Kennzeichnend für diese Teilnahmehand-
lungen ist, daß sie den tatbestandsmäßigen Unrechtserfolg der wei-
teren Freiheitsberaubung ausschließlich über das tatbestandsmäßige
Verhalten des Haupttäters, hier also das garantenpflichtwidrige Unter-
lassen des T, bewirken. Der Teilnehmer verstößt mit ihnen nicht unmit-
telbar gegen das Verbot des § 239 8tGB, sondern nur gegen das aus § 239
hergeleitete Verbot des § 27 8tGB. Die Teilnahmehandlungen sind daher
in ihrer Rechtswidrigkeit und in ihrem Unrechtsgehalt von der Rechts-
widrigkeit und dem Unrechtsgehalt des Haupttäterverhaltens abhän-

18 Vgl. dazu Hau (Fn.8), S.74; Jescheck, Welzel-Festschrift, S.687; Kühl


(Fn. 3), S. 62 ff., 106, jeweils m. w. Nachw.
19 Vgl. dazu Samson, in: SK, Rn. 70 vor § 52; Schönke!Schröder!Sfree. Rn.
107 vor § 52.
20 Zur Anstiftung zum Unterlassungsdelikt vgl. Roxin, in: LK, § 26 Rn.31,
und Rudolphi, in: SK, Rn. 44 f. vor § 13.
21 Vgl. dazu Jescheck, AT, S.521; Roxin, in: LK, § 27 Rn. 35; Rudolphi, in:
SK, Rn. 44 f. vor § 13.
Die zeitlichen Grenzen der sukzessiven Beihilfe 567

gig. Daraus folgt u. a., daß dem Teilnehmer ausschließlich die von
dem Haupttäter noch abwendbare Freiheitsberaubung, nicht aber die
bereits zuvor verwirklichte Freiheitsentziehung zurechenbar ist!2.
Zu unterscheiden von diesen Fällen einer akzessorischen Teilnahme
sind jene Fälle, in denen der Hinzutretende unmittelbar auf das von
Tausgelöste Kausalgeschehen einwirkt und dadurch in zurechenbarer
Weise das Fortdauern der Freiheitsentziehung bewirkt. Verhindert
z. B. ein Dritter, daß der von Teingesperrte 0 durch das Fenster
entflieht, so setzt er selbständig und unmittelbar eine Ursache für das
Fortdauern der Freiheitsberaubung des o. Da die Wirksamkeit seines
Tatbeitrages für die weitere Rechtsgutsverletzung in keiner Weise
durch das Verhalten des T vermittelt wird, stellt sein Handeln einen
eigenständigen Verstoß gegen das in § 239 8tGB normierte Verbot der
Freiheitsberaubung dar. Ihm ist daher die weitere Freiheitsberaubung
des 0 unmittelbar als Nebentäter zurechenbar. Für die Richtigkeit
dieses Ergebnisses spricht wiederum, daß es auf die Verbotswidrig-
keit und den materiellen Unrechtsgehalt der Tathandlung des Dritten
ohne Einfluß ist, ob die weitere Dauer der Freiheitsberaubung des 0
noch von dem Vorsatz des T umfaßt ist oder nicht.
Auch die Analyse der Freiheitsberaubungsfälle führt damit zu dem
Ergebnis, daß das unmittelbare Einwirken auf das von dem Haupt-
täter vorsätzlich und rechtswidrig ausgelöste rechtsgutsverletzende Ge-
schehen einen eigenständigen Verstoß gegen das in § 239 8tGB normierte
Verbot der Freiheitsberaubung darstellt und daher nur als Neben-
täterschaft, nicht aber als akzessorische Beihilfe erfaßt werden kann.
Diese kommt vielmehr nur dann in Betracht, wenn die Kausalität des
Tatbeitrages für den tatbestandsmäßigen Unrechtserfolg durch das
Haupttäterverhalten vermittelt wird, der Gehilfenbeitrag also gerade
und allein deshalb den tatbestandsmäßigen Unrechtserfolg mitbewirkt,
weil es das den tatbestandsmäßigen Erfolg in objektiv zurechenbarer
Weise verursachende Haupttäterverhalten seinerseits in objektiv zu-
rechenbarer Weise mitbewirkt hat.

3. Ein weiterer Aspekt der erörterten Teilnahmeproblematik zeigt


sich, wenn wir die von dem BGH23 entschiedenen Diebstahlsfälle in
unsere Betrachtung einbeziehen. Kennzeichnend für sie ist, daß der
Haupttäter den Diebstahl durch die Begründung neuen Gewahrsams
an der fremden beweglichen 8ache bereits formell vollendet hat und
der Hinzutretende lediglich nach Abschluß der Wegnahmehandlung
22 Vgl. dazu Herzberg (Fn.7), S.153; Eser, Strafrecht II, Nr.40 Rn. 16 - 19;
Rudolphi, Bockelmann-Festschrift, 1979, S. 377 ff.; Sax, Nottarp-Festschrift,
1961, 8.137 m. Fn.l0; Schmidhäuser, AT, 14/21; Stratenwerth, AT, Rn. 873 f.
23 BGHSt.4, 133; 6, 251.
568 Hans-Joachim Ruc101phi

einen Beitrag zur Sicherung des vom Täter bereits begründeten neuen
Gewahrsams leistet. Dies kann sowohl dadurch geschehen, daß er den
Täter bei der Sicherung der Beute unterstützt, als auch dadurch, daß
er selbständig und unabhängig von dem Haupttäter diesem die Beute
sichert. Eine Beihilfe zum Diebstahl könnte in diesen Verhaltenswei-
sen von vornherein nur dann gesehen werden, wenn sich die Sicherung
der Beute noch als tatbestandsmäßiges Diebstahlsverhalten i. S. des
§ 242 StGB erweisen ließe. Von dem Bundesgerichtshof und einem Teil
der Lehre wird dies bejaht. Die dafür gegebene Begründung ist nicht
einheitlich. Teils wird darauf verwiesen, daß das Diebstahlsgeschehen
erst dann tatsächlich beendet sei, wenn die Beute an ihren Bestim-
mungsort geschafft worden seF" teils wird ausgeführt, daß die von
§ 242 StGB geforderte Zueignungsabsicht erst dann realisiert sei, wenn
der Täter durch Festigung und Sicherung des neuen Gewahrsams auch
äußerlich eine eigentumsgleiche Herrschaft hergestellt habe25 • Gegen
diese These, daß die Beutesicherung als tatsächliche Beendigung des
Diebstahls oder als Realisierung der Zueignungsabsicht noch von dem
Diebstahlstatbestand erfaßt werde, bestehen jedoch durchgreifende
Bedenken. Das tatbestandliche Unrecht des Diebstahls besteht nach
dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes allein in der Wegnahme einer
fremden beweglichen Sache in der Absicht, sich diese rechtswidrig zu-
zueignen. Erfaßt wird von dem Straftatbestand des § 242 8tGB ein An-
griff auf fremdes Eigentum nur, wenn und solange er mittels einer
von Zueignungsabsicht getragenen Wegnahme erfolgt. Dies besagt aber,
daß die von § 242 StGB verbotene Eigentumsverletzung stets mit der
Vollendung der Wegnahme, d. h. der Begründung neuen Gewahrsams
abgeschlossen ist. Richtig ist zwar, daß auch die Sicherung dieses Ge-
wahrsams durch Abtransport der Beute ebenso wie auch jede weitere
Verwirklichung der Zueignungsabsicht einen Angriff auf das fremde
Eigentum darstellen, doch handelt es sich dabei nicht mehr um die
von Zueignungsabsicht getragene Wegnahme. Wirkt jemand erst bei
der Sicherung der Beute mit, so kann daher darin nicht mehr eine Bei-
hilfe zur Verwirklichung des tatbestandsmäßigen Diebstahlsunrechts
gesehen werden. Wenn die Rechtsprechung dieses Verhalten gleich-
wohl als Diebstahlsbeihilfe straft, so stellt sie damit die Unterstüt-
zung einer beliebigen Eigentumsverletzung in unzulässiger Weise der
Unterstützung des tatbestandlichen Diebstahlsunrechts gleich. Dies ist
ein klarer Verstoß gegen den in Art. 103 II GG verankerten Grundsatz
"nullum crimen sine lege"26. Eine Strafbarkeit des an der Beutesiche-

24 BGHSt.4, 133; 6, 251; 20, 197.


25 Jescheck, Welzel-Festschrift, S. 692 f.; BGHSt.20, 197.
28 Ebenso z. B. Jakobs, AT, S. 559 f.; Kühl (Fn.3), S. 37 ff., 98 ff.; Maurach/
Gössel, AT/2, 4; Roxin, in: LK, § 27 Rn. 22.
Die zeitlichen Grenzen der sukzessiven Beihilfe 569

rung Beteiligten kommt daher nur nach den §§ 257 ff. StGB in Betracht.
Allein dieses Ergebnis wird auch dem materiellen Unrechts gehalt
dieser Verhaltensweisen gerecht. Denn dieser erschöpft sich in der
Sicherung der Beute und ist damit unabhängig davon, ob der Haupt-
täter zuvor das tatbestandliche Unrecht des Diebstahls oder des Rau-
bes verwirklicht hat. Durch diese Lösung wird zugleich vermieden,
daß dem Beteiligten fremdes Unrecht zugerechnet wird, für das er in
keiner Weise ursächlich geworden ist27 •
Als Ergebnis unserer Betrachtung der vom BGH entschiedenen
Diebstahlsfälle läßt sich damit festhalten: Akzessorische Beihilfe setzt
stets voraus, daß der Gehilfe das tatbestandliche Unrecht der Haupt-
tat mitbewirkt. Die Beteiligung an einem der tatbestandsmäßigen Un-
rechtsverwirklichung nachfolgenden Verhalten genügt den Erforder-
nissen einer Beihilfe nicht. Der Umstand, daß durch dieses Verhalten
das deliktische Geschehen der Haupttat erst seinen tatsächlichen Ab-
schluß findet oder die Beeinträchtigung des geschützten Rechtsgutes
in nicht mehr tatbestandsmäßiger Weise fortgesetzt wird, vermag
daran nichts zu ändern.

4. Damit wollen wir unsere Betrachtung eInIger typischer Fall-


konstellationen der Beihilfe nach Abschluß des tatbestandsmäßigen
Täterverhaltens vorerst abbrechen. Sie hat zur Genüge gezeigt, daß
die Ansicht, Beihilfe sei stets auch noch nach Abschluß des tatbe-
standsmäßigen Verhaltens des Haupttäters bis zur materiellen Be-
endigung der Haupttat möglich, nicht zu überzeugen vermag. Ihr ist
- auch dies haben unsere bisherigen Überlegungen gezeigt - die
These entgegenzustellen, daß eine akzessorische Teilnahme nur dann
in Betracht kommt, wenn sie den tatbestandsmäßigen Unrechtserfolg
der Haupttat über das tatbestandsmäßige Verhalten des Haupttäters
mitbewirkt, Teilnahme mithin nach Abschluß des tatbestandsmäßigen
Täterverhaltens nicht mehr möglich ist. In diesem Zeitraum kommt
eine Bestrafung eines Beteiligten allein wegen Nebentäterschaft oder
wegen eines der in den §§ 257 ff. StGB normierten Anschlußdelikte in
Betracht. Diese These gilt es im folgenden normtheoretisch und dogma-
tisch zu überprüfen und abzusichern.

III.

1. Das Strafrecht ist eine Institution zur Erreichung bestimmter


Zwecke. Nach heute allgemein anerkannter Ansicht obliegt es ihm
nach unserer Verfassung, das Zusammenleben der Menschen in unserer
durch das Grundgesetz geprägten Gesellschaft vor gravierenden Stö-

27 Vgl. dazu Rudolphi, Bockelmann-Festschrift, S. 377.


570 Hans-J oachim Rudolphi

rungen zu schützen, d. h. sozialschädliches Verhalten zu verhindern.


Seine Aufgabe ist ähnlich wie die des Polizeirechts auf Gefahren-
abwehr beschränkt. Es bezweckt einen präventiven Rechtsgüterschutz28 •
Zur Erreichung dieses Zieles bedient sich das Strafrecht ihm eigen-
tümlicher Mittel, nämlich der Strafdrohung, der Strafverhängung und
der Strafvollstreckung einschließlich des Strafvollzuges. Unmittelba-
rer Zweck der Strafdrohung, der Strafverhängung und der Strafvoll-
streckung, d. h. der Sanktionsnormen und deren Verwirklichung durch
die Strafverfolgungsorgane, ist es, die zum Schutz der Rechtsgüter
an die Menschen gerichteten Verhaltensnormen als verbindliche Richt-
schnur menschlichen Verhaltens zu stabilisieren oder erst noch durch-
zusetzen. Sie sollen im Interesse des erstrebten Rechtsgüterschutzes
die faktische und normative Geltung dieser Handlungsverbote und
Handlungsgebote gewährleisten.
Zu diesen Sanktionsnormen gehört auch § 27 StGB, der denjenigen
mit Strafe bedroht, der vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich
begangener rechtswidriger Tat Hilfe leistet. Zur Klärung des An-
wendungsbereichs dieser Sanktionsnorm erweist es sich daher als not-
wendig, Inhalt und Reichweite der durch sie zu sichernden Verhal-
tensnorm, d. h. der an den Gehilfen im Interesse des erstrebten Rechts-
güterschutzes gerichteten Verbote und Gebote zu bestimmen.
Damit stellt sich zunächst die Aufgabe, die Sanktionsnorm in eine
Verhaltensnorm umzuformulieren. Um den Rahmen der Untersuchung
nicht zu sprengen, wollen wir uns dabei auf die Fälle einer aktiven Bei-
hilfe beschränken. Das § 27 StGB zugrundeliegende Verbot läßt sich da-
bei vorläufig, wie folgt, formulieren: "Du sollst nicht vorsätzlich einem
anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe
leisten!" Doch ist damit noch nicht viel gewonnen. Denn der Begriff
des Hilfe-Leistens läßt sich erst dann näher beschreiben, wenn der
Begriff der vorsätzlich begangenen rechtswidrigen Tat als Bezugs-
punkt der Beihilfe geklärt ist. Das Gesetz selbst definiert den Begriff
der rechtswidrigen Tat in § 11 Abs. 1 Nr.5 StGB als Verwirklichung des
Tatbestandes eines Strafgesetzes. Daraus läßt sich nun aber schon ab-
leiten, daß sich das Verbot des § 27 StGB nur auf solche Hilfe erstreckt,
die zur Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch einen
anderen geleistet wird. Nicht mehr von § 27 verboten sind daher Hilfe-
leistungen, die sich auf ein Verhalten des Haupttäters beziehen, das
nicht mehr dem gesetzlichen Tatbestand der Haupttat unterfällt. Noch
nicht entschieden ist damit allerdings, ob als Tatbestandsverwirkli-
chung i. S. des § 27 lediglich das tatbestandsmäßige Verhalten des
Haupttäters oder auch der Eintritt des tatbestandsmäßigen Gefahr-

~8 S. dazu Rudolphi, in: SK, Rn. 12 ff. vor § 1 m. w. N.


Die zeitlichen Grenzen der sukzessiven Beihilfe 571

oder Verletzungserfolges der Haupttat zu verstehen ist, also vor allem,


ob Beihilfe auch noch nach Abschluß des tatbestandsmäßigen Ver-
haltens des Haupttäters bis zum Eintritt des letzten tatbestandsmä-
ßigen Unrechtserfolges möglich ist.
Weiter hilft hier jedoch die Einsicht, daß das Verbot der Hilfelei-
stung seine Legitimation aus dem vom Haupttäter übertretenen Ver-
bot bezieht. Es ist abhängig von der Existenz des Verbots der Haupt-
tat. Dem Gehilfen ist im Interesse des Rechtsgüterschutzes die Hilfe-
leistung allein deshalb verboten, weil und soweit der Haupttäter einer
zum Zwecke des Rechtsgüterschutzes an ihn gerichteten strafrecht-
lichen Verhaltensnorm zuwiderhandelt. Aufgabe des § 27 StGB ist es, zu
verhindern, daß jemand einem anderen zu dessen normwidrigen Ver-
halten Hilfe leistet. Der Täter soll bei dem Verstoß gegen eine prä-
ventiven Rechtsgüterschutz bezweckende Verhaltensnorm nicht auf
Hilfe Dritter zählen können. Anders formuliert und konkreter: Der
Gehilfe soll dem Täter nicht bei der Verwirklichung des im Interesse
des Rechtsgüterschutzes verbotenen Verhaltens helfen.
Eine weitere Konkretisierung der § 27 StGB zugrunde liegenden Ver-
haltensnorm läßt sich mithin erreichen, wenn wir das dem Haupttäter
verbotene bzw. gebotene Verhalten näher kennzeichnen. Aus der
Zweckbestimmung der strafrechtlichen Verhaltensnormen des Beson-
deren Teils unseres Strafgesetzbuches, Rechtsgutsbeeinträchtigungen
durch menschliches Verhalten zu verhindern, folgt, daß sie sich an
alle Menschen richten. Daraus läßt sich nun bereits ein Zweifaches
ableiten: Erstens: die strafrechtlichen Verhaltensnormen enthalten
keine bloßen Verursachungsverbote oder Verursachungsgebote. Sie
können vielmehr stets nur das Unterlassen oder die Vornahme mensch-
licher Handlungen fordern. Und zweitens: Gegenstand der strafrecht-
lichen Verbote und Gebote kann nur das sein, was dem Menschen
überhaupt möglich ist, zu tun oder zu lassen. Normadressat ist daher
der Mensch nicht in seiner jeweiligen Individualität, sondern seiner
allgemeinen Natur nach als zur Selbstbestimmung und Beherrschung
des Kausalgeschehens fähiges, vernünftiges Wesen. Verbots- bzw. Ge-
botsmaterie ist nicht die dem Täter in seiner konkreten Individuali-
tät zurechenbare, sondern allein die ihm objektivaufgrund seiner
allgemein-menschlichen Fähigkeit zur Steuerung des Kausalgesche-
hens zurechenbare Handlung29 • Erhärtet wird diese Erkenntnis, wenn
wir die Zwecksetzung der strafrechtlichen Sanktionsnormen in unsere
überlegungen einbeziehen. Denn die Möglichkeit, die faktische und
normative Geltung der strafrechtlichen Verhaltensnormen durch die
Mittel der Strafandrohung, der Strafverhängung und der Strafvoll-

2D Rudolphi, in: SK, Rn. 18 vor § 1 m. w. N.


572 Hans-Joachim Rudolphi

streckung zu gewährleisten, setzt voraus, daß diese Normen einen von


der jeweiligen Individualität des konkreten Täters unabhängigen, d. h.
allgemeinen und für jedermann gültigen Inhalt haben. Aus der Zweck-
setzung der strafrechtlichen Verhaltensnormen läßt sich aber ebenso
wie aus der der Sanktionsnormen noch ein Weiteres herleiten. Ge-
genstand strafrechtlicher Verbote können stets nur solche Handlun-
gen sein, die - vom ex-ante-Standpunkt aus betrachtet - nach dem
Erfahrungswissen unserer Zeit geeignet sind, das jeweils geschützte
Rechtsgut zu beeinträchtigen30 • Strafrechtliche Verbote enthalten da-
her stets nur Verbote objektiv gefährlicher Handlungen31 • Sie verbie-
ten das Schaffen und das Erhöhen des Risikos tatbestandsmäßiger
Erfolgseintritte 32 • Umschrieben ist damit jedoch zunächst lediglich der
mögliche Inhalt strafrechtlicher Verbote. Von dem Gesetzgeber wird
diese Möglichkeit fast nie ausgeschöpft. Er beschränkt seine Verbote
vielmehr in der Regel auf bestimmte gefährliche Handlungen. Ent-
sprechendes gilt auch für die Handlungsgebote. Sie enthalten näher
bestimmte Gefahrbekämpfungsgebote oder - anders formuliert -
Gebote zur Wahrnehmung näher beschriebener Rettungschancen, die
sich bei einer ex-ante-Betrachtung nach dem Erfahrungswissen unse-
rer Zeit ergeben. Das dem Haupttäter verbotene Handeln läßt sich
damit jetzt als das vorsätzliche Schaffen eines tatbestandsmäßigen
Risikos für das geschützte Rechtsgut kennzeichnen. Verboten ist die
Haupttat, weil und soweit der Täter durch sein Handeln das rechts-
widrige, d. h. tatbestandsmäßige und nicht gerechtfertigte Risiko des
tatbestandsmäßigen Erfolgseintritts schafft. Entsprechendes gilt, wenn
es sich bei der Haupttat um ein Unterlassen handelt.
Ziehen wir daraus die Folgerungen für die Beihilfe, so läßt sich
das Verbot der Beihilfe wie folgt formulieren: "Du sollst keine Hilfe
dazu leisten, daß ein anderer durch sein gefährliches Handeln das
tatbestandsmäßige und nicht gerechtfertigte Risiko des tatbestands-
mäßigen Erfolgseintritts vorsätzlich schafft!" Verboten wird durch § 27
StGB also lediglich die Unterstützung des tatbestandsmäßig gefährlichen
Täterverhaltens, d. h. der rechtswidrigen und vorsätzlichen Risiko-
schaffung durch den Täter. Beihilfe ist folglich stets dadurch gekenn-
zeichnet, daß sie den tatbestandsmäßigen Unrechtserfolg der Haupt-
tat durch Tatbeiträge mitbewirkt, die die (sich im tatbestandsmäßi-
gen Erfolgseintritt realisierende) Gefährlichkeit des Haupttäterver-

30 S. dazu Rudolphi, in: SK, Rn. 57 ff. vor § 1 m. w. N.


31 Eine Ausnahme davon macht nur § 22 StGB, soweit er auch den untaug-
lichen, d. h. objektiv ungefährlichen Versuch unter Strafe stellt, um den
rechtserschütternden Eindruck zu neutralisieren, der von dem auf Vornahme
einer tatbestandsmäßigen, d. h. objektiv gefährlichen Handlung gerichteten
und betätigten Vorsatz ausgeht.
32 Vgl. dazu jüngst eingehend FTisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 118 ff.
Die zeitlichen Grenzen der sukzessiven Beihilfe 573

haltens mitbegründet haben. Dies besagt nun aber, daß Beihilfe nach
Abschluß des normwidrigen Haupttäterverhaltens nicht mehr möglich
ist. Denkbar ist nach diesem Zeitpunkt nur noch, daß der Beteiligte
selbständig gegen das auch vom Haupttäter übertretene Verbot ver-
stößt, d. h. eine Nebentäterschaft. Unser bereits durch die Analyse
einiger typischer Fallkonstellationen gewonnenes Ergebnis erweist
sich damit auch nach dem Sinn und Zweck der strafrechtlichen Nor-
men als berechtigt. Es ist die zwingende Konsequenz aus der Erkennt-
nis, daß die Verhaltensnorm des § 27 ihre Legitimation allein aus der
vom Haupttäter übertretenen Verhaltensnorm bezieht und daher das
Verbot des § 27 immer nur die Unterstützung des verhaltensnorm-
widrigen Täterverhaltens zum Gegenstand haben kann.

2. Eine weitere Bestätigung findet dieses Ergebnis, wenn wir die


Erkenntnisse der Täterlehre in unsere Überlegungen einbeziehen. Tä-
ter der von jedermann begehbaren Begehungsdelikte ist nach der
hier nicht näher zu begründenden Tatherrschaftslehre33 , wer die Herr-
schaft über das den gesetzlichen Tatbestand verwirklichende Gesche-
hen ausübt. Täter ist danach, wer durch zweckbewußte Lenkung des
Kausalgeschehens auf den tatbestandsmäßigen Erfolg hin Herr über
die Tatbestandsverwirklichung ist 34 oder - anders formuliert -
wer aufgrund seines HandeIns den tatbestandsmäßigen Geschehens··
ablauf in den Händen hält und nach seinem Willen gestaltet3", d. h.
durch sein Handeln die maßgebliche Entscheidung über das Ob und
Wie der Tatbestandsverwirklichung trifFt 36 •
Der Begriff der Tatherrschaft ist damit zwar, worauf Stratenwerth 37
hingewiesen hat, auf die gesamte Verwirklichung des tatbestandlichen
Unrechts, also sowohl auf die tatbestandsmäßige Handlung als auch
auf das durch diese vorsätzlich ausgelöste und den tatbestandsmäßigen
Unrechtserfolg bewirkende Kausalgeschehen zu beziehen. Der Täter
ist nicht nur Herr über sein tatbestandsmäßiges Handeln, sondern
zugleich auch Herr über das von ihm ausgelöste und gesteuerte er-
folgsbewirkende Geschehen. Die gesamte Tatbestandsverwirklichung
wird ihm als sein Werk zugerechnet. Doch zeigt eine nähere Betrach-
tung, daß die Herrschaft über die Tatbestandsverwirklichung in ihrer
Gesamtheit dem Täter stets allein aufgrund seiner Herrschaft über
das tatbestandsmäßige Handeln zufällt. Wer die den Erfolg bewir-

33 Vgl. dazu nur WeZzeZ, Lb, 11. Auf!. 1969, S. 99 ff.; Roxin, Täterschaft und
Tatherrschaft, 3. Auf!. 1975, und ders., in: LK, § 25 Rn. 22 ff.; Samson, in: SK,
§ 25 Rn. 10 ff.; Stratenwerth, AT, Rn. 749 ff., jeweils ffi. w. Nachw.
34 WeZzeZ, Lb, S. 99.

35 Maurach, AT, 4. Aufl. 1971, S. 627.


36 S. dazu BockeZmann, AT, 3. Auf!. 1979, S. 175.
37 JZ 1961,97.
574 Hans-Joachim Rudolphi

kende Handlung nicht beherrscht, dem fehlt auch die Herrschaft über
das durch diese Handlung ausgelöste Kausalgeschehen. Beherrscht
jemand die den tatbestandsmäßigen Erfolg bewirkende Handlung, so
übt er damit hingegen stets auch - soweit sein Vorsatz reicht -
die Herrschaft über das durch sie ausgelöste Kausalgeschehen aus.
Dies ist nicht verwunderlich, denn Herrschaft über das Kausalgesche-
hen kann der Mensch nur dadurch aktiv ausüben, daß er zwecktätig
in dieses eingreift und es durch sein Handeln steuert. Tatherrschaft
und damit Täterschaft setzt daher stets Herrschaft über das tatbe-
standsmäßige Handeln, d. h. über die verbotsnormwidrige Handlung,
voraus. Sie bildet die notwendige Grundlage dafür, daß dem Täter
auch die von seinem Vorsatz umspannten tatbestandsmäßigen Folgen
seines HandeIns als von ihm beherrscht, d. h. als täterschaftliches Un-
recht zugerechnet werden.
Für die Beihilfe folgt daraus zunächst, daß sie Mitwirkung an der
Tatbestandsverwirklichung ohne Tatherrschaft ist38 • Konkreter: Bei-
hilfe ist die tatherrschaftslose Mitwirkung an einer von einem anderen
beherrschten Tatbestandsverwirklichung. Kennzeichnend für sie ist,
daß zwischen ihr und dem tatbestandsmäßigen Unrechtserfolg noch
die maßgebliche Entscheidung des Tatherrn über das Ob und Wie der
Tatbestandsverwirklichung steht. Da die Wirksamkeit einer Hilfelei-
stung für die Verwirklichung des tatbestandlichen Unrechts damit
stets von der Entscheidung des Täters abhängig ist, ist der Wille des Ge-
hilfen notwendig dem die Tatherrschaft ausübenden Willen des Täters
untergeordnet39 • Gründet sich die Tatherrschaft des Täters, wie dar-
gelegt, auf die Herrschaft über sein den tatbestandsmäßigen Unrechts-
erfolg bewirkendes Handeln, so ist jedoch eine solche Willensunter-
ordnung nur dann möglich, wenn der Gehilfe seinen Tatbeitrag zu
dem von dem Täter beherrschten tatbestandsmäßigen Handeln leistet.
Wird die Wirksamkeit des Tatbeitrages nicht mehr durch die vom Tä-
ter beherrschte verbotswidrige Handlung vermittelt, steht also zwi-
schen dem Tatbeitrag des Beteiligten und der Verwirklichung des tat-
bestandsmäßigen Unrechts nicht mehr die Entscheidung des Täters,
so fehlt die die Beihilfe charakterisierende Willensunterordnung. Im
Gegenteil, der Tatbeteiligte übt hier die Tatherrschaft nicht nur über
sein Handeln, sondern auch - da diese nicht durch die vom Haupt-
täter beherrschte Handlung vermittelt sind - über dessen Folgen
aus. Er ist es, der das durch sein Handeln angestoßene und den tat-
bestandsmäßigen Unrechtserfolg mitbewirkende Kausalgeschehen
zwecktätig steuert und es damit insoweit beherrscht. Dies bedeutet

88 S. dazu näher Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, S. 268, 272, 370, und
ders., in: LK, Rn. 6 vor § 26.
39 Vgl. dazu Roxin, Täterschaft LInd Tatherrschaft, S. 314 f.
Die zeitlichen Grenzen der sukzessiven Beihilfe 575

aber, daß dieses Verhalten gerade keine tatherrschaftlose Mitwirkung


an der von einem anderen beherrschten Tat darstellt. Es ist vielmehr
als Ausübung von Herrschaft und damit, soweit dieses Handeln mit
seinen Folgen noch von dem jeweiligen Tatbestand erfaßt wird, als
Nebentäterschaft zu würdigen.

3. Aufgrund unserer bisherigen überlegungen sind wir nunmehr


auch in der Lage, das tatbestandliche Unrecht der Beihilfe näher zu
bestimmen.
a) Vergegenwärtigen wir uns zu diesem Zweck zunächst das Un-
recht der Haupttat. Konstitutives Element des Haupttatunrechts ist
vor allem die Vornahme der tatbestandsmäßigen Handlung, das Schaf-
fen eines tatbestandsmäßigen und nicht mehr gerechtfertigten Risi-
kos für das geschützte Rechtsgut. Diese tatbestandsmäßige Gefähr-
lichkeit des verbotenen Täterverhaltens begründet einen objektiven
Handlungsunwert, den Gefährlichkeitsunwert der Handlung40 • Kon-
stitutiv für das Unrecht ist darüber hinaus die Realisierung des vom
Täter geschaffenen Risikos in dem tatbestandsmäßigen Unrechts er-
folgU und schließlich als subjektives Unrechtselement der Intentions-
unwert42 , d. h. der Unwert des auf Herbeiführung des tatbestands-
mäßigen Unrechtserfolges durch eine unerlaubt gefährliche Hand-
lung gerichteten Vorsatzes. Das Unrecht der Haupttat wird damit durch
drei Elemente geprägt: den (objektiven) Gefährlichkeitsunwert der
Handlung, den Erfolgsunwert, in dem sich dieser Gefährlichkeitsunwert
realisiert, und den auf Herbeiführung des Erfolges durch Risikoschaf-
fung gerichteten Vorsatz, den subjektiven Handlungsunwert.
b) Die Beihilfe ist von diesem Unrecht der Haupttat abhängig.
Rechtswidrig und verboten ist die Beihilfe, weil sie das Risiko schafft
(oder erhöht), daß der Haupttäter den tatbestandsmäßigen Ur.rechts-
erfolg durch eine unerlaubt gefährliche Handlung herbeiführt. Als
Erfolgsunwert der Beihilfe kommen damit vor allem der Gefährlich-
keits- und der Erfolgsunwert der Haupttat in Betracht. Der Gefähr-
lichkeitsunwert der Beihilfe bezieht seinen Unwertcharakter daraus,
daß die Hilfeleistung das Risiko dafür schafft, daß der Haupttäter den
tatbestandsmäßigen Unrechtserfolg durch eine unerlaubt gefährliche
Handlung herbeiführt. In entsprechender Weise ist der Intentionswert
der Beihilfe dadurch begründet, daß der Vorsatz des Gehilfen darauf
gerichtet ist, daß der Haupttäter den Gefährlichkeitsunwert und den
40 Vgl. dazu Gallas, Bockelmann-Festschrift, S. 155 ff.; Walter, Objektive
und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem
funktionalen Straftatsystem, 1981, S. 24 ff., 50.
41 S. dazu näher Gallas, Bockelmann-Festschrift, S.163; Wolter (Fn.40),
S. 38 f., 138 ff.
42 Vgl. dazu Rudolphi, Maurach-Festschrift, 1972, S. 55 ff.
576 Hans-Joachim Rudolphi

Erfolgsunwert der Haupttat verwirklicht. Das Unrecht der (vollende-


ten) Beihilfe zur (vollendeten) Haupttat setzt folglich voraus, daß der
Gehilfe durch sein Handeln das Risiko schafft (Gefährlichkeitsunwert
der Beihilfe), daß der Haupttäter vorsätzlich durch Vornahme einer un-
erlaubt gefährlichen Handlung den tatbestandsmäßigen Unrechtserfolg
bewirkt (Erfolgsunwert der Beihilfe) und sein Handeln auf diesen
Erfolg hin gemäß seinem Vorsatz steuert (Intentionsunwert der Bei-
hilfe). Der geringere Unrechtsgehalt der Beihilfe gegenüber der Täter-
schaft findet seine Erklärung dabei darin, daß die unerlaubte Gefähr-
lichkeit der Beihilfehandlung sich nur deshalb und soweit realisieren
kann, wenn und soweit der Haupttäter die ihm verbotene Handlung
vornimmt, also zwischen dem tatbestandsmäßigen Unrechtserfolg und
dem Handeln des Gehilfen stets die verantwortliche Entscheidung des
Täters steht.
c) Ziehen wir aus dieser Unrechtsbestimmung der Beihilfe die Kon-
sequenzen für die Frage, bis zu welchem Zeitpunkt der Verwirkli-
chung des Haupttatunrechts Beihilfe möglich ist, so läßt sich folgendes
festhalten:
Beihilfe ist möglich, solange der Täter den Gefährlichkeitsun-
wert seines Verhaltens noch nicht voll verwirklicht hat. Hat der
Täter bereits sein unerlaubt gefährliches Verhalten und damit auch
die Verwirklichung des Gefährlichkeitsunwerts abgeschlossen, so ist
eine akzessorische Beihilfe nicht mehr möglich. Der Beihilfe fehlt in
diesen Fällen nicht nur notwendig ihr eigener Gefährlichkeitsunwert,
weil sie nicht mehr das Risiko schaffen kann, daß der Haupttäter die
ihm verbotene gefährliche Handlung vornimmt, sondern aus dem
gleichen Grund auch notwendig der erforderliche Intentionsunwert.
Der Unwert einer erst nach Abschluß des tatbestandsmäßigen Haupt-
täterverhaltens erfolgenden Einwirkung auf das vom Haupttäter aus-
gelöste Kausalgeschehen kann daher prinzipiell nicht mehr aus dem
Unrecht der Haupttat hergeleitet werden. Ihm kann nur ein eigen-
ständiger, nicht von dem abgeschlossenen Haupttäterverhalten akzes-
sorischer Unrechtsgehalt zukommen, wenn es selbst das volle Unrecht
des in Betracht kommenden Straftatbestandes verwirklicht und da-
mit allen Erfordernissen einer Nebentäterschaft genügt.

IV.

Unsere These, daß Beihilfe eine Hilfe zu dem tatbestandsmäßigen


Haupttäterverhalten voraussetzt und nach Abschluß dieses Verhal-
tens nicht mehr möglich ist, hat sich damit auch normtheoretisch und
dogmatisch als berechtigt erwiesen. Abschließend bleibt jedoch zu prü-
Die zeitlichen Grenzen der sukzessiven Beihilfe 577

fen, ob sie nicht unberechtigte und vom Gesetz nicht gewollte Straf-
barkeitslücken schafft.
Soweit es sich bei der Haupttat um ein reines Erfolgsdelikt handelt,
ist dies zu verneinen, da diejenigen Verhaltensweisen, die die herr-
schende Meinung noch als Beihilfe würdigt, nach der hier entwickel-
ten Ansicht bei diesen Erfolgsdelikten stets als Nebentäterschaft er-
faßt werden können. Strafbarkeitslücken können sich daher allein
dort ergeben, wo ein Rückgriff auf die Nebentäterschaft ausscheidet.
Möglich ist dies dann, wenn es sich bei der Haupttat um ein (echtes)
Sonderdelikt oder um ein Delikt handelt, das eine besondere Tat-
modalität fordert, der nach Abschluß des tatbestandsmäßigen Täter-
verhaltens Hinzutretende jedoch die geforderte Täterqualifikation
nicht aufweist bzw. sein den tatbestandsmäßigen Erfolg mitbewirken-
des Verhalten der vorausgesetzten Tatmodalität nicht genügt.

1. Als Beispiele der letztgenannten Deliktsart mögen der Betrug


und die Erpressung dienen. Sie setzen nicht nur das (beliebige) Be-
wirken einer Vermögensschädigung voraus, sondern fordern, daß diese
Vermögensschädigung gerade durch Täuschung bzw. durch Gewalt
oder Drohung mit einem empfindlichen übel bewirkt wird. Beteiligt
sich jemand an dem betrügerischen Geschehen eines anderen erst nach
Abschluß der Täuschung, indem er z. B. von dem Betrogenen den er-
schwindelten Vermögenswert entgegennimmt, so käme nach unserer
Ansicht, da eine strafbare Beihilfe ausscheidet, eine Strafbarkeit des
Beteiligten nach § 263 StGB nur in Betracht, wenn er als Nebentäter das
tatbestandliche Unrecht des § 263 selbständig verwirklichte. Bejaht
werden könnte dies nur dann, wenn sein Verhalten als selbständige
Täuschung aufgefaßt werden könnte, der Beteiligte also durch sein
Verhalten den vom Täter bereits erregten Irrtum unterhielte und
dadurch ebenfalls für die vermögensschädigende Verfügung des Ge-
täuschten ursächlich würde. Daran wird es allerdings nicht selten
fehlen. Der Fall wäre dies etwa, wenn jemand durch Täuschungen
erreicht, daß die zuständige Stelle ihm eine Rente bewilligt, und der
Hinzutretende sich darauf beschränkt, später einmal die Rente für ihn
abzuholen. Ein Beispiel aus dem Bereich der Erpressung bildet da-
für der folgende FaU43 • E droht dem X und veranlaßt diesen dadurch,
einen Brief mit Geld postlagernd für E aufzugeben. G holt die dem
X ohne seine Beteiligung abgenötigte Geldsendung vom Postamt ab
und händigt sie E aus. Auch in diesem Fall kommt nach unserer Auf-
fassung eine Strafbarkeit des G gemäß § 253 StGB weder unter dem
Aspekt der Beihilfe noch unter dem der Nebentäterschaft in Betracht.
Doch bedeutet dies noch nicht, daß damit überhaupt Strafbarkeitslücken
43 Vgl. dazu RG HRR 1940, Nr. 469, und Kühl (Fn. 3), S. 103.

37 Festschrift für H.-H. Jescheck


578 Hans-Joachim Rudolphi

entstehen. Denn möglich ist es durchaus, diese Verhaltensweisen des


Hinzutretenden durch die Straftatbestände der §§ 257 ff. StGB zu erfas-
sen und in angemessener Weise zu ahnden44 • Vor allem § 257 läßt sich so-
wohl nach seinem Wortlaut als auch nach seinem Sinn und Zweck
durchaus dahin interpretieren, daß er bereits solche auf Vorteilssiche-
rung abzielende Handlungen der Vortat erfaßt, die nach Beendigung
des tatbestandsmäßigen Verhaltens der Vortat erfolgen. Für die Er-
fassung dieser Verhaltensweisen durch § 257 spricht zudem, daß die
dem Täter geleistete Hilfe sich in den erörterten Fällen nicht mehr
auf dessen Täuschung oder Drohung, d. h. dessen tatbestandsmäßiges
Verhalten, sondern allein auf die Sicherung der durch dieses Verhal-
ten erstrebten Vorteile bezieht. Aber selbst dann, wenn man dem nicht
folgen sollte, bliebe die Frage, ob die dann in der Tat entstehenden
Strafbarkeitslücken nicht hinzunehmen sind. Sie ist gemäß Art.l03
II GG eindeutig zu bejahen. Mit Recht hat bereits Gallas4s der herr-
schenden Meinung entgegengehalten, daß Beihilfe Teilnahme an einem
gesetzlich typisierten Verhalten, nicht aber beliebige Beteiligung an
der Verletzung des durch die betreffende Strafnorm geschützten In-
teresses sei. Wenn die herrschende Meinung gleichwohl in den erör-
terten Fällen den Beteiligten wegen Beihilfe straft, so mißachtet sie,
daß der Beteiligte in den erörterten Fällen lediglich für eine Vermö-
gensschädigung ursächlich wird und gerade nicht - wie von § 27 StGB
gefordert - das tatbestandsmäßige Unrecht, nämlich die Vermögens-
schädigung durch Täuschung bzw. Drohung, mitbewirkt46 • Dies wider-
spricht jedoch dem Grundsatz "nullum crimen sine lege" .

2. Ähnliche Probleme ergeben sich für die Beteiligung an einem


Sonderdelikt nach Abschluß des Täterverhaltens. Beteiligt sich z. B.
ein Extraneus an einem Sonderdelikt nach Abschluß des Täterverhal-
tens, aber vor Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges, so scheidet
nach unserer Auffassung ebenfalls eine Strafbarkeit sowohl wegen
Beihilfe als auch wegen Nebentäterschaft aus. Auch die dadurch mög-
licherweise entstehenden Strafbarkeitslücken sind jedoch als Konse-
quenz des nullum-crimen-Satzes de lege lata hinzunehmen. Denn
wollte man diese Strafbarkeitslücke mit Hilfe von § 27 StGB schließen,
so würde auch hier die Mitwirkung an einem für sich allein gerade nicht
tatbestandsmäßigen Geschehen als strafbarkeitsbegründend erachtet.
Damit wollen wir unsere, dem verehrten Jubilar gewidmeten Über··
legungen zur Problematik der sukzessiven Beihilfe abbrechen. Sie

44 In Betracht käme zudem eine Strafbarkeit gern. §§ 246, 27 StGB; vgl.


dazu Jakobs, AT, S. 559; Samson, in: SK, § 27 Rn. 18.
4S ZAkDR 1937,438.
4& S. dazu auch Jakobs, AT, S. 559 f.
Die zeitlichen Grenzen der sukzessiven Beihilfe 579

haben ergeben, daß eine akzessorische Beihilfe stets voraussetzt, daß


der Gehilfe einen Tatbeitrag zu dem normwidrigen Haupttatverhal-
ten, d. h. dem tatbestandsmäßigen Verhalten der Haupttat leistet, und
dadurch in objektiv zurechenbarer Weise zugleich den tatbestandsmä-
ßigen Unrechtserfolg der Haupttat mitverursacht. Beihilfe ist daher
nicht mehr möglich, wenn das den Tatbestand verwirklichende Haupt-
tatverhalten abgeschlossen ist. Wirkt der Täter nach Verhaltensbe-
endigung allein noch auf das den tatbestandsmäßigen Unrechtserfolg
bewirkende Kausalgeschehen der Haupttat ein, so kann diese Mitwir-
kung nur als Nebentäterschaft oder, sofern dies nicht möglich ist, nach
den §§ 257 ff. StGB strafrechtlich erfaßt werden.
Strafrecht - Besonderer Teil
ULRICH KLUG

Das Aufstacheln zum Angriffskrieg (§ 80 a StGB)


Allgemeine und spezielle Interpretationsprobleme

Hans-Heinrich Jescheck hat in seiner brillanten und umfassenden


Darstellung des Allgemeinen Teils des deutschen Strafrechts nachdrück-
lich auf die hohe rechtsstaatliche Bedeutung der Auslegungsprinzipien
und ihrer Anwendung in der Praxis der Strafjustiz hingewiesen. Ihm
sei daher der hier vorgelegte Diskussionsbeitrag in Dankbarkeit für
zahlreiche Anregungen gewidmet.
Die Bestimmung des § 80 a StGB wurde bekanntlich durch das
8. Strafrechtsänderungsgesetz vom 25. Juni 1968 eingefügt. Der heute
geltende Wortlaut geht auf das Einführungsgesetz zum Strafgesetz-
buch vom 2. März 1974 zurück. Strafbar macht sich danach, wer im
räumlichen Geltungsbereich des Strafgesetzbuches öffentlich, in einer
Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs.3 StGB)
zum Angriffskrieg (§ 80 StGB) aufstachelt. Der Strafrahmen ist beacht-
lich. Der Täter kann mit einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu
fünf Jahren bestraft werden.
Die Verweisung auf § 11 Abs.3 StGB stellt klar, daß dem Verbreiten
von Schriften das Verbreiten durch Ton- und Bildträger sowie durch
Abbildungen und andere Darstellungen gleichgestellt ist. Von beson-
derer Bedeutung ist sodann die Bezugnahme auf § 80 StGB, die das Tat-
bestandsmerkmal des Angriffskrieges betrifft. Allerdings ist dadurch
nur auf eine neue Verweisung hingewiesen, denn dieses Tatbestands-
merkmal des Angriffskrieges wird auch in § 80 StGB nicht definiert.
Statt dessen wird dort auf Art. 26 Abs. 1 des Grundgesetzes weiterver-
wiesen. Bei der Analyse der Strafrechtslage gerät man damit in eine
weitere Verweisungskette, denn in Art.26 GG wird zwar der Begriff
des Angriffskrieges verwendet, es fehlt jedoch an einer Definition. Der
Verfassungsgesetzgeber hat lediglich gesagt, daß Handlungen, die geeig-
net sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zu-
sammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines An-
griffskrieges vorzubereiten, verfassungswidrig sind. Schon die reine
Vergegenwärtigung des Gesetzestextes zeigt im Hinblick auf die vom
Gesetzgeber benutzte Technik, daß die Auslegung dieser Bestimmung
problematisch sein muß.
584 Ulrich Klug

Lange Zeit glaubte man, die Bedeutung des § 80a StGB würde sich
in seiner general präventiven Funktion erschöpfen und zugleich der
wichtigen Integration des erwähnten Art. 26 GG dienen. Darüber hin-
aus konnte man allenfalls erwarten, daß gleichzeitig das Rechtsbewußt-
sein bis zu einem gewissen Grade dafür gestärkt würde, daß nach Art. 26
GG die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes Bestandteil des Bundes-
rechtes sind, daß sie sogar den Gesetzen vorgehen sowie daß sie Rechte
und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes er-
zeugen.
Vor wenigen Jahren hat sich nun insoweit die Situation geändert,
als sich die Strafjustiz mit einer Anklage wegen Verletzung des § 80a
StGB zu befassen hatte. Zuständig war das Landgericht Köln. Am
9. Juli 1980 erging das UrteiP. In dem entschiedenen Fall ergab sich,
daß die Anwendung des Tatbestandsmerkmals Angriffskrieg verhält-
nismäßig wenig Schwierigkeiten bereitete. Problematisch dagegen war
die Auslegung des Tatbestandsmerkmals Aufstacheln.
Folgender Sachverhalt lag dem Verfahren vor einer Großen Straf-
kammer zugrunde: Der Angeklagte, ein Journalist, der vor allem wirt-
schaftspolitische Artikel veröffentlichte, war Herausgeber des Wirt-
schaftsblattes "basis - Die Wirtschafts-Information des Monats", das
monatlich erschien und sich an freiberuflich tätige Personen, insbeson-
dere Ärzte, Architekten, Rechtsanwälte und Unternehmer wandte, um
sie u. a. über Vermögensanlagen und steuerliche Abschreibungsmög-
lichkeiten zu informieren. Die Auflagen betrugen etwa 40 000 Exem-
plare. In einer Ausgabe dieses Blattes befaßte sich der Angeklagte mit
der seinerzeitigen Energiekrise und ihren wirtschaftspolitischen, vor
allem die Investitionen betreffenden Auswirkungen. Diese Wirtschafts-
analyse steht unter der Überschrift "Nach Genf und Tokio: Eine Alter-
native heißt Depression .. .". Unter der Überschrift " ... Die andere
heißt Krieg" wird dann folgendes ausgeführt: "Noch ist die Fahrt in
eine neue Wirtschaftskrise zu stoppen: mit militärischen Mitteln. Füh-
rende Politiker, wie Helmut Schmidt, Ex-Nato-Chef Alexander Haig
(der als Präsidentschafts-Kandidat gegen Carter gehandelt wird), Henry
Kissinger und selbst der Chef-Kommentator der ,Prawda' sprechen im-
mer deutlicher vom ,Krieg ums Öl', der uns alsbald bevorsteht. In der
Tat: Die Industrienationen in West und Ost können nicht tatenlos zu-
sehen, wie ein internationales Preis- und Mengenkartell, die OPEC,
alles zerstört, was in Jahrzehnten durch Fleiß und Intelligenz aufge-
baut wurde und 20 - 30 Millionen Arbeitslose beschert" .
"Beispiel Libyen: Dort ruhen über 10% der Weltreserven. Libyen
war teilweise bis zu einem Viertel an unserer Ölversorgung beteiligt.
1 NStZ 1981, 261.
Das Aufstacheln zum Angriffskrieg (§ 80 a 5tGB) 585

Das libysche Öl kostet in der Förderung ca. 0,85 Dollar pro Barrel. Zu-
letzt wurde es fob Tripolis für knapp 20 Dollar verkauft. Und da Li-
byen mit seinen 2 Millionen Einwohnern längst ,den Hals übervoll'
hat Ueder Libyer kann in ein Haus mit Garten und Klimaanlage ziehen
und in einem vom Staat spendierten Toyota herumkutschieren), droht
Staatschef Ghaddafi dem Westen, demnächst die Ölförderung überhaupt
einzustellen. Nachdem die iranische Förderung schon auf ein Drittel
Schah-J ahre geschrumpft ist, bedeutet ein Stop aus Libyen den
Kollaps.
Die Antwort kann nur lauten: Einmarsch. Die verbale und die tat-
sächliche Erpressung von zwei Milliarden Menschen der Industrienatio-
nen durch zwei Millionen Beduinen unter einem notorischen Megaloma-
nen hat ihre Grenze erreicht. Das Kriegsrisiko ist minimal, sowohl
militärisch, als auch politisch. Die Besetzung der wichtigsten Ölfelder
im Nahen Osten ist bestenfalls ein Kommando-Unternehmen, wobei die
Araber bei ihrer bekannten Kriegstüchtigkeit wahrscheinlich sofort
kapitulieren werden. Auch ihre politische Rechnung, das Setzen auf
ein Eingreifen der Sowjetunion, geht nicht auf. Die Russen sind auf-
grund ihrer mittelfristig fixierten Planwirtschaft noch viel stärker von
sicheren Ölimporten abhängig als der flexible, da marktwirtschaftlich
disponierende Westen. Geheimdienstberichte aus Moskau beweisen: der
Einbruch der Sowjetwirtschaft ist noch viel schlimmer als der in den
USA. Allein der Wegfall fest eingeplanter Ölimporte aus dem Iran hat
in den südlichen Sowjetrepubliken zu einem Chaos geführt."
Aufgrund dieses Artikels hat die Staatsanwaltschaft dem Angeklag-
ten zur Last gelegt, im räumlichen Geltungsbereich des Strafgesetz-
buches durch Verbreiten von Schriften zum Angriffskrieg aufgestachelt
zu haben. Nach der Auffassung des Gerichts war der Angeklagte jedoch
aus Rechtsgründen freizusprechen, da die für erwiesen angesehene Tat
nicht strafbar sei.
Die Kammer stellt allerdings zunächst einmal fest, daß es dem
Schreiber des Artikels in der Tat um die Durchführung eines Angriffs-
krieges unter der Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland gegan-
gen wäre, denn unter einem Angriffskrieg im Sinne der §§ 80, 80 a
StGB und Art. 26 Abs.1 GG sei die völkerrechtlich bewaffnete Aggres-
sion zu verstehen (vgl. Lackner, StGB, 12. Aufl. 1978, § 80 Anm.2, Zitat
des Gerichts), und daß der Angeklagte in seinem Artikel eine solche
Handlung befürworte, zeigten die Formulierungen: "Die andere (Alter-
native) heißt Krieg ... ; ... mit militärischen Mitteln; die Antwort kann
nur lauten: Einmarsch ... ; ... das Kriegsrisiko ist minimal."
Sodann führt das Gericht näher aus, warum dieser befürwortete
Krieg kein Verteidigungskrieg sei. Die Prüfung dieser Frage ist deshalb
586 Ulrich Klug

erforderlich, weil die Selbstverteidigung des Staates oder das Bestehen


einer Notwehrlage einen Angriffskrieg völkerrechtlich ausschließe
(vgl. Hamann, GG Art. 26, B Anm. 2, 3; Maunz/Dürig, GG Art. 26
Anm. 24 - 27, Zitate des Gerichts). Das Landgericht stellt fest, daß eine
solche Situation hier nicht vorliege und fügt hinzu, daß insoweit der
auch im Völkerrecht geltende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
der Reaktion zu beachten sei (Hamann, a. a. 0.; Maunz/Dürig, a. a. 0.,
Zitate des Gerichts). Im Hinblick hierauf sei es von Bedeutung, daß der
Angeklagte selbst nicht von einem dauernden totalen Boykott durch
die Ölstaaten spreche. Hinzu komme, wie das Gericht feststellt, daß die
Möglichkeit bestehe, den Energiebedarf der westlichen Nationen zu-
mindest teilweise aus anderen Energieträgern zu decken. Auch der An-
stieg der Arbeitslosigkeit in den Industrieländern sei, wie weiter aus-
geführt wird, nicht geeignet, eine Besetzung der Ölstaaten zu rechtfer-
tigen. Selbst wenn einzelne arabische Staaten ihre vertraglichen ÖI-
Lieferverpflichtungen nicht einhalten sollten, so sei ein "Einmarsch" nach
Ansicht der Kammer nicht als Verteidigungskrieg anzusehen.
Daß die Bundesrepublik Deutschland als kriegführende Macht an
dem befürworteten Angriffskrieg nach Meinung des Angeklagten be-
teiligt sein soll, gehe aus dem Artikel ebenfalls hervor. Das Landgericht
weist zutreffend darauf hin, daß sich dies einmal aus dem Gesamtzu-
sammenhang und ferner aus den Einzelformulierungen ergebe, wenn
es in dem inkriminierten Artikel heiße: "Die Industrienationen in West
und Ost können nicht tatenlos zusehen ...", denn danach solle sich die
Bundesrepublik Deutschland als ein dem "Westen" zugehöriges Land
an der kriegerischen Aktion beteiligen.
Stellung genommen wird schließlich auch noch zu der im Schrifttum
kontrovers behandelten Frage, ob das Tatbestandsmerkmal des An-
griffskriegs die verfassungsrechtlich gebotene Bestimmtheit nach Art.
103 Abs.2 GG erreicht (vgl. Dreher/Tröndle, StGB, 39. Auf!. 1980, § 80
Rdn.4, Zitat des Gerichts). Für den vorliegenden Fall, heißt es, könne
die Frage bejaht werden, da im Artikel der Kriegsschauplatz festgelegt
worden sei. Die wichtigsten Ölfelder im Nahen Osten sollten besetzt
werden. Auch der Zeitpunkt der Aggression sei vom Angeklagten genau
umrissen, da dieser darauf abhebe, daß der erwartete Ölstop aus Libyen
mit dem Einmarsch beantwortet werden solle.
Im Anschluß an diese Feststellungen hat das Gericht noch die weitere
Frage geprüft, ob der Angeklagte möglicherweise bei seinem Artikel
nicht an einen Angriffskrieg, sondern nur an ein Kommandounterneh-
men im Sinne eines kurzfristigen Eingreifens, wie etwa zur Befreiung
von Geiseln, gedacht habe. Es kommt zum Ergebnis, daß sein Artikel
so nicht zu verstehen sei, denn es heiße im Text: "Die Besetzung der
Das Aufstacheln zum Angriffskrieg (§ 80 a StGB) 587

wichtigsten Ölfelder im Nahen Osten ist bestenfalls ein Kommando-


Unternehmen ...". Dieser Passus deutet nach Ansicht der Kammer dar-
auf hin, daß eine Besetzung von gewisser Dauer zur Sicherung der ÖI-
lieferungen stattfinden solle.
Während bis hierhin die Tatbestandsmäßigkeit seitens des Angeklag-
ten bejaht wird, hat das Gericht jedoch das Tatbestandsmerkmal des
AufstacheIns nicht als erfüllt angesehen. Es begründet dies wie folgt:
Unter einem Aufstacheln sei ein gesteigertes, auf die Gefühle des
Adressaten gemünztes propagandistisches Anreizen zu verstehen (vgI.
Dreher/Tröndle, § 80 a Rdn.2; Lackner, § 80 a Anm.3; Schönke/Schrö-
der/Lenckner, StGB, 20. Aufl. 1980, § 130 Rdn. 5, Zitate des Gerichts). Auf-
stacheln gehe über das bloße Befürworten eines Angriffskriegs und die
Kundgabe von Mißachtung für den potentiellen Gegner hinaus. Viel-
mehr werde man ein gesteigertes, intensives Einwirken auf Sinne und
Leidenschaften fordern müssen. Dabei seien, wie das Gericht weiter
ausführt, neben dem sprachlichen Ausdruck alle Umstände zu berück-
sichtigen, insbesondere der Gesamtzusammenhang des Textes, der Cha-
rakter und der Leserkreis der Schrift. So könne z. B. ein Text in einem
Boulevardblatt mit Massenwirkung anders zu beurteilen sein als in
einer wissenschaftlichen Zeitschrift.
In dem hier maßgeblichen Artikel, fährt das Gericht fort, würden
die Einwohner Libyens und ihr Staatschef in polemischer Weise durch
überspitzte Formulierungen herabgesetzt ("Erpressung", "notorischer
Megalomane" und "bekannte Kriegstüchtigkeit"); das reiche jedoch
nach Ansicht der Kammer nicht aus, um ein Aufstacheln zum Angriffs-
krieg anzunehmen. Es fehle an einem gesteigerten, auf die Emotionen
gerichteten, propagandistischen Anreizen zu einer kriegsbereiten Hal-
tung. Sätze wie: "Noch ist die Fahrt in eine neue Wirtschaftskrise zu
stoppen: mit militärischen Mitteln" oder "Die Antwort kann nur lau-
ten: Einmarsch" hätten zwar auffordernden Charakter, seien jedoch
vorliegend kein auf die Gefühle zielendes Anreizen. Der Leserkreis
des Wirtschaftsinformationsblattes setze sich aus vermögenden Perso-
nen zusammen - wie dem Angeklagten nicht zu widerlegen sei -, die
über Anlagemöglichkeiten informiert werden wollten. Eine gefühls-
mäßige Beeinflussung durch einen polemischen Artikel sei hier nicht so
leicht gegeben wie in einer Zeitung mit Massenwirkung und reißerischer
Aufmachung. Hinzu komme, daß dem maßgebenden Text eine längere
Analyse der Ergebnisse der Wirtschaftskonferenz von Tokio vorange-
stellt sei. Der Angeklagte schlage als Konsequenz ein "totales über-
denken der Investitionspläne" vor und zeige die seiner Ansicht nach
gegebenen Alternativen "Depression" und "Krieg" auf. Das Ölproblem
werde in einer Graphik erläutert. Schließlich mache er sich Äußerun-
gen von Politikern über den "Krieg ums Öl" zu eigen, die zu der im
588 Ulrich Klug

Raume stehenden Boykottdrohung gewisser Ölstaaten Stellung bezo-


gen hätten. Dannach habe der Artikel den Charakter einer polemischen
Analyse der Wirtschaftspolitik. Deshalb komme das Gericht zu dem
Ergebnis: Insgesamt betrachtet liege der Inhalt zwar "hart an der
Grenze zum Aufstacheln", erfülle jedoch dieses Tatbestandsmerkmal
noch nicht. Es lasse sich nicht feststellen, daß der Angeklagte mit den
gewählten Formulierungen den hier speziell angesprochenen Leser-
kreis aufstacheln wolle. So lautet das Fazit der Urteilsbegründung.
Ausschlaggebend für den rechtskräftig gewordenen Freispruch war
somit die Auslegung des Tatbestandsmerkmals Aufstacheln. Dabei ist
die Kammer von zwei Überlegungen ausgegangen. Sie hat erstens an-
genommen, daß ein Aufstacheln über das bloße Befürworten eines An-
griffskrieges und die Kundgabe von Mißachtung für den potentiellen
Angriffsgegner hinausgehe, und zweitens, daß ein gesteigertes, inten-
sives Einwirken auf Sinne und Leidenschaften gefordert werden
müsse. Hierbei wird deutlich, daß der § 80 a StGB restriktiv interpre-
tiert wird. Demgegenüber muß gefragt werden, ob eine solche Ausle-
gung im Einklang steht mit den bei der Anwendung des geltenden
Strafrechts zu berücksichtigenden Auslegungsgrundsätzen. Immerhin
hat das Gericht selbst die Entscheidung für nicht unproblematisch ge-
halten, denn es hat zum Ausdruck gebracht, daß der Inhalt des Artikels
des Angeklagten "hart an der Grenze" zum Aufstacheln liege.
Dem Kölner Urteil voraus ging ein Ermittlungsverfahren, das bei der
Staatsanwaltschaft in Hamburg durch die Strafanzeige, die ein Hambur-
ger Journalist erstattet hatte, in Gang gesetzt worden war. Die Anzeige
bezog sich damals auf einen neuen Artikel des Angeklagten, den dieser
in der Tagespresse veröffentlicht hatte, und in dem er einerseits zum
Ausdruck brachte, daß er nichts zurück zu nehmen habe und anderer-
seits betonte, daß es ihm nicht um einen Angriffskrieg, sondern eine
"Defension" gegangen sei. Das Hamburger Ermittlungsverfahren wegen
dieses weiteren Artikels ist eingestellt worden, weil die Staatsanwalt-
schaft der Meinung war, die beanstandeten Formulierungen hätten das
Tatbestandsmerkmal des Aufstacheins nicht erfüllt, denn seinen publi-
zierten Ausführungen fehle die inhaltliche Qualität des "Aufstachelns",
weil ein Aufstacheln i. S. des § 80 a StGB nur dann gegeben sei, wenn
im gesteigerten Maße auf Sinne und Leidenschaften anderer eingewirkt
werde, um eine feindselige Haltung zu erzeugen (vgl. Schönke/Schröder,
StGB, 19. Aufl. 1978, § 80 a Rz.4 i. V. m. § 130 Rz.5, Zitat der Staatsan-
waltschaft). Der Verfasser habe nur die Absicht gehabt, in einer Dis-
kussion zu einem politischen Thema Stellung zu beziehen und seine
Meinung zu äußern. Soweit er dabei die Meinung zu erkennen gegeben
habe, daß er ein Eingreifen westlicher Länder in der Form des Beset-
zens arabischer Staaten als gerechtfertigt ansehe, komme es für die An-
Das Aufstacheln zum Angriffskrieg (§ 80 a 5tGB) 589

wendung des § 80 a StGB entscheidend allein darauf an, in welche


Form er seine Äußerung gekleidet habe. Hierzu meinte dann die Ham-
burger Staatsanwaltschaft abschließend, daß die gewählten Formulie-
rungen weder gesteigert noch nachhaltig auf Sinne und Gefühle an-
derer einzuwirken geeignet seien.
Nach dieser Einstellung der Ermittlungen wegen dieses zweiten, in
der Tagespresse erschienenen Artikels, auf den hier nicht weiter einge-
gangen werden muß, weil er in der Tat nicht ganz so scharf ist wie der
erste Aufsatz in dem Wirtschaftsinformationsdienst des Angeklagten,
wurde dann durch eine weitere Anzeige, die sich auf eben jenen ur-
sprünglichen Artikel bezog, das Kölner Ermittlungsverfahren in Gang
gebracht, das dann zur Anklage vor der Kölner Strafkammer führte.
Zur Verdeutlichung des Unterschiedes zwischen den beiden in Rede
stehenden Artikeln seien hier nur die folgenden aus dem zweiten Artikel
stammenden Passagen erwähnt: Die Behauptung, "ich hätte zum An-
griffskrieg aufgestachelt, läßt sich so nicht recht halten: Erstens greift ja
nicht der Westen an. Sondern er wehrt sich gegen Kartellierung und
Boykott. Diese Defension ist nur die logische Konsequenz aus dem Ver-
sagen unserer Justizbehörden. Wo ist denn der deutsche Richter, der
gegen die OPEC-Botschafter in Bonn Hausdurchsuchungs- oder Haft-
befehle ausstellt? Welcher Staatsanwalt ermittelt gegen Libyens
Ghaddafi wegen Nötigung? Hat Kartellamtspräsident Kartte in Berlin
schon ein Verfahren gegen den persischen Ölmulti NIOC eingeleitet?
Gegen den saudiarabischen Multi ARAMCO?" ... Daher komme es, "daß
Wirtschaftsverbrechen, die Staaten wie die OPEC begehen, gern so
reguliert werden, wie das bei Erpressern seit Alters her der Brauch ist:
durch Einmarsch. Ganz so schlimm kann es dabei nicht werden. Bei
der bekannten Kampfmoral der Araber genügt die freiwillige Feuer-
wehr von Tulsa, Oklahoma, um das Kommando erfolgreich abzuschlie-
ßen. Reguläre Truppen in diesem Zusammenhang zu nennen, wäre eine
Beleidigung der Soldaten. Und wenn die freiwillige Feuerwehr von
Tulsa bei Tripolis an Land geht - ist das schon ein ,Angriffskrieg'?"
Der hier zur Diskussion gestellte Strafrechtsfall ist dadurch charakte-
risiert, daß der unter die Strafrechtsnorm § 80 a StGB zu subsumierende
Sachverhalt in seinem objektiven Gehalt unstrittig ist. Weder der Text
des in der Anklage beanstandeten Artikels noch die Autorenschaft des
Angeklagten, noch die Veröffentlichung in dem vom Angeklagten her-
ausgegebenen Wirtschaftsblatt, noch auch die gesellschaftliche Struktur
der Leserschaft sind Gegenstand von unterschiedlichen Meinungen.
Ebenso unstrittig ist der Text des später erschienenen weiteren Artikels
des Angeklagten. Allein die strafrechtliche Würdigung des unstrittigen
Sachverhalts ist umstritten.
590 Ulrich Klug

Wie dies nicht anders zu erwarten war, hat die Verteidigung die An-
sicht vertreten, daß der Angeklagte mit seinen Ausführungen keinen
Angriffskrieg, sondern einen Verteidigungskrieg und erst recht keinen
Angriffskrieg mit Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland emp-
fohlen habe. Demgegenüber ist die Kammer von der Auffassung aus-
gegangen, daß es dem Angeklagten durchaus um einen solchen An-
griffskrieg im Sinne des Gesetzes und des einschlägigen Völkerrechts
gegangen sei. Es versteht sich, daß zu dieser Streitfrage und zu den ein-
schlägigen Tatbestandsmerkmalen vieles zu sagen wäre, obwohl dem
Ergebnis, zu dem das Kölner Gericht insoweit gekommen ist, unbedenk-
lich zugestimmt werden kann. Die nähere Erörterung ist vor allem
deshalb nicht erforderlich, weil der Freispruch ausschließlich darauf
beruht, daß die Frage, ob auch das Tatbestandsmerkmal des Auf-
stacheIns durch das Verhalten des Angeklagten erfüllt ist, verneint
wurde. Allein dies ist der springende Punkt. Hier gehen die Meinun-
gen auseinander. Da dem Kölner Urteil, wie vor allem die Kommentar-
literatur zeigt, in der soweit ersichtlich überall zustimmend Stellung
genommen wird, eine weitreichende Bedeutung zukommt, ist es sicher-
lich sinnvoll, hier mit einer mehr ins einzelne gehenden, kritischen Un-
tersuchung anzusetzen.
Es geht um die nicht leicht zu beantwortende Frage, ob die negative
Subsumtionsentscheidung richtig gewesen ist. Da die Auslegung des
Gesetzes Voraussetzung für die Subsumtion ist, handelt es sich hier um
eine Interpretationsproblematik. Weil hier ein Pressetext einem Ge-
setzestext subsumiert werden muß, wird eine zweistujige Auslegung
notwendig. Zunächst bedarf es einer Auslegung des Tatbestandsmerk-
mals Aufstacheln, also einer Interpretation des Gesetzestextes, und
anschließend der Auslegung des Artikeltextes unter Hinzuziehung des
Ergebnisses der Gesetzesauslegung.
Für die Auslegung des Gesetzestextes gibt es bekanntlich nach der
klassischen Theorie ein viergliedriges Instrumentarium, das allerdings
in der modernen Rechtstheorie nicht unerheblich problematisiert wor-
den ist. Immerhin ist es für die Erkenntnisgewinnung sinnvoll, zunächst
von den traditionellen Lehren auszugehen, um dann anschließend die
in Betracht kommenden Ergänzungen und Korrekturen in Anwendung
auf den hier interessierenden konkreten Fall zu versuchen.
Nach der klassischen Auffassung, wie sie Engisch 2 und Jescheck3 bei-
spielhaft deutlich vertreten und insbesondere auf die Strafrechtsinter-
pretation beziehen, kommen bekanntlich in erster Linie vier sog. Aus-
legungsarten in Betracht: die grammatische, die logisch-systematische,

Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 85 ff.


S Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 1978, S. 118 ff.
Das Aufstacheln zum Angriffskrieg (§ 80 a StGB) 591

die historisch-genetische und die teleologische Auslegung. In allen die-


sen vier Interpretationstypen - ihre genauen Unterscheidungs- und
Anwendungsmöglichkeiten vorläufig einmal unterstellt - ist die je-
weils zu lösende Aufgabe stets die Auslegung des Gesetzestextes. Be-
zogen auf den vorliegenden konkreten Fall bedeutet dies, daß es um
die Auslegung des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals Aufstacheln geht.
Das Besondere und bis zu einem gewissen Grade Überraschende für
die hier anzustellenden Überlegungen ist aber die Feststellung, daß für
die Begründung der zu treffenden Entscheidung zweimal ausgelegt wer-
den muß. Das wäre allerdings dann nichts Besonderes, wenn es sich in
beiden Fällen um eine Gesetzesauslegung handeln würde, denn mehr-
fache Interpretationen sind naturgemäß überall dort erforderlich, wo
mehrere gesetzliche Tatbestandsmerkmale für die Entscheidungsfindung
ausgelegt werden müssen. Das Besondere ist im vorliegenden Fall jedoch,
daß für die Urteilsfindung zunächst ein Gesetzestext und dann für die
Sachverhaltssubsumtion ein Pressetext, also erst ein Text, dessen Autor
der Gesetzgeber, und anschließend ein Text, dessen Autor der Ange-
klagte ist, ausgelegt werden muß. Man hat es, präziser gesprochen, mit
einer bemerkenswerten zweistufigen Interpretationsstrukturgleichheit
zu tun. In der tradierten wie in der neueren Auslegungstheorie wird
dieser Sonderfall, der mehr oder weniger für alle sog. Äußerungs-
delikte in Frage kommt, soweit ersichtlich nicht behandelt. Die Frage
stellt sich, ob für die Auslegung des vom Angeklagten formulierten
Textes die vorgenannten vier Interpretationsweisen ebenfalls anwend-
bar sind, sofern nur die Begriffe Gesetz und Gesetzgeber entsprechend
ausgetauscht werden und gegebenenfalls die weitere Frage, ob nicht um
der Methodengenauigkeit willen ein solches Vorgehen sogar unerläßlich
ist.
Um diese Fragen beantworten zu können, ist kurz auf die oft behan-
delten Gesetzesauslegungsregeln einzugehen, ohne daß im hiesigen Zu-
sammenhang auf die umfangreiche und anregende Diskussion, die sich
zur Interpretationstheorie und juristischen Hermeneutik entwickelt hat,
eingegangen werden müßte. Insoweit sei stellvertretend auf die wichti-
gen Untersuchungen von Engisch4 einerseits und Koch/Rüssmann 5 , so-
wie von Arthur Kaufmanne, Kriele7 , Rottleuthner8 und SchünemannD
4 Anm.2.
5 Juristische Begründungslehre, 1982, S. 119 !f.
8 Beiträge zur Juristischen Hermeneutik, 1984.
7 Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Auf!. 1976.

8 ZfRSoz 1982, 82 ff.; ders., in: Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre


und analytische Philosophie, 1976, S. 7 !f.
e Die Gesetzesinterpretation im Schnittfeld von Sprachphilosophie, Staats-
verfassung und juristischer Methodenlehre, Festschrift für Klug, 1983, I,
S. 169!f.
592 Ulrich Klug

andererseits mit den dort angegebenen zahlreichen Weiterverweisungen


Bezug genommen. Im übrigen ist es zweckmäßig, die Auslegungsregeln
im etwas erweiterten Anschluß an Koch/Rüssmann1o als Imperative zu
formulieren, wobei aus der Reihenfolge grundsätzlich keine Rück-
schlüsse gezogen werden dürfen. Die Regeln lauten dann:
(1) Grammatische Auslegung, gelegentlich auch Wortlautauslegung ge-
nannt: Stelle den Wortsinn der gesetzlichen Ausdrücke fest!
(2) Logisch-systematische Auslegung: Beachte den gesetzlichen Rahmen
(Kontext), in dem die auszulegende Vorschrift steht, ermittele den
Sprachgebrauch (semantische Konventionen) und setze dabei den
Bedeutungsgehalt - genauer: den semantischen Gehalt - der aus-
zulegenden Vorschrift für die juristische Schlußfolgerung so fest,
daß keine Widersprüche insbesondere zu solchen Vorschriften ent-
stehen, die in einem sachlichen Zusammenhang mit der auszulegen-
den Vorschrift stehen! - Die Regel (1) kann so verstanden werden,
daß sie die Regel (2) bereits mit enthält. Insofern bringt (2) gegenüber
(1) nicht neues.
(3) Historische Auslegung, auch genetische und subjektiv-teleologische
Auslegung sowie Auslegung aus der Entstehungsgeschichte genannt:
Lege die Vorschrift so aus, daß die Regelungsabsicht des Gesetzgebers
erreicht werden kann! - Mit Recht formulieren Koch/Rüssmann l1
genauer: Setze den semantischen Gehalt der auszulegenden Vor-
schrift für die juristische Schlußfolgerung so fest, daß die Zwecke
des Gesetzgebers erreicht werden.
(4) Teleologische Auslegung, zur Abgrenzung gegenüber der Ausle-
gungsregel (3) oft objektiv-teleologische Auslegung genannt: Lege
die Vorschrift so aus, daß der Zweck des Gesetzes erreicht werden
kann! - Hierzu ist anzumerken12 : Da Zwecke des Gesetzes nur
"Zwecke irgendeines Handelnden" sein können, Zwecke somit "Wir-
kungen von Handlungen sind, die der Handelnde mit seinen Hand-
lungen erstrebt", ist die übliche Redeweise von "Zwecken des Ge-
setzes" sprachlich unzulässig, zum al sie zu Irrationalismen verleiten
kann. Interpretiert man aber die Regel als Aufforderung, die Folgen
mitzuberücksichtigen, die sich aus einer bestimmten Auslegung er-
geben, und die der historische Gesetzgeber noch nicht berücksichtigen
konnte, so daß sie durch die Regel (3) nicht erfaßt werden, mag sie
als pragmatische "Faustregel" für das Weiterdenken akzeptiert
werden.

10 (Anm. 5), S. 166.


11 (Anm. 5), S. 168.
12 Vg1. Koch/Rüssmann (Anm. 5), S. 169, 170.
Das Aufstacheln zum Angriffskrieg (§ 80 a StGB) 593

Ganz allgemein ist schon an dieser Stelle zu allen Auslegungsregeln


festzustellen, daß sie Exaktheit und Eindeutigkeit der Ergebnisse kei-
neswegs garantieren können. Verschiedene Interpreten können - wie
man seit eh und je weiß - trotz Beachtung der Regeln zu verschiedenen
einander widersprechenden Ergebnissen kommen. Approximation be-
herrscht hier das Feld, ebenso wie auch die der Auslegung folgende
juristische Schlußfolgerung in der Regel nicht mehr als nur quasi-axio-
matisch sein kann13 •
Prüft man nun die Frage, ob die skizzierten Regeln für die Gesetzes-
auslegung zugleich auch für die Auslegung von schriftlichen oder münd-
lichen Äußerungen eines Angeklagten heranzuziehen sind, sofern diese
Äußerungen in der strafrechtlichen Subsumtion verwendet werden
müssen, kann es keinen Zweifel daran geben, daß dies der Fall ist. Die
Sachverhalts-Prämisse muß für die juristische Schlußfolgerung selbst-
verständlich mit der gleichen Sorgfalt interpretiert werden wie die
normative Prämisse, d. h. wie die für die Anwendung in Betracht kom-
mende gesetzliche Vorschrift. Das führt bei dem hier zur Diskussion
gestellten konkreten Fall, der vom Landgericht Köln entschieden wurde,
zu den folgenden Überlegungen, indem es zunächst um die Auslegung
des § 80 a StGB geht und anschließend um die Interpretation der Presse-
äußerung des Angeklagten:
Was die Auslegung der gesetzlichen Vorschrift anlangt, so kann der
Kammer hinsichtlich der Auslegung des Tatbestandsmerkmales eines
Angriffskrieges, an dem die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sein
soll - § 80 a StGB mit dem durch gesetzliche Verweisungen in Bezug
genommenen Kontext in § 80 StGB und Art. 26 Abs. 1 GG - zugestimmt
werden, ohne daß auf nähere Einzelheiten nach Maßgabe der vier Aus-
legungsregeln eingegangen werden müßte. Ebenso verhält es sich mit
dem Tatbestandsmerkmal Aufstacheln, das definiert wird als ein ge-
steigertes auf die Gefühle des Adressaten gemünztes propagandisti-
sches Anreizen, das über das bloße Befürworten eines Angriffskrieges
und die Kundgabe von Mißachtung für den potentiellen Gegner hin-
ausgeht. Als Beleg für diese Wortsinnermittlung werden die überein-
stimmenden, oben erwähnten Angaben in der Kommentarliteratur (Dre-
herlTröndle, Lackner und SchönkeISchröder/Lenc1cner) angeführt. Das
Gericht hätte noch hinweisen können im gleichen Sinne auf die Kommen-
tierungen bei LKlv. Bubnoff u. Willms tt und SKlRudolphi 15 • Im Lehr-
buchschrifttum hätte das Gericht die gleiche Interpretation angetroffen.

13 Zur Quasi-Axiomatisierung vgl. Klug, Juristische Logik, 4. Aufl. 1982,


S. 192 ff.
u 10. Aufl., § 130 Rdn. 7 und § 80 a Rdn. 2.
13 11 § 80 a Rdn. 2.

38 Festschrift für Ho-H. Jescheck


594 UlrichKlug

Als Beispiel genannt sei mit weiteren Hinweisen das Lehrbuch von Mau-
rach/Schroeder, Besonderer Teil, Teilband 216 •
Es bleibt die entscheidende Frage zu erörtern, ob der Kammer ge-
folgt werden kann, wenn sie der Meinung ist, daß der Angeklagte durch
seinen Artikel im Wirtschaftsinformationsdienst das Tatbestandsmerk-
mal des AufstacheIns nicht erfüllt habe. Die Gründe des Gerichts hier-
für wurden im ersten Teil dieser Untersuchung bereits wiedergegeben.
Will man sie mit den vier obengenannten Interpretationsimperativen
konfrontieren, so müssen jene vier Regeln in geeigneter Weise umfor-
muliert werden, da es jetzt nicht um einen Gesetzestext, sondern um
einen Pressetext geht, der ausgelegt werden muß. Man erkennt, daß dies
durch den entsprechenden Austausch der Ausdrücke unschwer möglich
wird. Es sind jeweils zu ersetzen die Formulierung "gesetzliche Aus-
drücke" durch "journalistische Ausdrücke" , "gesetzlicher Rahmen
(Kontext)" durch "journalistischen Rahmen (Kontext)", "Vorschrift"
durch "Presseartikel", "Regelungsabsicht des Gesetzgebers" durch "Aus-
sageabsicht des Autors" und "Zweck des Gesetzes" durch "Zweck des
Artikels" oder sprachlich besser: "der mit dem Artikel verfolgte Zweck".
Bei der Ermittlung des Wortsinns unter Beachtung des Kontextes -
Regeln (1) und (2) - hält das Gericht es zwar für entscheidungsrelevant,
daß der potentielle Kriegsgegner in polemischer Weise durch über-
spitzte Formulierungen herabgesetzt wird, vermißt aber das gesteigerte,
auf die Emotionen des Lesers gerichtete, propagandistische Anreizen zu
einer kriegsbereiten Haltung. Die Sätze, in denen vom Einsatz militäri-
scher Mittel und vom Einmarsch geschrieben wird, haben zwar nach
der Ansicht des Gerichts auffordernden Charakter, sind aber kein auf
die Gefühle zielendes Anreizen. Bei der Untersuchung des journalisti-
schen Rahmens - des Kontextes und des Leserkreises - meint die
Kammer, daß im vorliegenden Fall der Artikel zwar polemisch, daß er
aber nicht in einer Zeitung mit Massenwirkung und reißerischer Auf-
machung erschienen sei, und deshalb die vom Gesetzgeber geforderte
Wirkung nicht haben könne. Dem wirtschaftspolitischen Kontext wird
eine das gefühlsmäßige Anreizen einschränkende Wirkung zugeschrie-
ben. Da der Leserkreis sich aus vermögenden Personen, die über An-
lagemöglichkeiten informiert werden wollen, zusammensetze, sei die
gefühlsmäßige Beeinflussung - wie ausgeführt wird - nicht so leicht
gegeben. Der Artikel habe - so die Kammer - lediglich den Charakter
einer polemischen Analyse der Wirtschaftspolitik. Daher werde insge-
samt betrachtet die Tatbestandsmäßigkeit verneint, obwohl der Inhalt
"hart an der Grenze zum Aufstacheln" liege.

16 § 88 111 2 (S. 286).


Das Aufstacheln zum Angriffskrieg (§ 80 a 8tGB) 595

Die subjektiv-teleologische, historisch-genetische Auslegung nach Re-


gel (3) wird ebenso wie die objektiv-teleologische (4) nur indirekt vorge-
nommen, indem zum Ausdruck gebracht wird, daß es dem Artikelver-
fasser nach Meinung des Gerichts lediglich um eine Investitionsbera-
tung gegangen sei, eingekleidet in die erwähnte polemische Analyse der
Wirtschaftspolitik. Damit werden subjektive und objektive Aspekte
gleichermaßen angesprochen.
Nicht genügend berücksichtigt werden jedoch diejenigen Gesichts-
punkte, die dafür sprechen, daß die Tatbestandsmäßigkeit zu Unrecht
verneint wurde. In erster Linie geht es dabei um folgende Argumente:
Unter logisch-systematischen Grundsätzen ist zunächst einmal darauf
hinzuweisen, daß der Tatbestand des § 80 a StGB zusammen mit dem
§ 80 StGB an der Spitze des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches
steht. Dies weist auf eine ganz besondere Bedeutung dieser beiden Tat-
bestände hin und verpflichtet den Richter bei der Auslegung der beiden
Tatbestände, stets die hohe rechtliche und moralische Bedeutung dieser
Bestimmungen zu berücksichtigen. Geschütztes Rechtsgut ist hier der
Völkerfrieden, insbesondere bezogen auf die Bundesrepublik. Daß es
sich hier um einen der Höchstwerte der modernen menschlichen Ge-
sellschaft handelt, bedarf keiner besonderen Begründung. Erinnert sei
lediglich daran, daß die Erhaltung des Friedens als ein Verfassungs-
zweck bereits in der Präambel zum Grundgesetz erwähnt wird.
Die Schlußfolgerungen, die die Kölner Kammer aus der Struktur
des Leserkreises - "vermögende Personen" - zieht, sind nicht über-
zeugend. Durch § 80 a StGB soll die Erzeugung eines aggressiven Ge-
seIlschaftsklimas mit einem konkreten Feindbild nach Möglichkeit ver-
hindert werden. Die Gefahr, die dabei von dem angesprochenen Leser-
kreis ausgeht, der mit Sicherheit über erhebliche Einflußmöglichkeiten
verfügt, ist deshalb oft größer als diejenige, die von einer Zeitung mit
Massenwirkung und reißerischer Aufmachung verursacht wird.
Die militaristische und aggressive Tendenz des inkriminierten Ar-
tikels wird durch die ausdrückliche Nennung von weltbekannten Poli-
tikern unter Bezugnahme auf die von ihnen angeblich geäußerten
Meinungen zu einer bestehenden Kriegsgefahr bis hin zu einer Kriegs-
notwendigkeit noch ganz besonders unterstrichen.
Kein Hindernis für das Vorliegen einer Aufstachelungs-Tendenz ist
ferner die Tatsache, daß es sich um einen textlichen Zusammenhang
handelt, bei dem Investitionsinformationen angestrebt werden. Die In-
vestitionsorientierung soll nämlich, wie der Kontext zeigt, durch eine
kriegerische Maßnahme mit dem Ziel der Besetzung der Ölfelder be ein-
flußt werden. Dem Leser wird geradezu suggeriert, daß ein Kriegs-

38'
596 Ulrich Klug

abenteuer der angesprochenen Art seine Investitionen besonders ab-


sichert und reizvoll gestaltet. Die investitionspolitischen überlegungen
werden somit zum zweckgerechten Rahmen für das Aufstacheln zum
Angriffskrieg. Eine solche Rahmenfunktion ist durchaus nicht über-
raschend, denn die Mittelbarkeit des AufstacheIns ist sicherlich typi-
scher als die Unmittelbarkeit durch einen entsprechenden Pressetext.
Wohl kaum jemand wird einen Artikel publizieren, der nur aufstachelt.
Hier ist die Einflußnahme durch Rahmenerwägungen eher zu erwarten
als durch eine allzu einfache Direktheit der Argumentation des
Verfassers.
Wie man weiß, sind die §§ 80 und 80 a StGB einer Anregung aus dem
Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches - Besonderer Teil, politi-
sches Strafrecht - folgend in das geltende Gesetz eingeführt worden,
nachdem weder der Regierungsentwurf (BT-Drucks. V/898) noch der
SPD-Entwurf (BT-Drucks. V/102) die Einführung dieser oder ähnlicher
Bestimmungen vorgesehen hatten. In dem einschlägigen Vorschlag des
Alternativ-Entwurfs, der die Überschrift "Aufforderung zum Friedens-
verrat" trägt, ist nicht vom Aufstacheln, sondern Auffordern die Rede.
Daraus läßt sich jedoch nicht folgern, daß der Gesetzgeber ein wesentlich
anderes Tatbestandsmerkmal einführen wollte. Dies zeigt ein Vergleich
mit der Auslegung des Tatbestandsmerkmals Aufstacheln in anderen
Bestimmungen (§§ 130 Nr. 1 und 131 Abs. 1 StGB) sowie mit dem ähn-
lichen Tatbestandsmerkmal Auffordern in § 130 Nr. 2 StGB.
Dort, wo der Gesetzgeber den gleichen Ausdruck in anderen Tatbe-
ständen verwendet, hat die Rechtsprechung die Grenze zwischen Äuße-
rungen, die noch nicht, und solchen, die schon als tatbestandsmäßiges
Aufstacheln anzusehen sind, mit Recht keineswegs so hoch angesetzt wie
die Kölner Kammer. So hat beispielsweise der Bundesgerichtshof schon
das bloße Hinzufügen des Wortes "Jude" auf einem Hamburger Wahl-
plakat mit dem Kopfbild eines Spitzenkandidaten als ein Aufstacheln
zum Haß gegen den jüdischen Bevölkerungsteil angesehen (BGHSt 21,
371 (372)), und dies nicht etwa, weil der Begriff des AufstacheIns im
Rahmen des § 130 StGB nach Ansicht des Gerichts anders zu definieren
gewesen wäre. In beiden Bestimmungen - § 80 a und § 130 StGB -
geht es nach unbestrittener herrschender Meinung beim Aufstacheln
um ein zielstrebiges und nachhaltiges Einwirken auf Sinne und Gefühle
der Adressaten. Zutreffend weist Willms darauf hin, daß der Begriff des
AufstacheIns von § 130 Nr.1 StGB übernommen worden ist17 • Gegen-
über dem Hamburger Sachverhalt sind die Ausführungen des in Köln
zur Debatte stehenden Artikels mit seinem Kontext, in dem auf die
bedrohlichen weltpolitischen Zusammenhänge nachdrücklich hinge-

17 LK, 10. Aufl., § 80 a Rdn. 2.


Das Aufstacheln zum Angriffskrieg (§ 80 a StGB) 597

wiesen wird, nicht weniger nachhaltig auf Sinne und Gefühle der
Adressaten wirkend.
Auch im Tatbestand des § 131 StGB wird das Merkmal Aufstacheln
vom Gesetzgeber unbestrittenermaßen im gleichen Sinne verwendet l8 •
Aus dem Gesetzestext geht in allen drei genannten Bestimmungen
hervor, daß ein nicht zweckgerichtetes Aufstacheln, also etwa die Her-
beiführung eines allgemeinen aggressiven Klimas, für die Tatbestands-
mäßigkeit des Verhaltens nicht genügt. Verlangt ist ein Aufstacheln
"zum Angriffskrieg" (§ 80 a), "zum Haß gegen Teile der Bevölkerung"
(§ 130 Nr.1) und "zum Rassenhaß" (§ 131 Abs.1). Für die Anwendung
des § 80 a ist Rudolphi darin zuzustimmen, wenn er meint, das Schaffen
einer al1gemeinen kriegerischen Atmosphäre ohne Zielrichtung auf ei-
nen bestimmten Angriffskrieg genüge daher nicht 19 • Es müsse zu einem
bestimmten Angriffskrieg im Sinne des § 80 aufgestachelt werden. Der
im Presseartikel gemeinte Krieg ist durch die Nennung des Angriffs-
objektes, des Kriegsgegners und des Kriegszwecks (Sicherung der Öl-
versorgung) gen au konkretisiert. Und daß mit diesem Krieg ein An-
griffskrieg im strengen Sinne des Wortes gemeint ist, wird so unver-
blümt zum Ausdruck gebracht, daß sich nähere Darlegungen dazu erüb-
rigen. Die Voraussetzungen der Definition, die am 14. Dezember 1974
von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in der Resolu-
tion 3314 (XXIX) verabschiedet wurde, sind hier offensichtlich er-
fü1lt 20 • Mit Recht ist das Landgericht Köln davon ausgegangen, daß der
Angeklagte in seinen Ausführungen im Sinne der §§ 80 und 80 a StGB
einen Angriffskrieg gemeint hat.
Eigenartig ist indessen, daß die Kammer zwar den auffordernden
Charakter von Sätzen wie "Noch ist die Fahrt in eine neue Wirtschafts-
krise zu stoppen: mit militärischen Mitteln" und "Die Antwort kann
nur lauten: Einmarsch" herausstellt, jedoch eine gefühlsmäßige Beein-
flussung der Leser als nicht gegeben ansieht. Hier wird der Unterschied
zwischen den Begriffen Aufstacheln und Auffordern in die Argumen-
tation eingeführt. Zuzugeben ist, daß nach der Sprachregelung im Gesetz
eine Differenzierung nahegelegt scheint, und zwar in der Weise, daß die
Aufstachelung als eine gesteigerte Aufforderung zu verstehen ist. Es
muß jedoch bedacht werden, daß es hier äußerstenfalls um einen Grad-
unterschied geht, der sich in engsten Grenzen hält.

18 Vgl. Lenckner, in: Schönke/Schröder, 21. Aufl., § 131 Rdn. 16, § 130 Rdn.5
und § 80 a Rdn. 3 sowie Rudolphi, in: SK, § 131 Rdn. 17, § 130 Rdn.4 und § 80 a
Rdn.2.
19 A. a. 0., oben Anm. 15.

~o Vgl. hierzu Näheres bei Schroeder, in: Maurach/Schroeder, Strafrecht,


Besonderer Teil, Teilband 2, S. 284 - 285 mit dem Zitat der entscheidenden
Formulierungen aus der Resolution.
598 Ulrich Klug

Das zeigt sich vor allem dort, wo in ein und derselben gesetzlichen
Bestimmung beide Begriffe verwendet werden. Das ist bekanntlich beim
Tatbestand der Volksverhetzung (§ 130 StGB) der Fall. Hier wird, wie
gesagt, unter Nummer 1 vom Aufstacheln zum Haß gegen Teile der
Bevölkerung und in Nummer 2 vom Auffordern zu Gewalt- oder Will-
kürmaßnahmen gesprochen. Es fällt schwer, darin einen nennenswerten
Unterschied zu sehen. Man vergegenwärtige sich, daß die Begriffe doch
wohl austauschbar sind, und daß der Anwendungsbereich des unter
Nummer 2 definierten Tatbestandes schwerlich eingeengt würde, wenn
der Gesetzgeber dort gesagt hätte: "Wer in einer Weise, die geeignet
ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer da-
durch angreift, daß er 1. ... und 2. zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen
gegen sie aufstachelt ... wird mit ... bestraft." Eine genauere seman-
tische Analyse zeigt vielmehr, daß der Tausch der Begriffe zu keiner
Änderung des Anwendungsumfangs führt.
Der Einwand, der Gesetzgeber müsse wegen der unterschiedlichen
Ausdrucksweise auch eine divergierende Anwendungsreichweite ge-
meint haben, läßt sich nämlich mit dem Hinweis darauf abwehren, daß
es sich hier um einen emotionsbedingten sprachlichen Rückkoppelungs-
effekt handelt, der verhältnismäßig häufig vorkommt zwischen dem
das jeweilige Tätigwerden beschreibenden Ausdruck und dem dazuge-
hörigen betreffenden Tätigkeitszielbegriff. Das Auffordern zum Haß
wäre gefühlsmäßig eine zu "gelinde" Wortkoppelung, eine Untertrei-
bung. Wer zum Haß auffordert, stachelt auf. Der umgekehrte Effekt -
eine übertreibung - würde dort eintreten, wo jemand beispielsweise
statt von einer Aufforderung zur Pünktlichkeit von einer Aufstachelung
zur Pünktlichkeit sprechen würde. Und beim Ausdruck "Maßnahmen"
hat man es mit einem sprachemotional weitgehend neutralen Begriff
zu tun, so daß dort die Formulierung mit dem Begriff des Aufforderns
möglich bleibt, selbst wenn es sich um Gewalt- oder Willkürmaßnahmen
handelt, zu denen aufgefordert wird.
Berücksichtigt man diesen semantischen Aspekt, dann hätte der
zynische und zielbewußte Presseartikel als tatbestandsmäßig im Sinne
des § 80 a StGB angesehen werden müssen, zumal die Teile der Aus-
führungen des Autors, die von der Kammer zutreffend als polemische
Analyse der Wirtschaftspolitik gekennzeichnet werden, den Aufstache-
lungscharakter nicht schmälern, wie das Gericht meint, sondern im
Gegenteil als motivierende Gefahrendarstellung sogar beträchtlich
steigern. Es bleibt deshalb zu bedauern, daß der Bundesgerichtshof keine
Möglichkeit hatte, zu diesem wichtigen, jetzt allseitig bei § 80a StGB
zitierten Urteil Stellung zu nehmen. Immerhin scheint schon durch die
seinerzeitigen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen eine rechtspoli-
tisch wünschenswerte Wirkung eingetreten zu sein. Dies beweist der
Das Aufstacheln zum Angriffskrieg (§ 80 a StGB) 599

oben erwähnte zweite Artikel des Angeklagten, in dem in ironischer


Verbrämung der Versuch gemacht wird, den ersten Aufsatz zu ent-
schärfen. Sein Verfasser hatte offenbar selbst Bedenken bekommen.
Die vorstehenden Überlegungen sollten nicht abgeschlossen werden,
ohne daß noch zweierlei angemerkt wird:
1. Der Versuch, anhand eines konkreten Falles allgemeine und/oder
spezielle Interpretationsprobleme 21 in den Griff zu bekommen, stößt
bei Sachverhalten der in Rede stehenden Art relativ schnell auf Gren-
zen. Logische Exaktheit kann kaum erreicht werden, zumal dann, wenn
eine in Emotionen eingebundene Interpretation unvermeidlich ist. Die
Kölner Große Strafkammer vertrat die Auffassung, der Artikelinhalt
liege "hart an der Grenze zum Aufstacheln, erfülle jedoch dieses Tat-
bestandsmerkmal noch nicht". In dieser Untersuchung hier wird die Ge-
genthese vertreten, daß der Inhalt die Grenze bereits deutlich überschrit-
ten habe. Die Möglichkeit einer solchen Antithetik ist durch die emotio-
nale Einbindung des Tatbestandes gesetzlich impliziert - , ein im gelten-
den Recht leider keineswegs seltenes Phänomen22 •
2. Schließlich sei erwähnt, daß der Verfasser dieses Beitrags im poli-
tischen Raum an der Vorbereitung der Gesetzgebung zur 8trafrechts-
reform speziell mit den Themen der §§ 80 und 80 a 8tGB befaßt ge-
wesen ist23 und deshalb die Aussage wagt, der Gesetzgeber habe mit
dem Tatbestand des AufstacheIns zum Angriffskrieg nicht zuletzt gerade
an Presseäußerungen von der hier in Rede stehenden Art gedacht. Der
Verfasser ist sich aber darüber im klaren, daß dies nur ein subjektiver
Hinweis ist, der objektive Interpretationsrelevanz nur in Grenzen be-
anspruchen kann.

21 Hier insbesondere die semantische Ausgangslage nach Maßgabe der


erwähnten Regeln (1) und (2).
22 Im übrigen mußte sich die hier versuchte Analyse auf die Heranziehung
der Regeln (1) und (2) beschränken. Eine ins einzelne gehende Anwendung
der Regeln (3) und (4) hat sich im vorliegenden Fall, soweit sie nicht schon
mittelbar stattfand, erübrigt, weil die gewonnenen Ergebnisse sowohl beim
Gesetzestext als auch beim Text des Presseartikels nach der hier vertretenen
Auffassung bereits eine Entscheidung zulassen.
23 Vgl. Deutscher Bundestag, 5. Wahlperiode, Stenographischer Dienst,
Protokoll der 72. Sitzung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform
vom 18.9.1967, S. 1377 ff., 1410, 1412 und 1413. Allerdings stand dort ein aus-
formulierter Vorschlag für den Tatbestand des Aufstachelns zum Angriffs-
krieg im Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches noch nicht zur Ver-
fügung. Es ging im wesentlichen um den jetzigen Tatbestand des § 80 StGB.
J AN REM ME LINK

Die Strafbarkeit der Rassendiskriminierung


in den Niederlanden

I. Einführung1

"All human beings are born free and equal in dignity and rights".
So lautet Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung über die Menschen-
rechte vom 10. Dezember 1948. Dieses Gleichheitsprinzip hat sich in der
Gesetzgebung und der Rechtsprechung zahlreicher Länder niederge-
schlagen. In der niederländischen Verfassung heißt es in Artikel 1:
"Allen die zich in Nederland bevinden, worden in gelijke geval-
len gelijk behandeld". Im nächsten Satz findet man dieses Prinzip
in noch expliziterer Form: "Diskriminierung wegen Religionszugehö-
rigkeit, Lebensanschauung, politischer Einstellung, Rasse, Geschlecht
oder aus welchem Grunde auch immer, ist nicht zulässig". Auch in
mehreren Verträgen und Abkommen, denen die Niederlande mit vie-
len anderen europäischen Ländern beigetreten sind, finden sich solche
Diskriminierungsverbote. Ein Beispiel ist Artikel 14 der Europäischen
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
(EMRK): "Der Genuß der in der vorliegenden Konvention festgelegten
Rechte und Freiheiten muß ohne Unterschied des Geschlechts, der
Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, politischen oder sonstigen An-
schauungen, sozialer oder nationaler Herkunft, Zugehörigkeit zu einer
nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen
Status gewährleistet werden."
Eine ähnliche Bestimmung enthält auch Artike126 des Internatio-
nalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (UN-Vertrag).
Diese beiden Verträge haben in der niederländischen Rechtsordnung
unmittelbare Geltung. Streitig ist allerdings, ob man mit diesen beiden

1 Im Text kommen einige Abkürzungen vor, die ich gleich zu Anfang er-
klären will. AG = Generalanwalt beim Hoge Raad; BW = Burgerlijk Wet-
boek; HR = Hoge Raad, die Kassationsinstanz; NJ = Nederl. Jurisprudentie,
eine wöchentlich erscheinende Sammlung von Entscheidungen des HR und
anderer Gerichte, manchmal mit Kommentar; NJB = Nederlands Juristen-
blad; NJCM = Nederlands Juristen Comite voor de mensenrechten; S =
Staatsblad; Sr. = Wetboek van Strafrecht; Trb. = Tractatenblad.
602 J an Remmelink

Artikeln beabsichtigt hat, verbindliche Rechtsnormen für das Verhält-


nis der Bürger untereinander zu schaffen.
Das letztere gilt auf jeden Fall für das völkerrechtliche Abkommen,
mit dem wir uns in diesem Aufsatz noch eingehend beschäftigen wer-
den2 , nämlich dem "Internationaal Verdrag inzake de uitbanning van
alle vormen van Rassendiskriminatie" (Internationales übereinkom-
men über die Beseitigung aller Formen von Rassendiskriminierung)3.
Im Gegensatz zu den oben erwähnten Verträgen bezieht es sich aus-
schließlich auf die Diskriminierung wegen Rassenzugehörigkeit. So
liest man in Artikel 2 dieses Abkommens, daß die Staaten, die es un-
terzeichnet haben, Rassendiskriminierung verurteilen und sich ver-
pflichten, unverzüglich und mit allen zweckdienlichen Mitteln eine Po-
litik zu betreiben, die darauf gerichtet ist, alle Arten der Rassendis-
kriminierung zu beseitigen, ein gutes Verhältnis zwischen allen Ras-
sen zu fördern und zu diesem Zwed::: mit allen geeigneten Mitteln,
einschließlich - falls erforderlich - der Gesetzgebung, Rassendiskri-
minierung durch Einzelpersonen, Personengruppen und Organisatio-
nen zu verbieten und dadurch zu beenden.
Im Rahmen der Durchführung dieses Vertrages wurde das nieder-
ländische Strafgesetzbuch durch ein Gesetz vom 18. Februar 1971 4 mit
mehreren Strafvorschriften erweitert, deren wichtigste ich hier, sei
es auch unter Beschränkung auf die markantesten Punkte, besprechen
möchte.
Zuvor will ich noch kurz die tatsächliche und die juristische Situa-
tion zu der Zeit schildern, in der diese Strafvorschriften vorbereitet
und eingeführt wurden, und zum Abschluß einige Alternativen, also
andere Mittel als strafrechtliche, aufzeigen. Ich hoffe, dem Leser damit
einen Einblick in die Art und Weise zu verschaffen, in der wir in den
! Andere Verträge, die die Anti-Diskriminierungsnorm enthalten und die
die Niederlande mitunterzeichnet haben, sind, um die wichtigsten zu nennen:
1. Convention against Discrimination in Education (übereinkommen gegen
Diskriminierung im Unterrichtswesen) mit Protokoll, Trb. 1964, 69 und 1972,
134; 2. Convention concerning discrimination in respect of employment and
occupation (übereinkommen über die Diskriminierung in Arbeit und Beruf)
(Vertrag Nr. 111, verabschiedet von der Internationalen Arbeitskonferenz in
der zweiundvierzigsten Sitzung), mit Empfehlung; Genf, 25. Juni 1958, Trb.
1962, 41, 1972, 70 und 1973, 48; 3. European Convention on the legal status of
migrant workers (Europäisches übereinkommen über die Rechtsstellung aus-
ländischer Arbeitnehmer), Straßburg, 24. November 1977, Trb. 1978, 70 und
1983, 45. Ich entnehme diese Informationen dem 1983 erschienenen Bericht
des Wissenschaftlichen Forschungs- und Dokumentationszentrums (WODC)
des Justizministeriums ("Bestrijding van diskriminatie naar ras"), unter Ver-
antwortung von M. J. M. Brand-Koolen geschrieben von A. J. van Duijne
Strobosch. Er enthält u. a. übersichten über die Gesetzgebung und Recht-
sprechung in den USA, England, Frankreich, Belgien, Schweden und Holland.
s Tractatenblad 1967, Nr. 48.
4 Staatsblad 1971, Nr. 96.
Die Strafbarkeit der Rassendiskriminierung in den Niederlanden 603

Niederlanden dieses Problem zu lösen versuchen. Vielleicht ist es ihm


dadurch möglich, die im eigenen Land getroffenen Maßnahmen wie-
derzuerkennen und sie mit den unsrigen zu vergleichen. Damit wür-
den wir gleichzeitig einer der praktischen Zielsetzungen gerecht, die
Hans-Heinrich Jescheck, dem zu Ehren dieser Aufsatz geschrieben
wurde, in seinem berühmten Lehrbuch5 in Anlehnung an einen Kol-
legen mit der Rechtsvergleichung verbindet: daß sie nämlich dem-
jenigen, der sie betreibt, den Besitz eines größeren "Lösungsvorrats"
verschafft.

11. Rechtslage und soziale Situation zur Zeit


der Einführung des Anti-Diskriminiemngsgesetzes

In den sechziger Jahren wäre das soziale Klima für die Einführung
eines gesetzlichen Diskriminierungsverbotes günstig gewesen. Der tiefe
Eindruck, den die furchtbaren Vernichtungen der Kriegsjahre hinter-
lassen hatten, hatte noch nichts von seiner Kraft verloren, während
der große industrielle Aufschwung die Nachfrage nach ausländischen-
darunter farbigen - Arbeitskräften sprunghaft ansteigen ließ. Die
Lage hat sich inzwischen jedoch maßgeblich geändert. In unserer
Gesellschaft geben jüngere Generationen, die sich nicht mehr an
den Krieg erinnern oder denen er nichts mehr zu sagen hat, den Ton
an. Die wehrhafte Einstellung des israelischen Staates seinen Nach-
barn gegenüber hat - gerechtfertigt oder nicht - böses Blut gemacht
und in gewissen Kreisen zu Äußerungen geführt, die, obwohl sie sich
auf "Israelis" beziehen, in ihrer Gehässigkeit kaum von den anti-
semitischen Parolen der Nazizeit zu unterscheiden sind. Außerdem
hat die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer (Türken, Marokkaner
usw.) vor allem in den Ballungszentren im Westen unseres Landes
stark zugenommen6 • Dazu kam der Zustrom der Surinamer und An-
tillianer, die als niederländische Staatsangehörige freien Zugang zu
dem damaligen wirtschaftlichen Paradies hatten, denen es jedoch häu-
fig schwerfiel, sich in das soziale Gefüge einzuordnen. Das letztere gilt
auch für die aus den früheren südostasiatischen Kolonien stammen-
den, noch immer auf Rückkehr hoffenden Südmolukker, die sich sogar
einiger weltweit bekannt gewordener Geiselnahmen schuldig gemacht
haben 7 •

5 Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 3. Auf!. 1978, S. 34.


• Am 1. Januar 1982 belief sich die Zahl der nicht die niederländische
Staatsangehörigkeit besitzenden Einwohner auf 537800, das sind 3,8 % der
Gesamtbevölkerung. 1977 waren es noch 350000 bzw. 2,6 %. Allein schon im
Jahr 1980 stieg die Zahl um 45000. übrigens ist die Zahl der Ausländer in
Belgien noch höher. 1983 befanden sich 822243 Ausländer in Belgien, das sind
8,9 % der Gesamtbevölkerung. Vgl. B. Renson, Revue de Droit Penal et de
Criminologie, 1983, S. 727.
604 J an Remmelink

Dies alles und natürlich auch die Verschlechterung der Wirtschafts-


lage und die dadurch verursachte Arbeitslosigkeit hat dazu geführt,
daß das anfänglich so freundliche soziale Klima in den Niederlanden
sich deutlich geändert hat. 1976 kam es zu Ausschreitungen, als die
Volkswut sich in Schiedam gegen türkische Einwohner richtete, nach-
dem es schon früher (1972) in einem Rotterdamer Arbeiterviertel Un-
ruhen mit rassistischen Zügen gegeben hatte.
Gerade zu diesem Zeitpunkt, in dem ich diesen Aufsatz fast beendet
habe, lese ichS, daß der Justizminister, Dr. Korthals Altes, auf dies-
bezügliche Fragen einiger Parlamentsmitglieder geantwortet hat, daß
sich den niederländischen Eisenbahnbehörden zufolge auf Bahnhöfen
regelmäßig besorgniserregende Vorfälle mit rassistischem und faschi-
stischem Charakter ereignen: Reisende werden mißhandelt, einschlä-
gige Lieder werden gesungen und beleidigende Texte werden auf
Wände und Gegenstände geschmiert. So sangen z. B. vor einiger Zeit
auf dem Rotterdamer Hauptbahnhof Jugendliche das Horst-Wessel-
Lied und schlugen einer Ausländerin ins Gesicht. Bedauerliche Höhe-
punkte waren in diesem Jahr (1983) jedoch der Tod des jungen Antillia-
ners Kerwin Duynmeyer in Amsterdam und die Brandstiftung in der
Wohnung einer marokkanischen Familie in Heerlen.
Die hier zu erörternden Gesetze, die überflüssig erschienen, solange
das freundliche Klima währte, erfüllen heute also deutlich einen
Zweck: sie schützen gegen reale Gefahren und Benachteiligungen.
Man hat seinerzeit übrigens diskutiert, ob die Einführung einer
speziell auf Rassendiskriminierung gerichteten Strafandrohung in der
holländischen Gesetzgebung nicht überflüssig sei, weil schon seit den
dreißiger Jahren in unserem Strafgesetzbuch eine Bestimmung ent-
halten war (Art. 137c Sr.), die öffentlich geäußerte Beleidigungen einer
sich in den Niederlanden befindendenD Bevölkerungsgruppe 1D unter
Strafe stellte. Der Gesetzgeber hatte dabei, so folgt aus den travaux
preparatoires, an Teile der Bevölkerung gedacht, die ein objektiv vor-
handenes gemeinschaftliches Merkmal aufwiesen oder eine gemein-
same Eigenschaft oder Funktion hatten, die eventuell auch auf einem

7 Man zählte (nicht offizielle demographische Daten) 142 000 Surinamer


und 35000 Südmolukker, außerdem 35000 Antillianer von den niederländi-
schen Antillen und 2500 Zigeuner. Am 1. Januar 1981 gehörten 4,08 % der
niederländischen Bevölkerung zu einer ethnischen oder kulturellen Minder-
heit. Diese und die in der vorigen Fußnote enthaltenen Zahlen übernehme ich
von Taine van Dangen, einem Mitarbeiter des Außenministeriums, NJCM-
Bulletin 1982, S. 335.
S Vgl. Tageszeitung Trouw, 30. Dezember 1983.
9 Vgl. Art. 83 a Sr. in der alten Fassung.

10 Außerdem gab es noch eine Vorschrift, Art. 137 d Sr., die die Verbrei-
tung einschlägiger Schriften verbot.
Die Strafbarkeit der Rassendiskriminierung in den Niederlanden 605

Merkmal beruhen konnte, das der Täter ihnen selbst zugeschrieben


hatte.
Bei der Einführung dieses Gesetzes dachte man vor allem an Juden
und Katholiken, die damals öfter VOn der extremistischen Presse aufs
Korn genommen und beschimpft wurden. Es hat verschiedene Straf-
verfolgungen anläßlich solcher Äußerungen gegeben.
Ironische Kommentare aus verschiedenen Kreisen hatte übrigens ein
für die Staatsanwaltschaft erfolgreich verlaufener Prozeß zur Folgel l .
Der Täter hatte den wohlhabenden, imposante Häuser im Haager
Villenvorort Wassenaar bewohnenden, seine Pension genießenden
"Volksteil" der ehemaligen holländischen Pflanzer aus den indone-
sischen Kolonien beleidigt. Man konnte sich die "Kolonialisten" eher
als Täter denn als Opfer vorstellen.

111. Das System des neuen Gesetzes


Der Gesetzgeber hat sich bei der Integration VOn Artikel 2 des Ab-
kommens in das niederländische Strafrecht für eine systematische
Doppelgleisigkeit entschieden. Einerseits mußte die Diskriminierung
im öffentlichen Bereich bekämpft werden. Dabei dachte man haupt-
sächlich an den Schutz ethnischer und kultureller Minderheiten vor
ihnen möglicherweise drohenden Maßnahmen VOn Beamten und pri-
vaten Verbänden und Organisationen. Verletzungen dieser Vorschrif-
ten, die an die Stelle des oben erwähnten Artikels des Strafgesetz-
buchs traten, hat man als Verbrechen qualifiziert.
Andererseits waren Strafandrohungen für widerrechtliche Unter-
scheidungen auf privater Ebene erforderlich. Hier wollte der Gesetz-
geber eine größere Zurückhaltung üben, weil er die Notwendigkeit,
diskriminierende Handlungen zu bekämpfen, und die damit verbun-
denen Einschränkungen anderer elementarer Grundrechte wie die
Freiheit der Meinungsäußerung und die Versammlungs- und Vereins-
freiheit gegeneinander abzuwägen hatte. Diese Strafbestimmungen
wurden deshalb nicht als Verbrechen, sondern als übertretungen ein-
geordnet.
IV. Die Verbrechen
In dieser Kategorie möchte ich mich auf die Artikel 137 c Sr. und
137 d Sr. beschränken12 • Artikel 137 c Sr. enthält eine Strafandro-
hung für denjenigen, der sich öffentlich13 in mündlicher oder schrift-
11 HR 17. April 1939, NJ 1939, Nr. 927.
1Z Art. 137 e Sr., eine Strafvorschrift bezüglich der Veröffentlichung und
Verbreitung solcher Äußerungen, behandle ich hier nicht.
13 Auf dieses Element kann ich nicht näher eingehen, möchte jedoch dazu
bemerken, daß die Tatsache, daß "die Öffentlichkeit" die Äußerung zur Kennt-
606 Jan Remmelink

licher14 Form bzw. durch Abbildungen l5 vorsätzlich in beleidigender


Weise über eine Gruppe von Personen äußert, die sich durch Rasse,
Glauben oder Weltanschauung unterscheidet. Der zweite Artikel be-
trifft Personen, die öffentlich usw. (siehe oben) zum Haß bzw. zu dis-
kriminierenden Handlungen oder zu Gewalttaten gegen Personen oder
deren Besitz - wegen ihrer Rasse usw. (siehe oben) - aufstacheln.
Vergleicht man den Wortlaut mit dem der dreißiger Jahre, so zeigt
sich, daß der Gesetzgeber auf die Bedingung, daß die Beleidigung
eine sich in den Niederlanden befindende Gruppe von Personen be-
treffen muß, verzichtet hat. Auch eine Agitation gegen außerhalb un-
serer Grenzen lebende Volksgruppen, z. B. Mexikaner oder Indianer,
fällt nun unter das Gesetz. Auch hat der Gesetzgeber keine besonderen
Anforderungen an die Form der Beleidigung gestellt, so daß jetzt auch
sehr gehässige, jedoch neutral "verpackte" Verunglimpfungen, deren
beleidigender Zweck trotzdem deutlich sichtbar ist, bestraft werden
können. Während früher erst ein deutlicher Ausdruck wie "Mistger-
manen" beleidigend war, genügt zur Zeit schon die Beschuldigung, ein
im Westen Europas lebendes blondes Volk begehe am laufenden Band
die abscheulichsten Verbrechen.
Bei der Übernahme der im Abkommen niedergelegten Vorschriften
hat der niederländische Gesetzgeber sich nicht auf die verbotene Unter-
scheidung nach der Rasse beschränkt, sondern die Diskriminierungs-
gründe Religionsgemeinschaft und Weltanschauung hinzugefügt. Zu
den beiden letzteren Kategorien das Folgende:
Der Begriff Religionsgemeinschaft wird in der Praxis wohl kaum
zu Problemen führen, obwohl man vielleicht bei gewissen, nach den
nis nehmen kann, entscheidend ist. Andererseits wird bei einer auf eine Post-
karte geschriebenen Beleidigung nicht davon ausgegangen, daß sie an "die
Öffentlichkeit" gerichtet ist (NoyonlLangemeijer, 7. Aufl., H, S. 150). Ein kom-
pliziertes Problem ist das Interview. Hat sich Glimmerveen, der frühere Vor-
sitzende einer faschistoiden Partei (Nederlandse Volksunie), als er sich von
der Haagse Post interviewen ließ, "in der Öffentlichkeit" geäußert? Der Staats-
anwalt, Dr. Mijnssen, bestritt das (Trouw, 24. April 1982). Ich frage mich je-
doch, ob jemand, der in einem für die Presse, den Rundfunk oder das Fern-
sehen bestimmten Interview Beleidigungen äußert, nicht ein Instrument be-
nutzt, das sich an einen großen Leser-, Hörer- bzw. Zuschauerkreis richtet.
Er spricht (indirekt) zur Öffentlichkeit.
14 Die gesamte Schrift ist entscheidend, nicht nur ein einzelner Teil (HR
22. Dezember 1981, NJ 1982, Nr.178). Auch Schallplatten usw. gelten als
Schriften. Hitlers Beschimpfungen der Juden dürfen also nicht öffentlich
abgespielt werden. Auch die Ausstellung von für Juden verletzenden Passagen
aus "Mein Kampf" in Schaufenstern halte ich für unzulässig. Viele solcher
Provokationen werden aber unter den hier nicht behandelten Artikel 137 e
Sr. fallen können.
15 Gebärden gehören nicht dazu. Wer vor einer Synagoge steht und den
Arm zum Hitlergruß erhebt, fällt deshalb nicht unter diesen Artikel. Es er-
füllt aber vermutlich den Tatbestand der Beleidigung eines oder mehrerer
Synagogenbesucher (durch eine tatsächliche Handlung).
Die Strafbarkeit der Rassendiskriminierung in den Niederlanden 607

Maßstäben unserer Gesellschaft nicht gerade hoch eingeschätzten Sek-


ten seine Zweifel haben kann. Ich denke hier z. B. an die sogenannte
Satanskirche oder an die Scientology Church - Kirche der christlichen
Wissenschaft. Trotzdem muß man vorsichtig sein, wenn man bestimmten
Gruppen den gesetzlichen Schutz vorenthält, weil der Vorwurf der Dis-
kriminierung einen selbst schnell treffen kann. Selbstverständlich hat
der Gesetzgeber nicht nur an die christliche oder die jüdische Religion
gedacht, sondern an alle Religionsgemeinschaften, die an die Existenz
einer übernatürlichen Macht glauben. Ist das nicht der Fall, so kann man
auf die Kategorie "Weltanschauung" zurückgreifenu. Aber auch dann
muß es sich um eine für die betreffende Person heilige oder wenigstens
existenzielle Auffassung vom Sinn seines Lebens und der damit ver-
bundenen Lebensweise handeln. Eine politische Überzeugung wird
normalerweise nicht darunter fallen, auch nicht die von Tierschützern,
Ökologen oder Naturheilern. Möglich ist jedoch, daß manche solcher
Überzeugungen eingebettet sind in oder sich vertieft haben zu einer
Weltanschauung.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch anführen, daß das nieder-
ländische Strafrecht seit den dreißiger Jahren noch eine - hauptsäch-
lich zum Schutz der christlichen Religion geschaffene - besondere
Strafbestimmung kennt, nämlich Artikel 147 sub 1 Sr. Dieses Verbot
betrifft die "verächtliche Gotteslästerung". Seine Wirkung hat der
Hoge Raad der Nederlanden in seiner Entscheidung vom 2. April 196817
im Verfahren gegen den Schriftsteller Gerard Kornelis van het Reve
jedoch praktisch auf Null reduziert, als er forderte, es müsse bewiesen
werden, daß der Angeklagte wirklich beabsichtigt hat, die Gottheit zu
beleidigen. Das wurde in diesem Fall nicht angenommen, obwohl der
(katholische) Autor unseren Herrgott (mit - wie ich glauben möchte -
den besten Absichten) mit einem kleinen Esel verglich, zu dem er
sexuelle Beziehungen unterhielt. Hätte man diese Strafbestimmung
nicht praktisch entschärft, so hätten die christlichen Teile der Bevöl-
kerung auf diese Weise, sei es auch indirekt, über einen zusätzlichen
Schutz gegen sie verletzende Äußerungen verfügt. Andererseits wurde
durch diese - übrigens gesetzeshistorisch verantwortbare - Ausle-
gung großem Unheil vorgebeugt, denn vermutlich wäre diesem Pro-
zeß eine unendliche Zahl wenig erfreulicher Verfahren gefolgt: die
rabies theologorum, bekämpft schon von Luther, kommt bei uns noch
ziemlich häufig vor.

15 Die Regierung hatte selbst zu Anfang vorgeschlagen: "Grundlage ihrer


Weltanschauung", ließ diese Formulierung aber wieder fallen, als die Zweite
Kammer einwandte, sie sei zu ungenau. Vgl. Jl/Iemorie van Antwoord, Bijlagen
Tweede Karner 9724, Nr. 6.
17 NJ 1968, Nr. 373.
608 J an Remmelink

Ich möchte nun den für meine Abhandlung so wichtigen Begriff


"Rasse" näher in Augenschein nehmen. Man darf wohl davon ausge-
hen, daß der Gesetzgeber hier an die Bedeutung anknüpfen wollte, die
das Abkommen seiner Definition der Rassendiskriminierung (Art. 1)
zugrundelegt. Dort wird die Methode angewandt, daß zunächst von
Rasse gesprochen wird, dann aber kennzeichnende Eigenschaften hin-
zugefügt werden, die man auch in der Praxis meistens als typisch für
diesen Begriff antrifft. Anders gesagt: Ist eine dieser zusätzlichen
Eigenschaften vorhanden, so braucht man den Kernbegriff selbst nicht
mehr anzuwenden. Die außer der Rasse (im engeren Sinne) aufgeführ-
ten Elemente sind die nationale und ethnische Abstammung, die Haut-
farbe und die Herkunft.
Unter der nationalen Abstammung muß man sich die Zugehörigkeit
zu einem Volk vorstellen, d. h. zu einer Gruppe von Menschen mit
einer gewissen Anzahl gemeinsamer Merkmale (physische Eigenschaf-
ten und/oder Sprache und/oder homogene Kultur), vor allem aber mit
einer in einem bestimmten Territorium gemeinsam durchlebten Ver-
gangenheit. Gemeint ist hier nicht die "Nationalität" im rein juristi-
schen Sinne der Staatsangehörigkeit, sondern Nationalität in der
ethnographischen Bedeutung, die eine völkerkundlich abgrenzbare
Gruppe bezeichnet. Das deutsche Volk befindet sich nach diesen Maß-
stäben sowohl in der Bundesrepublik wie in der DDR. Natürlich ist
dieses Kriterium aus politischer Sicht anfechtbar. So hörte ich am
3. Januar 1984 im Radio noch eine Äußerung des syrischen Präsiden-
ten, der sagte, Syrien und Libanon seien zwar verschiedene Staaten,
aber Syrer und Libanesen seien ein Volk: eine Auffassung, die man
wohl nicht überall mit dem gleichen Enthusiasmus teilen wird. Manch-
mal sind Volk und Staat praktisch identisch; das ist z. B. der Fall in
Israel. Für den Vatikanstaat trifft - meiner Auffassung nach - eher
das Gegenteil zu. Ein schwieriges Problem scheint auch Belgien zu
sein: "Er is een Belgische Koning, er is veel Belgische vertoning (Schau-
stellung), er is een Belgische vlag, en een Belgisch lied, maar BeIgen,
BeIgen, die zijn er niet" dichtete der flämische Aktivist Rene de Clercq
(ich zitiere ihn aus dem Gedächtnis). Ich selbst denke jedoch anders
darüber.
"Ethnische Abstammung" ist sicher ein umfassenderer Begriff. Hier-
bei spielt z. B. die gemeinsam erlebte politische Vergangenheit inner-
halb eines bestimmten Grundgebiets keine Rolle, auch die Sprache
nicht, eher vielleicht die Verwandtschaft der Sprachen. Weiter gibt es
äußerliche Kennzeichen, obwohl das hier auch kein Muß ist (siehe un-
ten). Wenn man annimmt, daß die "Germanen" keine gemeinsame Na-
tionalität haben (was jeder gutwillige Europäer bestätigen wird), wird
man doch wohl zugeben wollen, daß von einer gemeinsamen ethnischen
Die Strafbarkeit der Rassendiskriminierung in den Niederlanden 609

Abstammung gesprochen werden kann. Auch Holländer und die süd-


afrikanischen Buren sehe ich als ethnische Verwandte, ebenso wie viel-
leicht die Malaien in Malaisien und Indonesien oder Finnen und Un-
garn.
Der Ausdruck "Herkunft" (descent) ist problematisch. Er wurde auf
ausdrücklichen Wunsch Indiens in das Abkommen aufgenommen, ohne
daß dieses Land eine nähere Erklärung dazu gab. Vielleicht meinte
Indien den Begriff "Kaste", der dort in einem in der Verfassung nie-
dergelegten Diskriminierungsverbot vorkommt (Art. 15 Abs.2), jedoch
zusammen mit anderen Gründen, darunter Rasse, so daß diese Unter-
stellung anfechtbar ist. Es paßt übrigens nicht gut zu diesem Vertrag,
auch die soziale Herkunft als Diskriminierungsgrund zu akzeptieren18 •
Da die Herkunft an sich nichts mit "Rasse" zu tun hat, wird man die-
sen Begriff, wenn man ihm eine Rolle zubilligen will, mit anderen
Elementen verbinden müssen, mit denen zusammen er sich wohl auf
rassistische Aspekte erstreckt. Man könnte hier z. B. an den Ort den-
ken, wo eine Gruppe ursprünglich herkommt: Indonesier, Ambonne-
sier (Molukker), Marokkaner, Antillianer oder Türken. Auch Weiße
können darunter fallen. Weiter hat man angeführt, daß man auch
Erscheinungsformen von Antisemitismus in dieser Kategorie unter-
bringen könnte. Ich denke dabei an die Definition des Begriffs "Jude"
in den damaligen Nürnberger Gesetzen zum Schutz des deutschen
Blutes, in denen (roughly speaking) jüdische Großeltern ausschlag-
gebend waren19 • Diese brauchten nicht unbedingt zu einer nationalen
oder ethnischen Gruppe zu gehören. Die Eintragung als Mitglied einer
jüdischen Gemeinde war entscheidend. Es erscheint annehmbar, daß
man es wegen der Undeutlichkeit des Begriffes "Herkunft" und wegen
der anderen ausreichenden Elemente wie ethnische und nationale Ab-
stammung nicht für unbedingt nötig hielt, ihn in die eigenen Gesetz-
gebungen zu übernehmen. In den britischen Race Relations Acts habe
ich ihn nicht gefunden. Er fehlt ebenfalls in einer österreichischen
Strafvorschrift, die dem unten näher zu erörternden Artikel429 qua-
ter Sr. vergleichbar ist 20 •

18 In diesem Sinne auch N. Lerner, The UN Convention on the elimination


of all forms of racial discrimination, Leiden 1979, S. 44, und A. A. N. M. Barn-
hoorn, NJB 1977, S.969. Siehe hierzu auch E. W. Vierdag, The concept of
discrimination in international Law, Den Haag 1973, und ein Artikel des-
selben Autors in NRC-Handelsblad vom 3. März 1975.
19 Jude ist - laut § 5 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom
14. November 1935 -, wer von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen
Großeltern abstammt. Im zweiten Absatz von § 2 wird bei der Definition von
"volljüdisch" wieder auf das Glaubensbekenntnis verwiesen: "Als voll-
jüdisch gilt ein Großelternteil ohne weiteres, wenn er der jüdischen Reli-
gionsgemeinschaft angehört hat". Vgl. I. W. M. Schröder, NJB 1936, S. 1013.
20 Grundrechte 1983, S. 631.

39 Festschrift für H.-H . .Tescheck


610 J an Remmelink

Der Begriff Hautfarbe braucht nicht näher erläutert zu werden.


Er wird jedoch (und das gilt übrigens auch für ethnische Abstammung)
in solchem Maße mit "Rasse" assoziiert (die weiße, die gelbe, die
schwarze Rasse), daß man sich fragt, ob es, wenn man die bereits ge-
nannten einzelnen Elemente in Betracht zieht, noch einen Rassenbegriff
gibt, der diese Elemente nicht enthält. Es bleiben dann nur Merk-
male wie Körperbau, Art der Fortbewegung, Artikulation oder Aus-
sprache, way of living. Auch kann man historische, religiöse oder all-
gemein kulturmäßige Fakten hinzuziehen, aber dann sind wir wieder
bei den bereits erwähnten zusätzlichen Gründen bzw. Eigenschaften.
Vermutlich wird man, abhängig von Zeit, Ort und Umständen, ein-
mal dem einen, dann wieder dem anderen Merkmal mehr Bedeutung
beimessen. Die Schlußfolgerung muß jedoch immer sein, daß man den
Begriff "Rasse" nicht scharf umreißen kann. Es ist ein Sammelbegriff.
Auch mit dem biologisch-genetischen, also dem "wissenschaftlichen"
Begriff "Rasse" kann man hier nichts anfangen, allein schon deshalb
nicht, weil er, wenn ich richtig informiert bin, auch in der Wissenschaft
selbst umstritten ist. So schreibt z. B. der 1965 mit dem Nobelpreis für
Medizin ausgezeichnete Francois J acob "Le concept de race a perdu
toute valeur operatoire"21. Im gleichen Sinne äußert sich auch Schrö-
der 22 • Hier ist auch auf die Präambel unseres Abkommens hinzuwei-
sen23 . Aber auch wenn man in genetischer Hinsicht kaum etwas mit
diesem Begriff anfangen kann ("je peux etre plus proche de tel Me-
lasien ou de tel Lapon que du garde-champetre de mon village" , wie
der Genetiker Albert Jacquard feststeIlt 24 ), so wird man doch dem ge-
sellschaftlichen Phänomen, daß Gruppen von Menschen wegen ihrer
"Rasse" als minderwertig betrachtet oder behandelt werden, Rechnung
tragen müssen. Dies ist eine "Jahrhunderte alte Sache" (Norbert Elias).
Selbst habe ich es als AG in einem Gutachten vor dem Hoge Raad 25
schon einmal wie folgt formuliert: "Es liegt an der Art einer Gruppe
von Menschen, ob sie in der Gesellschaft als "unterscheidend" oder

21 Jacob, in: M. OIender (Hrsg.), Racisme, Mythes et Sciences, 1981, S. 109.


22 Ebenda, S. 1010.
23 Bei der UNESCO hat man versucht, eine Definition des Rassenbegriffes
im biologischen Sinne aufzustellen. So hat man es in der "Sub-commission
on Proteetion of Discrimination and Protection of Minorities" mit einer 1950
aufgestellten Begriffsbestimmung versucht, die lautete: "A group or popula-
tion characterised by some eoneentrations, relative as to frequeney and
distribution, of hereditary particles (genes) or physieal charaeters, which
appear, fluetuate and often disappear in the course of time by reason of
geographie and/or eultural isolation". Weiter ausgearbeitet wurde dieses bio-
logische Konzept jedoch nicht. Hierzu eingehender Barnhoorn (Anm.18),
S. 970, der selbst weitere Literatur aufführt.
24 Jacquard, in: Olender (Hrsg.) (Anm. 21), S. 36.

25 Entscheidung vom 15. Juni 1976, NJ 1976, Nr. 551.


Die Strafbarkeit der Rassendiskriminierung in den Niederlanden 611

"kennzeichnend" erfahren wird". Ich gebe zu, daß das eine grobe Faust-
regel ist, aber ich glaube, daß etwas Wahres daran ist.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine Erwägung in
der Entscheidung des House of Lords vom 28. Februar 1983, die ich
nach dem unten näher bezeichneten Gutachten meines Amtskollegen
Professor Leijten zitiere: "that ethnic origins in the context of ... pro-
vision means a group which is a segment of the population distinguished
from others by a sufficient combination of shared customs, beliefs,
traditions and characteristics derived from a common or presumed
common past, even if not drawn from what in biological terms was
a common racial stock, in that it was that combination which gave them
an historically determined so ci al identity in their own eyes and in
those outside the group; that Sikhs are in that sense a racial group
defined by reference to ethnic origins for the purpose of the Act, al-
though they are not biologicaUy distinguishable from the other peoples
of the Punjab".
Das impliziert, daß ein eventuelles Argument, die betreffende Be-
völkerungsgruppe sei keine Rasse, im allgemeinen wenig Effekt haben
wird. So kann man nicht, wie dies einer Meldung der niederländischen
Presse vom 13. September 1979 zufolge ein Rechtsanwalt vor dem
Landgericht Bückeburg (BRD) - ich nehme an, vergeblich - getan hat,
auf die sehr unterschiedlichen biologischen Merkmale der Juden hinwei-
sen und anführen, die Juden seien daher keine Rasse. Auch in der oben
zitierten Entscheidung der "Law Lords" wurde das Argument bestrit-
ten, daß "Sikhs were not a racial group". In diesem Rahmen ist auch
eine niederländische höchstrichterliche Entscheidung 26 über "Surinamer"
erwähnenswert, denen auch bestritten wurde, daß sie zu einer bestimm-
ten Rasse gehörten. Das Wort "Surinamer" ist jedoch bei uns nichts
anderes als ein populäres Synonym für "Farbige aus Surinam".
Es ist nicht möglich, den Begriff Rasse so weit auszudehnen, daß man
alles in ihm unterbringen kann. So wird man jemandem, der es auf
"Junkies" abgesehen hat, wohl nicht unterstellen können, daß er eine
"Rasse" beleidigt habe. In diesem Sinne interpretiere ich auch die
Stadtverwaltung von Groningen (NL), die fand, daß das Schild "Ver-
boten für Junks" in der Bolly Bar hängen bleiben durfte 27 • Es handelt
sich hier nämlich nicht um unfreiwillige Eigenschaften einer Gruppe
von Menschen; es sind Süchtige, die, wenigstens aus prinzipieller
Sicht, in den Augen der Gesellschaft ein verwerfliches Leben führen.
(Dies letztere gilt m. E. wiederum nicht für Wohnwagenbewohner,

26 HR 15. Juni 1976, NJ 1976, Nr. 551.


27 Nieuwsblad van het NOQrden, 13. Mai 1982.

39*
612 J an Remmelink

obwohl auch bei diesen die - hier akzeptable - Freiwilligkeit domi-


niert, also keine "Rasse").
Weniger Toleranz kann ich für den Markthändler aufbringen, der
T-shirts verkaufte mit der Aufschrift "I love to make love" auf der
Vorderseite und "but not with you Turkey" und dem Kraftausdruck
,,fuck off" auf der Rückseite. Es mag wohl wahr sein, daß "turkey" im
Englischen nicht mehr bedeutet als Truthahn, Esel, Dummkopf oder
schlechter Schauspieler; in der breiten Öffentlichkeit wird man diesen
Ausdruck jedoch anders auffassen: man wird "Türke" darunter ver-
stehen, und das halte ich für entscheidend. Im Augenblick läuft in die-
ser Sache ein Strafverfahren beim Landgericht Alkmaar28 •
Für den Begriff "Menschengruppe" gilt m. E. das gleiche, was die
Lehre früher zu dem Begriff "Bevölkerungsgruppe" in Art. 137 c Sr.
(abgeschafft) unseres Strafgesetzbuchs gesagt hat, wenigstens soweit
man annahm, daß die Beleidigung nicht nur eine Person betreffen
mußte, sondern eine Mehrheit von Personen. Aus diesem Grunde halte
ich es auch nicht für möglich, um noch einmal auf die "Herkunft" (des-
cent) zurückzukommen, daß man diesen Artikel auf Beleidigungen
wegen unehelicher Geburt anwenden kann. In solchen Fällen muß man
sich eben an die strafrechtlichen Bestimmungen für die "normale"
Beleidigung halten (Art.266 Sr.). Auch hier möchte ich gelten lassen,
was in der oben erwähnten Lehre angenommen wurde, daß nämlich
die Personen, die in den beleidigenden Äußerungen gemeint sind, in
einem auf ihre gemeinsamen Eigenschaften abzielenden Ausdruck zu-
sammengefaßt werden müssen. Das kann ein völlig objektives ge-
meinsames Merkmal sein (eventuell sogar das Staatsgebiet, in dem
sie wohnen), aber auch eine Eigenschaft, die überwiegend der Phan-
tasie des Agitators entsprungen ist, vor allem, wenn die Bezeichnung
mit einer Verächtlichmachung zusammenfällt. Ein Beispiel: "Weg mit
den durch Europa ziehenden dreckigen Landstreichern und Laden-
dieben aus dem Balkan", womit man dann das Volk der Zigeuner
meint.
Wie objektiv und neutral das gemeinsame Merkmal auch sein mag,
der Grund der Beleidigung muß eine Eigenschaft sein, die (dem Agi-
tator zufolge) die zu dieser Gruppe gehörenden Menschen abwertet.
Wer den Holländern nachsagt, daß ihr Boden stinkt, den Deutschen,
daß ihr Rhein ein offener Abwässerkanal sei oder den Schotten, daß
man ihren Whisky nicht trinken könne, richtet sich nicht gegen die
Menschen dieser Gruppe als solche. Genau wie die normale Beleidi-
gung muß die Äußerung - sei es auch kollektiv - "ad homines" ge-

28 Trouw, 4. Januar 1984.


Die Strafbarkeit der Rassendiskriminierung in den Niederlanden 613

zielt sein29 , muß es sich um eine "minderwertige" Eigenschaft einer


Gruppe von Menschen handeln. Aus diesem Grund kann man auch
keine juristischen Personen unter diese Schutzbestimmungen fallen
lassen. In manchen Fällen könnte man jedoch argumentieren, daß -
obwohl die Wahl der Ausdrücke die juristische Person betrifft - in
Wirklichkeit die Menschen gemeint sind, die diese juristische Person
vertreten 30 •
Im zweiten Artikel, der zwar nicht ausdrücklich von einer "Gruppe"
von Menschen spricht, sich aber durch die Pluralform "Menschen" wohl
ebenfalls auf eine Kollektivität bezieht, wird zunächst die Aufhetzung
zum Haß unter Strafe gestellt. Ich glaube, daß der Wortlaut klar ge-
nug ist. "Aufhetzen" umfaßt mehr als "Anstiften". Es trifft auch dann
zu, wenn jemand selbst schon die Initiative ergriffen hat, durch die Auf-
stachelung aber noch zusätzlich stimuliert wird. Das Wort "Haß" darf
man nicht zu sehr im psychologischen Sinne auffassen, auch Verächt-
lichmachung, Verachtung gehören dazu. Vielleicht können wir hier
etwas aus den sogenannten "haatzaai"-Artikeln (Säen von Haß) lernen,
die zur Kolonialzeit in den Gesetzen der niederländischen Kolonien
in Südostasien standen und die die heutige indonesische Regierung
beibehalten hat. Darin wurde verboten, in der Öffentlichkeit feind-
selige Gefühle, Haß oder Verachtung einer oder mehreren Gruppen
der niederländisch-indischen Bevölkerung gegenüber zu äußern 31 •
Wichtiger ist jedoch das in diesem Artikel an zweiter Stelle nieder-
gelegte Verbot der Aufhetzung zur Diskriminierung. Der holländische
Gesetzgeber hat in Titel9 von Buch 1 des Strafgesetzbuchs (Erläute-
rungen und Sachbegriffe) eine Umschreibung gegeben (Art.90 qua-
ter Sr.): "Jede Art der Unterscheidung, jede Ausschließung, jede Be-
schränkung oder Bevorteilung, die bezweckt oder bewirken kann, daß
die Anerkennung, die Nutznießung oder die Ausübung der Menschen-
rechte und der fundamentalen Freiheiten auf gleicher Ebene im poli-
tischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich oder auf an-
deren Gebieten des öffentlichen Lebens unmöglich gemacht oder ein-
geschränkt wird". Die (propagierte) Diskriminierung darf sich, wie
bereits gesagt (Artikel 137 d Sr.), nicht gegen eine Rasse (Sammelbe-
griff), eine Religionszugehörigkeit oder eine Weltanschauung richten.
Oben wurde bereits ausgeführt, daß man auch aus vielen anderen

29 Siehe auch HR 10. März 1981, NJ 1981, Nr. 385 zur Anwendung von Arti-
kel 14 EMRK; die ungleiche Behandlung muß einen Grund oder ein Motiv
haben, das in dem persönlichen Status, durch den Personen oder Gruppen
voneinander unterschieden werden, gelegen ist. In diesem Sinne auch bereits
HR 7. Januar 1975, NJ 1975, Nr. 206.
30 So auch die Antwortnote an die Zweite Kammer, Bijlagen Tweede
Karner 9724, Nr. 6.
31 Siehe hierzu J. N. J. Schepper, NJB 1936, S. 361 ff. und 409 ff.
614 J an Remmelink

Gründen rechtswidrig diskriminieren kann, z. B. nach dem Geschlecht,


aber das ist hier nicht von Belang.
In den Begriffsbestimmungen, die die Straßburger Instanzen32 zu Ar-
tikel26 EMRK von der Diskriminierung gegeben haben, wurde nach-
drücklich betont, daß eine Unterscheidung, für die es einen objektiven
und billigen Grund gibt, nicht unter den Begriff der Diskriminierung
fällt. So kann man schwerlich Klage erheben, wenn Studenten "dis-
kriminiert" werden, die bei einer Prüfung durchfallen, weil sie den
Lehrstoff nicht genügend beherrschen.
Wie dem auch sei, ich meine, daß Unterscheidungen nach Rasse, Re-
ligion oder Weltanschauung an sich schon niemals als billig oder ob-
jektiv bewertet werden können, weil es keinen sinnvollen Zusammen-
hang 33 zwischen dem Umstand, auf dem die unterschiedliche Behand-
lung basiert und dem betreffenden (verletzten) Recht gibt. Dahingehend
äußerte sich auch der damalige Justizminister de Ruiter in der Zwei-
ten Kammer am 12. März 1981 34 •
Das Gesetz zählt die Rechte und Freiheiten nicht ausdrücklich auf.
Der Richter wird diese "finden" müssen, sagte die Regierung in ihrer
Antwort an das Parlament. Er wird jedoch an der Aufzählung, die das
Abkommen in Artikel 5 enthält, eine reiche Fundgrube haben. Im
übrigen denkt man auch an die Rechte usw., die im Gesetz oder in
durch die Niederlande ratifizierten Verträgen zu finden sind: Grond-
wet (Art. 1 bis 23), EMRK, UN-Vertrag, Europäische Sozialcharta.
Bei uns wurde - im Gegensatz z. B. zu der vergleichbaren belgischen
Strafvorschrift - die Segregation (global gesagt: die Apartheid) nicht
noch einmal neben der Diskriminierung ins Gesetz aufgenommen. Un-
sere Richter werden eine diesbezügliche Aufstachelung aber zweifellos
sehr schnell als Aufhetzung zur Diskriminierung qualifizieren, es sei
denn, daß jemand sich in "weiser Voraussicht" auf die Behauptung be-
schränkt, die Rassen müßten getrennt bleiben, weil eine Vermischung

SI Der Europäische Gerichtshof, 23. Juli 1968 (belgischer Sprachenkonflikt),


u. a. in: Repertitorium van de Rechtspraak betreffende het EV, 1955 - 1980,
herausgegeben vom "Centrum voor Internationaal Strafrecht" der Freien
Universität Brüssel. Vgl. auch Europäische Kommission, 17. Dezember 1976,
Decisions and Reports 1977, Nr. 7, S. 164 ff.
33 Was dann wohl der Grund für Diskriminierungen gewesen ist, braucht
man nicht weiter zu untersuchen; vermutlich ist es nie etwas anderes als
Mißbrauch von Macht gewesen. Rassismus ist - so Narbert Elias in einem
Interview mit dem NRC-Handelsblad (27. Januar 1984) - immer eine Macht-
frage: "Vor hundert Jahren wurden die Industriearbeiter genauso behandelt
wie jetzt ethnische Minderheiten." (Die anderen in diesem Aufsatz zitierten
Worte von Narbert Elias stammen ebenfalls, sei es auch manchmal nicht
wörtlich - aus diesem Interview. R.)
,. liandelingen Tweede Karner 1981, S. 3954.
Die Strafbarkeit der Rassendiskriminierung in den Niederlanden 615

nur zu einer Degeneration beider führen würde. Eine solche Äuße-


rung wäre in den Niederlanden wahrscheinlich nicht strafbar.

v. Die 'übertretungen

Zunächst möchte ich Artikel 429ter Sr. zur Sprache bringen, der
denjenigen mit Strafe bedroht, der an Handlungen teilnimmt oder
diese finanziell unterstützt, die Diskriminierung von Menschen nach
ihrer Rassenzugehörigkeit bezwecken.
Abgesehen von der Möglichkeit einer erfolgreichen Berufung auf
höhere Gewalt, Schuldlosigkeit oder ähnliches genügt hier, da es eine
übertretung betrifft, das simple fait materiel für die Auferlegung der
Strafe. Das letztere bezieht sich hier auf Beihilfe usw. zu rassistischen
Handlungen. Diese brauchen selbst nicht einmal Straftaten zu sein.
Es ist sogar möglich, daß sie im Ausland stattfinden, wo sie von einer
korrupten Staatsgewalt gedeckt werden. Trotzdem ist die in diesem
Artikel erwähnte Beihilfe strafbar, wenn sie innerhalb unserer Gren-
zen geleistet wird. Wer jedoch im Ausland sein Geld für solche Zwecke
zur Verfügung stellt, kann bei uns nicht bestraft werden.
Das Wort "Handlungen" darf übrigens nicht zu weitläufig interpre-
tiert werden. Ich würde das bloße Bestehen einer rassistischen Ver-
einigung oder Partei noch nicht als Handlung bezeichnen, wohl aber
die rassistischen Aktionen einer solchen Gruppe.
Dieser Artikel wurde in der Praxis bisher wenig angewendet. Das
Gegenteil ist bei Artikel429 quater Sr. der Fall, der Strafvorschrift,
die denjenigen betrifft, der in Ausübung seines Berufes oder als Un-
ternehmer Personen nach der Rasse unterscheidet. Unter "unterschei-
den" muß man, so lehrt uns die Geschichte des Gesetzes, auch Hand-
lungen verstehen, die eine unterschiedliche Behandlung zur Folge ha-
ben. Deshalb entschied man sich für eine objektive Auslegung dieses
Begriffes und blieb auf der gleichen Linie mit der oben zitierten De-
finition der Diskriminierung, nach der auch bereits die Folgen den
Ausschlag geben35 •

35 Jetzt, wo der Gesetzgeber ausdrücklich von "unterscheiden" spricht,


würde ich aber nicht jede Handlung, die solche Folgen hat, dazu rechnen.
Die Handlung muß eine gewisse "Eignung" dazu in sich tragen. Wer nur
einen Brief überbringt, in dem einem schwarzen Arbeiter wegen seiner Rasse
gekündigt wird, wird normalerweise kaum beschuldigt werden können, daß
er "nach der Rasse unterscheidet". Natürlich kann man auch die Mentalität
des Handelnden miteinbeziehen (was wußte er, was konnte er wissen usw.),
aber dann fügen wir der Straftat im Grunde genommen ein Vorsatz- oder
Fahrlässigkeitsmerkmal hinzu, das nicht in unser System paßt, in dem bei
übertretungen die bloße Tatsache genügt. Falls jemand in ihm nicht vor-
werfbarer Unwissenheit gehandelt hat (error invincibilis), so hat er zwar die
Tat begangen, aber sie kann ihm nicht angerechnet werden.
616 J an Remmelink

Man wird zugeben müssen, daß dieser Artikel ein weites Feld be-
streicht. Anfänglich hatte der Gesetzgeber eine engere Formulierung
gewählt: er hatte den Geltungsbereich dieses Artikels auf bestimmte
Berufszweige beschränkt (Anbieten von Waren und Dienstleistungen
usw.), während andererseits nicht von "unterscheiden", sondern von
"benachteiligen, zurücksetzen" die Rede war. 1981 hat man den Text
jedoch geändert. Es hatte sich nämlich herausgestellt, daß die inzwi-
schen stark gestiegene Zahl der ausländischen Arbeitnehmer mit aller-
lei verdeckten Formen der Diskriminierung konfrontiert wurde, auch
auf dem anfangs noch nicht unter diese Strafvorschrift fallenden Ar-
beitsmarkt. Außerdem wollte Minister de RuHer auf diese Weise eine
Erscheinung beenden, die - als Auswirkung des arabischen Boykotts
gegen Israel- damals im Brennpunkt des Interesses stand: die "Nicht-
Jude-Erklärung" für Arbeitnehmer niederländischer Firmen, die im
Nahen Osten (Saudi-Arabien) operierten. Man war davon überzeugt,
daß man, vor allem durch die Einführung des neutralen Ausdrucks
"unterscheiden", nun auch die indirekte Diskriminierung bekämpfen
könne. Der Optimismus des Ministers 36 über den Effekt dieser Erwei-
terung des Fangnetzes war, wie der heutige Stand der Entwicklung
zeigt, nicht gerechtfertigt. Die Erklärungen, in denen der Arbeitgeber
bestätigen mußte, daß das Belegschaftsmitglied einer anderen Religion
angehörte als der jüdischen und daß es keine Beziehungen zu Israel
unterhielt, wurden von mehreren Gerichten nicht als "Unterscheidung
nach der Rasse" betrachtet. Das erscheint mir, soweit es nur den zwei-
ten Teil dieser Erklärung betrifft, auch vertretbar, wenn man bedenkt,
daß die Staaten, die diese Bescheinigung fordern, sich im Kriegszu-
stand mit Israel befinden, also in einem völkerrechtlichen Konflikt. Den
ersten Teil der Erklärung halte ich, da Glaube und Volk hier praktisch
zusammenfallen, auch in der Auffassung unseres Gesetzgebers, für
eine Art indirekter Diskriminierung und - piercing the veil - aus
diesem Grunde für unzulässig. Zur Zeit, während ich an diesem Auf-
satz arbeite, werden einige dieser Verfahren (in höchster Instanz) durch
den Hoge Raad der Nederlanden behandelt. Mein bereits oben er-
wähnter Kollege, Professor Leijten, hat in seinem Plädoyer den glei-
chen Standpunkt eingenommen, den ich hier verteidigt habe.
Auch während der Geltung der alten Fassung gab es in der Recht-
sprechung schon eine Tendenz, die indirekte Diskriminierung unter
das Verbot fallen zu lassen. Es ging dabei um Einlaßquoten für Far-
bige in Diskotheken usw., wo man jeweils nur einem bestimmten
Prozentsatz Zutritt gewährte (proportionale Selektion). Der Hoge Raad

36 Vgl. außer den Erläuterungen zum Gesetzesentwurf auch den Bericht


(Kamerstuk 14986) mit dem Titel "De Arabische Boycot in Nederland, verslag
van een schriftelijk overleg". genehmigt am 2. Dezember 1980.
Die Strafbarkeit der Rassendiskriminierung in den Niederlanden 617

stellte sich jedoch auf folgenden Standpunkt37 ( in meinen eigenen Wor-


ten, R.): Ob man nun 10 Ofo oder 80 Ofo Farbige hereinläßt, man unter-
scheidet doch nach der Rasse; der einzelne bekommt aufgrund seiner
Rassenzugehörigkeit nicht, was er sonst wohl bekommen hätte, und
darum geht es schließlich38•
Der niederländische Gesetzgeber hätte sich natürlich auch einer an-
deren Methode bedienen können, indem er die Art der Handlungen,
die den Tatbestand einer indirekten Diskriminierung (in den USA
auch "adverse impact" genannt) verwirklichen, näher bezeichnet hätte,
wie es in England geschehen ist. Unter den dort im (dritten) Race Re-
lations Act von 1976 gestellten Bedingungen findet man u. a. die fol-
gende: "it is such that the proportion of persons of the victim's racial
group who can comply with it is considerable smaller than the pro-
portion of persons not of that group who can comply with it". Außer-
dem wird dort, was für kontinentale Strafrechtssysteme natürlich un-
annehmbar ist, eine Art Umkehrung der Beweislast eingeführt, indem
man fordert: "it cannot be shown by the discriminator to be justifiable
irrespective of the colour, race, nationality or ethnic or national ori-
gins of the persons to whom is applied" .
Ich gebe ohne weiteres zu, daß es äußerst schwierig ist, strafrecht-
liche Instrumente in diesem privaten Bereich anzuwenden. Was soll
man z. B. gegen die noch immer steigende Zahl der Stellenangebote
tun, in denen für die einfachsten Arbeiten "eine gute mündliche und
schriftliche Beherrschung der niederländischen Sprache" zur Bedin-
gung gemacht wird? Man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, daß
sich hier nur Autochthone mit Erfolg bewerben können.
Im allgemeinen wird man unter "Ausübung eines Berufes oder einer
unternehmerischen Tätigkeit" menschliches Handeln verstehen müs-
sen, dessen Haupt- oder Nebenzweck Einkommen oder Gewinn ist. In
der Note zum Abschlußbericht3 9 wurde noch bemerkt, daß aus der
Tatsache, daß eine sich nach außen als Verein oder als geschlossener
Klub präsentierende juristische Person diese Tätigkeit ausübt, noch
nicht ohne weiteres gefolgert werden kann, daß ihre Tätigkeit nicht
auf das Erzielen von Gewinn gerichtet ist. Das gleiche gilt auch für
Tätigkeiten, die einem "guten Zweck" dienen. Sobald die tatsächlichen,
sich nach außen manifestierenden Absichten sich nicht wesentlich von

37 Vgl. HR 1. Juli 1981, NJ 1982, Nr. 176, und 24. November 1981, NJ 1982,
Nr.177.
38 Dieser "Prozentualismus" ist ein alter Trick, um vor allem Juden aus-
zuschließen. Man erinnert sich vielleicht an den früheren numerus clausus
für Juden (max. 10 %) an der Harvard-Universität und für freie Berufe in
Ungarn vor dem Krieg.
39 Bijlagen Tweede Karner 16 115, Nr. 7.
618 J an Remmelink

berufs- oder unternehmensmäßigen unterscheiden, werden sie als


solche betrachtet. Ob jemand einen Beruf ausübt (den ich hier der
Kürze halber als "persönliche Erwerbstätigkeit" definieren will) oder
ein Unternehmen betreibt (in einem kommerziellen bzw. organisato-
rischen Rahmen), ist natürlich im Grunde genommen unwichtig. Da das
Gesetz nun aber beides ausdrücklich erwähnt und unterscheidet, muß
der Staatsanwalt in seiner Anklage gleich zwei Anker auswerfen, wenn
die geringste Unklarheit in diesem Punkt besteht. Ein Staatsanwalt,
der eine juristische Person verfolgt und dann ausschließlich von der
"Ausübung eines Berufes" spricht, macht einen nicht mehr zu kor-
rigierenden Fehler, denn eine juristische Person betreibt, würde ich
sagen, immer ein Unternehmen. Eine solche Situation ergab sich in
einem der Verfahren gegen die Ausstellung einer "Nicht-Jude-Er-
klärung". Das Gericht hat m. E. mit Recht den Angeklagten freige-
sprochen und ich erwarte auch nicht, daß der Hoge Raad diesen Frei-
spruch aufhebt.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch etwas zur Stellung des
Beamten sagen. Man beabsichtigt, ihn bei der Anwendung dieses Ar-
tikels außerhalb der Gefahrenzone zu halten: die travaux parlemen-
taires lassen hier keinen Zweifel bestehen40 • Das bedeutet, daß Stan-
desbeamte und Beamte bei Arbeitsämtern, aber auch Notare und die
Verkaufsstellenleiter der niederländischen Staatslotterie nicht unter
diese Strafvorschrift fallen. Die beiden letzteren Beamten erhalten
zwar keine staatlichen Bezüge und müssen ihr Brot als Unternehmer
verdienen; sie sind aber trotzdem zur Erfüllung einer staatlichen Auf-
gabe berufen. Nun kann man sich kaum vorstellen, daß diese Katego-
rien ausgerechnet diese übertretung begehen. Notare werden aber bei
der Ausstellung der mehrfach erwähnten Nicht-Jude-Bescheinigung
und bei der Beglaubigung der dazu erforderlichen Unterschriften ein-
geschaltet. In seiner Antwort auf Frage des Parlamentsmitglieds Roet-
hof hat Minister de RuiteT erklärt, daß er die Mitwirkung von Notaren
an diesen Bescheinigungen für unvereinbar mit dem Geist und dem
Wortlaut unserer Konvention halte und daß ein Notar damit gegen
die Grundlagen der öffentlichen Ordnung und die guten Sitten ver-
stoße 41 • Das aber ist ihm aufgrund von Art. 50 c des Gesetzes über die
Ausübung des Notaramtes verboten. Ich folgere daraus, daß der Mi-
nister nicht davon ausgeht, daß der Notar sich im Rahmen unseres
Artikels strafbar machen kann. Hierzu möchte ich noch bemerken, daß
die meisten in diesem Zusammenhang relevanten Amtshandlungen

40 Memorie van Antwoord, Bijlagen Tweede Karner 16115, Nr. 5. Vgl. auch
NoyonlLangemeyer, 7. Aufl., I, S.160. Im Steuerrecht wird solch ein öffent-
liches Amt wohl als Unternehmen betrachtet: HR 15. Dezember 1982, Beslis-
singen in Belastingzaken (BNB) 1983, Nr. 45.
41 Handelingen, Tweede Karner, zitting 1974 - 1975, Nr. 839.
Die Strafbarkeit der Rassendiskriminierung in den Niederlanden 619

eines Notars doch nur als Beihilfe bewertet werden müßten, und diese
Art der Teilnahme ist bei übertretungen nicht strafbar (Art. 52 Sr.).

VI. Rechtfertigungsgründe

Bis jetzt bin ich nicht auf die Fälle eingegangen, in denen zwar die
einzelnen Tatbestandsmerkmale der im Gesetz als Verbrechen oder
übertretung rubrizierten Straftat verwirklicht sind, bei denen jedoch
ein Rechtfertigungsgrund vorliegt, so daß die Tat in concreto straflos
bleibt. Nach niederländischem Recht muß der Angeklagte dann für
nicht strafbar erklärt werden.
Zunächst möchte ich auf einen speziellen Rechtfertigungsgrund hin-
weisen, den der Gesetzgeber im 2. Absatz des oben erwähnten Arti-
kels 429quater Sr. hinzugefügt hat: den Unterschied im sozialwirt-
schaftlichen Bereich. Dieser Absatz besagt nämlich, daß der erste nicht
für Maßnahmen gilt (affirmative actions nennt man das in den USA),
die zu einer bestimmten ethnischen oder kulturellen Minderheit gehö-
renden Personen eine bevorzugte Stellung einräumen, um tatsächlich
bestehende Benachteiligungen rückgängig zu machen. (Es ist dabei nicht
erforderlich, daß die kompensierende Maßnahme auch den gewünsch-
ten Erfolg hat.) Der Gesetzgeber hat damit andeuten wollen, daß er
die sogenannte positive Diskriminierung (mit der die indirekte Va-
riante manchmal verknüpft ist) im allgemeinen ausschalten wollte.
Positive Diskriminierung (reverse discrimination) ist nämlich nur an-
genehm für denjenigen, der bevorteilt wird, der Ausdruck verschlei-
ert jedoch die Tatsache, daß gleichzeitig eine andere Gruppe benach-
teiligt wird. Natürlich hätte der Gesetzgeber praktisch das gleiche er-
reicht, wenn er den Ausdruck "Diskriminierung" in den Artikel über-
nommen hätte. Damit hätte er sich aber auf ein gefährliches Pflaster
begeben, weil dieser Begriff, wie wir gesehen haben, zu sehr auf die
Verletzung der Grundrechte abgestimmt ist, und auf diesem Niveau
spielen die hier gemeinten Transaktionen sich normalerweise nicht
ab. Außerdem geht man davon aus, daß die Handlungen "in der Öffent-
lichkeit" stattfinden, und auch das ist meistens nicht der Fall.
Man kann sich vorstellen, daß der Angeklagte sich auch auf andere
fundamentale Rechte beruft, z. B. auf das Recht der Gewissensfreiheit
und die Freiheit der Meinungsäußerung. Ein solcher Rechtfertigungs-
versuch wird hauptsächlich dann eine ernstzunehmende Rolle spielen,
wenn z. B. von Diskriminierung nach dem Geschlecht die Rede ist. Ich
habe nämlich den Eindruck, daß die Grenzen dort nicht immer gleich
scharf gezogen worden sind. Hier ist jedoch weit weniger zu erwarten,
daß sich reale Konflikte ergeben, besonders nicht in der Kategorie der
Verbrechen.
620 Jan Remmelink

Vor einiger Zeit hat J. A. Peters42 hauptsächlich mit dem dem ame-
rikanischen Recht entlehnten Gedanken der public speech, die dem
Recht der freien Meinungsäußerung eine hohe Priorität zuerkennt
(preferred position on free speech), als Ausgangspunkt - seine Ver-
wunderung darüber ausgedrückt, daß es anläßlich der Einführung der
Antidiskriminierungsartikel in den Niederlanden keine fundamentale
Diskussion über die Frage gegeben hat, ob diese Strafvorschriften
keine unzulässige Einschränkung der freien Meinungsäußerung zur
Folge haben (für die USA war dies einer der Gründe, das Anti-Rassen-
diskriminierungs abkommen nicht zu ratifizieren). Nur wenn die be-
treffenden Meinungsäußerungen eine deutliche und direkte Gefahr
erzeugten, wäre das etwas anderes. Dies sei jedoch nicht der Fall.
Die Vorschriften seien nämlich zu vage formuliert und ließen eine
zu weite Auslegung zu. Eine Diskussion über Immigrationspolitik könne
mit Hilfe dieser Artikel verboten werden. Peters bevorzugt die Idee
des "offenen Ideenmarktes" (eine Formulierung des bekannten ameri-
kanischen Richters Holmes) und vertraut auf die reinigende Kraft
der demokratischen Ordnung selbst. In seiner Auffassung liegt es nur
anders, wenn ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Äußerung
und einem Gewaltausbruch anzunehmen ist.
Ich teile seine Meinung nicht. Eine sachliche Diskussion wird m. E.
nicht unmöglich gemacht. So fasse ich auch die Entscheidung HR 4. März
1940, NJ Nr. 830 auf, die sich auf die oben besprochene alte Strafvor-
schrift bezieht: eine Opposition gegen Vertreter von Religionsgemein-
schaften ist im Prinzip zulässig43 • Andererseits hat der Hoge Raad das
Rechtsmittel eines Agitators, der sich auf die Freiheit der Meinungs-
äußerung berief, als unbegründet abgelehnt, und zwar unter Verwei-
sung auf den 2. Absatz von Artikel 10 EMRK44 • Ich gebe aber zu, daß
manche Gegner der Rassendiskriminierung zu weit gehen, wenn sie
die positive Werbung für die eigene nationale Kultur (wie große euro-
päische Staaten das tun: Frankreich mit seiner Alliance Fran\;aise,
England mit seinem British Council, Deutschland mit seinem Goethe-
Institut, sogar Belgien mit seinem in Amsterdam residierenden Insti-

42 Peters, Het primaat van de vrijheid van meningsuitung, Dissertation


Nijmegen, 1981, S. 192.
43 Während ich diesen Aufsatz schreibe (Winter 1983), ist ein aufsehen-
erregendes Strafverfahren gegen zwei Patres anhängig, die in der Wochen-
zeitschrift "De Bazuin" die jüdische Religion scharf kritisiert haben: "Eine
solche Religion müßte abgeschafft werden". Das Landgericht Arnheim kam
zu dem Schluß, daß die "Posaune" den falschen Ton getroffen habe und ur-
teilte, daß es sich hier um eine Beleidigung der Juden wegen ihres Glaubens
handle. Vgl. Trouw, 28. September 1983. Ob Berufung eingelegt wurde, ist
mir nicht bekannt.
44 Vgl. HR 29. März 1983, NJ 1983, Nr. 532.
Die Strafbarkeit der Rassendiskriminierung in den Niederlanden 621

tut für die flämische Kultur) als verkappte Rassendiskriminierung be-


zeichnen. Sie behaupten, von einer niederländischen Nation sei keine
Rede (mehr) und in Wirklichkeit beherberge unser Land eine aus vie-
len Rassen zusammengewürfelte bzw. multi-ethnische Gesellschaft.
Diese Auffassungen sind m. E. nicht nur im Widerspruch zur Realität,
sondern auch zum Vertrag gegen die Rassendiskriminierung selbst, in
dessen Artikel 1 das Selbstbestimmungsrecht der Völker anerkannt
wird, d. h. das Recht, den eigenen politischen Status und die eigene
soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung als Nation zu be-
stimmen. In der Sicht dieser Diskriminierungsgegner wäre eine In-
teressengemeinschaft der Südmolukker auch verwerflich45 • Selbst die
UNESCO geht, wie aus ihrer 1966 abgegebenen Grundsatzerklärung
hervorgeht 46 , von der Daseinsberechtigung verschiedener nationaler
Kulturen aus. Kurz gesagt, es gibt ein "right to be different".
Auch im religiösen Lager betrachtet man die Verschiedenheit der
"Rassen" (d. h. einen Unterschied zwischen Menschengruppen) als einen
Aspekt des Reichtums der Schöpfung. In diesem Sinne hat sich z. B.
eine vom 12. bis 16. Juli 1937 in Oxford abgehaltene internationale
Kirchliche Konferenz über Kirche und Staat ausgesprochen, während
jede Form der Rassendiskriminierung (als Auflehnung gegen Gott)
aufs schärfste verurteilt wurde 47 •

VII. Die Strafen

Für die Verbrechen ist die Höchststrafe ein Jahr Gefängnis, für die
Übertretungen ein Monat bzw. 2 Monate Haft. Sowohl bei den Verbre-
chen als auch bei den Übertretungen kann der Richter anstelle der
Freiheitsstrafe auch eine Geldstrafe von höchstens zehntausend Gul-
den auferlegen. Man muß aber bedenken, daß das niederländische
Strafrecht eine allgemeine Mindestgrenze von einem Tag Haft bzw.
fünf Gulden Geldstrafe kennt, die gegebenenfalls zur Bewährung aus-
gesetzt werden kann und daß der Richter, was die Höhe der Strafe an-
betrifft, im gegebenen Zumessungsspielraum uneingeschränkte Frei-
heit genießt. Seit dem 1. Mai 1983 kann er den Angeklagten sogar ohne
Auferlegung einer Strafe schuldig sprechen, Art. 9 a Sr. Außerdem
muß man beachten, daß die niederländischen Verfolgungsbehörden
nach dem sogenannten Opportunitätsprinzip vorgehen, was ebenfalls
eine beträchtliche Freiheit impliziert; in concreto die Wahl, ob eine
Straftat verfolgt wird oder nicht. Mein Eindruck ist jedoch, daß die
Gerichte gerade auf diesem Gebiet empfindliche Strafen auferlegen

45 Minister de RuiteT in der Zweiten Kammer, 12. März 1981.


48 Vgl. auch S. W. CouwenbeTg, Maandblad Student, November 1983.
47 Vgl. Keesings Historisch Archief 1937, S. 2890.
622 J an Remmelink

und daß die "Verfolgungs freudigkeit" der Staatsanwaltschaften in


diesen Fällen nicht unterschätzt werden darf48 •
Ich habe bereits die Täterschaft einer juristischen Person zur Sprache
gebracht. Seit 1967 ist es in den Niederlanden möglich, außer natür-
lichen Personen auch juristische Personen zu verfolgen und zu strafen,
sei es auch nur mit einer Geldstrafe (vgl. Art.51 Sr.). Außerdem be-
steht die Möglichkeit, juristische Personen als Täter zu klassifizieren,
die Strafverfolgung und Aburteilung jedoch auf diejenigen zu be-
schränken, die als "Leiter" aufgetreten sind. In diesem Fall wird zwi-
schen dem Täter (der juristischen Person) und den Verantwortlichen
(den "Haftbaren") unterschieden. Diese Konstruktion ermöglicht es
der Justiz, Personen, die sonst unangreifbar bleiben würden, für das,
was die Organisation (mittels ihrer Organe und/oder Mitarbeiter) un-
ter ihrer Verantwortung angerichtet hat, zur Rechenschaft zu ziehen.
Die orthodoxen TeiInahmevorschriften, die in diesem Fall wahrschein-
lich den Beweis einer vorsätzlichen Anstiftung erfordern würden, wer-
den damit umgangen.
Eine weitere Möglichkeit wäre es, eine rassistische juristische Person
als eine gesetzlich verbotene Vereinigung einzustufen4~. Dazu besteht
Anlaß, wenn ihr Unternehmenszweck und ihre Tätigkeit die öffent-
liche Ordnung oder die guten Sitten verletzen (Art. 15 Buch 2 BW), und
das letztere ist (vgl. meine einleitenden Betrachtungen) natürlich kein
Problem. Wenn nun eine natürliche Person Mitglied einer solchen Ver-
einigung ist, erfüllt sie den Tatbestand des in Artikel 140 Abs.2 Sr.
definierten Verbrechens und riskiert eine Gefängnisstrafe von maximal
einem Jahr. Gelingt es, die Organisation als eine juristische Person zu
qualifizieren, die die Begehung von Verbrechen bezweckt, so kann die
Teilnahme sogar mit höchstens fünf Jahren Gefängnis bestraft wer-
den (Art. 140 Abs. 1 Sr.).
Eine solche rassistische Organisation kann auf Antrag der Staats-
anwaltschaft durch das Landgericht aufgelöst werden (Art. 16 Buch 2
BW) und verliert damit ihre Rechtsfähigkeit. Ob man jedoch mit sol-
chen Maßnahmen (es wurde einmal mit nicht gerade durchschlagendem
Erfolg versucht50 ) viel erreicht, ist eine offene Frage. Man braucht

48 So auch Minister Korthals Altes bei der Debatte über den Justizetat in
der Zweiten Kammer: "Es gibt praktisch keine Einstellungen des Verfahrens
aufgrund verfolgungspolitischer Erwägungen", NRC-Handelsblad, 2. Februar
1984.
49 Man hat auch auf ein ausdrückliches Verbot rassistischer Parteien usw.
gedrängt, wie z. B. nach dem Zweiten Weltkrieg die Nationaal Socialistische
Beweging (NSB) und ihr verwandte Organisationen verboten wurden (Ver-
ordnung vom 17. September 1944 S. E. 102). Dieses Verbot wurde aufgehoben.
60 Es betraf hier die Nederlandse Volksunie. Sie galt als "verbotene Ver-
einigung", aber das Landgericht entsprach dem Antrag auf Auflösung trotz-
Die Strafbarkeit der Rassendiskriminierung in den Niederlanden 623

nicht viel Phantasie, um sich vorstellen zu können, daß der Drache


auch nach dem Abschlagen des juristischen Kopfes weiterlebt.

Vlß. Andere Methoden

Mit dem letzten plastischen Vergleich habe ich bereits angedeutet,


was ich hier noch in aller Kürze besprechen möchte: die Möglichkeiten,
diese Mißstände anderweitig zu bekämpfen. Niemand wird bestreiten
wollen, daß ein so tief in unserer abendländischen Gesellschaft verwur-
zeltes übel einer gründlicheren Kur bedarf, als mit dem Strafrecht
allein möglich ist.
Im vorigen Jahr (1983) organisierte die Freie Universität Amster-
dam auf Initiative der Hochschullehrer und Dozenten des Utrechter
Willem Pompe-Instituts einen mehrtägigen Kongreß, auf dem viele
Möglichkeiten zur Sprache kamen. Die dort gehaltenen Vorträge und
Vorlesungen sowie die damit verbundenen Diskussionen und formu-
lierten Standpunkte usw. wurden in einem Sammelband zusammen-
gefaßt, der den Titel "Recht en raciale verhoudingen" erhielt (Arn-
heim 1983). Wichtige Gesetzes- und Vertragstexte wurden hinzugefügt.
In diesem Rahmen kann ich nicht einmal in großen Zügen wiederge-
ben, was hier zusammengetragen wurde. Ich nenne deshalb nur einige
Punkte, will dem Leser jedoch die Umschlagzeichnung des bekannten
Karikaturisten Opland von der Tageszeitung "De Volkskrant" nicht
vorenthalten:
1. Als erste Möglichkeit will ich hier ein auf Art. 1401 BW (uner-
laubte Handlung) gestütztes Zivilverfahren nennen, und zwar in der
Form einer einstweiligen Verfügung, die die BetroffenenS1 oder eine
Organisation der BetroffenenS2 beim Präsidenten des Landgerichts er-
wirken. Mit diesem in den Niederlanden in den letzten Jahrzehnten
schnell populär gewordenen Rechtsinstrument kann kurzfristig das
gewünschte Resultat, z. B. mit einem Zwangsgeld, erreicht werden.

dem nicht. Vgl. HR 9. März 1979, NJ 1979, Nr. 363, mit kritischem Kommentar
von Maeijer.
51 Ein Beispiel: Ein türkischer Gastarbeiter, der sich bereits seit 1973 in
den Niederlanden aufhält, verklagt die Wohnungsbaugesellschaft "Binderen"
in Helmond. Beantragt wird, "Binderen" unter Androhung eines Zwangs-
geldes aufzutragen, ihm innerhalb einer Woche nach Zustellung des Urteils
eine Wohnung zuzuweisen. Im Berufungsverfahren urteilt der Gerichtshof,
die Klage sei ihrem Grunde nach gerechtfertigt, ordnet jedoch einen Ver-
söhnungstermin an. HR 10. Dezember 1982, NJ 1983, Nr. 687 entscheidet im
Kassationsverfahren abweisend.
52 Eine sogenannte "class action" (eine Gruppe von Menschen, deren Zu-
sammensetzung sich zwischenzeitlich ändern kann, mit einem gemeinsamen
Problem erhebt Klage bei einem Gericht, dessen Entscheidung auch für Ab-
wesende verbindlich ist), wie die amerikanische Rechtspraxis sie kennt, ist in
den Niederlanden (noch) nicht möglich.
624 J an Remmelink

EN
RM:IALE.
YER"OU-
DIN&EN

Eine solche Verfügung des Gerichtspräsidenten ist nämlich vorläufig


vollstreckbar (shoot first and questions later). Als Strafrechtler muß
man hier mit Wehmut zugeben, daß die strafrechtliche Lösung, was
ihre Schlagkraft anbelangt, bei weitem nicht mithalten kann. Bei Ver-
brechen kann man die Verfolgung durch eine - eventuell in drei In-
stanzen zu prüfende - Beschwerde gegen die Anklage lahmlegen.
Danach muß die Hauptverhandlung noch beginnen, möglicherweise mit
folgender Berufung und Revision, was ebenfalls wieder ein Jahr ko-
sten kann. Die Behauptung von Schuyt53 hat tatsächlich einen wahren
Kern, wenn er sagt: "Die Tragik des Strafrechts ist das Unvermögen,
dort einzugreifen, wo es am nötigsten ist" .
Es war der heutige Präsident des Landgerichts Amsterdam, Dr.
Asseher, der, gerade im Hinblick auf diese Mißstände, für die Mög-
lichkeit plädiert hat5\ daß die Staatsanwaltschaft selbst, vorgreifend

53 De Gids 1976, S. 601.


5' Trema 1983, S. 303.
Die Strafbarkeit der Rassendiskriminierung in den Niederlanden 625

auf das Strafverfahren, im Wege der einstweiligen Verfügung - also


in einem Zivilverfahren - ihre Interessen vorläufig wahren können
müßte, z. B. durch ein mit Hilfe eines Zwangs geldes durchsetzbares
Verbot, weitere strafbare Handlungen zu begehen. Die den Staatsan-
wälten in Art. 4 des niederländischen Gerichtsverfassungsgesetzes über-
tragene Aufgabe, die Gesetze aufrechtzuerhalten, schließt diesen un-
konventionellen Weg nicht aus. Nur weil bisher niemand seit der Ein-
führung dieses für die niederländische Rechtspflege so grundlegenden
Gesetzes - es ist beinahe 150 Jahre in Kraft - an eine solche Möglich-
keit gedacht hat, scheint es, als sei diese Zweispurigkeit nicht statthaft.
Im gegebenen Rahmen kann ich jedoch nicht mehr dazu sagen.
Umgekehrt, und das möchte ich direkt hinzufügen, können in den
Niederlanden, im Gegensatz zu beispielsweise Belgien und England,
die Interessenverbände selbst keine Strafverfolgung veranlassen. Es
ist in Holland auch nicht möglich, daß eine solche Organisation als
Nebenkläger im Strafprozeß auftritt. Schaden wird eine solche Organi-
sation wohl auch kaum erleiden und etwas anderes als Schadenersatz
kann sie in diesem Verfahren nicht beantragen. Nur der Geschädigte
selbst kann auf diesem Wege sein Recht suchen.
Weiter kann man noch an verwaltungs rechtliche Sanktionen den-
ken, z. B. die Verweigerung von Lizenzen oder die Einziehung von
Erlaubnissen und Streichung von Subventionen. Hierbei denke ich an
diskriminierende Arbeitskräftevermittlungen, Wohnungsbauvereine
und vor allem an Gaststätten. Bei der letzten Kategorie ergibt sich ein
zusätzliches Zwangsmittel, weil die Artikel 5 und 51 des Getränke- und
Gaststättengesetzes ein "sittliches" Verhalten voraussetzen. Beamte
kann man auch noch mit dem Beamtengesetz an der Kandare halten:
sie verletzen mit diskriminierenden Handlungen die rechtlichen Pflich-
ten des Staates.
Zum Schluß möchte ich noch hinzufügen, daß man sich seit dem 3. De-
zember 1982, wenn alle Rechtsmittel im eigenen Land erschöpft sind,
noch mit einer gegen den Staat gerichteten Klage an die Kommission
für die Beseitigung der Rassendiskriminierung in New York wenden
kann (Art. 14 des Vertrages). Die Kommission setzt beide Parteien von
ihrem Standpunkt in Kenntnis, ihre Entscheidung hat jedoch keine
rechtlichen Folgen.

IX. Schlußbetrachtung

Mit allen anderen Autoren und Ausschüssen auf diesem Gebiet bin
ich der Meinung, daß juristische Maßnahmen nicht ausreichen. Woh-
nungsbau, Schulwesen, einem Ombudsmann vergleichbare Einrichtun-
gen - speziell möchte ich die Pläne für eine landesweite Institution

40 Festschrift für H.-H. Jescheck.


626 J an Remmelink

erwähnen, die die Bevölkerung aufklären soll55 - und natürlich die


Erziehung, die schon im Kindergarten Toleranz fördern sollte, müssen
die "schwere, viel Geduld erfordernde" (Narbert Elias) Arbeit leisten.
Das Recht, namentlich das Strafrecht, ist schließlich kein Wundermit-
tel. Es bekämpft nur die Spitze des Eisberges. Trotzdem erfüllt es in
diesem Komplex eine Aufgabe, auch wenn diese sich nur darauf be-
schränkt, Normen für das menschliche Zusammenleben zu schaffen.
über diese Normen habe ich zu Anfang gesprochen. Ich möchte sie hier
noch einmal in einer vielleicht etwas zu ethisch wirkenden Formulie-
rung wiederholen, deren ein Mitglied des ParlamentsS6 bei der Reform
der niederländischen Anti-Diskriminierungsgesetze sich bedient hat, die
aber viele, vor allem jene, die noch Zeugen des größten sittlichen
Bankrotts der europäischen Geschichte gewesen sind, ansprechen wird:
"Wer ist der Mensch, daß er seinen Nächsten, der wie er durch Gottes
Hand geschaffen ist, wegen seiner Rasse oder seiner Hautfarbe ver-
achtet?S7"

65 Aufgabe dieser Institution soll es sein (vgl. Trouw, 16. September 1983),
Diskriminierungsopfern zu helfen, Rechtsberater zu schulen, Minderheiten
aufzuklären und Formen der Diskriminierung anzuprangern. Die Regierung
wollte nicht so weit gehen, dieser Instanz auch die Befugnis einzuräumen,
Klagen von Diskriminierungsgeschädigten zu behandeln. Minister Rietkerk
hielt dies für eine Aufgabe, die in erster Linie den bestehenden Rechtspflege-
organen obliegt. Die Zweite Kammer hat sich zu Anfang dieses Jahres mit
überwiegender Mehrheit für eine Anti-Diskriminierungsinstanz ausgespro-
chen, die auch berechtigt ist, Klagen in Behandlung zu nehmen. In den angel-
sächsischen Ländern kennt man bereits solche Institutionen. Vgl. hierzu u. a.
A. H. J. Swart, Delikt en Delinkwent, 1970/71, S. 79.
66 Das Parlamentsmitglied Van Rossum, Handelingen Tweede Karner 1981,
S.3935.
57 Vgl. auch Jaseph Roth, Der Antichrist, 1934, S.87: "Und anstatt Gott zu
danken, daß er den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen hat, und
zwar mit jener göttlichen Großmut, die wir an ihm preisen, in allen mög-
lichen Farben, leugnen die Menschen Gott, eben dadurch, daß sie sagen, Er
hätte nicht Alle nach seinem Ebenbild geschaffen."
GüNTHER JAKOBS

Die Aufgabe des strafrechtlichen Ehrenschutzes

I.
Jesche,ck hat sich mehrfach speziell zur Beleidigung geäußert t • Der
Grund für die Widmung dieses Beitrags sind jedoch hauptsächlich Aus-
führungen zur informellen Sozialkontrolle im ersten Absatz der Ein-
leitung seines Lehrbuchs zum Allgemeinen Teil 2 • Dort heißt es: "Das
Zusammenleben der Menschen vollzieht sich in erster Linie nach über-
lieferten Regeln (Normen), die in ihrer Gesamtheit die soziale Ordnung
bilden. Die Geltung dieser vorgegebenen Normen ist von äußerem
Zwang weitgehend unabhängig, da sie auf der Einsicht aller in ihre
Notwendigkeit beruhen und durch immanente Sanktionen geschützt
sind, die selbsttätig auf Zuwiderhandlungen reagieren (mittelbare ge-
sellschaftliche Repression). Es gibt ein Gesamtsystem der ,sozialen Kon-
trolle', dessen Träger die verschiedensten Institutionen wie Familie,
Schule, Kirche, Betriebe, Gewerkschaften und Vereine sind. Die Straf-
rechtspflege ist nur ein Ausschnitt aus diesem System und die insgesamt
verwendeten präventiven oder repressiven Sanktionen sind sogar bis
zu einem gewissen Grade austauschbar". - Folgt man diesen Darle-
gungen, so erhebt sich sogleich die Frage, wie die stabilisierende Wir-
kung der informellen Sanktionen überhaupt zustande kommen kann;
denn offensichtlich fehlen dem informellen Sanktionierungssystem die
Bindungen, die das formelle System zum Schutz vor Fehlurteilen kennt.
Wenn informelle Sanktionen - wie auch lobende, ehrende Reaktionen
- nicht nur eine Mischung aus Fehlschlägen und Zufallstreffern sein
sollen, muß es möglich sein, über tadelnswertes Verhalten - wie über
lobenswertes - offen zu reden. Da es aber kein allgemeines Recht auf
Wahrheit gibt und erst recht kein durch Sanktionen gesichertes allge-
meines Recht auf Wahrheit, stünde bei der informellen Zurechnung in
der Tat jeglicher Verfälschung Tür und Tor offen, wenn es nicht spe-
zielle Wahrheitsgarantien zum Schutz vor inkorrekter (und belastender)
informeller Zurechnung gäbe.

1 Jescheck, Ehrenschutz durch das strafrechtliche Feststellungsverfahren,


Kern-Festgabe, 1957, S. 365 ff.; ders., Niederschriften über die Sitzungen der
Großen Strafrechtskommission, Bd.9, 1959, S. 32 f. und passim in der 91. bis
96. Sitzung.
2 Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 1978, S. 1 f.

40'
628 Günther Jakobs

In diesem Beitrag wird die These vertreten, es sei Aufgabe der Nor-
men gegen Beleidigung, die notwendige spezielle Wahrheitsgarantie
zu leisten. Die These hat zur Folge, daß die Beleidigungsdelikte nicht
mehr nur als Delikte gegen die Person verstanden werden dürfen, viel-
mehr auch als Delikte gegen öffentliche Interessen definiert werden
müssen, seil. gegen Verfälschung der informellen Zurechnung. Der Zu-
gang zur These und zu ihren Konsequenzen erschließt sich nur, wenn
Ehre wie Unehre nicht (jedenfalls nicht allein) statisch als in die Ge-
sellschaft eingebrachter Besitz oder Verlust der Person verstanden
werden (mag man diesen Besitz oder Verlust dann auch nach den in der
Gesellschaft geltenden Normen bewerten), sondern wenn man die
Frage stellt, welche Aufgabe die Ehre (oder umfassender: das durch die
Normen gegen Beleidigung geschützte Gut) in einer bestimmten Gesell-
schaft hat. Dabei muß man die Möglichkeit offenhalten, daß die Aufgabe
nicht nur für das System "Person" zu erbringen ist, sondern auch für
das System "Gesellschaft". Im folgenden Text wird zunächst an zwei
Positionen aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts - eine Zeit,
in der die Beleidigung im Strafrecht ("der Ehrbegriff") längst in einer
Krise steckte - gezeigt, was mit der Frage nach der Aufgabe der Ehre
in einer bestimmten Gesellschaft gemeint ist (11). Die Frage wird auch
in der gegenwärtigen Diskussion aufgeworfen (111), aber die Antwort
muß stets dann zu weit in Richtung auf ein Recht auf Wahrheit oder
gar in Richtung auf einen generellen Schutz der Menschenwürde oder
personaler Interessen geraten, wenn die Verbindung zwischen dem
Schutz vor Beleidigung und dem allgemeinen Interesse an informeller
Zurechnung nicht erkannt wird (IV). Abschließend wird versucht, die
gewonnene Position an Einzelfragen (V) zu verdeutlichen: (1) Beleidi-
gungsdelikte als Äußerungsdelikte, (2) Minderung und Steigerung der
Ehre, (3) Beleidigungen aus fremden Normensystemen, (4) Beschrän-
kung der Beleidigung auf Verfälschung speziell der Zurechnung und
(5) Vollendung der Beleidigung bei abstrakter Gefährdung.

11.
Bei seiner bekannten Polemik gegen die "ritterliche Ehre" berichtet
Schopenhauer folgende Anekdote: "Als ... ein teutonischer Häuptling
den Marius zum Zweikampf herausgefordert hatte, ließ dieser Held
ihm antworten, ,wenn er seines Lebens überdrüssig wäre, möge er sich
aufhängen', bot ihm jedoch einen ausgedienten Gladiator an, mit dem
er sich herumschlagen könne"3. Schopenhauer preist die "unbefangene,
natürliche Ansicht der Dinge" durch "die Alten". "Das waren Weise: -

3 Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, in: Sämtliche Werke,


hrsg. von Frhr. von Löhneysen, Bd. 4 (Parerga und Paralipomena), 1977,
S. 373 ff., 441 ff., 449.
Die Aufgabe des strafrechtlichen Ehrenschutzes 629

Ihr aber seid Narren? Einverstanden. _"4. Schopenhauers Optimismus,


es gebe ein "unbefangenes, natürliches", also nicht gesellschaftlich ver-
mitteltes Ehrverständnis und Ehrprobleme ließen sich ein für allemal
nach des Marius' Methode erledigen, wenn man nur dafür sorge, daß
nicht "die Fäuste geübter .. . (wären) als die Köpfe", wird freilich
der Vielfalt der Beziehungen nicht gerecht, die zwischen dem beleidi-
gungsfähigen Subjekt und der Gesellschaft bestehen können.
Nur knapp zwei Jahrzehnte nach dem Erscheinen von Schopenhauers
Polemik hat Hälschner (wohl nicht zufällig unter dem Einfluß des -
in Schopenhauers Sicht - "Windbeutels" Hegel 5 ) am Beispiel des rö-
mischen und des germanischen Ehrbegriffs beschrieben, wie sich In-
halt, Schutzbedürftigkeit und Schutz der Ehre nach dem jeweiligen
gesellschaftlichen Zusammenhang richten müssen6 • Hälschner setzt bei
den Instanzen an, durch die der Wert des einzelnen Bürgers bestimmt
wird. Beim Römer ist es, nach Hälschner, der Staat, der definiert7 , und
zwar mit einer zweifachen Folge: Zum einen kommt ein Mitbürger an
die Ehre (existimatio) nicht recht heran, weil sie von seiner Ansicht
gerade nicht abhängt. Demgemäß zeigt sich der römische Bürger "sehr
wenig empfindlich ... gegen eine Beschimpfung, die ihn im Uebrigen in
seiner bürgerlichen Berechtigung nicht stört"8. Zum anderen "erklärt
es sich hieraus, daß die Behandlung der Injurie als eines Privatdelicts
und die Tilgung derselben durch eine Geldbuße als ausreichend er-
achtet wurde, denn die Ehre, die der Bürger vom Staate herleitet, er-
scheint einer jeden Beleidigung gegenüber vollkommen gewahrt, wenn
ihr durch die Verurtheilung des Injurianten eine erneute Anerken-
nung seitens des Staates zu Theil wurde"9.
Die germanische Auffassung stellt hingegen, wiederum nach Hälsch-
ner, auf die Anerkennung der "anderen" ab, und zwar jeweils der "an-
deren" des sozialen Bereichs, in dem sich der einzelne betätigt. Das
Schwergewicht liegt demgemäß bei der Anerkennung durch die Stan-
des genossen; denn der "durch den Stand bedingte soziale Beruf" ist
das Hauptbetätigungsfeld des einzelnen10 • Die zweifache Folge (für Ehr-
verletzung und Ehrenschutz) ist das vollkommene Gegenstück zur
Situation im römischen Recht: Nicht nur hat der Standesgenosse die

4 (Fn. 3), S. 451.


5 Zu Hegels eigenem Ehrverständnis siehe die Nachweise bei E. A. WoljJ,
Ehre und Beleidigung, ZStW 81 (1969), S. 886 ff., 893.
8 Hälschner, System des Preußischen Strafrechts, Zweiter Theil, Die Ver-
brechen gegen das Recht der Privatperson, 1868, S. 197 - 233.
7 (Fn. 6), S. 200.
8 (Fn. 6), S. 203.
a (Fn. 6), S.203.
10 (Fn. 6), S. 208 f.
630 Günther Jakobs

Ehre des einzelnen in der Hand, sondern der Ehrbestand kann durch
den Staat, der ja zur Bestimmung des Werts der Person nicht in erster
Linie kompetent ist, auch nur unvollkommen gegenüber einer Beleidi-
gung gewahrt werden, so daß neben dem Staat stets die Selbsthilfe
noch etwas zu tun findet 11 •
Gewiß bedarf das skizzierte Verständnis der Ehre von ihrer Aufgabe
her noch einiger Ergänzungen. So ist zum römischen Recht erklärungs-
bedürftig, wie eine dritte Person überhaupt in das Verhältnis zwischen
dem Staat und dem Ehrinhaber einbrechen kann. Die Antwort dürfte
sich nicht allein durch einen Hinweis auf ein Interesse des Ehrinhabers
geben lassen, ehrangemessen behandelt zu werden, vielmehr besteht
auch ein genuin staatliches Interesse, das der Ehrverletzung den An-
strich eines Angriffs auf öffentliche Güter gibt; denn der Staat verteilt
die Ehre nicht als Selbstzweck, sondern um den Bürgern denjenigen
Rang zuzuweisen, den sie zur Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Auf-
gaben brauchen. Eine Ehrverletzung ist deshalb immer auch ein Pro-
test gegen die Kompetenz des Staats, Rang zu verteilen, oder gegen die
Maximen, nach denen er verteilt. Ganz entsprechend ist zu erklären,
weshalb sich nach der germanischen Auffassung der Staat überhaupt
um die Ehrverletzung kümmert. Dafür findet sich nicht nur ein mit-
telbares Interesse, wie es das Interesse an einer Vermeidung der frie-
densstörenden Retorsionen per Selbsthilfe ist, sondern ein wiederum
genuin staatliches Interesse; das gilt jedenfalls so lange, wie die Stan-
des differenzierungen eine gesellschaftliche Aufgabe haben12 • Daß diese
Aufgabe länger bestanden hat, als offiziell eingeräumt werden konnte,
hat nicht zuletzt Schopenhauer13 gemerkt und am Beispiel der Offi-
ziere und höheren Zivilbeamten beschrieben.

III.

In der gegenwärtigen Diskussion ist die Frage nach der Aufgabe der
Norm gegen Beleidigung im Zusammenhang mit der Kritik des norma-
tiven Ehrbegriffs gestellt worden. Nach dem insbesondere von Hirsch
weiterentwickelten normativen Ehrbegriff ist Ehre der Wert einer
Personi" ihr "Geltungswert-Status". Nun kann dieser Wert überhaupt
nur vom Inhaber selbst berührt und verändert werden15 • Bekannt ist

11 (Fn. 6), S. 209 ff.


12 Simmel, Soziologie, 1923, S. 405 f.: "Es wäre ganz unverständlich, warum
die Gesellschaft den Einzelnen eigentlich mit so starkem sozialem und mora-
lischem Akzent zum Bewahren dieses rein persönlichen Gutes der Ehre
anhielte, wenn dies nicht die bloße Form und Technik wäre, deren Inhalt
und Zweck die Erhaltung der Gruppe ist."
13 (Fn. 3), S. 465 f., auch S. 460 Fn. F.
14 Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 30 und passim.
Die Aufgabe des strafrechtlichen Ehrenschutzes 631

Bismarcks Ausspruch: "Meine Ehre steht in niemands Hand als meiner


eigenen, und man kann mich damit nicht überhäufen; die eigene, die
ich in meinem Herzen trage, genügt mir vollständig und niemand ist
Richter darüber und kann entscheiden, ob ich sie habe"18. Freilich kann
man einem Achtungsanspruch zuwiderhandeln, der aus dem Wert
"fließt"17, aber die Notwendigkeit, einen an sich unverletzbaren Wert
durch einen Achtungsanspruch abzusichern, ist nicht recht einsichtig18 •
Die bei Beleidigung immer bestehende Gefahr, daß der Betroffene bei
seinen sozialen Kontakten unter seinem "Geltungswert-Status" behan-
delt wird, gibt zwar dem Schutzbedürfnis etwas Plausibilität; aber in
den Fällen, in denen die Gefahr sich nicht realisiert und sich nach der
Vorstellung des Täters auch nicht realisieren sollte, bleibt nur eine
abstrakte Gefährdung übrig19 . Das ist nicht falsch, aber es bedürfte
einer Erklärung, weshalb das Gesetz für die Vollendung gerade auf
das Verstehen einer Äußerung abstellt (und weder auf weniger noch
auf mehr20 ). Wenn Hirsch hingegen in allen beleidigenden Äußerun-
gen, auch solchen gegenüber dritten Personen, deren Folgen den Be-
troffenen nie berühren, eine Verletzung sieht, "weil jeder Mensch er-
warten darf, daß ihn betreffende Kundgebungen mit beleidigendem
Inhalt überhaupt unterbleiben"21, so ist das wohl eine zirkuläre Er-
klärung (auch das Ausbleiben von abstrakten Gefährdungen darf man
erwarten), die überdies nicht auf der Ebene des zu Erklärenden liegt;
Erwarten-Dürfen und mit strafrechtlicher Garantie Erwarten-Dürfen
sind zweierlei. Zudem müßte nach dieser Lösung die Vollendung schon
mit der Kundgabe eintreten, also bevor die Kunde dem Adressaten zu-
gegangen und erst recht bevor sie von ihm verstanden worden ist.
Wolf! hat die Mängel des normativen Ehrbegriffs zum Anlaß ge-
nommen, ausdrücklich nach der Aufgabe der Ehre zu fragen 22. Es ist
15 Zum Problem der elementaren menschlichen Unzulänglichkeiten, die
auch "objektiv" entstehen können, siehe unten V, 4.
1f Zitiert nach Reiner, Die Ehre, 1956, S.49; - Bismarck hat diesen extrem
individualistischen Anspruch in der Praxis natürlich nicht erfüllen können:
siehe dazu Schmitz, System der Philosophie, Bd. 3 Teil 3, Der Rechtsraum",
1973, S. 48 f.
17 Hirsch (Fn. 14), S. 30.
18 Dazu Hirsch (Fn. 14), S. 30 f., mit einem Verweis auf die Eigentums-
delikte, bei denen die Tat in der Regel das Eigentum als Recht nicht beein-
trächtigt. Aber die normative Beziehung "Eigentum" ist nicht geschützt, son-
dern bezeichnet nur, welche Person für die tatsächliche Nutzung einer Sache
zuständig ist. - Zur normativen und faktischen Seite der Ehrauffassung
zutreffend Engisch, Bemerkungen über Normativität und Faktizität im Ehr-
begriff, Festschrift für Lange, 1976, S. 401 ff., insbesondere S. 412 ff.
18 Siehe Hirsch (Fn. 14), S. 21 ff.
20 Zu den diversen Möglichkeiten, bei Äußerungsdelikten die Vollendung
zu bestimmen, siehe Kern, Die Äußerungsdelikte, 1919, S. 23 ff.
21 Hirsch (Fn. 14), S. 24.
22 WoliJ (Fn. 5), S. 894.
632 Günther Jakobs

wohl kein Zufall, daß dieser Versuch, die Ehre aus dem Verhältnis des
einzelnen zur Gesellschaft zu erschließen, wiederum in der Tradition
Hegels steht. Aufgabe der Ehre soll es sein, ein Selbständigkeit er-
möglichendes Anerkennungsverhältnis zwischen Menschen herzustel-
len23 . Dieses Verhältnis soll erforderlich sein, weil der einzelne Mensch
seine Entwicklung "zum Freien (d. h. selbständigen Subjekt über-
haupt)" weder allein leisten könne noch, so sie geleistet sei, die Frei-
heit allein durchzuhalten vermöge24 • - Im ausdrücklichen Anschluß an
Wolff sieht Otto die Aufgabe der Ehre darin, einen Zustand zu ermög-
lichen, in dem eine Person mit anderen Personen Gemeinschaft haben
kann, "und zwar zum einen, indem jeder Person die Würde als Person
zugestanden wird, zum anderen, indem der Person in bestimmtem
Rahmen Möglichkeiten gesichert werden, sich in der Gesellschaft per-
sonal zu entfalten"25. - In eine ähnliche Richtung zielt Amelung mit
dem Vorschlag, den Ehrbegriff "soziologisch, d. h. aus einem Interak-
tionszusammenhang" zu entwickeln, "in dem beide Beteiligte bei der
Selbstdarstellung des Gegenübers mithelfen"26.
In der skizzierten Weise gewinnt man ein verletzbares Angriffsob-
jekt. Dieses Objekt wird, beiläufig, wiederum durch die Beleidigung
in den Fällen nur abstrakt gefährdet, in denen Rückwirkungen auf den
Lebenskreis des Betroffenen ausbleiben27 und vom Täter auch nicht
vorgesetzt waren. Schon schwerer wiegt, daß zur Norm gegen Verun-
glimpfung des Andenkens Verstorbener bei dieser Definition des An-
griffsobjekts nur verquälte Deutungen angeboten werden können28 . Vor
allem gerät das Angriffsobjekt geradezu ungeheuer weit, und zwar
weil der Blick starr auf die Entwicklungsbedingungen der einzelnen
Person gerichtet wird. Selbständigkeit, personale Entfaltung und
Selbstdarstellung sind Prozesse, die von durchaus erschöpfbaren Re-
serven vorangetrieben werden; sie gelingen deshalb um so besser, je
mehr Widerstände fehlen. Zu den Widerständen zählen unter anderem
restlos alle Verfälschungen dessen, worauf das "Selbst" abstellt. Des-
halb müßten die skizzierten Lehren konsequent alle bei einem um-
fassenden Recht auf Wahrheit landen, und zwar nicht nur auf Wahr-

23 (Fn.5), S.889; Wolff sieht, daß diese Definition zu weit ist, da sie -
u. a. - die bloße Kommunikationsverweigerung umfaßt, S. 900.
24 (Fn. 5), S. 894.
25 Dito, Persönlichkeitsschutz durch strafrechtlichen Schutz der Ehre,
Festschrift für Schwinge, 1973, S. 71 ff., 81 f.; ders., Grundkurs Strafrecht.
Die einzelnen Delikte, 1977, S. 113.
26 Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972, S. 188
Fn. 70, unter Berufung - u. a. - auf Luhmann, Funktionen und Folgen for-
maler Organisation, 2. Aufl. 1972, S. 437 ff., der seine Betrachtungen freilich
auf Achtung (Ehre) in formalen Organisationen beschränkt.
27 Dazu Wolff (Fn. 5), S. 902 f.
28 Wolff (Fn. 5), S. 903 f.; siehe auch unten Fn.36.
Die Aufgabe des strafrechtlichen Ehrenschutzes 633

heit in Angelegenheiten, die den Wert einer Person betreffen, sondern


zudem auf Wahrheit in allen Angelegenheiten, auf die sich der jewei-
lige Kommunikationspartner einstellen Will 29 . Beispiel: Die lügenhafte
Behauptung eines Professors im Kolleg, das Lehrbuch eines Kollegen
strotze vor Fehlern und sein Kauf lohne sich deshalb nicht, wäre nicht
nur Beleidigung des Kollegen, sondern auch sämtlicher Hörer; denn
auf der Basis einer Lüge können sich Selbständigkeit, personale Ent-
faltung und Selbstdarstellung in der wissenschaftlichen Arbeit allen-
falls scheinbar entwickeln. Obendrein ist nicht nur die Lüge ein Wider-
stand personaler Entfaltung, sondern zudem jedes Verhalten, das nach
dem extensiven Begriff als Gewalt bezeichnet werden kann. Wer einer
Person etwas von ihren Subsidien nimmt, beeinträchtigt deren Selb-

28 Die Grenzen des Rechts auf Wahrheit sind bislang nicht systematisch
behandelt worden. Die Bestimmung der Grenzen ist wichtig, weil nach dem
extensiven Gewaltbegriff auch die Manipulation einer Situation durch eine
Äußerung Gewalt sein kann. Eine grobe Skizze sei versucht: (a) Eine
Äußerungspflicht ist stets Pflicht zu wahrheitsgemäßer Äußerung. Haupt-
beispiele bilden die Normen der §§ 153, 154 und 348 StGB, also Pflichten
kraft institutioneller Zuständigkeit (dazu Jakobs, Strafrecht AT, 1983, 29/
58 ff.). Die Pflichten bestehen nicht stets zugunsten jedermanns (der Zuhörer
im Gerichtssaal, der, auf eine falsche Zeugenaussage trauend, Schaden er-
leidet, ist weder durch den Zeugen zu dem schädigenden Verhalten genötigt
worden noch hat er Ersatzansprüche gegen den Zeugen). - Auch Pflichten
kraft Organisationszuständigkeit sind möglich, insbesondere wegen über-
nahme (Jakobs, 29/29 ff., 46 ff.). - Äußerungspflichten können auch aus den
Normen der §§ 138, 323 c StGB folgen, sind dann aber natürlich keine Ga-
rantenpflichten. - (b) Ein allgemeines Recht auf Wahrheit trotz fehlender
Äußerungspflicht gibt es in bestimmten Bereichen sozialer Kontakte, und
zwar zum einen, soweit Skepsis und Kontrolle zugunsten der Flüssigkeit der
Interaktionen zurücktreten sollen: als geschütztes Vertrauen auf die Aus-
stelleridentität bei Urkunden (§ 267 StGB), auf den in öffentlichen Glauben
erwachsenden Inhalt von Urkunden (§ 271 StGB), auf die Leistungsbeschrei-
bung, die der Geschäftspartner beim Austausch von vermögenswerten Ob-
jekten abgibt (§ 263 StGB) oder auf den korrekten Vollzug informeller Zu-
rechnung (§§ 185 ff. StGB) u. a. m., wobei das Recht wiederum nur zugunsten
bestimmter Personen bestehen mag, etwa nur zugunsten des Betroffenen
bei der Beleidigung. Zum anderen gibt es trotz fehlender Äußerungspflicht
ein Recht auf Wahrheit, wenn sich im öffentlichen Interesse für den
Adressaten an eine Äußerung eine Handlungspflicht anschließt (etwa im Fall
der §§ 156, 164 StGB). - (c) Heikel ist die Entscheidung, wann die Lüge
eines Erklärenden ohne Äußerungspflicht und ohne Beschränkung auf be-
stimmte Bereiche sozialer Kontakte Haftung begründet. Es geht um Grenz-
fälle der GarantensteIlung aus besonderem Vertrauen: Wenn der Erklärende
gegenüber dem Adressaten die Richtigkeit einer Äußerung zu seinen Gun-
sten beansprucht, muß er sich an diesem Anspruch auch festhalten lassen,
wenn ihn das belastet (Jakobs, 29/67), d. h. er ist dann dafür zuständig, daß
der Adressat nicht durch die Orientierung am - lügenhaften - Inhalt der
Äußerung zu Schaden kommt. Beispiel: Wer vor dem Bahnhof auf die Frage
eines Ortsfremden nach dem Weg eine lügenhafte Auskunft gibt, wird nicht
dafür - bei Strafe der Nötigung - zuständig, welchen Weg der Fragende
einschlägt; wohl aber nötigt der Taxifahrer, der den Ortsfremden in der
falschen Gegend aussetzt. - Dieser Erklärungsmodus für ein Recht auf
Wahrheit dürfte bei einigen der oben zu (a) genannten Fallgruppen hinzu-
treten (etwa bei den §§ 263, 267 StGB).
634 Günther Jakobs

ständigkeit, Entfaltung und Selbstdarstellung, ja so schon derjenige,


der sich der anderen Person verweigert30• Beleidigung wird bei diesem
Verständnis also zum Generaldelikt gegen die Person; sie umfaßt jede
Rechtskränkung.
Nun könnte man das so weit geratene Delikt durch deliktsfremde
Kriterien einschränken, etwa durch Begrenzung auf Kommunikation
über einen Personenwert. Man käme dann in etwa zu den heutigen
Konturen, hätte freilich nichts an Schärfe gewonnen, da die Begren-
zungskriterien nicht besser definiert wären, als die Beleidigung heute
definiert ist, und diese Definition ist dürftig genug: Wenn von Personen-
wert die Rede ist, so wird das Verhalten einer Person gemeint oder
ihre seelische und leibliche Ausstattung, wobei in der verbreitet vor-
zufindenden Beschränkung eines Ausstattungsmankos auf elementare
menschliche Unzulänglichkeiten31 schon Unsicherheit deutlich wird:
Ansonsten fängt eine Beleidigung nicht erst an, wenn Mängel von ele-
mentarem Format behauptet werden. Ganz unerklärlich bleibt, weshalb
die Person über die seelische und leibliche Ausstattung nicht hinaus-
reichen soll, obgleich diese Ausstattung in der bürgerlichen Gesellschaft
doch offensichtlich nicht der einzige "Besitz" ist, auf den es für Selb-
ständigkeit, Entfaltung, Selbstdarstellung oder den Personenwert an-
kommt. Zu ergänzen wären nicht nur der materielle Besitz ohne Blick
auf seine Herkunft (wie es bei der Verleumdung, § 187 StGB, im Fall
der Kreditgefährdung ja auch geschieht), sondern zu ergänzen wären
bei allen nur-personalen Konzepten vorweg die Produkte personalen
Verhaltens: Wenn Bindungsfähigkeit nicht geleugnet werden darf,
wieso soll die intakte Familie geleugnet werden dürfen; - wenn
Fruchtbarkeit nicht, wieso das Kind; - wenn die berufliche Leistungs-
fähigkeit nicht, wieso das Werk oder der Verdienst etc.? Man mag allein
auf die sittliche Person abstellen, muß dann aber (mindestens) schon
die Leibesausstattung weglassen. Man mag auch auf die real existie-
rende Person abstellen, dann gehört jedoch nicht nur der Leib als Hülle
dazu. Man mag auch eine Zwischen position wählen, sollte dann freilich
den Grund dieser Wahloffenlegen. Jedenfalls hat eine Person im Zu-
sammenhang der Beleidigungsdelikte keine "natürlichen" Grenzen, etwa
an der Haut!
Die skizzierten nur-personalen Konzepte führen also sowohl in der
Gestalt des normativen Ehrbegriffs als auch bei einer Herleitung der
Normen gegen Beleidigung aus den Bedingungen der Selbständigkeit,
Entfaltung oder Selbstdarstellung zu Lösungen, die sämtlich zu weit
sind: Die Beschränkung auf ein Kommunikationsverhalten muß von

30 Dazu WoljJ (Fn. 5), S. 900.


31 Hirsch (Fn. 14), S. 82 ff. und passim.
Die Aufgabe des strafrechtlichen Ehrenschutzes 635

außen an diese Konzepte herangetragen werden. Ein weiterer Mangel


der skizzierten Konzepte kommt hinzu. Sie leiden sämtlich an Unklar-
heiten bei der Verbindung der Beleidigung mit einer Ehrverletzung.
Da jeder Mensch beleidigt werden kann, müßte auch jeder Mensch
Ehre haben, wenn die Gleichung "Beleidigung ist ein (abstrakt gefähr-
licher) Ehrangriff" richtig sein soll. Aber dieser Gleichung liegt der
fehlerhafte Schluß vom Fehlen negativer Größen auf eine positive
Größe zugrunde: Wenn der Ehrstatus einer Person ruiniert ist, kann
diese zwar noch beleidigt werden, indem eine noch intensivere Ehr-
losigkeit behauptet wird, als in Wirklichkeit vorliegt. Aber diese Be-
leidigung verletzt keine Ehre, da das bloße Fehlen gesteigerter Ehr-
losigkeit so wenig Ehre ist, wie man allein aus dem Fehlen großer
Schulden ein Vermögen errechnen kann. Beleidgung mag also weiter
reichen, als Ehrverletzung reicht.

IV.

Das geschilderte Dilemma ist auf das Ableben der Standesehren zu-
rückzuführen. Standesehre war einigermaßen präzis durch die dem
Stand entsprechenden Rollen positiv definiert. "Der soziale Ort der
Ehre liegt in einer Welt relativ intakter, stabiler Institutionen, einer
Welt, in der die Menschen mit subjektiver Sicherheit ihre Identität
an den institutionellen Rollen festmachen können, die ihnen die Gesell-
schaft zuweist"32. Standesehre war weiterhin durch einen verbalen
Ehrbegriff verletzbar, zumindest durch Standesgenossen, ohne daß ab-
gewartet werden mußte, ob Beschränkungen der "standesgemäßen Ent-
faltung" eintraten; denn die Ehre bestand in der jederzeit aktuellen
Integration, die notfalls vom Beleidigungsopfer selbst arrangiert wer-
den mußte (es mußte selbst seinen Ehrenschild reinhalten, d. h. ihn auch
von Beschimpfungen durch dritte Personen seinerseits reinigen).
Schließlich und hauptsächlich war der Angriff auf die Ehre immer zu-
gleich auch ein Angriff auf die gesellschaftliche Hierarchie, so daß die
Abwehr im öffentlichen Interesse lag.
Anders bei der nur-personal verstandenen bürgerlichen Ehre: Sie ist
- mit Ausnahme der Ehre von Angehörigen formaler Organisationen33
- überhaupt nicht mehr positiv definiert, also inhaltsleer; infolge-
dessen finden sich im Strafrecht häufig die schwer verständlichen Aus-
sagen, Ehre sei das Fehlen VOn Unehre (als ob sich Vermögen durch das
Fehlen von Schulden oder ein richtiger Gedanke durch das Fehlen von
Unsinn definieren ließe), was dann zur Folge hat, daß Ehre nicht stei-

32 P. L. Berger/B. Berg er/Kellner, Das Unbehagen in der Modernität, 1975,


S. 75 ff., 79 ff., 83.
33 Darauf beschränkt: Luhmann (Fn. 26), S. 347 ff.
636 Günther Jakobs

gerungsfähig sein soll34 (als ob sich jeder Dilettant mit Mozart gleich-
setzen könnte). Ginge es um diese Ehre, so könnte man deren Wah-
rung den Betroffenen zumindest in dem Maß selbst überlassen, in dem
sie ihr Eigentum selbst wahren müssen; d. h. vor vorübergehenden
Ehrdepossedierungen bedürfte es in der Regel keines Strafrechts-
schutzes.
Aber diese nur-personale Sicht ist verengt. So wie die Differenzierung
der Stände ehemals im öffentlichen Interesse lag, so muß auch ein
öffentliches Interesse am Schutz vor Beleidigung nachgewiesen werden,
wenn dieser Schutz als Strafrechtsschutz überhaupt Bestand haben
soll. Ein Nachweis gelingt, und zwar durch Berücksichtigung des ein-
gangs mit Jeschecks Worten beschriebenen "Gesamtsystem(s) der
,sozialen Kontrolle"':35 Die bürgerliche Gesellschaft kommt mit recht-
lich-formeller Zurechnung nicht aus, weil die formelle Zurechnung
weder stets hinreichend intensiv wirkt noch sämtliche Fälle betrifft, in
denen eine normative Garantie erforderlich ist. Die Zurechnung gesell-
schaftlich relevanter Verhaltens folgen ist nicht nur eine rechtliche
oder gar nur strafrechtliche "Technik", komplexe Situationen so zu glie-
dern, daß stabile Erwartungen möglich sind, sondern reicht weit über
den (straf-)rechtlichen Bereich hinaus, und zwar als Zurechnung
"schlechter" wie "guter" Werke. Die Kommunikation über konkret zu-
rechenbares Verhalten ist in doppelter Hinsicht erwünscht. Zum einen
dient sie der Vergewisserung, welche Normen gelten; insoweit funktio-
niert sie selbst dann noch, wenn ein zurechenbares Verhalten vorge-
täuscht wird. Zum anderen dient sie aber auch der Information, was
sich an zurechenbarem Verhalten ereignet hat, damit der Informations-
empfänger daran diejenigen Konsequenzen knüpfen kann, ohne die
jede Zurechnung nur ein ineffektives Gebilde wäre: Vorteile für
lobende Zurechnung und Nachteile für tadelnde. Dieser zuletzt ge-
nannte Zweck kann bei lügenhaften Berichten (oder falschen Wertun-
gen) nicht erreicht werden. Es kann auch nicht dem Informationsemp-
fänger überlassen bleiben, selbst achtzugeben; vielmehr besteht ein
öffentliches Interesse an zutreffender Information, weil zurechenbares
Verhalten nur Konsequenzen im gesellschaftlichen Leben zeitigt, wenn
es bekanntgeworden ist. Anders als beim nur-personalen Ansatz geht
es also nicht um ein weitreichendes Recht auf Wahrheit, sondern nur
um ein schmales Recht auf wahre Information in einem derjenigen
Bereiche, in denen ein Informiert-Werden zur Stützung der Zurechnung
allgemein erwünscht ist. Und selbst in diesem Bereich besteht das Recht
34 Hirsch (Fn. 14), S. 45 ff., 55 ff.; Tenckhofj, Die Bedeutung des Ehrbegriffs
für die Systematik der Beleidigungstatbestände, 1974, S. 50 ff., 181; Welzel,
Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S.303; Herdegen, in: LK, 9. Aufl.,
Bd.2, 1974, Rdn.8 vor § 185; Rudolphi, in: SK, Bd. 2, 3. Aufl., Rdn. 3 vor § 185.
35 Siehe oben zu Fn. 2.
Die Aufgabe des strafrechtlichen Ehrenschutzes 637

auf Wahrheit nur zugunsten des potentiell von unwahrer Zurechnung


Betroffenen, nicht zugunsten dritter Personen, auch nicht, soweit sie
Adressaten einer Äußerung sind.
Freilich wäre es falsch, nur noch auf dieses öffentliche Interesse zu
schauen und Beleidigung einzig als Verletzung von Kommunikations-
regeln, deren Beachtung im öffentlichen Interesse liegt, zu verstehen.
Nicht nur die positiv-rechtliche Ausgestaltung der Beleidigung als An-
tragsdelikt steht dem entgegen, sondern auch die Beschränkung auf ta-
delnde Äußerungen, also die Ausklammerung (mindestens) von unver-
dientem Lob. Im Regelfall treten das öffentliche Interesse und das private
Interesse zusammen; Beleidigung ist dann unwahre Zurechnung zu La-
sten einer Person. Der Schutz vor Beleidigung dient insoweit gleicher-
maßen den Bestandsbedingungen der Gesellschaft wie dem Schutz der
Person. Nur bei der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (§ 189
StGB) reicht allein eine Mißachtung des öffentlichen Interesses, die aber
gesteigert sein muß (Verunglimpfung!), da die Person nicht mehr durch
die Tat belastet werden kann36 •

V.
1. Die Berücksichtigung des öffentlichen Interesses bringt eine Er-
klärung für die Beschränkung des beleidigenden Verhaltens auf Auße-
rungen. Ginge es um den Achtungsanspruch oder um Selbständigkeit,
36 Die ansonsten gegebenen Vorschläge zur Deutung der Vorschrift über-
zeugen nicht. Soweit ein Fortbestand der Ehre über den Tod hinaus ange-
nommen wird (Hirsch [Fn. 14], S. 126 f.; Welzel [Fn. 34], S.305; Herdegen
[Fn. 34], § 185 Rdn.4; alle unter Berufung auf ein zivilrechtliches post-
mortales Persönlichkeitsrecht), entsteht das Problem, wegen welcher Person
diese Ehre schutzbedürftig sein soll; der Tote ist jedenfalls dem "irdischen
Ehrenschutz entrückt" (MaurachjSchroeder, Strafrecht BT, Bd.l, 6. Aufl. 1977,
S.202); die hinterbliebenen Angehörigen (auch die nach § 194 Abs.2 StGB
Antragsberechtigten) können selbst die Täter sein, so daß nur die Allge-
meinheit mit ihrem Interesse an einer unverfälschten Zurechnung bleibt:
Auf den Ehrfortbestand kommt es also nicht an. Soweit ein Ehrfortbestand
verneint wird (so seit Binding, Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts
BT, Bd.l, 2. Aufl. 1902, S.139; RG 13 S. 95 f. die überwiegende Lehre), muß
§ 189 StGB als Delikt gegen "Familienehre" oder gegen das (berechtigte!
siehe Hirsch, S. 132) Pietätsgefühl (dazu kritisch Rüping, Der Schutz der
Pietät, GA 1977, 299 ff., 304 f.) der Angehörigen gedeutet werden (Maurach/
Schroeder, S.218; Lackner, 15. Aufl. 1983, § 189 Rdn. 1); ersteres ist eine
unerklärliche Unsterblichkeitserklärung für die Familie als Gemeinschaft
aus Lebendigen und Toten; letzteres ist die Kapitulation bei dem Bemühen,
die Vorschrift beleidigungsrechtlich zu deuten, und kann auch nicht erklä-
ren, weshalb das Gefühl eines potentiellen Täters Gegenstand des Schutzes
sein soll; beidemal muß - abgesehen von der Problematik eines Schlusses
vom Antragsrecht auf das Unrecht - in den Fällen der antragsfreien Ver-
folgung nach § 194 Abs.2 StGB die Suche nach einem Rechtsgut fortgesetzt
werden. - Dies alles erledigt sich mit dem Ansatz bei einer Verfälschung
der Zurechnung. Gemeint ist die aus der lebendigen Erinnerung erfolgende
Zurechnung. Fehlerhafte historische Forschung berührt das gegenwärtige
Zurechnungssystem nicht (hierzu eingehend Hirsch, S. 139 f. mit Fn. 35).
638 Günther Jakobs

personale Entfaltung und Selbstdarstellung, so müßte - analog der


Interpretation der falschen Verdächtigung nach § 164 Abs.l StGB 37 -
auch die von einer Äußerung isolierte Beweismittelfiktion ein beleidi-
gendes Verhalten sein. Beispieps: Wer seinen Feind kompromittiert,
indem er eine Leiche in dessen Keller schafft, beinträchtigt die genann-
ten Angriffsobjekte oder Güter nicht weniger als durch die erlogene
Behauptung, es liege dort eine Leiche. Nach den nur-personalen Lö-
sungen müßte also eine Erfolgsverursachung auf beliebigem Weg mög-
lich sein. Die Beschränkung auf Äußerungen folgt erst aus dem öffent-
lichen Interesse am (bereichsweisen) Schutz gerade dieser Verkehrsform,
ganz parallel der Ausklammerung der Erregung bloßer ignorantia
facti aus dem Täuschungsbegriff und dem Irrtumsbegriff beim Betrug,
§ 263 StGB 39 • Das private Interesse reicht weiter40 •

2. Weiterhin und hauptsächlich verleiht die Berücksichtigung des


öffentlichen Interesses an - wahrheitsgemäßer - Kommunikation
über zurechenbares Verhalten dem Ehrbegriff Konturen, die schärfer
sind als bei den nur-personalen Lösungen und die eine auch positive
Ehrdefinition zulassen. Ehre besteht darin, daß das Verhalten einer
Person als verdienstlich zurechenbar ist; Ehre ist Zurechenbarkeit als
verdienstlich. Diese Zurechenbarkeit ist gegeben, wenn positiv zu be-
urteilende Leistungen vorliegen und diese Leistungen nicht durch nega-
tiv zu beurteilende aufgewogen werden. überwiegen die tadelnd
zurechenbaren Leistungen, so besteht keine Ehre mehr, sondern nur

37 BGHSt.9, 240 ff., 241; Lenckner, in: SchönkejSchröder, 21. Aufl. 1982,
§ 164 Rdn. 8 m. w. N.
38 Siehe auch neuestens BGH GA 1984, 95 f.
a9 Siehe emmer in: Schönke!Schröder (Fn. 37), § 263 Rdn. 37.
40 Und wird teils von der Nötigung aufgefangen. Insbesondere besteht
kein Bedürfnis, den Zwang zur Duldung oder Vornahme entwürdigenden
Verhaltens zur Beleidigung zu stilisieren; ausufernd aber TenckhojJ (Fn.34),
S. 176 ff. - Der Verweis auf die Nötigung soll nicht zu dem Schluß verfüh-
ren, aus jedem Zwang zur Preisgabe eines privaten Interesses dürfe eine
rechtswidrige Nötigung hergeleitet werden. Gerade umgekehrt: Es bedarf
einer besonderen Begründung (die allein mit einem Verweis auf eine
Zwangswirkung nicht geleistet ist), wenn der Erreger einer Zwangslage für
diese Lage und ihre Folgen zuständig sein soll. Selbst der "klassische", auf
Körperwirkung abstellende Gewaltbegriff leidet an dem Mangel, daß er die
Haftung des Täters für das abgenötigte Verhalten, also für das spezifische
Freiheitsverletzungsunrecht, aus dem Unrecht der Körperverletzung gewinnt
(so zuletzt Bergmann, Das Unrecht der Nötigung, 1983, S. 123 Fn.219). Auch
wenn man "Verletzungsgewalt" als mißbilligte "Verkehrsform" interpretiert
(so zuletzt Keller, Strafrechtlicher Gewaltbegriff und Staatsgewalt, 1982,
S.24, 242 und passim), hat man allein damit noch kein Argument dafür
gewonnen, zum Schutz vor solchen Verkehrsformen neben Totschlag oder
Körperverletzung oder Freiheitsberaubung auch ein Nötigungsdelikt zu ent-
wickeln. Dazu bedürfte es des Nachweises eines - durch den Schutz von
Leben, Leib und Freiheit noch nicht befriedigten - öffentlichen Interesses
an der Zurechnung der Verletzungsfolge "Freiheitsbeeinträchtigung" , ganz
parallel zum hier gesuchten öffentlichen Interesse am Ehrenschutz.
Die Aufgabe des strafrechtlichen Ehrenschutzes 639

noch Unehre. Nicht nur Hitler war kein Mann von - auch nur mini-
maler - Ehre. Aber Beleidigung reicht weiter, als positiv definierte
Ehre reicht; denn auch die übersteigerte Darstellung einer bestehen-
den Ehrlosigkeit - sei es durch das Erdichten "böser" Werke oder
durch das Leugnen "guter" - ist Beleidigung, weil sie Verfälschung
der Zurechnung (abstrakt) zu Lasten einer Person ist. Wie die Erhö-
hung der Schulden einer Person, die kein verfügbares Vermögen mehr
besitzt, Vermögensschädigung ist, weil und solange der Weg zu ver-
fügbarem Vermögen verlängert wird, so kann auch der Ehrlose belei-
digt werden, weil und solange der Weg zur Ehrenhaftigkeit verlängert
wird. Die Beleidigung knüpft an die Grenzenlosigkeit möglicher Un-
ehre an, wie die Vermögensdelikte an die Grenzenlosigkeit möglicher
Schulden anknüpfen; gegen die Begrenztheit positiv definierter Ehre
wie verfügbaren Vermögens besagt das nichts. Die Norm gegen Belei-
digung schützt also nicht in jedem Fall positiv vorhandene Ehre, son-
dern schützt vor der Verschlechterung des Ehrbestands, der aber schon
vor der Tat negativ gewesen sein kann. Beleidigung ist Verfälschung
der Zurechnung zu Lasten einer Person; Ehre ist zugunsten einer Per-
son angebrachte Zurechnung als verdienstlich.
Die Gegenthese, daß jeder Mensch stets schon kraft seines Person-
Seins Ehre besitze41 , ist aus der Wendung gegen besonders hohe oder
besonders niedrige Standesehren entstanden und verwechselt die un-
verwirkbare Ehrfähigkeit aller Menschen mit dem Ehrbestand (als
könne man aus der zivilrechtlichen Rechtsfähigkeit auf einen Mindest-
bestand an Vermögen schließen). Die Verwechslung liegt nahe, weil die
Wendung gegen die Standesehren nicht von einem neuen Ehrverständ-
nis vorangetrieben wurde, sondern von der (Wieder-) Entdeckung, "daß
es eine Menschlichkeit hinter und unterhalb der von der Gesellschaft
auferlegten Rollen und Normen gibt", daß also der Mensch Würde hat;
"die moderne Entdeckung der Würde fand gerade inmitten der Trüm-
mer abgehalfte(r)ter Ehrbegriffe statt"42. Reaktiviert man den Ehrbe-
griff, so führt das freilich nicht dazu, daß jede Ehre oder Unehre, die
man in einer der sozialen Rollen erwirbt, in denen man lebt, in die
anderen Rollen durchschlägt. Beispiel: Der Warenhaus dieb mag in
seiner Rolle als liebevoller Familienvater frei von Unehre sein. Aber
Taten und Untaten, in denen sich die generelle Lebenshaltung der
Person zeigt, wirken sich in allen ehrbezogenen Rollen aus, bei denen
es auf die Lebenshaltung ankommt; nur die Ehre in Bereichen einiger-

41 Hirsch (Fn. 14), S. 45 ff.; Tenckhofj (Fn.34), S. 41 ff.; Binding (Fn.36),


S.136, 139; Welzel (Fn.34), S.303; Schmidhäuser, Strafrecht BT, 2. Aufl. 1983,
5/1; Herdegen (Fn.34), Rdn.7 vor § 185; Rudolphi (Fn.34), Rdn.3 vor § 185;
- ganz überwiegende Ansicht.
42 P. L. Berger/B. Berger/Kellner (Fn. 32), S. 79.
640 Günther Jakobs

maßen oberflächlicher Kontakte bleibt von ihnen unberührt. Beispiele


in Fülle bietet das Disziplinarrecht der Beamten, soweit es an außer-
dienstliches Verhalten anknüpft (siehe § 77 Abs.l Satz 1 BBG). Daß
es Modi für intensive Beziehungen gibt, die auch an der Lebenshaltung
vorbei zur Person um ihrer selbst willen bestehen können, wie es etwa
bei Liebe oder bei Anerkennung von Würde möglich ist, berührt den
Befund nicht, da insoweit der Inhalt der Beziehungen gerade unab-
hängig vom Ehrbestand gestaltet werden kann.
Wie schon bemerkt wurde, kann auch der Ehrlose beleidigt werden:
Es verschiebt sich nur der Punkt, von dem ab der Verlust zu berech-
nen ist. Ganz entsprechend verschiebt sich der Ausgangspunkt, wenn
Ehre durch verdienstliche Taten gesteigert wird. Die Leugnung einer
Steigerungsmöglichkeit43 geschieht gemeinhin wohl wiederum in der
Angst, sonst würden den Standesehren analoge Gruppenehren aufleben,
- jedoch zu Unrecht. In der bürgerlichen Gesellschaft gehört ein über-
durchschnittlicher Ehrbestand nicht zur notwendigen Ausstattung der-
jenigen Rollenträger, mit denen man zur Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben umgehen muß. Es besteht deshalb - anders als bei der Standes-
ehreH - kein Zwang, ein hohes Ehrquantum überhaupt zu registrie-
ren. Beispiel: Selbst bei einer nobelpreiswürdigen Person als Ehemann,
Vater, Nachbar, Kollege, Angestellter, Käufer, Verkehrsteilnehmer
etc. gehört die außerordentliche Leistung nicht zur Rolle. Wer sich aber
auf die Beurteilung der Leistung einer Person einläßt, sei es ad hoc,
sei es generell (als Lehrer, Vorgesetzter), darf die außerordentliche Lei-
stung nicht leugnen. Beispiel: Wer behauptet, Einstein habe mit der
Entwicklung der Relativitätstheorie nichts zu tun, verunglimpft das
Andenken des Verstorbenen, und zwar unabhängig davon, ob Einstein
selbst sich der Leistung berühmt oder sie bescheiden verschwiegen hat.
Der regelmäßig bestehenden Freiheit, nicht loben zu müssen, entspricht
also kein Recht, verdienstliche Leistungen leugnen zu dürfen, so wie
die Freiheit, nicht grüßen zu müssen, kein Recht zum Anrempeln gibt45 •
- Das Problem dürfte praktisch nicht besonders erheblich sein, da der
verdienstlichen Leistung meist die Inanspruchnahme des Verdienstes

43 Siehe oben zu Fn. 34.


44 Sei diese Standesehre durch Geburt, durch Verleihung oder - so ihre
letzte, sich den Wertungen in der bürgerlichen Gesellschaft nähernde Vari-
ante - durch öffentliche Auszeichnung aufgrund "freier Handlungen" ent-
standen (Ritter von Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gül-
tigen Peinlichen Rechts, 14. Aufl., hrsg. von Mittermaier, 1847, § 274). Daß
diese "vorzügliche bürgerliche Ehre" nicht schon durch die öffentliche Aus-
zeichnung hinreichend bewiesen wird, wurde bald erkannt; siehe nur
Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht, Bd.2 Teil 1, 1884, S. 162. Aber
ein Schluß von der Irrelevanz der Titel, Ämter ete. für die Ehre auf die
Irrelevanz der "freien Handlungen" wäre falsch.
45 Anders die seit Binding (Fn.36), S. 145, wohl überwiegende Ansicht.
Die Aufgabe des strafrechtlichen Ehrenschutzes 641

durch den Leistenden folgt (Bescheidenheit ziert nur, weil sie selten
ist), so daß die Leugnung der Leistung den Urheber als Angeber hin-
stellt.

3. Da es um den Schutz derjenigen Zurechnung geht, die für den


gesellschaftlichen Bestand notwendig ist, fällt die nach gesellschafts-
fremden Zurechnungssystemen ermittelte Ehre oder Unehre aus dem
Beleidigungsrecht heraus. Das betrifft einmal die Ehrvorstellungen in
Randgruppen46 (sei es eine "Verbrecherehre" , sei es eine Ehre esoteri-
scher Gruppen). Die Nachreden, der Revolutionär glaube selbst nicht an
die neue Weltordnung oder der Terrorist habe keine Bombe geworfen
oder das Bandenmitglied laufe weg, wenn die Lage ernst werde, oder
der notorische Lebemann sei im Herzen ein braver Familienvater oder
der sich offen als homosexuell Bekennende sei nur ein neurotisierter
Heterosexueller etc., stören nur in ihrerseits störenden oder jedenfalls
nicht bestandsnotwendigen Gruppen.
Zum anderen betrifft die Beschränkung auf das gesellschaftseigene
Zurechnungssystem die Bewertung aus systemfremden Ideologien, etwa
nach bestimmten religiösen Morallehren oder nach kommunistischer
Ideologie. Die Kanzelrede an die Versammelten, sie seien allzumal
Sünder, wenn nicht gar Otterngezücht, ist demnach so wenig Beleidi-
gung, wie die vulgär-marxistische Behauptung, jeder Unternehmer sei
ein Ausbeuter. Hier handelt es sich nicht um Versuche, Zurechnung im
bestehenden System zu verfälschen, sondern das bestehende Zu rech-
nungssystem zu verändern. Natürlich gilt das nur, wenn aus dem Kon-
text deutlich wird, daß die Beurteilung nach einem systemfremden
Zusammenhang erfolgt.

4. Am stärksten dürfte der hier vorgeschlagenen Lösung wegen ihrer


Beschränkung auf zurechenbares Verhalten widersprochen werden. Es
ist seit langer Zeit eines der höchst intrikaten Probleme des Beleidi-
gungsrechts (des "Ehrbegriffs"), ob es auch beleidigt, wenn ein Defekt
an solchen Anlagen und Fähigkeiten fälschlich zugeschrieben wird, die als
einem Menschen evident nicht verfügbar und damit als nicht zu rechen-
bar gelten (vorweg: ein Mangel an Intelligenz oder sexueller oder ästhe-
tischer "Normalität") oder wenn mit einem Menschen würdelos umge-
gangen wird 47 • Binding 48 hat die Norm gegen Beleidigung streng an das
Verhalten gebunden, mit der vermeintlich notwendigen Folge, daß auch
Beschimpfungen wie "Idiot" und entsprechende Synonyma nur "Pseudo-
beleidigungen" sein sollen; teils werden "elementare Unzulänglichkei-

46 Zur Funktion von spezifischen Gruppenehren: Simmel (Fn. 12), S. 404 f.


47 Darstellung der Kontroverse bei Hirsch (Fn.14), S. 82 ff.; Tenckhofj
(Fn. 34), S. 42 ff.
48 (Fn. 36), S. 144.

41 Festschrift für H.-H. Jescheck


642 Günther Jakobs

ten" in der unverfügbaren Ausstattung als beleidigend eingestuft4 9 , teils


wird die Lösung in der Verletzung der Menschenwürde gesucht 50 , teils
taucht das Problem nicht auf, weil die Beleidigung zur Verletzung per-
sönlicher Rechte ausgefranst ist 51 • All dies befriedigt nicht. Zunächst
bedeutet der Vorwurf "Idiot" zu allermeist nicht, der so Titulierte habe
Nachsicht verdient, sondern er habe sich gerade zurechenbar daneben
benommen. Sollte dies anders sein ("echt unterbegabt" etc.) und die
Herabsetzung nicht schon in dem - unbestritten beleidigenden - Vor-
wurf liegen, der so Titulierte beanspruche zurechenbar mehr, als ihm
zukomme, verfälscht die Qualifizierung - wenn sie nicht angebracht
ist - die Bewertung des bisherigen Verhaltens des Betroffenen: Die
angeblich idiotischen Darstellungen haben in Wirklichkeit nie statt-
gefunden. Das gilt selbst dann, wenn eine elementare Unzulänglich-
keit mit der Folge des Fehlens einer zurechenbaren Leistung dem
Üblichen entspricht. So ist etwa die Bezeichnung eines geistig regen
Neunzigjährigen als "dahindämmernder Greis" Beleidigung, weil sie
die zurechenbaren Leistungen des Betroffenen leugnet 52 ; wer mehr
erbringt, als erwartet werden kann, muß dafür sicher nicht - bei an-
sonsten erfolgender Beleidigungsstrafe - gepriesen werden; trotzdem
ist die Leugnung seiner Leistung eine fehlerhafte Zurechnung zu seinen
Lasten.
Auch die Verabsolutierung ästhetischer Defekte, etwa die Titulierung
einer hageren Frau als "ausgemolkene Ziege", erledigt sich zwanglos.
Das Beleidigende liegt in der Leugnung, die - in Wirklichkeit zu rechen-
bar korrekte - Selbstdarstellung der Person sei menschlich. Geht diese
Leugnung aus dem Kontext nicht hervor, so handelt es sich um eine
grobe Geschmacklosigkeit, aber nicht um Beleidigung53 , weil eine Kom-
munikation über die ästhetische Ausstattung eines Menschen - anders
als eine Kommunikation über zurechenbares Verhalten - keine gene-
rell bestandsnotwendige Kommunikation ist.
Für eine möglicherweise eigenständige Berücksichtigung von nicht
zurechenbaren menschlichen Unzulänglichkeiten verbleiben überhaupt
nur die Fälle der unzutreffenden Behauptung eines vom bisherigen
Verhalten des Betroffenen voll isolierten Defekts: Jemand sei durch
einen Unfall nunmehr impotent oder geistesgestört, ein Säugling sei
nicht entwicklungsfähig etc. In diesen praktisch wohl höchst seltenen
Fällen wird nicht - wie bei der Beleidigung - das retrospektiv am

49 Hirsch (Fn. 14), S. 83.


50 TenckhojJ (Fn. 34), S. 178 f.
51 BGHSt. 7, 129 ff.; 9, 17 ff.; 11, 67 ff.; 16, 58 ff., 60; weitere Nachweise bei
TenckhojJ (Fn. 34), S. 43 f.
52 Siehe Dtto, Festschrift für Schwinge, S. 8I.
58 Abweichend TenckhojJ (Fn. 34), S. 176.
Die Aufgabe des strafrechtlichen Ehrenschutzes 643

Verhalten des Betroffenen zu gewinnende Bild verfälscht, sondern eine


ungünstige Prognose gestellt. Diese Prognose kann - wie beim Ehran-
griff und wie bei jeder Intrige - die Chancen des Betroffenen gewaltig
mindern, kann aber auch - anders als beim beleidigenden Angriff -
durch künftiges Verhalten widerlegt werden. Schließlich ist ja auch -
bislang unbestritten - die unzutreffende Behauptung der elementarsten
Unzulänglichkeit, des Todes, keine Beleidigung. Der sogenannten "kon-
stanten Ehrfaktoren" als Elemente eines angeborenen, unverlierbaren
Menschseins bedarf es wohl zur Begründung des Persönlichkeitsrechts,
der Menschenwürde und der Gleichheit; es ist aber verfehlt, dies alles
über Beleidigung auch mit strafrechtlichen Sanktionen zu garantieren,
da nur die Kommunikation über zurechenbares Verhalten allgemein er-
wünscht und deshalb allgemein zu schützen ist.

5. Auch die hier vorgeschlagene Berücksichtigung des öffentlichen


Interesses garantiert nicht, daß stets ein Interesse perfekt verletzt ist,
wenn die beleidigende Kommunikation abgeschlossen, also die Beleidi-
gung vollendet ist. Aber die hiesige Position stützt den möglichen Be-
gründungsgang. Warum also ist die Beleidigung früher vollendet als
ceteris paribus der Betrug, und warum ist, insbesondere bei Äußerun-
gen gegenüber dritten Personen, nicht einmal der Vorsatz nötig, daß
sich die Äußerung irgendwie nachteilig auf den Lebenskreis des Betrof-
fenen auswirkt? Aus der nur-personalen Sicht bestehen zwei Lösungs-
möglichkeiten54 : Man kann auf die Schwierigkeit hinweisen, forensisch
zu rekonstruieren, ob und wie sich der Adressat durch die Äußerung
hat beeinflussen lassen; - aber das begründet nicht den Verzicht auf
eine entsprechende subjektive Seite. Man kann weiterhin der betrof-
fenen Person ein Recht auf Wahrheit insoweit zusprechen, als über sie
"geredet" wird; - das freilich führt vom Schutz der Person weg und
hin zum Schutz des wahren Bildes der Person. Letzteres muß nicht falsch
sein: Das Bild repräsentiert die Person und seine Verzeichnung und
Zerstörung sind zugleich symbolische Verzeichnung und Zerstörung der
Person. Bei Berücksichtigung auch des öffentlichen Interesses läßt sich
diese symbolische Verletzung noch verdichten: Wie im förmlichen Pro-
zeß die ordnungsgemäße Rechtspflege durch die Wahrheit (nicht nur
geschützt, sondern) repräsentiert wird, so daß die Verletzung der Wahr-
heit zugleich die Rechtspflege symbolisch verletzt55 , so wird auch im in-
formellen Prozeß regelgerechte Zurechnung durch Wahrheit vertreten
und mit der Wahrheit symbolisch verletzt.

54 Zur Lösung von Hirsch siehe oben zu Fn. 2l.


55 Siehe Jakobs (Fn. 29),6/88.

41'
KARL LACKNER

Neuorientierung der Rechtsprechung


im Bereich des Vollrauschtatbestandes ?*

I.
Es hat den Anschein, als sollte die Diskussion um den nach überwie-
gender Meinung mißratenen, aber möglicherweise gar nicht durchgrei-
fend verbesserungsfähigen Tatbestand des Vollrauschs (§ 323 a)1 niemals
zur Ruhe kommen. Dabei geht es keineswegs nur um Detailfragen der
Auslegung, die mehr oder weniger bei jedem Tatbestand zu beantwor-
ten sind. Vielmehr konzentriert sich das Interesse immer wieder neu
auf die Grundstruktur der Vorschrift, auf ihre Vereinbarkeit mit dem
Schuldprinzip und auf die dogmatischen Voraussetzungen und Gren-
zen ihrer Anwendung. Vor allem fällt auf, daß nicht nur das Schrift-
tum durch einen tiefgreifenden Dissens und eine Vielzahl einander
widersprechender Konzeptionen gekennzeichnet ist, sondern daß sich
auch die Rechtsprechung in einem fortwährenden Umbruch befindet,
der die Einheitlichkeit der strafgerichtlichen Praxis gefährdet und
dessen Ende nicht absehbar ist.

1. Allerdings ist diese Unruhe an der Rechtsprechungsfront erst jün-


geren Datums. Nach der ebenso richtungweisenden wie umstrittenen
Entscheidung des Großen Senats vom 15. Oktober 19562 , die dem
§ 330 a a. F. die Funktion eines Auffangtatbestandes für Fälle zweifel-
hafter Schuldunfähigkeit zuwies, hat sich eine über Jahre gefestigte
Rechtsprechung entwickelt, die den Vollrausch als abstraktes Gefähr-
dungsdelikt besonderer Art verstand 3 , das Unrecht der Tat ausschließ-
lich oder jedenfalls in erster Linie in der vorsätzlichen oder fahrlässi-
gen Herbeiführung des Rauschzustandes sah\ die Begehung der Rausch-

* Das Manuskript ist am 1. 5. 1984 abgeschlossen worden. Spätere Ver-


öffentlichungen, namentlich auch der nachstehende Beitrag von Herbert
Tröndle, "Vollrauschtatbestand und Zweifelsgrundsatz" , konnten nicht mehr
berücksichtigt werden.
I Verweisungen auf Paragraphen ohne Gesetzesangabe beziehen sich auf
das Strafgesetzbuch.
2 BGHSt. 9, 390.

3 Vgl. zuletzt BGHSt. 32, 48 m. w. N.


4 BGHSt. 16, 124; 17,333,334; 20,284, 285.
646 Karl Lackner

tat als bloße Bedingung der Strafbarkeit einordnete5 und bei Zweifeln
an der Schuld unfähigkeit des Täters darauf abstellte, ob der "sichere
Bereich des § 21 (früher § 51 II) 6 überschritten" war7 •
Unausgetragen und bis heute nicht ausdrücklich beantwortet blieb
lediglich die zwischen den Strafsenaten des BGH jahrelang umstrittene,
aber nur selten entscheidungserhebliche Frage, ob zur Unrechtsbegrün-
dung das Herbeiführen des Vollrausches schon für sich allein genügt8
oder ob eine - im Regelfall allerdings ohne weiteres zu bejahende -
Voraussicht oder Voraussehbarkeit irgendwelcher strafrechtlich rele-
vanter Ausschreitungen im Rausch hinzukommen muß 9 • Es hat den
Anschein, daß sich innerhalb des Gerichts die Deutung als rein abstrak-
tes Gefährdungsdelikt durchgesetzt hat; denn seit langer Zeit beziehen
sich alle einschlägigen Entscheidungen zur Charakterisierung der Tat-
bestandsstruktur auf BGHSt. 16, 124, wo die Streitfrage ausführlich be-
handelt und im Sinne der weiten Auslegung beantwortet worden ist.
Von dieser nicht sehr weittragenden Unklarheit abgesehen, hat sich im
Laufe der ersten Jahre nach dem Beschluß des Großen Senats eine
relativ konforme Rechtsprechung herausgebildet. Das änderte sich auch
nicht, als der § 330a a. F. durch das EGStGB umgestaltet wurde und
seine bis heute geltende Fassung erhieItl°. Da aus den Gesetzesmateria-
lien eindeutig hervorging, daß der Gesetzgeber mit der Neufassung im
wesentlichen nur die bisherige Rechtsprechung und vor allem die in
BGHSt.9, 390 anerkannte Möglichkeit der Verurteilung auch bei zwei-
felhafter Schuld unfähigkeit bestätigen, sonst aber keine Änderung der
Rechtslage bewirken wollte 1t, sah auch der BGH keinen Anlaß zur
Kursänderung. Die Formel von der "Überschreitung des sicheren Be-
reichs des § 21" blieb nach wie vor maßgebend l2 •
Dabei wäre es möglicherweise geblieben, wenn es nicht zu einer Kon-
troverse zwischen mehreren Oberlandesgerichten über den sachlichen
Gehalt dieser Formel gekommen wäre. Während das BayObLG seinen

5 Vgl. die Nachweise in Fn.4.


6 Das 2. StrRG vom 4.7.1969 (BGBL I S.717) hat den früheren § 51 11
(verminderte Zurechnungsfähigkeit) durch § 21 ersetzt.
7 BGHSt. 16, 187.
8 So BGHSt. 16, 124 und die ständige Rechtsprechung der Strafsenate des
BGH mit Ausnahme des 5. Senats.
9 So BGHSt. 10, 247 und BGH JR 1958, 28 (5. Strafsenat).
10 Eingefügt wurde die jetzt geltende Fassung als § 330 a durch Art. 19
Nr. 185 des EGStGB vom 2.3. 1974 (BGBL I S. 469), aber durch das 18. StrÄndG
vom 28. 3. 1980 (BGBL I S.373) in der Paragraphenbezeichnung (jetzt § 323 a)
geändert.
11 Begründung zu Art. 18 Nr. 169 des Entwurfs eines EGStGB (BT-Drucks.
7/550 S. 268).
12 BGH VRS 50,45, 358 und JR 1980,32.
Neuorientierung im Bereich des Vollrauschtatbestandes? 647

Standpunkt dahingehend konkretisierte, daß die Auffangwirkung des


§ 323 a schon durch ein Beweisergebnis ausgelöst werde, das im ganzen
betrachtet die Schuldunfähigkeit des Täters als zweifelhaft, seine min-
destens verminderte Schuldfähigkeit aber als gewiß erscheinen lasse t3 ,
forderte das OLG Karlsruhe darüber hinaus, daß dieses Zusammen-
treffen von Zweifel und Gewißheit nicht nur allgemein, sondern bei
jeder nach dem Beweisergebnis möglichen Fallgestaltung gegeben sein
müsse14 • Damit war ein Streit von großer praktischer Relevanz ausge-
brochen: Bei der Ermittlung der Alkoholbeeinträchtigung bildet die
Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit regelmäßig den Ausgangspunkt15 •
Sie kann aber im Hinblick auf die tatsächlichen und die methodischen
Schwierigkeiten bei der Rückrechnung und auf die Erfordernisse des
Grundsatzes in dubio pro reo oft nur sehr unbestimmt, d. h. nur inner-
halb jeweils stark differierender Mindest- und Höchstwerte, angegeben
werden16 • Die kritische Konstellation, die nach den widerstreitenden
Standpunkten der Oberlandesgerichte zu unterschiedlichen Ergebnis-
sen führte, lag immer schon dann vor, wenn bei Auswertung der in
Frage kommenden niedrigsten Alkoholwerte verminderte Schuldfähig-
keit mit Gewißheit bejaht, Schuldunfähigkeit aber ausgeschlossen wer-
den mußte, der Zweifel im Hinblick auf die Schuldunfähigkeit sich also
erst einstellte, wenn man von einem der ebenfalls möglichen höheren
Alkoholwerte ausging. Es liegt auf der Hand, daß eine solche Kon-
stellation keinen Ausnahmefall, sondern eine typische Fallgruppe in-
nerhalb der Trunkenheitsdelikte bildet. Daß ihre Problematik alsbald
dem BGH nach § 121 II GVG zur Entscheidung vorgelegt wurde 17 , war
deshalb zu erwarten. Wie das Gericht allerdings entscheiden würde,
war eine völlig offene Frage. Als Entscheidungsalternativen kamen
nämlich nicht nur die beiden gegensätzlichen, aus der bisherigen höchst-
richterlichen Rechtsprechung abgeleiteten Positionen der streitenden
Oberlandesgerichte in Frage. Zu würdigen war vielmehr zugleich eine
Fülle von grundsätzlichen Einwendungen, die im Schrifttum der jünge-
ren Vergangenheit gegen die herrschende Deutung des Vollrauschtat-
bestandes im allgemeinen und gegen die Formel vom "sicheren Bereich
des § 21" im besonderen erhoben worden waren l8 • Die in dieser Situa-

13 BayObLG NJW 1978,957, MDR 1979, 777 und VRS 58,207.


u OLG Karlsruhe NJW 1979, 1945; ebenso schon OLG Hamm NJW 1977,
344.
15 Ihre Feststellung bildet trotz aller damit verbundenen methodischen
Schwierigkeiten nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft die relativ
zuverlässigste Grundlage für die Beurteilung der Schuldfähigkeit und der
Fahrtüchtigkeit. Sie entspricht ständiger Gerichtspraxis.
18 Ein solcher Fall lag der Entscheidung des OLG Karlsruhe (Fn.14)
zugrunde.
17 BayObLG VRS 58, 207.
18 Nachweise dazu im folgenden Text.
648 Karl Lackner

tion ergangene Entscheidung auf den Vorlegungsbeschluß 19 stellt zwar


die bisherige Linie der Rechtsprechung nicht prinzipiell in Frage, be-
deutet aber für die Anknüpfung in Fällen zweifelhafter Schuldunfähig-
keit eine vollständige Neuorientierung. Vornehmlich von den Perspek-
tiven, die sich aus dieser partiellen Kehrtwendung ergeben, soll im
folgenden die Rede sein.

2. Mir scheint, daß der BGH es mit gutem Grund vermieden hat, sich
auf den auch heute noch keineswegs ausgetragenen Meinungsstreit
über die Grundstruktur des § 323 a einzulassen. Wenn er sich insoweit
unter Hinweis auf seine bisherige Rechtsprechung mit einer Charakte-
risierung des Tatbestandes als "Gefährdungsdelikt" begnügt 20 und da-
mit, wie die Bezugnahme auf BGHSt. 16, 124 beweist, ein abstraktes
Gefährdungsdelikt gemeint hat, so dürfte in dieser Zurückhaltung zum
Ausdruck kommen, daß er eine Wiederaufnahme des Grundlagenstreits
beim gegenwärtigen Meinungsstand nicht für erfolgversprechend ge-
halten hat. Die möglicherweise unüberwindbare und im Verlauf der
Diskussion zunehmend evident gewordene Schwierigkeit liegt darin,
daß die strafrechtliche Erfassung der Delinquenz Volltrunkener in jeder
wie auch immer gearteten Form einerseits schwerwiegenden dogmati-
schen Einwendungen ausgesetzt, andererseits aber trotz all ihrer Frag-
würdigkeit schlechthin "notwendig" ist21 . Eine Analyse auch des neue-
ren Schrifttums hat mich in meiner schon vor Jahren geäußerten An-
sicht bestärkt, die ich damals wie folgt formuliert habe: "Deshalb kann
man ernstlich auch nicht bestreiten, daß von den im Schrifttum unter-
nommenen Lösungsversuchen jeder gewichtige Argumente für sich
hat .... überdies wird sich jeder Kritiker damit abfinden müssen, daß
eine unter allen Gesichtspunkten befriedigende Lösung nicht erreich-
bar ist. Das dürfte der seit Jahren unentschiedene wissenschaftliche
Stellungskrieg um den Tatbestand zur Evidenz gebracht haben"22. Diese
Beurteilung soll hier nur durch einige wenige Hinweise auf die wider-
streitenden Positionen zum geltenden Recht verdeutlicht, aber im Hin-
blick auf die andersartige Zweckrichtung dieses Beitrages nicht weiter
vertieft werden:
Auch heute noch - und zwar in jüngster Vergangenheit verstärkt -
wird die Meinung vertreten, daß es sich bei § 323 a entgegen dem Ge-
setzeswortlaut nicht um einen selbständigen Tatbestand, sondern um
eine partielle Ausschaltung des § 20 handele23 • Diese und einige andere

19 BGHSt. 32, 48.


20 BGH (Fn. 19).
21 So schon Arthur Kaufmann, JZ 1963,428,433.
22 Lackner, JuS 1968, 215, 216.
Neuorientierung im Bereich des Vollrauschtatbestandes? 649

Konzeptionen 2\ die dem Vollrausch den Charakter eines Gefährdungs-


delikts absprechen und zugleich darauf beharren, daß die Rechtsord-
nung das "Sich-Versetzen" in einen solchen Rausch rechtlich nicht miß-
billige, verzichten bei Licht betrachtet auf eine tragfähige Legitimation
für die Bestrafung. Wie immer man auch die Funktion der Strafbegrün-
dungsschuld versteht - sei es als Basis für einen individuellen oder
sozialen Vorwurf oder auch nur als Grundlage für die "Zuschreibung"
von sozialer Verantwortung 25 - immer bleibt das Bedenken, daß bei
dieser Betrachtung das Verhalten vor dem Rausch wegen seiner Recht-
mäßigkeit keinen Vorwurfs- oder Zuschreibungsgrund abgibt und daß
auch die rechtswidrige Tat im Rausch ihn schon per definitionem nicht
enthält. Wie hier aus dem zeitlichen Nacheinander der beiden Verhal-
tensweisen, also einer nur additiven Verbindung, der Zuschreibungs-
grund erwachsen, also eine Gleichung 0 + 0 = 1 aufgehen soll, ist nicht
erfindlich. Ich bin nicht der Meinung, daß die Anhänger dieser Lehre dafür
eine zureichende Erklärung gefunden haben26 • Trotzdem hat ihre Kon-
zeption mancherlei für sich. Vor allem kann sie das dem Vollrausch-
tatbestand zugrunde liegende kriminalpolitische Ziel auf direktem
Wege, also ohne die Notwendigkeit mehr oder weniger verschlungener
Umwege erreichen. Außerdem dürfte sie sich auch am besten den in der
Gesellschaft wohl heute noch herrschenden Anschauungen anpassen,
die das Sich-Betrinken als rechtlich wertneutral, allenfalls als sittlich

23 Vgl. etwa von Weber, MDR 1952, 641 und ders., GA 1958, 257; Hardwig,
Festschrift für Eb. Schmidt, 1961, S.459 und ders., GA 1964, 140; Streng, JZ
1984, 114, 119; Neumann, Strukturprobleme der Zurechnung in Fällen eines
strafbarkeitsrelevanten "Vorverschuldens" (noch nicht veröffentlichte Mün-
chener Habilitationsschrift).
24 Vgl. etwa Maurach, Schuld und Verantwortung im Strafrecht, 1948,
S. 37, 49, 109, 116.
25 Der Grund, warum die rechtswidrige Tat dem Täter als Person zu-
gerechnet, d. h. ihm als schuldhaft vorgeworfen oder auch nur als von ihm
zu verantworten zugeschrieben wird, ist im Schrifttum nach wie vor um-
stritten (vgl. etwa Roxin, Festschrift für Henkel, 1974, S. 125; Stratenwerth,
Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips, 1977; Jescheck, Lehrbuch
des Strafrechts - Allgemeiner Teil, 3. Auf!. 1978, §§ 37 - 39; Jakobs, Straf-
recht - Allgemeiner Teil, 1983, Abschn.17, Rdn. 1 fL), aber für die hier zu
beantwortende Frage wohl kaum' erheblich.
26 Deshalb kann auch der Ansicht von Streng (JZ 1984, 114, 118) nicht
zugestimmt werden, daß ein generalpräventiv fundierter Schuldbegriff sich
über diese Schwierigkeit hinwegsetzen könne. Soweit im Schrifttum ver-
sucht wird, das Unrecht des Sich-Berauschens als durch die Rauschtat "auf-
schiebend bedingt" zu verstehen, es also nur für den Fall zu bejahen, daß es
sich in einer nachfolgenden Rauschtat realisiert (so Jakobs [Fn. 25], Abschn.
10, Rdn.2 und Abschn.17, Rdn.61), so ist das nur ein Kunstgriff, mit dem
die in Wahrheit bestehende rechtliche Mißbilligung verdeckt wird. Solche
rückwirkende Unrechtsbegründung widerspricht dem allgemeinen Prinzip,
daß Unrecht und Schuld auf den Zeitpunkt der Tathandlung zu beziehen
sind und nicht rückwirkend zum Nachteil des Täters fingiert werden kön-
nen. Für den Fall das dolus subsequens gehört das zu den gänzlich unbe-
strittenen dogmatischen Einsichten.
650 Karl Lackner

problematisch, beurteilen und dennoch die Verantwortlichkeit für


Rauschtaten ganz selbstverständlich postulieren 27 • Das mag die Frag-
würdigkeit dieses Modells bis zu einem gewissen Grade mildern, aber
sicher nicht vollends aufheben. Dem steht vor allem entgegen, daß der
historische Gesetzgeber eine solche Strafbegründung aus verfassungs-
rechtlichen Erwägungen abgelehnt und deshalb einen Deliktstatbestand
geschaffen hat, dessen Wortlaut eine Deutung als Ausnahmeregel zu
§ 20 unmißverständlich ausschließt 28 •
Wer aus solchen oder anderen Gründen den Charakter des § 323 a
als Gefährdungsdelikt anerkennt, ihn aber durch restriktive, an sich
dem Gesetzeswortlaut widersprechende Auslegung auf Fälle konkreter
Gefährdung beschränkt, hat es dogmatisch in vieler Hinsicht leichter.
Er kann aus dem Schuldprinzip oder dem Verhältnismäßigkeitsgrund-
satz hergeleitete Bedenken ziemlich mühelos zerstreuen, weil ja nur der
gemeingefährliche Rausch, d. h. ein Rauschmittelkonsum, der nach den
Umständen des Einzelfalles mit Wahrscheinlichkeit zu einer Rauschtat
führen wird, tatbestandsgemäß und damit rechtlich verboten ist 29 • Die-
ses Modell hat sich aber nicht durchsetzen können. Es war nicht mög-
lich, die Befürchtung kriminalpolitisch unvertretbarer Strafbarkeits-
lücken und gehäuft auftretender Beweisschwierigkeiten zu zerstreuen30 •
- Wer sich deshalb dafür entscheidet, den Tatbestand als abstraktes

27 Diese und weitere Vorteile hat jüngst erst Streng (Fn.26) sehr an-
schaulich und einleuchtend herausgearbeitet.
28 Vgl. namentlich die Begründung zu § 351 E 1962 (BT-Drucks. IV/650
S. 536) und zu Art. 18 Nr. 169 des EGStGB (BT-Drucks. V/550 S. 268).
29 Das gilt vor allem für diejenigen, die eine aus den Umständen zu fol-
gernde (gemeingefährliche) Neigung des Täters zur Begehung strafrechtlich
relevanter Ausschreitungen im Rausch fordern, wie z. B. Lange, JR 1957,
242; Heinitz, JR 1957, 126, 347; Hirsch, ZStW, Beiheft 1981, 2; Kahlmusch/
Lange, Strafgesetzbuch, 43. Auf!. 1961, § 330 a Anm.III; Welzel, Das Deutsche
Strafrecht, 11. Auf!. 1969, § 68, II 1 b.
30 Zwischen der Beschränkung des Tatbestandes auf Fälle gemeingefähr-
licher Berauschung auf der einen und seiner Deutung als rein abstraktes
Gefährdungsdelikt auf der anderen Seite stehen deshalb eine Anzahl wei-
terer Konzeptionen, die neben der Herbeiführung eines die Schuldfähigkeit
ausschließenden Rausches eine aus den Umständen des Einzelfalls zu fol-
gernde, meist allerdings nur subjektiv beschriebene Möglichkeit der Bege-
hung von strafrechtlich relevanten Ausschreitungen im Rausch fordern.
Hierher gehört namentlich die Auffassung des 5. Strafsenats (Fn.9), ferner
im Schrifttum die - allerdings unterschiedlich begründeten - Modelle von
Bemmann, GA 1961, 65; emmer, Der Vollrauschtatbestand als abstraktes
Gefährdungsdelikt, 1962; Ranft, MDR 1972, 737 und JA 1983, 193; Gallner,
MDR 1976, 182. Diese Lösungen sollen im folgenden nicht kritisch gewürdigt
werden (dazu Lackner, Jus 1968, 215), weil sie auf dem Postulat einer nicht
zureichend geklärten inneren Beziehung zwischen Rausch und Rauschtat
beruhen und weil die von ihnen angestrebte Beschränkung des Anwen-
dungsbereiches von § 323 a auch begründbar ist, wenn die Tat in übereinstim-
mung mit dem Gesetzeswartlaut als rein abstraktes Gefährdungsdelikt ver-
standen wird (vgl. dazu den weiteren Text).
Neuorientierung im Bereich des Vollrauschtatbestandes? 651

Gefährdungsdelikt zu akzeptieren 31 , befindet sich in übereinstimmung


mit den Intentionen des historischen Gesetzgebers 32 und erfüllt wahr-
scheinlich auch die ihm gestellte kriminal politische Aufgabe wirksamer,
als es mit Hilfe eines konkreten Gefährdungstatbestandes möglich wäre.
Er muß sich aber gewichtigen Einwendungen stellen, die sich auf die
Problematik des Verbotenseins schon der schlichten Berauschung33 , auf
das wenig befriedigend erklärbare Verhältnis von Tatbestand und
Rauschtat 34 und auf die Höhe der stufenlosen Strafdrohung beziehen35 •
Daß hier auch Argumente im Spiel sind, die nicht jedermann überzeu-
gen können, läßt sich schwerlich bestreiten.
Bei der Abwägung muß man sich aber darüber klar sein, daß es
in diesem intrikaten Bereich nur die Wahl zwischen Übeln gibt. Jede
bisher zur Diskussion gestellte Lösung hat gewichtige Vorzüge und
Schwächen. Nachdem sich inzwischen aber die Rechtsprechung und ein
wesentlicher Teil des Schrifttums für das Konzept des abstrakten Ge-
fährdungsdelikts entschieden haben, wird eine Fortsetzung der Grund-
lagendiskussion Aussichten auf Erfolg nur dann bieten, wenn das zur
Zeit bestehende wissenschaftliche Patt durch neue und überzeugendere
Argumente aufgebrochen werden kann. So lange das nicht der Fall ist,
sollte die Auseinandersetzung mit der jüngsten Entwicklung in der

31 So schon Schröder, DRiZ 1958, 219; Bruns, JZ 1958, 105; im neue ren
Schrifttum namentlich Puppe, GA 1974, 98 und Jura 1982, 281; Nlontenbruck,
GA 1978, 225 und ders., JR 1978, 209; Horn, JR 1980, 1 und ders., in: SK -
Besonderer Teil, 2. Aufl. 1980, § 323 a Rdn. 2; Dencker, NJW 1980, 2159.
32 Vgl. Fn. 28.

33 Besonders pointiert wird dieses Problem herausgearbeitet von Arthur


Kaufmann (Fn. 21) und Streng (Fn. 26).
34 Das zeigt sich sehr deutlich an den Versuchen, zwischen der Einord-
nung des § 323 a als gemeingefährliches Delikt und einem schlichten abstrak-
ten Gefährdungsdelikt in rechtlich schwer faßbaren Zwischenstufen ein
Gefährdungsdelikt "besonderer Art" zu etablieren, das als Mischform zwi-
schen einem konkreten und einem abstrakten Gefährdungsdelikt verstanden
werden müßte (vgl. dazu die Nachw. in Fn. 30).
35 Die Weite der Strafdrohung ist in der Tat nicht unbedenklich, weil
sie stufenlos Fälle umfaßt, in denen der Täter (1) mit der Möglichkeit ge-
rechnet hat, im Rausch rechtswidrige Taten zu begehen, in denen er (2) zwar
nicht damit gerechnet, aber immerhin doch hat damit rechnen müssen und
(3) in denen weder das eine noch das andere zutrifft. Der Versuch von
Wolter (NStZ 1982, 54), die Strafdrohung des § 323 a schon im Wege der Aus-
legung in der Weise aufzuspalten, daß ein Minimalstrafrahmen für Fälle
ohne Schuldbeziehung zwischen Tatbestand und Rauschtat vorbehalten wird
und daß der höhere Restrahmen nur für die übrigen Fälle zur Verfügung
steht, hat deshalb Gewicht. Nur bietet das Gesetz für eine so weittragende
Rechtsschöpfung keine zureichende Grundlage. Dem Anliegen von Wolter
ist vielmehr dadurch Rechnung zu tragen, daß der Richter sich zur Wahrung
des Schuld- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im untersten Bereich des
Strafrahmens bewegt, wenn es an einer aus den konkreten Umständen ab-
zuleitenden Schuld- oder Risikobeziehung im Hinblick auf die Rauschtat
fehlt.
652 Karl Lackner

Rechtsprechung systemimmanent, d. h. unter der Prämisse erfolgen,


daß die Rechtsnatur des § 323 a als eines abstrakten Gefährdungsdelikts
nicht in Frage gestellt wird. Das dürfte übrigens auch von dem hoch-
verehrten Jubilar, dem dieser Beitrag in dankbarer Erinnerung an
viele Jahre ersprießlicher Zusammenarbeit gewidmet ist, sicher nicht
ungern akzeptiert werden. Entspricht es doch auch seiner wissenschaft-
lichen überzeugung, daß die Annahme eines abstrakten Gefährdungs-
tatbestandes am ehesten "richtig erscheint"38.

H.

1. Aber auch, wenn man das anerkennt, bleibt die Neuorientierung,


die der BGH vollzogen hat, bedeutsam genug. Sie läßt sich in groben
Strichen wie folgt charakterisieren: Bisher hat die Rechtsprechung
einen inneren Zusammenhang zwischen der tatbestandsmäßigen Ge-
fährdungshandlung (der Herbeiführung eines Rausches) und der Straf-
barkeitsbedingung (der Rauschtat) dadurch hergestellt, daß sie das
Merkmal des Rausches nur bejahte, wenn dieser jedenfalls einen sol-
chen Schweregrad erreicht hatte, daß die Schuldfähigkeit tangiert und
der sichere Bereich des § 21 überschritten, d. h. in der weiten Ausle-
gung des BayObLG37 : wenn nach dem Beweisergebnis mindestens ver-
minderte Schuldfähigkeit sicher und volle Schuldfähigkeit zweifelhaft
war. Nimmt man die Neufassung in den Blick, die der Vollrauschtat-
bestand durch das EGStGB erfahren hat 38 , so bietet der Gesetzeswort-
laut für die Annahme eines solchen Zusammenhangs keinen Anhalts-
punkt; denn die tatbestandsmäßige Handlung (das vorsätzliche oder
fahrlässige Herbeiführen eines Rausches durch den Genuß von Rausch-
mitteln) und die Strafbarkeitsbedingung (das Begehen der Rauschtat
im Zustand festgestellter oder nicht auszuschließender Schuldunfähig-
keit) sind sprachlich eindeutig voneinander getrennt und deshalb nach
dem Sprachsinn auch unabhängig voneinander zu prüfen und festzu-
stellen. Warum es gleichwohl auf den beschriebenen Zusammenhang
ankommen soll, hat der BGH nur auf der Grundlage der früheren Fas-
sung des § 330 a und nur im Zusammenhang mit seiner Ansicht begrün-
det, daß der Vollrausch im Verhältnis zur strafbaren Rauschtat einen
Auffangstatbestand bilde39 • Ob die damals vorgetragenen Argumente
überzeugend waren, kann heute dahingestellt bleiben; denn mit dem
Inkrafttreten der Neufassung war die Frage neu gestellt und hätte des-
halb auch einer vom neuen Wortlaut ausgehenden Antwort bedurft.

36 Jescheck (Fn. 25), § 40 VII.


37 Fn.13.
38 Vgl. Fn. 10.
39 BGHSt. 16,187.
Neuorientierung im Bereich des Vollrauschtatbestandes? 653

Die bloße "Fortschreibung" der alten Begründung durch Beibehaltung


der alten Formel genügte dazu nicht. Bei dieser Lage konnte es nicht
ausbleiben, daß im Schrifttum der Finger immer wieder auf diese
Wunde gelegt und der Versuch unternommen wurde, die Beziehungen
zwischen Rausch und Rauschtat zu durchleuchten und einer Klärung
zuzuführen40 • Das Ergebnis war leider kein Konsens, sondern eine
große, bis heute noch nicht überwundene Meinungsvielfalt. Immerhin
schälte sich aber ein wesentlicher Gesichtspunkt heraus, über den im
Sinne eines gemeinsamen kleinsten Nenners nicht mehr gestritten
wurde. Einigkeit bestand nämlich darüber, daß zwischen dem Schwere-
grad eines Rauschs auf der einen und der mehr oder weniger großen
Verminderung der Schuldfähigkeit auf der anderen Seite kein direkter
Zusammenhang hergestellt werden kann. Der Rausch bezeichnet einen
durch Intoxikation herbeigeführten Allgemeinzustand der Beeinträch-
tigung von körperlichen und seelischen Fähigkeiten41 • Wie stark dieser
Zustand vom Nüchternzustand abweichen muß, um den Namen Rausch
zu verdienen, ist sprachlich nicht exakt auszumachen. Sicher ist nur,
daß nicht schon jede Zuführung eines Rauschmittels einen Rausch er-
gibt; denn zum einen bedarf es zur Beeinträchtigung der menschlichen
Leistungsfähigkeit regelmäßig einer von der Art des jeweiligen Rausch-
mittels abhängigen Mindestdosis und zum andern wird nicht jede solche
Beeinträchtigung auch geringfügigsten Ausmaßes schon als Rausch ge-
deutet. Wie immer nun der Maßstab für die Beurteilung dieser Erheb-
lichkeitsschwelle zum Rausch konkretisiert werden mag, jedenfalls muß
er unmittelbar an den der Beurteilung unterfallenden Allgemeinzu-
stand angelegt werden, um herausfinden zu können, ob die Schwelle
überschritten wurde. Für diese Prüfung sind die Rechtsbegriffe der
verminderten Schuldfähigkeit und der Schuldunfähigkeit nicht un-
mittelbar ergiebig; denn sie bestimmen sich nicht lediglich nach einem
objektiven körperlich-seelischen Allgemeinzustand, sondern auch da-
nach, ob der Täter in Beziehung auf eine bestimmte, von ihm began-
gene rechtswidrige Tat einsichts- und steuerungsfähig war. Da also
derselbe Täter in derselben tatsächlichen Lage im Hinblick auf eine
Tat schuldfähig und auf eine andere schuldunfähig sein kann, ist der
hier erforderliche einheitliche Maßstab für die Beurteilung der Rausch-

40 Vgl. die Nachw. im weiteren Text.


41 Dieses Element kommt in allen in Rechtsprechung und Schrifttum an-
gebotenen Definitionen des Rauschbegriffs vor. Allerdings besteht Streit
darüber, ob und in welcher Weise der Begriff im Hinblick auf die Art der
zugeführten Mittel und die daraus folgenden Besonderheiten der körperlich-
seelischen Beeinträchtigung in qualitativer Hinsicht der Einschränkung be-
darf (vgl. etwa BGHSt. 26, 363; OLG Karlsruhe NJW 1979, 611; Schewe, BA
1976, 87 und ZStW, Beiheft 1981, 39; Gerchow, Festschrift für Sarstedt, 1981,
S. 1). Da es auf die qualitative Seite des Rauschbegriffs hier nicht ankommt,
kann dieser Streit auf sich beruhen.
654 Karl Lackner

schwere mit Sicherheit nicht zu finden. Diese Erkenntnis dürfte unbe-


stritten sein42 • Auch der BGH hat sie sich zu eigen gemacht und deshalb
die bisherige Forderung preisgegeben, daß der Täter den "sicheren
Bereich des § 21" verlassen haben müsse.

2. Im Schrifttum hat diese Erkenntnis zu zahlreichen Versuchen ge-


führt, den im Rahmen des § 323 azur Konstituierung eines Rausches
erforderlichen Schweregrad näher zu konkretisieren43 • Darauf wird
noch zurückzukommen sein. Der BGH hat sich dagegen nicht veranlaßt
gesehen, einen entsprechenden Versuch zu unternehmen oder sich
wenigstens mit den zu dieser Frage unterbreiteten, zum Teil stark diver-
gierenden Vorschlägen auseinanderzusetzen. Er beschränkt sich viel-
mehr darauf, ihren Inhalt kurz zu referieren und sich dann einer
eigenen Bemühung mit der folgenden, ihrer zentralen Bedeutung
wegen im Wortlaut wiedergegebenen, Begründung zu entziehen44 ;
"Eine für alle in Betracht kommenden Fälle gültige Bestimmung,
welchen Schweregrad ein Rausch haben muß, um tatbestandsmäßig im
Sinne des § 323 a StGB zu sein, dürfte sich kaum finden lassen ... , weil
sie insbesondere abhängig ist von der Art des Rauschmittels, der per-
sönlichen Verfassung des Täters und der im Rausch begangenen rechts-
widrigen Tat. Festzuhalten ist nur, daß der Rausch im Sinne des § 323 a
StGB nicht zur Voraussetzung hat, daß eine Schuldunfähigkeit des
Täters der Rauschtat erwiesen oder zumindest festgestellt ist, daß der
Täter den sicheren Bereich des § 21 StGB zu § 20 StGB hin verlassen
hat. Ob ein tatbestandsmäßiger Rausch im Sinne des § 323 a StGB auch
bei möglicher voller Schuldfähigkeit (aber nicht ausgeschlossener
Schuldunfähigkeit) vorliegen kann, bedarf bei dem dem Vorlegungsfall
zugrunde liegenden Sachverhalt keiner Entscheidung. Der Senat sieht
es jedenfalls als unbedenklich an, die Tatbestandsmäßigkeit des Rau-
sches zu bejahen, wenn dieser einen Schweregrad erreichte, der zu
einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit des Täters in bezug auf
die Rauschtat geführt hat ... Allerdings kann eine Bestrafung aus
§ 323 a StGB nur erfolgen, wenn sicher ist, daß der Täter sich schuldhaft
berauscht hat. Bleiben Zweifel über das Ob der Berauschung, ist eine
Verurteilung ausgeschlossen ... "
Ob der BGH im Vorlegungsfall wirklich von der Setzung konkreter
Maßstäbe für das Tatbestandsmerkmal Rausch absehen durfte, mag
dahingestellt bleiben. Für die Einheitlichkeit der Rechtsprechung be-
deutet diese Zurückhaltung einen schweren Rückschlag. Zwar hat das

42 Sie ist namentlich von Puppe, Horn und Dencker (Fn.31) heraus-
gearbeitet worden.
43 Vgl. dazu die Nachw. im folgenden Text.

44 BGHSt. 32, 48.


Neuorientierung im Bereich des Vollrauschtatbestandes? 655

Gericht die Vorlegungsfrage in dem Sinne positiv beantwortet, daß die


sichere Feststellung verminderter Schuld fähigkeit zur Verurteilung
nach § 323 a ausreicht. Zugleich hat es aber das Tor nach unten aufge-
stoßen. Ob und wie weit auch Fälle möglicher voller Schuldfähigkeit
(aber nicht ausgeschlossener Schuldunfähigkeit) einzubeziehen sind,
ist jetzt - im Gegensatz zur bisherigen Rechtsprechung - zur offenen
Frage geworden, über die der Tatrichter ohne jede Weisung für den
Beurteilungsmaßstab zu befinden hat. Aus den Entscheidungsgründen
ergibt sich nichts weiter als der Hinweis, daß die Annahme eines Rau-
sches "unbedenklich" sei, wenn in bezug auf die Rauschtat vermin-
derte Schuldfähigkeit vorliege.

3. Diese Lage ist vor allem deshalb so besonders mißlich, weil das
Schrifttum eine ganze Anzahl von Konzeptionen zur Bewältigung der
Problematik angeboten hat, die in ihren Ergebnissen weit auseinander-
gehen. Sie stimmen zwar alle in dem Bestreben überein, die Ausle-
gung des Merkmals "Rausch" an Sinn und Aufgabe des § 323 a zu orien-
tieren, legen dabei aber je nach ihrer Grundeinstellung zu der dogma-
tisch und kriminalpolitisch umstrittenen Vorschrift höchst unterschied-
liche Vorstellungen zugrunde. Im folgenden soll nicht versucht werden,
den Gesamtbereich der nunmehr zweifelhaft gewordenen Rechtslage
auszumachen und umfassend zu analysieren. Das wäre schon aus Raum-
gründen nicht möglich. Es geht nur um das wesentlich bescheidenere
Ziel, unter kritischer Würdigung des bis heute vorliegenden Materials
einen Weg ausfindig zu machen, auf dem der Rechtsprechung etwas mehr
Rechtssicherheit geboten und die Möglichkeit einer praktikableren An-
wendung des Tatbestandes eröffnet werden kann.
a) Den wohl weitesten Anwendungsbereich räumt dem § 323 a wahr-
scheinlich eine breite Meinungsgruppe im Schrifttum ein, die unter
bloßer Wiederholung des Gesetzswortlauts auf das Vorliegen eines
"Rausches" abstellt und die nähere Konkretisierung des hierzu erfor-
derlichen Schweregrades der Rechtsprechung überläßt 45 • Offenbar soll
damit auf den Sprachsinn des Begriffs verwiesen und dem Tatrichter
die Würdigung überlassen werden, ob eine auf Rauschmittel rückführ-
bare Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes quantitativ von solcher
Erheblichkeit ist, daß sie im umgangssprachlichen Sinne als Rausch ge-
wertet werden kann46 • Unter dem Gesichtspunkt der Normbestimmt-
heit wäre das nicht unproblematisch, weil dann die Konturlosigkeit des

45 Hentschel/Born, Trunkenheit im Straßenverkehr, 2. Aufl. 1980, Rdn.280;


Maurach/Schroeder, Strafrecht - Besonderer Teil, Teilband 2, 6. Aufl. 1981,
§ 94, 11 2; Jakobs (Fn.25), Abschn.17, Rdn.62; Schmidhäuser, Strafrecht -
Besonderer Teil, 2. Aufl. 1983, Kap. 15, Rdn. 31; Dreher/Tröndle, 41. Aufl. 1983,
§ 323 a, Rdn. 5; Tröndle, in: LK, 10. Aufl. 1978, § 1, Rdn. 99.
46 Dazu oben unter 11, 2.
656 Karl Lackner

Rauschbegriffs in qualitativer Hinsicht 47 durch eine kaum weniger spür-


bare Unsicherheit hinsichtlich der Erheblichkeitsschwelle verschärft
würde. Sicher wäre bei dieser Deutung wohl nur, daß verminderte
Schuld fähigkeit nicht gefordert werden könnte, weil sie nach den stren-
gen Maßstäben, die für ihre Feststellung anzulegen sind 48 , signifikant
mehr an psychischer Beeinträchtigung voraussetzt, als sie für einen
Rausch im landläufigen Sinne verlangt wird 49 • Im Regelfall liegt der
Zweifelsbereich für die Erheblichkeitsschwelle zu einem solchen Rausch
eine deutliche und deshalb praktisch kaum verfehl bare Stufe tiefer als
die entsprechende Grauzone für eine rechtlich relevante Minderung der
Schuldfähigkeit. Bei dieser Ausgangsgrundlage ist dem BGH zuzustim-
men, wenn er die Annahme eines Rausches bei verminderter Schuld-
fähigkeit für "unbedenklich" hält. Auf der tieferen Stufe kann man
dagegen trefflich darüber streiten, wo ein Intoxikationszustand anfängt,
den Namen Rausch zu verdienen. Die Sprache bietet dafür so gut wie
keine rechtlich faßbaren Anhaltspunkte. Es hat vielmehr den Anschein,
daß dem Begriff je nach dem Sachzusammenhang, in dem er gebraucht
wird, unterschiedliche Vorstellungen über das Mindestmaß des jeweils
notwendigen Schweregrades der Intoxikation zugrunde liegen. Weil
es wegen der Anbindung an den "sicheren Bereich des § 21" auf diese
Frage bisher nicht ankam, gibt es auch keine Erfahrungen, auf die sich
die Rechtsprechung stützen könnte. Sie würde sich vielmehr in einem
langwierigen Prozeß der kasuistischen Erfassung um die Herausarbei-
tung einheitlicher Bewertungsmaßstäbe bemühen müssen, was erfah-
rungsgemäß mit einer ausgedehnten Periode uneinheitlicher Praxis
der Tatgerichte erkauft werden müßte. Aber das allein ist kein zurei-
chender Einwand gegen das vorgeschlagene Modell; denn die Verwen-
dung unbestimmter Rechtsbegriffe ist auch im Strafrecht innerhalb
eines gewissen Toleranzspielraums unvermeidlich und daher hinzuneh-
men, wenn nur hinreichend erkennbar bleibt, in welcher Weise der je-
weilige Begriff durch die Rechtsprechung ausgefüllt werden kann50 • Diese
Grenze würde der Rauschbegriff sicher nicht überschreiten, so daß sich
auf diesen Gesichtspunkt durchgreifende Bedenken nicht stützen lassen.

47 Vgl. dazu namentlich Schewe, BA 1976, 87 und ZStW, Beiheft 1981, 39,
60 sowie Gerchow, Festschrift für Sarstedt, 1981, S.I, deren Einwendungen
gegen die Möglichkeit einer qualitativen Eingrenzung des Rauschbegriffs
bisher nicht ausgeräumt werden konnten.
48 Wenn der Einzelfall keine Besonderheiten aufweist, ist nach einer in
der Rechtsprechung praktizierten Faustregel mit verminderter Schuldfähig-
keit erst zu rechnen, wenn eine Blutalkoholkonzentration von 2 Promille
erreicht wurde (st. Rspr.; Nachweise bei Lackner, 15. Auf!. 1983, § 21 Anm.2).
49 Deshalb verneint die Rechtsprechung in dem immerhin vergleichbaren,
wenn auch nicht völlig gleichliegenden Zusammenhang des § 64 ausdrücklich,
daß ein Rausch verminderte Schuldfähigkeit des Täters voraussetze (BGH
JR 1957, 225) .
• 0 Vgl. etwa BVerfGE 26,41 und 57, 259, 262.
Neuorientierung im Bereich des Vollrauschtatbestandes? 657

b) Anders steht es aber mit dem Einwand, daß § 323 a nach der Prä-
misse, die hier zugrunde gelegt wird 5t, ein abstraktes Gefährdungs-
delikt normiert, daß er also nur ein für den Bestand strafrechtlicher
Rechtsgüter typischerweise gefährliches Verhalten mit Strafe bedroht52 .
Dabei ist zunächst zweierlei klarzustellen:
Zum einen kann die Gefährlichkeit, die das Gesetz hier im Auge hat,
nur in der Möglichkeit bestehen, daß ein Mensch durch RauschmitteI-
genuß seine Fähigkeit, sich von der Rechtspflicht zu normgemäßem Ver-
halten bestimmen zu lassen, vermindert oder ganz zerstört, d. h. die
"durch Zivilisation habituell gewordenen"53 Hemmungen gegen die
Begehung rechtswidriger Taten ganz oder teilweise einbüßt. Diese
Einschränkung des Gefährlichkeitsaspekts auf die Beeinträchtigung der
Motivierbarkeit durch Normen folgt aus dem Umstand, daß die objek-
tive Bedingung der Strafbarkeit die Anwendung des Tatbestandes nur
freigibt, wenn eine rechtswidrige Tat, also eine dem Menschen zu-
rechenbare Willenshandlung, begangen wurde, deren Defizit im Ver-
hältnis zu einer Straftat allein darin besteht, daß es an solcher Motivier-
barkeit gefehlt hat oder daß dies nicht auszuschließen ist. Diesen inne-
ren Zusammenhang hat Dencker eingehend herausgearbeitet und über-
zeugend begründet54 . - Zum anderen kann das abstrakte Gefährlich-
keitsurteil nicht allein auf den Konsum von Rauschmitteln und auch
nicht auf das Herbeiführen eines Rausches im umgangssprachlichen
Sinne gestützt werden. Die Befürworter des Modells "abstraktes Ge-
fährdungsdelikt" haben niemals bestritten, daß z. B. die dem § 323 a
zugrundeliegende abstrakte Gefahr nicht schon jeglichem Trinken von
Alkohol oder jedem Alkoholrausch innewohnt, daß vielmehr das Gefahr-
urteil erst da anknüpfen kann, wo der Rausch ein Ausmaß erreicht,
das ihn nach naturwissenschaftlicher Erfahrung generell geeignet
macht, die Motivierbarkeit durch Normen von Menschen mit normalen
psychischen Fähigkeiten signifikant zu beeinträchtigen. Vor allem des-
halb wurde häufig ausdrücklich betont, daß "nicht das Trinken von
Alkohol schlechthin, sondern nur das Trinken in einem Ausmaß, das
die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aufhebt", verboten sei55 . Aller-
dings sind die dogmatischen Schwierigkeiten, die sich aus den wechsel-

51 Oben I, 2.
52 über diese Grundstruktur besteht Einigkeit. Umstritten ist lediglich,
ob und ggfs. unter welchen näheren Voraussetzungen die Strafbarkeit ent-
fällt, wenn nach den Umständen des Einzelfalls die Entstehung einer Gefahr
von vornherein ausgeschlossen war (dazu z. B. BGHSt.26, 121; BGH NJW
1982, 2329; Brehm, Zur Dogmatik des abstrakten Gefährdungsdelikts, 1973;
Schroeder, ZStW, Beiheft 1982, 1, 2).
53 Jakobs (Fn. 25), Abschn.17, Rdn. 59.
54 NJW 1980,2159,2163; ebenso Puppe, Jura 1982, 281, 286.
55 Lackner, Jus 1968,215,217 m. w. N.

42 Festschrift für H.-H. Jescheck


658 Karl Lackner

seitigen Abhängigkeiten zwischen dem geltenden Gesetzeswortlaut, dem


unverzichtbaren Element abstrakter Gefährlichkeit des Rausches und
der daraus zu entwickelnden, vom Bürger befolgbaren Verhaltensnorm
ergeben, wesentlich größer, als früher angenommen wurde. Es ist ein
Verdienst von Puppe 56 , in einer grundlegenden Untersuchung heraus-
gearbeitet zu haben, daß die Verbotsnorm des § 323 a einerseits nicht die
Herbeiführung jeglichen Rausches untersagen kann, weil das den Bedin-
gungen der zugrundegelegten Gefährlichkeitskonzeption widerspräche,
daß sie andererseits aber auch den Schweregrad des Rausches nicht -
jedenfalls nicht unmittelbar - an der Schuldunfähigkeit oder der ver-
minderten Schuldfähigkeit des Täters festmachen kann. Es bedarf viel-
mehr einer aus der Verbotsnorm selbständig zu entwickelnden Bestim-
mung der Mindestschwere des Rausches, die es dann ermöglicht, daraus
eine vom Bürger befolgbare Verhaltensnorm abzuleiten. Dieser Aus-
gangspunkt erscheint überzeugend. Er ist bisher auch von den Gegnern
einer einschränkenden Interpretation des Rauschbegriffs nicht ernst-
lich in Frage gestellt worden.
aal Puppe selbst erörtert in ihrer Untersuchung eine Anzahl von
Möglichkeiten, wie der gesuchte Mindestschweregrad beschrieben wer-
den kann. Sie findet ihn schließlich in der durch Mißbrauch von Rausch-
mitteln herbeigeführten "Sozialuntüchtigkeit" des Täters, die sie näher
dahingehend kennzeichnet, daß es sich um eine über das der Allgemein-
heit zumutbare Maß hinausgehende Beeinträchtigung von Fähigkeiten
handeln muß, die im mitmenschlichen Verkehr zur Erfüllung der nor-
malen Anforderungen der Rechtsordnung unerläßlich sind57 • Aus dem
Zusammenhang ihrer Ausführungen ergibt sich, daß sie diesen Begriff
im Sinne einer sehr nachhaltigen Beeinträchtigung des Allgemeinzu-
standes versteht, was für den Alkoholrausch namentlich auch daraus
erkennbar wird, daß sie - unter analoger Heranziehung der im Bereich
beeinträchtigter Schuldfähigkeit entwickelten Faustregeln58 - erst eine
Blutalkoholkonzentration, die zwischen 2 und 3 Promille liegen müßte,
als Indiz für das Vorliegen dieses Zustandes gelten lassen will 59 • Ihr
Bewertungsmaßstab ist danach, was den quantitativen Schweregrad des
Rauschs betrifft, offenbar strenger, als er von der Rechtsprechung für
die Ermittlung verminderter Schuldfähigkeit zugrunde gelegt wird. Das
macht zugleich unmißverständlich klar, daß der BGH sich jedenfalls
diese außerordentlich restriktive Interpretation nicht zu eigen gemacht
hat; denn er hält, wie gesagt 60 , die Anwendung des Tatbestandes bei

56 GA 1974, 98.
57 Puppe, JA 1982,281,285.
58 Fn.48.
59 JA 1982,287.
60 Oben II, 2.
Neuorientierung im Bereich des Vollrauschtatbestandes? 659

verminderter Schuldfähigkeit für "unbedenklich" und den ersichtlich


entgegenstehenden Standpunkt von Puppe nicht einmal einer begrün-
deten Zurückweisung für wert. Gestützt werden kann die Haltung des
BGH allerdings mit der überlegung, daß die von Puppe empfohlene
Deutung des Rauschbegriffs den Anwendungsbereich der Strafvorschrift
empfindlich einschränken würde 61 • In Zukunft müßte dann nämlich auch
in Fällen, in denen im Sinne der bisherigen Rechtsprechung der "sichere
Bereich des § 21 überschritten" wurde, an Hand eines noch strengeren
Maßstabes geprüft werden, ob der Rausch überhaupt nach der Termino-
logie von Puppe "Sozialuntüchtigkeit" des Täters bewirkt hat. Das liefe
auf eine Durchkreuzung der Absichten des historischen Gesetzgebers
hinaus, mit der letzten Neufassung der Vorschrift nur die bisherige
Rechtsprechung zu bestätigen und sie auf eine einwandfreie gesetzliche
Grundlage zu stellen62 • Da im übrigen Puppe selbst der Ansicht ist, daß
der gesuchte Maßstab nicht ohne eine gewisse Willkür bestimmt werden
kann, wird man eine solche Lösung erst in Erwägung ziehen dürfen,
wenn alle weiteren Versuche scheitern sollten, zu einer den kriminal-
politischen Bedürfnissen eher entsprechenden Lösung zu kommen.

bb) Ebenfalls auf der Suche nach einem solchen selbständigen Maß-
stab hat Montenbruek 63 empfohlen, den Mindestschweregrad des
Rauschs an der im Kraftverkehr erforderlichen "Fahrtüchtigkeit"
(§ 316 I) zu orientieren, damit aber durchgängig Ablehnung erfahren 84,
und zwar mit Recht: Fahrtüchtigkeit schließt die Fähigkeit zur Bewälti-
gung fahrtechnischer Leistungen ein, die durch Rauschmitteleinwir-
kung schon sehr viel früher und differenzierter beeinträchtigt werden
kann als die allgemeine Motivierbarkeit durch Normen. Ihre Voraus-
setzungen liegen mindestens zu einem erheblichen Teil auf einer an-
deren Ebene und schließen deshalb jede Vergleichbarkeit aus.
ce) Dem gesuchten Maßstab näher kommt dagegen ein Vorschlag von
Horn, der - ebenfalls zum Zwecke der selbständigen Kennzeichnung der
Mindestschwere des Rauschs-auf einen körperlich-psychischen Zustand
abstellt, in dem die Gesamtleistungsfähigkeit des Täters so weit herab-
gesetzt ist, daß er "beim Auftreten auch schwieriger Entscheidungs-
situationen, wie sie jederzeit eintreten können, sich nicht mehr sicher
zu steuern vermag"65. Gegenüber der Konzeption von Montenbruek
schränkt dieses Modell den Bewertungsmaßstab zutreffend auf die
Steuerungsfähigkeit und damit auf die Motivierbarkeit durch Normen

61 Im wesentlichen aus diesem Grunde ablehnend Dencker (Fn. 54), S. 1261.


82 Vgl. Fn. 28.
63 Montenbruck, GA 1978, 225, 230 und JR 1978, 209.
64 Vgl. namentlich Puppe (Fn. 57), S. 285; Dencker (Fn. 54), S. 2162.
65 Horn, JR 1980, 1 und ders. (Fn. 31), § 323 a, Rdn. 4.

42'
660 Karl Lackner

ein. Von der Konzeption Puppes unterscheidet es sich durch eine Sen-
kung dieses Maßstabes, indem es Sozialuntüchtigkeit nicht erst beim
Versagen vor den "normalen", sondern schon vor "schwierigen", im
Leben jedoch jederzeit möglichen, Anforderungen der Rechtsordung be-
jaht. Es liegt deshalb auf einer mittleren Linie und hat in diesem Punkt
gewisse Ähnlichkeit mit einem Vorschlag von Dencker, der den gesuch-
ten Schweregrad als einen Zustand definiert, "in dem der Täter infolge
Rauschmittelkonsums hinsichtlich irgendeines (Straf-)Normverstoßes in
irgendeiner Situation bereits nur noch vermindert schuldfähig wäre"ß3.
Der Unterschied dieser beiden Modelle besteht darin, daß Horn ebenso
wie Puppe den Maßstab seiner "Sozialuntüchtigkeit" selbständig, d. h.
unabhängig von der nur für die Strafbarkeitsbedingung relevanten
Schuld fähigkeit , bestimmt, während Dencker den Sinn- und Zweckzu-
sammenhang zwischen Tatbestand und Strafbarkeitsbedingung in die
Beurteilung einbezieht. Seine Begriffsbestimmung dürfte dem gesetz-
geberischen Anliegen des § 323 a sehr präzise entsprechen: Aus dem
Zusammenspiel von Berauschung und Rauschtat läßt sich ableiten, daß
es dem Gesetz ersichtlich darauf ankommt, solche Rauschzustände zu
verhüten, bei denen die normalerweise funktionierenden Hemmungen
vor strafrechtsrelevanten Ausschreitungen so weit abgebaut sind, daß
die Verantwortlichkeit des Täters für das, was immer er auch im Rausch
anrichten mag, nicht mehr sicher gewährleistet erscheint. Will man
diese Grenze abstrakt, d. h. ohne Berücksichtigung von Besonderheiten
des Einzelfalls, bestimmen, so wird man folgendes zu bedenken haben:
Die erheblich verminderte Schuldfähigkeit setzt einen Zustand herab-
gesetzter Motivierbarkeit voraus, die das Gesetz für so gravierend hält,
daß es die Strafdrohungen aller Tatbestände einschneidend ermäßigt.
Ist dieser Zustand auch nur in bezug auf irgendein strafrechtliches Ver-
bot oder Gebot erreicht, dann besteht die generelle Möglichkeit, daß es
zu einer Tat kommt, für die der Täter nicht mehr voll einzustehen hat.
Wenn nun hinzukommt, daß dieses so beschriebene Maß herabgesetzter
Motivierbarkeit mit einer solchen Gewißheit bejaht werden kann, daß
jeder vernünftige Zweifel schweigt, dann ist - wiederum bei generel-
ler, vom Einzelfall abstrahierender Betrachtung - zugleich die Grau-
zone erreicht, in der nicht mehr gewährleistet ist, daß der Täter für
seine Tat überhaupt verantwortlich gemacht werden kann. Die Formel
von Dencker fängt diese Zusammenhänge nach meiner Ansicht sehr
treffend ein.
dd) Normtheoretisch dürften beide vorstehend erörterten Lösungen
vertretbar sein, die von Horn, weil sie folgerichtig aus der Struktur
des abstrakten Gefährdungsdelikts einen Mindestschweregrad des
Rauschs in dem Sinne ableitet, daß der Täter möglichen Anforderungen
66 Fn.54.
Neuorientierung im Bereich des Vollrauschtatbestandes? 661

an seine Motivationsfähigkeit nicht mehr voll gewachsen und daher


für seine Umwelt nicht mehr "ungefährlich" ist, und die von Dencker,
weil sie unter Einbeziehung des Normzwecks aus der Gesamtheit aller
denkbaren Rauschtaten ein entsprechendes Mindestmaß herauskristal-
lisiert.
ee) Leider haben aber beide Beschreibungen der Rauschschwere ge-
meinsam, daß sie in hohem Maße unbestimmt sind und voraussichtlich
für die Gerichte namentlich dann zu großen Schwierigkeiten führen
werden, wenn ihre Voraussetzungen in jedem Einzelfall neben der
Schuldfähigkeit selbständig geprüft werden müssen. Man muß sich klar
machen, daß beide Beschreibungen in der Sache keine signifikanten und
rechtlich faßbaren Unterschiede aufweisen und deshalb auch kaum zu
abweichenden Ergebnissen führen. Ferner liegen beide mit ihren
Anforderungen verhältnismäßig dicht unter dem Maßstab, den das
BayObLG bisher schon mit Hilfe der Formel von dem "sicheren Be-
reich des § 21" angelegt hat. Sie können aber dennoch nicht mit ihm zu-
sammenfallen. Für Horn folgt das daraus, daß er seine Formel mit den
biologischen Voraussetzungen des § 21 gleichsetzt67 , also auf diejenigen
Einschränkungen verzichtet, die sich aus den psychologischen Voraus-
setzungen der verminderten Schuld fähigkeit ergeben, und für Dencker
aus dem Umstand, daß er nicht verminderte Schuld fähigkeit im konkre-
ten Fall verlangt, sondern den zweifelsfrei weniger gravierenden Zu-
stand genügen läßt, daß der Täter nur in bezug auf irgendein straf-
rechtlich relevantes Verhalten als vermindert schuldfähig anzusehen
wäre. Ob der in den beiden Beschreibungen angelegte Unterschied
zur bisherigen Rechtsprechung überhaupt in Praxis umgesetzt werden,
also einen entsprechenden Niederschlag in der Anwendungshäufigkeit
des § 323 a finden könnte, ist höchst zweifelhaft. Die hohe Unbestimmt-
heit beider Formeln läßt keine Prognose zu und erweckt deshalb zu-
gleich schwerwiegende Bedenken gegen ihre Entscheidungserheblich-
keit im Einzelfall.
ff) Dencker hat für seine Lösung diese Schwierigkeit gesehen und
ausdrücklich zugestanden, daß es mit den Mitteln des Strafprozesses
kaum möglich sein werde, eine nach allen Richtungen hin aufzuklärende
fiktive Verminderung der Schuld fähigkeit mit auch nur annähernd zu-
reichender Trennschärfe zu erfassen. Auf der anderen Seite kann er
aber darauf verweisen, daß die Voraussetzungen seiner Formel jeden-
falls immer erfüllt sind, wenn die Rauschtat mit mindestens vermin-
derter Schuldfähigkeit begangen wurde. Dann ist nämlich in der Tat
der Nachweis des erforderlichen Gefährdungsgrades eindeutig geführt,
wenn auch die dafür maßgebenden rechtlichen Voraussetzungen bis zu

67 Horn (Fn. 65).


662 Karl Lackner

einem gewissen Grade übererfüllt sein mögen. Dencker bezeichnet es


als die "große praktische Vernunft" der Rechtsprechung, daß sie mit
Hilfe ihrer Formel vom "sicheren Bereich" im Ergebnis nur diesen und
keinen anderen sonst vielleicht noch möglichen Nachweis der Gefähr-
lichkeit des Rauschzustandes zugelassen hat. Der darauf folgenden Be-
schränkung des § 323 a auf Fälle mindestens eindeutig verminderter
Schuldfähigkeit stimmt er deshalb ausdrücklich zu 6S •
gg) Ob dieses Ergebnis auch heute noch vertretbar ist, nachdem der
BGH der bisher verwendeten Formel den Boden entzogen hat, könnte
zweifelhaft sein. Dennoch meine ich, daß die Argumentation von Den-
cker nichts von ihrer Schlüssigkeit verloren hat. Wer sich darauf ein-
läßt, für die Auslegung des § 323 a auch das Beziehungsverhältnis zwi-
schen Tatbestand und Strafbarkeitsbedingung fruchtbar zu machen,
kann zunächst ohne Bedenken davon ausgehen, daß der Unrechtstat-
bestand ausschließlich in der Herbeiführung eines abstrakt gefährlichen
Rausches besteht und daß die Begehung der Rauschtat auf das Unrecht
allenfalls insofern abfärbt, als sie die Realisierung der Gefahr bedeutet,
um deretwillen das Gesetz den Vollrausch verboten hat 69 • Im übrigen be-
steht aber die Funktion der Rauschtat als objektiver Strafbarkeitsbe-
dingung darin zu gewährleisten, daß nur diejenigen schuldhaft began-
genen Tatbestandsverwirklichungen zur vollen Strafbarkeit erstarken,
die wegen der durch die Rauschtat hervorgerufenen Friedensstörung
das Strafbedürfnis kriminalpolitisch unabweisbar machen70 • Das Prin-
zip lautet also: Wenn die Gefahr, um deretwillen der abstrakt gefähr-
liche Rausch verboten ist, sich nicht realisiert, gibt es keine Strafe. Auf
diese Weise wird der Anwendungsbereich der Strafvorschrift im Inter-
esse der Rechtssicherheit klar begrenzt, auf das kriminalpolitisch Not-
wendige zurückgeführt und rechtsstaatlich überhaupt erst erträglich
gemacht. Wer dieses Prinzip weiterdenkt, kann unschwer erkennen,
daß es den folgenden weiteren Satz deckt: Auch wenn ein Rausch ab-
strakt gefährlich ist, also den oben unbestimmt konkretisierten Schwe-
regrad im Sinne der Begriffsbestimmung von Dencker erreicht, tritt
Strafbarkeit nur ein, wenn sich die abstrakte Gefährlichkeit, d. h. die
erhebliche Beeinträchtigung der Motivierbarkeit des Täters durch Nor-
men, in der Rauschtat durch den Nachweis verminderter Schuldfähig-
keit manifestiert hat. Auf diese Weise wird eine der Primärfunktion
der objektiven Strafbarkeitsbedingung parallel laufende Sekundär-

68 (Fn. 54), S. 2162.


69 Aus diesem Grunde wird nach einer verbreiteten Meinung das Unrecht
des Vollrauschs durch den gesetzlichen Tatbestand allein nicht vollständig
beschrieben (vgl. etwa Jescheck [Fn. 25], § 53, I 2 b).
70 Zu der z. T. umstrittenen Problematik der objektiven Bedingungen der
Strafbarkeit vgl. u. a. Schmidhäuser, ZStW 71 (1959), 545; Stratenwerth, ZStW
ZStW 71 (1959),565; Stree, Jus 1965,465; Krause, Jura 1980,449.
Neuorientierung im Bereich des Vollrauschtatbestandes? 663

funktion postuliert, die den Weg zur Bestrafung nur freigibt, wenn der
nur sehr unbestimmt beschreibbare Gefährlichkeitsgrad des Rausches 71
in der Rauschtat zweifelsfrei auffindbar ist. Damit wird eine aus rechts-
staatlichen Gründen unerläßliche Beschränkung der Strafbarkeit auch
in dem Bereich erzielt, in dem die Schuldunfähigkeit des Täters nicht
festgestellt, sondern nur nicht ausschließbar ist.

4. Folgt man dieser Argumentation, so kann die bisherige Rechtspre-


chung des BayObLG im sachlichen Ergebnis unverändert fortgeführt
werden. Der Richter hat zunächst zu prüfen, ob die Rauschtat bestraft
werden kann. Trifft das zu, so scheidet § 323 a mangels Erfüllung der
objektiven Strafbarkeitsbedingung aus. Steht umgekehrt Schuldunfä-
higkeit fest, so ist § 323 a anwendbar. Ist dagegen die Schuldunfähig-
keit nur nicht auszuschließen, dann muß die abstrakte Gefährlichkeit
des Rausches nachgewiesen werden. Das kann wegen des inneren Zu-
sammenhangs zwischen Tatbestand und Rauschtat nur durch den Nach-
weis geschehen, daß bei Begehung der Rauschtat mindestens § 21 er-
füllt war. Die vom BGH offen gelassene Frage, ob der Vollrauschtat-
bestand auch bei möglicher voller Schuldfähigkeit (aber nicht ausge-
schlossener Schuldunfähigkeit) anwendbar ist, muß also verneint wer-
den. An sich wäre zur Stützung dieses Ergebnisses noch mancherlei zu
sagen. Aus Raumgründen muß darauf verzichtet werden. Überwiegend
könnten dabei ohnehin nur Argumente - etwa zu der hier angeblich
bestehenden Strafbarkeitslücke72 - wiederholt werden, die im Schrift-
tum schon seit Jahren immer wieder vorgetragen worden sind, aber
bisher nicht zu einem Konsens geführt haben. Nur folgende Hinweise
seien noch gestattet: Die vorgeschlagene Konzeption macht - allerdings
ohne Überspannung der restriktiven Tendenz - mit dem Gedanken
ernst, daß der Vollrausch ein abstraktes Gefährdungsdelikt ist. Sie
zwingt nicht dazu, bei nur lückenhaft aufgeklärten Sachverhalten die
Strafbarkeit auf ein möglicherweise rechtmäßiges und völlig vorwurfs-
freies Verhalten zu stützen73 • Sie hat den Vorzug der Praktikabilität und
führt namentlich auch im subjektiven Tatbestand nicht zu besonderen
Schwierigkeiten. Zwar müssen Vorsatz und Fahrlässigkeit auch die ab-

71 Dazu oben II, 3 ce, ee.


72 Dazu zuletzt ausführlich Dencker (Fn. 54), S. 2163.
73 Lackner (Fn.48), § 323 a, Anm. 2 b. Eine vollständige Schließung der
Strafbarkeitslücke (Fn.72) wäre auch bei denkbar weitester Auslegung des
Rauschbegriffs nicht möglich, weil nach allen Auffassungen, die den § 323 a
als selbständigen Tatbestand begreifen, jedenfalls alle Fälle ausscheiden
müßten, in denen schon das Vorliegen eines Rausches zweifelhaft bleibt.
Weiterhelfen könnte hier nur die Anerkennung einer Wahlfeststellung zwi-
schen Vollrausch und strafbarer Rauschtat, die aber von der Rechtsprechung
und der h. M. abgelehnt wird (BGHSt. 9, 390); ob wirklich zu Recht, muß
dahingestellt bleiben.
664 Kar! Lackner

strakte Gefährlichkeit, d. h. den erforderlichen Mindestschweregrad


des Rauschzustandes umfassen. Wenn aber die einschränkend wirkende
objektive Bedingung der Strafbarkeit einer Bestrafung nicht entgegen-
steht, wird die Feststellung, daß der Täter seinen erheblich beeinträch-
tigten Allgemeinzustand mindestens hätte erkennen können, nur in
Ausnahmefällen problematisch sein.

111.

Der BGH hat seine Entscheidung übrigens nicht nur auf den Geset-
zeswortlaut gestützt ("wenn das nicht auszuschließen ist"), sondern auch
eine legitimierende Begründung dafür zu geben versucht, warum bei
Zweifeln an der vollen Schuldunfähigkeit des Täters die Bestrafung aus
dem Vollrauschtatbestand zulässig ist, obwohl doch die Möglichkeit offen
bleibt, daß in Wahrheit wegen der Rauschtat zu strafen wäre. Das Ge-
richt hat sich dafür auf ein zwischen dem Vollrauschtatbestand und der
Rauschtat angeblich bestehendes Stufenverhältnis berufen. Ob diese
Legitimation überhaupt erforderlich war, ist zweifelhaft. Denn bei Deu-
tung des § 323 a als abstraktes Gefährdungsdelikt fallen auch schuld-
haft begangene Rauschtaten unter den Unrechtstatbestand. Sie werden
nur deshalb ausgeschieden, weil die objektive Strafbarkeitsbedingung
ihrer Einbeziehung entgegensteht. Es spricht deshalb alles dafür, daß
hier ein schlichtes, aus dem Gesetz unmittelbar abzuleitendes Subsidia-
ritätsverhältnis vorliegt (sog. materielle Subsidiarität)14. Die Frage
kann aber auf sich beruhen, weil Auswirkungen auf den sachlichen
Anwendungsbereich des Vollrauschtatbestandes nicht erkennbar sind.

74 Lackner (Fn. 48), Vorbem. vor § 52, Anm. VI, 1, a.


HERBERT TRONDLE

Vollrauschtatbestand und Zweifelsgrundsatz*

1.
Auf einer nächtlichen Heimfahrt fiel B zwei Polizeibeamten durch
besonders unkonzentrierte, ruckartige und schnelle Fahrweise auf. Sie
überholten ihn außerorts und gaben mit beleuchtetem Haltestab Zei-
chen zum Anhalten. B machte zunächst hierzu Anstalten, gab dann
aber wieder Gas und fuhr mit hoher Geschwindigkeit davon. Die Be-
amten setzten nach und konnten ihn nach einigen Kilometern abermals
überholen. B setzte den rechten Blinker, um die Beamten glauben zu
machen, er wolle nunmehr anhalten, beschleunigte aber wiederum
plötzlich, überholte die Beamten von neuem und steuerte vorzeitig nach
rechts, um das dicht folgende Polizeifahrzeug nach rechts abzudrängen.
Eine Kollision wurde nur dadurch vermieden, daß der Fahrer des
Polizeifahrzeugs eine Vollbremsung vornahm, dadurch auf die Bö-
schung geriet und B durch einen Lenkruck wieder nach links steuerte.
B gewann Abstand vom Polizeifahrzeug, fuhr mit 100 km/h durch die
nächste Ortschaft, zweigte in eine Siedlung ab, wo er wohnte, schaltete
das Licht aus, um aus der Sicht der Beamten zu kommen, ließ sein
Fahrzeug unverschlossen stehen und verschwand in der Nacht. Die
nachfolgenden Polizisten nahmen im Innenraum des Fahrzeugs starken
Alkoholdunst wahr.
B hielt sich bis zum nächsten Mittag verborgen und stellte sich dann
der Polizei.
In beiden Tatsacheninstanzen hatte B vorgebracht, daß er
- vor der Fahrt keinerlei Alkohol getrunken habe (was seine Schwägerin -
Zeugin E -, bei der er sich bis zum Fahrtantritt aufgehalten hatte, in bei-
den Instanzen uneidlich bestätigt hatte),
- deswegen unkonzentriert und in Schlangenlinien gefahren sei, weil er am
Kassettenrecorder wegen eines verwickelten Bandes herumgemacht habe,
- der Polizei sei er kurzschlüssig davongefahren, weil er bei Grenzübertrit-
ten von Zöllnern auf sein "ausgeschriebenes" Fahrzeug angesprochen wor-
den sei und Schwierigkeiten wegen des Vorbesitzers befürchtet habe,

* Der vorstehende Beitrag von Karl Lackner "Neuorientierung der Recht-


sprechung im Bereich des Vollrauschtatbestandes" , der sich, wie meine nach-
folgenden Ausführungen, im Schwerpunkt mit BGHSt.32, 48 auseinander-
setzt, ist in meinem Beitrag nicht berücksichtigt.
666 Herbert Tröndle

- der Alkoholdunst im Fahrzeug davon herrühre, daß ihm jüngst eine Flasche
Rotwein im Fond ausgelaufen sei!.
Nehmen wir an,
- die Zeugin sei nicht von vornherein unglaubhaft,
.- Spuren einer ausgelaufenen Weinflasche seien aufweisbar gewesen und
- die beiden Polizeibeamten hätten aufgrund der Fahrweise des Täters einen
volltrunkenen Fahrer vermutet,
und gehen wir ferner davon aus, daß die Berufungskammer demzu-
folge unter Würdigung der gesamten Sachsituation
- einen Vollrausch zwar nicht für wahrscheinlich, aber auch nicht mit der für
einen Schuldspruch erforderlichen Sicherheit für ausschließbar,
- Fahruntüchtigkeit des B aber für höchst wahrscheinlich gehalten hätte,
ohne aber auch nur hinreichende, geschweige denn sichere Anhaltspunkte
dafür zu finden, daß B erheblich vermindert schuldfähig gewesen war,
so hätte der Vorsitzende der Berufungskammer den Schöffen zu eröffnen
gehabt, daß der Angeklagte B nach der höchstrichterlichen Rechtspre-
chung (BGH VRS 50, 47 und 358; BGH NJW 1979, 1370) zufolge des Zwei-
felsgrundsatzes freizusprechen sei.

Den verblüfften Schöffen bliebe dieses Ergebnis auch dann unbegreif-


lich, wenn ihnen der Vorsitzende eine Rechtsbelehrung in dem Sinne
erteilt hätte, daß
- § 323 a StGB einen "Rausch" voraussetze, der nach herrschender Rechtspre-
chung erst gegeben sei, wenn der Täter alkoholbedingt in seiner Schuld-
fähigkeit erheblich vermindert sei ("die sichere Grenze des § 21 StGB über-
schritten" sei),
- im Vollrauschtatbestand das Sichberauschen als solches den Schuldvorwurf
ausmache (die Strafbarkeit aber davon abhänge, daß der Täter eine
Rauschtat begehe) und
- für den Fall, daß nicht feststehe, ob der Täter volltrunken oder "nur"
(relativ) fahruntüchtig gewesen sei, eine Wahlfeststellung mangels "rechts-
ethischer und psychologischer Vergleichbarkeit" unzulässig sei.
Vermutlich würde der letztere Hinweis die Schöffen völlig ratlos
machen. Und wie soll eigentlich der Kammervorsitzende seinen Schöf-
fen in der Sprache des Volkes verständlich machen, daß ein gefähr-
licher Trunkenheitsfahrer, der sich möglicherweise sogar volltrunken
ans Steuer gesetzt hat, deswegen freizusprechen ist, weil nichts Siche-

1 Fall: Aktenzeichen Ns 130/81 der StA Waldshut-Tiengen. Rechtskräftiges


Berufungsurteil des LG Waldshut-Tiengen vom 26. 1. 1982. In casu haben
beide Tatsacheninstanzen den einschlägig vorbestraften Angeklagten B nach
§ 315 c Abs.1 Nr.1 a, 2 b, Abs.3 Nr.1, §§ 113, 52, 53, 69, 69 a StGB zu einer
Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt. Die Strafkammer hat der Zeu-
gin E nicht geglaubt (durch Urteil des AG Waldshut-Tiengen vom 19.5.1982
wurde Ewegen uneidlicher Falschaussage und B wegen Anstiftung hierzu
verurteilt) und es für eine Schutzbehauptung angesehen, daß im Fond eine
Flasche Wein ausgelaufen sei.
Vollrauschtatbestand und Zweifelsgrundsatz 667

res dafür dargetan ist, daß seine Fahruntüchtigkeit über die Grenze
der erheblich verminderten Schuldfähigkeit gediehen war? Auch der
Hinweis auf den alles überragenden Zweifelsgrundsatz im Strafprozeß
bringt für kritische Schöffen nichts Aufhellendes. Vielmehr befielen
sie Zweifel, ob es überhaupt mit rechten Dingen zugeht, wenn einen
alkoholisierten, möglicherweise vollverantwortlichen Verkehrsrowdy
keine Strafe trifft, weil er vielleicht - wenn auch wenig wahrschein-
lich - sogar im verschuldeten und strafbaren Vollrausch fuhr.

11.
Fälle, in denen sich - namentlich bei hier vornehmlich interessie-
renden Trunkenheitsfahrten - der Vollrauschtatbestand nicht aus-
schließen, aber ebensowenig der Nachweis führen läßt, daß der "sichere
Bereich des § 21 StGB überschritten" ist, sind gar nicht so selten 2 • Hier-
bei ist nicht einmal in erster Linie an die Fälle zu denken, bei denen
es an einer Blutalkoholbestimmung überhaupt fehlt. Denn trotz Blut-
alkoholbestimmung können Zweifel, ob schon Schuldunfähigkeit vor-
liegt oder andererseits noch nicht einmal erheblich verminderte Schuld-
fähigkeit erreicht ist, besonders hervortreten: Es braucht sich nur für die
rückzurechnende Tatzeit ein Blutalkoholwert zu ergeben, der zwischen
2,4 und 3%0 gelegen haben kann, eine häufige Konstellation, die bereits
eintritt, wenn zwischen Tat und Blutentnahme einige Stunden ver-
gangen sind, da die stündlichen Rückrechnungswerte je nachdem, ob es
um die maximale oder um die Mindest-Tatzeit-Blutalkoholkonzentra-
tion geht, erheblich differieren3 • Auch können sich durch andere täter-
oder tatbezogene Einzelumstände, insbesondere dadurch, daß ein be-
haupteter Nachtrunk nicht erwiesen, aber auch nicht widerlegbar ist,
Zweifel nach beiden Seiten verdichten.
Allerdings scheinen die Freisprüche, die allein aus diesem Beweis-
dilemma folgen, in der Praxis so häufig nicht zu sein, wie man dies an-
gesichts des wahrscheinlichen Vorkommens solcher Unsicherheiten bei
der Feststellung der Blutalkoholkonzentration annehmen müßte. In
vielen Fällen (z. B. Zechtouren) wird zwar die Berufung auf die actio
libera in causa unser Problem ausräumen'. Aber eine vorverlegte Ver-
antwortlichkeit ist nicht stets dort gegeben, wo der Grad der Alkoholi-
sierung in dem Sinne ungewiß bleibt, daß möglicherweise die Schuld-
fähigkeit schon ausgeschlossen sein könnte, ohne daß auch feststünde,

2 Vgl. die Sachverhalte bei OLG Hamm NJW 1977, 344; OLG Karlsruhe
NJW 1979, 1945; weitere Hinweise bei Schewe, ZStW Beiheft 1981, S.63, fer-
ner ders., Blutalkohol 1983, 371, 526.
3 Hierzu im einzelnen und überzeugend Schewe, Blutalkohol 1983, 371 ff.
4 Vgl. OLG Hamm NJW 1977, 345; DreherjTröndle, 42. Auf!. 1984, § 323 a
Rdn.5.
668 Herbert Tröndle

daß jedenfalls deren erhebliche Verminderung erwiesen ist. Gleichwohl


- so hat es den Anschein - findet die tat richterliche Praxis in solchen
Trunkenheitsfällen meist den Weg zu eindeutigen Ergebnissen. Könnte
dies damit zusammenhängen, daß die Gerichte einen der beiden
Zweifel,
- ob der Trunkenheitsfahrer sich sogar volltrunken ans Steuer ge-
setzt hat oder
- ob sein Alkoholisierungsgrad überhaupt den Zustand erheblich
verminderter Schuldfähigkeit erreicht hat,
deswegen "schneller überwinden", weil sie einen Freispruch vermeiden
wollen, der nicht einleuchten will, nicht plausibel erklärbar ist und
dem Angeklagten selbst vermutlich als richterliche Torheit erscheinen
muß und als Wunder zugleich?
Diese rhetorische Frage ist heikel. Sie hat auch dann noch ihre nach-
denkenswerte Seite, wenn im tatrichterlichen überzeugungsvorgang
die "letzten Zweifel" nach eingehender Prüfung und Beratung "über-
wunden" worden sind oder nach dem Abstimmungsergebnis in der
Kammer als überwunden zu gelten haben. Die richterliche überzeu-
gungsbildung ist - vor allem in einem gemischten Kollegialgericht -
"ein zusammengesetzter, nicht in allen Teilen bewußter psychologischer
Vorgang"s. Notwendigerweise hat auch richterliches Abwägen einen
subjektiven Einschlag. Es ist zudem - legitimerweise - darauf ange-
legt, Betroffene und die Allgemeinheit im Ergebnis zu überzeugen. Die
beigegebenen Gründe müssen in diesem Sinne "transmissibel, inter-
subjektiv" sein, sie müssen plausibel angeboten werden 6• Dieses rich-
terliche Streben nach einem annehmbaren Ergebnis mag den Großen
Senat in BGHSt 9, 390 auf den Ausweg gebracht haben, den damaligen
§ 330 a StGB als Auffangtatbestand zu interpretieren. Auch Tatrichter
möchten zu einem annehmbaren Ergebnis kommen und mit ihrem
Spruch vor der Kritik bestehen können. Sie könnten daher vielleicht
geneigt sein, im Blick aufs Ganze Zweifel, die ohnehin eine unver-
ständliche Entscheidung programmieren, hintanzustellen und - wie
es die Revisionsgerichte für eine Verurteilung nach § 323 a StGB vor-
aussetzen - die überzeugung zu bilden, daß der Täter, der ohnehin
wahrscheinlich volltrunken handelte, jedenfalls den "sicheren Bereich
des § 21 StGB überschritten" hat. Das müßte freilich dann beunruhigen,
wenn das Gericht die genannten Zweifel nicht eigentlich überwunden,
sondern unterdrückt hat. Ein Richter jedoch, der bestehende tatsäch-
liche Zweifel unterdrückt, beugt das Recht. Das gilt auch dann, wenn

5Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen, 5. Aufl. 1983, Rdn. 343.


6 Hierzu Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung im Spiegel rich-
terlicher Erfahrung, 1975, S. 115, 138, 171.
Vollrausch tatbestand und Zweifelsgrundsatz 669

er bei nichtwahlfeststellungsfähigen Delikten Zweifel beiseite schiebt


und eindeutig verurteilt; so z. B. wenn keineswegs sicher ist, ob der
angeklagte Kurpfuscher der Schwangeren Geld abgeschwindelt (§ 263
StGB) oder ob er an ihr eine Abtreibung versucht hat (§§ 218, 22 StGBV,
oder wenn zweifelhaft ist, ob ein Diebstahl versucht (§§ 242, 22 StGB)
oder nur vorgetäuscht (§ 145 b StGB)8 wurde. Diese Fälle sind aber mit
unserem Ausgangsfall nicht vergleichbar. Bei ihm steht das Tatgesche-
hen samt der Fahruntüchtigkeit des Täters absolut fest und das Auf-
klärungsdefizit liegt lediglich darin, daß über den Grad der Alkoholi-
sierung nichts bekannt ist und daher auch die Volltrunkenheit nicht
jenseits möglicher Fallgestaltung lag. Obwohl man in den beiden letzt-
genannten Fällen weiß, daß der Täter sich nach dieser oder jener Vor-
schrift strafbar gemacht hat, erklärt sich der gebotene Freispruch mühe-
los, während sich in unserem Ausgangsfall eine plausible Begründung
hierfür nicht finden läßt. In den vorgenannten Fällen ändert eben die
Gewißheit, daß eine strafbare Handlung vorliegt, nichts daran, daß
letztlich eine Verurteilung deswegen nicht möglich ist, weil die in Frage
stehenden Tatmodalitäten weder Gemeinsamkeit noch tertium com-
parationis aufweisen, wovon bei Schuldzurechnung und Strafzumessung
ausgegangen werden könnte. Ganz anders bei einem Täter, der -
alkoholbedingt fahruntüchtig - eine Straßenverkehrsgefährdung be-
geht und dabei möglicherweise im Vollrausch gefahren ist. Hier sollte
sich aus ganz allgemein rechtlichen Überlegungen eigentlich von selbst
verstehen, daß den Täter ,;wenigstens" die Vollrauschstrafe trifft. Er
selbst wird sich schwerlich, wenn die Straßenverkehrsgefährdung und
die Alkoholisierung als solche feststehen, bei einer solchen Rechtsfolge
ungerecht behandelt fühlen. Das Unbegreifliche in einem solchen Fall
ist der Freispruch, den die herrschende Meinung unter Anwendung des
Zweifelssatzes für geboten hält. Daraus erklären sich etwaige Vermei-
dungsstrategien in der Praxis, die sich überall dort einstellen, wo Gesetz
oder Rechtsprechung zu unbefriedigenden Ergebnissen zwingen.

III.

Anhänger der herrschenden Meinung machen es sich zu leicht, wenn


sie entgegnen, es sei auch sonst mitunter schwierig, Laienrichter davon
zu überzeugen, daß auch in besonders strafwürdig scheinenden Fällen
dann freizusprechen ist, wenn das Gesetz eine Lücke aufweist oder die
Beweise nicht ausreichen. Darum geht es nicht. Auch Schöffen, die voll
verinnerlicht haben, was es mit dem alles überragenden Zweifelssatz
auf sich hat, vermögen die herrschende Rechtsprechung nicht nachzu-

7 BGH bei Dallinger, MDR 1958, 739.


8 OLG Köln NJW 1982, 347.
670 Herbert Tröndle

vollziehen. Und das nicht mangels Rechtsinstinkt. Er ist übrigens kein


Vorrecht der Juristen (Heusinger]9. Auch Rechtsmediziner vermag die
Auffassung der herrschenden Rechtsprechung nicht zu überzeugen. So
hält Schewe 10 , Mediziner und Jurist, dem ersichtlich die rechtsdogma-
tischen Implikationen der Problematik voll vertraut sind, den Mei-
nungsstreit über das besonders interessierende Problem der "Rausch-
begrenzung nach unten" für eine "so befremdliche und seltsame
Diskussion", daß er ebenso ratlos wie die Schöffen im eingangs ge-
schilderten Fall resümierte: "Das alles kann von Grund auf nicht wahr
sein"lI. Er wendet sich wider "das ganze Konstrukt" (nämlich gegen das
Erfordernis, daß für eine Verurteilung nach § 323a StGB zumindest
"der sichere Bereich des § 21 StGB überschritten" sein müsse), das
"gegen fundamentale Natur- und Denkgesetze verstößt". Eine so grund-
legende Kritik aus dem Lager der Rechtsmedizin, ohne deren Erkennt-
nismittel die für die Entscheidung der Rechtsfrage benötigten Fakten
nicht ermittelt und festgestellt werden können, sollte Grund genug
sein, den eigenen Standpunkt zu überprüfen; denn die Rechtsmedizin
sollte die juristischen Folgerungen, die aus ihren Feststellungen gezo-
gen werden, zumindest nachvollziehen können. Statt dessen zensiert
Dencker12 die Meinungsäußerung Schewes scharf und findet dessen
Argumentation "geradezu (juristisch) ärgerlich". Er hält die milde Be-
lehrung13 bereit, daß "ein Freispruch ja keineswegs schon ein ,krimi-
nalpolitischer' Skandal" sei und sonnt sich im Glanz rechtsstaatlicher
Argumentation, die es auch mit Blick auf das Ergebnis weit von sich
weist, dem Zweifelssatz nicht den ihm gebührenden Rang einzuräu-
men. Als ob es darum ginge. Schöffen wie Rechtsmediziner wissen, daß
der Zweifelssatz den Strafprozeß beherrscht, jeder Zweifel im Tatsäch-
lichen also dem Angeklagten zugute kommt und selbst fernliegende
Zweifel am Vorliegen des Sachverhalts, der den Schuldvorwurf begrün-
det, zum Freispruch führen müssen.
Muß aber - bündig gefragt - die Unaufklärbarkeit des Grades der
Alkoholisierung eines (möglicherweise schuldunfähigen) Trunkenheits-
9 (Fn. 6), S. 124.
10 Blutalkohol 1983, 369, 374.
11 Blutalkohol 1983, 375.
12 JZ 1984, 457 Fn.39, der freilich bereits in NJW 1980, 2163 der Formel
vom "sicheren Bereich des § 21 StGB" "große praktische (!) Vernunft" zuge-
sprochen hat und der sich über die "Unbefangenheit", mit der "hier von einer
,Lücke' oder ,kriminalpolitischen' Bedürfnissen gesprochen" werde, verwun-
dert. Verwunderlich ist vielmehr, daß Dencker in diesem Zusammenhang auf
Art. 103 II GG (!) verweist, ohne zu sehen, daß es hierbei nicht um das (un-
zulässige) Schließen einer Gesetzeslücke geht, sondern um das Vermeiden
einer Strafbarkeitslücke, die durch Leitsätze der Rechtsprechung und ihrer
Sekundärauslegung verursacht ist. Mit Recht hebt Walter, NStZ 1982,54, her-
vor, daß diese Strafbarkeitslücke vom Gesetzgeber nicht gewollt war.
13 JZ 1984, 458.
Vollrausch tatbestand und Zweifels grundsatz 671

fahrers auch dann zum Freispruch führen, wenn sicher feststeht, daß
dem Angeklagten die Alkoholisierung zuzurechnen ist und er - um
beim Beispiel einer trunkenheitsbedingten Straßenverkehrsgefährdung
zu bleiben - (relativ oder) absolut fahruntüchtig Leib und Leben oder
andere fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet (oder gar ver-
letzt) hat? Der Angeklagte muß doch, gleichgültig wie hoch seine Blut-
alkoholkonzentration ist, für dieses Tatgeschehen so oder so einstehen,
wenn nicht als Täter einer (vorsätzlich oder fahrlässig begangenen)
Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c Abs.1 Nr.1a StGB, so doch
wegen Vollrauschs nach § 323 a StGB. Und nun soll allein die (viel-
leicht fernliegende, aber beweismäßig nicht zu vernachlässigende)
Möglichkeit, daß er sogar volltrunken war (und falls dies feststünde,
sich nach § 323 a strafbar gemacht hätte) zu seinem sicheren Freispruch
führen?
IV.
Die Begründung der herrschenden Meinung für dieses Ergebnis ist
bekannt: Da § 323 a nicht auszuschließen ist, kann im Hinblick auf den
Zweifelssatz nicht wegen der Rauschtat verurteilt werden und wegen
eben desselben Zweifelssatzes scheidet eine Verurteilung nach § 323 a
StGB aus, weil wegen des unaufgeklärten Alkoholisierungsgrades auch
nicht erwiesen ist, daß der "sichere Bereich des § 21 StGB überschritten"
ist.
Folgt dieses seltsame Ergebnis wirklich aus dem Gesetz? Aus dessen
Wortlaut gewiß nicht. Er drängt vielmehr die Einsicht auf, daß das
Gesetz alkoholisierte Fahrer stets mit Strafe bedrohen will, selbst dann,
wenn sie volltrunken sind (oder "dies nicht auszuschließen ist"). Auch
eine sinnentsprechende Anwendung des Zweifelssatzes kann in den
aufgezeigten Fällen einen Freispruch nicht begründen oder gar recht-
fertigen. Die grundlegenden Einwendungen Schewes sind plausibler
als die herrschende Meinung. Ihr ist zwar nicht vorzuwerfen, daß ihr
Ergebnis aus einer unzureichend erörterten Problematik herrühre;
eher schon ist sie die Frucht einer zu ausdifferenzierten Dogmatik, die
dadurch gekennzeichnet ist, daß sich im Bereich der problematischen
Vorschrift des § 323a StGB und der Wahlfeststellung Grundsätze und
Rechtsfiguren entwickelt und verfestigt haben, die - oft erst in ihrer
Sekundärauslegung - unmittelbar auf Sachverhalte angewendet wer-
den, die rechtlich grundlegender und in größerem Zusammenhang hät-
ten beurteilt werden müssen. Es könnte sich nämlich so verhalten,
daß die herrschende Meinung in den Fällen des möglichen, aber nicht
sicher nachgewiesenen Vollrausches schon im Lösungsansatz zu kurz
greift und sich hieraus erklärt, warum sie nur scheinbar auf einer
juristisch in sich stimmigen Argumentation fußt, ein plausibles und
allgemein überzeugendes Ergebnis aber verfehlt. Die sich insoweit auf-
672 Herbert Tröndle

drängenden Zweifel werden durch die Tatsache verstärkt, daß inner-


halb des Problemkreises, der durch die Stichworte "Vollrausch, Auf-
fangtatbestand, Wahlfeststellung, in dubio pro reo" umschrieben ist,
die Rechtsentwicklung nicht gradlinig verlief, die von der Rechtspre-
chung übernommenen Rechtsformeln und Rechtsfiguren nach Inhalt und
Abgrenzung kontrovers blieben und der herrschenden Meinung keines-
falls ein so solides Fundament liefern, daß grundlegende Zweifel an den
Ergebnissen dieser Entwicklung unbeachtet bleiben könnten.
Was hiermit gesagt sein soll, kann nur mit wenigen skizzenhaften
Strichen angedeutet werden:
Erstens muß gesehen werden, daß schon die Vorschrift des § 323 a
StGB (auch in den früheren Fassungen) als eine "gesetzgeberisch miß-
glückte"14, vor allem unter schuldstrafrechtlicher Sicht außerordentlich
umstrittene Vorschrift anzusehen ist, die kaum lösbare Schwierigkeiten
bietet15 und die "bis jetzt jeder befriedigenden Eingliederung in unser
Strafrechtssystem getrotzt hat'<16. Bedenken richten sich schon dagegen,
daß sie im Besonderen und nicht im Allgemeinen Teil steht17 • Ferner
ist bei ihr zum einen das geschützte Rechtsgut kaum auszumachen l8 ,
zum anderen tut man sich bei der Frage der Strafwürdigkeit der -
isoliert betrachteten - Tathandlung schwer u und schließlich - hier-
durch mitbedingt - schafft das Verhältnis der als Strafbarkeitsbedin-
gung zu begreifenden Rauschtat zu der eigentlichen Tathandlung des
Sichberauschens intrikate und im Grunde noch nicht gemeisterte Pro-
bleme 20 . Sie treten - praktisch häufig - in allen Fällen hervor, wo
ein Vollrausch naheliegt, aber zugleich auch eine geringere Alkoholi-
sierung in Betracht zu ziehen ist.
Da in diesen Fällen durch die Konstruktion des § 323 a StGB zwei
verschiedene Tathandlungen in Frage stehen (die freilich nicht immer
hinreichend in ihrer gegenseitigen Bezogenheit gesehen werden), stülpt
sich nun zweitens über den "monströsen"21 § 323 a StGB die problem-

14 So von Weber, MDR 1952, 643; Lackner, JuS 1968, 216; Wolter, NStZ
1982,55.
15 Spendel, in: LK, 10. Auf!. 1984, § 323 a Rdn.1 m. w. N.; Arthur Kauf-
mann will § 323 a StGB daher "abschaffen" (Schuld und Strafe, 2. Auf!. 1983,
S. IX und 253).
ta Maurach, JuS 1961, 373.
17 Vgl. z. B. Hruschka, Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 1983,
S.29l.
18 Spendel, in: LK (Fn. 15), § 323 a Rdn.69 und insbesondere Rdn. 70, wo
freilich darauf abgehoben wird, daß der richtig verstandene § 323 a "eine Be-
kräftigung des Verschuldens- und Verantwortungsprinzips" enthalte.
19 Puppe, Jura 1982,281 m. w. N.
20 Vgl. Spendel, in: LK (Fn. 15), § 323 a Rdn. 148 ff.
21 Boldt, DR 1939, 1035.
Vollrauschtatbestand und Zweifelsgrundsatz 673

beladene Rechtsfigur der Wahljeststellung (deren Anwendungsbereich


ohnehin nur aus der Kasuistik einer schwankenden höchstrichterlichen
Rechtsprechung entnommen werden kann22), obgleich Karl Peters seit
195223 darauf hinweist, daß es der Grundsatz in dubio pro reo ist, der
die Lösung anbietet, wenn der Täter bei einer tatbestandsmäßigen Hand-
lung möglicherweise alkoholbedingt vermindert schuldfähig oder ver-
schuldet schuldunfähig ist. Statt dessen trat mit der Wahlfeststellungs-
frage das erstarrte Dogma von der "rechtsethischen und psychologi-
schen Vergleichbarkeit" auf den Plan, das seit Anbeginn das Richtige
nicht traf, in seiner ureigensten Aussage auch gar nicht ernst genom-
men wird 2\ sich aber gleichwohl gegen sachgemäße Lösungen sperrt 25 •
So auch die Frage, ob eine "Wahlfeststellung zwischen dem Vergehen
des § 323 a und der im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit
begangenen Rauschtat" möglich ist. Verneinende Entscheidungen26 führ-
ten zur Anrufung des Großen Senats, wobei der Oberbundesanwalt übri-
gens für diesen Fall ausdrücklich die "rechtsethische und psychologische
Vergleichbarkeit" bejaht hatte (BGHSt. 9, 399).

Anders der Große Senat: Er verneinte die Vorlegungsfrage, vermied


aber den hierdurch an sich gebotenen, jedoch schwer verständlichen
Freispruch dadurch, daß er drittens dem § 330 a StGB (früherer Fas-
sung) den Charakter einer "Auffangstrafdrohung" beimaß (BGHSt. 9,
398)27. Auf diese Weise wurde der Problembereich noch undurchsichti-
ger, obgleich der Große Senat mit der Rechtsfigur des Aujjangtatbestan-
des unausgesprochen gerade das Nämliche erstrebt und erreicht, was er
in derselben Entscheidung, wenn auch in anderer dogmatischer Gewan-
dung, verpönt hatte 28 . Zwar mag eine Deutung des § 330 a (§ 323 a) StGB
als Auffangstatbestand insoweit verständlich erscheinen, als sie auch
in dieser Interpretation als Ausprägung des Zweifelssatzes begriffen
werden kann. Gegen diese Lösung hätten aber dieselben Bedenken -
wären sie je berechtigt gewesen - erhoben werden müssen, wie sie
gegen eine Bejahung der Wahlfeststellung geltend gemacht wurden;
eher noch in verstärktem Maße, weil diese überraschende Deutung der
Altfassung des § 330 a StGB schließlich nur um den Preis einer Tatbe-

22 Vgl. Tröndle, JR 1974, 113.


23 Strafprozeß, 1. Aufl. 1952, S. 234, bis 3. Aufl. 1981, § 37111 1 c aa.
24 Z. B. in den Fällen der Tatbestandsreduktion, Tröndle, JR 1974, 134.
25 Vgl. schon Schneidewin, JZ 1957, 326; hierzu im einzelnen Tröndle, JR
1974, 134 und ders., in: LK, 10. Aufl. 1978, § 1 Rdn.97; ferner Dtto, Peters-
Festschrift 1974, S. 390.
26 BGHSt. 1,275 und 327.
27 Hiergegen Heinitz, JR 1957, 126; Schneidewin, JR 1957, 324; Dreher,
MDR 1957, 180; Arthur Kaufmann (Fn. 15), S. 235.
28 Dreher, MDR 1970,369: "Ach wie gut, daß niemand weiß, daß ich Wahl-
feststellung heiß!".

43 Festschrift für H.-H. Jescheck


674 Herbert Tröndle

standserweiterung zu erreichen war, und zwar in einem rechtsstaatlich


besonders empfindlichen Bereich, weil sie die Beweisanforderungen an
die tatbestandlichen Erfordernisse zurückgenommen hatte. Diese Ent-
scheidung des Großen Senats hat wenig Verständnis erfahren und stieß
gerade auch wegen der Methode der Rechtsfindung unbeschadet der
Dignität ihrer Herkunft überwiegend auf Ablehnung 29 • Sarstedt 30 be-
merkte noch in neuerer Zeit - unter Hinweis auf Probleme des Zu-
standekommens von Erkenntnissen des Großen Senats -, daß er eine
Entscheidung "wie etwa BGHSt.9, 390" "keinem der Einzelsenate zu-
trauen" würde.
Obwohl die Rechtsfigur des Auffangtatbestandes, die später auch
anderenorts im Verhältnis zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit einge-
führt wurde (BGHSt. 17,210), erhebliche Kritik 31 erfuhr, sah sich vier-
tens der Gesetzgeber im EGStGB 1975 veranlaßt, die umstrittene Ent-
scheidung des Großen Senats zu legalisieren. Freilich war dem - auf
Klärung und Hilfe für die Praxis ausgerichteten - ergänzenden Kau-
salsatz (" ... oder weil dies nicht auszuschließen ist") konstruktiv "nicht
die tiefste Sacheinsicht zu eigen" (Ottoj32, eben weil der Gesetzgeber in
den ohnehin atypischen Tatbestand auch noch eine prozessuale Kate-
gorie, nämlich eine BeweisregeJ33, eingebunden und damit Anstoß für
neue Zweifels fragen geschaffen hat. Anstatt aber die Hilfe des Gesetz-
gebers anzunehmen, die Problematik zu entschärfen und das Gesetz so
anzuwenden, wie es dasteht, belastete die Rechtsprechung diese Neu-
regelung mit den Schranken der Entscheidung BGHSt.9, 390, die der
Große Senat - da sie im damaligen Sachverhalt vorgegeben waren -
eingezogen hatte, um sich mit s~iner extensiven Auslegung des damali-
gen § 330 a StGB nicht noch weiter vom Gesetzeswortlaut zu entfernen34 .
So kam es dann fünftens zu dem Erfordernis, daß "der sichere Be-
reich des § 51 Abs.2 a. F. (jetzt § 21) StGB überschritten" sein müsse
(BGHSt. 16, 187). Aber schon diese Formel war unklar und offensichtlich
irreführend: Das OLG Karlsruhe (NJW 1979, 1945)35 verstand sie dahin,
daß der sichere Bereich des § 21 StGB "zum § 20 StGB hin" überschritten

29 S. Fn. 27.
30 Strafverteidiger 1981, 45.
31 Tröndle, in: LK (Fn.25), § 1 Rdn.93; Dtto, Peters-Festschrift, S.379.
32 Peters-Festschrift, S. 383; ferner Hardwig, Eb. Schmidt-Festschrift, 1961,
S.486.
33 Spende I, in: LK (Fn. 15), § 323 a Rdn. 148.
34 Freilich konnte hierfür die Gesetzesbegründung herangezogen werden
(BR-Drucks. 1/72, 257), die ausdrücklich davon sprach, daß die Entscheidung
des Großen Senats legalisiert werden sollte; vgl. aber hierzu unten Text bei
Fn.76.
35 Ebenso Hirsch, ZStW, Beiheft 1981, S.19; hiergegen BayDbLG VRS
Bd. 58, 209.
Vollrauschtatbestand und Zweifelsgrundsatz 675

sein müsse, eine Auslegung, die freilich widersinnig 38 war, weil sie das
Ziel der Gesetzesänderung gerade verkehrt und den praktischen Fort-
schritt, der BGHSt. 9, 390 immerhin brachte, wiederum aufhob. BGHSt.
32, 48 hat inzwischen klargestellt, was diese Formel lediglich meint: Daß
der sichere Bereich des § 21 StGB erreicht sein müsse, der Grad der
Alkoholisierung also zumindest zu einer erheblich verminderten
Schuldfähigkeit des Täters geführt haben müsse. Dies bedeutet wie-
derum, daß die herrschende Rechtsprechung für einen "Rausch" im
Sinne des § 323 a StGB den Eintritt erheblich verminderter Schuld-
fähigkeit voraussetzt. Das ist aber schon in tatsächlicher Hinsicht eine
willkürliche Annahme 31 • Das Phänomen Rausch läßt sich nicht exakt
bestimmen. Auch die medizinische Wissenschaft vermag ihn nicht ab-
zugrenzen 38 • Verfehlt ist es insbesondere, wie Puppe39 und Horn 40 über-
zeugend dargetan haben, den Begriff des Rausches mit Kategorien der
Schuldfähigkeit zu interpretieren und ihn bei der erheblich verminder-
ten Schuldfähigkeit "beginnen" zu lassen: Denn die Frage der Schuld-
fähigkeit ist stets "tatabhängig" . Es muß also eine bestimmte Tat exi-
stent sein, bevor die Schuldfähigkeit des Täters - bezogen auf diese
Tat - beurteilt werden kann. Bei derselben Blutalkoholkonzentration
kann derselbe Täter z. B. für eine leichtere Tat erheblich vermindert
schuldfähig sein, für eine schwerere aber noch nicht. Für die vorgreif-
liche Frage, ob der Täter bei der Tat in einem Rauschzustand war, kann
daher aus der Beantwortung der Frage des Grades der Schuldfähigkeit,
die überhaupt erst post factum sinnvoll gestellt werden kann, nichts
gewonnen werden: vor allem kann das Vorliegen eines Rausches im
Sinne des § 323 a nicht davon abhängen, was für eine Tat der Täter
begangen hat.
Aus allem ergibt sich, daß die herrschende Auffassung, die bei einer
Verurteilung nach § 323a StGB den Nachweis voraussetzt, daß zumin-
dest der sichere Bereich des § 21 StGB erreicht ist, nicht als rechts-
staatlich unanfechtbares Dogma behandelt werden kann. Die dagegen
erhobenen Einwände sollten ernster genommen werden.

36 Puppe, Jura 1982, 283; vgl. auch Dencker, NJW 1980, 2160; Horn, JR
1980,4; Ranft,JA 1983, 198.
31 Vgl. Spendel, in: LK (Fn. 15), § 323 a Rdn. 153.
38 Schewe, Blutalkohol 1976,91; ders., Blutalkohol 1979,60.
39 Puppe, GA 1974, 98 ff.; dies., Jura 1982, 284.

40 JR 1980, 1. Die Gegenauffassung Denckers, JZ 1984, 459, kann nicht über-


zeugen.
676 Herbert Tröndle

V.
Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Mindermeinung
am praktisch besonders bedeutsamen Fall des Trunkenheitsfahrers zu
begründen. Hierzu besteht umsomehr Anlaß, als die Entscheidung des
4. Strafsenats des BGH vom 13. August 1983 (BGHSt.32, 48) einer
Rechtsentwicklung in Richtung der Mindermeinung nicht mehr von
vornherein entgegensteht. Der Senat läßt nämlich - insoweit abwei-
chend von BGHSt. 16, 187 - offen, ob ein tatbestandsmäßiger Rausch
im Sinne des § 323 a StGB auch bei möglicher voller Schuldfähigkeit
vorliegen kann. Damit ist zweifelhaft, ob der BGH künftig in diesen
Fällen an dem Erfordernis des "Überschreitens des sicheren Bereichs
des § 21 StGB" festhalten wird. Daß der BGH in dieser Frage auch sonst
Möglichkeiten für neue Wege offen läßt, wird dadurch deutlich, daß
er in dieser Entscheidung das aus dem Grundsatz in dubio pro reO fol-
gende Argument des "normativ-ethischen Stuten verhältnisses" im
Sinne des "Schwächeren zum Stärkeren" herangezogen hat 4 1, um das
(sich bereits aus der Auffangfunktion der Vorschrift ergebende) Ergeb-
nis zu begründen, daß auch der Täter, der in seiner Schuldfähigkeit
erheblich vermindert (und lediglich nicht ausschließbar schuldunfähig)
ist, nach § 323a StGB zu bestrafen ist. Schließlich fällt auf, daß der
Senat exemplifikativ Fahrlässigkeit und Vorsatz als Beispiel für ein
"normativ-ethisches Stufenverhältnis" erwähnt hat (BGHSt. 32, 57) mit
der ausdrücklichen Bemerkung, daß BGHSt. 17,210 für diesen Fall
"allerdings Auffangtatbestand" angenommen habe.
Der 4. Strafsenat zieht damit - anders als der Große Senat in
BGHSt.9, 397 - im Bereich des § 323 a StGB in den non-liquet-Fällen
den Zweifelssatz unmittelbar heran, weil er auf dem Standpunkt steht,
daß der Gesetzgeber unbeschadet der besonderen Struktur des Voll-
rauschtatbestandes dieses Gefährdungsdelikt "geringer wertet als die
Verletzung der Norm, die objektive Strafbarkeitsbedingung dieses Ge-
fährdungsdelikts ist" (BGHSt.32, 55)42. Diese Sicht des Verhältnisses
zwischen Vollrauschtatbestand und Rauschtat greift aber - obwohl der
Senat diese Frage offenlassen konnte - auch in den Fällen, in denen
die Alkoholisierung nicht bis zur erheblichen Schuldminderung gedie-
hen ist. Der 4. Strafsenat argumentiert somit - übrigens unter Zu-
stimmung der übrigen Senate (vgl. BGHSt.32, 57) - der Sache nach
nicht anders als Karl Peters 43 , der schon vor 30 Jahren in bezug auf die
Altfassung des § 330 a StGB unter Hinweis auf die gerichtliche Praxis

41 Vgl. auch Heiß, NStZ 1983,68.


42 Vgl. hierzu auch Schewe, Blutalkohol 1983, 386 und 529.
43 Strafprozeß, 1. Aufl. 1952, § 37 III 1 a, S. 234; im Ergebnis ebenso Schewe,
Blutalkohol 1983, 386.
Vollrauschtatbestand und Zweifelsgrundsatz 677

den Standpunkt vertreten hat, daß "bei Zweifeln, ob der Täter voll-
trunken war oder nicht, zu seinen Gunsten Volltrunkenheit anzuneh-
men" sei.
Obwohl die Auswirkungen der Entscheidung BGHSt. 32, 48 noch nicht
in jeder Hinsicht übersehbar sind, können von ihr Impulse für eine
Überprüfung der bisherigen Standpunkte44 ausgehen, die aus der Sack-
gasse führen, in die die herrschende Rechtsprechung bei der Auslegung
des § 323 a StGB geraten ist.
Auch die Kritiker der Entscheidung sehen das so, beklagen freilich
die "unabsehbaren Konsequenzen für den Wahlfeststellungsbereich"45.
Indessen tut gerade insoweit eine Überprüfung der Grundsätze der
herrschenden Rechtsprechung not, da im Wahlfeststellungsbereich die
juristischen Argumentationen regelmäßig nicht zu überzeugen vermögen
und mitunter auch nicht die Ergebnisse. Innerhalb des Problemkreises
Wahlfeststellung und Vollrauschtatbestand gilt das ganz besonders.
BGHSt.32, 48 geht ein Stück in die richtige Richtung, insbesondere in
den obiter dicta der Entscheidung. Allerdings hat sie gerade dieserhalb
von Dencker eine harte und in der Sache unangemessene Zensur 46 er-
fahren. Die Entscheidung BGHSt. 32, 48 weist nämlich - mag sie auch
eine Reihe offener und klärungs bedürftiger Fragen aufwerfen - ent-
gegen Dencker keinen inneren Widerspruch auf: denn über den Begriff
des Rausches läßt sich der Senat nicht aus und in casu läßt der Senat
nur einen solchen mit einem Schweregrad genügen, bei dem der Täter
den Bereich des § 21 StGB erreicht hat. Keinem Revisionssenat ist
übrigens verwehrt, neben den rationes decidendi (die in BGHSt. 32,48
angesichts der eigentlichen Entscheidungsfrage wahrlich kurzgehalten
werden konnten) auch obiter dicta einzusetzen: der tatrichterlichen
Praxis ist dies erwünscht, weil sie informieren und dadurch Rückver-
weisungen vermeiden, nicht selten aber auch für die Entwicklung der
Rechtsprechung Zeichen signalisieren.
Im übrigen lag es für den 4. Strafsenat nahe, zu dem Kausalsatz des
§ 323 a StGB (" ... oder weil dies nicht auszuschließen ist") Grundlegen-
des und über die Sachentscheidung Hinausgehendes zu sagen, nachdem
sogar die Auslegungsformel vom "Überschreiten des sicheren Bereichs
des § 21 StGB" mißdeutet wurde und unter Berücksichtigung der neue-
ren Literatur das Verhältnis zwischen Vollrausch und einer in erheb-
lich verminderter Schuldfähigkeit begangenen Rauschtat aufzuhellen
war. Die Hinweise des 4. Strafsenats verdienen auch, wie Dencker47 zu-

44 So auch Schewe, Blutalkohol 1983, 527.


45 Dencker, JZ 1984, 460.
46 "Verfall richterlicher Entscheidungskunst" (!), JZ 1984, 453.
47 JZ 1984,458.
678 Herbert Tröndle

treffend sagt, "besondere Aufmerksamkeit", da sie sich in der Tat "von


der bisherigen Rechtsprechung absetzen oder das wenigstens vorberei-
ten". Einem solchen Neuansatz widerspricht freilich Dencker, der im
wesentlichen die herrschende Rechtsprechung trotz ihrer verwunderli-
chen Ergebnisse gutheißt.
Das Urteil des 4. Strafsenats BGHSt. 32, 48, das für neue Überlegun-
gen bei der Auslegung des § 323 a Raum läßt, bietet die Chance, zu über-
prüfen, ob die herrschende Meinung in den beschriebenen Fällen
a) den Zweifelssatz sinnentsprechend und sachgemäß begreift und
b) bei der Auslegung des atypisch ausgestalteten § 323 a StGB die
wechselbezügliche Abhängigkeit und Verschränkung zwischen Voll-
rausch und Rauschtat oder dogmatisch genauer: zwischen der Tat-
handlung des Sichberauschens und der Strafbarkeitsbedingung der
Rauschtat hinreichend berücksichtigt hat.

VI.

Dreher48 hat bereits zur Neufassung des damaligen § 330a StGB im


EGStGB 1975 die Auffassung vertreten, daß nach dem Gesetzeswort-
laut und einem unabweisbaren kriminalpolitischen Bedürfnis und ent-
gegen der bisherigen Rechtsprechung vom Tatbestand des früheren
§ 330 a StGB auch Fälle erfaßt sind, in denen Zweifel sich nicht nur auf
das Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 20 oder 21, sondern auch auf
die volle Schuldfähigkeit erstrecken. Dem folgte eine Mindermeinung49 ,
die auch zutreffend darauf hinweist 50 , daß es methodisch verfehlt ist,
§ 323 a StGB durch § 21 StGB zu begrenzen.

Die vorliegende Abhandlung nimmt vor allem an dem Erfordernis der


herrschenden Meinung für die Anwendung des § 323 a StGB Anstoß,
daß der "sichere Bereich des § 21 StGB überschritten" (gemeint ist zu-
mindest "erreicht") sein müsse. § 323 a StGB kann bei dieser Auslegung
in einem praktisch bedeutsamen Bereich zu sachlich nicht gerechtfer-
tigten Freisprüchen führen 51 • Das soll hier am Beispiel der Trunken-
heitsfahrt dargetan werden.

48 StGB, 35. Aufl. 1975, § 330 a Anm.3 a; ihm folgend Tröndle, in: LK,
10. Aufl. 1978, § 1 Rdn. 99, bis zu Dreher/Tröndle (Fn. 4), § 323 a Rdn. 5.
49 Spendel, in: LK (Fn. 15), § 323 a Rdn. 154; Peters, Strafprozeß, 3. Aufl.
1981, § 37 III 1 c aa; Hentschel/Born, Trunkenheit im Straßenverkehr, 3. Aufl.
1984, Rdn. 278 ff.; Schmidhäuser, BT, 2. Aufl. 1983, 15/31; Maurach/Schroeder,
BT Teilb.2, 6. Aufl. 1981, § 94 II; Schewe, Blutalkohol 1983, 370, 526; Göhler,
OWiG, 7. Aufl. 1984, § 122 Rdn. 7.
50 Horn, in: SK, 2. Aufl., § 323 a Rdn.16; Jakobs, AT 1983, 17/62 Fn.113;
vgl. auch die Hinweise unter Fn. 63.
51 Vgl. Fn. 12.
Vollrauschtatbestand und Zweifelsgrundsatz 679

Allerdings kann hier nur die Skizze einer sachgerechten Lösung ver-
sucht werden. Eine auch nur annähernde Berücksichtigung der wichti-
geren Literatur zu Problemen des Zweifelsgrundsatzes, der Wahlfest-
stellung und des Vollrauschtatbestandes ist im Rahmen eines Fest-
schriftbeitrags nicht möglich.
Der Grund, warum einem Nichtstrafrechtler nicht plausibel zu machen
ist, daß ein Trunkenheitsfahrer freizusprechen ist, wenn man nicht
weiß, ob er zur Tatzeit in seiner Schuldfähigkeit erheblich vermindert
oder möglicherweise gar volltrunken war, hängt damit zusammen, daß
diese Rechtsauffassung ihrerseits auf einer fehlerhaften Anwendung
des Zweifelsgrundsatzes beruht. Denn es ist bei der Beurteilung des-
selben Tatgeschehens nicht angängig, dem Täter beide Zweifel gutzu-
bringen, nämlich den Zweifel, ob Volltrunkenheit vorliegt, sowie den
Zweifel, ob der Täter den § 21 StGB bereits erreicht hatte. Otto 52 , Horn 53
und insbesondere Peters54 haben das bereits von jeher gesehen. Horn
meint, daß Zweifel im Rahmen des § 323 a StGB zugunsten des Täters
zu lösen seien, "Zweifel hingegen, die die ,normative' Frage der spe-
zifischen Unrechts-Einsichts- bzw. der entsprechenden Steuerungs-
fähigkeit hinsichtlich der Rauschtat betreffen, zu seinem Nachteil".
Spendel drückt in der Neukommentierung des Leipziger Kommentars55
dies dahin aus, daß die Rauschtat als Folge des Rausches und dieser
Rauschzustand als Grund jener "als ein einheitliches Ganzes in ihrer
Wechselbeziehung zu sehen" seien, "nicht nur in tatsächlicher, sondern
auch in rechtlicher Hinsicht". Er sagt weiter, daß sonst der Zweifels-
grundsatz "bei ein und demselben Sachverhalt zweimal, und in ent-
gegengesetzer Richtung angewandt" "und zu einer Doppelvergünsti-
gung in Verkehrung der Verhältnisse führen" würde. Spendel rügt, daß
hierdurch "die Unsicherheit der Beweislage dem Berauschten in wider-
spruchsvoller Weise zweimal zugute" gehalten würde. Hier liegt der
Kern der Problematik: Soweit die herrschende Meinung für die An-
wendung des § 323 a StGB verlangt, daß zumindest "der sichere Bereich
des § 21 StGB überschritten" sein, andernfalls freigesprochen werden
müsse, impliziert sie eine solche zweifache, aber gegenläufige Berück-
sichtigung des Zweifelsgrundsatzes. Dies ist aber nicht die Konsequenz
rechtsstaatlichen Denkens, sondern im Grunde ein Denkfehler.
Zwar gebietet der Grundsatz in dubio pro reo, daß alle, selbst ent-
ferntere Zweifel stets zugunsten des Täters ausschlagen. Einem dem Tä-
ter zugute gehaltenen Zweifelssachverhalt muß aber eine im wirklichen

52 Peters-Festschrift, S. 384.
53 SK (Fn. 50), § 323 a Rdn. 16.
54 Strafprozeß, 1. Auf!. 1952, S. 234.
55 LK (Fn. 15), § 323 a Rdn. 149.
680 Herbert Tröndle

Leben mögliche Fallgestaltung (eben die dem Täter günstigste!) zu-


grunde liegen. Bezieht sich wie hier der Zweifel auf die Frage,
- ob bereits Schuldunfähigkeit vorliegt und
- ob der "sichere Bereich des § 21 StGB überschritten", genauer: über-
haupt schon erreicht ist (eine Fragestellung, die nicht durch den
Gesetzestext, sondern erst durch ein von der Rechtsprechung aufge-
stelltes Erfordernis veranlaßt ist),
so liegt innerhalb eines einzigen Tatgeschehens nur ein einziger Zwei-
felssachverhalt vor, eben der der Unsicherheit über den Schweregrad
der Alkoholisierung 58 • Die Anwendung des Zweifelsgrundsatzes kann
daher auch hier nur bedeuten, daß bei der strafrechtlichen Beurteilung
des Sachverhalts die dem Täter günstigste Tatversion zugrunde zu legen
ist, was zur Anwendung des § 323 a führt. Diesem aus richtiger Anwen-
dung des Zweifelssatzes gewonnenen Ergebnis läßt sich nicht entgegen-
halten, daß es (zugunsten des Täters) selbst das Produkt eines Zweifels
ist. Dies um so weniger, als jener Zweifel, wäre er dem Täter je zu Un-
recht zugutegehalten und ausgeräumt worden, mit Sicherheit zu einer
schwereren Verurteilung hätte führen müssen, von der der Täter nur
dann, wenn Zweifel zu seinen Gunsten wirken, verschont bleibt. § 323 a
StGB mit seiner Fragestellung, die eindeutig auf einen zugunsten des
Täters möglichst weiten Anwendungsbereich abzielt, kann sinnvoll nicht
so verstanden werden, daß dem Täter eine Unsicherheit der Beweislage
über die vom Gesetzgeber gezogene Grenze hinaus zugute kommt. Auch
ein auf dem Zweifelssatz beruhender Freispruch muß im übrigen eine
Grundlage haben, für die es eine Entsprechung in der Wirklichkeit gibt
oder geben kann. Da der Zweifelssachverhalt allein den Grad der Al-
koholisierung betrifft, ist es nicht möglich, einem alkoholisierten Täter
in Ansehung eines einzigen Tatvorgangs zugleich zugute zu halten, daß
er sowohl schuldunfähig als auch nicht einmal erheblich schuldvermin-
dert gewesen sein könnte. Auch wo die Strafrechtspflege dem Täter den
Vorteil des Zweifels gutbringt, darf sie den Boden unter den Füßen
nicht verlieren. Im übrigen findet das Postulat der Rechtsprechung, beim
Vollrauschtatbestand müsse "der sichere Bereich des § 21 StGB über-
schritten" sein, in dem Kausalsatz des § 323 a (" ... oder weil dies nicht
auszuschließen ist"), um dessen Auslegung es hier geht, auch keine
Stütze. Er besagt lediglich, daß der (bloße Gefährdungs-)Tatbestand
des § 323 a StGB nicht nur bei erwiesenem Vollrausch eingreift, sondern
schon dann, wenn der Täter "infolge des Rausches" nur möglicherweise
schuldunfähig war. Die Beweisregel der Neufassung regelt also einen
ganz bestimmten Zweifel ausdrücklich, nämlich den, was gilt, wenn

68 Im Ergebnis ebenso Qtto, Peters-Festschrift, S.384; vgl. auch Schewe,


Blutalkohl 1983, 365.
Vollrauschtatbestand und Zweifelsgrundsatz 681

sogar Handeln im Vollrausch (und damit Schuldunfähigkeit) in Betracht


kommt, dies aber nicht sicher ist. Über den Rausch (und dessen "Beginn")
sagt die Beweisregel nichts und will darüber nichts aussagen. Sie ver-
deutlicht vielmehr ihrerseits ("infolge des Rausches"), daß sie - wie der
ganze Tatbestand - ihn als selbständig zu prüfendes und insoweit vor-
greifliches Merkmal voraussetzt (hierzu unten VIII).

VII.

Gegen die hier vertretene Auffassung, daß der besagte Zweifelssach-


verhalt angesichts der auf eine Erweiterung des Anwendungsbereichs
abzielenden Fragestellung nicht sinnwidrig zu einer Eliminierung der
Vorschrift führen darf, läßt sich nicht einwenden, daß er sich auf zu
unterscheidende Tathandlungen bezieht: der Zweifel, ob Schul dun-
fähigkeit vorliegt, nämlich auf das vorwerfbare Sichberauschen (323 a
StGB) und der Zweifel, ob der Grad der Alkoholisierung den Bereich
des § 21 StGB schon erreicht (oder überschritten) hat, auf die im Zu-
stand der Alkoholisierung begangene (Rausch-)Tat als solche. Diese
beiden Tatakte sind indessen in einem Zusammenhang zu sehen. Be-
trachtet man sie isoliert, so ist ein Teil ihrer auch von der Dogmatik zu
berücksichtigenden Wesenheit nicht im Blick57• Mit Recht weist Spendel
auf das Subsidiaritätsverhältnis58 beider Tatakte hin und darauf, daß
das Sich-in-einen-Rausch-versetzen das notwendige Durchgangsstadium
für die Rauschtat sei. Er bringt ferner das anschauliche Bild einer Bal-
kenwaage, die um den Drehpunkt der Schuldunfähigkeit schwankt:
Wird von der einen Schale etwas von der Schuld für die Rauschtat weg-
genommen, schlägt es zu Ungunsten des Trunkenen auf der anderen
bei der Schuld für das Selbstberauschen aus. In der Tat: Die beiden
Gewichte, von denen jedes einzelne den Täter auf seine - strafrecht-
lich relevante - Weise belastet, korrespondieren miteinander. Bleibt
die Beweislage unklar oder - um im Bilde zu bleiben - die Waage in
einer Schwankung zwischen "schon § 323 a StGB und noch nicht ganz
§ 21 StGB", so liegt auf der Hand, was gilt, wenn das "Mindestgewicht"
anzugeben ist, will heißen, dem Täter der Sachverhalt zugerechnet
werden soll, der ihn am geringsten belastet. Die herrschende Meinung
verfährt anders. Sie räumt, falls die Waage "über die Strichmarken des
§ 21 und des § 323 a hinaus" schwankend bleibt, alle Gewichte ab, mit
anderen Worten: sie wägt nicht mehr, sie rechnet nicht zu, sondern
spricht frei und setzt damit - so könnte man sagen - "die Waage der

57 Vgl. hierzu insbesondere Arthur Kaufmann (Fn.15), S.236; zu abstrakt


gesehen von Wolter, NStZ 1982, 775, der daher auch zu Unrecht Dreher, MDR
1970, 371 kritisiert.
58 LK (Fn. 15), § 323 a Rdn. 156; aber auch Puppe, GA 1974, 114, und dies.,
Jura 1982, 284; Montenbruck, JR 1978, 210; Dencker, NJW 1980, 2160.
682 Herbert TrändIe

Gerechtigkeit außer Betrieb". Da dies im Faltenwurf juristischer Ar-


gumentation und unter Anrufung der Werte des Rechtsstaates ge-
schieht, tritt die seltsame Situation ein, daß das Ergebnis von Rechts-
gelehrten und hohen Richtern eher hingenommen wird als von kriti-
schen Laien, denen juristische Deduktionen nicht den Blick für die
Unannehmbarkeit des Ergebnisses trüben und die auch dem Gesetzes-
wortlaut nicht zu entnehmen vermögen, warum einem Täter Unrecht
geschieht, wenn er für eine wirklich begangene Tat "nur" so einstehen
muß, als hätte er sie - eben weil das nicht auszuschließen ist - in
(vorwerfbar) volltrunkenem Zustand begangen.

VIII.

Damit sind wir allerdings noch nicht am Ende der Problematik.


§ 323 a erfordert auch den Nachweis, daß der Täter sich "in einen Rausch
versetzt" hat. Ist das Ob der Berauschung zweifelhaft oder ist'der Grad
der Alkoholisierung nicht ins Gewicht fallend, so ist für die unmittel-
bare Anwendung des § 323 a kein Raum. So auch BGHSt. 32, 54, wo im
übrigen offen gelassen worden ist, ob § 323 a StGB, wie hier dargetan,
auch bei einer Breite des Zweifels eingreift, die von § 21 StGB bis zur
vollen Schuldfähigkeit reicht. Der hier und von Horn vertretenen Auf-
fassung 59 wurde namentlich vom BayObLG60 vorgehalten, daß sie nicht
angebe, wo die Grenze zu ziehen sei, von der ab eine alkoholische Be-
einträchtigung als Rausch im Sinne des § 323a StGB angesehen werden
könne. Indessen liegt hierin, wie wiederum Spendel 61 näher ausführt,
nicht das eigentliche Problem des § 323a StGB. Die Vorschrift setzt als
tatbestandsmäßigen Erfolg materiellrechtlich einen (schuldausschlie-
ßenden) Vollrausch voraus, setzt aber beweisrechtlich nicht die Gewiß-
heit einer so hohen Alkoholisierung voraus, sondern läßt deren Mög-
lichkeit ausreichen. Es geht also darum, daß der Täter in einem "Rausch"
gehandelt hat, der auch ein Vollrausch gewesen sein könnte 62 • Das
Erscheinungsbild des "Rausches" ist im praktischen Leben wohl ver-
traut. Vielleicht erklärt sich hieraus, daß die juristischen Versuche, den
Begriff des "Rausches" abzugrenzen63 , meist in tautologische Umschrei-

59 DreherlTröndle (Fn. 4), § 323 a Rdn. 5; Tröndle, in: LK (Fn. 25), § 1 Rdn. 99;
Horn, in: SK (Fn. 50), § 323 a Rdn. 16; ders., JR 1980, 1.
60 JR 1980, 27; auch Dencker, JZ 1984, 458.

61 LK (Fn. 15), § 323 a Rdn. 109 ff.


62 Spendel, in: LK (Fn. 15), § 323 a Rdn. 111.

63 Zum Begriff des Rausches: das "für das jeweilige Rauschmittel typische,
die psychischen Fähigkeiten durch Intoxikation beeinträchtigende Zustands-
bild": h. M.; Puppe, Jura 1982, 285: Berauschungsgrad, der zur "Sozialuntüch-
tigkeit" führt; Dencker, NJW 1980, 2162: Zustand, in dem der Täter rausch-
mittelbedingt hinsichtlich eines Normverstoßes nur noch vermindert schuld-
fähig wäre; Montenbruck, GA 1978, 225: Rausch ab Fahruntüchtigkeit; ferner
Vollrausch tatbestand und Zweifels grundsatz 683

bungen64 münden, die sich zwar sachlich nicht decken, deren Differen-
zierungen aber im praktischen Fall meist nicht auszumachen sind. Die
zur Umschreibung des Phänomens Rausch berufene wissenschaftliche
Disziplin, die Rechtsmedizin, hält den "Rausch" für "weder sicher dia-
gnostizierbar noch begrifflich definierbar"65. Hinzu kommt, daß die Blut-
alkoholkonzentrationen, bei denen die Rechtsprechung einen Voll-
rausch annimmt und Schuldunfähigkeit oder erheblich verminderte
Schuldfähigkeit bejaht 66 , außerordentlich schwanken, daß ferner für die
Bejahung dieser Fragen zahlreiche weitere Umstände hineinspielen,
etwa die Alkoholverträglichkeit, die gesamten persönlichen Umstände,
vor allem aber die Art des infolge des "Rausches" begangenen Delikts.
Unter diesen Umständen macht es wenig Sinn, eine feste "Untergrenze"
für den Rausch normativ festzulegen. Vielmehr mißlingen alle Ver-
suche, den "Rausch" nach verallgemeinernd-abstrahierenden Denk-
figuren in den Be-Griff zu bekommen, obwohl doch jedermann mit dem
definiendum eine überaus plastische Vorstellung verbindet, weil es
sich hierbei um einen Typenbegriff, einen" Typus", handelt 67 , der "stets
inhaltlich reicher, geistiger, sinnhafter, anschaulicher ist als der ab-
strakt definierte Begriff"68. Der Typus gewinnt schon durch seine Benen-
nung Kontur. Er verschließt sich einer Definition, die der Sache nach
eine Aufhellung des Gemeinten ohnehin nicht erwarten ließe 69 • In der-
selben Richtung liegt auch die Tatsache, daß BGHSt. 26, 364 in bezug
auf den Rausch nicht von einem "Begriff", sondern von einem "Erschei-
nungsbild" spricht. Im übrigen erhält für unsere Auslegungsfrage der
Typus "Rausch" in § 323 a StGB dadurch eine zusätzliche klärende
Komponente, daß er sogar Symptome in der Richtung aufweisen muß,
daß er auch ein Vollrausch hätte gewesen sein können. Der Sache nach
ist das eine kennzeichnendere Eingrenzung dessen, was mit einem
Rausch in § 323 a gemeint ist, als der - rechtlich und tatsächlich - un-
taugliche Versuch, seinen "Beginn" herauszufinden. Es kommt z. B. auch

Horn, JR 1980, 6; Ranft, JA 1983, 197; gegen Rauschdefinitionen: Schewe,


Blutalkohol 1976, 91; ders., Blutalkohol 1979,60.
84 Spendel, in: LK (Fn. 15), § 323 a Rdn. 113.
85 Schewe, Blutalkohol 1976, 92; ders., ZStW, Beiheft 1981, S. 65.
66 Eingehend Spendel, in: LK (Fn. 15), § 323 a Rdn. 115 H.; DreherlTröndle
(Fn. 4), § 20 Rdn. 9.
67 Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S.255
Fn. 118 a; Radbruch, Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Straf-
rechtssystem, 1904 Reprint 1967, S. 168.
68 Arthur Kaufmann, Analogie und "Natur der Sache". Zugleich ein Bei-
trag zur Lehre vom Typus, 2. Aufl. 1982, S.50; ferner Henkel, Einführung in
die Rechtsphilosophie, 2. Auf!. 1977, S. 471 H.
69 Aus diesem Grunde wird die Klage Ranfts, JA 1983, 196, daß alle ab-
strakten Bestimmungen des RauschbegriHs bereits im Ansatz jegliche rechts-
staatliche Bestimmtheit vermissen lassen, dem Phänomen "Rausch" nicht
gerecht.
684 Herbert Tröndle

niemand auf den Gedanken, den Zeitpunkt festzulegen, zu dem die


Verschlimmerung eines Krankheitsbildes die Voraussetzungen eines
"Unglücksfalles" im Sinne des § 323 c StGB erfüllt70 • Ebenso verfehlt ist
es, die feste Grenze zu ermitteln, wo eine Alkoholisierung in einen
Rausch übergeht. Zudem wäre mit dem "überschreiten des sicheren
Bereichs des § 21 StGB" für diese Frage wenig gewonnen. Diese -
ohnehin irreführende 71 - Formel schließt außerdem eine semantische
Täuschung ein, weil im Grunde gar nicht auszumachen ist, wo der
"sichere" (!) Bereich des § 21 StGB "überschritten" ist. Diese Grenzzie-
hung und selbst ihre Berechtigung sind umstritten und nicht etwa
Gegenstand einer tatsächlichen Feststellung, sondern einer normativen,
mit sachverständiger Hilfe zu bildenden Wertung72 • Ihre praktische
Bedeutung liegt im übrigen darin, den Weg für eine Strafmilderung
freizugeben 73 • Da diese Folge schon im Zweifel eintritt, hat der Anwen-
dungsbereich des § 21 StGB in der Praxis alles andere als klare Gren-
zen. Zur Bestimmung der "Untergrenze" des Rausches kann diese Vor-
schrift daher - auch wenn man einmal davon absähe, daß Schuldfähig-
keitsgesichtspunkte ohnehin zur Rauschbegrenzung nicht taugen -
nichts beitragen. Es besteht daher kein hinreichender Grund, im Rah-
men der Beweisregel § 323 a StGB den § 21 StGB zur Rauschbegren-
zung heranzuziehen74 • Der Gesetzgeber hat dies nicht getan, mag ihm
auch, wie sich aus den Gesetzesmaterialen ergibt75 , die Legalisierung der
herrschenden Rechtsprechung vorgeschwebt haben. Auch hier ist das
"Gesetz klüger als der Gesetzgeber"76 und als die sich auf ihn berufen-
den Gesetzesanwender.

IX.

Allgemeiner Meinung entspricht es allerdings, daß dort, wo es mög-


licherweise überhaupt zu keinem Rausch gekommen ist, § 323 a StGB
keine Anwendung findet und in einem solchen Falle freizusprechen ist.
Praktische Fälle, in denen sogar ein Vollrausch für möglich gehalten
wird, zugleich aber nicht auszuschließen ist, daß es an einer Alkoholi-
sierung überhaupt fehlt, werden indessen selten sein. Immer wieder
wird es aber vorkommen (z. B. bei behauptetem und nicht erwiesenem

70 OLG Hamm NJW 1975, 604.


71 Vgl. oben IV fünftens.
72 Vgl. Witter, M8chrKrim 1983, 264.
73 Göppinger, Leferenz-Festschrift, 1983, 8.422, schlägt daher vor, § 21
8tGB aus einer Zurechnungsvorschrift zu entlassen und sie als Strafbemes-
sungsregel in das 8tGB einzustellen, wie das auch das neue österreichische
Recht (§ 34 OStGB) tat. Vgl. auch Schöch, MSchrKrim 1983, 338.
n Oben IV fünftens.
75 BT-Drucks. 7/55 S. 268.

76 Arthur Kaufmann (Fn. 15), S. 41.


Vollrauschtatbestand und Zweifelsgrundsatz 685

"Nachtrunk"), daß auf der einen Seite (im Hinblick auf die Fahrweise)
ein Vollrausch nicht auszuschließen ist, auf der anderen aber auch (wenn
der behauptete Nachtrunk zutreffen sollte) die Möglichkeit besteht,
daß von einem Rausch nicht gesprochen werden kann, sondern nur
eine verhältnismäßig geringe, aber - angesichts der Fahrweise - zur
Begründung "relativer Fahruntüchtigkeit" hinreichende Alkoholisie-
rung in Betracht kommt. In solchen Fällen ist nach allgemeiner Meinung
Freispruch geboten, weil der Auffangtatbestand des § 323 a StGB gar
nicht greifen kann, da er in jedem Falle einen "Rausch" voraussetzt
und ein solcher nach der einen möglichen Tatversion nicht vorliegt 77 • Die
Frage ist aber, ob es richtig ist, eine Wahlfeststellung zwischen dem
Vollrauschtatbestand und einer möglicherweise im vollschuldfähigen
(und geringfügig alkoholisierten) Zustand begangenen Tat für unzu-
lässig zu halten's. Die Begründung, die in BGHSt. 32, 56 dafür gegeben
worden ist (oben V), daß § 323 a 8tGB auch im Falle des erheblich
schuldverminderten (möglicherweise schuldunfähigen) Täters anwend-
bar ist (normativ-ethisches Stufenverhältnis zwischen Gefährdungs-
und Verletzungsdelikt), greift aber auch, wenn es möglicherweise über-
haupt an einem Rausch fehlt, vorausgesetzt, man läßt - entgegen der
ganz herrschenden Meinung - Wahlfeststellungen auch zu zwischen
dem Vollrauschtatbestand und der (möglicherweise) im leicht alkoholi-
sierten Zustand begangenen Straftat.
Diese Frage ist für den Fall der Trunkenheitsfahrt selbst dann zu
überdenken, wenn man einmal von dem für Wahlfeststellungen vor-
ausgesetzten, hier aber abgelehnten7g Erfordernis der "rechtsethischen
und psychologischen Vergleichbarkeit" ausginge. Ist etwa das "Sich-
berauschen" und das Sich-ans-Steuer-setzen in alkoholisiertem Zustand
nicht "rechtsethisch und psychologisch vergleichbar"? Man könnte so-
gar umgekehrt sagen, daß es im Katalog gemeinhin für zulässig ge-
haltener Wahlfeststellungen wenig Tatkonstellationen gibt, die "psy-
chologisch" und "rechtsethisch" so nahe beieinander liegen wie die
Trunkenheitsfahrt und der Vollrausch. Sie gehen sogar oft im Rah-
men eines einzigen Tataktes fast unmerklich ineinander über, mag
dieser übergang zugleich auch die juristische Umwandlung der Tat-
handlung zur Strafbarkeitsbedingung bedeuten und damit die Verla-

77 BGHSt.32, 54; BayObLG JR 1980, 27; Horn, JR 1980, 1; Dencker, NJW


1980,2160.
78 Beachtlich gegen die allg. Meinung: Lay, in: LK, 9. Aufl. 1977, § 330 a
Rdn.112; Heinitz, JR 1957, 128; R. Lange, JR 1957, 246; von Weber, MDR
1952,641. Auch Schultz, Die Behandlung der Trunkenheit im Strafrecht, 1960,
S.49, stellt bei der Erörterung des § 471 E 1962 die rhetorische Frage, ob es
"nicht einfacher und systematisch besser gewesen" wäre, "in einer besonde-
ren Regel die Wahlfeststellung ausdrücklich als zulässig zu erklären?".
79 Hierzu Tröndle, JR 1974, 133.
686 Herbert Tröndle

gerung des Schuld vorwurfs auf das (psychologisch und rechtsethisch


vergleichbare!) Vorverhalten. Unbeschadet dessen meinte der Große
Senat in BGHSt. 9,394/395: "Wer sich schuldhaft durch den Genuß von
Alkohol in einen die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Rausch
versetzt und dann eine mit Strafe bedrohte Handlung begeht, die er
vor dem Beginn des Alkoholgenusses weder vorausgesehen hat noch
voraussehen konnte, tut . .. etwas ganz anderes als derjenige, der, wenn
auch im Zustande (alkoholbedingt) erheblich verminderter Zurech-
nungsfähigkeit, ... den Verkehr gefährdet ..." (Hervorhebungen vorn
Verfasser). Ist der Vollrauschtäter wirklich "etwas ganz anderes" als
der Trunkenheitsfahrer? Bei unverbildeter Beurteilung macht es Mühe,
in diesen Fällen in Verhaltensweise und Gesinnung - wie der Große
Senat es meint - einen grundlegenden (einen rechtsethischen und psy-
chologischen!) Unterschied zu erkennen, nicht aber beispielsweise zwi-
schen einern Gelegenheitshehler und einern Straßenräuber80 oder einem
Dieb zweier Flaschen Weins und einem gewerbsmäßigen Hehler81 • Bei
diesen Taten läßt die herrschende Meinung jedoch durch den Kunstgriff
der Tatbestandsreduktion eine Wahlfeststellung zu. Nach seinen eige-
nen Kriterien hätte der Große Senat und mit ihm die herrschende
Meinung gewiß bei (im Zustand erheblicher Schuldminderung began-
genen) Trunkenheitsfahrten die rechtsethische und psychologische Ver-
gleichbarkeit zum Vollrausch nicht ausschließen dürfen. Die Frage ist
aber überhaupt, ob man nicht - wie damals schon vorn Oberbundesan-
walt vertreten (BGHSt. 9, 399) - stets zwischen dem Vergehen des Voll-
rausches und der die Bedingung der Strafbarkeit bildenden, mit Strafe
bedrohten Handlung eine Wahlfeststellung zulassen sollte, wie immer
man auch die Erfordernisse einer Wahlfeststellung umschreiben mag.
Vor Jahrzehnten hat Schneidewin 82 in kritischer Auseinandersetzung
mit BGHSt. 9, 390 schon für die Altfassung des § 330 a StGB darauf hin-
gewiesen, daß die Alternativitäten, wie sie zwischen dem Vollrausch-
tatbestand und dem die Strafbarkeitsbedingung ausmachenden Bezugs-
delikt bestehen, für die Wahlfeststellung "geradezu wie geschaffen"
scheinen. Um wieviel mehr gilt das für den geltenden § 323 a StGB, der
schließlich auch von der Gesetzesfassung her für die Beweisregel die
tatsächliche Reichweite des Tatbestandes faktisch in den Bereich unter-
halb des Vollrausches in die an sich (vermindert) zurechenbare Rausch-
tat ausdehnt und damit Vollrausch und Rauschtat im Kontext eines
einzigen Tatbestandes ohnehin in ein engeres wechselbezügliches Ver-
hältnis bringt als dies bei Wahlfeststellungen der Fall sein könnte.

80 Nämlich im Wege der Tatbestandsreduktion; vgl. Tröndle, in: LK (Fn. 25),


§ 1 Rdn. 83; ferner BGH bei Dallinger, MDR 1975,367.
81 Vgl. BGHSt. 11, 26.
82 JZ 1957,326.
Vollrauschtatbestand und Zweifelsgrundsatz 687

Entgegen der allgemeinen Meinung ist daher ein Freispruch auch


dann nicht geboten, wenn nicht feststeht, ob der Täter die mit Strafe
bedrohte Tat im Zustand des Vollrausches oder in voll verantwort-
lichem Zustand begangen hat. In diesen Fällen ist es gerechtfertigt, über
die Rechtsfigur der Wahlfeststellung zu einer Verurteilung nach § 323 a
StGB zu kommen. Dem Täter geschieht hierdurch kein Unrecht 83 • Er
muß schließlich nur für die (verschuldete) Gefährdung einstehen, die
konkret sogar - wenn auch möglicherweise unverschuldet - zur Ver-
letzung geführt hat. Das bereits erwähnte Bild mit der Balkenwaage
verdeutlicht auch in diesen Fällen die Sachlage. Niemandem ist der
Freispruch eines (möglichen) Vollrauschtäters plausibel zu machen, der
möglicherweise seine Tat in sogar vollverantwortlichem Zustand be-
gangen hat. Das gilt nicht nur bei Verkehrsstraftaten, sondern allge-
mein: Man denke etwa an den Totschläger, der am Tatort im Voll-
rausch unansprechbar mit einer Cognacflasche in der Hand neben der
Leiche gefunden wird und später nichts darüber verlauten läßt, wann
er die Flasche ausgetrunken hat. Diesem Täter müßte nach der Recht-
sprechung der Freispruch sicher sein84 • Solche Freisprüche, mögen sie
auch noch so. unverdient und sachwidrig sein, beunruhigen aber weniger
als die Möglichkeit, daß sie im Kollegialgericht keine Mehrheit finden,
Zweifel aus den dargelegten Gründen (oben 11) überwunden werden
und dann die eindeutige (verurteilende) Entscheidung sich nicht auf die
dem Angeklagten günstigste, sondern - in Verkehrung des Zweifels-
grundsatzes - sich auf die wahrscheinlichere Tatalternative stützt.

x.
Nach allem ergibt sich, daß die herrschende Rechtsprechung zu § 323 a
nicht nur zu unverständlichen Freisprüchen, sondern - bedenklicher -
unter Umständen auch zu ungerechtfertigten Schuldsprüchen führen
kann. Beides wird vermieden, wenn § 323 a StGB von den Fesseln des
Erfordernisses des "Überschreitens des sicheren Bereichs des § 21 StGB"
befreit wird und dort, wo ein Rausch nicht nachweisbar ist, eine Wahl-
feststellung zwischen § 323 a StGB und dem Bezugsdelikt zugelassen
wird. Obwohl die Entscheidung BGHSt. 32, 48 in ihren rationes decidendi
von der bisherigen Rechtsprechung nicht abweicht, könnten die obiter
dicta zu einer Neuorientierung im dargelegten Sinne genutzt werden.

83 Dreher. MDR 1970, 371; Dreher/Trändle (Fn.4), § 323 a Rdn. 5 c; Dtto,


Peters-Festschrift, S.385; Heiß, NStZ 1983, 69; a. M. Schuppner/Sippel, NStZ
1984, 67. Man könnte sagen, je geringer die Alkoholisierung eines Straf-
täters war, desto größer die Wohltat, (nur) wegen Vollrauschs verurteilt zu
werden!
8' Diesen Fall verdanke ich einem Gespräch mit Herrn Professor Dr.
H. GÜlzow.
688 Herbert Tröndle

Dabei ist es eine zweitrangige Frage, ob in den Fällen, in denen der


Grad der Alkoholisierung nicht sicher feststellbar ist, die Rechtsfigur
der (durch die Fassung des § 323 a vertatbestandlichten85 ) Wahlfeststel-
lung oder der Zweifelsgrundsatz zur Anwendung des milderen Gefähr-
dungstatbestandes führt. Die Entscheidung BGHSt.32, 48, 57 schlägt
dadurch, daß sie im Zusammenhang mit dem Gefährdungsdelikt des
Vollrausches und dem Verletzungstatbestand der Rauschtat von einem
"normativ-ethischen Stufenverhältnis" spricht, das die Anwendung des
Grundsatzes in dubio pro reo rechtfertige, eine Brücke zu einer Rechts-
meinung, die Karl Peters schon vor über drei Jahrzehnten in seinem
Lehrbuch "Strafprozeß"86 im Kapitel über das Beweisrecht vertreten
hat, bevor die unter IV skizzierte verhängnisvolle Entwicklung ihren
Lauf genommen hatte. Diese Auffassung, wonach der Grundsatz in
dubio pro reo nicht auf logische Stufenverhältnisse beschränkt bleibe,
sondern auf Kosten von Wahlfeststellungen und "Auffangtatbestän-
den" auch auf "wertmäßige Abstufungen" ausgedehnt werden sollte,
vertritt in seinem Lehrbuch von jeher auch der Jubilar87 , der als Gelehr-
ter stets im Nebenamt mit der strafrechtlichen Praxis verbunden blieb
und dem dieser Beitrag verehrungsvoll dargebracht wird. Die Anwen-
dung des Zweifelsgrundsatzes auf alle wertmäßigen Abstufungen könnte
gerade im Bereich des Vollrauschtatbestandes der "sichere Pfad"
(Dttor sein, der aus dem "Irrgarten der Wahlfeststellung" (Dreher)8~
hinausführt und auf einfachem und jedermann einleuchtendem Wege
zum allseits überzeugenden Ergebnis weist. Freilich mag die hier nur
skizzenhaft mögliche Begründung einer solchen Forderung manchen, der
über den wissenschaftlichen Meinungsstand informiert ist, eine all-
zu naive Simplifikation einer Thematik dünken, die seit langem zu einem
bevorzugten und außerordentlich umstrittenen Gebiet strafrechtsdogma-
tischer Auseinandersetzungen gehört. Martin Krieleo o hat in einem neue-
ren Aufsatz über "Gesetzestreue und Gerechtigkeit in der richterlichen
Rechtsfindung" in ganz ähnlichem rechtlichen Zusammenhang, aber in
einem geistesgeschichtlichen Ausblick, darauf hingewiesen, daß es auch
"in Fragen praktischer Philosophie eine Erfahrung" gebe, "die schon
Aristoteles, Hegel und andere Denker formuliert haben, daß sich näm-
lich der naive Ausgangspunkt am Ende eines langen Denkprozesses
manchmal als der Weisheit letzter Schluß erweisen" könne. Auch über

85 Tröndle, in: LK (Fn. 25), § 1 Rdn. 99.


86 Strafprozeß, 1952, S. 234, bis zur 3. Auf!. 1981, § 37 III 1 c aa.
87 Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 1. Auf!. 1969, bis
3. Auf!. 1978, § 16 II 2; im Ergebnis ebenso Dreher, MDR 1970, 371.
88 Peters-Festschrift, S. 373.
89 MDR 1970, 369.

90 DRiZ 1984,227.
Vollrauschtatbestand und Zweifelsgrundsatz 689

die Wahlfeststellung und die Anwendung des Zweifelsgrundsatzes ist


wahrlich lange und viel nachgedacht worden. Aus Raumgründen kön-
nen die Titel der Monographien und Beiträge zum Thema nicht aufge-
zählt werden. Ott091 hat allerdings schon vor einem Jahrzehnt beklagt,
daß die Vielzahl der angebotenen Konstruktionen zur Wahlfeststellung
diese mehr verdunkelt als aufgehellt hätten. Aber auch wenn man den
wissenschaftlichen Eigenwert dieser Arbeiten und die Mühen nicht ge-
ring achtet, mit denen sich scharfsinnig argumentierende Autoren bei
ihren meist noch differenzierteren Lösungsvorschlägen mit der herr-
schenden Rechtsprechung auseinandergesetzt haben: der strafrecht-
lichen Praxis selbst brachte der blühende Theorienstreit der Wissen-
schaft wenig nützliche Einsichten und keine Hilfen. Die Praxis nimmt
vielmehr wissenschaftliche Publikationen zum Thema kaum noch zur
Kenntnis und müht sich mit stereotypen, wenig geeigneten begrifflichen
Werkzeugen von Fall zu Fall um ein plausibles Ergebnis. In dieser
Situation könnte Peters' alter und bis auf den heutigen Tag beibehalte-
ner, treffsicherer Vorschlag, bei Zweifeln über den Grad der Trunken-
heit den Grundsatz in dubio pro reo, und zwar nur einmal, anzuwenden92 ,
der Weisheit letzter Schluß sein. Entschlösse sich die Rechtsprechung
- Peters folgend - zu einem solchen kühnen, richtungsweisenden
"Strich", so würden zwar nicht Bibliotheken, wohl aber ganze Reihen
strafrechtlicher Spezialliteratur zur Makulatur. Die Frage, ob dies ein
Verlust wäre, könnte freilich nur in der Bundesrepublik Deutschland
auftauchen. Denn rechtsvergleichende Hinweise zum Thema, die in
einem Beitrag zu Ehren des Jubilars naheliegen, bleiben unergiebig,
sind aber gerade deswegen besonders aussagekräftig: Streitfragen, wie
sie in diesem Beitrag erörtert werden, tauchen im Ausland 93 offenbar
gar nicht auf. Soweit es dort eine dem § 323 a StGB entsprechende Vor-
schrift überhaupt im Besonderen Teil gibt 94 und die selbstverschuldete
Trunkenheit nicht im Allgemeinen Teil geregelt wird95 , hält sich die
praktische Bedeutung solcher Vorschriften in Grenzen und schafft offen-
bar keine besonderen Probleme. So spielt Art. 263 des schweizerischen
StGB ("Verübung einer Tat in selbstverschuldeter Unzurechnungs-
fähigkeit") "die Rolle eines kriminal rechtlichen Mauerblümchens"98.
Es hat ferner den Anschein, daß Zweifelsfragen der hier erörterten Art
über den Grundsatz in dubio pro reo gelöst werdenD7 • In der Schweiz

91 Peters-Festschrift, S. 373.
92 Strafprozeß, 3. Aufl. 1981, § 37 III 1 bund c (S. 272, 273).
93 Es sind nur die deutschsprachigen Rechtsordnungen außerhalb der
Bundesrepublik Deutschland berücksichtigt.
94 Vgl. Art. 263 schweizStGB; § 287 österrStGB.

95 So § 15 DDR-StGB; vgl. ferner MaurachjSchroeder (Fn. 49), § 94 I 1.


98 Schultz (Fn. 78), S.33.
91 Vgl. Nowakowski, Jur. Blätter 1958, 380.

44 FestSchrift für H.-H. Jescheck.


690 Herbert Tröndle

ist nämlich ein Bedürfnis nach Wahlfeststellungen auch sonst bisher


kaum zutage getreten98 •
Dem Vollrauschtatbestand und dem Zweifelsgrundsatz tun einfache
und geradlinige Auslegungsprinzipien not. Die Entscheidung des 4. Straf-
senats BGHSt. 32,48 läßt die Praxis hoffen, daß ein Weg zu überzeugen-
deren und konsensfähigen Ergebnissen gefunden wird.

98 Hauser, Lehrbuch des schweizerischen Strafprozeßrechts, 2. Auf!. 1984,


§ 43 I 1; Schultz (Fn. 78), S. 46.
Arztrecht
PAUL BOCKELMANN

Die Dokumentationspflicht des Arztes


und ihre Konsequenzen

I.

1. Stets war es Brauch der Ärzte, über die Beratung und Behandlung
ihrer Patienten Notizen zu machen. "In zurückliegender Zeit", zuletzt
in einem Urteil vom 4.12.1962 1 und in einem nahezu gleichzeitigen ande-
ren vom 6. 11. 19622 hat der Bundesgerichtshof die Auffassung vertreten,
daß solche Aufzeichnungen "nur eine interne Gedächtnisstütze seien und
daß zu ihrer sorgfältigen und vollständigen Führung dem Patienten
gegenüber keine Pflicht bestehe". In BGH VersR 1963, 168, 169, heißt es
genauer: "Das Krankenblatt ist eine Gedächtnisstütze des Arztes, ein
von ihm oder für ihn gefertigtes Hilfsmittel, das ihm den jederzeit
raschen überblick über den Verlauf der Krankheit und ihrer Behand-
lung ermöglichen und ihn damit vor allem bei der Durchführung der
Therapie entlasten soll. Es ist nicht etwa eine schriftliche Festlegung der
Krankengeschichte, die sorgfältig und vollständig zu führen der Arzt im
Verhältnis zum Kranken verpflichtet wäre 3 ."

2. Aber seither ist die Judikatur anderer Meinung geworden. Seit dem
Urteil BGHZ 72, 132, 137 vom 27. 6. 1978 vertritt sie die Ansicht, daß dem
Arzt dem Patienten gegenüber die Pflicht zur ordnungsmäßigen Führung
der Krankenunterlagen obliege. Die frühere Rechtsprechung habe einer
"überholten ärztlichen Berufsauffassung unangemessenen Raum" zuge-
standen. Zur Bekräftigung seiner neuen These, daß der Arzt jedenfalls
auch im Interesse des Patienten genaue Aufzeichnungen über seine dem
Kranken gewidmete Tätigkeit machen müsse, verweist der BGH darauf,

1 BGH VersR 1963, 168.


2 BGH JZ 1963, 369.
3 Ähnlich z. B. LG Hannover NJW 1956, 348: " ... die Aufzeichnungen in
den Krankenblättern sind lediglich persönliche Notizen des behandelnden
Arztes ...", oder HansOLG Hamburg MDR 1960, 501 f.: ,,(Die) Eigenart der
ärztlichen Aufzeichnungen ist durch ihren Zweck zum ausschließlich ärztli-
chen Gebrauch bestimmt. Sie werden zur schnellen und weiteren Tätigkeit
des Arztes bestimmt, nicht aber zur Kontrolle des Arztes durch den Patien-
ten." Im Schrifttum wurde diese Ansicht gleichfalls vertreten, vgl. z. B. Laufs,
Krankenpapiere und Persönlichkeitsschutz, NJW 1975, 1433, 1435.
694 Paul Bockelmann

daß diese Pflicht "inzwischen" in den ärztlichen Berufsordnungen "all-


gemein anerkannt ist"4.
Der Bundesgerichtshof hätte voraussagen können, daß sich die Ge-
richte seiner neuen Lehre anschließen würden. Dieser Anschluß hat
stattgefunden. Das Bundesverfassungsgericht hat das in einem Urteil
über "Verfassungs rechtliche Fragen im Arzthaftungsprozeß"5 hervorge-
hoben. Die Entscheidung stellt fest, daß "die Rechtsprechung der Fach-
gerichte heute zunehmend dazu (übergeht), eine dem Patienten gegen-
über bestehende Pflicht des Arztes zur Dokumentation anzunehmen"6.
Eine ganze Reihe von Erkenntnissen der verschiedensten Instanzen be-
weist die Richtigkeit jener Äußerung des höchsten deutschen Gerichts.
Unter dem Einfluß des - vielfach wörtlich zitierten - Urteils des
Bundesgerichtshofs vom 27.6.1978 7 haben sich häufig "Fachgerichte" zu
der Lehre bekannt, daß die "Krankenpapiere" oder "Krankenunter-
lagen"8 mindestens auch (in Wahrheit wohl sogar: in erster Linie) dazu
bestimmt sind, den Interessen des Patienten zu dienenD.

3. Natürlich kann eine vom Arzt angefertigte Dokumentation dem


Patienten nur dann dienlich sein, wenn er sie kennt und soweit in der
Hand hat, daß er sie bei einer Auseinandersetzung mit dem Arzt, gleich-
viel ob vor einer Schlichtungsstelle oder vor Gericht, als Beweismittel
gebrauchen kann. Deshalb hat die Rechtsprechung den Patienten die
Möglichkeit eröffnet, die sie betreffenden Krankenunterlagen zu stu-
dieren, und sogar die, sie zeitweise in Besitz zu nehmen und zu behal-
ten. Das belegen die nachstehenden Beispiele aus der Judikatur10 •

4 In der Tat heißt es in der Berufsordnung für die deutschen Ärzte in der
Fassung der Beschlüsse des 79. Deutschen Ärztetages von 1976 und den Än-
derungen, welche die Ärztetage von 1977, 1979 und 1983 vorgenommen haben,
in § 11 Abs. 1 Satz 1: "Der Arzt hat über die in Ausübung seines Berufes
gemachten Feststellungen und getroffenen Maßnahmen die erforderlichen
Aufzeichnungen zu machen." In entschlossener Abweichung von der frühe-
ren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt Satz 2 hinzu: "Ärztliche
Aufzeichnungen sind nicht nur Gedächtnisstützen für den Arzt, sie dienen
auch dem Interesse des Patienten an einer ordnungsgemäßen Dokumenta-
tion." Die Berufsordnungen der Länder haben das übernommen.
5 BVerfGE 52, 131 ff. vom 25. 7. 1979.
6 BVerfGE 52, 149.

BGHZ 72, 132.


8 über den Begriff der Krankenunterlagen vgl. Lenkaitis, Krankenunter-
lagen aus juristischer, insbesondere privatrechtlicher Sicht, Diss. Bochum
1979, S. 13 ff.
S Dies vertreten z. B. LG Göttingen NJW 1979, 601; LG Limburg NJW
1979, 607; OLG Bremen NJW 1980, 644; KG NJW 1981, 2521; OLG Köln NJW
1982,704.
10 Es wird keiner Begründung bedürfen, daß die folgende Darstellung
sich auf einige Exempel beschränken muß.
Die Dokumentationspflicht des Arztes 695

Der Patient kann von seinem Arzt oder von dem Träger des Kranken-
hauses, in dem er behandelt worden ist, die Gewährung der "persön-
lichen Einsichtnahme" in seine Krankenunterlagen verlangen, sofern er
ein berechtigtes (manche gebrauchen den Ausdruck "ersichtliches" 11)
Interesse daran hat, sie zu sehen. Solch ein Interesse kann er auch dann
haben, wenn es noch gar nicht zu einem Prozeß zwischen ihm und sei-
nem Arzt oder dem Krankenhaus gekommen ist. Er hat es, wenn er die
Aussichten eines Haftpflichtprozesses wegen fehlerhafter Behandlung
prüfen Will 12 • Bei "berechtigtem Interesse" des Patienten, Einsicht in
alle Krankenunterlagen zu nehmen, ist der Arzt verpflichtet, diese Ein-
sicht dadurch zu ermöglichen, daß er Fotokopien sämtlicher Unterlagen
herstellen läßt, sie mit schriftlicher Bestätigung der Vollständigkeit und
Richtigkeit versieht und sie gegen Erstattung der Fotokopierkosten dem
Patienten aushändigt l3 • Der Patient ist auch dazu befugt, die technisch
hergestellten Objekte zu sehen, aus denen Schlüsse auf die ihm gewid-
mete Behandlung und ihre Wirkung sowie auf die gemachten Unter-
suchungen und ihr Resultat gezogen werden können. Er kann deshalb
die Herausgabe jener Gegenstände gleichfalls fordern. Tut er es, so
müssen ihm Röntgenaufnahmen, Elektrokardiogramme, Enzephalo-
gramme, Sonogramme, Szintigramme usw. überlassen werden14 •

4. Im Schrifttum hat die Tendenz der neuen Rechtsprechung teils


Zustimmung, teils Ablehnung erfahren - wie zu erwarten war l5 • Natür-
lich fehlt es nicht an Äußerungen, welche den Anspruch des Patienten
auf Einsicht in die ihn betreffenden Krankenunterlagen, jedenfalls aber
das Recht auf die Herausgabe der Akten verneinen. Daß solche Erklä-
rungen vor der Verkündung der Grundsatzentscheidung des Bundes-
gerichtshofs BGHZ 72, 132 am 27.6.1978 abgegeben worden sind, über-
rascht nicht l6 •
11 So z. B. BGH NJW 1983, 328.
12 OLG Bremen NJW 1980, 644.
13 OLG Köln NJW 1982, 704.
14 Nicht auf Dauer und nicht zu Eigentum! vgl. Narr, Ärztliches Berufs-
recht, 2. Aufl. 1983, Rdn. 947. Die Sachen müssen deshalb zurückgegeben wer-
den, wenn sie der Patient, dem sie ausgehändigt worden sind, nicht mehr
braucht.
15 Übereinstimmend, jedenfalls im Grundsätzlichen und Allgemeinen, z. B.
Husmann, Das Recht des Patienten auf Einsicht in die Behandlungsunter-
lagen, in: Die juristische Problematik in der Medizin, hrsg. von Mergen 1971,
S. 198; Franzki/Franzki, Waffengleichheit im Arzthaftungsprozeß, NJW 1975,
2225; Daniels, Die Ansprüche des Patienten hinsichtlich der Krankenunter-
lagen des Arztes, NJW 1976, 345; Gerlach, Die Verpflichtung des Arztes zur
Herausgabe von Krankengeschichten, arztrecht 1978, 295; Stürner, Entwick-
lungstendenzen des zivilprozessualen Beweisrechts und Arzthaftungsprozeß,
NJW 1979, 1225; Wasserburg, Die ärztliche Dokumentationspflicht im Inter-
esse des Patienten, NJW 1980,617; Voelkner, Deutscher Patientenschutzbund:
Herausgabe der Krankenakte, NJW 1983, 322; Ahrens, Ärztliche Aufzeich-
nungen und Patienteninformation - Wegmarken des BGH, NJW 19ß3, 2609.
696 Paul Bockelmann

11.

Ungeachtet manchen Widerspruchs gegen die von der Rechtsprechung


aufgestellte Maxime, daß der Patient einen Anspruch auf Einsichtnahme
in die ihn betreffenden Krankenunterlagen und ein Recht auf ihre Aus-
händigung hat, muß man einräumen, daß jene Regel sich durchgesetzt
hat. Offen aber ist die Frage, ob ihre Befolgung den Zweck erfüllt, der
mit ihr angestrebt wird: dem Patienten dienlich zu sein.

1. Dienlich ist sie, wenn sie es ihm ermöglicht, die ärztliche Behand-
lung zu kontrollieren17 • Die Kontrolle begegnet einer ersten Schwierig-
keit in all den nicht seltenen Fällen, in denen dem Patienten der Inhalt
der ärztlichen Aufzeichnungen mindestens zum Teil unverständlich ist,
weil er nicht die medizinischen und die Sprachkenntnisse hat, deren
Besitz die richtige Deutung des Textes der Dokumentation voraussetzt l8 •
Der ihm daraus entstehenden Verlegenheit kann der Patient zumeist
dadurch begegnen, daß er die Krankenpapiere, die ihm sein behandeln-
der Arzt zur Verfügung gestellt hat, einem anderen Arzt vorlegt, der
ihm übersetzt und auseinandersetzt, was er selbst nicht übertragen kann.

2. Aber dabei kann sich herausstellen, daß die Erwartung des besorg-
ten Patienten, aus den Krankenunterlagen werde sich ergeben, ob und
was für Fehler der Arzt begangen hat, enttäuscht wird, weil die Papiere
zeigen, daß der Doktor durchweg das Richtige getan hat, wenn auch
ohne Erfolg. Dann muß der Patient lernen, daß nicht jeder Schaden aus
einem Fehler des Arztes entsteht. In solchem Fall hat der Arzt, der seine
Dokumentation dem Patienten zur Einsichtnahme überlassen hat, prak-
tisch sich selbst geschützt. Denn er wird kaum mehr damit zu rechnen
brauchen, daß der Patient ihn verklagt.

18 Vgl. z. B. SteindorjJ, in seiner Anmerkung zu BGH JZ 1963, 369, 370;


Laufs, Krankenpapiere und Persönlichkeitsschutz, NJW 1975, 1433, 1435;
Grundsätzlich kein Anspruch des Patienten auf Herausgabe oder Vorlage
der ärztlichen Unterlagen (etwas einlenkend und darauf verweisend, daß
die Frage nach den Ansprüchen des Patienten "differenzierender Antworten"
bedürfe, ders., artzrecht 1978, 40); Rieger, Herausgabe von Röntgenaufnah-
men, NJW 1975, 2239; aus späterer Zeit vgl. Hohloch, Ärztliche Dokumentation
und Patientenvertrauen, NJW 1982,2577,2584: "Ablehnung eines allgemeinen
Einsichtsrechtes." - über den Ausschluß bestimmter Partien des Inhalts
einer ärztlichen Dokumentation von der Kundmachung an den Patienten
s. unter IH.
11 Den Terminus "kontrollieren" gebraucht OLG Köln NJW 1983, 2641.

18 In dem Operationsbericht, den das Urteil des BVerfGE 52, 131 ff., auf
S. 133 wiedergibt, kommen u. a. folgende Fachausdrücke vor: submandibulär,
Platysma, Karotis communis, Vena jugularis, Plattenepitheliale Zyste. Sol-
che Fremdwörter kann vermutlich selbst der nicht mit Sicherheit deuten,
der einige Schulkenntnisse des Griechischen und des Lateinischen behalten
ha,t,
Die Dokumentationspflicht des Arztes 697

3. Natürlich kommt es auch vor, daß die Aufzeichnungen des Arztes


einen ihm unterlaufenen Fehler erkennen lassen l9 • Aber damit ist kei-
neswegs bewiesen, daß das Fehlverhalten, in dem er besteht, die Ge-
sundheitsschädigung des Patienten verursacht hat, welche während oder
nach seiner Behandlung feststell bar wurde. Denn ein Gesundheitsscha-
den kann verschiedene Ursachen haben, und ein Behandlungsfehler des
Arztes verschiedene Folgen. Das Nacheinander von Fehler und Schaden
beweist für sich allein die Ursächlichkeit des Fehlers nicht. Diese dar-
zutun, bleibt deshalb die Last des gegen den Arzt klagenden Patienten.

a) Sie wird ihm erleichtert, wenn der Nachweis als Beweis des ersten
Anscheins (prima-facie-Beweis) geführt werden kann. Dieser "setzt Tat-
bestände voraus, die nach der allgemeinen Lebenserfahrung regelmäßig
auf eine bestimmte Ursache hinweisen und in bestimmter Richtung zu
verlaufen pflegen"20. Das ist im Arzthaftungsprozeß jedenfalls dort der
Fall, wo "Schädigungen des Patienten vernünftigerweise nur durch eine
Sorgfaltspflichtverletzung" (des Arztes) "erklärt werden können"21. Dem-
nach muß der Beweis, daß zwischen der fehlerhaften Maßnahme des
Arztes und dem Gesundheitsschaden des Patienten Kausalzusammen-
hang besteht, als erbracht angesehen werden, sofern der angerichtete
Schaden die typische Folge des vom Arzt begangenen Fehlers ist. Liegt
es so, dann ist dem Patienten die Einsichtnahme in die Dokumentation
des Arztes nützlich gewesen.

b) Nützlich ist sie ihm auch dann, wenn sie Auskunft darüber gibt,
daß der Arzt bei der Behandlung des Kranken schuldhaft einen groben
Behandlungsfehler begangen hat, der den Verdacht begründet, eben die
Gesundheitsschädigung verursacht zu haben, über die der Kranke klagt
und auf die aus den Aufzeichnungen des Arztes zu schließen ist. Diesen
Verdacht zu bestätigen, ist nicht die Aufgabe des betroffenen Patienten.
Es ist vielmehr kraft der von der Rechtsprechung gewährten Umkeh-
rung der Beweislast die Sache des Arztes, ihn zu widerlegen. Nicht als
ob dem Patienten jeder Beitrag zur Beweisführung erspart bliebe. Daß
der Fehler des Arztes "grob" oder "schwer" ist und daß der Arzt schuld-
haft gehandelt hat, muß er belegen. "Grob" ist ein Verstoß, der sich
"gegen elementare Regeln ärztlicher Behandlung richtet und so dem
Behandlungsverlauf sein Gepräge gibt"2!, der also Normen der ärzt-

19 Siehe z. B. BGHZ 72, 134 f.


20 BGHZ 31, 357.
21 Vgl. U. Baur/R. Hess, Arzthaftpflicht und ärztliches Handeln, 1982, S. 90;
Heinrichs, in: Palandt, BGB, 43. Aufl. 1984, vor § 249 Anm.8 a, aa; Dietmar
Franzki, Die Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, Schriften zum Prozeß-
recht, Bd. 72, 1982, S. 47.
22 BGH arztrecht 1983, 68.
698 Paul Bockelmann

lichen "Kunst" verletzt, deren Kenntnis man bei einem, seinen Beruf
ausübenden Arzt voraussetzen muß23,2~. Daß das Fehlverhalten des Arz-
tes ein grober Fehler ist, muß der Patient beweisen. Desgleichen muß er
nachweisen, daß der Arzt schuldhaft gehandelt hat. Beides wird ihm
kaum Schwierigkeiten machen. Die Schwere des vom Arzt begangenen
Fehlers wird zumeist augenscheinlich sein. Die Gewißheit, daß der Feh-
ler die Folge einer, den Vorwurf schuldhafter Fahrlässigkeit begründen-
den Sorgfaltspflichtverletzung ist, wird sich aufdrängen; unter Umstän-
den kann sich sowohl das Gewicht des Fehlers wie auch seine Schuldhaf-
tigkeit aus Eintragungen in der Dokumentation ergeben25 • Kommt hinzu,
daß ein Fehler, wie ihn der Arzt begangen hat, dazu geeignet ist, gerade
einen solchen Schaden, wie er tatsächlich eingetreten ist, herbeizuführen,
ohne daß mit Sicherheit feststellbar ist, wie der Verlauf bei ordnungs-
mäßiger ärztlicher Betreuung gewesen wäre, so ist es angemessen, den
Arzt und nicht den Patienten mit dem Beweisrisiko zu belasten26 • Sich von
diesem Risiko zu befreien, wird dem Arzt schwerfallen. Daß der entstan-
dene Schaden nicht durch sein fehlerhaftes Handeln verursacht worden,
sondern schicksalhaft entstanden sei, könnte er nur dann belegen, wenn
er "jede Einzelheit seines HandeIns durch Dokumentation und Zeugen-
gegenwart beweismäßig" abgesichert hätte 27 und sich aus dieser Maß-
nahme ergäbe, daß der zusätzliche Gesundheitsschaden, der dem Patien-
ten entstanden ist, ein Zufallsprodukt sein muß. Dies darzutun, ist dem
Arzt sicherlich kaum möglich.
Den Behandlungsfehler abzuleugnen ist dem Arzt, wenn die eigenen
Aufzeichnungen ihn offenbaren, nicht möglich. Die Verweigerung der
Einsicht in die Dokumentation oder ihrer Herausgabe ist nicht ratsam.
Die Judikatur betrachtet solches Verhalten als Beweiserschwerung oder
-vereitelung und zieht daraus die Folgerung, dem Arzt die Umkehrung
der Beweislast aufzubürden 28 • Schon der Anspruch auf die Überlassung
der Krankenpapiere an ihn verschafft dem Patienten also für die Aus-
einandersetzung mit dem Arzt eine gewisse Überlegenheit.

III.

Neuerdings hat nun der Bundesgerichtshof die Pflichten des Arztes, dem
Patienten Einsicht in die ihn betreffenden Aufzeichnungen zu gewähren
und ihm auf Verlangen die Dokumentation sogar herauszugeben, wesent-

23 BGH NJW 1981, 2513.


24 Weitere Beispiele bei Dietmar Franzki (Anm. 21), S. 59.
25 Vgl. BGHZ 72, 132, 134 ff.
26 BGH NJW 1959, 1583; 1967, 1508; 1968, 1185.
27 BGH NJW 1978, 168!.
28 Siehe z. B. BGH NJW 1972, 1520.
Die Dokumentationspflicht des Arztes 699

lich eingeschränkt. Diese Einschränkungen haben zwei Urteile vom glei-


chen Tage bewirkt29 • Das Parallelurteil (VI ZR 222179) hat entschieden,
daß der Patient gegenüber Arzt und Krankenhaus Anspruch auf die ihn
betreffenden Krankenunterlagen hat, "soweit" (gemeint ist offensicht-
lich: nur soweit) sie Aufzeichnungen über objektive physische Befunde
und Berichte über Behandlungsmaßnahmen, Medikation, Operation etc.
enthalten30 . Zur Begründung wird angeführt, daß sich die ärztliche
Tätigkeit nicht im technisch-somatischen Bereich erschöpft, daß ihr
"vielmehr die gegenseitige Zuwendung zwischen Arzt und Patient
wesenseigen" ist, und daß "dieser Umstand" zu Eintragungen in den
Krankenunterlagen führen kann, "die einerseits sachgemäß, aber ande-
rerseits für die Kenntnisnahme durch den Patienten weder geeignet noch
bestimmt sind". Das andere Urtei1 31 schränkt das Einsichtsrecht des
Patienten gleichfalls auf die Partien der ärztlichen Aufzeichnungen ein,
die "objektive physische Befunde und Behandlungsmaßnahmen betref-
fen", befindet aber überdies, daß zur Gewährung der Einsicht in die
Krankenunterlagen, die aus Anlaß einer "klinischen oder ambulanten
psychiatrischen Behandlung" erstellt sind, "keine grundsätzliche Ver-
pflichtung" besteht, und dies nicht nur deshalb, weil hier therapeutische
Bedenken "noch nach Abklingen der Krankheit besonderes Gewicht
haben können", sondern auch deshalb, "weil die persönliche Einbezie-
hung des behandelnden Arztes wie auch ... dritter Personen eine beson-
dere Rolle spielen kann" und "subjektive Beurteilungselemente in den
Vordergrund treten"32.
Eine praktische Lösung der Aufgabe, die Daten der Dokumentation
des Arztes dem Patienten nach richtigem Maß zugänglich zu machen
oder vorzuenthalten, ist nach dem "Parallelurteil" nur so möglich, "daß
die Zurückhaltung von Aufzeichnungen, auf die der Einsichtsanspruch
des Patienten sich nicht erstreckt und an deren Ausschluß von der Ein-
sichtnahme ein begründetes Interesse besteht, im wesentlichen dem
Arzt bzw. dem Krankenhaus anvertraut wird"33.
Urteile vom 23.11.1982 (VI ZR 177/81) = BGH NJW 1983, 330 und (VI
= BGH NJW 1983, 328.
2t
ZR 222/79)
30 So schon der Leitsatz der Entscheidung VI ZR 222/79.
31 VI ZR 177/81: Es betrifft den Fall eines Psychiatriepatienten, der, nach-
dem er seine psychischen Störungen "hinter sich gebracht" hatte, Einsicht in
sämtliche auf ihn bezogenen ärztlichen Aufzeichnungen begehrte.
32 Mit den "dritten Personen" sind Angehörige des von seiner Psychose
geheilten Patienten gemeint, die der Arzt befragt hat und deren Angaben
in die Krankenunterlagen "eingeflossen sind".
33 Die Entscheidung empfiehlt ferner, die Dokumentation, welche dem
Patienten zum selbständigen Studium überlassen werden soll, ablichten zu
lassen - auf seine Kosten -, Vermerke, auf die sich sein Einsichtsrecht
nicht erstreckt, abzudecken (die Entschließung darüber, was abzudecken ist
und was nicht, soll dem Arzt oder dem Krankenhausträger zustehen), und
die Abdeckung so vorzunehmen, daß sie erkennbar bleibt. "Nur durch eine
700 Paul Bockelmann

Das Urteil VI ZR 177/812 stellt weiter fest, daß nach langjährigen Er-
fahrungen des Senats die klinischen Unterlagen über eine typische psy-
chiatrische Behandlung ganz vorwiegend Aufzeichnungen enthalten,
gegen deren Offenlegung nach den Ausführungen des Parallelurteils
durchgreifende Bedenken bestehen können, so daß die Entscheidung
darüber dem behandelnden Arzt vorbehalten werden muß 34 •

IV.

Die beiden neuen Erkenntnisse des Bundesgerichtshofs haben das Ver-


hältnis von Arzt und Patient gründlich verändert, nicht zum Nutzen,
sondern zum Nachteil des Patienten.
Die mit der Grundsatzentscheidung BGHZ 72, 132 vom 27. 6. 1978 ein-
geleitete Entwicklung der Rechtsprechung hat durch die Verbindung
der Dokumentationspflicht des Arztes mit dem Recht der Kranken, die
Dokumentation einzusehen und auch herauszuverlangen, den Patienten
die Möglichkeit geschaffen, die Tätigkeit des Arztes zu überprüfen. Diese
Möglichkeit haben ihnen die neuen Urteile wieder genommen, zumin-
dest stark beschnitten. Werden die Krankenunterlagen vom Arzt so
geführt, wie es der Bundesgerichtshof neuerdings verlangt, so haben sie
für die Patienten kaum Wert.

1. Eine ärztliche Dokumentation ist die aus Anlaß einer Kranken-


behandlung angefertigte Zusammenstellung verschiedener medizinischer
Daten, Vermerke, Niederschriften, Befunde usw. Die Schriftstücke wer-
den gegebenenfalls durch technisch Produziertes (z. B. Röntgenbilder,
Elektrocardiogramme, Enzephalogramme, Audiogramme und weitere
diagnostische Hilfsmittel) ergänzt. Die Aufstellung bleibt Dokumenta-
tion, solange man sie nicht antastet. Wird etwas aus ihrem Inhalt ent-
fernt oder unkenntlich gemacht, so wird sie zum Fragment, auch dies
aber nur unter der Voraussetzung, daß die erfolgte Wegnahme oder
Auslöschung einiger zu ihrem Bestand gehörender Sachen oder Notizen
kenntlich gemacht ist. Fehlt es daran, so ist die Aufrechterhaltung des
Anscheins, ihr Inhalt sei komplett, eine Täuschung, die nach verschie-
denen, hier nicht weiter zu beschreibenden Richtungen strafrechtlich
relevant sein kann. Dasselbe gilt, wenn Aufzeichnungen über Maßnah-
men, Beobachtungen oder Vorgänge, die nach den Weisungen des Bun-

solche Handhabung sieht der Senat die allseitigen Belange in bestmöglicher


Weise gewahrt." Reicht das nicht aus, ein Mißtrauen des Patienten zu zer-
streuen, dann müsse er "auf die Einschaltung einer neutralen ärztlichen
Vertrauensperson verwiesen werden ...".
34 Zur Kritik der bei den Entscheidungen siehe F. R. BaUT, Zum Anspruch
des Patienten auf Einsicht in die über ihn geführten Krankenunterlagen. Kri-
tische Würdigung der Urteile des Bundesgerichtshofs vom 23.11. 1982 - VI
ZR 222/79 und 177/81, arztrecht 1983, 120.
Die Dokumentationspflicht des Arztes 701

des gerichtshofs dem Patienten vorenthalten werden sollen, schon bei


der Aufstellung der Dokumentation weggelassen werden. Daß der
Patient mit einem Dokument, welches inhaltlich unrichtig ist, nichts an-
fangen kann, was ihm Erfolg verspricht, liegt auf der Hand. Hat der
Arzt einen Fehler, der ihm passiert ist, in seinen Aufzeichnungen über-
gangen, so hat der Patient keine Möglichkeit, sich zum Nachweis des
Fehlverhaltens auf die Dokumentation zu berufen. Vielleicht kann
er aus einer anderen Erkenntnisquelle den Beweis dafür erhalten, daß
der Fehler dem Arzt mit Recht zur Last gelegt wird - aber die Nutz-
losigkeit der vom Arzt erstellten Dokumentation wird damit nicht auf-
gehoben.
Mindestens zweifelhaft ist aber auch, ob dem Patienten eine Doku-
mentation nützlich sein kann, deren Angaben im einzelnen alle richtig,
aber auf die beiden Gruppen verteilt sind, von denen nur die in der
einen vermerkten dem Patienten offenzulegen sind, während die in der
anderen verzeichneten ihm vorenthalten werden sollen und deshalb ab-
gedeckt sind. Ob der Patient das, was seiner eigenen Sache dienlich ist,
mit dem beschränkten Material, das man ihm zukommen läßt, begrün-
den oder verteidigen kann, ist die Frage. Er wird sie sich selbst stellen -
und verneinen. Denn zu einem Papier, dessen Inhalt man nicht ganz
kennt, vermag niemand viel Zutrauen aufzubringen.
Der Patient, der eine unvollständige, gleichsam zurechtgeschnittene
Dokumentation vorgelegt bekommt, wird aber auch sein Vertrauen in
den Arzt, der ihn behandelt hat, verlieren, und dies Schwinden des Ver-
trauens wird - das ist zu befürchten - um sich greifen, und zwar in
dem Maße, in dem die Herausgabe teilweise verkappter Dokumentatio-
nen häufiger wird. Schon damit stellt sich die Frage, ob es nicht richtig
wäre, die Ärzte wenigstens von der Verpflichtung, ihre Dokumentatio-
nen den Kranken, wenn sie es wünschen, zur Verfügung zu stellen, wie-
der zu befreien.

2. Dazu bedürfte es keines Eingriffs des Gesetzgebers. Der Grundsatz,


daß der Arzt eine Dokumentationspflicht und dazu noch die Pflicht habe,
seinem Patienten auf Verlangen die Dokumentation zugänglich zu
machen, ist ausschließlich von der Judikatur zum Rechtssatz erhoben
worden und wird seither als solcher behandelt.
a) Dieser Rechtssatz ist gleichwohl keine Norm des Gewohnheitsrechts.
Gewohnheitsrecht ist ein Recht, das nicht durch förmliche Satzung, son-
dern durch längere, gleichbleibende Übung entstanden ist, die eine
dauernde und ständige, gleichmäßige und allgemeine sein muß und von
den beteiligten Rechtsgenossen anerkannt wird35 • Aber die Verpflichtung

35 BVerfGE 34, 303.


702 Paul Bockelmann

der Ärzte, ihre Dokumentationen den Patienten, die das fordern, zu-
gänglich zu machen, ist erst in neuerer Zeit aufgekommen, und der An-
spruch des Patienten auf Einsicht in die Dokumente wird nach Ansicht
des Bundesgerichtshofs "im ärztlich orientierten Schrifttum" ... "wohl
immer noch ziemlich einheitlich abgelehnt"36. Die heutige Dokumenta-
tionspraxis verwirklicht also Merkmale gewohnheitsrechtlicher Rechts-
fortbildung nicht. Eine durchgreifende Begründung der ärztlichen Doku-
mentationspflicht suchen Rechtsprechung und Rechtslehre denn auch
nicht in gewohnheits rechtlichen Spekulationen, sondern in verschiedenen
selbständigen Erwägungen.
b) Nach BGHZ 72, 132, 138, ist die "ordnungsgemäße ärztliche Doku-
mentation" eine "unzweifelhafte therapeutische Notwendigkeit". Dem
stimmt das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 52,131,164, mit Nach-
druck zu. Das kann man gelten lassen, wenn man es nimmt, wie es wohl
gemeint ist: Der Arzt bedarf der Gedächtnisstütze, welche die Doku-
mentation nun einmal auch ist, seinerseits, um selber seine therapeu-
tischen Maßnahmen kontrollieren und - wenn es nötig wird - korri-
gieren zu können, und um bei ihrer Fortsetzung das Richtige zu treffen.
Eine Beschränkung der Dokumentation auf diesen Zweck bedeutet aller-
dings, daß sie nicht dazu bestimmt ist, unmittelbar dem Patienten dien-
lich zu sein. Einen Anspruch auf Einsichtnahme begründet sie nicht
für ihn.
c) Nach überwiegender Meinung aber ist die Dokumentationspflicht
des Arztes eine Nebenpflicht aus dem Behandlungsvertrage, den der
Kranke (oder sein gesetzlicher Vertreter für ihn oder ein anderer zu
seinen Gunsten) mit dem Arzt geschlossen hat. Träfe das zu, gehörte
also die Dokumentationspflicht zum Inhalt des Behandlungsvertrages
und würde sie zu dem Zweck vereinbart, dem Kranken nützlich zu sein,
so müßte allerdings folgen, daß der Arzt seinen Patienten Einsicht in
seine Aufzeichnungen zu gewähren hat. Doch die Rechtfertigung der
Dokumentationspflicht aus dem Dienstleistungsvertrag mit dem Arzt ist
problematisch. Daß beim Abschluß eines solchen Vertrages die Anlegung
einer Dokumentation über den Befund, die Diagnose, die therapeuti-
schen Maßnahmen des Doktors und ihre Wirkungen als eine rechts-
geschäftliche Nebenpflicht ausdrücklich vereinbart wird, ist natürlich
zulässig, kommt aber wohl kaum vor. Daß solch eine Pflicht selbstver-
ständlich und darum ein der besonderen Abrede gar nicht bedürfendes
Moment des Vertrages sei, läßt sich nicht gut behaupten, weil, wie schon
dargelegt, noch vor weniger als zehn Jahren von der Vereinbarung einer
solchen Pflicht nirgends die Rede war. Daß eine Nebenpflicht, an die
man in noch nicht lange zurückliegender Zeit nicht einmal dachte, heute

36 BGH MedR 1983, 63 = NJW 1983, 328.


Die Dokumentationspflicht des Arztes 703

selbstverständlicher Mitinhalt eines Arztvertrages sei, kann schwerlich


angenommen werden37 • Es überrascht darum nicht, daß auch noch andere
Begründungen für die Dokumentationspflicht des Arztes, das Recht des
Patienten auf Einsicht in die Krankenunterlagen und sein Recht auf
ihre Aushändigung an ihn gesucht werden.

d) Vielfach werden die Obliegenheiten des Arztes und die Ansprüche


seiner Patienten auf eine Rechenschaftspflicht zurückgeführt, die dem
Arzt auferlegt sei. Vertreter dieser Ansicht nehmen dabei gerne die
Rechenschaftspflicht, welche der Verwalter fremden Vermögens dem
Vermögensträger gegenüber hat, zum Modelp8. Das klingt überzeugend,
ist aber doch fragwürdig. Der Vergleich hinkt. Der Vermögensverwalter
legt. Rechnung durch Belege, z. B. durch Quittungen. Wenn seine Belege
richtig sind, dann sind sie auch beweisend. Die Quittung über eine vom
Verwalter aus dem verwalteten Vermögen geleistete Zahlung von x DM
beweist, daß der Wert dieses Vermögens um die Summe x verringert
worden ist. Aber damit und mit ähnlichen Buchungen ist Rechnung ge-
legt, nicht Rechenschaft abgelegt. Erst mit dem Nachweis der Gründe,
welche die quittierte Zahlung rechtfertigen, gibt der Vermögensver-
walter Rechenschaft über eine Maßnahme seiner Verwaltungstätigkeit.
So beweisen die Aufzeichnungen, die der Arzt in seiner Dokumentation
macht, wenn sie richtig sind, daß der Eingriff, die Verabreichung eines

37 Mitunter wird die Ansicht vertreten, daß der Arzt ohne jede besondere
übereinkunft nach Treu und Glauben verpflichtet sei, Dokumentationen
über seine Krankenbehandlungen aufzustellen und den einzelnen Patienten
vorzulegen. In der Tat verfügt § 157 BGB bekanntlich: Verträge sind so aus-
zulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es er-
fordern. Aber mit Bezug auf die Aufklärungspflicht des Arztes vermerkt
Steindorfj, JZ 1963, 370, treffend: "Wo diese Pflicht mit Hilfe des § 157 BGB
aus Verträgen hergeleitet wird, bedient man sich meistens einer Fiktion,
denn die Verträge ergeben regelmäßig nichts." Für die Dokumentationspflicht
gilt dasselbe.
38 Vgl. Dunz, Zur Praxis der zivil rechtlichen Arzthaftung, Schriftenreihe
der juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe, Heft 116, 1974, S.33: "Es ist
einfach nicht einzusehen, weshalb gute Verkehrsübung es als selbstverständ-
lich betrachtet, daß über fremdes Geld auf den Pfennig minuziös abgerech-
net wird, während man mit fremder Gesundheit so freihändig sollte um-
gehen dürfen"; Weyers, Gutachten A für den 52. Deutschen Juristentag, 1978,
S. 116, schließt sich dem an und verlangt überdies, daß der Gesetzgeber eine
jeden Heilkundigen bindende Pflicht statuiere, über alle belangvollen Um-
stände und Geschehnisse Aufzeichnungen zu machen und unter gewissen
Voraussetzungen zur Verwertung für den Patienten verfügbar zu machen.
"... die Gründe, die für die Anerkennung der genannten Pflicht sprechen
... fließen in der Vergleichsfrage zusammen, ob der Umgang mit der Ge-
sundheit eines Menschen weniger genaue Rechenschaftslegung verlangt, als
der Umgang mit seinem Vermögen." Auch in der Rechtsprechung findet sich
die Bemerkung, es unterliege keinen Bedenken, die Pflicht zur Dokumen-
tation dem Arzt "auch außerprozessual als eine Art Rechenschaftspflicht auf-
zuerlegen, ähnlich der, die bei der Verwaltung fremden Vermögens seit lan-
gem selbstverständlich ist", BGHZ 72, 138; OLG Bremen NJW 1980, 644.
704 Paul Bockelmann

Medikaments, die Infusion, die Bestrahlung usw., über die sie berichten,
wirklich stattgefunden haben. Aber daß die Diagnose, nach der sie der
Arzt für indiziert hält, richtig war und daß sie die Ursache einer nach
ihrer Vornahme eingetretenen Besserung oder auch Verschlechterung
im subjektiven Befinden oder im objektiven Zustand des Patienten sind,
das beweisen sie "mangels sicherer Berechenbarkeit der Vorgänge im
lebenden Organismus" nicht39 • Die jeweils erforderlichen weiteren Infor-
mationen lassen sich schwerlich mit den Methoden einer Rechenschafts-
legung gewinnen, wie sie beim Umgang mit Geld oder anderen Ver-
mögenswerten im Wirtschaftsleben angewendet werden40 •

e) Manche Fachgerichte haben versucht, legitime Begründungen für


das Recht von Patienten auf Einsicht in die sie betreffenden ärztlichen
Dokumentationen aus der analogen Anwendung einzelner privatrecht-
lic...~er Bestimmungen abzuleiten. Durchgreifenden Erfolg haben diese
Bemühungen aber auch nicht gehabt. Die vorliegende Darstellung darf
sich deshalb mit einigen Hinweisen begnügen.
aal Streitig ist, ob beweis rechtliche Probleme im Arzthaftungsprozeß
mit Hilfe analoger Anwendung der Beweislastregel des § 282 BGB ge-
löst werden können41 • Die Schwierigkeit ist, daß die Beweislastregel
einen Anspruch, gleichviel ob er auf ein Tun oder ein Unterlassen
gerichtet sein soll, nicht begründen, nicht schaffen kann. Sie setzt das
Vorhandensein eines Anspruchs vielmehr voraus. Ein Rechtsstreit, in
dem es nicht darum geht, ob die Vorlage oder überlassung einer Doku-
mentation an den Patienten dem Arzt durch einen von ihm zu vertre-
tenden Umstand unmöglich geworden ist (z. B. durch einen auf unzuläng-
liche Verwahrung beruhenden Verlust), sondern darum, ob der Arzt
überhaupt verpflichtet ist, dem Kranken eine Dokumentation über sein
Krankheitsgeschehen zur Verfügung zu stellen, kann schwerlich nach
§ 282 BGB entschieden werden.
bb) Gescheitert sind auch Versuche, Ansprüche von Patienten auf Ein-
sicht in die sie betreffenden Krankenunterlagen und auf ihre Heraus-
39 Ahrens, NJW 1983,2609,2611; vgl. auchBGH NJW 1978, 1681: Bei ärztlichen
Behandlungen können "Zwischenfälle, die in der Regel auf ärztliche Fehl-
handlungen hindeuten, in vielen Bereichen infolge der Unberechenbarkeit
des lebendigen Organismus ausnahmsweise auch schicksalhaft eintreten."
40 Zur Kritik an dem Argument der Rechenschaftslegung vgl. u. a. Kuh-
lendahl, Rechenschaftspflicht oder ärztliche Verantwortlichkeit? Juristisches
oder ärztliches Verständnis, arztrecht 1980, 233. Vgl. auch BGH NJW 1983,
328, 329, "... es gilt daran festzuhaIten, daß die Verpflichtung eines Vertrags-
partners dem anderen seine gesamten, im Zuge der Abwicklung des Ver-
tragsverhäItnisses gemachten Aufzeichnungen jederzeit offenzulegen, auch
sonst dem Rechtsverkehr eher fremd ist."
41 Das Schrifttum neigt gelegentlich zur Bejahung dieser Frage - vgl.
Heinrichs, in: Palandt, BGB § 282 Anm.2 e m. w. N. -, die Rechtsprechung
zur Verneinung, vgl. BGH NJW 1969, 553, 554; BGH NJW 1980, 1333.
Die Dokumentationspflicht des Arztes 705

gabe mit § 810 BGB zu begründen. § 810 BGB gewährt das Recht auf
Einsicht in Urkunden, die in fremdem Besitz sind, demjenigen, der ein
rechtliches Interesse daran hat, vorausgesetzt, daß die Urkunde in sei-
nem Interesse errichtet ist oder daß sie entweder ein zwischen ihm und
einem anderen bestehendes Rechtsverhältnis beurkundet oder aber Ver-
handlungen über Rechtsgeschäfte enthält, die zwischen ihm und ei-
nem anderen gepflogen worden sind oder an denen er in anderer (hier
nicht näher zu schildernder) Weise beteiligt war. Urkunden solcher Art
sind von einer ärztlichen Dokumentation so grundverschieden, daß eine
analoge Anwendung des § 810 BGB auf das von einem Patienten an sei-
nen Arzt gestellte Verlangen, ihm Einsicht in die ihn angehende Doku-
mentation zu gewähren, keine Rede sein kann42 • Zur Begründung eines
Herausgabeanspruchs kann § 810 BGB schon deshalb nicht herangezogen
werden, weil er einen solchen Anspruch gar nicht gewährt.

f) Eine Möglichkeit zur gesetzlichen Begründung der Dokumentations-


pflicht des Arztes und zugleich seiner Pflicht, die erstellte Dokumenta-
tion dem Patienten, den sie betrifft, zugänglich zu machen, gewährt dem
Anschein nach das durch Art. 2 Abs.l GG anerkannte und geschützte
Selbstbestimmungsrecht eines jeden. Es verbietet u. a. alle Verletzun-
gen des körperlichen und des geistig-seelischen Wohls eines Menschen,
sofern sie nicht durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt sind. Der
wichtigste mögliche Rechtfertigungsgrund ist die Einwilligung des Be-
troffenen (so für die bloße Körperverletzung schon § 226 a StGB). Doch
nur die wirksame Einwilligung kann rechtfertigen, und wirksam ist
allein die, welche der Einwilligende in richtiger Einschätzung ihrer Trag-
weite gibt. Dazu muß er aber wissen, welchen Anlaß die Behandlung
hat, in die er einwilligen soll, wie sie auszuführen ist, welche günstigen
Wirkungen zu erhoffen, welche schlimmen zu befürchten sind usw.
über alles das gibt eine korrekte Dokumentation manche Auskunft.
Aber sie entsteht erst (s.o.) während der diagnostischen oder therapeu-
tischen Befassung des Arztes mit dem Kranken, Stück für Stück, wie die
getroffenen ärztlichen Maßnahmen aufeinander folgen (oder, bei späte-
rer Abfassung der Dokumentation, wie sie nach der - hoffentlich richti-
gen - Erinnerung des Arztes aufeinander gefolgt sind 43). Aber wie im-
mer der Chirurg, der Anästhesist, der Internist, der Ophthalmologe usw.
verfahren mag - eine vollständige Dokumentation kann dem Patienten
erst dann vorgelegt oder ausgehändigt werden, wenn seine Behandlung
mindestens vorläufig abgeschlossen ist. Dies bedeutet keineswegs, daß
der Kranke in eine bloße Passivität gedrängt wird, daß er die medizini-

42 Ebenso im Ergebnis OLG Celle, NJW 1978, 1200, gegen Daniels, NJW
1976, 345 ff., 348.
43 Vgl. Rieger, Lexikon des Arztrechts, S. 278.

45 FestSchrift für H.-H. .Tescheck


706 Paul Bockelmann

sche Behandlung einschließlich einer etwa vom Arzt für erforderlich ge-
haltenen Operation über sich ergehen lassen muß, ohne sie sich verbitten
zu können. Die Einwilligung des genügend über die Lage, in der er sich
befindet, unterrichteten Patienten in die vom Arzt für notwendig gehal-
tenen Maßnahmen ist unentbehrlich. Der Arzt ist deshalb aufklärungs-
pflichtig. Er muß dem Patienten eröffnen, was zu seiner Behandlung
nötig ist, er darf dabei nicht verschweigen, welche Risiken mit einem
etwa geplanten Eingriff verbunden sind, aber er muß auch ebenso schil-
dern, was für Folgen eintreten können, wenn der Eingriff nicht vor-
genommen wird. Verfährt der Arzt so, bleibt das Selbstbestimmungs-
recht des Patienten unangetastet, auch wenn er sich nicht aus einer sei-
nen Fall schildernden Dokumentation hat informieren können, aber
auch ohne das Gefühl haben und den Eindruck machen zu müssen, wie
ein bloßes, wiewohl lebendes Objekt ärztlicher Tätigkeit behandelt zu
werden.
Es kann freilich sein, daß er der Einsichtnahme in die Dokumentation
bedarf oder ihrer zu bedürfen glaubt, um eine vernünftige Entschei-
dung darüber treffen zu können, ob es ratsam ist, eine auf Schadens-
ersatz und Schmerzensgeld gerichtete Klage gegen den Arzt zu erheben,
von dem er falsch behandelt und deshalb geschädigt worden zu sein
vermutet. Zu einer sachgerechten Orientierung genügt dabei unter Um-
ständen auch der Einblick in eine Dokumentation, die erst im Entstehen
ist. Aber das kann dahingestellt bleiben, denn mit der Selbstbestimmung
des Patienten hat es nichts zu tun. Für die "freie Entfaltung der Per-
sönlichkeit", die "Selbstverwirklichung", wie man zu sagen pflegt, ist
es gleichgültig, daß dem Menschen die Bewältigung der zahllosen Ge-
schäfte des täglichen Lebens gelingt. Zu ihnen gehört auch die Erhebung
einer Klage des Patienten gegen seinen Arzt, mit dem er unzufrieden
ist. Daß der Kläger in dieser seiner Rolle im Urteil der Öffentlichkeit
nicht zu einem bloßen Objekt des Verfahrens degradiert werden kann,
ist sicher.
Unter den im Vorstehenden beschriebenen Umständen haben die Do-
kumentationspflichten des Arztes für die Patienten einen gewissen Nut-
zen. Ob bei einem nachweislich schuldhaften groben Behandlungsfehler
eine Umkehrung der Beweislast, die zur Anerkennung der Kausalität
dieses Fehlers für die nach seiner Begehung eingetretene Gesundheits-
schädigung des Patienten führt, das Rechtsgefühl befriedigen kann, ist
freilich fraglich. Denn ungeachtet der festen überzeugung des Gerichts
von der Richtigkeit seiner Entscheidung bleibt es zweifelhaft, ob der zwar
nicht erwähnte, aber sachlich tragende Grund des Urteils die unbestreit-
bare Gefährdung des Patienten ist, die das Verhalten des Arztes bewirkt
hat.
Die Dokumentationspflicht des Arztes 707

g) Es ließe sich noch fragen, ob sich eine Dokumentationspflicht des


Arztes, welche durch die Pflicht, das Dokument dem betroffenen Patien-
ten vorzulegen und gegebenenfalls sogar auszuhändigen, noch erhöht
wird, aus der Waffengleichheitsregel ableiten läßt, die ihrerseits aus
Art.6 der Menschenrechtskonvention deduziert wird44 • Die MRK ist
durch Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes vom 7. 8.1952 45 "mit Gesetzeskraft" ver-
öffentlicht worden. Wäre die prozessuale Waffengleichheit als fair trial
ein Gebot aus Art. 6 MRK, so dürfte wohl die Ansicht vertretbar sein,
daß die auf jenes Gebot zurückzuführende Dokumentation letzten Endes
auf dem zum Gesetz deklarierten Art. 6 MRK beruhe und also eine ge-
setzliche Grundlage habe. Dies würde bedeuten, daß die Dokumenta-
tionspflicht der Ärzte und die damit verbundene Pflicht zur Preisgabe
ihrer Aufzeichnungen und anderen Krankenunterlagen nur durch den
Gesetzgeber aufgehoben werden könnte.
Indessen bedarf das keiner weiteren Erwägung, weil die Preisgabe
der Dokumentation des Arztes an seinen Patienten zur Herstellung der
Waffengleichheit im Prozeß, den dieser gegen ihn führt, gar nicht ge-
eignet ist.
Denn ein Verfahren, in dem einem Arzt zur Last gelegt wird, seinem
Patienten durch einen schuldhaft begangenen Behandlungsfehler einen
Schaden zugefügt zu haben, und in dem der Arzt unter dem Zwang
drohender Umkehrung der Beweislast sein Fehlverhalten in den Kran-
kenunterlagen des gegen ihn prozessierenden Leidenden vermerken und
auf Verlangen die vollständige Dokumentation vorlegen muß - ein
solches Verfahren ist kein fair trial. Das tritt deutlich hervor, wenn man
die Situation, worein die von der Judikatur entwickelten Prinzipien den
Arzt drängen, mit der Lage vergleicht, welche die Strafprozeßordnung
dem einer Straftat Verdächtigen offen läßt. Ihm stellt sie "nach dem
Gesetz" frei, sich zu der gegen ihn erhobenen Beschuldigung zu äußern
oder nicht zur Sache auszusagen, § 136 StPO. Der Gesetzgeber folgt also
jener Grundregel der rechtsstaatlichen Ordnung, nach der niemand
gegen sich selbst auszusagen braucht48 • Die Judikatur zur Beweislastver-
teilung im Arzthaftungsprozeß aber verfährt umgekehrt. Das gilt frei-
lich nur mit gewissen Einschränkungen. Der Arzt, welcher einräumt,
einen Fehler begangen zu haben, braucht mit der Angabe der Tatsachen,
aus denen sich die Fehlerhaftigkeit einer seiner Behandlungsmaßnah-
men ergibt, nicht das Geständnis zu verbinden, er habe Sorgfaltspflich-
ten versäumt, deren Erfüllung den Fehler verhindert haben würde, er
habe also schuldhaft falsch gehandelt. Und tritt im zeitlichen Zusam-

U Vgl. Guradze, Die europäische Menschenrechtskonvention, Kommentar,


1968, S. 98 m. w. N.; siehe ferner BVerfG NJW 1975, 103.
45 BGBl. 11, Nr. 14 vom 22.8. 1952, S. 685.

46 Vgl. Kleinknecht/Meyer, Strafprozeßordnung, 36. Aufl. 1983, § 136 Rdn.4.

45'
708 Paul Bockelmann

menhang mit dem Fehler, der ihm unterlaufen ist, ein Gesundheits-
schaden des Patienten auf, so hindert ihn das nicht daran, zu seiner
Verteidigung darauf zu beharren, daß die Ursächlichkeit seines Miß-
griffs für die Schädigung des Patienten nicht bewiesen und nach seiner
Überzeugung auch nicht beweisbar sei. Aber diejenigen Fakten, von
denen der Anlaß und weithin die Lenkung eines gegen ihn zu führenden
Arzthaftungsprozesses, u. U. auch eines Strafverfahrens, abhängt, muß
er dem Kläger offenbaren. Er tut es, indem er, dem von der Rechtspre-
chung aufgestellten Gebot sich fügend, dem klagenden Patienten seine
Dokumentation überläßt. Er rüstet ihn also mit einer Waffe aus, der
er selber kein gleichwertiges Instrument entgegensetzen kann. Es mag
sein, daß die Offenlegung der Dokumentation bei Gelegenheit für den
Arzt vorteilhaft ist, z. B. dann, wenn sie eine vom klagenden Patienten
aufgestellte unrichtige Behauptung, der Arzt habe bei seiner Behand-
lung dies oder jenes falsch gemacht, widerlegt. Oft kommt das aller-
dings offenbar nicht vor, denn veröffentlichte Entscheidungen aus Arzt-
haftungsprozessen, die über solche Vorgänge berichten, gibt es, soweit
ersichtlich, nicht. Aber das mag auf sich beruhen. Denn auch wenn der-
artiges sich häufig ereignete, ließe das nicht den Schluß zu, daß die Preis-
gabe der ärztlichen Aufzeichnungen an den seinen Arzt verklagenden
Patienten stets Waffengleichheit zwischen Kläger und Beklagtem in dem
schwebenden Arzthaftungsprozeß herstelle. Keinesfalls nämlich könnte
der Patient mit Hilfe einer seine Beschuldigung des Arztes widerlegen-
den Dokumentation beweisen, daß seine Behauptung doch richtig sei.
In seiner Hand ist solch eine Dokumentation eine stumpfe Waffe.
Die Dokumentationspflicht des Arztes und namentlich die Pflicht, die
erstellte Dokumentation dem Patienten herauszugeben, auf den sie sich
bezieht, entbehrt nach alledem einer legitimen Begründung. Ihrer Auf-
hebung durch die Rechtsprechung steht darum kein gesetzliches Hinder-
nis entgegen.
V.
Daß die Aufhebung sinnvoll wäre, weil die überlassung seiner Doku-
mentation dem Patienten nicht viel nützen kann, ist im vorstehenden
darzustellen versucht worden. Es bleibt übrig, darauf hinzuweisen, daß
sie sogar Schaden anrichten kann.
Die Dokumentation soll den Patienten u. a. in den Stand setzen, sei-
nen Arzt zu kontrollieren. Gelingt ihm das, so ist das von vielen behaup-
tete und heftig kritisierte Verhältnis der Unterordnung des Patienten
unter die Autorität des Arztes aufgehoben. Die sachgerechte Behand-
lung eines Kranken erfordert nun aber, daß er den Weisungen des
Arztes folgt. Dies wiederum setzt voraus, daß die Anordnungen des
Doktors Gewicht genug haben, um den Patienten beeindrucken zu kön-
Die Dokumentationspflicht des Arztes 709

nen. Dazu bedarf es keines herrischen Auftrumpfens und keiner be-


fehlshaberischen Worte des Arztes, sondern eines schlichten Auftretens,
welches merken läßt, daß er das Richtige weiß und tut. Gibt er dem
Kranken die Möglichkeit, dies in Frage zu stellen - und das tut der
Patient, wenn er sich die Dokumentation zur Einsichtnahme ausbittet,
um nachzuprüfen, ob der Arzt in seinen Aufzeichnungen notiert hat,
was er getan hat -, so ist das Vertrauensverhältnis zwischen dem Kran-
ken und seinem Doktor gestört. Daß damit die Behandlung des Kranken
behindert wird und seine Genesung mindestens verzögert werden kann,
liegt auf der Hand.
Schwerer noch wiegt, daß die Preisgabe der Aufzeichnungen des Arz-
tes und ihres Zubehörs an den Patienten die Sicherung des Arzt-
Patientengeheimnisses beeinträchtigt. Der Arzt hat meistens die Mög-
lichkeit, die in seinem Besitz oder im Besitz des Krankenhauses, in dem
er tätig ist, befindlichen Dokumentationen in gesicherten Archiven auf-
zubewahren. Dem Patienten stehen solche Mittel in der Regel nicht zur
Verfügung. Er kann sich bemühen, die ihm anvertrauten Aufzeichnun-
gen usw. sorgfältig verborgen zu halten, aber eine rechtliche Verpflich-
tung, über seine Krankheit und ihre Behandlung durch den Arzt Still-
schweigen zu bewahren, gibt es nicht. Die Strafdrohung des § 203 StGB
gegen die Verletzung von Privatgeheimnissen bezieht sich nur auf den
Verrat fremder Geheimnisse. Den Kranken als den Trägern ihrer eige-
nen Geheimnisse steht es frei, diese Geheimnisse anderen zu offenbaren.
Sie tun das auch, und nicht ganz selten. Der Patient unterrichtet z. B.
seine Angehörigen über das erlebte Krankheitsgeschehen und das Han-
deln seines Arztes. Ebenso verhält er sich gewöhnlich gegenüber guten
Freunden und Bekannten, wenn er sie darüber befragt, ob sie dazu
raten, Klage gegen den Doktor zu erheben oder zumindest alsbald einen
Anwalt zu konsultieren. Bekanntlich ist aber ein Geheimnis um so ge-
fährdeter, je größer die Zahl der Personen ist, die es kennen. Die Bitte
um Verschwiegenheit hat meistens keinen Erfolg, zum al sie nicht mit
dem Hinweis auf ein gesetzliches Schweigeverbot unterstrichen werden
kann, denn der Geheimnisträger, der anderen sein Geheimnis offenbart,
ermächtigt sie damit zugleich, auch wenn er es nicht expressis verbis tut,
dazu, es weiterzugeben. Sie machen erfahrungsgemäß auch ohne nähere
Belehrung von dieser Erlaubnis Gebrauch.
Dies alles kann zur Folge haben, daß der Arzt in eine Art von Miß-
kredit gerät. Denn was der Patient anderen über seine Krankheit, ihr
Auftreten, ihr Fortschreiten, ihre Behandlung und den Erfolg oder Miß-
erfolg, den diese gehabt hat, usw. erzählt, ist zugleich ein Bericht und
ein Urteil über den Arzt, dem er sich anvertraut hat oder hatte. Es kann
den Leumund des Arztes fördern, aber es kann ihn auch schädigen.
Im modernen Zeitalter zunehmender Feindseligkeit des Publikums gegen
710 Paul Bockelmann

die Ärzteschaft wird vermutlich Ungünstiges, das der Patient über sei-
nen Arzt sagt, unbedenklich ohne weiteres für wahr gehalten. Aller-
dings darf man vielleicht damit rechnen, daß es nicht immer verstanden
und bald wieder vergessen wird.
Das ändert sich aber, wenn der Patient seinen Gesprächspartnern
gegenüber auf die in seine Hand gelangte Dokumentation Bezug nimmt
und sie ihnen vorzeigt. Damit setzt er das Ansehen des Arztes aufs Spiel.
Denn die, welche er ins Vertrauen zieht, wissen oder bemerken oder den-
ken es sich, daß die Aufzeichnungen, die ihnen zur Kenntnisnahme gebo-
ten werden, von dem Arzt des Patienten stammen und Angaben über die
von ihm dem Kranken gewidmete ärztliche Tätigkeit enthalten. Man-
che von ihnen werden daraus den Schluß ziehen, daß auf den Arzt kein
Verlaß ist, weil er "nicht dicht hält". Damit verliert er an Vertrauens-
würdigkeit. So kann es manchem Arzt ergehen, der die Weisung der
Rechtsprechung befolgt und dem Kranken, den er versorgt hat, die Auf-
zeichnungen herausgibt, welche jener verlangt47 •

VI.

Die beiden gleichzeitig, am 23.11. 1982, verkündeten Urteile VI ZR


222/79 48 und VI ZR 177/81 des Bundesgerichtshofes49 haben sich von der

47 Die Ärzteschaft hat versucht, das zu verhindern. Die vom Deutschen


Ärztetag 1983 beschlossene Musterberufsordnung für die deutschen Ärzte
bestimmt in § 11 Abs.2: "Ärztliche Aufzeichnungen sind 10 Jahre nach Ab-
schluß der Behandlung aufzubewahren, soweit nicht nach anderen gesetzli-
chen Vorschriften eine längere Aufbewahrungspflicht besteht. Eine längere
Aufbewahrung ist auch dann erforderlich, wenn sie nach ärztlicher Erfah-
rung geboten ist." Der Gesetzgeber hat gleichfalls für einige besondere Fälle
die Aufbewahrung ärztlicher Aufzeichnungen angeordnet, so in § 29 Abs.4
der Röntgenverordnung (30 Jahre nach der letzten Behandlung) und für
Aufzeichnungen über Röntgenuntersuchungen (10 Jahre nach der letzten
Untersuchung), ferner für die nach § 71 Abs.3 der Strahlenschutzverordnung
vom "ermächtigten Arzt" zu führende "Untersuchungsakte"; sie ist "nach der
letzten überwachungsmaßnahme mindestens 30 Jahre aufzubewahren". Die
Berufsordnungen der Länder haben die Weisung des § 11 der Musterberufs-
ordnung ohne Abweichung übernommen. - Höchstrichterliche Auseinander-
setzungen mit diesen Vorschriften liegen nicht vor. Die der Röntgen- und der
Strahlenschutzverordnung sind gesetzliche Normen, welche einer richterlichen
Bestätigung nicht bedürfen und einem abweichenden Urteil nicht zugänglich
sind. Die Bestimmungen der Berufsordnungen sind Standesrecht und binden
die ärztlichen Berufsgerichte, aber nicht die ordentlichen Gerichte. Gleich-
wohl sollten diese sie nicht unbeachtet lassen. Denn sie sind eine Dokumen-
tation der ärztlichen Standesethik, und diese "steht nicht isoliert neben dem
Recht. Sie wirkt allenthaben und ständig in die rechtlichen Beziehungen
des Arztes zum Patienten hinein. Was die Standesethik vom Arzt fordert,
übernimmt das Recht weithin zugleich als rechtliche Pflicht", Eb. Schmidt,
Der Arzt im Strafrecht, in: Ponsolds Lehrbuch der gerichtlichen Medizin,
2. Aufl. 1957, S. 2.
48 BGH NJW 1983, 328 = MDR 1983, 298 = MedR 1983, 62.

49 BGH NJW 1983, 330 = MDR 1983, 65.


Die Dokumentationspflicht des Arztes 711

Richtung, welche das "Grundsatzurteil" BGHZ 72, 132, gewiesen hat,


weit abgewendet. Auf dem damit betretenen neuen Wege sollte die
Judikatur zu dem Ergebnis kommen, daß es dem Arzt freisteht, An-
gaben, die der Unterrichtung des Patienten dienen sollen, nach eigener
Entschließung durch Mitteilungen aus seinen Aufzeichnungen zu unter-
streichen, daß er aber nicht verpflichtet ist, seine Dokumentation dem
Patienten zur Einsichtnahme oder zwecks weiterer Verfügung zu über-
lassen.*

.. Das Manuskript ist am 25.4. 1984 abgeschlossen worden.


Strafverfahren und Gerichtsverfassung
JOHANNES ANDENAES

Die neue norwegische Strafprozeßordnung

I. Geschichtlicher Hintergrund
Durch Gesetz vom 22. Mai 1981 hat Norwegen nach langen Vorberei-
tungen eine neue Strafprozeßordnung erhalten, mit der die Strafpro-
zeßordnung von 1887 abgelöst werden soll. Ein Regierungsvorschlag
über das Inkrafttreten des neuen Gesetzes wurde im April 1984 vor-
gelegt und wird voraussichtlich im Laufe des Jahres vom Parlament
(Storting) behandelt werden. Als Zeitpunkt für das Inkrafttreten ist
der 1. Juli 1985 vorgesehen.
Die noch geltende Strafprozeßordnung von 1887 stellte eine tiefgrei-
fende Reform des Strafverfahrens dar 1 • Mit ihr wurden die Prinzipien
der Mündlichkeit, Öffentlichkeit und Beweisunmittelbarkeit eingeführt,
Laienrichter erhielten eine zentrale Rolle in der Strafrechtspflege, der
Anklagegrundsatz wurde im Gesetz verankert und eine selbständige
Anklagebehörde geschaffen. Die Annahme der Strafprozeßordnung ge-
schah nach langem politischem Streit und unter heftigem Widerstand
der konservativen Partei. Besonders umstritten war die Beteiligung
von Laienrichtern am Strafverfahren. Im Amtsgericht, das kleine und
mittelgroße Strafsachen verhandelt, nehmen zwei Schöffen neben dem
Amtsrichter Platz als gleichberechtigte Mitglieder des Gerichts. Für
das Schwurgericht, das bei schweren Verbrechen erstinstanzlich zu-
ständig ist, hat das Gesetz nach englischem Vorbild das Jury-System
eingeführt. Zehn Geschworene entscheiden über die Schuldfrage, drei
Berufsrichter entscheiden über die Strafzumessung.
Gerade die Einführung der Jury wurde von den liberalen Vorkämp-
fern der damaligen Strafprozeßreform als deren Kernstück betrachtet.
So wurde die Strafprozeßordnung anfangs noch lange Zeit das "Jury-
Gesetz" genannt. Das Jahr 1884 gilt für Norwegen als Geburtsjahr
des Parlamentarismus. Vor diesem Hintergrund wurde der Streit um
die Strafprozeßordnung von den Liberalen als eine Weiterführung des

1 Das Gesetz in seiner ursprünglichen Fassung ist in deutscher überset-


zung von Teichmann unter Mitwirkung von Getz als Beilage zu ZStW 9
(1889) abgedruckt. Siehe auch Hagerup, überblick über die geschichtliche
Entwicklung des norwegischen Strafprozesses und seine Reform durch das
Gesetz vom 1. Juli 1887, ZStW 9 (1889), S. 106 - 130.
716 J ohannes Andenaes

politischen Kampfes für die Demokratie ("Volksherrschaft") gegen das


Beamtentum angesehen. Die übrigen Reformen - Mündlichkeit,
Öffentlichkeit, Beweisunmittelbarkeit und Anklageprinzip - erschie-
nen dabei mehr oder weniger als notwendige Voraussetzungen für die
Prozeßbeteiligung VOn Laienrichtern.
Im Laufe der Jahre sind viele Bestimmungen des Gesetzes auf-
gehoben oder geändert worden. In Verbindung mit der Reform des
Zivilprozesses im Jahre 1915 wurden die Bestimmungen über die
Gerichte in ein für das Zivil- und Strafverfahren gemeinsames Ge-
richtsverfassungsgesetz übernommen. In dem Kommissionsbericht von
1969 über das neue Gesetz ist erwähnt, daß von den ursprünglichen
495 Paragraphen des alten Gesetzes zwischenzeitlich mehr als 100 auf-
gehoben und weniger als ein Drittel unverändert geblieben waren.
Den dringlichsten Änderungsbedürfnissen ist also laufend durch Teil-
reformen Rechnung getragen worden. Die Strafprozeßordnung von
1981 stellt deshalb keine tiefgreifende Reform dar, sondern eher eine
technische Revision auf der Grundlage des Bestehenden.

11. Der Streit um die Jury

Während die Mitwirkung VOn Schöffen im Amtsgerichtsverfahren


sich nach allgemeiner Ansicht bewährt hat, ist das Jury-System immer
eine Streitfrage geblieben. Eine große Mehrheit in der amtlichen Straf-
prozeßkommission schlug deshalb vor, die Jury durch ein großes Schöf-
fengericht zu ersetzen. Nach diesem Vorschlag sollten drei Berufs-
richter und vier oder sechs Schöffen gemeinsam sowohl über die
Schuldfrage als auch über die Strafzumessung entscheiden. Es hatte
lange den Anschein, als ob dieser Vorschlag verwirklicht werden
sollte. Die öffentliche Diskussion über den Kommissionsbericht war
überwiegend zugunsten des großen Schöffengerichts ausgefallen, und
Meinungsumfragen führten zu demselben Ergebnis. Wenn der Gesetz-
geber sich letztlich dennoch für die Beibehaltung des Jury-Systems
entschieden hat, so erklärt sich dies teils aus Zufälligkeiten, teils aus
einer gewissen Veränderung des politischen Klimas im Laufe der
70er Jahre.
Die Zufälligkeiten hängen mit wechselnden Regierungen und wech-
selnden Justizministern während der Gesetzgebungsarbeit zusammen.
Von den fünf Justizministern aus verschiedenen politischen Parteien,
die sich mit dieser Frage beschäftigt haben, waren vier Anhänger des
großen Schöffengerichts. Zwei Regierungen, die eine aus der Arbeiter-
partei gebildet, die andere eine bürgerliche Koalitionsregierung, hatten
im Prinzip dem großen Schöffengericht zugestimmt, wurden aber je-
weils abgelöst, bevor sie einen entsprechenden Regierungsvorschlag
Die neue norwegische Strafprozeßordnung 717

vorlegen konnten. Erst dem fünften mit der Strafprozeßreform befaß-


ten Justizminister, Inger Louise Valle, gelang es, einen abgeschlossenen
Vorschlag vorzulegen. Sie war Anhängerin des Jury-Systems und ge-
wann die Regierung für diesen Standpunkt. In der Begründung des
Regierungsvorschlags wird ausgeführt, daß beide Systeme eine voll-
befriedigende Gerichtsorganisation darstellen. Es heißt aber weiter,
daß das Jury-System in den fast 90 Jahren, in denen es bei uns be-
standen hat, ein wichtiger Teil unserer demokratischen Ordnung ge-
wesen ist und daß schädliche Auswirkungen nachgewiesen werden
müßten, um eine Abschaffung des Systems zu rechtfertigen. Obwohl
die Laien auch im großen Schöffengericht in der Mehrzahl gewesen
wären, bestand nach Einschätzung des Ministeriums eine naheliegende
Gefahr, daß die Berufsrichter während einer gemeinsamen Beratung
zu starken Einfluß ausüben könnten und das Laienelement nicht zu
seinem vollen Recht kommen würde. Die Argumentation des parla-
mentarischen Justizausschusses folgte im großen und ganzen densel-
ben Linien, und im Storting wurde ebenfalls kein abweichender Vor-
schlag eingebracht. In der letzten Phase der öffentlichen Diskussion
hoben die Anhänger der Jury besonders nachdrücklich auf den Gegen-
satz zwischen Volksherrschaft und Expertenherrschaft ab. Schlagworte
dieser Art hatten durch populistische Strömungen in den 70er Jahren
stärkere Resonanz bekommen, insbesondere nach dem Streit über
einen norwegischen Anschluß an die EWG. (Eine Volksabstimmung
über diese Frage im Jahre 1972 ergab eine Mehrheit gegen den Bei-
tritt, obwohl sich die größten politischen Parteien und die Mehrheit
der ökonomischen und politischen Fachleute für den Anschluß ein-
gesetzt hatten.) Die Strafprozeßkommission meinte, daß die politischen
Fragestellungen des 19. Jahrhunderts nicht mehr relevant seien und
behandelte die Wahl zwischen Jury und großem Schöffengericht als
eine rein praktische Frage. Letzten Endes sollte es sich also doch zei-
gen, daß allgemeine politische Strömungen auch diesmal das Schicksal
der Jury bestimmen sollten.
In einem wichtigen Punkt wurde eine Änderung vorgenommen, die
eine Stärkung des Laienelements beinhaltet. Nach dem neuen Gesetz
sollen, wenn die Jury den Angeklagten für schuldig befunden hat,
vier Mitglieder der Jury neben den drei Berufsrichtern an der Be-
ratung über die Strafzumessung teilnehmen. Auch in der Strafzumes-
sungsfrage werden also Laienrichter die Mehrheit bilden, wie dies
bisher nur beim Amtsgericht der Fall war. Für Strafverfahren vor dem
Amtsgericht soll übrigens die Beteiligung von Laienrichtern durch das
neue Gesetz ebenfalls stärker gesichert werden als früher. Das gel-
tende Recht eröffnet eine gewisse Möglichkeit, Bagatellsachen ohne
Hinzuziehung der Schöffen zu verhandeln. Nach der neuen Strafpro-
718 J ohannes Andenaes

zeßordnung werden alle Hauptverhandlungen ausnahmslos unter Mit-


wirkung von Laienrichtern stattfinden.

III. Das Rechtsmittelsystem -


insbesondere hinsichtlich Strafzumessungsfragen

Ein anderer Punkt, in welchem der Gesetzgeber den Änderungs-


vorschlägen der Strafprozeßkommission nicht gefolgt ist, betrifft das
Rechtsmittelsystem. Die Prozeßordnung von 1887 ist insoweit ganz
einzigartig. Ein Urteil des Amtsgerichts kann entweder durch "erneute
Behandlung vor dem Schwurgericht" oder Berufung direkt beim Ober-
sten Gerichtshof des Landes (H0yesterett) angefochten werden. Erneute
Behandlung vor dem Schwurgericht ist das Rechtsmittel gegen die
Beweiswürdigung des Amtsgerichts in der Schuldfrage. Berufung beim
Obersten Gerichtshof ist das Rechtsmittel nicht nur gegen prozessuale
Fehler oder fehlerhafte Rechtsanwendung, sondern auch gegen die
Strafzumessung. Dieselbe Kompetenz hat der Oberste Gerichtshof in
Berufungen gegen Urteile des Schwurgerichts. Bei der Prüfung der
Strafzumessung ist der Oberste Gerichtshof nicht an die Tatsachen-
feststellungen des erkennenden Gerichts gebunden. Die Berufung ent-
spricht also teilweise der deutschen Berufung, teilweise der deutschen
Revision. Eine sehr große Anzahl von Strafzumessungsfällen wird
jährlich dem Obersten Gerichtshof vorgelegt, der in dieser Weise einen
maßgebenden Einfluß auf die Strafzumessung der unteren Gerichte
nimmt!. Nach dem Gesetz soll der Oberste Gerichtshof die Strafzumes-
sung des erkennenden Gerichts nur ändern, wenn ein offenbares Miß-
verhältnis zwischen Delikt und Strafe besteht, aber in der Praxis
scheint diese Begrenzung der Kompetenz keine große Rolle zu spielen.
Einige Beispiele: eine Gefängnisstrafe von acht Monaten wird auf sie-
ben Monate herabgesetzt, eine Gefängnisstrafe von vier Jahren und
sechs Monaten auf fünf Jahre erhöht, eine Geldstrafe von 3000 auf
4000 Kronen angehoben.
Die Mehrheit in der Strafprozeßkommission hat vorgeschlagen, das
Schwurgericht zur Berufungsinstanz für Urteile des Amtsgerichts zu
machen mit einer gewissen Möglichkeit für eine weitere Berufung zum
Obersten Gerichtshof. Eine solche Änderung würde eine Annäherung
an das Rechtsmittelsystem in Zivilsachen bedeuten. Die meisten an-
gehörten Institutionen, die sich über den Entwurf äußerten, sprachen
sich aber zugunsten des bestehenden Systems aus, und dementspre-
chend fiel auch das Ergebnis aus. Es wurde angeführt, daß es zwar

2 Das System ist näher beschrieben in Andenaes, The Choice of Sanction:


A Scandinavian Perspective, in: Tonry/Zimnng, Reform and Punishment.
Essays on Criminal Sentencing, 1983.
Die neue norwegische Strafprozeßordnung 719

besondere geschichtliche Ursachen waren, die zu dem heutigen System


geführt haben. Entscheidend müßte aber sein, wie es sich in der Praxis
bewährt hat. In einem größeren Land wäre es vielleicht unmöglich
gewesen, dem Obersten Gerichtshof dieselbe zentrale Rolle in der
Strafrechtspflege zu geben, aber bei uns hat man gefunden, daß das
System sich gut bewährt hat. Besonders wurde hervorgehoben, daß
die bestehende Ordnung die Rechtseinheit schneller und effektiver
gewährleistet als irgendein anderes System.
Gegen eine Entscheidung des Schwurgerichts in der Schuldfrage
kann Berufung nur auf prozessuale Fehler oder unrichtige Rechts-
anwendung gestützt werden. In der Beweisfrage gilt also für die
schweren Verbrechen, die vor das Schwurgericht gehören, ein Ein-
instanzsystem. Das ist in der Tat eine Konsequenz der erstinstanz-
lichen Zuständigkeit der Jury bei schweren Verbrechen, und keine
Stimme hat sich dagegen erhoben. Eine bedeutsame Änderung ist da-
gegen, daß nach dem neuen Gesetz die Berufung gegen Urteile des
Amtsgerichts vor dem Schwurgericht nur nach besonderer Prüfung
zugelassen wird. Früher galt das nur in Bagatellsachen. Genehmigung
zur erneuten Behandlung soll gegeben werden, wenn begründete
Zweifel an der Richtigkeit der Beweiswürdigung bestehen oder andere
besondere Gründe dafür sprechen. Ein unbedingtes Recht auf zweit-
instanzliche Behandlung der Schuldfrage besteht also auch bei der
mittleren Kriminalität nicht mehr. Prinzipiell könnte dies geeignet
sein, Bedenken zu wecken, aber die Änderung ist auf wenig Wider-
stand gestoßen. Es hat sich allgemein der Eindruck verfestigt, daß das
Recht auf erneute Behandlung vor dem Schwurgericht nach dem alten
Gesetz sehr oft vom Angeklagten nur als ein Mittel zur Erreichung
einer Aussetzung der Strafvollstreckung in Anspruch genommen wor-
den ist.

IV. Durchführung des Anklageprinzips -


Vernehmung des Beschuldigten

Trotz grundsätzlicher Anerkennung des Anklageprinzips hat das


Gericht während der Hauptverhandlung die Pflicht, über die vollstän-
dige Aufklärung der Sache zu wachen, und es kann zu diesem Zweck
beschließen, neue Beweise zu erheben und die Verhandlung auszu-
setzen. Insoweit bringt das neue Gesetz keine Änderung. Es enthält
aber verschiedene Neuerungen, die auf eine konsequentere Durchfüh-
rung des Anklageprinzips als nach dem alten Gesetz abzielen:
1. Die Anklageerhebung hängt in Norwegen wie in den anderen
nordischen Ländern ausschließlich von den Anklagebehörden ab. Ein
Zwischenverfahren mit Eröffnungsbeschluß eines Gerichts wird als un-
720 J ahannes Andenaes

nötige Komplikation des Verfahrens betrachtet. Das alte Gesetz for-


dert aber eine gerichtliche Voruntersuchung als Voraussetzung einer
Anklage vor dem Schwurgericht, falls nicht der Angeklagte darauf
verzichtet. Auch in Strafsachen, die vor das Amtsgericht gehören, kann
die Anklagebehörde eine gerichtliche Voruntersuchung beantragen.
Zweck der Voruntersuchung ist es, die nötigen Ermittlungen anzu-
stellen, auf deren Grundlage über die Anklageerhebung entschieden
wird. Die Entscheidung liegt aber, wie schon erwähnt, ausschließlich
bei der Anklagebehörde. Nach der Schaffung einer professionellen
Kriminalpolizei hat die gerichtliche Voruntersuchung allmählich an
Bedeutung verloren. Und im neuen Gesetz ist dieses Institut unter
allgemeiner Zustimmung ganz verschwunden. Dagegen behält die An-
klagebehörde das Recht, einzelne Ermittlungen bei Gericht zu bean-
tragen. Als Untersuchungsrichter dient der Amtsrichter, der in dieser
Funktion als Verhörsgericht bezeichnet wird. Solcher Beistand des
Gerichts kann notwendig sein, wenn z. B. ein Zwangsmittel zur An-
wendung kommt oder ein Zeuge sich weigert, vor der Polizei auszu-
sagen. Auch in anderen Fällen kann eine Mitwirkung des Gerichts
zweckmäßig sein, z. B. um ein Geständnis des Beschuldigten gericht-
lich protokollieren zu lassen.

2. In kleineren Strafsachen, in denen die Anklagebehörde nur eine


Geldstrafe beantragt, braucht sie nach dem alten Gesetz nicht an der
Hauptverhandlung teilzunehmen. Es obliegt in diesem Fall dem Ge-
richt, die notwendigen Schritte zur Aufklärung der Sache zu tun. Die-
ses inquisitorische Element ist im neuen Gesetz weggefallen. Der An-
klagevertreter muß in Zukunft immer bei der Hauptverhandlung
gegenwärtig sein. Das Recht des Angeklagten auf einen öffentlichen
Verteidiger ist erweitert worden.
3. Eine umstrittene Frage während der Gesetzesarbeit war, ob der
Vorsitzende oder - wie im anglo-amerikanischen Recht - der An-
kläger und der Verteidiger den Angeklagten vernehmen sollen. (Zeu-
gen und Sachverständige werden immer durch den Ankläger und den
Verteidiger vernommen.) Auf den ersten Blick kann dies als eine tech-
nische Frage ohne großes prinzipielles Interesse erscheinen. Tatsäch-
lich ist aber die Form der Vernehmung des Angeklagten sehr bestim-
mend für die Atmosphäre im Gerichtssaal. Man vergleiche nur eine
deutsche und eine englische Hauptverhandlung!
Die Strafprozeßkommission schlug vor, die Vernehmung des Ange-
klagten dem Ankläger und dem Verteidiger zu überlassen. Die Haupt-
begründung war, daß es dadurch dem Richter leichter fallen würde,
eine objektive und zurückhaltende Stellung im Verfahren einzuneh-
men. Es heißt im Kommissionsbericht: "Ein energischer und gewissen-
Die neue norwegische Strafprozeßordnung 721

hafter Richter, der einen Angeklagten, der ausweichende oder offenbar


unwahre Antworten gibt, verhören soll, wird leicht in eine Kampf-
stellung gegenüber dem Angeklagten geraten können, was für die
Würde des Gerichts und für das Vertrauen des Angeklagten und der
Allgemeinheit in die Objektivität des Richters wenig glücklich ist."
Eine entsprechende Änderung wurde in Dänemark 1932 durchgeführt
und scheint zu allgemeiner Zufriedenheit zu wirken. In Norwegen
stieß aber der Vorschlag auf Widerstand, und der Regierungsvorschlag
hielt an der früheren Ordnung fest. Im Justizausschuß des Storting
kam es zu einem Komprorniß. Das neue Gesetz schreibt als Normal-
regel vor, daß der Vorsitzende die Vernehmung des Angeklagten be-
ginnen soll, fügt aber hinzu, daß er die Vernehmung dem Ankläger
und dem Verteidiger überlassen kann. Nach den Ausführungen des
Ausschusses soll die Vernehmung durch den Vorsitzenden nur den
Zweck verfolgen, dem Angeklagten behilflich zu sein, seine eigene
Version des Geschehens möglichst klar und zusammenhängend dar-
zustellen. Das weitere Verhör mit dem Zweck, den Wahrheitsgehalt
der Aussage zu prüfen, soll dem Ankläger und dem Verteidiger über-
lassen werden. Diese Zwischenlösung entspricht der Ordnung im schwe-
dischen Strafverfahren.

V. Vereinfachte Verfahrensformen

Wenn Anklage erhoben ist, werden normalerweise selbst die ganz


kleinen Strafsachen in einer vollen Hauptverhandlung unter Hinzu-
ziehung von Schöffen, mit Ankläger und oft auch öffentlichem Ver-
teidiger, behandelt. Die Begriffe Ordnungswidrigkeit und Ordnungs-
widrigkeitsverfahren kennt das norwegische Recht nicht. Auch das
Recht von Anklage und Verteidigung, die Rechtsanwendung und Straf-
zumessung durch Berufung beim Obersten Gerichtshof überprüfen zu
lassen, gilt ohne jede Ausnahme. Als Begründung für diese Umständ-
lichkeit auch in der Behandlung von ganz kleinen Sachen wird ange-
führt, daß, was von außen her betrachtet als eine Bagatellsache er-
scheint, von dem Beschuldigten als sehr schwerwiegend empfunden
werden kann. Dies gilt in besonderem Maße für nicht vorbestrafte
Personen, die in überschaubaren Verhältnissen auf dem Lande oder
in der Kleinstadt leben.
Die Neuordnung des Gesetzes wäre jedoch sicher nicht praktisch
durchführbar gewesen ohne zwei Formen von vereinfachten Verfah-
ren, die lange Tradition haben und im neuen Gesetz beibehalten sind.
Die eine besteht in dem summarischen Verfahren in Geständnis-
sachen, d. h. nachdem vor dem Verhörs gericht ein volles Geständnis
abgelegt worden ist, dessen Richtigkeit von den übrigen vorliegenden

46 Festschrift für H.-H. Jescheck


722 J ohannes Andenaes

Ermittlungen bestätigt wird. Wenn das Strafmaximum nicht Gefäng-


nis von 10 Jahren übersteigt, kann die Sache dann auf Antrag der
Anklagebehörde mit Einwilligung des Beschuldigten vom Verhörs-
gericht ohne Hauptverhandlung und ohne Beiziehung von Schöffen
abgeurteilt werden. Man sieht hier also von dem sonst so heiligen
Prinzip der Lai,enbeteiligung in der Strafrechtspflege ab. Die Grund-
lage des Urteils ist in diesem Falle das protokollierte Geständnis mit
den übrigen in den Akten vorliegenden Ermittlungen. Es ist hier an-
zumerken, daß ein Geständnis im Sinne des Gesetzes etwas anderes
als eine Schuldigerklärung ("plea of guilty") ist. Das Geständnis muß
alle die Strafbarkeit begründenden Tatsachen umfassen, sowohl in
subjektiver als auch in objektiver Hinsicht. Wenn z. B. der Beschul-
digte sich des Diebstahls schuldig erklärt, aber auch sagt, daß er so
betrunken war, daß er keine Erinnerung an die Umstände hat, ist
dies kein Geständnis, das als Grundlage für ein Urteil im Verhörs-
gericht dienen kann. Der Beschuldigte kann also nicht durch eine
Schuldigerklärung vermeiden, daß auf die näheren Umstände der Tat
eingegangen wird, wie dies im anglo-amerikanischen Recht oft ge-
schieht.
Das summarische Verfahren in Geständnissachen hat außerordent-
lich große praktische Bedeutung. Es werden mehr Sachen im summa-
rischen Verfahren als im Normalverfahren mit Hauptverhandlung ab-
geurteilt. Wenn der Richter findet, daß der Fall sich nicht für eine
summarische Behandlung eignet, kann und soll er den Antrag der
Anklagebehörde ablehnen. Die Sache muß dann im Normalverfahren
behandelt werden.
Die zweite vereinfachte Verfahrensform von großer praktischer Be-
deutung besteht in der Möglichkeit, eine Sache durch die Annahme
eines Strafbefehls (forelegg) der Anklagebehörde zu beenden. In der
Tat ist der Strafbefehl ein Angebot der Anklagebehörde an den Be-
schuldigten, die Sache durch Zahlung einer Geldstrafe zu erledigen.
Das Gericht hat mit dem Verfahren nichts zu tun. Der Strafbefehl
enthält neben einer Beschreibung der Tat und einer Festsetzung der
Geldstrafe eine Aufforderung an den Beschuldigten, binnen einer ge-
wissen Frist den Strafbefehl anzunehmen. Wenn dies nicht geschieht,
wird die Sache in gewöhnlicher Weise vor das Gericht gebracht.
Die überwiegende Mehrzahl von übertretungen wird durch die An-
nahme eines Strafbefehls entschieden. Der Anwendungsbereich des
Instituts, der schon früher sehr weit war, wurde durch die neue Straf-
prozeßordnung noch erweitert. Die einzige Voraussetzung ist, daß nach
Ansicht der Anklagebehörde die Sache mit Geldstrafe oder Einziehung
oder beidem entschieden werden sollte. Der Strafrahmen der betref-
Die neue norwegische Strafprozeßordnung 723

fenden Strafvorschrift ist ohne Bedeutung. Nach norwegischem Straf-


recht besteht auch kein Höchstmaß für die Geldstrafe. Es kommt vor,
insbesondere in der Ölindustrie, daß Geldstrafen in Millionenhöhe
durch Annahme eines Strafbefehls festgesetzt werden.
Durch die Annahme erwächst der Strafbefehl in Urteilskraft. Eine
Berufung kann eingelegt werden wegen der Verletzung von Prozeß-
regeln sowie mit der Begründung, daß das Verhalten, welches den
Strafbefehl nach sich zog, nicht strafbar oder daß die Annahme keine
bindende Willenserklärung gewesen sei. Neu ist die Regel, daß die
übergeordnete Anklagebehörde einen angenommenen Strafbefehl zu-
gunsten des Beschuldigten aufheben kann. Dies gilt auch, wenn die
Geldstrafe nach Ansicht des Vorgesetzten zu streng ist.

VI. Sonstige Änderungen

Einige weitere Änderungen können hier nur kurz erwähnt werden.


Die Vereidigung von Zeugen wird abgeschafft. Statt dessen soll der
Zeuge vor der Vernehmung eine feierliche Versicherung auf Ehre und
Gewissen abgeben, daß er die reine und volle Wahrheit sagen und
nichts verschweigen wird. Man hat gefunden, daß in einer säkulari-
sierten Gesellschaft die Vereidigung oft ein gewisses Gepräge von
Heuchelei trägt. Obwohl die Vereidigung für einige Zeugen eine be-
sondere Motivation zur Wahrhaftigkeit geben kann, haben die mora-
lischen Bedenken gegen die Vereidigung schwerer gewogen.
Das Recht des Beschuldigten auf Akteneinsicht während des Vor-
verfahrens ist erweitert worden. Früher bestand ein Recht auf Akten-
einsicht erst, wenn es zu einer Gerichtsverhandlung kam. Nach dem
neuen Gesetz soll dem Beschuldigten Akteneinsicht auch während des
polizeilichen Ermittlungsverfahrens gewährt werden, wenn es ohne
Gefahr für den Zweck der Nachforschung oder für einen Dritten (z. B.
einen Zeugen) geschehen kann. Falls die Anklagebehörde dem Be-
schuldigten die Akteneinsicht verweigert, kann er dem Verhörsgericht
die Frage zur Entscheidung vorlegen.
Das neue Gesetz legt großes Gewicht darauf, dem Verletzten die
Möglichkeit zu geben, seine zivilrechtlichen Ansprüche gegen den
Täter bereits im Strafverfahren geltend zu machen. Das zivilprozes-
suale Verfahren steht ihm selbstverständlich offen, aber wegen der
Prozeßkosten und der oft zweifelhaften Zahlungsfähigkeit des Ange-
klagten ist diese Möglichkeit normalerweise ziemlich illusorisch. Die
Anklagebehörde hat deshalb eine weitgehende Pflicht bekommen, sic..'l
der Sache des Verletzten anzunehmen und das Gericht eine entspre-
chende Pflicht, den Anspruch zu behandeln.

46·
724 J ohannes Andenaes

Auf der anderen Seite enthält das neue Gesetz großzügigere Be-
stimmungen als vorher über die Entschädigung des Beschuldigten im
Falle einer Verfahrensbeendigung durch Freispruch oder Einstellung.
Der Einfluß der Feministenbewegung hat in einigen Punkten Spu-
ren hinterlassen. In Notzuchtsverfahren kann das Opfer den Bei-
stand eines Rechtsanwalts auf Kosten des Staates in Anspruch neh-
men. Der Rechtsanwalt soll die Interessen der Frau im Zusammenhang
mit den Ermittlungen und der Hauptverhandlung wahrnehmen. Er
hat das Recht, bei den polizeilichen und gerichtlichen Vernehmungen
der Frau anwesend zu sein und Fragen zu stellen. Er kann Einspruch
einlegen gegen Fragen, die nicht zur Sache gehören oder in unzuläs-
siger Weise gestellt werden. Man hat damit besonders an Fragen über
den sexuellen Lebenswandel der Frau gedacht. Kurz gesagt hat der
Anwalt die Aufgabe, die Belastung, die das Strafverfahren für die
Frau mit sich bringt, möglichst gering zu halten, dagegen nicht als ein
zusätzlicher Ankläger zu wirken. Am Plädoyer nimmt er nicht teil.
Diese Bestimmungen wurden schon 1981 in die alte Strafprozeßord-
nung eingeführt.
Um die Beteiligung von Frauen in der Strafrechtspflege zu stärken,
wird im Regierungsvorschlag über das Inkrafttreten der neuen Straf-
prozeßordnung empfohlen, daß die Listen, aus denen Schöffen und
Geschworene für die einzelnen Sachen durch Auslosung ermittelt
werden, nach Geschlecht geteilt werden sollen. Bei der Auslosung soll
abwechselnd ein Schöffe aus der Männerliste und einer aus der Frauen-
liste gezogen werden. Ebenso soll für das Schwurgericht eine gleiche
Anzahl von männlichen und weiblichen Jury-Mitgliedern gewählt
werden. - Man hat ferner den Versuch gemacht, soweit wie möglich
sog. geschlechtsneutrale Bezeichnungen für die im Verfahren auftre-
tenden Personen zu finden. - Es ist zu erwarten, daß diese Ände-
rungsvorschläge im Storting Zustimmung finden werden.
REINHARD MOOS

Beschuldigtenstatus und Prozeßrechtsverhältnis


im österreichischen Strafverfahrensrecht

I. Einleitung und Problemstellung


Während dem Begriff des Beschuldigten in den letzten Jahren in der
deutschen Strafrechtswissenschaft besondere Aufmerksamkeit zugewen-
det worden ist1 , wurde er in Österreich bisher nicht problematisiert. Er
hängt von einer förmlichen Anschuldigung gegenüber dem Gericht ab -
eine Definition, die das deutsche Recht nicht teilt. Für die Reform der
österreichischen StPO wird erwogen, den Schwerpunkt der Untersu-
chungen im Vorverfahren vom Richter auf die Polizei zu übertragen2 •
Damit müßte sich auch der Begriff des Beschuldigten ändern, wenn nicht
der Rechtsschutz des Verdächtigen leiden soll. Eine Änderung des Be-
schuldigtenstatus ist jedoch für die österreichische Strafprozeßrechts-
lehre mit großen dogmatischen Schwierigkeiten verbunden, denn sie
steht begrifflich mit dem sog. Prozeßrechtsverhältnis und der Kenn-
zeichnung des Strafprozesses als Parteiprozeß in engstem Zusammen-
hang.
Der Beschuldigtenbegriff gibt damit Anlaß, grundsätzliche Entwick-
lungstendenzen des österreichischen Strafverfahrensrechts, die I escheck
1973 anläßlich des hundertjährigen Bestehens der österreichischen
StPO im Vergleich zum deutschen Recht aufgezeigt hat 3 , weiter zu ver-
folgen. Zur Revision der Begriffe kann der "Lösungsvorrat" , den die
Rechtsvergleichung nach einem Wort leschecks dem Gesetzgeber an-
bietet4, hilfreich sein. Die allgemeine Strafprozeßrechtslehre hat sich
1 Er war Gegenstand der Strafrechtslehrertagung 1981 in Bielefeld, vgl.
Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1177 ff. und der Strafrechtslehrertagung 1983
in Bern, vgl. Fincke, ZStW 95 (1983), S. 918 ff. sowie den Diskussionsbeitrag
von Jescheck im Tagungsbericht von Gropp, ZStW 95 (1983), S. 993 ff., 1018 f.
2 Vgl. u. a. Bertel, RZ 1975, 97 ff., 98; Liebseher, JBl 1976, 327 f.; Foregger,
OJZ 1976, 449 ff.; ders., in: Strafverfahrensreform, 1980, 3 ff., 5 ff., 10; Miklau,
in: Verbesserter Zugang zum Recht, Richterwoche 1979, 1 ff., 7 ff.; ders., in:
Strafverfahrensreform, 1980, 21 ff., 35 ff.; ders., OJZ 1984, 212 f.; Moos, Zur
Reform des Strafprozeßrechts und des Sanktionenrechts für Bagatelldelikte,
1981 (zit. Reform), bes. S. 32 ff., 48 ff., 126 ff.
3 Vgl. Jescheck, in: Hundert Jahre österreichische Strafprozeßordnung
1873 - 1973, S. 39 ff.
4 Vgl. Jescheck, ZStW 86 (1974), S. 761 ff.; ders., in: Probleme der Straf-
prozeßreform, hrsg. von Lüttger, 1975, S. 7 ff., 11.
726 Reinhard Moos

in Österreich im ausgehenden letzten Jahrhundert wesentlich unter


dem Einfluß der deutschen Wissenschaft herausgebildet, nach dem Er-
sten Weltkrieg hat sie sich aber von deren Weiterentwicklung gelöst.
Es ist zu fragen, wie sehr die dadurch erlangte Eigenständigkeit der
österreichischen Lehre dem Strafprozeßrecht in Zukunft gerecht wird.
Neuen dogmatischen Strukturen oder tiefgreifenden Änderungen
des Strafprozeßrechts steht man in Österreich eher skeptisch gegen-
über. Bei den Beratungen des Arbeitskreises für Grundsatzfragen
einer Erneuerung des Strafverfahrensrechts im Bundesministerium für
Justiz in Wien vom Oktober 1974 bis Oktober 1983 wurde die Verkümme-
rung der allgemeinen Prozeßrechtslehre in Österreich nur gelegentlich
bedauert5 • Auch die Wissenschaft vertritt weitgehend einen pragmati-
schen Standpunkt. Bezeichnend dafür ist etwa die Vorbemerkung im
Grundriß von BeTtel: "Theoreme ... , die für die Rechtsauslegung und
Rechtsanwendung nicht die geringste Rolle spielen, haben meiner
Meinung nach mit Wissenschaft nichts zu tun. Zu diesen Theoremen
gehört vor allem die Lehre vom Prozeßrechtsverhältnis: Seine Erfor-
schung möchte ich anderen überlassen"8. Die übrige neuere Literatur
äußert sich zu diesen Rechtsfragen entweder kaum oder sie wieder-
holt nur die überlieferten Standpunkte. Demnach werden die Bezie-
hungen zwischen dem Gericht und den Prozeßsubjekten als Prozeß-
Techtsverhältnis bezeichnet?, ist für die Behandlung als Verdächtiger
oder Beschuldigter das Prozeßrechtsverhältnis entscheidend8 und er-
folgt die Einleitung des Strafverfahrens durch die Begründung des
Prozeßrechtsverhältnisses9 • Im gleichen Sinne bestätigt die Rechtspre-
chung die alte Lehre vom Prozeßrechtsverhältnis10 • In den letzten Auf-
lagen der Lehrbücher von Roeder, der das Werk von Gleispach weiter-
führt, und von Lohsing/SeTini wird schließlich explizit die Lehre des
letzten Jahrhunderts übernommen, nach welcher das Prozeßrechtsver-
hältnis der dogmatische Grundstein des Anklageprozesses istl1 • Das
5 Vgl. Liebseher, in: Protokoll über die 77. Arbeitssitzung vom 17.10.1983,
S. 8843; Moos, ebd., S. 8864 bes. zum Beschuldigtenstatus; ders., in: Kollo-
quium Strafrecht, Strafrechtsvergleichung, hrsg. von Kaiser und Vogler aus
Anlaß des 60. Geburtstages von Jescheck, 1975, S. 37 ff., 38 Anm. 7.
8 Bertel, Grundriß des österreichischen Strafprozeßrechts, 1. Aufl. 1975,
S. VI; im Ergebnis ähnlich 2. Aufl. 1984, Rdnr.4: Erkenntnisse, "die für das
Verständnis unseres Strafprozeßrechts wenig beitragen".
7 Vgl. ForeggerlSerini, StPO, 3. Aufl. 1982, Einführung, S. 6. Platzgummer
erwähnt in seinem als Skriptum herausgegebenen Werk "Grundzüge des
österreichischen Strafprozeßrechtes", 13. Aufl. 1983, das Prozeßrechtsverhält-
nis nicht.
S Vgl. MayerhoferlRieder, StPO, 1. Halbband, 1980, § 38 Anm. 1.
• Vgl. KodeklGerm, StPO 1975, 3. Aufl. 1984, § 83 Anm. 1.
10 SSt 43/26, JBl1976, 325.
11 Vgl. Roeder, Lehrbuch des österreichischen Strafverfahrensrechtes,
2. Aufl. 1976, S.2, 173, 182; Gleispach, Das österreichische Strafverfahren,
Beschuldigtenstatus und Prozeßrechtsverhältnis 727

ganze Prozeßrecht ist demnach als eine Regelung der "Voraussetzun-


gen für das Zustandekommen des Prozeßrechtsverhältnisses, für seine
Fortentwicklung und Auflösung" zu verstehen12 •
Die stiefmütterliche Behandlung des Prozeßrechtsverhältnisses in der
neueren Literatur ist charakteristisch für eine sich anbahnende ()beT-
gangssituation im Grundverständnis des Strafprozesses: An der bisheri-
gen Lehre ändert sich zwar nichts, man schleppt sie noch weiter mit, weiß
aber nichts Rechtes mehr mit ihr anzufangen. BeTtel hat im Ergebnis
durchaus recht, daß die Lehre vom Prozeßrechtsverhältnis längst hinfäl-
lig ist. Um das zu klären und zu bewirken, bedarf es aber gerade des
Einsatzes der Wissenschaft, ist diese Lehre doch ein typisches wissen-
schaftliches "Kunstprodukt"13.
Lediglich Nowakowski hat bereits 1955 anläßlich eines Besprechungs-
aufsatzes über Henkels Lehrbuch dem Prozeßrechtsverhältnis eine ein-
gehende Untersuchung gewidmet und ihm einen "geringen Erkennt-
niswert" beigemessenu. Mit dieser Ansicht hat er bisher jedoch keine
Änderung der herkömmlichen Definition des Strafprozesses und des
Beschuldigten bewirkt.

11. Die Lage nach geltendem Recht


1. Gern. § 38 Abs. 115 kann im schöffen- und geschwornengerichtli-
chen Verfahren, das der Grundtypus des Strafverfahrens ist l8 , ein
Verdächtiger "als Beschuldigter erst dann angesehen werden, wenn
gegen ihn die Anklageschrift oder der Antrag auf Einleitung der Vor-
untersuchung eingebracht wurde". Da eine Voruntersuchung nur auf
Antrag des Staatsanwalts vom Untersuchungsrichter eingeleitet wer-
den darf (§ 92 Abs. 1) und sie dem Zweck dient, "die gegen eine be-
stimmte Person erhobene Anschuldigung einer strafbaren Handlung

2. Aufl. 1924, S. 2, 45; LOhsing/Serini, österreichisches Strafprozeßrecht, 4. Aufl.


1952, S. 2, 337.
12 Gleispach, S. 2; ähnlich LohsinglSerini, S. 2.
13 Vgl. "Von Sinn und Notwendigkeit wissenschaftlicher Behandlung des
Strafprozeßrechts" und besonders zu "einer sich auf sich selbst besinnenden
Strafprozeßdogmatik" Eb. Schmidt, ZStW 65 (1953), S. 161 ff.; ders., in: Straf-
prozeß und Rechtsstaat, 1970, S. 30 ff., 35.
14 Nowakowski, JBl1955, 1 ff., 3.
15 Paragraphen ohne Zusatz betreffen die geltende österr. Stpo.
18 Hinsichtlich der beiden übrigen Verfahrensarten vor dem Einzelrichter
des Gerichtshofs und dem Bezirksgericht gilt für das erstere Verfahren die-
selbe Definition des Beschuldigten, nur heißt die Anklage dort Strafantrag,
§§ 483 ff. Das bezirksgerichtliche Verfahren folgt dagegen eigenen Regeln.
Es kennt weder eine Voruntersuchung noch eine Formalisierung der An-
klage und der erkennende Richter kann das Ermittlungsverfahren selbst füh-
ren, § 452. Der gerichtlich Verdächtigte wird undogmatisch als Beschuldigter
bezeichnet.
728 Reinhard Moos

einer vorläufigen Prüfung zu unterwerfen" (§ 91 Abs. 2), ist die Be-


schuldigteneigenschaft an folgende Voraussetzungen geknüpft: Be-
schuldigter ist, wer dem Gericht zur Erforschung des gegen ihn spe-
ziell gerichteten Verdachtes mittels einer förmlichen Anschuldigung
des Anklägers überantwortet wird 17 • Besonders bemerkenswert ist, daß
eine solche förmliche Anschuldigung bereits in dem Antrag auf Vor-
klärung gesehen wird, wie stichhaltig der konkrete Verdacht über-
haupt ist, so daß später entweder bei hinreichender Erfolgsaussicht
eine Anklage erfolgen oder andernfalls das Verfahren eingestellt wer-
den muß (§§ 109, 112). Diese Voruntersuchung erfordert gesetzlich kei-
nen erhöhten (dringenden) Verdachtsgrad. Das Wesentliche an einer
Anschuldigung ist darum nicht die erhöhte Möglichkeit einer Verur-
teilung, sondern der organisatorische Vorgang, daß die Sache zur wei-
teren (vorläufigen oder endgültigen) Untersuchung gänzlich in die
Hände des Gerichts gelegt wird, das für die Dauer dieser Untersuchung
zum Herrn des Verfahrens wird (§ 97 Abs. 2).
Diese Konstruktion ist historisch zu erklären. Durch den Anklage-
prozeß wurde zwischen die alte Generalinquisition und die ihr nach Kon-
kretisierung des Verdachts gegen einen bestimmten Verdächtigen nach-
folgende Spezialinquisition die Anschuldigung des Staatsanwalts ge-
schoben. Derjenige, gegen den sich die Spezialinquisition richtete, war
der Beschuldigte. Ob diese Spezialuntersuchung nur eine Voruntersu-
chung bleibt oder bereits unmittelbar als Haupt- oder Erkenntnisteil
des Verfahrens fungiert, ist zweitrangig. Darum werden für den Be-
schuldigtenstatus der Antrag auf Voruntersuchung und die Einreichung
der Anklage gleichgestellt.

2. Eine Anschuldigungspflicht für den Staatsanwalt durch Beantra-


gung der Voruntersuchung ist in § 91 nur für das geschwornengericht-
liche Verfahren vorgeschrieben. Daneben wird sie gesetzlich noch für
einige periphere Fälle vorgesehen und nach herrschender Praxis im-
mer mit der Untersuchungshaft verbunden18 • "In anderen Fällen", so
heißt es in § 91 Abs. 1, "bleibt es dem Ermessen des Staatsanwaltes
oder des Privatanklägers anheimgestellt, ob eine Voruntersuchung zu be-
17 Vgl. auch Foregger/Serini, § 38 Anm. I; Roeder, S.85; Bertel, 2. Aufl.
Rdnr.250 versteht dagegen undogmatisch unter Beschuldigtem jede Person,
gegen die ein Strafverfahren geführt wird, und ein Strafverfahren beginnt
für ihn schon mit den polizeilichen Ermittlungen, vgl. Rdnr. 9. Das entspricht
nicht der gesetzlichen Definition des Beschuldigten und der h. M. Bertel
nimmt die erstrebenswerte überwindung des jetzigen Rechtszustandes vor-
weg; vgl. dazu auch Anm. 23.
18 Vgl. Foregger/Serini, § 180 Anm. I, VI; dagegen kritisch Moos, in: Die
Untersuchungshaft im deutschen, ausländischen und internationalen Recht,
hrsg. von Jescheck/Krümpelmann, 1971, S.374, 379 ff., 383 mit Anm.l72 m. w.
N.: ders., Reform, S. 51, 82 ff., 87; Bertel, 2. Aufl., Rdnr.434; Kodek/Germ, § 88
Anm.4.
Beschuldigtenstatus und Prozeßrechtsverhältnis 729

antragen sei." Der Staatsanwalt entscheidet dann, ob und wann er den


Verdächtigen im Laufe des Vorverfahrens trotz erdrückender Beweise
oder eines Geständnisses oder langwieriger Ermittlungen durch die
Beantragung der Voruntersuchung zum Beschuldigten erhebt oder
nicht. Klagt er ohne Voruntersuchung unmittelbar an, so stellt die StPO
nicht sicher, daß der Verdächtige vorher überhaupt vernommen wird,
wenn sie es auch erwartet 19 •

3. Die daraus entstehende Rechtsschutzlücke tür den Verdächtigen


wird von der StPO in § 38 Abs. 3 durch Anwendung der für den Be-
schuldigten geltenden Vorschriften auf den Verdächtigen gefüllt, Wenn
dieser als Verdächtiger gerichtlich vernommen oder als solcher doch
wenigstens zur gerichtlichen Vernehmung 20 vorgeladen oder wenn er
durch ein Gericht in Verwahrung oder Haft genommen wurde. Auch
hierbei kommt es nicht auf den Grad des Verdachts an. Eine gericht-
liche Vernehmung, die unabhängig von einer gerichtlichen Vorunter-
suchung erfolgt, ist sowohl aufgrund eines entsprechenden Antrags des
Anklägers "auf Abhörung" (§ 88 Abs. 1) als auch autonom möglich
(§ 89)21. Ein solcher Antrag des Anklägers ist kein formeller Verfolgungs-
antrag. Er enthält nur ein Ersuchen um Rechtshilfe22 und keine Anschul-
digung, auch wenn der Verdacht noch so sehr gegen den Vernommenen
persönlich gerichtet und noch so dringend ist. Freilich sollen durch die
Vorerhebungen nur weitere "Anhaltspunkte" (§ 88 Abs.1) ermittelt wer-
den, ob sich der Verdacht gegen eine bestimmte Person konkretisiert.
Nichts hindert aber den Staatsanwalt daran, von der Voruntersuchung
abzusehen, wenn sie nicht zwingend vorgeschrieben ist. Der Verdächtige
ist in diesem Falle kein Beschuldigter23 • Die Anschuldigung wird prak-

10 Vgl. kritisch Schnek, ZBl 1932, 510 ff., 515; Moos, Reform, S. 6I.
20 Das Gesetz spricht zwar nur schlechthin von Vernehmung, nach sei-
nem Sinn und der h. M. ist jedoch nur die gerichtliche Vernehmung gemeint,
vgl. KH 2619, SSt 25/57, EvBI 1953/197, SSt 43/26; Foregger/Senni, § 38
Anm. 111; Roeder, S. 85; kritisch Bertel, 2. Aufl., Rdnr. 250.
21 Die in Gerichtshofsachen als Untersuchungsgerichte autonom tätig
werdenden Bezirksgerichte haben den Staatsanwalt gern. § 89 Abs.2 grund-
sätzlich nur von ihrem Vorgehen zu informieren. Die Untersuchungsrichter
des Gerichtshofs dürfen zwar unaufschiebbare Ermittlungen auch autonom
vornehmen, sie müssen allerdings die Anträge des Staatsanwalts abwarten,
bevor sie den Fall weiter aufklären.
22 Art.22 B-VG; h. M., vgl. SSt 3/33 u. a., Foregger/Serini, § 88 Anm. II;
Bertel, 2. Aufl., Rdnr.518, 525, 527; ders., AnwBl 1976, 335; a. M. nur verein-
zelt OGH, JBl 1976, 325.
23 Vgl. auch LohsinglSenni, S.2; MayerhoferlRieder, § 38 Anm. zu E 4;
Kodek/Germ, § 88 Anm.2. Bertel, 2. Aufl., Rdnr.250, 529, 790, erweitert die
Beschuldigtenstellung auf Vernehmungen nach § 38 Abs.3 und durch die
Polizei oder Gendarmerie. Er präzisiert aber in Rdnr.341, daß solche Per-
sonen, gegen die keine Verfolgungsanträge vorliegen, "nicht Beschuldigte"
sind, sondern nur "wie Beschuldigte" behandelt werden müssen. Sie sind
folglich nicht Partei, vgl. SSt 25/57, 25/73 und Bertel, AnwBl 1976,335.
730 Reinhard Moos

tisch dadurch ersetzt, daß der Verdächtige jedenfalls einem Gericht ge-
genübersteht. Das kommt ihr in der Wirkung gleich, obwohl das Gericht
nur eine einzelne Untersuchungshandlung vornimmt und nicht das Vor-
verfahren führt. Demnach ist wie ein Beschuldigter zu behandeln, wer
von einem Gericht als Verdächtiger förmlich belangt wird, ohne Beschul-
digter zu sein.
Wird der Verdächtige als solcher im Zuge der Vorerhebungen nicht
gerichtlich, sondern durch die Sicherheitsbehörden (kurz: Polizei) ver-
nommen, die entweder von sich aus die Untersuchung führen können
(§ 24) oder die der Staatsanwalt statt eines Gerichts zur Vernehmung
einschalten kann (§ 88 Abs.3), so wird er durch die StPO nicht wie ein
Beschuldigter geschützt, ihn trifft also nicht einmal der Abglanz von
Prozeßrechten. Er ist nur reines Untersuchungsobjekt. Die für den
Richter geltenden Vernehmungsvorschriften werden von der StPO
nicht auf die Polizei erstreckt. Zwar finden für die Polizeibehörden im
Dienste der Strafjustiz seit 1925 die Regeln des Verwaltungsstrafver-
fahrens "sinngemäß Anwendung", sofern sich aus der StPO "nicht an-
deres ergibt"24. Ob oder inwieweit aus der StPO folgt, daß dort ein
Sachgebiet speziell und exklusiv für die Gerichte geregelt ist, so daß
die Verwaltungsvorschriften gar keine subsidiäre Anwendung finden
können, oder ob die StPO analog anzuwenden ist oder nicht, bleibt
allerdings offen. Überdies paßt das Verwaltungsstrafverfahren nicht
richtig zum Strafprozeß, so daß diese Vorschriften in der eingefahrenen
Praxis des Vorverfahrens keine große Bedeutung haben. Art. V EGVG
rückt "gar nicht in das Blickfeld der damit befaßten Stellen", die Trag-
weite ist unklar25 • Hinsichtlich der "Parteirechte" der §§ 10 und 17 A VG
(Verteidigerbeiziehung, Akteneinsicht) wird angenommen, daß sie in den
Vorschriften der StPO eine starre Grenze fänden!6.
Die polizeilichen Vernehmungen sollten nach der ursprünglichen
Absicht des Gesetzgebers nur eine nebensächliche Rolle spielen, so daß
die prozessuale Rechtlosigkeit des Verdächtigen nicht ins Gewicht hätte
fallen sollen. Nach § 24 dürfen die Sicherheitsbehörden von sich aus
lediglich unaufschiebbare und vorbereitende Anordnungen treffen und
müssen im übrigen dem Staatsanwalt und Untersuchungsrichter so-
gleich Mitteilung machen. Ihre Vernehmungsprotokolle sollten gern.
§ 88 Abs.3 unverweilt vom Untersuchungsrichter überprüft werden27 •

24 Art. V EGVG, subsidiär auch das AVG gern. § 24 VStG.


25 Vgl. Jabloner, ÖJZ 1978, 533 ff., 537; Foregger, in: Verh. 6. ÖJT 1976, 11,
6, S. 54 ff., 59: "mannigfache Unklarheit"; Moos, Reform, S. 128 m. w. N. Pro-
blematisiert wird nur das Zeugnisentschlagungsrecht bei § 152 Abs. 3, vgl. da-
zu Jabloner, ÖJZ 1978,538 ff.
26 Vgl. Jabloner, ÖJZ 1978, 538 m. w. N. Er selbst ist dagegen für eine un-
beschränkte ParteisteIlung während der sicherheitsbehördlichen Erhebungen,
ebenso Bertel, 2. Aufl., Rdnr. 250.
Beschuldigtenstatus und Prozeßrechtsverhältnis 731

Nach der Vorstellung der StPO soll im Mittelpunkt des Vorverfahrens


der auf Antrag des Staatsanwalts tätig werdende Untersuchungsrich-
ter stehen. Ihm ist darum vorgeschrieben, die Untersuchung "persön-
lich und unmittelbar" zu führen, ausnahmsweise darf er Bezirksge-
richte um Mithilfe ersuchen, während die Mithilfe der Polizei gar nicht
in Erwägung gezogen wird (§ 93). Dem Staatsanwalt schließlich sind
eigene Untersuchungshandlungen nach h. M. ohnehin versagt28 •

III. Das Prozeßrechtsverhältnis in der Lehre

1. Die rechtliche Differenzierung zwischen dem Begriff des Beschul-


digten und dem des Verdächtigen, der als Beschuldigter behandelt
wird, ist das Ergebnis streng durchgeführter Prozeßrechtsdogmatik.
Die österreichische Strafprozeßrechtslehre geht dazu von folgender
Annahme aus: Akzeptiert das Gericht die Tatsache der Anschuldigung,
indem es gegen den Beschuldigten die Einleitung der Voruntersuchung
beschließt oder ihm die unmittelbare Anklage bzw. den Strafantrag zu-
stellt oder ihn im bezirks gerichtlichen Verfahren zur Hauptverhand-
lung vorlädt, so begründet es das sog. Prozeßrechtsverhältnis zwischen
dem Gericht, dem Ankläger und dem Beschuldigten29 • Das Prozeß-
rechtsverhältnis wird also erst durch die vom Staatsanwalt beantragte
gerichtliche Prozeßhandlung begründet und folgt dem durch den Staats-
anwalt bewirkten Beschuldigtenstatus zeitlich nach30 • Obwohl demnach
in der dazwischenliegenden Zeit der Beschuldigte noch keine eigene
Rechtsposition gegenüber dem Gericht und der Staatsanwaltschaft er-
langt, ist der Beschuldigtenstatus kein nutzloser Titel ohne Inhalt,
denn auch ohne Begründung des Prozeßrechtsverhältnisses darf der
Beschuldigte nicht als Zeuge vernommen werdensI. Die Lehre vom
Prozeßrechtsverhältnis führt somit zu der eigenartigen Situation, daß
der Beschuldigte bereits Rechte gegenüber dem Gericht hat, ohne daß

27 Der OGH schränkt diese überprüfungspflicht seit SSt 5/66, 26/1 entge-
gen der Ansicht der Lehre auf Protokolle über Augenschein und Hausdurch-
suchung ein, vgl. dazu Moos, Reform, S.104 Anm.140; Bertel, 2. Aufl., Rdnr.
523.
28 Ein gesetzliches Verbot ist in der StPO nicht ausdrücklich enthalten.
Es wird aus § 88 abgeleitet, wonach der Staatsanwalt die Vorerhebungen
durch Gerichte und Sicherheitsbehörden vornehmen lassen kann. Das Er-
mittlungsverbot für den Staatsanwalt während der Voruntersuchung gern.
§ 97 Abs.2 kann nicht analog für die Vorerhebungen gelten, bei denen der
Staatsanwalt Herr des Verfahrens bleibt.
2D Vgl. SSt 43/26, JBl 1976, 325; Lohsing/Serini, S. 152; Fischlschweiger,
ÖJZ 1961, 539; Mayerhojer/Rieder, § 38 Anm. zu EI; Foregger/Senni, § 38
Anm. IV; Kodek/Germ, § 38 Anm. 2.
30 Vgl. auch Mayer, Commentar zu der Oesterreichischen Strafproceß=
Ordnung, 1. Teil, 1881, § 38 Anm. 3.
31 Vgl. KH 1732; Roeder, S. 85.
732 Reinhard Moos

ein Rechtsverhältnis gegenüber dem Gericht besteht. Die subjektiv-


öffentlichen Rechte erwachsen nicht aus dem Prozeßrechtsverhältnis,
sondern werden unabhängig davon durch das Gesetz begründet. Das-
selbe gilt gern. § 38 Abs. 3 beim Verdächtigen, der als solcher auf Antrag
der Staatsanwaltschaft gerichtlich vernommen wird, er genießt die Be-
schuldigtenrechte ohne Begründung des Prozeßrechtsverhältnisses32 •

2. Das Prozeßrechtsverhältnis definiert den Prozeß selbst: Ist dieser


ein Rechtsverhältnis und kommt dieses erst auf die besagte Art zu-
stande, so beginnt der Strafprozeß begrifflich erst mit der Begründung
des Prozeßrechtsverhältnisses. Davon geht auch die Lehre aus, obwohl
das nicht immer klar zum Ausdruck kommt. Das vor dem Prozeßrechts-
verhältnis liegende Verfahren ist demnach noch gar kein Strafverfah-
ren, sondern bereitet es nur vor. Einerseits wird zwar der Strafpro-
zeß äußerlich sehr weit als Inbegriff rechtlich geordneter Handlungen
definiert, die dem Zwecke dienen, einen Straf anspruch des Staates
festzustellen und durchzusetzen33 • Andererseits wird er aber inhaltlich
als ein Rechtsverhältnis zwischen dem Gericht und den Parteien34 oder
als ein Parteiprozeß bezeichnet35 • Es wird darauf hingewiesen, daß das
Prozeßrechtsverhältnis durch die Einleitung des "Verfahrens" begrün-
det wird bzw. daß ohne Ankläger, Beschuldigten und Richter gar kein
Prozeß entsteht38 . Erst durch die Beschuldigung ist ein Verfahren "ju-
ristisch vorhanden"37. So legt auch die StPO in § 90 Abs. 1 ausdrücklich
fest, daß der Staatsanwalt erst nach den Vorerhebungen durch einen
förmlichen Beschuldigungsakt wider eine bestimmte Person "das Straf-
verfahren" veranlaßt.
3. Das Prozeßrechtsverhältnis fällt dagegen nicht mit dem Begriff
der Rechts(an)hängigkeit - oder gleichbedeutend Gerichtsanhängig-
keit - zusammen. Die h. M. betrachtete bisher die Rechtshängigkeit
als eine Wirkung der förmlichen Beschuldigung nach § 38 Abs.l 38 • Die
Staatsanwaltschaft fixiert durch sie den gesetzlichen Richter (Art. 83
Abs.2 B-VG), sie kann die Sache keinem anderen Gericht mehr zur

32 Vgl. SSt 25/73; Roeder, S.8, 85; Foregger/Serini, § 88 Anm.III; Bertel,


AnwBl 1976, 335.
33 Vgl. Gleispach, S.I; sinngemäß auch Roeder, S.2; Platzgummer, S.I;
ForeggerlSerini, Einführung S. 1.
34 Vgl. Gleispach, S. 2; LohsinglSerini, S. 2.
35 Vgl. Foregger/Serini, Einführung S. 5. Bedenken gegen diese Bezeich-
nung finden sich bei Platzgummer (Anm. 7), S.49. Er verwendet sie aber
trotzdem selbst, da sie "fest eingebürgert" sei.
38 Vgl. LOhsing/Serini, S. 1 f.
37 Liebseher, JBlI976, 327.
38 Vgl. Roeder, S.I69 Anm.I, 173. Roeder beruft sich auf SSt 40/1. Vgl.
auch Moos, Untersuchungshaft, S. 379 Anm. 157; Liebseher, JBI 1976, 327: h. M.;
MayerhoferlRieder, § 38 Anm. zu E 1.
Beschuldigtenstatus und Prozeßrechtsverhältnis 733

Untersuchung übertragen. Das Prozeßrechtsverhältnis setzt erst da-


nach mit dem Beitritt des Gerichts ein. Die neue re Rechtsprechung, die
insoweit Zustimmung gefunden hat, identifiziert die Rechtshängigkeit
bereits mit den Gerichtshandlungen, die nach § 58 Abs. 3 StGB die
Verjährung hemmen39 • Dieser eigentlich nur auf den Zweck der Ver-
jährungshemmung ausgerichtete, nun aber verallgemeinerte Anhän-
gigkeitsbegriff stellt darauf ab, ob in einer bestimmten Strafsache über-
haupt irgendwelche gerichtlichen Maßnahmen erfolgt sind, was gerade
zum Zeitpunkt der Vorerhebungen, noch bevor die Staatsanwaltschaft
tätig wurde, der Fall sein kann. Dieser Anhängigkeitsbegriff hat mit der
Begründung eines Prozeßrechtsverhältnisses noch weit weniger zu tun
als der bisherige. Die Auseinandersetzung um diese höchstrichterliche
Entscheidung hat dazu geführt, daß die Unabhängigkeit des Prozeß-
rechtsverhältnisses von der Rechtshängigkeit einhellig hervorgehoben
und damit das Prozeßrechtsverhältnis als dogmatischer Begriff neu be-
stätigt wurde, obwohl ihm in diesem Zusammenhang keine begriffliche
Bedeutung zukommt4o •
Damit bewegt sich der Begriff des Strafprozesses zwischen den Be-
griffen der Verjährungshemmung und des Rechtsverhältnisses. Er ist
jeweils nach verschiedenen Stadien zu definieren: Im weiteren Sinne
beginnt er durch jede gerichtliche Maßnahme, im engeren Sinne durch
die Beschuldigung und im eigentlichen Sinne durch die Begründung des
Prozeßrechtsverhältnisses. Vorher einsetzende staatsanwaltschaftliche
oder polizeiliche Maßnahmen stehen außerhalb des Strafprozesses.

4. Das Prozeßrechtsverhältnis begründet den Parteiprozeß, es er-


hebt den Beschuldigten zur Partei. Als solche ist er formal gleichbe-
rechtigtes Prozeßsubjekt neben dem StaatsanwaWI. Der prozeßbegrün-
dende Gerichtsakt zwingt ihn, sich als Gegenpartner des Anklägers
auf den Prozeß einzulassen (Prozeßeinlassungspflicht)42. Die förmliche
Anschuldigung ist insoweit einer Kriegserklärung vergleichbar.
Das dreiseitige Prozeßrechtsverhältnis schafft drei verschiedene La-
ger und damit begriffsjuristisch "klare Verhältnisse". Der Staatsanwalt
macht durch die vom Prozeßrechtsverhältnis besiegelte Anschuldigung
den Verdächtigen zu seinem Gegner in einem "Rechtsstreit" über das
Bestehen des von ihm behaupteten materiell rechtlichen "Strafan-

39 Vgl. JBl 1976,325 mit Anm. von Liebseher; ForeggerlSerini, § 38 Anm. IV.
§ 88 Anm. Il rn. w. N.; Bertel, 2. Aufl., Rdnr. 25, 527; Moos, Reform, 8.60 Anm. 2,
121.
40 Der VwGH, JBl 1984, 215, hat in einer Entscheidung über den Begriff
der Anhängigkeit des verwaltungsbehördlichen Finanzstrafverfahrens die
Judikatur des OGH übernommen.
41 Vgl. Gleispach, 8.112; LohsinglSerini, 8.178; Roeder, 8.8,19.
42 Vgl. LohsinglSerini, 8.2; Roeder, 8.85.
734 Reinhard Moos

spruchs"43. In diesem Prozeß sind den beiden Parteien die entgegen-


gesetzten Interessen der Belastung und der Entlastung zugewiesen.
Durch die Schaffung der Parteien wird das Gericht über ein eigenes
Interesse an der Feststellung des behaupteten Strafanspruchs hinaus-
gehoben. Es wird begriffsnotwendig zu einer über- bzw. unparteilichen
Instanz 44 .
Der Strafprozeß wird als ein Dreiecksverhältnis verstanden, in dem
die Kräfteverteilung in der Weise vorgenommen wird, daß die mit dem
Gericht besetzte Spitze des Dreiecks nach oben weist, so daß die beiden
gegnerischen Parteien auf einer Ebene unter dem Gericht stehen und
von ihm ihr Recht nehmen. Die prozessuale Wirklichkeit in der Art
des deutschen Strafprozesses zu beschreiben, daß die mit dem Beschul-
digten besetzte Spitze des Dreiecks nach unten gerichtet ist, während
das Gericht und der Staatsanwalt als geteilte Gewalten der Justiz über
ihm stehen und mit sich ergänzenden und kontrollierenden Rollen den
staatlichen Strafanspruch gegen die ihn möglichst schützende Un-
schuldsvermutung durchsetzen, würde nach herrschender österreichi-
scher Lehre die Dinge in unzulässiger Weise auf den Kopf stellen. Eine
solche Sicht würde wegen der Gleichsetzung des Gerichts mit der
Staatsanwaltschaft auf einer Ebene sogar die Rückkehr zum Inquisi-
tionsprozeß bedeuten. Dem Beschuldigten würde dadurch die Subjekt-
steIlung geraubt werden, obwohl er nach der deutschen StPO mehr
Rechte hat.

5. Durch dieses Prozeßmodell wird die Struktur des Zivilprozesses


auf den Strafprozeß übertragen45 • Wenn auch zugestanden wird, daß
es wesentliche Unterschiede gibt, wie die Prinzipien der formellen
Wahrheit im Zivilprozeß und der materiellen im Strafprozeß, die für
den Beschuldigten fehlende Dispositionsmaxime und den Zwang für
den Staatsanwalt zur Anklageerhebung nach dem Legalitätsprinzip 46,
so wird doch unbeirrt an der Konstruktion des Parteiprozesses fest-
gehalten. Der öffentlichrechtliche Strafanspruch wird demnach im
Strafprozeß wie der zivil rechtliche Anspruch im Zivilprozeß eingeklagt
und verwirklicht. In beiden Prozeßformen entsteht der Prozeß erst
durch die Klage und damit durch das Prozeßrechtsverhältnis. Der Zi-
vilprozeß unterscheidet sich vom Strafprozeß somit wesentlich durch
den Prozeßgegenstand47 •

43 Vgl. Gleispach, S. 43,112; Roeder, S. 2; LohsinglSerini, S. 2, 152 f.


44 Vgl. Gleispach, S. 43.

45 Vgl. LohsinglSerini, S. 2: "so wie im Zivilprozeß".

" Vgl. Lohsing/Serini, S.5; Foregger/Serini, Einführung, S.6; Platzgum-


mer, S.49 f.
<7 Vgl. Gleispach, S. 2.
Beschuldigtenstatus und Prozeßrechtsverhältnis 735

Das Prozeßrechtsverhältnis wird durch das Vorliegen der Prozeß-


voraussetzungen rechtlich ermöglicht 48 • Dabei werden solche unter-
schieden, ohne die ein Prozeßrechtsverhältnis gar nicht entstehen kann
- darunter fällt nur die Anschuldigung des Staatsanwalts49 - und
solche, die es fehlerhaft machen, seine Fortentwicklung bis zum Urteil
hindern und das Urteil angreifbar machen50 • Das Prozeßrechtsverhält-
nis wird durch die Prozeßhandlungen der Parteien und des Gerichts
bis zum Urteil fortentwickelt. Aufgelöst wird es durch die Einstellung
der Voruntersuchung, durch die der Verfolgte aufhört, Beschuldigter
zu sein (§§ 109, 112); ferner dadurch, daß das OLG der Anklage keine
Folge gibt (§ 213) und schließlich durch die Rechtskraft des Urteils51 •

6. Praktische Bedeutung soll dem Prozeßrechtsverhältnis angeblich für


die Wiederaufnahme der Verfahrenseinstellung im Stadium der Vorer-
hebungen (§ 90) zukommen 52 • Nach § 363 Ziff. 1 ist eine Wiederaufnahme
ohne weiteres möglich, wenn die Vorerhebungen eingestellt worden
sind, bevor eine Person "als Beschuldigter behandelt" wurde. Danach
tritt Rechtskraft ein und ist nur die formelle Wiederaufnahme nach
§ 352 zulässig. Nach h. M. ist § 363 so zu verstehen, daß die Verneh-
mung etc. des Verdächtigen nach § 38 Abs.3 eine "Behandlung" im
Sinne des § 363 Ziff. 1 ist, welche die formlose Wiederaufnahme aus-
schließt53 • Ist der Verdächtige bereits formell Beschuldigter nach § 38
Abs.1, so befindet sich das Verfahren nicht mehr im Stadium der Vor-
erhebungen und die formlose Wiederaufnahme scheidet ohnehin aus.
Um so mehr gilt das bei Begründung eines Prozeßrechtsverhältnisses54 •
Dieses hat hier in Wirklichkeit gar keine praktische Bedeutung, weil es
bei § 38 Abs. 3 noch nicht vorliegt und bei § 38 Abs. 1 bereits die ihm vor-
gelagerte Beschuldigung für die Versagung der formlosen Wiederauf-
nahme ausschlaggebend ist.

48 Vgl. Gleispach, S. 3; Lohsing/Serini, S. 337 ff.; Roeder, S. 2 f.


49 Vgl. LohsinglSerini, S. 338 f.
60 Gleispach, S. 3, 45; Lohsing/Serini, S. 338.
51 Vgl. Gleispach, S.220, 227, 359; Roeder, S.177, 186, 268 und zur vorzeiti-
gen Auflösung eingehend Fischlschweiger, ÖJZ 1961,540 ff.
52 Vgl. Mayerhofer/Rieder, § 38 Anm. 1.

53 Vgl. KH 2419, 2619, SSt 25/57, EvBl 1953/197, SSt 43/26; ForeggerjSerini,
§ 363 Anm.11. Der OGH spricht davon, daß dann "gewissermaßen ein Partei-
verhältnis begründet worden ist", vgl. SSt 25/57. Auch das Wort "Beschul-
digter" setzt er in Anführungszeichen.
54 Vgl. Fischlschweiger, ÖJZ 1961, 539 ff. Zutreffend Bertel, 2. Aufl., Rdnr.
790, der entgegen SSt 43/26 die formlose Wiederaufnahme im bezirksgericht-
lichen Verfahren für unzulässig hält, wenn der Verdächtige bereits formell
Beschuldigter geworden ist.
736 Reinhard Moos

IV. Herkunft und Kritik des Prozeßrechtsverhältnisses

1. Die Lehre vom Prozeßrechtsverhältnis entstammt der Zivilp7'O-


zeßrechtswissenschaft des ausgehenden letzten Jahrhunderts, wie sie
sich im Anschluß an die epochale Schrift Oskar Bülows über "Die
Lehre von den Prozeßeinreden und die Prozeßvoraussetzungen" aus
dem Jahre 1868 herausgebildet hat. Bülow ging es darum, die Lehre
von den Prozeßeinreden alten Stils im Zivilprozeß auszumerzen und
durch die des "Proceßrechtsverhältnisses" und der "Proceßvorausset-
zungen" zu ersetzen - Begriffe, die er neu prägte55 . Die Einreden wies
er dem materiellen Recht zu, während er den Prozeß als ein sich stu-
fenweise entwickelndes Rechtsverhältnis zwischen Gericht und Par-
teien verstand, das durch einen äffentlichrechtlichen "Litiscontesta-
tionsvertrag" begründet wurde, durch den das Gericht verpflichtet
wird, für die Feststellung und Verwirklichung des geltend gemachten
Anspruches zu sorgen und aufgrund dessen die Parteien die dazu er-
forderliche Mitwirkung zu leisten haben 56 . Die Prozeßvoraussetzungen
waren die Voraussetzungen des Prozeßrechtsverhältnisses, sie enthiel-
ten dessen "constitutive Elemente"57.
Die davon ausgehende Belebung der Zivilprozeßrechtslehre, die be-
sonders in dem Werk Josef Kohlers "Der Prozeß als Rechtsverhältnis"
(1888) ihren Niederschlag fand, griff bald auf das Strafprozeßrecht
über58 . Charakteristisch dafür ist die Schrift Wolfgang Mittermaiers
von 1897 über "Die Parteistellung der Staatsanwaltschaft", in der er
offen gestand, daß er "im Strafrecht civilistisch zu denken strebe"59,
es gehe ihm um eine einheitliche Prozeßmethode, beide Prozeßarten
seien wesensgleich, das Strafprozeßrecht habe von den hochentwickel-
ten zivilistischen Lehren zu lernen 6o . So sah er den Staatsanwalt als
Interessenvertreter der Strafverfolgung an, dem ein Gegner zur Ver-
tretung seiner Verteidigungsinteressen vor dem Richter gegenüber-
stehe61 . Zwischen diesen Parteien bestand das Prozeßrechtsverhältnis
"zur gegenseitigen Berechtigung und Verpflichtung"62. Der Parteibegriff
war vom Begehren an ein Gericht abhängig63 . Im geltenden Straf-

55 Vgl. Bülow, S. 16 ff., 297 ff., 300, 313.


56 Vgl. Bülow, S. 2 f.
57 Vgl. Bülow, S. 5 f.
58 Vgl. die Literaturnachweise bei Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage,
1925, S. 1 Anm. 4.
59 Mittermaier, S. 2.
60 Mittermaier, S. 2 f., 92.
U Vgl. Mittermaier, S. 108 ff., 113, 115 f.
62 Vgl. Mittermaier, S. 164.
63 Vgl. Mittermaier, S. 170.
Beschuldigtenstatus und Prozeßrechtsverhältnis 737

verfahren erblickte Mittermaier freilich nur "einen noch unausgebil-


deten Parteiprozess"6" denn bei ihm handle es sich noch um die "In-
quisitionsmaxime in Akkusationsform" bzw. um "eine einfache Fort-
bildung des alten Prozesses", die durch die "Arbeitstheilung" zwi-
schen Richter und Staatsanwalt charakterisiert werde und den Staats-
anwalt nicht als einseitige Partei, sondern nur als "Gehülfen" des Rich-
ters zulasse, selbst wenn er formal Partei sei. Das Wesentliche des re-
formierten Prozesses sei nur die Trennung der Anklage vom Richter-
turn. Der Beschuldigte habe darum bisher aus der Reform "am we-
nigsten direkten Gewinn" gezogen. Erst allmählich setze sich die An-
sicht vom selbständigen Vertretungsorgan staatlicher Interessen durch65 .
Immerhin sei der geltende Strafprozeß aber eben doch ein Parteipro-
zeß, die Parteien besäßen "schon einige wesentliche formell bestim-
mende Rechte als ,Prozessubjekte''', der Beginn sei schon gemacht 66 .
In Österreich griff Max Eisler 1890 Bülows Lehre auf und ver-
pflanzte sie auf den Strafprozeß 67 . So verstand auch er den Strafpro-
zeß als ein einziges, einheitliches Prozeßrechtsverhältnis, begründet
durch die rechtskräftige Anklageschrift und ermöglicht durch die Pro-
zeßvoraussetzungen68 . Eisler konnte sich auf Julius Glaser, den Schöp-
fer der österreichischen StPO, berufen, der 1885 ebenfalls in seinem
Lehrbuch des (deutschen) Strafprozesses das Prozeßrechtsverhältnis
als den Grund der Rechte und Pflichten der Parteien gegeneinander
und gegenüber dem Gericht bezeichnet hatte 09 •
1898 knüpfte Emil Sueß in Wien mit seiner Schrift "Die Stellung
der Parteien im modernen Strafprocesse" wiederum an den zivilpro-
zessualen Begriff des einheitlichen Prozeßrechtsverhältnisses an, nur
ließ er dieses nicht erst mit der Annahme der Anklage, sondern schon
in dem Moment entstehen, in dem "das Gericht durch eine hierzu be-
rechtigte Person mit einem materiellen Rechtsverhältnisse befasst
wird"70. Für Sueß bestand das Prozeßrechtsverhältnis nur zweiseitig
zwischen Kläger und Beklagtem, das Gericht stand außerhalb 71 • In der
Staatsanwaltschaft sah er nach österreichischem Recht nicht eine Wäch-
terin des Gesetzes, sondern eine Partei, wenn sie auch lInie von reinem

64 Vgl. Mittermaier, S. 116 f.


05 Vgl. Mittermaier, S. 108, 110, 112 f., 115 ff.
68 Vgl. Mittermaier, S. 117.
87 Eisler, Die Processvoraussetzungen im österreichischen Strafprocesse,
GrünhutsZ Bd.17, 1890,587 tr.
68 Eisler, 589 ff., 593, 601, 620.
8Q Vgl. Glaser, Handbuch des Strafprozesses, Bd. 11, 1885, S. 34.
70 Vgl. Sueß, S. 6.
71 Vgl. Sueß, S. 8.

47 Festschrift für H.-H. Jescheck


738 Reinhard Moos

Parteigeiste befangen sein" sollte72 • Die Stellung des Beschuldigten


als gleichberechtigtes Prozeßsubjekt ergab sich wiederum aus dem
Prozeßrechtsverhältnis73 • Allerdings kam Sueß zu dem Schluß, im Vor-
verfahren sei die Lage des Beschuldigten so schlecht, "dass bil-
lig wird gezweifelt werden können, ob er in diesem Stadium des Pro-
cesses als Partei anzusehen ist". Trotz dieser inhaltlichen Zweifel be-
jahte Sueß aber doch die Parteistellung des Beschuldigten74 • Zur Be-
seitigung der letzten Reste des Inquisitionsverfahrens befürwortete er
den Ausbau der Beschuldigtenrechte bis hin zur vollen Waffengleich-
heit75 •
Diese Autoren sind vor allem die Gewährsmänner der herrschenden
österreichischen Strafprozeßrechtslehre76 • Sie übernimmt unkritisch das
zivilprozessuale System Bülows, ohne den Wirklichkeitsgehalt dieser
Lehren im allgemeinen und insbesondere im Strafprozeß anzuzwei-
feln und ohne auch nur die wesentlichen Einschränkungen jener Auto-
ren hinsichtlich der geltenden StPO zu beachten.

2. In Deutschland ist dagegen die Lehre vom Prozeßrechtsverhältnis


seit Goldschmidts nicht weniger epochalen Kritik an Bülow in seinem
großen Werk vom Jahre 1925 "Der Prozeß als Rechtslage. Eine Kritik
des prozessualen Denkens" überwunden77 • Soweit das Prozeßrechtsver-
hältnis überhaupt noch Erwähnung findet, wird es als "wissenschaft-
liches Dekorationsstück" eingestuft, das nicht nur "durchaus entbehr-
lich", sondern auch "nichtssagend" ist oder das ein "schiefes Bild vom
Prozeß" vermittelt78 • Es besagt nach heutigem Verständnis nicht mehr,
als daß im Strafverfahren keine Willkür herrscht, sondern eine gere-
gelte rechtliche Ordnung und Formenstrenge. Henkel spricht in diesem
Sinne von "Rechtsbeziehungen" zwischen dem Staat und den Personen,
die "in irgendeiner Prozeßrolle", also auch als Zeugen usw., herange-
zogen werden79 • Ähnlich löst sich für Peters der Begriff des Prozeß-

72 Vgl. Sueß, S. 18; anderes galt nach Sueß, S. 19 f. für die Generalprokura-
tur. Das Recht zur Rechtsmitteleinlegung zugunsten des Verurteilten fand er
bedauerlich, S. 18.
73 Sueß, S. 114 f.
74 Vgl. Sueß, S. 244.
75 Vgl. Sueß, S.21, 115 ff., 121 f., 225 ff., bes. auch zur Parteiöffentlichkeit,
den Sicherheitsbehörden und der Untersuchungshaft.
76 Vgl. die Literaturhinweise bei LohsinglSerini, S.2, 152; Gleispach, S.2,
auch Roeder, S. 1.
77 Vgl. Goldschmidt, S. 1 - 143. Nach einem Wort Eb. Schmidts fußen heute
auf dieser Kritik "alle modernen Darstellungen des Strafprozeßrechts, die
Anspruch auf wissenschaftlichen Charakter erheben wollen", vgl. Deutsches
Strafprozeßrecht. Ein Kolleg, 1967, Rdnr. 35.
78 Vgl. Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung, Teil I, 2. Aufl.
1964, Rdnr. 47,119.
Beschuldigtenstatus und Prozeßrechtsverhältnis 739

rechtsverhältnisses in "die Gesamtheit der sich im Laufe eines Prozes-


ses ergebenden Möglichkeiten von Rechten und Pflichten" auf, es um-
faßt alle von einem Prozeß Betroffenen und entrückt sie durch die
Einstufung der Prozeßhandlungen als "Rechtsvorgänge" der Willkür
und bloßen Macht 80 • Die Rechtsbeziehungen entstehen nicht durch die
Klage, sondern durch die staatliche Justizgewährungspflicht und die
Staatsunterworfenheit der Betroffenen81 •

3. Goldschmidts Kritik an der Lehre Bülows wurde in Österreich


bereits 1928 von keinem Geringeren als Adol! Merkl als "in der
Hauptsache treffend" akzeptiert und auch die Vorstellung des Straf-
prozesses als eines dreiseitigen Rechtsverhältnisses als "jedenfalls un-
vollziehbar" erkannt82 • Die maßgebliche Mitwirkung der Beteiligten
als Parteien sah Merkl nicht als Wesensmerkmal des Prozesses an. Das
Rechtsverhältnis folgte für ihn aus der objektiven staatlichen Rechts-
ordnung, die Pflichten aus den Staatsrechtssätzen83 • Nur der Ansicht
Goldschmidts, daß der Prozeß als "Rechtslage" lediglich Möglichkeiten
und Lasten für die Verfahrensbeteiligten oder nur Aussichten auf be-
stimmtes richterliches Verhalten vermittle, nicht aber Rechte oder
Pflichten, vermochte Merkl aus der Sicht der Reinen Rechtslehre nicht
zuzustimmen. Der Prozeß war für ihn vielmehr ein dynamischer Er-
zeugungsweg von Rechtsakten auf der Stufe von einer höheren zu einer
niedrigeren Norm.
Petschek wies dagegen 1929 in einer ausführlichen kritischen Dar-
stellung die Thesen Goldschmidts zurück und bekannte sich wiederum
zu Bülow 84 • Diesen Standpunkt hat er auch noch in seiner systematischen
Darstellung des österreichischen Zivilprozeßrechts aufrechterhalten
und dahingehend präzisiert, das Prozeßrechtsverhältnis sei öffentlich-
rechtlicher Art und bestehe nur zweiseitig zwischen Gericht und Par-
teien, nicht aber zwischen den Parteien untereinander. Eine Tätigkeit
des Beklagten sei darum unnötig85 •
Nach dem Kriege hat schließlich Nowakowski die kritische Auffas-
sung Merkls aufgegriffen und die Lehre vom Prozeßrechtsverhältnis
79 Vgl. Henkel, Strafverfahrensrecht, 2. Auf!. 1968, S. 114; zustimmend
schon zur 1. Auf!. Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rdnr.44 Anm.96.
80 Vgl. Peters, Strafprozeß, 3. Auf!. 1981, S. 93, 95.
81 Vgl. Goldschmidt, S. 243 Anm. 1327; Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rdnr.
44,46; Henkel, S. 105; Jescheck, JZ 1970,204; Peters, S. 93.
82 Vgl. Merkl, Rezension von Goldschmidt, in: ZÖR Bd. VII (1928), 119 ff.,
120.
83 Vgl. Merkl, 120.
84 Vgl. Petschek, James Goldschmidts Kritik des prozessualen Denkens,
GZ 1929,257 ff., 260.
85 Vgl. Petschek, Der österreichische Zivilprozeß, fortgeführt von Stagel,
1963, S. 16 f.

47'
740 Reinhard Moos

in übereinstimmung mit der deutschen Lehre als unerheblich charak-


terisiert, weil von ihr nur soviel anzuerkennen sei, daß zwischen dem
Gericht und den Verfahrensbeteiligten Rechtsbeziehungen bestehen
und daß der Prozeß ein Rechtsvorgang sei; das sei ohnehin klar86 •

v. Formales Anklageprinzip und Parteiprozeß

Das zivilistische Parteischema der österreichischen Strafprozeßrechts-


lehre ist für einen Außenstehenden nicht leicht nachzuvollziehen, zu-
mal die österreichische StPO dem Inquisitionsverfahren noch wesent-
lich mehr verbunden ist als die deutsche. Die Erklärung liegt in der
Deutung des rein formalen Anklageprinzips als Parteiprozeß und im
formalen Denken überhaupt.

1. Die das Prozeßrechtsverhältnis zur Hilfe nehmende Prozeßkon-


struktion ist ein rein formales Gebilde. Der materielle Inhalt der je-
weiligen Prozeßrolle, d.h. die Haltung, welche die Verfahrensbeteilig-
ten nach der StPO tatsächlich einnehmen, tritt in den Hintergrund.
Der Unterschied zwischen Form und Inhalt verschwimmt, ohne daß das
empfunden würde. Der Sprachgebrauch ist verwirrend. Es fällt darum
nicht auf, daß die Klarheit der formalen Begriffe keine der Wirklich-
keit entsprechende Wahrheit zu schaffen vermag. In den Begriff "par-
teilich", der nach allgemeinem Sprachgebrauch nur begriffslogisch die
Zuordnung zu einer Partei bedeutet und an sich inhaltsleer ist, kann
auch materieller Gehalt im Sinne von "parteiisch" einfließen, er kann
also auch eine Interessenwahrnehmung kennzeichnen, die mangels
Neutralität nicht umfassend objektiv ist. Je nach Sichtweise erscheint
beides richtig.

2. So wird sowohl die Ansicht vertreten, die Parteien im Strafprozeß


seien echte Parteien im inhaltlichen Sinne wie im Zivilprozeß (mate-
rieller Parteibegriff)87, als auch die gegenteilige Meinung, es handle sich
nur um eine konventionelle, rein formelle Bezeichnung für die Ver-
fahrensbeteiligten ohne spezifischen Inhalt und dogmatische Auswir-
kungen88 .
Diese Unterscheidung darf wiederum nicht mit der in der Literatur
fortvererbten Deutung der Frage gleichgesetzt werden, ob die Staats-

86 Vgl. Nowakowski, JBl 1955, 1 ff., 3 f. Das Verständnis der Rechtslage


nach Goldschmidt als bloße jeweilige Urteilsaussicht fand indessen ebenfalls
nicht die Billigung Nowakowskis.
87 Vgl. etwa Pallin, Broda-Festschrift, 1976, 215 ff., 217 unter Hinweis auf
Gleispach, Roeder und die dort zitierte ältere Literatur; anders und klar-
stellend Moos, Reform, S. 118.
88 Vgl. Nowakowski, JBl 1955, 2; ders., in: Verh. 45. DJT, 1964, I, 2, S. 1 ff.,
13 ff.
Beschuldigtenstatus und Prozeßrechtsverhältnis 741

anwaltschaft eine formelle oder eine materielle ParteisteIlung ein-


nimmt. "Partei im materiellen Sinne" soll in diesem Zusammenhang
nicht etwa bedeuten, daß es sich inhaltlich um eine parteiisch agierende
Interessenpartei handle. Vielmehr wird darauf abgestellt, wer Inhaber
des materiell-rechtlichen Anspruchs ist. Das ist der Staat und nicht
der ihn vertretende Staatsanwalt, obwohl dieser prozeßrechtlich eine
"Parteirolle" innehat. Wenn man sich folglich dessen bewußt sei, daß
der Staatsanwalt nicht Partei sei, meint Gleispach, sei nichts dagegen
einzuwenden, ihn der Kürze wegen "schlechtweg als Partei zu bezeich-
nen"89. Bei einem formellen Parteiverständnis wird dagegen der Par-
teibegriff nur auf das prozessuale Verfolgungsrecht bezogen und darum
der Ankläger selbst als Partei eingestuft, obwohl der Staat der An-
spruchsinhaber ist 90 . Im praktischen Ergebnis macht das keinen Unter-
schied. Prozessual gesehen handelt es sich in beiden Fällen um Erklä-
rungsmodelle der formellen Parteistellung, denn die Ableitung der
Klägerrolle aus eigenem oder fremdem materiellen Recht sagt nichts
über den Inhalt seiner prozessualen Befugnis aus 91 .
Die Meinungsverschiedenheit macht deutlich, daß die Rechtsvorstel-
lungen so sehr dem formalen Denken verhaftet sind, daß nichts dabei
gefunden wird, eine Spielart des formellen Parteibegriffs als materiell
zu bezeichnen. Sie gründet sich einerseits auf die völlige Übertragung
zivilistischen Anspruchsdenkens auf den Strafprozeß und andererseits
auf die Bedeutung, die der Lehre vom Prozeßrechtsverhältnis beige-
messen wird. Nach dieser Lehre kommt es immer nur auf das prozes-
suale Rechtsverhältnis an, das durch den Ankläger eingeleitet wird 92 .
Die Lehre von der materiell rechtlichen ParteisteIlung des Staates im
Prozeß anerkennt zugleich die Lehre vom Prozeßrechtsverhältnis, ohne
sie konsequent anzuwenden.
Der Gesetzgeber hatte 1873 bewußt davon abgesehen, die Staatsan-
waltschaft als Partei zu bezeichnen, denn, so heißt es in den Spezial-
motiven, es sei "doch nicht zu übersehen, daß die Staatsanwaltschaft

89 Gleispach, S.112; Roeder, S.66. Die bemerkenswerte Denkmethode ist


dieselbe wie bei § 38 Abs.3: Der Verdächtige ist nicht Beschuldigter. Solange
man sich dessen bewußt ist, ist aber nichts dagegen einzuwenden, ihn "als
Beschuldigten" zu behandeln. - Damit ist allen gedient. Vgl. auch Anm. 100,
118.
90 Vgl. Lohsing!Serini, S. 153 f.; Platzgummer, S.49; siehe zu dieser Ein-
teilung auch Henkel, S. 105. - Die Konstruktion des materiellen Parteibe-
griffs ist schon deshalb fragwürdig, weil der Staat als juristische Person immer
nur durch eine natürliche Person handeln kann, die ihn repräsentiert und des-
halb die gleiche Stellung einnimmt.
91 Vgl. auch Nowakowski, in: Verh. 45. DJT, I, 2, S. 13 f., der den Parteibe-
griff nur formell im Sinne eines Prozeßbeteiligten versteht und das zivil-
prozessuale Anspruchsdenken ablehnt.
92 Vgl. Gleispach selbst, S. 2; LOhsing!Serini, S. 2.
742 Reinhard Moos

als eine öffentliche, dem Gerichte beigeordnete, jedem Privatinteresse


fernbleibende Behörde nicht unter den Begriff der Parteien in dem
Sinne, in welchem das Wort in der Regel genommen wird, fallen kann".
Diese Bezeichnung treffe nur für den Angeschuldigten, den Verletzten
und den Privat ankläger zu. Höchstens zur Bezeichnung des vom Rich-
ter getrennten, prozeßführenden Teils sei sie auf die Staatsanwalt-
schaft anwendbar 93 • Die StPO verwendet den Ausdruck Partei denn
auch nur gelegentlich in diesem Sinne oder im landläufigen Sprachge-
brauch zur Bezeichnung eines Antragstellers bei Behörden94 • Wie aus
den Gesetzesmotiven ferner hervorgeht, sollte mit dem Anklageprozeß
kein Parteiprozeß eingeführt werden, sondern es sollte nur die richter-
liche Tätigkeit von einer förmlichen Beschuldigung durch eine ge-
trennte Instanz abhängig gemacht werden: Wo kein Kläger, da kein
Richter 95 • Gleichwohl wird dieser Anklageprozeß in Österreich mit un-
umstößlicher Selbstverständlichkeit als Parteienprozeß bezeichnet, und
gerade in dieser Interpretation wird ein besonders großer liberaler
Fortschritt gesehen96 • So glaubt man auch inhaltlich zu haben, was man
äußerlich so bezeichnet.

3. Die Stellung der Staatsanwaltschaft scheint zwar insoweit dem


Prinzip der Interessenvertretung des Parteiprozesses zu entsprechen,
als ihre Mitglieder gern. § 30 Abs.l "in dem ihnen angewiesenen Wir-
kungskreise das Interesse des Staates zu wahren" haben. Diese Inter-
essen sind jedoch nicht parteiisch gemeint. Vielmehr wird die Staats-
anwaltschaft zur Wahrheitserforschung ermahnt (§ 34 Abs.3), wozu auch

93 Vgl. Mayer, Entstehungsgeschichte der österr. Strafproceß=Ordnung


vom 23. Mai 1873, 1876, S. 392 zu den Spezialmotiven des § 38.
94 Vgl. einerseits die Verwendung der Parteibezeichnung im Rahmen del
Hauptverhandlung in §§ 238, 310 Abs.3, 311, 314 Abs.2, 458 Abs.2 und die
überschriften zu §§ 255 f., 318 f., andererseits §§ 79 Abs.2, 82, 381, 394, 395 zur
Ladung, zum Akteneinsichtsrecht und zur Kostenpflicht. In diesem allgemei-
nen Sinne spricht auch § 8 AVG von Parteien, wenn Personen gegenüber der
Behörde einen Rechtsanspruch oder ein rechtliches Interesse geltend machen.
95 Vgl. Kaserer, Die Strafproceßordnung vom 23. Mai 1873 mit Materialien,
II. Theil, 1873, S. 13 ff., 15. Siehe dazu eingehend Nowakowski, in: Hundert
Jahre österreichische StPO, S. 151 ff. auch zur Abgrenzung vom "Idealtypus"
des Parteiprozesses, den der Gesetzgeber nicht vor Augen hatte (S. 152, 154).
Vgl. ferner klärend Rulf, Commentar zur Strafprozeßordnung v. 29. Juli 1853,
1857, Bd. 1, S.5 ff., 7 zur Trennung der drei Prozeßtypen: Untersuchungsver-
fahren, Untersuchungsverfahren in Anklageform und Anklageverfahren im
Sinne des Parteiprozesses (sog. Anklageprinzip). "Keineswegs" dürfe man die
Anklageform mit dem letztgenannten Parteienprinzip "verwechseln, wie
dieß leider nur zu häufig in der Wissenschaft, wie im Leben geschieht". Es
"führt zu Verwirrungen und falschen Folgerungen, wenn man die bloße An-
klageform als Anklageprincip bezeichnet" (S. 8).
va Vgl. Fischlschweiger, ZStW 91 (1979), S. 749 ff., 756; empfohlen auch von
Nowakowski, in: Verh. 45. DJT, I, 2, S. 14 ff. Siehe dazu auch unten Anm. 118.
Beschuldigtenstatus und Prozeßrechtsverhältnis 743

die Berücksichtigung der "zur Verteidigung des Beschuldigten dienen-


den Umstände" zählt (§ 3). Indessen ergäbe es ein schiefes Bild, von
einer umfassenden Wahrheitserforschungspflicht der Staatsanwaltschaft
zu sprechen, weil die Realisierung des allgemeinen Objektivitätsgebots
des § 3 durch den der Staatsanwaltschaft gesetzlich angewiesenen Wir-
kungskreis beschränkt wird. Sie ist in erster Linie als eine Initiativ-
behörde installiert worden, die einen gerichtlichen Prozeß zur Wahr-
heitsfindung zu veranlassen hat. Nicht die Parteien ermitteln die Wahr-
heit, sondern das Gericht 97 • Die eigentliche Aufgabe des Staatsanwalts
besteht darin, im Vorverfahren durch seine Anträge an das Unter-
suchungsgericht (§ 34 Abs.3 Satz 2) oder an die Polizei (§ 88), dann durch
seine Anklage, sein Frage- und Antragsrecht in der Hauptverhandlung
(§ 249) und schließlich durch sein umfassendes Recht der Rechtsmittel-
einlegung (§ 282) die richterliche Untersuchung anzustoßen. Das Metier
der Staatsanwaltschaft ist vor allem die Entscheidung darüber, ob die
Beurteilung der Sachlage es ihr erlaubt, Anträge zur weiteren Sachauf-
klärung zu stellen und schließlich durch die Anklage den Prozeßgegen-
stand, die Person des Angeklagten und das Gericht definitiv festzu-
legen. Von diesen Entscheidungen ist diejenige über die Alternative
Anklage oder Verfahrenseinstellung am wichtigsten. Somit besteht
schließlich die Aufgabe der Staatsanwaltschaft im wesentlichen darin,
darüber zu entscheiden, ob sie die ihr von anderen vorgelegten Befunde
zur weiteren Klärung zu anderen transportiert oder nicht, wobei sie
verpflichtet ist, dadurch zur vollen Wahrheitsermittlung beizutragen
(Transportfunktion). Ihre Aufgabe liegt im organisatorischen Bereich
der Prozeßförderung und der Prozeßbeendung. Der Anklageprozeß be-
trifft nach österreichischem Verständnis eben nur die Frage, ob und
wann die gerichtliche Inquisition gegen eine bestimmte Person einge-
leitet oder abgebrochen werden soll. Darum steht der Staatsanwalt-
schaft auch im Gegensatz zum deutschen Recht (§ 156 StPO) das Kla-
gerücknahmerecht bis vor Beginn der Urteilsberatung zu (§ 259 Ziff.2).
In dieser weitgehenden Dispositionsbefugnis wird die konsequente und
schärfste Durchführung des Anklageprinzips erblickt98 • Durch diese
Entscheidungsgewalt ist die Staatsanwaltschaft "Herrin des Vorver-
fahrens". Die Beschränkung auf die Antragstellung bedeutet, daß es
ihr verwehrt sein muß, selbst zu ermitteln oder gar Vernehmungen
durchzuführen. Vielmehr hat sie aus dem Stoff, den andere gesammelt
haben, die entlastenden und belastenden Umstände zu sichten und zu
sammeln und zur Antragstellung auszuwerten.

97 Vgl. Foregger!Senni, § 2 Anm. I.


98 Vgl. schon Würth, Die österreichische Strafproceßordnung vom 17. Jänner
1850, 1851, S.498; Kaserer (Anm.95), S. 16; Mayer, Die Reformbestrebung auf
dem Gebiete des österr. Strafprocesses, 1874, S. 14 ff.
744 Reinhard Moos

4. Die Differenzierung zwischen dem Beschuldigten und dem gericht-


lich Verdächtigten, der nach § 38 Abs.3 wie ein Beschuldigter behan-
delt wird, ist ebenfalls durch den Zwiespalt zwischen dem materiellen
Gehalt der Rechtsposition der Verfahrensbeteiligten und ihrer forma-
len Einstufung gekennzeichnet: Einerseits impliziert die Vernehmung
des Verdächtigen durch das Gericht nach § 38 Abs.3, daß es ihn der
Tat, über deren Begehung er als Verdächtiger vernommen wird, auch in-
haltlich tatsächlich verdächtigt, das heißt im materiellen Sinne beschul-
digt. Der Untersuchungsrichter muß darum vor der Vernehmung zur Sa-
che den Verdächtigen nicht anders wie einen formell Beschuldigten über
den Verdacht informieren99 • Würde die StPO jedoch andererseits zu-
lassen, daß der solcherart beschuldigte Verdächtige auch ein "Beschul-
digter" ist, so wäre das nach formalem Prozeßverständnis ein Rückfall
in den reinen Inquisitionsprozeß, denn der Anklageprozeß wird ent-
scheidend dadurch gekennzeichnet, daß die Beschuldigung allein dem
Staatsanwalt zukommt. Das Gericht würde sich an seine Stelle setzen
und damit in eine Parteirolle verfallen. Die Beschuldigung kann so-
mit nur in der Macht einer vom Gericht streng getrennten Instanz lie-
gen, und sie kann nur im formellen Sinne verstanden werden.

5. Damit ist der Wirkungskreis der Staatsanwaltschaft begründet


und begrenzt. Ihre Existenz als Beschuldigungsinstanz verweist sie
einerseits selbst in die "Parteilichkeit", die schon deshalb gegeben ist,
weil sie die Beschuldigung ausspricht, auch wenn sie sich sachlich noch
so sehr um die objektive Wahrheitserforschung bemüht. Eigene Ermitt-
lungen der Staatsanwaltschaft wären begriffsnotwendig "parteilich"
und bleiben ihr deshalb versagt.
Die Parteirollen des Anklägers und des Beschuldigten garantieren
die ebenfalls nur formal zu verstehende Unparteilichkeit des Gerichts.
Obwohl es als Untersuchungsinstanz den Verdächtigen inhaltlich be-
schuldigt, ist es unparteilich, weil es ihn nicht förmlich beschuldigt.
Anders darum, wenn es den Verdächtigen gern. § 38 Abs.3 nur wie
einen Beschuldigten behandelt: Dann bleibt es begrifflich unparteilich
und gewährt dazu noch großzügig liberale Vergünstigungen. Der wirk-
liche Inhalt einer Prozeßrolle wird zwar empfunden und darum in der
Wirkung angeglichen, begrifflich zählt er aber nicht. Die Betrauung
der Gerichte mit der unmittelbaren eigenen Untersuchungstätigkeit
in der Hauptverhandlung berührt deshalb ebenfalls nicht ihre Unpar-
teilichkeit. Das wird besonders beim Bezirksgericht deutlich, bei dem
derselbe Richter, der die Vorerhebungen führt (§ 452), auch erkennender
Richter in der Hauptverhandlung ist. Die Tatsache allein, daß ein Straf-
antrag des Anklägers erhoben wird, beseitigt schon formal den In-

GD v~l. § 199 Abs. 2 i. V. ffi. § 88 Abs. 2, § 38 Abs. 3.


Beschuldigtenstatus und ProzeßrechtsverhäItnis 745

quisitionsprozeßl oo • Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß der


Ankläger beim Bezirksgericht "nicht rechtskundig" ist (§ 448). Diese
Unparteilichkeit des Gerichts in dem als Dreiecksverhältnis definierten
Prozeß ist ein Produkt formalen dialektischen Denkens: Die den Straf-
prozeß kennzeichnende Antithese zwischen staatlicher Untersuchungs-
rnacht und bürgerlicher Freiheit wird zwischen den gegnerischen Par-
teien ausgetragen und löst sich in der Synthese der richterlichen Un-
parteilichkeit auf.

6. Der Beschuldigte kann schließlich nach der Vorstellung dieses zi-


vilprozessualen Denkmodells das Gericht nicht als seinen Gegner emp-
finden, weil die Gegnerrolle allein vom Ankläger wahrgenommen wird.
Dadurch wird ihm die "Wohltat eines Gegners" erwiesen. Gleichwohl
gibt es keine Verteidigungsrechte gegen die Staatsanwaltschaft, son-
dern nur gegen das Gericht. Vom Parteiprozeß her ist das nicht zu er-
klären, wohl aber vom Anklageprinzip her, denn die Staatsanwalt-
schaft transportiert nur den Fall zum Gericht. Dieses wiederum ist
nach dem Parteiprinzip aber über jedes Verurteilungsinteresse erhaben.
Prinzipiell wäre eine Verteidigung gegen das unparteiliche Gericht
nicht nur unnötig, sondern sie verletzte auch die Würde des Gerichts1Ol •
Das Anklageprinzip läßt hingegen die richterliche Inquisitionsmacht
bestehen. Die Umdeutung in einen Parteiprozeß verfälscht die wirk-
liche Prozeßstruktur, unterstützt von der Lehre vom Prozeßrechtsver-
hältnis.
Das ProzeßrechtsverhäItnis macht bereits an sich den Beschuldigten
zum selbständigen Rechtssubjekt und stellt ihn dem Staatsanwalt gleich.
Die Inhaltsausfüllung durch konkrete Rechte ist bei dieser formalen
Konstruktion begrifflich nicht zwingend nötig. Der Beschuldigte hat

100 Dieses Formaldenken mit der Verwechslung von Form und Inhalt
kommt besonders gut bei Gleispach zum Ausdruck: Der Anklagegrundsatz be-
deutet nur "Trennung der Verfolgung von richterlicher Tätigkeit" (S.47). Er
schafft den Inquisitionsprozeß ab, führt im übrigen aber nicht dazu, "die Vor-
züge des Inquisitionsprozesses preiszugeben" (S. 44). Darum bedeutet die rich-
terliche Inquisitionsmacht "nicht ein... Zugeständnis an das Inquisitions-
prinzip" (S. 46). Auf diese Weise läßt sich also der Inquisitionsprozeß (im for-
mellen Sinne) abschaffen und gleichzeitig (im materiellen Sinne) weiterführen.
Es wird auf zwei verschiedenen Ebenen argumentiert und die Argumente der
einen Ebene werden für die andere verwendet. So gilt die Form für den Inhalt.
101 Gleispach, S.46, argumentiert umgekehrt: Daß der Beschuldigte dem
Ankläger gegenübersteht, führt dazu, ihm prozessuale Rechte gegen das Ge-
richt einzuräumen. Dieses ist in seiner Untersuchungsmacht jedoch "souve-
rän" und daher unparteilich. Kraft seiner Aufgabe ist es nur mehr objektiv
(S. 51). - Das erinnert an das formallogisch konsequente Verteidigerverbot
im Inquisitionsprozeß, das sich daraus ergab, daß der Richter "die Wahrheit
mit allen Umständen von Amtswegen zu erheben" hatte, "mithin die Ver-
theidigung der Unschuld in der Pflicht des Kriminalrichters bereits mitbe-
griffen" war, vgl. Allg. Kriminal-Gerichtsordnung (abgek. KGO) 1788, § 83,
ähnlich StG 1803, 1. Teil, § 337.
746 Reinhard Moos

unabhängig vom Prozeßrechtsverhältnis teilweise schon vorher prozes-


suale Rechte und nachher hat er nicht unbedingt mehr. Die Subjekt-
qualität des Beschuldigten kraft des Prozeßrechtsverhältnisses ist eine
beliebig ausfüllbare leere Begriffshülse. Freilich ist die Gewährung
von einzelnen Rechten im Rahmen des Prozeßrechtsverhältnisses be-
absichtigt102 • Sie werden dem Beschuldigten aber erst zunehmend in
späteren Prozeßphasen gewährt, nachdem die Untersuchungen gegen ihn
jeweils abgeschlossen sind.
Die Rechte des Beschuldigten im Vorverfahren unterscheiden sich
vom Inquisitionsprozeß durch das schon erwähnte Recht, im Gegensatz
zum Zeugen nicht zu wahrheitsgemäßer Aussage verpflichtet zu sein103 ,
durch das Recht auf einen Verteidiger, auf Einsicht der Akten beim
Gericht und auf unkontrollierte Besprechung in der Untersuchungs-
haft (§ 45). Die Aussagefreiheit wird jedoch dadurch entwertet, daß der
Untersuchungsrichter gern. § 199 Abs. 1 den Beschuldigten zu ermahnen
hat, "der Wahrheit gemäß" zu antworten. Der Wert des Akteneinsichts-
rechts hängt vom guten Willen des Richters ab, der wichtige Akten-
stücke davon ausnehmen darf (§ 45 Abs. 1), und das unkontrollierte
Besprechungsrecht mit dem verhafteten Beschuldigten besteht nicht
bei Verdunkelungsgefahr (§ 45 Abs. 2). Auch erfolgt die Belehrung über
das Recht zur Verteidigerbeiziehung, die für das Vorverfahren sO wich-
tig ist, ausdrücklich erst nach dessen Abschluß bei der Mitteilung der
Anklageschrift (§ 41 Abs.1). Verteidiger und Staatsanwalt dürfen bei
der Vernehmung des Beschuldigten nicht anwesend sein (§ 198). Jeder
Beschuldigte hat jedoch das (offenbar nicht selbstverständliche) Recht,
während der Vernehmung sitzen zu dürfen (§ 198 Abs. 2). Bei Beratun-
gen wichtiger Fragen der Voruntersuchung in der Ratskammer darf der
Staatsanwalt anwesend sein und Anträge stellen, nicht aber der Be-
schuldigte oder sein Verteidiger (§ 94).
Der Schutz des Beschuldigten vor einer Geständniserpressung durch
Zwang und Drohung (§ 202), der gern als ein besonderes Beschuldigten-
recht angeführt wird, wurde dem Verdächtigen nach Abschaffung der
Folter noch zu Zeiten des Inquisitionsprozesses eingeräumt104 • Die StPO
knüpft an dieses Beweismethodenverbot aber kein Verwertungsverbot.
Ferner bestand auch schon damals das Recht, wenigstens über den Ge-
genstand der Vernehmung informiert zu werdenlos. Außerdem wurde
schon früher dem Verdächtigen das "unbeschränkte Recht" gewährt, sich

102 Vgl. Gleispach, S.46; auch LohsinglSerini, S. 178, der in der ungleichen
Ausstattung der Prozeßrollen immerhin "einen inquisitorischen Zug" sieht.
103 Vgl. § 203 im Gegensatz zu KGO §§ 109, 110 und StG 1803, 1. Teil, §§ 363,
364.
104 Vgl. StG 1803, 1. Teil, § 368.
105 Vgl. StG 1803, 1. Teil, §§ 292, 337.
Beschuldigtenstatus und Prozeßrechtsverhältnis 747

bei der Vernehmung überhaupt rechtfertigen und dem Richter Entla-


stungsbeweise an die Hand geben zu dürfen 106 • Vor allem aber gewährte
der Inquisitionsprozeß jedermann das Recht, nicht "um eines Verbrechens
willen zur Verantwortung gezogen" zu werden, ohne daß bestimmte Ver-
dachtsgründe, die gesetzlich genau festgelegt wurden, vorhanden wa-
ren, "worauf diese Beschuldigung gegründet wird"107. Schließlich steht
das Beschwerderecht nach § 113 allen zu, die sich durch Verfügungen
oder Verzögerungen des Untersuchungsrichters beschwert erachten, es
ist kein spezielles Recht des Beschuldigten. Bei all diesen Rechten kann
es sich nicht um Ausflüsse des sich aus dem Anklageprinzip ergebenden
Prozeßrechtsverhältnisses handeln. Die Rechte des Beschuldigten und da-
mit seine SubjektsteIlung folgen mithin nicht formal aus der Prozeß-
konstruktion, sondern nur materiell aus der mehr oder weniger großen
liberalen Rechtskultur, die sich jeweils im Gesetz niederschlägt.

VI. Wandlung des Vorverfahrens und der Beschuldigtenbegriff

1. Die Praxis hat sich von den Vorstellungen des Gesetzes vor allem
insoweit entfernt, als der Richter nicht mehr die reguläre Ermittlungs-
instanz des Vorverfahrens ist, sondern vielfach von der Polizei und
Gendarmerie verdrängt wurde. Diese ermitteln von sich aus möglichst
anklagereif, die Staatsanwaltschaft bleibt weit mehr, als es vom Ge-
setz ursprünglich gewollt war, auf die Entscheidung über die unmit-
telbare Anklageerhebung beschränkt. Diese Entwicklung ist schon des-
halb unvermeidlich, weil der Untersuchungsrichter nicht über die Aus-
bildung und Hilfsmittel eines Kriminalisten verfügt. Mit dem Fort-
schreiten der Technik wird sich dieser Mangel noch mehr vergrößern.
Der Untersuchungsrichter in der Voruntersuchung wiederholt in der
Regel nur die polizeilichen Vernehmungen. Die StPO begünstigt diese
Entwicklung, indem sie der Polizei die unmittelbare Untersuchungs-
rnacht bei Vernehmungen zubilligt, während sie sie dem Staatsanwalt
wegen des al1f die AntragsteIlung beschränkten Anklageprinzips ver-
sagt (§ 88 Abs. 3). Die Tätigkeit der Polizei steht der des Untersuchungs-
richters weit näher als jener der Staatsanwaltschaft, denn sie ist keine
Partei; ähnlich wie das Gericht kann sie niemanden beschuldigen.
Für den Verdächtigen bedeutet das, daß er vor der Anklage nur
noch in Ausnahmefällen zum Beschuldigten wird oder einem solchen
nach § 38 Abs. 3 gleichsteht. Diese Entwicklung soll durch die Straf-
prozeßreform auch im Interesse der Verfahrensbeschleunigung gesetz-

106 § 199; vgl. KGO § 83, StG 1803, 1. Teil, §§ 337, 372.
107 Vgl. StG 1803, 1. Teil, § 258. So schon im Prinzip die Const. Crim. The-
resiana Art. 25 § 11 als Voraussetzung der Spezialinquisition; vgl. auch KGO
§ 51 zur Ablieferung an das Kriminalgericht.
748 Reinhard Moos

lich festgeschrieben werden 108 , denn die Einschaltung des Untersu-


chungsrichters zwischen polizeiliche Vorerhebungen und Anklage ver-
zögert das Vorverfahren beträchtlich, und durch die Wiederholung der
polizeilichen Vernehmungen durch den Richter werden die Aussagen
nicht glaubwürdiger.
2. Soll der Verdächtige im polizeilich-staatsanwaltschaftlichen Vor-
verfahren künftig nicht benachteiligt werden, so muß er die Rechte
eines Beschuldigten erhalten. Dazu könnte sich die Ausdehnung des
§ 38 Abs.3 anbieten l08 , wonach zur Gleichstellung des Verdächtigen
mit dem Beschuldigten genügen müßte, daß er als Verdächtiger von
der Sicherheitsbehörde vernommen oder zu diesem Zwecke vorgeladen
oder ohne richterlichen Haftbefehl in Verwahrungshaft genommen
wird. § 38 Abs.3 paßt jedoch systematisch nicht für polizeiliche Verfol-
gungsakte. Diese Vorschrift überspringt nur eine zeitliche Stufe der
Prozeßentwicklung, indem sie den Verdächtigen so behandelt, als ob
er schon beschuldigt worden wäre. Nur derjenige kann aber "als ein
Beschuldigter behandelt" werden (vgl. auch § 363 Ziff. 1), der auch ohne
förmliche Anschuldigung vor den Richter kommt. Eine Beschuldigung
gegenüber der Polizei scheidet von vornherein aus, denn nach dem
Anklageprinzip in Verbindung mit der Lehre vom Prozeßrechtsverhält-
nis ist eine Beschuldigung nur gegenüber dem Gericht denkbar. Eine
Ausdehnung des Verdächtigenschutzes über die Analogie des § 38
Abs. 3 hinaus würde darum entweder die innere Berechtigung dieser
Ausnahmevorschrift sprengen oder die formale Prozeßrechtslehre, die
zu dieser Ausnahmevorschrift paßt, ad absurdum führen. Das Pro-
blem ist nicht mehr systemkonform zu lösen, sondern zwingt zu einer
neuen Definition des Beschuldigten, die vom Prozeßrechtsverhältnis
Abschied nimmt und sich auch von der Anklage löst. Eine Gleichstel-
lung mit § 38 Abs.3 wäre außerdem sachlich nicht ausreichend, denn
es gibt außer der behördlichen Vernehmung weitere Untersuchungs akte,
für die bereits der Beschuldigtenstatus bereitstehen sollte.

VII. Kritik des zivilistischen Denkens


Die Übertragung der Lehre vom Prozeßrechtsverhältnis auf den
Strafprozeß ist ein Erbe der Epoche der formalen Konstruktionsjuri-
sprudenz des letzten Jahrhunderts, das entgegen der in Österreich noch
immer herrschenden Auffassung den strafprozessualen Eigentümlich-
keiten nicht gerecht wird und zu einer Stagnation und Verarmung der
StrafprozeßIehre führt.
108 Vgl. Djner, Justizprogramm, XVI. GP, S.18; Gesetzesvorhaben im
Bereich des Strafrechts, S.24 (Informationsschriften des Justizministeriums
1983/1 und 1983/2).
109 So Bertel, 2. Aufl., Rdnr. 250 ff.
Beschuldigtenstatus und Prozeßrechtsverhältnis 749

1. Der Beginn eines Zivilprozesses mit der Klage, die drei Seiten in
den Prozeß einbindet, paßt nicht für den Strafprozeß, bei dem die Be-
schuldigung oder Anklage nur eine Zäsur zwischen den Prozeßstatio-
nen darstellt. Es ist nicht ersichtlich, wieso das vor der Anschuldigung
liegende amtswegige Verfahren, das von Anfang auf das endliche Ziel
einer Verurteilung ausgerichtet ist llO , kein Strafprozeß sein sollte. Die
Prozeßdefinition im weiteren oder engeren Sinne je nach formalen
Stadien, die dazu noch das behördliche Vorverfahren nicht einbezieht,
ist unnötig kompliziert und lebensfremd. Der Prozeß muß vielmehr,
wie in anderen Ländern auch, umfassend definiert werden. Er beginnt
nach der Offizialmaxime mit dem ersten staatlichen Tätigwerden bei
irgend einem Verdacht, nicht nur durch das Gericht und auch gegen
Unbekannte. Schon deshalb kann der Strafprozeß kein dreiseitiges
Verhältnis sein. Er setzt am Anfang nicht einmal die Einbeziehung
irgendeiner Person außer den Vertretern der Staatsmacht voraus, ge-
schweige denn einen Beschuldigten111 •
2. Die Prozeßvoraussetzungen sind in Wahrheit keine solchen, denn
der Prozeß läuft auch, wenn sie fehlen. Sie sind nicht vor, sondern wäh-
rend des Prozesses zu prüfen und betreffen die Zulässigkeit einzelner
Prozeßschritte. Sie schaffen oder bedingen darum kein Prozeßrechts-
verhältnis112•
3. Die Anrufung eines Gerichts durch den Staatsanwalt hat zwar
äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Zivilprozeß, der Sache nach
handelt es sich aber nicht um das Einklagen eines "Straf-Anspruchs",
sondern um die Durchsetzung des ius puniendi durch eine Aufteilung der
Staatsmacht in verschiedene Funktionen, um eine möglichst objektive
Wahrheitsfindung zu gewährleisten und den Einfluß von Politik und
Verwaltung auf die Rechtsprechung in rechtsstaatlicher Weise zu be-
grenzen. Diese Freistellung des Gerichts von der Initiative zur Straf-
verfolgung bedeutet nicht, daß es nur Entscheidungsinstanz über einen
Parteienstreit wäre. Es bleibt vielmehr - im Prinzip nicht anders als
im Inquisitionsprozeß - auch Untersuchungsinstanz. Die These Gla-
sers, daß die zivilprozessuale Verhandlungsmaxime und das strafpro-
110 Vgl. Eb. Schmidt, Deutsches Strafprozeßrecht, Rdnr. 41.
111 Vgl. Eb. Schmidt (Anm. 110), Rdnr. 37; Moos, Reform, S. 114.
112 Vgl. Goldschmidt, S.4 ff.; Eb. Schmidt, Lehrkommentar, I, Rdnr.46,
113 ff., 119. - Die österr. StPO wurde überdies vor der Entdeckung der Pro-
zeßvoraussetzungen konzipiert, sie kennt noch keine Trennung in Sach- und
Prozeßurteil, sondern nur in Verurteilung, Freispruch und Unzuständigkeits-
urteil. Es wird nicht erkannt, daß das Unzuständigkeitsurteil und die Frei-
sprüche wegen fehlender Prozeßvoraussetzungen dogmatisch auf derselben
Stufe stehen. Fehlende Prozeßvoraussetzungen und materielle Rechtsmängel
werden gleichbehandelt bzw. gar nicht differenziert, vgl. § 281 Abs.1 Ziff. 9 b,
e, so auch § 259 Abs.3. Insoweit ist das österreichische Strafprozeßrecht noch
hinter den Verdiensten von Bülow zurückgeblieben.
750 Reinhard Moos

zessuale Anklageprinzip einander gleichstehen und daraus ein "Rechts-


streit zweier Parteien" und "das Parteienverhältniss wie im Civilpro-
zesse" folge 11 a, trifft nicht zu.

4. Die einzelnen Prozeßstationen sind Teile des dynamischen, sich


ständig verändernden Gesamtgefüges des Prozesses. Das Handeln aller
Verfahrensbeteiligten geschieht im Rahmen des Gesetzes und ist darum
je für sich und in der Summe rechtliches Handeln. Daraus folgt aber
nicht, daß der Strafprozeß auf einem festen Grundverhältnis gegen-
seitiger Rechtsbeziehungen beruht.
Für den Zivilprozeß mögen sich die Begriffe der Prozeßstandschaft
bei der Rechtsnachfolge im Prozeß und die Differenzierung von Par-
teienhäufung und einheitlicher Streitpartei am besten mittels des Pro-
zeßrechtsverhältnisses konstruieren lassen 114 • Dem Strafprozeß sind
diese Begriffe bezeichnenderweise unbekannt. Die Zurückführung des
Strafprozesses auf ein bloßes Rechtsverhältnis läßt außerdem die Span-
nungsverhältnisse zwischen den Handlungen und Handlungserwartun-
gen der Prozeßbeteiligten, die sich in einem dialektischen Zusammen-
spiel zu einem Ganzen zusammenfügen115 , und die wertbezogene Sinn-
erfassung des Prozeßgeschehens, die in der jeweiligen Prozeßlage ihren
Ausdruck finden, außer acht1l6 •

5. Der Ausdruck "Hauptverhandlung" ist unrichtig, denn es wird


gerade nicht "verhandelt". Dieser Verfahrens abschnitt ist zwar äußer-
lich dem zivilprozessualen Muster der Kontradiktorietät angenähert,
er gibt den Verfahrensbeteiligten in Österreich aber nur erhöhte Mit-
wirkungsrechte an der "souveränen" richterlichen Inquisition unter
der Kontrolle der Öffentlichkeit. Er kennt keine gegenseitige Beweis-
last für das Bestehen eines Anspruchs, die typischen Parteirechte des
Zivilprozesses fehlen, der Staatsanwalt ist auch nach Erhebung der
Anschuldigung zur Objektivität verpflichtet. Die Gleichberechtigung
der Verfahrensbeteiligten in der Hauptverhandlung darf nicht den
Blick davor trüben, daß die Wertebenen von Anfang an ungleich sind
und ungleich bleiben: Der Staatsanwalt betreibt das Vorverfahren
gegen den Verdächtigen mit den Machtmitteln des Staates, der Ein-
satz des Untersuchungsrichters ist eines seiner Mittel. Durch die An-
klage verläßt er diese Position nicht, um sich mit dem Beschuldigten
auf eine Stufe zu stellen. Er steht auch nicht dadurch dem Angeklagten
gleich, daß er den Richterspruch ebenfalls zu respektieren hat, denn die

113 Glaser, Handbuch des Strafprozesses, Bd. I, 1883, S. 26.


114 Vgl. Holzhammer, Osterreichisches Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., 1976, S. 160.
115 Vgl. Meyer, Dialektik im Strafprozeß, 1965, bes. S. 45 ff., 71 ff., 73; Hen-
kel, S.113.
116 Vgl. Goldschmidt, S. 146 f., 253 f.
Beschuldigtenstatus und Prozeßrechtsverhältnis 751

Wirkungen für den Ankläger können nie dieselben sein wie für den An-
geklagten.

6. Ein bloß formaler Parteibegriff, der lediglich bedeuten soll, daß


zwei Verfahrensbeteiligte vom Gericht das Recht nehmen117 , ist ein
schlechter Kompromiß, der keinen Gewinn bringt, sondern nur ver-
wirrt. Er schließt teils Bezüge zum echten Parteiverfahren ein, teils
meint er gerade dessen Gegenteil und er ist außerdem höchstens für
das Verfahren ab Beginn der Anklageerhebung anwendbar. Das öster-
reichische Strafverfahrensrecht ist ein Musterbeispiel dafür, daß man
den formalen Parteibegriff wegen der Preisgabe der klaren Unter-
scheidung zum echten Parteiprozeß vermeiden muß 118 • Dieser Partei-
begriff gibt dem Beschuldigten auch an sich noch keine konkreten Mit-
wirkungsrechte, die ihn tatsächlich inhaltlich zum Prozeßsubjekt ma-
chenlU • Dem formalen Parteibegriff kommt vielmehr allzu leicht eine
Alibifunktion ZU120 , denn mit der Begründung, daß ohnehin der Par-
teiprozeß schon verwirklicht sei, läßt er Ansätze zu einer Umorien-
tierung in Richtung auf einen echten Parteiprozeß, durch den der Rich-
ter stärker auf seine Entscheidungsfunktion zurückgedrängt wird,
nicht zu. Als wesentliches Argument für die Deutung des österreichi-
schen Strafverfahrens als Parteiprozeß führt Nowakowski "Traditio-
nen und daran geknüpfte Empfindungen" anl2l • Aber auch solche kön-
nen sich im Laufe der Zeit doch wohl wandeln, wenn einsichtig wird,
daß sie für das Prozeßverständnis und die Fortentwicklung der Straf-
prozeßrechtslehre nicht förderlich sind. Die unspezifische Verwendung
des Wortes Partei im allgemeinen österreichischen Sprachgebrauch für
den Träger eines Rechtsanspruchs oder rechtlichen Interesses gegen eine
Behörde (§ 8 A VG) ist noch längst kein Grund, es als dogmatisch mißver-
ständlichen Terminus des Strafprozeßrechts zu gebrauchen. Es genügt,
von den Verfahrensbeteiligten zu sprechen 122 •

117 Vgl. Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rdnr.l07; Henkel, S.I11; Nowa-


kowski, JB11955, 3; ders., in: Verh. 45. DJT I, 2, S. 14.
118 So auch die Forderung von Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rdnr. 107;
Henkel, S.112; a. M. Nowakowski, JBl 1955,3. Nowakowski bekennt sich zum
formellen Parteibegriff und zugleich zu einigen rechtspolitischen Tendenzen
des materiellen Parteibegriffs. Verstehe man die Bezeichnung als Parteipro-
zeß nur derart eingeschränkt, dann sei sie "weder nichtssagend noch irrefüh-
rend" (45. DJT I, 2, S. 15). Diese auch sonst zu beobachtende Methode (s. Anm.
89), einen Begriff, der nicht im allgemeinen verwendeten Sinne stimmt, mit
einem entsprechenden Vorbehalt zu verwenden, dient nur der begrifflichen
Logik, aber nicht der Förderung der inhaltlichen Wahrheit. Am Ende gilt das
Gesagte zwar nicht, es hat aber doch etwas auf sich.
m Vgl. Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rdnr. 103 f.; ders., Strafprozeß und
Rechtsstaat, S. 292, 305; Henkel, S. 112 f.; Moos, Reform, S. 114.
120 V gl. auch Moos, Reform, S. 117.
121 Vgl. Nowakowski, JB11955, 3.
122 Vgl. Moos, Reform, S. 119.
752 Reinhard Moos

7. Der Parteibegriff verstellt die Sicht auf das formale Verständnis


des Anklageprinzips, das die wichtigste Eigenart des österreichischen
Strafverfahrens ist. Dieses Prinzip betrifft nur eine Organisationsform
der staatlichen Gewalt in sich selbst. In Verbindung mit dem Offizial-
prinzip bezweckt sie die bessere Wahrheitsfindung. Diese wird aber um-
gekehrt durch die Betonung der Rechte des Beschuldigten erschwert.
Das ist auch der Grund, warum dessen Rechte trotz der Einführung
der Staatsanwaltschaft und des angeblichen Parteiprinzips so küm-
merlich ausgestattet sind und seit hundert Jahren die Forderung nach
einer besseren Rechtsposition des Beschuldigten nicht verstummt.
All das hat der Österreicher Otto Friedmann bereits 1890 gegen die
herrschende Strafprozeßrechtslehre herausgearbeitet123• Er erkannte
die Gegenüberstellung von Ankläger und Beschuldigtem als Prozeß-
subjekte nur als eine scheinbare, als eine Gleichstellung in der Form,
nicht im Prinzip. Die formale Anerkennung des Beschuldigten als Pro-
zeßsubjekt durch die Gleichstellung des Anklageprinzips mit der Ver-
handlungsmaxime verbessere die Lage des Beschuldigten noch nicht.
Inhaltlich werde der Ankläger durch seine Dispositionsbefugnis, der
Beschuldigte aber nur durch eine bessere Behandlung als im Inquisi-
tionsprozeß zum Prozeßsubjekt. Das formale akkusatorische Prinzip
sei "begrifflich vereinbar mit dem drückendsten und entwürdigendsten
Subjectionsverhältnisse des Angeklagten". Maßgeblich für die Verbesse-
rung der Lage des Beschuldigten sei nur "die erhöhte Taxirung der bür-
gerlichen Freiheit durch den Zeitgeist" 124. Friedmann traf damit den
Kern der Sache, ohne freilich Gehör zu finden.

VIII. Materielle Beschuldigtendefinition


Die Definition des Beschuldigtenstatus in Österreich sollte künftig
vom Prozeßrechtsverhältnis gelöst und diese Lehre endgültig der Ge-
schichte zugewiesen werden. Sie kompliziert das Prozeßrecht in ho-
hem Maße, weil sie sachfremd ist. Alle Bereiche, in welche diese Lehre
hineinspielt, lassen sich ohne sie einfacher und besser lösen. Die An-
leihen beim Zivilprozeß führen zu einer Prozeßdogmatik, die sich
ihres wirklichen historischen und systematischen Standortes gar nicht
bewußt ist und sich in einer begrifflichen Scheinwelt bewegt. Die Eigen-
art des Zivilprozesses, daß nur ein Kläger jemanden zum Beschuldig-
ten machen kann, wird nicht den materiellen Erfordernissen gerecht,
die nach heutigen rechtsstaatlichen Auffassungen an den Beschuldigten-
status gestellt werden.
123 Vgl. Friedmann, Zur Theorie des Anklageprocesses, GrünhutsZ, Bd. 17
(1890), 41 ff., 55 ff., 64.
124 Vgl. Friedmann, 63 f.; auch Moos, in: Kolloquium Strafrecht (Anm.5),
5.40.
Beschuldigtenstatus und Prozeßrechtsverhäl tnis 753

Entfällt die förmliche Anschuldigung durch den Ankläger als maß-


gebliches Kriterium, so wird der historische Zustand vor der Einfüh-
rung des Anklageprozesses in gewisser Weise wiederhergestellt: Auch
der Inquisitionsprozeß kannte den Beschuldigten im Unterschied zum
bloß Verdächtigen, allerdings nicht, um ihn wegen der drohenden
schwerwiegenden Eingriffe zum Träger von Rechten gegen die Justiz
zu machen, sondern um diese Eingriffe - wie die besondere Rufschä-
digung, die Verhaftung, die "peinliche Frage" und schließlich die Ur-
teils fällung - erst von einem Prozeßstadium an zuzulassen, in welchem
sich nach Abschluß einer allgemeinen Untersuchung der Tat (Erhe-
bung des corpus delicti) der Verdacht aus bestimmten Gründen auf
diese Person spezialisierte l25 . Dazu wurde die Annahme des Verdachts
nach Maßgabe gesetzlich genau benannter Verdachtsmomente (Anzei-
gungen) vorgeschrieben126 • Läßt man diese Beweisregeln beiseite, so
bleibt als materielle Voraussetzung des Beschuldigtenstatus die objek-
tivierte Individualisierung des Verdachts übrig, die schon durch das
StG 1803, 1. Teil, § 259 mit Worten umschrieben wurde, die auch für
die Zukunft gelten können: "Umstände, welche zwischen dem Verbre-
chen und einer Person einen solchen Zusammenhang wahrnehmen
lassen, daß nach unparteyischer überlegung daraus wahrscheinlich
wird, diese Person habe das Verbrechen begangen." In ähnlicher Weise
spricht etwa für das schweizerische Recht Hauser davon, daß die Be-
schuldigung dann angebracht ist, "wenn jemand vom Standpunkt des
objektiven Betrachters als Täter, Gehilfe oder Anstifter in Frage
kommt"127.
Auch der spezielle Verdacht allein kann aber nicht genügen, hinzu-
kommen muß seine Konkretisierung in einem staatlichen Verjolgungs-
akt, dem gerade dieser Verdacht final zugrunde liegt. Nötig ist somit
ein objektiver und subjektiver innerer Zusammenhang zwischen
dem Verfolgungs akt und der als Täter (im weiteren Sinne des § 12
öStGB) in Frage stehenden Person l28 . Der Zusammenhang kann sich
auch erst während einer zunächst anders intendierten Verfolgungshand-
lung ergeben, diese kann also ihr Wesen ändern und zu einem Inkul-
pationsakt werden, sobald sie ziel gerichtet auf die Verantwortung

125 Vgl. StG 1803, 1. Teil, §§ 258 ff., §§ 281 ff., §§ 334 ff. Diese Vorschriften re-
gelten das gerichtliche Verfahren gegen einen schon damals sog. "Beschuldig-
ten"; vgl. auch Anm. 107.
126 Vgl. CCTh. Art. 25 §§ 11, 12 und Art. 27, 29, 38; StG 1803, 1. Teil, §§ 259 ff.
127 Hauser, Kurzlehrbuch des schweizerischen Strafprozeßrechts, 2. Aufl.
1984, S. 88; auch ders., Kriminalistik 1978,369.
128 Vgl. auch Hauser, Kriminalistik 1978, 369: Ein Strafverfahren, das "...
in erkennbarer Weise darauf abzielt, gegen die betreffende Person strafrecht-
lich vorzugehen". Für eine solche Kombination subjektiver und objektiver
Merkmale auch Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1224 und Fincke, ZStW 95
(1983), S.937, 446: erste Manifestation des Verfolgungswillens in personam.

48 Festschrift für H.-H. Jescheck


754 Reinhard Moos

dieser Person als Täter abstellt. Welches Organ dabei tätig wird, spielt
im Gegensatz zur Anklage keine Rolle. Verfolgungsorgan im mate-
riellen Sinne ist sowohl der Richter als auch die Staatsanwaltschaft
oder die Polizei. Dieser Verfolgungsakt besteht nicht unbedingt in einer
Vernehmung. Was sich einerseits äußerlich als solche darstellt, kann
inhaltlich auch nur die informelle Anhörung einer Person sein, die zwar
verdächtig ist, aber vorerst weder als Zeuge noch als Beschuldigter
qualifiziert werden kann. Sie verpflichtet den Informanten zu nichts128 •
Andererseits sind auch vor der Vernehmung bereits Verfolgungsschritte
denkbar, die den Beschuldigtenstatus auslösen, wie etwa Ermittlungs-
schritte oder gar die Festnahme (vorläufige Verwahrung). § 32 Abs.2
VStG läßt deshalb mit Recht für die Beschuldigung jede gegen den
Verdächtigen als solchen gerichtete Amtshandlung genügen. Das
Wesentliche am Beschuldigtenstatus ist somit, daß gegen jemand als
Verdächtigen eine faktische Verfolgungshandlung gesetzt wird 13O • Ein
konstitutiver Beschuldigungsvermerk in den Akten ist nicht nur un-
nötig, sondern auch schädlich, weil es gerade darauf ankommt, von
der "Ernennung" zum Beschuldigten endlich Abstand zu nehmen, denn
sie ermöglicht es, die wichtigsten Ermittlungshandlungen gegen eine
Person vor diese Formalisierung zu verlegen13l •
Die im österreichischen Vorverfahren noch fortwirkende Unterschei-
dung der Inquisitionsstufen in die allgemeinen Vorerhebungen bezüglich
der Tat und des Verdächtigen und die spezielle Voruntersuchung gegen
den Beschuldigten sollte überwunden und dieser ganze Verfahrensteil
als ein einheitliches Ganzes gesehen werden. Beschuldigter kann darum
jemand auch bereits mit dem Beginn der ersten Ermittlungen gegen

129 Vgl. zur Einführung dieser Rechtsfigur in die Schweiz seit 1954 Hauser,
Kriminalistik 1978,374 und kritisch Trechsel, in: Gropp, ZStW 95 (1983), S. 1019.
- Die Möglichkeit der Anhörung einer Auskunftsperson darf natürlich nicht
zu einem Verzicht auf die Inkulpation führen. - In Deutschland bejaht von
Müller, in: Karlsruher Kommentar, 1982, § 163 a Rdnr.2; Gössel, Strafver-
fahrensrecht, 1977, S. 53 f.; Fincke, ZStW 95 (1983), S.948; strikt ablehnend
dagegen von Gerlach, NJW 1969, 776 ff., 777 f.: es gibt nur Zeugen und Be-
schuldigte. In Österreich ist die Auskunftsperson bei den autonomen polizei-
lichen Vernehmungen (§ 24) anerkannt. Der Erhebungsbericht über die Aus-
kunft einer "im Zuge polizeilicher Erhebungen befragten Person" (SSt 5/66,
EvBl 1953/130, gemeint sind wohl nur Zeugen) wird nicht als eine Vernehmung
im rechtlichen Sinne angesehen. Er ist sogar dann in der Hauptverhandlung
zu verlesen, wenn richterliche Zeugenprotokolle wegen des Zeugnisverweige-
rungsrechts unverwertbar wären, vgl. MayerhoferlRieder, § 252 E 82, 83, 86
und auch Schwarz, JBl 1954,485 ff.
130 Vgl. auch die gute Formulierung im Entwurf einer StPO für den Kanton
Schaffhausen vom 6. 12. 1983, Art. 37: "Beschuldigter ist, wer von einem Organ
der Strafrechtspflege einer strafbaren Handlung verdächtigt und deswegen
verfolgt wird."
131 So treffend Fincke, Diskussionsbeitrag zu Müller-Dietz, ZStW 93 (1981),
S. 1287; ders., ZStW 95 (1983), S. 942, 947 ff.
Beschuldigtenstatus und Prozeßrechtsverhältnis 755

ihn sein, die Konstruktion des § 38 Abs. 3 wird unnötig. Als Verfahrens-
zäsur, die jemanden zum Beschuldigten macht, bleibt nur die inhaltliche
Wendung der Verfolgung zu einer solchen ad personam übrig. Dem steht
auch nicht Art. 6 MRK, der in Österreich Verfassungs rang hat, entgegen,
dessen Beschuldigtenbegriff "charged with a criminal offence" in deut-
scher Fassung ungenau mit "Angeklagter" übersetzt ist; dieser Begriff
ist vielmehr materiell zu verstehen132 •
Die materielle Betrachtungsweise auch des Verfolgungsaktes muß
schließlich durch die ausdrückliche Information des Beschuldigten er-
gänzt werden, daß nunmehr gegen ihn persönlich ermittelt werde.
Jescheck hat sich im Interesse der materiellen Rechtsstaatlichkeit mit
Recht dafür ausgesprochen, diesen Zeitpunkt "so frühzeitig wie nur
irgend möglich" anzusetzen, und zwar mit der Kenntnis von der Mög-
lichkeit der Zuschreibung der Tat in bezug auf diese Person, weil
sonst dem Beschuldigten die wichtigsten Rechte, wie besonders sein
Schweigerecht und das Recht auf Beratung mit einem Verteidiger, in
dem Augenblick entzogen werden, in dem er ihrer bedarf133 •
Dem materiellen Beschuldigtenbegriff liegt eine größere Empfind-
lichkeit für das Schutzbedürfnis bei staatlichen Eingriffen zugrunde,
als es der formalisierte Beschuldigtenstatus samt der ihn unterstüt-
zenden Lehre vom Prozeßrechtsverhältnis und vom Parteiprozeß ge-
währt. Darum werden derartige Reformvorschläge im Interesse der
Effizienz der Strafverfolgung auf Widerstand stoßen, zumal die for-
male Dogmatik den gewohnten Denkvorstellungen entspricht. Mit de-
ren Fortführung wäre freilich nur einmal mehr dokumentiert, daß
die Definition des Beschuldigten von der Interessenabwägung zwischen
der "bürgerlichen Freiheit" des einzelnen und seiner Unterordnung
unter den Staat und damit vom jeweiligen Zeitgeist abhängt und sich
nicht aus angeblich sachlogisch vorgegebenen Begriffen der Prozeß-
dogmatik ergibt.

132 Vgl. Trechsel, in: Gropp, ZStW 95 (1983), S. 1020 m. w. N. und dort (1024)
in der Sache ebenso Fincke: entscheidend ist nur die Intensität der faktischen
Verfolgung. (Warum Fincke diesen seiner materiellen Theorie entsprechen-
den Begriff "extrem formell" nennt und deswegen begrüßt, ist nicht ersicht-
lich.)
133 Jescheck, in: Gropp, ZStW 95 (1983), S. 1018.
HANS-LUDWIG SCHREIBER

Wie unabhängig ist der Richter?

1.

Die richterliche Unabhängigkeit stellt einen der tragenden Grund-


sätze nicht nur des Strafverfahrens, sondern aller rechtsstaatlich be-
stimmten Gerichtsverfahren dar. Die Verfassungen der meisten Staaten
der Welt in Ost und West bekennen sich zu ihm. GTÜnhut hat seine
Bedeutung dahin formuliert, unter allen Institutionen unseres Rechts-
lebens feiere die Idee des Rechtsstaates ihren höchsten Triumph in der
Unabhängigkeit der richterlichen Entscheidung l • Die Unabhängigkeit
wird als "eines der wichtigsten Prinzipien unserer gesamten Rechtsord-
nung"2, als "Kardinalgrundsatz jeder rechtsstaatlichen Rechtspre-
chung"3 bezeichnet. In der Bundesrepublik Deutschland ist die Unab-
hängigkeit im Grundgesetz (Art. 97), im Gerichtsverfassungsgesetz (§ 1)
und im Richtergesetz (§ 25) verankert. Eine breite, kaum noch über-
sehbare Literatur und inzwischen auch eine umfangreiche Rechtspre-
chung der Richterdienstgerichte haben sich um die Entfaltung der
Konsequenzen des Prinzips bemüht 4 • Andererseits kann es keineswegs
als unproblematischer, gesicherter Besitz angesehen werden. ArthuT
Kaufmann hat im Jahre 1974 zutreffend festgestellt, über die richter-
liche Unabhängigkeit sei in der Nachkriegszeit viel geredet und ge-
schrieben worden, aber eine echte wissenschaftliche Diskussion habe
es eigentlich kaum gegeben5 • Das Grundverständnis der Unabhängig-
keit sei von wenigen Ausnahmen abgesehen nicht ernsthaft zur Dis-
kussion gestellt worden. Arthur Kaufmann weist auf das grundlegend
gewandelte Methodenverständnis hin, dem bisher noch kein Durchbruch
zu einem neuen Verständnis der Stellung des Richters und seiner Un-
abhängigkeit gefolgt sei".

1 Grünhut, Die Unabhängigkeit der richterlichen Entscheidung, in: Bei-


heft 3 zur Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform,
1930, S. 2.
2 Kissel, Gerichtsverfassungsgesetz, 1981, § 1 Rn. 1.
3 Schäfer, in: LöwelRosenberg, 23. Aufl. 1979, vor § 1
GVG Rn. 2.
4 Umfassende Literatur- und Rechtsprechungsnachweise bei Kissel, § 1
Rn. 1 ff.; Schmidt-Räntsch, Deutsches Richtergesetz, 3. Auf!. 1983, § 25 (Vor-
bemerkungen).
5 Arthur Kaufmann, Richterpersönlichkeit und richterliche Unabhängig-
keit, Festsc.~rift für Peters, 1974, S. 295.
758 Hans-Ludwig Schreiber

Dieter Simon hat Tragfähigkeit und Bedeutung der richterlichen


Unabhängigkeit bis in den Grund in Frage gestellt7 • Mit der Konzep-
tion des demokratischen und sozialen Rechtsstaates nach 1945 und dem
übergang der konkreten Verantwortung für die judizielle Vermittlung
von Rechtsstaatsprinzip, Sozialstaatlichkeit und Demokratie auf die
Justiz habe sich "die Substanz des Unabhängigkeitsdogmas des libera-
len Bürgertums weitgehend verflüchtigt"s. Die gesellschaftspolitische
Bedeutung der Unabhängigkeit sei "eher bescheiden"D. Demgegenüber
bekennt sich die Vertreterversammlung des Deutschen Richterbundes
1978 nachdrücklich zur Unabhängigkeit: "Die Verwirklichung von Recht
und Gerechtigkeit erfordert den unabhängigen Richter ... Die Stärkung
der richterlichen Unabhängigkeit bedeutet zugleich eine Stärkung
des Rechtsstaates"lo.
Die folgenden überlegungen sollen angesichts des kontroversen und
unklaren Meinungsstandes einen Beitrag zur weiteren Diskussion lie-
fern. Sie werden Hans-Heinrich Jescheck in Verehrung gewidmet, der
entscheidende Beiträge für die Verbindung rechtsstaatlichen Straf-
rechts und moderner Kriminalpolitik geleistet hat. Die Formulierung
des Themas geht bereits davon aus, daß die Antwort auf die darin
enthaltene Frage nicht nur in der lapidaren Feststellung des Art. 97 I
des Grundgesetzes bestehen kann: "Die Richter sind unabhängig und
nur dem Gesetz unterworfen". Bei dieser Formulierung handelt es sich
um die im Recht auch sonst nicht ungewöhnliche deskriptive Fassung
eines praeskriptiv gemeinten Satzes ll , einen in den Indikativ gekleide-
ten Imperativ, keine bloße Zustandsbeschreibung.

11.

Der Richter soll nicht nur unabhängig, sondern zugleich dem Gesetz
unterworfen sein. Dieser gesetzliche Wortlaut läßt die geschichtliche
Herkunft des Satzes deutlich erkennen. Er stammt aus dem aufge-
klärten Vernunftrecht und hat seine Wurzeln vor allem in der Idee des
naturrechtlich begründeten Gesetzesstaates12 • Die Gerichtsbarkeit soll
der Willkür des Herrschers, seiner Kabinettsjustiz und der Praxis der

• (Fn. 5), S. 299.


7 Dieter Simon, Die Unabhängigkeit des Richters, 1975.
S (Fn. 7), S. 10.
D (Fn. 7), S. 177.
10 DRiZ 1979, 3 ff.
11 So Simon (Fn. 7), S. 1 m. w.N.
12 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auf!. 1967, S. 312 ff.;
Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, 2. Auf!. 1964, Rn. 462 ff. Zur Idee des Geset-
zesstaates und seiner Entwicklung: Schreiber, Gesetz und Richter, 1976,
S. 46 ff.
Wie unabhängig ist der Richter? 759

Machtsprüche entzogen und allein der Herrschaft des Gesetzes unter-


worfen werden. Die Kritik des frühen Vernunftnaturrechts am über-
lieferten Recht und das Abstellen auf die individuelle Vernunft der
Herrscher bzw. Richter hatten zu Unsicherheit und Willkür geführt.
Man verlangte daher ein Belieben ausschließendes, von den Prinzipien
der Vernunft her erneuertes ius certum13 • Die Gerechtigkeitsideale des
Naturrechts sollten in einer systematischen, umfassenden Anordnung
in Gesetzen kodifiziert werden14 • "Gesetz" bedeutet dabei nicht die be-
liebige Anordnung eines Machthabers. Das Gesetz bildet die von der
Vernunft bestimmte, feststehende Regel, es wird z. B. von Locke als
Gegenbild zu willkürlichen, augenblicklichen Entscheidungen gese-
hen1s. Montesquieu versteht die Herrschaft des Gesetzes als Verwirk-
lichung der Freiheit: "Alle Willkür entfällt, wenn die Strafgesetze
jede Strafe der besonderen Natur der Straftat entnehmen". Alles wird
dann nicht von der Laune eines Herrschers, sondern nach der Natur der
Sache geordnet, es ist das vernünftige Gesetz und "nicht der Mensch,
der dem Menschen Gewalt antut"16. Zur Verwirklichung der Gerech-
tigkeit und Freiheit schaffenden Gesetzesherrschaft ist eine Gliederung
und Trennung der staatlichen Gewalten erforderlich. Die richterliche
Funktion ist streng von der gesetzgebenden zu trennen. Soll allein das
qualitativ, nicht bloß formal verstandene, die Freiheit allein verbür-
gende Gesetz herrschen, so darf die richterliche Gewalt überhaupt
keine Gewalt i. S. der Herrschaft von Menschen über Menschen sein,
sondern nur die bloße Vollziehung des Gesetzes. Urteilssprüche dürfen
nie etwas anderes sein, als "eine genaue Formulierung des Gesetzes" 17.
Die Richter haben sich an die Buchstaben des Gesetzes zu halten l8 , sie
sind "der Mund, der die Worte des Gesetzes ausspricht, willenlose
Wesen, die weder seine Schärfe noch seine Strenge zu mildern vermö-
gen"19. Auch Feuerbach folgt dieser Ansicht, wenn er über den Richter
schreibt: "Sein Geschäft soll kein anderes sein, als den gegebenen
Fall mit diesem Buchstaben zu vergleichen und ohne Rücksicht auf
Sinn und Geist des Gesetzes zu verdammen, wenn der Klang des Wor-
tes verdammt, und wenn er losspricht, loszusprechen"20.

13 Schreiber (Fn.12), S. 48 f. mit vielen weiteren Nachweisen; Conrad,


Richter und Gesetz im übergang vom Absolutismus zum Verfassungs staat,
1971.
14 Wieacker (Fn. 12), S. 323 f.; Thieme, Die preußische Kodifikation,
Savigny-Zeitschrift, Germ. Abt., Bd. 57 (1937), S. 357 ff.
16 Locke, Second Treatise 136; vgl. dazu Böcken!örde, Gesetz und gesetz-
gebende Gewalt, 1958, S. 24 ff. Zur Herkunft und Entwicklung des Locke'-
schen Gesetzesbegriffes vgl. Schreiber (Fn. 12), S. 51 f.
16 Montesquieu, Geist der Gesetze, XII 4.
17 (Fn. 16), XI 6.
18 (Fn. 16), VI 3.
19 (Fn. 16), XI 6.
760 Hans-Ludwig Schreiber

Die richterliche Gewalt wird damit nicht für ungebunden, sondern


für unabhängig von der Gewalt des Herrschers erklärt, weil sie allein
der Herrschaft des Gesetzes unterworfen sein soll, dessen Vollzug sie
darstellt. Man versteht die Idee der richterlichen Unabhängigkeit falsch,
wenn man sie nicht auf diesem geschichtlichen Hintergrund der natur-
rechtlich bestimmten Idee des Gesetzesstaates und des Vertrauens in
die materiale Richtigkeit des Gesetzes sieht. Die Unabhängigkeit ist
das Pendant der strikten Bindung an das Gesetz. Der Richter soll frei
von anderen Abhängigkeiten für dieses nicht nur formal als obrig-
keitliche Anordnung verstandene Gesetz sein.
Diese Ideen bestimmen die folgende Entwicklung. Der Montesquieu'
sehe Gesetzesbegriff beherrschte die weitere Ausgestaltung der Verfas-
sungs- und Justizgesetzgebung21 • Das Prinzip der richterlichen Unab-
hängigkeit fand allmählich Eingang in die Verfassungen und Straf-
verfahrensgesetze 22 • Im Entwurf der Frankfurter Reichsverfassung vom
29. März 1849 (Paulskirche) wurde die Unabhängigkeit unter die Grund-
rechte aufgenommen23 • Dabei setzt sich die sachliche Unabhängigkeit
leichter und früher als die persönliche durch, die insbesondere die Ab-
setzung und Versetzung betrifft24 •

III.

Daß sich die Situation seitdem wesentlich verändert hat, bedarf


keines näheren Nachweises.
Das naturrechtliche Vertrauen in die Richtigkeit des Gesetzes ist ge-
schwunden. Die Erfahrung hat das Phänomen des gesetzlichen Unrechts,

20 Kritik des KleinschrodsChen Entwurfs zu einem peinliChen GesetzbuChe,


1804, II, S. 20; vgl. auCh Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grund-
begriffe des positiven peinliChen ReChts I, 1799, S. 175 f. Ähnlich BeccaTia,
über VerbreChen und Strafen, 1766, § 4.
21 Eb. Schmidt (Fn. 12), Rn. 466; ders., Einführung in die GesChiChte der
deutsChen StrafreChtspflege, 3. Aufl. 1965, S. 273 ff. NoCh niCht uneinge-
sChränkt wird die riChterliChe Unabhängigkeit z. B. von Suarez in seinen
Vorträgen vor dem preußisChen Kronprinzen anerkannt. Vgl. Conrad/Klein-
heyer (Hrsg.), Vorträge über ReCht und Staat von earl Gottlieb Suarez (1746
bis 1798), 1960, S. 484 f. Zwar werden hier MaChtsprüChe für unzulässig er-
klärt, dem Regenten wird aber die "genaueste AufsiCht" über seine GeriChte
zugesproChen.
22 Kissel, § 1 Rn. 16 ff. Vgl. für die Entwicklung in Preußen Schütz, DRiZ
1980, 127 ff.
23 Kissel, § 1 Rn. 17; Simon (Fn. 7), S.6, findet den "vollkommensten Aus-
druck" der Unabhängigkeitslehre in den §§ 175 und 177 der Frankfurter
Reichsverfassung. Näher zur Entwicklung in den Ländern vgl. Plathner, Der
Kampf um die richterliche Unabhängigkeit bis zum Jahre 1848, 1935; Kern,
Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, 1954, S. 55 ff.
24 Kissel, § 1 Rn. 16.
Wie unabhängig ist der Richter? 761

des Unrechts in Gesetzesgestalt, gezeigt 2 >. Auch das allgemeine Ge-


setz bietet keine Gewähr für Richtigkeit und Gerechtigkeit seiner Re-
gelungen.
Die Ansichten über die richterliche Rechtsfindung haben sich grund-
legend gewandelt. Bei allen tiefgreifenden Unterschieden der juristi-
schen Entscheidungslehre ist man jedenfalls darin einig, daß die rich-
terliche Tätigkeit mehr ist als bloße Gesetzesanwendung, d. h., daß sie
auch andere Elemente enthält als den Ausspruch dessen, was das Gesetz
für den zu entscheidenden Fall schon angeordnet hat!6. Daß das sog.
Subsumtionsdogma nicht stimmt, stellt inzwischen einen Gemeinplatz
dar 7 • Im Ernst kann niemand mehr behaupten, daß die Anwendung
der Gesetzesregeln nichts anderes als eine logische Subsumtion unter
begrifflich geformte Obersätze sei28 • Erst durch die juristische Inter-
pretation erfährt der Sinn der Rechtsnorm seine letzte Bestimmtheit,
das Recht gewinnt seine eigentliche Gestalt erst im Prozeß der Anwen-
dung29 : "Recht ist stets das in Anwendung befindliche und in dieser
Anwendung sich wandelnde Recht"30. In die Rechtsfindung gehen je-
weils nicht aus der Norm stammende, auf einer Bewertungswahl beru-
hende Elemente ein 31 • Die Entwicklung von der Begriffsjurisprudenz
zur Interessen- und Wertungsjurisprudenz kann hier nicht im einzelnen
erneut nachgezeichnet werden 32 • Sie hat zu dem jedenfalls insoweit
allgemein anerkannten Ergebnis geführt, daß richterliche Rechtsfindung
zugleich stets einen Schritt richterlicher Rechtsschöpfung darstellt, nicht
bloße Gesetzesexeku tion33 •
Darüber hinaus wird die Relevanz des Gesetzes weitergehend in
Frage gestellt, etwa in der "Topik" verbundenen und in erneuerten
frei rechtlichen Ansätzen verschiedener AusrichtungenM •

25 Vgl. statt vieler nur Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetz-


Hches Recht, abgedruckt in: Rechtsphilosophie, 8. Auft. 1956, S. 347 ff.; Henkel,
Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Auft. 1977, S. 486 ff.; Engisch, Auf der
Suche nach der Gerechtigkeit, 1971, S. 147 ff.; Wieacker (Fn. 12), S. 586 ff.
26 Vgl. etwa nur Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1958, S.5 ff.; Esser,
Grundsatz und Norm, 1956, S.253; Arthur Kaufmann, Analogie und Natur
der Sache, 1965, S. 29 f.
27 Arthur Kaufmann (Fn. 5), S. 299.
28 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Auf!. 1979, S. 54.
~9 Larenz (Fn. 28); Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung,
3. Auf!. 1963, S. 19; Arthur Kaufmann (Fn. 5), S. 299.
30 Welzel, Die Frage nach der Rechtsgeltung, 1966, S.17.

31 Wieacker (Fn. 26), S. 6.

32 Vgl. dazu etwa Larenz (Fn.28), S. 89 ff.; Schreiber (Fn.12), S.222 mit
vielen weiteren Nachweisen.
33 Herrmann, Die Unabhängigkeit des Richters?, DRiZ 1982,286 ff., 287.
34 Vgl. etwa zur Topik und zur "vernunftrechtlichen Argumentation"
Krieles Larenz (Fn. 28), S. 138 ff.; Schreiber (Fn. 12), S. 226 f.
762 Hans-Ludwig Schreiber

Daß zugleich mit der Bindung an das Gesetz auch die richterliche
Unabhängigkeit zweifelhaft werden mußte, liegt auf der Hand. Ist sie
doch geschaffen worden wegen der Freiheit von anderen Abhängig-
keiten für die Verwirklichung des Gesetzes. Zutreffend meint Geiger,
der Sinn des Art. 97 I GG käme besser zum Ausdrucl<::, wenn es hieße:
"Die Richter sind dem Gesetz unterworfen und deshalb unabhängig"31.
Der unabhängige Richter sollte kein "ungebundener" Richter sein, der
sein Amt nach eigenen Maßstäben ausübt. So wird dem Institut der
Unabhängigkeit jedenfalls der bisherige Boden entzogen, wenn seine
andere Seite, die Bindung an das Gesetz, wegfällt. Arthur Kaufmann
hat recht, wenn er ausführt, daß dem gewandelten Methodenver-
ständnis bislang nicht der Durchbruch zu einem neuen Verständnis der
Stellung des Richters und seiner Unabhängigkeit gefolgt sei36 • Auch
Eberhard Schmidt, von dem wohl die fundierteste neuere Begründung
der Unabhängigkeit stammt, ist noch der überholten Auffassung von
der Rechtsfindung verpflichtet 37•
Dieter Simon hat bisher am konsequentesten das "Unabhängigkeits-
dogma" radikaler Kritik unterzogen 3B • Der sog. "Justizsyllogismus" ,
die Lehre von der bloßen Gesetzesanwendung durch Subsumtion, nähre
sich noch vom "versteinerten Mythos der Gesetzesbindung" 39. Nach
Durchmusterung der verschiedenen Möglichkeiten, die Bindungsthese
neu unter den veränderten methodischen Bedingungen zu formulieren
und sie etwa auf die grundlegenden Wertentscheidungen des Gesetzes
oder die Prinzipien der Verfassung zu beziehen40 , kommt Simon zu
dem Ergebnis, daß rechtstechnische, methodologische oder institutio-
nelle Sicherungen zur Bindung des Richters an das Gesetz prinzipiell
nicht vorhanden seien. Methodologische Selbstbefreiung durch teleolo-
gisches Denken und Zunahme des Freiheitsbewußtseins durch vertiefte
Einsicht in den Rechtsfindungsprozeß hätten die Bindung auf die dürf-
tigen Halterungen der Richtersozialisation, der Selbstverpflichtung und
der Druckmittel einer als loyal vorausgesetzten Institution reduziert.
In Zukunft müsse mit dem bewußt ungebundenen Richter gerechnet
werden 41 •
Die unter neo-freirechtlichen Perspektiven damit vorgenommene
völlige Reduktion der Bedeutung des Gesetzes erscheint verfehlt. Sicher
35 Geiger, Juristenjahrbuch Bd. 3, S. 86.
36 Arthur Kaufmann (Fn. 5), S. 299.
37 Eb. Schmidt (Fn. 12), Rn. 470 ff.; dazu vgl. Arthur Kaufmann (Fn.5),
a.a.O.
38 In seiner schon oben (Fn. 7) zitierten Schrift "Die Unabhängigkeit des
Richters", 1975.
30 (Fn. 7), S. 70.
<0 (Fn. 7), S. 79 ff.

H (Fn. 7), S. 88 f.
Wie unabhängig ist der Richter? 763

gibt es, das ist Simon zuzugeben, gegenwärtig keine allgemein akzep-
tierte juristische Entscheidungstheorie, die das Gesetz als ausschließ-
liche Determinante versteht. Die Möglichkeit einer jedenfalls weit-
gehenden Orientierung der richterlichen Tätigkeit an den Vorgaben
des staatlichen Rechts kann aber nicht begründet in Abrede gestellt
werden. Daß dies nicht im Wege strikter Subsumtion geschieht, schließt
die Steuerungsfunktion des Gesetzes nicht aus. Daß in die konkrete
Entscheidung auch andere Elemente eingehen, hindert nicht die Orien-
tierung am Gesetz bzw. seinen Wertentscheidungen.
Gadamer hat die juristische Auslegung zutreffend dahin charakteri-
siert, daß sich in ihr der zu verstehende Sinn erst konkretisiere und voll-
ende, daß sie sich aber gleichwohl vollständig an den Sinn des Textes ge-
bunden halte 42 • Wie die Beibehaltung des nulla-poena-sine-Iege-Prinzips
im Strafrecht erscheint das grundsätzliche Festhalten am Grundsatz der
richterlichen Gesetzesbindung sinnvoll, da trotz der erkannten Grenzen
einer solchen Bindung doch eine weitreichende Orientierung an allgemein
rechtlichen Vorgaben erreicht wird 43 • Bleibt bei dieser jedenfalls teil-
weisen Bindung an das gesetzliche Programm die richterliche Unab-
hängigkeit noch sinnvoll und gerechtfertigt? Hinter der Idee der Un-
abhängigkeit steht die Vorstellung, daß sie bessere, richtigere Rechts-
findung gewährleiste oder doch ermögliche. Simon kann den Z"veifel.
ob die Unabhängigkeit seit ihrer Durchsetzung dieser Aufgabe genügt
habe, nicht belegenu. Seine Relativierung der Leistungen des "kleinen
Teilsystems Justiz" für die Entwicklung des Rechtsstaates erscheint vor-
eilig und unbegründbar45 •
Versuchen wir vor einer allgemeinen Antwort auf die Frage nach
dem gegenwärtigen Sinn und der möglichen heutigen Tragweite des
überlieferten Instituts der Unabhängigkeit dessen gegenwärtige prak-
tische Bedeutung anhand der breiten Rechtsprechung und Literatur
herauszuarbeiten.
IV.

Nach überlieferter Auffassung unterscheidet man zwei Formen der


Unabhängigkeit, die sachliche und die persönliche. Die sachliche meint
die Freiheit von allen Weisungen, die persönliche dient dem Schutz
der sachlichen. Sie soll die Rechtsstellung des Richters vor allem gegen

42 Gadamer, Wahrheit und Methode, 1962, S. 315.


U Schreiber (Fn. 12), S. 230 f.
44 (Fn. 7), S. 6 f.
45 (Fn.7), S.7. Simon führt aus, welcher Anteil an der Konkretisierung,
Sicherung und Statutisierung der Freiheits- und Gleichheitsrechte der Tätig-
keit des insgesamt kleinen Teilsystems Justiz gutgeschrieben werden könne,
sei nicht ausreichend erforscht.
764 Hans-Ludwig Schreiber

Absetzung und Versetzung sichern 46 • In der Literatur finden sich wei-


tere Unterscheidungen und Differenzierungen47 • Im folgenden wird den
praktischen Auswirkungen der Unabhängigkeit - wie in Teilen der
Literatur 48 - nach folgenden vier Bereichen unterschieden nachgegan-
gen: 1. Institutionelle Unabhängigkeit, 2. Sachliche Unabhängigkeit,
3. Persönliche Unabhängigkeit, 4. Innere Unabhängigkeit.

1. Mit der institutionellen Unabhängigkeit ist die organisatorische


Trennung der Gerichte von den anderen staatlichen Gewalten gemeint.
Die Rechtsprechung ist durch "besondere Organe" der rechtsprechenden
Gewalt auszuüben (Art. 20 Abs.2 S.2 GG, Art. 92 GG). Neben der
organisatorischen Selbständigkeit der Gerichte als Behörden sind da-
mit auch persönliche Inkompatibilitäten verbunden: Nach § 4 I DRiG
darf ein Richter Aufgaben der rechtsprechenden Gewalt und solche
der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt nicht zugleich wahr-
nehmen4g • Eine aus der institutionellen Unabhängigkeit folgende rich-
terliche Selbstverwaltung ist gegenwärtig allerdings nur begrenzt ver-
wirklicht. So regelt nach der Präsidialverfassung ein überwiegend
von Richtern gewähltes Organ (Präsidium) die Verteilung der Aufga-
ben (Geschäftsverteilung §§ 21 a ff. GVG). Weitergehende Forderungen
nach einer "Entfesselung der dritten Gewalt"50 haben sich nicht durch-
gesetzt. Die Richterschaft hat auf die personelle Ausstattung der Ge-
richte, die Besetzung der Richterämter und die Beförderung nur sehr
geringen unmittelbaren Einfluß5!. Für die Richterämter an den ober-
sten Gerichtshöfen des Bundes besteht ein Richterwahlausschuß aus
den zuständigen Länderministern und Mitgliedern des Bundestages;
in einigen Ländern wirken Richterwahlausschüsse in unterschiedlicher
Form bei Personalentscheidungen mit52 • Einen eigenen Haushalt be-

46 Vgl. Kissel, § 1 Rn. 9.


47 Etwa Bettermann, Die Unabhängigkeit der Gerichte und der gesetz-
liche Richter, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte, Bd.III 2,
1959, S. 523 ff.; Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrecht-
liches Problem, 1960, S. 44 ff.; vgl. weiter eingehend Schmidt-Räntsch, Deut-
sches Richtergesetz, 3. Aufl. 1983, § 25 Rn. 5 ff.; Schäfer, in: Löwe/Rosenberg,
23. Aufl. 1979, § 1 GVG Rn. 4 ff.
48 Vgl. zu diesen Unterscheidungen Kissel, § 1 Rn. 32 ff., 9 ff.; Herrmann,
DRiZ 1982,289 ff.
49 Zu dieser Regelung und zu den Ausnahmen des § 4 II DRiG vgl.
Schmidt-Räntsch, § 4 Rn. 3 ff.
50 van Husen, Die Entfesselung der dritten Gewalt, AöR 78 (1952/53), 49 f.
Das Konzept einer nur begrenzten Selbstverwaltung fand schon bei den
Beratungen des 43. Deutschen Juristentages 1953 (Verhandlungen des 43. DJT
1953, Bd. 2, 140 ff.) Überwiegend Zustimmung.
Sl Vgl. dazu näher Kissel, § 1 Rn. 37 f. Insbesondere ist der Einfluß auf
Personalentscheidungen über den Präsidial rat gering.
52 Dazu eingehend Kissel, § 1 Rn. 37. Eine reine Selbstergänzung der Rich-
terschaft wäre auch verfassungs rechtlich unzulässig.
Wie unabhängig ist der Richter? 765

sitzen die Gerichte - ausgenommen das Bundesverfassungsgericht -


nicht; was Ausstattung und andere Sachmittel angeht, sind sie von der
Ministerialverwaltung und dem Haushaltsgesetzgeber abhängig. Tradi-
tionell werden sie wesentlich schlechter ausgestattet als andere Behör-
den. Was Möbel, Arbeitsgeräte, Telefonanschlüsse etc. angeht, sind sie
auf die Verwaltung angewiesen53 • Institutionell bleiben danach bei prin-
zipieller Selbständigkeit die Gerichte praktisch vielfältig an Verwal-
tung und Parlament gebunden.
2. Die sachliche Unabhängigkeit bildet historisch und inhaltlich den
Kern des Prinzips. Gesetzlich ist sie nicht konkret umschrieben. Sie be-
trifft die Freiheit von Weisungen aller Art bei der richterlichen Tätig-
keit54 • Ausgeschlossen sind damit nicht nur rechtlich bindende Anord-
nungen von Vorgesetzten, der Justizverwaltung, der Regierung, seitens
des Parlamentes oder einzelner Parteien. Auch Empfehlungen, Rat-
schläge und Anregungen für die Entscheidung bestimmter Sachen,
weiter mittelbare Ersuchen etc., sind nicht zulässig 55 • Das ist heute
praktisch unbestritten. Sehr streitig ist dagegen, ob und in welchem
Umfang eine Dienstaufsicht mit der sachlichen Unabhängigkeit ver-
einbar ist. Stimmen, die das grundsätzlich verneinen, sind bisher ver-
einzelt geblieben56 • Doch erscheint die Dienstaufsicht als mögliche "Ein-
bruchstelle in die richterliche Unabhängigkeit"s1. Sie soll das ordnungs-
gemäße Funktionieren und einen sachgemäßen Ablauf der Justiz ge-
währleisten und stellt die Befugnis übergeordneter Stellen dar, die
Tätigkeit der Gerichte zu beobachten und durch eigene Maßnahmen zu
"berichtigen" 58. Im Bereich der sog. ordentlichen Gerichtsbarkeit ob-
liegt sie dem Justizminister und den Gerichtspräsidenten, die insoweit
als weisungsgebundene Organe der Gerichtsverwaltung handeln 59 • Das
53 Zum Haushaltswesen vgl. Kissel, § 22 Rn.21; § 1 Rn. 38. Das Postulat,
einer Vertretung der Richter das Recht zur eigenen Haushaltsvorlage ein-
zuräumen, ist nicht erfüllt worden. Zu Forderungen hinsichtlich der stär-
keren Beteiligung der Richter an der Administration, insbes. der Vorberei-
tung des Etats vgl. J. H. Wassermann, Ein Kodex der Minimalgrundsätze
richterlicher Unabhängigkeit, DRiZ 1982, 338 ff. Im Bericht Wassermanns
über internationale Bestrebungen zur Sicherung der richterlichen Unabhän-
gigkeit wird der hier behandelte Aspekt der institutionellen Unabhängigkeit
der Justiz als Körperschaft als "kollektive Unabhängigkeit" bezeichnet.
54 BVerfGE 36, 174, 185 f., st. Rspr.
55 Eb. Schmidt (Fn. 12), Rn. 476 ff.; vgl. weiter Kissel, § 1 Rn. 39, 40.
Nr. 39, 40.
56 Simon, DRiZ 1980, 91 m. w. N.; vgl. in dieser Richtung früher schon
v. Weber, NJW 1950,27.
51 Baur, Justizaufsicht und richterliche Unabhängigkeit, 1954, S. 21.
58 So die gängige, im Anschluß an Triepel entwickelte Umschreibung, vgl.
Kissel, § 1 Rn.44; Schmidt-Räntsch, DRiG, 3. Aufl., § 26 Rn. 5; Simon (Fn.7),
S. 22; Dinslage, Richterliche Unabhängigkeit und Dienstaufsicht, DRiZ 1960,
201 ff.
59 BVerfGE 38, 139, 152.
766 Hans-Ludwig Schreiber

Deutsche Richtergesetz hat versucht, Dienstaufsicht und Unabhängig-


keit miteinander in übereinstimmung zu bringen. Danach untersteht
der Richter prinzipiell einer Dienstaufsicht nur, soweit nicht seine Un-
abhängigkeit beeinträchtigt wird (§ 26 I DRiG). Der Inhalt dieser Dienst-
aufsicht wird dahin umschrieben, daß sie auch die Befugnis umfasse,
die ordnungswidrige Art der Ausführung von Amtsgeschäften vorzu-
halten und zu deren ordnungsgemäßer, unverzögerter Erledigung an-
zuhalten (§ 26 11 DRiG). Dem durch eine Maßnahme der Dienstaufsicht
betroffenen Richter wird der Rechtsweg zu den Richterdienstgerichten
eröffnet (§§ 26 III, 61, 77 ff. DRiG).
Eine umfängliche Rechtsprechung 60 hat sich bemüht, die damit nur
sehr allgemein umschriebenen Grenzen der Dienstaufsicht zu konkre-
tisieren. Die Formel des Gesetzes, daß nur die "ordnungswidrige Art
der Ausführung eines Amtsgeschäfts" beanstandet werden dürfe, ist
dahin ausgelegt worden, daß der Dienstaufsicht nur die "äußere Form"
zugänglich sei, nicht aber der "Kernbereich" richterlicher Tätigkeit. Zu
diesem durch die Unabhängigkeit geschützten Kernbereich gehört nicht
nur die unmittelbare Spruchtätigkeit, sondern auch deren "nahes Um-
feld"61, wie Beweiserhebungen, Sitzungspolizei, Bestimmung des Be-
richterstatters, Protokollierung, die Erteilung von Auskünften in einem
schwebenden Verfahren etc. 62 • Dagegen werden zur "äußeren Form" die
allgemeinen Regeln im Umgang mit Menschen, etwa die Behandlung
von Zeugen, die Amtstracht, die Förmlichkeiten des Schriftverkehrs, die
Ausdrucksweise etc. gerechnet 63 • Eine überzeugende, klare Abgrenzung
ist aber trotz der umfänglichen Rechtsprechung und der kaum noch
übersehbaren Literatur zum Thema bisher nicht gelungen 64 • Nur
schwer läßt sich die Verfahrensgestaltung selbst von der "Art der Aus-
führung" trennen, zumal die " (nur) äußere Form der Erledigung ...
auch bei Kernbereichstätigkeiten außerhalb des Kernbereichs" liegen
soWs. Sieht man die Rechtsprechung näher durch, so zeigt sich, daß
der Bundesgerichtshof den Bereich der "äußeren Ordnung" teilweise
60 Vgl. u. a. BGHZ 42, 163 ff.; BGHZ 47, 275 ff.; BGHZ 67, 184 ff.; BGHZ
70, 1 ff., jeweils m. w. N.
61 Kissel, § 1 Rn. 54 m. w. N.
62 Vgl. u. a. BGHZ 42, 163; BGH DRiZ 1978, 281; BGH DRiZ 1969, 95; BGH
DRiZ 1977,56; weitere Nachweise bei Rudolph, Die Unabhängigkeit des Rich-
ters, DRiZ 1984, 135, 138.
63 Vgl. die Beispiele bei Rudolph (Fn.62), S. 138 f.; Beispiele auch bei
Schäfer, in: LöwelRosenberg, § 1 GVG Rn. 23.
64 Vgl. etwa die zusammenfassenden Literaturnachweise bei Schmidt-
Räntsch (Fn. 4), vor § 26. Weiter Kern/Wolf, Gerichtsverfassungsrecht, 5. Auf!.
1975, S. 125 ff.; Weist, Die Entwicklung der Dienstaufsicht über Richter, DRiZ
1968, 223 ff.; Rudolph, Richterliche Unabhängigkeit und Dienstaufsicht, DRiZ
1979,97ff.
65 So Kissel, § 1 Rn. 55 am Ende mit Rechtsprechungsnachweisen. Vgl. dazu
insbesondere BGHZ 51, 280; BGHZ 67, 184.
Wie unabhängig ist der Richter? 767

recht weit ausgedehnt und dazu etwa den Umfang der Einstellung von
Bußgeldverfahren, die Zeugenvernehmung im Ausland und das Vor-
bereiten von Voten unter Zeitdruck gerechnet hat06•
Andererseits hat der BGH etwa eine Dienstaufsichtsmaßnahme als
unzulässig bezeichnet, die den Gebrauch der Bezeichnung "dumm-
dreiste Lüge" für ein Verteidigungsvorbringen beanstandet hattes7 . Hier
wird der Bereich der äußeren Ordnung wieder enger gezogen, wenn
ein solcher "verbaler Exzeß" zum Kern der Rechtsprechungstätigkeit
gerechnet und als "im Rahmen der in Betracht kommenden tatsachen-
adäquaten Wertung prozessualen Verhaltens" liegend bezeichnet wird 68 •
Die offenbar praktisch nicht durchführbare Abgrenzung von Kern-
bereich und äußerer Form wird vom BGH in einem entscheidenden
Punkt schließlich durchbrochen: "Offensichtlich fehlerhafte Maßnah-
men" im Kernbereich sollen ebenfalls der Dienstaufsicht zugänglich
seinet • Das Gericht übernimmt das aus der Literatur, die damit die
Beanstandungskompetenz der Dienstaufsicht ausgedehnt hatte70 . Nir-
gends wird die Kategorie des "offensichtlichen Fehlgriffes" näher ge-
klärt. Die Dienstaufsicht dürfe nicht, so heißt es in einer der grund-
legenden Entscheidungen, die Möglichkeit haben, ein sachbezogenes
Unwerturteil schon unter der Voraussetzung zu fällen, daß sie Fest-
stellungen für falsch halte, die Rechtsanwendung oder das Verfahren
als fehlerhaft betrachte: "Erst der dem Zweifel entrückte, offensicht-
liche Fehlgriff" könne den Vorhalt gestatten, daß der Richter sich nicht
gesetzestreu verhalten habe 7l •
Der Sache nach wird damit die Begrenzung der Dienstaufsicht auf
den Bereich der "äußeren Ordnung" aufgegeben. Zu ihr werden
"gleichsam fiktiv"72 schwere Fehler bei der Rechtsprechung gezählt. Es
ist Simon zuzugeben, daß es sich dabei um eine "schroffe Mißachtung
der gegebenen Klassifikation" handelt73 • Man kann nicht, wie Schmidt-

66 Nachweise dazu bei Rudolph, DRiZ 1984, 139.


67 BGHZ 70, 1 ff., 6.
68 Vgl. die kritische Anmerkung zu dieser Entscheidung von M. Wolf, NJW
1978,825.
69 BGHZ 47, 275, 287 f.; BGHZ 67, 184, 187; BGHZ 70, 1 ff.
70 Schäfer, in: Löwe!Rosenberg, 20. Aufl. 1956, § 1 GVG Anm.6; Gerner/
Decker!KaujJmann, Deutsches Richtergesetz, 1963, § 26 Anm.5; Schmidt-
Räntsch (Fn. 4), § 26 Rn. 23 ff.
71 BGH NJW 1977, 437. In diesem Verfahren ging es darum, daß ein Rich-
ter in Verletzung der §§ 177, 178 GVG im Zivilprozeß einen Anwalt zwangs-
weise hatte aus dem Sitzungssaal entfernen lassen. Der BGH sah darin einen
"offensichtlichen Fehlgriff", da der unzweideutige Wortlaut des Gesetzes
eine solche Entscheidung nicht zulasse.
72 Kissel, § 1 Rn. 57.
73 Simon, DRiZ 1980, 92.
768 Hans-Ludwig Schreiber

Räntsch will, einfach zur "Art der Ausführung" i. S. von § 26 11 DRiG


solche offensichtlichen Fehlgriffe bei der Entscheidung zählen, über
die keine Zweifel bestehen können74 • Praktisch sind es, wie schon Eber-
hard Schmidt deutlich gemacht hat, in Wahrheit grobe inhaltliche Feh-
ler der Entscheidung bzw. des Verfahrens, die damit der Dienstauf-
sicht zugänglich gemacht werden 75 . Wenn auf die Dienstaufsicht wegen
der staatlichen Justizgewährungspflicht nicht verzichtet werden kann76 ,
dann sollte die deswegen erforderliche Beschränkung der richterlichen
Unabhängigkeit offen eingeräumt werden, statt sie mit offensichtlich
nicht haltbaren Konstruktionen zu verdecken. Die Praxis zeigt, daß es zu
vielen richterlichen Fehlgriffen kommt. Kann man ihnen nicht mit
Rechtsmitteln, mit Ablehnungsgesuchen oder mit straf- bzw. diszipli-
narrechtlichen Sanktionen begegnen, so muß man sie entweder hin-
nehmen oder selbst unter inhaltlicher Kontrolle richterlicher Entschei-
dungen und unter Eingriffen in die Unabhängigkeit entgegentreten.
Auch von richterlicher Seite wird zugegeben, daß die Inanspruchnahme
der Unabhängigkeit nicht stets aus Pflichtgefühl und lauteren Motiven
geschieht 77 • Wenn sie kein "Freibrief zu eigenwilliger Überhebung über
das Recht und noch weniger ein Fetisch, unter dem man Rechthabe-
reien und Kapriolen pflegen kann"7B, ist, so dürfte es keine Verletzung
der verfassungsrechtlichen Garantie darstellen, wenn Rechtsverletzun-
gen auch mit dem Mittel der Dienstaufsicht entgegengetreten wird.
Denn die Unabhängigkeit reicht nur so weit, als die Bindung an das
Recht besteht, deren Pendant sie ist. Allerdings sind mit einer von
Verwaltungsinstanzen ausgeübten Kontrolle erhebliche Gefahren für
die Rechtspflege verbunden, das muß sofort hinzugefügt werden. Daß
die gegenwärtige Praxis der Dienstaufsicht "die richterlichen Hand-
lungsspielräume in einem die Entscheidungstätigkeit erheblich beein-
trächtigenden Umfang einschränkt"79, kann freilich im Hinblick auf
die aus der veröffentlichten Rechtsprechung der Richterdienstgerichte
bekannten Fälle nicht festgestellt werden. Überwiegend geht es um
geringfügige Maßnahmen wie Vorhalte und Ermahnungen in solchen
74 Schmidt-Räntsch (Fn. 4), § 26 Rn. 23.

75 Eb. Schmidt (Fn. 12), Rn. 531 m. w. N.


78 BGH DRiZ 1978, 185; Kissel, § 1 Rn. 43. Nachdrücklich betont auch
PfeitJer, Karlsruher Kommentar, § 1 GVG Rn. 5, die Notwendigkeit der
sich aus der Justizgewährungspflicht ergebenden Dienstaufsicht: "Ohne
die ständige Beobachtung der Arbeit der Richter und des Geschäftsablaufs
bei den Gerichten könnte der Staat die vielen verschiedenartigen Vorkeh-
rungen und Maßnahmen nicht treffen, die außer gelegentlichen Vorhalten
und Ermahnungen i. S. d. § 26 II DRiG erforderlich sind, um im Interesse
aller Bürger eine geordnete Rechtspflege aufrechtzuerhalten."
77 Rudolph, DRiZ 1984, 137.
78 Geiger, DRiZ 1979, 66.
79 So Simon (Fn. 7), S. 23. Simon räumt allerdings auch den Mangel an
Justizforschungsarbeiten auf diesem Gebiet ein.
Wie unabhängig ist der Richter? 769

Fällen, in denen die Rechtmäßigkeit des richterlichen Verhaltens je-


denfalls außerordentlich zweifelhaft ist. Andererseits stellt es entge-
gen der Ansicht von Kissel keine Lösung dar, auf die Möglichkeit der
Anrufung des Dienstgerichtes zu verweisen80 • Unhaltbar ist jedenfalls
die gegenwärtige, von der wohl überwiegenden Ansicht gebilligte Pra-
xis der Rechtsprechung, auf der Basis des § 26 II DRiG die "ordnungs-
widrige Art" des Amtsgeschäftes vom "Kernbereich" zu unterscheiden
und offensichtliche Fehlgriffe in diesem Kernbereich dann wieder zur
Art der Ausführung zu zählen.
Wenn man sieht, wie in einer detaillierten Rechtsprechung das Prin-
zip der sachlichen Unabhängigkeit in sehr kleiner Münze vermarktet
wird 81 und wie stark dabei auch standespolitische Gesichtspunkte eine
Rolle spielen, so muß man den Eindruck gewinnen, daß der Dienstauf-
sicht im Verhältnis zu anderen Einflüssen auf den Richter durch Medien,
Politik und Interessenverbände eine weit überzogene Bedeutung zu-
gemessen wird 82 • Diese anderen Einflüsse werden uns noch bald näher
beschäftigen.
3. Die persönliche Unabhängigkeit soll die sachliche wesentlich ab-
sichern83 • Der Richter soll nicht fürchten, bei seinem Dienstherrn miß-
liebigen Entscheidungen persönliche Nachteile hinnehmen zu müssen.
Die Verfassung garantiert den hauptamtlich und planmäßig angestellten
Richtern diese persönliche Unabhängigkeit dahin, daß sie gegen ihren
Willen nur kraft richterlicher Entscheidung, aufgrund gesetzlicher Be-
stimmungen vor Ablauf ihrer Amtszeit entlassen oder ihres Amtes ent-
hoben, an eine andere Stelle oder in den Ruhestand versetzt werden
können (Art. 97). Verboten ist danach auch eine Nichtberücksichtigung
bei der Geschäftsverteilung, weil sie in der Sache auf eine Amtsent-
hebung hinausliefe 84 • Richter auf Probe (§ 12 DRiG) und Richter kraft
Auftrags (§§ 14 ff. DRiG) genießen nur sehr eingeschränkte Unabhängig-
keit. Die Rechtsprechung hat das im Hinblick auf den Zweck dieser be-
sonderen Arten von Richterverhältnissen und ihre begrenzte Dauer
für verfassungsrechtlich zulässig angesehen85 • Eingeschränkt ist die per-
sönliche Unabhängigkeit auch durch das geltende System der Beför-

80 So Kissel, § 1 Rn. 60. Ebenso Scheiter, in: Löwe/Rosenberg, § 1 GVG


Rn. 24.
81 Man lese dazu die eindrucksvolle, umfängliche Darstellung der "Einzel-
fragen" im Kommentar von Kissel, § 1 Rn. 63 - 88.
82 Auch Rudolph, DRiZ 1984, 140, stellt die "meist vorsichtigen Korrektur-
versuche" der Dienstaufsicht den oft viel stärkeren anderen Einflüssen
gegenüber.
83 BVerfGE 14, 56 ff., 69.
84 BVerfGE 17,252,260.
85 BVerfGE 14, 156, 162. Zustimmend auch Herrmann, DRiZ 1982, 290;
Schmidt-Räntsch (Fn. 4), § 12 Rn. 2.

49 Festschrift für H.-H. Jescheck


770 Hans-Ludwig Schreiber

derungen und Beurteilungen durch den Dienstvorgesetzten. Dem Preu-


ßischen Justizminister Leonhardt wird das Wort zugeschrieben: "So-
lange ich über Beförderungen bestimme, bin ich gerne bereit, den Rich-
tern ihre sog. Unabhängigkeit zu konzedieren"Bo.
Wenn es unterschiedlich bewertete Richterämter und Beförderungen
in mit mehr Einfluß, mehr sozialem Ansehen und besserer Bezahlung
verbundene Ämter gibt, wird es sich nicht umgehen lassen, richterliche
Leistungen zu beurteilen. Daß sich solche Beurteilungen nicht auf lau-
fende, noch zu entscheidende Verfahren beziehen dürfen, ist wohl selbst-
verständlich. Daß Beurteilungen angesichts begrenzter Beförderungs-
möglichkeiten aber praktisch mittelbar Einfluß auf das künftige rich-
terliche Verhalten nehmen können, sollte ernsthaft nicht bestritten
werden. Naiv erscheint die Forderung des BGH, Beurteilungen müßten
von jeder psychologischen Einflußnahme frei sein87 . Kritische Äußerun-
gen über die Arbeitsweise eines Richters können VOn psychologischen
Auswirkungen gar nicht freigestellt werden. Auch ist die Tatsache der
zu erwartenden Beurteilung geeignet, das Verhalten zu bestimmen8B .
Alternativvorstellungen hinsichtlich der Übertragung von Beförde-
rungs- und Beurteilungsbefugnissen auf unabhängige Gremien würden
wenig Abhilfe schaffen. Das gleiche gilt für die Beteiligung von Richter-
wahlausschüssen und Präsidialräten. Diese können nur geringfügige
Korrekturmöglichkeiten bieten. Andererseits stehen einer Gleichbe-
wertung aller Richterämter, die Beförderungen und Beurteilungen
überflüssig machen würde, gewichtige Einwände gegenüberB9 .
Der Wunsch nach Beförderung und Karriere ist sicher ein erhebliches
Hindernis für die persönliche Unabhängigkeit. Es gibt keine prästabi-
lierte Harmonie zwischen Unabhängigkeit und der Annahme einer
Eignung für Beförderungen durch die Dienstvorgesetzten. Wirklich un-
abhängig ist nur der Richter, der bereit ist, auf Anerkennung und Be-
förderung zu verzichten und auf das Eingangsamt beschränkt zu
bleiben.

4. Mit der Beförderungsproblematik ist bereits die weitere Dimen-


sion der inneren Unabhängigkeit angesprochen. Mit ihr kommen neben
Einflüssen von seiten des Dienstherrn auch solche von anderen, gesell-

88 Zitiert nach Kissel, § 1 Rn. 152.


81 BGHZ 57, 344 ff.
88 Die bei Kissel, § 1 Rn. 94 f. genannten Kriterien für zulässige Beurtei-
lungen zeigen deutlich, daß eine Unterscheidung nach solchen Beurteilun-
gen, die sich nicht auf das Verhalten auswirken, gar nicht möglich ist.
Mit Recht kritisiert Simon (Fn. 7), S.26, die insoweit vorgenommenen Diffe-
renzierungsversuche. Vgl. dazu vor allem auch BauT, Die Beurteilung des
Richters und seine Unabhängigkeit, DRiZ 1973, 6 ff.
89 Eingehend Kissel, § 1 Rn. 152, 89 ff.
Wie unabhängig ist der Richter? 771

schaftlichen Kräften ins Blickfeld·o. Von ihnen kann der Richter nicht
frei sein, da er nicht isoliert, sondern in vielfältigen persönlichen und
gesellschaftlichen Zusammenhängen lebt. Unter den daraus resultie-
renden Einflüssen haben vor allem die Herkunft der Richter aus be-
stimmten Schichten der Bevölkerung sowie die Bedeutung der moder-
nen Massenmedien für die richterliche Entscheidung besondere Beach-
tung gefunden. Soziologische Untersuchungen haben die These zu be-
legen versucht, daß die Herkunft der Richter überwiegend aus den Mit-
tel schichten eine wesentliche Determinante gerichtlicher Entscheidungen
sei91 • Ob und wieweit Herkunft, Schichtzugehörigkeit und Konfession
auf die Einstellung und diese dann auf die Entscheidungen der
Richter sich auswirkt, diese entscheidende Frage haben die bisherigen,
teilweise recht dilettantisch angelegten, ihrerseits von Vorurteilen be-
einflußten richtersoziologischen Untersuchungen92 nicht beantworten
können. Sicher bestehen hier Zusammenhänge, sie lassen sich aber
bisher nicht genau erfassen93 ; gewiß handelt es sich nicht um mono-
kausale Determinanten.
Welch wesentlichen Einfluß die modernen Massenmedien auf die
überzeugungsbildung auch der Richter haben, ist von verschiedener
Seite betont worden94 • Zutreffend hat man beschrieben, wie z. B. das
Verhalten von Richtern durch die Anwesenheit bestimmter prominen-
ter Pressevertreter beeinflußt wird. Wer läßt sich gern vom "Spiegel"
als unverständig qualifizieren? Eine sog. "aktive Öffentlichkeit", die
sich mit Demonstrationen bemerkbar macht, sucht Wirkungen zu er-
zeugen. Der Richter kann sich dem nicht einfach entziehen. Die These
Kissels, der Richter habe sich eben von allen Pressions- und Beein-
flussungsversuchen der modernen Kommunikationsmittel freizuhalten95 ,
erscheint gut gemeint, aber doch reichlich utopisch. Der Richter unter-
liegt vielfältigen Einflüssen, und man sollte die Illusion des nur dem
Gesetz verpflichteten, rein objektiven Richters verabschieden. Der sog.
"politische Richter", nicht i. S. des parteipolitisch orientierten, sondern
des der politischen Auswirkungen seiner Tätigkeit bewußten Richters,

.0 Enger faßt Herrmann, DRiZ 1982, 291, die innere Unabhängigkeit als
Problem der Einflüsse nicht seitens des Dienstherrn, sondern nur seitens der
"näheren und weiteren Umwelt" auf.
91 Vgl. dazu Schreiber, Verfahrensrecht und Verfahrenswirklichkeit, ZStW
88 (1976), S. 125 f. mit ausführlichen Literaturnachweisen.
92 Etwa Kaupen, Die Hüter von Recht und Ordnung, 1969.

93 Vgl. Richter, Zur Bedeutung der Herkunft des Richters für die Ent-
scheidungsbildung, 1973, S. 18 f.; Schreiber (Fn. 91), S. 126 f.
94 Kissel, § 18 Rn. 49, insbes. zum Stichwort "Vorverurteilung"; Kern/Wolf,
Gerichtsverfassungsrecht, 5. Aufl. 1975, S. 142 ff.; Herrmann, DRiZ 1982, 292,
sämtlich mit vielen weiteren Nachweisen.
95 Kissel, § 1 Rn. 157: "Der Richter hat diesen Einflüssen standzuhalten."

49·
772 Hans-Ludwig Schreiber

gehört zur heutigen Rechtswirklichkeit 96 • Die These vom "politischen"


Richter geht zutreffend von der Erkenntnis aus, daß es keine wertfreie,
von volitiven Elementen freie, in bloßer Subsumtion bestehende rich-
terliche Entscheidung gibt91 • Maßstab hat dabei die Wertordnung des
Grundgesetzes zu sein, nicht etwa eine individuelle politische überzeu-
gung eines Richters, die er gegen das staatliche Recht unter Ausnut-
zung seiner "Unabhängigkeit" durchsetzen könnte 98 •
Die "innere Unabhängigkeit" des Richters kann danach nicht einfach
als gesicherter Besitz angesehen werden. Es gilt vielmehr, die vielfälti-
gen, nicht leicht erfaßbaren Einflüsse und Abhängigkeiten zu erkennen.
Ist die richterliche Entscheidung - wie oben eingehend dargetan -
nicht mehr als bloße Gesetzesexekution zu verstehen, so eröffnen sich
weite offene Felder für verschiedenartige Einflüsse, die nicht mit ihrem
Aufdecken und einem bloßen Appell an die Standfestigkeit des Richters
ausgeschaltet werden können.

V.
Kehren wir nach diesem knappen Überblick über die heutigen prak-
tischen Probleme zur oben gestellten Frage nach dem gegenwärtigen
Sinn und den Möglichkeiten richterlicher Unabhängigkeit zurück. Wir
haben gesehen, daß diese sowohl theoretisch als auch praktisch keine
unzweifelhafte gewisse Gegebenheit ist. Die institutionelle Unabhän-
gigkeit ist nur in Grenzen verwirklicht, die Gerichte sind vielfach von
Verwaltung und Parlament abhängig. Sachliche und persönliche Un-
abhängigkeit sind in ihrem Kern verfassungsrechtlich garantiert und
praktisch realisiert: Es gibt keine bindenden Weisungen, keine willkür-
liche Absetzung und Versetzung. Der Schutz eines in richterlicher Hand
liegenden Verfahrens zu den Dienstgerichten steht gegen jede be-
hauptete Beeinträchtigung zur Verfügung 99 • In der Sache ist jedoch

96 Kissel, § 1 Rn. 159 m. w. N.; zutreffend Wassermann, Der politische Rich-


ter, 1972, insbes. S. 11 ff.; ders., Der soziale Zivilprozeß, 1978, S. 20 ff.
01 Vgl. oben UI.
98 In außerordentlich gefährliche Regionen gerät die These vom politi-
schen Richter, wenn sie sich i. S. z. B. Wiethölters, Anforderungen an den
Juristen heute, in: Wassermann (Hrsg.), Erziehung zum Establishment, 1969,
insbes. S.4 f., auf ein neues politisches, angeblich der politischen Gesell-
schaft adaequates Recht ausrichten läßt. (Vgl. dazu ausführlich die im
wesentlichen Wiethölter zustimmende Stellungnahme Simons [Fn. 7], S. 111 f.)
Damit erfolgt eine Orientierung über die Grenzen des Rechts hinweg an
nebulösen "Befreiungsformeln" .
99 Zutreffend weist Rudolph, DRiZ 1984, 137, auf die elementare Bedeu-
tung des Rechtsbehelfs nach § 26 IU DRiG hin. Verfehlt scheint aber die
von der Amtsrechtskommission des Deutschen Richterbundes übernommene
Forderung, den Richter in den Verfahren nach § 26 III DRiG vom Kosten-
risiko freizustellen. Denn in diesem Verfahren werden häufig auch sehr per-
sönliche Angelegenheiten vorgebracht. Die Kostenfreiheit könnte als Auffor-
Wie unabhängig ist der Richter? 773

bisher keine haltbare Lösung für das Spannungsverhältnis zwischen


Dienstaufsicht und Unabhängigkeit gefunden worden. Die Rechtspre-
chung kommt mit ganz unzureichenden und widersprüchlichen Abgren-
zungen zu praktisch allerdings bisher wohl zumeist akzeptablen Er-
gebnissen. Erheblichere Schwierigkeiten sind bisher wohl durch die Zu-
rückhaltung der Dienstaufsicht und durch das Ausbleiben schwererwie-
gender Konflikte vermieden worden.
Viele Quellen für faktische innere Abhängigkeiten des Richters haben
sich inzwischen gezeigt. Der Richter ist vielfältig durch Herkunft, Aus-
bildung, berufliche Sozialisation und persönliche Beziehungen in seine
Umwelt verflochten. Er unterliegt Einflüssen aller Arten u. a. durch
Medien, intellektuelle Moden und Sprachgebräuche. Nicht ohne Wir-
kung auf ihn sind politische Überzeugungen, Abneigungen, Freunde,
Launen und Vorlieben.
Da die richterliche Entscheidung nicht im Wege bloßer Subsumtion
gefunden wird, keinen rein objektiven Prozeß darstellt, können die ge-
nannten Einflüsse in ihr wirksam werden. Die bloße Aufforderung zu
strenger Sachlichkeit nützt insofern nichts, als in die Entscheidung not-
wendig persönliche Elemente eingehen. "Das Urteil ist nicht nur Aus-
fluß des Gesetzes, der Richter ist nicht nur Mund des Gesetzes. Er trägt
vielmehr seine Persönlichkeit in das Urteil hinein"10o. Das Gesetz ist,
wie ArthuT Kaufmann formuliert, notwendiger, aber niemals hinrei-
chender Grund der Entscheidung101 . Es bildet aber eine wesentliche
Grenze für die Heranziehung subjektiver Wertvorstellungen. Der Rich-
ter darf über diese Grenze nicht hinausgehen und seine persönlichen
Ansichten an die Stelle der gesetzlichen Festlegungen setzen. Wenn
Art.97 GG davon spricht, der Richter sei dem Gesetz unterworfen,
so ist diese überlieferte Wendung i. S. von Art. 20 III GG zu verstehen,
der die Rechtsprechung an "Gesetz und Recht" bindet. Mit dieser, in
ihrem Sachgehalt umstrittenen Formep02 wird jedenfalls nach ganz
überwiegender Meinung ein strenger Gesetzespositivismus abgelehnt.
"Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze
identisch. Gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt kann
unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der
verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und

derung verstanden werden, die Unabhängigkeit noch mehr als bisher für die
Fragen der Ausstattung, Besoldung etc. dienstbar zu machen und das Prin-
zip dadurch zu entwerten.
100 Peters, Strafprozeß, 3. Aufl. 1981, S. 106.

101 Arthur Kaufmann, Richterpersönlichkeit und richterliche Unabhängig-


keit, Festschrift für Peters, 1974, S. 308 Fn. 49.
102 Arthul· Kaufmann, Rechtsphilosophie im Wandel, 1974, S.135; Maunz/
Dürig/Herzog, Grundgesetz, Art. 20 Rn.49; Bonner Kommentar zum Grund-
gesetz, Art. 20, Anm. 3 e, jeweils m. w. N.
774 Hans-Ludwig Schreiber

dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken ver-


mag ... Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aus-
sprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers"I03. Die traditionelle
Bindung des Richters an das Gesetz ist nach dem Grundgesetz dahin
abgewandelt, daß die Rechtsprechung in dem genannten Sinn an "Ge-
setz und Recht" gebunden ist104 .
Es bleibt die Frage, ob richterliche Unabhängigkeit auch unter den
damit umrissenen, veränderten Bedingungen gerechtfertigt ist, oder ob
sie angesichts der Einsicht in die nur begrenzte Möglichkeit einer Bin-
dung durch das Gesetz nicht ihren Sinn verloren hat. Es wäre eine
völlige Verkehrung des Grundgedankens der Unabhängigkeit, wenn
man sie heute dahin verstehen wollte, als würde einer Gruppe die Be-
fugnis zur selbständigen Gesellschaftsveränderung auch gegen das Ge-
setz und ohne den Gesetzgeber eingeräumt, eine Vorstellung, auf die
manche Thesen zum "politischen Richter" hinauslaufen105. Das Prinzip
der Unabhängigkeit bleibt m. E. auch dann sinnvoll, wenn man den
Richter nicht mehr als den "Mund" des Gesetzes begreifen kann und
von einer nur teil weisen Bestimmung seiner Entscheidungstätigkeit
durch das Gesetz ausgehen muß. Es erscheint legitim, den Richter als
Pendant seiner Orientierung am Recht von den Abhängigkeiten und
Weisungen anderer staatlicher Gewalten freizustellen. Daß Unabhän-
gigkeit keine hinreichende Bedingung für ein als gerecht akzeptier-
bares Urteil darstellt, ist Simon durchaus zuzugeben106 . Seiner These
von der zunehmenden Irrelevanz der Unabhängigkeit, die derzeit nur
noch als "schrittweise Freistellung der Urteiler von demokratiewidrigen
Systemzwängen" Gewinn verspräche, muß jedoch widersprochen wer-
den. Das gilt insbesondere gegenüber dem durch Simon entwickelten
Gegenbild einer zukünftigen "erfolgversprechenden Konzeption gesell-
schaftlicher Herrschaftsstrategien" , die an den Ansatzpunkten Gesetz-
geber und Rechtsprechung "in gleicher Weise vorbeiziehen", unmittel-
bar auf die Exekutive zugreifen und offenbar auf eine Art Rätesystem
hinauslaufen soll107.
Für den Rechtsstaat ist die selbständige richterliche Funktion unent-
behrlich. Ihre Eigenständigkeit und ihre Bindung an das Recht ist frei-

103 BVerfG NJW 1973, 1221 fI., 1225.


104 So das Bundesverfassungsgericht in der vorstehend zitierten Entschei-
dung.
105 Mit dieser Tendenz etwa Wiethölter (Fn.96), S.4 fI., 18 fI.; wesentlich
davon unterschieden Wassermann, Der politische Richter, 1972, insbes. S. 8 fI.,
der den der politischen Folgen seiner Entscheidungen bewußten Richter
fordert.
lOS Simon (Fn.7), S. 178. Es handelt sich m. E. dabei um eine von den Ver-
fechtern der Unabhängigkeit auch gar nicht bestrittene Binsenwahrheit.
107 (Fn. 7), S. 181 f.
Wie unabhängig ist der Richter? 775

lich weniger sicher, als man das früher angenommen hat. Die Unab-
hängigkeit kostet auch ihren Preis, wenn unrichtig erscheinende, un-
verständliche Urteile nicht korrigiert werden können, sondern hinge-
nommen werden müssen. Über den verfassungsrechtlich gesicherten
Kern hinaus ist richterliche Unabhängigkeit nur ein Potential, kein
selbstverständlicher, sicherer Besitz.
Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck
zum 70. Geburtstag
Festschrift
für Hans-Heinrich Jescheck
zum 70. Geburtstag

Iierausgegeben von

Theo Vogler

in Verbindung mit

]oachim Iierrmann . ]ustus Krümpelmann . Reinhard Moos


Otto Triffterer . Rudolf Leibinger . Dieter Schaffmeister
]ürgen Meyer . Peter Iiünerfeld • Iians-]oachim Behrendt

Zweiter Halbband

DUNCKER & HUMBLOT . BERLIN


CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Festsduift fiir Hans-Heinrich Jescheck zum 70.
[siebzigsten] Geburtstag / hrsg. von Theo Vogler
in Verbindung mit Joachim Herrmann ... - Berlin:
Duncker und Humblot, 1985.
ISBN 3-428-05801-1
NE: Vogler, Theo [Hrsg.]; Jescheck, Hans-Heinrich:
Festschrift

Redaktion: Johanna Bosch


Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen
Wiedergabe und der 'übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten.
@ 1985 Duncker & Humblot, Berlln 41
Satz: Hagedornsatz, Berlin 48
Gedruckt li85 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61
Printed in Germany
ISBN 3-428-05801-1
INHALT

ERSTER HALBBAND

Rudolj Leibinger, Konstanz


Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag ...................... 1

Eduard Dreher, Bonn


Hans-Heinrich Jescheck in der Großen Strafrechtskommission 11

Grundfragen

Thomas Würtenberger, Freiburg i. Br.


Der schuldige Mensch vor dem Forum der Rechtsgemeinschaft 37

Richard Lange, Köln


Neue Wege zu einer Gesamten Strafrechtswissenschaft 53

Jorge de Figueiredo Dias, Coimbra


Vom Verwaltungsstrafrecht zum Nebenstrafrecht. Eine Betrachtung
im Lichte der neuen portugiesischen Rechtsordnung .............. 79

Jürgen Baumann, Tübingen


Dogmatik und Gesetzgeber. Vier Beispiele ........................ 105

Hans Lüttger, Berlin


Bemerkungen zu Methodik und Dogmatik des Strafschutzes für
nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter .............................. 121

Günter Spendel, Würz burg


Unrechtsurteile der NS-Zeit 179

Strafrecht - Allgemeine Lehren

Jose Maria Rodriguez Devesa, Madrid


Nullum crimen sine culpa en la reforma deI C6digo penal espaiiol
en 1983 .......................................................... 201
VI Inhalt

Rudol/ Schmitt, Freiburg i. Br.


Der Anwendungsbereich von § 1 Strafgesetzbuch (Art.103 Abs.2
Grundgesetz) ...................................................... 223

Andrze; Spotowski, Warschau


Das Rückwirkungsverbot im polnischen Recht .................... 235

Armin Kau/mann, Bonn


"Objektive Zurechnung" beim Vorsatzdelikt? 251

Arthur Kau/mann, München


Kritisches zur Risikoerhöhungstheorie 273

Günter Stratenwerth, Basel


Zur Individualisierung des Sorgfaltsmaßstabes beim Fahrlässigkeits-
delikt ............................................................ 285

Hans-Joachim Behrendt, Freiburg i. Br.


Das Prinzip der Vermeidbarkeit im Strafrecht .................... 303

Justus KTÜmpelmann, Mainz


Die normative Korrespondenz zwischen Verhalten und Erfolg bei
den fahrlässigen Verletzungsdelikten .............................. 313

Santiago Mir Puig, Barcelona


Die "ex ante"-Betrachtung im Strafrecht 337

Man/red Burgstaller, Wien


Erfolgszurechnung bei nachträglichem Fehlverhalten eines Dritten
oder des Verletzten selbst ........................................ 357

Kazimierz Buchala, Krakau


Der Dolus eventualis in der polnischen Strafrechtslehre und Recht-
sprechung .................. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

Gunther Arzt, Bern


Falschaussage mit bedingtem Vorsatz. Bemerkungen zu den Zweifeln
des Täters an der Rechtfertigungslage oder am Tatbestandsausschluß 391

Man/red Maiwald, Göttingen


Zur Leistungsfähigkeit des Begriffs "erlaubtes Risiko" für die Straf-
rechtssystematik .................................................. 405

Giuliano Vassalli, Rom


La dottrina italiana dell'antigiuridicita ............................ 427
Inhalt VII

Jose Cerezo Mir, Saragossa


Consideraciones generales sobre las causas de justificacion en el
derecho penal espafiol ............................................ 441

Claus Roxin, München


Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand 457

Eberhard Schmidhäuser, Hamburg


über den axiologischen Schuldbegriff des Strafrechts: Die unrecht-
liche Tatgesinnung ................................................ 485

Hans ThoTnstedt, Stockholm


Der Rechtsirrtum im schwedischen Strafrecht 503

S. A. Strauss, Pretoria
Liability for a so-called "mere omission" and the duty to rescue in
South African Law .............................................. 515

Friedrich Nowakowski, Innsbruck


Nochmals zu § 42 öStGB (Mangelnde Strafwürdigkeit der Tat) 527

Karl Heinz Gössel, Erlangen


Sukzessive Mittäterschaft und Täterschaftstheorien 537

Hans-Joachim Rudolphi, Bonn


Die zeitlichen Grenzen der sukzessiven Beihilfe .................. 559

Strafremt - Besonderer Teil

Ulrich Klug, Köln


Das Aufstacheln zum Angriffskrieg (§ 80 a StGB). Allgemeine und
spezielle Interpretationsprobleme .................................. 583

Jan Remmelink, Amsterdam


Die Strafbarkeit der Rassendiskriminierung in den Niederlanden 601

Günther Jakobs, Regensburg


Die Aufgabe des strafrechtlichen Ehrenschutzes 627

Karl Lackner, Heidelberg


Neuorientierung der Rechtsprechung im Bereich des Vollrauschtat-
bestandes? ........................................................ 645
VIII Inhalt

Herbert Tröndle, Waldshut-Tiengen


Vollrauschtatbestand und Zweifelsgrundsatz 665

Arztrecht
Paul Boekelmann, München
Die Dokumentationspfiicht des Arztes und ihre Konsequenzen .... 693

Strafverfahren und Gerichtsverfassung

Johannes Andenaes, Os10


Die neue norwegische Strafprozeßordnung ........................ 715

Reinhard Moos, Linz


Beschuldigtenstatus und Prozeßrechtsverhältnis im österreichischen
Strafverfahrensrecht .............................................. 725

Hans-Ludwig Schreiber, Göttingen


Wie unabhängig ist der Richter? 757

ZWEITER HALBBAND

Kriminalpolitik
Mare Aneel, Paris
Directions et direetives de politique criminelle dans le mouvement
de reforme penale moderne ...................................... 779

Hans Schultz, Bern


Krise der Kriminalpolitik? 791

Heinz Müller-Dietz, Saarbrücken


Integrationsprävention und Strafrecht. Zum positiven Aspekt der
Generalprävention ................................................ 813

Pietro Nuvolone, Mailand


L'opzione penale .................................................. 829

Alfonso M. Stile, Neapel


Coneetto e trattamento della «criminalita minore» in Italia .... . . 845
Inhalt IX

Raimo Lahti, Helsinki


Zur Entwicklung der Kriminalpolitik in Finnland 871

Marino Barbero Santos, Madrid


Die Strafrechtsreform der spanischen konstitutionellen Monarchie 893

Antonio Beristain, San Sebastian


La reforma penal tambien desde la Universidad 921

Friedrich Schaf/stein, Göttingen


überlegungen zur Diversion 937

Wolfgang Heinz, Konstanz


Neue Formen der Bewährung in Freiheit in der Sanktionspraxis der
Bundesrepublik Deutschland ...................................... 955

Heinz Zipf, Salzburg


Teilaussetzung bei Freiheits- und Geldstrafen .... . . . . . . . . . . . . . . . . .. 977

Dieter Schaf/meister, Leiden


Durch Modifikation zu einer neuen Strafe. Versuch einer Erklärung
der fortdauernden Verwendung der kurzen Freiheitsstrafe in den
Niederlanden ..................................................... 991

Günter Blau, Frankfurt a. M.


Regelungsmängel beim Vollzug der Unterbringung gemäß § 63 StGB 1015

Kriminologie

Günther Kaiser, Freiburg i. Br.


Kriminologie im Verbund gesamter Strafrechtswissenschaft am Bei-
spiel kriminologischer Forschung am Max-Planck-Institut in Frei-
burg ............................................................. 1035

Joset Kürzinger, Freiburg i. Br.


Der kriminelle Mensch - Ausgangspunkt oder Ziel empirischer
kriminologischer Forschung? ...................................... 1061

Heinz Schöch, Göttingen


Empirische Grundlagen der Generalprävention .................... 1081

Horst Schüler-Springorum, München


Jugend, Kriminalität und Recht .................................. 1107
x Inhalt

Klaus Sessar, Hamburg


über das Opfer. Eine viktimologische Zwischenbilanz .............. 1137

Koichi Miyazawa, Tokio


Informelle Sozialkontrolle in Japan unter besonderer Berücksichti-
gung ihrer praktischen Vorgehensweisen und Handlungsstrategien
im Bereich informeller Verbrechenskontrolle ...................... 1159

Wolf Middendor!f, Freiburg i. Br.


Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Eine historisch-kriminologische
Studie ............................................................ 1175

Rechtsvergleichung

Viktor Liebseher, Wien


Hans-Heinrich Jescheck und die österreichische Strafrechtswissen-
schaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1197

Robert Hauser, Zürich


Die Rechtsvergleichung als Auslegungshilfe in der höchstrichterlichen
Rechtsprechung im materiellen Strafrecht .......................... 1215

Haruo Nishihara, Tokio


Die gegenwärtige Lage der japanischen Strafrechtswissenschaft .... 1233

Friedrich-Christian Schroeder, Regensburg


Die Gliederung der Straftat in der Sowjetunion und in der DDR 1249

Peter Hüner!eld, Freiburg i. Br.


Aspekte des Verkehrsstrafrechts im Vergleich der Bundesrepublik
Deutschland und Österreichs ...................................... 1265

Joachim Herrmann, Augsburg


Aufgaben und Grenzen der Beweisverwertungsverbote. Rechtsver-
gleichende überlegungen zum deutschen und amerikanischen Recht 1291

Jürgen Meyer, Freiburg i. Br.


Zur V-Mann-Problematik aus rechtsvergleichender Sicht .......... 1311

Thomas Weigend, Freiburg i. Br.


Anmerkungen zur Diskussion um den Kronzeugen aus der Sicht des
amerikanischen Rechts ............................................ 1333
Inhalt XI

Strafrechtsanwendungsrecht
Internationales und supranationales Strafrecht
Völkerstrafredtt

Albin Eser, Freiburg i. Br.


Die Entwicklung des Internationalen Strafrechts im Lichte des Wer-
kes von Hans-Heinrich Jescheck .. , '.' ......... ' ... , ............... 1353

Theo Vogler, Gießen


Zur Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile .... 1379

Dietrich Oehler, Köln


Fragen zum Strafrecht der Europäischen Gemeinschaft ............ 1399

Klaus Tiedemann, Freiburg i. Br.


Der Allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts 1411

Jacques Verhaegen, Louvain-la-Neuve


La repression des crimes de guerre en droit beIge. Aleas et perspec-
tives .............................................................. 1441

M. ehen! Bassiouni, Chicago


The Proscribing Function of International Criminal Law in the Pro-
cesses of International Protection of Human Rights ................ 1453

Otto Triffterer, Salzburg


Völkerstrafrecht im Wandel? ........ . ............................. 1477

Bibliographie

Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck .. . ............. 1507


Kriminalpolitik
MARC ANCEL

Directions et directives de politique criminelle


dans le mouvement de reforme penale moderne

C'est pour nous ä. la fois un honneur et une grande satisfaction que


de participer ä. un hommage collectif rendu au Professeur J escheck.
Depuis de nombreuses annees nous avons suivi le developpement re-
marquable de son reuvre scientifique et apprecie le rayonnement de
sa pensee et de son action dans les Congres; les conferences, les Collo-
ques et les Rencontres internationales ou nous avons eu le privilege
de travailler avec lui: nous l'avons rencontre en particulier dans le
double domaine du droit penal compare et de la politique criminelle,
dont il a su degager la signification moderne. Il a, ä. cet egard, insiste
justement sur l'importance du mouvement de reforme penale des pays
de l'Europe oceidentale et c'est pourquoi nous croyons pouvoir lui
dedier iei quelques reflexions sur ce grand mouvement de reforme,
du point de vue de la politique criminelle d'aujourd'hui.

1.

Le premier mouvement de codification penale, qui date, comme on


le sait, de la fin du XVIIle siecle, avait apporte, certes, une revision
totale de la maniere d'envisager la re action anti-criminelle; mais il
avait d'abord eu pour objet de rompre avec l'Aneien droit commun
europeen (prineipalement non ecrit) pour lui substituer des Codes, au
sens alors nouveau du terme. Bientöt au XIXe siecle, des Codes autri-
chien de 1803, fran!;ais de 1810 et bavarois de 1813 aux Codes prussien
de 1851, portugais de 1852, beIge de 1867, allemand de 1871 et italien
de 1889, il cherchait surtout ä. definir et ci exprimer une legislation
nationale dans une Europe ou tout a la fois la suprematie de la loi
ecrite et le principe des nationalites poussaient au cloisonnement par-
ticulariste des systemes penaux. La premiere moitie du XXe siecle et
specialement la periode d'entre les deux Guerres, a connu egalement
un large mouvement de legislation et de codification penale; mais ici
encore le souei premier etait de doter les pays nouveaux et reconsti-
tues Oa Pologne, la Yougoslavie, les Pays baltes, la Roumanie) de Co-
des autonomes, tandis que d'autres (l'Espagne, par le Code ephemere
780 Mare Aneel

de 1928, le Danemark et l'Italie en 1930, la Suisse en 1937) cherchaient


surtout a mettre au point un systeme penal tres elabore.

Apres la Seconde guerre mondiale, la situation est quelque peu dif-


ferente. Sans doute, la geographie politique de l'Europe est une fois
eneore bouleversee, et des pays profondement transformes vont aspirer
a se donner une legislation renouvelee, mais quelques phenomenes,
politico-sociologiques, modifient les donnees du probleme. D'abord, une
nouvelle familIe de droit s'etablit a cote des systemes anciens (romano-
germanique ou de Common Law), celle des Pays socialistes (l'Europe
d'entre les deux guerres n'ayant connu, mais en l'ignorant presque
completement du point de vue de la science comparative, que la Russie
sovietique de la Revolution d'octobre). En second lieu, malgre toutes
ses imperfections et ses limites, l'Organisation des Nations Unies joue
un role beaucoup plus actif dans le developpement des institutions
penales que l'ancienne Societe des Nations. Celle-ci avait bien favo-
rise la constitution d'un Bureau pour l'unification du droit penal, avec
l'adoption en 1937 (deja!) d'une Convention internationale sur 1a re-
pression du terrorisme; mais ces efforts etaient restes sporadiques et
n'avaient pas donne de resultats durables. Au contraire, 1es Nations
Unies, dans la dynamique de la Declaration Universelle des Droits de
l'Homme de 1948, declaraient, cette meme annee (et enconstituant au
Secretariat general une Section alors appelee « de Defense sociale»)
vouloir prendre le leadership de la lutte contre la criminalite en pre-
conisant une politique « de prevention du crime et de traitement des
delinquants», selon une formule qui fit fortune. Cette action se tra-
duisait par l'organisation de Congres (un grand Congres toujours « de
prevention du crime et de traitement des delinquants» tous les cinq
ans), de conferences, de seminaires, de colloques, de commissions d'ex-
perts, sur le plan regional ou general, reunissant les specialistes de
differents pays, suscitant des recherches individuelles et collectives,
favorisant les echanges et les rencontres. A quoi vint s'ajouter bientöt
l'action du Conseil de l'Europe avec l'adoption en 1950 d'une Decla-
ration europeenne des Droits de l'Homme et la constitution en 1959 du
Comite europeen pour les problemes criminels.

La reforme penale entreprise un peu partout baigne alors, pourrait-


on dire, dans ce climat de cooperation et d'emulation reciproques. Elle
est aus si methodiquement poursuivie et scientifiquement etudiee: les
commissions chargees de la mettre au point sont dans les grands pays
composees de personnalites qualifiees, proceclant a de larges enquetes
comparatives, suscitant des debats fructueux et s'entourant d'avis auto-
rises. Le cas de la reforme de l' Allemagne federale, qui aboutit a la
renovation du Code pena1 en 1975 et le cas de la Grande Bretagne,
Directions et directives de politique criminelle 781

ou les travaux de la Commission royale sur la peine de mort, notam-


ment, ont eu un grand retentissement international, en sont l'exemple.
Meme en Union sovietique, les «Fondements de la legislation penale
de I'URSS et des Republiques federees» de 1958, qui donneront nais-
sance aux Codes de 1959 - 1961, ont fait l'objet d'une preparation tres
serieusement discutee. Aussi bien cette epoque est-elle celle OU s'eta-
blissent des rapports culturels entre les deux blocs de structure econo-
mico-politique et d'ideologie differentes: les juristes occidentaux pren-
nent conscience de la realite des droits socialistes, et les representants
des pays de rEst cessent de rejeter brutalement le droit «bourgeois »:
En meme temps, on s'interesse de plus en plus aux efforts d'unification
ou d'harmonisation des droits sur des plans regionaux ; on etudie avec
soin, meme en Europe, le Model Penal Code de I'American Law Insti-
tute (1962) et le Codigo penal tipo para Latino-America (1973), sans
oublier la cooperation legislative etroite des pays nordiques ou -
allans resolument du Nord au Sud - les efforts entrepris pour une
harmonisation des legislations penales de l' Afrique noire. En toutes
ces matieres, le developpement moderne des etudes et de la technique
comparative prend une influence remarquable.
Taus ces elements sont connus, mais nous les rappeIons pour bien
insister sur le fait que par la s'est creee une sorte de communaute d'in-
teret et une prise de conscience commune des grands problemes ac-
tuels, des necessites presentes et - c'est la encore un des apports du
droit compare moderne - des grands courants internationaux qui se
font sentir a travers les systemes particularistes et des convergences
qui, sous leur influence, s'etablissent souvent spontanement dans la
realite fonctionnelle du droit penal et de la politique criminelle. Ce
sont quelques unes de ces constantes comparatives que nous voudrions
essayer de degager a la lumiere des explications qui precedent, moins
d'ailleurs au regard de ce qui a deja ete fait qu'en ce qui concerne ce
qui reste a faire, c'est-a-dire la direction du mouvement de reforme
dans sa prospective politico-criminaliste.

11.

Sans revenir une fois encore sur l'histoire, nous rappel1erons que
le mouvement moderne de reforme penale a sa source premiere dans
cet autre mouvement reformateur qui, il y a un siecle, remettait en
question le systeme existant de droit peDal. A la suite de la Revolu-
tion de l' Age des Lumieres s'etait etabli, pour tout le XI Xe siecle, un
systeme penal qui nous regit encore largement avec le principe de
legalite, la responsabilite penale et la peine retributive. La publication
en 1876 de l'Uomo delinquente de LombrosD, bientöt suivie en doctrine
782 Mare Aneel

par la Sociologie criminelle de Fern et par la Criminologie de Garo-


talo remettait en question bien des certitudes aequises. Ce qu'on a
appele la « revolte positiviste» n'a pas eu l'action radicale des emules
de Beccana, mais a agi de fa~on progressive et plus insidieuse. L'Union
internationale de droit p€mal fondee en 1889 par von Liszt, van Harnel
et Adolphe Pnns, se donnait pour mission de concilier le droit penal
(nouveau) et les enseignements de la Criminologie. Successivement, la
notion d'individualisation, l'etat dangereux, les mesures de surete, la
reaction contre le recidivisme (au-deUt de la « recidive » legale), la re-
cherche d'un regime special a la fois pour les anormaux mentaux et
les jeunes delinquants et deja l'idee de la reforme penitentiaire pre-
occupaient les criminalistes de 1a premiere moitie de ce siecle et cet
heritage, pourrait-on dire, a ete re~u par 1e mouvement contemporain
de reforme penale.

Cet apport premier a conduit ä. une mamere nouvelle d'envisager


la reaction anti-criminelle. Schematiquement on peut dire que 1'0n a
vu successivement apparaitre :
- a cöte de l'entite delit, si chere au droit classique de Carrara,
le delinquant individu; d'ou on tirera ensuite (a cöte ou par deUt la
dangerosite et la mesure de surete) la typologie criminelle entrainant,
devant 1a difference des sujets, des moyens differents de reaction so-
ciale;
- a cote de la repression, 1a prevention et 1e traitement; d'ou sor-
tira la revision du regime des prisons, la recherche de mesures nou-
velles pour les mineurs et les jeunes adultes, la probation, 1a eure libre
etaussi des regles minima pour le traitement des detenus, elaborees
a la fois par les Nations Unies et par le Conseil de I'Europe et qui se
souviennent des Droits de I'Homme ;
- ä. cöte de la criminalite, la deviance, 1a marginalite (et 1a margi-
nalisation), mais aussi le «droit ä. 1a difference »,la notion des inter-
actions de l'individu et du milieu, le souci d'une protection individuelle
etendue ä. des domaines nouveaux (depuis l'intimite personnelle et 1es
droits de la personnalite jusqu'a 1a protection de l'environnement);
ce qui conduit aussi a s'interroger sur le phenomene de la victimisa-
tion et la prise en consideration de la victime, sur lesquels nous re-
viendrons pour conclure.

En partant de la, on voit se degager dans 1e mouvement moderne


de reforme p€male certaines lignes de force d'ou il semble possible de
tirer des directives de politique criminelle auxquelles nous voudrions
consacrer quelques observations particulieres. On peut les comprendre
sous trois grandes rubriques.
Directions et directives de politique criminelle 783

La premiere de ces directives consiste sans doute a se situer sur


le plan d'une veritable politique criminelle. Apremiere vue, tout Etat
ou tout systeme legislatif possede une politique criminelle puisque
par necessite i1 organise d'une certaine maniere sa reaction contre le
crime. En realite, cette organisation de la reaction sociale est le plus
souvent abandonnee a l'improvisation, aux courants successifs de l'opi-
nion publique et aux reactions impulsives des dirigeants; c'est la poli-
tique du «coup par COUP», exclusive de tout dessein d'ensemble, ou
cette «legislation de panique», qu'ont denoncee les sociologues ame-
ricains, laquelle, impulsivement aussi, tombe facilement dans les pires
exces. Le mouvement de reforme penale moderne, dans la mesure OU
il comporte la reflexion et la prise de conscience que nous avons signa-
lees, tend au contraire a definir une politique criminelle rationelle,
coherente et scientifiquement eclairee, c'est-a-dire supposant d'abord
une analyse du phenomene criminel fondee sur les apports des autres
sciences humaines.
Cette premiere position comporte au moins deux consequences. La
premiere est de se degager, pour reagir contre elle, de l'inflation pe-
nale, dont souffrent tous les pays industrialises, et qui n'est qu'une
consequence de la Iegislation chaotique du «coup par CoUP». La se-
conde consiste dans une apprehension raisonnee de la phenomeno-
logie criminelle et de la reconnaissance de ce que le crime n'est pas
une donnee primaire anterieure au systeme de droit qui lui repond;
tout au contraire, il est englobe dans cette reponse et constitue lui-
meme souvent une replique instinctive ades forces contradictoires.
La re action organisee ne peut donc plus se fonder sur le manicheisme
ancien du delinquant et du non-delinquant, qui lui-meme tend vers
une notion ontologique de crime. La politique criminelle rationnelle
doit etre « differenciee» (certains disent «stratifiee »), c'est-a-dire com-
porter des reponses diversifiees, par nature et non pas seulement par
degre, aux defis, egalement diversifies, de la delinquance. Pratique-
ment, et pour simplifier, cette politique criminelle distinguera la
grande criminalite (quitte cl la mieux definir) de la petite delinquance
qui l'une et l'autre appellent des reactions differentes. Sans doute la
pratique quotidienne est-elle encore souvent loin de cette conception,
mais elle n'en est pas mo ins logiquement impliquee dans le mouvement
de Te/arme penale moderne.

III.
Une autre position - et une autre directive - de ce meme mouve-
ment resulte de sa reaction contre la politique du tTaitement, preco-
nisee au lendemain de la He guerre mondiale. Cette notion de traite-
784 Mare Aneel

ment a ete une des grandes idees des annees 1950 et la substitution
du traitement a la punition c1assique un des grands espoirs des peno-
logues de l'epoque. On entendait alors utiliser la privation de liberte
pour soumettre le delinquant interne a un processus (scientifique) de
resocialisation. On rejoignait ainsi la Reforme penitentiaire qui etait
egalement une des grandes positions de politique criminelle du mo-
ment; ear c'etait par une transformation du regime - et du person-
nel - des etablissements de detention qu'on entendait mener a bien
cette politique de «rehabilitation ». Des efforts furent entrepris et des
tentatives furent faites, encore qu'on puisse avoir quelques doutes
sur leurs reelles chances de succes, etant donne les conditions preeai-
res dans lesquelles elles etaient poursuivies. Quoiqu'il en soit, il appa-
rut, a la fin des annees 60 et avec les annees 70, que l'experience se
soldait par un echec, qu'on n'avait pas pu mettre au point des me-
thodes efficaces de traitement penitentiaire et qu'en fait les detenus
scientifiquement «traites» recidivaient dans les memes conditions et
les memes proportions que ceux qu'on avait soumis simplement a la
routine traditionnelle de la prison. Quelles conc1usions devait-on tirer,
sur le plan de la politique criminelle, de cet echec du traitement pro-
clame, parfois avec virulence, par une litterature criminologique abon-
dante, notamment aux Etats-Unis d'Amerique?

Une premiere maniere de voir consistait a balayer d'un revers de la


main non seulement le traitement de resocialisation, mais la notion
meme de reinsertion sociale pour pröner le retour inconditionnel a la
repression «pure et du re ». Certains trouvaient un argument supple-
mentaire dans la brusque augmentation de la criminalite, surtout chez
les jeunes, et dans la flambee de la violence qui propageait dans l'opi-
nion un sentiment croissant d'insecurite. Aussi bien, ajoutait-on, les
terroristes ou les agents du crime organise ne sont susceptibles d'au-
cune «resocialisation », alors qu'on les presumait (quelque peu gra-
tuitement) sensibles a l'intimidation du chätiment, et qu'en tout cas
de longues peines auraient au mo ins l'avantage de neutraliser, pendant
leur duree, les individus les plus dangereux: on retrouvait ainsi tout
naturellement la vieille «periculosite» des Positivistes. Cette theorie,
reprise avec comp1aisance par les mass media et utilisee avec habilete
par certains politiciens, a entraine que1ques retours legislatifs a la
politique de severite pretendue intimidante.

Une autre maniere de voir consistait au contraire a etablir ici quel-


ques distinctions salutaires. Si les actes de violence, 1a criminalite or-
ganisee et le terrorisme frappaient les esprits, l'augmentation de la
delinquance n'etait pas aussi grave qu'on le pretendait et le nombre
des homicides en particulier n'avait pas sensiblement augmente. Les
Directions et directives de politique criminelle 785

prisons restaient remplies de malheureux, de handicapes physiques,


mentaux ou sociaux que l'internement carceral conduisait irremedia-
blement a la decheance et en tout cas a la recidive. Le recours a la
violence n'etait souvent pour certains jeunes qu'une reaction de re-
volte ou qu'un effort desespere pour se faire comprendre, quand tour
a tour la famille (absente ou desorganisee), l'ecole, l'armee, l'appren-
tissage et finalement le milieu social les avaient rejetes ou trauma-
tises. La directive a suivre etait alors, ici encore, d'etudier de pres le
probleme criminel et d'en mesurer les causes exactes. En tout cas, en
dehors des cas - finalement exceptionnels - ou l'internement s'im-
posait, non comme punition mais comme mesure de securite, au sens
propre du mot, le recours a la prison etait une erreur, qui ne pouvait
que developper encore la criminalite. Il fallait des lors mettre un terme
a l'emploi indiscrimine et routinier de l'emprisonnement, destructeur
de la personnalite et incapable de permettre (en detention) un traite-
ment reeducateur.
L'abandon du traitement (toujours en milieu ferme) et le rejet du
«mythe medical» (qui pretendait guerir le delinquant de sa delin-
quance) ne conduisaient donc nullement, dans une vue saine de poli-
tique criminelle, a une repression accrue. La reaction americaine s'ex-
pliquait d'abord par l'existence et les abus, aux Etats-Unis, des sen-
tences indeterminees, des Parole Boards, organismes non judiciaires
qui finalement decidaient de la longueur de la peine et de la libera-
tion du detenu, et de l'extreme «discretion» laissee aces autorites
diverses; d'ou un retour brutal vers la fixite des sentences. La situa-
tion etait toute differente en Europe occidentale. Au surplus, cette
reaction legaliste avait egalement pour cause (et pour objet) le souci
d'assurer une meilleure protection des droits individuels, menaces par
l'incertitude des sentences et le pouvoir de « discretion» des decideurs.
N'etait-ce pas un retour aux sources, aux Declarations des Droits de
la fin du XVlIIe siecle, a Voltaire et a Beccaria? A une heure ou l'on
voit un peu partout dans le monde reapparaitre des systemes autori-
taires et s'instaurer des methodes negatrices des droits de la defense,
il est plus necessaire que jamais de maintenir un Etat de droit, et de
donner a 1a politique criminelle pour täche premiere la garantie des
droits fondamentaux de l'individu et la protection de l'etre humain.
C'est la nous semb1e-t-il une des grandes directives qu'on peut tirer
du mouvement de reforme pena1e moderne.

IV.

Si l'on se place dans cette perspective generale, on sera conduit a


considerer que ce mouvement se caracterise enfin par la mise en ceuvre

50 Festschrift für H.-H. Jescheck


786 Mare Aneel

d'une politique reflechie de depenalisation, sur laquelle le Professeur


Jescheck a souvent et justement insiste. 11 s'agit, la encore, d'un large
courant international dont, pour schematiser rapidement on peut dire
qu'il prend trois formes essentielles du point de vue de la politique
criminelle.

La premiere consiste dans un effort de decriminalisation reagissant


contre l'encombrement legislatif de systemes ou des vestiges du passe
voisinent avec les apports de l'inflation penale plus recente, deja signa-
lee. Depuis l'adultere, d'autant anachronique qu'en principe il ne pu-
nissait que celui de la femme, jusqu'a l'interruption volontaire de
grossesse (qui n'a pas ete sans soulever de graves polemiques et des
resistances passionnees, surtout dans les pays de tradition catholique)
et aux infractions sexuelles: l'homosexualite, en particulier, cesse pro-
gressivement partout d'etre incriminee, du mo ins entre majeurs con-
sentants (n'est-ce pas aussi la reconnaissance du droit «d'etre diffe-
rent »?), le courant qui vise a la suppression d'incriminations anciennes
est tres net. La legislation nouvelle procede aussi graduellement a un
abaissement des penalites traditionnelles, par exemple en ce qui con-
cerne le vol commis par un domestique ou un employe qui, dans le Code
penal franc;ais de 1810, comportait des peines criminelles prononcees
par la Cour d'assises. Depuis longtemps du reste Ia pratique de Ia
« correctionalisation » se contentait de les traiter en delits simples.

Une autre forme, tres significative de ce courant commun, consiste


a supprimer ou a reduire le recours a la peine privative de liberte.
lci, la grande reforme allemande de 1975, la loi franc;aise du 11 juillet
de la meme annee (suivie de queIques autres), la loi italienne du 24 no-
vembre 1981 «portant modification au systeme penal» et le nouveau
Code penal portugais de septembre 1982 se rejoignent en quelque sorte
naturellement, bien qu'avec des techniques et par des moyens diffe-
rents. Tantot on decide que les peines de prison prevues par la loi et
inferieures, par exemple, a six mois seront automatiquement rem-
placees par des amendes ; tantot on retire a certaines infractions (mi-
neures) leur caractere penal pour les transformer en simples contra-
ventions d'ordre administratif en les soustrayant a la justice repres-
sive (c'est le cas remarquable des Ordnungswidrigkeiten de l'Alle-
magne federale, systeme aussitot imite par d'autres legislations), tan-
tot on met a la disposition du juge une gamme nouvelle de sanctions
non privatives de liberte pour prendre la place de l'emprisonnement
de routine, tantot encore on lui permet de prevoir l'execution de sa
sentence sous forme de semi-liberte, de peine fractionnee, d'arrets de
fin de semaine, toutes modalites qui permettent au condamne de rester
dans sa famille, dans son milieu et dans son emploi. Enfin, l'adoption
Directions et directives de politique criminelle 787

generalisee du systeme des «jours-amendes» permet une utilisation


nouvelle de la sanction pecuniaire, devenue ici souvent «peine de rem-
placement»; et, sur le modele des community service orders anglais
de 1972 la condamnation a effectuer des travaux d'interet commun
connait un tel succes legislatif que le Parlement fran~ais (ehose raris-
sime) vient de l'adopter en 1982 a l'unanimite.
Dans toutes ces hypotheses, on reste encOre cependant dans la per-
spective de l'emprisonnement - ou de ses modalites de remplacement.
On fera un pas de plus, decisif cette fois, si l'on essaye de pousser la
depenalisation jusqu'a sortir du domaine penal et meme de la juridic-
tion criminelle. L'exemple des Ordnungswidrigkeiten de l'Allemagne
federale allait deja en ce sens. Mais on peut aller plus loin encore,
d'une part en substituant aux moyens penaux (ou repressifs) de reac-
tion des moyens non penaux, ceux du droit civil, du droit administra-
tif, du droit social, des organismes d'education, de sante ou d'assistance,
d'autre part, en evitant le recours aux juridictions et aux procedures
penales, ce qu'on a tente aux Etats-Unis d'Amerique par les processus
de diversion et au Canada par la dejudiciarisation. On ne peut songer
a examiner ici tous ces procedes, mais il faut au moins souligner la
direction generale qu'ils representent dans l'evolution de la politique
criminelle d'aujourd'hui. Ils aboutissent d'ailleurs dans certains cas
ades experiences ou ades processus de mediation, de concertation et
de conciliation qui constituent un moyen nouveau de solution des con-
flits sociaux. L'exemple des Community Boards americains - sur les-
quels nous ne pouvons pas davantage insister - est a cet egard signi-
ficatif. Et l'on pourrait se referer egalement a l'institution, certes tres
differente, mais ä certains egards parallele, des «Tribunaux de cama-
rades» des pays socialistes.

v.
Le mouvement moderne de depenalisation meriterait sans doute de
plus amples explications, mais nous avons seulement voulu montrer
comment il est l'aboutissement logique et pour ainsi dire necessaire
du mouvement de reforme penale moderne dans sa signification de
politique criminelle. Nous en aurions termine avec nos trop longues
explications s'il ne nous fallait encore signaler, brievement, deux
points qui paraissent apremiere vue aller a contre-courant de ce mou-
vement general. D'une part, en effet, la politique criminelle contem-
po raine a ete amenee dans certains cas a etablir de nouveaux modes,
quasi-repressifs, de reaction anticriminelle; d'autre part, elle conserve
soigneusement certains principes ou certaines positions qui la ratta-
ehent encore, par dela les innovations de 1950 ou meme par dela la

50'
788 Mare Aneel

«revolte positiviste» de la fin du sieeie dernier, aux positions pre-


mieres du systeme penal de l'Age des Lumieres.
Nous ne rappelleronspas une fois de plus les reactions de divers pays
contre les formes modernes de la criminalite et la montee de la vio-
lence. On sait que de nouvelles infractions ont ete creees (comme le
detournement d'avion ou la prise d'otages) et que des procedures, voire
des juridictions speciales, plus ou moins restrictives des droits de la
defense, sinon simplement des Droits de l'Homme, ont eie imaginees
ici et la a l'egard de certains criIhes et surtout de certaines categories
de delinquants; tout cela es! bien connu. Mais ce courant - de cri-
minalisation, cette fois - s'est m'anifeste egalement dans des do-
maines ou, auparavant, une impunite de fait etait la regle. L'exemple
le plus frappant est sans doute celui du White Collar CTime sur lequel
Ed. H. Sutherland attira l'attention aux alentours de 1940 avec un
retentissement considerable. Le droit penal economique, plus specia-
lement aujourd'hui le ce droit penal des affaires» a pris une extension
et une actualite remarquables; mais, a y bien reflechir, ce courant
incriminateur n'etait pas vraiment en contradiction avec le mouve-
ment general de reforme penale, dans la mesure ou il temoignait d'une
volonte de proteger certains faibles et d'une prise de conscience de
certaines exigences de la solidarite sociale. On acherche alors a mieux
garantir, meme penalement, la securite des travailleurs, les consom-
mateurs contre les abus don! ils etaient viCtimes ou ceux qui etaient
exposes aux ravages de la pollution ou de l'industrialisation deme-
suree; de la le solici d'une nouvelle protection de la nature et l'idee,
reprise expressement par certaines constitutions recentes, que l'homme
a «droit a un environnement sain ». Le mouvement de reforme reste
ici fidele a sa grande orientation humaniste.
Il l'est encore en se preoccupant- d'assurer une proteCtion nouvelle,
cette fois de la victime. Le systemeclassique ä vrai dire l'ignorait pour
ne lui donner que la satisfaction morale de voir chätier son agresseur.
Quand la science criminologique s'etait, au lendemain de la derniere
guerre, interessee a la Victimologie, c'etaitsurtout pour l'etudier
comme on avait jusqu'alors etudie le criminel et ces recherches te-
moignaient parfois de ce qu'on pourrait appeler un «lombrosisme
a l'envers» qui en arrivait a parler de predispositions ou de tendances
« victimelles ». On fait un pas considerable en parlant desormais de
« victimisation », c'est-a-dire en partant, non plus du deUt abstrait
ou meme du delinquant concret, mais de la personne qui a subi le dom-
mage pour assurer sa defense au-dela de lavieille constitution de
partie civile de notreprocedure penale; Un mouvement interessant se
manifeste en ce sens, et la France vient d'en donner une illustration
Directions et directives de politique criminelle 789

par sa loi du 8 juillet 1983 « renfor~ant la protection des victimes d'in-


fraction» qui s'inscrit parfaitement dans la ligne de cette renovation
de la politique criminelle caracteristique de revolution fran~aise la
plus recente.
e'est bien finalement dans une direction generale semblable que
s'inscrit selon nous le grand mouvement de reforme penale moderne,
a travers les complexites de sa demarche et en depit d'inevitables
«accidents de parcours ». Malgre tout, cependant, et en depit d'inno-
vations souvent audacieuses, on doit noter - ce qui est aussi une di-
rection, et meme une directive, de politique criminelle - que ce mou-
vement entend conserver, ou consacrer de nouveau, trois principes
essentiels proclames par la Revolution de rAge des Lumieres lors de
l'abolition du systeme penal de l'Ancien droit. Il suffit, pour terminer,
de les rappeier d'un mot. Le premier est la regle de la legalite, qui
regit encore toute nos legislations occidentales (nulla poena sine lege) ;
le second est celui de la responsabilite personnelle, voire de la culpa-
bilite (nulla poena sine culpa). Le troisieme est celui de l'intervention
d'un juge, statuant selon une procedure Iegalement organisee et ga-
rante des droits de tous les interesses (nulla poena sine judicio). Le Pro-
fesseur Jescheck a souvent insiste avec force sur la necessite et sur
l'importance de ces garanties fondamentales. Elles restent a la base
du mouvement de politique criminelle moderne, meme lorsque celui-ci
a travers bien des tätonnements, des hesitations et parfois des contra-
dictions, cherche a realiser son expression definitive.
HANS SCHULTZ

Krise der Kriminalpolitik?

Einem großangelegten und umfassenden überblick über die Entwick-


lung des Strafrechts im weitesten Sinne gab Hans-Heinrich Jescheck
1979 den Titel "Die Krise der Kriminalpolitik"l. Es ist verlockend, auf
diese Problematik zurückzukommen, nachdem einige Jahre seit dem
Erscheinen dieses Aufsatzes verstrichen sind, und derart die so oft ge-
führten freundschaftlichen Auseinandersetzungen über strafrechtliche
Grundfragen wieder aufzunehmen. Auseinandersetzungen, in die der
Jubilar als jüngster Mitarbeiter am E 62 und ich als einer der ältesten
Verfasser des Alternativ-Entwurfes eines Strafgesetzbuches eintraten
und die zu einer starken Annäherung der kriminalpolitischen Auffas-
sungen führten. Dies zeigt Jescheck in einer seiner jüngsten Veröffent-
lichungen mit dem Leitsatz: "aussi peu que possible de peines privatives
de liberte, autant que possible d'assistance sociale dans la mesure ou
celle-ci est necessaire"2.
Kriminalpolitik ist nicht jede staatliche Einwirkung, die dazu führen
kann, strafbares Verhalten zurückzudrängen oder dessen Entstehungs-
bedingungen zu beeinflussen. Sonst verschwände jeder Unterschied
zwischen Kriminal- und Sozialpolitik überhaupt. Kriminalpolitik ist
nur die Gesamtheit der unmittelbar auf die Bekämpfung der Krimina-
lität gerichteten staatlichen Vorkehren'.

1 Jescheck, Die Krise der Kriminalpolitik, ZStW 91 (1979), S. 1037, jetzt in


Jescheck, Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft. Ausgewählte Beiträge,
1980, S. 139. Der am 4. Mai 1979 im Centre de recherches de politique crimi-
neUe in Paris gehaltene Vortrag erschien auch in Archives de politique cri-
mineUe 4 (1980), S. 15. - Zur KriminalpoIitik auch La philosophie de la
justice penale et la politique criminelle contemporaine. Travaux de deux
seminaires internationaux organises par l'Institut Superieur International
des Sciences crimineUes a Syracuse (Italie) Janvier 1981 - Mai 1982, Rev. int.
dr. pen. 53 (1982), S. 585 ff.
2 Jescheck, La peine privative de Iiberte dans la poIitique criminelle mo-
deme. Expose comparatif de la situation en Republique federale d'AUe-
magne et en France, Rev. sc. cr. 1982, 723. Man vergleiche damit Schultz,
Einführung in den Allgemeinen Teil des Strafrechts, 4. Aufl. 1982, 48 f.
a Der hier verwendete Begriff der Kriminalpolitik ist enger als der von
Sieverts in dem Artikel Kriminalpolitik, Handwörterbuch der Kriminologie,
2. Aufl., Band 11, 1, 1967, vertretene, der darin "den Inbegriff von überlegun-
gen und Maßnahmen der Gesellschaft und des Staates mit dem Ziel, die Zahl
der Verstöße gegen die kriminal gesetzliche Ordnung zu senken", sieht. Dann
792 Hans Schultz

Die Ausführungen von J escheck lassen erkennen, daß von einer


Krise insbesondere in bezug auf die freiheits entziehenden Sanktionen
gesprochen werden kann'. J escheck setzt sie mit den "gewaltigen Ver-
änderungen in der Entwicklung der Gesellschaft und ihrer Lebensbe-
dingungen"S in den letzten Jahren in Verbindung. Die Krise scheint vor
allem darin zu bestehen, daß die keineswegs neuen Zweifel an der Mög-
lichkeit, mit den Mitteln des Strafrechts eine Resozialisierung herbeizu-
führen', heute öfter und eindringlicher geäußert werden7 •
Anlaß, diese Fragen erneut zu erörtern, bietet nicht zuletzt die Tat-
sache, daß neue und neueste Gesetze an der Resozialisierung als Ziel
strafrechtlicher Sanktionen festhalten 8 wie daß entsprechende ältere
Regelungen unverändert weiterbestehen'. überdies halten neuere und
neueste zwischenstaatliche übereinkommen und neueste Gesetze auf
dem Gebiete der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen am Krite-
rium der Resozialisierung fest. Ohne Vollständigkeit anzustreben sei
hingewiesen auf die Abkommen des Europarates. Das Abkommen vom
28. Mai 1970 über die internationale Geltung von Strafurteilen wählt in
Art. 5 lit. b die bessere Möglichkeit sozialer Wiedereingliederung als
Kriterium, ebenso das vom 15. Mai 1972 über die übertragung der Straf-
verfolgung, Art. 8 lit. f; die Vereinbarung vom 27. November 1982 über
die übersteIlung von Verurteilten spricht im Ingreß von der von ihr
angestrebten Förderung der Wiedereingliederung. Das schweizerische
Rechtshilfegesetz lO stellt in verschiedener Weise auf die soziale Wie-

würden alle staatlichen Vorkehren, die sich auch gegen verbrechensfördernde


Verhältnisse richten, wie städtebauliche, siehe Rolinski, Wohnhausarchitek-
tur und Kriminalität, BKA-Forschungsreihe 13, 1980, dazu gehören. Wie im
Text· MaurachlZipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband I, 1983, Rdn.20
zu§3.
, Jescheck (Anm. 1), S. 139 (1038) f.
6 Anm. (1), S. 143 (1044), im einzelnen II 1 - 5, 144 f. (1044 ff.).
, Siehe schon Schultz, Strafrechtliche Bewertung und kriminologische
Prognose, Melanges Germann, ZStrR 75 (1959), S. 245, bes. Fn. 1.
7 Dazu Eser, Resozialisierung in der Krise? Gedanken zum Sozialisations-
ziel des Strafvollzuges, Festschrift für Peters, 1974, S. 505; Kaiser, Resoziali-
sierung und Zeitgeist, Festschrift für Würtenberger, 1977, S.359, ders., Kri-
minologie. Ein Lehrbuch, 1980, Rdn. 18 zu § 10; ders., Kriminologie. Eine Ein-
führung in die Grundlagen, 6. Auft. 1983, S. 131 f.; Th. Weigend, Entwicklun-
genund Tendenzen der Kriminalpolitik in den USA, ZStW 90 (1978), S. 1115 f.
8 Für die Bundesrepublik § 46 Abs. 1 Satz 2 StGB i. V. m. § 2 Satz 1
StVollzG; Art. 72 Abs. I, Art. 75 Abs.l portugiesisches Strafgesetzbuch vom
23.9.1982.
8 Art.37 Ziff. 1 Abs. 1 Schweiz. StrGB. Siehe aber zur Wirklichkeit des
schweizerischen Strafvollzuges die großangelegte Untersuchung "Der schwei-
zerische Strafvollzug"; darüber zusammenfassend Stratenwerth/Aebersold,
Der schweizerische Strafvollzug. Programm und Durchführung einer empi-
rischen Untersuchung; Stratenwerth/Bernoulli, Der schweizerische Strafvoll-
zug. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, Der schweiz. Strafvollzug,
Bände 1 und 13, HI76/1983.
Krise der Kriminalpolitik? 793

dereingliederung ab. Art. 19 IRSG gebietet den Schweizer Behörden,


gegenüber dem im Ausland befindlichen Verfolgten das nach dem Recht
des ersuchten Staates zulässige Verfahren zwischenstaatlicher Zu-
sammenarbeit - Auslieferung, übernahme der Strafverfolgung, Ur-
teilsvollstreckung - einzuschlagen, das bessere Aussichten der Wieder-
eingliederung eröffnet. Unter derselben Voraussetzung läßt Art. 36
Abs. 1 IRSG die Auslieferung für eine der schweizerischen Gerichts-
barkeit unterstehende Tat ausnahmsweise zu und Art. 85 Abs.2 IRSG
gestattet dann die stellvertretende Strafverfolgung eines Ausländers
mit gewöhnlichem Wohnsitz in der Schweiz anstelle 'einer Auslieferung11 •
Zu beachten ist, daß diese Abkommen wie das Schweizer Rechtshilfege-
setz nicht von Resozialisierung, sondern von der besseren Möglichkeit
sozialer Wiedereingliederung sprechen. Dies kann bedeuten, es komme
darauf an, die nachteiligen Wirkungen einer freiheitsentziehenden
Sanktion möglichst gering zu halteni! und überdies rechtsgetreues Ver-
halten in der Freiheit nach der Entlassung vorzubereiten und zu er-
leichtern.
Läßt sich das Festhalten neuerer und neuester Gesetze und zwischen-
staatlicher Vereinbarungen am Gedanken der Wiedereingliederung ein-
fach damit erklären, daß rechtliche Setzungen der Wirklichkeit und
dogmatischen Entwicklungen nachzuhinken pflegen? Oder sollte es sich
gar um bloße Ideologie handeln? Oder kommt den Zeugnissen aus
Staatspraxis und Gesetzgebung eine andere und höhere Aussagekraft
zu? Sollte die Frage, ob und wie die Kriminalpolitik in einer Krise
steckt, mit der Problematik der Behandlung zusammenhängen, deren
Vieldeutigkeit MaTC Ancel berief13 und der sich die Unbestimmtheit des
Begriffes Resozialisierung beigesellt14 ?

10 Bundesgesetz über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (Rechts-


hilfegesetz [IRSG]) vom 20.3.1981, AS 1982, 846, SR 351.1; dazu Schultz, Das
neue Schweizer Recht der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen,
ZStW 96 (1984), S. 595 f.
11 Die neuen Rechtshilfegesetze der Bundesrepublik und Österreichs sehen
davon ab, die verbesserte Möglichkeit der Wiedereingliederung als Voraus-
setzung einzelner Maßnahmen internationaler Zusammenarbeit zu fordern.
Sie rücken die Staatsangehörigkeit des Verfolgten im eigenen Staat in den
Vordergrund, § 48 Ziff. 2 IRSG, § 64 Abs. 1 Ziff. 6 ARHG.
11 Der von Schüler-SpnngoTUm, Strafvollzug im übergang, 1969, 5.177,
dem Vollzug gestellten Aufgabe des nil nocere entsprechend.
13 Ancel, La peine privative de liberte du point de vue de la politique
criminelle modeme, in: Festgabe für Schultz, 1977, 5.457, von "l'ambiguite de
la notion de traitement" sprechend, ebenso Kaiser, Resozialisierung (Anm.7),
5.366.
14 Th. Weigend., "Neoklassizismus" - ein trans atlantisches Mißverständ-
nis, ZStW 94 (1982), 5.802, Fn. 1, unter Berufung auf Bayer, Crime, Punish-
ment and the Decline of Liberal Optimism, Crime and. Delinquency 27
(1981), S. 183. .
794 Hans Schultz

Versteht man unter Behandlung die unmittelbare Einwirkung eines


Menschen auf einen anderen, so setzt die Strafrechtspflege sie, im Ge-
gensatz zur Zivilrechtspflege, in manchen und gerade in den schwersten
Fällen voraus. Der Zivilrichter kann sich damit begnügen, dem Kläger
das von diesem geltend gemachte Recht zuzusprechen, wenn er das
darauf zielende Rechtsbegehren für begründet erachtet. Dem verur-
teilten Beklagten steht es frei, sich dem Richterspruch zu fügen, die ihm
auferlegte Rechtspflicht zu erfüllen und derart der Zwangsvollstreckung
zu entgehen, wenn der Sieger im Prozeß dem widerstrebenden Unter-
legenen gegenüber auf seinem Anspruche besteht. Ganz anders voll-
zieht sich die Durchsetzung des Strafrechts, die - von den Antrags-
deliikten abgesehen - nicht im Belieben eines Privaten steht. Die Ver-
wirklichung des Strafrechts ist vielmehr eine Aufgabe der Behörden der
Strafverfolgung, die bei ausreichendem Verdacht15 ein Verfahren anzu-
heben und es bis zum Urteil durchzuführen haben. So sieht es wenig-
stens in systematischer Sicht aus; in der Rechtswirklichkeit ist es in
vielen, wenn nicht in den meisten Fällen der verletzte oder sich ver-
letzt fühlende Bürger, welcher mit seiner Strafanzeige die Strafver-
folgung in Gang setzt.
Sieht man ab von den allerdings häufigen Verurteilungen zu einer
Geldstrafe, die der Verurteilte leisten und damit die Zwangsvoll-
streckung oder gar die Umwandlung in eine Freiheitsstrafe verhüten
kann, und zu einer bedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe in irgend-
einer ihrer Spielarten, wo der Verurteilte sich durch Erfüllung der ihm
auferlegten Bedingungen weiteren behördlichen Eingriffen zu entzie-
hen vermag, führt die Vollziehung einer kriminalrechtlichen Sanktion
unausweichlich zu einer wie auch immer gearteten staatlichen Einwir-
kung auf den Verurteilten und damit zu dessen Behandlung1e• Die Ge-
schichte des Strafvollzuges zeigt, in wie mannigfacher Weise auf die
Insassen der Gefängnisse eingewirkt worden ist: die Skala reicht vom
Einsperren unter Bedingungen, die den Entzug der Freiheit zur ver-
steckten Körperstrafe werden lassen17, über quälende oder sinnlose
Zwangsarbeit bis zum freier geführten landwirtschaftlichen Strafvoll-
zug auf Grund des Vertrauensprinzipes18 und zum neuzeitlichen eigent-
lichen Behandlungsvollzug.

15 Dazu neuestens Walder, Grenzen der Ermittlungstätigkeit, ZStW 95


(1983), S. 866 f.; BGE 108 (1982) I b 237, E. 3 b.
18 "Denn der Strafvollzug ist, in ganz ausgesprochener Weise, ein Geflecht
zwischenmenschlicher Beziehungen, zwischen den einzelnen Gefangenen, den
einzelnen Beamten, einzelnen Beamten und einzelnen Gefangenen", Schultz,
Rechtliche Stellung und Aufgabe der Anstaltsleitung und der Beamten im
Strafvollzug, in: Der Strafvollzug in der Schweiz Nr. 27, Oktober 1959, S. 27.
17 Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrecl1ts-
pflege, 3. Aufl. 1965, § 51, S. 65.
Krise der Kriminalpolitik? 795

Allein es scheint, wie wenn die Eigenart des Strafrechts der Verbin-
dung des Strafvollzuges mit bestimmten Arten von Behandlung grund-
sätzliche Schwierigkeiten bereite. Es stellt sich die Frage, ob die
Strafe als zwangsweise auferlegte Einwirkung es nicht ausschließt, im
Strafvollzug eine Behandlung durchzuführen, die eine Mitwirkung des
Verurteilten fordert, um ihr Ziel zu erreichen.
Die Eigenart der Strafe als zwangsweise Einwirkung auf den Ver-
urteilten verloren die nie aus dem Auge, die in der Nachfolge von
Eugen Huber 18 und Walther Burckhardt20 das Strafrecht als schärfste
Sanktion der zwangsbewehrten Rechtsordnung betrachteten. Franz v.
Liszt sah die Zusammenhänge ebenso klar: "Die Strafe ist Zwang ...
Sie wendet sich gegen den Willen des Verbrechers, indem sie die Rechts-
güter verletzt oder vernichtet, in welchen der Wille Verkörperung ge-
funden hatli." Den Zusammenhang zwischen Rechtsordnung, staat-
lichem Zwang und Strafe zu bemerken, schließt aus, das jeder Strafe
als Zwangseinwirkung innewohnende Moment der Abschreckung des
so Behandelten zu übersehen und bewahrt vor jeder Behandlungs-
euphorie.
Der Ansicht, daß das Strafrecht zu verstehen ist als Sicherung der
Rechtsordnung, scheint sich die herrschende Meinung auf mancherlei
Umwegen, nicht zuletzt geleitet von soziologischen Einsichten über die
verschiedenen Arten formeller sozialer Kontrolle und deren Aufgabe,
vor der Enttäuschung der Erwartung auf Durchsetzung der sozialen
Vorschriften zu bewahren!!, zu nähern", ganz zu schweigen von den

18 Unter Rückgriff auf rechtssoziologische Untersuchungen von Luhmann


Vertrauen als Reduktion von Komplexität begreifend und die Einführung
des Vertrauensvollzuges durch Dr. h. c. Otto Kellerhals in Witzwil über-
gehend Korth, Vertrauensvollzug - ein neues Strafvollzugskonzept, 1976.
18 Huber, Recht und Rechtsverwirklichung. Probleme der Gesetzgebung
und der Rechtsphilosophie, 1925, S. 366 f.
20 Burckhardt, Die Organisation der Rechtsgemeinschaft, 1927, S. 283 f.

Z1 v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht. Marburger Universitätspro-


gramm 1882, in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge,1. Band, 1905, S.163.
- Das Zwangsmoment im Strafrecht und damit dessen unvermeidlich repres-
siven Charakter betont gegenüber modernen Versuchen, diese Form sozialer
Kontrolle zu verharmlosen, Verhaegen, La philosophie de la justice crimi..,
nelle et le systeme d'elaboration du droit criminel, Rev. int. dr. pen. 53 (1982),
S. 682 f., 688 f., so nun auch von soziologischer Seite Trutz von Trotha, Recht
und Kriminalität, 1982, bes. S. 19 f., die Dominanz des Rechts, genauer der
staatlichen Rechtsordnung.
22 Dies scheint die gemeinsame Grundlage der Ansichten zu sein, die
Strafrecht und Strafe mit Erwägungen der Generalprävention rechtfertigen,
so z. B. HatJke, Tiefenpsychologie und Generalprävention, 1976; Streng,
Schuld, Vergeltung, Generalprävention. Eine tiefenpsychologische Rekon-
struktion strafrechtlicher Zentralbegriffe, ZStW 92 (1980), S.680: " ... von der
schuldausgleichenden und am Abschreckungsdogma ausgerichteten Strafe ...
zur normbekräftigenden Strafe, die ... allein notwendig ist."
796 Hans Schultz

Autoren, die, wie Jescheck", das Strafrecht stets in den Dienst der Be-
währung der Rechtsordnung gestellt haben.
Den grundsätzlichen Bedenken gegen eine Verbindung von Behand-
lung mit der Strafe gesellten sich ganz anders begründete bei, die sich
auf die Grundrechte der Verurteilten beriefen25 • Diesen Einwänden
kann begegnet werden mit dem Hinweis darauf, daß die Behandlung
immer nur in deren fortwährendem Angebot bestehen kann20 • Wird, wie
in § 2 Satz 1 StVollzG, vom Strafvollzug gefordert, er solle die Verur-
teilten dazu bringen, in der Freiheit aus eigener Verantwortung ein
rechtsgetreues Leben zu führen, ähnlich schon AE § 37 Abs. 1 und Abs. 2
Satz 1, so kann das Ziel nur erreicht werden, wenn der Verurteilte an
diesen Bemühungen mitwirkt. Der Rechtszwang, der sich in der Strafe
äußert, stößt hier an eine unüberschreitbare Schranke.
Soll dieser Anzweifelungen und Schwierigkeiten wegen im Sank-
tionsvollzug auf jedes Behandlungsangebot und, wird es angenommen,
auf dessen Durchführung verzichtet werden?
Die Anwort auf diese Frage findet sich bei Jescheck selber, der bei
aller Betonung der Krisenhaftigkeit heutiger Kriminalpolitik den Be-
handlungsgedanken keineswegs verwirft, sondern mit aller Entschie-
denheit daran festhält. J escheck: geht "mit Selbstverständlichkeit davon
aus, daß ... die Bereitschaft zur aktiven Auseinandersetzung mit dem
Straftäter auch weiterhin die Grundlage der Kriminalpolitik bleiben
muß"". Er beruft in diesem Zusammenhang "die verschiedenen Reha-
bilitationsprogramme" mit dem so wichtigen Hinweis, daß "Richter und
Vollzugsbeamte bei ihrer Tätigkeit letztlich selbst nur eine Haltung er-
tragen können, die von Wohlwollen und menschlicher Zuwendung ge-

13 Am deutlichsten vielleicht im Lehrbuch von Maurach, dessen letzte von


Maurach besorgte Auflage vom Wesen der "Strafe als Vergeltung" und als
"übel, welches dem Verbrecher wegen seiner schuldhaften Verfehlung von
Rechts wegen auferlegt wird", sprach; Maurach, Deutsches Strafrecht Allge-
meiner Teil, 1971, § 7 I A, 76; dagegen jetzt MaurachlZipf (Anm.3), Rdn.5
zu § 7, es ergebe sich, Calliess, Theorie der Strafe im demokratischen und
sozialen Rechtsstaat, 1974, folgend, "die Rechtfertigung strafrechtlicher Sank-
tionen als Teilfunktion aus der allgemeinen Staatszielbestimmung" .
24 Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, seit der ersten
Auflage, 1969, § 1 I 1, S.2: "Das Strafrecht sichert die Unverbrüchlichkeit der
Rechtsordnung durch staatlichen Zwang", ebenso 3. Aufl., 1978, S. 2, mit etwas
anderem Akzent: "Das Strafrecht sichert die UnverbTÜchlichkeit der Rechts-
ordnung durch staatlichen Zwang."
15 Eingehend zu dieser Problematik Schüler-Springorum (Anm. 12), S. 85 ff.;
Schöch in: KaiserlKernerlSchöch, Strafvollzug. Ein Lehrbuch, 3. Aufl., 1982,
§ 52, S. 101 f.
18 Jescheck (Anm.1), S.148 (1050), dürfte mit "Bereitschaft zur aktiven
Auseinandersetzung" ebenfalls ein solches Angebot meinen.
27 (Anm. 1), S. 145 (1050).
Krise der Kriminalpolitik? 797

genüber dem Delinquenten bestimmt ist"28. Sie ist in einem sozialen


Rechtsstaat die einzige dem Rechtsbrecher gegenüber mögliche Einstel-
lung, nicht zuletzt deswegen, weil eine Straftat nie einzig dessen Werk,
sondern in mannigfachen menschlichen Beziehungen verwurzelt und
deswegen alle strafrechtliche Schuld begrenzt ist". Doch an dieser,
wenngleich begrenzten Schuld als allgemeiner Voraussetzung der Straf-
barkeit ist festzuhalten; denn sie entspricht der den Menschen als Per-
son treffenden Verantwortung. Es kann nicht alles, was schief geht,
der "Gesellschaft", was immer auch das bedeuten möge, in die Schuhe
geschoben werden, es sei denn, der Mensch werde zum bloßen Durch-
gangspunkt von Interaktionen und damit zum Objekt erniedrigt.
Die Ansicht von J escheck steht keineswegs vereinzelt. Sie dürfte
immer noch herrschende Meinung sein30 • Anders zu entscheiden würde
bedeuten, sich abwenden von der von Stratenwerth hervorgehobenen
"umfassenden, auf wachsende menschliche Offenheit gegenüber dem
Rechtsbrecher tendierenden Grundströmung"31.
Allein kritisiert und bezweifelt wurde nicht nur der Versuch, den Voll-
zug kriminalrechtlicher Sanktionen überhaupt mit einer Behandlung
oder deren Angebot zu verbinden, sondern auch und insbesondere die
Art einer solchen Behandlung. Die Behandlung straffälliger Menschen,
insbesondere der Rückfälligen unter ihnen, richtete sich bis vor kur-
zem deutlich nach dem Vorbild der ärztlichen Behandlung. Dies war die
Folge davon, daß die Anstalten, welche sich mit chronisch oder schwer
Rückfälligen befaßten, unter ärztlicher Leitung standen und tiefen-

28 Ebd.
" Stratenwerth, Strafrecht und Sozialtherapie, in: Festschrift für Bockel-
mann, 1979, S.912: "... daß kriminelles Verhalten nicht zureichend begriffen
werden kann, wenn man seine Wurzeln allein in der Person des Verbrechers
sucht, sondern daß es sich aus dem Zusammenspiel vielfältiger sozialer Pro-
zesse ergibt", ferner S. 918.
30 "Gefährlich und für die weitere Entwicklung verheerend scheint mir
aber die pauschale Ablehnung der therapeutischen Kriminalpolitik" , so
Schreiber, Widersprüche und Brüche in heutigen Strafkonzeptionen, ZStW 94
(1982), S. 296, der mit Eser (Anm. 7), S. 508 übereinstimmend insbesondere
davor warnt, auf die Behandlung des einzelnen Straffälligen zu verzichten,
weil man die geltende Rechts- und Sozialordnung politisch ablehnt; Kaiser,
Einführung (Anm. 7), S. 131 f.; Armin Kaufmann, Die Aufgabe des Straf-
rechts, in: Strafrechtsdogmatik zwischen Sein und Wert, 1983, S.276; Mau-
rach!Zipf (Anm.3), Rdn.9 zu § 7; Roxin, Wandlungen der Strafrechtswis-
senschaft, JA 12 (1980), S. 226 f.; ders., Zur Entwicklung der Kriminalpolitik
seit den Alternativ-Entwürfen, ebd. S. 545 f., bes. 551; Marc Ancel, La nou-
velle defense soeiale, 3. AufI.., 1981, S. 256 f., bes. 265, um nur einige Hinweise
zu vermitteln. - Mit Schäch, Kriminologie und Sanktionsgesetzgebung,
ZStW 92 (1980), S. 184, kann gesagt werden von der "Hoffnung auf die Ent-
faltung sozialer Verantwortung bei jedem Menschen", daß "sie zwar oft
brüchig, aber nicht gebrochen ist."
31 (Anm. 29), S. 919.
798 Hans Schultz

psychologische Behandlungsmethoden anwandtens2 . Bezeichnend für


diese Einstellung ist die kriminalpolitische Konzeption des Alternativ-
Entwurfes, die eine besondere sozialtherapeutische Anstalt forderte und
damit den Anstalten von Herstedvester und der Van der Hoeven-
Kliniek, die beide von Ärzten geleitet worden waren, nachzueifern
strebtes3 .
Gegen die übernahme des Vorbildes der ärztlichen Behandlung rich-
tete sich sogar aus dem Kreis der Mitarbeiter am Alternativ-Entwurf
Widerspruchs,. Denn der Verurteilte werde in einer solchen Behand-
l4ng zu deren bloßem Objekt. Diese Kritik verkennt jedoch, so scheint
mir, die eigentliche Rolle des Patienten in seiner Beziehung zum Arzt
f'imnal deswegen, weil sie dem heute so stark betonten Selbstbestim-
mungsrecht des mündigen Patienten zu wenig Rechnung trägt. Zum
andern übersieht sie, daß eine auf die Antike zurückgehende überliefe-
rung dem Patienten eine viel verantwortungsvollere Aufgabe zuweist
und ihn zu bedeutend verstärkter Aktivität aufruft: sich mit dem Arzt
gegen die Krankheit zu wehren s5 .
Die Behandlung Straffälliger wurde ferner angefochten mit dem Hin-
weis auf die Erfolglosigkeit bis jetzt unternommener solcher Versuche.
Diese Kritik wurde zuerst in den Vereinigten Staaten laut und später
in Europa übernommen. Es wurde inzwischen deutlich, daß die ameri-
kanische Kritik am Konzept einer Behandlung im Vollzug auf die be-
sonderen amerikanischen Verhältnisse zurückgeht: im System der
Sanktionen schwerer Rechtsbrüche besitzt die Freiheitsstrafe den Vor-
rang und die Geldstrafe ist von untergeordneter Bedeutung, dem Straf-
richter stand mit den in einem weiten Rahmen liegenden relativ unbe-
stimmten Freiheitsstrafen ein weites Ermessen in der Bestimmung der
Strafe zu, ebenso der über die bedingte Entlassung entscheidenden Be-
hörde, die darauf abstellte, ob sich der Gefangene an Rehabilitations-
programmen beteiligt hatte. Dieses System wurde plötzlich in Frage ge-
stellt, wie als Grund der Gefängnisrevolte von Attica die Beunruhigung
der Gefangenen wegen der ungewissen Dauer des ihnen auferlegten
Entzuges der Freiheit ermittelt wurdes6 • Dazu kam das Ansteigen der

82 Siehe Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Allgemeiner Teil,


2. Aufl. 1969, Begründung zu § 69, 135 oben.
aa (Anm. 32), Begründung zu § 69, 133.
U Quensel, Der Anstaltsinsasse als Objekt von Straf justiz und Behand-
lungseifer: einige subjektive Bedingungen für ein Scheitern der Resozialisie-
nungs-Reform, in: Festgabe für Schultz, 1977, S. 490.
35 Hippocrates, epidemiarum I 11, nach Müri, Der Arzt im Altertum,
4. Auti., 1979, S. 11.
36 Weigend (Anm.7), S. 1114 f.; Moms, Punishment and sentencing reform
in the United States, Rev. int. dr. pen. 53 (1982), S. 727; Fogel, The American
debate on sentencing policy: a decade of struggle, ebd. S. 749.
Krise der Kriminalpolitik? 799

ausgewiesenen Kriminalität in den 70er Jahren und die innenpolitischen


Krisen - Vietnam, Watergate - jener Zeit. Die besonderen Verhält-
nisse in den Vereinigten Staaten bieten keinen Anlaß, die Bemühungen
um eine Behandlung im Strafvollzug in Europa aufzugeben und dem
vorschnell geprägten Schlagwort "nothing works"37 zu folgen.
Dazu kommt, daß aus anderen Gründen das endgültige Urteil über
den Behandlungsvollzug keineswegs gesprochen ist, nicht einmal über
die Sozialtherapie bestimmter Arten von Straffälligen. Unüberhörbar
ist die Gegenkritik an der Kritik der Behandlung, die einmal darauf
hinweist, daß kaum in irgendeinem Lande länger dauernde und mit den
entsprechenden Einrichtungen betriebene Behandlungen durchgeführt
worden sind38 • Insbesondere waren die Verhältnisse in den amerikani-
schen Anstalten so, daß sie nicht nur einer resozialisierenden Beein-
flussung nicht genügten, sondern sie waren ausgesprochen kriminogensv.
Wo jedoch Behandlungsversuche mit geeigneten Mitteln und ent-
sprechendem Aufwand unternommen worden sind, führten sie zu ver-
heißungsvollen Ergebnissen, wie insbesondere die Nachuntersuchun-
gen sozialtherapeutisch behandelter Insassen der Anstalten Berlin-Tegel
zeigen40, auf die auch Jescheck hinweist41 • Dies gilt, selbst wenn den

37 Fogel (Anm.36), S. 757 f., zeigt, daß Martinson in seiner Untersuchung


über die Ergebnisse der Behandlung nicht erklärte, Behandlung im Vollzug
sei wirlrungslos, sondern daß die verschiedenen Arten der Behandlung für
verschiedene Personen zu bestimmten und für gewisse Zeiten wirksam seien,
daß aber keine Methode immer und für alle wirksam sei.
asSiehe den Hinweis von Fogel (Anm.36), S. 760, für eine bestimmte An-
zahl amerikanischer Anstalten seien 258 Sozialarbeiter, Psychologen und
Psychiater, doch 14993 Angehörige des Bewachungsdienstes zur Verfügung
gestanden. Zu den für die Behandlung der Sexualpsychopathen vorgesehenen
Anstalten Murbach, Das medizinische Modell der Delinquenz. Entwicklung
und Auswirkungen am Beispiel der nordamerikanischen Sexualpsycho-
pathengesetze, Zürcher Diss., 1979.
38 Nachweise bei Weigend (Anm.7), S. 1116 f.; die Zustände - überfül-
lung, Langeweile, Gewalt, Bandenwesen - waren derart, "daß sich schon
mehrere Bundesgerichte gezwungen sahen, ganze einzelstaatliche Gefängnis-
systeme insgesamt als Stätten verfassungswidriger ,grausamer und unge-
wöhnlicher Bestrafung' zu bezeichnen". Die Anstalten würden dieselbe Qua-
lifikation verdienen, hätten sie dem Vollzug von Strafen, die nach dem Prin-
zip des "flat sentencing" ausgesprochen worden waren, gedient .
.40 Dünkel, Legalbewährung nach sozialtherapeutischer Behandlung. Eine
empirische vergleichende Untersuchung, 1980. - Kritisch dazu Kerner, Cor-
rectional Treatment Institutions in the Federal Republic of Germany -
Concept, Experiences and Conclusions, Int. Annals of Criminology 21 (1983),
S.53; Ahlborn, Hat sich die "Sozialtherapeutische Anstalt" bewährt? Eine
Stellungnahme zur Tegeler Untersuchung, in: Kury (Hrsg.), Methodische Pro-
bleme der Behandlungsforschung - insbesondere in der Sozialtherapie, In-
terdisziplinäre Beiträge zur kriminologischen Forschung, Band 2, 1983, S. 149;
Blass-Wilhelms, Neue Wege in der Strafvollzugsevaluation - Kontrolle von
Störvariablen in zeitverzögerten Designs, ebd. S. 291. - Auf günstige Ergeb-
nisse in Holland wies Kaiser, Resozialisierung (Anm. 7), S. 363 f., hin.
800 Hans Schultz

Schwierigkeiten, solche Ergebnisse zu ermitteln, Rechnung getragen


wird4!. Von einem Erfolg therapeutischer Bemühungen kann schon ge-
sprochen werden, wenn nach der Entlassung aus einem Behandlungs-
vollzug begangene neue Taten sich als leichter erweisen als die vor der
Behandlung verübten43 •
Deshalb verdienen, nebenbei gesagt, alle Bestrebungen Unterstüt-
zung, die auf der Einführung der von § 65 StGB vorgesehenen sozial-
therapeutischen Anstalt bestehen4'. Solche besonderen Anstalten mit
ausgesprochen intensiver Behandlung für bestimmte Gruppen Straf-
fälliger zu führen, schließt nicht aus, in den gewöhnlichen Strafanstal-
ten durch Vermittlung von § 9 Abs.l Satz 1 StVollzG stärker als bisher
auf ein therapeutisches Milieu hinzu wirken und damit der von Günther
Kaiser beklagten Wirkungslosigkeit des Alternativ-Entwurfes eines
Strafvollzugsgesetzes ein Ende zu bereitenu.
Es geht mithin nicht darum, von einer Behandlung, verstanden als
Behandlungsangebot, abzusehen. Was sich in Wirklichkeit geändert hat,
ist die Art der Behandlung. Die dem Vorbild einer ärztlichen Behand-
lung folgende Beeinflussung Straffälliger richtet sich auf die Person des
Verurteilten und sucht dessen Einstellungen und Verhalten zu ändern.
Sie ist ausgesprochen vergangenheitsbezogen und sucht durch Aufar-
beiten der Vergangenheit die Folgen verletzender Erlebnisse zu tilgen
oder erträglich werden zu lassen48 • Die heute im Vordergrund stehenden

U Jescheck (Anm. 1), S. 151 (1054 f.). Neuestens Ralf Bayerl, Gruppenarbeit
im Maßregelvollzug als Katalysator bei der Herstellung eines therapeuti-
schen Milieus, MSchrKrim 67 (1984), S.242; für jugendrechtliche Sanktionen
MCirieBoehlen, Das Jugenderziehungsheim als Faktor sozialer Integration,
1983.
42 Dazu Sechrest/West, Measuring the Interventions in Rehabilitation
Experiments, Int. Annals of Criminology 21 (1983), S.11; Kerner (Anrn.40),
a. a. 0., m. Nachw.; Kury (Anm. 40), a. a. o.
43 Speer, Praktische Erfahrungen in der stationären Behandlung von Ge-
walttätern, MSchrKrim 66 (1983), S.368, berichtet von 14 behandelten rück-
fälligen Gewalttätern, die zwischen 13 bis 47 Monaten in Freiheit gewesen
sind, daß nur die Hälfte rückfällig geworden ist, doch keine Gewalttaten,
sondern nur noch Eigentumsdelikte begangen hat.
44 Wider den kriminalpolitischen Rückschritt, MSchrKrim 62 (1979), S. 379.
'5 Kaiser, Resozialisierung (Anm.7), S.360. - Für Einbeziehung in den
Strafvollzug gemäß StVollzG Jescheck, Die Stellung der Freiheitsstrafe in
der Strafrechtsreform der Bundesrepublik Deutschland und Schwedens,
Festskrift till Hans Thornstedt, 1983, S. 356 f.; KaiserlDünkel/Ortmann, Die
sozialtherapeutische Anstalt - das Ende einer Reform?, ZRP 1982, S.198,
setzen sich dagegen für eine angereicherte Vollzugslösung ein, die für be-
stimmte Gruppen Gefangener zwingend die Verlegung in eine sozialthera-
peutische Anstalt vorsieht. - Zum Ziel des Strafvollzuges, ..daß der Insasse
als Mitglied einer problemlösenden Gemeinschaft soweit wie möglich einem
freien Bürger gleichzustellen ist", Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugs-
gesetzes, 1973, Vorbem. zum 4. Abschnitt, 139.
Krise der Kriminalpolitik? 801

Behandlungsangebote berücksichtigen sozialwissenschaftliche Einsich-


ten und zielen darauf, die Bedingungen für den Wiedereintritt des
Verurteilten in die Freiheit zu verbessern. Die Einwirkung greift über
die Person des Verurteilten hinaus in sein soziales Umfeld ein.
Doch die Einsichten, die zu dieser Änderung führten, sind keines-
wegs neu. Daß die Entlassung aus der Anstalt in die Freiheit gründ-
licher Vorbereitung bedarf und daß die umsichtige Betreuung des Ent-
lassenen gerade in der ersten Zeit nach dem Wiedergewinn der Freiheit
eine wichtige, wenn nicht die wichtigste Vorbedingung zukünftigen
Wohlverhaltens darstellt41 , führte zu den längst bekannten Institutio-
nen des Freiganges, der Versetzung in übergangsheime und schließlich
der bedingten Entlassung mit Bewährungshilfe. Inkeri Anttila betont
mit allem Nachdruck, die Abkehr von der früher befürworteten Zwangs-
behandlung bedeute keineswegs, im Strafvollzug nichts zu tun und,
der Lehre des "flat sentencing" entsprechend, die Straffälligen einfach
einzusperren, sondern daß es um die Vorbereitung der Zukunft in
Freiheit geht48 •
In diesem Zusammenhang gewinnen die Hinweise von J escheck be-
sondere Bedeutung, die die verschiedenen internationalen Verlautba-
rungen in Erinnerung rufen, die dem Strafvollzug das Ziel weisen, der
sozialen Wiedereingliederung zu dienenu. Jescheck nennt Art. 10 Abs.3
des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte,
ferner die Mindestgrundsätze für die Behandlung der Gefangenen der
UNO von 1955 und deren Europäische Fassung des Europarates von
1973, die dem Freiheitsentzug dasselbe Ziel setzen, wie die eingehende
Regelung der während einer freiheitsentziehenden Sanktion erforder-
lichen Behandlung erkennen läßt50 •
Doch selbst wenn sich die Krise der Kriminalpolitik als die freiheits-
entziehenden Sanktionen betreffend und als Krise der Art der in Frage
kommenden Behandlung erweist, bleiben Fragen offen. Es ist einzu-
räumen, daß dem von den Reformern der 70er Jahre der kurzen Frei-

4B So spricht Roosenburg, Reeducation Ei la Van der Hoeven-Kliniek,


ZStrR 81 (1965), S. 391, von den ihr zur Behandlung zugewiesenen Verurteil-
ten als Kranken.
41 Speer (Anm.43) teilt mit, daß der erste Rückfall "fast ausnahmslos
innerhalb des ersten Jahres" erfolgt.
48 InkeTi Anttila, Neue Tendenzen in der Kriminalpolitik in Skandina-
vien, ZStW 95 (1983), S.739; dieselbe, New Perspectives on Justice in the
Criminal Justice, in: New Trends in Criminal Justice, 1984, S.17. Für eine
auf die Freiheit vorbereitende Behandlung auch Rehn, Sozialtherapiefor-
schung auf dem Prüfstand - Wege und Abwege, in: Kury (Anm.40), S. 191.
40 Jescheck (Anm. 1), S. 152 (1055).

50 Mindestgrundsätze für die Behandlung der Gefangenen. Europäische


Fassung, 1975, Ziff. 66 - 71.

51 Festschrift für H.-H. Jescheck


802 Hans Schultz

heitsstrafe angesagten Kampf durchschlagender Erfolg versagt blieb.


Die Stellung der kurzen Freiheitsstrafe ist immer noch umstritten und
hat sich in der jüngsten Zeit eher wieder gefestigt. Zwar gelang es der
Bundesrepublik Deutschland, diese Strafe stark zuruckzudrängen51 und
durch Geldstrafen zu ersetzen oder die Strafaussetzung zur Bewährung
vorzusehen. Der Entwurf eines spanischen Strafgesetzes griff sogar den
Vorschlag des Alternativ-Entwurfes, § 36 Abs.1 Satz 1, auf und will
auf Freiheitsstrafen unter sechs Monaten verzichten52•
In anderen Staaten herrscht die kurze Freiheitsstrafe - leider -
immer noch vor, so gerade in der Schweizs3 • In einigen Ländern bekun-
det sich die Neigung zur kurzen Freiheitsstrafe in der Möglichkeit, die
Aussetzung zur Bewährung auf einen Teil der Strafe zu beschränken54,
was § 54 Abs.4 StGB ausdrücklich ausschließt. In verschiedenen Län-
dern wird offenbar erneut in vermehrtem Maße auf den kurzfristigen
Entzug der Freiheit als eine sozial nicht allzu schädlich wirkende
Schockstrafe zurückgegriffenss • Insoweit setzten sich die auf eine Ver-

51 Jescheck (Anm.l), S.153 (1057); ders. (Anm.45), S. 365 f. Eingehend zu


den Verhältnissen in der Bundesrepublik Heim, Strafrechtsreform und Sank-
tionsentwicklung - Auswirkungen der sanktionsrechtlichen Regelungen des
1. und 2. StrRG 1969, sowie des EG StGB 1974 auf die Sanktionspraxis, ZStW
94 (1982), S. 632, auf Grund der Statistiken bis 1980. Zwar werde nur ein
Zehntel der früheren Zahl unbedingter kurzer Freiheitsstrafen ausgespro-
chen, doch mache dies jährlich rund 10 500 Verurteilungen oder knapp 30 %
aller unbedingten Freiheitsstrafen aus, S.652. Das Ziel, die Gefängnisse zu
entvölkern, sei nicht erreicht worden, S. 668.
52 Mir Puig, Das Rechtsfolgensystem im spanischen Entwurf eines Straf-
gesetzbuches, ZStW 93 (1981), S. 1298, 1305. Der Entwurf sieht aber für die
Kleinkriminalität daneben den Wochenendarrest mit einer Höchstdauer von
24 Wochenenden vor, S. 1303.
61 Nach Bundesamt für Statistik, Die Strafurteile in der Schweiz 1981,
1983, Einleitung, Tab. 15 und 16, wurden 1981 in der Schweiz auf Grund des
Strafgesetzbuches und der wichtigsten anderen Bundesgesetze Freiheits-
strafen ausgesprochen
bis zu 1 Monat 23 055, davon bedingt vollziehbar 75 %
von 1 bis 3 Monate 5247, davon bedingt vollziehbar 57 %
von 3 bis 6 Monate 1 963, davon bedingt vollziehbar 58 %
von 6 bis 12 Monate 1 342, davon bedingt vollziehbar 68 %
von 12 bis 18 Monate 779, davon bedingt vollziehbar 74 %
von 18 bis 24 Monate 253, davon bedingt vollziehbar
von 2 bis 5 Jahre 325, davon bedingt vollziehbar
von mehr als 5 Jahre 101, davon bedingt vollziehbar
Zu den kurzfristigen Freiheitsstrafen, insbesondere den unbedingt vollzieh-
baren, in der Schweiz Knaus, Das Problem der kurzfristigen Freiheitsstrafe,
Zürcher Diss. 1973.
54 So Frankreich, Art.734.1 Abs.3 CPP, welche Lösung für die Schweiz
vorgeschlagen worden ist, siehe Rochat, La division de la peine, ZStrR 95
(1978), S. 82.
55 Nachweise bei Jescheck (Anm.1), S.153 (1057 f.), und (Anm.45), S.363,
für Schweden. Zur Kriminalpolitik der skandinavischen Länder auch Inkeri
Anttila, Les nouvelles perspectives de la justice penale dans les pays scandi-
naves, Arch. pol. crim. 6 (1983), S. 217.
Krise der Kriminalpolitik? 803

pönung solcher Strafen zielenden Bestrebungen nicht durch. Die Wider-


stände, die sich einer derartigen Neuerung entgegenstellten, waren den
Kämpfern gegen die kurze Freiheitsstrafe nur allzu gut bekanntG8.
Wenn - ganz abgesehen von der Umwandlungsstrafe und deren be-
sonderer auch verfassungsrechtlichen Problematik - an der kurz-
fristigen Freiheitsstrafe festgehalten wird, wofür sich auch Jescheck
ausspricht57 , so ist an die Untersuchungen von K. Berntsen und K. Chri-
stiansen zu erinnern. Sie zeigten, daß die schädlichen Folgen eines kur-
zen Freiheitsentzuges verringert und die Aussichten auf soziale Wieder-
eingliederung erhöht werden können, wenn dem kurzen Aufenthalt in
der Anstalt eine intensive Betreuung in der wiedererlangten Freiheit
folgt G8 .
Jescheck spricht im Zusammenhang mit der kriminalpolitischen Krise
davon, "daß - abgesehen von der Geldstrafe - die Möglichkeiten der
Ersetzung der Freiheitsstrafe beschränkt sind und daß diese meist
einen hohen Verwaltungsaufwand erfordern"SI. Er nennt als Ersatz der
Freiheitsstrafe die Abwendung einer Strafverfolgung oder deren Wei-
terführung durch die übernahme freiwilliger Leistungen, die sog. "di-
version"80. Dieses Vorgehen mag dem amerikanischen Strafprozeß mit
seinem ausgeprägten Anklageprinzip und Parteibetrieb entsprechen81 .
Die amerikanischen Erfahrungen deuten darauf hin, daß die als Zu-
rückdrängung der staatlichen Sozialkontrolle gedachte "diversion" un-
versehens zu einer Ausdehnung der institutionalisierten Einwirkung
führen kann, weil die zu einer solchen Einwirkung vorgesehenen Stellen
bereit stehen und dann eben beansprucht werden, selbst wenn es
nicht erforderlich gewesen wäre 82 • In den Umkreis der Verfahrenswei-

se Kritisch dazu Roxin (Anm. 30), S. 549.


67 Jescheck (Anm.1), S. 153 f. (1058) "aus Gründen der General- oder Spe-
zialprävention", "wegen der möglicherweise doch heilsamen Schocktherapie";
ders. (Anm.45), S.371, "neben einer ambulanten Sanktion", wie Frankreich
und Schweden. Aber muß der in jeder Strafe liegende staatliche Zwang so
betont werden und die soziale Ohrfeige so heftig ausfallen? Ganz abgesehen
von den grundsätzlichen Einwänden gegen eine Schockstrafe, die Grebing,
Sanctions alternatives aux courtes peines privatives de liberte, Rev. int. dr.
pen. 53 (1982), S. 784, formulierte, indem er solche Strafen entschieden ab-
lehnte, weil der Verurteilte als Mittel mißbraucht und derart seine Men-
schenwürde verletzt werde.
58 BerntsenlChristiansen, A resocialization experiment with short-term
offenders, Scandinavian Studies in Criminology 1, 1965, 35.
50 Jescheck (Anm. 1), S. 155 (1060), zu 4.

80 Jescheck (Anm. 58); Weigend (Anm. 7), S. 1121.


81 Th. Weigend, Strafzumessung durch die Parteien - Das Verfahren des
plea bargaining im amerikanischen Recht, ZStW 94 (1982), S. 200.
82 Janssen, Diversion: Entstehungsbedingungen, Hintergründe und Kon-
sequenzen einer veränderten Strategie sozialer Kontrolle, in: Kerner (Hrsg.),
Diversion statt Strafe? Probleme und Gefahren einer neuen Strategie sozia-
ler Kontrolle, 1983, S. 15, dieses Vorgehen konzentriere sich auf den einzelnen

51*
804 Hans Schultz

sen, die als "diversion" bezeichnet werden, gehören diejenigen, welche


der Staatsanwaltschaft erlauben, unter gewissen Bedingungen von der
Erhebung der Anklage abzusehen, wie § 153 a StPO es ermöglicht".
Erhebliche Bedenken gegen dieses, zweifellos gut gemeinte Vorge-
hen, das sich außerhalb eines eigentlichen Verfahrens abspielen sollte,
lassen sich nicht unterdrücken. Zweifel entstehen, ob dem von diesem
Vorgehen Betroffenen genügende rechtsstaatliche Sicherungen zur Ver-
fügung stehen84• Und selbst wenn, wie bei einer Erledigung gemäß
§ 153 aStPO, der Zusammenhang mit einem Strafverfahren gewahrt
bleibt, bleiben erhebliche rechtsstaatliche Bedenken bestehen. Denn
es steht zu befürchten, daß unschuldige oder sich unschuldig erachtende
Beschuldigte sich diesem Vorgehen unterwerfen, um der Anprange-
rung in einem öffentlichen Hauptverfahren zu entgehen85•
Dieses neuartige Vorgehen von der Art der "diversion" führt übri-
gens, wie Michael WalteT, Erörterungen von Harro Dtto 66 aufnehmend,
gezeigt hat67 , zu der Frage nach der systematischen Stellung der Straf-
würdigkeit und Strafbedürftigkeit. Bis jetzt schien es so, wie wenn die
Frage der Strafwürdigkeit und nur sie, und zwar allgemein, zu stellen

Täter und beachte die sozialen Ursachen der Kriminalität nicht. - Kritisch
zur "diversion" ferner Cinzia M. Campanini, Alternative al giudizio penale
nell'ordinamento nordamericano: Le techniche di "diversion", Riv. it. dir.
pen. n. F. XXVI (1983), S.131. - Ohne amerikanische Fehlentwicklungen der
"diversion" zu übersehen, hält Walter, Wandlungen in der Reaktion auf Kri-
minalität, ZStW 95 (1983), S. 32, sie für eine Möglichkeit, in gewissen genauer
zu umschreibenden Fällen, dem Subsidiaritätsprinzip folgend, eine außer-
kriminalrechtliche Sanktion genügen zu lassen, wenn keine kriminalrecht-
liche geboten erscheint, S. 66.
83 Nach dem Vorbild der nordischen Staaten, siehe Thornstedt, Die Straf-
rechtsreform der skandinavischen Staaten im Vergleich mit der Strafrechts-
reform der Bundesrepublik Deutschland, in: Lüttger (Hrsg.), Strafrechts-
reform und Rechtsvergleichung, 1979, S. 74 f., besonders Fn.8; ebenso Polen,
vgl. dazu Jescheck, Das neue deutsche Strafrecht im Vergleich mit dem pol-
nischen Recht, in: Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft (Anm.l), S.364.
U Diese Gefahr wird sogar in der den "diversion"-Prozeduren überaus
gewogenen Veröffentlichung des Europarates, Rapport sur la decriminalisa-
tion, 1980, S. 65, erwogen.
85 So schon zum Entwurf von § 153 a StPO Hanack, Das Legalitätsprinzip
und die Strafrechtsreform, in: Festschrift für Gallas, 1973, S.351; ebenso
Jescheck (Anm.l), S.155 (1061). Zu diesen und weiteren gegen § 153 a spre-
chenden Gründen Hirsch, Zur Behandlung der Bagatellkriminalität in der
Bundesrepublik Deutschland, ZStW 92 (1978), S. 224 f.; Baumann, Die Situa-
tion des deutschen Strafprozesses, in: Festschrift für Klug, 1983, S.463.
68 Dito, Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit als eigenständige Delikts-
kategorien? überlegungen zum Deliktsaufbau, in: Gedächtnisschrift für
Schröder, 1978, S. 53, die Frage verneinend.
87 Walter (Anm.62), S. 64 f., der für eine dritte Kategorie, die Strafbedürf-
tigkeit als Inhalt der Strafwürdigkeit, neben Unrecht und Schuld, eintritt.
Ist die individuelle Strafbedürftigkeit wirklich der Inhalt der allgemein zu
beurteilenden Strafwürdigkeit?
Krise der Kriminalpolitik? 805

und vom Gesetzgeber zu beantworten seiG8• Vorschriften, wi'e das Ab-


sehen von Strafe, § 60 StGB, oder § 42 des österreichischen Strafgesetz-
buches über die mangelnde Strafwürdigkeit der Tat, fordern vom Rich-
ter, im einzelnen Fall zu entscheiden, ob der Beschuldigte wirklich einer
Strafe bedürfe. Sollten sich die in diesen Vorschriften erkennbaren
Tendenzen verstärken, würde die Geltung des Legalitätsprinzips er-
neut geschwächt und die für die Strafbarkeit des einzelnen Beschuldig-
ten maßgebende Stellung der Behörden der Strafverfolgung entspre-
chend gestärkt, eine Entwicklung, die den Ergebnissen der Forschungen
über die Filterwirkung des Strafprozesses entsprechen würdeSD. Die
Frage einer dritten Kategorie neben Unrecht und Schuld könnte sich
ernsthaft stellen.
Neuere Arbeiten lassen erkennen, daß, entgegen mancherorts ge-
äußerten Zweifeln70 , gemeinnützige Arbeit als Ersatz der Freiheits-
strafe nicht ohne weiteres auszuschließen ist71 • Weil solche Arbeit unent-
geltlich zu leisten ist72, kann sie selbst in Zeiten der Arbeitslosigkeit
angeordnet werden, ohne als Privilegierung der Bestraften zu wirken.
Ebensowenig nimmt sie anderen Anwärtern Arbeitsplätze weg. Denn es
besteht in den für diese Anordnungen besonders in Frage kommenden
Tätigkeiten "im sozialen Bereich immer eher Arbeitskräftemangel, vor
allem für Wochenend- und Feiertagsdienste, zum anderen führen wirt-
schaftliche Krisenzeiten, wie wir im Moment sehen, auch im sozialen Be-
reich zu Stellenkürzungen, nicht aber zu geringerem Arbeitsanfa1l 73u • Es
scheint, darauf deutet wiederum die englische Erfahrung, entscheidend
darauf anzukommen, ob man sich der Mühe unterzieht, die zur Durch-
führung der gemeinnützigen Arbeit erforderlichen Einrichtungen zu

e8 Für viele Jescheck (Anm.24), § 15 III 2 C, S.107; weniger zurückhaltend


ders., Alternativen zur Freiheitsstrafe, in: Essays in honour of Professor
Shigemitsu Dando, 1983, S. 93. - Die Verpflichtung zur Arbeitsleistung sehen
als jugendrechtliche Strafe vor Art. 87 und 95, je Abs. 1, des schweiz. StrGB.
et Siehe insbesondere Blankenburg u. a., Die Staatsanwaltschaft im Pro-
zeß strafrechtlicher Sozialkontrolle, 1978.
70 So von Jescheck (Anm. 1), S.156 f. (1062).

71 So schon Grebing, Die Geldstrafe in rechtsvergleichender Darstellung,


in: Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen
Recht, 1978, S. 1228, 1345; ebenso neuestens Pfohl, Gemeinnützige Arbeit als
strafrechtliche Sanktion. Eine rechtsvergleichende Untersuchung unter Be-
rücksichtigung der britischen Community Service Order, Tübinger Diss.,
Schriften zum Strafrecht Band 52, 1983, mit Vorschlägen für eine übernahme
dieser Sanktion in das deutsche Strafrecht.
7! Die anstelle der Ersatzfreiheitsstrafe von § 52 AE vorgesehene gemein-
nützige Arbeit war der Besonderheiten dieser Regelung wegen nicht unent-
geltlich, siehe Begründung dazu S. 105.
73 Pfohl (Anm.71), S.116, mit dem Hinweis, die englischen Gewerkschaf-
ten würden aus den angegebenen Gründen keinen Widerstand gegen die ge-
meinnützige Arbeit leisten, S. 131 f., was sich aus den von Pfahl, S. 129, ge-
gebenen Beispielen erklärt.
806 Hans Schultz

schaffen und die Arbeitsgelegenheiten zu vermitteln. Bedenkt man, daß


es der Bundesrepublik Deutschland möglich war, als Folge der Straf-
rechtsreform von einem Jahr auf das andere vom Summen- zum Tages-
bußen-System überzugehen, eine Änderung, die weitaus mehr Fälle
betraf als für die gemeinnützige Arbeit in Frage stehen dürften, und
den Übergang ohne besondere Schwierigkeiten zu bewältigen, so sollten
der Einführung der gemeinnützigen Arbeiten keine unüberwindlichen
verwaltungsmäßigen Hindernisse entgegenstehen.
Überdies scheint die Kriminalpolitik in anderer Weise in Bewegung
geraten zu sein, indem schon durch die Revisionen der 70er Jahre oder
die dann vorbereiteten Reformen Strafvorschriften aufgehoben oder
die Möglichkeiten, Strafen auszusprechen, beschränkt worden sind. Zu
diesen Änderungen zählt das schon erwähnte Absehen von Strafe74 • In
dieselbe Richtung würden Vorschriften zielen, welche die gelindesten
Arten bedingter Verurteilung des angelsächsischen Rechtes, die pro-
bation und die conditional discharge, übernehmen würden7s • Eine ähn-
liche Wirkung kann durch Änderungen des Besonderen Teils erzielt
werden, wenn er entlastet wird von Strafbestimmungen, die nur mo-
ralisch Anstoß erregendes, doch nicht andere schädigendes Verhalten,
vor allem auf dem Gebiet der Sexualdelikte, betreffen78 • Zu diesen Be-
strebungen gehören des weiteren die verschiedenen Versuche, der Ba-
gatellkriminalität Herr zu werden77 , so wenn sie darauf zielen, auf
mittelbare Weise zur Straflosigkeit zu führen, indem leichteste Straf-
taten zu Antragsdelikten gemacht werden, in der Annahme, die Ver-

74 § 60 StGB, § 42 östr. StGB, Art. 88 schweiz. StrGB und Art. 98 im Jugend-


recht. Die Expertenkommission zur Revision des Strafgesetzbuches schlug am
12. 11. 1976 als Art. 66bll eine § 60 StGB entsprechende Vorschrift vor.
75 Vgl. den durch Gesetz vom 11. 7. 1975 eingeführten Art.469 1 - 3 CPP
entsprechend Avant-projet definitif de Code penal Livre 1 Dispositions Gene-
rales, avril 1978, Paris 1978, Art. 107 ff., mit Absehen von Sanktion, Aufschie-
ben der Sanktion ohne oder mit Bedingungen. Für die Schweiz forderte J. Gra-
ven, Le sens du sursis conditionnel et son developpement, ZStrR 69 (1954),
S. 294 f., schon vor dreißig Jahren, neben dem bedingten Strafvollzug des
geltenden Rechts weitere Formen bedingter Verurteilung einzuführen. Art. 97
StrGB, im Jugendrecht die "probation" vorsehend, bietet einen guten An-
satzpunkt für eine solche Entwicklung. Dazu auch DünkeZ!Spiess (Hrsg.),
Alternativen zur Freiheitsstrafe. Strafaussetzung zur Bewährung und Be-
währungshilfe im internationalen Vergleich, 1983.
78 Wie ohne Beeinträchtigung der Willensbestimmung eines Partners aus-
geführte homosexuelle Handlungen, das Konkubinat oder die von Weigend
(Anm. 7), S. 1111, gegebenen amerikanischen Beispiele.
77 Dazu für die Bundesrepublik Hirsch (Anm.65), S.218; Nowakowski, Die
Behandlung der Bagatellkriminalität in Österreich, ebd., S.255; Hauser, Die
Bagatellkriminalität in der Schweiz, ebd., S. 295; Cosmo, Zur Behandlung der
Bagatellkriminalität in Schweden, ebd., S.561; Hulsman, Die Bagatellkrimi-
nalität in den Niederlanden, ebd., S. 568. - Für die Schweiz einläßlich Beck-
mann, Das Bagatelldelikt und seine Behandlung im Strafgesetzbuch der
Schweiz, 1982.
Krise der Kriminalpolitik? 807

letzten würden sich nicht allzu oft die Mühe nehmen, zum Richter zu
eilen78 • In gleicher Weise wirken die Vorschriften, die dem Urheber
eines Vermögensdeliktes Straflosigkeit verheißen, wenn er vor dem
Einreichen einer Anzeige den von ihm gestifteten Schaden ersetzt79 •
Die Suche nach neuen, engeren Grenzen der Strafbarkeit ist weltweit
und führte zu einer eigentlichen Bewegung der Dekriminalisierung80 •
Die Umwandlung früheren kriminellen Unrechts in Ordnungswidrig-
keiten81 kann ebenfalls in diesem Zusammenhang gesehen werden. Alle
zuvor erwähnten Reformen und Reformwünsche, vom Absehen von
Strafe, Einführung verschiedener Spielarten der bedingten Verurtei-
lung bis zum Aufheben von Strafvorschriften reichend, sind Momente
der Dekriminalisierung, ebenso die heute, wenigstens in der westlichen
Welt, wohl als herrschende Meinung anzusehende Auffassung, daß die
Strafe, insbesondere die Freiheitsstrafe, nur als ultima ratio zur Siche-
rung der Rechtsordnung beansprucht werden dürfe8!.
Aber kann von einer Krise der Kriminalpolitik gesprochen werden?
Strafe und Kriminalpolitik stehen seit der Aufklärung in Anfechtung
und Krise. In dieser Epoche wurde der wirklichen Strafrechtspflege der
Spiegel vorgehalten und Abkehr vom grausamen Strafrecht jener Zeit
gefordert. " ... e evidente che i1 fine delle pene non e di tormentare ed

78 So für Vermögensdelikte, wenn sich "die Tat nur auf einen geringen
Vermögenswert oder auf einen geringen Schaden" richtet, als Art. 172t . . ge-
mäß Vorschlag vom 30. 11. 1982 der in Anm.74 genannten Expertenkommis-
sion.
71 § 167 östr. StGB. Zahlreiche kantonale Gesetze hatten solche, den
Interessen des Opfers dienende Regeln enthalten. Die in Anm. 72 erwähnte
Kommission lehnte eine solche Ergänzung des Strafgesetzbuches leider ab,
weil sie befürchtete, sie würde zu einer Bevorzugung gutsituierter Täter
führen.
80 Umfassend dazu die in Anm.64 genannte Veröffentlichung des Europa-
rates, die allerdings der Entkriminalisierung deutliche Grenzen zieht und
schwerere Kriminalität davon ausschließt, S.72. - In der Bundesrepublik
scheinen verfassungsmäßige Grenzen zu beachten zu sein, vgl. Vogler, Mög-
lichkeiten und Wege einer Entkriminalisierung, ZStW 90 (1978), S. 170 f.;
BVerfGE 39, S. 53 f., über die Verpflichtung des Gesetzgebers, die Rechtsgüter
durch Strafbestimmungen zu schützen in bezug auf die Fristenlösung. - Zur
Entkriminalisierung auch McClintock, Some aspects of discretion in criminal
justice processes, Rev. int. dr. pen. 53 (1982), S.871; Mireille Delmas-Marty,
Modeles et Mouvements de Politique Criminelle, Paris 1983, mit der Bemer-
kung, kriminalpolitische Entscheidungen seien "un jeu trop souvent aveugle",
S. 182, und betonend, für deren Schicksal sei deren Aufnahme und damit
auch Kenntnis durch die von ihnen betroffenen Bürger entscheidend, S. 193,
zur Entkriminalisierung im einzelnen, S. 213 ff.
81 In der Bundesrepublik schon mit OWiG 1952, jetzt 1968/1975. In Italien
durch Gesetz vom 24.11. 1981 Nr.689, Modifiche al sistema penale, das ad-
ministrative Sanktionen einführt, Text bei Nuvolone, Il sistema deI diritto
penale, 2. Aufl., 1982, S. 587 f.
8.! Jescheck (Anm. 1), S. 143, 152 (1043, 1056).
808 HanS Schultz

affliggere un essere sensibile ne di disfare un delitto gia commesso .•.


Il fine dunque non e altro che d'impedire il reo dal far nuovi danni ai
suoi cittadini e di rimuovere gli altri dal farne uguali83." Diese Gedan-
ken waren damals nicht neu; sie waren schon in der griechischen Auf-
klärung, nach platonischer Überlieferung aus dem Munde des Sophisten
Protagoras8" erklungen und als Gedanken des Plato von Seneca85 und
Grotius86 weitergegeben worden. Allein erst im 18. Jahrhundert wur-
den sie wirksam. Die Declaration des droits de l'homme et du citoyen
von 1791 verlieh ihnen politische Geltung und Durchschlagskraft,
indem sie die Strafe nur zu verwenden erlaubte, wenn jemand seine
Freiheit mißbrauchte, um andere zu schädigen, und wenn Strafe unbe-
dingt notwendig erschien. Mit dem Sieg dieser Gedanken in der fran-
zösischen Revolution setzte eine Milderung des Strafrechts ein, die
sich als die maßgebende allgemeine Tendenz der Kriminalpolitik durch-
setzte und die in verschiedenen Schritten - Abschaffung von Körper-
strafen und Folter, Zurückdrängen der Todesstrafe, Siegeszug der
Freiheitsstrafe, Abbröckeln der beherrschenden Stellung der Freiheits-
strafe, Vordringen der bedingten Verurteilung in allen ihren Spiel-
arten und der Geldstrafe, Absehen von Strafe, Verringern des krimi-
nellen Unrechts - bis in unsere Zeit andauert. Nimmt man diese Per-
spektive ein, so erscheint die Unsicherheit über die Möglichkeit, mit
einer freiheitsentziehenden Sanktion der Wiedereingliederung des Ver-
urteilten zu dienen, und das Prüfen, ob andere Sanktionen an die
Stelle der Freiheitsstrafe treten könnten, als ein Zwischenspiel und ein
erneutes tastendes Suchen nach anderen Antworten auf strafbares Ver-
halten. Aber dieses Suchen, wie alle Neuerungen, die sich unter dem
Sammelbegriff der Entkriminalisierung verbergen, zielen in dieselbe
Richtung, wie sie die Aufklärung der Kriminalpolitik gewiesen hat.
Doch in der Kriminalpolitik macht sich nicht nur eine Bewegung
geltend81 , ganz abgesehen davon, daß es, wie in jeder Entwicklung,
Rückschläge absetzen kann. Neben die herrschende Tendenz treten un-
83 Beccaria, Dei delitti e delle pene, § XII, Illuministi italiani tomo 111, ed.
Franco Venturi, 1958, S.49.
8' Plato, Protagoras, 324.
BI Seneca, De ira, lib. I 197.
Ba Grotius, De iure belli ac pacis libri tres, liber 11, cap. XX IV 1.
81 So schon Schultz, La riforma deI diritto penale, Repertorio di Giurispru-
denza patria 108 (1975), S. 10 f. - Ancel, Observations sur la philosophie
moderne de la justice criminelle, Rev. int. dr. pen.53 (1982), S. 589 f., unter-
scheidet dagegen die sorgfältig vorbereitete von der Gelegenheitsgesetz-
gebung, die er, Sellin folgend, als "panie legislation" bezeichnet. Allein neue
Möglichkeiten verbrecherischen HandeIns, z. B. mit oder an Computern, kön-
nen eine Gelegenheitsgesetzgebung, die keineswegs als Ergebnis einer Panik
bezeichnet werden kann, fordern. Schüler-Springorum, Contemporary per-
spectives on the philosophy of criminal justice, ebd., S. 648, relativiert den
VOn Ancel beschriebenen Gegensatz ebenfalls.
Krise der Kriminalpolitik? 809

tergeordnete und zeitbedingte Bewegungen. Jescheck hat sie ebenfalls


bemerkt88 • Sie machen sich nur in begrenzten Gebieten der Kriminalität
eines Landes bemerkbar. Dies schließt nicht aus, daß es sich zuweilen
um vereinzelte schwere Straftaten handelt, wie die von den Massen-
medien herausgehobenen terroristischen Anschläge8' . Zu den Taten,
die nach besonderen staatlichen Reaktionen rufen, zählen ·außerdem die
Wirtschaftskriminalität und der Rauschgifthandel, obschon zur Wirt-
schaftskriminalität anzumerken ist, daß es sich in erster Linie, wenn
nicht ausschließlich, um das kriminalistische Problem wirksamer Ver-
folgung handelt. Zuweilen ermöglichen neue technische Mittel, andere
Leute unrechtmäßig zu schädigen, ohne daß bestehende Straftatbe-
stände verwirklicht werden. Dies trifft zu auf Schädigungen, die mit den
elektronischen Datenverarbeitungen herbeigeführt werden können9o •
Diese Hinweise lassen erkennen, daß es nicht möglich ist, von der
Kriminalpolitik zu sprechen, so wenig wie es den Kriminellen gibt. Es
ist vielmehr die allgemeine und beherrschende Richtung der Kriminal-
politik eines Landes, einer Gruppe von Ländern, oder - der Interde-
pendenz aller Staaten voneinander wegen91 - in bescheidenem Maße
schon weltweit, von Bewegungen geringerer Tragweite, die gegenläufig
sein können, zu unterscheiden. Die allgemeine und beherrschende Ten-
denz der Kri.minalpolitik ist immer noch die von der Aufklärung ge-
wiesene.
Ist dies die wirkliche Lage und erweist sich die vielberufene Krise
der Behandlung als Abkehr vom medizinischen Vorbild, dann dürfen
die Bestimmungen internationaler Vereinbarungen oder einzelner Ge-
setze immer noch als richtunggebend angesehen werden, wenn sie dem
Vollzug freiheitsentziehender Sanktionen den Sinn verleihen, "auf den
88 Jescheck (Anm. 1), S. 147 (1048), Ziff.4.
89 Zur Bedeutung der Massenmedien für die Kriminalitätsfurcht Arzt, Der
Ruf nach Recht und Ordnung, Ursachen und Folgen der Kriminalitätsfurcht
in den USA und Deutschland, 1976; Clinard, Cities with little erime. The ease
of Switzerland, 1978, S. 12 f., 61 f. Dagegen jetzt KiZZias, Massenmedien und
Kriminalitätsfurcht: Abschied von einer plausiblen Hypothese. Ein selektiver
Literaturbericht, Schweiz. Z. f. Soziol.2 (1983), S. 419.
90 Dazu Lenckner, Computerkriminalität und Vermögensdelikte, 1981;
Rohner, Computerkriminalität. Strafrechtliche Probleme bei "Zeitdiebstahl"
und Manipulationen, Zürcher Diss., 1976; Sieber, Computerkriminalität und
Strafrecht, 1977, 2. Aufl. mit einem Nachtrag 1980. - Der Vorentwurf der in
Anm.74 erwähnten Kommission vom 30. 11. 1982 sieht in bezug auf solche
Taten folgende neue Strafbestimmungen vor: Art. 143 über unbefugte Daten-
beschaffung, Art. 144 Abs.2 unbefugtes Verändern oder Löschen von Daten
oder Programmen als Sachbeschädigung, Art. 147 betrügerischer Mißbrauch
einer Datenverarbeitungsanlage, Art. 150 Abs. 2 als unbefugte Inanspruch-
nahme einer Leistung auch die einer Datenverarbeitungsanlage.
'1 Hans Huber, Weltweite Interdependenz. Gedanken über die grenzüber-
schreitenden gesellschaftlichen Verhältnisse und die Rückständigkeit des
Völkerrechts, 1968.
810 Hans Schultz

Wiedereintritt in das bürgerliche Leben" vorzubereiten, um es mit den


Worten des schweizerischen Strafgesetzbuches zu sagen. Doch diese
Regel kann als pars pro toto verstanden werden. Mit jeder Verurtei-
lung, selbst der nur zu einer Buße, verbindet sich die Erwartung, dieser
zur Bewährung der Rechtsordnung ausgesprochene Ordnungsruf ver-
möge den Verurteilten zu rechtsgetreuem Verhalten zurückzuführen.
Zugleich wird die von den übrigen Rechtsgenossen gehegte Erwartung,
die Rechtsordnung möge sich dem von einem anderen verübten Rechts-
bruch gegenüber zuletzt doch als stärker erweisen, befriedigt. Deshalb
ist es so wichtig, daß sogar die gelindeste Form einer bedingten Verur-
teilung einen Schuldspruch voraussetzt; nicht nur der rechtsstaatlich
geforderten Sicherung des Beschuldigten durch dieses Verfahren wegen,
sondern weil darin die allgemein wirkende rechtliche Mißbilligung des
beurteilten Verhaltens geäußert wird, die zugleich den Verurteilten an-
halten soll, solches Verhalten zu unterlassen. "Jede repressive Norm
hat präventive Funktion, ob vom Gesetzgeber beabsichtigt oder nicht ...
Auch rein repressiv gedachte Normen, die nur der Verwirklichung der
ausgleichenden Gerechtigkeit dienen sollen, wirken präventiv, indem
sie künftiges Verhalten der Menschen motivieren", merkte Peter Noll
zu dieser Problematik an'l.
Deshalb ist es so wichtig, daß allen wirtschaftlichen Schwierigkeiten
zum Trotz für ambulante wie für den Vollzug freiheitsentziehender
Sanktionen die erforderlichen Mittel, insbesondere die personellen,
und das heißt mehr und andere als bis jetzt, zur Verfügung gestellt
werden. Und trotz allen Anflügen kriminalpolitischer Müdigkeit darf
die Suche nach weniger einschneidenden und dennoch wirksamen Sank-
tionen nicht aufgegeben werden. Die überaus günstigen Ergebnisse be-
dingt vollziehbarer StrafenOS gebieten, auf diesem Wege weiterzuschrei-
ten, insbesondere wenn es um junge oder erstmals zu Verurteilende
geht, und die Sanktion, wenn immer es möglich und geboten ist, zu
sozialer Hilfe werden zu lassenD\ Damit erklingt wieder das Leitmotiv,
das zu Beginn mit den Worten von Hans-Heinrich Jescheck angeschla-
gen worden ist.
Eine Krise der Kriminalpolitik träte ein, wenn sich deren seit mehr
als zweihundert Jahren so deutlich spürbare allgemeine Tendenz um-

DZ NaZI, Schuld und Prävention unter dem Gesichtspunkt der Rationalisie-


rung des Strafrechts, in: Festschrift für Hellmuth Mayer, 1966, S.222.
03 Siehe Dünkel/Spiess (Anm.75), S. 451 ff.; noch günstiger die Schweizer
Zahlen, die sich nur auf bedingte Verurteilungen, nicht auf die bedingten
Entlassungen beziehen, Schultz (Anm.2), Band 2, S.99. Von den bedingten
Entlassungen müssen in der Schweiz etwa ein Viertel widerrufen werden,
S.64.
N DünkeZ!Spiess (Anm. 75), S. 509 f.
Krise der Kriminalpolitik? 811

kehren würde. Doch dann ginge es, wie Thomas Weigend betonte, "hin-
ter Franz von Liszts Marburger Programm zurück ins kriminal politische
Mittelalter"95. Von Eberhard Schmidt wissen wir, daß im Strafrecht
das Mittelalter bis in das 18. Jahrhundert hinein dauerteD8 •
Eine solche Wende würde eintreten, wenn die Existenznot auf der
übervölkerten Erde den, der sich an den Rechtsgütern anderer ver-
greift, wieder zum bloßen Feind werden ließe, gegen den es erbar-
mungslos Krieg zu führen gälte, in dem Austilgung oder Unschädlich-
machung das Ziel wäre und in welchem dem Rechtsbrecher der An-
spruch darauf, als Person geachtet zu werden und im Strafverfahren
Prozeßsubjekt zu sein, versagt bliebe.
Noch ist es nicht so weit. Noch immer gehören die Strafrechtler zu der
seltsamsten Spielart der Juristen, die ihr Metier nur betreiben zu kön-
nen scheinen in der Hoffnung, einmal ohne ihre Disziplin, ohne ein Straf-
recht auszukommen. Sie spricht aus den unvergessenen Worten eines
Gustav Radbruch, "daß die Entwicklung des Strafrechts ... ausmünden
wird. .. in ein Besserungs- und Bewahrungsrecht, das besser als ein
Strafrecht, das sowohl klüger wie menschlicher als das Strafrecht
wäre97 ." Noch ist es nicht so weit und inzwischen zeigt sich die Not-
wendigkeit, sogar ein solches Besserungs- und Bewahrungsrecht mit den
rechtsstaatlich gebotenen Sicherungen auszustatten, die es in die Nähe
des Strafrechts führen würde, nicht zuletzt deswegen, weil an der
strafbegrenzenden Funktion der Schuld festzuhalten istD8 • Einstweilen
versäumen die Strafrechtler keine Gelegenheit, zum großen Rückzugs-

95 Weigend (Anm. 14), S. 814.


86 Eb. Schmidt (Anm.17), S. 17 f.
87 Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl., besorgt von Erik Wolf, 1950, 269.
- Radikaler Quensel, Verbrechen, in: Bussiek (Hrsg.), Veränderung der Ge-
sellschaft. Sechs konkrete Utopien, 1970, S. 108. Hulsmanlde CeZis, Peines
perdues, Le systeme penal en question, 1982, vertritt die Auffassung von
Hulsman, der sich dafür einsetzt, die zu Straftaten führenden Konflikte durch
die Beteiligten selber oder besonders dafür eingesetzte Behörden lösen zu
lassen, ähnlich der in Anm. 64 genannte Bericht des Europarates, S. 34 - 36.
Eine solche Möglichkeit dürfte höchstens für eigentliche Beziehungsverbre-
chen in Frage stehen. Aber was soll geschehen, wenn die Beteiligten den
Konflikt nicht zu lösen vermögen und sich nicht an die dann vorgesehenen
Stellen wenden? Muß dann nicht der Staat selber für die Wahrung des
Rechtsfriedens sorgen - wenn nötig, durch Zwang? Dieselbe, kaum zu
widerlegende Kritik äußert Inkeri Anttila, New Perspectives (Anm.48), S.15.
Es scheint, daß man im Begriffe steht, leichthin Abstriche zu gewähren an
der friedenssichernden Funktion des Staates, einer wie schwer und in wie
vielen Kämpfen erst errungenen Einrichtung .
• 8 Dazu insbesondere Stratenwerth, Die Zukunft des strafrechtlichen
Schuldprinzips, 1977, auch Schultz (Anm. 2),2. Band, S. 76. Und selbst sichernde
Maßnahmen werden dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gemäß durch
die Schwere der Tat begrenzt, wenn es sich nicht um wegen der Gesundheit
des Betroffenen erforderliche Anordnungen handelt, S. 22 f.
812 Hans Schultz

gefecht des Strafrechts zu blasen, um wenigstens die Herrschaft der


Strafe zu verringern und sie, soweit sie bestehen bleibt, gelinder wer-
den zu lassen. Doch dies ist nichts anderes als weiterzuschreiten auf dem
Wege, dem sie seit der Aufklärung folgen.
HEINZ MüLLER-DIETZ

Integrationsprävention und Strafrecht


Zum positiven Aspekt der Generalprävention

I.
Die Beschäftigung mit Rechtsgrund und Zweck(en) der Kriminal-
strafe reißt nicht abt. Das kann aus wenigstens drei Gründen nicht
weiter überraschen. In theoretischer Hinsicht geht es auch um das
Staatsverständnis, das hinter der Funktionsbestimmung des Straf-
rechts steht, und damit zugleich um das Verhältnis des einzelnen im
und zum Staate. Das war etwa dem 19. Jahrhundert, das mit seltener
Eindringlichkeit dem Zusammenhang von "Recht, Staat und Strafe"
nachspürte2 , lange Zeit und in manchem geläufiger als uns3 • Noch
Radbruch hat jenen Zusammenhang unter staatsphilosophischem Vor..
zeichen mit seltener Eindringlichkeit und Entschiedenheit berufen,
wenn er Straftheorien und Staatsauffassungen einander assoziierte,
etwa die Vergeltungsstrafe dem absoluten Staatsverständnis und dem
Konservatismus, die Sicherungsstrafe der individualistischen Staats-
idee und dem Liberalismus zuordnete'. Unabhängig davon, ob jene

1 Neuerdings wieder Killias, Muß Strafe sein? überlegungen zur Funk-


tion von Sanktionen aus sozialpsychOlogischer Sicht, SchwZStr 97 (1980),
S. 31 ff.; Maiwald, Modeme Entwicklung der Auffassung vom Zweck der
Strafe, in: Rechtswissenschaft und Rechtsentwicklung, 1980, S. 291 ff.; Streng,
Schuld, Vergeltung, Generalprävention. Eine tiefenpsychologische Rekon-
struktion strafrechtlicher Zentralbegriffe, ZStW 92 (1980), S. 637 ff.; E. u. H.
Kliemt, Schutz und Gefährdung von Rechten durch die staatliche Kriminal-
strafe, Analyse und Kritik 3 (1981), S.l71 ff.; Schreiber, Widersprüche und
Brüche in heutigen Strafkonzeptionen, ZStW 94 (1982), S. 279 ff.; Schild,
Strafe - Vergeltung oder Gnade?, SchwZStr 99 (1982), S. 364 ff.; Armin
Kaufmann, Die Aufgabe des Strafrechts, 1983; Köhler, über den Zusammen-
hang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung, erörtert am Problem
der Generalprävention, 1983.
! Vgl. z. B. Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe.
Philosophisch und nach den Gesetzen der merkwürdigsten Völker rechts-
historisch entwickelt, 1813 (Neudruck 1964); Schaumann, Allgemeine Betrach-
tungen über Recht, Staat und Strafe, 1818.
3 Vgl. Müller-Dietz, Vom intellektuellen Verbrechensschaden - Eine
nicht mir historische Reminiszenz -, GA 130 (1983), S. 481 ff., 487 ff. (= Keio
Law Review No. 4, 1983, S. 105 ff.).
, Radbruch, Die politische Prognose der Strafrechtsreform, MSchrKrim. 5
(1909), S. 1 ff.
814 Heinz Müller-Dietz

überlegungen im einzelnen heutiger Sicht standhaltenS, läßt sich doch


über den Ausgangspunkt des gedanklichen Konstrukts, die Abhängig-
keit straftheoretischer Konzepte vom jeweiligen Staatsverständnis,
schwerlich streiten. Er ist denn auch erneut im Streit zwischen den An-
hängern eines liberal-sozialen Strafrechts und den Verfechtern eines
autoritären Strafrechts sichtbar geworden8 ; und er wirkt namentlich
in der fortdauernden Auseinandersetzung mit Werk und Erbe F. von
Liszts nach7•

Der Umstand, daß die Kriminalstrafe das schwerste und einschnei-


dendste Mittel des Eingriffs in Rechte und Freiheiten des einzelnen
darstellt, verlangt vor allem im Verfassungsstaat, in einer rechtsstaat-
lichen Demokratie nach einer zureichenden Begründung und Legiti-
mation8 • Aber während uns früher in verfassungsrechtlicher Hinsicht
vor allem die rechtsstaatliche Perspektive des Eingriffsstaates und da-
mit die Sicht des von der Kriminalsanktion betroffenen Täters vor Au-
gen gestanden hat, hat sich inzwischen das Spektrum der Betrachtungs-
weisen erheblich erweitert. Verfassungsrechtlich stellt sich nunmehr
auch die Frage nach der Schutzfunktion des Staates im Hinblick auf
potentielle Opfer von Straftaten und damit von daher nach Grund, Art
und Umfang des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes'. Dieser durchaus
rechtsstaatliche Aspekt findet sein sozialstaatliches Pendant in der Für-
sorge für Opfer und Täter von Straftaten1o • So hat sich die einst einfach
scheinende Frage nach der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des
Strafrechts stärker ausdifferenziert, ist namentlich um die nach seiner
Notwendigkeit und inhaltlichen Ausgestaltung - in der doppelten
Blickrichtung von Opfer und Täter - ergänzt worden. Dabei steht das
verfassungsrechtliche Legitimationsproblem in einer gewissen Korre-
spondenz zum wissenschaftstheoretischenProblem der Maßstäbe für und
Anforderungen an Kriminalpolitik, die z. B. die Rationalität der Be-
gründung betreffenl l •

5 Dazu etwa Krämer, Strafe und Strafrecht im Denken des Kriminalpoli-


tikers Gustav Radbruch, 1956, S. 17 ff.
S Vgl. etwa DahmlSchajJstein, Liberales oder autoritäres Strafrecht?, 1932;
E. Wolf, Krisis und Neubau der Strafrechts reform, 1933.
7 Vgl. Naucke, Die Kriminalpolitik des Marburger Programms 1882, ZStW
94 (1982), S. 525 ff.; Ostendorf (Hrsg.), Von der Rache zur Zweckstrafe. 100
Jahre "Marburger Programm" von Franz von Liszt (1882), 1982, S. 13 ff.
8 Z. B. Volk, Der Begriff der Strafe in der Rechtsprechung des Bundesver-
fassungsgerichts, ZStW 83 (1971), S. 405 ff.; MülZer-Dietz, Strafe und Staat,
1973; Klose, "Ius puniendi" und Grundgesetz, ZStW 86 (1974), S. 33 ff.; Zipf,
Kriminalpolitik, 2. Aufl. 1980, S. 35 ff.
, Vgl. MülZer-Dietz, Zur Problematik verfassungsrechtlicher Pönalisie-
rungsgebote, in: JungjMülZer-Dietz (Hrsg.), § 218 StGB. Dimensionen einer
Reform, 1983, S. 77 ff., 82 ff.
10 Z. B. Zipf (Fn. 8), S. 32 ff.
Integrationsprävention und Strafrecht 815

In empirischer Hinsicht geht es um die realen Folgen und Auswir-


kungen der in Kriminalsanktionen liegenden Eingriffe, um die Frage,
ob und inwieweit diese die vorausgesetzten Zwecke erreichen oder ver-
fehlen, um welchen Preis sie das tun, welche Nebenwirkungen zu kon-
statieren sind. Insofern sind wir hier mit einem Ausschnitt des Problems
der sog. Folgenorientierung staatlichen HandeIns konfrontiert, das neu-
erdings in besonderem Maße im Hinblick auf legislatorische Maßnah~
men und richterliche Entscheidungen erörtert wird12•

H.
In der neueren Diskussion ist die alte Unterscheidung zwischen
Rechtsgrund und Zweck der Strafe, die bereits Feuerbach zugrunde
gelegt hatl3 , wieder deutlich(er) hervorgetretenu . Die Frage, was Strafe
ihrem Wesen nach ist, und die Frage, was sie - im ganzen wie im ein-
zelnen - bezweckt, sind nicht deckungsgleich. Diese Differenzierung
ist zeitweilig durch die Orientierung an bestimmten oder zumindest
Hervorhebung spezifischer Zwecksetzungen - etwa spezialpräventiver
Provenienz - in den Hintergrund gedrängt worden; auf der Tagesord-
nung geblieben ist sie gleichwohl. Die Erkenntnis, daß Strafe ein übel
ist, das seinen Rechtsgrund in der begangenen Tat hat, ist freilich auch
durch Unklarheiten des Sprachgebrauchs und der Begrifflichkeit im-
mer wieder verdeckt oder verschüttet wordenl5 • So etwa hat der "Un-
begriff" der Vereinigungstheorie letztlich nur den Umstand verschlei-
ert, daß das Strafübel dem Täter aufgrund und wegen des Tatübels zu-
gefügt wird, daß Repression ihrerseits aber nur um der Prävention
willen geübt werden darf. Daß Kriminalstrafe kein Selbstzweck ist,
daß Vergeltung lediglich stattfinden darf, soweit sie notwendiges Mittel
zur Verbrechensprophylaxe darstelJt16, hat bekanntlich vor allem der
BGH selbst bekräftigt17.

11 Vgl. MülZer-Dietz, Probleme der Strafzumessung - Sanktionsauswahl,


-bemessung, Prognose, in: Recht und Gesetz im Dialog. Saarbrücker Vor-
träge, hrsg. von WacHe, 1982, S. 43 ff., 47 ff.
12 Vgl. BöhlklUnterseher, Die Folgen der Folgenorientierung. Ein ver-
wunderter Blick auf die juristische Methodendiskussion, JuS 20 (1980),
S. 323 ff.; Hassemer, über die Berücksichtigung von Folgen bei der Auslegung
der Strafgesetze, Festschrift für Coing, Bd. I, 1982, S. 493 ff.; Müller-Dietz
(Fn. 11), S. 48 ff.
lS Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven
peinlichen Rechts, 1. Th. Neue Auf!. 1808, S. 21, 54 ff.
14 Z. B. Armin Kaufmann (Fn. 1), S. 11.
16 Krit. Köhler (Fn. 1), S. 20 ff., 24 ff.
18 So klar Gallas, Gründe und Grenzen der Strafbarkeit, in: Beiträge
zur Verbrechenslehre, 1968, S.l ff., 4 f.; Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts,
Allgem. Teil, 3. Auf!. 1978, S. 53.
17 BGHSt. 24, 40, 42.
816 Heinz Müller-Dietz

Diesen präventiven Zwecken wurde seit Beginn der Strafrechts re-


form durchaus unterschiedliche und wechselnde Bedeutung eingeräumt.
Auf eine Phase, die dem Resozialisierungsgedanken Gleich-, wenn
nicht gar Vorrang im Konzert jener mehrstimmigen Orchestrierung
zusprach - so daß sogar die Vokabel "Resozialisierungsstrafrecht" in
(Sprach-)Gebrauch kam18 - , folgte eine stärkere Hinwendung zur Ge-
neralprävention1t, zumindest teilweise sogar in der Form der alten
überlieferten Androhungsprävention. Hiernach soll die Kriminalstrafe
vornehmlich der Abschreckung der Allgemeinheit, ihrer Abhaltung
von Verbrechensbegehung dienen. Mehr und mehr hat dann aber jener
Aspekt der Generalprävention in theoretischer Analyse wie prakti-
scher Anwendung an Boden gewonnen, den das BVerfG ausdrücklich
als "positiven" gekennzeichnet20 und Roxin als Integrationsprävention
bezeichnet hat!l. Um diesen Aspekt soll es in den folgenden überle-
gungen gehen; dabei sollen zugl,eich Zusammenhänge mit Gedanken-
gängen Hans-Heinrich Jeschecks hergestellt werden, dem als dem be-
ständigen Verfechter eines gerechten, humanen und wirksamen Straf-
rechts!2 diese Skizze gewidmet ist.
Es ist hier nicht der Ort, davon zu handeln, wie gerade die skizzier-
ten Wellenbewegungen, das Auf und Ab in der Vorherrschaft general-
oder spezialpräventiver Zwecke die angedeutete Abhängigkeit vom je-
weiligen Staatsverständnis oder -denken signalisieren und in welchem

18 Z. B. Maiho!er, Gesamte Strafrechtswissenschaft, Festschrift für Henkel,


1974, S. 75 ff.
18 Vgl. Haffke, Tiefenpsychologie und Generalprävention. Eine strafrechts-
theoretische Untersuchung, 1976; Dstendor!, Auf Generalprävention kann
noch nicht verzichtet werden. über die Ziele kriminalrechtlicher Maßnahmen,
ZRP 1976, S. 281 ff.; HassemerlLüderssenlNaucke, Hauptprobleme der Gene-
ralprävention, 1979; von Trotha, Generalprävention, zentrale bürokratische
Herrschaft und Recht. überlegungen zu einigen neueren Studien zur Ab-
schreckung und ihren strafrechtspolitischen Implikationen, RuP 16 (1980),
S. 134 ff.; Dtto, Generalprävention und externe Verhaltenskontrolle. Wandel
vom soziologischen zum ökonomischen Paradigma in der nordamerikanischen
Kriminologie?, 1982; Köberer, Läßt sich Generalprävention messen? Zur
neueren Diskussion der abschreckenden Wirkung von Strafe - am Beispiel
der Todesstrafe in den USA -, MSchrKrim.65 (1982), S. 200 ff.; ders., Straf-
bedürfnis, Generalprävention und subjektive Verbrechensmerkmale, KrimJ
15 (1983), S. 184 ff.; Vanberg, Verbrechen, Strafe und Abschreckung. Die Theo-
rie der Generalprävention im Lichte der neueren sozialwissenschaftlichen
Diskussion, 1982; Köhler (Fn.l); vgl. auch Helga Müller, Der Begriff der
Generalprävention im 19. Jahrhundert. Von P. J. A. Feuerbach bis Franz
v. Liszt, 1984.
20 BVerfGE 45, 187, 256.
!1 Roxin, Zur jüngsten Diskussion über Schuld, Prävention und Verant-
wortlichkeit im Strafrecht, Festschrift für Bockelmann, 1979, S. 279 ff., 306.
2! Jescheck, Lehrbuch (Fn.16), S.3 ff., 16 ff.; ders., Strafrecht im Dienste
der Gemeinschaft. Ausgewählte Beiträge zur Strafrechtsreform, zur Straf-
rechtsvergleichung und zum Internationalen Strafrecht, hrsg. von Vogler,
1980, S. 28 ff. (1963), 57 ff. (1968), 139 ff. (1979).
Integrationsprävention und Strafrecht 817

Maße sie auf den gerade maßgebenden (oder sich als maßgebend dün-
kenden) Zeitgeist zurückverweisen23 • Es erforderte eine eigene Unter-
suchung, diesen zuweilen recht problematischen Zusammenhängen, die
gelegentlich sogar Zugeständnisse an modische Trends verraten und der
Kontinuität der Strafrechtsentwicklung nicht selten abträglich sind,
nachzuspüren24 • Eine solche Analyse würde - möglicherweise - er-
geben, daß und in welchem Maße allzu enge Anlehnung an jeweils vor-
herrschende Zeitströmungen, den sog. Zeitgeist, der Erhaltung und Bil-
dung jenes Rechts-Bewußtseins abträglich ist, von dem gerade - nach
verbreiteter Auffassung - die Geltungs- und Bestandskraft des (Straf-)
Rechts zehrt. Insofern hat die Frage, wie man es - jeweils - mit den
Funktionen des Strafrechts und den Zwecken der Kriminalstrafe hält j

auch etwas mit dem Beitrag zu tun, den die Strafrechtstheorie zur
Sicherung der Funktionsfähigkeit der Strafe als Mittel zur Wahrung
des Gesellschaftsschutzes überhaupt zu leisten vermag.

IH.

Die sog. Integrationsprävention ist zwar bisher, soweit ersichtlich,


als solche speziell nicht thematisiert worden. Sie klingt aber immer
wieder in Arbeiten zur Aufgabe des Strafrechts im ganzen, zu den
Zwecken der Kriminalstrafe, nicht zuletzt zur Generalprävention, und
- namentlich - zum Topos "Verteidigung der Rechtsordnung" an. Was
damit im einzelnen gemeint ist, wird nicht überall in gleicher, vor
allem in eindeutiger Weise umrissen25 • Immerhin hat das BVerfG -
einem inzwischen verbreiteten Sprachgebrauch folgend - mit dem
positiven Aspekt der Generalprävention die "Erhaltung und Stärkung
des Vertrauens in die Bestands- und Durchsetzungskraft der Rechts-
ordnung" umschrieben28 • Es hat mit dieser Definition an Vorgaben und
Begriffsbestimmungen angeknüpft, die etwa der BGH im Hinblick auf
den in den §§ 47 Abs. 1, 56 Abs. 3 und 59 Abs.1 Nr.3 StGB verwendeten
Begriff "Verteidigung der Rechtsordnung" entwickelt hat27 •
"In positiver Hinsicht ist bei der Bestimmung des Begriffs ,Vertei-
digung der Rechtsordnung' davon auszugehen, daß es zu den Aufgaben
der Strafe gehört, das Recht gegenüber dem vom Täter begangenen
Unrecht durchzusetzen, die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung da-

!3 Vgl. etwa Kaiser, Resozialisierung und Zeitgeist, Festschrift für Wür-


tenberger, 1977, S. 359 ff.
24 Krit. z. B. Müller-Dietz, Straffälligenhilfe - ewig betreut - niemals
befreit?, Diakonie 6 (1980), S. 216 ff., 217.
25 Vgl. Köhler (Fn. 1), S. 31 f.
28 BVerfGE 45, 256.

27 BGHSt. 24, 40, 46; BGHSt. 24, 64, 66; BGH GA 1976, 113, 114.

52 Festschrift für H.-H. Jescheck


818 Heinz Müller-Dietz

mit vor der Rechtsgemeinschaft zu erweisen und zugleich künftigen


ähnlichen Rechtsverletzungen potentieller Täter vorzubeugen (spe-
zielle Generalprävention). Beide Zweckgesichtspunkte liegen dem Be-
griff der ,Verteidigung der Rechtsordnung' zugrunde". Diese Gesichts-
punkte werden laut BGH "ergänzt, zugleich aber auch begrenzt durch
das weitere - subjektiv orientierte - Begriffselement der ,Rechtstreue
des Volkes"'. "Der Gesichtspunkt der Erhaltung der Rechtstreue der
Bevölkerung, der Abwehr ihrer ernstlichen Beeinträchtigung ... ist
nunmehr - in seiner begrenzenden Funktion - ein entscheidendes
Kriterium für die Versagung einer Strafaussetzung".
Der BGH fährt dementsprechend fort: "Eine Vollstreckung der Frei-
heitsstrafe ist daher nur geboten, wenn andernfalls eine ernstliche Ge-
fährdung der rechtlichen Gesinnung der Bevölkerung als Folge schwin-
denden Vertrauens in die Rechtspflege zu besorgen wäre. Eine solche
Gefährdung ist gegeben, wenn der bloße Strafausspruch ohne Voll-
streckung von der Bevölkerung angesichts der außergewöhnlichen kon-
kreten Fallgestaltung als ungerechtfertigte Nachgiebigkeit und unsiche-
res Zurückweichen vor dem Verbrechen verstanden werden könnte.
Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten ist somit zur
Verteidigung der Rechtsordnung nur dann geboten, wenn eine Aus-
setzung der Strafe zur Bewährung im Hinblick auf schwerwiegende
Besonderheiten des Einzelfalles für das allgemeine Rechtsempfinden
schlechthin unverständlich erscheinen müßte und das Vertrauen der
Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts und in den Schutz
der Rechtsordnung vor kriminellen Angriffen dadurch erschüttert wer-
den könnte"28.
Praktische Bedeutung hat diese Rechtsprechung vor allem, aber kei-
neswegs nur in Verkehrssachen erlangt. Auch hier reklamiert der BGH
eine Art Ultima-ratio-Funktion jenes Begriffs. In diesem Sinne "gebie-
tet die Verteidigung der Rechtsordnung" selbst bei Trunkenheitsfahr-
ten mit schweren Unfallfolgen "die Vollstreckung der Freiheitsstrafe
nur dann, wenn angesichts der besonderen Umstände des Falles zu be-
sorgen ist, daß die Aussetzung der Strafe auf das Unverständnis der
Bevölkerung stoßen und deren Rechtstreue ernstlich beeinträchtigen
würde"2u. Hier stellt der BGH gleichfalls darauf ab, ob "die von dem
Sachverhalt voll und zutreffend unterrichtete Bevölkerung die Straf-
aussetzung verstehen und billigen würde, ohne in ihrem Rechtsgefühl
verletzt und in ihrer Rechtstreue beeinträchtigt zu werden"30.

28 BGHSt. 24, 46.


2U BGHSt. 24, 64.

30 BGHSt. 24, 69.


Integrationsprävention und Strafrecht 819

Diese Entscheidungen, auf denen dann eine ganze weitere Recht-


sprechung - auch zu anderen Delikten - aufbaut31 , lassen erkennen,
daß der Begriff "Verteidigung der Rechtsordnung" keineswegs jenen
eindeutigen und konzisen Gehalt aufweist, den man ihm im Interesse
einer klaren Rechtspraxis wünschen möchte. Die inhaltliche Unbe-
stimmtheit hat eine massive Kritik ausgelöst. Ob man jenem Begriff
aber - nach gewissen Vorklärungen durch Rechtsprechung und Wis-
senschaftS! - heute noch Unbrauchbarkeit attestieren kannas, mag zwei-
felhaft erscheinen. Wesentlicher für unsere Gedankenführung ist in-
dessen, daß sich den überlegungen des BGH einige beachtliche Ge-
sichtspunkte entnehmen lassen, die für die weitere Diskussion über nor-
mative Substanz und sozial psychologische Seite der sog. Integra-
tionsprävention von Bedeutung sind. Unterscheidet der BGH doch zwi-
schen mehreren Aspekten der Verteidigung der Rechtsordnung. So soll
damit die Durchsetzung des Rechts gegenüber dem Unrecht, aber auch
Verbrechensvorbeugung i. S. der speziellen Generalprävention gemeint
sein. Ein wesentliches zusätzliches Begriffselement, das der Begrenzung
dienen soll, findet der BGH in der "Rechtstreue des Volkes", um deren
Erhaltung es gerade bei der Entscheidung über Strafaussetzung oder
Vollstreckung einer solchen Freiheitsstrafe gehts~.
Dieser Aspekt macht denn auch recht eigentlich dasjenige Element
aus, das mit Integrationsprävention bezeichnet zu werden pflegt: Die
Bevölkerung soll den Richterspruch im konkreten Fall als "richtig",
d. h. im Einklang mit ihrem Rechtsempfinden stehend erleben (können).
Dadurch soll ihr Rechtsbewußtsein gestärkt und stabilisiert werden.
Die überzeugung davon, daß gerecht entschieden wird - was ja für
richterliche Entscheidungen allgemein gilt -, soll gefestigt werden.
Hierbei kommt es dem BGH zufolge darauf an, wie die Bevölkerung
die konkrete Sachlage in voller Kenntnis aller Umstände beurteilen
würde (oder gerichtlich beurteilt sehen möchte). Durch "gerechte" Ent-

31 Z. B. BGH JZ 1975, 183, 185 m. Anm. von Tiedemann; GA 1976, 114; GA


1979, 60; OLG Koblenz GA 1975, 121, 122; GA 1977, 25, 26; VRS 59 (1980), 339,
340; OLG Karlsruhe GA 1975, 369; OLG Frankfurt NJW 1977, 2175, 2176;
BayObLG NJW 1978, 1337; VRS 59 (1980), 188; OLG Köln NJW 1981, 411,
412. Weitere Nachw. bei Maiwald, Die Verteidigung der Rechtsordnung -
Analyse eines Begriffs, GA 130 (1983), S. 49 ff., 51 f., 57 ff.
3! Vgl. Zipf, Die "Verteidigung der Rechtsordnung", Festschrift für Bruns,
1978, S. 205 ff.; Hassemer, Generalprävention und Strafzumessung, in: Hasse-
mer u. a. (Fn.19), S. 29 ff., 38 ff;; Maiwald (Fn.31); Köhler (Fn.1), S. 60 f.; vgl.
auch Müller-Dietz, "Verteidigung der Rechtsordnung", in: Hassemer (Hrsg.),
Sozialwissenschaften im Strafrecht. Fälle und Lösungen in Ausbildung und
Prüfung, 1984.
33 So Naucke u. a., "Verteidigung der Rechtsordnung" (§§ 14, 23 StGB).
Kritik an der Entstehung und Handhabung eines strafrechtlichen Begriffs,
1971, S. 46, 141.
u BGHSt. 24, 46.

52·
820 Heinz Müller-Dietz

scheidungen soll der Gefahr gewehrt werden, daß das Vertrauen der
Bevölkerung in die Geltung des Rechts erschüttert wird.
Negativ bedeutet dies, daß Entscheidungen, die der Allgemeinheit
angesichts der konkreten Sachlage unverständlich erscheinen (müssen),
vermieden werden müssen, eben damit jene unerwünschten sozial-
psychologischen Auswirkungen auf die Geltungskraft des Rechts ver-
hindert werden. Auffallend daran ist, daß der Kontext, in den das
Gesetz den Begriff "Verteidigung der Rechtsordnung" eingestellt hat,
und die Interpretation dieses Begriffs vor allem auf dessen begrenzende
Funktion abheben. Darauf ist nochmals im Rahmen der weiteren über-
legungen zurückzukommen.

IV.
Die sog. Integrationsprävention hat wie alle Funktions- oder
Zweckbestimmungen der Kriminalstrafe - eine theoretische oder dog-
matische und eine empirisch-reale Seite. Hier soll die theoretische
Bedeutung des Phänomens im Vordergrund stehen; die reale soll nur
gestreift werden, wenn und soweit es wegen des Zusammenhangs er-
forderlich erscheint. Vieles, was zu letzterem Aspekt überhaupt ausge-
führt werden könnte, wäre beim jetzigen Stand der einschlägigen For-
schung eher ins Reich der Spekulation denn gesicherter Erfahrung zu
verweisen. Das BVerfG hat dazu angemerkt, es gebe "hierzu bisher
keine fundierten Effizienzuntersuchungen" , und sogar Zweifel anklin-
gen lassen, ob auf diesem Feld je in meßbarer Weise Wirkungen nach-
gewiesen werden könnten35 • Freilich ist nach dem Kontext, in dem diese
Äußerung steht, denkbar oder gar wahrscheinlich, daß das BVerfG
damit die Abschreck:ungsprävention gemeint hat. Doch wie dem immer
sein mag: Beim gegenwärtigen Stand der Forschung lassen sich allen-
falls Vermutungen anstellen oder Hypothesen formulieren, welche die
Richtung entsprechender Untersuchungen angeben könnten.
Dies würde wohl eine theoretische Vorklärung des Inhalts erfordern,
ob es sich beim Begriff der Integrationsprävention nicht um ein ideal-
typisches Konstrukt handelt, das nur bei Erfüllung einer ganzen Reihe
von Vorbedingungen eine gewisse Entsprechung in der Realität finden
könnte. Zu solchen Vorbedingungen mögen in positiver Hinsicht etwa
zählen: das Maß an kriminalpolitischer "Aufklärung", Toleranz und Li-
beralität, das in einer Gesellschaft vorherrscht, der Grad innerer Ge-
lassenheit und Selbstsicherheit gerade im Umgang mit Phänomenen
sozial abweichenden Verhaltens, der eine Gesellschaft auszeichnet, die
Intensität und der Umfang gesellschaftlicher Verankierung in ,allge-
mein akzeptierten und konsentierten Werten. In negativer Hinsicht mag
35 BVerfGE 45, 256.
Integrationsprävention und Strafrecht 821

eine Rolle spielen: das Fehlen krisenhafter Zustände und Ereignisse,


von gesellschaftlicher Verunsicherung und Orientierungslosigkeit. Im
ganzen mag realiter für die Integrationsprävention also das von ent-
scheidender Bedeutung sein, was man das (moralische) Klima einer
Gesellschaft nennen könnteN.
Indessen soll und muß hier offenbleiben, ob sich die Kriterien, die an
ein entsprechendes methodisches Instrumentarium zu stellen wären,
überhaupt erfüllen lassen oder ob nicht zumindest bescheidenere Teil-
ziele (etwa delikts- oder tätergruppenspezifischer Art) angestrebt wer...
den müßten, damit sich die Fragestellungen im Hinblick auf die Mög-
lichkeiten empirischer Forschung auch operationalisieren lassen.
Aber unabhängig davon, wie es sich realiter mit der Integrations-
prävention verhält, ist sie jedenfalls theoretischen Aussagen über ihre
Funktion und Bedeutung für Strafrecht und Kriminalstrafe zugäng-
lich. Im einzelnen stellen sich dabei folgende Fragen:
- Ist die Integrationsprävention für die Androhung und Zumessung
der Strafe relevant? Worin besteht - bejahendenfalls - diese Be-
deutung?
- Welche Funktion nimmt die Integrationsprävention im Rahmen des
Topos "Verteidigung der Rechtsordnung" wahr? Welche Folgerun-
gen sind daraus für Verständnis und Anwendung jenes Begriffs
zu ziehen?
Die erste Frage zielt ersichtlich auf den legislatorischen und den
justiziellen Aspekt des Problems zugleich, legt also eine zweifache Be-
deutung der Integrationsprävention nahe. Auch hierzu hält die Recht-
sprechung des BVerfG Gesichtspunkte bereit, die sich für die weiteren
überlegungen fruchtbar machen lassen. Das BVerfG geht offenkundig
davon aus, daß bereits die gesetzliche Strafdrohung zu der erhofften
Stabilisierung oder Festigung des allgemeinen Rechtsbewußtseins bei-
trägt. Schon im Blick auf die Bewertung eines bestimmten Verhaltens
als strafrechtswidrig legt es der strafrechtlichen Regelung eine norm-
verdeutlichende Kraft zugrunde. Dieser Gedanke ist etwa im Urteil
des BVerfG zur Reform des Abtreibungsstrafrechts zum Ausdruck ge-
kommen37 •
Dabei ist zwischen dem Schutz eines Rechtsguts durch die Strafbe-
wehrung als solcher und durch die Höhe der Strafdrohung selbst zu

38 Einen - wesentlichen - Teilaspekt hiervon bildet das normative


Klima einer Gesellschaft. Dazu Andenaes, General prevention revisited:
research and police implications, The Journal of Criminal Law and Crimino-
logy 66 (1975), S. 338 H., 348.
37 BVerfGE 39, 1; 45, 57 f. Dazu Müller-Dietz (Fn. 9), S. 96.
822 Heinz Müller-Dietz

unterscheiden. Man kann diesen Gedankengang dahin fassen: Wenn


auf der ersten Stufe das Rechtswidrigkeitsurteil zur grundsätzlichen
Anerkennung eines Rechtsgutes als eines strafrechtlich geschützten und
schützenswerten beitragen soll, dann soll die Androhung einer be-
stimmten Strafe, in der Regel also die gesetzliche Festlegung eines be-
stimmten Strafrahmens, gleichsam eine Vorstellung vom Gewicht dieses
Rechtsguts, seiner Bedeutung für den einzelnen, die Allgemeinheit und
die Rechtsordnung vermitteln. Deshalb hält das BVerfG es für verfas-
sungsrechtlich legitim, den Wert menschlichen Lebens durch Andro-
hung einer lebenslangen Freiheitsstrafe für den Fall des Mordes zu
verdeutlichen38 •
Es mag müßig sein, mit Bezug auf diesen Gedankengang die be-
kannte Auseinandersetzung darüber, ob das Strafrecht eine "sitten-
bildende Kraft" (Hellmuth Mayer) habes, oder nicht, fortzusetzen.
Ob ihm eine solche Funktion faktisch zukommt oder nicht, ist nicht die
Frage. Auch wenn man einen mehr oder minder unmittelbaren Zu-
sammenhang zwischen sittlichen Vorstellungen (von dem, was richtig
oder falsch, gut oder böse ist) und Rechts(norm)bewußtsein annimmt,
bleibt doch der entscheidende Gesichtspunkt, ob und welche Wirkung
Rechtsnormen (und damit auch gesetzliche Androhungen von Unrechts-
folgen) auf die Bildung und Stabilisierung von Rechts-Bewußtsein aus-
üben können.
Auf eine wie immer geartete "sittenbildende Kraft" des (Straf-)
Rechts kann es nicht maßgeblich ankommen; das mag faktische Funk-
tion oder intendierte Zielsetzung anderer - etwa religiöser, weltan-
schaulicher, sittlicher oder sozialer - Normensysteme40 und anderer
Wege oder Formen der Vermittlung von Werten sein. Daß in dem kom-
plexen Gefüge von Einflüssen, die auf die Sozialisation des einzelnen
einwirken, im Ergebnis immer wieder rechtliche, soziale und sittliche
Normensysteme nach Effekt und Intention konvergieren (können), ist
daher eher eine vor- oder außer(straf)rechtliche Frage. Für die empi-
rische, wohl auch für die kriminal politische Analyse (im umfassenden
Sinne) ist freilich das Verhältnis dieser verschiedenen Normensyste-
me zueinander, der jeweiligen Trag- und Leistungsfähigkeit - in indi-
vidual- wie sozialpsychologischer Hinsicht - von nicht zu unterschät-
zender Bedeutungu .

38 BVerfGE 45, 187.


H. Mayer, Strafrechtsreform für heute und morgen, 1962, S. 15. So auch
SD
Jescheck, Lehrbuch (Fn. 16), S. 3,53.
40 Dazu z. B. Popitz, Die normative Konstruktion von Gesellschaft, 1980,
S. 21 ff.
el Zur "Krise gesellschaftlich gesteuerter NormvermittIung" Otto (Fn.19),
S. 244 ff.
Integrationsprävention und Strafrecht 823

Wichtiger erscheint in unserem Kontext ein anderer Gesichtspunkt,


der sich mit dem skizzierten Verständnis der Integrationsprävention
verbindet. Wenn der Kriminalstrafe - jedenfalls auch oder gar in
erster Linie - die Funktion zugedacht ist, das Rechts-Bewußtsein der
Allgemeinheit zu stärken und damit deren Rechtstreue zu festigen,
dann stellt sich allemal die Frage nach den Bedingungen für die Mög-
lichkeit einer solchen Stabilisierungs- oder Integrationswirkung. Hier-
auf geben nun zahlr·eiche Autoren die Antwort, wenn überhaupt, dann
habe gerade die gerechte Strafe diesen Effektfl • Unter gerechter Strafe
versteht man gemeinhin aber die schuldangemessene, d. h. diejenige
Strafe, die der Schwere des Tatunrechts und -verschuldens entspricht
- was immer das (konkret) heißen mag. Vor allem Jescheck selbst
ist nicht müde geworden, diesen Zusammenhang hervorzuheben43 •
Freilich ist nicht zu übersehen, welche Probleme der Rekurs auf Ge""
rechtigkeit für die Ausgestaltung gesetzlicher Strafdrohungen und rich-
terlicher Strafzumessung birgt". Dafür mögen die Lebensbedingungen
und Wertpräferenzen, die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ver-
hältnisse einer bestimmten Zeit und Gesellschaft maßgebend sein. So
kann Gerechtigkeit - um nur ein Beispiel herauszugreifen - im Blick
auf die Ahndung einer Straftat tendenziell eher egalisierend-generell
oder aber individualisierend begriffen werden45 • Dann stehen hinter
den jeweiligen Orientierungen die eingangs apostrophierten Staats-
auffassungen, die sich - in mittelbarer Weise - auch auf Art und Ge-
staltung strafrechtlicher Sanktionen auswirken. Ja, grundSätzlicher
noch könnte man jene unterschiedlichen Tendenzen auch als ein Pro-
blem des allgemeinen (begrifflichen) Verständnisses von Gerechtigkeit

U Vgl. etwa Noll, Schuld und Prävention unter dem Gesichtspunkt der
Rationalisierung des Strafrechts, Festschrift für Hellmuth Mayer, 1966,
S. 219 ff., 223, 227; Roxin (Fn.21), S.305; BockeZmann, Strafrecht, Allgern.
Teil, 3. Auft. 1979, S.8; Müller-Dietz, Grundfragen des strafrechtlichen Sank-
tionensystems, 1979, S. 22, 30; Otto (Fn.19), S. 279 ff.; Armin Kaufmann (Fn. 1),
S.7.
cs Jescheck, Lehrbuch (Fn.16), S.3 f., 53; ders., in: Strafrecht (Fn.22),
S.I44.
" Zur Problematik gerechter Strafen z. B. Horstkotte, Strenge Strafen,
milde Strafen, "gerechte" Strafen - über die Orientierung der gegenwär-
tigen Strafzumessungspraxis -, in: Gibt es ein Recht auf Strafe? Zum
neueren Streit um Begründung und AUsgestaltung der Strafe (Loccumer
Protokolle 20/1980), S. 118 ff.
u Zum Individualisierungsgedanken vgl. Würtenberger, Die geistige
Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft, 2. Auf!. 1959, S. 87 ff.; Heinitz,
Die Individualisierung der Strafen und Maßnahmen in der Reform des
Strafrechts und des Strafprozesses, 1960; Baumann, Grenzen der individualen
Gerechtigkeit im Strafrecht, in: Summum ius, summa iniuria. Individual-
gerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben, 1963,
S. 117 ff.; Jescheck, Lehrbuch (Fn.16), S. 698 ff.; Müller-Dietz (Fn.42), 5.171
(m.w.N.).
824 Heinz Müller-Dietz

auffassen. Dann entspräche die am Gleichbehandlungsgedanken orien-


tierte Ahndung von Straftaten der Gerechtigkeitsidee, die individuali-
sierende Reaktion dem Postulat der Billigkeit. Dies kann hier indessen
nur angedeutet, nicht weiterverfolgt werden.
Die Bezugnahme auf Gerechtigkeit legt jedenfalls folgenden Gedan-
kengang nahe: Wenn die Kriminalstrafe überhaupt Integrationswir-
kung hat oder haben kann, dann noch am ehesten diejenige Strafe, die
man als gerechte Ahndung der Tat, als Äquivalent für das verwirklichte
Tatunrecht ansehen kann. Danach entscheidet der Grad der Annähe-
rung an das - vorausgesetzte - Maß der Tatvergeltung, welche Reali-
sierungschance die Integrationsprävention hat. Dann wird weder die
vorrangig generalpräventiv (i. S. der Abschreckung oder Warnung)
noch die primär spezialpräventiv (i. S. der Resozialisierung und/oder
Sicherung) bestimmte Strafe allgemeinen Erwartungen gerecht; sie
kann darum auch den angestrebten Integrationseffekt nicht auslösen.
Die Androhung zu hoher oder zu niedriger, also solcher Strafen, die
man nach oben oder unten als unangemessen empfindet, wirkt sich nach
dem Kontext der überlegungen eher negativ, d. h. irritierend, das
Rechtsbewußtsein verunsichernd und letztlich desintegrierend aus.

V.
Natürlich kann das hier vorgestellte Denkmodell, das ja keineswegs
neu ist, nur unter wenigstens drei, freilich gewichtigen Prämissen prak-
tisch funktionieren. Die eine Voraussetzung liegt darin, daß sich hinrei-
chend breiter Konsens über Wert und Bedeutung eines strafrechtlich
geschützten Rechtsgutes und die Notwendigkeit seines strafrechtlichen
Schutzes herstellen läßt". Ist solcher Konsens nicht zu erreichen, weil
z. B. Wert des Rechtsgutes und Frage des Strafrechtsschutzes religiös,
weltanschaulich, ethisch oder politisch heftig umstritten sind, dann
mindert dies notgedrungen die Anerkennung und Wirkung einer -
etwa auf der Basis einer schmalen (Parlaments-)Mehrheit durchgesetz-
ten - Norm. Ob und wie sich in einem solchen Falle die Norm gleich-
wohl behaupten kann, hängt wohl von vor- und außerrechtlichen Nor-
mensystemen und Sozialisationsinstanzen ab.
Die zweite, eher rechtspraktische, aber gJ.eichwohl nicht zu vernach-
lässigende Frage betrifft die Umsetzung eines Wert- oder Rechtsguts-
Bewußtseins in eine Norm oder vielmehr Strafdrohung, die das allge-
mein oder doch weithin zugrundegelegte Maß von Unrecht und V,er-
schulden adäquat zum Ausdruck bringt. Das kann deshalb Schwierig-
48 Zur Rechtsgutsdiskussion etwa Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz
der Gesellschaft, 1972; Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens.
Ansätze zu einer praxisorientierten Rechtsgutslehre, 1973; Jakobs, Strafrecht,
Allgem. Teil. Die Grundlagen und die Zurechnungslehre, 1983, S. 27 ff.
Integrationsprävention und Strafrecht 825

kieiten bereiten, weil im allgemeinen auch moderne Sanktionensysteme


relativ grobstrukturiertsind und feineren Differenzierungen erst auf
der Stufe der Strafzumessung Raum geben. Was unrechts- und schuld-
angemessene Strafe auf der Ebene der Strafdrohung bedeutet, mag
sich zwar im Verhältnis verschiedener Rechtsgüter zueinander und im
Rahmen eines vorgegebenen Sanktionensystems hinreichend konkreti-
sieren lassen. Die Frage ist aber, ob und wann jenes Raster nicht
seinerseits revisionsbedürftig erscheint, weil es den damit angestrebten
Zwecken nicht mehr gerecht wird.
Die vielfältigen Bemühungen, die einfache Zweiteilung in gegen
Eigentum bzw. Einkommen gerichtete Geld- und in gegen Freiheit ge-
richtete Freiheitsstrafen durch stärkere Ausdifferenzierung des Sank-
tionensystems zu überwinden, zeigen ein solches Bedürfnis an. Ande-
rerseits fragt es sich, ob nicht starke Feinabstufungen die intendierte
Funktion der Normverdeutlichung wieder beeinträchtigen können,
weil etwa vom durchschnittlichen Bürger die Komplexität des Sank-
tionensystems und damit der Strafdrohungen nicht mehr hinreichend
nachvollzogen werden kann.
Damit ist zugleich der dritte Aspekt berührt, der sich auf die sozia-
len Wahrnehmungen von Strafrechtsnormen und Gerichtsentscheidun-
gen bezieht. Hier geht es um das überaus komplexe Problem, auf welche
Weise der einzelne bzw. ganze gesellschaftliche Gruppen Kenntnis von
Regelungen und Urteilen erhalten und wie diese Kenntnis dann auch
verarbeitet wird. Die Vermutung liegt nahe, daß bereits die Art des
Zugangs zu solchen Informationen, natürlich aber auch die jeweilige
Sozialisation gewichtige Vorentscheidungen über jenen Wahrnehmungs-
und Deutungszusammenhang treffen. (Hypo-)Thesen darüber, in wel-
chem Umfange - ihrerseits gefilterte - Informationen über das Stra-
fensystem U!Ild die Strafpraxis, also "aus zweiter Hand" vermittelt wer-
den, sind - auf der Grundlage massenmedialer Untersuchungen -
längst formuliert 47 •
VI.
Das Konzept der Integrationsprävention legt zwei gewichtige Konse-
quenzen nahe: Zum einen folgt daraus, daß - grundsätzlich jedenfalls
- schuldübersteig,ende und -unterschreitende Strafen Ge~ahr laufen,
von der Allgemeinheit nicht hinreichend akzeptiert zu werden. Da mag

47 Z. B. H. J. Schneider, Massenmedien, in: Handwörterbuch der Krimi-


nologie, 2. Aufl., 4. Bd., 1979, S. 338 ff.; ders., Das Geschäft mit dem Verbre-
chen. Massenmedien und Kriminalität, 1980; FeZtes, Kriminalberichterstat-
tung in der Tagespresse. Eine Analyse von Tageszeitungen des Frankfurter
Raumes, 1980; Kriminalität und Massenmedien. überlegungen zu Gerichts-
saalreportage und Kriminalberichterstattung (Grazer rechts- und staatswiss.
Studien, Bd.38), 1981; Schwacke, Kriminalitätsdarstellung in der Presse, 1983.
826 Heinz Müller-Dietz

es eine gewisse Band- oder Toleranzbreite möglicher Entscheidungen


geben, die (noch oder schon) auf Konsens stoßen. Deutliche Abweichun-
gen nach oben oder unten jedenfalls scheinen mit dem Risiko behaftet,
die Funktion der Normbekräftigung zu verfehlen. Dabei versteht es
sich von selbst, daß der vorgestellte Wirkungsmechanismus schon des-
halb ungleich komplizierter ist, weil ja nicht nur die Rechtsprechung
selbst, sondern auch Wert- und Unwertbewußtsein in der Entwick-
lung begriffen sind; Unrecht und Schuld der einzelnen Straftaten sind
demzufolge nicht ·als unveränderliche, statische Größen zu vel'Stehen,
sondern können im Zei'bablauf unterschiedliche Bewertungen erfahren.
Für den RegeUall dürfte hiernach aber gelten, daß general- oder spe-
zialpräventiv motivierte über- oder Unterschreitungen der schuld-
angemessenen Strafe unter dem Gesichtspunkt der Integrationspräven-
tion problematisch erscheinen, weil sie desintegrierende Wirkungen
auf das Rechtsbewußtsein haben können. Dies bedeutet jedoch auch:
Wenn es die maßgerechte Strafe ist, welche die postulierten integra-
tiven Wirkungen .auslöst, dann kann die Integrationsprävention nicht
ihrerseits inhaltsbestimmendes Prinzip der Strafzumessung sein48 • Viel-
mehr muß das richterliche Bemühen darauf gerichtet sein, möglichst
nahe an den fiktiven Idealwert der schuldangemessenen Strafe heran-
zukommen. Nicht kann aber umgekehrt die Integrationsprävention zum
Maßprinzip der Strafe erhoben werden. Dies schließt schon theoretisch
jeden Versuch aus, von da aus zusätzliche, weitergehende oder neue
Kriterien für die Straffestsetzung im Einzelfall zu gewinnen. Was -
erhoffte oder reale - Folge einer nach anderen Maßstäben bemessenen
Strafe ist, kann nicht seinerseits in die Bemessung dieser Strafe ein-
fließen - ganz abgesehen davon, daß es sich fragt, wie aus der Inte-
grationsprävention selbst Maßstäbe für die Stl'affestsetzung sollen ge-
wonnen werden können.
Damit ergeben sich wesentliche Konsequenzen für Verständnis und
Anwendungsbereich des Begriffs "Verteidigung der Rechtsordnung".
Ihm kann hiernach jedenfalls ~eine Aufgabe der Strafmaßbestimmung
zukommen. Dem entspricht in einer gewissen Weise, daß er ,eine Art
"Grenzwertfunktion" hat, also vom Gesetz primär in einem negativen,
ausgrenzenden Sinne verwendet wird: Wenn die Verteidigung der
Rechtsordnung Bestrafung erfordert, darf es nicht bei der Verwarnung
unter Strafvorbehalt sein Bewenden haben. Macht d~e Verteidigung der
Rechtsordnung die V,erhängung einer Freiheitsstrafe unerläßlich, darf
nicht auf die sonst gebotene Geldstrafe erkannt werden. Zwingt die
Verteidigung der Rechtsordnung zur Vollstreckung der Strafe, ist es
unzulässig, diese zur Bewährung auszusetzen.

48 Vgl. Köhler (Fn. 1), S. 40 ff.


Integrationsprävention und Strafrecht 827

Gleichgültig, wie man inhaltlich im einzelnen jenen Begriff bestimmt,


erfüllt er lediglich eine korrigieTende Funktion. Dies wird besonders
augenscheinlich in den Fällen der §§ 47 und 56 Abs.3 StGB, in denen
die Verteidigung der Rechtsordnung - ausnahmsweise - ein Abwei-
chen vom Regeltyp der sonst zu verhängenden Geldstrafe oder der
sonst anzuordnenden Strafaussetzung gebietet. Bekräftigt werden sol-
che überlegungen durch die fast durchweg negative Fassung, in die
die Gerichte ihre Entscheidungen zum Begriff "Verteidigung der
Rechtsordnung" kl,eiden.
Das ist kein bloß semantisches Problem; vielmehr verbirgt sich da-
hinter der Umstand, daß die Integrationsprävention - wiewohl sie in
einem überaus komplexen sozialpsychologischen Prozeß auf die Straf..
rechtsbewehrung von Rechtsgütern Einfluß nimmt - letztlich nicht als
Ursache, sondern als - intendierte - Folge erscheint: als diejenige
Wirkung nämlich, die man sich von gesetzlicher Androhung und rich-
terlicher Zumessung der Kriminalstrafe erhofft.
PIETRO NUVOLONE

L' opzione penale

I. Politica criminale e periodi di transizione


Il momento ehe stiamo attraversando e caratterizzato da due ten-
denze legislative antitetiehe tra loro: la tendenza alla depenalizzazione
di fattispecie costituenti reato e la tendenza alla criminalizzazione di
nuove fattispecie.
Sottostante, evidentemente, a queste riforme penali, e una revisione
dei valori ehe stanno alla base della legislazione penale ed anehe una
rimeditazione deI meccanismo psicologico spinta - controspinta.
Contemporaneamente, si segnala una tendenza a mitigare, da un
Iato, la reazione penale con l'adozione di vari espedienti di tipo indul-
genziale alternativo; dall'altro, a inasprirla con aggravamenti di pene.
E, come in tutti i periodi di transizione, segnati da un'insoddisfazione
per la legisiazione vigente e da un'incertezza quanto alla Iegislazione
futura, il pensiero giuridico si ripiega su se stesso per individuare le
ragioni metapositive delle riforme e le ehiavi di spiegazione della for-
mulazione delle norme: fase, dunque, di pensiero critico.

11. L'opzione penale e l'istanza di prevenzione generale


Non v'e dubbio ehe il Iegisiatore sceglie Ia via dell'incriminazione
penale principaimente perehe ritiene di particolare importanza un de-
terminato bene e vuole garantirne piu efficacemente Ia conservazione;
peraltro, Ia seelta dipende talvolta non gi/i dall'intrinseca importanza
deI bene, ma dalla finalita di realizzare un interesse di rilievo fun-
zionale nell'ambito di un microsistema legislativo.
Si puö dire, in sostanza, ehe alla base dell'opzione penale VI e
un'istanza di prevenzione generale1• Che si tratti di istanza fondata
o infondata, con sbocehi pratici reali 0 non, e un problema ase: certo,
la correlazione necessaria esiste nell'ispirazione deI Iegislatore.

1 Una rivalutazione deUa prevenzione generale in Andenaes, The choice


of sanction. A Scandinavian perspective, in: «Reform and Punishmenb, Uni-
versity of Chicago press, p. 1 sS.; V. anche Padovani, L'utopia punitiva, Milano
1981, passim.
830 Pietro Nuvolone

E sono eonsiderazioni ehe valgono non solo per i1 diritto penale in


sense stretto, ma anehe per i1 diritto punitivo in genere: dovunque si
vuole garantire l'osservanza di un preeetto eon la eomminatoria di
una sanzione eterogenea (anehe solo amministrativa), ehe incide in un
interesse di natura personale 0 patrimoniale, si fa una seelta ispirata
ai eriteri dell'intimidazione.
11 prima passo, quindi, sara di. stabilire s~ si debbano formulare fat-
tispeeie punitive; i1 seeondo, di stabilire se ei si possa aeeontentare di
una sanzione amministrativa 0 si debba passare aUa sanzione penale.
Invero, anehe se, sotto qualehe aspetto (non applieabilitä. deUa sospen-
sione eondizionale, termine di preserizione), la sanzione amministra-
tiva puö presentare un grade di indefettibilitä. maggiore deUa san-
zione penalel , la stigplatizzazione legata alla sanzione penale e la sua
afflittivitä. appaiono maggiori di quelle eollegate alla sanzione am-
ministrativa: tante ehe, depenalizzando, si trasforma, in genere, i1 reato
in illecito l;lmministrativo. E vieeversa: quando si vuole rendere piu
effieaee l'intlmidazione e si vuole ereare un vero deterrente, si passa
dalla repressione amministrativa a quella penale. Esempi anehe reeenti
in materia valutaria e tributaria dimostrano, neUa loro eoneretezza,
la veritä di queste asserto.
Possiamo, quindi, affermare ehe, nell'adottare l'opzione punitiva, e
quella penale in partieolare, i1 legislatore e mosso da un istinto di
fiducia nella prevenzione generale. ehe quest'istinto sia giustifieato,
orifletta una mera illusione, e altro problema; a noi importa qui rile-
vare ehe sitratta di una realtä effettiva. E - dieiamolo pure - e un
atteggiamento, quelle dellegislatore, almenD in parte (non sempre),
giustifieato dalle reazioni individuali e soeiali alla minaecia della san-
zione punitiva: reazione ehe puö avere la sua base neUa libertä deI
volere 0 anehe, molto piu semplieemente, nei riflessi eondizionati.
La tematiea. deUa prevenzione speciale verrä in eonsiderazione in
un secondo momento: quelle dell'applieazione e deU'eseeuzionedella
sanzione. E non per tutti i easi: non e'e dubbio, infattl, ehe distinzione
di reati e di soggetti hanno portato e portano ad una politiea eriminale
bipolare'.

Z Cosi si fa rilevare nella Circolare 19 dicembre 1983 della Presidenza deI


Consiglio dei Ministri, Criteri orientativi per la scelta tra sanzioni penali e
sanzioni amministrative, in «Suppl. ord. Gazz. Uff.» 23 gennaio 1984, p. 15.
a Cfr. in argomento Nuvolone, La lt~gislation penale italienne recente et la
politique criminelle bipolaire, in «Rev. de sc. crim. et dr. pen. comp.» 1982,
p.733.
L'opzione penale 831

m. Seelte politiche e opzione punitiva


I vincoli costituzionali e la problematica relativa
Si suole comunemente ritenere ehe il momento deU'opzione penale
sia un momento politico: nel senso, eioe, ehe la deeisione di creare fat-
tispecie penali, 0 anche solo genericamente punitive, dipende da una
valutazione politica dellegislatore. Si tratta ora di stabilire se ci si
trovi di fronte a valutazioni svincolate da ogni criterio-guida, di modo
che si possa veramente dire con Kirchmann ehe «basta una parola deI
legislatore per mandare al macero intere biblioteehe giuridiehe».
In se e per se si protrebbe ipotizzare un sistema in cui il potere po-
litico sia completamente libero neUe sue scelte, cosicehe l'opzione pe-
nale appaia rimessa aU'arbitrio. Pero, anehe in un sistema deI genere,
privodi garanzie costituzionali, le scelte dellegislatore dovranno ob-
bedire pur sempre a certi canoni fondamentali cui si ispira un regime
anehe tirannico. Ogni scelta contraria a questi canoni finirebbe con
l'essere suieida, col distruggere se stessa: e tra questi canoni - come
l'esperienza storica insegna - ei sono sempre quelli della salvaguardia
di taluni beni, la cui tutela rappresenta una costante razionale. Certo,
per<'>, in un ordinamento siffatto, non poträ. esservi censura giuridica
delle scelte dellegislatore; la censura verrä. dai fatti.
In un sistema, invece, in cui le istituzioni e i rapporti tra le istitu-
zioni e il cittadino siano regolate da una Costituzione, il margine di
liberta neUe scelte dellegislatore e molto minore. 11 potere politico
potra sempre scegliere beni e interessi da tutel are con la sanzione
penale; ma solo fino al punto in cui non entri in conflitto con i prin-
cipi costituzionali. E in genere - come in Italia - vi e un organa il
cui compito e appunto di stabilire se il legislatore abbia attuato opzioni
legittime 0 illegittime. Tutte le volte in cui l'incriminazione di un fatto
sia incompatibile con un principio costituzionale, la norma punitiva
cadra sotto la sanzione di illegittimitä. costituzionale. Questo si veri-
fiehera, soprattutto, quando un divieto previsto dalla legge ordinaria
entrera in conflitto con una norma deUa Costituzione ehe riconosce
neUo stesso comportamento l'esercizio di un diritto'.
Ci si domanda, a questo punto, se la sanzione deU'incostituzionalitä
possa colpire anehe la legge ordinaria ehe prevede come reato (0 anche,
genericamente, come illeeito punibile) la lesione di un bene ehe non
sia garantito daUa Costituzione. La risposta affermativa muove da!
presupposto ehe solo i beni tutelati dalla Costituzione possano esser

4 Sui rapporti tra incostituzionalita ed esercizio deI diritto, cfr. NuvoZone,


11 sistema deI diritto penale, n a Ed., Padova 1982, p. 50 ss. V. da ultimo anche
Lanzi, La scriminante dell'art .. 51 C. p. e le liberta costituzionali, Milano 1983.
832 Pietro Nuvolone

protetti attraverso la sanzione penale, in quanto questa, ineidendo di-


rettamente 0 indirettamente sul massimo dei beni, la liberta personale,
non potrebbe esser eomminata per l'offesa di interessi non aventi di-
gnita eostituzionale5 •
Questo presupposto, perö, non ci sembra ehe possa esser eonfigu-
rato. La Costituzione traecia indubbiamente dei limiti per il diritto
punitivo; ma nel sense eui abbiamo sopra aeeennato dell'ineompatibi-
lita della legge ordinaria eon i principi eostituzionali; non e dato,
inveee, rinvenire la fonte di un limite diverso, ehe ineida sulle seelte
diserezionali dellegislatore.
Questa diserezionalita, 0 liberta, dellegislatore e, in fondo, uno dei
eardini della stessa Costituzione, ehe segna per essa il solo limite
dell'illegittimita eostituzionale determinata dall'ineompatibilita tra
legge ordinaria e prineipi eontenuti, appunto, nella Costituzione. La
leg ge ordinaria non puö andare contro la Costituzione, ma puö andare
oltre la Costituzione: e ciö a preseindere dal fatto ehe il raggio di
estensione degli interessi eostituzionalmente garantiti e tale da poter
eomprendere qualsiasi situazione 0 rapporto ehe non sia antitetieo a
un preeetto costituzionaleft • E poste ehe il legislatore, entro i limiti di
eui sopra, puo tutel are e regolamentare qualsiasi interesse, la seelta
delle sanzioni dev'essere interamente rimessa, in quest'ambito, al le-
gislatore stesso, senza possibilita di sindacato da parte della Corte Co-
stituzionale.
Ci sembra, quindi, di poter affermare ehe la legge punitiva (e quella
penale, in particolare) puo incriminare eomportamenti lesivi anehe di
benr non espressamente menzionati nella Costituzione, purehe non si
determini una situazione di ineompatibilita con la Costituzione.
D'altra parte, e indubbio ehe non vi e un obbligo per il legislatore
di tutelare penalmente tutti i beni garantiti dalla Costituzione7 , anehe
se, indubbiamente, la caratterizzazione costituzionale di un bene for-
nisce allegislatore un'indicazione di opportunita per l'opzione penale.

5 Su questa impostazione, con originalita di cadenze argomentative, Bri-


cola, Teoria generale deI reato, in «Noviss. Dig. It.», Vol. XIX, 1973. V. anche
Angioni, Contenuto e funzioni deI bene giuridico, Sassari 1980.
ft Tendenzialmente in questo senso, ma con una graduazione paracostitu-
zionalistica degli interessi, Mantovani, Diritto penale, Padova 1979, p. 186.
7 In sense parzialmente divergente, Pulitano, Obblighi costituzionali di
tutela penale?, in «Riv. it. dir. e proc. pen.» 1983, p. 484,
L'opzione penale 833

IV. La scala-base di valori e i processi razionali ed emotivi:


l'istanza di stigmatizzazione e gli scopi di retribuzione

Chiariti, cosi, i rapporti tra opzione penale e Costituzione, vediamo


ora le altre prospettive in cui si puö inquadrare la scelta deI legisla-
tore.
Alla base della scelta della tutela giuridica, e quindi della costru-
zione delle fattispecie penali, e anehe, piu genericamente, delle fatti-
specie punitive, sta il collocamento dei beni su una determinata scala
di valori8 • E' certo, infatti, ehe il legislatore tende all'opzione punitiva,
e, nell'ambito di questa, all'opzione penale, in funzione di esigenze di
prevenzione generale; ma e ehiaro ehe il presupposto e l'identificazione
dei beni, la cui lesione si vuole prevenire attraverso l'intimidazione.
Questa identificazione e il risultato di un processo in parte razio-
nale e in parte emotivo.
Da un punto di vista razionale, vengono in considerazione, anzitutto,
quei beni ehe, indipendentemente dal momento storico in cui ci si
trova, rappresentano valori costanti di ogni convivenza umana (senza
ehe, con ciö, si voglia propendere per una concezione giusnaturalistica):
la vita, l'incolumita individuale, l'incolumita pubblica, la genuinita
documentale eccD. E vengono, altresi, in considerazione quei beni ehe,
pur non assumendo un valore costante, ma variabile, appaiono come
necessari alla sopravvivenza di una determinata comunita: tali la
difesa delle istituzioni in cui si articola 10 Stato, e dello Stato stesso10 •
Ad un punto di vista emotivo, invece, e legato il se e il quanta della
tutela di certi interessi, a cui, in un dato momento, si attribuisce, sotto
l'influsso di emozioni anehe transeunti, un'importanza rilevante: di
qui, per esempio, nascono le incriminazioni di certe opinioni (contra-
rie ai regimi costituiti) 0 di certi comportamenti nella sfera politica ed
economica (per es. in materia tributaria 0 valutaria).
In questa prospettiva si inserisce anehe l'istanza di stigmatizzazione
ehe, per ragioni varie, e spesso sotto l'influsso di un'opinione pubblica
demagogicamente orientata, aceompagna le scelte dellegislatore. Di

8 Scala di valori ehe, evidentemente, pub anehe prescindere da! parametro


costituzionaIe, purehe non eontrasti eon esso.
9 Cfr. le aeute notazioni sulle costanti in Radzinowicz, La spirale deI cri-
mine (Trad. Piera Smuts Santi), Milano 1981, p. 111.
10 Su questi argomenti di fondo, cfr. per tutti: BricoZa, Teoria generale,
cit. passim; Jescheck, Das Menschenbild unserer Zeit und die Strafrechts-
reform, 1957; id., Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 3" Ed., Berlino 1978,
p. 40 ss.; Nuvolone, Natura e storia nella scienza deI diritto penaIe, in «Tren-
t'anni di diritto e procedura penale», Padova 1969, p. 190 ss.

53 Festschrift für H.-H. Jescheck


834 Pietro Nuvolone

fronte a eerti fatti, eioe, il legislatore e portato all'ineriminazione, an-


zitutto, e poi aHa eomminatoria di sanzioni piu gravi, in quanto ritiene
i fatti stessi meritevoli di un particolare eastigo: qui, in sostanza, aHa
prevenzione generale si aeeompagnano 10 seopo di repressione e di
retribuzione. Si tratta di due momenti di politiea eriminale ehe, pur
venendo solitamente assimilati aHa prevenzione generale, eon essa
non si identifieano ne quanta aHa genesi, ne quanto al teleologismo.
Invero, la prevenzione generale e legata a una proiezione nel futuro,
preseindendo daH'applieazione della pena ed essenzialmente in fun-
zione della minaeeia della stessa, mentre la repressione e la retribu-
zione attengono al momento in eui, verifieatosi il reato, si tratta di
punirne l'autore l l • Inoltre, il eoneetto di prevenzione generale e, nella
sua essenza, razionale, in quanta basato su di un ealeolo di proba-
bilitil dell'efficaeia deterrente della norma; inveee, i eoneetti di repres-
sione e di retribuzione sono legati a valutazioni etieo-politiehe12, in
gran parte emotive, perehe i parametri sono estremamente soggettivi
ed astratti. Chi potril mai stabilire, eon razionale eertezza, quanta di
sanzione eorrisponde al male eommesso?

v. Il problema della condotta da incriminare


e il principio di tassativitä

Alla seelta dei beni da tutelare segue neeessariamente l'identifiea-


zione della eondotta da ineriminare. Tavolta, e suffieiente inerimi-
nare la sempliee produzione dell'evento, in quanta l'evento si iden-
tifiea nella soppressione 0 nella menomazione deI bene: queste avviene,
per esempio, nei delitti di omieidio e di lesione ehe vanno classifieati,
appunto, tra i delitti a eondotta libera, 0 a eausalitil aperta. Ma i1 piu
delle volte si rende neeessaria la tipieizzazione della eondotta, in
quanto la realizzazione di determinati interessi (personali e patrimo-
niali) non pUD eonsiderarsi in se e per se illeeita, ma diventa tale solo
in quanto si usino determinati mezzi ehe, a grandi linee" possono iden-
tifiearsi nella violenza e nella frode l '. Talehe, non si e lontani dal vero
earatterizzando i1 delinquente come eolui ehe tende a soddisfare i
suoi interessi attraverso mezzi ehe rientrano nelle eategorie della vio-
lenza edella frode. E' un'indieazione ehe trova eonferma anehe in
aleune norme della Costituzione (si vedano, per esempio, gli artt. 17,
18 e 49).

11 Su questo concetto, si vedano le osservazioni di Andenaes, op. cit., p. 9.


11 Per quest'aspetto deUa tematica penale, cfr. Bettiol, 11 problema penale,
in: «Scritti giuridici», vol. 11, Padova 1966, p. 620.
13 Cfr. Nuvolone, 11 sistema, cit., p. 81 ss.
L'opzione penale 835

A questo punto, puö intervenire indubbiamente il eontroUo eostitu-


zionale. 11 principio di tassativita, ehe e un'implieazione neeessaria deI
prineipio di legalita, esige ehe la pena rieada solo sull'autore di un
«fatto»: e il fatto non puö essere ehe un eomportamento percepibile
esteriormente e «l'evento-lesione deU'interesse» ehe ne deriva. Fino
a ehe un reato rimane nel campo dell'ideazione, della programmazione,
senza incidere nel mondo fenomenico esteriore (sia pure eome atto pre-
paratorio), non ci troviamo di fronte a un fatto della vita di relazione,
il solo ehe puö interessare la sfera deI diritto14 • Questo non significa,
naturalmente, ehe l'interesse tutelato sia effettivamente leso; ma signi-
fica ehe la eondotta incriminata sia identifieabile in atti univocamente
diretti verso quell'obbiettivo.
In virtu di tale prineipio, non e ehiuso automaticamente il diseorso
circa i «reati di sospetto», nei quali si deve distinguere il easo delI' in-
eriminazione deI mero sospetto, indubbiamente illecita, daU'inerimi-
nazione di una eondotta, esteriormente rilevabile, ehe viene punita
perehe puö rappresentare il sintomo di un illecito piu grave di earat-
te re sostanziale 0 il pericolo di futuri illeciti sostanziali. Una eosa e
l'oggetto deI reato e un'altra eosa il motivo per eui il legislatore fa
scattare la sanzione punitiva.
Il principio di tassativita esige, inoltre, ehe la norma punitiva sia
formulata nel modo piu preeiso possibile, in guisa da non legittimare
interpretazioni diverse e eontrastanti, eome tali lesive deUa eertezza
deI diritto15 •
In un regime, eome quelle italiano, retto da una Costituzione in
sense formale sovraordinata aUe altre fonti deI diritto, il legislatore
dovra anehe porre attenzione ad un perieolo: e, eioe, di incriminare,
per la salvaguardia di beni meritevoli di tutela, eomportamenti eui
si debba rieonoseere la natura di liberta eostituzionalmente garantita.
Per esempio, non si potra ineriminare una eondotta di «sciopero» solo
perehe 10 sciopero lede indubbiamente beni patrimoniali (e talvolta
anehe personali) meritevoli di tutela. Qui si presentera, a seconda dei
easi, per il giudiee ehe si trovasse di fronte a norme di questo tipo,
l'alternativa tra ineostituzionalita deUa norma ordinaria e limite seri-
minante dell'esercizio deI diritto (v. anehe Tetra III).

14 Il ehe non 5ignifiea, evidentemente, ehe si aeeolga il principio di offen-


sivita. Su quest'argomento, efr. G. Vassalli, Considerazioni sul prineipio di
offensivita, in «Studi in onore di U. Pioletti», Milano 1983, p. 671 ss.
IG Cfr. in argomento: Pagliaro, Prineipio di legalita e indeterminatezza
deUa legge penale, in «Riv. it. dir. e proe. pen.» 1969, p. 694 55.; Roxin, Offene
Tatbestände und Rechtspflichtmerkrnale, Hamburg 1969.

53'
836 Pietro Nuvolone

VI. 11 principio di tassativitä e Ia sua vioIazione in Ieggi recenti


Questi momenti logici e psicologici che presiedono, 0 dovrebbero pre-
siedere, alla scelta dei legislatore non sono, a nostro avviso, esclusivi
dell'opzione penale in sense stretto, ma anehe dell'opzione punitiva in
sense lato e generico.
E questo, non solo perehe il secondo comma dell'art.25 Cost. dice
«Nessuno pud essere punito ecc.»; non solo perehe la legge 24 novembre
1981, n.689, all'art.1 dispone ehe <messuno pud essere assoggettato a
sanzioni amministrative se non in forza di una legge ehe sia entrata
in vigore prima della eommissione della violazione» (sia pure nell'am-
bito descritto dall'art.12), ma per la stessa logica deI diritto punitivo.
La sanzione punitiva, infatti, presuppone un precetto ben determi-
nato per potere adempiere alla sua funzione dissuasiva. Se la condotta
vietata (0 imposta) non fosse tassativamente descritta, il comando con-
tenuto nella norma non avrebbe forza cogente; e, nello stesso tempo,
sarebbe fonte di discrepanze e incertezze nell'applicazione della legge,
ledendo, cosi, il precetto costituzionale di uguaglianza.
Un tipico esempio di violazione deI principio di tassativitä, sia nella
prospettiva penale sia nella prospettiva amministrativa, e rappresen-
tato dalla legge 25 gennaio 1982, n.17, sulle associazioni segrete16 •
L'art.1, ehe e il presupposto di sanzioni penali e di sanzioni ammini-
strative, recita infatti:
«Si considerano associazioni segrete, come tali vietate dall'articolo
18 della Costituzione, quelle ehe, anehe all'interno di associazioni pa-
lesi, occultando la loro esistenza ovvero tenendo segrete congiunta-
mente finalitä e attivita sociali ovvero rendendo sconosciuti, in tutto
od in parte, ed anehe reciprocamente, isoci, svolgono attivitä diretta
ad interferire sull'esercizio delle funzioni di organi costituzionali, di
amministrazioni pubbliehe, anehe ad ordinamento autonomo, di enti
pubblici anehe economici, nonehe di servizi pubblici essenziali di in-
teresse nazionale».
L'indeterminatezza della fattispecie e evidente: la condotta incri-
minata e descritta in modo estremamente vage e tale da comprendere
molteplici comportamenti di indubbia liceitä (l'interferire sull'esercizio
di amministrazioni pubbliehe puo costituire una legittima esplicazione
di liberta politiehe).
Un altro esempio e rappresentato dalla definizione deI delitto di
associazione di tipo mafioso (art. 416-bis C. p. introdotto dall'art. 1 della
legge 13 settembre 1982, n. 646). La definizione e la seguente:

18 V. in proposito: Nuvolone, Commento aUa legge 25 gennaio 1982, n.17,


in: «L'Indice penale» 1982, p. 99.
L'opzione penale 837

«L'associazione e di tipo mafioso quando eoloro ehe ne fanno parte


si avvalgono delIa forza di intimidazione deI vineolo associativo e delIa
eondizione di assoggettamento e di omerta ehe ne deriva per eommet-
tere delitti, per aequisire in modo diretto 0 indiretto la gestione 0 eo-
munque il eontrolIo di attivita eeonomiehe, di eoneessioni, di autoriz-
zazioni, appalti e servizi pubblici 0 per realizzare profitti 0 vantaggi
ingiusti per se 0 per altri».
Si tratta di una tipiea fattispeeie «emozionale», i eui estremi sono
di quasi impossibile verifieazione sul piano delIa prova eonereta.
In realta, una parte notevole delIa Iegislazione antimafia e sospetta
di ineostituzionalita per violazione deI principio di legalita, per vio-
Iazione deI principio di personalita delIa responsabilita in materia pu-
nitiva e, in genere, delIa eertezza deI diritto.
Citiamo, per tutti, i primi due eommi dell'art.2-bis della Iegge 31
maggio 1965, n.575, aggiunto dall'art. 14 della Iegge 13 settembre 1982,
n.646:
«11 proeuratore della Repubbliea 0 il questore eompetente a riehie-
dere l'applieazione di una misura di prevenzione proeedono, anehe a
mezzo della polizia tributaria della guardia di finanza, ad indagini sul
tenore di vita, sulle disponibilita finanziarie e sul patrimonio, anehe
al fine di aeeertarne Ia provenienza, delle persone nei eui eonfronti
possa esse re proposta una misura di prevenzione perehe indiziate di
appartenere ad associazioni di tipo mafioso 0 ad aleuna delle asso-
eiazioni previste dall'art. 1. Aeeertano fra l'altro se le suddette per-
sone siano titolari di lieenze di polizia, di eommereio, di eommissiona-
rio astatore presso mereati annonari all'ingrosso, di eoneessione di
aeque pubbliehe e diritti inerenti, nonehe se risultino iseritte ad albi
professionali, di appaltatori di apere 0 forniture pubbliehe 0 aIl'albo
nazionale dei eostruttori».
«Le indagini sone effettuate anehe nei eonfronti deI eoniuge, dei
figli e di eoloro ehe nell'ultimo quinquennio hanno eonvissuto eon le
persone indieate nel eomma preeedente, nonehe nei eonfronti delle
persone fisiehe 0 giuridiehe, assoeiazioni od enti deI eui patrimonio
dette persone risultino pater disporre in tutto 0 in parte, direttamente
o indirettamente».
Di qui emerge ehe presupposto di indagini aventi natura fortemente
repressiva e restrittiva dell'esercizio di diritti personali e patrimoniali
possono esse re semplici sospetti; e ehe soggetti passivi possono esse re
persone (eoniuge, figli, ex eonviventi) nei eui eonfronti non sara, nep-
pure in futuro, ipotizzabile una forma di responsabilitä17 •
838 Pietro Nuvolone

L'opzione punitiva e stata qui attuata non certo nel soleo della Co-
stituzione; ma unicamente sull'onda di una spinta emotiva, non sempre
razionale, anehe al di fuori di possibili scopi di prevenzione generale:
non ha sense pensare di prevenire comportamenti indeterminati ehe
non si identificano in fatti. 11 vero presupposto e il sospetto degli in-
quirenti, eioe un quid ehe, per sua natura, non puö esser prevenuto.

VB. Opzione punitiva generica e opzione penale in senso stretto:


interrogativi posti dalla legge 24 novembre 1981, n. 689
N el momente in cui il legislatore ha deciso di «punire» determinati
fatti, si tratta di stabilire se orientarsi verso un'opzione penale in senso
proprio, 0 verso un'opzione punitiva-amministrativa.
La legge 24 novembre 1981, n. 689 sulla depenalizzazione sembra
indicare come criterio di discriminazione la gravita deI fatto. Ciö si
deduce, soprattutto, dalla norma (art. 32) ehe prevede l'esclusione dalla
depenalizzazione di alcuni reati. Perö, un'attenta lettura persuade su-
bito ehe solo raramente pub parlarsi di gravita oggettiva: si tratta, per
10 piu, di gravita soggettivamente ritenuta per motivi contingenti di
politica legislativa (si pensi, in particolare, ai reati in materia urba-
nistica ed edilizia e in materia di rapporti di lavoro) 0 addirittura per
motivi ehe sfuggono a un'indagine razionale (per esempio, l'esclusione
delle contravvenzioni previste dal codice penale)18.
Comunque, e certo ehe, per le ragioni piu varie, il legislatore ha
inteso colpire taluni fatti con le sanzioni penali, ritenendoIe piu effi-
caci l'!~lla prospettiva della prevenzione generale.
In altre parole, tutte le volte ehe il legislatore, nell'ambito dell'opzio-
ne punitiva, ritiene di dover accentuare l'intimidazione, sceglie la san-
zione penale vera e propria; negli altri casi sceglie la sanzione ammi-
nistrativa. La scelta, ovviamente, puö essere esatta 0 sbagliata.
In realta, infatti, non e facile individuare criteri costanti e oggettivi,
ehe prescindano deI tutto dall'arbitrium legislatoris, soprattutto quando
ci si trova di fronte a fatti di non eccessivo rilievo e, in sostanza, ba-
gatellari, come per quanta concerne la legge n.689 deI 1981. Si ag-
giunga ehe talora la maggior gravita della sanzione penale e un sem-
plice luogo comune: vi possono essere sanzioni amministrative (per es.
talune pene disciplinari 0 certe pesanti pene pecuniarie) molto piu

17 Su questi aspetti della legge antimafia, cfr., da ultimo, Gaito, Gli


accertamenti fiscali e patrimoniali per i fatti di «mafia», Milano 1983.
18 Pertinenti osservazioni in argomento fa il Mucciarelli, in DolcinU
GiardalMucciarellUPalierolRiva Crugnola, Commentario delle «Modifiehe al
sistema penale», Milano 1982, sub art. 32, p. 183 ss.
L'opzione penale 839

afflittive, e quindi molto piu temute, di qualehe sanzione penale in


sense stretto (per es. di un'ammenda 0 anehe di una breve pena deten-
tiva col beneficio della sospensione condizionale): tanto ehe e stato
autorevolmente proposto di prevedere sanzioni amministrative, esten-
sibili alle persone giuridiehe, al poste di meno efficaci sanzioni penali,
applicabili solo ai singoli individui. Se questo e ciö ehe accade nella
realta - e di qui deriva, a nostro avviso, Ia necessita inderogabile di
prevedere un procedimento munito di tutte le garanzie deI contrad-
dittorio edella difesa tutte Ie volte ehe si tratta di applicare una san-
zione amministrativa punitiva (sotto queste aspetto, Ia Iegge n. 689 deI
1981 ha compiuto qualehe piccolo passo, ma lascia ancor molto a desi-
derare) - bisogna, perö, ammettere ehe Ia strada deI Iegislatore e an-
cora Iastricata di Iuoghi comunpu: e il Iuogo comune della maggior
temibilitä della sanzione penale e uno di quelli piu saldamente radi-
cati.
Ciö non toglie, perö, ehe i1 Iegislatore debba esser maggiormente
riehiamato al sense della realta; e debba rendersi conto dell'efficacia
intimidatrice di sanzioni amministrative punitive, specie allorehe si
tratta di fatti aventi una notevole incidenza economica. Di qui po-
trebbe derivare anehe una maggiore articolazione di sanzioni penali
vere e proprie, al di fuori degli stereotipi della pena detentiva edella
multa e dell'ammenda. Talune sanzioni interdittive 0 pecuniarie pre-
viste come pene accessorie 0 come sanzioni amministrative potrebbero,
cioe, trasformarsi in pene principaIi.
Si tratta dell'opzione verso misure alternative penali.

VIII. Le sanzioni alternative


De iure condito, nell'ordinamento italiano sono previste sanzioni
alternative; ma solo in materia di brevi pene detentive (non oltre i sei
mesi) e in un ambito assai ristretto. Sono - come nota - Ia semide-
tenzione, Ia liberta controllata e Ia pena pecuniaria.
Secondo Ia Iegge 24 novembre 1981, l'opzione non edel Iegislatore,
ma deI giudice: infatti, Ia Iegge si limita a dettare criteri direttivi di
carattere generale, Iasciando inalterata Ia parte speciale.
La vera opzione deI Iegislatore si presentera nel momento in cui Ia
previsione delle sanzioni alternative entre ra nel precetto secondario
della norma penaIe: il legislatore dovra stabilire, eioe, per quali reati,
in concreto, sara ammissibile l'alternativa. Oggi, un'indicazione del-

lU Si legga, per una visione scettica della riforma: Bricola, La depenaliz-


zazione della legge 24 novembre 1981, n. 689: una svolta «reale» della politica
criminale?, in «Pol. dir.» 1982, p. 367 ss.
840 Pietro Nuvolone

l'orientamento deilegislatore e offerta dall'art. 60 della legge n.689


deI 1981, ehe prevede una serie di esclusioni oggettive. E anehe qui i1
ragionamento e analoga a quelle da noi fatto in tema di depenalizza-
zione: si tratta di una discriminazione basata su criteri di gravitä,
soggettivamente ritenuta dal legislatore in base a indirizzi di politica
legislativa. Vi e da dire, tuttavia, ehe, a differenza di quanta accade
per la depenalizzazione, qui, anehe nella realtä, l'impossibilitä di scelta
della sanzione alternativa, ispirata indubbiamente a un regime di mag-
giore mitezza, implica l'applicazione di una sanzione phI grave.

IX. L'opzione punitiva e la colpevolezza


Nell'ambito deI diritto punitivo (penale 0 amministrativo) si pre-
senta allegislatore anehe il problema della colpevolezza.
Fermo il principio della personalitä della responsabilitä penale, del-
l'illecito penale si risponde, secondo le prescrizioni date dal legislatore,
o a titolo di dolo 0 a titolo di colpa, salvo per le contravvenzioni, ehe
sono punibili indifferentemente sia ehe siano state commesse con dolo
o con colpa; eccezionali sono i casi di responsabilitä oggettiva.
La legge 24 novembre 1981, n. 689, all'art. 3 ha cosi disposto:
«Nelle violazioni cui e applicabile una sanzione amministrativa cia-
scuno e responsabile della propria azione od omissione, cosciente e
volontaria, sia essa dolosa 0 colposa».
In sostanza, l'illecito amministrativo parapenale viene collocato sullo
stesso piano delle contravvenzioni penali: deI carattere doloso 0 col-
poso si terrä conto, evidentemente, per la commisurazione della san-
zione. Dovrebbe escludersi la punibilitä a titolo di responsabilitä og-
gettiva.
In forza dell'art.12 della stessa legge, il principio della responsabi-
litä soggettiva si estende a tutte le sanzioni amministrative pecuniarie.
Ma, sebbene 10 stesso art. 12 stabilisca ehe le disposizioni degli articoli
precedenti non si applicano «alle violazioni disciplinari», noi riteniamo
ehe il principio di colpevolezza abbia un'applicazione generale per tutte
le sanzioni punitive. Ci<'> deriva dalla logica: se si punisce, vuol dire
ehe si rimprovera un certo comportamento. Ma, se si formula un rim-
provero, queste significa ehe dal soggetto era esigibile un comporta-
menta diverso. E questo comporta un giudizio di colpevolezza.
Ovviamente, queste ragionamento non pu<'> esser fatto allorehe si
tratta di sanzioni da applicarsi apersone giuridiehe; anehe se, in fondo,
alla base vi sarä sempre una condotta colpevole da parte dei soggetti
ehe le rappresentano.
L'opzione penale 841

In base a quali eriteri, sia in sede penale sia in sede piu generiea-
mente punitiva, si optera per la punibilita a titolo alternativo (dolo 0
eolpa) 0 si seegliera la punibilita a solo titolo di dolo?
Qui, a nostro avviso, i eriteri saranno due. Vi sono eerti fatti, il eui
evento eonsumativo, nel eontesto di una eerta azione, ove non sia
voluto, deve eonsiderarsi irrilevante, perche in eontrasto eon la logiea
deUa fattispecie (p. es. il furto 0 la truffa); vi sono, inveee, eerti fatti
in eui, pur essendo eonfigurabile una responsabilita eolposa, il legisla-
tore ritiene inopportuna l'estensione deUa punibilita aUa fattispeeie
eolposa, in quanta pub essere sufficiente l'obbligo deI risareimento deI
danno ex art. 2043 e. e. (per es. il danneggiamento), mentre la eonfigu-
rabilita di un reato eolposo moltiplicherebbe, oltre i limiti deI ragio-
nevole, i proeedimenti penali, estendendoli a easi che sono di ordinaria
amministrazione neUa vita di relazione.
Sia pure eeeezionalmente, l'evento illecito potra esse re imputato
a titolo di responsabilita oggettiva, sempre ehe la legge preveda espres-
samente questo easo: e tale previsione sara frutto di una seelta deI
legislatore, ispirato da finalita di partieoIare rigore, e quindi di piu
intensa tutela deI bene giuridieo. Per una singolare anomalia, l'even-
tualitä e eontemplata dal eodiee penale (art. 42), ma non trova rispon-
denza per il diritto amministrativo parapenale neUa legge 24 novembre
1981, n. 689.

X. Sanzione punitiva e liberta personale


La seelta delIa sanzione penale 0 delIa mera sanzione amministra-
tiva punitiva appare partieolarmente rilevante, perche solo la san-
zione penale si traduee direttamente 0 indirettamente in una restri-
zione deUa libertä personale. E, anzi, propria di qui, si trae la eonse-
guenza che non e possibile parifieare in aleun modo la sanzione puni-
tiva amministrativa aUa sanzione penale20 •
Senonche, a preseindere daI fatto che l'art.25 Cast. parIa di puni-
zione e non di sanzione penale, eosieche non vi e aIeuna neeessita di
un'applieazione analogiea deI principio eostituzionale di legalita, eerto
e anche che la legge n.689 deI 1981 espressamente richiama il principio
di legalita. Einaltre deve eonsiderarsi il fatto che anche la sanzione
punitiva di earattere amministrativo incide in qualche modo nei diritti
di liberta deI cittadino, 0 imponendogli prestazioni patrimoniali, 0 in-
terdieendogli determinati eomportamenti e determinate seelte; e per-
tanto, anche se non si pub parlare di una diminuzione deUa liberta per-
sonale in senso stretto, si deve eertamente parIare di restrizioni di

20 In questo senso, Bricola, Teoria generale, cit. passim.


842 Pietro Nuvolone

liberta eostituzionalmente garantite in sense lato. Comunque, in un


easo particolare (art. 388-ter C. p.) anehe la maneata eseeuzione dolosa
di una sanzione peeuniaria amministrativa puö avere per eonseguenza
la pena della reclusione.
Se a ciö si aggiunga - eome gia da noi rilevato - ehe talune san-
zioni amministrative possono esse re piu afflittive in eonereto di lievi
sanzioni penali, si ha la eonferma della diffieoltci. della seelta tra le
due, e quindi delI'opzione penale. Comunque, tradizionalmente, e pro-
prio in virtu delIa sua ineidenza, diretta 0 indiretta, eerta 0 even-
tuale, nella liberta personale in sense stretto, la sanzione penale deve
eonsiderarsi l'ultima ratio; e 10 stesso deve dirsi, nell'ambito delle
sanzioni penali, per quanto eoneeme la pena detentiva. La tendenza
asostituire le brevi pene detentive eon sanzioni alternative non deten-
tive e una eonferma di quest'assunto.

XL Le seelte di parte generale. Rifiessioni conclusive

Quello sottostante all'opzione penale e essenzialmente. un problema


di parte speeiale: seelta dei valori da tutelare penalmente, delle forme
delIa tutela (e, quindi, dell'ineriminazione) e dei mezzi della tutela (e,
quindi, della sanzione). La parte generale di un eodiee penale deve,
sotto queste aspetto, eonsiderarsi strumentale rispetto alle seelte di
parte speeiale: i presupposti soggettivi dell'ineriminazione, i Umiti seri-
minanti, i vari tipi di sanzione,le cireostanze integrano neeessariamente
i preeetti di parte speeiale e, in un sistema armonieo, si adeguano alle
scelte di parte speeiale.
L'ordinamento giuridieo penale, sempre ehe sia eonsequenziale ad
un'opzione unitaria nell'ambito della prevenzione e delIa repressione,
dovra apparire un tutto unico e eoerente dal punto di vista della poli-
tiea eriminale e delIa sua logiea intrinseea.
Ciö non avviene sempre; e non avviene, in partieolare, in !taUa, da
qualehe deeennio a questa parte: tensioni di segno opposto, volonta di
venire ineontro a non sempre eoneiliabili esigenze, tendenze alla cle-
menza e neeessitci. di durezza, hanno fatto della nostra legislazione
penale, molto spesso, eome aeeennavamo in prineipio, il eonfuso risul-
tato di opzioni diverse e eontrarie: ivi eompresa l'opzione premiale,
ehe sempre piu si inserisee nel diritto penale, nell'intento, 0 nelI'illu-
sione, di rafforzarlo!l.

21 Cfr. sull'argomento AA. VV., Diritto premiale e sistema penaIe, «Atti


deI vn° Simposio di Studi promosso dalla Fondazione A. Luzzanb, Milano
1983.
L'opzione penale 843

E' giunto il momento in cui il legislatore dovrebbe ripiegarsi su se


stesso per rendersi conto, razionalmente e non emotivamente, delle
ragioni deI suo operare e delle finalita ehe vuole raggiungere con i
mezzi a sua disposizione. Ma non sara facile se la societa non esce
prima dalla crisi in cui e coinvolta.
ALFONSO M. STILE

Concetto e trattamento
della «criminalita minore » in Italia

I. I problemi attuali deI trattamento della «criminalitä


minore» residuata alla depenalizzazione
Le modifiche apportate al sistema penale italiano dalla legge 24 no-
vembre 1981 n.689 costituiscono la piu vasta e incisiva riforma penale
dalla nascita dei codici vigenti, risalente a mezzo secolo fa. Con essa
il legislatore ha cercato di ovviare ai ritardiaccumulati nei confronti
deI «movimento internazionale di riforma», produttivo negli ultimi
anni di influssi considerevoli sulle legislazioni penali di numerosi
Paesi anche di tradizioni culturali analoghe a quella italiana1 •
La portata della legge risulta chiara non appena si considerino i
soli settori di intervento piil significativi: la depenalizzazione e la
formulazione di una disciplina generale dell'mecito amministrativo;
l'introduzione di sanzioni sostitutive delle pene detentive brevi; gli
interventi, di natura diversa, volti a favorire la deJlazione penale2 •
In questa sede vogliamo affrontare nelle linee di fondo le peculiari
modalita attraverso le quali risulta oggi trattata in Italia - appunto

1 Una notevolissima incidenza nella penetrazione e nella diffusione delle


linee generali deI movimento intemazionale di riforma in !talia, prima nella
dottrina e poi nella legislazione, e certamente da attribuire ad Hans-Heinrich
Jescheck, deI quale ci limitiamo a segnalare, tra le opere apparse sulla tema-
tica in lingua italiana: Gli indirizzi di politica criminale nelle riforme penali
tedesca ed austriaca, Jus 1974, 359 ss.; La riforma deI diritto penale in Ger-
mania, Indice penale 1976,393; La pena pecuniaria, modeme mezzo di politica
criminale ed i problemi ad essa connessi, Indice penale 1977, 365 sS.; Il signi-
ficato deI diritto comparato per la riforma penale, Riv. it. Dir. e Proc. pen.
1978, 803 S5.; Linee direttive deI movimento internazionale di riforma penale,
Indice penale 1979, 197 55.; Metodi della preparazione edella attuazione della
riforma penale tede5ca, Indice penale 1980, 217 S5.; Il nuovo diritto penale
tedesco me550 a prova, Indice penale 1981, 5; La crisi della politica criminale,
in: AA. VV. Metodologia e problemi della riforma deI codice penale, a cura di
A. Stile, 1981, 107 S5. Per una raccolta dei piit importanti lavori sui temi della
politica criminale edella riforma penale, v. Strafrecht im Dienst der Gemein-
schaft, 1980.
2 Tra le opere a carattere generale relative aUa legge di riforma, v. Dol-
cinilGiarda/MucciarellilPalierolRiva Crugnola, Commentario delle «Modi-
fiche al sistema penale», 1982; BertonilLattanzi/LupolViolante, Modifiche al
sistema penale, 1982; Vinciguerra, La riforma deI sistema punitivo nella L.
24 novembre 1981, n. 689, 1983.
846 Alfonso M. Stile

in seguito alla riforma deI 1981 - la «eriminalita minore» residuata


aHa depenalizzazione (0 deeriminalizzazione) operata eon la stessa
legge'.
Con un eolpo di spugna il legislatore italiano deI 1981 ha eaneellato
il earattere penale alla maggior parte dei reati (delitti e eontravven-
zioni'), preeedentemente puniti eon la sola pena pecuniaria eriminale
(multa e ammenda), previsti dalle leggi speeiali (art. 325), ad aleune
eontravvenzioni eontemplate dal eodiee penale e ad aleuni reati puniti
eon pena detentiva (art. 33). AHa sanzione penale e stata sostituita
una eorrispondente sanzione peeuniaria amministrativa. Dalla depe-
nalizzazione dei reati puniti eon la sola pena peeuniaria sono stati
esclusi la maggior parte di quelli previsti dal eodiee penale e una serie
di violazioni relative a settori di notevole rilevanza (art. 34)8.
Sui eriteri utilizzati nella depenalizzazione in dottrina si e molto
diseusso e molto si diseute, e poehi sono eoloro ehe si son ritenuti
soddisfatti. E' il punto di partenza ehe si e attirato le eritiehe maggiori:
la depenalizzazione e stata operata muovendo dalla eonsiderazione
deHa sanzione prevista senza una attenta revisione dei singoli reati
bagatellarF. Ne derivano perplessita cirea una rieonquistata «dignita»
deI sistema penale, sia per la permanenza di «minima», sia per le
sfasature dovute ai rapporti di valore tra fattispeeie depenalizzate
e non8 • Anehe i risultati in termini di economicitd deI sistema penale8
non sono eonsiderati suffieienti, speeie per quanta riguarda il earieo

3 11 problema deI trattamento - penale e non - della criminalita minore


e oramai da anni un «classico» della discussione politico criminale e crimino-
loglca a livello lnternazionale. Ne riepiloga efficacemente gli sviluppi salienti
Zipf, Kriminalpolitik, Ein Lehrbuch, 2. Auti. 1980, 115 ss.
, Gli illeciti penali (reati) si distinguono in delitti e contravvenzioni. Le
pene per i delitti sono l'ergastolo, Ia reclusione e la multa, per Ie contravven-
zioni l'arresto e l'ammenda.
& Gli articoli di Iegge citati senza indicazione deI teste normativo cui
appartengono si intendono relativi alla Iegge 24 novembre 1981 n.689.
e Tra questi settori si possono segnaIare quelli relativi alla tutela dell'am-
biente, alla sicurezza sul lavoro, agli alimenti, ecc. Un preciso riepilogo di
tutta la probIematica in Paliero, Probleme der Entkriminalisierung in Italien,
ZStW 94 (1982), 404 ss.
7 Cfr. Larizza, Profili critici della politica di depenalizzazione, Riv. it.
Dir. e Proc. pen. 1981, 95 ss.; Veneziano, Depenalizzazione e illecito am-
ministrativo, in: Modifiche al sistema penale, cit. n.2, vol. 1,56 ss.; Siniscalco,
Depenalizzazione e garanzie, 1982, 119 ss. Sulla problematica in rapporto
all'ordinamento tedesco, v. Vogler, Möglichkeiten und Wege einer Entkrimi-
nalisierung, ZStW 90 (1978), 132 ss.
8 Sulla problematica generale Zipf, cit. n.3; Paliero, Note sulla discipIina
dei reati «bagatellari», Riv. it. Dir. e Proc. pen. 1979, 920 ss., con ampi rife-
rimenti bibliografici.
• V. Kaiser, Möglichkeiten der Bekämpfung von Bagatellkriminalität in
der Bundesrepublik Deutschland, ZStW 90 (1978), 879 ss.
Concetto e trattamento della "crlminalita minore" in !talia 847

degli uffici giudiziari e degli organi di polizia, con tutti i conseguenti


indiscriminati criteri prasseologici di selezione10 , forse ancora phI peri-
colosi in mancanza dell'Opportunitätsprinzip 11 e in un momente in cui
la criminalita «grave» raggiunge livelli-limite, anche per via di una
fenomenologia associativa sempre piil marcata ehe riehiede da sola un
impiego massimo di risorse.
A prescindere dal grade di validita di questi rilievi, appare certo
ehe il processo di decriminalizzazione non e stato esaustivo. Proprio
il criterio generale basato sulla preesistente previsione della sola pena
pecuniaria e sulla estraneita al codice dei reati da depenalizzare, seb-
bene temperato da una piu attenta considerazione per taluni settori,
contiene in se stesso un implicito limite di validita per difetto e per
eccesso. Ci sembra tuttavia di poter anticipare ehe e stata propria la
consapevolezza derivante dai limiti dell'iter di depenalizzazione e
delle sue concrete (e limitate) conseguenze sull'amministrazione della
giustizia a costringere il legislatore italiano a porsi finalmente una
serie di problemi relativi a1 trattamento della residua criminalita
minore.
In un quadro costituzionale ehe, imponendo a1 pubblico ministero
l'esercizio dell'azione pena1e12, esc1ude inesorabilmente il ricorso a1-
l'Opportunitätsprinzip, certamente non e stata facile 1a ricerca di
soluzioni per tre categorie di reati minori:
1) quelli sfuggiti alla depenalizzazione e ehe sarebbero stati depe-
nalizzati attraverso una revisione piu approfondita, basata su criteri
diversi dalla considerazione della pena originariamente prevista;
2) quelli nella cui fattispecie sono compresi fatti di diverse signi-
ficato 0 contenuto di disvalore: basti pensare alle contravvenzioni ehe

10 Al di la dei non pochi rilievi critici che e necessario muovere alle premesse
teoriche e metodologiche cui si orienta la criminologia che si autodefinisce
«critica» (v. sopratutto Kaiser, Was ist eigentlich kritisch an der «kritischen»
Kriminologie?, Festschrift für Lange, 1976, 521 55.), e tuttavia ad essa che va
riconosciuto il merito di aver posto al centro della ricerca criminologica il
problema dei criteri «informali» di selezione della criminalita: v. nella lette-
ratura ormai sterminata su questa tematica, i contributi apparsi nel volume
Kritische Kriminologie, Arbeitskreis Junger Krlminologen, 1974, con parti-
colare riferimento al lavoro di Kern, Straftaten, Straftäter und Strafverfol-
gung, 190 ss. Una ponderata valutazione dei problemi che la c. d. «cifra oscu-
ra» pone ai sistemi penali odiemi, e fatta da Lüderssen, Strafrecht und Dun-
kelziffer, 1972, passim.
11 L'imprenscindibilita per i sistemi penali moderni di meccanismi che
consentono di giuridicizzare l'inevitabile selezione, e ribadita chiaramente
da Zipf, Kriminalpolitische überlegungen zum Legalitätsprinzip, Festschrift
für Peters, 1974, 487 ss.; per la dottrina italiana v. specialmente Paliero, cit.
n. 8, 928 ss.
ll! L'art. 112 Cost. e infatti tassativo: «11 pubblico ministero ha l'obbligo di
esercitare l'azione penale».
848 Alfonso M. Stile

sono punite indifferentemente, nell'ambito di un unico Strafrahmen,


a titolo di dolo 0 di colpa. Nell'ambito di tali fattispecie alcuni fatti
si sarebbero potuti tranquillamente depenalizzare, altri no;
3) quelli, infine, ehe pur fuori dalla attuale logica di depenalizza-
zione, evidenziano in concreto una Geringfügigkeit, una esiguita tale
da porre seriamente un problema di costi-benefici. Nel bilancio rela-
tiva al trattamenta di quest'ultima categoria di reati vanno appostate
da un lato le esigenze di prevenzione generale collegate alla tutela
di beni 0 interessi sufficientemente rilevanti, dall'altro la stigmatizza-
zione connessa alla condanna penale per fatti non gravi e l'appesanti-
menta dell'apparato della giustizia, ehe le limitate risorse non sem-
brano in grado di fronteggiare lS • In questo ambito puo essere infatti
riportata gran parte della «criminalita di massa», la cui incidenza
quantitativa non riehiede particolari ehiarimentp4.
Ad affrontare la piu complessa problematica posta da questa terza
categoria di fatti il legislatore e stato spinto ed insieme agevolato
dalla contemporanea introduzione delle sanzioni sostitutive delle pene
detentive brevp5: la possibilitä. (discrezionale) di applicare le pene
sostitutive non si riporta infatti esclusivamente alla pena concreta-
mente irragata, ma e circoscritta ai soli reati di competenza deI pre-
tore (ehe non prevedono pene superiori nel massimo a tre anni) tra
i quali si registrano numerose esclusioni oggettive, a dimostrazione
di una, sia pur opinabile, valutazione legislativa circa la attuale
gerarehia dei valori tutelati e le attuali esigenze generalpreventive.
L'individuazione dei reati ai quali possono esse re applicate le pene
sostitutive e la ricerca dei criteri ehe informano il pate re discrezionale
di sostituzione ha contribuito a circoscrivere un notevole ambito di
reati ehe possono definirsi «minori».
La sforzo legislativo volta a risolvere in maniera «economica» i
diversi ma connessi problemi relativi aHa «criminalita minore» si e
estrinsecato con la strutturazione di due nuovi istitutP6: l'oblazione
11 Cfr. Kaiser, cit. n. 9.
l' La piccola criminalita di massa costituisce, come e noto, un grosso pro-
blema dappertutto: sugli aspetti qualitativi - in relazione sia ai fatti che
agli autori - e quantitativi deI fenomeno, v. Kaiser, Kriminologie, Ein Lehr-
buch, 1980, 450 ss.
15 La legge 24 novembre 1981 n.689 prevede nel Capo III (artt. 53 - 85) il
potere deI giudice di sostituire le pene detentive fino a un mese con la pena
pecuniaria, quelle fino a tre mesi con la «liberta controllata» e quelle fino a
sei mesi con la «semidetenzione». Per una sommaria informazione in lingua
tedesca sui contenuti della legge di riforma deI 1981, con particolare riguardo
alle sanzioni sostitutive, v. StiZe, Neue italienische Kriminalpolitik nach dem
Strafrechtsreformgesetz von 1981, ZStW 96 (1984), 172 ss.
18 Occorre segnalare, quale ulteriore possibilitil sfruttata dal Iegislatore in
vista di un alleggerimento deI carico giudiziario, l'estensione a numerosi
Concetto e trattamento deUa "criminalita minore" in Italia 849

nelle contravvenzioni punite con la pena alternativa dell'arresto 0


dell'ammenda (art.126 ed ara art.162 bis c. p.) detto obZazione spe-
ciaZe17 ; Z'appZicazione di sanzioni sostitutive su richiesta dell'imputato
(art. 77), ridefinito non deI tutto propriamente patteggiamento, per
una vaga analogia con il pZea bargaining18•
Aparte le notevolissime diversita di portata e di effetti, entrambi
gli istituti mirano al duplice scopo di riportare la sanzione penale
stigmatizzante ad un criterio di extrema ratio, realizzando contem-
poraneamente un sostanziale alleggerimento deI carico processuale,
che e probabilmente la finalita primaria deI legislatore1e • Parimenti
e comune 10 schema generale che li informa:
1) la legge circoscrive l'ambito di applicazione dell'uno e dell'altro
istituto in relazione a caratteristiche tassative dei reati e degli autori;
2) in questo ambita tassativo e concesso al giudice il pate re discre-
zionale, sorretto da criteri diversi, di individuare i casi concreti nei
quali si rinunzia all'applicazione della sanzione penale;
3) iniziativa dell'imputato, che richiede una sanzione non penale e
comunque priva deI carattere stigmatizzante tipico di quella penale,
la quale viene applicata mediante procedimenti agili, che si concludono
con la estinzione deZ reato dichiarata dal giudice con sentenza.
Questo schema uni ta rio permette immediatamente di rilevare che
i fatti di «criminalita minore» possono restare privi di sanzione penale
(stricto sensu) alla luce di una doppia valutazione: la prima, generale
e astratta, operata dal legislatore; la seconda, concreta, operata dal
giudice. Le modalita di definizione, ed in particolare l'esito consistente
nella immediata declaratoria di estinzione deI reato, costituiscono
invece il sistema per aggirare l'ostacolo dell'obbligatorio esercizio
dell'azione penale.

reati della perseguibilita a querela di parte (Capo IV, artt. 86 - 99). Questo
tema non viene trattato, anche perehe i reati procedibili a querela non rien-
trono necessariamente neU'ambito deUa criminalita minore.
17 Si parIa di oblazione speciale (0 discrezionale) per distinguerla dal
preesistente istituto dell'oblazione (non discrezionale), su cui infra nel testo.
18 L'istituto deI «plea bargaining» e senza dubbio un efficace strumento
per i1 rapido smaltimento deI carico processuale, ma desta vive perplessita
la sua compatibilita con i principi di giustizia. Nella sua struttura tradizio-
nale appare incompatibile con l'obbligatorieta dell'esercizio dell'azione penale.
Sul punto v. Vigoriti, Pubblico ministero e discrezionalita dell'azione penale
negli Stati Uniti d'America, in: Pubblico ministero e accusa penale. Problemi
e prospettive di riforma, Bologna, 1979, 268; Corbi, Obbligatorieta dell'azione
penale ed esigenze di razionalizzazione deI processo, Riv. it. Dir. e Proc. pen.
1980, 1048 ss.
U Cfr. Dalia, La deprocessualizzazione come obiettivo primario delle re-
centi «modifiche al sistema penale», Riv. it. Dir. e Proc. pen. 1982, 475 s.

54 Festschrift für H.-H. Jescheck


850 Alfonso M. Stile

Dall'analisi dei criteri tassativi e discrezionali ehe consentono di


pervenire aHa estinzione dei reati minori in seguito aH'applicazione
di una sanzione non stigmatizzante - criteri ai quali e dedicato il
presente studio - sara possibile tentare di delineare il concetto di
«reato bagatellare» nell'ordinamento positiva italiano.

11. L'ambito dei reati potenzialmente «minori»

Occorre in prima luogo precisare a quali reati e circoscritta l'appli-


cabilita delI' «oblazione speciale» edel «patteggiamento»; cib costi-
tuisce la premessa necessaria alla individuazione dei criteri politico-
criminali cui si e ispirato il legislatore nell'ammettere la possibilita
di una forma di decriminalizzazione in concreto (ope iudicis) di fatti
ehe restano previsti come reato.

1. L'oblazione speciale e ammessa, senza eccezioni, per tutte le con-


travvenzioni per le quali la legge stabilisee in alternativa la pena
detentiva (arresto) 0 pecuniaria (ammenda).
L'oblazione e un istituto presente nel vigente codice penale (art. 162
c. p.) fin dalla sua introduzione limitatamente alle contravvenzionl
punite con la sola pena pecuniaria: il pagamento della terza parte deI
massimo della pena prevista dalla legge determina, senza discreziona-
lita alcuna da parte deI giudice, l'estinzione deI reato, «trasformando
l'illecito penale in illecito amministrativo»20. L'art.126 della legge
di riforma non si e limitato a estendere la portata dell'istituto alle
contravvenzioni punite con pene alternative: in tal caso infatti il
depositu con l'istanza di oblazione della meta deI massimo dell'am-
menda prevista non determina automaticamente l'estinzione deI reato.
ma attiva soltanto il potere discrezionale deI giudice, il quale dovra
poi motivare circa l'ammissione 0 la non ammissione all'oblazione.
Le contravvenzioni punite con sola pena pecuniaria sfuggite alla
depenalizzazione vera e propria!l restano soggette alla oblazione pri-
mitiva (non discrezionale), salvo alcune di esse ehe, in virtu del-
l'art.127, sono state assoggettate al regime dell'oblazione speciale
(discrezionale)" .

20 Relazione deI Guardasigilli al Progetto definitivo deI Codice penale,


parte I, 114. Sull'istituto della oblazione «tradizionale» v. Mazza, Oblazione
volontaria, in: Enciclopedia deI Diritto, vol. XXIX, 1979, 562 ss.
tl v. supra, sub I.
" La deroga conceme talune contravvenzioni relative alla disciplina
degli alimenti per Ia prima infanzia e dei prodotti dietetici, all'inquinamento
atmosferico, all'impiego pacifico dell'energia nucleare, alla sicurezza e igiene
sul Iavoro. Pertanto, degli illeciti penali contravvenzionali puniti con Ia sola
ammenda prima delIa riforma deI 1981, alcuni sono stati depenalizzati; altri
Concetto e trattamento della "criminalitA minore" in Italia 851

Restano quindi escluse dall'oblazione le contravvenzioni punite con


la sola pena detentiva 0 con la pena detentiva congiunta all'ammenda.

2. L'applicazione di sanzioni sostitutive su richiesta dell'imputato


(il cd. patteggiamento) si applica a tutti i reati (delitti e contravven-
zioni) per i quali il giudice ha la possibilita di sostituire la pena
detentiva con la pena pecuniaria 0 con la liberta controllata. Bisogna
quindi ricorrere aHa disciplina delle pene sostitutive (artt. 53 ss.) per
precisare i limiti generali di portata deH'istituto.
Le pene detentive brevi possono essere sostituite in relazione a
reati di competenza deI pretore, anehe se giudicati, per effetto della
connessione, da un giudice superiore 0 dal tribunale per i minorenni.
La competenza deI pretore abbraccia reati puniti con pena detentiva
fino a tre anni, con esclusione di alcuni di essi ehe, ratione materiae,
ricadono nella competenza deI tribunale.
Tra i reati di competenza deI pretore ve ne sono perb alcuni (elen-
cati nell'art.60) per i quali e esclusa l'applicazione delle pene sostitu-
tive: si tratta sia di delitti ehe di contravvenzioni.
Un altro limite oggettivo implicito e costituito dal minimo edittaIe:
le pene sostitutive introdotte dalle Iegge di riforma deI 1981 sono
infatti tre: la pena pecuniaria, ehe sostituisce la pena detentiva fino
a un mese; la liberta controllata, ehe sostituisce le pene detentive
fino a tre mesi; la semidetenzione, ehe sostituisce pene detentive fino
a sei mesi23 • Solo nel caso di applicabilita delle prime due sanzioni
e possibile il patteggiamento, per cui pub verificarsi (peraItro rara-
mente) ehe il minimo edittale sia tale ehe, nonostante l'eventuale pre-
senza di circostanze attenuanti, non sia possibile neppure astratta-
menteU contenere la pena nellimite di tre mesi.
Una visione comparativa dell'ambito di applicabilita di entrambi
gli istituti, per quanto concerne i reati ehe vi sono compresi, evidenzia

restano ammessi a11a tradizionale oblazione (art. 162 c. p.), per cui in man-
canza di un potere discrezionale deI giudice si pub parlare di depenalizza-
zione di fatto (Pedrazzi, Considerazioni generali su11e sanzioni pecuniarie nel
progetto di riforma de11e societa commerciali, Riv. it. Dir. e Proc. pen. 1966,
783 ss.); altri, infine, sono stati sottoposti al piu rigoroso regime dell'art.162
bisc.p.
28 De11'ampia bibliografia su11e pene sostitutive introdotte dalla riforma
deI 1981 ci si limita a segnalare: FebbrarolDemarco, Sanzioni sostitutive e
«Patteggiamento», 1982, passim, 18 ss.; Paliero, cit. n. 2, 277 ss.; Dolcini, Le
sanzioni sostitutive applicate in sede di condanna, Riv. it. Dir. e Proc. pen.
1982, 1390; Vinciguerra, cit. n. 2, 257 ss.
U Tale problema e quindi assolutamente autonome da quelle deI concreto
contenimento de11a pena nell'ambito di tre mesi, che riguarda non i limiti
generali di applicabilita de11' istituto ma i limiti discrezionali, di cui ci occu-
peremo nel prosieguo deI Iavoro.

54'
852 Alfonso M. Stile

numerosi problemi. In prima luogo non si riseontra una precisa sovrap-


posizione deI «patteggiamento», ehe eontempla sanzioni piu severe,
all'oblazione, le eui eonseguenze sono eertamente piu lievi. Infatti vi
sono alcune eontravvenzioni alle quali e riferibile l'oblazione ma ehe
sono escluse dal patteggiamento, in quanto ad esse non sono applieabili
1e pene sostitutive: ad esempio, 1e eontravvenzioni in materia tribu-
taria, perehe sono di eompetenza deI tribunale e non deI pretore;
a1eune eontravvenzioni in materia di inquinamento, perehe rientrano
tra quelle per le quali e espressamente esclusa la pena sostitutiva.
11 problema piu grave eoneerne tuttavia i delitti puniti con pena
peeuniaria (multa) sfuggiti alla depenalizzazione: per questi non pub
farsi luogo all'oblazione, ehe riguarda le sole eontravvenzioni, ne,
stando alla lettera dell'art.77, all'applieazione di sanzioni sostitutive,
le quali presuppongono una pena detentiva da sostituire. Lo stesso
problema si estenderebbe, seeondo alcuni, anehe ai delitti puniti eon
pena alternativa, qualora il giudiee ritenesse di applieare la pena
peeuniaria (non sostituibile), e ai delitti puniti eon pena eongiunta.
Ne seguirebbe ehe proprio i delitti meno gravi, per i quali e prevista
la pena peeuniaria, sarebbero sottratti alle proeedure ehe consentono
di evitare la stigmatizzazione di una eondanna pena1e a tutti gli
effetti25 •
Questa maeroseopica sfasatura deve riportarsi, eosi eome la prima,
a un difetto di teeniea Iegislativa dovuto alla frettolosa introduzione
dell'istituto deI «patteggiamento», deI tutto estraneo alla tradizione
giuridica italiana, ed in particolare alle diffieoltä. deI suo coordina-
menta eon il sistema della eommisurazione della pena in sense Iato:
Ideato eon Ia finalita piu ridotta di rendere faeilmente applieabili
Ie pene sostitutive, ci si rese eonto durante i Iavori preparatori ehe il
rieorso al nuovo istituto sarebbe stato quanta mai limitato per 1a ben
piu ampia portata della sospensione eondizionale della pena, ehe
sarebbe risultata deI reste piu vantaggiosa per il reo. Pertanto si volle
potenziarlo eon l'aggiunta dell'effetto estintivo immediato deI reato
diehiarato eon sentenza, in modo da renderlo piu riehiesto. Ma, una
volta previsti effetti su un piano ben diverso da quelle della me ra
applieazione delle pene sostitutive, non si eonsiderb il fatto ehe il

!5 In quest'ultimo sense Cass., VI Sez., 5 ottobre 1982, Giust. pen. 1983, III,
68; Cass., VI Sez., 13 maggio 1983, Giust. pen. 1983, III, 547. Vieeversa, rag-
guagliano la pena pecuniaria originaria in pena pecuniaria sostitutiva, Cass.,
IV Sez., 17 novembre 1982, Cass. pen. Mass. anno 1983, 468; Cass., IV Sez.,
22 febbraio 1983, imp. Pulloni, inedita; numerose sentenze di merito esten-
dono la portata dell'istituto. In dottrina, tra Ie diverse soluzioni proposte,
cfr. Giarda, cit. n.2, 366 ss.; Vinciguerra, cit. n. 2, 328 ss.; Demarco, Atti deI
Convegno di studio sulla legge 24 novembre 1981. n.689 (Pesaro, 7/8 maggio
1982),1984,173 SR
Coneetto e trattamento deUa "eriminalita minore" in Italir 853

«patteggiamento» diventava appetibile anehe per gli autori di delitti


puniti eon pena peeuniaria, desiderosi di eonservare una sostanziale
«ineensuratezza», di evitare pene aeeessorie eee.
A tale imperdonabile negligenza legislativa la dottrina e la giuri-
°
sprudenza hanno eereato di ovviare attraverso una estensione del-
l'istituto deI patteggiamento ai delitti puniti eon pena peeuniaria eon
argomentazioni a tortiori", ovvero rimettendo la questione alla Corte
Costituzionale per la illogiea disparita di trattamento venutasi a deter-
minare 27 •
Se si aeeantonano i easi di maneato eoordinamento e le ipotesi di
esclusione, ehe si riportano eertamente a difetti di teeniea legislativa,
dato ehe altre spiegazioni non si rieseono a prospettare, risultano
abbastanza ehiari i eriteri eui si e ispirato il legislatore deI 1981 per
cireoserivere in via generale i reati per i quali e possibile, in seguito
alla sueeessiva valutazione diserezionale, pervenire alla declaratoria
di estinzione deI reato, per i quali, eioe, si pub parlare di «depenalizza-
zione striseiante», «depenalizzazione di fatto» 0 di «depenalizzazione
di fatti» in eontrapposizione alla depenalizzazione, in sense teenico,
dei reati: sia ehe si tratti di eontravvenzioni, sia ehe si tratti di delitti
di eompetenza deI pretore, nessun reato pub esse re ammesso alla
proeedura di estinzione rapida se il massimo edittale supera i tre anni
di pena detentiva. E' queste il limite entro il quale e stata eonsiderata
ammissibile l'inerinazione deI principio di indetettibiZitd della sanzione
penale, tradizionale eorollario della prevenzione generale28 •
Si deve ora esaminare eome, in queste ambito eosi cireoseritto di
reati2D , si distinguono i fatti per i quali si giunge ad una sostanziale
depenalizzazione ope iudicis, da quelli per i quali non pub addivenirsi
a tale risultato.

28 Cordero, Procedura penale, VII Ed. 1983, 984 s. L'argumentum a fortiori


afferisee, sotto l'aspetto qualitativo, aU'area deUa Reehtsfortbildung: «al
voluto deI legisiatore viene attribuita rilevanza in eontrapposizione a quanta
da lui stesso dettol!> (Koch/Rüssmann, Juristische Begrundungslehre, 1982,
257 s.). Cfr. Giarda, cit. n. 2, 367.
27 Con sentenza deI 24 maggio 1984, Foro It. 1., 1984, 1444, la Corte Costitu-
zionaie ha ritenuto inammissibile Ia questione sottopostale.
28 Come sottolinea Jescheck, Lehrbuch, 3. Auti. 1978, 56 s., e ehiarissimo
gia nel pensiero di Feuerbach ehe l'inflizione deUa pena e indispensabile a
garantire la «serieta» deUa minaecia, e dunque l'effetto generaipreventivo
ehe ad essa deve eoUegarsi. Si deve osservare a questo riguardo ehe la pru-
denza usata dal Iegislatore italiano neU'intaeeare i1 principio di indefettibilita
si verifiea innanzitutto nei eriteri di selezione dei reati ammessi aU'oblazione
e al patteggiamento.
2D A titolo di curiosita, da eonteggi riferiti al solo eodiee penale, risulta
ehe 58 su 74 eontravvenzioni sono ammissibili aU'oblazione, mentre 183 tra
delitti e eontravvenzioni sono ammissibili al epatteggiamento».
854 Alfonso M. Stile

La precisazione era ovviamente necessaria per pass are al nucleo deI


tema: quali sono i criteri normativi (e le relative premesse politico-
criminali) ehe permettono al giudice mediante i due istituti di diehia-
rare estinti come reati dei fatti ai quali il legislatore non ha inteso
cancellare in via generale il carattere di illecito penale.
eib riehiede naturalmente una phI approfondita indagine (specifica)
delI' «oblazione speciale» edel «patteggiamento».

m. L'oblazione speciale: discrezionalitä orientata


all'accertamento dell'irrilevanza penale

Le numerose condizioni per l'ammissione alla oblazione speciale


(art. 162 bis c. p.), di tutte le contravvenzioni punite con pena alter-
nativa e di alcune punite con la sola pena pecuniaria (art. 127), sono
eterogenee sia per quanta riguarda il rapporto tassativita-discrezio-
nalita, sia per quanta concerne il rilievo deI fatto 0 della persona.
Limiti apparentemente tassativi sono quelli posti dal terzo eomma
dell'art. 162 bis c. p.: L'oblazione non e ammessa quando ricorrono i
casi previsti dal terze capoverso dell'articolo 99, dall'articolo 104 0
dall'articolo 105 deI codice penale (si tratta rispettivamente delle ipotesi
di recidiva reiterata, di abitualita nelle contravvenzioni, di profes-
sionalita nel reato), ne quando permangono conseguenze dannose 0
pericolose deI reato eliminabili da parte deI contravventore.
Un ulteriore limite, ehiaramente discrezionale questo, e previsto dal
quartD-comma dell'art. 162 bis c. p.: «in ogni altro caso il giudice pub
respingere con ordinanza la domanda di oblazione, avuto riguardo
alla gravita deI fatto.»

1. Le prime tre ipotesi ostative riguardano condizioni personali deI


reo, relative ai suoi precedenti penali, quando questi provoeano la
diehiarazione di recidiva reiterata e di contravventore abituale 0 pro-
fessionale. Pertanto si deve subito osservare ehe il limite ehe preclude
l'ammissione all'oblazione, pur essende tassativo, si fonda su valuta-
zioni sostanzialmente discrezionali. La prima ipotesi (recidiva rei-
terata) e fondata sulla valutazione dei precedenti penali per stabilire
se essi impliehino, in relazione al fatto contestato, allo specifico epi-
sodio criminoso, una maggiore eolpevolezza, tale da giustificare in
concreto la confertna e la attuazione della minaccia di una pena piu
grave. Le rimanenti due ipotesi concernono invece l'accertamento
della pericolosita connessa alla valutazione completa degli elementi
ehe convalidano 0 contraddicono rispettivamente l'ipotesi ehe l'impu-
tato sia «dedito al reato» (contravventore abituale) 0 ehe «viva abi tu al-
Concetto e trattamento delIa "criminaUta minore" in !taUa 855

mente, anehe in parte soltanto, dei proventi deI reato» (contravventore


professionale)so.
Di fronte all'accertamento di un tale qualificato grade di colpe-
volezza 0 di pericolosita, l'ordinamento non pub tollerare ehe contrav-
venzioni, ancorehe di entita concretamente modesta, possano sfuggire
ad ogni conseguenza di ordine· penale attraverso l'oblazione. Questa
soluzione appare coerente con la seelta di non depenalizzare ope legis
le contravvenzioni cui si applica l'istituto in esame.
Dal momento ehe in definitiva e sulla base di una valutazione discre-
zionale ehe si individua l'esistenza di un presupposto pre~lusivo, sem-
bra da precisare ehe la contestazione 0 il solo accertamento dei prece-
denti penali astrattamente idonei alla declaratoria di recidiva reiterata
o di pericolosita, impedisca solo l'ammissione tout court alla oblazione.
Tuttavia, se il giudice accerta nel corso dell'istruttoria 0 deI dibatti-
mento ehe i precedenti penali non sono tali da dar luogo alla recidiva
reiterata 0 alla abitualita 0 professionalitä, ben pub ammettere l'im-
putato all'oblazione. Infatti la legge consente di riprodurre la domanda
(respinta) prima della discussione finale deI dibattimento di prima
grado (art. 162 bis, c. 5). In altre parole solo la concreta a:pplicazione
della recidiva reiterata 0 della misura di sicurezza dipendente dalla
diehiarazione di abitualita 0 di professionalita determina la preclu-
sione tassativa31 •

2. L'ulteriore condizione tassativamente ostativa all'oblazione e costi-


tuita dalla «permanenza di conseguenze dannose 0 pericolose deI reato
eliminabili da parte deI contravventore».
La permanenza delle conseguenz.e deI reato e ovviamente un con-
cetto diverso della permanenza della contravvenzione: in questo ultimo

30 E' opportuno tuttavia ricordare come, secondo i risultati di accreditate


ricerche criminologiche, anche alla base delle tipologie legali di reeidiva
sarebbe in sostanza la differenziazione tra diversi gradi di perico10sita
soeiale: v. Kaiser, Rückfalltäter und Resozialisierung, in: KaiserlSchöch, Kri-
minologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, 2. Aufl. 1982, 70.
31 La discrezionalita nelI'applicazione della reeidiva (anche se reiterata)
non riguarda il solo effetto de11'aumento di pena, bensi la valutazione dei
presupposti che giustificano 1a declaratoria della stessa esistenza della reei-
diva qua1e eircostanza aggravante: con la trasformazione della reeidiva da
automatica a discrezionale, grazie alla riforma deI 1974 (D. L. 11.4. 1974, n.99),
e il concetto stesso della reeidiva che e mutato; esattamente, tra gli altri,
Mantovani, Diritto penale, 1980, 595 s.: «Una volta che non si applica 1a reei-
diva, se ne elidono tutti gli effetti penalb. Occorre quindi distinguere la
contestazione della reeidiva reiterata, che preclude solo provvisoriamente
l'oblazione, da1 suo accertamento, che la preclude definitivamente. Non ap-
pare invece rilevante per consentire l'oblazione la eliminazione della reei-
diva reiterata in seguito a giudizio di preva1enza 0 equivalenza con eirco-
stanze attenuanti (art. 69 c. p.). Lo stesso discorso, mutatis mutandis, pul>
essere svolto per l'abitualita e 1a professionalita nel reato.
856 Alfonso M. Stile

caso sembra a fortiori non potersi discutere l'impossibilita di consentire


l'oblazione, dal momento ehe il reato non e esaurito, oltretutto con-
siderando ehe, per definizione, per esserci permanenza deI reato deve
esserci Ia capacita deI reD di farla cessare31 •
Il concetto della eliminazione delle conseguenze deI reato va tenuto
distinto da quelle deI risarcimento deI danno. Si deve considerare ehe
nell'art. 128 della Legge n. 689 (che integra l'attuale art. 165, 1c. c. p.)
l'eliminazione delle conseguenze dannose 0 pericolose costituisce una
condizione ehe il giudice pub apportare alla sospensione condizionale
della pena. Inoltre l'art. 62 n. 6 c. p. contempla come circostanza atte-
nuante comune ehe il reD si sia «... adoperato spontaneamente ed
efficacemente per elidere 0 attenuare le conseguenze dannose 0 peri-
colose deI reato». Ebbene, sia l'art.165, 1c. c. p., sia l'art.62 n.6 c. p.
tengono nettamente distinti la eliminazione delle conseguenze dannose
dal risarcimento deI danno. Cib induce decisamente ad esc1udere ehe
il mancato risarcimento deI danno sia di per se ostativo all'oblazione.
Inoltre le conseguenze in esame devono essere eliminabili da parte
deZ contravventore. Cib significa ehe non e la mera permanenza delle
conseguenze ne di quelle eliminabili in sense assoluto, ehe impedisce
l'oblazione, ma solo la permanenza di quelle eliminabili, secondo un
criterio relativo, da parte dell'imputato: occorre dunque tener conto
delle concrete possibilita deI reo 33 •
Sempre a queste riguardo ci si pub ancora ehiedere ehe cosa accade
se permangono conseguenze non deI tutto eliminabili ma solo ridu-
cibili 0 attenuabili da parte deI contravventore; il mancato conteni-
mento di tali conseguenze pub considerarsi prec1usivo? La risposta
deve-essere affermativa sia perehe nel concetto di conseguenze elimi-
nabili da parte deI contravventore va certamente ricompresa la elimi-
nazion€ parziale nei limiti delle possibilita concrete, sia specialmente
per la comune ratio delle ipotesi.
Anehe riguardo a queste limite, normativo e tassativo, deve preci-
sarsi ehe il permanere delle conseguenze dannose 0 pericolose elimina-
bili, ehe preclude l'ammissione alla oblazione nel momento in cui
l'imputato presenta l'istanza, puo venir meno, sia sotto il profilo della
permanenza ehe sotto quelle della eliminabilita, prima dell'inizio della
discussione finale deI dibattimento di prima grado: in tal caso la
riproposizione della istanza consente l'ammissione all'oblazione della
quale sono intanto maturati i presupposti34 •
32 Questa considerazione pub ritenersi valida anche riguardo alle contrav-
venzioni punite con la sola ammenda per le quali e applicabile l'oblazione
non discrezionale di cui all'art.162 c. p. Cfr. Bellone/Rolleri, in AA. VV. Mo-
difiche al sistema penale, a cura di Magistratura Democratica, 1982, 106 ss.
83 Cosi Mucciarelli, cit. n. 2, 537.
Concetto e trattamento della "criminalita minore" in !talia 857

3. 11 quarto comma dell'art.162 bis, in aggiunta alle limitazioni fin


qui segnalate, stabilisce ehe «in ogni altro caso il giudice pu<'> respin-
gere con ordinanza la domanda di oblazione, avuto riguardo alla gra-
vita deI fatto». La valutazione e ampiamente discrezionale perehe la
legge non indica espressamente quando il fatto debba ritenersi tanto
grave da non consentire l'oblazioness .
Subito emerge un problema di fondo: il giudice, nell'esercizio deI
potere discrezionale attribuitogli, deve tener conto soltanto della gra-
vita concreta deI fatto all'interno della fattispecie, prescindendo, come
sembrerebbe a prima vista, dalla gravita deI reato, 0 invece nella
valutazione deve tener conto anehe della gravita deI reato desumibile
in primis dalla entita della pena astrattamente minacciata? Vi sono
infatti contravvenzioni ehe prevedono una pena detentiva non indif-
ferente (anehe tre anni di arresto) in alternativa a quella pecuniaria:
basti pensare ad alcune contravvenzioni in materia tributaria38 0 di
inquinamento idric0 37• Altre contravvenzioni (ad esempio artt.663 e
674 c. p.) invece non contemplano pene detentive superiori al mese in
alternativa all'ammenda.
11 non indifferente ambito sanzionatorio delle contravvenzioni punite
con pena alternativa induce a qualehe breve riflessione su questa
categoria di reati. In primo luogo dovrebbe esse re implicito nella
scelta legislativa per la alternativita delle pene la segnalazione di
ipotesi phI concrete di gravita diversa: cie) trova un riscontro imme-
diato nella minaccia della medesima sanzione sia per i fatti dolosi ehe
per quelli colposi. 11 dol0 e la colpa nelle contravvenzioni non costi-
tuiscono elementi della fattispecie rilevanti, come accade invece per
i delitti, per la descrizione di un tipo di fatto caratterizzato da una
autonoma sanzione, ma divengono elementi (fondamentali) per la
commisurazione della pena da parte deI giudice, comprendendo nella
commisurazione della pena anehe la scelta tra le alternative.

U Non sembra inveee ehe il maturare dei presupposti della oblazione


dopo l'impugnazione prodotta ai sensi dell'art. 200, 2 c. c. p. p., consenta la
eoneessione nei suceessivi gradi di giudizio: l'eliminazione delle conseguenze
dannase 0 pericolose non pub intervenire dopo la discussione finale deI di-
battimento di prima grado; la Iegge non pub consentire, altre un eerto limite,
di «provare se va bene» e poi, di fronte a un esito negativa, riaprire la pos-
sibilita.
35 Mucciarelli, cit. n. 2,539.
se L'art.2 1. 7 agosto 1982, n.516, ad esempio, prevede per una serie di
ipotesi contravvenzionali in materia tributaria l'arresto fino a tre anni in
alternativa all'ammenda fino a sei milioni di lire.
17 L'art.22 1. 10 maggio 1976, n.319 punisce con l'arresto fino a due anni
o con l'ammenda fino a dieei milioni di lire gli autori di determinati searichi
illeciti.
858 Alfonso M. Stile

Dunque, per esigenze non sempre apprezzabili di semplificazione,


neUe fattispecie contravvenzionali possiamo vedere abbracciati fatti
di struttura e significato profondamente diverse tra loro sotto il pro-
filo oggettivo e soggettivo. La consapevolezza legislativa di questa
diversita, ehe prescinde ancora dalla rilevanza della personalita del-
l'autore deI reato, si evidenzia quantitativamente nel numero notevole
di contravvenzioni punite con pena alternativa. Le considerazioni ehe
precedono sottolineano la rilevanza deI criteno interna (alla fatti-
specie) di valutazione della gravita deI fatto, ma non sembrano in
grade di escludere ogni validita alla entita della minaccia di pena:
un fatto ehe si pUD ritenere di notevole gravita all'interno di una
fattispecie per la quale e peraltro prevista la pena massima di un
mese di arreste pUD essere perD considerato molto meno grave di una
violazione modesta, secondo il mero criterio interno, di una norma ehe
prevede nel massimo due 0 tre anni di arresto. Come potrebbe giusti-
ficarsi l'estinzione deI reato mediante oblazione nel secondo caso e
non invece nel primo, secondo le conclusioni cui si giungerebbe utiliz-
zando solo il criterio interno?
Per superare l'illogicita dell'altra ipotesi interpretativa, senza for-
zare il disposto normativo, deve ritenersi ehe il criterio interno sara
phI largo in relazione alle microviolazioni (ad esempio dove la pre-
visione dell'arresto non supera il mese); restrittivo, invece, riguardo
alle contravvenzioni valutate piu severamente dal legislatore (quelle
punite fino a due 0 tre anni di arresto). In sostanza ai fini dell'obla-
zione non si deve tener conto della sola gravita concreta deI fatto,
ponendo come parametro il «fatto medio» contemplato neUa fatti-
sI!~_cie. ma si deve considerare anehe la gravita deI fatto in rapporto
all'intero sistema dei valori normativamente riconosciuti ed aUe moda-
lita tipiehe dell'offesa.
Occorre precisare ehe se tendenzialmente la ammissione alla obla-
zione corrispondera alle ipotesi (meno gravi) nelle quali il giudice
applieherebbe la pena pecuniaria, ciD non significa affatto ehe vi sia
coincidenza tra i criteri di scelta della sanzione da applicare in alter-
nativa38 e i criteri di ammissione all'oblazione. L'opinione contraria30
non considera in prima luogo ehe se tale fosse stata l'intenzione deI
legislatore, certamente la si sarebbe resa esplicita piu agevolmente,
senza far ricorso a criteri analitici, con la rituale formula di rinvio
all'art. 133 c. p.40; in secondo luogo ehe gli stessi criteri si applicano

38 Circa i criteri sui quali si fonda la scelta tra le pene alternative, le


indicazioni fomite dalla dottrina sono scarsissime, cfr. Dolcini, La commisu-
razione della pena, 1979, 5; Sirena, in AA. VV., Problemi generali di diritto
penale, a cura di Vassalli, 1982,384,391.
38 VincigueTTa, cit. n. 2, 445.
Concetto e trattamento della "criminalita minore" in !talia 859

per le contravvenzioni punite con sola pena pecuniaria ricondotte


dall'art.127 all'oblazione speciale. Tale opinione, inoltre, porta ad un
evidente inversione, quando si sostiene ehe «oltre alla gravita deI fatto,
il giudice puö prendere altresi in esame la capacita adelinquere deI
colpevole per escluderlo dall'oblazione, perehe anehe di tale parametro
deve tener conto per decidere la specie di pena a cui condannarlo e
non potrebbe consentire l'oblazione a ehi ritenesse meritevole di con-
danna all'arresto». Al contrario, risulta ehiaro ehe la limitazione deI
criterio discrezionale alla sola «gravita deI fatto» e tutt'altro che
accidentale e ehe, propria in quanta deroga al consueto riehiamo
all'art. 133 c. p. (relativo alla complessiva commisurazione della pena),
segnala una precisa scelta legislativa volta a privilegiare esigenze di
prevenzione generale, nel sense di conferire una autonoma valenza
alla gravita deI fatto rispetto alla personalita deI reo.
Esc1uso ogni riferimento alla commisurazione della pena in sense
propria, il criterio discrezionale della «gravita deI fatto» va pertanto
inteso, oltre ehe nel riferimento alla entita astratta deI reato desumi-
bile dai limiti edittali, come obbligo poste al giudice di tener conto,
in una valutazione complessiva, essenzialmente della natura dolosa 0
colposa deI fatto contravvenzionale, della entita concreta e delle moda-
lita dell'offesa.
TaU criteri risultano «controllabili» in modo sufficientemente age-
vole e, almeno in teoria, dovrebbero garantire la conformita alla legge
della declaratoria di estinzione deI reato 41 •

IV. L'applicazione di sanzioni sostitutive su richiesta dell'imputato:


l'inopportunitä della stigmatizzazione criminale

L'altro istituto introdotto dalla Legge 689 deI 1981 ehe comporta
conseguenze sanzionatorie assai ridotte, seppur non una sostanziale
rinunzia alla pena vera e propria, ossia Z'applicazione di sanzioni
sostitutive su richiesta dell'imputato, e certamente molto piu complesso
rispetto all'oblazione. Le modalita della sua frettolosa introduzione,
come si e accennato, hanno determinato una sequenza di nodi inter-
pretativi in qualehe punto inestricabili: basti pensare ehe in via siste-
matica si arriva addirittura a negare l'effetto estintivo deI reato ehe e

40 L'art. 133 c. p., relativa ai criteri di commisurazione della pena, viene


espressamente richiamato dalla Iegge riguardo alle ipotesi di discrezionalita
che postulano un riferimento alla gravita deI fatto ed alla personalita deI reo.
41 La stringenza deI nesso tra concreta possibilita deI controllo circa i
presupposti della punibilita ed il principio deI vincolo deI giudice alla legge,
e Iimpidamente vista da Jescheck, Lehrbuch, cit. n.26, 100 ss. Piii di recente
v. anche Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 1981,
161 S9.
860 Alfonso M. Stile

espressamente previsto dall'art.77 42 • Tuttavia i piu delicati problemi


interpretativi, oggetto di un attuale, vivace dibattito dottrinario e
giurisprudenziale, non sembrano determinanti ai fini deI presente
lavoro: se la sentenza con la quale il giudice applica la pena sostitu-
tiva, aderendo alla riehiesta dell'imputato, abbia natura giuridica di
vera e propria sentenza penale di condanna 0 di mera declaratoria di
estinzione deI reato 0 sia una figura sui generis43 ; se essa comporti
l'accertamento pieno della responsabilita 0 non 10 riehieda necessaria-
mente"; se la domanda dell'imputato equivalga a confessione45 , tutto
ciö puö essere messo in disparte perehe inincidente rispetto alle scopo
ehe ci proponiamo. Infatti, quand'anehe si volesse negare il dato nor-
mativo costituito dall'effetto estintivo ope iudicis in seguito all'accogli-
mento della domanda dell'imputato - il ehe per la verita ci sembra
molto opinabile -, resterebbe pur sempre la eliminazione delle pene
accessorie, delle misure di sicurezza e degli effetti penali della con-
danna. In particolare l'iscrizione deUa sentenza nel casellario giudi-
ziale (art. 81) e prescritta al solo fine di impedire la reiterazione della
ammissione all'istituto (art. 80), per cui e totalmente assente qualsiasi
forma di queUa stigmatizzazione ehe costituisce l'effetto piu tipico
(e piu drammatico) della sentenza penale di condanna.
DeI reste gli sforzi effettuati in via interpretativa per estendere
l'istituto anehe ai delitti puniti con pena pecuniaria e il ricorso per la
stessa ragione aUa Corte Costituzionale segnalano al di la di ogni pos-
sibile dubbio i sostanziali vantaggi ehe derivano all'imputato dall'appli-

42 Vinciguerra, cit. n. 2,326.


4~ TFa le svariate opinioni si segnalano:
a) quelle che ritengono ehe la sentenza si inquadri nella figura di non
doversi procedere 0 di proscioglimento: Cass., IV Sez., 17.11. 1982 imp. Tree-
eagnoli, Cass. Pen. Mass. Ann. 1983, 648; Pretura Napoli 5.3.1982, Arch.
Pen. 1982, 826; Pretura Aneona 23.3. 1982, Riv. it. Dir. Proe. pen. 1983, 788;
Tonini, La tipologia dei riti semplificati nel proeesso penale: prospettive
di riforma, Relaz. al seminario ISISC di Siracusa deI 13 - 17 aprile 1983: «Le
modifiche al sistema penale: bilaneio e prospettive della legge 689/8b in
eorso di pubblicazione; Marini, Elementi di diritto penale, III, 1982, 165;
Leone, Manuale di diritto proeessuale penale, 1982, 592; Palazzo, La reeente
legislazione penale, 1982, 200.
b) Quelle ehe ritengono ehe la sentenza sia di eondanna: Cass., VI Sez.,
25.3.1983 n.6477, inedita; Pretura Napoli 5.2.1982, Giust. Pen. 1982, 11, 361;
Nobili, Osservazioni di carattere proeessuale penale sulla legge 689/81, Poli-
tiea deI Dir. 1982, 383; FebbrarolDemarco, eit. n.23, 102 55.; Castaldo, Aspetti
problematici della diseiplina deI c. d. cpatteggiamento», Arch. Pen. 1982, 830 55.
" La dottrina esprime prevalentemente l'opinione che l'aecertamento sia
pieno: cfr. tra gli altri, Giarda, eit. n.2, 381 55.; Lozzi, Legislazione penale
1982,379; nello 5tesso senso, inoltre, Cass., VI Sez., 25.3.1983 n.6477, cit. n.41;
contra Pretura Napoli 5.3. 1982, eit. n. 41.
45 Nel sense ehe si tratti di confessione, v. VincigueTTa, eit. n.2, 326;
Cass., IV Sez., 17.11. 1982, Cass. pen. Mass. anno 1983, 1340; contra Castaldo, cit.
n.43,841.
Coneetto e trattamento deUa "eriminalita minore" in ItaUa 861

eazione dell'istituto. eib e piiJ. ehe sufficiente a eonfermare il tratta-


mento partieolarmente favorevole riservato ai reati per i quali e
ammissibile il «patteggiamento» e a eonsentirci di procedere nella
ricerca circa le caratteristiehe ehe tali reati ( e i loro autori) devono
possedere per essere ammessi in concreto al trattamento differenziato:
in quale situazione il giudice pub aderire alla domanda dell'imputato
in modo ehe alla previsione della sanzione penale non segua una
condanna dagli effetti tipici 0 comuni?
Riehiamando quanta detto in precedenza circa i reati ai quali e
circoscritta l'applicabilita dell'istituto 48, si tratta di individuare i criteri
in base ai quali vengono selezionati i fatti (e gli autori) ammissibili al
«patteggiamento». Si deve osservare subito ehe i dati normativi sono
meno analitici e diffusi di quelli relativiall'oblazione discrezionale,
laddove l'assoluta novita dell'istituto avrebbe potuto suggerire una
maggiore attenzione. In effetti l'art. 77 si limita a riehiedere al giudice
di accertare ehe «sussistono elementi per applicare per il reato per cui
procede la sanzione sostitutiva della liberta controllata 0 della pena
pecuniaria». In realta il sense di questo rinvio ai criteri per l'applica-
zione delle pene sostitutive della liberta controllata 0 della pena
pecuniaria non e affatto univoco: e certo solo che il «patteggiamento»
non puö riferirsi ehe ai reati di competenza deI pretore per i quali in
concreto risulti applicabile una pena non superiore ai tre mesi47 •
In primo luogo si deve osservare ehe l'art.80 restringe la cerehia
dei possibili utenti dell'istituto in maniera piiJ. drastica di quanta
avviene per le stesse pene sostitutive ex officio. L'ammissione all'appli-
cazione delle sanzioni sostitutive su richiesta deZl imputato e esclusa
nei confronti di ehi ne ha gia beneficiato 0 nei confronti di ehi ha
riportato anehe una sola condanna a pena detentiva. Questa limita-
zione - insieme a quella generale - lascia comprendere ehiaramente
come l'istituto si possa applicare solo al piccolo delinquente primario,
o comunque a chi per la prima volta risehia una pena detentiva
inferiore ai tre me si per un reato di competenza deI pretore: si tratta,
quindi, di reati di non eccessiva gravita in astratto e in concreto, com-
messi da soggetti ehe non hanno mai subito condanne a pena deten-
tiva. Queste notevoli limitazioni non escludono tuttavia un ampio rag-
gio di applicazione dell'istituto: vi rientrano infatti le principali ipotesi
di criminalita di massa, come piccole truffe e furti, l'emissione di
assegni a vuoto, frodi in commercio, guida senza patente ecc.

48 v. Tetra sub. 11.


47 Una parziale deroga al limite di tre mesi e possibile solo neUe ipotesi
di eoncorso formale di reati 0 di reato eontinuato (cumulo giuridico) (art.
53,4 c.); v. FebbrarolDemarco, eit. n. 23, 78 ss.
862 Alfonso M. Stile

I problemi Plu seri si pongono riguardo aUa effettiva equivalenza


dei criteri discrezionali per l'applicazione deUe sanzioni sostitutive
ex officio e a riehiesta deU'imputato:
1) se neUa opzione per il rito comune 0 per la procedura ex art. 77 il
giudice debba puntualmente ripereorrere il complesso iter che con-
duee aUa sostituzione deUa pena detentiva breve, anehe per quanto
concerne la scelta e la quantifieazione deUa sanzione;
2) se, nonostante l'opzione per una pena sostitutiva ehe rende possibile
il patteggiamento, possa negare l'applicazione di queste istituto.

1. La ragione deI primo problema sta in un'antinomia che sembra


riseontrabile tra i primi due commi deU'art.77: mentre il seeondo
comma diehiara ehe «neUa determinazione e neUa applicazione deUa
sanzione sostitutiva si osservano le disposizioni deUa Sezione I di questo
Capo» (eon ehiaro riferimento aUe pene sostitutive ex officio), vice-
versa il prima comma deUo stesso articolo eon analoga apparente
univocita dice ehe e sufficiente ehe sussistano elementi per applicare
la sanzione sostitutiva. Tale ultima disposizione sembra inoltre esclu-
dere ehe nel «patteggiamento» abbia Iuogo una vera e propria sostitu-
zione deUa pena detentiva e laseia pensare inveee ehe Ia sanzione
sostitutiva sia applicata autonomamente48 • La diversita strutturale
deUe sanzioni applieate ex art. 77 e deUe pene sostitutive ex officio
troverebbe conferma neU'art.83: diversamente daUe seconde, ehe pos-
sono essere rieonvertite in easo di inosservanza deUe prescrizioni
(art. 66) 0 revocate (art. 72), per le prime queste non e possibile e, in
caso di violazione degli obblighi, l'art.83 configura una nuova fatti-
specie-di reato.
Se nell'applieazione delle pene sostitutive ex officio e su riehiesta
dell'imputato il meecanismo fosse 10 stesso, il giudiee dovrebbe anehe
nel prima caso: a) determinare la pena detentiva seeondo i consueti
eriteri di commisurazione (art. 133 c. p.); b) se la pena risultasse infe-
riore a tre mesi, esprimere una prognosi non sfavorevole circa il
rispetto delle prescrizioni (eonnesse alla liberta controUata) (art. 58,
II c.); c) valutare discrezionalmente, tenendo ancora una volta conto
dei criteri dell'art. 133 c. p., Ia possibilita di sostituzione; d) scegliere
tra Ie due pene sostitutive applicabili (nel caso di pena inferiore al
mese) Ia piu idonea al reinserimento sociale deI condannato (art. 58,
I c.). Per Ja verita queste complesso procedimento, gia difficilmente
realizzabile in concreto come momento terminale dell'intero giudizi04l ,
48 Vinciguerra, cit. n. 2, 330 ss.
40 Sulle difficolta concrete di una razionale commisurazione della pena,
specie se affidata a giudizi prognostici, v. l'acuta relazione di Monaco al semi-
nario «Le modifiche al sistema penale: bilancio e prospettive della Legge
689/8b, cit. n. 43.
Concetto e trattamento della "criminalita minore" in Italia 863

sembra incompatibile con la possibilita di applicare le sanzioni sostitu-


tive su riehiesta dell'imputato sol ehe i1 giudice ritenga sussistere
«elementi» per farIo: la lettura dell'art.77, I c. e ehiarissima in tal
sense ed e confermata dalla prassi.
Ma su questa ,antinomia si puo qui manifest are solo una propensione
e non gia una precisa posizione50 : ai nostri fini specifici i1 fatto ehe
vengano rispettati i comuni criteri per l'applicazione delle pene sosti-
tutive 0 ehe queste procedimento possa essere semplificato - come
riteniamo - non e determinante; perehe e comunque evidente ehe
i criteri per la individuazione deI reato concretamente ammesso al
«patteggiamento» non si distaccano ne sotto i1 profile fattuale ne sotto
quello finalistico dai criteri relativi alla applicazione delle pene sosti-
tutive. Non si evidenziano, dunque, dei criteri specifici come quelli
che presiedono all'oblazione discrezionale (art. 162 bis), tali da sotto-
lineare la prevalenza di determinate esigenze politico-criminali rispetto
ad altre.
Se occorre quindi rifarsi ai peraltro non univoci criteri di com-
misurazione della pena (sostitutiva) nella individuazione deI reato
«minore» 0 bagatellare, cio significa ehe, nel circoscritto ambito dei
reati e dei soggetti per i quali e possibile l'applicazione dell'istituto,
non e dato distinguere (almeno sotto il profile di una scala gerarehica)
tra le varie componenti (disvalore d'azione, disvalore d'evento, anti-
giuridicita, colpevolezza, ecc) ehe incidono sulla gravita deI reato e
quindi sulla commisurazione della pena51 • Sara pertanto una valuta-
zione globale a decidere sul carattere «minore» della violazione, ehe
si identifica in definitiva con quella per la quale il giudice appliehe-
rebbe una pena detentiva non superiore ai tre mesi sostituendola con
la pena pecuniaria 0 con la liberta controllata.
E' in questa ottica, dunque, ehe potra essere approfondita la ricerca
delle spiegazioni politico-criminali dell'intervento legislativo.

2. Il secondo problema propostoci e quelle relativo alla possibilita


di un'ulteriore valutazione discrezionale nel caso in cui sussistano tutte
le condizioni per l'applicazione dell'istituto. Sembra di poter cogliere
il nucleo centrale di tale problema con il quesito: se, inpresenza dei
presupposti per la applicazione delle sanzioni sostitutive a riehiesta
dell'imputato - presupposti ehe sono piu rigorosi di quelli della

GO Gli argomenti a favore dell'una e dell'altra tesi sono numerosissimi e


risentono della «doppia anima» dell'istituto: applicazione di una sanzione,
ehe nel easo della liberta eontrollata e restrittiva deUa libertil personale, ed
estinzione deI reato.
Gi Sul punto efr. KTÜmpeZmann, Die BagateUdelikte, 1966, passim, 62 ss.,
PaZiero, cit. n. 8, passim, 962 ss.
864 Alfonso M. Stile

applicazione delle stesse pene sostitutive ex officio - sia ammissibile


ehe il giudice rifiuti il patteggiamento per applicare tuttavia la pena
pecuniaria sostitutiva 0 la liberta controllata. In questi termini si
chiarisce ehe resta fuori di qualsiasi dubbio l'autonomia della valuta-
zione deI giudice anehe di fronte al parere sfavorevole deI Pubblico
Ministero sull'istanza dell'imputato52 •
La riconosciuta autonomia della valutazione non pu?> pero signifi-
care ehe ci si trovi - diversamente da ogni altra ipotesi di discre-
zionalita - di fronte ad un potere arbitrario deI giudice ehe sarebbe
incompatibile con il sistema: per affermare l'esistenza di una valuta-
zione ulteriore, tale da escludere il «patteggiamento» in caso di appli-
cazione delle due pene sostitutive, occorrerebbe ricavarne l'oggetto
dalla legge, la quale, viceversa, tace53 • Certamente sarebbe stato pos-
sibile un riehiamo sia a formule generali, relative ad esigenze di
prevenzione generale 0 speciale, sia a specifici obblighi da adempiere,
quali il risarcimento deI danno 0 la eliminazione delle conseguenze
dannose 0 pericolose, ma il silenzio della legge non consente di tenerne
conto al di fuori dell'incidenza nell'ambito della commisurazione della
pena edella sua sostituzione: e evidente ehe i piu ristretti limiti
dell'applicazione delle pene sostitutive a riehiesta e la sottoposizione
volontaria e certa alla sanzione sono stati considerati sufficienti.
Si pu?> concludere pertanto ehe, quando in presenza di tutti i pre-
supposti, condizioni e requisiti tassativi dello istituto, il giudice ritiene
applicabile la pena pecuniaria sostitutiva 0 la liberta controllata, deve
accogliere senz'altro la riehiesta dell'imputato.

v. Conclusioni: tendenza al superamento deI canone


della indefettibilitä dell'applicazione della pena

L'analisi svolta in una limitata ma determinata prospettiva sugli


istituti dell'oblazione speciale edel patteggiamento ci consente ora di
riepilogare in un quadro abbastanza ehiaro sia le articolazioni norma-
tive deI concetto generale di «criminalita minore», sia le peculiari
modalita deI trattamento sanzionatorio riservato ai fatti in questione.
Pare anehe possibile cercare di fare emergere i criteri politico crimi-
62 Cfr. Nabili, Osservazioni di carattere proeessuale sulla legge 689/81,
Politica deI diritto, 1982, 383 s.
63 Nessun valore deve attribuirsi alla dizione dell'art. 77: «pUD disporre ... ».
11 significato di tale impropria ma usuale espressione e quello di: «ha il
potere,.. Inoltre la maneata previsione di una specifiea impugnazione deI
provvedimento ehe nega l'aecoglimento della domanda va ricollegata non gill
alla maneanza di un dovere di motivazione, ma all'esistenza deI «potere di
veto» deI pubblieo ministero e alla possibilita di aeeogliere la riehiesta del-
l'imputato, se tempestivamente proposta, in ogni stato e grade deI proeedi-
mento.
Concetto e trattamento della "criminalitil minore" in Italia 865

nali, 0, se si vuole, la filosofiaehe costituisce il retroterra deI tipo


di approccio normativo alla strategia differenziata prescelta.

1. Alla base della ricerca edella individuazione delle nuove strade


si collocano due esigenze intimamente connesse tra loro e ehe conver-
gone nei nuovi istituti esaminati. La prima e costituita dalla necessita
di decongestionare il processo penale e discende dalla consapevolezza
ehe la depenalizzazione in sense tecnico, realizzata con la stessa legge
di riforma deI 1981, non appare da sola in grade di raggiungere un
risultato ehe val ga a riportare la situazione in termini accettabilisc .
La seconda esigenza - sostanziale e, se si vuole, di natura etico-
giuridica - e costituita dalla riduzione della sfera della stigmatizza-
zione penale; essa ha alla base la presa d'atto delle conseguenze nega-
tive dell'eccesso nel ricorso e nella applicazione della sanzione penale
- e quindi non solo nell'esecuzione delle pene detentive - e si riporta
ad una concezione deI principio deI diritto penale come ultima ratio
ehe sara tra breve puntualizzata55•

2. Nella ricerca delle soluzioni di taU problemi, illegislatore italiano


ha subito due condizionamenti. n prima e dovuto al fatto ehe di fronte
alla difficolta di una verifica dettagUata, fattispecie per fattispecie,
nel procedere alla depenalizzazione in sense tecnico si e operato per
schemi, ossia - come si e visto - prendendo in considerazione le pene
previste e la particolare rilevanza di tal uni settori nel loro complesso.
Dall'adozione di queste procedimento e derivata la consapevolezza
della relativita deI processo di depenalizzazione, e quindi deI fatto
che non solo numerose fattispecie si sarebbero potute depenalizzare
attraverso criteri phI differenziati58 , ma ehe anehe all'interno di fatti-
specie di indubbia rilevanza penale sebbene di non eccessiva gravita
si possono ravvisare numerosi fatti non meritevoli di sanzione penale57 ,

sc Da ultimo, sulla difficolta di enucleare criteri chiari ed ultimativi, che


consentano una razionale ed incisiva riduzione dell'area penale, Kaiser, Kri-
minalisierung und Entkriminalisierung in Strafrecht und Kriminalpolitik,
in: Festschrift für Klug, 1984, 579 ss. (soprattutto 582 s.).
as La consapevolezza dei costi individuali e sociali deI diritto penale e la
conseguente necessita di restringere la sfera applicativa alle stretto neces-
sario, e patrimonio della scienza penalistica almeno dai tempi di v. Liszt:
v. il lucido quadro tracciato di recente da Jeseheek, Die Freiheitsstrafe bei
Franz v. Liszt, in: Festschrift für Klug, 1984,257 ss.
58 In queste sense v. espressamente Re!. al D. D. L. 1799/1977 (ehe eosti-
tuisee il punto di partenza della riforma deI 1981), Riv. it. Dir. e Proe. pen.
1978,348.
57 A cia corrisponde, sul piano dommatieo, il tentativo di elaborare un
principio interpretativo per cosi dire interno alla struttura della fattispecie
penale, un principio ehe eonsenta di escludere in radice la tipicita di condotte
solo scarsamente lesive dell'interesse tutelato: Roxin, Kriminalpolitik und
Strafrechtssystem, 2. Aufl. 1973, 24.

55 Festschrift für H.-H. Jescheck


866 Alfonso M. Stile

quanto meno in relazione ad un eriterio di ragionevolezza, 0 di


opportunitä.68 •
Il seeondo eondizionamento e quelle di natura eostituzionale, deter-
minato dalla obbligatorietä. dell'esereizio dell'azione penale (art.112
Cost.), che ha impedito al legislatore ordinario la rieerea di soluzioni
possibili in un sistema eompatibile eon I'OppoTtunitätsprinzip S8 • Posto
dunque che anche per i residui reati bagatellari e indispensabile l'eser-
eizio dell'azione penale80 , diviene aItresi indispensabile l'intervento
deI giudiee che definisea il proeedimento81 : la ereazione di nuove
jattispecie estintive da appliearsi mediante proeedimenti rapidi e
risuItato 10 strumento piu idoneo per raggiungere risuItati diversi a
seeonda deI tipo di reati presi in eonsiderazione.

3. Il legislatore nell'indicare le eategorie dei reati e degli autori


che possono usufruire deI trattamento differenziato ha proeeduto
seeondo uno schema unitario: prima cireoserivendo in via astratta e
tassativa l'ambito di eiaseun istituto, poi lasciando al giudiee il potere
diserezionale, fondato su eriteri normativi, di decidere in rapporto
al easo eonereto.
InoItre il fatto ammesso all'oblazione speciale 0 al «patteggiamento»
non resta privo di sanzione, ma a quella prevista dalla norma inerimi-
natriee se ne sostituisee una di natura 0 di specie differente6!.
Nell'ambito di queste schema generale si inseriseono entrambi gli
istituti analizzati: ma ci<'> non toglie che notevolissime siano le diffe-
renze, deI resto giä. evidenziate, sulle quali oeeorre svolgere qualche
ulteriore eonsiderazione.
Le premesse politieo-eriminali delle diverse soluzioni preseeIte de-
vono, a nostro avviso, individuarsi in quanta esposto in preeedenza:
non esiste un tipo generale di reato bagatellare, ma vi sono fattispecie
il eui disvalore sociale e eomunque limitato, sieche fatti non gravi,
al loro interno, possono non avere dignita penale, e vi e inoItre una
piu vasta sfera di reati non eeeessivamente rilevanti, tali che una serie
di fatti ad essi riferibili, se non gravi neppure in eonereto, eonservano

68 Cfr. Naucke, Strafrecht, 4. Auf!. 1982, 105 s.


68 Per un sintetico ma lucidissimo collegamento tra il principio di legalit!l
processuale ed il eanone tradizionale della indefettibilita della pena, v. Roxin,
Strafverfahrensrecht, 15. Auf!. 1979, 63 s.
80 Sul punto v. Cordero, cit. n. 26, 40 s.
61 Per un analoga ordine di problemi in Polonia, v. di recente Ewa Wei-
gend, Die Bekämpfung der Bagatellkriminalität in Polen, ZStW 95 (1983),
765 ss.
8! Sul punto v. le acute considerazioni di Naucke, über deklaratorische,
scheinbare und wirkliche Entkriminalisierung, GA 1984, 199 ss.
Concetto e trattamento deUa "criminaIita minore" in !taUa 867

solo un modesto livello di Strajwürdigkeit, ehe non esige inderogabil-


mente il tradiziona1e intervento pena1e.
Anehe a queste riguardo, cosi come per 1a depenalizzazione in sense
tecnico, 1a legge ha fatto ricorso a sehemi generali compatibili con il
sistema esistente.
Per quanta riguardo l'oblazione speciale, il punto di partenza e 1a
presa d'atto dell'eccesso di penalizzazione ehe coinvo1ge fatti non
meritevoli, nella 10ro intrinseca rilevanza socio-giuridica, di sanzioni
pena1i. Non a caso l'istituto si riferisce alle contravvenzioni punite
con pena alternativa, e cioe a fatti in gene re non eccessivamente gravi,
ehe possono esse re di natura co1posa e per i quali gia esiste il potere
discreziona1e di applicare la sola pena pecuniaria. Anehe 1a soluzione
deI prob1ema re1ativo alle modalita della sostituzione d~na sanzione
pena1e con una sanzione amministrativa e risultato facilitato dalla
preesistenza di un parametro (l'ammenda prevista) a1 qua1e riportare
1a sanzione pecuniaria, il cui pagamento, ammesso da1 giudice, estingue
il reato.
Attraverso 1a concessione deI potere discreziona1e, 1a 1egge riehiede
in sostanza a1 giudiee di proseguire l'opera di depenalizzazione delle
contravvenzioni partendo da1 punto dove essa si e arrestata, rinun-
ziando alla sanzione pena1e a favore di una sanzione amministrativa:
a livello di fatti concreti anziehe di fattispecie, distinguendo i «fatti
gravi» dagli altri's. Ci<> si verifica agevo1mente dalla possibilita di
ammettere senza limitazione all'ob1azione un soggetto ehe si rende
autore ne1 tempo di una pluralita di eontravvenzioni «non gravi».
La deroga a queste principio si ha soltanto quando 1a reiterazione
accertata giudizia1mente assume forme tali da far ritenere il soggetto
indifferente a1 preeetto generale, ehe resta pur sempre di natura
penale; in tal easo la rinunzia alla applieazione della sanzione penale

Ga Circa la validita della specifica scelta poUtico-criminale dellegislatore,


siamo ovviamente nel campo dell'opinabile; tuttavia non ci sembra troppo
convincente l'affermare (LaTizza, cit. n.7, 94; Mucciarelli, cit. n.2, 535) una
contraddizione tra la depenalizzazione di diritto e d'ulteriore allarga-
menta dell'istituto dell'oblazione»: la depenalizzazione, anche se condotta
sulla base di criteri piiI incisivi, non potra maispingersi al punto di consen-
tire un giudizio di dignita penale per tutti i fatti concreti che rientrano
nelle contravvenzioni residue. Ci sembra che la posizione critica cui ci rife-
riamo risenta deI dogma della indefettibilita della sanzione penale per i fatti
comunque previsti come reato; ma, a torto 0 a ragione, e propria questo
dogma ad aver subito un dura colpo dalla riforma deI 1981, - per quanto
riguarda l'oblazione speciale: come riconoscimento legislative dei propri
limiti - ed e quindi solo in questa ottica che si pub procedere alla valuta-
zione politico-criminale delle soluzioni adottate. Sulla problematica di
quel che noi definiamo «depenalizzazione dei fattb, v. da ultimo l'approfon-
dito saggio di Moos, Die mangelnde Strafwürdigkeit bei BagateUdelikten
nach § 42 österr. StGB, ZStW 95 (1983), 153 ss.

55·
868 Alfonso M. Stile

eostituirebbe una rinunzia vera e propria aUo stesso preeetto ehe


eontinua pur sempre a vietare anehe violazioni «non gravi».
11 trattamento degli illeeiti ammessi aUa oblazione speciale non pre-
senta quindi le earatteristiehe deI «benefieio»: il eanone deUa «indero-
gabilita deUa sanzione penale» viene violato solo in apparenza, perehe
la teeniea normativa adottata, attraverso la eoneessione deI potere
diserezionale, mira solo a far distinguere, al1'interno di fattispeeie
«al limite», i fatti ehe meriterebbero di esse re depenalizzati da quelli
ehe devono eontinuare ad avere rilevanza penale. Sotto questo profile
e possibile parlare, piiI ehe di depenalizzazione di fatto, di depenalizza-
zione di fatti, eome pendant deUa depenalizzazione delle fattispecie.
Essenzialmente diversa e la 10giea sottostante all'istituto dell'appli-
eazione di pene sostitutive su riehiesta deU'imputato (il e. d. patteggia-
mento): qui si e in presenza anehe64 di reati per i quali e prevista la
pena detentiva fino a tre anni, e ehe in eonereto resterebbero puniti
(sulla base dei normali eriteri di eommisurazione) eon pene detentive
fino a tre mesi, aneorehe sostituibili. Nei fatti ammissibili al patteg-
giamento rientrano, dunque, aeeanto ad ipotesi (marginali) per le quali
la Strafwürdigkeit deI fatto eonereto pUD esse re nulla 0 minima66 ,
anehe ipotesi per le quali la medesima dignita penale non viene in
diseussione68 • Le eonsiderazioni politieo-eriminali ehe informano queste
istituto sono dunque peeuliari, relative ad un principio di opportunita
dell'applieazione della pena, e eonnesse ad un originale eritero di
ultima ratio. L'ammissione a questa proeedura non presuppone neees-
sariamente la verifiea giudiziale di «non meritevolezza di sanzione
_criminale»67, bensi la verifiea dei limiti fissati dana legge cirea la
opportunitd di stigmatizzare penalmente, in maniera ehe resta seria,
la persona ehe si e resa protagonista per la prima volta di un episodio
non eeeessivamente rilevante. Non si deve dimentieare ehe tutti eoloro
ehe sono ammessi al «patteggiamento» possono sempre usufruire -
e in misura ass ai piu ampia - della sospensione eondizionale della
pena, e pertanto la ratio dell'istituto non pub esse re riportata al movi-

84 Per quanto riguarda l'estensione deI «patteggiamento» ai reati puniti


(anehe) con pena pecuniaria, v. supra sub IV.
115 11 ehe, ovviamente, non e earatteristiea esclusiva delle eontravvenzioni
ammesse all'oblazione.
68 Basti pensare alle eontravvenzioni ehe il giudiee non ha ritenuto di
ammettere all'oblazione speeiale in eonsiderazione della gravita deI fatto e
sulle quali ha quindi gia espresso un giudizio di dignita penaIe: Ia possibilita
ehe esse vengano ammesse al patteggiamento Iaseia eomprendere Ia fon-
damentale diversita dei eriteri politieo-eriminali cui si riportano i due istituti.
67 A fortion, anehe ai minima, in maneanza di altre possibilita va appli-
eato l'istituto deI patteggiamento, ehe nasee perb nella prospettiva deI trat-
tamento della eriminalita minore, il eui ambito eben piu vasto.
Concetto e trattamento deUa "criminalita minore" in HaUa 869

menta di lotta contro l'esecuzione delle pene detentive brevi, ehe non
e assolutamente in gioco.
11 carattere di «beneficio» di questo istituto - beneficio ben piu
consistente della sospensione condizionale della pena - si manifesta
evidentissimo innanzitutto ne1 regime rigorosa a1 quale e sottoposto:
diversamente dalla oblazione speciale (e dalla sospensione condizio-
na1e) e impossibile usufruirne pHi di una volta e vi possono essere
ammessi solo co10ro ehe non abbiano riportato condanne a pena
detentiva. Tuttavia, a1 di la di questa rigida delimitazione, 1a legge,
come si e visto, non fa riferimento a specifici criteri di discrezionalita,
ma ai criteri generali per la commisurazione della pena e a quelli
relativi alla applicazione e alla scelta delle pene sostitutive. Ciö
segna1a ehe 1a valutazione di opportunitd della applicazione deI bene-
ficio a chi si trovi nelle condizioni per usufruirne e effettuata in via
generale dalla legge e non e lasciata all'apprezzamento discrezionale,
ehe e relativo ai soli presupposti.
Il rilevato carattere di «beneficio» porta poi ad escludere ehe per
i reati ammessi a1 «patteggiamento» possa par1arsi di «depenalizzazione
di fatti», a1meno ne1 sense dell'ob1azione specia1e: anehe se possono
esservi ammessi fatti sui quali sarebbe possibile - ma sulla base di
criteri non contemp1ati da1 diritto positivoS! - un giudizio di «irrile-
vanza pena1e», la ratio dell'istituto resta quella ehe e, riferita alla
criminalita minore e non ai «minima».
Restano da calco1are i costi ehe tale «beneficio» comporta in rela-
zione alle istanze di prevenzione generale e specia1e. Certo, una volta
ehe si attribuisce una particolare funzione deterrente alla minaccia
di sanzione penale, non c'e dubbio ehe 1a vio1azione (0 il superamento)
deI principio di inderogabilita della pena potrebbe portare ad un
indebolimento della efficacia generalpreventiva delle norme ehe pre-
vedono i reati per i quali il «patteggiamento» e possibile. Neppure
si puö escludere, anehe se per fasce limitate di potenziali criminali,
una maggior «disponibilita» ad affrontare, in base ad un calcolo, la
commissione di uno dei reati in questione per la riduzione deI risehio
di stigmatizzazioneSD.
Il fatto e ehe non di queste si discute ma deI conflitto tra le esigenze
di prevenzione, connesse alla inderogabilita della sanzione, e quelle
di tutel are la dignita della persona umana70 ed insieme la razionalita
deI complessivo sistema punitivo.
S8 V. Naucke, Auf der Grenze zwischen Strafbarkeit und Straflosigkeit,
Iura 1979, 426 ss.
8D Sul punto v., di recente, Padovani, L'utopia punitiva, 1981, 248 ss.
70 In queste sense sembrano trovare un esplicito riconoscimento norma-
tivo le istanze da tempo avanzate da Naucke, Prevenzione generale e diritti
870 Alfonso M. Stile

In queste quadro complessivo l'opzione e nel sense ehe la dignita


deI trasgressore pUD essere ancora salvata, sia pure eccezionalmente,
una tantum, dall'onta delIa condanna tradizionale, in considerazione
deI fatto ehe l'autore della violazione si sottopone volontariamente ad
una sanzione, non stigmatizzante ma di contenuto afflittivo non diverse
da quelle cui sarebbe eventualmente andato incontro seguendo la
procedura ordinaria. Sotto queste aspetto l'esigenza generalpreventiva
non e in fondo trascurata, dal momente ehe una sanzione e comunque
applicata, anehe se la sua natura e diversa da quella comune. Anzi,
la sottoposizione spontanea alla sanzione e la immediatezza e certezza
di questa sembrano bilanciare sufficientemente la assenza di stigmatiz-
zazione derivante da una vera e propria condanna penale. In una
valutazione sistematica globale, poi, a queste considerazioni si aggiun-
gone gli effetti benefici indotti dallo snellimento processuale.
In conclusione, l'intervento dellegislatore italiano deI 1981 in tema
di trattamento della criminalita minore sembra aver imboccato la
strada di una politica criminale ehe tende a distaccarsi in modo note-
vole dalla tradizionale politica penale71 • E' altresi evidente il tentativo
di superamento della alternativa: applicazione delIa sanzione penale
- fuga dalla sanzione, ehe ha caratterizzato precedenti esperienze
di riforma72 • E' ancora rilevante - ancorehe in uno sehema precosti-
tuito e limitato - la considerazione di livelli diversi di reati bagatel-
lari, sempre ehe questa qualificazione, oramai tradizionale, sia adat-
tabile a tutti i fatti ehe possono essere ammessi ad un trattamento
differenziato73 •

fondamentali della persona, in AA. VV., Teoria e prassi della prevenzione


generale dei reati, a eura di Romano e Stella, 1980, passim, 62 ss.; v. anehe
n.62.
71 Stranamente, sembra non eogliere questi sintomi vistosi della trasfor-
mazione deI diritto penale eontemporaneo, Baratta, Criminologia eritiea e
eritiea deI diritto penale, 1982, passim; per una eritiea molto puntuale delle
posizioni di Baratta, v. da ultimo Monaco, Su teoria e prassi deI rapporto tra
diritto penale e eriminologia, Studi Urbinati XLIX (1983), 45 ss.
72 Ci riferiamo in partieolare alla riforma deI 1974 (1. 7 giugno 1974, n. 99),
su eui v. per tutti Palazzo, cit. n.43, 25 ss. Per una sommaria informazione in
lingua tedesea v. Stile, Probleme und Besonderheiten der Strafzumessung in
Italien, ZStW 94 (1982), 186 ss.
73 Non e forse inopportuno ribadire ehe in questa sede si sono prese in
eonsiderazione Ie earatteristiehe di fondo delle innovazioni esaminate e si e
eereato di rieostruire i eanoni politico-eriminali ehe le hanno ispirate, sotto-
lineandone la validita. Le valutazioni sarebbero molto diverse nel momente
in cui si passasse ad una analisi piiI dettagliata, ehe non potrebbe non' far
emergere eeeessive manchevolezze teeniehe.
RAIMO LAHTI

Zur Entwicklung der Kriminalpolitik in Finnland

Die in den einzelnen nordischen (skandinavischen) Ländern geltenden


Strafgesetze entstammen verschiedenen Perioden. Das Strafgesetz Finn-
lands wurde im Jahre 1889, das Norwegens 1902, das Dänemarks 1930
und das Strafgesetz Schwedens 1962 erlassen (Island wurde hier außer
acht gelassen). Da die Entstehungszeiten der einzelnen Gesetze so weit
auseinanderliegen, ist es verständlich, daß die Gesetze unterschiedliche
Ideen widerspiegeln und in mancherlei Hinsicht verschiedene Inhalte
erhalten haben1 • In den Analysen der letzten Jahrzehnte hat man sein
Augenmerk indes auf die zahlreichen Ähnlichkeiten in den nordischen
Strafrechtssystemen und den kriminalpolitischen Entwicklungstenden-
zen gerichtet. Diese müssen vor dem Hintergrund gleichartiger ökono-
mischer, politischer und sozialer Strukturen und Kulturtraditionen ge-
sehen werden!.
Die Zusammenarbeit zwischen den nordischen Ländern hat auf den
Gebieten der Kriminal- und Rechtspolitik jahrhundertealte Wurzeln.
Zur Herausbildung der finnischen Rechtsordnung hat der staatliche Zu-
sammenhang mit Schweden, der bis zum Jahre 1809 bestand, ganz er-
heblich beigetragen. Diese Zusammenarbeit zwischen den nordischen
Staaten hat sich besonders seit den 1960er Jahren weiterhin verstärkt
und entwickelt. In das Kooperationsabkommen der nordischen Länder
vom Jahre 1962 wurde ein besonderer, die Kriminalpolitik betreffender
Artikel aufgenommen, demgemäß die Vertragspartner ihre Rechtsvor-
schriften über Straftaten und deren Rechtsfolgen vereinheitlichen sol-
len. Ergebnisse dieser Zusammenarbeit sind u. a. das Gesetz über die
Auslieferung von Straftätern innerhalb der nordischen Länder vom
Jahre 1960 sowie das 1963 erlassene Gesetz über die Zusammenarbeit
der nordischen Länder bei der Vollstreckung von in Strafsachen gefäll-
ten Urteilen. Als Kooperationsorgane in Fragen der Kriminalität sind
u. a. das Anfang der 60er Jahre gegründete Nordische Strafrechtskomi-
tee und der Nordische Forschungsrat für Kriminologie tätig.

1 Vgl. z. B. Anttila, Neue Tendenzen der Kriminalpolitik in Skandinavien,


ZStW 95 (1983), S. 739 ff.
! Vgl. jetzt eine komparative Analyse von Untersuchungen des Lebens-
standards in den nordischen Ländern: Living and Inequality in the Nordic
Countries, Nordic Council, 1984.
872 Raimo Lahti

In Finnland haben sich die Einflüsse des deutschen Strafrechtsdenkens


offenbar stärker bewahrt als in den übrigen nordischen Ländern. Dies
ist wohl auch in der folgenden Studie zu erkennen, obwohl hier die Ent-
wicklung der finnischen Kriminalpolitik in erster Linie vor dem Hinter-
grund der Entwicklung in den übrigen nordischen Staaten gesehen wer-
den so1l3. - Das Strafrecht und die Strafrechtswissenschaft der Bundes-
republik Deutschland hat vom vergleichenden Standpunkt in verdienst-
voller Weise besonders Hans-Heinrich Jescheck untersucht, auf dessen
Werke hier allgemein hingewiesen werden kann4 • Er hat in bedeuten-
dem Maße auch die deutsch-finnische Zusammenarbeit auf dem Gebiete
des Strafrechts gefördert5•
Das Schwergewicht des historischen Abschnitts (I) liegt auf der kurzen
Beschreibung der Entwicklungsphasen und Reformbestrebungen des
strafrechtlichen Sanktionensystems6 • Der Blickwinkel des Abschnittes
über die derzeitigen und künftigen Schwerpunkte der Kriminalpolitik
(11) ist dagegen allgemeiner. Dieser letztgenannte Abschnitt gewinnt zu-
dem dadurch an Aktualität, daß in Finnland seit dem Jahre 1972 eine
Gesamtreform des Strafrechts ausgearbeitet wird: Der Grundsatz-
bericht erschien 1977 und ein sich mit der teilweisen Änderung des
Besonderen Teils des Strafrechts befassender Entwurf 19847 •

I.
1. Das finnische Strafgesetzbuch vom Jahre 1889 war in seiner ur-
sprünglichen Form eine Schöpfung der klassischen Strajrechtsschule.
Die rechtsphilosophische Begründung des Gesetzes basierte insbeson-

:i-Vgl. Thornstedt, Die Strafrechtsreform der skandinavischen Staaten im


Vergleich mit der Strafrechtsreform der Bundesrepublik Deutschland, in:
Lüttger (Hrsg.), Strafrechtsreform und Rechtsvergleichung, 1979, S. 66 ff.
, Siehe z. B. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 3. Auf!.
1978, S. 605 ff.; ders., Die Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Straf-
rechtsreform, in: Festschrift für Bockelmann, 1979, S. 133 ff.; ders., Die Krise
der Kriminalpolitik, ZStW 91 (1979), S. 1037 ff.
S Z. B. wurde bereits 1957 auf Initiative von Jescheck eine Darstellung des
finnischen Strafrechts in die Serie "Das ausländische Strafrecht der Gegen-
wart" (Bd.lI, hrsg. von Mezger/Schönke/Jescheck) aufgenommen. Dank sei-
ner Anregung wurde der Verfasser jener Darstellung, Professor Brynolf
Honkasalo (1889 - 1973) von der Universität Helsinki, im Jahre 1966 zum
Ehrendoktor der Freiburger Universität ernannt.
e Vgl. dazu näher Lahti, Criminal Sanctions in Finland: A System in
Transition, Scandinavian Studies in Law, Vol. 21 (1977), S. 119 ff. über die
Anwendung der strafrechtlichen Sanktionen in Finnland und Skandinavien
siehe z. B. ders., Deprivation of liberty and loss of civil rights, in: Scan-
dinavian-Polish Workmeeting 1981, Scandinavian Research Council for Cri-
minology, S. 203 ff., 207 ff.
7 Rikosoikeuskomitean mietintö, Komiteanmietintö 1976:72 (1977); Rikos-
lain kokonaisuudistus I, Rikoslakiprojektin ehdotus, Oikeusministeriön lain-
valmisteluosaston julkaisu 5/1984.
Zur Entwicklung der Kriminalpolitik in Finnland 873

dere auf der Hegelschen Strafrechtstheorie. Das schwedische Strafgesetz


von 1864 und das deutsche Strafgesetz von 1871 dienten dem finnischen
Strafgesetz als Vorbild8 • Das dreizehn Jahre später erlassene nor-
wegische Strafgesetzbuch gab bereits ganz anderen kriminalpolitischen
Ideen Ausdruck. Es war ein Produkt der soziologischen Strafrechts-
schule, deren wichtigster Vertreter der Deutsche Franz von Liszt war.
Die Lehren dieser Strafrechtsschule und der 1889 ins Leben gerufenen
Internationalen Kriminalistischen Vereinigung haben auch auf die fin-
nische Kriminalpolitik Einfluß ausgeübtD•
Ein gewisser übergang vom Vergeltungs- zum Zweckgedanken prägte
auch in Finnland jahrzehntelang die Entwicklung des gesamten Straf-
rechtssystems, vor allem der strafrechtlichen Sanktionen. Bei der Fest-
legung der Rechtsfolgen sollten die spezialpräventiven Wirkungen der
Strafe und die Persönlichkeit des Straftäters stärker als vorher berück-
sichtigt werden. In der ursprünglichen Strafgesetzgebung von 1889
äußerte sich die Spezialprävention zunächst darin, daß der Strafvollzug
nach dem sog. Progressivprinzip - die bedingte Entlassung als die letzte
Phase der Vollstreckung - eingerichtet worden war.
Im Jahre 1918 wurde die bedingte Verurteilung eingeführt. Dann
wurde 1932 das Gesetz über die Sicherungsmaßnahme (Internierung)
gegen gefährliche Rückfalltäter erlassen. Sieben Jahre später wurde die
RüCkjallregelung des Strafgesetzes revidiert, um die Rückfallkriminali-
tät möglichst wirksam zu bekämpfen. Der Rückfall sollte unter bestimm-
ten Voraussetzungen allgemein eine Verschärfung in demselben Straf-
rahmen oder einen übergang zu einem erhöhten Strafrahmen konstitu-
ieren ("recidive generale" im Gegensatz zum alten System "recidive
speciale").
Im Jahre 1940 wurde das Gesetz über die jugendlichen Rechtsbrecher
erlassen, um erzieherische Maßregeln für 15 -17jährige zu ermöglichen.
Als Mindestalter der strafrechtlichen Verantwortlichkeit wurde 15 Jahre
beibehalten. Jüngere Rechtsbrecher sollten im Unterschied zur frühe-
ren Rechtslage ausschließlich im Rahmen der Kinderfürsorge behandelt
werden.
Die Individualisierung der strafrechtlichen Sanktionen und die
zwangsweise Behandlung haben jedoch in Finnland niemals einen
umfassenden Widerhall gefunden. In dieser Hinsicht besteht ein deut-

8 Vgl. Backman, Über die Entwicklung der Kriminalpolitik und des Straf-
rechts in der finnischen Gesellschaft, in: Backman/Koskinen/Lahti/Lehtimaja,
Finnish Criminal Policy in Transition, University of Helsinki, 1979, S. 6 ff.,
10 f.
D Zu den Wirkungen der genannten Schule und Vereinigung im allgemei-
nen vgl. Jescheck, Der Einfluß der IKV und der AIDP auf die internationale
Entwicklung der modernen Kriminalpolitik, ZStW 92 (1980), S. 997 ff.
874 Raimo Lahti

licher Unterschied zu Dänemark und Schweden. Einige Beispiele sollen


der Veranschaulichung dienen:
a) In der Blütezeit der Behandlungsideologie - in den fünfziger
Jahren - wurde ein offizieller Vorschlag entschieden abgelehnt, dem-
zufolge bei 15 -17jährigen Straftätern von einer Klage oder Strafver-
folgung zumeist abgesehen werden sollte. Eventuelle erzieherische
Maßnahmen sollten diesem Vorschlag zufolge vom Kinderausschuß ver-
fügt werden. Eine solche Praxis war und ist weiterhin in den übrigen
nordischen Ländern sehr üblich. Auch bei Erwachsenen ist das Absehen
von Klage und Strafverfolgung in Finnland sehr selten - im Gegen-
satz zu der Situation in Skandinavien im allgemeinen. Ein wichtiger
Erklärungsfaktor für diese legalistische Tradition ist mit der politi-
schen Geschichte Finnlands verknüpft: Zum Ende der Autonomiezeit
wurden die Rechtsstaatlichkeits- und Rechtssicherheitsprinzipien mit
gesteigerter Intensität gegen den Machtmißbrauch der russischen Amts-
vorgesetzten geltend gemacht.
b) Dem skandinavischen Vorbild folgte man in Finnland auch in der
Hinsicht nicht, daß zu keiner Zeit spezielle Anstalten für die zwangs-
weise Behandlung psychisch abnormer Krimineller eingerichtet wur-
den. Der Anwendungsbereich der obengenannten Sicherungsmaßnahme
gegen gefährliche Rückfalltäter wurde 1953 allerdings erweitert, und
zwar dahingehend, daß die Internierung von Personen, die ihre Tat
im Zustand verminderter Schuldfähigkeit begangen hatten, in einer
Zwangsanstalt unter geringeren Voraussetzungen erlaubt wurde als
die von anderen Delinquenten.
Die~lnternierung ist sachlich eine unbestimmte Zusatzstrafe. Auch
sonst ist im strafrechtlichen Sanktionensystem keine ausgeprägte Zwei-
spurigkeit entwickelt worden, wenn es auch neben den traditionellen
Strafarten einige andere Sanktionen enthält (wie die Einziehung
und das Fahrverbot). Es ist noch anzumerken, daß der Anteil der
Sanktionen mit zeitlich unbestimmtem Freiheitsentzug in Finnland -
vom komparativen Standpunkt aus betrachtet - stets sehr klein ge-
wesen ist.
c) Die Ablehnung der kurzfristigen Freiheitsstrafe hat in den nor-
dischen Ländern nie zu solchen Bestimmungen geführt, die den Ge-
brauch dieser Strafe wirklich stark eingeschränkt hätten. Die Vermei-
dung der Nachteile der kurzfristigen Freiheitsstrafe wurde indes in
denvGesetzentwürfen oft betont. Zum Beispiel wurde auf die voraus-
sichtlichen Vorteile in spezialpräventiver Hinsicht hingewiesen, als 1946
in Finnland eine neue Form des Strafvollzugs, die offene Anstalt
(Arbeitskolonie) eingeführt wurde. Die Absicht dieser Neuerung war
es, den Vollzug kurzer Freiheitsstrafen für Ersttäter zu ermöglichen,
Zur Entwicklung der Kriminalpolitik in Finnland 875

ohne diese den nachteiligen Wirkungen geschlossener Anstalten aus-


zusetzen.
Die Einführung der Tagessatz-Geldstrafe im Jahre 1921 wurde nicht
mit dem Vorrang dieser Strafe vor der Freiheitsstrafe begründet. Das
Tagessatzsystem sollte im Vergleich zum früheren System insofern
gerechter sein, als die Vermögensverhältnisse des Täters berücksichtigt
werden konnten. Außerdem sollte die Geldentwertung einen geringe-
renEinfluß auf die Wirksamkeit der Geldstrafe haben.
Bislang ist es in der Kriminalpolitik aktuell gewesen, Alternativen
zur Freiheitsstrafe aufzuzeigen (siehe unten II). Jedoch ist in Skandi-
navien der Vorteil der kurzen Freiheitsstrafe hervorgehoben worden,
daß sie wegen ihrer Kürze weniger negative Auswirkungen auf den
Verurteilten habe als eine längere Freiheitsstrafe10 • Aus diesem Grund
ist man in den letzten Jahren in Finnland bestrebt gewesen, die An-
wendung der ganz kurzen Freiheitsstrafen im Verhältnis zu längeren
zu vermehren. Die verhängten Freiheitsstrafen sind in Finnland durch-
schnittlich viel länger als in den übrigen nordischen Staaten, wie die
folgende Aufstellung aus dem Jahre 1977 zeigt11 :

über
bis über 1 bis 4 Monate über
1 Monat 4 Monate bis 1 Jahr 1 Jahr

Dänemark (N = 13064) 66 % 18% 12 % 4%


Finnland (N = 14068) 36,5% 51,5% 12%
Schweden (N = 12702) 37,5% 36% 19,5% 7%

Als ergänzende Information zu dieser Aufstellung sei erwähnt, daß


die in Norwegen verbüßten Freiheitsstrafen durchschnittlich die kür-
zesten von ganz Skandinavien sindi!. Der Umstand, daß gerade die für
Eigentumsdelikte verhängten Freiheitsstrafen in Finnland normaler-
weise länger sind als in den übrigen nordischen Ländern, ist ein zen-
traler Erklärungsfaktor dafür, daß in Finnland auch die Gefangenen-
zahl deutlich am höchsten ist. Im Jahre 1982 gab es in den Strafvoll-
zugsanstalten - Untersuchungshäftlinge mitgerechnet - je 100 000 Ein-
wohner in Dänemark durchschnittlich 69 Gefangene (N = 3559), in
Finnland 98 Gefangene (N = 4767), in Norwegen 45 (N = 1864) und in
Schweden 60 Gefangene (N = 4966)13.

10 Siehe z. B. Andenaes, Criminal Law and Criminology, in: Legal Science


Today, Acta Universitatis Upsaliensis, 1978, S.13 ff., 19.
11 Alternativer til frihedsstraf, Nordisk utredningsserie A 1980: 13, S.43,
49,66.
l! Ibid., S. 14.
13 Annual Report of the Prison Administration 1982 (Finland), 1983, S. 66 f.
876 Raimo Lahti

2. Seit den sechziger Jahren ist in Skandinavien das strafrechtliche


Sanktionensystem Gegenstand einer Neubewertung gewesen. Zu An-
fang wurde an der weitgehenden Individualisierung der Rechtsfolgen
Kritik geübt. In erster Linie wurden die zwangsweise Behandlung und
Sanktionen mit zeitlich unbestimmtem Freiheitsentzug in Zweifel ge-
zogen. Die Kritik beruhte auf verschiedenen Argumentenu.
Zum einen haben kriminologische Forschungsergebnisse ihren Ein-
fluß ausgeübt; nicht nur solche, die in spezialpräventiver Hinsicht zu
Pessimismus Anlaß gaben, sondern auch solche, die die Häufigkeit der
Dunkelfeldkriminalität aufzeigten oder sich auf moderne Kriminali-
tätsformen (wie die Wirtschaftskriminalität) bezogen. Zum Beispiel
wurde in einer finnischen Untersuchung15 nachgewiesen, daß die oben-
genannte offene Anstalt, die Arbeitskolonie, nicht erwartungsgemäße
Ergebnisse zeitigte, was ihre spezialpräventiven Wirkungen angeht (an-
sonsten waren die Erfahrungen mit dieser Anstalt positiv). Zum zwei-
ten erlebten die alten Rechtsstaatlichkeits- und Rechtssicherheitsprin-
zipien eine Renaissance. Die Wirkungen der kriminalpolitischen Neu-
orientierung wurden in mehreren Reformen sichtbar:
a) Im Jahre 1971 wurde der Anwendungsbereich des Gesetzes über
die Sicherungsmaßnahme gegen gefährliche Rückfalltäter begrenzt. Es
betrifft jetzt nur noch gewisse gefährliche Gewaltverbrecher. Die ein-
schlägigen Gewaltverbrechen sind im Gesetz aufgezählt worden, und
der Verbrecher muß sich bereits früher eines Gewaltverbrechens ent-
sprechenden Typs schuldig gemacht haben. Daß das reformierte Gesetz
sehr beschränkt angewendet wurde, wird durch die Statistik veran-
!lcJ:laulicht. Die Anzahl der Internierten in der Zwangsanstalt belief
sich im Jahre 1982 auf durchschnittlich 13 Personen18 • Einige Jahre vor
der Änderung des Gesetzes haUe diese Zahl mit beinahe 400 Internier-
ten - das sind 6 % der gesamten Gefangenenzahl - ihren höchsten
Stand erreicht. Zum Vergleich sei erwähnt, daß es Ende des Jahres 1982
25 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilte Gefangene gab t7 •
b) Durch eine 1976 vorgenommene Änderung des Strafgesetzes wurde
bezweckt, die Bedeutung des Rückfalls für die Strafbemessung zu ver-
mindern. Nach dieser Reform ist der Rückfall nur einer von vielen, jetzt
zum ersten Mal gesetzlich geregelten Strafzumessungsgründen. Der

14 Dazu vor allem Anttila, Conservative and Radical Criminal Policy in


the Nordic Countries, Scandinavian Studies in Criminology, Vol. 3 (1971),
S. 9 ff.; dies., ZStW 95 (1983), S. 740 ff.
15 UusitaZo, Recidivism after Release from Closed and Open Penal Institu-
tions, BritJCrim 12 (1972), S. 211 ff.
18 Annual Report of the Prison Administration 1982, S. 18.
17 Ibid., S. 51.
Zur Entwicklung der Kriminalpolitik in Finnland 877

Rückfall kann auch nicht mehr Grund dafür sein, einen höheren Straf-
rahmen anzuwenden. Die Anwendung des erneuerten Strafschärfungs-
grundes beruht zu einem großen Teil auf dem Ermessen des Gerichts
in casu: Der Rückfall soll dem Wortlaut der Vorschrift entsprechend
auf eine qualifizierte Vorwerfbarkeit "Gleichgültigkeit gegen die Ge-
bote und Verbote des Gesetzes" hinweisen. Es war die Absicht, daß
der Rückfall nicht mehr so mechanisch wie früher die Strafzumessung
beeinflussen sollte.
Das Ziel der Reform wurde nur teilweise erreicht. Der Rückfall ist
nach wie vor in der Praxis der wichtigste Strafschärfungsgrund. Er ist
auch bei der Wahl zwischen den Strafarten Geldstrafe, bedingte Ver-
urteilung oder Freiheitsstrafe von großer Bedeutung. Dies gilt auch
dann, wenn es sich nicht um einen Rückfall im Sinne der Gesetzes-
bestimmung handelt.
Die neuen Bestimmungen über die Strafzumessung brachten zwei
wichtige Forderungen allgemein kriminalpolitischen Ranges zum Aus-
druck: einmal den Grundsatz der Schuld und der Verhältnismäßigkeit
(die Strafe ist so zu bemessen, daß sie in einem gerechten Verhältnis
zur Schädlichkeit und Gefährlichkeit der Straftat und zu der aus der
Straftat hervorgehenden Schuld des Täters steht); zum anderen das
Bestreben nach Einheitlichkeit der Rechtsprechung. Diese Forderun-
gen stehen im Widerspruch zu der alten Betonung der Individualisie-
rung der strafrechtlichen Sanktionen.

c) Im Jahre 1976 wurde auch die bedingte Verurteilung völlig neu


geregelt. Zur Erläuterung ist zu erwähnen, daß die bedingte Verurtei-
lung in Finnland eine Aussetzung der Vollstreckung bedeutet. In den
übrigen nordischen Ländern kennt man eine bedingte Verurteilung
auch in der Form, daß die Festsetzung der Strafe aufgeschoben
wird. In der Praxis werden fast nur Freiheitsstrafen, äußerst selten
Geldstrafen, zur Bewährung ausgesetzt. Seit der Reform beruht die
Wahl zwischen bedingter und unbedingter Verurteilung vor allem
darauf, was die Aufrechterhaltung der allgemeinen Gesetzestreue (d. h.
die Generalprävention) verlangt. Früher setzte das Gesetz voraus, daß
eine spezialpräventive Prognose gestellt wurde; eine positive Prognose
konnte zur Strafaussetzung zur Bewährung berechtigen. Die übrigen,
formellen Voraussetzungen, die vom neuen Gesetz gestellt werden,
betreffen die konkrete Höchststrafe (zwei Jahre, früher ein Jahr) sowie
die bisherige Kriminalität des Straftäters.
Die bedingt verhängte Strafe kann nur dann durch Gerichtsbeschluß
vollzogen werden, wenn der Verurteilte während der Bewährungs-
zeit (Dauer ein bis drei Jahre) sich einer Straftat schuldig macht, für
die er zu einer Freiheitsstrafe zu verurteilen ist. Unter Führungsauf-
878 RaimoLahti

sicht gestellt werden nur Jugendliche (15 - 20jährige), aber auch sie
nicht ausnahmslos. In dieser Hinsicht besteht ein Unterschied zu den
aus der Strafhaft bedingt Entlassenen, die in der Regel - unabhängig
vom Alter - unter Aufsicht stehen.
Ein wichtiges Novum der reformierten Gesetzgebung ist in der Be-
stimmung enthalten, die zusätzlich zur bedingten Verurteilung (zu
einer Freiheitsstrafe) die Verhängung einer Geldstrafe ermöglicht.
Diese sog. kombinierte Strafe wird schon seit längerem in anderen
nordischen Staaten angewandt. Dort kennt man auch die Modifikation,
daß eine kurze Freiheitsstrafe mit der bedingten Verurteilung kombi-
niert werden kann. Von der Möglichkeit, die bedingt verhängte Frei-
heitsstrafe mit einer Geldstrafe zu kombinieren, ist zunächst bei Delik-
ten der Trunkenheit am Steuer Gebrauch gemacht worden. Dasselbe
wurde auch bezweckt, als die Vorschriften über Trunkenheit im Stra-
ßenverkehr gleichzeitig mit dem Gesetz über die bedingte Verurtei-
lung reformiert wurden.
Heutzutage werden über die Hälfte aller verhängten Freiheitsstrafen
zur Bewährung ausgesetzt, im Jahre 1982 z. B. waren es 55 Prozent (von
ca. 25000 Freiheitsstrafen)18. Wer zum ersten Mal zu einer Freiheits-
strafe zu verurteilen ist, wird wahrscheinlich bedingt verurteilt, sofern
es sich nicht um eine besonders schwere Straftat handelt. Eine kurze
Zeit zurückliegende Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe bildet für
die Strafaussetzung zur Bewährung in der Regel ein Hindernis, aus-
genommen bei jugendlichen Straftätern.
Daß die bedingte Verurteilung in Finnland eine so dominante Alter-
nativ~~ur Freiheitsstrafe ist, hat Kritik auf sich gezogen. In den übri-
gen nordischen Ländern werden im Zusammenhang mit oder anstelle
von bedingter Bestrafung in Freiheit durchzuführende Sanktionen an-
gewandt, die kontrollierende und stützende Elemente enthalten (in
Schweden z. B. die Schutzaufsicht, "skyddstillsyn"). Auf einen Nachteil
der finnischen Gesetzesbestimmungen wird oft hingewiesen. Gegen
Jugendliche mit rasch aufeinanderfolgenden neuen Straftaten können
mehrfach hintereinander bedingte Verurteilungen ausgesprochen wer-
den. Eine bedingt verhängte Strafe, die wegen eines neuen Delikts
vollstreckt werden muß, soll in vollem Umfang zu der für die neue Tat
verhängten Strafe hinzu gerechnet werden. Auf diese Weise kann man
zu Strafen mit sehr langer Vollstreckungsdauer gelangen. Eine Ände-
rung dieser Situation ist bei der geplanten Neufassung der strafrecht-
lichen Konkurrenzregeln vorgeschlagen worden.

18 Official Statistics of Finland XXIII B:118 (1982), S. 18.


Zur Entwicklung der Kriminalpolitik in Finnland 879

d) Im Zusammenhang mit der Reform der Strafbestimmungen über


Trunkenheit im Straßenverkehr (1976) wurde auch das Tagessatz-
system dahingehend geändert, daß nun die Tagessätze erheblich höher
bemessen werden müssen: sie sollten durchschnittlich einem Drittel
vom Bruttoeinkommen des Angeklagten entsprechen, auf jeden Fall
mindestens 8 Finnmark (ca. 4 DM). Zugleich könnte die Anzahl der
Tagesbußen in der Praxis gesenkt werden. Mit dieser Reform wurde
bezweckt, die Wirksamkeit der Geldstrafe als eine Alternative zur
Freiheitsstrafe zu erhöhen. Dieses Ziel ist nur teilweise erreicht wor-
den, da die Tagessätze nicht in dem erwünschten Maße gestiegen sind,
u. a. weil die j\.ngeklagten oft unrichtige Angaben über ihr Einkommen
gemacht haben.
Bereits in den 60er Jahren wurden Gesetzesänderungen verwirklicht
(wie die Ermöglichung der Teilzahlung bei Geldstrafen; die Einfüh-
rung eines besonderen Verfahrens, in dem Geldstrafen in Ersatzfrei-
heitsstrafen umgewandelt werden; die Herabsetzung des Höchstbetrags
der Tagesbußen von 300 auf 120 Tagessätze und die Herabsetzung der
Höchstdauer der Ersatzfreiheitsstrafe von 180 auf 90 Tage), mit deren
Hilfe es gelang, die Zahl der anstelle von Geldstrafen zu verbüßenden
Ersatzfreiheitsstrafen erheblich zu reduzieren. Im Jahre 1982 gab es im
Durchschnitt 128 Gefangene, denen eine Ersatzfreiheitsstrafe auferlegt
worden war; das sind knapp 3 % der Durchschnittszahl sämtlicher Ge-
fangener in jenem JahrlU.
Die Geldstrafe ist in Finnland seit alters her eine sehr übliche Form
der Bestrafung. Im Jahre 1982 wurden von den Gerichten erster Instanz
in rund 320 000 Fällen Strafen verhängt. Darunter waren ca. 300 000
Geldstrafen, und von diesen wurden 250 000 in einer vereinfachten Pro-
zeßform, dem Strafbefehlsverfahren, verhängtto • Man muß jedoch an-
merken, daß der Anwendungsbereich des eigentlichen Strafrechts in
Finnland - wie auch in den anderen nordischen Ländern - sehr um-
fangreich ist. In den skandinavischen Staaten ist kein allgemeines,
einheitliches Ordnungswidrigkeitensystem nach mitteleuropäischem
Modell eingeführt worden. Es sind jedoch verschiedene administrative
Gebührensanktionen eingerichtet worden, deren Anwendungsbereiche
indes beschränkt sind (in Finnland vor allem für unzulässiges Parken,
für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ohne Fahrausweis, für
überladung beim Warentransport und für rechtswidriges Verhalten
eines Steuerpflichtigen). Neben dem Strafbefehlsverfahren sind andere
prozessuale Vereinfachungen verwirklicht worden, so 1983 in Finnland
ein Ordnungsbußensystem. Die Ordnungsbuße wird als eine Strafe
charakterisiert, die in erster Linie hinsichtlich geringfügiger übertre-
18 Annual Report of the Prison Administration 1982, S. 18.
20 Official Statistics of Finland XXIII B:118, S. 18.
880 RaimoLahti

tungen im Straßenverkehr eingeführt wurde. Ähnlich wie bei den


administrativen Sanktionen ist die Höhe der Ordnungsbuße bereits in
der Verordnung für jeden einzelnen übertretungstyp in Mark fest-
gesetzt worden, und die Ordnungsbuße kann nicht in eine Ersatzfrei-
heitsstrafe umgewandelt werden.
Für die Reformarbeit der kommenden Jahre wird die Frage wichtig
werden, wie die Linien bei der Sanktionierung von weniger schwer-
wiegenden Gesetzesverletzungen zu ziehen sind, mit anderen Worten:
wie die Reichweite der Kriminalisierungen begrenzt werden sollte.
Besonders wesentlich wird sein, die Möglichkeiten einer systematischen
Entkriminalisierung und Entpönalisierung zu erörtern.
e) In der ersten Hälfte der siebziger Jahre wurden die Vorschriften
über den Strafvollzug in wesentlichen Teilen reformiert. Gemäß den
Zielen, die in den neuen Bestimmungen ihren Ausdruck finden, sollte
die Vollstreckung der Freiheitsstrafe so eingerichtet werden, daß die
Strafe ausschließlich einen Freiheitsverlust darstellt. Zudem sollten die
dem Gefangenen aus dem Freiheitsverlust erwachsenden Nachteile
nach Möglichkeit vermieden werden. Das Ziel der Behandlung oder
Resozialisierung des Gefangenen wird nicht mehr wie früher im Geist
des Progressivprinzips betont. Die Zuchthausstrafe wurde abgeschafft,
und man ging zu einer einheitlichen Freiheitsstrafe mit der Bezeich-
nung Gefängnis ~ber.
Ob der Gefangene in einem (geschlossenen) Gefängnis, einer offenen
Anstalt oder im Jugendgefängnis unterzubringen ist, wird nach gesetz-
lich bestimmten gefangenenpflegerischen Kriterien entschieden. Von
.den- Vollzugsbehörden wird auch entscllieden, wann ein Gefangener,
der eine Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten verbüßt, auf Be-
währung entlassen wird. In der Praxis werden die meisten Gefangenen
auf Bewährung freigelassen, nachdem sie die Mindestzeit, d. h. zwei
Drittel oder die Hälfte ihrer Strafe (mindestens jedoch drei Monate),
abgebüßt haben.
Der Anteil der Freiheitsstrafen, die in offenen Anstalten verbüßt
werden, ist nicht im erwünschten Maße gestiegen. Von den rund
8 000 Gefangenen zum Beispiel, die im Jahre 1982 ihre Strafe an-
traten, begannen ungefähr 20 % ihren Strafvollzug in einer offenen
Anstalt21 •
über die Voraussetzungen und den Inhalt der bedingten Entlas-
sung - sogar auch über die Notwendigkeit dieser Einrichtung im

21 Annual Report of the Prison Administration 1982, S. 52. Der Anteil


derer, die in die Strafvollzugsanstalt als Untersuchungshäftlinge eingewie-
sen worden waren, war ca. 1 500. Sie waren ausnahmslos in Gefängnissen
untergebracht.
Zur Entwicklung der Kriminalpolitik in Finnland 881

allgemeinen - ist in den letzten Jahren eine kritische Kontroverse


geführt worden. Die Ansichten gehen in die Richtung, den Ermessens-
spielraum der Vollzugsbehörden hinsichtlich der bedingten Entlassung
zu verringern. In dem Punkt, wie die Aufsicht über die auf Bewährung
Entlassenen einzurichten sei, gehen die Meinungen auseinander. Die
Meinungsverschiedenheiten hängen mit der allgemeineren Frage zu-
sammen, ob man innerhalb der Bewährungshilfe ("Kriminalfürsorge")
die Kontrollfunktionen von denen der freiwilligen Entlassenenfürsorge
trennen sollte. In dem letzten offiziellen Entwurf aus dem Jahre 1982
geht man davon aus, daß die Bewährungshilfe neben Fürsorgediensten
weiterhin auch gewisse überwachungsmaßnahmen zu leisten habe22 .

11.
1. Welche allgemeinen Tendenzen oder Schwerpunkte weisen die in
den letzten Jahren in der finnischen und skandinavischen Kriminal-
politik verwirklichten oder geplanten Reformen auf? Man muß diese
Reformbestrebungen im Licht der offiziellen Berichte sehen, die in der
letzten Hälfte der siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre in den
nordischen Ländern herausgegeben wurden.
Im Jahre 1972 wurde die auf eine Gesamtreform der finnischen Straf-
gesetzgebung hinzielende Arbeit eingeleitet. Es wurde ein Strafrechts-
komitee eingesetzt, das fünf Jahre später seinen Bericht veröffent-
lichte23• Es handelte sich hierbei um eine Denkschrift, die die Prinzi-
pien des zu reformierenden Strafrechts klären sollte. Im Justizministe-
rium wurde 1980 eine umfangreiche "Projektorganisation" gegründet
mit dem Auftrag, einen konkreten Vorschlag für ein neues Strafgesetz
auszuarbeiten. Die Führungsgruppe dieser Organisation veröffent-
lichte im Juni 1984 ihren ersten ausführlichen Teilreformentwurf, der
zunächst die Änderung der Rechtsvorschriften über Wirtschafts- und
Eigentumsdelikte zum Thema hatte!'.
Andere bedeutsame Dokumente aus den nordischen Ländern vom
Ende der siebziger Jahre sind der für das norwegische Parlament
angefertigte Bericht über die Kriminalpolitik (1977)25, die von einer
schwedischen Arbeitsgruppe erstellte Denkschrift über das neue Stra-
fensystem (1977)26 sowie die von einer dänischen Arbeitsgruppe und
dem Nordischen Strafrechtskomitee erarbeiteten Berichte über Alter-

!2 Valvontatyöryhmän mietintö, Oikeusministeriön vankeinhoito-osaston


julkaisuja 6/1982.
23 Rikosoikeuskomitean mietintö (Anm. 7).
!& Rikoslain kokonaisuudistus I (Anm. 7).
25 St.meld. nr.104 (1977 -78) Om kriminalpolitikken, Justis- og politi-
departementet.
26 Nytt straffsystem, BRA-Rapport 1977:7.

56 Festschrift für H.-H • .Tescheck


882 Raimo Lahti

nativen zur Freiheitsstrafe (1977, 1980)27. Auch in Schweden war zu


Beginn der 80er Jahre ein Komitee tätig, das Alternativen zur Frei-
heitsstrafe erörterte; seine Entwürfe wurden in den Jahren 1981 und
1984 herausgegeben28 . In Norwegen wiederum wurde im Jahre 1980 die
Ausarbeitung einer Gesamtreform des Strafrechts eingeleitet, und der
Grundsatzbericht der damals eingesetzten Strafrechtskommission er-
schien 19831u •
Allgemein ist man der Ansicht, daß von den Ende der 70er Jahre
erschienenen offiziellen Dokumenten zumindest die finnischen und
schwedischen eine neue kriminalpolitische Denkweise widerspiegeln,
den sog. Neoklassizismus. In einem 1980 erschienenen gesamtnordischen
Sammelwerk wird diese neue Richtung vielseitig analysiert und im
Titel des Buches mit den Termini "Strafe und Gerechtigkeit" charak-
terisiert30 •
Der Verwendung des Begriffs Neoklassizismus stehen indes u. a.
die finnischen Wissenschaftler Inkeri Anttila und Patrik Törnudd, die
man zu den wichtigsten Vertretern der neuen Richtung rechnet, mit
großem Vorbehalt gegenüber und haben davor gewarnt, ihre Vorstel-
lungen mit der amerikanischen "just deserts"-Bewegung gleichzuset-
zen31 • Desgleichen wird betont, daß die neue Denkweise Berührungs-
punkte gerade zur Aufklärungsphilosophie und nicht zur deutschen
idealistischen Philosophie aufweistS!. Im folgenden wird wohl klar, daß
die zu erläuternden kriminalpolitischen Akzente viel mit den Prinzi-
pien gemein haben, die man im modernen deutschen rechtswissen-
schaftlichen Schrifttum für charakteristische Grundprinzipien des
Strafrechtssystems hält3s•
Ferner ist anzumerken, daß stark prinzipiell oder ideologisch ge-
färbte Begründungen 'vor allem für diejenigen Berichte typisch sind,

27 Alternativer til frihedsstraf - et debatoplaeg, Betaenkning nr. 806/1977;


Alternativer til frihedsstraf (Anm. 11).
28 Frivärdspäföljder, SOU 1981:90; Nya alternativ till frihetsstraff, SOU
1984:32.
2U Straffelovgivningen under omforming, NOU 1983:57.

80 Heckscher!Snare!TakaZa!Vestergaard (Hrsg.), Straff och rättfärdighet


- ny nordisk debatt, 1980.
SI Siehe z. B. AnttiZa!Törnudd, Reasons for punishment, in: Crime and
Crime Control in Scandinavia, Scandinavian Research Council for Crimi-
nology, 1980, S. 48 ff.; Törnudd, Är "den nya kriminalpolitiken" nyklassisk?,
in: Straff och rättfärdighet, S. 135 ff.; AnttiZa, ZStW 95 (1983), S. 739 ff.
S! Backman, Den klassiska straffrättens renässans? Nägra idehistoriska
perspektiv, in: Straff och rättfärdighet, S. 194 ff.
33 Vgl. zum folgenden vor allem Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts,
S. 16 ff.; ders., Das neue deutsche Strafrecht im internationalen Zusammen-
hang, Max-Planck-Gesellschaft Jahrbuch 1975, S. 53 ff. Vgl. auch z. B. Zipf,
Kriminalpolitik, 2. Auf!. 1980, passim.
Zur Entwicklung der Kriminalpolitik in Finnland 883

die im Jahre 1977 in Finnland und Schweden erschienen. Sehr pragma-


tisch orientiert ist dagegen die Argumentation besonders in der däni-
schen Denkschrift vom selben Jahr. In diese Richtung haben sich auch
die Begründungen in den wenige Jahre später erschienenen schwe-
dischen Komiteeberichten gewandelt, die wie die dänische Denkschrift
die Erörterung von Alternativen zur Freiheitsstrafe zum Objekt hat-
ten. In diesen Berichten sind "neoklassizistische" Gedankengänge ver-
mieden worden, und das Komitee zog es vor, wie bisher von der Be-
handlungsideologie als Grundlage auszugehen34 •
In Finnland sind nach 1976 keine bedeutsamen Reformen des straf-
rechtlichen Sanktionensystems verwirklicht worden. Dies scheint zum
Teil eine Folge der Ambivalenz zu sein, die von den Meinungsver-
schiedenheiten über die neue kriminalpolitische Richtung erzeugt wor-
den ist. Die Meinungsverschiedenheiten haben wiederum eine Ursache
darin, daß es schwer ist, über den Inhalt der Begriffe Einigkeit zu
erzielen, wenn die Debatte auf einer sehr hohen Abstraktionsebene,
an recht vagen Grundprinzipien festhaltend, geführt wird. In der
Debatte hat die Argumentation mit angenommenen latenten negativen
Funktionen des Neoklassizismus und entsprechend mit latenten positi-
ven Funktionen der Behandlungsideologie einen bedeutenden Stellen-
wert erhalten: der erstgenannte führe zu einer strengen, die letztere zu
einer humanen Kriminalpolitik!
Im folgenden möchte ich meine eigene Deutung der Prinzipien
vorbringen, die während der vergangenen 10 -15 Jahre in der nordi-
schen Kriminalpolitik eine zentrale Stellung innegehabt haben. Ich
behalte dabei vorrangig die in Finnland geführte Debatte im Auge.
Die Grundlage für meine Darlegung bildet eine Aufstellung, in der die
wichtigsten Prinzipien in Thesenform dargelegt werden. Eines klären-
den Kommentars bedürfen vor allem die Punkte, an deren Inhalt
oder Bedeutungen sich die Meinungsverschiedenheiten entzündet
haben. Meine Darstellung ist nicht ausschließlich deskriptiv, sondern
enthält auch normative Aussagen. Ich halte es für unbegründet, das
von mir hierbei vertretene Grundkonzept als neoklassizistisch zu be-
zeichnen. Meines Erachtens ist es sehr zweifelhaft, ob dieser Begriff
überhaupt und speziell dann, wenn man die neueste Entwicklung der
Kriminalpolitik in Skandinavien betrachtet, anwendbar ist.

u SOU 1981:90 S. 97 ff., 109; SOU 1984:32 S. 43 ff.


A. Ziele der allgemeinen Kriminalpolitik
00
1. Minimalisierung der sozialen Ko- 2. D~e gerechte Verteilung der sozia- 00
sten (u. a. Leiden und wirtschaftliche len : Kosten auf die verschiedenen "'"
Kosten), die durch Kriminalität und Beteiligten (in erster Linie die ge-
deren Bekämpfung verursacht wer- samte Gesellschaft, potentielle und
den. aktuelle Opfer sowie potentielle und
- Das wichtigste Mittel, die sozialen aktuelle Straftäter).
Kosten der Kriminalität zu reduzie- - Zu erwägen ist u. a., in welchem
ren, ist Vorbeugung. Strafen und Umfang es recht und billig ist, aus
sonstige auf die Motivation poten- Mitteln des Staates die aktuellen
tieller Straftäter einwirkende Kon- Opfer zu entschädigen und poten-
trollmaßnahmen sind jedoch von be- tielle Opfer unter Androhung von
schränkter Wirksamkeit. Aus diesem Sanktionen dazu zu verpflichten, kri-
Grund kommt alternativen oder er- minalitätsverhütende Maßnahmen zu
gänzenden gesellschaftspolitischen ergreifen.
~
Mitteln eine erstrangige Bedeutung I!)

zu. Mit diesen Mitteln soll die Ent- Ei"


stehung von Deliktsituationen und o
von die Kriminalität begünstigenden
Milieubedingungen vermieden wer- ....~
den.

B. Anforderungen an das strafrechtliche System (das Strafensystem und den KontrolZapparat)


1. Zweckmäßigkeit (Nützlichkeit, 2. Gerechtigkeit 3. Humanität
Effizienz) a) Das strafrechtliche System soll Der Inhalt des strafrechtlichen Sy-
a) Das strafrechtliche System ist bei nur in dem Umfang angewandt wer- stems hat sich in der Weise zu be-
der Abwehr unerwünschten Verhal- den, wie es vom Standpunkt der stimmen, daß sich dieses System im
tens nur in dem Maße anzuwenden, sozialen Kosten, die aus der Bekämp- Einklang mit der Würde des Men-
wie es sich in dem Kosten-Nutzen- fung der Kriminalität entstehen, für schen, seiner Integrität und den übri-
Vergleich zwischen den verschiede- recht und billig erachtet wird. gen Grundsätzen der Menschenrechte
nen Mitteln der Kriminalpolitik als b) Die Prinzipien bei der Einschät- befindet.
nötig erweist. zung der Gerechtigkeit des straf-
b) Die Effizienz des strafrechtlichen rechtlichen Systems sollen vor allem
Systems ist vor allem an seinen gene- die Prinzipien der Rechtsstaatlich-
ralpräventiven Wirkungen (der all- keit (Rechtssicherheit), der Gleich-
gemeinen Gesetzestreue) zu messen. heit und der Voraussehbarkeit sein.
e) Der Inhalt des strafrechtlichen e) Vom Standpunkt des Strafrechts
Systems (wie Strafandrohungen, haben von grundlegender Bedeutung
Strafverfahren, Sanktionen und zu sein: Der Legalitätsgrundsatz (nul-
deren Vollstreckung) soll sich in der lum erimen sine lege, nulla poena
Weise bestimmen, daß dieses System sine lege poenali) sowie das Schuld-
so wenig soziale Kosten wie möglich prinzip und der damit zusammen-
verursacht, ohne jedoch die Nutzwir- hängende Grundsatz der Verhältnis- ~
"1
kungen des Systems (in erster Linie mäßigkeit.
die Generalprävention) wesentlich in d) Der strafrechtliche Kontrollappa-
Frage zu stellen. rat (die Strafrechtspfiege) hat die I.
d) Obwohl die Effizienz des straf- Maßstäbe für Rechtssicherheit zu er-
rechtlichen Systems in erster Linie füllen; er ist auch so zu organisieren,
an seiner Generalprävention zu mes- daß die Interessen der verschiedenen i
sen ist, sollen auf die Wahl einzelner Beteiligten (der Gesellschaft sowie ~
Sanktionen und deren Vollstreckung des Geschädigten und des Straftä- ~
in erheblichem Maße auch andere ters) berücksichtigt werden.
Nutzaspekte einwirken, außer den e) Den Begriffen Gerechtigkeit und
§'....
::s
unter Punkt e) genannten insbeson- Rechtssicherheit ist nicht nur ein
dere die Spezialprävention: Resozia- formeller Inhalt zu geben, sondern ~
g
lisierung und Isolierung ("ineapacita- sie sind auch aufgrund von materiel- ....
tion") des Straftäters. len Kriterien zu bewerten. ~
Ei'
a) Aufgabe des strafrechtlichen Sy- "1
stems (der Strafe) ist es, autoritative [
Mißbilligung auszudrücken und da-
~
mit einerseits die Einstellung der c.
Menschen zur Gesetzestreue zu be-
einflussen sowie andererseits die in
der Gesellschaft herrschende mora-
lische Wertordnung widerzuspiegeln.
co
C. Konkrete ReformvorschZäge co
c.n
Viele aktuelle Vorschläge haben die Alternativen zur Freiheitsstrafe zum Thema.
886 RaimoLahti

2. Die in Punkt A der Aufstellung vorgebrachten allgemeinen krimi-


nalpolitischen Ziele tragen ursprünglich die Handschrift des finnischen
Wissenschaftlers Törnudd vom Ende der 60er Jahre35 • Diese Definition
wurde 1975 auf dem V. Kongreß der Vereinten Nationen über Verbre-
chensprävention und Behandlung von Straftätern angenommen, und
zwar in einem von der Sektion über die Erörterung der wirtschaft-
lichen und sozialen Folgen der Kriminalität verfaßten und vom Kon-
greß angenommenen Bericht38 • In demselben Bericht wird die Förde-
rung des Kosten-Nutzen-Denkens (..cost-benefit thinking") empfohlen.
In dem Bericht werden über die auf dem Wege eines solchen Gedankens
liegenden Hindernisse überlegungen angestellt; in ihm wird auch her-
vorgehoben, daß die wirtschaftlichen Kosten nur ein Teil der meßbaren
sozialen Kosten sind.
Das Problem besteht darin, daß die in der Kriminalpolitik zu beach-
tenden Gesichtspunkte oft nicht miteinander in Relation gesetzt wer-
den können, was dazu angetan ist, in den Entscheidungen die Bedeu-
tung von Werturteilen herauszustellen. Die Beschlußfassenden müssen
letzten Endes wertend dazu Stellung nehmen, welche Gesichtspunkte
in der Kriminalpolitik in Betracht zu ziehen sind und welche Bedeu-
tung ihnen beigemessen werden soll. Es wäre jedoch zu hoffen, daß
darüber, welches Gewicht den jeweiligen Werten beigemessen wird,
eine möglichst rationale Diskussion geführt wird.
Mit den in Punkt A vorgebrachten Zielen will man den engen Zu-
sammenhang zwischen den Zielen (und Mitteln) der Kriminalpolitik
und denjenigen der allgemeinen Gesellschajtspolitik herausstellen. Zu-
gleicll 'bezweckt man, allgemeine gesellschaftspolitische Planungsmetho-
den auch auf die kriminalpolitische Planung anzuwenden37• Es sei be-
merkt, daß als paralleles Ziel der Kriminalpolitik die gerechte Vertei-
lung der sozialen Kosten angeführt wird. Entsprechend wird als Ziel
der allgemeinen Gesellschaftspolitik neben der Vermehrung des Wohl-
stands seine gerechte Verteilung genannt.
Es handelt sich hierbei um die Ablehnung eines solchen utilitaristi-
schen Denkens, demzufolge in der Gesellschafts- und Kriminalpolitik
die Erreichung eines möglichst großen .. Gesamtwohls" (Wohlstand der
Gesellschaft, Minimalisierung der Kriminalität und der aus ihr erwach-

35 Törnudd, The futility of searching for causes of crime, Scandinavian


Studies in Criminology, Vol. 3, 1971, S. 23 ff., 29.
38 Fifth United Congress on the Prevention of Crime and the Treatment
of Offenders 1975, United Nations, A/Conf.56/IO, S. 41 ff.; Economic and
Social Consequences of Crime: New Challenges for Research and Planning,
A/Conf. 5617, passim.
17 Vgl. dazu z. B. Amelung, Strafrechtswissenschaft und Strafgesetzgebung,
ZStW 92 (1980), S. 19 ff.
Zur Entwicklung der Kriminalpolitik in Finnland 887

senden sozialen Kosten) allein ausschlaggebend sei. Zudem sind Prin-


zipien der Gerechtigkeit zu berücksichtigen, denen unabhängig von
den Folgen ihrer Einhaltung eine große Bedeutung beigemessen wer-
den soll.

3. Das finnische Strafrechtskomitee38 erkannte den Vorrang der all-


gemeinen gesellschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen bei der Vor-
beugung gegen unerwünschte Verhaltensweisen an. Im Bericht wird
festgestellt, daß zur gleichen Zeit, da sich die Anzahl der Strafbestim-
mungen vermehrt hat, die Gesellschaft zusätzliche Hilfsmittel zur Be-
kämpfung von Straftaten in die Hand bekommen hat. Ebenfalls zur
gleichen Zeit ist das allgemeine Bewußtsein über die direkten und
indirekten Folgen der verschiedenen Maßnahmen der Gesellschaft ge-
stiegen. Infolgedessen müssen mehr Alternativen als zuvor in Betracht
gezogen und von mehr Standpunkten aus betrachtet und abgewogen
werden, wenn es darum geht, über die gesellschaftlichen Aufgaben des
strafrechtlichen Systems und seine Ausrichtung zu beschließen. Wenn
man so verfährt, wird man die vielfältige Auswahl an strafrechtlichen
Maßnahmen im Verhältnis zu den sonstigen gesellschaftspolitischen
Maßnahmen verstehen. Zum anderen hat man begonnen, zielbewußter
als früher darüber nachzudenken, auf welche Weise - wie gerecht -
das strafrechtliche System die Verpflichtungen und Belastungen auf
die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft lenkt bzw. verteilt. Dieser
Gesichtspunkt ist besonders bei der Reformierung der Strafbestim-
mungen von Bedeutung - bei der Erwägung, welche Verhaltensfor-
men zu kriminalisieren und mit welchen Strafandrohungen diese zu
belegen sind.
Das Strafrechtskomitee war bemüht, eine sich auf die angeführten
Ausgangspunkte stützende Analyse durchzuführen, als es über die Not-
wendigkeit der Strafbestimmungen auf den verschiedenen Gebieten
des gesellschaftlichen Lebens überlegungen anstellte. Es richtete sein
Augenmerk in erster Linie auf das Wohnen, die Arbeitsbedingungen,
den Verkehr, die Umwelt und den Konsum. Bei dieser Betrachtung
gibt es mehrere Stadien.
Zunächst wird versucht, vom Standpunkt der Zielvorstellungen eines
jeden Lebensgebiets die Verhaltensformen herauszufinden, die am mei-
sten sozialschädlich sind. Verletzt oder gefährdet ein bestimmtes Ver-
halten die Interessen des Individuums oder der Gesellschaft und -
falls dies so ist - in welchem Umfang? Es mag hier erwähnt werden,
daß der Bericht empfiehlt, die Straftatbestände mehr gemäß der Idee
der Gefährdungshaftung zu formulieren. Ein gutes Beispiel für diese
Entwicklung sind die Strafvorschriften über den Straßenverkehr. In

38 Vgl. zum folgenden Rikosoikeuskomitean mietintö (Anm. 7), Kap. 11 - IV.


888 RaimoLahti

dem neuen Gesetz von 1981 ist deutlicher als früher geäußert worden,
daß eine abstrakte Gefährdung der Verkehrssicherheit für die Straf-
barkeit ausreichend ist.
Zum zweiten wird die Vorwerfbarkeit jener nachteiligen Verhaltens-
formen abgeschätzt. Dann muß u. a. über die tatsächliche Wahlfrei-
heit der potentiellen Täter nachgedacht werden und darüber, ob Ver-
anlassung besteht, gegen die Täter ein sozialethisch tadelndes Urteil
zu richten. Drittens werden dann systematisch die aus der Strafbarkeit
entstehenden rechts- und gesellschaftspolitischen Vor- und Nachteile
miteinander verglichen. Die strafrechtliche Regelungsmaßnahme soll
zweckdienlich sein, wenn man auch andere mögliche Mittel in Betracht
zieht (überwachung, technische und administrative Lösungen usw.).
Weiterhin muß darauf geachtet werden, daß man nur in beschränktem
Maße (als "ultima ratio") auf strafrechtliche Maßnahmen zurückgreifen
sollte. Außerdem hat die strafrechtliche Regelung noch ihre besonderen
Einschränkungen (zum Beispiel die, daß die Strafbestimmungen nicht
zu verschieden auslegbar sein dürfen).
Die oben beschriebene Vorgehensweise repräsentiert wohl ein Ideal-
modell, das allerdings der gesetzgeberischen Tätigkeit Denkanstöße
gibt. In der Praxis werden Gesetzesreformen meistens anders ange-
gangen, und oft auf die Weise, daß man in der bestehenden Gesetz-
gebung gewisse Mängel erkennt und erwägt, wie diese - unter Be-
rücksichtigung der Wandlungen, die sich in der Gesellschaft und dem
Rechtsempfinden vollzogen haben - behoben werden können.

4. Unter Punkt B der Aufstellung werden Forderungen an das straf-


rechtliche System gestellt. Als Grundprinzipien sind Zweckmäßigkeit,
Gerechtigkeit und Humanität genannt. An der Aufstellung kann zwei-
felhaft erscheinen, ob es angebracht ist, die Grundprinzipien Gerech-
tigkeit und Humanität so scharf zu trennen!'. In jedem Fall dürfte
es schwer sein, die zur Humanität zu rechnenden Aspekte von den
materiellen Kriterien der Gerechtigkeit zu unterscheiden. Sind die
Prinzipien der Menschenrechte in der Rechtsordnung einmal mani-
festiert worden, so können sie auch als Prinzipien der Rechtssicherheit
angesehen werden. Solche Prinzipien wie Barmherzigkeit, Verzeihen
und Mitleid lassen sich wohl am ehesten zum Bereich der Humanität
rechnen.
Besonders in der in Finnland geführten Debatte ist man der Ansicht
gewesen, daß sich die fraglichen Prinzipien weitgehend ergänzen, mit
anderen Worten: Dieselben kriminalpolitischen Lösungen können weit-

SI Vgl. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, S. 16 H. Darin werden der


Schuldgrundsatz, der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und der Grundsatz
der Humanität als Maßstäbe der Gerechtigkeit genannt.
Zur Entwicklung der Kriminalpolitik in Finnland 889

gehend mit den Aspekten der Zweckmäßigkeit, der Gerechtigkeit und


der Humanität parallel begründet werden.
Von den genannten drei Grundprinzipien steht die Zweckmäßigkeit
insofern an erster Stelle, als die Existenzberechtigung des strafrecht-
lichen Systems in der nordischen Debatte gerade mit seinen Nutzwir-
kungen begründet wird. Die Gerechtigkeit und die Humanität haben
eine die Anwendung des strafrechtlichen Systems einschränkende
Aufgabe.
Damit die genannten Grundprinzipien in eine möglichst weitgehende
übereinstimmung in der kriminalpolitischen Argumentation gebracht
werden können, sind genauere Definitionen ihrer Inhalte vonnöten.
So sind zum Beispiel bei den Wirkungsmechanismen der Generalprä-
vention auch andere Eigenschaften als die Abschreckungsaufgabe der
Strafandrohung betont worden. Dementsprechend darf sich Gerechtig-
keit nicht nur auf die formelle Rechtssicherheit (wie die Voraussehbar-
keit) beziehen, sondern auch darauf, daß die materielle Gerechtigkeit
(wie die Billigkeit) verwirklicht wird. Es ist indes klar, daß die einzel-
nen Prinzipien oder deren Aspekte abhängig von den Werturteilen
unterschiedlich stark betont werden und daß sie auch im Widerspruch
zueinander stehen können.

5. Als kennzeichnend für den "Neoklassizismus" hat man einerseits


die relativ starke Betonung der Generalprävention und der Prinzipien
der Gerechtigkeit (oder Rechtssicherheit) und auf der anderen Seite eine
kritische Einstellung zur Behandlung des Straftäters gesehen. Um ein
richtiges Bild zu bekommen, ist es angebracht, diese Punkte näher zu
betrachten.
Es ist eine wichtige These der neuen Richtung, daß die Generalprä-
vention kein strenges Strafniveau nach sich zu ziehen braucht. Die
Abschreckungswirkungen des strafrechtlichen Systems und die Glaub-
würdigkeit der Strafandrohungen hängen in erster Linie davon ab, wie
sicher und schnell die Straftäter gefaßt und zur Verantwortung ge-
zogen werden können. Besondere Aufgabe der Strafdrohungen und
der zu verhängenden Strafen ist es, eine sozial ethische Mißbilligung
auszudrücken und somit auf die Moral- und Rechtsvorstellungen ein-
zuwirken40 •
In der nordischen Fachliteratur ist seit alters her die Moralnormen
bildende, stärkende und aufrechterhaltende Funktion des Strafrechts-
systems herausgestellt worden. Die heutigen Meinungen weichen in der
Frage ab, in welchem Maße das strafrechtliche System unabhängig von

(0 Siehe z. B. Mäkelä, Criminalization and punishment in the prevention


of alcohol problems, Contemporary Drug Problems 1978, S. 327 ff.
890 RaimoLahti

seinen utilitaristischen Wirkungen autoritative Mißbilligung ausdrük-


ken soll. Mit anderen Worten: wie wichtig der symbolische, expressive
Wert dieses Systems an sich als Reflektor des in der Gesellschaft herr-
schenden (moralischen) Wertsystems ist. Die doppelte Natur dieses Kri-
teriums hat jedoch zur Folge, daß man es in dem Grenzgebiet zwischen
den Grundprinzipien Zweckmäßigkeit und Gerechtigkeit ansiedeln
sollte (in der Aufstellung B. 1 - 2.a).
Besonders bei der Ausarbeitung der Gesamtreform des finnischen
Strafrechts wollte man die Aufgabe der Strafe als Maßstab der sozial-
ethischen Mißbilligung u. a. mittels verschiedener systematischer Lösun-
gen in der Gestaltung von Strafrechtsvorschriften betonen, zum Bei-
spiel folgendermaßen:
- Alle ausgeprägt punitiven Sanktionen sollten in einem möglichst
großen Umfang im Rahmen des Strafrechtssystems verhängt wer-
den, während es auf der anderen Seite wünschenswert ist, die weni-
ger schwerwiegenden Straftaten in entsprechendem Umfang zu ent-
kriminalisieren oder entpönalisieren (vgl. oben I. 2.d). Diese Forde-
rung hat sich als problematisch erwiesen, als man die Möglichkeiten
erwogen hat, die strafrechtliche Verantwortlichkeit von juristischen
Personen einzuführen. Die Meinung ist nämlich weit verbreitet,
daß der für die kriminelle Strafe typische Vorwurf sinnvollerweise
nur gegen natürliche Personen gerichtet werden kann. Auf der
anderen Seite muß die Möglichkeit bestehen, auch gegen Gemein-
schaften strenge Sanktionen zu verhängen.
- Alle Strafbestimmungen, die eine Androhung der Freiheitsstrafe
enthalten, sollten in das Strafgesetz aufgenommen werden.
- Die Straftaten sollten nach ihrer Schwere in recht wenige Straftat-
typen klassifiziert werden. Eine jede Straftat soll eine Bezeichnung
tragen, die ihre Schwere möglichst gut ausdrückt.

6. Der Umstand, daß man mittels des strafrechtlichen Systems auf


die Herausbildung und Erhaltung von moralischen und sozialen Nor-
men einwirken will, stellt zugleich an das System die Forderung nach
Legitimität: Die Menschen müssen das Strafrechtssystem akzeptieren
und Vertrauen zur Strafrechtspflege haben.
Vom Standpunkt der Legitimität aus kommt wiederum der Frage
zentrale Bedeutung zu, in welchem Maße sich solche Gerechtigkeits-
prinzipien wie Gleichheit und Verhältnismäßigkeit in der Strafrechts-
pflege realistisch verwirklichen lassen. Diese Prinzipien dürfen indes
nicht zu formell verstanden werden. Den materiellen Einschätzungs-
kriterien kommt Bedeutung zu, wenn man überlegungen darüber an-
stellt, welche Fälle in relevanten Beziehungen gleichartig sind oder
Zur Entwicklung der Kriminalpolitik in Finnland 891

welche Sanktion zu einer gewissen Straftat in angemessener Rela-


tion steht.
Zum Beispiel wird in dem Bericht des finnischen Strafrechtskomi-
tees in Anlehnung an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit emp-
fohlen, auf die Verhängung solcher Strafen zu verzichten, die sich für
den Bestraften unter Berücksichtigung sämtlicher Folgewirkungen mit
Wahrscheinlichkeit als unbillig auswirken werden.
Von Interesse ist auch die folgende im Bericht vorgeschlagene An-
wendung der Grundsätze der Gerechtigkeit und Verhältnismäßigkeit:
Bei der Kriminalisierung eines gewissen sozialschädlichen Tattyps und
der Erwägung des Strafrahmens ist u. a. der Umstand zu berücksich-
tigen, wie planmäßig die jeweilige Tat normalerweise angegangen wird
und über welche sozialen Ressourcen die Täter verfügen. Diese die
Vorwerfbarkeit des Tattyps betreffende Auffassung führt u. a. zu einer
Neueinschätzung der Relation zwischen der modernen Wirtschafts- und
der herkömmlichen Eigentumskriminalität.
In der nordischen Debatte wird dem Grundsatz der Verhältnismäßig-
keit im allgemeinen nur die Funktion eingeräumt, eine obere Grenze
für die Strenge der anzuwendenden strafrechtlichen Sanktion zu setzen.
In den von diesem Grundsatz gesetzten Grenzen besteht die Möglich-
keit, die Forderungen der Spezialprävention sowie die nach Billigkeit
und Humanität zu berücksichtigen. So ist zum Beispiel vorgebracht
worden, daß in der Vollstreckung der nach dem Verhältnismäßigkeits-
grundsatz bemessenen Sanktion dem Straftäter alle Hilfe, Behandlung
und Fürsorge, die er nötig hat, geboten werden muß. Die in concreto
verhängte Sanktion darf bezüglich ihrer direkten Auswirkungen für
den Bestraften keine Unbilligkeit darstellen. Es muß zudem eine weit-
gehende Bereitschaft zum Verzeihen, zu Barmherzigkeit und Mitleid
bestehen.
Die Meinungen gehen indes in der Frage auseinander, in welchem
Maße die letztgenannten Werte sich auf die Wahl und den Inhalt der
strafrechtlichen Sanktionen auswirken sollten. Je stärker man zum
Beispiel das Delikt und die Bedeutung des sich daran anschließenden
sozialethischen Vorwurfs betont, desto einfacher und zugleich schema-
tischer hat das Sanktionensystem zu sein. Wenn man dagegen ein stär-
keres Gewicht auf die obengenannten Werte legt, kommt man zu einer
differenzierteren Auswahl von Sanktionen. In den nordischen Ländern
bestehen zur Zeit Meinungsverschiedenheiten besonders über die Ein-
stellung zum Sanktionstyp von der Art des "community service" (ge-
meinnützige Dienste), dessen Anwendung in Dänemark und Norwegen
erprobt wird. In Finnland und Schweden dagegen hat man gegenüber
diesem Sanktionstyp eine bislang ablehnende Haltung eingenommen41 •
892 RaimoLahti

7. Das strafrechtliche System, das in seinen Grundzügen repressiver


Natur ist, ist im Geiste der sog. abolitionistischen Richtung in Skandi-
navien am heftigsten von den norwegischen Kriminologen Nils Christie
und Thomas Mathiesen kritisiert wordenu . Christie hat besonders den
Gedanken propagiert, daß man neue Arten der Konfliktlösung, die auf
einem Ausgleich zwischen Straftäter und Opfer basieren, einführen
sollte. Die neue, alternative ("grüne") Kriminalpolitik hat auch in Finn-
land in gewissem Maße Widerhall gefunden, wenn es darum geht, den
Anwendungsbereich des strafrechtlichen Systems einzuschränken oder
den Inhalt der strafrechtlichen Sanktionen zu modifizieren.
Es hat sich jedoch als diffizil erwiesen, Mittel zu finden, die annehm-
bar sind und zugleich effektiv die Anwendung gerade der Freiheits-
strafe verringern können. In Finnland wäre der Bedarf an solchen Mit-
teln besonders groß, da dort traditionell sowohl mehr als auch längere
Freiheitsstrafen verhängt worden sind als in den übrigen nordischen
Ländern, ohne daß man hierfür genügend rationale Gründe geltend
machen könnte (vgl. oben I.1.c)u.
In dem ersten Teilentwurf zur Gesamtreform des Strafrechts vom
Jahre 1984 gibt es zwei Vorschläge zur überprüfung des Sanktionen-
systems, die in die Richtung der besagten Reformbestrebungen gehen,
sich allerdings nur relativ wenig auf die Sanktionspraxis auswirken
werden: Die Länge von Freiheitsstrafen soll - bis zu 90 Tagen - in
Tagen festgelegt werden, und die Strafverfolgung bei Eigentumsdelik-
ten soll stärker als früher von der Strafanzeige des Geschädigten ab-
hängig gemacht werdenu.

41 So spätestens SOU 1984:32 S. 67 ff.


42 Z. B. Mathiesen, The Politics of Abolition, Scandinavian Studies in
Criminology, Vol. 4 (1974); Christie, Limits to Pain, 1981; ders., Die versteckte
Botschaft des Neo-Klassizismus, KrimJ 1983, S. 14 ff.
43 Vgl. auch vom komparativen Standpunkt Jescheck, Die Stellung der
Freiheitsstrafe in der Strafrechts reform der Bundesrepublik Deutschland und
Schwedens, Festskrift till Hans Thornstedt, 1983, S. 353 ff.
ce Rikoslain kokonaisuudistus I (Anm. 7).
MARI NO BARBERO SANTOS

Die Strafrechtsreform der spanischen


konstitutionellen Monarchie*

Das geltende spanische Strafgesetzbuch vom 14. September 1973 geht


auf das Gesetz von 1848 zurück: d. h. seine Struktur, der größte Teil
der in ihm zum Ausdruck gebrachten Grundsätze sowie der Wortlaut
zahlreicher Vorschriften stammen aus einem Text, der vor mehr als
einem Jahrhundert geschaffen wurde, und zwar gerade in dem Jahr,
in dem Europa durch gewaltsame, revolutionäre Bewegungen in seinen
Grundfesten erschüttert wurde1• 1848 war das Jahr, in dem ein Auf-
stand in Frankreich der Monarchie von Louis Philippe von Orleans ein
Ende bereitete und die Republik ausgerufen wurde; das Jahr, in dem
in Deutschland die in der Paulskirche in Frankfurt zusammengetre-
tene Versammlung eine neue Verfassung für den Deutschen Bund aus-
arbeiten sollte; und es war schließlich auch das Jahr, in dem in Rom
der hervorragende Strafrechtler Pellegrino Rossi, Ministerpräsident
unter Papst Pius IX., an den Stufen der zu dem Palast der Aposto-
lischen Kanzlei führenden Treppe einem Anschlag zum Opfer fiel, als
er diese zur Teilnahme an der Sitzung der Römischen Abgeordneten-
kammer hinaufging - Opfer seines leichtfertigen Vertrauens oder
seines unbezähmbaren Mutes, da ihm bekannt war, daß die Logen
seinen Tod beschlossen hatten. Trotz der damit verbundenen Unruhen
gelangten die Wellen des gewaltigen Umsturzes kaum nach Spanien,
dank der festen Hand des Generals Narvaez, Herzog von Valencia und
Ministerpräsident, dem es gelang, mit Geschick, Beharrlichkeit und
seinen geistreichen andalusischen Einfällen dieses - wie Gald6s
schreibt - so schwer zu bändigende Königreich zu regieren und zu
leiten. "Von mir aus kann mein Espad6n de Loja" (Degenmeister von
Loja), wie er genannt wurde, "noch tausend Jahre leben" - sagte
dieser mit einer gewissen Ironie - "damit wir, die wir mit Recht
Nutznießer und Träger der sozialen Ordnung sind, in Ruhe schlafen
könnent."

* übersetzung aus dem Spanischen von Mario Le6n.


1 Barbero Santos, Kriminalpolitische Grundlagen des Sanktionssystems
des spanischen Strafrechts seit 1848, ZStW 87 (1975), S. 397.
! Perez Gald6s, Episodios Nacionales. Narvaez, 1929, S. 115 - U8.
894 Marino Barbero Santos

Das bereits im Jahre 1850 revidierte Strafgesetzbuch von 1848 trug


nicht wenig dazu bei, den Schlaf der Bürger sicherzustellen, die die
hauptsächlichen Nutznießer der sozialen Ordnung waren. Und ob-
wohl es nicht tausend Jahre lebte, wie Gald6s dem Herzog von Valencia
gewünscht hatte, wurde das Strafgesetzbuch doch mehr als hundert
Jahre aUS.
Es gab verschiedene Gründe hierfür: In erster Linie ist die Tat-
sache zu erwähnen, daß es sich um ein technisch vollkommenes Gesetz-
buch hinsichtlich der Übereinstimmung und Abfassung der gesetz-
lichen Tatbestände handelte. Ferner spielte der Umstand eine Rolle,
daß in der Theorie der Strafe von relativen und nicht von absoluten
Grundsätzen ausgegangen wurde, wobei die Vergeltung und die all-
gemeine Abschreckung als grundlegende Postulate in den späteren
Fassungen des Gesetzbuchs allerdings wesentlich abgeschwächt wur-
den. Weiter ist auf die Tatsache hinzuweisen, daß keine wissenschaft-
liche Konzeption vollständig übernommen wurde, weder die der Posi-
tiven Strafrechtsschule noch die der Besserungsschule. Diese war in
Spanien zu jener Zeit herrschend und wurde von einigen unserer
besten Strafrechtslehrer vertreten, wie z. B. Dorado Montero, Concep-
ci6n Arenal, Silvela, wirkte sich aber nur zögernd auf das Strafvoll-
zugsrecht aus. Schließlich ist auch der Umstand bedeutsam gewesen,
daß gewisse Strafvorschriften, die den Zweck verfolgten, schwerwie-
gende und weit verbreitete Erscheinungsformen der gemeinen Krimi-
nalität oder bestimmte politisch oder sozial motivierte Straftaten zu
bekämpfen, in Spezialgesetzen Aufnahme fanden, weil sie in den
Kodifikationen vor 1944 nicht geregelt worden waren, Spezial gesetze,
in--denen--gleichzeitig auch die Postulate der modernen Richtung oder
kriminal politischen Bewegung verwirklicht werden konnten. Die wich-
tigsten von ihnen waren: Das Gesetz vom 27. März 1908, das die be-
dingte Verurteilung einführte; das Gesetz vom 25. Juli 1914, das die
bedingte Entlassung regelte; die. Gesetze vom 2. August und vom
25. November 1918, die erstmals spezielle Jugendgerichte vorsahen. Die
Sicherungsmaßnahmen, eine der bedeutendsten Neuerungen dieser
Richtung, die auf grund des Einflusses der schweizerischen Entwürfe
von Stooss in zahlreiche Gesetzbücher übernommen wurden, fanden
in den entsprechenden spanischen Gesetzen, mit Ausnahme des Ge-
setzbuches von 1928, keine Aufnahme. Dank des Einflusses von Jimenez
deArua und von Ruiz Funes wurden jedoch Maßregeln der Sicherung
vor und nach dem Delikt, die in sozialer Hinsicht gefährliche Personen
treffen sollten, im Gesetz vom 4. August 1933, das den Namen "Gesetz
über Landstreicher und Vagabunden" erhielt, vorgesehen, und dieses

a Barbero Santos, Vorwort in La reforma penal: cuatro cuestiones funda-


mentales, 1982, S. 9.
Die Strafrechts reform der spanischen Monarchie 895

Gesetz blieb nach 1970, ohne wesentliche Änderungen, mit Ausnahme


des Namens, als Gesetz über Gefährlichkeit und Resozialisierung be-
stehen. Trotzdem waren sich sowohl die Kommentatoren als auch der
Gesetzgeber immer der Notwendigkeit bewußt, daß ein zeitgemäßes,
der Epoche angepaßtes Strafgesetzbuch geschaffen werden sollte. Be-
sonders seit 1970 erwies sich die Einführung eines neuen Gesetzbuchs
als unaufschiebbar.
Die an dem alten Strafgesetz im Laufe der Zeit, insbesondere wäh-
rend der langen Herrschaft Francos, vorgenommenen Änderungen hat-
ten dieses Werk immer mehr von den Auffassungen und Bedürfnissen
der spanischen Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts, in der es
Anwendung finden sollte, entfernt. Auch der Eklektizismus und der
Mangel an Einheitlichkeit, der den so charakterisierten Gesetzeswer-
ken eine lange Lebensdauer zu geben pflegt und der als Grundlage
der Theorie der Strafe immer noch in dem Gesetzbuch von 1932 auf-
taucht, dort allerdings gemildert durch Zugeständnisse an humanitäre
Bestrebungen, verschwand erst in dem Gesetzbuch von 1944 und in
den späteren Neufassungen, die das Hauptgewicht auf den Grundsatz
der allgemeinen Abschreckung legten.
In den Jahren 1970 bis 1975 trat die Notwendigkeit eines grund-
legend neuen Strafgesetzbuches klar zu Tage. Andererseits jedoch lag
es auf der Hand, daß die erforderlichen sozialpolitischen Vorausset-
zungen für die erfolgreiche Durchführung eines solchen Unternehmens
noch nicht gegeben waren. Ich habe auf diese Tatsache in einem Refe-
rat ausdrücklich hingewiesen, das ich anläßlich der 2. Tagung der spa-
nischen Strafrechtslehrer hielt, die vom 29. - 30. Mai 1974 in Barcelona
stattfand'.
Während der Jahre bis zum 20. November 1975, dem Todestag Fran-
cisco Francos, erwies sich die dringende Erneuerung der spanischen
Strafrechtsordnung nicht nur als undurchführbar, sondern es trat dar-
über hinaus ein gewisser Asynchronismus zutage, insbesondere ein
Mangel an übereinstimmung zwischen dem Strafrecht, das Höhepunkte
einer repressiven Leidenschaft erreichte - man braucht sich nur an
die Tatsache zu erinnern, daß im September 1975 an demselben Tage fünf
Personen an verschiedenen Orten des Landes erschossen wurden, als
ob damit allen diese Erschießungen nachdrücklich vor Augen geführt
werden sollten - und einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft
wie der spanischen, die sich danach sehnte, in den Genuß der grund-
legenden politischen Freiheiten und einer besseren sozialen Justiz zu
gelangen.
, Barbero Santos, Postulats politico-criminels du systeme repressif espa-
gnol en vigeur: propositions pour une reforme, Revue de science criminelle
et de droit penal compare. 1975. S. 633 ff.
896 Marino Barbero Santos

Franeo war zweifellos die persönliche Verkörperung der Gewalt;


aus diesem Grunde war es nur natürlich, daß unmittelbar nach seinem
Tode die angeblichen theoretischen Grundlagen seiner Bewegung und
der von ihm geschaffenen Institutionen zusammenbrachen.
Auf strafrechtlichem Gebiet spiegelte sich die Nachfolge von Juan
Carlos I. in der Leitung der Staatsgeschäfte in dem am 25. November
1975 - bereits 5 Tage nach dem Tode Franeos - erfolgten Erlaß einer
allgemeinen Amnestie wider. Langsam begann damit der langwierige
Weg der Anpassung einer übermäßig repressiven und veralteten Straf-
rechtsordnung an die Erfordernisse einer Gesellschaft in der gegen-
wärtigen historischen Lage. Nachstehend nenne ich einige der wich-
tigsten Erscheinungsformen: die Gesetzesverordnung vom 19. Februar
1976, die die Verordnung über die Bekämpfung des Terrorismus vom
26. August 1975 abänderte; das Gesetz vom 19. Juli 1976 'über die Ände-
rung bestimmter Vorschriften des Strafgesetzbuchs über das Vereins-
und Versammlungsrecht, das Recht zur freien Meinungsäußerung und
die Freiheit der Arbeit; das Abkommen zwischen Spanien und dem
Heiligen Stuhl vom 28. Juli 1976, das die kirchliche Gerichtsbarkeit in
Spanien beseitigte; die Gesetzesverordnung über eine Amnestie vom
30. Juli 1976, in der eine großzügigere Haltung sowohl gegenüber den
im Strafgesetzbuch und in den strafrechtlichen Sondergesetzen vor-
gesehenen Verbrechen als auch denen des Militärstrafgesetzbuchs her-
vortrat; die Königliche Gesetzesverordnung vom 4. Januar 1977 über
die Aufhebung der Gerichte und Gerichtshöfe in politischen Straf-
sachen, die einen der bedeutendsten Schritte zur Wiederherstellung des
Rechtsstaates darstellte, weil diese Gerichte für die Aburteilung von
Sfraftaten zuständig waren, die auf einen Umsturz der grundlegenden
Prinzipien des Staates, d. h. also des damaligen Regimes abzielten, und
weil die Ernennung, Amtsenthebung und Entlassung der Richter durch
die Regierung erfolgte, was im Widerspruch zu dem Grundsatz der
Unabsetzbarkeit der Richter stand und ihre Unabhängigkeit in Frage
stellte. In demselben Sinne wirkte auch eine weitere Königliche Geset-
zesverordnung von demselben Tage, die von einigen Ausnahmen ab-
gesehen, die Zuständigkeit der Militärgerichtsbarkeit auf dem Ge-
biet des Terrorismus aufhob. Am folgenden Tage, also am 5. Januar,
trat eine Königliche Gesetzesverordnung vom 23. Dezember 1976 in
Kraft, die alle Wehrpflichtigen, die sich "aus Gewissensbedenken reli-
giöser Art" dem Wehrdienst widersetzten und für eine Ableistung
persönlicher Dienste bei Arbeiten im Interesse der Allgemeinheit ein-
traten, vom Wehrdienst befreite. Am 25. desselben Monats wurde fer-
ner eine der schlimmsten Anomalien der alten Rechtsordnung aufge-
hoben, die durch die sog. "subsidiäre persönliche Verantwortung" den
staatlichen Behörden die Möglichkeit bot, Freiheitsstrafen bis zu drei
Die Strafrechtsreform der spanischen Monarchie 897

Monaten wegen Nichtbezahlung einer durch Verwaltungsakt auferleg-


ten Geldbuße zu verhängen. Die Freiheitsstrafe wurde bereits voll-
streckt, wenn der Betroffene den schwierigen Nachweis nicht erbrachte,
daß er unmittelbar bezahlt hatte, oder wenn ihm die Verwaltungs-
behörde die Bezahlung verbot, weil - nach ihrer Auffassung - sein
Verhalten eine offenkundige Bedrohung für das soziale Zusammen-
leben darstelle.
Die Reformen überstürzten sich: am 1. April 1977 führte ein neues
Gesetz nach langen Jahren wieder das Recht zur Bildung von Gewerk-
schaften ein, und eine Königliche Gesetzesverordnung vom gleichen
Tage setzte die Mehrzahl der früher geltenden Beschränkungen des
Rechtes der freien Meinungsäußerung außer Kraft, während durch
eine weitere Verordnung des gleichen Tages die Parteizentrale der
Nationalen Bewegung aufgelöst wurde, d. h. das Machtzentrum der
Partei, die vierzig Jahre lang als einzige bestanden hatte. Acht Tage
später, am 9. April, wurde die Kommunistische Partei Spaniens erneut
für gesetzmäßig erklärt.
Es lag auf der Hand, daß auch das eiserne Gerüst, auf das sich die
bisherige politische Struktur des Landes stützte, die mit großer Sorg-
falt von dem früheren Regime aufgebaut worden war, rasch zusam-
menstürzte, allerdings mit einem beachtlichen Unterschied gegenüber
den Ereignissen, die am Ende so vieler anderer Diktaturen eintraten:
Der Abbau erfolgte nämlich vom Inneren des Systems aus, da der
Übergang zur Demokratie, wie bekannt, nicht in Form einer Revolu-
tion und auch nicht als Folge eines verlorenen Krieges erfolgte, son-
dern als eine in jeder Hinsicht friedliche Änderung der politischen
Verhältnisse. Der Umschwung erreichte seinen Höhepunkt am 15. Juni
1977 in den freien Wahlen, aufgrund deren Legislative und Exekutive,
die von dem Willen des aus dem Bürgerkrieg als Sieger hervorgegan-
genen Mannes getragen waren, durch eine Regierung und zwei Kam-
mern ersetzt wurden, die sich einzig und allein auf die legitime Souve-
ränität des Volkswillens gründeten. Von diesem Augenblick an erwies
sich die Aufgabe der Vorbereitung einer seit langem erwarteten und
bereits vor langer Zeit angekündigten umfassenden Strafrechtsreform
in Übereinstimmung mit der sozialpolitischen Wirklichkeit des spani-
schen Volkes als dringende Notwendigkeit.
Seitdem die Freiheit im Lande zu dämmern begonnen hatte, war
es mein Wunsch und der meiner Kollegen des Vorstandes der Inter-
nationalen Strafrechtsvereinigung, in Spanien eine regionale Tagung
zu veranstalten. Die Gelegenheit hierfür war günstig, und das hierbei
zu behandelnde Thema bot sich praktisch gesehen von selbst an, da es
unerläßlich erschien, eine weitgehende Strafrechtsreform durchzufüh-
ren: Kriminalpolitik und Strafrecht.

57 Festschrift für H.-H. Jescheck


898 Marino Barbero Santos

Der Einladung folgten zahlreiche hervorragende europäische und


amerikanische Strafrechtler. Die Referate, die ein umfangreiches wis-
senschaftliches Material für die notwendige Forschungsarbeit bei der
Vorbereitung der Reform enthalten, erschienen in einer der Nummern
der "Revue Internationale de Droit Penal", der einzigen, die bisher
auf Spanisch veröffentlicht wurde'.
In einem auf dieser Tagung gehaltenen Referat erörterte ich die
Voraussetzungen, die nach meiner Auffassung für eine zeitgemäße
Strafrechtsreform erforderlich waren. Es waren die folgenden:
1. Das neue Strafrecht sollte von dem Dogma der Handlung aus-
gehen. Lediglich die Begehung einer strafbaren Handlung, in Form
eines Versuches oder einer vollendeten Tat, sollte die Voraussetzung
für die Auferlegung einer Sanktion bilden, entweder als Strafe oder
aber als Sicherungsmaßnahme. Aus diesem Grunde sollten die nur der
Vorbereitung dienenden Handlungen und die Fälle der Gefährlichkeit
ante delictum keine strafrechtliche Bedeutung mehr besitzen, da dies
im Widerspruch zu dem Grundsatz der Legalität stehen würde.
2. Das zukünftige Strafrecht sollte ausnahmslos vom Schuldprin-
zip beherrscht sein: mit anderen Worten, nur eine vorsätzlich oder
fahrlässig begangene Handlung sollte zu einer strafrechtlichen Ver-
antwortung führen.
3. Die Vergeltung der schuldhaft begangenen Handlung setzt eine
von der Gerechtigkeit geforderte Verhältnismäßigkeit der staatlichen
Reaktion voraus. Die Verhältnismäßigkeit sollte die Grundlage und
Grenze für die Strafe bilden, deren Hauptzweck die Sozialisierung des
Täters darstellt.
4. Das zu schaffende Strafrecht sollte sich im engsten Sinne des Be-
griffes auf dem Prinzip der Legalität aufbauen, und zwar nicht nur
hinsichtlich der Bestimmung der Delikte, der Strafen und der Voll-
streckung derselben, sondern auch bezüglich der zuständigen Gerichts-
barkeit und ihrer Akte, die keine anderen sein können als diejenigen,
die sich aus der Doktrin des gesetzlichen Richters ableiten. Dies führt
als notwendige Folge zur Anerkennung der Einheit der Gerichtsbar-
keit, was die weitere Forderung auslöst, daß die ordentlichen Gerichte
in vollem Umfange die Rechtspflege übernehmen sollen. Der Zustän-
digkeitsbereich der kirchlichen Gerichtsbarkeit und vor allem der der
Militärgerichtsbarkeit sollte auf diejenigen Gebiete beschränkt wer-
den, die für diese charakteristisch sind, wobei insbesondere die Militär-

6 Vgl. Revue Internationale de Droit Penal, 1978, I (49), S. 1 - 400 LV. Die
Tagung fand vom 19. - 23. Oktober 1977 in Madrid und Plasencia statt. Jose
Ant6n Oneca: Ehrenpräsident, Hans-Heinrich Jescheck: Präsident, Marino
Barbero Santos: Präsident des Organisationsausschusses.
Die Strafrechtsreform der spanischen Monarchie 899

gerichtsbarkeit lediglich zur Entscheidung über die rein militärischen,


von Soldaten begangenen Delikte berufen sein sollte. Ferner sollten
auch andere Sondergerichtsbarkeiten umgebildet oder aufgehoben wer-
den, wie z. B. die der Handelsmarine, die Gerichtsbarkeit in Zollstraf-
sachen, die Jugendgerichtsbarkeit usw., unter gleichzeitiger Beseitigung
der strafrechtlichen Befugnisse der Exekutive, von denen diese bisher
weitgehend Gebrauch gemacht hat.
5. In dem neuen Strafrecht sollte kein Raum mehr sein für alle un-
menschlichen Mittel der Bestrafung, wie z. B. die Todesstrafe oder
Freiheitsstrafen von mehr als 12 -15 Jahren. Von besonderen, im Ein-
zelfalle zu bestimmenden Ausnahmen abgesehen, sollte auch von der
Verhängung von Strafen mit einer Dauer von weniger als einem Jahr
Abstand genommen werden. Schließlich sollte hinsichtlich der Geld-
strafen das System der Tagessätze eingeführt werden.
6. Das zukünftige Strafrecht sollte darauf verzichten, sich in ein
Instrument zum Zwecke der Durchsetzung von politischen Ideologien
oder moralischen Konzepten zu verwandeln, die eine pluralistische
Organisation der Gesellschaft verhindern. Es sollte besonderes Gewicht
darauf gelegt werden zu vermeiden, daß die Gesetze des Staates selbst
als Faktoren wirken, die zur Vermehrung der Straftaten gegen den
Staat beitragen, was dadurch erreicht werden sollte, daß die grund-
legenden Menschenrechte in vollem Umfange anerkannt werden. Dies
allein genügt jedoch nicht: es sollte ferner eine weitgehende Vermin-
derung der Straftatbestände und der Schwere der Strafdrohungen
angestrebt werden, in erster Linie auf dem Gebiet der Moral, da
diese - ebenso wie viele andere Rechtsgüter - einen weit besseren
Schutz auf andere Weise finden kann als durch Strafvorschriften.
Nicht alles, was sittenwidrig ist, muß schon deshalb mit einer Strafe
belegt werden, und die Tatsache, daß eine Handlung besonders sitten-
widrig ist, darf kein Anlaß dafür sein, daß aus diesem Grunde eine
schwerere Strafe verhängt wird. Das Strafrecht soll nur dann Anwen-
dung finden, wenn die sittenwidrige Handlung eine Verletzung oder
Gefährdung bestimmter Güter oder Interessen darstellt und dadurch
das geordnete soziale Zusammenleben in Mitleidenschaft zieht, z. B.
wenn eine Notzucht begangen wird, aber nicht schon dann, wenn es
lediglich um eine im Widerspruch zur Moral stehende Tat ohne Be-
deutung für die Gemeinschaft geht, z. B. um unzüchtige Handlungen
wie die Aufnahme von geschlechtlichen Beziehungen ohne Gewalt-
anwendung zu Mädchen im Alter von 16 bis 18 Jahren. Wenn man
nicht vom Standpunkt der Moral, sondern vom Standpunkt des Rechtes
aus den Versuch unternehmen wollte, mittels der Strafe die indivi-
duelle Tugend zu fördern, würde man vom Recht etwas fordern, was
außerhalb seiner Möglichkeiten liegt. Eheliche Liebe und Treue stel-

57·
900 Marino Barbero Santos

len z. B. eine wichtige ethische Pflicht dar, aber wenn man den Ehe-
bruch oder das Konkubinat unter Strafe stellt, wird weder die Liebe
unter den Ehegatten erhöht und aufrechterhalten noch sichergestellt,
daß sie gegenseitig die eheliche Treuepflicht erfüllen. Aus diesem
Grunde kam ich zu der Schlußfolgerung, daß sowohl der Ehebruch als
auch das Konkubinat nicht mehr länger Deliktstatbestände bilden
sollten und daß auch die Unzucht und die Entführung ebenso wie die
Abtreibung Straftatbestände darstellten, die dringend einer Neufas-
sung bedürften.
7. Das neue Strafrecht sollte Interessen schützen, die den tatsäch-
lichen Bedürfnissen weiter Schichten der Bevölkerung entsprechen; die
Verletzung dieser Interessen ist heute kein Deliktstatbestand, weil es
die herrschenden sozial-wirtschaftlichen Mächte verhindern, z. B. alle
umweltfeindlichen Handlungen, die Zerstörung des ländlichen oder
städtischen Landschaftsbildes, Eingriffe der Regierungsstellen in das
private, intime Leben des Bürgers (durch Abhören von Telefongesprä-
chen, Kontrolle des Briefverkehrs, Aufstellung von Mikrophonen),
Bodenspekulation ete. Abschließend gab ich meiner Auffassung dahin
Ausdruck, daß die Strafrechtsreform die Lösungen und Vorschläge der
Dogmatik für die Gestaltung des geltenden positiven Rechts berück-
sichtigen und von einer weitgehenden Reform der Strafvollzugsord-
nung begleitet sein sollte, da die zur Zeit geltende Ordnung nicht aus-
reichte, um die gegenwärtigen wissenschaftlichen und sozialpolitischen
Mindesterfordernisse zu erfüllen.

Angesichts der im Jahre 1977 bestehenden Lage hätte dieses Pro-


gram~;-das vielleicht als das am eingehendsten ausgearbeitete und
am besten abgestimmte Reformkonzept angesehen werden kann, das
von der spanischen Strafrechtswissenschaft in der kritischen Periode
des übergangs zur Demokratie angeboten wurde, zu Recht als utopisch
bezeichnet werden können. Sieben Jahre später, in dem Augenblick
der Ausarbeitung dieses Artikels, sind praktisch bereits alle jene Vor-
schläge positiv geltendes Recht oder wurden doch wenigstens in den
Entwurf eines Strafgesetzbuches vom 17. Januar 1980 aufgenommen,
der zu der bedeutsamen Reform vom 25. Juni 1983 geführt hat. Ferner
finden wir diese Vorschläge auch in dem Vorentwurf für ein Straf-
gesetzbuch des Justizministeriums, der Ende 1983 vorgelegt wurde.
Durch diese Reformen und Entwürfe wurde der spanischen Straf-
gesetzgebung (de lege lata wie de lege ferenda) ein modernes und fort-
schrittliches Gesicht gegeben, das besser zu der gegenwärtigen Epoche
und zu den Bestrebungen einer demokratischen Gesellschaft paßt als

8 Barbera Santos, La reforma penal espafiola en la transici6n a la demo-


cracia, Rev. Intern. de Droit Pena11978, S. 57 ff.
Die Strafrechtsreform der spanischen Monarchie 901

das alte Recht. Auf der anderen Seite kann die Beurteilung dieser
Reformen keinesfalls in jeder Hinsicht positiv ausfallen, da in der
späteren Entwicklung mehr als eine gesetzliche Bestimmung als rück-
schrittlich angesehen werden muß.
Die programmatischen Linien der vom Justizministerium beabsich-
tigten Strafrechtsreform - die als der Reformentwurf der ersten
demokratischen spanischen Regierung seit 40 Jahren zu gelten hat -
wurden in Plasencia am 22. Oktober 1977 durch den Justizminister
selbst in der Schlußansprache auf der bereits oben erwähnten ersten
Regionalen Tagung der Internationalen Strafrechtsvereinigung ange-
kündige.
Nach seinen Ausführungen sollte hierbei auf zwei verschiedenen
Ebenen vorgegangen werden: einmal sollte eine dringende Teilreform
als Fortsetzung der seit dem Tode des früheren Staatschefs am 20. No-
vember 1975 eingeleiteten Reform stattfinden - die wir bereits in gro-
ßen Zügen dargestellt haben -, zum anderen sollte danach eine tief-
gehende Gesamtreform des Systems eingeleitet werden, die nicht nur
die neue politische Ordnung, sondern auch die gegenwärtig von der
Strafrechtsdogmatik, Kriminologie und Strafvollzugswissenschaft er-
reichten Fortschritte berücksichtigen würde. Die Gesamtreform, die in
den Rahmen der zukünftigen Verfassung eingegliedert werden sollte,
erforderte nach Auffassung des Ministers eine umfassende Vorberei-
tung, die die Zusammenarbeit aller an der Strafrechtspflege interes-
sierten Stellen notwendig machen würde, sowie weitreichende, von
Sachverständigen durchzuführende Forschungen auf dem Gebiet der
verschiedenen Wissenschaften, die sich mit Verbrechen und Strafe
beschäftigen.
Es darf hier vorausgeschickt werden, daß - nach den Worten des
Ministers - auf keiner der beiden Ebenen dieses weitreichende Pro-
gramm in vollem Umfange erfüllt worden ist.
Die notwendigerweise sehr komplexe Forschungsarbeit vor der Ge-
samtreform ist nicht organisch aufgebaut worden. Die Ausschüsse
bestanden aus einer sehr beschränkten Zahl von Mitgliedern, die über
eine noch mehr eingeschränkte Zeit zur Durchführung ihrer weitrei-
chenden Aufgaben verfügten. Die Arbeit konnte nicht mit der erfor-
derlichen Ruhe und Gelassenheit geleistet werden. Die Strafrechtler
(Universitätsprofessoren, Rechtsanwälte, Richter, Staatsanwälte usw.)
erhielten erst Kenntnis von dieser Arbeit, als sie bereits be endet war
und der Entwurf eines Strafgesetzbuches von 1980 bzw. der Vorent-
wurf eines neuen Strafgesetzbuches von 1983 fertig vorlagen, nicht
jedoch von den Maßnahmen und Schritten, die zum Zwecke der Aus-

7 Lavilla Alsina, Rev. Intern. de Droit Penal 1978, S. XLI.


902 Marino Barbero Santos

arbeitung dieser Entwürfe unternommen wurden. Weder wurden die


Protokolle der Sitzungen veröffentlicht noch wurde vorher eine rechts-
vergleichende Untersuchung der schwierigsten Probleme durchgeführt,
die für die Gemeinschaft heute von besonderer Bedeutung sind8•
Was die dringend durchzuführenden Teilreformen anbelangt, muß
folgende Unterscheidung gemacht werden: Die Mehrzahl der bis zur
Verkündung der Verfassung am 27. Dezember 1978 durchgeführten
Reformen kann günstig beurteilt werden, die danach unternommenen
Reformen verdienen jedoch nicht alle dieses Lob.
Von den an erster Stelle genannten Reformen ist das Gesetz vom
26. Mai 1978 zu erwähnen, das die Delikte des Ehebruches und des
Konkubinats aufhob, ferner das Gesetz vom 17. Juli, das den Tatbestand
der Folterung festlegte, weiter zwei Gesetze vom 7. Oktober des glei-
chen Jahres, von denen das eine den Gebrauch von empfängnisver-
hütenden Mitteln und die Werbung für diese für straflos erklärte,
während das andere die Delikte der Unzucht und der Entführung auf-
hob. Diese Handlungen sind nur noch strafbar, wenn der Beischlaf mit
einer Frau unter 18 Jahren erfolgt und dabei ein Abhängigkeitsver-
hältnis ausgenutzt wird (12 bis 18 Jahre) oder betrügerische Mittel
angewendet werden (12 bis 16 Jahre).
Dagegen verdient die Königliche Gesetzesverordnung vom 26. Januar
1979 betreffend den Schutz der Sicherheit der Gemeinschaft eine durch-
aus kritische Betrachtung, da sie als verfassungswidrig anzusehen ist,
weil sie aufgrund einer Verordnung und nicht durch Gesetz erlassen
wurde, wie es der Artikel 86 der Verfassung fordert, sofern die im
Abschnitt II geregelten "Rechte, Pflichten und Freiheiten der Bürger
berührt werden". Unter Strafe gestellt wurde durch dieses Gesetz die
öffentliche Aufforderung zum Terrorismus und die Tätigkeit der sog.
Informationskomitees. Verfassungsrechtliche Bedenken richten sich
auch gegen das Gesetz vom 1. Dezember 1980, das neben anderen Be-
schränkungen der Grundrechte Hausdurchsuchungen ohne richterliche

8 Ich habe versucht, dieses Versäumnis durch die Veranstaltung der 11. fran-
zösisch-portugiesisch-italienisch-spanischen Tagung über Strafrecht wieder-
gutzumachen, die im Jahre 1980 in Avila und Alcala de Henares stattfand
und sich mit der Abtreibung und der strafrechtlichen Verantwortlichkeit
ohne Verschulden befaßte; ferner auch durch zwei deutsch-spanische Tagun-
gen über die Strafrechtsreform. Die erste dieser Tagungen, die im Jahre 1982
in Madrid stattfand, befaßte sich ebenfalls mit der Abtreibung, ferner mit Dro-
gensucht, Einrichtung von Strafvollzugsanstalten und den sozialökonomi-
schen Delikten, während die zweite Tagung in Madrid ebenfalls ausschließ-
lich der Analyse der Wirtschaftsdelikte gewidmet war. Siehe 11. fran-
zösisch-portugiesisch-italienisch-spanische Tagung über Strafrecht: Interrup-
ci6n voluntaria deI embarazo. Responsabilidad penal objetiva, Avila, 1981,
239 Seiten; Barbero Santos u. a., La reforma penal: Cuatro cuestiones funda-
mentales, 1982, 183 Seiten.
Die Strafrechtsreform der spanischen Monarchie 903

Anordnung und telefonische oder postalische überwachung von Per-


sonen gestattet, die aller Wahrscheinlichkeit nach Mitglieder oder
Sympathisanten von terroristischen Vereinigungen oder von bewaff-
neten Banden sind, die die Sicherheit der Bürger schwer gefährden.
Verfassungsrechtlich zweifelhaft ist schließlich das Gesetz vom 4. März
1981 über die Verteidigung der Demokratie. Danach kann der Richter
von Amts wegen oder auf bindenden Antrag der Staatsanwaltschaft
die vorläufige Schließung von Druckereien und auch die Beschlag-
nahme von Veröffentlichungen anordnen, wenn aller Voraussicht nach
zu einem Staatsstreich oder zum Terrorismus angestiftet oder öffent-
lich aufgefordert wird. Da es sich wegen der Unterstellung der Staats-
anwaltschaft unter die Regierung letztlich um eine Beschlagnahme der
zur Veröffentlichung bestimmten Erzeugnisse durch die Regierung han-
delt, steht diese im Widerspruch zu der Bestimmung des Artikels 20,5
der Verfassung, die diese Befugnis den Gerichten vorbehält. Eine
wesentliche Herabsetzung der Strafe für den "reuigen Täter, der sich
zur Mitarbeit zum Zwecke der Minderung der Auswirkungen dieser
Straftaten bereit erklärt", ist ebenfalls vorgesehen.
Um das Bild abzurunden, ist noch auf folgendes hinzuweisen:
1. In der Verfassung selbst, deren Bestimmungen unmittelbar durch
die Gerichte angewendet werden müssen, finden sich verschiedene be-
deutsame Vorschriften strafrechtlichen Charakters. Ich erwähne nur
einige von diesen: die Aufhebung der Todesstrafe, vorbehaltlich der
Bestimmungen der Militärgesetze im Kriegsfall (Artikel 15), die Aner-
kennung von Gewissensbedenken als Grund für die Befreiung vom
Wehrdienst (Artikel 30,2), die Beschränkung der Militärgerichtsbarkeit
auf das rein militärische Gebiet und auf den Fall der Erklärung des
Belagerungszustandes nach den Grundsätzen der Verfassung (Artikel
117,5), die ausdrückliche Anerkennung des Streikrechts (Artikel 28)
und des Rechts der Bildung von Gewerkschaften (Artikel 7; 28, 1 und
131,2), das Verbot der Auferlegung von Sanktionen durch die Verwal-
tungsbehörden, die zur Freiheitsentziehung führen (Artikel 23,2) usw.
2. Seit dem 25. Oktober 1979 ist ferner ein Allgemeines Strafvoll-
zugsgesetz in Kraft. Weiter sind im Militärstrafgesetzbuch wesentliche
Reformen durch das Gesetz vom 6. November 1980 eingeführt worden,
die zwar nicht alle als zweckmäßig anzusehen sind, auf die wir jedoch
hier aus Platzgründen nicht eingehen können.
3. Am 17. Januar 1980 wurde dem Parlament der Entwurf eines
Strafgesebbuches vorgelegt, der jedoch nicht beraten wurde. Aus die-
sem Entwurf stammen die wichtigsten Neuerungen des Reformgesetzes
vom 25. Juni 1983 und des Vorentwurfs für ein neues Strafgesetzbuch
vom Ende desselben Jahres. Der Entwurf von 1980 wurde im Amts-
904 Marino Barbero Santos

blatt der Cortes veröffentlicht; er sollte die weitestgehende Strafrechts-


reform darstellen, die in Spanien während eines Zeitraums von mehr
al einem Jahrhundert je durchgeführt wurde.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Verfasser des Entwurfes in
vielen Punkten, die sich vor allem auf den Allgemeinen Teil beziehen,
eine glückliche Hand gehabt haben. Dies gilt jedoch weniger für den
Besonderen Teil, auf den sich die Kritik der Rechtslehre konzentriert.
Naturgemäß sind die Verfasser von dem geltenden Gesetzbuch aus-
gegangen, sie ließen sich national ferner leiten von einer kriminal-
politischen Würdigung der spanischen Strafrechtslehre und folgten
international als Richtschnur der deutschen Reformbewegung, insbe-
sondere dem Alternativentwurf von 1966.
Das Ergebnis war ein außerordentlich umfangreiches, überladenes
Werk von 688 Artikeln, das in einer nicht sehr guten spanischen
Sprache abgefaßt ist und an zahlreichen Punkten den Voraussetzungen
untreu wird, von denen es nach den eigenen Angaben ausgehen wollte.
Trotz dieser Mängel übertrifft es an Wert nicht nur das zur Zeit gel-
tende Gesetzbuch, sondern gliedert sich aufgrund seiner zahlreichen
Neuerungen auch würdig in die Reihe der erst kürzlich veröffent-
lichten ausländischen Gesetzbücher oder Entwürfe ein. Obwohl es
nicht in allen Punkten vom Erfolg begleitet gewesen ist, liegt es doch
auf der fortschrittlichen Linie der gegenwärtigen internationalen Be-
wegung der Strafrechtsreform.
Was die Verbrechenslehre anbelangt, beziehen sich die wichtigsten
Neuerungen auf das Schuldprinzip, die Regelung des Irrtums, die Be-
scQ.ränkung der Bestrafung der fahrlässigen Delikte auf die ausdrück-
lich vorgesehenen Fälle, die Vollzugsgrundsätze usw. In Artikel 3 wird
der Schuldgrundsatz wie folgt verankert:
"Keine Strafe ohne Schuld. Wenn die Strafe von der Verursachung
eines späteren schwereren Erfolges abhängt, ist der Täter dafür nur
dann verantwortlich, wenn er diesen wenigstens fahrlässig verursacht
hat."
Hinsichtlich der Strafe verdienen die übernahme des Tagessatz-
systems für die Regelung der Geldstrafe sowie die Abschaffung der
kurzen Freiheitsstrafen besonders hervorgehoben zu werden (Mindest-
strafe 6 Monate).
Der Entwurf hat versucht, die Verhängung von Freiheitsstrafen auf
verschiedene Weise einzuschränken:
1. durch Anwendung von Wochenend arrest von mindestens einem
und höchstens 24 Wochenenden. Die Dauer des Wochenend arrests be-
trägt 36 Stunden, die Strafe wird in Einzelzellen vollzogen;
Die Strafrechtsreform der spanischen Monarchie 905

2. durch Aufschub des Urteils bei Erstverurteilten, Tätern von leich-


ten Delikten und Personen unter 21 Jahren. In diesen Fällen kann das
Gericht dem Angeklagten bestimmte Verhaltensmaßregeln, Aufgaben
und Pflichten auferlegen, was darauf abzielt, einen Rückfall zu ver-
meiden und die Wiedereingliederung des Täters in die Gesellschaft
zu erleichtern;
3. durch die Möglichkeit der Ersetzung der Gefängnisstrafe durch
Wochenendarrest oder Geldstrafe.
Die Höchstdauer der Freiheitsstrafe wird auf 20 Jahre festgesetzt
mit Ausnahme der Delikte des Terrorismus, bei denen die Höchststrafe
25 oder sogar 35 Jahre betragen kann (z. B. wenn durch die Tat der
Tod von mehreren Menschen verursacht wird).
Den Maßregeln der Sicherung ist ein ganzer Abschnitt, der VI., ge-
widmet. In Artikel 135 sind 19 Arten von Maßregeln der Sicherung
vorgesehen, zu denen in weiteren Artikeln sogar noch mehr Fälle
hinzutreten. Der Erfolg der gesamten Reform hängt im wesentlichen
von der Schaffung der vorgesehenen Institutionen ab. Die Regelung
geht von der Anerkennung des Grundsatzes der Legalität aus, der wie
folgt zum Ausdruck gebracht wird: Niemand kann Maßregeln der
Sicherung unterworfen werden, es sei denn, daß diese gesetzlich be-
stimmt sind, und nur unter den Voraussetzungen, die ausdrücklich im
Gesetz vorgesehen sind.
In diesen VI. Abschnitt wurden praktisch sämtliche Artikel ·auf-
genommen, die von dem Sonderausschuß zur Reform des Gesetzes
betreffend die Gefährlichkeit und Resozialisierung vorgeschlagen wor-
den waren, deren Vorsitz zu führen ich die Ehre hatte'. Unter den
Neuerungen, die in unseren Vorschlägen niedergelegt worden waren,
möchte ich die folgenden erwähnen:
Voraussetzung für die Maßregeln der Sicherung ist die Gefährlich-
keit des Täters, für die die folgende Begriffsbestimmung gewählt
wurde (Artikel 131): "Die in diesem Gesetzbuch und in anderen Straf-
gesetzen enthaltenen Maßregeln der Sicherung können nur gegen Täter
verhängt werden, die eine als Straftat vorgesehene Handlung began-
gen haben, wenn deren Begehung die kriminelle Gefährlichkeit des
Täters erkennen läßt."
Die Feststellung der Gefährlichkeit soll durch den Richter erfolgen,
der über die in Frage kommende Straftat zu entscheiden hat.
Die Maßregeln der Sicherung sollen in einem angemessenen Ver-
hältnis zu der sich aus der Täterhandlung ergebenden Gefährlichkeit

9 Barbero SantoslMorenilla Rodriguez, La ley de Peligrosidad y Rehabili-


taci6n Social, in: Marginaci6n social y Derecho represivo, 1980, S. 155 ff.
906 Marino Barbero Santos

und zu der Schwere der Taten stehen, die von dem Täter mit Wahr-
scheinlichkeit zu erwarten sind.
Wesentlich ist ferner die Anerkennung des Prinzips des geringst-
möglichen Eingriffs, der zur Verhinderung der Begehung von straf-
baren Handlungen unerläßlich ist, wie sich dies aus den grundlegen-
den Postulaten des Sozialstaates, der Demokratie und des Rechtsstaates
ergibt.
Die wichtigste Neuerung war jedoch nach meiner Auffassung die
Einführung des vikariierenden Systems, d. h. also der Möglichkeit der
Ersetzung der Strafe durch die Maßregel, eine der fortschrittlichen
Regelungen, die uns die Rechtsvergleichung gebracht hat und die eben-
falls von der unter meinem Vorsitz stehenden Kommission vorgeschla-
gen worden war.
In den Fällen beschränkter strafrechtlicher Verantwortlichkeit auf-
grund von Geisteskrankheit, Taubstummheit oder Vergiftungen aller
Art, soll das Gericht in der Lage sein, abgesehen von einer ermäßigten
Strafe die entsprechende Maßregel der Sicherung zu verhängen.
Im Falle der Anwendung einer Maßregel der Unterbringung in einer
Anstalt soll diese stets vor der Strafe vollzogen werden, wobei die
Zeit der Unterbringung als Vollzugszeit der Strafe gilt, vorbehaltlich
der Möglichkeit, daß das Gericht aus Gründen der Billigkeit die ge-
samte Strafzeit als verbüßt ansehen oder aber in Würdigung des Er-
folges die Dauer der Behandlung herabsetzen kann.
Mit anderen Worten, bei der Verhängung der Sanktion werden die
Postulate des dualistischen Systems angewandt, weil davon ausgegan-
genwIrd, daß diese besser als die des monistischen Systems den heute
vorherrschenden ethisch-juristischen Auffassungen und Begriffen ent-
sprechen, während hinsichtlich des Vollzugs vernünftigerweise die
monistische Lösung angebracht erscheint.
Im Besonderen Teil sind unter den Neuerungen, die auf rein tech-
nische Gründe zurückzuführen sind, die Reformen bei der Körper-
verletzung hervorzuheben.
Im Gegensatz zu dem gegenwärtigen, fast mittelalterlich anmuten-
den System der Fristen, ist in dem Entwurf nur noch eine einzige Frist
von acht Tagen vorgesehen: als Vergehen mittlerer Schwere gilt eine
Körperverletzung, für deren Heilung acht oder mehr Tage ärztlicher
Behandlung erforderlich sind, oder aber in den Fällen von Folterung
oder Mißhandlung, denen das Opfer ausgesetzt war, auch dann, wenn
eine kürzere Frist für die Heilung ausreicht. Andererseits werden in
jedem Falle als schwere Körperverletzungen alle diejenigen Fälle an-
gesehen, bei denen die Verletzung durch Waffen oder andere Gegen-
Die Strafrechtsreform der spanischen Monarchie 907

stände oder Mittel verursacht worden ist, die geeignet sind, der kör-
perlichen Unversehrtheit des Opfers schwere Schäden zuzufügen.
Was die Eigentumsdelikte anbelangt, haben die Verfasser des Ent-
wurfes lO den Versuch unternommen, die gegenwärtig vorhandene
außergewöhnliche Kasuistik zu beseitigen, und zwar, soweit möglich,
unter Verzicht auf die Wertgrenzen und durch Herabsetzung der Zahl
der vorgesehenen Straftatbestände.
Weitere Reformen gehen darauf zurück, daß die kriminalpolitischen
Kriterien geändert wurden, und zwar in einem doppelten Sinne: ein-
mal durch Neuinkriminierung, zum andern durch Entkriminalisierung
bestimmter Handlungen.
Die bedeutendste Neuerung auf dem Gebiet der Bestrafung neuer
Gruppen von Rechtsverletzungen ist im VIII. Abschnitt des 11. Buches
mit dem Titel "Verbrechen gegen die sozialökonomische Ordnung" ein-
geführt worden, wo zum ersten Male in unserem Lande die sog. "Kava-
liersdelikte" Aufnahme gefunden haben.
Hinsichtlich der Einführung neuer Fälle von Straflosigkeit bezieht
sich die vielleicht wichtigste Neuerung auf das Gebiet der Rauschgifte.
Der Ausschuß zur Reform des Gesetzes über Gefährlichkeit und soziale
Rehabilitation schlug vor, die Drogensucht aus der Liste der gefähr-
lichen Zustände zu streichen und in dem zukünftigen Strafgesetzbuch
den Besitz von Rauschgiften oder psychotropen Stoffen nur dann als
Straftat anzusehen, wenn es sich um Mengen handelt, die die für den
Eigengebrauch erlaubte minimale Menge übersteigenl l •
Die Verfasser des Entwurfs haben die Straflosigkeit des Besitzes
einer für den Eigengebrauch erlaubten geringen Menge nicht über-
nommen, sondern viel weitergehend den Besitz von Rauschgiften, un-
abhängig von der Menge, stets straflos gelassen, sofern das Rauschgift
nicht in den Verkehr gebracht werden soll. Die für das Grunddelikt
angedrohte Freiheitsstrafe wird wesentlich herabgesetzt und schwankt
zwischen drei und sechs Jahren, es sei denn, daß das Rauschgift an
Personen von weniger als 18 Jahren vertrieben wird. Was jedoch be-
sonders unterstrichen zu werden verdient, weil die Rechtsvergleichung
nur wenige Beispiele dafür kennt, ist, daß der Verkehr mit und der
Vertrieb von "weichen" Drogen praktisch für straflos erklärt wird,
weil zwischen Mitteln unterschieden wird, die schwere Schäden für

10 Die Professoren Gimbernat und Rodrfguez Mourullo (Präsident) und die


Richter Concle Pumpido und Diaz Palos.
11 Barbero SantoslMoreniZZa ROdrfguez (Anm. 9), S. 163 - 164; Barbero San-
tos,Los marginados ante la ley penal (La ley de Peligrosidad y Rehabilita-
ci6n social de lege ferenda), in: Libro homenaje al profesor Ant6n Oneca,
1982, S. 52.
908 Marino Barbero Santos

die Gesundheit verursachen, und solchen, bei denen dies nicht der Fall
ist. Bei den "weichen" Drogen kann die vorgesehene Strafe als eine
rein symbolische angesehen werden: Wochenendarrest während 8 bis
14 Wochenenden oder Geldstrafe von 6 bis 12 Monatssätzen.
Am 25. Juni 1983 änderte ein Gesetz über dringende Teilreformen
das Strafgesetzbuch wesentlich ab. Wie bereits erwähnt, stammt der
größte Teil der Neuerungen aus dem Entwurf von 1980; der Gesetz-
geber hat freilich bei ihrer Eingliederung in das Strafgesetzbuch nicht
immer eine glückliche Hand gehabt.
Nach der Gesetzesbegründung beruht die Reform auf dem Erforder-
nis der Inangriffnahme einer Reihe von Problemen, die bei der An-
wendung unseres Strafrechts und Strafvollzugsrechts aufgetreten sind
und deren Bedeutung so groß erschien, daß ihre Lösung nicht mehr
länger aufgeschoben werden konnte. Mit dazu beigetragen hat ferner
die Notwendigkeit, die dringlichsten Forderungen eines an den Rechts-
staat angepaßten Strafrechts zu erfüllen, das sich auf das Schuldprin-
zip und den Grundsatz der Beschränkung der strafrechtlichen Reak-
tion auf sozialschädliche Handlungen gründet.
Dies hat im Allgemeinen Teil, wie es in der Gesetzesbegründung
heißt, zu wichtigen Folgerungen geführt: so zur Beseitigung der Fälle
einer Haftung ohne Verschulden, zur Anerkennung des Vorsatzes und
der Fahrlässigkeit als tragenden Fundamenten der strafrechtlichen
Verantwortlichkeit und zum ersten Mal zur Regelung des - vermeid-
baren oder unvermeidbaren - Irrtums über wesentliche, zum gesetz-
lichen Tatbestand gehörende Merkmale sowie zur Regelung des Irr-
tums über die Rechtmäßigkeit der Tat;
Im Besonderen Teil ist innerhalb der Gruppe der Körperverletzun-
gen die Regelung hervorzuheben, die dem freien und ausdrücklich
erklärten Einverständnis Wirksamkeit zuerkennt, um die strafrecht-
liche Verantwortlichkeit in Fällen der Verpflanzung von Organen, der
Sterilisierung und der geschlechtsumwandelnden Eingriffe zu besei-
tigen, sofern diese Eingriffe in übereinstimmung mit dem Gesetz durch
einen Arzt vorgenommen werden und die Einwilligung nicht durch eine
Geldleistung oder sonstige Vergütung erkauft wird.
Bei den Delikten gegen das Eigentum sind tiefgehende Veränderun-
gen vorgenommen worden. Im Rahmen des Möglichen wird von dem
rein zahlenmäßigen Abgrenzungssystem Abstand genommen, lediglich
wird ein Schadensbetrag von 30 000,- Peseten als Grenze zwischen
einer übertretung und einem Vergehen angenommen. Der Diebstahl
wird auf das eigentliche, von der Rechtslehre als Diebstahl bezeichnete
Delikt beschränkt (hurto propio). Es wird eine allgemeine Begriffs-
Die Strafrechtsreform der spanischen Monarchie 909

bestimmung des Betrugs eingeführt, die genau mit derjenigen über-


einstimmt, die Ant6n Oneca in seiner ausgezeichneten Untersuchung
zu diesem Thema1! vorgeschlagen hatte, wodurch die gegenwärtige
Kasuistik beseitigt wird, usw. Die Umwelt wird nunmehr auch straf-
rechtlich geschützt. Ferner wird zum ersten Mal auf strafrechtlichem
Gebiet eine Unterscheidung zwischen harten und weichen Drogen ein-
geführt, da der Gesetzgeber die Rauschgifte, die schwere Gesundheits-
schäden hervorrufen, von denjenigen trennt, bei denen dies nicht der
Fall ist. Der bloße Besitz von weichen Drogen bleibt straflos, unab-
hängig von der in Frage stehenden Menge, es sei denn, daß sie in den
Verkehr gebracht werden sollen. Bei den Sittlichkeitsdelikten führt
die Verzeihung der angegriffenen Person zum Erlöschen des Straf-
anspruchs, sofern Verzeihung gewährt wird, bevor das Urteil erster
Instanz ergangen ist. Jedoch ist die Verzeihung bei Notzucht immer
ohne rechtliche Folgen.
Seit der Wiederherstellung der Demokratie kann das Gesetz vom
25. Juni 1983 als die bedeutendste Reform des gegenwärtig in Kraft
befindlichen Strafgesetzbuches angesehen werden. Für Quintero Oli-
vares stellt sie nicht eine bloße Etappe auf dem Wege zu einem zu-
künftigen Strafgesetzbuch dar, sondern ist als die "Ouvertüre" zu
einer neuen strafrechtlichen Gesetzgebung anzusehen, die bereits einige
ihrer richtungweisenden Themen ankündigt13. Wenn eine "Ouvertüre"
ein musikalisches Stück darstellt, mit dem ein bedeutendes Musikwerk
eingeleitet wird14, kann schon jetzt vorausgesagt werden, daß dieses
Werk - d. h. also hier das zukünftige Strafgesetzbuch - die Akkorde
besser harmonisieren muß, damit die schrillsten Mißtöne vermieden
werden, die ungewollt in das einleitende Stück eingeführt wurden,
da sonst der erhoffte Gleichklang zunichte gemacht werden könnte.
Vor allem sollte die schwerwiegende ideologische Belastung dema-
gogischen Charakters vermieden werden, die die letzte große Reform15
mit sich gebracht hatte. Diese ideologische Ausrichtung hat nicht nur
ohne jeden Zweifel schädliche Auswirkungen für die Gesetzestechnik
gehabt, sondern sie ist in erster Linie deshalb abzulehnen, weil ein
Strafgesetzbuch nicht bloß ein Erzeugnis der politischen Ideologie einer
Partei sein darf, die in dem Augenblick seiner Veröffentlichung am
Ruder ist. Ganz im Gegenteil sollte das Strafgesetzbuch in jeder Hin-

11 Ant6n Oneca, Las estafas y otros engafios, in: Nueva Enciclopedia Juri-
dica Seix, 1958 (VI), S. 56 ff.
13 Quintero Olivares, in: Quintero Olivares/Mufioz Conde: La reforma
penal de 1983, 1983, S.17.
14 Moliner, Diccionario de uso deI espafiol, 1981, 11, S. 538.
15 Sainz Cantero, Reflexi6n de urgencia sobre la reforma parcial y urgente
deI C6digo Penal, in: Estudios penales y criminol6gicos (VII), 1984, S.410.
910 Marino Barbero Santos

sicht ein nationales Werk von allen und für alle sein, das die vonein-
ander abweichenden Auffassungen einer pluralistischen Gesellschaft
berücksichtigt und auch zum Exponenten des gegenwärtig hohen
Niveaus der spanischen Strafrechtswissenschaft wird, sofern ein sol-
ches Werk während eines langen Zeitraumes das Zusammenleben in
der Gemeinschaft beherrschen soll.
Insgesamt betrachtet kann die Reform von 1983 als positiv gelten.
Dessen ungeachtet überwiegt jedoch nach unserer Auffassung die
"pars destruens" die "pars construens" .
In dem neuen Wortlaut des Artikel 1 wird als vielleicht wichtigste
Neuerung des Allgemeinen Teils der Satz verankert: Es gibt keine
Strafe ohne Vorsatz oder Fahrlässigkeit. In den Fällen, in denen die
Strafe von dem Eintritt einer schwereren Folge abhängt, tritt eine
strafrechtliche Verantwortung nur dann ein, wenn diese Folge wenig-
stens durch Fahrlässigkeit verursacht worden ist. Aus der Gesetzes-
begründung geht klar hervor, daß mit diesem Erfordernis die Verant-
wortung ohne Verschulden sowie auch alle ihre Erscheinungsformen
beseitigt werden sollten.
Ist dieses Ziel erreicht worden? Wir haben gewisse Zweifel. Zahl-
reich sind die Beispiele hierfür. In Artikel 501 wird als wichtigste
Neuerung des Besonderen Teils16 die Rechtsform des mehraktigen,
vorsätzlichen Raubmordes (Ziff. 1) und des fahrlässigen Raubmordes
geregelt ("wenn aus Anlaß oder bei Begehung eines Raubes eine fahr-
lässige Tötung verursacht wird") (Ziff.4). Hier taucht die Frage auf,
welche Strafe verhängt werden soll, wenn aus Anlaß oder bei Be-
gehung eines Raubes eine Körperverletzung mit Todesfolge verursacht
wird. Soll hier Fahrlässigkeit oder Vorsatz angenommen werden, ob-
gleich die Voraussetzungen hierfür in keinem der beiden Fälle gegeben
sind? Andererseits macht die gegenwärtige Regelung des Raubes mit
fahrlässiger Tötung keinen Unterschied zwischen den drei im Straf-
gesetzbuch anerkannten Formen der Fahrlässigkeit (grobe Fahrlässig-
keit, leichte Fahrlässigkeit unter Verletzung von Vorschriften und
leichte Fahrlässigkeit ohne Verletzung von Vorschriften) (Art. 565, 586
Ziff.3), mit der Folge, daß, obwohl der Tod durch eine dieser Fahrläs-
sigkeitsformen verschiedenen Grades verursacht werden kann, die zu
verhängende Strafe immer die gleiche ist17•
Gegen die Irrtumsregelung bestehen ebenfalls ernste Bedenken. Im
Parlament wurde die Zurückziehung der neuen Vorschrift gefordert.
Die schwerwiegendsten Einwände ergeben sich aus der Unbestimmt-

16 Mufioz Conde, in: Quintero OlivaresjMunoz Conde (Anm. 13), S. 159.


17 TorZo, La distinci6n legislativa entre asesinato y robo con homicidio, in:
Estudios penales y criminol6gicos (VII), 1984, S. 416 und 473.
Die Strafrechtsreform der spanischen Monarchie 911

heit der gewählten Formulierung sowie aus der Tatsache, daß man die
heute in der Rechtslehre und Rechtsprechung üblichen Begriffsbestim-
mungen des Tatbestands- und des Verbotsirrtums nicht übernommen
hat l8 •
Im Allgemeinen Teil ist ferner ein wichtiger Mangel hervorzuheben,
der darin besteht, daß der Straferschwerungsgrund des wiederholten
Rückfalls sowie auch der einfache Rückfall als Straferschwerungs-
grund nicht berücksichtigt worden sind, ohne daß gleichzeitig die im
Entwurf von 1980 für Gewohnheitsverbrecher vorgesehenen Maßregeln
der Sicherung zur Einführung gelangten. Dieser Umstand hat, zusam-
men mit der bedeutsamen Herabsetzung der für die EigentumsdeliktelD
vorgesehenen Strafen, sowie mit der allgemeinen Beschränkung der
Dauer der Untersuchungshaft auf höchstens 18 Monate (unter der Vor-
aussetzung, daß die für das begangene Delikt vorgesehene Strafe höher
als sechs Jahre ist)!O, in großem Umfange zu Haftentlassungen und zu
einer starken Beunruhigung der Bevölkerung wegen des offensicht-
lichen Anwachsens der von Gewohnheitsverbrechern begangenen Ge-
waltverbrechen gegen das Eigentum geführt21 • Die Strafrechtsordnung
ist dagegen wehrlos geworden.
Im Besonderen Teil werden die mi~ der Reform erzielten Erfolge
durch zahlreiche Mängel und Unachtsamkeiten in den Schatten gestellt.
Nur einige wenige Beispiele hierfür. Der Elternmord wird jetzt mit
einer Zuchthausstrafe von 20 Jahren und einem Tag bis zu 30 Jahren
bestraft. Wenn bei der Begehung der Tat erschwerende Umstände vor-
liegen, die den Mord qualifizieren (z. B. Heimtücke, Handeln gegen
Entgelt, überlegung usw.), ist als Strafe nach Artikel 61 Abs.2 Zucht-
hausstrafe mittleren oder schweren Grades vorgesehen (d. h. also 23
Jahre und vier Monate bis zu 30 Jahren). Andererseits ist für den
Mord als solchen jetzt eine Zuchthausstrafe höheren Grades (von 26
Jahren, acht Monaten und einem Tag bis zu 30 Jahren) vorgesehen.
Hieraus ergibt sich, daß gegen denjenigen, der seinen Vater ermordet
(Elternmord), die gleiche oder sogar eine geringere Strafe verhängt
werden kann als gegen denjenigen, der einen Familienfremden ermor-
det. Die zwischen Eltern und Kindern bestehenden Verwandtschafts-
bande wirken daher als Strafmilderungsgrund. Dies steht im klaren
Widerspruch zu unserer kulturellen Tradition, zu den gegenwärtigen
ethisch-sozialen Auffassungen und zu den Regelungen im Ausland, die
wir durch die Rechtsvergleichung kennen.

18 Sainz Cantero (Anm.15), S. 437.


18 Sie waren unverhältnismäßig hoch.
!O Durch die in diesem Sinne am 23. April 1983 erfolgte Reform der Art.
503 und 504 der Strafprozeßordnung.
21 Sainz Cantero (Anm. 15), S. 411.
912 Marino Barbero Santos

Einer der hauptsächlichsten Zwecke der Reform von 1983 war die
Strafmilderung für die Eigentumsdelikte!2, die einmal deshalb einge-
führt wurde, weil die Strafen früher in der Tat unverhältnismäßig
hoch waren, ferner aber auch deshalb, weil der größte Teil der Täter
praktisch zu den VOn der Gesellschaft ausgeschlossenen Randgruppen
der Bevölkerung gehört. Die Reform hat ferner auch die kasuistische
Regelung vieler Tatbestände beseitigen wollen und darauf geachtet,
daß nicht der Wert oder die Menge der entwendeten Güter als Grund-
lage für die verschiedenen Verbrechenstypen dient.
Die Herabsetzung der Strafdrohungen ging so weit, daß bei der
Mehrzahl der einfachen und qualifizierten Tatbestände des Diebstahls,
Betruges, der Unterschlagung und sogar des Raubes praktisch nicht
mehr die Möglichkeit der Verhängung VOn Untersuchungshaft besteht,
die ja voraussetzt, daß für das begangene Delikt wenigstens eine
Gefängnisstrafe VOn sechs Jahren und einem Tag vorgesehen ist, was
jedoch jetzt nicht mehr der Fall ist. Wenn eine geringere Strafe an-
gedroht ist, kann der Beschuldigte die Verhängung VOn Untersuchungs-
haft durch Sicherheitsleistung abwenden.
Der auf Wert- oder Mengenunterschiede gegründete kasuistische
Objektivismus ist zwar beseitigt worden. Dafür wurde jedoch auf ein
System zurückgegriffen, bei dem in den Tatbeständen Wertmerkmale
mit einem so mehrdeutigen Inhalt verwendet werden!3, daß eine er-
hebliche juristische Unsicherheit entsteht24 .
Auf der Linie des Entwurfs von 1980 stellt die Reform vom 25. Juni
1983 lediglich das Anbauen, Herstellen und Inverkehrbringen von
Drogen unter Strafe sowie ferner den-Besitz, wenn die Droge für den
Handel oder den Verkauf bestimmt ist. Die Bestrafung hängt im Ein-
zelfall davon ab, ob die Droge schwere Folgen für die Gesundheit hat
(harte Drogen), oder ob dies nicht der Fall ist (weiche Drogen). In dem

22 Ruiz Vadillo, La punici6n de los delitos de robo con fuerza en las cosas,
hurto y estafa en la reforma parcial deI C6digo penal de 25 de junio de 1983.
Las circunstancias de agravaci6n especificas, in: Estudios penales y crimino-
16gicos (VII), 1984, S. 383.
23 Ruiz Vadillo (Anll}.. 22), S. 384.
24 "Wenn es sich um für den öffentlichen Dienst bestimmte Sachen han-
delt, sofern eine schwere Störung dieses Dienstes verursacht wird, oder aber
um Güter des täglichen Bedarfs, sofern eine ernste Lage auf dem Versor-
gungsgebiet verursacht wird" (Art.515 Abs.l); "wenn, unter Berücksichti-
gung des Wertes der entzogenen Güter, ein besonders schwerer Fall vorliegt,
oder besonders schwere Schäden verursacht werden" (Art. 515 Abs. 2). In
einer erst kürzlich gebrachten Fernsehsendung konnten sich ein Straf-
rechtsprofessor und ein Richter nicht darüber einigen, ob der Diebstahl eines
Gegenstandes im Werte von 1 Million Peseten einen besonders schweren
Fall darstellt oder nicht und ob infolgedessen die aufzuerlegende Strafe
4 Monate und 1 Tag bis 6 Monate oder aber 6 Monate und 1 Tag bis zu
6 Jahren sein müßte.
Die Strafrechtsreform der spanischen Monarchie 913

letztgenannten Fall ist die Strafe nur eine symbolische: Haft von
einem Monat und einem Tag bis zu sechs Monaten (Art.344). Nicht
angeführt und deshalb straflos sind dagegen der Verbrauch, Besitz
(auch wenn es sich um große Mengen handelt) und die Schenkung von
weichen oder harten Drogen.
Ende 1983 veröffentlichte das Justizministerium den Vorentwurf für
ein neues Strafgesetzbuch25 , der zu Beginn des Jahres 1984 der Öffent-
lichkeit vorgelegt28 wurde. Bei seiner Ausarbeitung ist von dem Ent-
wurf des Jahres 1980 und den von der sozialistischen Fraktion vor-
gelegten Änderungsvorschlägen ausgegangen worden. Wie der Minister
in seiner kurzen Einführung sagt, sind auch die Änderungsvorschläge
der übrigen Fraktionen sowie die Bemerkungen berücksichtigt worden,
die von der Wissenschaft und der Praxis gemacht worden sind27 •
Nachstehend einige der Neuerungen. Das Grundprinzip des Entwurfs
von 1980 "Keine Strafe ohne Schuld" ist durch den Grundsatz "Keine
Strafe ohne Vorsatz oder Fahrlässigkeit" ersetzt worden, allem An-
schein nach deshalb, weil man den ethisch-juristischen Begleitvorstel-
lungen, die dem Begriff "Schuld" anhaften, aus dem Wege gehen
wollte. Trotzdem wird der Begriff "schuldig" - offensichtlich inkonse-
quent - in mehr als einer Vorschrift verwendet (z. B. in Art. 23 Abs.2).
Bei der Irrtumsregelung ist der Begriff "unvermeidbarer Irrtum über
ein wesentliches zum gesetzlichen Tatbestand gehörendes Merkmal"
durch den Begriff "unvermeidbarer Irrtum über die Handlung, die ein
strafrechtliches Delikt darstellt" ersetzt worden, was einer Rückkehr
zu dem klassischen Begriff des Tatirrtums gleichkommt, den die Rechts-
lehre in der letzten Zeit aufgegeben hat.
Das Strafmündigkeitsalter wird auf 18 Jahre heraufgesetzt, was als
positiv gewertet werden muß 28 • Auf der anderen Seite ist es als eine
Unachtsamkeit anzusehen, daß nur der Erfolg - nicht die Handlung
oder der Erfolg (Ubiquitätstheorie) - die Anwendung der spanischen
Strafgesetze bestimmen soll. Wenn daher z. B. jemand einen Brief mit
einer Bombe von Madrid nach Paris abschickt, in der Absicht, seinen
Feind zu töten, wird das Delikt als außerhalb des spanischen Hoheits-

15 Die Verfasser waren die Professoren Cobo, Gimbernat, Luz6n, Munoz


Concle und Quintero, sowie der Richter Garcla MigueZ.
H In der Ausgabe wurden nicht weniger als 128 Druckfehler festgestellt.
Ich glaube allerdings, daß dies nicht einmal alle sind. In der Einführung
heißt es z. B., was das Strafensystem anbelangt, ist "die wissenschaftliche
übereinstimmung praktisch sehr gering" (minima). Sollte damit etwa ein-
stimmig (uminime) gemeint sein? Es ist ja genau das Gegenteil.
27 Justizministerium. Technisches Generalsekretariat: Propuesta de Ante-
proyeeto deI nuevo C6digo penal, 1983, Einführung.
18 Barbero Santos, Las medidas de seguridad en el Proyeeto de Ley Orga-
niea de C6digo penal, in: Marginaci6n social y Dereeho represivo, 1980, S. 199.

58 Festschrift für H.-H. Jescheck


914 Marino Barbero Santos

gebietes (Art. 11) begangen angesehen mit allen sich hieraus ergeben-
den Folgerungen28 •
Die Regelung der Strafen und Maßregeln der Sicherung und ihrer
Wechselbeziehungen ist vollkommener und harmonischer als im Ent-
wurf30 • Trotzdem erscheinen einige kritische Bemerkungen auch hier
am Platze. Der Vorentwurf nimmt für den Vollzug der Freiheitsstra-
fen ausdrücklich auf das in dem Allgemeinen Strafvollzugsgesetz und
seinen Ausführungsvorschriften vorgesehene System Bezug (Art. 35, 2),
während hinsichtlich des Vollzugs der Maßregeln der Sicherung, die
ebenfalls eine Freiheitsentziehung zur Folge haben, nichts gesagt wird.
Dieses Stillschweigen bedeutet nach meiner Auffassung eine offen-
sichtliche Anerkennung der Tatsache, daß die in dem Vorentwurf und
im Strafvollzugsgesetz vorgesehenen Einrichtungen (mit Ausnahme der
psychiatrischen Anstalten) nur wenige oder überhaupt keine Gemein-
samkeiten aufweisen. Dies ist schwerwiegend, weil es erkennen läßt,
daß für die Erreichung kriminalpolitischer Ziele, die in beiden Fällen
die gleichen sein sollten, nicht nur verschiedene, sondern klar vonein-
ander abweichende Wege gegangen werden.
Im Gegensatz zu unserer kulturellen Tradition und den Vorausset-
zungen, von denen diese ausging, hatte der Entwurf von 1980 die straf-
rechtliche Verantwortung der juristischen Personen zugelassen31 • In
Übereinstimmung mit dem Postulat, daß juristische Personen nicht
bestraft werden können, fehlt in dem Vorentwurf auch die Möglich.,
keit, daß juristischen Personen Maßregeln der Sicherung auferlegt
werden. Es sind lediglich sog. "Nebenfolgen" vorgesehen, sofern die
Straftat bei Ausübung der Tätigkeit einer Personenvereinigung oder
unter Benutzung ihrer Organisation begangen wurde, um diese zu
begünstigen oder ihr Vorteile aus der Straftat zukommen zu lassen
(Art. 138). Nebenfolgen sind z. B. die Auflösung der Gesellschaft oder
die Einstellung ihrer Tätigkeit.
Weitere Neuerungen, die die Strafe betreffen, sind folgende: die
Einführung des Tagessatzsystems bei der Geldstrafe, die Verhängung
von Wochenendarrest32 , das Verbot der Auferlegung von Freiheitsstra-
fen von weniger als sechs Monaten, die Möglichkeit des Ersatzes von
Gefängnisstrafen von weniger als zwei Jahren durch Wochenendarrest,
die Aussetzung des Urteilsspruchs usw. Zu erwähnen unter den Un-

28 Für die zeitliche Anwendung des Strafgesetzes wird dagegen vom


Augenblick der Begehung der Handlung oder Unterlassung ausgegangen
(Art. 6).
30 Barbero Santos (Anm. 28), S. 191 ff.

Si Eine These, die mit besonderem Nachdruck von Bajo Fernandez vertei-
digt wird. Dagegen Barbero Santos in der zuletzt zitierten Arbeit, S. 199 ff.
32 Die in dem Allgemeinen Strafvollzugsgesetz nicht vorgesehen ist.
Die Strafrechtsreform der spanischen Monarchie 915

achtsamkeiten ist das Fehlen einer Begriffsbestimmung für das, was


als um zwei Grade höhere oder niedrigere Strafe anzusehen ist, als
Ungeschicklichkeit ferner die zwangsweise Unterbringung von Ge-
wohnheitsverbrechern in einer sozialtherapeutischen Anstalt ohne
Rücksicht auf das Alter des Verurteilten, die Notwendigkeit einer
psychotherapeutischen Behandlung und vor allem ohne Rücksicht dar-
auf, ob der Verurteilte mit einer solchen Behandlung einverstanden ist
oder nicht. Für den Erfolg der Behandlung ist - wie Hilde Kaufmann
mit Recht sagt33 - in erster Linie "die Bereitschaft des Patienten zur
Mitarbeit" entscheidend, was auch von der Mehrzahl der Sachverstän-
digen bestätigt und im allgemeinen auch von den Anstalten aner-
kannt wird.
Im Besonderen Teil des Vorentwurfs werden praktisch alle im Straf-
gesetzbuch durch die Reform vom 25. Juni 1983 eingeführten Änderun-
gen mit ihren Vor- und Nachteilen übernommen. Wie bereits im Ent-
wurf vorgesehen, werden die Delikte gegen den einzelnen - im Gegen-
satz zu der jetzigen Regelung - vor den Delikten gegen die Gemein-
schaft, den Staat und die internationale Gemeinschaft angeordnet.
Eine der interessantesten Neuerungen hinsichtlich der Abtreibung ist
die Annahme eines Systems von Indikationen. Die vorgesehene Rege-
lung bestimmt folgendes: Die Abtreibung ist nicht strafbar, sofern sie
von einem Arzt mit Einverständnis der Schwangeren vorgenommen
wird und eine der nachstehend aufgeführten Voraussetzungen erfüllt
ist: 1. Die Abtreibung muß erforderlich sein, um eine schwere Gefahr
für das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren zu vermeiden; 2. die
Schwangerschaft muß die Folge einer Notzucht, Blutschande oder Un-
zucht sein unter der weiteren Voraussetzung, daß die Abtreibung inner-
halb der ersten 12 Wochen der Schwangerschaft vorgenommen wird und
daß die genannte Handlung Gegenstand einer Anzeige gewesen ist;
3. oder es muß wahrscheinlich sein, daß die Leibesfrucht mit schweren
körperlichen oder psychischen Fehlern zur Welt kommt unter der Vor-
aussetzung, daß die Abtreibung innerhalb der ersten 22 Wochen der
Schwangerschaft erfolgt und die ungünstige Prognose in einem von zwei
Spezialisten erstatteten Gutachten niedergelegt ist, die von dem die

aa Hilde Kaufmann, Strafvollzug und Sozialtherapie, spanische Überset-


zung von Juan Bustos (Ejecuci6n Penal y Terapia Social), 1979, an verschie-
denen Stellen und besonders auf den S. 213 - 14. Die Kommission für die
Reform des Gesetzes über Gefährlichkeit und Soziale Rehabilitierung schlug
infolgedessen vor, daß "die Maßregeln der Unterbringung in einer erzie-
hungstherapeutischen oder sozial-therapeutischen Anstalt nur im Einver-
ständnis mit dem Betroffenen angeordnet werden dürften" (Art. 137). Siehe
auch Barbero SantoslMorenilla Rodriguez, La Ley de Peligrosidad y Re-
habilitaci6n Social: su reforma, in: Marginaci6n social y Derecho represivo,
1980, S. 171.

58·
916 Marino Barbero Santos

Schwangere behandelnden Arzt verschieden sein sollen (Art. 148). Das


ist alles.
Der Wortlaut stimmt mit dem vom Senat am 30. November 1983 an-
genommenen Gesetzesentwurf überein, gegen den allerdings das Rechts-
mittel der Verfassungsbeschwerde eingelegt wurde, deren Zulässigkeit
durch das Verfassungsgericht am 5. Dezember bejaht worden ist.
Nachstehende kritische Bemerkungen erscheinen am Platze. Sie be-
treffen Punkte, die zum Teil als Mängel, zum Teil aber auch als über-
treibungen gewertet werden können, so die Tatsache, daß trotz der
augenblicklichen schweren Wirtschaftskrise mit 2652 000 Arbeitslosen
am 1. März 1984 (18,57 % der arbeitsfähigen Bevölkerung) die wirtschaft-
lich-soziale Lage, die in zahlreichen Fällen zur Abtreibung führt, nicht
als Indikation anerkannt worden ist, weiter der Umstand, daß der Ver-
fassungsgrundsatz "Alle haben Anspruch auf Leben" (Art. 15) nicht
genügend beachtet worden ist, und endlich, daß keine Bedenkzeit von
dem Zeitpunkt an, zu dem die Schwangere sich zur Abtreibung ent-
schließt oder sich an eine Beratungsstelle wendet, bis zur Durchführung
des Eingriffs vorgesehen ist, was den Sinn hätte, daß die Schwangere
nicht unter dem Einfluß einer Kurzschlußreaktion zur Abtreibung
schreitet34 •
Auch die Frage der Gewissensbedenken auf seiten der Ärzte oder des
Krankenhauspersonals ist nicht geregelt worden.
Auf dem Gebiet der Drogen geht der Vorentwurf noch einen Schritt
weiter. Wenn das Inverkehrbringen erfolgt, um den eigenen Verbrauch
zu befriedigen, sowie in bestimmten anderen Fällen kann eine Strafe
verhängt werden, die geringer als die vorgesehene, an sich schon nicht
sehr schwere Strafe ist. Ferner ist auch der jetzt noch bestehende Straf-
schärfungsgrund der Verbreitung von Drogen in Unterrichtszentren,
militärischen Einheiten oder Strafvollzugseinrichtungen weggefallen.
Der Vorentwurf behält den dem sozial-ökonomischen Strafrecht ge-
widmeten Abschnitt (früher Straftaten gegen die sozial-ökonomische
Ordnung) bei, allerdings mit einem beschränkteren Inhalt als in dem
Entwurf 1980: früher waren es elf Kapitel, jetzt sind es nur noch sechs,
aus denen der Abschnitt besteht. Die strafbare Zahlungseinstellung, die
sich auf die Gebietsordnung und den Umweltschutz beziehenden Straf-
taten und die Verletzungen der Urheberrechte sind, neben anderen Tat-
beständen, aus dem Abschnitt herausgenommen worden.

M Hirsch, Interrupci6n voluntaria deI embarazo, in: Barbero Santos u. a.,


La reforma penal: cuatro cuestiones fundamentales, 1982, S.5. Von besonde-
rem Interesse: die 11. französisch-portugiesisch-italienisch-spanische Tagung
über Strafrecht: Interrupci6n voluntaria deI embarazo. Responsabilidad ob-
jetiva, 1981 (hrsg. von Barbero Santos) (Anm.8), S. 11 - 120.
Die Strafrechtsreform der spanischen Monarchie 917

Nach der Veröffentlichung des Vorentwurfs eines neuen Strafgesetz-


buchs durch das Ministerium verdienen noch ein Gesetz und ein weiterer
Gesetzentwurf hervorgehoben zu werden, da ohne sie das Bild der
Strafrechtsreform der spanischen konstitutionellen Monarchie, das sich
uns zu Beginn des Jahres 1984 bietet, unvollständig wäre.
Am 28. Dezember 1983 erschien im amtlichen Staatsanzeiger das Ge-
setz vom 12. Dezember über den anwaltlichen Beistand für Verhaftete
und Strafgefangenea5 , während am 21. September, am 1. und 10. Dezem-
ber 1983 im Amtsblatt der Cortes die Entwürfe der Gesetze über
"Habeas Corpus", über die Wehrdienstverweigerung aus Gewissens-
gründen und den Ersatzdienst sowie gegen die Tätigkeit von bewaff-
neten Banden und terroristischen Elementen veröffentlicht wurden.
Der Entwurf des Gesetzes zur Regelung der Wehrdienstverweigerung
aus Gewissensgründen schließt an an die Verordnung vom 23. Dezember
1976, die die Geltendmachung von Gewissensbedenken lediglich aus
Gründen religiösen Charakters zuläßt. Der Entwurf erweitert diese
Gründe nunmehr auf überzeugungen ethischer, moralischer, humani-
tärer, philosophischer und anderer Art. Diese umfassende Anerkennung
von überzeugungen auf einem von der Verfassung geschützten ideo-
logischen Gebiet des Pluralismus ist begrüßenswert. Dasselbe gilt auch
für den Gesetzentwurf, der das Verfahren des "Habeas Corpus" regelt
und damit grundlegende Rechte auf dem Gebiet der persönlichen Frei-
heit sicherstellt.
Das Gesetz vom 12. Dezember 1983, das den Artikel 17 Abs. 3 der Ver-
fassung über den anwaltlichen Beistand für Verhaftete und Straf-
gefangene weiterentwickelt und die Artikel 520 und 527 der Straf-
prozeßordnung abändert, hat zum Teil die Erwartungen enttäuscht. Die
Verwaltungsstellen können z. B. eine Kontaktsperre für den Verhafte-
ten anordnen und diese in gewissen Fällen bis auf zehn Tage ausdehnen.
In diesen Fällen wird der Verhaftete oder Strafgefangene des Rechtes
beraubt, seine Familienangehörigen oder sonstige Personen seines Ver-
trauens von der Verhaftung und dem Ort seiner Unterbringung in
Kenntnis zu setzen. Er ist nicht in der Lage, sich frei einen Anwalt aus-
zuwählen oder sich mit dem von Amts wegen bestellten Anwalt unter
Ausschluß weiterer Personen zu besprechen. In dem Gesetz ist keine
allgemeine Vorschrift dahingehend enthalten, daß eine Verpflichtung
zur sofortigen Mitteilung der Verhaftung an die Anwaltskammer be-
steht, noch daß eine ärztliche Untersuchung zu Beginn der Verhaftung,
am Ende derselben oder auf Antrag des Verhafteten durchgeführt wer-

3$ Von mir öfters verlangt. Siehe Barbero Santos, Rev. Intern. de Droit
Penal, 1978, I, S. 70.
918 Marino Barbero Santos

den muß. Das Gesetz gestattet ferner die Durchführung der Verneh-
mung oder Untersuchung des Verhafteten, falls dieser damit einver-
standen ist(!), nachdem acht Stunden seit der Mitteilung an die Anwalts-
kammer abgelaufen sind, ohne daß ein Anwalt für ihn erschienen wäre.
Die autoritäre Neigung des demokratischen Staates, die gegenwärtig
die Juristen so sehr beunruhigt, zeigt sich unverhüllt und besonders
klar in dem Gesetzentwurf gegen die Handlungen bewaffneter Banden
und terroristischer Elemente und zur Weiterentwicklung des Artikels 55
Abs.2 der Verfassung.
Wir, die wir uns stets mit so harten Worten gegen die repressive
Gesetzgebung der Diktatur FrancosS 8 ausgesprochen und der Hoffnung
Ausdruck gegeben haben, daß mit dem Beginn der neuen Epoche am
20. November 1975 die Strafgesetze sich voll und ganz den Postulaten
des demokratischen Staates anpassen würden und daß bei diesem Pro-
zeß alle Institutionen, die die Grundrechte87 so schwer verletzten, als
nutzloses Gerümpel in der Rüstkammer der Erinnerungen verschwin-
den würden, haben zu unserer großen Enttäuschung feststellen müssen,
daß diese mit dem gleichen oder sogar noch mehr Glanz als vorher wie-
der erschienen sind. Ein gutes Beispiel hierfür ist der genannte Geset-
zesentwurf gegen den Terrorismus, der zahlreiche Vorschriften der Ver-
fassung verletzt (Art. 14, 17, 18, 20, 25 usw.). Unter den Fehlgriffen
erwähnen wir die folgenden: Gleichstellung der Täterschaft mit der
Teilnahme (Art. 1 und 8) und des vollendeten Delikts mit dem fehl-
geschlagenen und versuchten Delikt (Art. 3), vollständiger Strafnachlaß
in bestimmten Fällen einer Selbstanzeige (Art. 6), Möglichkeit der Aus-
aelmung der Polizeihaft bis ZU zehn Tagen (Art. 14), Befugnis der Ver-
waltungsstellen zur Anordnung von Kontaktsperre für Verhaftete
(Art. 16), Befugnis zum Betreten der Wohnung und zur Untersuchung
derselben ohne richterliche Ermächtigung und ohne Erlaubnis des Eigen-
tümers (Art. 17), Befugnis zur Kontrolle des Briefwechsels, der Tele-
gramme und der Telefongespräche eines Verdächtigen, Sperre der Kom-
munikationsmittel durch Genehmigung eines von der Staatsanwaltschaft
gestellten Antrages, Unmöglichkeit der Freilassung von Strafgefangenen
oder Verhafteten durch den Richter, deren Freilassung beschlossen wor-
den wäre, wenn der entsprechende Beschluß noch nicht rechtskräftig
geworden ist, sofern die Staatsanwaltschaft das entsprechende Rechts-
mittel eingelegt hat.

88 Barbero Santos, EI bandolerismo en la legislaci6n vigente, und Los deli-


tos de bandolerismo, rebeli6n militar y terrorismo regulados por el decreto
de 21 de septiembre de 1960, in: Estudios de Criminologfa y Derecho Penal,
1972, S. 211 ff. und S. 257 ff.; ders., La pena de muerte, problema actual, 1964.
37 Barbero Santos, PoUtica y Derecho Penal en Espai'ia, 1977, S. 142.
Die Strafrechtsreform der spanischen Monarchie 919

Aus unseren Ausführungen ergibt sich, daß der von 1975 bis jetzt
zurückgelegte Weg ein langer gewesen ist. Das veraltete repressive
Recht des damaligen autoritären Staates hat viele seiner Härten ver-
loren und weist jetzt ein wesentlich fortschrittlicheres Gesicht auf, das
sich mehr und mehr den gegenwärtig vorherrschenden Auffassungen,
den Lösungen des Auslandes, den Erfordernissen einer dem Wechsel
unterworfenen Gesellschaft und den Postulaten des Rechtsstaates an-
paßt. Trotzdem kann das Urteil über die bereits geltende und die noch
im Entstehen begriffene Strafrechtsordnung nicht in vollem Umfange
günstig lauten: in vielen ihrer Erscheinungsformen verdient diese sogar
eine sehr strenge Ablehnung. Dem unparteiischen Beobachter fällt ins-
besondere auf, daß eine zusammenhängende Linie von klaren Zielen,
eine besonnene Arbeit fehlt und eine Aufforderung zur Mitwirkung an
dem großen Werk der Vorbereitung einer Strafgesetzgebung nicht er-
folgte, einem Werk, das auf der Höhe der spanischen pluralistischen
und demokratischen Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts stehen
sollte, sowie daß keine nationale wissenschaftliche Mitarbeit in einem
Augenblick stattfand, der dafür besonders günstig erschien. Die Flucht
in das Strafrecht durch Gesetze, bei denen man das Bewußtsein für die
unüberschreitbaren Schranken verloren hat, die der Rechtsstaat dem
Strafen zieht, und die Flucht vor dem Strafrecht mit einem den
schweren Straftaten der Gegenwart gegenüber vermessen wirkenden
Mangel an Realitätsgefühl rufen durch ein "zu viel" auf der einen und
ein "zu wenig" auf der. anderen Seite eine unerträgliche Rechtsunsicher-
heit beim Bürger hervor und machen ständig nachträgliche Berichti-
gungen nötig, was nichts mehr mit der der Strafe eigenen erzieherischen
Kraft und nichts mit der delikaten und transzendenten Funktion einer
ausgewogenen Ordnung des Zusammenlebens der Bürger zu tun hat,
der höchsten Aufgabe, die der Staat zu erfüllen hat.
ANTONIO BERISTAIN

La reforma penal tambien desde la Universidad

I. Dedicatoria
Corno pequefia muestra de agradeeimiento, dedico esta confereneia1
al Profesor Hans-Heinrich Jescheck que tanto ha enriqueeido la re-
forma penal en la Republica Federal de Alemania y en otros paises con
sus inteligentes investigaeiones y con la ayuda incondicional a los pena-
listas que hemos tenido la suerte de ser acogidos en su Instituto Max-
Planck de Derecho penal extranjero e internaeional y de Criminologia,
en Friburgo de Brisgovia.
Para reflexionar acerca de «La reforma penal tambien desde la Uni-
versidad» podemos apoyarnos en dos polos fundamentales: que se en-
tiende y pretende por la reforma penal (sus problemas y sus metas
principales), y cuäl es el papel de la Universidad: la metodologia com-
parada (quienes, c6mo y durante cuänto tiempo se logra la reforma
penal). Me referire prineipal (no unicamente) a la reforma penal,
actualmente, en el Estado espafiol y en el Pals Vasco.

11. Contenido y fines de nuestra reforma penal


Nuestra reforma penal debe programarse como servieio soeial, como
aportaei6n a nuestra comunidad concreta, con objetivos propios de hoy
y aqui, que difieren grandemente de las metas pergefiadas en otros
tiempos y en otros lug ares.
En esta direcei6n se expresan pareeidamente, aunque con ocasiOn y
con metodos diversos, Gustav Radbruch, Manuel de Lardizabal y Uribe,
Juan deI Rosal y, con especial amplitud, Hans-Heinrich Jescheck. Rad-
bruch dibuja su pretensi6n ut6pica cuando proclama que la reforma
debe tender a lograr no un Derecho penal mejor, sino algo mejor que
el Derecho penalt • EI guipuzcoano Lardizabal explic6 hace tiempo su

1 Estas paginas reproducen, con algunas adiciones bibliograficas, la con-


ferencia dictada el dia 24 de agosto en el Curso de Verano de la Universidad
deI Pais Vasco, organizado por el «Instituto Vasco de Criminologia», sobre
Las reformas penales en el mundo de hoy, deI 22 al 26 de agosto de 1983, en
San Sebastian.
t Radbruch, Rechtsphilosophie, 4" ed. 1950, pp. 269 ss.; ldem, Einführung
in die Rechtswissenschaft, 9" ed. 1950, pp. 143s.
922 Antonio Beristain

deseo de arrinconar el Derecho penal tradicional y estructurar algo


mejor que no se apoye en la fuerza, ni en el vigor, ni en la venganza, ni
en la espada. Dijo asi: «No debe causar admiraci6n que las leyes cri-
minales de la mayor parte de los Estados de Europa se an tan informes,
y esten todavia tan distantes de su perfecci6n; 10 que se extrafiara
mucho menos si se advierte que algunas de estas leyes han sido efecto
de la casualidad, 0 de urgencias momentaneas y pasajeras, otras (y
estas son las mas) han sido hechas en unos tiempos tenebrosos, en que
por una grande ignorancia, cuyos efectos necesarios son la ferocidad en
las costumbres y la crueldad'en los animos, se creia que para contener
los deUtos, y refrenar las pasiones de los hombres, no podia haber otro
medio que la fuerza, el rigor, la dureza, la severidad, el fuego y la
espada. En unos tiempos en que la venganza pronunciaba, y la c6Iera
ejecutaba los juicios»3.
EI catedrätico de Derecho penal de Madrid y fundador dei Instit:uto
de Criminologia de la Universidad Complutense, Juan del Rosal, por su
docencia, por sus relaciones internacionales, por sus actuaciones para-
academicas (como el Congreso Internacional de Criminologia, celebrado
en Madrid en 1970), por sus investigaciones y publicaciones en el campo
de Ia dogmatica penal y de la Criminologia, brind6 nuevas y fecundas
aportaciones para una reforma penal que, desde Ia tradici6n hispana,
conectase con las mejores orientaciones incipientes en otros paises.
Recordemos, por ejemplo, c6mo ya en 1964 sefialaba que el legislador
de un nuevo C6digo penal debe dirigirse «hacia transformaciones pro-
fundas de nuestro munda legah, y concretamente afirma que «sin
aprehender la re(llidad COJil la que se trafica, no es hacedero combatirla
de 1:lnmodo humane y ejemplar. Todo elsistema de tipologias penales
y de amenazas, simbolizadas en las penas y medidas de seguridad y
prevenci6n, apareja tiri justo entendimiento de la fenomenologia delic-
tiva de un cierto pais. La investigaci6n crimino16gica nos proporciona
el unico sendero que nos conducira al quid de aquella.
Asi, el saber crimino16gico suministra un dato positivo, de inexcu-
sable conocimiento para cualquier reforma penal, cual supone la pecu-
liaridad de la criminalidad, referida tanto a la forma cuanto a la canti-
dady a la comprensi6n etiologica de la misma»'.
EI Profesor Jescheck, Presidente de la Asociaci6n Internacional de
Derecho penal y Director deI Instituto Max Planck· de Derecho penal
extranjero e internacional y de Criminologia, de Friburgo, subraya en

3 De Lardizabal y Uribe, Discurso sobre las penas contraido a las leyes


criminales de Espafia para facilitar su reforma, 2a ed. 1828,pp. VII s.
eDel Rosal, Esquema de un Anteproyecto deI C6digo penal, en Idem, Cosas
de Derecho penal, 1973, pp. 142 Y 163; Pinatel, Necrologie: Juan deI Rosal (1908 -
1973), en Revue de science criminelle et de droit penal compare, 1974, pp. 182 ss.
La reforma penal tambien desde la Universidad 923

varias de sus monografias' el descredito que ha alcanzado el Dereaho


penal totalitario y las radicalmente nuevas tendencias que brotan de
los estudios dogmaticos y crimino16gicos, de manera que las ciencias
empiricas abren y transitan caminos hasta ahora virgenes. Asi se ha
logrado una enorme transformaci6n espiritual, un proceso renovador
de las concepciones deI Derecho penal como garante de la pazy de 1a,
seguridad ciudadana, junto con otros medios de control socia!. EI De-
reche penal de nuestros dias ya no busca realizar la justicia abso1uta.
No puede mantener el deseo kantiano: hagase justicia aunque perezca
el mundo. Mas bien propugna 10 contrario, que progrese el munda
aunque se infrinjan a1gunas 1eyes, pues la experiencia nos demuestra
que la pena e incluso la medida penal (junto a las ventajas que aportan
para 1a convivencia) siempre comportan dafios notables para el conde-
nado, para sus familares, para sus amigos e incluso para toda la socie-
dad. EI costo y el dafio de la sanci6n penal rebasa, aveces, la frontera
de la victimaci6n directa en la economia, en la riqueza deI medio am-
biente, en 1a integridad corporal, en los valores eticos individuales y
comunitarios. :r..a pena conlleva siempre la remora de su ambivalencia,
por 10 cua1 ha de ser la ultima respuesta en nuestro dialogo con la cri-
minalidad. Antes de acudir a la pena, tenemos la obligaci6n - no sOlo
los jueces, sino tambien los ciudadanos - de agotar los otros medios
de control social. Esta realidad nos obliga a orientar la reforma hacia
la mayor descriminalizaci6n posible en 10 sustantivo y en 10 procesal
(si existe una clara y neta separaci6n entre ambas). Jescheck recuerda
que en los paises de nuestro area culturalla reforma aflora corno resul-
tado de colaboraciones variopintas, de multiples personas e instituciones
que lentamente van recibiendo el espaldarazo con las sucesivas firmas
de la autoridad legislativa'.
Todos sabemos que los cambios profundos en el orden politico con-
llevan generalmente la reforma deI C6digo punitivo. Asi sucede en
Espafia inmediatamente despues de la aprobaci6n de una nueva Consti-
tuci6n en los afios 1822, 1848, 1850, 1870, 1932, 1945, Y actualmenteen
el proceso de desarrollo y puesta en präctica de la Constituci6n de 1978.
Las reformas deI C6digo penal brotan desde 1a politica, pero pretenden
- deben pretender - metas sociales mas que metas politicas.

S Jescheck, Methoden der Vorbereitung und Durchführung der deutschen


Strafrechtsreform, en Strafrechtsreform in der Bundesrepublik Deutschland
und in Italien, comp. por Jescheck, 1981, pp.ll ss.; Idem, Deutsche und österrei-
chische Strafrechtsreform, en Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft. Ausge-
wählte Beiträge, 1980, pp. 340ss.; Idem, Reforma deI Derecho penal en Ale-
mania. p'arte General (trad. de ConTado A. Finzi), 1976.
• Jescheck, Die Entwicklung der Strafrechtspolitik in der Bundesrepublik
Deutschland seit der Mitte der fünfziger Jahre, en Erstes deutsch-sowjetisches
Kolloquium über Strafrecht und Kriminologie, compiladores JeschecklKaiser,
1982, pp. 12 ss.
924 Antonio Beristain

Hubiera sido eontraprodueente, por ejemplo, que la legislatura an-


terior -la primera legislatura despues de nuestra aetual Constituci6n
de 1978 -, a pesar de eonoeer que no estaban maduros los trabajos
preparatorios y las cireunstancias, hubiera forzado la «maquinaria»
para aleanzar la promulgaei6n de la Ley Orgäniea eorrespondiente y,
eon ello, lograr «haeer baza» politiea que suele eonllevar el aprobar un
nuevo C6digo penal.
Mereeen aplauso las publieaeiones de los espeeialistas universitarios
que, desde finales de los ailos setenta, han ido apareciend0 7 y mostrando
10 improcedente y peligroso de urgir exeesivamente la «terminaei6n»
simultanea de la parte general y de la parte especial eompletas y nue-
vas de la norma punitiva.
Que las funeiones soeiales primen sobre las politicas no quiere deeir
que la reforma penal earezea de pretensiones politieas .. Corno indiea
atinadamente la Memoria elevada al Gobierno de S. M. en la Solemne
apertura de los Tribunales, el dia 15 de septiembre de 1981, por el
Fiseal General dei Estado, Exemo. Sr. D. Jose Maria GiZ-AZbert y Ve-
larde8, no puede negarse a la justicia la «funei6n politiea de realizar
eada dia una eonstante y dinamiea reeonstrueei6n deI ordenamiento
positivo para adeeuarlo a los nuevos prineipios eonstitucionales». «La
doetrina moderna ha ampliado y precisado el eoneepto de la <aetuaei6n>
de la Ley y de su <interpretaei6n>, que ya no pueden ser reeonducidos
a una expresi6n simplemente teeniea, sino que suponen, por el eontra-
rio, la partieipaci6n dei interprete en euanto hombre impregnado por
el espiritu de su tiempo. Esta eonsideraci6n, välida en un plano general,
adquiere un signifieado peculiar al ponerse en relaei6n eon nuestro
sistema politieo, que ha modifieado la funci6n misma dei Dereeho, atri-

7 Mir Puig y otros, Politica criminal y reforma deI Derecho penal, Colombia,
1982; VaTios, La reforma deI Derecho penal I, ed. a cargo de Mir Puig, 1980;
Idem, La reforma deI Derecho Penal 11, 1981; VaTios, La reforma penal y
penitenciaria, ed. a cargo de Ferndndez Albor, 1980; Cerezo Mir, Obervaciones
criticas al proyecto de Ley Orgänica de C6digo penal, en Idem, Problemas
fundamentales deI Derecho penal, 1982, pp. 348 ss.; Barbero Santos, Los margi-
nados ante la ley penal (La Ley de Peligrosidad y Rehabilitaci6n Socia! de
lege ferenda), en Estudios penales. Libro homenaje al Prof. Ant6n Oneca, 1982,
pp. 39 ss.; Quintero OlivareslMunoz Conde, La reforma penal de 1983, 1983;
Propuesta alternativa de la Parte General deI C6digo penal", en Cuadernos
PoHtica Criminal, n° 18 (1982), pp. 609 ss. (Mir PuiglMunoz Conde); GaTTido-
Guzman, La reforma urgente y parcial deI C6digo penal y la redenci6n de
penas por el trabajo, en Anales de la Universidad de Alicante, n° 2 (1983),
165 ss.; La reforma deI Derecho Penal, Revista de la Facultad de Derecho de
la Facultad Complutense, 1980, numero monogräfico; EI Proyecto de C6digo
Penal, Revista Juridica de Cataluiia, 1980, numero extra; Ruiz Vadillo, Algu-
nas observaciones al Proyecto de Ley de Reforma parcial deI C6digo Penal
(Orgänica), 1982.
8 MemoTia Elevada, 1981, pp. 7 s.
La reforma penal tambien desde la Universidad 925

buyendo a las normas constitucionales relativas a las libertades indivi-


duales una funci6n sustancial y no s6lo de garantia formal».
En este campo conviene evitar exageraciones partidistas. Recordemos
la opiniOn deI autorizado Magistrado aleman cuando explica que el Juez
deI Tribunal Constitucional no es un politico'.
EI Gobierno y las autoridades politicas que preparan la reforma penal
son conscientes de que su esfuerzo no busca primeramente el provecho
y/o la fama deI partido politico "en el poder, sino al contrario el pro-
vecho de la sociedad. Ellos estan para servir a la justicia; no, en cam-
bio, para servirse de la justicia10• Al predominar en la reforma penal 10
social sobre 10 politico, se debe exigir una amplia participaci6n a la
Universidad. Hoy mas que en tiempos pasados, pues actualmente la
investigaci6n participa mas en el tim6n de la nave donde conviven y
avanzan los ciudadanos, donde se conocen, mantienen y desarrollan los
valores de hoy y de mafiana.
Estas funciones sociales propias de los nuevos textos punitivos piden
que sus artifices tomen el pulse a la historia y a la antropologia cultural
para lograr un servicio social moderne y aut6ctono. En el Estado Espa-
fiol han de ser seriamente auscultadas las Comunidades Aut6nomas11 •
Nuestra nueva legislaci6n penal debe apoyarse en los surcos fecun-
dos abiertos por nuestros mayores para avanzar mas adelante, pues las
ciencias penales y crimino16gicas y de Politica criminal han progresado
en nuestros tiempos a pasos de gigante. Debemos escuchar a Lardizcibal
y Uribe, con formulaciOn elegante, cuales son los verdaderos objetos y
el noble fin de toda legislaci6n criminal: «encadenar la fuerza y la vio-
lencia con lazos suaves, pero fuertes; sujetar las voluntades de los
hombres sin perjudicar su justa libertad; conciliar el interes comtin de
la sociedad con los derechos particulares de los ciudadanos; combinar-
los de suerte que no se destruyan mutuamente con sus oposiciones;
dirigir y manejar con destreza las pasiones de los hombres, haciendolas
servir tambien, si fuere necesario, al bien ptiblico, son los verdaderos
objetos y el noble fin de toda legislaci6n crimina1»1!.
En las postrimerias deI sigle XX el Derecho penal sigue siendo, por
desgracia, indispensable. Pero, muchos de sus rasgos basicos han cam-
biado fundamentalmente. Hoy se busca decididamente la descriminali-

, Moos, Die gesellschaftliche Funktion des Strafrechts und die Straf-


rechtsreform, en Osterreichische Richterzeitung, 1977, p. 235.
10 Memoria deI Consejo General deI Poder Judicial, 1982, p.1l.
11 Lopez-Rey, Criminologia 11, 1978, pp. 350 55.; Cfr. Naciones Unidas. Bole-
tin sobre Prevenci6n deI DeUto y Justicia Penal, NUmero 8, Sept. 1983, pp. 10 ss.
lZ Lardizabal y Uribe, Discurso sobre las penas, p. VI.
926 Antonio Beristain

zaei6n y la desjuridizaei6n, por 10 cual encuentra amplio eco en la teoria


y en la präctica la diversion (anglosajona)13. Hoy se subrayan e impul-
san tres funciones importantes deI sistema penal: la solidaridad con los
delincuentes, la mejora de la calidad de vida y el incremento de la
libertad.
Nuestra solidaridad con los delincuentes14 , en el Estado Soeial y De-
mocrätico de Derecho a la altura deI ano 1983, nos obliga a brindar a
los delineuentes las ayudas que ellos necesitan para su autoandrogene-
sis 0 repersonalizaci6n ya que todos tenemos nuestras manos mancha-
das con y en su culpabilidad. No basta respetar a los condenados.
La nueva normativa penal no ha de seguir siendo un test proyectivo
de nuestra autoacusaei6n, ni el hip6crita desahogo de nuestro propio
sentimiento de culpa transferido a los delincuentes, tal y corno 10 expli-
can las teorias psicoanaliticas deI chivo expiatorio15 : Nuestra correspon-
sabilidad nos obliga ahacernos solidarios - no verdugos - de los con-
denados, pues.no son distintos, no son «los otros»ta.
La mejora de la calidad de vida corno funei6n· deI Derecho penal se
evideneia en las nuevas tipificaciones de la delincuencia eco16gica, asi
corno en la humanizaei6n de las sanciones penales espeeialmente en las
medidas terapeuticas, en la disminuei6n tendente a la desapariei6n de las
Instituciones peniteneiarias cerradas, en los sustitutivos a la privaei6n
de libertad, en el campo de la delincuencia juvenil (por desgraeia la
ley vigente todavia en Espaiia data, practicamente, de 1948), de la dro-
gadiei6n (art. 344 deI C6digo penal), etc,u.
Desdehace tiempo se ha considerado el C6digo penal corno la Magna
earlade 1a libertad, corno e1 medio mas eficaz para asegurar y desarro-
llar la libertad de los inocentes y de los culpab1es. La pena pretende

13 Hauber, Diversion, alternative Perspektive oder informelle Sozial-


kontrolle? Neue Beiträge zur Entkriminalisierungsdiskussion, en Zentral-
blatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt, 1982, pp. 99 55.; veanse tambien
las conferencias de Ruiz Vadillo, Reforma penal y descriminalizaCi6n; y:
Reforma penal de 1983, en: Reformas penales en el mundo de hoy, ed. a cargo
de A. Beristain, 1984, pp. 357 ss.
14 Jescheck, Die Entwicklung der Strafrechtspolitik in der Bundesrepublik
Deutschland (Anm. 6), pp. 15 ss.; Moos, Die Reformbewegung des Strafrechts
in Österreich, der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland, en Fest-
schrift für Wilburg, 1975, pp. 253 ss.; Commission des maires sur la securite,
Rapport au Premier ministre. Face a la delinquance: prevention, repression,
solidarite, 1982.
15 Girard, Le bouc emissaire, 1982; Idem, EI misterio de nuestro tiempo.
Claves para una interpretaci6n antropo16gica, trad. de Ortiz, 1982, pp. 159 55.
18 Lain EntraZgo, Teoria y realidad deI otro, 1983.
17 Beristain, La delincuencia e inadaptaci6n juvenil en algunos crimin6lo-
gos criticos y algunos moralistas postconciliares, en Idem, Cuestiones penales
y criniino16gicas, 1979, p.481ss. En el enigmatico y debatido campo de las
drogas, vease la Sentencia deI rrib\mal Supremo de 16 de julio de 1980.
La reforma penal tambien desde Ia Universidad 927

tambien librar al delincuente de la venganza de las victimas y/o de los


otros delincuentes. Pero hoy, se ha de dar un paso adelante; el sistema
penal debe configurarse, ademas, comocreador de nuevas libertades,
por ejemplo en el campo de la libertad religiosa (arts. 205 ss. reformados
por La Ley Organica 8/1983), sexual (arts.429 ss. reformados por la Ley
46/1978, de 7 de octubre), de asociacion (arts. 172 ss. reformados por Ley
23/1976, de 19 de julio, BOE de 21, Ley Organica de 21 de mayo de 1980
y Ley Organica 8/1983), dereuniOn (arts.167 ss. reformados por Ley
Organica 9/1983, de 15 de julio), de expresion (arts. 165 ss. reformados
por Ley Organica 4/1980, de 21 de mayo, BOE de 13 de junio), etc.18•
La experiencia positiva de estas nuevas libertades formales y mate-
riales brinda apoyos solidos para que nuestra reforma penal mire tam-
bien hacia pueblos de America latina donde la tirania y la opresion
exigen de nuestra historica solidaridad un fecundo apoyo cientifico.
Quizas la situacion academica y politica de aquellos Estados pide que
nosotros les ayudemos para que ellos elaboren un Codigo Penal Tipo
Latinoamericano que vincule la ley de la fuerza a la fuerza de la ley18.
No pretendemos que su reforma penal imite la nuestra. Todo 10 contra-
rio. Deseamos 10 mas opuesto a la colonizacion juridica: ayudarles a su
peculiar inculturacion. Que ellos mantengan y redescubran sus propias
raices.
Y, con esto, llegamos a otro tema antes indicado: los valores pecu-
liares de cada pueblo han de encontrar acogida segura y fecunda en la
reforma penal. Las innovaciones constitucionales en favor y en pro de
las Comunidades Autonomas han de potenciar en la Universidad estu-
dios y divulgaciones acerca de las raices y las metas de cada pueblo y
region. En paises como el nuestro de tanto aprecio y fidelidad a las
normas, a la obligacion, a los usos y. costumbres, ellegislador debe ser

18 Cobo deZ RosaZ, EI deUto de rapto (Att.440 deI C6digo penaI), en Cobo
deZ RosaZlBajo Fernandez, Comentarios a Ia LegisIaci6npenaI, T.II, 1983,
pp. 371 ss.; Garcia-Pablos de Molina, Asociaciones ilicitas y terroristas (Arts.
172 a 176 deI C6digo penaI), en Comentarios a la LegisIaci6n penal, T. 11, pp,
109 ss.; Orts Berenguer, Reuniones y manifestaciones ilicitas (Arts. 166 a 171
deI C6digo penal), en opus cit.,· pp. 69 ss.; Boix Reig, «Consideraciones sobre
la protecci6n penal de la intimidady deI honor e informätica», en Anales de
la Universidad de Alicante. Facultad de Derecbo, n° 2 (1983), pp. 29 ss.
lG Jescheck, Strafen und Maßregeln des Musterstrafgesetzbuchs für Latein-
amerika im Vergleich mit dem deutschen Recht, en Strafrecht im Dienste
der Gemeinschaft, pp. 274 ss.; BacigaZupo, Die spanische und iberoamerikani-
sche Strafrechtsreform im Vergleich mit der Strafrechtsreform der Bundes-
republik Deutschland, en Strafrechtsreform und Rechtsvergleichung, 1979,
pp. 115 ss.; Rivacoba/Zaffaroni, Siglo y medio de Codificaci6n penal en Ibero-
america, 1980; Moreno Hernandez, Necesidad de la reforma penal integral en
Mexico y criterios para la misma, en Boletin Informativo, Instituto de Investi-
gaciones Juridicas, n° 2, 1983, pp. 60 ss. (Una reforma que no parta de bases
precisas, deI conocimiento profunde de la realidad s610 serä un desgaste pre-
cipitado de energias).
928 Antonio Beristain

parco y debe formular muy pocos preceptos, procurando mantener y


desarrollar las lineas maestras de nuestra normativa multisecular:
1°) exigencia de una jurisdicci6n propia para defenderse deI posible
abuso de jueces extrafios; 2°) legislaci6n y practica eficaz deI habeas
corpus; 3°) respeto a la dignidad personal deI inocente y deI condenado;
4°) prohibici6n terminante de la tortura; 5°) atenci6n maxima a las
victimaslO •
EI hijo insigne de San Juan Molino (Mexico), Lardiztibal, escribe
repetidas veces sobre este problema. Habla de <da indispensable necesi-
dad de reformar las leyes criminales» de acuerdo con el «diverso carac-
ter, usos y costumbres (de) las naciones». Tres paginas despues vuelve
sobre el tema: «he procurado esponer met6dicamente aquellos princi-
pios y maximas generales ... que sean ... adaptables a nuestras costum-
bres y a la constituciOn de nuestro Gobierno»21.
Si asi se expres6 Lardiztibal hace dos siglos, el afio 1782, actualmente
insistiria sobre esta necesidad de abandonar nuestro mimetismo disci-
pular y construir el edificio juridico-penal sobre nuestra Constituci6n,
sin olvidar la diversidad de los peculiares usos y costumbres, asi como
los Estatutos de cada Comunidad Aut6noma, leidos e interpretados a la
luz de la Historia y de las normativas escritas legadas por nuestros
mayores que tanto insisten en la dignidad de la persona, en el respeto
a la libertad, en el aprecio de 10 local (eI pase foraI), abiertos a la reali-
dad de la Comunidad europea y a la universalidad planetaria y a las
exigencias de responsabilidad que la ciencia y la tecnica imponen hoy
al universitario e investigadorl •

m. Metodologia y tecnica comparada


Multiples estudios hist6ricos y comparativos de las reformas penales
en el munde de hoy nos evidencian las diferencias que median entre las
reformas llevadas a cabo en el sigle XIX y las que debemos programar
en los ultimos afios deI siglo XX. Aquellas lograban sus objetivos con
menos medios, con mas rapidez y con mas eficacia. Exagerando un poco,
podemos decir que bastaba una Comisi6n que leyese unos libros y unas
leyes durante varios meses para formular quinientos articulos deI nuevo
C6digo penal, y algo semejante para la Ley de Enjuiciamiento Criminal.

10 BeTistain/Larrea/Mieza, Fuentes deI Derecho penal vasco (Siglos XI-


XVI), Gran Encicl. vasca, 1980, p. 246.
21 Lardizabal, Discurso sohre las penas, p. 14.
11 Eser, Der Forscher im Spannungsfeld des Rechts. Rechtsvergleichende
Beobachtungen zu Freiheit und Verantwortlichkeit von Wissenschaft und
Technologie, en Max-Planck-Institut für ausländisches internationales Straf-
recht, Freiburg i. Br., 4. Februar 1983, pp. 33 ss.
La reforma penal tambien desde la Universidad 929

Hoy ninguno de estos presupuestos, medios y fines COnserva aquella


validez y suficiencia. Ni basta una Comisi6n, ni basta leer libros y
leyes, ni basta un C6digo penaF8, ni una ley de Enjuiciamiento Crimi-
nal. Pensar 10 contrario seria cerrar los ojos a la trascendente compleji-
dad de la justicia penal, a los esfuerzos realizados y a las altas mejoras
logradas en la mayoria de los paises culturalmente cercanos a nosotros.
Seria desconocer nuestra historia, nuestro progreso, nuestras peculiari-
dades y nuestro rapidisimo «tempo» socio-politico-juridico.
Conocedor de estas realidades imponentes, el Gobierno Espanol ha
acertado al exigir para la reforma «un periode de reflexi6n mäs pro-
fundo»2" y al contentarse, por ahora, con aprobar una reforma urgente
y parcial que nO podia dilatarse por mäs tiempo dada «la gravedad
intrinseca de ciertas situaciones»25. Esta reforma debe considerarse
como muy seria, cientifica y atinada, sobre todo en 10 relativo al Libro 1.
A pesar de merecer este juicio positiva y a pesar de que el legislador
ha procurado no dejarse llevar por la precipitaci6n, cabe el temor de
que la Ley Orgänica 7/1983, de 23 de abril, de reforma de los arts.503
y 504 de la Ley de Enjuiciamiento Criminal (BOE n° 99, deI 26) y la
Ley Orgänica de 25 de junio de 1983 hayan sido excesivamente räpidas
y pretenciosas, de manera que pronto puedan (aunque no debian) ser
nuevamente reformadas, por ejemplo, en 10 relativa a la prisi6n pre-
ventiva (algunos tememos que - tal como se formula - el requisito
de que la pena senalada sea superior a la de prisi6n menor resultarä
excesivamente permisivo); cuando se habla de la tortura, en el art.501
(4), con una terminologia impropia pues confunde el tipo penal de tor-
tura deI art. 204 bis (figura aut6noma) con la figura de lesiones deI
art.501 (4); en el nuevo art. 204 bis a) que resulta superfluo pues el
art. 68 cumple ya el cometido de este nuevo precepto; en la vaguedad
e imprecisi6n de algunas nuevas tipificaciones, como en el art. 34428 ; en
las penas (reducidas) de algunos delitos contra la propiedad (arts. 514 ss.);
en posibles lagunas, por ejemplo, al no regular la protecci6n penal de
datos e informaciones de elaboraci6n por tecnicas electr6nicas.
Suele decirse, COn harta raz6n, que los encargados deI sistema judicial-
penal tienden morbosamente a la conservaci6n. Contra este peligro deben
23 Jescheck, Methoden der Vorbereitung und Durchführung der deut-
schen Strafrechtsreform (Anm. 5), p. 25; MooslSteininger (Compiladores), Pro-
bleme der Strafprozeßreform, 1982.
24 Exposicion de motives de Ia Ley General Organica 8/1983, de 25 de junio,
de Reforma Urgente y Parcial deI Codigo penal (BOE. n° 152, de 27 de junio).
25 Ibidem. Puede verse el texto completo en Anuario de Derecho Penal
(1983), pp. 351 y 55.
28 Ayestardn, Problematica existencial deI drogadicto, en Varios, Estudios
Vascos de Criminologia, 1982, pp. 187 55.; Beristain, Los deIitos de trafico ilegal
de drogas (en prensa).

59 Festschrift für H.-H. Jescheck


930 Antonio Beristain

trabajar el legislador, las universidades, los medios de comunicacion,


etc. Pero, corno decia Anton Oneca, cuidando de no poner el caballa
excesivamente delante deI carro porque la sociedad enseguida lloriquea
de inseguridad ciudadana y se producen movimientos y resultados nega-
tivos de contra-reforma.
Las noticias que par ahora hemos recibido nos dan pie para esperar
que el resto de la reforma actualmente en preparaci6n cumpla digna-
mente los requisitos y las progresivas etapas que exige la metodologia
politico-criminal para esta empresa, y brote desde la base, con atenci6n
interdisciplinar y tomando en consideraci6n las lecciones de otros paises.
La Constituci6n deI Estado Espafiol de 1978, en su articulo 117.1 reco-
noce que la justicia emana deI pueblo. LOgicamente, este deberä tomar
parte eficaz en la elaboraci6n de las normas penales correspondientes.
La normativa penal no viene revelada deI cielo. Nuestra justicia no
es teocrätica, no se ejerce en nombre de Dias, aunque todavia perviven
restos de tabus seculares. Tampoco desciende corno fruto exclusivo de
las elites intelectuales, aunque, parad6jicamente, algunos te6ricos dem6-
cratas populares27 protestan contra los filtros que el pueblo interpone
entre sus elucubraciones te6ricas, dogmäticas y profesionales. Algunos
catedräticos extranjeros parecen desear que el futura C6digo penal de
su pais brote exclusivamente de las teorias de los profesionales uni-
versitarios deI Derecho penal, de la Criminologia y de la Politica cri-
minal. Como reacciOn a esta postura de la «inteligentzia» extrema, sur-
gen otras dictaduras de tipo anticientifico, militarista, igualmente anti-
democräticas. Actualmente la Universidad chilena puede testimoniar,
por- desgracia, en este probIerna.
La informaci6n comparativa de c6mo se preparan y llevan a cabo las
reformas penales en Alemania, Austria, Belgica, Estados Unidos, Fran-
cia, Gran Bretafia, Italia, Jap6n, Portugal, etc.18, nos muestra el abanico
de las diversas fuentes que convergen desde lugares muy distantes para
la elaboraci6n cientifica de las normas penales. Es un trabajo inter-
disciplinar y democrätico, no monocolor ni esoterico, apoyado siempre
sobre datos y estudios socio16gicos.
Se puede afirmar que los gobiernos acuden inicialmente a Cornisiones
preparatorias compuestas par profesores universitarios de las diversas
Facultades, par Magistrado~, par representantes de los partidos politi-

27 Cfr. Baratta, Criminologia y Dogmätica Penal. Pasado y futuro deI mo-


delo integral de la Ciencia Penal, en La reforma deI Derecho PenallI, Edici6n
de Mir Puig, 1981, pp. 56 ss.
18 Jescheck, Grundlinien der internationalen Strafrechtsreformbewegung,
en Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft, pp. 129 ss.
La reforma penal tambien desde la Universidad 931

cos, de los sindicatos, de las iglesias, y por otros especialistas. Estas


Comisiones van ensanchandose, democratizandose desde el comienzo
(durante varios quinquenios), COn amplio eco en los medios de comuni-
cacionH •
Podemos indicar algunos detalles respecto a dos paises concretos-
la Republica Federal Alemana y Austria -donde tanto la tecnica
empleada como los resultados obtenidos merecen amplia (no total) apro-
bacion de la mayoria de los especialistas. No pensamos que en Espaiia
se deba plagiar los pasos dados por los alemanes y los austriacos, pero
si nOS parece util COnOcer sus diversas etapas, sus dificultades, sus fra-
casos y sus exitos, tambien en 10 relativo a la diversidad de personas e
instituciones que han colaborado desde el primer momento.
Los preparativos inmediatos de la reforma alemana empezaron el
aiio 1953 COn el nombramiento por el Gobierno de una Comision, siendo
entonces Ministro de Justicia el doctor Dehler. EI inicio la gran empresa
pidiendo informes a los principales penalistas alemanes acerca de los
problemas fundamentales de la reforma, y encargando al Instituto de
Derecho penal extranjero e internacional de Friburgo la elaboracion
de amplios informes comparativos de la parte general y de la parte
especial. Su sucesor en el Ministerio, Neumayer, formo la «Gran Comi-
sion para la reforma deI Derecho penal» , compuesta por catedraticos,
abogados, fiscales, magistrados, miembros de los Ministerios de Justicia
de los Länder y de la Federaci6n, representantes de todos los partidos
en el Parlamento, etc. Esta Gran Comisi6n inicio sus sesiones de tra-
bajo en Bonn, el 6 de abril de 1954, y las concluy6 el 19 de junio de 1959.
Posteriormente el Ministerio federal de Justicia redacto el texto deI
Proyecto de 1960 que despues reelaboro (Proyecto de 1962). Posterior-
mente, el 30 de junio de 1965, se redact6 el Bericht des Sonderausschus-
ses «Strafrecht» über die Beratung des Entwurfs eines Strafgesetz-
buches (StGB) E 1962 (Drucksache IV/650).
Al comienzo deI quinto periodo legislativo (1965 - 69) se debia presen-
tar de nuevo el Proyecto al Parlamento. Otra vez se nombro una Comi-
sion especial. Como base fundamental para sus estudios, en mas de
140 reuniones (a algunas de las cuales fueron invitados diversos espe-
cialistas teoricos y practicos, nacionales y extranjeros, para exponer
sus puntos de vista ante la Comision), se tuvieron en cuenta el Entwurf
de 1962 y el Alternativ-Entwurf presentado al Parlamento por los
miembros deI Partido Democrätico-liberal (FDP).
Apoyändose en estos dos proyectos, la Comision elaboro el texto de
ley que contiene las modificaciones urgentes de la Parte General y de

2U Jescheck, Die Entwicklung der Sanktionspolitik (Anm. 6), p.l5.

59·
932 Antonio Beristain

la Especial. Posteriormente, en agosto de 1969, se promulg6 y public6


el texto de esta reforma parcial y urgente, y el texto de la Parte Gene-
ral deI C6digo pena130 •
A la aprobaci6n gubernamental de los nuevos textos legales ha pre-
cedido la previa publicaci6n de multiples y amplios estudios que los
miembros de las diversas Ponencias y Comisiones han redactado moti-
vando la formulaci6n correspondiente. La primera redacci6n deI pro-
yecto gubernamental aleman se apoya en investigaciones e informes
publicados en muchos tomos que brindan al interesado veinte mil pagi-
nas de densa lectura.
De modo semejante, en Austria estan al alcance deI «curioso» los
volumenes donde se fundamenta la preparaci6n deI C6digo penal y el
proyecto de la nueva Ley de Enjuiciamiento Criminal31 •
En la preparaci6n deI C6digo penal austriaco, que entr6 en vigor el
lOde enero de 1975, se discuti6 si debia intervenir alguna representa-
ci6n de la Iglesia cat6lica. En la di6cesis de Linz, la comisi6n diocesana
«Arbeitskreis des Sozialreferates» se manifest6 contra la oportunidad
de participar en los estudios de la Parte general deI C6digo penal por
entender que se trataba de problemas de Psicologia social, de Psiquia-
tria, de Sociologia y de Ciencias penales, pero no de temas de «Welt-
anschauung» 0 de etica3Z • Esta opini6n tan peculiar encontr6 poca acep-
taci6n. Por 10 que multiples especialistas, te610gos y pastoralistas han
aportado su colaboraci6n en la reforma penal austriaca33 •
Este tema concreto -la mayor 0 menor interdisciplinaridad en los
tr:abajos para la reforma penal- da pie a discutir si se debe incluir

ao J escheck, Origenes, metodos y resultados de la reforma deI Derecho


penal alemän, en Anuario de Derecho Penal (1976), pp. 7 ss.; Beristain, La re-
forma deI C6digo penal aleman, en Anuario de Derecho Penal (1969), pp. 371 ss.
31 Jescheck, Neue Entwicklungstendenzen des deutschen Strafverfahren-
rechts im Vergleich mit dem österreichischen Recht, en Strafrecht im Dienste
der Gemeinschaft, 1980, pp. 288 ss. Las decenas de volumenes de studios oficia.,
les y privados que han fundamentado la reforma penal en Alemania, y en
Austria encuentran eierto paralelismo (en otra dimensi6n) en Gran Bretafta,
en Canada y en Francia. Respecto a esta ultima naci6n veanse Rapport du
comite preside par Peyrejitte, Reponses a la Violence, Tomos I y H, y sus,
Annexes, tomos 1 al 8, 1977; Commission des Maires sur la securite, Rapport
au Primier ministre. Face a la delinquance: prevention, represion, solidarite,
dieiembre 1982, con sus serias 64 proposiciones y sus anexos; Mireille DeZmas-
Marty, Modeles et Mouvements de Politique criminelle, 1983, pp. 174 ss.;
Ministere de Za Justice, Avant-Projet de Code Penal, Livre premier (Disposi-
tions generales), 1983.
32 Moos, Die gesellschaftliche Funktion (Anm. 9), p. 236. Con orientaci6n
preconciliar, vease Kadecka, Unchristliches im geltenden österreichischen
Strafrecht, en Religion, Wissenschaft und Kultur, 1958, pp. 112 ss.
33 Moos, Die Reformbewegung des Strafrechts in Österreich (Anm.9), pp.
264 ss.
La reforma penal tambien desde la Universidad 933

tambien a los especialistas en la problematica religiosa. Merece la pena


ser tratado aqui aunque sea brevemente.
Salvo raras excepciones, todos los paises invitan a representantes
oficiales y no oficiales de las principales religiones atomar parte en la
preparaci6n y discusi6n de los trabajos previos al Anteproyecto guber-
namental, como 10 prueban abundantes documentos al respecto. Espe-
cialmente importante es la densa monografia preparada por un grupo
de la Caritas suiza, «Reformprogramm zum schweizerischen Straf-
wesen», y en cierto sentido, desde diversos puntos de vista, todos los
nOS 140 y 150 de la Revista Concilium, sobre la tortura y pena de muerte,
sobre la dignidad de los marginados (la dignidad de Dios pasa por los
hombres sin dignidad)34.
No conozco -lamentablemente - ningun estudio serio y cientifico
sobre la reforma penal en el Estado espafiol firmado por una persona 0
un grupo de personas en cuanto creyentes. Prescindo aqui de las publi-
caciones acerca deI aborto, algunas carentes de los mas elementales
fundamentos cientificos. Asi como ha desaparecido (por opuesto al
talante evangelico) el secular Indice de libros prohibidos, con la pro-
hibici6n eclesial de leer ciertos libros, espero que pronto desaparezca
la prohibici6n para publicar sobre ciertos temas. La verdad nos hara
libres a todos.
Si miramos hacia tiempos pasados, encontramos en nuestros escrito-
res misticos y en nuestros canonistas deI Renacimiento consideraciones
atinadas sobre la responsabilidad, el perd6n, la sanci6n, la repersonali-
zaci6n, la victimaci6n, etc. que pu eden y deben reflejarse de alguna
manera en nuestra futura normativa y praxis penaJ85.
Como explic6 Welzel 38 , sin aceptar la transcendencia, mas 0 menos
religiosa, resulta imposible hablar de responsabilidad juridica, de justi-
cia, de Derecho penal y de humanismo. EI evangelio puede ensefiar
mucho a los jueces, a los delincuentes y a los ciudadanos. Segun el se
debe vencer el mal con el bien37 , y quien visita a un preso visita al
hombre que mas aprecio ha encontrado en la historia: Jesucristo.
Los juristas conscientes de nuestra finitud reconocemos la convenien-
cia de que los te610gos y otros especialistas critiquen 0 complementen

34 Franz/Walter y otros, Reformprogramm zum schweizerischen Strafwe-


sen, 1983; SobTina, «Relaci6n (solidaria) de Jesus con los pobres y desclasados»,
en Concilium n° 150, 1979, pp.461 ss.; Pinta de Oliveira, La violencia en 1a
lucha contra estructuras injustas, en Concilium, n° 140, 1978, pp. 749 ss.
35 Beristain, La dimension religiosa en la Filosofia de la Politica Criminal,
en Idem, La pena-retribuci6n y las actuales concepciones crimino16gicas, 1982,
pp. 112 ss.
38 Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 48 ed. 1962, pp. 238 SS.
37 Evangelio de Mateo, capitulo V.
934 Antonio Beristain

nuestros trabajos. Ademas, opinamos que ellos tambien padecen su


deformaci6n profesional y estamos dispuestos a ayudarles a corregirla,
en dialogo universitario. Las facultades de Teo10gia deben abrir sus
puertas en las dos direcciones: para dar y para recibir. La reforma
pena1 brinda una ocasi6n para este mutuo enriquecimiento cientifico,
fuera de cua1quier dogmatismo. Como recuerda Baratta38 , 1a Teologia
contemporanea nos esta dando una 1ecci6n con su gran capacidad de
renovaci6n en su estructura conceptua1 y axio16gica.

Para conc1uir esta parte indicaremos brevemente la necesidad de


aportaciones crimino16gicas para 1a e1aboraci6n de 1a futura 1egis1aci6n
penal.
EI Profesor Kaiser ha escrito repetidas veces en este sentido. Baste
recordar ahora su convencimiento de que son necesarios trabajos cri-
mino16gicos con instrumentos mas finos, mejores modelos y analisis
mas sublimados; y que el futuro Derecho penal esta en crisis - tam-
bien en el tema de Ia pena y su sentido - por 10 que requiere un con-
tinuo rep1anteamiento como prob1ema discutib1e, con 1a mirada dirigida
especialmente a los objetivos de corresponsabilidad, humanizaci6n,
igua1dad, libertad y justicia, 10 mismo que los deI control deI deUtose.

EI Profesor deI Rosal se manifiesta insistentemente en direcci6n pare-


cida. Con frecuencia pide se intensifique las investigaciones crimino-
16gicas y se Iamenta de «una especie de elefanteasis de 1a dogmatica»,
deI descuido de da dimensi6n humana», deI no tener «en cuenta 1a
esencia1 importancia deI problema penitenciario» que es el coraz6n deI
Derecho penal y «entrana 1a mas viva cuestiOn humana»co.

EI «Instituto Vasco de Crimino10gia» de 1a Universidad deI Pais


Vasco ha intentado aportar a1go en este campo con 1a co1aboraci6n de
especialistas en tecnicas informaticas, micro-e1ectr6nicas, a1 publicar
su Estudio crimino16gico de sentencias en materia pena1, sobre las Sen-
tencias dictadas en San Sebastian durante al aiio 1975. En los archivos
dei Instituto estan a disposici6n de quien 10 desee los materiales basicos
y mas 0 menos elaborados, que brindan materia interesante para publi-
caciones posterioresCl •

88 Baratta, Crimino1ogfa y Dogmatica (Anm. 27), p. 59.


se Kaiser, Crimino1ogia. Una introducci6n a sus fundamentos cientificos,
traduc. de 1a 2" ed. alemana, por BelZoch/Zimmermann, 1978. Idem, Krimino-
logie, 1980, pp. 314 ss.
co DeI Rosal, Esquema de 1a crisis juridica en 1a realidad penal, en Idem,
Cosas de Derecho pena1, 1973, pp. 25 ss.
41 Beristain/Casares/de la Cuesta y otros, Estudio criminol6gico de senten-
cias en materia penal, 1983.
La reforma penal tambien desde la Universidad 935

La investigaci6n, la teoria y la praxis crimino16gica en los Institutos


universitarios, actualmente tan menospreeiados en algunos sectores
academicos y politicos, iran abriendo nuevos surcos fecundos.
Con verdadera satisfacei6n en el Simposio Internaeional celebrado
en Barcelona, a primeros de junio de 1983, con la colaboraci6n deI Con-
sejo de Europa, escuchamos al Ministro de Justieia, Sr. D. Fernando
Ledesma, que la nueva legislaei6n exigira la partieipaei6n de los exper-
tos crimino16gicos en los juieios cuyas pruebas presenten dificultades4t •
La metodologia crimino16gica solventarä notablemente algunos proble-
mas graves que tiene planteados el poder judieial; y mejorarä la dete-
riorada imagen publica de la polida y deI personal penitenciario43 • La
colaboraei6n te6rica y präctica en el sistema juridico-penal de crimin6-
logos bien formados y equipados puede contribuir a que la justieia
penal respete mas la dignidad de la persona y vaya configurando un
Derecho penal mas de acuerdo con una imagen deI hombre que satis-
faga las exigeneias ut6picas - y justas - de nuestros universitarios (y
de nuestros ciudadanos, naturalmente)".
Como paso previo eficaz convendria crear y dotar debidamente una
Comisi6n de Politica Criminal, algo asi como existe en otros paisesu .
Esta Comision tendra como objetivo, entre otros, el continuar los exce-
lentes trabajos que ya han realizado, a partir de abril de 1978, la ponen-
eia espeeial formada por Conde-Pumpido, Diaz Palos, Gimbernat DTdeig
y RodTlguez Mourullo (Ponente general) para la preparaeion de un
Anteproyecto de C6digo Penal, paralelamente con la ponencia para el
estudio de las medidas penales integrada por BaTbeTo Santos (ponente
general) y MOTenilla. Fruto de los trabajos de estas ponencias fue, tras
las modificaeiones subsiguientes, el Proyecto de Ley Organica de
C6digo Penal, publicado en el Boletin Ofieial de las Cortes Generales,
Congreso de Diputados, de 17 de enero de 1980, que no lleg6 a madurar.
Actualmente esta en discusi6n publica la «Propuesta de Anteproyecto

42 EI articulo 75 de la Propuesta de Anteproyecto de Nuevo Codigo penal deI


Ministerio de Justicia (Madrid 1983), exige un informe de caracter criminolo-
gico para dejar en suspenso el falle de la sentencia. De modo semejante, el
art. 87 10 exige para poder deducir UD pronostico de comportamiento futuro
que revele la probabilidad de comisi6n de nuevos delitos.
41 BustoslBergalZi, EI control formal: policia y justicia, en Idem, EI pen-
samiento criminologico 11, 1983, pp. 63 ss.
« Jescheck, Das Menschenbild unserer Zeit und die Strafrechtsreform,
en Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft, 1980, pp. 3 ss.; Moos, Zur Reform
des Strafprozeßrechts und des Sanktionenrechts für Bagatelldelikte, 1981,
pp.3 ss.
u L6pez-Rey y ATTOjO, La justicia penal y la Politica criminal en Espafia,
1979, p.97; Idem, Criminologia, Criminalidad y planificacion de la Politica
criminal, 1978, pp. 383 ss.; Idem, AnaUsis politico criminal deI Proyecto oficial
de Codigo penal espaiiol, en Anuario de Derecho Penal (1980), pp. 313 ss.
936 Antonio Beristain

deI Nuevo C6digo penal» elaborada por la Comisi6n nombrada por el


Ministro de Justicia, Sr. Ledesma, formada por Cobo deI Rosal, Gim-
bernat Ordeig, Luzon Pefia, Mufioz Conde, Quintero Olivares y Garcia
Miguel.
Si, corno hemos dicho antes, la nueva normativa penal pretende resol-
ver los problemas mas graves de su comunidad correspondiente, dada
la complejidad politica, cultural, nacional e internacional que subyace
en la criminalidad contemporanea (pensemos en las drogas, el terro-
rismo, las multinacionales, la subcultura carcelaria, el ambiente eco-
16gico, los progresos tecno16gicos, la manipulaciOn genetica, etc.), en-
cuentra explicaci6n que los gobiernos actuales esten realizando sus
reformas penales con especialistas interdisciplinares, con amplia parti-
cipaci6n de los grupos politicos, sociales, religiosos, con estudios dogma-
ticos y empirico-socio16gicos ayudados con medios de la moderna elec-
tr6nica para (durante varios lustros) ir reformando la normativa penal
con decenas de leyes (algo mas y distinto que un C6digo decimon6nico)
que se van dando a conocer al publico desde los primeros pasos de su
elaboraci6n. Corno sabemos y recuerda el Profesor Kaiser, en sentido
laudatorio, en Alemania para - y dentro de - su reforma penal se
han promulgado desde 1953 hasta 1980 unas cincuenta leyes nuevas".
A la luz de 10 hasta aqui expuesto y sugerido se puede concluir que
la reforma y la doctrina penal espafiola esta dando un paso hist6rico
paradigmatico, y se ha puesto ya a la altura de los paises mas adelanta-
dos, gracias especialmente a la Universidad.

48 Kaiser, Die Entwicklung der Strafrechtspolitik in der Bundesrepublik


Deutschland seit Mitte der fünfziger Jahre, ein Erstes deutsch-sowjetisches
Kolloquium über Strafrecht und Kriminologie, 1982, pp. 31 ss.
FRIEDRICH SCHAFFSTEIN

Uherlegungen zur Diversion

I.
In einer Festschrift für den Jubilar, dessen wissenschaftliche Arbeiten
stets im besonderen Maße sowohl der Rechtsvergleichung wie auch der
Kriminalpolitik galten, darf auch das zur Zeit besonders aktuelle, ja
sogar modische Thema der Diversion einen Platz beanspruchen. In sei-
nem viel zitierten und bis heute zeitgemäßen Pariser Referat "Die
Krise der Kriminalpolitik" (1979)1 hat Jescheck in einem umfassenden
überblick über die neuere internationale Entwicklung Grund und Aus-
wirkungen dieser Krise dargestellt und dabei insbesondere auf den
Vertrauensverlust hingewiesen, den allenthalben die einst so hochge-
schraubten Erwartungen in die spezialpräventiven Möglichkeiten der
Freiheitsstrafe erfahren haben. Als ein Mittel, die Freiheitsstrafe zu
ersetzen, hat er damals an erster Stelle die Anfang der 70er Jahre in
den USA entstandene und rasch verbreitete Idee der "diversion" ge-
nannt. Doch schließt sein diesem Thema gewidmeter Abschnitt mit der
Feststellung, in den USA habe die anfangs bestehende Popularität der
Diversion inzwischen nachgelassen!. Da aber die deutsche Kriminologie
und Kriminalpolitik seit langem gewöhnt sind, mit einigen Jahren
Verspätung die amerikanischen Modethemen und Lösungen aufzugrei-
fen, ist bei uns die Diversion mehr denn je zentraler Diskussionsgegen-
stand und zugleich praktisches Experimentierfeld.
Die Ursprünge in der amerikanischen Kriminalpolitik, die dort ent-
wickelten Diversionsstrategien und die Bewertung der amerikanischen
Vorbilder als Muster für deutsche Lösungen sind erst kürzlich in meh-
reren Abhandlungen, so zuletzt in einem umfangreichen Aufsatz von
Michael Walter und in der Habilitationsschrift von Peter Alexis Al-

1 Jescheck, ZStW 91 (1979), S. 1037 ff., 1060.


2 Jescheck, ZStW 91 (1979), S. 1061; vgl. auch Pfeif/er, Kriminalprävention
im Jugendstrafverfahren, 1983, S. 125 ff., der jedoch die übertragung der
negativen amerikanischen Erfahrungen auf die andersartigen deutschen Ver-
hältnisse nachdrücklich ablehnt.
a Walter, Wandlungen in der Reaktion auf Kriminalität, ZStW 95 (1983),
S. 32 ff.; ders., Innere Reform jugendkriminalrechtlicher Praxis, in: Kerner!
Kury/Sef/ner, Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentstehung und Kri-
minalitätskontrolle, 1983, S. 1023 ff. Zur Diversion allgemein insbes. Kury!
938 Friedrich Schaffstein

brecht!' ausführlich, wenn auch unter unterschiedlichen Gesichtspunkten,


dargestellt worden. So darf hier, soweit es sich bei der Diversion um
"eine amerikanische Antwort auf ein amerikanisches Problem" (Walter)
handelt, der Kürze halber auf die bei den genannten Berichte verwie-
sen und die eigenen überlegungen auf die spezifisch deutsche Proble-
matik beschränkt werden.
Das Schlagwort "Diversion", wörtlich "Umlenkung" , bezeichnet in
der derzeitigen Diskussion die Entwicklung alternativer, nämlich in-
formeller Verfahrensformen und Reaktionsweisen, die in Abkehr von
dem in StPO und JGG vorgesehenen "normalen" Strafverfahren eine
schnellere Reaktion auf kleinere und mittlere Straftaten und Jugend-
verfehlungen ohne stigmatisierende Wirkung gestatten. Als eine "Ent-
kriminalisierung" auf prozessualem Wege ordnet sich die Diversion
in den allgemeinen Trend der Zeit zur Zurückdrängung des traditionel-
len Strafrechts eins.
Wie dieser Trend hat auch die Forderung nach Diversion recht ver-
schiedene Gründe und ebenso unterschiedliche Zielsetzungen, die
wiederum im Jugendstrafrecht andere Akzentuierungen als im Er-
wachsenenstrafrecht erfahren. Auf beiden Gebieten gilt es, auf neue
und unkonV'entionelle Weise mit den durch die wirtschaftliche, soziale
und technische Fortentwicklung verursachten neuen Formen einer
Massenkriminalität (Ladendiebstahl, Schwarzfahren, kleine Verkehrs-
kriminalität u. dg1.) fertig zu werden, eine Aufgabe, der das traditio-
nelle Strafverfahren selbst mit seinen abkürzenden Verfahrensarten
(Strafbefehl, beschleunigtes Verfahren, vereinfachtes Jugendverfahren)
nicht mehr gewachsen ist und welche die in ihrer personellen und ma-
teriellem Ausstattung zwangsläufig begrenzte Strafjustiz daran hindern
würde, ihre anderen und wichtigeren Aufgaben hinreichend wahrzu-
nehmen. Mit diesem Ziel der Justizentlastung und der durch sie be-
wirkten Verfahrensbeschleunigung verbindet sich als zweites Ziel der
Diversion die Entstigmatisierung des Verfahrens und der Rechtsfolgen
der Straftat. Insofern erweist sie sich als die kriminalpolitische Konse-
quenz des Labeling-Ansatzes, was namentlich von ihren jugendstraf-
rechtlichen Befürwortern stets mit besonderem Nachdruck herausge-
stellt worden ists . Wenn nämlich Kriminalität durch Kriminalisierung,

LerchenmülZer (Hrsg.), Diversion und Alternativen zu klassischen Sanktions-


formen, 1981, mit Beiträgen von Heinz, Kerner u. a.
, P. A. Albrecht, Perspektiven und Grenzen polizeilicher Kriminalpräven-
tion, Diversionsmodelle aus den USA in der Sicht deutscher Instanzenvertre-
ter, 1983.
5 Vgl. dazu den umfassenden überblick von Vogler, Möglichkeiten und
Wege einer Entkriminalisierung, ZStW 90 (1978), S.132 fi.
S Vgl. etwa Sonnen, in: Jugendrichterliche Entscheidungen - Anspruch
und Wirklichkeit, Tagungsbericht des 19. Jugendgerichtstages 1980, S. 177 ff.;
überlegungen zur Diversion 939

d. h. mittels Zuschreibung durch justizielle Kontrollinstanzen entsteht,


so muß es möglich sein, durch Verzicht auf solche Zuschreibung "Kri-
minalprävention" zu bewirken. In diesem Sinne, als Strategie zur Ver-
hinderung von Strafe und damit von Straffälligkeit, standen Kriminal-
prävention und Diversion im Mittelpunkt der beiden letzten deutschen
Jugendgerichtstage 1980 in Göttingen und 1983 in Mannheim. Wenn
die Kriminalisierung durch Strafe und mit ihr die Forderung nach
entstigmatisierender Diversion gerade im Jugendstrafrecht in den
letzten Jahren zum zentralen Thema geworden ist, so hat das natür-
lich auch darin seinen Grund, daß man hier besonders hohe Erwartun-
gen in einen Behandlungsvollzug stationärer Sanktionen gesetzt hatte.
Folglich mußte die weltweite Enttäuschung über dessen geringe Effi-
zienz sich besonders hinsichtlich der Bekämpfung der Jugendkriminali-
tät auswirken und dort neben einer stärkeren Zurückdrängung statio-
närer Sanktionen durch ambulante Maßnahmen auch zum Verzicht auf
ein formelles Strafverfahren zugunsten informeller Reaktionen führen.
Diversionsstrategien setzten eine Durchbrechung des strafprozessua-
len Legalitätsprinzips voraus. Die Durchbrechung ist im Jugendstraf-
recht, das sich auch hier als Schrittmacher des allgemeinen Strafrechts
erwies, seit 1953 aufgrund der §§ 45, 47 JGG möglich, die ihrerseits
bereits auf den § 32 des JGG 1923 zurückführen. Das allgemeine Straf-
verfahren folgte erst 1974 mit dem § 153 aStPO. Schon daraus, daß
nach der StPO das Absehen von Strafverfolgung nur bei Vergehen
und bei geringer Schuld zulässig ist, geht hervor, daß im Erwachsenen-
verfahren der Entlastungs- und Beschleunigungseffekt im Vordergrund
steht, während die Vermeidung von Stigmatisierung für den Gesetz-
geber wohl allenfalls eine wünschenswerte Nebenfolge war. Dagegen
stand im Jugendverfahren, das jene Einschränkungen nicht kennt,
Diversion aber nur gegenüber dem geständigen Beschuldigten zuläßt,
das Ziel, den Jugendlichen von der stigmatisierenden Wirkung des for-
mellen Strafverfahrens zu bewahren, von vornherein im Vordergrund.
Nur so ist wohl das erstaunliche Phänomen zu erklären, daß die ein-
ander weitgehend entsprechenden Bestimmungen des § 153 a StPO
einerseits, der §§ 45,47 JGG andererseits zwar übereinstimmend in der
strafrechtlichen Praxis eine immer häufigere Anwendung, im krimi-
nalpolitischen Schrifttum aber eine völlig unterschiedliche Bewertung
erfahren haben. Während § 153 a StPO von der ganz überwiegenden
Meinung der Theorie7 als ein Verstoß sowohl gegen rechtsstaatliche wie

P. A. Albrecht (Anm. 4), S. 14 ff. u. passim; mit Einschränkungen auch PfeitJer,


S. 26 ff., 30 f.
7 Mehr oder minder scharfe Kritik an § 153 a StPO haben die meisten füh-
renden Strafprozeßtheoretiker geäußert, so u. a. Arzt, Baumann, Dencker,
Hanack, Naucke, Rudolphi, Roxin, Schmidhäuser. übersicht über den Streit-
940 Friedrich Schaffstein

gegen sozialstaatliche Grundsätze, als ein der Willkür ausgesetztes


"Freikaufsverfahren" , ja sogar als "Tuschelverfahren" , das einseitig
die wohlhabenden und damit die oberen sozialen Schichten begünstige,
herb kritisiert worden ist, gelten heute die den staatsanwaltschaftlichen
und richterlichen Spielraum noch stärker ausdehnenden §§ 45, 47 JGG
im jugendstrafrechtlichen Schrifttum als der Hort progressiver Krimi-
nalpolitik schlechthin.
Es gilt hier zunächst nur, diese Diskrepanz festzustellen. Sie mag
auch darin einen ihrer Gründe haben, daß bei uns in den letzten Jahr-
zehnten die allgemeine strafrechtliche und die jugendstrafrechtliche
Literatur recht verschiedene Wege gegangen sind und wenig Notiz von-
einander genommen haben. Die folgenden überlegungen, die schon
aus Raumgründen keine vollständige Darstellung der Diversionspro-
blematik geben können, möchten beide wieder stärker zusammenfüh-
ren. Sie sollen sich zunächst der Frage zuwenden, ob und inwieweit die
überwiegend negative Bewertung des § 153 a StPO berechtigt ist, um
sich dann ausführlicher mit der hoch gelobten jugendstrafrechtlichen
Diversion zu befassen.

II.
Hinsichtlich § 153 a StPO ist die Bewertung heute sehr erleichtert
worden. Denn hier liegen nunmehr in den bei den sich ergänzenden
Arbeiten von AhTens und HeTtwig sowie in der allerdings auf die
Berliner Sanktionspraxis beim Ladendiebstahl beschränkte Abhand-
lung von Joachim WagneT gründliche, mit den Methoden moderner
Sozialwissenschaft durchgeführte empirische Untersuchungen zu allen
hier einschlägigen Problemen vor, die eine Beurteilung der Diversion
nach § 153a StPO aus dem Bereich bloßer kriminalpolitischer Speku-
lationen in den der justizstatistisch abgesicherten Erfahrung erheben8 •
Da die Ergebnisse dieser Untersuchungen noch nicht überall die
ihnen gebührende Aufmerksamkeit gefunden haben, obwohl sie min-
destens eine vorläufige Antwort auf die gegen § 153 a StPO erhobenen
Einwendungen enthalten, so seien hier einige von ihnen noch einmal

stand und die wichtigsten Argumente bei Naucke, Strafrecht!. Gutachten zum
51. Dt. Juristentag 1976; Hirsch, ZStW 92 (1980), S. 221 ff.; Hertwig, Die Ein-
stellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit, Krim. Stud. Bd.41 (1982),
S.3 f. m. w.N.
8 Ahrens, Die Einstellung in der Hauptverhandlung gem. § 153 H, § 153 a
StPO, Krim. Stud. Bd.27 (1978); Hertwig (wie Anm.7); Wagner, Staatliche
Sanktionspraxis bei Ladendiebstählen, Krim. Stud. Bd. 32 (1979). Die Unter-
suchungen von Ahrens und Hertwig sind im Rahmen des von Schöch und
SchTeibeT geleiteten Forschungsprojektes zur strafprozessualen Rechtstat-
sachenforschung durchgeführt worden. Da sich die Arbeit von Ahrens nur
mit der Einstellung in der Hauptverhandlung befaßt, kommt für das Thema
"Diversion" vor allem die Arbeit von Hertwig in Frage.
überlegungen zur Diversion 941

hervorgehoben. Die empirischen Analysen Hertwigs, auf die wir uns


hier beschränken wollen, bezogen sich auf die Einstellungen in 16 auf
das ganze Bundesgebiet verteilten LG-Bezirken aus den Jahren 19,78/79.
Die Gesamtquote der Einstellungen nach §§ 153, 153 a StPO in allen
Verfahrensstadien betrug 10,60f0 aller Verfahren. Inzwischen ist sie
nach den von Rieß mitgeteilten Zahlen für 1981 weiter erheblich ge-
stiegene. Obwohl diese Prozentsätze für das Erwachsenenstrafverfahren
weit hinter denen für das Jugendstrafverfahren (unten S. 994 ff.) zu-
rückbleiben, ist Hertwigs Feststellung zweifellos berechtigt, daß die
Einstellungsmöglichkeit nach den §§ 153, 153 a StPO in der Strafver-
folgungspraxis angenommen und wesentlicher Bestandteil im straf-
prozessualen Entscheidungskatalog geworden ist, wobei sich jedoch
erhebliche Unterschiede selbst innerhalb einzelner Bundesländer und
benachbarter LG-Bezirke zeigten10• Von den Einstellungen waren
45,5% solche nach § 153, während 54,50f0 in Verbindung mit Auflagen
und Weisungen nach § 153a StPO erfolgten. Von Auflagen und Wei-
sungen lag der Schwerpunkt mit 89,8 Ofo bei den Geldauflagen (§ 153 a
II 1 StPO), während gemeinnützige Leistungen und Wiedergutmachung
des Schadens nur eine völlig untergeordnete Rolle spielten. Auch hier
liegt offenbar ein entscheidender Unterschied gegenüber der Einstel-
lungspraxis im Jugendverfahren, dessen spezialpräventiver Zielset-
zung gerade auch die nicht nur repressiv orientierten Auflagen und
Weisungen dienen sollen. Da die StPO die Einstellung auf Vergehen
mit geringer Schuld begrenzt, so entspricht dem die von Hertwig er-
mittelte Beschränkung auf die bekannten Bagatellkriminalitätsfälle:
Diebstähle und Unterschlagungen geringwertiger Sachen, insbesondere
Ladendiebstähle, leichte Fälle von Betrug, von Verkehrsdelikten (§§ 142,
230 StGB), von Aggressionsdelikten (insbes. § 113 StGB) sowie Verstöße
gegen das Ausländergesetz.
Die Stichhaltigkeit der zahlreichen Einwendungen, die im Schrifttum
gegen § 153 a StPO erhoben waren, läßt sich nunmehr aufgrund einer
genauen Analyse dieser Einstellungsfälle, die Hertwig auf der Grund-
lage einer repräsentativen Stichprobenzahl vorgenommen hat, über-
prüfen. Er kommt zu dem Ergebnis, daß zumindest einige der gegen den
§ 153 a StPO erhobenen Bedenken bisher nicht widerlegt worden seien.
Obwohl er schichtspezifische Unterschiede nur in geringem, jedenfalls
nicht in dem oft erwarteten starken Maße ermitteln konnte, glaubt er
dennoch, Tendenzen eines "Freikaufscharakters" , wie sie besonders
von Schmidhäuser und Hanackll befürchtet worden waren, feststellen
zu können, und zwar gerade bei tat- und tätertypischen Konstellationen,

9 Rieß, ZRP 1983, 94 f.


10 Hertwig, S. 43 ff.; zur inneren Struktur der Unterschiede Rieß, S. 97 f.
11 Schmidhäuser, JZ 1973, 529 ff.; Hanack, Gallas-Festschrift, 1973, S.358.
942 Friedrich Schaffstein

die eher gegen Geringfügigkeit sprechen würden (strafrechtliche Vor-


belastung, hohe Schadenssumme)12. Während sich jedoch insoweit eine
mißbräuchliche Anwendung des § 153 a StPO zahlenmäßig in engen
Grenzen hält, scheint mir bedenklicher ein weiterer von Hertwig fest-
gestellter Mißbrauch zu sein. Danach wird verhältnismäßig häufig bei
Beweisschwieri:gkeiten die Einstellung als "Notbremse" wegen des sonst
unvermeidlichen Freispruchs und dessen kosten- und entschädigungs-
rechtlichen Folgen benutzt. Das geschieht insbesondere bei Verkehrs-
delikten und Betrug, wenn, wie bei diesen Delikten häufig, besonders
die Feststellung der Fahrlässigkeit bzw. des Vorsatzes Schwierigkeiten
bereitet. Wenn die Einstellung nach § 153 StPO erfolgt, mag sich das
angesichts des Einverständnisses des Beschuldigten als unproblematisch
erweisen. Aber nach Hertwigs Ermittlungen erfolgt in mehr als der
Hälfte der Fälle die Einstellung sogar mit Sanktionen nach § 153 a
StP013• Für die in diesen Fällen angeordnete Geldauflage scheint der
im Schrifttum bereits erhobene Vorwurf der Verdachtsstrafe durchaus
berechtigt zu sein. Freilich trifft der Vergleich mit der gemeinrecht-
lichen Verdachtsstrafe nur aus der Sicht des Gerichts und des Staats-
anwaltes zu, während den Beschuldigten, anders als im gemeinrecht-
lichen Inquisitionsprozeß, die Verdachtssanktion ja nur trifft, wenn
er sich ihr freiwillig unterwirft. Obwohl er dafür häufig gute Gründe
haben mag, bleibt doch die Tatsache, daß er sein Einverständnis nur
deshalb gibt, weil er das Risiko der Verurteilung nicht abzuschätzen
vermag.
Bekanntlich haben die mannigfachen Einwendungen gegen § 153 a
StPO, von denen sich durch die empirischen Nachprüfungen immerhin
einige als berechtigt herausgestellt haben, zu einer Vielzahl von Vor-
schlägen geführt, welche die Probleme der Entkriminalisierung der
Bagatellkriminalität bzw. der Diversion im Bagatellverfahren auf an-
dere Weise lösen möchten.
Eine Auseinandersetzung mit solch alternativen Vorschlägen würde
weit über den uns gesetzten Rahmen dieser überlegungen hinausfüh-
ren und muß deshalb unterbleiben14 • Doch bin ich mit Jescheck, Rieß,

1Z Eine signifikante Bevorzugung der Angeklagten mit höherem sozio-


ökonomischen Status durch Einstellung in der Hauptverhandlung hatte auch
schon Ahren5, S. 182 ff., 206 f. festgestellt. Ähnlich beobachtete Wagner, S. 432,
bei der Sanktionierung von Ladendieben, daß insbesondere Beschuldigte mit
geringer rechtlicher Handlungskompetenz die Vorteile der bedingten Ein-
stellung nicht immer zu nutzen wissen.
13 Hertwig, S. 186 ff., 190 ff.
14 Vgl. dazu etwa die einleuchtende rechtspolitische Würdigung dieser
Vorschläge und insbesondere des Alternativ-Entwurfes durch Hertwig,
S. 267 ff.
Überlegungen zur Diversion 943

Schöch, Hertwig u. a. 15 der Auffassung, daß für das Verfahren nach


§ 153 aStPO, weil es in der Praxis eindeutig angenommen worden,
seine Erprobungsphase jedoch noch nicht völlig abgeschlossen ist, einst-
weilen keine wesentlichen gesetzlichen Änderungen zu erwarten, aber
auch nicht unbedingt erforderlich sind. Die wichtigsten der § 153 a StPO
gestellten Aufgaben werden durch diese Bestimmung erfüllt, nämlich
die Gerichte in Bagatellfällen zu entlasten, das Verfahren zu beschleu-
nigen und auf informellem, eine Stigmatisierung vermeidendem Weg
eine angemessene Tatahndung zu gewährleisten. Die in den empirischen
Kontrolluntersuchungen in der Anwendungspraxis festgestellten Män-
gel sind nicht so gewichtig, daß sie ein schnelles Eingreifen des Gesetz-
gebers erforderlich machen, zumal auch alle bisher vorgeschlagenen
Ersatzlösungen einleuchtenden kritischen Einwendungen ausgesetzt
sind.
Man sollte deshalb zunächst abwarten, ob jene festgestellten Mängel
nicht ohne Gesetzesänderung zu beheben sind. Dafür bietet sich, wie
ebenfalls bereits wiederholt hervorgehoben worden ist18 , zunächst der
Weg der die Praxis steuernden Allgemeinverfügung und Richtlinien für
das Straf- und Bußgeldverfahren an. Allerdings sollte man den Wert
solcher Richtlinien auch nicht überschätzen. Die Richter sind wegen
ihrer Unabhängigkeit an sie nicht gebunden und die Staatsanwälte
nehmen, wie die Erfahrung lehrt, vielfach von ihnen keine Notiz. Um
so wichtiger scheint mir die Kontrollfunktion weiterer wissenschaft-
licher Forschung zu sein. Denn empirische Untersuchungen zur Ver-
fahrenspraxis der Justiz haben nicht nur Erkenntniswert für die
kriminalpolitische Theorie und damit allenfalls mittelbar auch für
den Gesetzgeber. Ihnen kommt vielmehr, wenn sie auf Fortbildungs-
tagungen und im Schrifttum in hinreichender Weise publiziert werden,
unmittelbare Bedeutung für die Praxis zu, indem sie ihr die eigenen
Fehler bewußt macht und die heute vielleicht stärker als früher vor-
handene Bereitschaft zur Selbstkritik vermehrt. Diese letztere Funk-
tion empirisch-rechtstatsächlicher Forschung setzt freilich voraus, daß
die Praxis sich solchen analytischen Untersuchungen stellt, und daß
diese in regelmäßigen Abständen gerade auch in bezug auf § 153 a StPO
wiederholt werden, weil nur so Heilung oder Fortbestehen von Kin-
derkrankheiten festgestellt und das Auftreten neuer, bisher unbekann-
ter übel verhindert werden kann.

15 Jescheck, Lehrbuch 3. Auf!. 1978, S. 691 f.; Hüner!eld, ZStW 90 (1978),


S.922; Hertwig, S. 271; Rieß, Festschrift für Schäfer, 1980, S.200 und ZRP 83,
94; Schöch, ZStW 92 (1980), S. 180.
18 Vgl. Hertwig, S. 271 f.
944 Friedrich Schaffstein

III.

Während die Möglichkeit, im Strafrecht gegen erwachsene Beschul-


digte eine informelle Erledigung nach § 153 a StPO herbeizuführen, bei
ihrer Einführung eine wirkliche Neuerung darstellte, gilt das für die
Diversion im Jugendstrafverfahren nicht oder doch nur in geringerem
Maße als dort. Bei Jugendverfehlungen hatten Rechtsfolgen, die nicht
Strafe sind und als solche auch nicht ins Strafregister eingetragen
werden, nach dem J GG stets Vorrang vor der nur als ultima ratio
vorgesehenen Jugendstrafe (Subsidiaritätsprinzip). Auch das sog.
"formlose Erziehungsverfahren" des § 45 JGG hat im Jugendverfahren
der Gerichte seit jeher eine erhebliche Anwendung erfahren. Wenn-
gleich heute gerade im Jugendkriminalrecht Diversion als bevorzugtes
praktisches und theoretisches Experimentierfeld erscheint, so ist neu
daran eigentlich nur, daß man von jenen gesetzlichen Möglichkeiten
noch wesentlich häufiger als bisher Gebrauch machen möchte. Im Rah-
men der Rechtsfolgen soll sowohl von der Jugendstrafe wie auch von
den mehr repressiven, auf "Ahndung" ausgehenden Zuchtmitteln, also
dem Jugendarrest und der Geldauflage, seltener, von den mehr der
Jugendhilfe zuzurechnenden Weisungen, sich einem sozialen Betreuer
anzuvertrauen, eine gemeinnützige Arbeit zu leisten oder an einem
Trainings- und Erziehungskurs teilzunehmen, um so häufiger Gebrauch
gemacht werden. Ebenso soll auch noch häufiger als bisher von einem
Strafverfahren mit Hauptverhandlung und Urteil zugunsten der Ein-
stellung nach § 45 JGG abgesehen werden, wobei eine neue Entwick-
lung darstellt, daß dabei zunehmend auch der Jugendrichter ausge-
schaltet wird und die Einstellung nebst Auswahl der die Strafe er-
setzenaen Weisungen und Auflagen- in· extensiver Auslegung des § 45
11 1 JGG allein durch den Jugendstaatsanwalt erfolgt, wenn sie nicht
schon durch andere Stellen sozialer Kontrolle, also etwa Schule, Jugend-
amt oder Polizei, stattgefunden hat.
Informelle, mit Einstellung beendete Verfahren nach den §§ 45, 47
JGG haben in den letzten Jahren einen zwar in den einzelnen Bundes-
ländern und dort wiederum in den verschiedenen Gerichtsbezirken
sehr unterschiedlichen, insgesamt aber doch recht hohen Anteil an der
Gesamtzahl der Jugendverfahren gewonnen, der den Anteil der Ein-
stellungen nach den §§ 153, 153 a StPO im Erwachsenenverfahren über-
steigt17• Sie sind im Begriff, den Prozentsatz der normalen, d. h. der

17 Statistische Angaben bei HeinzlSpiess, Alternativen zur formellen Reak-


tion im dt. Jugendstrafrecht, in: Kern/KurylSessar (Hrsg.), Dt. Forschungen
zur Kriminalitätsentstehung und Kriminalitätskontrolle 1983, S. 896 ff. Da-
nach erfolgte im Jugendverfahren in 56 % eine formelle Sanktionierung
durch Urteil, in 44 % eine informelle Sanktionierung gem. §§ 45, 47 JGG. Auf-
fallend ist der hohe Anteil der Einstellungen des Verfahrens nach § 47 (47 %
der informellen Sanktionierungen), aus der sich wider Erwarten ergibt, daß
überlegungen zur Diversion 945

formellen Jugendverfahren nach dem JGG zu überrunden und haben


das z. B. in den Stadtstaaten Hamburg und Bremen, aber ebenso wohl
auch in manchen anderen deutschen Großstädten bereits getan.
Die großen Erwartungen, die heute auf die Diversion im Jugend-
kriminalrecht gesetzt werden, kann man sich durch einen Rückblick
auf dessen kurze Geschichte verdeutlichen. Diese Geschichte ist nämlich
dadurch gekennzeichnet, daß man im steten Wechsel von Hoffnung
und Enttäuschung jeweils für einige Jahre oder Jahrzehnte eine ganz
bestimmte therapeutische Methode als Allheilmittel im Kampf gegen
die Jugendkriminalität propagiert hat, wobei meist ausländische, ins-
besondere angloamerikanische Rezepte nachgeahmt worden sind. In
diesem Sinne haben nacheinander die bedingte Strafaussetzung im
JGG 1923, die short-sharp-shock-Therapie des Jugendarrests mit der
Ergänzung durch die relativ unbestimmte Jugendstrafe im JGG 1943,
die Bewährungshilfe des JGG 1953 und um 1970 die Einführung sozial-
therapeutischer und gruppendynamischer Methoden in Heimerziehung
und Anstaltsvollzug als Mittel gegolten, von denen man jeweils be-
sonders große Erfolge erwartet hat und denen eben deshalb immer
das besondere Interesse der Jugendkriminalpolitiker galt. Am vor-
läufigen Endpunkt dieser Reihe steht nunmehr die Diversion.
Diese historische Reminiszenz, die auch eigene Hoffnungen und Ent-
täuschungen einer mehr als fünfzigjährigen Beschäftigung mit dem
Jugendkriminalrecht wiedergibt, soll nicht belegen, daß alle jene Mittel
und Methoden nutzlos gewesen seien. Auch wenn ihnen der jeweils
erhoffte durchschlagende Erfolg nicht beschieden gewesen ist, wird
man feststellen dürfen, daß Strafaussetzung, Bewährungshilfe und
Jugendarrest eine Bereicherung der jugendrichterlichen Palette dar-
stellen, auf die man auch künftig nicht verzichten solltel8 • über den
im Jugendverfahren sogar häufiger angeklagt wurde als im Erwachsenen-
verfahren und die Einstellung erst später erfolgte. Nach § 45 11 JGG wurde
in 30 % ohne Einschaltung des Richters von Verfolgung abgesehen. Angaben
zum Ländervergleich geben Heinz!Spiess, S. 922 fl. u. a. in der Tabelle S. 932 f.
18 Anders wohl die Bewertung durch PfeifJer, der schon früher den
Jugendarrest nachdrücklich abgelehnt hatte, MSchrKrim 64 (1981), S. 28 fl.,
und nunmehr (1983), S.201, ebenso scharf Kritik an der Bewährungshilfe
übt, der er den nach seiner Auffassung "vom Gesetz geförderten Typ des
autoritären Bewährungshelfers" zum Vorwurf macht, "der seine Probanden
eher verwaltet als betreut". Auch wenn man zugeben muß, daß die Bewäh-
rungshilfe stets der Gefahr bürokratischer Verkrustung ausgesetzt ist, und
auf manche Bewährungshelfer jene Kennzeichnung zutreffen mag, scheint
mir PfeifJers Kritik doch überzogen zu sein. Es ist auch nicht einzusehen,
inwiefern sich bei den von PfeifJer befürworteten Diversionsmodellen - zu-
mal bei Mitwirkung der Jugendgerichtshilfe - jene Verkrustungserschei-
nung nicht auch einstellen soll, wenn die Kriminalpräventionsstrategien
nicht mehr, wie einstweilen bei der "Brücke", auf einzelne Städte und wenige,
engagierte Mitarbeiter beschränkt sind, sondern, wie es PfeifJer doch wohl
wünschen muß, auf das ganze Bundesgebiet und damit zwangsläufig auf die

60 Festschrift für H.-H. Jescheck


946 Friedrich Schaffstein

Nutzen sozialtherapeutischer Methoden ist wohl das letzte Wort noch


nicht gesprochen18• Nur die unbestimmte Jugendstrafe, auf deren Ein-
führung einst besonders Sieverts gedrängt hatte, könnte ohne Schaden
wieder entfallen, da ihre Anwendung in der Praxis ohnehin von 22 0/0
aller ,1ugendstrafen im Jahre 1955 auf nur 1,7010 in 1980 zurückgegan-
gen ist und diese Entwicklung dem internationalen, insbesondere auch
dem amerikanischen Trend entspricht".
Für uns bleibt die Frage, ob sich die nunmehr in die Diversion ge-
setzten Erwartungen erfüllen werden. Wie groß diese Erwartungen
sind, hat der Mannheimer Jugendgerichtstag 1983 ebenso wie die ge-
samte neuere Literatur zu diesem Thema gezeigt!l.
Man hat in ihr der Diversion die Funktion einer den Sanktionen vor-
zuschaltenden "Vorbewährung"22 zuerkennen wollen, was sowohl für
den Jugendarrest wie auch für die Jugendstrafe mit oder ohne Straf-
aussetzung zutreffen wUrde. In der Tat mag ihr eine solche Wirkung
zukommen, weil und soweit die Einstellung nach § 45 JGG nur eine
vorläufige ist und der Staatsanwalt, wenn der Jugendliche die in ihn
gesetzten Erwartungen nicht erfüllt, das Verfahren wieder aufnehmen
kann mit dem Ziel, nunmehr die Verhängung eines Jugendarrests oder
einer zu vollstreckenden oder auszusetzenden Jugendstrafe zu erreichen.
Im Ergebnis wird damit also eine Art Aussetzung zur Bewährung auch
für den Jugendarrest zugelassen, die das JGG nach seiner ursprüng-
lichen Konzeption des Jugendarrests freilich gerade nicht gestatten
wollte. Ebenso sollte nach dem JGG 1953 die Strafaussetzung zur Be-
währung obligatorisch mit der Unterstellung unter die Bewährungs-
hilfe -verbunden werden, während das bei der "Vorbewährung" ge-
rade nicht der Fall ist und bei dieser die Bewährungshilfe allenfalls
fakultativ durch eine Betreuungsweisung ersetzt werden kann. Man
muß sich also klar darüber sein, daß die jugendgerichtliche Praxis

Betreuung durch größere Organisationen (Wohlfahrtsverbände, Jugend-


ämter) ausgedehnt werden.
18 Positive Beurteilung bei Jescheck, ZStW 91 (1979), S. 1054 f., unter Hin-
weis auf die katamnestischen Untersuchungen von Dünkel und Rehn, an
deren Methoden und Ergebnissen· freilich kürzlich Ahlborn in: Kury (Hrsg.),
Methodische Probleme der Behandlungsforschung, S. 149, beachtenswerte
Kritik geübt hat.
20 Vgl. Jescheck, ZStW 91 (1979), S. 1039, m. w. N.
21 Vgl. dazu außer den Tagungsberichten des 20. Dt. Jugendgerichtstages
in Mannheim (1983) und auch schon des 19. Dt. Jugendgerichtstages in Göt-
tingen (1980) vor allem die Beiträge im Sammelband Kury/Lerchenmüller
(wie Anm. 3) und das Buch von PfeitJer (wie Anm. 2), 1983.
22 So u. a. Brunner, JGG 7. Aufl. (1984), § 45 Rdn.11 m. w. N. Diese "Vor-
bewährung" nach § 45 ist ihrerseits zu unterscheiden von der Vorbewährung
nach § 57 JGG, die kürzlich von Flümann (1983) zum Thema einer besonderen
Abhand~ung gemacht worden ist.
überlegungen zur Diversion 947

durch die Eingangspforte des § 45 JGG auf einen Weg geführt worden
ist, der sie weit von den ursprünglichen Zielvorstellungen des Gesetz-
gebers fortzuführen im Begriffe ist. Insofern mag man hier von einer
immanenten Reform des JGG durch die Praxis sprechen.
Auch wenn man anerkennt, daß das der richterlichen und staats-
anwaltschaftlichen Rechtsfortbildung so viel Freiheit lassende JGG
diesen Weg nicht versperrt hat, wird sich doch die Diversion im wesent-
lichen auf den kleinen und mittleren Kriminalitätsbereich beschränken
müssen. In zahlreichen Städten sind für diesen Bereich bereits Modelle
für Diversionsstrategien in die Praxis umgesetzt worden, in denen auf
unterschiedliche Weise Entlastung der Jugendgerichte, Jugendhilfe-
maßnahmen und Entstigmatisierung des Verfahrens miteinander ver-
bunden werden. Es ist hier weder möglich noch nötig, diese Modelle,
die teilweise noch Experimentiercharakter haben, im einzelnen zu be-
sprechen13• Nur soviel sei angemerkt, daß im wohl am deutlichsten auf
wirkliche Bagatellfälle beschränkten "Lübecker Modell" die mündliche
Ermahnung durch den Jugendstaatsanwalt unter Hinzuziehung der
Eltern im Vordergrund steht. Das Braunschweiger Experiment wird
von dem Jugendstaatsanwalt und der durch zusätzliche Mitarbeiter ver-
stärkten Jugendgerichtshilfe getragen. Träger des STOP-Programms
der INTEG in Mönchengladbach und der von PfeiDer initiierten
Brücke-Modelle in München, Köln und Kiel sind freie Vereinigungen,
deren Aufgabe neben einer zusätzlichen Betreuung des Jugendlichen
insbesondere auch die Organisation und Auswahl geeigneter Auflagen
und Weisungen zu gemeinnütziger Arbeit und von Erziehungs- und
Trainingskursen ist. Mindestens beim Brücke-Modell - das macht den
Unterschied der Diversion im Jugendstrafrecht gegenüber dem allge-
meinen Strafrecht aus - beschränkt sich ihre Aufgabe allerdings nicht
nur auf die kleine Jugendkriminalität, der man schon bisher mit Er-
mahnungen, Verwarnungen, Geldauflagen oder allenfalls mit Freizeit-
arrest beizukommen suchte. Sie scheint hier auch ausgeweitet zu wer-
den auf Jugendliche und Heranwachsende mit größerer sozialer Ge-
fährdung, wie Pfeiffers Attacke gegen die Bewährungshilfe und seine
sowohl auf den Jugendarrest wie auch auf die Jugendstrafe zu bezie-
hende Forderung nach "Entkerkerung" (der "decarceration" der USA-
Literatur) zeigt.
Wenn wir oben in unserem Rückblick die Diversion als derzeitigen
Endpunkt in der aufeinanderfolgenden Reihe sich gegenseitig ablösen-

!3 Vgl. dazu u. a. Brunner, JGG § 45 Rdn.11 Fn.2 (übersicht); Pohl-Lau-


kamp, Legalitätsprinzip und Diversion, Kriminalistik 1983, 131 ff. (Lübeck);
KirchhotJ, in: Kury (Hrsg.), Prävention abweichenden Verhaltens (1982),
S. 390 ff. (Mönchengladbach); P/eitJer, Kriminalprävention und Jugendge-
richtsverfahren 1983, 119 ff. (Brücke München usw.).

60·
948 Friedrich Schaffstein

der Erfolgsrezepte eingeordnet haben, so ist damit angedeutet, daß


wir dem neuen Heilmittel nicht ohne kritische Vorbehalte gegenüber-
stehen. Gerade deshalb soll hier zunächst betont werden, daß die ver-
mehrte Anwendung alternativer und informeller Verfahrensarten und
ihnen zugeordneter Rechtsfolgen, wie sie insgesamt heute als Diversion
bezeichnet werden, einen Fortschritt darstellt. Freilich ließe sich die
häufigere Anwendung ambulanter Maßnahmen auch ohne Diversion
im normalen Strafverfahren durchführen. Doch fUhrt Diversion dazu,
den dem JGG zugrundeliegenden Gedanken der Subsidiarität der
Strafe und der Vermeidung von Stigmatisierung auch im Verfahrens-
recht noch stärker als bisher in die Praxis umzusetzen. Das Ziel, bei
"ubiquitärer" und episodenhafter Jugendkriminalität die etikettieren-
den Wirkungen, die von einer formellen Hauptverhandlung und dem
sie beschließenden Urteil ausgehen, zu vermeiden, wird damit in der
Regel ebenso erreicht wie die Zurückdrängung stationärer zugunsten
ambulanter Rechtsfolgen, da die ersteren im Verfahren nach §§ 45, 47
JGG nicht verhängt werden dürfen und Jugendrichter und Jugend-
staatsanwalt auf die in § 45 I JGG angeführten Maßnahmen be-
schränkt sind. Auch die gerade bei Jugendlichen erzieherisch besonders
wichtige Beschleunigung des Verfahrens läßt sich zweifellos um so
eher erreichen, je kürzer der Weg von der Tat über die Polizei zur
staatsanwaltschaftlichen Reaktion - also unter Ausschaltung zusätz-
licher Instanzen wie Jugendgericht und oft auch der Jugendgerichts-
hilfe -ist.
Aber neben solcher Betonung der Vorzüge der Diversion scheint es
auch notwendig zu sein, deren Grenzen zu erkennen, die in der gegen-
wartigen Euphorie vielleicht zu wenig beachtet werden.
Das überwiegen spezialpräventiv-erzieherischer Gesichtspunkte im
Jugendstrafverfahren hat der Diversion zwar einen größeren Anwen-
dungsbereich eröffnet, aber andererseits auch dazu geführt, daß hier
anders als im Erwachsenenstrafrecht rechtsstaatliche oder sonstige Be-
denken gegen Diversionsstrategien kaum erhoben worden sind. Das ist
um so bemerkenswerter, als sich besonders in § 45 JGG jenes Spannungs-
verhältnis zwischen Rechtsstaatsprinzip und Spezialprävention zeigt,
welches das gesamte Jugendkriminalrecht und insbesondere dessen
verfahrensrechtlichen Teil kennzeichnet. Diese Spannung kommt etwa,
um nur zwei Beispiele anzuführen, in der außerordentlichen Erweite-
rung der kaum noch durch das Gesetz beschränkten Richtermacht bei
der Sanktionsauswahl und -bemessung sowie in der Rechtsmittelbe-
schränkung im Vergleich mit dem allgemeinen Strafrecht zum Aus-
druck. Schon in der Diskussion um den § 153 a StPO hat man mehrfach
von einer Rückkehr zum Inquisitionsprozeß gesprochen. Um zu verdeut-
lichen, wie vielfältig jenes Spannungsverhältnis gerade auch im jugend-
Überlegungen zur Diversion 949

strafrechtlichen Diversionsbereich auftritt, mag deshalb ein Vergleich


mit dem Inquisitionsprozeß in dessen aufgeklärt-absolutistischem Ent-
wicklungsstadium aufschlußreich sein.
Ohne daß wir beide nach Wesen und Ziel damit gleichsetzen wollen,
scheinen sich hier doch im Verfahren nach § 45 11 JGG (d. h. ohne Ein-
schaltung des Richters) besonders auffallende Parallelen zum Inqui-
sitionsprozeß zu ergeben. Keines der großen rechtsstaatlichen Prinzi-
pien, die wir als die Errungenschaften des liberalen 19. Jahrhunderts
preisen, scheint dort noch zu gelten. Durchbrechung des Legalitätsprin-
zips, die wegen der Einbeziehung der Verbrechen besonders weit geht,
ist ohnehin der Sinn der §§ 45, 47 JGG. Aber auch der eigentliche Kern
des Akkusationsprozesses, die Unterschiedlichkeit von Ankläger und
Urteil er, ist zumindest dann aufgehoben, wenn im Fall des § 45 11 1
JGG der Jugendstaatsanwalt allein die Rechtsfolgen bestimmt, die
der Beschuldigte gleichsam als Preis für die Einstellung auf sich zu
nehmen hat. Von richterlicher Unabhängigkeit kann beim Staatsanwalt
ebensowenig die Rede sein wie in dem von ihm geleiteten Diversions-
verfahren von Öffentlichkeit und Mündlichkeit. Damit aber die Ähn-
lichkeit mit dem Inquisitionsprozeß den Schein der Vollständigkeit
erhält, ist im Fall des § 45 I JGG sogar das Geständnis des jugend-
lichen Beschuldigten das einzige im Diversionsverfahren noch zugelas-
sene Beweismittel.
Gegen solche Parallelen läßt sich nun freilich einwenden, daß die
Inquisitionsmaxime des gemeinrechtlichen Prozesses mit allen ihren
Begleitumständen der effizienten Strafverfolgung des Beschuldigten
diente, während die Diversion gerade mit dessen Einverständnis und
zu seinen Gunsten, nämlich, um ihn vor voreiliger Stigmatisierung zu
schützen, das Verfahren auf ein informelles Gleis umlenkt. So zutref-
fend dieser Einwand auch ist, bleibt doch im einzelnen zu prüfen, ob
nicht der Verzicht auf die rechtsstaatlichen Garantien des liberalen
Anklageprozesses auch Gefahren gerade für einen jugendlichen, im
Umgang mit Polizei und Justiz meist recht ungeschickten Beschuldigten
mit sich bringen kann.
Am wenigsten scheint das noch bei der Durchführung des Legalitäts-
prinzips zuzutreffen. Denn diese soll sich ja gerade zugunsten des
Beschuldigten auswirken. Indessen besteht auch hier die Gefahr, daß
Einstellungen nach §§45, 47 JGG ebenso wie die nach § 153a StPO zu
jener schichtenspezifischen Ungleichbehandlung führen, wie sie in den
empirischen Arbeiten zum Erwachsenenstrafprozeß von Hertwig,
Ahrens u. a. festgestellt wurden. So lange uns nicht durch einstweilen
fehlende empirische Untersuchungen zu §§ 45, 47 JGG das Gegenteil
bewiesen ist, wird man davon ausgehen dürfen, daß Jugendliche und
950 Friedrich Schaffstein

Heranwachsende der oberen sozialen Schichten im Hinblick auf Ein-


stellung und Sanktionen einen Vorsprung gegenüber ihren Altersge-
nossen aus unteren Schichten haben. Man muß sich deshalb darüber
wundern, daß das Argument der Ungleichbehandlung, das in der Kritik
an § 153 a StPO einen erstrangigen Platz einnimmt, in der jugend-
strafrechtlichen Diversionsdiskussion niemals geltend gemacht wird.
Die eigentlichen Spannungen zwischen Opportunitätsprinzip und
Rechtsstaatsgrundsatz liegen freilich noch tiefer. Da das Legalitätsprin-
zip den Rechtsstaat durch Gleichmäßigkeit der Strafverfolgung ohne
Rücksicht auf die Person sichern soll, muß es auch - ungeachtet der
Schichtzugehörigkeit - in einen notwendigen Widerstreit mit dem
das Jugendstrafrecht beherrschenden Grundsatz des Täterstrafrechts
geraten, der auch in prozessualer Hinsicht eine ungleiche Behandlung
gleicher Taten je nach der Persönlichkeit des Täters mit sich bringt.
Nicht bei jedem gleichartigen Ladendiebstahl - um nur dies eine
Beispiel zu nennen - erfolgt Einstellung, sondern nur dann, wenn
dies nach dem Stellenwert, den diese Tat in der Persönlichkeitsent-
wicklung des Jugendlichen zu haben scheint, angezeigt ist.
Diese Ungleichbehandlung kann im sozialen Umfeld des Täters, aber
auch darüber hinaus, zu einem Vertrauensverlust in die gleichmäßig-
gerechte Handhabung des Rechts führen. Doch muß ein Täterstrafrecht
hier wie auch sonst solche Nachteile in Kauf nehmen, wenn sie ein
gewisses erträgliches Maß nicht überschreiten.
Bedeutsamer ist wohl, daß das formlose Erziehungsverfahren nach
§ 45 JGG, wenn es seinen Entlastungs- und Beschleunigungseffekt er-
naHen soll, gerade für eine einigermaßen genaue Persönlichkeitsdiagnose
wenig Raum läßt. Gerade diese aber ist hier wiederum besonders er-
forderlich, weil es darum geht, ob die fragliche Tat, etwa ein Laden-
diebstahl oder eine Körperverletzung als Aggressionsdelikt, altersge-
mäße Episode oder Symptom beginnender sozialer Gefährdung ist.
Erforderlich, aber offenbar in der Praxis noch keineswegs hinreichend
durchgeführt, ist hier die rechtzeitige Einschaltung der Jugendgerichts-
hilfe, deren Ermittlungen dem Jugendstaatsanwalt die richtige Ent-
scheidung darüber ermöglichen sollen, ob gegen die Beschuldigten for-
mell oder bloß informell vorzugehen ist. Während bisher die Hinzu-
ziehung der Jugendgerichtshilfe in der Regel erst mit der Zusendung
der Anklageschrift erfolgt, sollte dies mit Ausnahme der Bagatellde-
likte vom Ersttäter, bei denen die Mitwirkung der JGH verzichtbar ist,
schon dadurch geschehen, daß die Polizei jener bei allen von ihr auf-
geklärten Taten einen Durchschlag ihres Berichts an die Staatsanwalt-
schaft übersendet. Doch kann auch damit das geschilderte Spannungs-
verhältnis nicht völlig aufgelöst werden.
überlegungen zur Diversion 951

Weitere Bedenken könnten sich daraus ergeben,daß derJugendstaats-


anwalt nach § 45 II JGG allein, also ohne Einschaltung des Richters über
die Einstellung entscheidet, und dabei insbesondere auch mit dem aller-
dings erforderlichen Einverständnis des Beschuldigten die in § 45 I JGG
genannten Weisungen und Auflagen veranlassen kann. Ursprünglich
hatte der Gesetzgeber unter den bereits angeordneten erzieherischen
Maßnahmen, die eine Ahndung durch den Richter entbehrlich machen
(§ 45 II 1 JGG), wohl nur oder doch ganz vornehmlich an solche der
Eltern, der Schule, der Lehrherren u. dgl., nicht aber an solche des
Staatsanwaltes gedach~'. Wenn nun aber in zUnehmendem Maße der
Staatsanwalt selbst solche Maßnahmen ergreift, so läßt sich diese
extensive Auslegung des § 45 II 1 JGG zweifellos mit dessen Wort-
laut noch vereinigen. Rechtspolitisch dient sie der Entlastung der Ju-
gendgerichte und der Beschleunigung der erzieherischen Reaktion.
Auch bietet heute der Jugendstaatsanwalt nach fachlicher Kompetenz
und beruflichem Sachverständnis kaum geringere Garantien für eine
erzieherisch zweckmäßige und zugleich gerechte Entscheidung als der
Jugendrichter. Gleichwohl sollte man auf dessen kontrollierende Mit-
wirkung in allen irgendwie zweifelhaften Fällen und vor allem bei
schwereren Taten, also jedenfalls bei Verbrechen, nicht verzichten,
was bei der angekündigten Gesetzesänderung, mindestens aber bei
einer Neufassung der Richtlinien zu berücksichtigen ist.
Daran, daß nur für den geständigen Beschuldigten eine Einstellung
nach Auflagen gemäß § 45 I JGG in Frage kommt, sollte man auch
de lege ferenda keineswegs rühren25 • Allerdings entstehen gerade durch
die Voraussetzung des Geständnisses ebenso wie dadurch, daß das Ein-
verständnis des Beschuldigten mit den von ihm zu übernehmenden
gemeinnützigen Auflagen erforderlich ist, neue rechtsstaatliche Beden-
ken. Polizei und Staatsanwaltschaft könnten sich dazu verlocken lassen,
um der schnelleren und bequemeren Erledigung willen die Angst des
seine rechtliche Situation meist kaum überblickenden Jugendlichen vor
einem förmlichen Verfahren und seinen Sanktionen dazu zu benutzen,

U Recht zurückhaltend ("u. U. auch Ermahnung und erzieherische Ge-


spräche des JSTA selbst") noch Dallinger/Lackner, JGG 2. Aufl. (1965), § 45
Rdn. 17. Heute ist unbestritten, daß der Staatsanwalt im Rahmen des § 45 11 1
JGG dem Jugendlichen nicht nur Ermahnungen, sondern auch mit dessen
Einverständnis die in § 45 I JGG aufgeführten Weisungen und Auflagen er-
teilen kann. Vgl. Brunner, JGG § 45 Rdn.ll, mit beherzigenswerten Vor-
behalten; Eisenberg, JGG § 45 Rdn.30; Schaffstein, Jugendstrafrecht, 8. Aufl.
1983, S.160. In der Praxis einiger Staatsanwaltschaften führt das bereits zur
weitgehenden Ausschaltung des Jugendrichters aus dem Diversionsverfahren.
25 Wenn schon für die AUflagen und Arbeitsweisungen unter Einschaltung
des Jugendrichters nach § 45 I JGG ein Geständnis des Beschuldigten Vor-
aussetzung ist, so muß das per argumentum a fortiori erst recht auch für
deren Erteilung durch den Jugendstaatsanwalt ohne Einschaltung des Rich-
ters nach § 45 11 J GG gelten.
952 Friedrich Schaffstein

ihm ein Geständnis oder doch die Einwilligung in zu erteilende Auf-


lagen zu entlocken. Einige Beispiele aus der Praxis, die bereits bekannt
geworden sind, sollten hier als Warnung dienen.
Auch ist der Begriff des Geständnisses in § 45 JGG noch kaum hin-
reichend geklärt. Wie steht es etwa mit einem Teilgeständnis? Und
mit der Unrechtseinsicht des § 3 JGG und des § 17 StGB, um von der
Handlungsfähigkeit des § 3 JGG erst gar nicht zu reden? Inwieweit
muß das Geständnis auch die zwar nicht im Deliktstatbestand enthal-
tenen, aber meist für die Sanktionsbemessung weit wichtigeren Begleit-
umstände der Tat umfassen? Das alles sind noch offene Fragen, deren
Klärung sowohl rechtlich wie kriminalpolitisch um so dringlicher er-
scheint, je mehr sich die Diversion über die Erledigung der Bagatell-
kriminalität hinaus auf nahezu die Hälfte aller Jugendverfahren aus-
dehnt. Aber die schon beim Geständnis auftretende Problematik der
"erzwungenen Freiwilligkeit" würde nur an eine andere Stelle ver-
lagert und damit größer, wenn man auf das Geständnis unter Hinweis
auf die ohnehin erforderliche Einwilligung in die vom Beschuldigten
zu übernehmenden Auflagen verzichten würde.
Was nun diese in § 45 I JGG aufgeführten Weisungen und Auflagen,
insbesondere die Weisung, eine gemeinnützige Arbeitsleistung zu er-
bringen, anlangt, so mag es hier genügen, auf die lebhafte Diskussion
hinzuweisen, die im Jahrzehnt nach dem JGG 1953 durch die großzügige
Weisungspraxis des bekannten Jugendrichters HoZzschuh ausgelöst
worden war. Sie hat immerhin dazu geführt, daß man sich seither der
rechtlichen, insbesondere verfassungsrechtlichen, und der pädagogi-
s!!hel?- _Grenzen solcher Weisungen stärker bewußt geworden ist, ohne
daß damit freilich das Problem in seinen Einzelheiten heute bereits
völlig gelöst worden wäre!8. Allgemein anerkannt ist jedenfalls, daß
insbesondere bei Auflagen und Weisungen zu gemeinnützigen Arbeits-
leistungen die Grenzen der Verhältnismäßigkeit und der Zumutbar-
keit gewahrt bleiben müssen, und daß Weisungen keine Grundrechts-
verletzungen darstellen dürfen. Der Jugendliche jedoch, der aus Furcht
vor dem drohenden formellen Strafverfahren seine Einwilligung zu
einer Arbeitsweisung erteilt, wird jene Grenzen meist ebensowenig
kennen wie die Rechtsmittel, die ihm gegen deren Anordnung im
ordentlichen Verfahren zur Verfügung stehen würden. Nicht überall
garantiert eine "Brucke"-Organisation die rechtlich zulässige und er-
zieherisch sinnvolle gemeinnützige Arbeit. Das Waschen von Polizei-
fahrzeugen an freien Samstagen - um nur ein dem Verfasser bekann-
tes Beispiel aus neuerer jugendrichterlicher Praxis zu nennen - mag

!8 Vgl. dazu eingehend Brunner, JGG § 10 Rdn. 3, 6, 10; Schaffstein,


Jugendstrafrecht, S. 73 !f., m. w. N.; Jescheck, Lehrbuch, 3. Auf!. 1978, S. 680.
überlegungen zur Diversion 953

zwar allenfalls eine "gemeinnützige", in der Regel aber keine pädago-


gisch sinnvolle Arbeitsauflage sein.
Das Beispiel leitet über zu einem weiteren Problem, zur Frage näm-
lich, ob und inwieweit auch schon der Polizei die Befugnis zur Diver-
sion, also zum Umlenken eines formellen in ein informelles Jugend-
verfahren, zuzugestehen ist. Die Antwort scheint zunächst einfach zu
sein. Die Polizei ist durch das Legalitätsprinzip gebunden. Sie ist ver-
pflichtet, ihre Erkenntnisse über Tat und Täter dem Staatsanwalt mit-
zuteilen und erst diesem steht es zu, nach § 45 JGG das Verfahren ein-
zustellen oder es seinen ordentlichen Gang weitergehen zu lassen. Auch
de lege ferenda sollte man an dieser Funktionsteilung nicht rütteln
und sich weder durch amerikanische Vorbilder noch durch das Machter-
weiterungsstreben einflußreicher Vertreter der deutschen PolizeilT
dazu verleiten lassen, die Ausnahmen vom Legalitätsprinzip schon in
die Hände der Polizei zu legen. Allerdings kann de lege lata eine Er-
mahnung oder Belehrung eines jugendlichen Straftäters durch die Po-
lizei eine "erzieherische Maßnahme" sein, die nach § 45 I JGG eine
Ahndung durch den Richter entbehrlich macht!8. Dagegen ist die Ertei-
lung von Weisungen und Auflagen im Sinne des § 45 I JGG ungeachtet
der allzu weiten und einer verdeutlichenden Einschränkung bedürfti-
gen Gesetzesfassung nicht zulässig, weil sie der dem deutschen Recht
zugrundeliegenden Aufgabenabgrenzung von Strafjustiz und Polizei
widersprechen würde. Doch zeigt sich für den kritischen Beobachter
der Entwicklung gerade hier, wie leicht die jugendrechtliche Diversion
zu einem jener Punkte werden könnte, von denen aus sich unser gewal-
tenteilendes System aus den Angeln heben ließe.
Unsere überlegungen erschöpfen die Problematik nicht, weil nament-
lich auch die Frage, ob nicht in manchen Fällen auch das förmliche Ri-
tual einer Hauptverhandlung die Sozialisation eines jugendlichen An-
geklagten fördern könnte und ob nicht das, was man neuerdings "positive
Generalprävention" (Jakobs) zu nennen pflegt, durch informelle Diver-
sionsstrategien verloren geht, in die Betrachtung einzubeziehen wäre.
Doch müssen diese Fragen, die auch durch eine hoffentlich bald auch
zu §§ 45, 47 JGG vorliegende empirische Untersuchung schwerlich zu
klären sein werden, offen bleiben. Wir begnügen uns hier damit, ein
Fazit unserer Erwägungen zu ziehen. Es lautet dahin, daß sowohl im
Erwachsenenstrafverfahren, also im Bereich des § 153 aStPO, wie im

!7 Vgl. dazu P. A. Albrecht (wie Anm.4) passim und Rüping, ZStW 95


(1983), S. 901 f., 907, m. w. N.; Pfeif/er (wie Anm.2), S.128, befürwortet bei
"bestimmten Bagatelldelikten", z. B. einfachen Verkehrsstraftaten, die über-
tragung der Einstellungskompetenzen an die Polizei, worüber sich in solchen
Ausnahmefällen allenfalls reden läßt.
M So zutreffend Brunner, JGG § 45 Rdn. 10.
954 Friedrich Schaffstein

Jugendstrafverfahren im Raum der §§ 45, 47 JGG Diversion im Sinne


einer zunehmenden Tendenz zur Anwendung alternativer informeller
Verfahrensnormen und ambulanter Maßnahmen grundsätzlich zu be-
grüßen ist, weil sie die ihr gesteckten Ziele: Entlastung der Gerichte
von Bagatellfällen, Beschleunigung des Verfahrens und Vermeidung
von Stigmatisierung erreichen kann. Doch müssen bei dieser "Um-
lenkung" mehr noch als bisher die dabei auftretenden Gefahren und
Schattenseiten beachtet werden. Das gilt namentlich auch für das Ju-
gendstrafverfahren, wo Entstigmatisierung von Rechtsfolgen und Ver-
fahren die Diversion ebensowenig zum Allheilmittel gegen deviantes
Verhalten Jugendlicher machen kann wie alle jene Heilmittel, auf die
man früher mit ähnlicher Einseitigkeit gesetzt hat. Nur aufgrund
einer breiten Palette sowohl präventiver wie repressiver Methoden,
welche die Verantwortlichen je nach der Besonderheit des Falles ein-
setzen mögen, wird die Justiz ihre ohnehin bescheidene Rolle bei der
Verhütung und Bekämpfung der Jugendkriminalität wahrnehmen
können.
WOLFGANG HEINZ

Neue Formen der Bewährung in Freiheit


in der Sanktionspraxis der Bundesrepuhlik Deutschland

I. Ausbau ambulanter Sanktionen - Gründe und Ziele

Charaktt!ristische Tendenzen heutiger Kriminalpolitik sind der Aus-


bau und die Verstärkung präventiver Maßnahmen einerseits, die Ent-
wicklung und der vermehrte Einsatz von ambulanten Sanktionen an-
dererseits.
Präventive Maßnahmen gelten vorrangig gefährdeten Kindern und
Jugendlichen1 • In einem weiteren Sinn können hierzu, dem alten
Grundsatz zu folge, wonach eine gute Sozialpolitik die beste Kriminal-
politik ist!, auch alle Bemühungen ger,echnet werden, die ,als FamiUen-,
Sozial- und Bildungspolitik, als Arbeitsmarkt- und Schul politik, als
Gesundheits- und Wohnungsbaupolitik darauf gerichtet sind, kriminelle
Gefährdungen durch potentielle Rechtsbrecher sowie kriminalitäts-
fördernde Gelegenheiten zu vermindern oder abzubauen'. Maßnahmen
der primären und sekundären Prävention' machen freilich tertiär,e, d. h.
strafr,echtliche Prävention nicht entbehrlich. Denn die Vorstellung,
abweichendt!s Verhalten ließe sich gänzlich verhindern, ist utopisch.
1 Zur vorerst zum Stillstand gekommenen Reform des Jugendhilferechts
vgl. die Dokumentation von Schäfer, Zur Reformdiskussion um das Jugend-
hilferecht 1977 - 1980, 1982.
t Vgl. von Liszt, Das Verbrechen als sozial-pathologische Erscheinung, in:
von Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd.2, 1905, S.246.
, Das Thema "Präventive Kriminalpolitik" wird zunehmend in Forschung
und Politik aufgegriffen und in Praxis umgesetzt. Vgl. nur Bundeskriminal-
amt (Hrsg.), Polizei und Prävention, 1976; Bundeskriminalamt (Hrsg.), Be-
standsaufnahme und Perspektiven der Verbrechensbekämpfung, 1982; Kube,
Städtebau, Wohnarchitektur und Kriminalität. Prävention statt Reaktion,
1982; Kury (Hrsg.), Präventiön abweichenden Verhaltens - Maßnahmen der
Vorbeugung und Nachbetreuung, 1982; Kury (Hrsg.), Ist Straffälligkeit ver':'
meidbar? Möglichkeiten der Kriminalprävention, 1982; Pfeiffer, Kriminalprä-
vention im Jugendgerichtsverfahren, 1983; SchwindjBerckhauerjSteinhilper
(Hrsg.), Präventive Kriminalpolitik. Beiträge zur ressortübergreifendeIi Kri-
minalprävention aus Forschung, Praxis und Politik, 1980; SchwindjSteinhiZ-
per (Hrsg.), Modelle zurKriminalitätsvorbeugung und Resozialisierung. Bei-
spiele praktischer Krinlinalpolitik in Niedersachsen, 1982; Steffen u. a., Ver-
brechensbekämpfung durch polizeiliche Präventionsmaßnahmen, 1981.
, Zur Typologie der Prävention vgl. HessjBTÜckner, Vorbeugung des Ver-
brechens, in: Handwörterbuch der Kriminologie, Bd.4, 2. Auft., 1979, S. 404 ff.
956 Wolfgang Heinz

In der für die strafrechtliche Kriminalpolitik zentr,alen Frage nach


der "richtigen" Reaktion auf abweichendes Verhalten stehen angesichts
des Wandels vom Tatvergeltungs- zum Resozialisierungsstrafrecht
schon seit länger,em die Alternativen zur Freiheitsstrafe5 im Vorder-
grund. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielschichtig. Hervor-
zuheben sind insbesondere:

1. Skepsis gegenüber der Eignung des Strafvollzugs, den Rückfall


nachhaltig zu verhindern. Theoretisch wie empirisch ist zunehmend
zweifelhaft geworden, wie denn unter den Bedingungen der Unfrei-
heit Erziehung zur Freiheit möglich sein soll. Theoretisch gestützt
werden solche Zweifel durch lernpsychologische Einsichten sowie
durch den labeling approach. Eine empirische Stütze bilden Rück-
falluntersuchUlIlgen, die gezeigt haben, daß das Ziel des Strafvoll-
zugs in der weit überwiegenden Zahl der Fälle nicht erreicht wird 8 •
Zutreffend hat der verehrte Jubilar die gegenwärtige Situation mit
den Worten charakterisiert: "Das Neue in der kriminalpolitischen
Situation unserer Zeit liegt nicht darin, daß man die kurzfristige
Freiheitsstrafe soweit wie möglich zu vermeiden sucht. Das Neue
ist vielmehr die Skepsis gegenüber der Freiheitsstrafe überhaupt7 ."

5 Vgl. Albrecht, Alternativen zur Freiheitsstrafe: Das Beispiel der Geld-


strafe, MSchrKrim 64 (1981), S. 265 ff.; Dünkel/Spieß, Alternativen zur Frei-
heitsstrafe. Strafaussetzung zur Bewährung und Bewährungshilfe im inter-
nationalen Vergleich, 1983; Frehsee, Für weniger Strafrecht - und ein Hin-
weis auf Alternativen, Der Kriminalist 1982, S. 313 ff.; Isola, Alternativen zum
Strafvollzug, Recht und Politik 14 (1978), S. 35 ff.; Jescheck, Alternativen zur
Freiheitsstrafe, in: Contemporary Problems in Criminal Justice. Essays in
Honour of Professor Shigemitsu Dando, 1983, S. 83 ff.; Katholische Akademie
..'I'rier (Hrsg.), Alternativen zum Strafvollzug. Möglichkeiten ambulanter Kri-
minaltherapie, Trierer Protokolle 5/77; Kunert, Alternativen zum Freiheits-
entzug nach deutschem Recht, Bewährungshilfe 25 (1978), S. 23 ff.; KurylLer-
chenmüZler (Hrsg.), Diversion. Alternativen zu klassischen Sanktionsformen,
1981; MüZler-Dietz, Zur Entwicklung von Alternativen zum strafweisen Frei-
heitsentzug, Recht und Politik 14 (1978), S. 28 ff.; Müller-Dietz, Alternativen
zur Freiheitsstrafe - Aufwand und Ertrag? Materialdienst der Evangeli-
schen Akademie Bad Boll 16/1981, S. 41 ff.; Mutz, Alternativen zur Freiheits-
strafe. Situation der Bewährungs- und Straffälligenhilfe in 11 europäischen
Ländern im Jahre 1983, Bewährungshilfe 30 (1983), S. 258 ff.; Sievering (Hrsg.),
Alternativen zur Freiheitsstrafe. Schriften aus der Arbeit der Evangelischen
Akademie Arnoldshain, 1982.
8 Vgl. die Sekundäranalysen von Berckhauer!Hasenpusch, Legalbewährung
nach Strafvollzug - Zur Rückfälligkeit der 1974 aus dem niedersächsischen
Strafvollzug Entlassenen, in: SChwindlSteinhiZper (Anm. 3), S. 281 ff.; Hartung,
Spezialpräventive Effektivitätsmessung. Vergleichende Darstellung und Ana-
lyse der Untersuchungen von 1945 - 1979 in der Bundesrepublik Deutschland,
jur. Diss., Göttingen, 1981. Vgl. ferner die amerikanischen Sekundäranalysen
von LiptonlMartinsonlWiZks, The effectiveness of correctional treatment: A
survey of treatment evaluation studies, 1975; Martinson, What works? -
Question and answers ab out prison reform, Public Interest 35 (1974), S. 22 ff.
7 Jescheck, Die Geldstrafe als Mittel moderner Kriminalpolitik in rechtsver-
gleichender Sicht, Festschrift für Würtenberger, 1977, S. 262.
Neue Formen der Bewährung in Freiheit in der Sanktionspraxis 957

2. Austauschbarkeit der Sanktionen hinsichtlich ihrer spezialpräven-


tiven Wirkung. Nach den bisherigen Rückfalluntersuchungen ist im
Mittelfeld der nach Alter, Geschlecht und Vorstrafen homogeni-
sierten Verurteilten die Rückfallquote in etwa gleich hoch, und zwar
unabhängig von der Art der Sanktion8 • Insbesondere sind stationäre
Sanktionen solchen ambulanter Art in ihrer spezialpräventiven Wir-
kung nicht überlegen.
3. Vermeidung von Eskalationsprozessen, die in eine "Vollzugskar-
riere" münden können. Die vielzitierte These von Franz von Liszt
"Wenn ein Jugendlicher oder auch ein Erwachsener ein Verbrechen
begeht und wir lassen ihn laufen, so ist die Wahr5cheinlichkeit, daß
er wieder ein Verbrechen begeht, geringer, als wenn wir ihn bestra-
fen ug hat neuerdings Unterstützung erhalten. Vor allem der labeling
approach hat den Blick auf die "sekundäre Devianz" gelenkt, auf
die Bedeutung von Stigmatisierungseffekten und von Veränderun-
gen des Selbst- und Fremdbildes10• Kohortenuntersuchungenll haben
gezeigt, daß strafrechtliche Eingriffe im besten Fall eher geringe, im
schlimmsten Fall negative WJrkungen haben12• Studien zur Wieder-
verurteilungswahrscheinlichkeit zufolge nimmt diese nach jeder
strafrechtlichen Intervention ZUI3 •
4. Vermeidung von Oberkriminalisierung und Oberbewertung der
Massen- und Bagatelldelinquenz sowie der Delinquenz jugendlicher
Ersttäter. Nach Dunkelfelduntersuchungen ist es zwar "normal",
8 Vgl. Albrecht, Legalbewährung bei zu Geldstrafe und Freiheitsstrafe Ver-
urteilten, 1982, S.28, 238; Albrecht/DünkeZ!Spieß, Empirische Sanktionsfor-
schung und die Begründbarkeit von Kriminalpolitik, MSchrKrim 64 (1981),
S. 314 ff.; Berckhauer/Hasenpusch (Anm.6), S.284; Kaiser, Kriminologie. Eine
Einführung in die Grundlagen, 6. Auf!. 1983, S. 132 f.
g von Liszt, Die Kriminalität der Jugendlichen, in: von Liszt, Strafrecht-
liche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2, 1905, S. 339.
10 Vgl. zusammenfassend Keckeisen, Die gesellschaftliche Definition ab-
weichenden Verhaltens, 1974; Rüther, Abweichendes Verhalten und labeling
approach, 1975.
11 Vgl. zusammenfassend Farrington, Longitudinal research on crime and
delinquency, in: MOTTis/Tonry (Editors), Crime and Justice. An annual review
of research, volume 1, 1979, S. 289 H.; Petersilia, Criminal career research: A
review of recent evidence, in: Morris/Tonry (Editors), Crime and Justice. An
annual review of research, volume 2, 1980, S. 321 H.
12 Vgl. zusammenfassend West, Delinquency. Its roots, careers and pros-
pects, 1982, S.143: "The evidence from a variety of researches indicates that
processing delinquents through the juvenile justice system, especially if this
involves any substantial period of detention in a penal establishment, is more
likely to exacerbate than to reduce antisocial behaviour."
13 Vgl. Spieß, Kriminalisierung und Entkriminalisierung durch informelle
Verfahrensregeln: Das Dunkelfeld informeller Verfahrensweise im westdeut-
schen Jugendstrafrecht und seine Auswirkungen auf das Erscheinungsbild der
"offiziellen" Jugendkriminalität, in: Brusten (Hrsg.), Deutsche Beiträge zum
Internationalen Kongreß für Kriminologie in Wien (im Druck).
958 Wolfgang Heinz

im Jugendalter - jedenfalls mit Bagatelldelikten - zu delinquie-


ren, "abnormal" aber ist es, deshalb auch erwischt, strafrechtlich ver-
folgt und verurteilt zu werdenu. DIe Mehrzahl der Auffälligkeiten
kann deshalb schwerlich als Symptom eines manifesten Erziehungs-
defizites gedeutet werden. Jugendkriminalität hat ferner überwie-
gendepisodischen Charakter. Derzeit noch nicht voll erklärbare Pro-
zesse der Spontanremission führ,en im Rahmen des altersmäßigen
Erfahrungs- und Reifungsprozesses tn der weit überwiegenden Zahl
der Fälle zu einem Abklingen bzw. Verschwinden von - jedenfalls
offiziell registrierter - Kriminalität.
5. Sicherung des (relativen) Ausnahmecharakters des Vorbestrajtseins.
Der Bestraftenanteil in der männlichen Bevölkerung der Bundes-
republik Deutschland beträgt gegen Ende des 30. Lebensjahres ca.
35 Dfo15. Er dürfte, gäbe es die Mög1ichkeiten der informellen Ver-
fahrenserledigung gemäß §§ 153, 153 aStPO, §§ 45, 47 JGG nicht,
bei über 50 Dfo liegen18• Die sozialpsychologische Bedeutung des Nicht-
wissens, zu dem auch abgestufte Sanktionsbereitschaft beiträgt, für
die Konformitätsbereitschaft ist in Umrissen zumindest bekannt.
"Etwas, das beinahe jedem reihum passi,ert, gilt nicht mehr als dis-
kriminierend ... Werden ·allzu viele an den Pranger gestellt, ver-
liert nicht nur der Pranger seinen Schrecken, sondern auch der
Normbruch seinen Ausnahmecharakter und damit den Charakter
einer Tat, in der etwas ,gebrochen', zerbrochen wird17 ."
6. Entlastung der Strajrechtsp[lege. Die steig,ende Kriminalität18 hat
zu einer erheblichen Zunahme des Geschäftsanfalls bei der Staats-
----anw,altschaft1t und - ~n geringerem Maße - bei den Gerichten"

14 Vgl. zusammenfassend Sessar, Jugendstrafrechtliche Konsequenzen aus


jugendkriminologischer Forschung, in: Walter/Koop (Hrsg.), Die Einstellung
des Strafverfahrens im Jugendrecht, 1984, S. 26 ff.
lS Vgl. Keske, Der Anteil der Bestraften in der Bevölkerung, MSchrKrim
62 (1979), S. 257 ff. -
10 Vgl. Spieß, § 45 JGG - Anwendungspraxis und Entwicklungsperspekti-
ven, in: DVJJ (Hrsg.), Jugendgerichtsverfahren und Kriminalprävention, 1984,
S.20l.
17 Popitz, über die Präventivwirkung des Nichtwissens, 1968, S.17.

18 Zwischen 1963 und 1982 stieg die Zahl der von der Polizei wegen Verbre-
chen und Vergehen - ohne Staatsschutzdelikte und ohne Vergehen im Stra-
ßenverkehr - ermittelten Tatverdächtigen von 855 600 auf 1 611 445, d. h. um
88%.
18 Für die Staatsanwaltschaft liegen erst ab 1977 für einige Bundesländer
Daten vor. Danach stieg zwischen 1977 und 1981 die Zahl der erledigten Ermitt-
lungsverfahren - ohne Anzeigen gegen unbekannte Täter - in den Ländern
Bayern, Bremen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und im
Saarland von 1319 878 auf 1506 423, d. h. um 14 %.
20 In der Strafrechtsgerichtsbarkeit stieg die Zahl der Neuzugänge zwischen
1972 (1977) - 1982 von 957869 (1459982) auf 1607247, d. h. um 67,8 % (10,1 %).
Neue Formen der Bewährung in Freiheit in der Sanktionspraxis 959

geführt. Zwar konnte ein Teil dieser Mehrbelastung durch eine Per-
sonalvermehrung sowie durch ein verändertes Anklageverhalten
aufgefangen werden21 • übereinstimmung besteht aber darüber, daß
auch die Rechtsgewährung zu den knappen Ressourcen zählt2l• Ohne
Entlastung ist aber eine Konzentration auf die schwerere Krimina-
lität nicht möglich.
7. Entlastung der Vollzugsanstalten. Trotz der auch auf Entlastung
des Vollzugs abzielenden Strafrechtsreform von 1969 sind inzwi-
schen die GefangenenzaMen mit 45394 (31. 3. 1982) nahezu wieder
auf dem Stand von 1968 (31. 3.1968: 47295). In der Mehrzahl der
Bundesländer dürften die Haftplätze im geschlossenen Vollzug be-
reits wieder überbelegt sein". Eine qualitative Verbesserung des
Strafvollzugs setzt aber dessen Entlastung vOraus.
8. Ökonomische Grunde. Angesichts der derzeitigen Lage der Finan-
zen von Bund und Ländern ist weder eine nachhaltige Entlastung
der Str,afrechtspflege durch Personalvermehrung noch ein Ausbau
der Haftkapazität zu erwarten!4. Ambulante Sanktionen verspre-
chen aber eine deutlich günstigere Kosten-Nutzen-Relationals sta-
tionäre Sanktionen15• Dies dürfte erst recht gelten für die Alterna-
tiven zu den klassischen Sanktionsformen.
9. Grunde der Humanität, Sozial- und Rechtsstaatlichkeit sowie der
Verhältnismäßigkeitlll • Diese verfassungsrechtlichen Prinzipien er-
fordern es u. a., unter mehreren gleichermaßen geeigneten Sank-
tionen die den Betroffenen am geringsten belastende Sanktion ein-
zusetzen.
In den diskutierten Alternativen zur Freiheitsstrafe spiegeln sich
die Vielfalt und die Vielschichtigkeit dieser Gründe wider. Unter-
scheidbar sind - bei typisierender Betrachtungsweise - folgende
Ebenen, auf denen Alternativen gesehen werden:
1. Reprivatisierung der Konflikte. Hierauf laufen sowohl das "Plä-
doyer für die Abschaffung des Strafrechts"!'! als auch die Forderung
21 Vgl. Rieß, Zur Entwicklung der Geschäftsbelastung in der ordentlichen
Gerichtsbarkeit, DRiZ 60 (1982), S. 205 ff.
22 Vgl. Pfeiffer, Knappe Ressource Recht, ZRP 14 (1981), S. 121 ff.
23 Vgl. Dünkel/Rosner, Die Entwicklung des Strafvollzugs in der Bundes-
republik Deutschland seit 1970. Materialien und Analysen, 2. Auf!. 1982, S. 56 ff.
24 Vgl. aber auch Baden-Württemberg, wo nach einer Pressemitteilung des
Justizministeriums vom 10. 2. 1984 seit 1980 tausend Haftplätze geschaffen wor-
den sind. .
25 Vgl. zuletzt Schwind, Strafvollzug und Bewährungshilfe im Kostenver-
gleich (1982), Bewährungshilfe 31 (1984), S. 73 ff.
28 Vgl. hierzu Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 3. Aufl.
1978, S. 19 ff.; Zipf, Kriminalpolitik. Ein Lehrbuch, 2. Auf!. 1980, S. 43 ff.
27 Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, 1974.
960 Wolfgang Heim

nach weitgehendem Rückzug staatlicher Strafrechtspflege im Sinne


einer "radical non-intervention"28 hinaus.
2. Außerstrafrechtliche Erledigung. Hierzu zählen z. B. die Vorschläge
für eine sektorale Entkriminalisierung, wie sie beispielsweise für die
Bereiche Ladendiebstahl und Betriebskriminalität gemacht wur-
den20 • Hierzu zählen aber auch überlegungen, die auf Verlagerung
auf andere Kontrollinstanzen hinauslaufenso, auf Herabstufung von
Vergehen zu Verfehlungen oder Ordnungswidrigkeiten3!, auf Her-
aufsetzung der Strafmündigkeitsgrenze und ähnliches3!.
3. Informelle strafrechtliche Erledigung. Hier einzuordnen sind alle
Ansätze, deren Ziel es ist, Strafsanktionen durch Einstellung des
Strafverfahrens zu vermeiden. S'tigmatisierende und entsozialisie-
rende Effekte, die mit dem Hauptverfahren, einer gerichtlichen Ver-
urteilung und dem Strafvollzug verbunden sind, sollen vermieden
bzw. vermindert werden33 •
4. Ausbau und Etfektivierung formeller ambulanter Sanktionen. Im
Erwachsenenstrafrecht wird vor allem die Ausweitung der Straf-
aussetzung zur Bewährung und der BewährungshilfeSC gefordert,
die Einführung der Verwarnung35 sowie die Ausgestaltung der Ar-
beitsstrafe als primäre Sanktion38 • Diskutiert wird ferner die Ver-

28 Vgl. Schur, Radical non-intervention. Rethinking the delinquency prob-


lem, 1973, mit seiner zentralen Forderung "leave kids alone wherever pos-
sible" (a. a. 0., S. 155).
28 Vgl. Entwurf eines Gesetzes gegen Ladendiebstahl (AE-GLD), 1974; Ent-
wurf eines Gesetzes zur Regelung der Betriebsjustiz, 1975.
30 Vgl. die bei Schäfer (Anm. 1) dokumentierte Diskussion um das Jugend-
hilferecht.
31 Vgl. Hirsch, Delikte gegen die körperliche Unversehrtheit, ZStW 83 (1971),
S. 146 ff.; KTÜmpelmann, Die Bagatelldelikte, 1966.
32 Vgl. zu dieser Forderung der Justizminister-Konferenz Berckhauer/Stein-
hilper, Strafrechtlich verantwortlich erst ab 161 Zur Forderung, die Straf-
mündigkeit von 14 auf 16 Jahre heraufzusetzen, ZRP 14 (1981), S. 265 ff.
33 Vgl. zuletzt Herrmann, Diversion und Schlichtung in der Bundesrepublik
Deutschland, ZStW 96 (1984), S.462, der "die Eindämmung der Stigmatisie-
rung" als eines der Ziele von Diversionsmaßnahmen hervorhebt. Vgl. ferner
speziell für den Bereich des Jugendstrafrechts die Beiträge in dem von
Walter/Koop (Anm. 14) herausgegebenen Sammelband.
s, Vgl. die Nachweise bei Dünkel, Rechtliche, rechtsvergleichende und kri-
minologische Probleme der Strafaussetzung zur Bewährung, ZStW 95 (1983),
S. 1039 ff.; Dünkel/Spieß, Kriminalpolitische Bewertung der Strafaussetzung
und Folgerungen für die Praxis in der Bundesrepublik, in: Dünkel/Spieß
(Anm.5), S. 506 ff.; Jescheck, Die Krise der Kriminalpolitik, ZStW 91 (1979),
S.1056 f.
35 Vgl. Moos, Zur Reform des Strafprozeßrechts und des Sanktionenrechts
für Bagatelldelikte, 1981, S. 164.
38 Vgl. Bemmann, Für eine Dienstleistungsstrafe, in: Festschrift für Schaff-
stein, 1975, S. 211 ff. Zurückhaltend dagegen Jescheck (Anm. 5), S. 93.
Neue Formen der Bewährung in Freiheit in der Sanktionspraxis 961

wendung der Nebenstrafe des Fahrverbots, von Maßregeln, insbe-


sondere die Entziehung der Fahrerlaubnis und die Anordnung des
-Berufsverbots, sowie der Einziehung (von Kraftfahrzeugen oder
Waffen) als Hauptstrafen37 • Im Jugendstrafrecht wird insbesondere
die Ergänzung des Katalogs der Erziehungsmaßregeln und Zucht-
mittel durch weitere erzieherisch wirkende Rechtsfolgen gefordert,
wie erzieherische Gruppenarbeit, Betreuungsweisung, Arbeitswei-
sung und Arbeitsauflage38 •

II. Formelle ambulante Sanktionen -


herkömmliche Formen und neue Wege

1. Allgemeine Entwicklungstendenzen
Strafrechtsreformen und Rechtsprechungswandel haben Zahl, Inhalt
und Bedeutung strafrechtlicher Sanktionen erheblich verändert. Die
Sanktionspraxis der letzten 100 Jahre ist durch die weitgehende Er-
setzung von stationären durch ambulante Sanktionen gekennzeichnet39 •
1882 betrug der Anteil ambulanter Sanktionen an allen wegen Verbre-
chen und Vergehen gegen Reichsgesetze verhängten Strafen nur
23,2 %40, 1982 betrug der entsprechende Anteil 90,1 %41.

2. Formelle ambulante Sanktionen im allgemeinen Strafrecht


a) Herkömmliche Formen ambulanter Sanktionen
Im allgemeinen Strafrecht haben die durch die Strafrechtsreform
von 1969 eingeführten Rechtsinstitute des Absehens von Strafe und der
Verwarnung mit Strafvorbehalt keine nennenswerte praktische Be-
deutung erlangt.

37 Vgl. Jescheck (Anm. 34), S. 1063; Jescheck (Anm. 5), S. 89 f.


38 Vgl. hierzu bereits den Arbeitsentwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Jugendgerichtsgesetzes (Stand: 30. August 1982) und den insoweit zuruckhal-
tenderen Referentenentwurf: Erstes Gesetz zur Änderung des Jugendgerichts-
gesetzes (Stand: 18. November 1983). Vgl. hierzu Kaiser, Der gegenwärtige
Stand und die Möglichkeiten zur Fortentwicklung des Jugendstrafrechts,
RdJ 31 (1983), S. 346 ff.; vgl. aber auch die Kritik von Eisenberg, Bestrebungen
zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes, 1984, S. 16 ff., zur Reform durch den
Arbeitsentwurf.
39 Zufammenfassend zur Entwicklung der Sanktionspraxis in den letzten
100 Jahren vgl. Heinz, Entwicklung, Stand und Struktur der Strafzumessungs-
praxis, MSchrKrim 64 (1981), S. 148 ff.
40 Auf Geldstrafe entfielen 22,2 %, auf Verweis 1 % aller Verurteilungen.
41 Von den insgesamt 747463 Verurteilten wurden 66,5 % zu Geldstrafe,
9,5 % zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe, 9,7 % zu ambu-
lanten Zuchtmitteln, 2,6 % zu ambulanten Erziehungsrnaßregeln, 1,7 % zu einer
zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe und 0,9 % zu einem zur Bewährung
ausgesetzten Strafarrest verurteilt.

61 Festschrift für H.-H. Jescheck


962 Wolfgang Heinz

Das wichtigste Surrogat der Freiheitsstrafe im unteren Bereich der


Kriminalität ist schon seit langem die Geldstrafe. Im Gefolge des
1. StrRG von 1969 stieg der Anteil der verhängten Geldstrafen von
63 % (1968) auf 81 % (1982) an.
Die zweite wichtige Alternative zur Freiheitsstrafe ist die Strafaus-
setzung zur Bewährung, deren Entwicklung eine der bedeutendsten
Wandlungen der Sanktionspraxis in den letzten 30 Jahren darstellt.
1954 wurden 30 % aller Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesetzt,
1982 dagegen 65 %. In wachsendem Maße wurden auch Auflagen (1982:
51 %) und Weisungen (1982: 33 %) angeordnet. Insbesondere erfolgte
immer häufiger eine Unterstellung unter einen Bewährungshelfer. Seit
1963 dürfte die Unterstellungsquote von 3 % auf 18 % gestiegen sein.
Dennoch wurde der Strafvollzug nicht nachhaltig entlastet, da von
den Gerichten in den letzten Jahren immer häufiger mittlere und lange
Freiheitsstrafen verhängt wurdenü • Trotz der Erweiterung des Anwen-
dungsbereichs der Strafaussetzung zur Bewährung wurden 1982 sowohl
absolut als auch relativ mehr nicht ausgesetzte Freiheitsstrafen mit
einer Dauer von über 6 Monaten verhängt als noch 1968. Der Anteil
stieg von 3,9 % (1968) auf 4,1 % (1982). überdies wurden weder die
verhängten noch die vollzogenen kurzen Freiheitsstrafen zur erstreb-
ten Ausnahme4s• Die Bundesrepublik Deutschland zählt sowohl im in-
ternationalen wie im westeuropäischen Vergleich" zu den Ländern mit
der höchsten Gefangenenrate. Nach der jüngsten Erhebung des Euro-
parates (Stand: 1. 2. 1984) hatten von den 21 Mitgliedsländern45 Öster-
reich und die Bundesrepublik Spitzenbelastungen mit 114 bzw. 104 Ge-
fangenen pro 100 000 Einwohner~.~ifLgeringste Rate wiesen Malta und
die Niederlande auf mit 30 bzw. 31.
Im allgemeinen Strafrecht gelten deshalb die Bemühungen um Al-
ternativen zur Freiheitsstrafe insbesondere Modellen zur Vermeidung
von Ersatzfreiheitsstrafe, zur ambulanten Betreuung Straffälliger im
Rahmen von Bewährungsunterstellungen und zur Vermeidung der
desintegrierenden Wirkungen beim Vollzug von Freiheitsstrafen.

4! Vgl. Heinz, Strafrechtliche Sozialkontrolle. Beständigkeit im Wandel?


Bewährungshilfe 31 (1984), S. 18 ff.; Horstkotte, Strenge Strafen, milde Strafen,
"gerechte" Strafen, in: Loccumer Protokolle 20/1980.
43 Vgl. die Schätzung von Heinz (Anm.42), S.32, wonach 1967/1968 rund
138000 Verurteilte eine Freiheitsstrafe von weniger als 6 Monaten zu ver-
büßen hatten, 1981/1982 dagegen immerhin noch 66 000.
44 Vgl. Kaiser, Strafvollzug im europäischen Vergleich, 1983, S. 231; Kaiser,
Begriff, Ortsbestimmung, Entwicklung· und System des Strafvollzugs, in:
Kaiser/KernerlSchöch, Strafvollzug. Ein Lehrbuch, 3. Aufl.. 1982, S.41; Kaiser
(Anm. 8), S. 159 ff.
45 Daten aus der Türkei fehlten allerdings.
48 Vgl. Council of Europe, Prison Information Bulletin 3/1984, S.25.
Neue Formen der Bewährung in Freiheit in der Sanktionspraxis 963

b) "Neue" Formen ambulanter Sanktionen


aal Modelle zur Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen
gemäß Art. 293 EGStGB
Der Vergleich des Sozial- und Persönlichkeitsprofils - gemessen
an Vorstrafe, Familienstand, Arbeitslosigkeit sowie beruflicher Posi-
tion - von Geldstrafenschuldnern, die eine Ersatzfreiheitsstrafe ver-
büßten, mit zu Freiheitsstrafe Verurteilten zeigt, daß sich diese beiden
Gruppen hinsichtlich der Merkmalsausprägungen deutlich von den "er-
folgreichen" Geldstrafenschuldnern unterscheiden'7. Dies gibt einen
Anhaltspunkt dafür, daß die Geldstrafe auch auf sozial schwache und
strafrechtlich erheblich vorbelastete Straftäter ausgedehnt wurde. In
Zeiten wirtschaftlicher Rezession und hoher Arbeitslosigkeit führt dies,
obwohl die Gerichte ausgesprochen "ratenzahlungsfreundlich"48 sind,
zunehmend zur Anordnung und Verbüßung von Ersatzfreiheitsstrafen.
1968 dürften lediglich 2,5 % der Geldstrafen in Ersatzfreiheitsstrafen
umgewandelt worden sein, 1971 bereits 3,8 %, 1982 schließlich 6,8 %.
Das Problem der Ersatzfreiheitsstrafe scheint hierbei weniger mit
hohen Geldstrafen, als vielmehr mit defizitären wirtschaftlichen Lagen
zusammenzuhängen. In der von Albrecht untersuchten Gruppe wurden
z. B. 43 % der Ersatzfreiheitsstrafen wegen einer Geldstrafe bis zu
500 DM vollstreckt, deren Zahlung häufig durch Ratenzahlungsgewäh-
rung zu erleichtern versucht worden waru .
Da für einen in den letzten Jahren immer größer gewordenen Teil
der Geldstrafenschuldner die Vorschriften der StPO über die Geld-
strafenvollstreckung keine nennenswerte Abhilfe geboten haben, wird
deshalb in allen Bundesländern50 - Schleswig-Holstein ausgenommen50a

47 Albrecht, Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen unter Be-


rücksichtigung des Tagessatzsystems, 1980, S. 368 ff.
48 Albrecht (Anm. 47), S. 272 ff.
4D Vgl. Albrecht (Anm. 47), S. 256, Tabelle 119.

50 Baden-Württemberg: Verordnung des Justizministeriums über die Til-


gung uneinbringlicher Geldstrafen durch freie Arbeit vom 29. 3. 1983 (GBl.
S.176).
Bayern: Verwaltungsvorschriften zur Tilgung uneinbringlicher Geldstrafen
durch Arbeit vom 22. 12. 1982 und 20. 9.1983 - Gz.: 4 321-II-6 316/82.
Berlin: Verordnung über die Tilgung uneinbringlicher Geldstrafen durch
freie Arbeit vom 25. 4. 1978 (GVBI. S. 1030).
Bremen: Verordnung über die Tilgung uneinbringlicher Geldstrafen durch
freie Arbeit vom 11. 1. 1982 (GBl. S. 9).
Hamburg: Verordnung über die Tilgung uneinbringlicher Geldstrafen durch
freie Arbeit vom 3. 12. 1968 (GVBl. S. 267).
Niedersachsen: Erlaß des Niedersächsischen Ministers der Justiz vom 11. 3.
1983 und 16.1. 1984 über die Tilgung uneinbringlicher Geldstrafen durch Ar-
beit - Gz.: 4251-303. 143.
Hessen: Verordnung über die Tilgung uneinbringlicher Geldstrafen durch
freie Arbeit vom 20. 8. 1981 (GVBl. S. 298).

61·
964 Wolfgang Heinz

- die Möglichkeit erprobt, die uneinbringliche Geldstrafe durch freie


Arbeit tilgen zu könnenSI. Gemeinnützige und unentgeltliche Tätigkeit
von regelmäßig 6 Stunden pro Tag wird in Einsatzstellen bei Freien
Wohlfahrtsverbänden und Kirchen, bei Verbänden des Natur- und
Umweltschutzes, der Jugendpflege und Sportverbänden geleistet, und
zwar vielfach als Transport-, Instandhaltungs- und Aufräumungsarbeit.
Zwar liegen abschließende Erfahrungsberichte aus den Bundesländern
noch nicht vor, neuere veröffentlichte Zwischenbilanzen sind aber posi-
tivS!. Danach haben von den zum Strafantritt Geladenen zwischen 25 %
und 45 % von dem Angebot Gebrauch gemacht5S • Im Landgerichtsbe-
zirk Kassel, in dem das hessische Projekt "Gemeinnützige Arbeit" seit
mehr als zwei Jahren durchgeführt wird, wurden knapp drei Viertel
aller vorher notwendigen Ersatzfreiheitsstrafen eingespart.
Für den Erfolg scheinen vor allem zwei Faktoren maßgebend zu sein,
nämlich zum einen die weitgehende Beteiligung von gemeinnützigen
Organisationen, die ein flächendeckendes Netz an Einsatzstellen in den
Landgerichtsbezirken zur Verfügung stellen, und zum anderen die
Einschaltung von Gerichtshelfern oder Rechtspflegern, die die Stellen
vermitteln, den Kontakt zu den Probanden halten und Arbeitsstörun-
gen zu beheben versuchen54 •

Nordrhein-Westjalen: Anordnung über die Abwendung der Vollstreckung


von Ersatzfreiheitsstrafen durch freie Tätigkeit vom 1. 10. 1982 - Gz.: 4321-
III. A. 5.
Rheinland-Pjalz: Verwaltungsvorschrift des Ministeriums der Justiz über die
Tilgung uneinbringlicher Geldstrafen durch freie Arbeit vom 16.5. 1983 (JBl.
S.118)-.--
Saarland: Allgemeine Verfügung des Ministers für Rechtspflege Nr.9/1983
vom 27.4.1983 (Gz.: 4321-4/II) "Tilgung uneinbringlicher Geldstrafen durch
Arbeit".
50a Eine Regelung ist in Vorbereitung.
51 Vgl. Baumann, Die Chance des Artikel 293 EGStGB: Freie gemeinnüt-
zige Arbeit statt Ersatzfreiheitsstrafe, MSchrKrim 62 (1979), S. 290 ff.; Rolinski,
Ersatzfreiheitsstrafe oder gemeinnützige Arbeit? MSchrKrim 64 (1981), S. 52 ff.;
Schädler, Das Projekt "Gemeinnützige Arbeit" - Die nicht nur theoretische
Chance des Art. 293 EGStGB, ZRP 16 (1983), S. 5 ff.; Zimmermann, Alternati-
ven zur Ersatzfreiheitsstrafe. Das hessische Pilotprojekt "Gemeinnützige
Arbeit", in: Sievering (Anm. 5), S. 59 ff.; Zimmermann, Tilgung uneinbring-
licher Geldstrafen durch freie Arbeit. Das hessische Projekt "Gemeinnützige
Arbeit", Bewährungshilfe 29 (1982), S. 113 ff.
52 Vgl. Pressemitteilung des Justizministeriums Baden-Württemberg vom
14. 10. 1983; briefliche Auskunft des Hessischen Ministers der Justiz vom 13.9.
1983; Pressemitteilung des Niedersächsischen Ministers der Justiz vom 25.1.
1984.
63 Aus Baden-Württemberg, Hessen und Niedersachsen werden Quoten von
25 bzw. 26 %, aus dem Saarland von 45 % gemeldet.
54 Vgl. Schädler (Anm.51), S.8. Vgl. ebenso Pressemitteilung des Justiz-
ministeriums Baden-Württemberg vom 14. 10. 1983.
Neue Formen der Bewährung in Freiheit in der Sanktionspraxis 965

bb) Ambulante Betreuung von Straffälligen im Rahmen


von Unterstellungen unter einen Bewährungshelfer
Die Zahl der bedingt verhängten Freiheitsstrafen übersteigt schon
seit einigen Jahren diejenige der unbedingt verhängten. Immer häufi-
ger wurde hierbei im allgemeinen Strafrecht von der Möglichkeit Ge-
brauch gemacht, die Bewährungsprobanden einem Bewährungshelfer
zu unterstellen. Steigende Probandenzahlen und Änderungen in der
Struktur der Probanden, insbesondere die Unterstellung von Täter-
gruppen, die bislang für eine Strafaussetzung nicht in Betracht kamen,
stellen hierbei die Bewährungshilfe jedoch vor neue Aufgaben und
Probleme.
Im Rahmen vielfältigster Bemühungen werden z. B. durchgeführt:
sozialpädagogische Gruppenarbeit, familientherapeutische Tätigkeiten,
Betreuung von Probanden in Wohnheimen und Wohngemeinschaften,
Mitwirkung bei Wiedergutmachungsbestrebungen. Allerdings wird die
Alltagsarbeit der Bewährungshilfe in der Regel bestimmt durch die
Notwendigkeit, die wichtigsten existenzsichernden Maßnahmen einzu-
leiten und durchzuführen, insbesondere Anleitung und Hilfe zu leisten
bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei der Klärung von Ausbil-
dungsmöglichkeiten, bei der Suche nach geeigneten Therapieplätzen,
bei suchtmittelabhängigen Probanden und ähnlichem. Denn für einen
immer größer gewordenen Teil der Probanden haben sich die sozialen
Belastungen erhöht. Sie lassen sich festmachen in den Bereichen von
Arbeitslosigkeit, geringen verfügbaren Geldmitteln, nicht unerheb-
lichen Schulden, Drogen- und Alkoholmißbrauch sowie in fehlender
fester Partnerbeziehung55.

ce) Sozialpädagogische Gruppenarbeit mit Wiederholungstätern


Seit 1980 wird in Berlin56 ein Projekt "Sozialpädagogische themen-
zentrierte Gruppenarbeit mit wiederholt auffälligen Verkehrsstraf-
tätern in der Bewährungshilfe" durchgeführt. Bei Verkehrsstraftätern,
denen im ersten, zumindest im zweiten Wiederholungsfall einschlägi-
55 Vgl. Ayass, Alltagsprobleme der Bewährungshilfe, in: Justizministerium
Baden-Württemberg (Hrsg.), Hat sich die Bewährungshilfe bewährt? Bericht
über das Symposium des Justizministeriums Baden-Württemberg am 15./16.
12. 1982 in Triberg, 1983, S. 42 ff.; Bieker, Sozialarbeit in der Bewährungshilfe.
Entwicklung, Aufgaben, Probleme, Kriminalpädagogische Praxis, Heft 17,
1983, S. 18; Heinz, Bewährungshilfe im sozialen Rechtsstaat, Bewährungshilfe
29 (1982), S. 159 f.; Spieß, Probleme praxisbezogener Forschung und ihrer Um-
setzung am Beispiel der Bewährungsprognose, in: Kury (Hrsg.), Prävention
abweichenden Verhaltens - Maßnahmen der Vorbeugung und Nachbetreu-
ung, 1982, S. 590 ff.
56 Vgl. Hummel/Poch, Sozialpädagogische Gruppenarbeit mit wiederholt
auffälligen Verkehrstätern in der Bewährungshilfe als Alternative zum Straf-
vollzug, Bewährungshilfe 30 (1983), S. 132 ff. In Hessen wird die übernahme
dieses Modells geplant.
966 Wolfgang Heinz

ger Delinquenz unbedingte Freiheitsstrafe droht, wird die Vollstrek-


kung der erkannten Freiheitsstrafe nochmals zur Bewährung ausge-
setzt, wenn sie in die Teilnahme an der Gruppenarbeit einwilligen. Das
Gericht setzt in diesen Fällen die Vollstreckung der erkannten Frei-
heitsstrafe aus und weist den Täter mit dessen Einverständnis an, die
Gruppenarbeit aufzunehmen57 • Auf Grund der bisherigen positiven
Erfahrungen ist eine Erweiterung der Gruppenarbeit auf "Kaufhaus-
diebe" und "geschiedene Unterhaltsverpflichtete" geplant.

dd) Modelle zur Vermeidung desintegrierender Wirkungen


beim Vollzug von Freiheitsstrafen
Wegen der relativ häufig verhängten kurzen Freiheitsstrafe blieb
es der Vollzugspraxis über1assen, Modelle zu entwickeln, die die soziale
Desintegration als Folge des Vollzuges vermeiden, zumindest sie ver-
mindern helfen. In Baden-Württeniberg wird z. Zt. ein Programm
durchgeführt, das vorsieht, daß Strafgefangene mit Freiheitsstrafen
bis 12 Monate sofort nach Strafantritt wieder zur Arbeit an ihren seit-
herigen Arbeitsplatz zugelassen werden. Nach Feierabend kehren sie
in die Vollzugsanstalt zurück58•
Das Programm verfolgt in erster Linie das Ziel, ein intaktes Arbeits-
verhältnis des Gefangenen während der Zeit des Vollzugs aufrechtzu-
erhalten. Hierdurch soll der Gefangene seinen sozialen Pflichten -
hauptsächlich der finanziellen Verantwortung für die Familie und ge-
genüber dem Opfer der Straftat - verhaftet bleiben. Es sollen aber
auch die Chancen seiner sozialen Wiedereingliederung dadurch ver-
bessert werden, daß der Arbeitsplatz erhalten bleibt.

3. Formelle ambulante Sanktionen im Jugendstrafrecht


a) Herkömmliche ambulante Sanktionen
Der Trend zu ambulanten Sanktionen kennzeichnet auch die Jugend-
strafrechtspflege. Statt 50 % (1954) werden derzeit (1982) 73 % der nach
Jugendstrafrecht Verurteilten nur mit ambulanten Sanktionen belegt.
überwiegend handelt es sich um ambulante Zuchtmittel, insbeson-
dere um die Auflage, einen Geldbetrag zugunsten einer gemein-

57 Insofern unterscheidet sich dieses Modell von den verschiedenen Nach-


schulungsmodellen (vgl. "Mainz 77", "Leer"), die auf Behebung von Eignungs-
mängeln i. S. der §§ 69, 69 a StGB abzielen.
58 Vgl. zu diesem Modell und zu ersten Ergebnissen wissenschaftlicher Be-
gleitforschung DoldelRössner, Freiheitsstrafe ohne soziale Desintegration.
Ein Programm zum Vollzug kurzer Freiheitsstrafen mit ersten empirischen
Ergebnissen, in: KernerlKurylSessar (Hrsg.), Deutsche Forschungen zur Kri-
minalitätsentstehung und Kriminalitätskontrolle. German research on crime
and crime control, Teilband 2, 1983, S. 1719 ff.; vgl. auch die Pressemitteilung
des Justizministeriums Baden-Württemberg vom 12. 3.1984.
Neue Formen der Bewährung in Freiheit in der Sanktionspraxis 967

nützigen Einrichtung zu bezahlen, sowie um eine Verwarnung. Seit


Mitte der 70er Jahre macht die Rechtsprechung aber auch vermehrt
von Weisungen Gebrauch.
Dennoch bestand und besteht eine erhebliche Diskrepanz zwischen
Erziehungsanspruch und Erziehungswirklichkeit. Die Spannung zwi-
schen Erziehung und Strafe wird überwiegend noch zugunsten des
Strafgedankens gelöst5v • Die Jugendstrafrechtspflege vertraut in weit-
aus geringerem Maße als das allgemeine Strafrecht auf ambulante
Sanktionen. Während im allgemeinen Strafrecht 94 % aller Sanktionen
solche ambulanter Art sind, sind es im Jugendstrafrecht lediglich 73 %.
Dies beruht hauptsächlich auf der häufigen Verhängung von Jugend-
arrest, dessen erzieherische Wirksamkeit freilich mehr als zweifelhaft
ist. Vielfach fehlte es aber auch an qualifizierten Kooperationspart-
nern, die "nach der Verhandlung die angeordneten Maßnahmen ent-
sprechend der pädagogischen Orientierung des Gesetzes verwirkli-
chen"60. Hier sind in den letzten Jahren zahlreiche Angebote ambulan-
ter Dienste eingesprungen, und zwar schwerpunktmäßig in den Be-
reichen Betreuungsweisung, erzieherische Gruppenarbeit, Arbeitswei-
sung und -auflage sowie Täter-Opfer-Ausgleich.

b) "Neue" Formen ambulanter Sanktionen


aal Betreuungsweisungen
Betreuungsweisungen, d. h. die Weisungen, sich der Aufsicht oder
Leitung eines Betreuers (Sozialarbeiter, Sozialpädagoge) zu unterstel-
len, setzen sich in der Praxis zunehmend durchu . Sie werden vor allem
dann angeordnet, wenn die Straftat auf Familien-, Schul-, Berufs- und
Wohnungsprobleme hinweist, für deren Bewältigung soziale Hilfe zwar
angezeigt, im sozialen Umfeld aber nicht zu erwarten ist. Durchgeführt
werden sie in Form der Einzelbetreuung, wobei aber vielfach die Mög-
lichkeit der Kombination und/oder des Austausches mit Gruppenbe-
treuung besteht. Die Betreuungsdauer liegt zumeist zwischen 6 und 12
Monaten82 •

5V Vgl. zuletzt Heinz, Jugendstrafrecht - Auf dem Weg zum Tatstrafrecht?


INFO 2/83 der Landesgruppe Baden-Württemberg in der Deutschen Vereini-
gung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e. V., 1983, S.3 ff.; Kaiser
(Anm. 38), S. 350.
80 Pfeiffer, Das Projekt der BRüCKE e. V., München - Ein Beitrag zur
"inneren Reform" des Jugendkriminalrechts und zur Sanktionsforschung im
Bereich der Weisungen und Zuchtmittel, KrimJ 11 (1979), S. 264.
61 Im Rahmen einer vom Verfasser zur Zeit durchgeführten schriftlichen
Befragung der 456 Jugendämter in der Bundesrepublik Deutschland wurden
im Zuständigkeitsbereich von 406 Jugendämtern, von denen bis zum Abschluß
des Manuskriptes Antworten vorlagen, bei insgesamt 191 (47 %) Betreuungs-
weisungen durchgeführt.
968 Wolfgang Heinz

bb) Erzieherische Gruppenarbeit


"Unter diesem Begriff werden Maßnahmen wie Erziehungskurse,
Trainingskurse, Stützungskurse, Übungs- und Erfahrungskurse, offene
Gruppenmaßnahmen und ähnliches zusammengefaßt. Hierbei handelt
es sich um ambulante gruppenpädagogische Maßnahmen als jugend-
staatsanwaltschaftliche oder jugendrichterliche Reaktion aus Anlaß
von Delikten Jugendlicher oder Heranwachsender63 ." In methodischer
Hinsicht wird auf das vielfältige Instrumentarium der Gruppenarbeit
zurückgegriffen, wobei auch hier häufig die Möglichkeit der Kombina-
tion bzw. des Austausches mit Einzelbetreuung besteht. Entsprechend
den unterschiedlichen Verhaltensdefiziten, Problemen und Wünschen
der Jugendlichen ist der Ansatz teils mehr handlungsorientiert, teils
mehr problemorientiert. Ungeachtet der zahlreichen Modellprojekte84
und der Vorschläge für Ziele, Inhalt und Zeitablauf der Kursees scheint
62 Brandlerlvon BernstortJ, Ambulante sozialpädagogische Betreuung ju-
gendlicher Straffälliger, Kriminalpädagogische Praxis, Heft 9, 1979, S. 15 ff.;
Busch, Neue Formen ambulanter Behandlung von Ersttätern, RdJ 27 (1979),
S. 344 ff.; Fritschka, Die Betreuungsweisung, in: DVJJ (Hrsg.), Die jugend-
richterlichen Entscheidungen - Anspruch und Wirklichkeit, 1981, S. 205 ff.;
GerhardtlVögele, Die Betreuungsweisung nach § 10 JGG - Ein Praxisbericht
aus dem Bereich des Jugendgerichts München, ZblJugR 66 (1979), S. 371 ff.;
HassemerlKreckl, Betreuungen durch die BRüCKE e. V., München, in: DVJJ
(Hrsg.), Die jugendrichterlichen Entscheidungen - Anspruch und Wirklich-
keit, 1981, S. 220 ff.; Hassemer-Kreckl, Modelle ambulanter Behandlung in der
Bundesrepublik-Betreuungsweisungen nach dem JGG: Die "BRüCKE e. V."
in München, in: Dünkel/Spieß (Anm. 5), S. 368 ff.; Marks, Das Modell BRüCKE
- Ein Versuch, mehr pädagogische Hilfen im Rahmen des Jugendgerichtsge-
setzes zu realisieren, in: DVJJ (Hrsg.), Die jugendrichterlichen Entscheidungen
- Anspruch und Wirklichkeit, 1981, S. 269 ff.; Marks, Weisungen gemäß § 10
JGG - Intensivierung sozialpädagogischer Hilfen im Bereich unterhalb der
Jugendstrafe durch ~ BRGe*E-Projekte, in: K-uryl Lerchenmüller (Anm. 5),
S. 598 ff.; Marks, Entstehung und Praxis des Projektes BRüCKE Köln e. V.,
Bewährungshilfe 29 (1982), S. 126 ff.; Marks, Es geht auch ohne Anklage.
Diversionsmöglichkeiten auf der Ebene der Staatsanwaltschaft im Rahmen
des Jugendgerichtsgesetzes, ZblJugR 69 (1982), S. 25 ff.; Marks, Aspekte des
Absehens von der Verfolgung (§ 45 Abs.2 JGG) durch den Jugendstaatsan-
walt, Kriminalpädagogische Praxis, Heft 16, 1983, S. 11 ff.; PfeitJer (Anm.60);
SteinhilperlFischer, Ambulante sozialpädagogische Betreuung junger Straf-
fälliger. Ein Modellversuch in Uelzen, in: SchwindlSteinhilper (Anm. 3);
von BernstortJ, Sozialpädagogische Betreuung junger Straffälliger in Lüne-
burg und Uelzen - Projektbeschreibung, in: PomperlWalter (Hrsg.), Ambu-
lante Betreuung junger Straffälliger, 1980, S. 174 ff.; von BernstortJ, Ambu-
lante sozialpädagogische Betreuung jugendlicher Straftäter in Uelzen und
Lüneburg, in: DVJJ (Hrsg.), Die jugendrichterlichen Entscheidungen - An-
spruch und Wirklichkeit, 1981, S. 239 ff.
63 Bundesarbeitsgemeinschaft für ambulante Maßnahmen nach dem Ju-
gendrecht (Hrsg.), Ambulante sozialpädagogische Maßnahmen für junge Straf-
fällige. Projekte, Adressen, Literatur, 1983, S. 11.
6t In dem Zuständigkeitsbereich der 406 Jugendämter, von denen bis zum
Abschluß des Manuskriptes Antworten vorlagen (vgl. oben Anm.61), fanden
bei 123 (30 %) derartige Kurse statt.
es Vgl. Busch, Soziale Trainingskurse als Alternative zum Jugendarrest
und als neue Interventionsform bei FrühkriminaIität, in: KurylLerchenmüller
Neue Formen der Bewährung in Freiheit in der Sanktionspraxis 969

indes eine endgültige Form für die Durchführung dieser gruppenpäd-


agogischen Angebote noch nicht gefunden zu sein.

cc) Arbeitsweisungen und -auflagen


Sie werden inzwischen ebenfalls sehr häufig angeordnet61 • In der An-
ordnung, eine festgelegte Zahl von Stunden gemeinnützige Arbeit
zu leisten, wird eine geeignete Reaktionsform gesehen, um den pro-
blematischen Jugendarrest und die Geldbuße zu ersetzen. Erwartet
wird, daß gemeinnützige Arbeitsleistungen "die Chance sozialen Ler-
nens eröffnen, die generelle Einstellung der jungen Menschen zur Ar-
beit positiv beeinflussen können und schließlich auch Anregungen für
eine vernünftige Freizeitgestaltung zu geben vermögen"87. Ermutigende
Erfahrungen werden insbesondere aus M~nchen berichteteR.

(Anm.5), S. 622 ff.; Busch, Ambulante Reaktionssysteme bei Jugendkriminali-


tät. Möglichkeiten und Grenzen, in: Institut für soziale Arbeit e. V. (Hrsg.),
Soziale Trainingskurse, ISA-Schriftenreihe, Heft 6, 1983, S. 8 ff.; BuschlHaeh-
nel, Erziehungskurse, 1980; BuschlHartmann, Soziale Trainingskurse im Rah-
men des Jugendgerichtsgesetzes. Abschlußbericht, 1984; Fischer, Erzieherisch
gestaltete Gruppenarbeit - Modellversuch: Ambulante sozialpädagogische
Betreuung junger Straffälliger in Uelzen, in: Dünkel/Spieß (Anm. 5), S. 381 ff.;
Fischer, Erzieherisch gestaltete Gruppenarbeit/Erziehungskurse. Überlegun-
gen zur Vereinheitlichung ihrer Praxis, in: Institut für soziale Arbeit e. V.
(Hrsg.), Soziale Trainingskurse, ISA-Schriftenreihe, Heft 6, 1983, S. 60 ff.; Hart-
mann, Soziale Trainingskurse im Rahmen des JGG, in: Blumenberg (Hrsg.),
Praxisorientierte Forschung in Jugendhilfe und Jugendkriminalrechtspflege,
Schriftenreihe des Wi-JHW, Nr.l, 1983, S. 142 ff.; Hartmann, Soziale Trai-
ningskurse in der Jugendstrafrechtspflege. Ein Praxisüberblick, in: Institut
für soziale Arbeit e. V. (Hrsg.), Soziale Trainingskurse, ISA-Schriftenreihe,
Heft 6, 1983, S. 41 ff.; Hinkel, Übungs- und Erfahrungskurse - Kurspraxis
und Ergebnisse, Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Materialien 10,
1979; Köhnke, Stützungskurse der Jugendgerichtshilfe. Ein neuer Weg zur
Anwendung des § 10 JGG, ZblJugR 66 (1979), S.12 ff.; Mrowka, Trainingskurs
für straffällig gewordene Jugendliche, UJ 31 (1979), S. 372 f.; Plank, übungs-
und Erfahrungskurse in der Jugendgerichtshilfe, Kriminalpädagogische Pra-
xis, Heft 16, 1983, S. 23 ff.; ReineckelFuchs, "Erziehungskurse" zwischen
Jugendhilfegesetz und Jugendgerichtsgesetz, RdJ 31 (1983), S. 359 ff.; Schöne-
born, Erziehungskurse als ambulante Sozialisationshilfe für straffällig gewor-
dene Jugendliche im Rahmen des Jugendgerichtsgesetzes, Bewährungshilfe 27
(1980), S. 392 ff.; Wirke, Soziale Trainingskurse, ZblJugR 67 (1980), S. 422 ff.;
WiZke, Erzieherisch gestaltete Gruppenarbeit. Aspekte zur Entstehung eines
Fragments im Jugendgerichtsgesetz, in: Institut für soziale Arbeit e. V. (Hrsg.),
Soziale Trainingskurse, ISA-Schriftenreihe, Heft 6, 1983, S. 108 ff.; Zundel,
Erziehungskurse - Ein Bericht über die Arbeit an einem Projekt an der
Fachhochschule Köln, Bewährungshilfe 23 (1976), S. 35 ff.
61 Im Zuständigkeitsbereich der 406 Jugendämter, von denen bis zum Ab-
schluß des Manuskriptes Antworten vorlagen (vgl. Anm. 61), wurden bei 356
(88 %) Arbeitsweisungen bzw. Arbeitsauflagen durchgeführt.
87 Bietz, Zur "Diversion" und Funktion der Jugendgerichtshilfe im Rahmen
des § 45 JGG, ZblJugR 70 (1983), S. 327.
6R Vgl. Pfeiffer (Anm. 3).
970 Wolfgang Heinz

dd) Täter-Opfer-Ausgleich
Von dem in jüngster Zeit in der Wissenschaft favorisierten Täter-
Opfer-Ausgleich, insbesondere in Form der Schadenswiedergutma-
chung68 , wird noch relativ selten Gebrauch gemacht. Derzeit bemüht
man sich an verschiedenen Orten darum, den Jugendrichtern Durch-
führungshilfen anzubieten70.

In. (Informelle) ambulante Sanktionen


im Vorfeld einer förmlichen Verurteilung

Humanitäre, kriminologische und justizökonomische Gründe haben


dazu geführt, verstärkt alternative Reaktions- und Erledigungsformen
im Vorfeld der Hauptverhandlung bzw. des Urteils einzusetzen. Das
Opportunitätsprinzip der §§ 153 ff. StPO sowie das Subsidiaritätsprinzip,
das in §§ 45, 47 JGG seinen Niederschlag gefunden hat, bilden hierfür
die Grundlage. Weitgehend unbemerkt von Wissenschaft und Öffent-
lichkeit hat die Strafrechtspflege von diesen Möglichkeiten immer stär-
ker Gebrauch gemacht. 1981 dürften den insgesamt 747463 wegen Ver-
brechen und Vergehen Verurteilten rund 424 000 Beschuldigte gegen-
über stehen, bei denen das Verfahren gemäß §§ 153, 153 a, 153 b, 383
Abs.2 StPO bzw. gemäß §§ 45, 47 JGG eingestellt worden ist.
Von der Staatsanwaltschaft dürfte das Verfahren eingestellt wor-
den sein
- gemäß §§ 153 Abs.l, 153 b Abs.l
StPO bei ca. 102 000 Beschuldigten,
- gemäß § 153 a Abs. 1 StPO bei ca. 125 000 Beschuldigten,
- gemäß § 45 Abs. 2 JGG bei ca. 33 000 Beschuldigten,
- gemäß § 45 Abs. 1 JGG bei ca. 26 000 Beschuldigten.
Durch das Gericht dürfte das Verfahren eingestellt worden sein
- gemäß §§ 153 Abs. 2, 153 b Abs.2,
383 Abs. 2 StPO bei ca. 32 000 Beschuldigten,
- gemäß § 153 a Abs. 2 StPO bei ca. 54 000 Beschuldigten,
- gemäß §47 JGG bei ca. 52 000 Beschuldigten.
Während besondere Betreuungsformen bei Verfahrenseinstellun-
gen gemäß § 153 a StPO offenbar so gut wie nicht vorzukommen schei-

GD Vgl. Frehsee, Wiedergutmachung statt Strafe? KrimJ 14 (1982), S. 126 ff.;


Sessar, Schadenswiedergutmachung in einer künftigen Kriminalpolitik, Fest-
schrift für Leferenz, 1983, S. 145 ff.
70 Vgl. Frehsee (Anm.5); Frehsee (Anm.69). Vgl. auch das Täter-Opfer-
Projekt der Gerichtshilfe Tübingen.
Neue Formen der Bewährung in Freiheit in der Sanktionspraxis 971

nen71 , werden die §§ 45, 47 JGG dazu benutzt, durch entsprechende


erzieherische Maßnahmen den Straffälligen zu betreuen und die wei-
tere Verfahrensdurchführung entbehrlich zu machen. Erprobt werden
die verschiedensten Formen erzieherischer Maßnahmen, insbesondere
Betreuungsweisungen, erzieherische Gruppenarbeit, gemeinnützige Ar-
beit, Täter-Opfer-Ausgleich usw. Erprobt werden hierbei auch zahl-
reiche Formen der Zusammenarbeit von Polizei, Jugendgerichtshilfe,
freien Trägern der Jugendhilfe und der Staatsanwaltschaft. Insoweit
sollen beispielhaft erwähnt werden die Modelle in Marl, Mönchenglad-
bach, Braunschweig, Köln und Lübeck.

1. Marl
Die Jugendgerichtshilfe wird entweder durch die Polizei oder auf Grund
von Selbstmeldungen des Tatverdächtigen bzw. der Erziehungsberechtigten
informiert. Kommt der Jugendgerichtshelfer bei geständigen Jugendlichen
"nach den erforderlichen Gesprächen zu der Auffassung, daß ein förmliches
Verfahren und insbesondere eine Verhandlung vor dem Richter zur weiteren
Erziehung nicht erforderlich ist, da anderweitige erzieherische Maßnahmen
bereits erfolgten, so schlägt er in seinem Bericht der zuständigen Staatsan-
waltschaft das Verfahren gemäß § 45 Abs.2 JGG vor. Anderweitige Maßnah-
men in diesem Sinne sind nach Auffassung der Jugendgerichtshilfe in MarI:
intensive Informations- und persönliche Beratungsgespräche; Ableistung
von Sozialdienst auf freiwilliger Basis; Teilnahme an einem Verkehrserzie-
hungskurs auf freiwilliger Basis; aktive Schadenswiedergutmachung mit per-
sönlicher Entschuldigung des Täters bei dem Opfer"72. Schlägt die Jugendge-
richtshilfe die Verfahrenseinstellung gemäß § 45 Abs.2 JGG vor, so legt sie
dar, welche Erziehungsmaßnahmen durchgeführt werden sollen und weist
darauf hin, daß das Einverständnis des zuständigen Staatsanwalts zu diesen
Maßnahmen unterstellt wird, wenn nicht innerhalb von zwei Wochen eine
anderslautende Mitteilung ergeht78.

2. Mönchengladbach
Das in Mönchengladbach vom Verein "Gesellschaft zur Förderung integra-
tiver Maßnahmen" durchgeführte STOP-Programm ist für jugendliche Erst-
täter bestimmt, die wegen Ladendiebstahls angezeigt wurden. "Das Programm
wird nach polizeilicher Protokollierung des Geständnisses des Jugendlichen
über das Jugendamt der Stadt informiert. Zwei Mitarbeiter des Programms,
davon ein ausgebildeter Sozialarbeiter und ein weiterer freiwilliger Mitar-
beiter des Programms, besuchen Jugendliche und Eltern und besprechen den

71 1981 entfielen 96,8 % aller Auflagen bei den von der Staatsanwaltschaft
verfügten Einstellungen gemäß § 153 a StPO auf die Zahlung eines Geldbe-
trages. Wie Ahrens, Die Einstellung in der Hauptverhandlung gemäß §§ 153
Abs.2, 153 a Abs.2 StPO, 1978, S.90, beobachtete, war auch bei der gericht-
lichen Einstellung die Anordnung einer Geldbuße die weitaus häufigste Auf-
lage.
72 Beckmann, Möglichkeiten zur Diversion im Jugendstrafverfahren in der
Praxis der Jugendgerichtshilfe, ZblJugR 70 (1983), S. 21l.
73 Vgl. Beckmann (Anm. 72), S. 213.
972 Wolfgang Heinz

Ladendiebstahl sowie seine in Mönchengladbach übliche justizielle Behandlung.


Sie erfahren, wie die Familie mit dem Vorfall umgegangen ist. Wenn
der Jugendliche dazu bereit ist, sucht er nach dem Gespräch das Geschäft
wieder auf und spricht mit einem Angestellten. über den Hausbesuch
wird der Programmleiter informiert. Die Mitarbeiter und der Programmleiter
erarbeiten den Vorschlag des STOP-Programms an die Staatsanwaltschaft.
Dieser Vorschlag kann auf Absehen von der Verfolgung lauten oder auf An-
klage oder Antrag im vereinfachten Verfahren ... Der Sinn besteht darin,
dem Jugendstaatsanwalt die Möglichkeit zu geben, nach § 45 Abs.2 JGG von
der weiteren Verfolgung abzusehen, weil bereits ,erzieherische Maßnahmen'
angeordnet sind 7'."

3. Braunschweig

Die in Braunschweig verwirklichte Konzeption beruht auf der Annahme,


eine verstärkte Nutzung der Einstellungsmöglichkeiten durch die Staatsan-
waltschaft setze eine intensive Zusammenarbeit zwischen den beteiligten
Instanzen voraus. "Um ein frühzeitiges Eingreifen der Jugendgerichtshilfe
zu ermöglichen, wird die Jugendgerichtshilfe bereits durch die Polizei infor-
miert, wenn den Beamten eine ,Krisenintervention' notwendig erscheint, mit
einem gerichtlichen Verfahren zu rechnen ist oder die Arbeit der Jugendge-
richtshilfe eine Einstellung eines Verfahrens nach § 45 Abs.2 JGG ermög-
licht ... Lediglich in juristischen Bagatellfällen wird die Jugendgerichtshilfe
vorab nicht benachrichtigt, da es hierbei im Ermessensbereich der Staatsan-
waltschaft liegt, ein Verfahren einzustellen ... In den Fällen, in denen die
Jugendgerichtshilfe nicht durch die Polizei informiert wurde und beim Staats-
anwalt Zweifel hinsichtlich einer Einstellung des Verfahrens bestehen, wird
die Jugendgerichtshilfe durch den Staatsanwalt ... von diesem Fall in Kennt-
nis gesetzt und versucht, die dem Staatsanwalt notwendigen Informationen
zur Verfügung zu stellen75 ."

4. Köln76
In Köln teilt der Jugendstaatsanwalt in geeigneten Fällen den Beschul-
digten mit, von der Verfolgung werde abgesehen, wenn eine festgesetzte An-

74 Kirchhoff/Wachowius, Diversion im Jugendstrafrecht - Das STOP-Pro-


gramm der INTEG, in: Kury (Anm. 3), S. 391 f.; vgl. ferner Kirchhoff, Diversion
im Jugendstrafrecht nach § 45 JGG - Das STOP-Programm der INTEG nach
einem Jahr, in: Kerner/Kury/Sessar (Hrsg.), Deutsche Forschungen zur Krimi-
nalitätsentstehung und Kriminalitätskontrolle. German research on crime
and crime control, Teilband 2, 1983, S. 956 ff.
75 Hilse, Geht es auch ohne Anklage? INFO 2/83 der Landesgruppe Baden-
Württemberg in der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugend-
gerichtshilfen e. V., 1983, S. 40 f.; vgl. ferner Hilse/Schalk, Maßnahmen im
Rahmen des Jugendgerichtsgesetzes und die Möglichkeiten der Jugendge-
richtshilfe, in: Kury (Anm.3), S. 330 ff.; Hilse/Schalk, Hintergrund und Kon-
zeption eines Modellprojektes zur Arbeit der Jugendgerichtshilfe, in: Kerner/
Kury/Sessar (Hrsg.), Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentstehung und
Kriminalitätskontrolle. German research on crime and crime control, Teil-
band 2, 1983, S. 986 ff.; Schalk, Die Zusammenarbeit zwischen Jugendstaats-
anwalt und Jugendgerichtshelfer bei Verfahrenseinstellungen, in: Walter/
Koop (Anm. 14), S. 79 ff.
76 Das BRüCKE-Projekt in Köln ist eine Ausweitung des in München vom
Verein BRüCKE e. V. getragenen Praxisprojektes "Jugendrichterliche Wei-
Neue Formen der Bewährung in Freiheit in der Sanktionspraxis 973

zahl von Sozialstunden nach Weisung des Vereins BRüCKE e. V. Köln ge-
leistet werde. Ist der Jugendliche bzw. Heranwachsende mit diesem Verfah-
ren einverstanden, kommt er zu einem Gesprächstermin in die BRüCKE.
Dem Gespräch zwischen dem Beschuldigten und einem Sozialarbeiter wird
entscheidende Bedeutung beigemessen, da die Jugendgerichtshilfe nicht ein-
geschaltet ist und auch keine persönliche Anhörung durch den Staatsanwalt
stattgefunden hat. Im Mittelpunkt steht die Tat und ihre Bewältigung, ins-
besondere die Reaktionen des sozialen Umfeldes. Erscheinen diese Reaktio-
nen als erzieherische Maßnahmen ausreichend, so regt die BRüCKE bei der
Staatsanwaltschaft an, ganz oder teilweise auf die Erfüllung der Arbeits-
weisung zu verzichten77 •

5. Lübeck
In Lübeck wird in Fällen der Kleinkriminalität, insbesondere bei Laden-
diebstahl, Schwarzfahren, Sachbeschädigung sowie bei Verkehrsdelikten, der
geständige Ersttäter von Beamten der Schutzpolizei zu einer Vernehmung
durch die Staatsanwaltschaft geladen, die zu diesem Zweck feste Gesprächs-
termine reserviert hat. "Ergibt sich bei der Vernehmung, die sich weniger
mit der Straftat selbst, als mit deren Motiven und Hintergründen, der per-
sönlichen, familiären, schulischen und beruflichen Situation des Jugendlichen
oder Heranwachsenden befaßt, daß das Fehlverhalten eingesehen und ge-
gebenenfalls in der Familie erörtert und aufgearbeitet worden ist, so ver-
fährt die Staatsanwaltschaft nach § 45 Abs.2 JGG; in anderen Fällen wendet
sie § 45 Abs. 1 JGG an oder erhebt Anklage. Der Ermahnungstermin wird
sofort mit dem zuständigen Richter telefonisch vereinbart78."

IV. Offene Fragen des Auf- und Ausbaus


neuer Formen der Bewährung in Freiheit

1. Effizienz und Effizienzkontrolle


Durch den weitgehenden Austausch von stationären durch ambu-
lante Maßnahmen bei gleichzeitigem Ausbau der Bewährungshilfe und
der sozialen Dienste der Justiz sowie durch die verfahrensrechtIichen
Entkriminalisierungen der jüngsten Zeit ist die Sanktionspraxis der
Verwirklichung alter kriminalpolitischer Ziele einen wichtigen Schritt
näher gekommen. Die kriminalpolitische Wende hat sich im Bereich
der formellen Sanktionen auch bewährt, denn trotz der Ausweitung

sungen" auf die Jugendstaatsanwaltschaft. Zum BRüCKE-Projekt in Mün-


chen vgl. zuletzt PfeitJer (Anm.3). Andere BRüCKE-Projekte sind z. B. in
Bielefeld, Ebersberg, Siegen und Starnberg entstanden.
77 Vgl. Marks, Entstehung und Praxis des Projektes BRüCKE Köln e. V.,
Bewährungshilfe 19 (1982), S. 126 ff.; Marks, Aspekte des Absehens von der
Verfolgung (§ 45 Abs. 2 JGG) durch den Jugendstaatsanwalt, Kriminalpädago-
gische Praxis, Heft 16, 1983, S. 11 ff.
78 PohZ-Laukamp, Praxisbericht, in: DVJJ (Hrsg.), Die jugendrichterlichen
Entscheidungen - Anspruch und Wirklichkeit, 1981, S. 200 f. Vgl. ferner PohZ-
Laukamp, Legalitätsprinzip und Diversion. Staatsanwaltschaftliche Ermitt-
lungsverfahren gegen jugendliche und heranwachsende Beschuldigte, Krimi-
nalistik 1983, S. 131 ff.
974 Wolfgang Heinz

der Strafaussetzung zur Bewährung und der Unterstellung unter einen


Bewährungshelfer auf eine immer größere und zunehmend prognostisch
ungünstiger beurteilte Klientel ist die Widerrufsquote in den Unter-
stellungsfällen nicht gestiegen7u • Ferner besitzt, den vorliegenden Be-
funden zufolge, die Geldstrafe jedenfalls keine niedrigere Effizienz
als die kurze Freiheitsstrafe, an deren Stelle sie getreten ist80 •
Inwieweit sich die ambulanten Maßnahmen im Vorfeld der förmli-
chen Sanktion bewährt haben, ist derzeit nur in Teilbereichen unter-
sucht81 • Theoretisch spricht jedoch sehr viel dafür, daß diese Maßnah-
men zumindest keinen negativeren Effekt haben als die in Betracht kom-
menden Alternativen8ll • Eine gen aue Effizienzkontrolle ist freilich un-
erläßlich.
2. Systemwidrige Nebeneffekte
Der Ausbau ambulanter Sanktionen hat freilich auch eine Reihe
systemwidriger Nebeneffekte hervorgerufen, die den kriminalpoliti-
schen Zielsetzungen zuwider laufen. Hierbei handelt es sich insbeson-
dereum83 :
- kurze Inhaftierungszeiten als Folge von Ersatzfreiheitsstrafen,
des Widerrufs von Straf- und Strafrestaussetzungen sowie der
Anrechnung von Untersuchungshaft;
- absoluter und relativer Anstieg der mittleren und langen Frei-
heitsstrafe;
- regional extrem ungleiche Handhabung der Verfahrenseinstel-
lungen, insbesondere der Einstellungen gemäß §§ 45, 47 JGG;
g~legentlicher Einsatz der Untersuchungshaft im Sinne einer
"shock probation" und
der - eher seltenen - Einschaltung der Bewährungshilfe als
Motiv für die Verhängung einer Freiheitsstrafe.
-----
70 Vgl. Spieß, Wie bewährt sich die Strafaussetzung? Strafaussetzung zur
Bewährung und Fragen der prognostischen Beurteilung bei jungen Straftä-
tern, MSchrKrim 64 (1981), S. 296 ff.; vgl. aber nunmehr auch die Berechnungen
von Kerner/Hennann/Bockwoldt, Straf(rest)aussetzung und Bewährungshilfe,
Arbeitspapier aus dem Institut für Kriminologie, Nr.3, 1984, S. 23 ff.
80 Vgl. Albrecht (Anm. 8).
81 Vgl. PfeitJer (Anm. 3).
82 Vgl. Heinz/Spieß, Alternativen zu formellen Reaktionen im deutschen
Jugendstrafrecht. Ein Forschungsvorhaben zu §§ 45, 47 JGG und erste Ergeb-
nisse, in: Kerner/Kury/Sessar (Hrsg.), Deutsche Forschungen zur Kriminali-
tätsentstehung und Kriminalitätskontrolle. German research on crime and
crime control, Teilband 2, 1983, S.911. Zu einer Sekundäranalyse ausländi-
scher Effizienzuntersuchungen vgl. Albrecht, Präventive Aspekte der Ver-
fahrenseinstellung im Jugendstrafrecht, in: Walter/Koop (Anm. 14), S. 58 ff.
83 Vgl. hierzu Heinz, Strafrechtsreform und Sanktionsentwicklung - Aus-
wirkungen der sanktionenrechtlichen Regelungen des 1. und 2. StrRG 1969 so-
wie des EGStGB 1974 auf die Sanktionspraxis, ZStW 94 (1982), S. 653 ff., 667 f.
Neue Formen der Bewährung in Freiheit in der Sanktionspraxis 975

3. Gefahr der Oberbetreuung im Jugendstrafrecht

Im Jugendstrafrecht besteht hinsichtlich der neuen Formen der Be-


währung in Freiheit zur Zeit noch vielfach Unsicherheit sowohl bezüg-
lich der Auswahlkriterien für die Teilnahme an den Projekten als auch
bezüglich deren inhaltlicher Ausgestaltung. Die gelegentlich erhobene
Forderung, erzieherische Gruppenarbeit oder Betreuungsweisung auf
Erst-, Früh- und Bagatellkriminalität zu beschränken8" würde nicht
nur zu einer überbetreuung einer Klientel führen, die dieser Maß-
nahmen regelmäßig nicht bedarf, sondern auch zu einer erheblichen
Rekriminalisierung. Der Arbeitskreis IV des 19. Deutschen Jugendge-
richtstags .hat deshalb mit Recht empfohlen, "insbesondere im Bereich
der Erst- oder Bagatelltäter soll vorrangig gemäß § 45 Abs.2 Nr. 2 JGG
von der Verfolgung abgesehen werden. Es empfiehlt sich, die Einstel-
lungsmitteilung jugendgemäß zu gestalten. Dabei soll zum Ausdruck
gebracht werden, daß in den Jugendlichen die Erwartung gesetzt wird,
er werde künftig nicht mehr straffällig werden"85. Aufgabe der wis-
senschaftlichen Begleitforschung wird es sein, die Auswahlkriterien für
Nichtintervention einerseits, für intervenierende Diversion nach Art
und Inhalt der Maßnahme andererseits herauszuarbeiten. Ferner be-
inhalten einige Projekte die Gefahr einer überbetreuung insbesondere
dann, wenn vor Prüfung des Tatverdachtes durch die Staatsanwaltschaft
bereits die Jugendgerichtshilfe oder ein sonstiger freier Träger erziehe-
rische Maßnahmen durchführt. Daß ein Geständnis vorliegt, mag die
Gefahr zwar mindern, kann sie aber nicht ausschließen. überbetreuung,
verbunden mit einer Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßig-
keit, liegt schließlich dann vor, wenn die erzieherische Maßnahme außer
Verhältnis zu dem sie veranlassenden tatsächlichen Geschehen steht.
Rechtsgrundlage zahlreicher Diversionsmodelle ist § 45 Abs. 2 JGG.
Gelegentlich scheint aber bei den angeordneten erzieherischen Maß-
nahmen nicht hinreichend beachtet zu werden, daß diese nicht eingriffs-
intensiver sein dürfen als die dem Jugendrichter vorbehaltenen Maß-
nahmen nach § 45 Abs.1 JGG88 .

84 So BuschlHartmann (Anm.65), S. 153 ff., insbesondere S. 158 und 271 für


die erzieherische Gruppenarbeit; ebenso Marks, Es geht auch ohne Anklage,
ZblJugR 69 (1982), S. 29, für ambulante Betreuungsangebote im Rahmen der
§§ 45, 47 JGG.
85 DVJJ (Hrsg.), Jugendgerichtsverfahren und Kriminalprävention, 1984,
S.230.
84 So die Empfehlung des Arbeitskreises IV des 19. Deutschen Jugendge-
richtstages (Anm.85), S.231; ebenso Brunner, Jugendgerichtsgesetz, 7. Aufi.
1984, § 45 Rdn. 11; enger dagegen Bietz (Anm.67), S.326; Walter, Wandlungen
in der Reaktion auf Kriminalität. Zur kriminologischen, kriminalpolitischen
und insbesondere dogmatischen Bedeutung von Diversion, ZStW 95 (1983),
S.61.
976 Wolfgang Heinz

4. Rechtsstaatliche Sicherung
Die regional höchst ungleiche Handhabung der §§ 153 ff. StPO, 45, 47
JGG ist rechtsstaatlich bedenklich. Hinzu kommt, daß es den Verfahren
an Transparenz mangelt. Die schützenden Formen des formalisierten
Verfahrens fehlen. Eine rechtsstaatliche Absicherung ist deshalb drin-
gend geboten.

5. Gefahr der Ausweitung des Netzes sozialer Kontrolle


In der "Diversion statt Strafe"-Diskussion81 wird immer häufiger
auf die Gefahr hingewiesen, daß die informellen Sanktionen nicht zu
der erwünschten "Umleitung" führen, d. h. an die Stelle der formellen
Sanktionen träten, daß vielmehr das Netz sozialer Kontrolle erweitert
werde. Zwar stehen derartige Befürchtungen bestätigende Befunde
für die Bundesrepublik Deutschland noch aus, gleichwohl konnten
Tendenzen in diese Richtung festgestellt werden88 . Angesichts des der-
zeitigen Wissensstandes wird es freilich vor allem weiterer kriminolo-
gischer und rechtstatsächlicher Forschung bedürfen, um dem Kriminal-
politiker und Gesetzgeber die notwendigen Informationen als Entschei-
dungsgrundlage an die Hand zu geben. Was der verehrte Jubilar in
gültiger Weise für das Verhältnis von Strafrecht und Kriminologie
formuliert hat - "Strafrecht ohne Kriminologie ist blind"81 -, das
gilt auch und erst recht für die Kriminalpolitik'o .

81 Vgl. zuletzt die Beiträge in dem von Kerner herausgegebenen Sammel-


band "Diversion statt Strafe? Probleme und Gefahren einer neuen Strategie
strafrechtlicher Sozialkontrolle" , 1983.
88 Vgl. HeinzlSpieß (Anm. 82), S. 926 f.
81 Jescheck (Anm. 26), S. 32.
to Vgl. Amelung, Strafrechtswissenschaft und Strafgesetzgebung, ZStW 92
(1980), S. 32 ff.; Kaiser, Kriminalpolitik ohne kriminologische Grundlage? Die
Zukunft des Strafrechts und die Wandlungen kriminologischen Denkens, Ge-
dächtnisschrift für Schröder, 1978, S. 481 ff.; Schach, Kriminologie und Sank-
tionsgesetzgebung, ZStW 92 (1980), S. 143 ff.
HEINZ ZIPF

Teilaussetzung
bei Freiheits- und Geldstrafen

I. Der Ausgangspunkt der Reformiiberlegungen


1. Das geltende Recht erklärt eine Teilaussetzung von Freiheitsstra-
fen ausdrücklich für unzulässig (§ 56 Abs.4 S. 1 StGB, § 21 Abs.3 S. 1
JGG). Dieses Verbot, die Aussetzung auf einen Teil der Strafe zu be-
schränken, wird in den Lehrbüchern und Kommentaren zumeist ohne
nähere Erläuterungen und gewissermaßen als selbstverständlich er-
wähnt1 ; auch eine inhaltliche Begründung findet sich zumeist nichtl ,
Aus dieser Ausgangssituation erklärt sich wohl hinreichend, daß sich
kaum kriminalpolitische Überlegungen zu einer Teilaussetzung von
Strafen und anderen Sanktionen finden. Sehr aufschlußreich ist aller-
dings der Hinweis des Jubilars auf das französische Recht; dieses läßt
"eine Teilaussetzung ausdrücklich zu und erblickt in der Kombination
von kurzem Vollzug und anschließender Aussetzung ein wichtiges Mittel
der Kriminalpolitik"8, Dementsprechend untersuchen die folgenden
Überlegungen die Frage, ob und in welchen Bereichen eine Teilausset-
zung ein erfolgversprechender Weg der Kriminalpolitik sein könnte.
Der Ausdruck ..teilausgesetzte" oder "teilbedingte" Strafe ist zunächst
nur ein Arbeitsbegriff, den es an Hand der Möglichkeiten der einzelnen
Sanktionen näher zu konkretisieren gilt. Dabei läßt es der Rahmen
dieses Beitrages von vornherein nicht zu, die Gesamtproblematik inner-
halb des Sanktionensystems auszuloten. Vielmehr soll eine Beschrän-
kung auf die beiden Hauptstrafen Freiheitsstrafe und Geldstrafe statt-
finden'.
1 Vgl. Dreher/TröndZe, 41. Aufl. 1983, § 56 Rdn.2; Lackner, 15. Aufl. 1983,
§ 56 Anm.3 a; Horn, in: SK, § 56 Rdn.6; Schönke/Schröder/Stree, 21. Aufl.
1982, § 56 Rdn.l0; kritisch zum Verbot der Teilaussetzung äußert sich aber
Baumann, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. ,1977, S. 725.
2 Der Jubilar weist allerdings in seinem Lehrbuch des Strafrechts, Allge-
meiner Teil, 3. Aufl. 1978, S.679 darauf hin" ,daß sonst der Vollstreckung
kurzer Freiheitsstrafen Vorschub geleistet würde.
3 Jescheck (Anm. 2), S. 679 Fn.25.
, Damit soll keineswegs zum Ausdruck kommen, daß bei anderen Sank-
tionen die Frage einer Teilaussetzung nicht aufzuwerfen wäre. So leuchtet
z. B. eine derartige überlegung beim Fahrverbot und beim Führerschein-

62 Festschrift für H.-H. Jescheck


978 Heinz Zipf

2. Zunächst ist zu untersuchen, wo bei diesen Hauptstrafen ein Be-


dürfnis für eine Teilaussetzung bestehen könnte. Dabei unterscheidet
sich die Situation bei der Freiheitsstrafe erheblich von derjenigen bei
der Geldstrafe.

a) Im Anschluß an den Jubliar5 pflegen wir in kriminal politischer


Hinsicht die Freiheitsstrafe in kurze (bis zu 6 Monaten), mittelfristige
(6 Monate - 2 Jahre) und langfristige (über 2 Jahre) zu unterteilen, wo-
bei diese Einteilung sowohl an das geltende Recht anknüpft (insbeson-
dere an die §§ 47, 48 und 56 StGB) als auch wichtige rechtspolitische
Perspektiven für die Alternativen zur Freiheitsstrafe bietet. An die
Stelle der Wertschätzung der Freiheitsstrafe ist ja im Grunde längst
ihre bloße Duldung in unserem Sanktionensystem getreten für alle die
Fälle, wo wir über keine geeignete Ersatzsanktion verfügen. Darauf
beruht der Siegeszug der Geldstrafe gegenüber der kurzen Freiheits-
strafe und die Dominanz der Strafaussetzung bei Freiheitsstrafen bis zu
einem Jahr und das allmähliche Vordringen in den Bereich zwischen
ein und zwei Jahren. Völlig ungelöst ist dagegen die Frage von Alter-
nativen im Bereich von längerfristiger Freiheitsstrafe über zwei Jahren.
Hier steht uns derzeit keine Alternativsanktion zur Verfügung und eine
solche ist auch nicht zu erkennen. Sie müßte einen erheblichen Straf-
wert in repressiver und präventiver Hinsicht aufweisen, da wir uns
ja hier im Bereich entweder gehäufter mittlerer oder schwerer Krimi-
nalität befinden.
Wenn wir derzeit für diesen Bereich keine Alternativsanktion zur
Verfügung haben, dann bleibt als kriminalpolitischer Weg nur die Ver-
kürzung der effektiven Vollzugsdauer. Erster und im geltenden Recht

entzug besonders ein. Gerade bei einem Führerscheinentzug mit einer län-
geren Sperrfrist wird zu Recht beklagt, daß der Verkehrsteilnehmer nach
einer solchen erzwungenen Abstinenz von der motorisierten Verkehrsteil-
nahme trotz des notwendigen Neuerwerbs der Fahrerlaubnis im Grunde
jedenfalls an fahrtechnischem Können erheblich eingebüßt haben wird und
vermutlich ein wesentlich unsichererer Verkehrsteilnehmer sein wird als vor
dem Führerscheinentzug. Hier könnte sich - neben vielen anderen disku-
tierten Möglichkeiten - durchaus anbieten, die Fahrerlaubnis nur auf eine
kürzere Zeit zu entziehen und sie dann auf Bewährung wieder zu verleihen.
Dafür wäre im einzelnen eine Reihe von rech,tstechnischen Problemen auch
im Verhältnis zum Fahrverbot zu klären.
, Jescheck ZStW 91 (1979), S. 1062 ff. Abweichend davon unterscheidet
Terdenge, Strafsanktionen in Gesetzgebung und Gerichtspraxis, 1983, S. 81 ff.
mittlere Freiheitsstrafen (6 - 12 Monate), mittellange Freiheitsstrafen,
(1- 5 Jahre) und lange Freiheitsstrafen (über 5 Jahre). Eingehend zur Ein-
schätzung der Freiheitsstrafe in der modernen Kriminalpolitik Jescheck,
Klug-Festschrift, 1983, S. 257 ff. und Zipf, Alternativen zur Freiheitsstrafe,
in: Strafzumessung - Alternativen zur Freiheitsstrafe - Reform des Jugend-
strafrechts, Tagung der österreichischen Juristenkommission in Weißenbach!
Attersee, Juni 1982, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Justiz, Bd. 12,
S. 83 ff.
Teilaussetzung bei Freiheits- und Geldstrafen 979

auch vorgesehener Ansatzpunkt dafür ist die bedingte Entlassung. Es


fragt sich aber, ob darüber hinaus nicht eine Teilaussetzung zusätzliche
Möglichkeiten eröffnen könnte (näher u. III). Dieses Problem ist deshalb
von großer kriminalpolitischer Bedeutung, weil wir sowohl national als
auch international einen Anstieg der langfristigen Freiheitsstrafen be-
obachten können. Das mag zunächst verwundern, da die Strafrechts-
reformbemühungen in den meisten Ländern auch unter dem Gesichts-
punkt einer Humanisierung und Milderung der Strafmittel gestanden
haben. Aber bei genauerer Betrachtung ist hier eine Differenzierung
geboten: Abmilderung des Sanktioneneinsatzes (insbesondere auch un-
ter dem Gesichtspunkt der Vermeidung von Entsozialisierung) bei Erst-
und Gelegenheitstätern, dagegen strengere Bestrafung insbesondere
mit der Folge längerdauernden Freiheitsentzuges bei Rückfallstätern.
Diese zweigeteilte Zielsetzung der Strafrechtsreform spiegelt sich sehr
genau im Reformprogramm der deutschen und auch der österreichi-
schen Strafrechtsreform6 • In bei den Ländern finden wir neben der
stärkeren Schonung von Ersttätern einen Anstieg längerer Freiheits-
strafen insbesondere bei mehrfach rückfälligen Straftätern. Dies gibt
der Frage Gewicht, inwieweit und mit welchen Mitteln man im Bereich
von Freiheitsstrafen über zwei Jahren wenigstens den tatsächlichen
Vollzug reduzieren kann. Dabei kommt es gerade in diesem Bereich
zu schwierigen Problemen, um sowohl einen ausreichenden Tatschuld-
ausgleich als auch generalpräventive und spezialpräventive Zielset-
zungen zu erreichen.
b) Wesentlich komplexer ist die Frage einer Teilaussetzung bei der
Geldstrafe. Während man bei der Freiheitsstrafe nur den Schritt von
der vorhandenen Aussetzung zur Teilaussetzung gehen müßte, kennt
das deutsche Geldstrafensystem die bedingte Geldstrafe im Gegensatz
zum österreichischen Recht überhaupt nicht. Zudem hat sich die oft als
Ersatz für die fehlende bedingte Strafnachsicht bei der Geldstrafe an-
gesprochene Verwarnung mit Strafvorbehalt in der Rechtsanwendung
nicht durchsetzen können; auch dies muß mit in die überlegungen ein-
fließen. Sie müssen sich umfassend der Frage stellen, ob man bei der
Geldstrafe eine volle und/oder teilweise Aussetzung einführen will. Da-
bei müßte ein Effizienzverlust bei der Geldstrafe möglichst hintange-
halten werden. Lohnt es sich dann überhaupt, einem so weitgehenden
und auch risikoreichen Reformschritt näherzutreten?
Betrachtet man die Anwendung der Geldstrafe in der strafrichter-
lichen Praxis, so fällt sofort auf, daß die Strafartgrenzen bei weitem

e Vgl. dazu Zipf, Allgemeine Grundsätze des Strafgesetzbuches und die


Rechtsprechung, Gutachten zum 7. Osterreichischen Juristentag, Salzburg
1979, S. 67 ff. und 84 ff.

62·
980 HeinzZipf

nicht ausgeschöpft werden. Die Geldstrafe findet ihren eindeutigen


Anwendungsschwerpunkt bei einer Strafe bis zu 90 Tagessätzen, wäh-
rend eine Geldstrafe von über 180 Tagessätzen eine große Rarität dar-
stel1t1 • Das bedeutet, daß der Bereich zwischen 180 und 360 Tagessätzen
(und natürlich erst recht derjenige bis zu 720 Tagessätzen bei Tatmehr-
heit gemäß § 54 Abs.2 StGB) nahezu vollständig brachliegt. Will man
die Geldstrafe auch in diesem ihr in der Praxis heute verschlossenen
Bereich aktivieren, so wird man sicher mit bloßen Appellen an die
Rechtsanwendung nichts Nennenswertes erreichen. Da das Tagessatz-
system nun bereits auf eine fast 10jährige Erprobungszeit zurückblicken
kann und sich dabei die Scheu vor hohen Geldstrafen unübersehbar
und im wesentlichen konstant bleibend manifestiert, scheint eine Ab-
hilfe nur durch den Gesetzgeber selbst erfolgversprechend. Dafür stehen
hauptsächlich zwei Möglichkeiten zur Verfügung. Einerseits kann man
eine Strafzumessungsvorschrift für das Verhältnis von Geldstrafe zur
Freiheitsstrafe im Bereich von sechs Monaten bis zu einem Jahr bzw.
von 180 bis 360 Tagessätzen in Fortentwicklung des § 47 StGB schaffen.
Schon der Umstand, daß in strafrechtsdogmatischer Hinsicht umstritten
ist, ob für diesen Bereich die Grundsätze des § 47 entsprechend gelten
oder ob eigenständige Regeln zu entwickeln sind,8 legt diesen Schritt
nahe. Darüber hinaus müßte man sich aber auch die Frage einer Teil-
aussetzung bei der Geldstrafe stellen.
Wenn die Gerichte vor hohen Geldstrafen zurückschrecken, dann
spielt dabei sicher auch das Problem der Eintr,eibbarkeit solcher hohen
Geldsummen eine große Rolle. Entscheidend in den Anwendungsbe-
reich der Geldstrafe über 180 Tagessätzen könnte man vermutlich dann
vorstoßen, wenn man dem Richter die Möglichkeit einräumen würde,
daß nur ein Teil der Geldstrafe effektiv zu erbringen ist und der Rest
zur Bewährung ausg·esetzt wird. Neben der Steigerung der Anwendungs-
häufigkeit höherer Geldstrafen wäre dabei in kriminalpolitischer Hin-
sicht von besonderer Bedeutung, daß damit die Geldstrafe spezialprä-
ventiv angereichert werden könnte. Weiter könnte das Problem der
Progressionswirkung bei einer hohen Anzahl von Tagessätzen9 abge-
schwächt werden. Unter diesen Aspekten erscheint der Schritt in krimi-
nalpolitisches Neuland erwägenswert.

1 Näher Albrecht, Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen,


1980 (vgl. z. B. S.316) und Terdenge (Anm.5), S.88; vgl. auch Jescheck, Klug-
Festschrift, 1983, S. 276 und Zipf (Anm. 5), S. 95.
8 S. dazu Horn, in: SK, § 47 Rdn. 7.
9 Eingehend dazu Tröndle, in: LK, 10. Aufl., § 40 Rdn. 57 f.
Teilaussetzung bei Freiheits- und Geldstrafen 981

n. Bedingte und teilbedingte Geldstrafe


Will man sich dem Problemkreis einer teilweise ausgesetzten Geld-
strafe im deutschen Recht zuwenden, so muß man zwangsläufig weiter
ausgreifen, da eine Strafaussetzung bei der Geldstrafe nicht vorgesehen
ist10• Die Problematik ist in der Strafrechtsreform eingehend behandelt
worden und die Entscheidung gegen eine Einbeziehung der Tagessatz-
geldstrafe in die Strafaussetzung gefallenl l • Freilich erfüllt die Verwar-
nung mit Strafvorbehalt eine ähnliche Funktion. Gerade die Tatsache,
daß sich die Verwarnung mit Strafvorbehalt in der gerichtlichen Praxis
nicht durchzusetzen vermochte1J, kann bedeuten, daß dieses Rechtsin-
stitut wegen seiner dogmatischen Kompliziertheit nicht angenommen
wurde - zumal § 153 a StPO ein wesentlich flexibleres Vorgehen er-
möglicht -, kann aber auch darauf zurückzuführen sein, daß man bei
der Geldstrafe kein Bedürfnis für einen bedingten Straferlaß sieht.
Hier ist ein Blick auf das österreichische Strafrecht von Interesse,
das seit langem die bedingte Geldstrafe kennt. Ihr Anwendungsumfang
war im alten StG gering (ca. 1 % der Verurteilungen), während sich in
der Geltung des neuen Strafgesetzbuches seit 1975 die Anwendungs-
quote der bedingten Geldstrafe bei etwa 10% der verhängten Geld-
strafen einzupendeln scheint, wenn auch nicht unerhebliche regionale
Unterschiede bestehen13 • Dabei ist eine bedingte Nachsicht der Geld-
strafe ohne eine Beschränkung auf die Anzahl der Tagessätze möglich;
die Voraussetzungen sind die gleichen wie bei der Freiheitsstrafe
(§ 43 öStGB}u. Umstritten ist, ob das geltende österreichische Recht eine
teilbedingte Nachsicht der Geldstrafe zuläßt15 • Man sieht bei der An-
10 Kritisch dazu insbesondere Baumann, Strafrecht, Allgemeiner Teil,
8. Aufi. 1977, S. 725.
11 Eingehend dazu Zipf, Probleme der Neuregelung der Geldstrafe in
Deutschland, ZStW 86 (1974), S. 534 ff.
12 Vgl. dazu Maurach/Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Teilband 2,
6. Aufi. 1984, § 66 Rdn. 2.
13 Vgl. Mitteilung ÖRiZ 1983, 250; näher zur bedingten Geldstrafe in
Österreich Driendl, Die Reform der Geldstrafe in Österreich, 1978; Regner,
Bedingte Nachsicht bei Geldstrafen, Österreichisches Anwaltsblatt 1976, 104;
Rieder, Bedingte Nachsicht, bedingte Entlassung und Weisungen, Zum Neuen
Strafrecht 1973, S. 91 ff.; Zipf, Allgemeine Grundsätze des Strafgesetzbuches
und die Rechtsprechung, Gutachten zum 7. Österreichischen Juristentag 1979,
S. 96 ff. und Pallin, Die Strafzumessung in rechtlicher Sicht, 1982, S. 89 f.
14 Vgl. dazu LeukauflSteininger, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2. Aufi.
1979, § 43 Rdn. 14.
15 Die Frage wird bejaht von Pallin, Die Strafzumessung in rechtlicher
Sicht, 1982, S. 90, der davon ausgeht, daß eine teilbedingte Geldstrafe keine
neu eingeführte Strafe wäre und durch ihre Anwendung der Täter begün-
stigt würde. Die ganz überwiegende Meinung hält jedoch eine teilbedingte
Geldstrafe für mit dem Wortlaut des § 43 öStGB unvereinbar (Leukaufl
Steininger [Anm. 14], § 43 Rdn. 16; Kunst, Wiener Kommentar zum Straf-
gesetzbuch, § 43 Rdn. 11; MayerhoferlRieder, Das Österreichische Straf-
982 Heinz Zipf

wendung der bedingten Geldstrafe durchaus die Gefahr, daß bei ihrem
überhandnehmen die Strafwirkung der Geldstrafe insgesamt leiden
könnte und versucht daher, den Anteil der bedingten Geldstrafe in
einem vertretbaren Rahmen zu halten.
In kriminalpolitischer Hinsicht muß man sehen, daß man es bei der
Frage einer bedingten Nachsicht der Geldstrafe mit zwei Zielsetzungen
zu tun hat. Im unteren Anwendungsbereich der Geldstrafe könnte eine
bedingte Nachsicht das mißglückte Rechtsinstitut der Verwarnung mit
Strafvorbehalt ablösen (s. u. 1). Im oberen Anwendungsbereich der
Geldstrafe könnte dagegen eine teilweise Nachsicht dazu führen, die-
sen Geldstrafenbereich (über 180 Tagessätzen) überhaupt erst für die
Rechtsanwendung zu erschließen (s. u. 2).

1. Das Scheitern der Verwarnung mit Strafvorbehalt wird oft dar-


auf zurückgeführt, daß dieses Rechtsinstitut in der Rechtsanwendung
durch § 153 a StPO überrollt worden sei; die Praxis greife wesentlich
lieber zu diesem flexibleren und weniger arbeitsaufwendigen Instru-
ment als zu § 59 StGB. Im folgenden wird davon ausgegangen, daß das
Verfahren nach § 153 a StPO eine sinnvolle Funktion erfüllt und -
wenn auch möglichst mit rechtsstaatlichen Verbesserungen - beizube-
halten, ja vielleicht sogar auszubauen ist18 • Mit überlegungen zu ei-
ner bedingten oder teil bedingten Geldstrafe soll auch der Anwendungs-
bereich des § 153 a StPO nicht tangiert werden. Andererseits löst diese
Bestimmung aber auch nicht die Probleme der Ausgestaltung und Voll-
streckung der Geldstrafe, da dort ja gerade keine Geldstrafe ausge-
sprochen wird (wenn auch die Geldauflage im Hinblick auf den Betrof-
fenen eine ähnliche Funktion erfüllen mag). Es bleibt vielmehr die
grundsätzliche Frage, ob man bei der Geldstrafe eine bedingte Straf-
nachsicht generell oder in bestimmten Bereichen vorsehen soll. In einem
früheren Beitrag17 habe ich mich gegen die Aussetzung der Geldstrafe
ausgesprochen18 , gleichzeitig aber auch Möglichkeiten der Weiterent-

recht, 1. Teil Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 1981, § 43 Nr. 1). Ich selbst halte de
lege lata eine teilbedingte Geldstrafe für unzulässig und glaube, daß ihre
Einführung als kriminalpolitische Entscheidung von großer Tragweite dem
Gesetzgeber vorbehalten ist. So sieht der Entwurf eines Jugendgerichts-
gesetzes 1983 in § 6 Ziff.5 der Regierungsvorlage vor, daß der Richter bei
der Verhängung einer Geldstrafe eine bedingte Nachsicht auch eines Teiles
der zu verhängenden Geldstrafe gewähren kann (vgl. dazu Jesionek, ÖRiZ
1983, 224 f., der dieselbe Möglichkeit auch für die Freiheitsstrafe bei Jugend-
lichen fordert).
18 Näher dazu Zipf, Empfiehlt es sich, die Vorschriften über die Öffentlich-
keit des Strafverfahrens neu zu gestalten, insbesondere zur Verbesserung
der Rechtsstellung . des Beschuldigten weitere nicht-öffentliche Verfahrens-
gänge zu entwickeln? Gutachten C zum 54. DJT 1982, S. 68 ff.
17 Zipf (Anm. 11), S. 513 ff.
18 (Anm. 11), S.534 ff.
Teilaussetzung bei Freiheits- und Geldstrafen 983

wicklung der Geldstrafe über den gegenwärtigen Anwendungsumfang


hinaus das Wort geredetlU. Nach fastzehnjähriger Erprobung des Tages-
satzsystems zeigt sich nun, daß bereits der Bereich der Geldstrafen über
180 Tagessätzen praktisch brachliegt. Sollte man in diesen Bereich
mit einer teilausgesetzten Geldstrafe vorstoßen können, dann stellt
sich das Problem der Aussetzung bei der Geldstrafe von neuem.
Hinzu kommt eine weitere Entwicklung. Hauptsächlich durch die
Schaffung des § 153 a StPO beginnen sich insbesondere die Auflagen
zu selbständigen Sanktionen zu entwickeln und von ihrem engen Be-
zug zur Strafaussetzung zur Bewährung bei der Freiheitsstrafe zu
lösen20• Dies verändert auch die Situation im Hinblick auf die Geld-
strafe, da es nunmehr wesentlich näher liegt, auch dieses Strafmittel
jedenfalls mit Auflagen zu verbinden. Damit verändert sich aber auch
insgesamt das Verhältnis zwischen Geldstrafe einerseits und Strafaus-
setzung zur Bewährung bei der Freiheitsstrafe andererseits. Geht man
von einer exklusiven Zuordnung der Warnfunktion zur Geldstrafe und
ambulanter Resozialisierung zur ausgesetzten Freiheitsstrafe aus, so hat
dieses Modell den Vorzug der klaren Zuordnung der Strafziele2t, an-
dererseits ist aber die gesamte Entwicklung des Sanktionenrechts und
seiner Bemessungsgrundsätze auf eine größere Differenzierung hin
verlaufen. Dies legt die Erwägung nahe, ob man nicht auch mit der
Geldstrafe Auflagen verbinden soll, um die Wirkungsmöglichkeiten
dieses Strafmittels noch flexibler und weiter gefächert zu gestalten.
Gerade unter dieser zuletzt genannten Zielsetzung erscheint es kri-
minalpolitisch sinnvoll, eine volle Strafnachsicht nicht auf den Gesamt-
bereich der Geldstrafe zu erstrecken, sondern auf deren unteren An-
wendungsbereich zu beschränken. Dabei erscheint es zunächst nahe-
liegend,auf die Höchstgrenze von 180 Tagessätzen entsprechend der
derzeitigen Verwarnung mit Strafvorbehalt abzustellen (zumal damit
ja dieses Rechtsinstitut ersetzt werden soll); dennoch spricht wohl mehr
dafür, die Grenze bei 90 Tagessätzen anzusiedeln. Einmal legen gerade
die negativen Erfahrungen mit § 59 8tGB eher einen bescheidenen
Einstieg nahe; auch ist nicht zu übersehen,_ daß bei Geldstrafen bis zu
90 Tagessätzen ohnehin der absolute Anwendungsschwerpunkt dieses
Strafmittels liegt. Bezüglich der materiellen Kriterien könnte man sich
an den Voraussetzungen des § 59 Abs.1 StGB orientieren, wobei aber
die Ziffer 3 (Verteidigung der Rechtsordnung). als· begrenzendes Krite-
rium entfallen sollte, weil sonst eine Spannung zu § 56 Abs.3 8tGB auf-

18 (Anm. 11), S. 538 ff.


20 Vgl. dazu MaurachjZipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Teilband 2,
6. Aufl. 1984, § 57 Rdn. 8.
21 Vgl. dazu Zipf (Anm. 11), S. 531ff.
984 Heinz Zipf

treten würde. Natürlich müßten die Kriterien der Ziffern 1 und 2 in


ihrer Formulierung modifiziert werden (vor allem "Vollstreckung" statt
"Verurteilung"), auch wären die Bewährungszeit und die Auflagen nach
§ 59 a sowie die §§ 59 bund c entsprechend anzupassen. Dabei sollten
die materiellen Kriterien durchaus den Ausnahmecharakter der vollen
Nachsicht der Geldstrafe unterstreichen, indem die besondere Pri-
vilegierungswürdigkeit von Tat und Täter hervorgehoben wird.
Regelfall mit deutlichem Anwendungsschwerpunkt sollte die zu
erbringende Geldstrafe blei1;>enu .

2. Geht es im unteren Bereich der Geldstrafe darum, einen Effizienz-


verlust zu vermeiden, so steht im umgekehrten Bereich der hohen
Geldstrafe die Zielsetzung im Vordergrund, diese Strafsanktion über-
haupt erst effektiv zu machen. Angesprochen ist damit in erster Linie
der Bereich von über 180 Tagessätzen. Hier könnte die teilbedingte
Geldstrafe ein Mittel sein, um in nennenswertem Umfang in diesen Be-
reich vorzustoßen und die Scheu der Richter vor hohen Geldstrafen ab-
zubauen. Da sich aus der hohen Anzahl der Tagessätze regelmäßig eine
beträchtliche Geldsumme ergibt, ist auch die Scheu des Richters ver-
ständlich, zumal hier die Urteinbringlichkeit zunehmend spürbarer wird.
Mit der Möglichkeit, nur einen Teil der Geldstrafe sofort zu erbringen
und den Rest bedingt nachgesehen zu erhalten, könnte daher auch das
Problem der Uneinbringlichkeit hoher Geldstrafen erheblich abgemil-
dert werden23 • Ein Verlust an spezial- und generalpräventiver Wirkung
muß damit nicht verbunden sein, da einerseits die Erbringung eines
Teiles eine effektive Warnfunktion entfaltet und andererseits die Be-
freiung vom ausstehenden Rest bei Bewährung spezialpräventiv sehr
positiv zu Buche schlagen 'kann.
An sich offen ist dabei, ob man den zu erbringenden Teil der Geld-
strafe in das Ermessen des Richters stellt (auch innerhalb bestimmter
Grenzen z. B. zwischen 1/4 und 3/4 der Geldstrafe) oder ob man lieber
den zu erbringenden Teil fix vorsieht (z. B. die Hälfte der Geldstrafe).

u Die bereits im Text kurz geschilderte österreichische Anwendungs-


häufigkeit der bedingten Geldstrafe spricht dafür, daß sich dieses Ziel auch
durchaus erreichen läßt. Die fast zehnjährigen Erfahrungen mit der beding-
ten Geldstrafe im österreichischen Tagessatzsystem zeigen, daß einerseits
die Effizienz der Geldstrafe insgesamt nicht leiden muß, daß es aber anderer-
seits durchaus besonders gelagerte Anwendungsfälle gibt, wo ein solches
Strafmittel kriminalpolitisch erwünscht und sinnvoll ist.
23 Vgl. Albrecht (Anm.7), S. 316 f. Waren auch die Erfahrungen mit der
Erbringung der Geldstrafe im Tagessatzsystem im bisherigen Anwendungs-
zeitraum im wesentlichen positiv, so darf doch nicht übersehen werden, daß
mit höherer Arbeitslosigkeit die Uneinbringlichkeitsfälle ansteigen können.
Hier kann insbesondere eine teilbedingte Geldstrafe auch die bedeutsame
Funktion erfüllen, die Fälle der Uneinbringlichkeit und damit der eintre-
tenden Ersatzfreiheitsstrafe einzudämmen.
Teilaussetzung bei Freiheits- und Geldstrafen 985

Letzteres hätte sicher den Vorteil einfacherer Anwendbarkeit, wäh-


rend ersteres dem Richter mehr Flexibilität gibt unter Anpassung an
die Anzahl der Tagessätze und die Einkommensverhältnisse des Täters.
Weiter spricht dafür, daß auch ein flexiblerer übergang zwischen der
vollen Aussetzbarkeit bis zu 90 Tagessätzen und dem darüberliegenden
Bereich erreicht werden könnte.
Wenn auch die kriminal politische Zielsetzung darauf abzielt, höhere
Geldstrafen zu effektuieren, so läßt sich doch die teilbedingte Geld-
strafe wohl nicht auf den Bereich über 180 Tagessätze beschränken,
sondern muß dann auf den Gesamtbereich der Geldstrafe ausgedehnt
werden, da schwer einzusehen wäre, daß eine Geldstrafe von 150
Tagessätzen voll erbracht werden muß, dagegen bei einer solchen von
200 Tagessätzen eine Teilaussetzung möglich wäre. Aus ähnlichen über-
legungen dürfte sich auch nicht empfehlen, den Bereich der Teilaus-
setzung erst über 90 Tagessätzen beginnen zu lassen, sondern auch den
Bereich der Geldstrafe darunter einzubeziehen, so daß sich im Bereich
bis zu 90 Tagessätzen die Möglichkeiten einer vollen und teilweisen
Aussetzung der Geldstrafe überschneiden würden. Auch für die teil-
bedingte Geldstrafe müßten dabei strenge materielle Kriterien ent-
wickelt werden, die ihren Ausnahmecharakter unterstreichen.
Aber auch dann liegen insbesondere drei Einwände nahe. Jede Form
einer voll- oder teilbedingten Geldstrafe verursacht zusätzlichen Ar-
beitsaufwand. Bei diesem Argument!4 wäre allerdings zu berücksich-
tigen, daß damit die Ersatzfreiheitsstrafe erheblich zurückgedrängt
werden könnte und diese Ersparnis den zusätzlichen Arbeitsaufwand
allemal überkompensieren würde. Schwerer wiegt der Einwand, ob
mit einem solchen Geldstrafenmodell nicht ein Effizienzverlust der
Geldstrafe als Strafmittel verbunden wäre. Die Berechtigung dieses
Einwandes entscheidet sich letztlich erst bei der Rechtsanwendung. Wie
das österreichische Recht, das die bedingte Strafnachsicht bei der Geld-
strafe an keine strengeren Voraussetzungen als bei der Freiheitsstrafe
knüpft, zeigt, muß damit keinesfalls ein Dammbruch bei der Geldstrafe
verbunden sein. Denn selbst gleiche Aussetzungsvoraussetzungen be-
deuten bei unterschiedlichen Strafmitteln, wie es die Geldstrafe und die
Freiheitsstrafe sind, etwas Unterschiedliches. Durch wesentlich engere
Voraussetzungen könnte man zudem von seiten des Gesetzgebers Vor-
sorge treffen; die Würfel würden aber immer bei der Rechtsanwendung
fallen.
Am schwersten wiegt der dritte Einwand, daß keineswegs sicher ist,
ob mit einem solchen differenzierten Geldstrafenmodell wirklich ein

2( Das Baumann, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 8. Aufl. 1977, S.725 von


vornherein nicht gelten läßt.
986 Heinz Zipf

Vorstoß zu höheren Geldstrafen erreicht werden kann. Es könnte ja


sein, daß die Möglichkeit der teilbedingten Geldstrafe die Richter nicht
ausreichend motiviert, auch auf Geldstrafen von über 180 Tagessätzen zu
erkennen, zumal ihnen vielleicht die Strafwirkung der Geldstrafe dann
sogar abgeschwächt erscheint und zusätzlicher Arbeitsaufwand droht.
Hinzukommen müßte deshalb eine Ausweitung des § 47 StGB dergestalt,
daß eine Strafzumessungsregel für das Verhältnis zwischen Freiheits-
strafe und Geldstrafe im Bereich zwischen 6 Monaten und einem Jahr ge-
schaffen wird. Dies dürfte sogar in kriminalpolitischer Hinsicht der ent-
scheidende Gesichtspunkt für die Effektuierung höherer Geldstrafen
sein, innerhalb dessen die Möglichkeit einer teilbedingten Geldstrafe
gewissermaßen nur die Bedingung für die Realisierbarkeit darstellt.
Faßt man eine solche Regelung ins Auge, dann könnte man den jet-
zigen § 47 Abs. 1 StGB dahingehend ändern, daß man für den Bereich bis
zu 6 Monaten ausschließlich auf die Einwirkung auf den Täter abstellt
und in einem neu zu schaffenden Absatz für den Bereich von 6 Monaten
bis zu einem Jahr auch die Verteidigung der Rechtsordnung als Anwen-
dungskriterium zuläßt. Hinzu kämen in den Bereich der Strafaussetzung
zur Bewährung einzustellende Vorschriften darüber, nach welchen Kri-
terien man eine Geldstrafe teil bedingt verhängen oder - dies bei noch-
mals strengeren Anwendungsvoraussetzungen - gänzlich zur Bewäh-
rung aussetzen könnte. Weiter wäre auch bei der voll- oder teilbedingten
Geldstrafe die Möglichkeit von Außagen und Weisungen vorzusehen
(aber unter Ausklammerung der Bewährungshilfe). Schon diese grobe
und natürlich im einzelnen ergänzungsbedürftige Skizze zeigt, welches
zusätzliche Maß an Differenzierung und Flexibilität damit unser Sank-
tionensystem hinzugewinnen könnte.
Dafür besteht auch kriminalpolitischer Bedarf. Zwar ist nicht zu
verkennen, daß die Aussetzung z. B. einer 10monatigen Freiheitsstrafe
mit einer entsprechenden Geldaußage nach § 56b Abs.l Ziff.2 StGB
eine an sich der teilbedingten Geldstrafe vergleichbare Situation schaf-
fen kann. Dennoch bleibt es aber ein grundlegender Unterschied, ob
die Verurteilung zu Freiheitsstrafe oder zu Geldstrafe erfolgt und man
damit auch schon vom Strafausspruch her gesehen der Freiheitsstrafe
weiteres Terrain abringen kann, ganz abgesehen davon, daß ja im
Nichtbewährungsfall die volle ausgesetzte Freiheitsstrafe vollstreckt
werden muß, während bei der teilbedingtenGeldstrafe bei Nichtbe-
währung die Vollstreckung sich zunächst auf den ausgesetzten Geld-
strafenrest beziehen würde und nur bei dessen Uneinbringlichkeit Er-
satzfreiheitsstrafe eintreten würde.
Schließlich würde auch ein weiteres schon kurz angesprochenes und
gegenwärtig als drängend empfundenes Problem entschärft. ;J3ei einer
Teilaussetzung bei Freiheits- und Geldstrafen 987

h~hen Tagessatzanzahl tritt eine progressive Steigerung der Strafwirkung


ein; um dieser entgegenzuwirken, sind zahlreiche Vorschläge gemacht
worden!5, die aber sämtlich im Tagessatzsystem im Grunde systemwid-
rig sind. Dieses Problem würde einer eleganten und flexiblen Lösung
zugeführt, wenn man das Rechtsinstitut einer teilbedingten Geldstrafe
zur Verfügung hätte.

m. Teilaussetzung bei der Freiheitsstrafe


Wirft das Problem einer teilbedingten Geldstrafe viele Fragen auf,
die mit zahlreichen anderen Gesichtspunkten des Geldstrafensystems
verbunden sind, so läßt sich bei der Freiheitsstrafe das Problem der
Teilaussetzung genau lokalisieren. Hier sollte sich die Teilaussetzung
erst an die heutige oberste Aussetzungsgrenze von zwei Jahren an-
schließen. Da wir im Bereich der langdauernden Freiheitsstrafe keine
echte Alternativsanktion besitzen, ist die Zielsetzung von vornherein
darauf gerichtet, den effektiven Vollzug der Freiheitsstrafe zurückzu-
drängen. Eine teilbedingte Freiheitsstrafe könnte hier einen neuen
Weg zum Vorstoß über die Zweijahresgrenze hinaus eröffnen. Da schon
bei der Aussetzung zwischen ein und zwei Jahren Freiheitsstrafe die
Praxis große Zurückhaltung übt, wäre ein Vorstoß über die Zweijahres-
grenze hinaus wohl nur in der Weise kriminalpolitisch realisierbar, daß
zunächst ein Teil der Strafe vollstreckt und danach der (größere) Teil
bedingt nachgesehen wird. Zu denken wäre dabei an die Regelung, daß
der Täter ein Viertel der ausgesprochenen Strafe verbüßt und bei gün-
stiger Prognose entlassen wird. Da diese Regelung erst bei Freiheits-
strafen über zwei Jahren zum Einsatz käme, wäre auch das Argument
ausgeräumt, daß damit die kurzzeitige Freiheitsstrafe zusätzlichen Ein-
gang in das Sanktionensystem finden würde!B; denn die Mindestver-
büßungsdauer läge ja dann bei 6 Monaten.
Als Adressatenkreis für eine solche Regelung kämen Täter mit gün-
stiger Sozialprognose bei schwerer Anlaßtat in Betracht. Zwar könnte
eine günstige Täterprognose an sich auch bei schwersten Delikten be-
stehen (z. B. vorsätzliche Tötungen in Konfliktsituationen), dennoch wäre
es geboten, fi.i.r ein solches Rechtsinstitut einer teilbedingten Freiheits-
strafe auch eine Grenze nach oben einzuführen!? In materiellrechtlicher
Hinsicht entscheidend wären eine günstige Sozialprognose und eine
besondere Privilegierungswürdigkeit von Tat und Täter. Damit wäre
der Anwendungsbereich von vornherein eng gezogen. Auch sollten

%5 Vgl. daZll näher DreherlTröndle, § 40 Rdn. 24.


2.8Vgl. Jescheck (Anm. 2), S. 679.
27 Zu denken wäre an eine Obergrenze der verhängten Freiheitsstrafe
von vier oder fünf Jahren.
988 HeinzZipf

Rückfalltäter, auf die die Voraussetzungen des § 48 StGB zutreffen~


ausscheiden. Die Prognose hätte hier dahingehend zu lauten, daß an-
gesichts der besonderen Umstände von Tat und Täter schon der Teil-
vollzug von einem Viertel der verhängten Freiheitsstrafe genügt, um
den Täter in Zukunft einem straffreien Leben zuzuführen.
Der kriminalpolitische Vorteil eines solchen Rechtsinstituts liegt auf
der Hand. Einerseits wird der Vollzug von drei Vierteln der Freiheits-
strafe bei Bewährung des Täters vermieden, andererseits ist der Verur-
teilte wegen der aushaftenden Strafe einer besonders nachdrücklichen
Warnung vor erneuter Straffälligkeit ausgesetzt. Mit der unterschied-
lichen Vollzugsdauer und den strengeren materiellen Voraussetzungen
wäre auch eine ausreichende Abgrenzung zur bedingten Entlassung
gegeben. Zwar wäre es an sich rechtstechnisch auch denkbar, ähnliche
Ergebnisse mit einer entsprechenden Änderung der Vorschriften über
die bedingte Entlassung zu erzielen. Dennoch scheint es kriminalpoli-
tisch sinnvoller, für diesen speziellen Anwendungsbereich ein eigenes
Rechtsinstitut einer teilbedingten Freiheitsstrafe neben die bedingte
Entlassung zu stellen. Es blieben auch erhebliche Unterschiede in den
Anwendungsvoraussetzungen bestehen. Diese liegen nicht nur in der
unterschiedlichen effektiven Vollzugsdauer, sondern insbesondere auch
im Zeitpunkt der Prognose, die beim Rechtsinstitut einer teilbedingten
Freiheitsstrafe schon im Urteilszeitpunkt zu stellen wäre. Auch register-
rechtliche Differenzierungen ließen sich denken.
Vor allem aber müßte bei einer teilausgesetzten Freiheitsstrafe die
Bewährungszeit besonders spezialpräventiv ausgestaltet und abge-
sichert werden. Dafür wäre in jedem Fall die Bestellung eines Bewäh-
rungshelfers notwendig. Denn für das gesamte Rechtsinstitut wäre
ausschlaggebend, daß eine besonders intensiv ausgestaltete ambulante
Resozialisierung den Vollzug der Freiheitsstrafe ersetzt. Kriminalpo-
litisch wäre damit ein solches Rechtsinstitut letztlich ein Schritt zum
Ausbau ambulanter Resozialisierung und zu Lasten stationären Frei-
heitsentzuges. In dieser Dimension, die ein besonders wichtiges krimi-
nalpolitisches Anliegen darstellt, wäre ein solcher Schritt letztlich kri-
minalpolitisch zu verantworten.
Für die Weiterentwicklung des Sanktionensystems könnte eine Teil-
aussetzung der Freiheitsstrafe weitere Perspektiven eröffnen. So
könnte man sich vorstellen, daß man neue Möglichkeiten für die Straf-
aussetzung im Bereich zwischen ein und zwei Jahren gewinnt. Hätte
man hier neben der vollen Aussetzung die Möglichkeit, zur nachdrück-
lichen Warnung an den Täter einen kurzen Teil zu vollstrecken, so
könnte sich der Anwendungsbereich erweitern lassen. Zu denken wäre
hier in Parallele zum Dauerarrest des Jugendstrafrechts an eine kurze,
Teilaussetzung bei Freiheits- und Geldstrafen

etwa bis zu einer Höchstdauer VOn einem Monat reichende Freiheits-


entziehung, die dem Verurteilten nachdrücklich das Strafübel des Frei-
heitsentzugs zum Bewußtsein bringen würde, ohne dessen Neben- und
Nachwirkungen zu entfalten. Denn eine solche Arrestform könnte voll-
zogen werden, ohne den Betroffenen aus seinem Berufs- und Familien-
leben für längere Zeit herauszureißen. Freilich kann dieser Gedanken-
gang hier nicht im einzelnen weiter verfolgt werden; er ginge auch weit
über den Rahmen des gestellten Themas hinaus und würde eine grund-
sätzliche kriminalpolitische Diskussion darüber erfordern, ob ganz.
kurze Freiheitsstrafen insbesondere für bestimmte Tätergruppen sinn-
voll sein können28 • Erst wenn man dies grundsätzlich bejahen würde,
hätte es einen Sinn, rechtstechnische Ausgestaltungsvarianten im Aus-
setzungsbereich weiter zu diskutieren.

IV. Die kriminalpolitische Bedeutung

Die skizzierten kriminalpolitischen Möglichkeiten, die sich mit einer


teilbedingten Strafe verbinden, können hier naturgemäß nicht voll ent-
faltet und in allen möglichen Verästelungen ausdiskutiert werden. Mehr
als ein erster Denkansatz kann deshalb davon nicht ausgehen. Er er-
scheint aber sinnvoll, weil er die bisherige Strafrechtspolitik einer Zu-
rückdrängung der vollstreckten Freiheitsstrafe weiterführen würde.
Dabei ist in Zukunft kein spektakulärer Terraingewinn zu Lasten der
Freiheitsstrafe mehr zu erwarten. Die ausdiskutierten und verwirk-
lichten Möglichkeiten der §§ 47 und 56 StGB können nur mehr vor-
sichtig und in kleinen Schritten ausgebaut werden.
Dabei ist die Problematik einer teilbedingten Geldstrafe vielschichtig
und nicht allein auf den Gesichtspunkt der Ausweitung höherer Geld-
strafen beschränkt. Aber dieser Gesichtspunkt, der insbesondere zur
Effektuierung der Geldstrafe über 180 Tagessätzen führen sollte, steht
im Verhältnis zur Freiheitsstrafe im Vordergrund. Bei dieser selbst
könnte eine Teilausssetzung zur Verringerung vollstreckten Freiheits-
entzuges beitragen, was gerade angesichts des Anstiegs dieser Strafen
in den letzten Jahren eine überaus wünschenswerte Zielsetzung wäre.
Mit der teilweisen Verbüßung der Freiheitsstrafe könnte auch der oft
geforderte Reformschritt bei der Strafaussetzung über zwei Jahre
hinaus2U erleichtert werden.
Letztlich fußen damit die Reformüberlegungen auch in einem Grund-
dilemma unseres Sanktionensystems. Können wir die vorhandenen
28 Vgl. dazu Jescheck, Klug-Festschrift, 1983, S.272 und Zipf (Anm.5),
S. 97 f.
28 Vgl. Maurach/Zipf, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Teilband 2, 6. Aufl.
1984, § 65 Rdn. 9.
990 HeinzZipf

Sanktionen nicht oder jedenfalls nicht in größerem Umfang erweiternlO ,


so müssen die vorhandenen und kriminalpolitisch erprobten Sanktionen
differenzierter werden, um noch größere Flexibilität und mehr Varia-
tionsmöglichkeiten zu erreichen. In dieser Zielsetzung wäre letztlich das
neu zu sChaffende Rechtsinstitut der Teilaussetzung zu sehen.

30 Eine hier ausgeklammerte Möglichkeit wäre im Verhältnis zur Geld-


strafe und insbesondere bei deren Uneinbringlichkeit die Arbeitsstrafe (vgl.
Jescheck, Klug-Festschrift, 1983, 8.270 und 275 f.); auch die Aussetzbarkeit
der Ersatzfreiheitsstrafe wäre erwägenswert (näher Jescheck, a.a.O., S.275).
DIETER SCHAFFMEISTER

Durch Modifikation zu einer neuen Strafe


Versuch einer Erklärung der fortdauernden Verwendung
der kurzen Freiheitsstrafe in den Niederlanden

1.

Der kurzen Freiheitsstrafe1 wurde vor 100 Jahren durch von Liszt
der Kampf angesagt!. Mit seiner Konzeption einer am Zweckgedanken
orientierten Kriminalpolitik war der aus seiner Sicht für den Ver-
urteilten nicht nur nutzlose, sondern sogar schädliche kurzzeitige Frei-
heitsentzug nicht zu vereinbaren. In der letzten, von ihm verfaßten
Auflage seines Lehrbuchs faßt er seine Kritik an der kurzzeitigen
Freiheitsstrafe dahingehend zusammen, daß sie "in ihrer heutigen
Anwendungsweise weder bessert, noch abschreckt, noch unschädlich
macht, dafür aber nur zu leicht den Neuling dauernd in die Bahn des
Verbrechens weist"3. Die Kritik verdichtete sich in den nachfolgenden
Jahrzehnten zu einem wahren Kreuzzug gegen die kurze Freiheits-

1 Aus Gründen der internationalen Vergleichbarkeit verstehe ich hierunter


eine Freiheitsstrafe unterhalb von sechs Monaten, denn die meisten Länder
haben unter dem Gesichtspunkt, daß während der Haftzeit eine sinnvolle Be-
handlung möglich sein soll, hier die Grenze gezogen. In den Niederlanden
sind auch andere Abgrenzungskriterien anzutreffen. Lamers, De gaande en
komende man in de strafgestichten. Het probleem der korte vrijheidsstraffen,
Tijdschrift voor Strafrecht 1964, S. 70 - 84, definiert die kurze Freiheitsstrafe
als eine Freiheitsstrafe bis zu drei Monaten, weil Sträfen bis zu dieser Dauer
aufgrund von Art. 9 Abs. 2 Gesetz über die Gruridsätze des Gefängniswesens
statt wie üblich in Gefängniseinrichtungen in Haftanstalten vollstreckt werden
dürfen, S. 74 f. Heijder, Geldboete of korte vrijheidsstraf, Nederlands Juri-
stenblad 1974, S. 1337 - 1347, hat aufgrund pragmatischer Erwägungen eine
Freiheitsstrafe unterhalb eines Monats vor Augen, S. 1341.
I Als Ausgangspunkt kann von Liszts berühmte Marburger Antrittsrede
"Der Zweckgedanke im Strafrecht" gelten, Strafrechtliche Aufsätze und Vor-
träge, Bd. I, 1905, S. 126 - 179; von Liszt definierte die kurze Freiheitsstrafe
als einen Freiheitsentzug bis zu sechs Wochen, siehe Grebing, Die Geldstrafe
im deutschen Recht nach Einführung des Tagessatzsystems, in: JeschecklGre-
bing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländischen Recht. Rechtsver-
gleichende Untersuchungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft, 3. Folge,
Bd. 1, 1978, S. 13 ff., 30.
3 von Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 21/22. Auft. 1919, S. 13.
992 Dieter Schaffmeister

strafe'. In deren Ablehnung war man sich bis in die zweite Hälfte
unseres Jahrhunderts, auch international gesehen, nahezu einig'. Diese
einhellige überzeugung kommt in der Empfehlung sowohl der UNO
als auch des Europarats an die jeweiligen Mitgliedsstaaten, die Anwen-
dung der kurzen Freiheitsstrafe so weit wie möglich einzuschränken,
klar zum Ausdruck'. Der deutsche Strafgesetzgeber hat im Zuge dieser
allgemeinen Kritik die kurzzeitige Freiheitsstrafe zwar nicht beseitigt,
wie es eigentlich der Intention von Liszts entsprochen hätte7 und wie
auch der Alternativ-Entwurf es gefordert hat8 ; er hat sie jedoch weit-
gehend zurückzudrängen versucht, so daß "die kurze Freiheitsstrafe
unterhalb von sechs Monaten durch die Prioritätsklausel zugunsten
der Geldstrafe theoretisch zur Ausnahme geworden ist"9. Freilich scheint
die Praxis auf diese Strafe nicht verzichten zu können. Im Jahre 1982
wurden in der Bundesrepublik Deutschland immerhin 10 722 nicht zur
Bewährung ausgesetzte Verurteilungen zu einer Freiheitsstrafe unter
sechs Monaten ausgesprochen; hinzuzurechnen sind auf jeden Fall
34278 registrierte Neuzugänge im Strafvollzug wegen zu vollstrecken-
der Ersatzfreiheitsstrafen10• Inhaftierungszeiten unter sechs Monaten
werden zusätzlich durch Widerruf einer Strafaussetzung, durch Straf-
restaussetzung und durch Anrechnung der Untersuchungshaft bewirkt.
Unter Berücksichtigung auch dieser Gruppen kommt Heinz zu dem

, Siehe Grebing, Die Geldstrafe in rechtsvergleichender Darstellung, in:


JeschecklGrebing, Geldstrafe (Anm.2), S. 1183 ff., 1197. Dort wird ebenfalls
die internationale Dimension des Kampfes gegen die kurze Freiheitsstrafe
beschrieben. Den Begriff "Kreuzzug gegen die kurzzeitige Freiheitsstrafe"
verwendet übrigens bereits von Liszt selbst, Strafrechtliche Aufsätze und
VQrtr~~e (Anm. 2), S. 347.
5 So die Begründung zum niederländischen Entwurf eines Gesetzes über
die Vermögenssanktionen (Wet vermogenssancties), Parlamentsdrucksache
15 012, Nr.3, S. 19: "Heute besteht ein großes Maß an Einigkeit darüber, daß
die kurze Freiheitsstrafe in vielen Fällen als Mittel, den Strafzweck zu errei-
chen, wenig taugt."
• Unter Punkt 4 der Empfehlungen des 1960 in London tagenden UNO-
Kongresses wird nachdrücklich verlangt, die kurze Freiheitsstrafe auf das
unentbehrliche Minimum zu beschränken. Der Europarat gibt in den Resolu-
tionen 17 (73) und 10 (76) Empfehlungen hinsichtlich alternativer Sanktionen.
Eine übersicht über die verschiedenen Aktivitäten des Comite directeur pour
les problemes criminels gibt Dockx, Panopticon 1981, S. 395 - 406 und 506 - 516.
7 Sein Urteil über die kurzzeitige Freiheitsstrafe ist jedenfalls vernichtend.
Er hält sie nicht nur für nutzlos, vielmehr "schädigt sie die Rechtsordnung
schwerer, als die völlige Straflosigkeit der Verbrecher es zu tun imstande
wäre". Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge (Anm. 2), S. 347.
8 § 36 Abs. 1 Alternativ-Entwurf sieht vor, die Mindestdauer der Freiheits-
strafe auf sechs Monate festzulegen.
9 Jescheck, Die Freiheitsstrafe bei Franz von Liszt im Lichte der modernen
Kriminalpolitik, in: 375 Jahre Rechtswissenschaft in Gießen. Gießener Rechts-
wissenschaftliche Abhandlungen, Bd. I, 1982, S. 16 ff., 31.
10 Strafverfolgungsstatistik, Hrsg. vom Statistischen Bundesamt, 1983,
S.126 ff.
Durch Modifikation zu einer neuen Strafe 993

Ergebnis, daß im Schnitt der Jahre 1975/1980 statt der 10500 unbedingt
verhängten Freiheitsstrafen 55000 - 60 000 Verurteilte zur Verbüßung
einer Strafe für eine Zeit von weniger als sechs Monaten inhaftiert
gewesen sein dürftenl l •
Erst in neuerer Zeit sind über die kurzfristige Freiheitsstrafe nuan-
ciertere und selbst positive Stimmen zu vernehmen12 • Zu denjenigen,
die zu einer differenzierenden und jedenfalls im Hinblick auf be-
stimmte Tätergruppen positiven Einschätzung dieser Strafe neigen,
zählt Jescheck. In der ersten Auflage seines Lehrbuchs von 1969 findet
sich bereits die Äußerung, daß die Geldstrafe nicht den Gesamtbereich
der Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten übernehmen könne; ihre
Abschaffung würde für den unteren Bereich der mittleren Kriminalität
praktisch zur Entwaffnung der Justiz führen tS • In der dritten Auflage
werden dann bestimmte Tätergruppen genannt, bei denen ein kurz-
fristiger Freiheitsentzug sinnvoll erscheint: beim Soldaten, weil die
Wahrung der militärischen Disziplin ein kurzes Durchgreifen erfordern
könne, und bei den Verkehrs- und Wirtschaftsstraftätern, weil sie auf
diese sozial eingeordneten Personen stark abschreckend wirke und in
der Regel auch nicht die befürchtete entsozialisierende Wirkung habe14 •
Unabhängig von der Zugehörigkeit zu diesem Personenkreis könne
die kurze Freiheitsstrafe jedoch auch aus spezialpräventiven Gründen
oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerläßlich sein. Weitere
Argumente dafür, daß "das letzte Wort über die kurze Freiheitsstrafe
... noch nicht gesprochen" ist, findet Jescheck in der Rechtsverglei-
chung. Die Praxis einiger Länder, die wie Schweden, Norwegen und
die Niederlande die kurze Freiheitsstrafe bewußt an Stelle von mitt-
leren und längeren Freiheitsstrafen verwenden, könnte, so schreibt
er im rechtsvergleichenden Querschnitt zu dem von ihm betreu-
ten Gemeinschaftswerk der strafrechtlichen Forschungsgruppe des
Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht

11 Heinz, Strafrechts reform und Sanktionsentwicklung - Auswirkungen


der sanktionsrechtlichen Regelung des 1. und 2. StrRG 1969 sowie des EGStGB
auf die Sanktionspraxis, ZStW 94 (1982), S. 632 ff., 667.
12 Für die Niederlande siehe Heijder, Can we cope with alternatives? Crime
and Delinquency 26 (1980), S. 1 - 9. über deutliche Tendenzen zu einer neuen
positiven Beurteilung in den skandinavischen Ländern berichtet Ermgassen,
Die Geldstrafe in den nordischen Ländern (Dänemark, Norwegen, Schweden,
Finnland), in: JeschecklGrebing, Geldstrafe (Anm.2), S. 855 ff., 872 f. Im Hin-
blick auf Wirtschaftsstraftäter verweise ich ferner auf Tiedemann, Wirt-
schaftsstrafrecht und Wirtschaftskriminalität, Bd.l, Allgemeiner Teil, 1976,
S.73: "Täter aus den mittleren und oberen Gesellschaftsschichten sind weit-
hin nicht im üblichen Sinne sozialisationsbedürftig, und die Verbüßung kurzer
Freiheitsstrafen hat für sie einen ebenso gefürchteten wie eminenten indivi-
duellen und sozialen Effekt." Ferner auch S. 249 f.
18 Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 1969, S. 502 f.
14 Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts. Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 1978, S. 620.

63 Festschrift für H.-H . .Tescheck


994 Dieter Schaffmeister

über die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate, wenn die Erfahrungen


günstig sind, "auch in Deutschland einmal zu einer Regelung führen,
die eine kurze ,Ersatzfreiheitsstrafe' anstelle einer an sich verdienten
längeren Freiheitsstrafe vorsieht U15 •
Daß eine Verschiebung von den mittel- und langfristigen zu den
kurzfristigeren Freiheitsstrafen jedenfalls in den skandinavischen Län-
dern und den Niederlanden stattgefunden hat, steht fest. Welche Er-
klärung jedoch dafür gegeben werden kann, ist kaum untersucht. Die
Begründung, daß kurze Freiheitsstrafen in jedem Fall weniger schäd-
lich seien als lange, vermag zwar die zurückhaltende Verwendung der
längeren Strafen zu erklären; zu Recht bezeichnet jedoch Jescheck
sie als "fast zynischuu• Auch das in den skandinavischen Ländern vor-
gebrachte Argument von dem gestiegenen Wert der Freiheit, so daß im
Vergleich zu früheren Zeiten eine geringere Menge von Freiheitsent-
zug ausreiche, um das Unrecht auszugleichen17 , bietet nur auf den
ersten Blick eine einleuchtende Erklärung für das Verschiebungs-
phänomen. Deutlich ist nämlich zugleich auch, daß dieses Argument
die seit den Zeiten von von Liszt vorgetragenen Bedenken gegen ge-
rade die kurzzeitige Freiheitsstrafe nicht aus dem Wege räumt und
demzufolge offen bleibt, ob es ihnen gegenüber standhält. Ich habe
in meiner Antrittsvorlesung in Leiden den Versuch unternommen,
eine Hypothese zur Erklärung des Phänomens zu entwickeln, daß sich
in den Niederlanden die kurze Freiheitsstrafe - trotz des dort eben-
falls geführten hundertjährigen Kampfes des Gesetzgebers und der
Lehre - behauptet hat, ja eigentlich sogar Boden dazu gewinnen
konnte18• In dieser rechtsvergleichend unterbauten Analyse konnte ich
bereits einen großen Teil der Landesberichte einbeziehen, die nunmehr
in dem erwähnten Gemeinschaftswerk über die Freiheitsstrafe ver-
öffentlich sind. In den Niederlanden ist mein Erklärungsversuch in den
bisher erfolgten Besprechungen positiv aufgenommen worden19 • Das
gibt mir den Mut, die Hauptgedanken auch über die Grenzen dieses
Landes hinaus im deutschen Sprachbereich zugänglich zu machen10 •

15 Jescheck, Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in rechtsvergleichender


Darstellung, in: Jescheck (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im
deutschen und ausländischen Recht. Rechtsvergleichende Untersuchungen zur
gesamten Strafrechtswissenschaft. 3. Folge, Bd. 16.3, 1984, S. 2157.
10 Jescheck (Anm. 9), S. 32.
17 Im dritten Hauptteil wird dieses Argument näher besprochen, S. 1001 fi.
18 SchaJjmeister, De korte vrijheidsstraf als vrijetijdsstraf, 1982.
19 Siehe van Veen, Delikt en Delinkwent 1983, S. 50 - 53; van der Pol, Delikt
en Delinkwent 1983, S. 62 - 64 und Jonkers, Rechtsgeleerd Magazijn Themis
1983, S. 382 - 384.
20 Die Form eines Beitrags in dieser Festschrift erscheint deshalb beson-
ders geeignet, weil der hier verfolgte Gedanke im Rahmen der Vorarbeiten
zu dem von Jescheck betreuten Gemeinschaftswerk über die Freiheitsstrafe
Durch Modifikation zu einer neuen Strafe 995

11.
Eine weit verbreitete allgemeine These lautet: Die kurze Freiheits-
strafe hat alle Nachteile und keinen der Vorteile der langen Gefäng-
nisstrafe21 . Die einzelnen angeführten Bedenken gegen diese Strafe
weisen ebenfalls ein großes Maß an übereinstimmung auF2. Die Kritik
läßt sich in fünf Punkten zusammenfassen:
1. die sozialen Beziehungen des Verurteilten können abgebrochen,
jedenfalls beträchtlich erschüttert werden: Verlust der Arbeits-
stelle, Zerrüttung der Familienbande, Erschw,erung des Aufbaus
neuer sozialer Kontakte aufgrund der Tatsache, daß man "geses-
sen" hat;
2. die Dauer des Verbleibs im Gefängnis ist zu kurz, um den Täter
positiv zu beeinflussen und den Resozialisierungsprozeß in Gang zu
setzen;
3. die Bekanntschaft mit dem Gefängnis setzt den Verurteilten der
Gefahr einer kriminellen Ansteckung aus; überdies verliert das
Gefängnis für ihn an abschreckender Wirkung;
4. Nichtanwendung der kurzen Freiheitsstrafe bringt erllebliche finan-
zielle Einsparungen mit sich: die Vollstreckung von Freiheitsstrafen
ist sowieso schon kostspielig; es kommen noch hohe weitere Kosten
in der Form von Sozialhilfen hinzu und schließlich
5. - eigentlich das Fazit aus den vier vorgenannten Punkten - ob-
wohl mit der Vollstreckung dieser Strafe beträchtliche Kosten ver-
bunden sind, hat sie wenig Nutzen. Ungefähr zwei Drittel der zu
kurzzeitigen Freiheitsstrafen verurteilten Personen kehren inner-
halb kurzer Zeit nach ihrer Entlassung zurück28 : Die Anwendung
der kurzen Freiheitsstrafe scheint eine "Straße ohne Ende" zu sein24 •

(Anm. 15) entstanden ist. Sie erlegt aber andererseits hinsichtlich des Um-
fangs Beschränkungen auf, die eine rigorose Kürzung der Argumentation und
Nichtbehandlung der rechtspolitischen Aspekte erforderlich machten. Eine
deutsche Fassung meiner Leidener Antrittsvorlesung (Anm.18) ist in Vor-
bereitung.
21 So die Schlußfolgerung einer European Working Group aus dem Jahre
1959: "The criticism directed against sentences in that they have all the draw-
backs of deprivation of liberty in any form, with none of its adventages .....
Siehe Lamers (Anm. 1), S. 75.
!I Die Aufzählung der Nachteile der kurzen Freiheitsstrafe weist in den
verschiedenen Ländern eine erstaunliche Parallelität auf. Ich nenne Autoren
aus drei Ländern. Für die Niederlande: d'Anjou, Alternatieve sancties. Bericht
für das Wetenschappelijk Onderzoek- en Documentatiecentrum des nieder-
ländischen Justizministeriums von 1976, S. 25 ff., hierin werden die Nachteile
in vier Hauptkategorien (Freiheitsentzug als solcher; Institutionalisierungs-
effekte; Stigmatisierungseffekte und Kosten) zusammengefaßt; für Belgien:
EliaertslSnacken, De toepassing van de korte vrijheidsstraf: een straatje
zonder eind? Panopticon 1982, S. 5 ff., 6 f. und für die Bundesrepublik Deutsch-
land: Kaiser, Kriminologie. Ein Lehrbuch, 1980, S. 295 f.

63*
996 Dieter Schaffmeister

Die während eines Jahrhunderts auf nationaler und internationaler


Ebene unternommenen Bemühungen, um die vermeintlich nicht nur
nutzlose, sondern sogar schädliche kurze Freiheitsstrafe zurückzudrän-
gen, scheinen allerdings weitgehend erfolglos geblieben zu sein. In vie-
len Ländern jedenfalls werden unbedingte kurze Freiheitsstrafen unter-
halb von sechs Monaten noch immer häufig angewendet25 • Zu diesen
Ländern zählen auch die Niederlande; hier betrug der Anteil der Frei-
heitsstrafen unter sechs Monaten, bezogen auf alle unbedingten Frei-
heitsstrafen - trotz rückläufiger Tendenz in den letzten Jahren - ,
noch immer 85,8 % im Jahr 198228 • Auch mit den am 1. Mai 1983 einge-
führten Neuerungen durch das Gesetz über die Vermögenssanktionen27
und die bevorstehende Einführung der Dienstleistungsstrafe als Haupt-
strafe!8 wird die kurze Freiheitsstrafe wahrscheinlich nicht radikal
23 Nach einer Untersuchung von Albrecht, Strafzumessung und Strafvoll-
streckung bei Geldstrafen. Die Geldstrafe im System strafrechtlicher Sank-
tionen, 1980, wiesen in einer Risikozeit von fünf Jahren Ersttäter, die zu
einer kurzen Freiheitsstrafe verurteilt worden waren, verglichen mit solchen,
die eine Geldstrafe erhalten hatten, eine dreimal so hohe Wiederverurtei-
lungsquote auf wie die Vergleichsgruppe. Auf dieses überraschende Ergebnis
weisen auch Kaiser (Anm.22), S.296 und Jescheck (Anm.9), S.31 hin.
24 So der Titel der in Anm. 22 zitierten belgischen Untersuchung, die auf
S. 16 ebenfalls hohe Rückfallquoten ausweist.
25 Eine umfassende übersicht gibt Jescheck, Freiheitsstrafe (Anm. 15),
S. 2039 - 2052.
21 Von den insgesamt 1982 auferlegten, nicht oder nur teilweise zur Be-
währung ausgesetzten 19 093 Gefängnisstrafen entfielen auf die kurze Frei-
heitsstrafe unter einem Monat 52,1 %, auf die zwischen einem und drei Mo-
nat(e) 20,1 % und die zwischen drei und sechs Monate 13,6 %; insgesamt also
85,8 %. In den Jahren 1970 und 1973 lag der Prozentsatz sogar über 90 %. Die
Gefängnisstrafen zwischen sechs Monaten und einem Jahr hatten im Jahre
1982 einen Anteil von 7,7 % und die über einem Jahr 6,5 %. Siehe Jahres-
bericht der Staatsanwaltschaft über 1982, Anlage VIII zum Justizhaushalt
1981, Parlamentsdrucksache 18100 Hauptteil VI, Nr. 3, S. 68.
27 Der Gesetzentwurf mit Begründung wurde am 2. Mai 1978 eingebracht
(Parlamentsdrucksache 15012 Nr. 1 - 3) und am 31. März 1983 im Staats-
blad 1983, Nr. 153 verkündet: das Gesetz ist am 1. Mai 1983 in Kraft getre-
ten. Die durch das neue Geldstrafensystem erforderliche Neueinteilung aller
Straf tatbestände in Geldstrafenkategorien wurde ein Jahr später durch das
Gesetz über die Einteilung in Geldstrafenkategorien vom 10. März 1984,
Nr.91 realisiert. Der durch diese Reform beträchtlich geänderte Text des
niederländischen Strafgesetzbuchs wurde durch Verfügung des Justizmini-
sters vom 23. März 1984 neu bekanntgemacht, Staatsblad 1984, Nr.92. Die
Niederlande haben damit ebenfalls ihre Geldstrafenregelung vollständig
neu geregelt, sind dabei allerdings nicht wie die Bundesrepublik Deutsch-
land und Österreich dem nordischen Tagessatzsystem gefolgt, sondern haben
sich für die eigene, im Gesetz über die Wirtschaftsstraftaten von 1950 kon-
zipierte und seither erprobte Einteilung der Geldstrafendrohungen in Kate-
gorien entschieden.
28 Der Justizminister ließ unmittelbar nach Empfang des in Anm. 35 ge-
nannten Schlußberichts verlautbaren; daß er so schnell wie möglich die
Dienstleistung als Hauptstrafe in das Strafgesetzbuch aufnehmen möchte.
Vgl. u. a. das Tagesblatt Trouw vom 21. Juni 1984: Als alternatief voor
hoogstens zes maanden straf. Dienstverlening komt in strafrecht.
Durch Modifikation zu einer neuen Strafe 997

zurückgedrängt werden, wie die diese Gesetzesänderungen vorberei-


tenden Kommissionen übereinstimmend als ihre überzeugung bekun-
det haben29 • Ob mit den inzwischen eingeführten beziehungsweise vor-
geschlagenen Mitteln diese beabsichtigten Wirkungen erzielt werden,
stößt nämlich auf einige Bedenken.
Das Gesetz über die Vermögenssanktionen brachte zwar eine Reihe
bedeutsamer Neuerungen, die ich in acht Punkten zusammenfasse:
1. eingeführt wurde eine neue Geldstrafenregelung, die im wesent-
lichen nach dem Vorbild des Gesetzes über die Wirtschaftsstraftaten
von 1950 konzipiert ist;
2. diese neue Geldstrafenregelung gilt für alle strafbaren Handlungen
(misdrijven und overtredingen); jedes Delikt kann demzufolge heute
mit einer Geldstrafe geahndet werden;
3. die außergerichtliche Erledigung durch Vergleich (Transaktion)
wurde auf Straftaten mit einer Strafdrohung bis zu sechs Jahren
Freiheitsstrafe ausgedehnt;
4. der Katalog der bei einer Strafzumessung zur Bewährung aufzu-
erlegenden Bedingungen wurde durch die Vorauszahlung einer
Garantiesumme erweitert;
5. die Maßregel der Vorteilsabschöpfung, die bisher auf den Bereich
der durch das Gesetz über die Wirtschaftsstraftaten erfaßten Delikte
beschränkt war, wurde in das Strafgesetzbuch aufgenommen;
6. die Nebenstrafen können nunmehr selbständig und nicht nur in
Verbindung mit einer Hauptstrafe auferlegt werden;
7. der Schuldspruch ohne Strafausspruch, der vorher nur in den Ver-
fahren vor dem Jugend- und dem Kreisrichter möglich war, wurde
verallgemeinert und schließlich
8. wurden die Anforderungen an die Urteilsbegründung im Hinblick
auf die Wahl der Strafart und die Höhe der Strafe verschärft30 •
An diesem Katalog von zusätzlichen, das Vermögen antastenden
Sanktionen dürfte j.edoch kaum Bedarf bestehen, weil bis jetzt in der

29 Beide Kommissionen waren von der überzeugung durchdrungen, "daß


sowohl der Gesellschaft als auch dem Straftäter gedient ist, wenn innerhalb
absehbarer Zeit die Verurteilungen zu unbedingter kurzer Freiheitsstrafe
radikal zurückgedrängt werden". Siehe Zwischenbericht der Kommission
Vermögens strafen (Interim-rapport Commissie vermogensstraffen), 1969,
S.24 und Zwischenbericht der Kommission alternative Strafsanktionen (In-
terimrapport Dienstverlening), 1978, S. 12.
30 Eine ausführlichere übersicht über die Änderungen ist in der Begrün-
dung zum Gesetzentwurf (Anm.5), S.18 ff. zusammengestellt. Eine kriti-
sche Besprechung des Entwurfs gibt van Veen, De geldboete op de helling.
Het einde van ons accusatoire strafproces in zicht? Nederlands Juristenblad
1978, S. 915 - 921.
998 Dieter Schaffmeister

Praxis der richterlichen Strafzumessung von einer Ausschöpfung der


nach geltendem Recht gewährten Möglichkeiten keine Rede sein kann.
Zwar kann man der Feststellung des Justizministers in der Begründung
zu dem Entwurf des Gesetzes über die Vermögenssanktionen, daß es
höchste Zeit sei, die bestehende Regelung "auf den Müll zu werfen",
nur beipflichten. Diese Regelung ist tatsächlich als "chaotisch" zu
bezeichnen, als "ein aus hundert Teilstücken zusammengestückeltes
Flickwerk, bei dem über große Teile hinweg neue Flicken genäht
sind"B1. Diese Kritik bedeutet aber nicht, daß die frühere Geldstra-
fenregelung hinsichtlich Anwendbarkeit und Höhe nicht ausgereicht
hätte. Es gab nämlich kaum Delikte, bei denen die Geldstrafe nicht
aufgrund des Geldstrafengesetzes (Art. 24 a. F. nl.StGB) oder im Rah-
men der Aussetzung einer verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung
(Art. 14 Abs.2 nl.StGB) hätte auferlegt werden können. Die durch die
Strafrichter ausgesprochenen Geldstrafen schöpften zudem den beste-
henden Geldstrafenrahmen bei weitem nicht ausS!. Nicht Mängel der
früheren Geldstrafenregelung, sondern mit der Geldstrafe als solcher
verbundene Nachteile haben meiner Ansicht nach bewirkt, daß die
Geldstrafe der Freiheitsstrafe nicht noch mehr Boden abgewinnen
konnte, als es ihr in den vorausgegangenen Jahrzehnten bereits gelun-
gen war. Nicht so sehr die Attraktivität der Geldstrafe als vielmehr
die Kritik an den (kurzen) Freiheitsstrafen und das dadurch bewirkte
Mißtrauen gegen sie hat das starke Aufkommen der Geldstrafe in
unserem Jahrhundert zustandegebrachtSs • Die Geldstrafe ist nämlich
keineswegs eine ideale StrafeM • Sie kann - und das ist ihr schwächster
Punkt - von Dritten (Arbeitgebern, Ehegatten, Eltern, Verwandten,
F-reunden oder Bekannten) bezahlt werden, so daß die Strafe den
Täter nicht, jedenfalls nicht unmittelbar trifft. Sie kann ferner auch
nichtschuldige dritte Personen beträchtlich belasten, beispielsweise
wenn die dem Familienvater wegen einer Trunkenheitsfahrt auferlegte

S1 Begründung zum Entwurf eines Gesetzes über die Vermögenssank-


tionen (Anm. 5), S. 25 f.
32 Siehe darüber SchatJmeister, Die Geldstrafe und ihre Erneuerung in
den Niederlanden, in: Jescheck/Grebing, Geldstrafe (Anm.2), S. 635 f.
BB Vgl. die Schlußfolgerung in meinem Landesbericht über die Geldstrafe
(Anm. 32), S. 635: "Eine echte Alternative zur kurzfristigen Freiheitsstrafe
ist jedenfalls die Geldstrafe nicht geworden, die Ausweitung ihres Anteils
an der Gesamtzahl der Verurteilungen dürfte vielmehr durch Zweifel an der
Zweckmäßigkeit der Gefängnisstrafe als durch die gesetzliche Ausweitung
ihrer Anwendungsmöglichkeit herbeigeführt worden sein." Siehe auch Wiif-
fels, Altematief model van een dagboetestelsel voor Belgie, Panopticon 1981,
S. 425 H., 427.
M Siehe Begründung zum Entwurf des Gesetzes über die Vermögenssank-
tionen (Anm. 5), S. 20. Eine übersicht über die in verschiedenen Ländern
formulierten Nachteile der Geldstrafe gibt Grebing, Geldstrafe (Anm.4),
S.1207 ff.
Durch Modifikation zu einer neuen Strafe 999

Geldstrafe vom Haushaltsgeld eingespart werden muß. Sie begünstigt


schließlich den finanziell besser gestellten Teil der Bevölkerung, auch
wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse bei der Strafzumessung berück-
sichtigt werden, weil der Ernst des begangenen Delikts dieser Anpas-
sung sowohl nach oben als auch nach unten Grenzen setzt. Diese
Schwächen der Geldstrafe können weder durch die erfolgte Geldstra-
fenreform noch durch weitere Gesetzesänderungen beseitigt werden,
weil sie der Geldstrafe und anderen das Vermögen antastenden Sank-
tionen immanent sind. Strafrichter werden deshalb auch nach der
Reform, bei aller Skepsis gegenüber den Freiheitsstrafen, unter be-
stimmten Voraussetzungen durchaus noch Anlaß haben, sich für die
unbedingte kurzzeitige Freiheitsstrafe zu entscheiden und nicht für die
Geld- oder eine andere das Vermögen antastende Strafe.
Zweifel umgeben aber auch die jetzt angekündigte Einführung der
DienstIeistungsstrafe. Obgleich die im Frühjahr 1981 in einigen Ge-
richtsbezirken gestarteten Experimente mit dieser neuen Strafe positiv
beurteilt werden85 , steht keineswegs fest, daß hiervon eine starke Ab-
nahme der kurzzeitigen Freiheitsstrafen zu erwarten ist. Zu erinnern
ist an die Fortdauer des hohen Anteils der kurzen Freiheitsstrafe in
England, wo die als Vorbild dienende "community service order" be-
reits im Jahre 1972 eingeführt worden ist38 • Die Anwendung dieser
neuen Sanktion in England weist zwar während ihrer Geltungsdauer
eine starke permanente Steigerung auf87 ; der Anteil der kurzen Frei-
heitsstrafen an den insgesamt verhängten unbedingten Freiheitsstrafen
ist aber gleichwohl nicht gesunken38• Mit den nach dem Zweiten Welt-
krieg eingeführten nicht fl'eiheitsentziehenden Sanktionen, mit denen
die Freiheitsstrafen eingeschränkt werden sollten, hat man in England
ziemlich allgemein die Erfahrung gemacht, daß diese neuen Strafarten

85 Am 1. Februar 1981 begannen Experimente mit der Dienstleistungs-


sanktion in acht Rechtbankbezirken. Am 20. Juni 1984 legte die von Mr. H.
van Buuren geleitete Arbeitsgruppe ihren Schlußbericht an den Justizmini-
ster vor: Dienstverlening van Experiment naar Wet. Rapport van de Voor-
bereidingsgroep Experimenten Dienstverlening.
se Siehe Junger-Tas, Community service en dienstverlening: een kritische
beschouwing, Delikt en Delinkwent 1981, S. 5 ff., bes. S. 5. über Entstehungs-
geschichte, kriminalpolitische Zielsetzung und Würdigung der community
service order berichtet ausführlich Huber, Community service order als Alter-
native zur Freiheitsstrafe, JZ 1980, S. 638 ff.
87 Während im Jahre 1975 nur 2578 Personen zum community service ver-
urteilt wurden, waren es vier Jahre später bereits 13461. Vgl. Huber, Die
Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in England und Wales, in: Jescheck (Hrsg.),
Freiheitsstrafe (Anm. 15), S. 232.
38 Huber, Freiheitsstrafe (Anm.37), S. 194, 195. Vgl. auch Junger-Tas,
Community Service (Anm.36), S.22: "So ist die Anzahl von ,CSOs' insge-
samt gesehen von 1974 bis 1978 zwar von 1 % auf 6 % gestiegen, doch ist
dies nicht mit einem Sinken des relativen Anteils der im Gefängnis landen-
den Personen verbunden gewesen."
1000 Dieter Schaffmeister

überwiegend als Ersatz für die Geldstrafe und die bereits seit 1907
angewendete "probation order" gedient haben. Hinsichtlich der "com-
munity service order" wird angenommen, daß sie ihren Anwendungs-
bereich zur Hälfte der Geldstrafe und den bedingten Verurteilungen
abgerungen hat 39 • Ähnliche Verschiebungen innerhalb des bestehenden
Sanktionsarsenals stehen auch für die Niederlande zu erwarten, weil
auch hier die richterliche Strafzumessungsfreiheit unangetastet blei-
ben soll. Die neue Strafe soll zwar nur für Fälle in Betracht kom-
men, in denen sonst eine kurzzeitige Freiheitsstrafe verhängt würde.
Es handelt sich hierbei jedoch um eine Vorabe·inschätzung, die anhand
aller zur Verfügung stehenden Sanktionen ergeht. Die neue Hauptstrafe
wird deshalb in den Niederlanden wahrscheinlich gleichfalls teilweise
für den Teil an Verurteilungen zu Geldstrafe und zu zur Bewährung
ausgesetzten Freiheitsstrafen verwendet werden, der heute den Straf-
richter nicht zufriedenstellt und bei dem er die neue Strafe für an-
gemessener hält. Dies ändert zwar nichts daran, daß die neue straf-
rechtliche Sanktion in erster Linie zum Ziel hat und behält, die kurz-
zeitigen Freiheitsstrafen zurückzudrängen40 ; es bedeutet indes aber
wohl, daß wir nicht allzu große Erwartungen hegen dürfen, um gerade
diese Strafe durch die neue Sanktion ersetzen zu können.
Der langwierige und fortdauernde Kampf von Wissenschaft und
Gesetzgebern in verschiedenen Ländern gegen die kurze Freiheitsstrafe
scheint also aussichtslos zu sein. Was macht aber die kurze Freiheits-
strafe so unbesiegbar, so immun gegen alle bisher erdachten und der
Justiz angebotenen Arzneien? Was sind die Beweggrunde der Staats-
anwälte und Richter, an der kurzen Freiheitsstrafe - zwar innerhalb
llirer· Befugnisse, aber doch gegen alle Kritik und sogar gegen den
wiederholt ausdrücklich erklärten Willen des Gesetzgebers - festzu-

3t Huber, Freiheitsstrafe (Anm. 37), S. 195, 196: "Häufig wurden die neuen
Strafen auf Kosten der Geldstrafe oder auch der bereits seit Jahrzehnten
angewendeten Bewährungsaufsicht eingesetzt", und "die community service
order wurde als eigenständige Strafe in etwa 50 % der Fälle auch als Alter-
native zur Geldstrafe und probation verwendet, womit der beabsichtigte Ent-
lastungseffekt für den Strafvollzug in der Hälfte der Fälle entfiel"; dies., Die
Freiheitsstrafe in England und Wales, Köln 1983, S.126. Siehe auch Junger-
Tas, Community service (Anm. 36), S. 10.
40 Siehe den Zwischenbericht der Kommission alternative Strafsanktionen
(Anm.29), S. 58. Die Frage: Kann die obligatorische Dienstleistung der Geld-
strafe und den zur Bewährung ausgesetzten Strafen Terrain abgewinnen?
wird übrigens ausdrücklich gestellt und bejaht. Im Ergebnis übereinstim-
mend auch die Stellungnahme des Justizministers zu· den Bedenken des
Abgeordneten Buikema, ob nicht eine Konkurrenz zwischen Geldstrafe und
alternativen Sanktionen zu befürchten sei. Sie kann übrigens kaum über-
zeugen. Er behauptete nämlich, daß dies "seiner Meinung nach nicht zu
befürchten sei, weil die alternativen Sanktionen unmittelbar als Alternati-
ven für die kurze Freiheitsstrafe und nicht für die Geldstrafe bezweckt sei-
en". Parlamentsdrucksache 15012 Nr. 8, S. 2.
Durch Modifikation zu einer neuen Strafe 1001

halten? über die Motive der Staatsanwälte und Richter, die der Straf-
zumessung zugrunde liegen, wissen wir wenig. Der Strafrichter muß
zwar von Gesetzes wegen seine Entscheidung über Strafart und Straf-
maß im Urteil schriftlich begründen (z. B. Art. 359 Abs.4 nl.StPO und
§ 267 Abs. 3 StPO), niemand könnte aber nur aus den Strafzumessungs-
gründen, wie sie in den Urteilen anzutreffen sind, ermitteln, welche
Meinung(en) die Strafrichter über die kurze Freiheitsstrafe, die Geld-
strafe oder die alternativen Strafen habenu. Erst eine empirische Unter-
suchung, die sich nicht nur auf die Analyse der in den Strafakten anzu-
treffenden Angaben über Tat und Täter beschränkt, sondern auch eine
Befragung der Entscheidungsträger nach ihren wirklichen Beweggrün-
den bei der Feststellung von Strafart und -höhe umfassen müßte,
könnte hierüber Aufschluß geben. Bis jetzt haben unsere empirischen
Hilfswissenschaften hierzu jedoch wenig zu bieten, und dies scheint
merkwürdigerweise in allen in meine Untersuchung einbezogenen
Ländern der Fall zu sein4Z • Vorerst müssen wir uns also mit Hypothe-
sen begnügen, deren Plausibilität wir zwar diskutieren, die wir jedoch
ohne Einschaltung der empirischen Wissenschaften nicht verifizieren
bzw. falsifizieren können.

III.
1. Eine erste Hypothese, die man in der Literatur mehrfach antrifft,
behauptet, daß der Richter die kurze Freiheitsstrafe anwendet und
auch weiterhin anwenden müsse, um den Täter mittels eines "short
sharp shock treatment" von der Begehung weiterer strafbarer Hand-

U Der Richter verwendet in den Niederlanden bei der Begründung der


Strafzumessung meistens Formeln wie "die Strafe entspricht dem Ernst
und der Art des verübten Delikts". Ferner ist, weil der Richter sein Urteil
kassationssicher machen will, nicht gewährleistet, daß die Begründung auch
die echten Motive wiedergibt. Auf dieses Problem weist Enschede, Moti-
vering en motief, 1959, S. 4 hin mit weiteren Literaturangaben in Fn. 2.
Schließlich weise ich auf das von van Veen, Geldboete (Anm.30), S.920 zur
Kritik an der Verschärfung der Anforderungen an die Urteilsgründe er-
wähnte "öffentliche Geheimnis" hin, "daß bei einer Anzahl Rechtbanken
nur dann die Urteile ausgefertigt werden, wenn ein Rechtsmittel eingelegt
ist". Dies bedeutet, daß in Fällen, in denen der Verurteilte den Urteilsspruch
hinnimmt, oft keine schriftlichen Urteilsgründe zur Verfügung stehen.
41 In keinem der Landesberichte in dem Gemeinschaftswerk über die Frei-
heitsstrafe (Anm. 15) wird über eine solche Untersuchung berichtet. Eliaertsl
Snacken, Toepassing (Anm.22) weisen ebenfalls mit einer gewissen Ver-
wunderung auf diese Lücke hin: "Bei all dem fällt auf, daß in der pönolo-
gischen Literatur wenige Informationen über die Einstellung verfügbar sind,
die der Richter hinsichtlich der kurzen Gefängnisstrafen und der Alterna-
tiven ,einnimmt' I" (So 7). "Eine Untersuchung nach den Faktoren, die die
Strafzumessung beeinflussen, drängt sich auf. Dabei müßte man ... der Ein-
stellung des Richters mehr Aufmerksamkeit zuwenden" (S. 18).
1002 Dieter Schaffmeister

lungen abzuhalten'3. Was damit gemeint ist, läßt sich am besten mit
einem Zitat aus einem englischen Urteil aus dem Jahre 1974 verdeut-
lichen: "Some twenty to twenty-five years ago, there was a view
abroad, held to by many people in executive authority, that short
sentences were of little value, because there was not enough time to
give in prison the benefit of training. This view is no longer held as
firmly as it was. This young man does not want prison training. It is
not going to do him any good. It is his memory of the clanging of
prison gates which is likely to keep him from crime in the futureu."
Während in England die shock-Therapie offenbar nur bei jungen Straf-
fälligen angewendet wird, scheint in Kanada auch gegenüber Erwach-
senen die Aufrechterhaltung der kurzen Freiheitsstrafe aufgrund ähn-
licher Erwägungen, oft sogar unter Berufung auf dieses Urteil, begrün-
det zu werden45 •
Daß in den Niederlanden die große Anzahl kurzer Freiheitsstrafen
als shock-Strafen erklärt werden könnte, habe ich in früheren Publi-
kationen unter Hinweis auf andere Autoren für möglich gehalten4/!;
inzwischen scheint mir diese Hypothese aber nicht mehr haltbar. Zwar
hat bei der Ahndung von Trunkenheitsfahrten mit einer. kurzen Frei-
heitsstrafe am Anfang gewiß der Gedanke mitgespielt, diese Beschul-
digten durch eine kurze kräftige Strafe von der Begehung weiterer
solcher Straftaten abzuhalten. Doch, wie u. a. in Deutschland nach-
gewiesen worden ist, kann dieser Effekt bei diesen zumeist sozial
(höher) eingeordneten Tätern auch durch eine fühlbare Geldstrafe
erzielt werden47 • Von größerer Bedeutung für das langjährige Fest-
halten an der kurzen Freiheitsstrafe in diesen Fällen war nach meiner
überzeugung ohnehin der Gedanke, durch die Verhängung der schwer-
sten strafrechtlichen Sanktion die soziale Anerkennung dieses Delikts
als ebenso strafwürdig wie beispielsweise Diebstahl und andere seit
alters her bestehende Straftaten zu beschleunigen oder, richtiger ge-
sagt, zu erzwingen. Abgesehen davon, daß ein derartig forcierter Ein-
U Siehe u. a. Jescheck, Lehrbuch (Anm.14), S.620 und EliaertslSnacken,
Toepassing (Anm.22), S. 7 mit weiteren Literaturangaben in Fn. 12.
" Criminal Appeal Reports 1974. Zitiert in Lübbe, Die Freiheitsstrafe
und ihre Surrogate in Kanada, in: Jescheck (Hrsg.), Freiheitsstrafe (Anm.15),
S.1504.
es Lübbe, Die Freiheitsstrafe (Anm. 44), S. 1504.
41 Siehe Schatfmeister, Einführung zu: Das niederländische Strafgesetz-
buch vom 3. März 1881. Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher in deut-
scher übersetzung. Bd.98, 1977, S.29 mit Fn.134; ders., Kriminalität und
Strafrechtsanwendung in den Niederlanden, ZStW 90 (1978), S. 309 ff., 337 f.
47 Siehe Begründung zum Alternativ-Entwurf, S.93: "Insbesondere wird
eine primäre kurzfristige Freiheitsstrafe als Schockstrafe und damit auch die
Denkzettelstrafe der Strafhaft des E 1962 überflüssig, denn eine solche Geld-
strafe kann als Schock wirken für die immer genannten Gelegenheitstäter,
Augenblickstäter und Fahrlässigkeitstäter."
Durch Modifikation zu einer neuen Strafe 1003

satz der strafrechtlichen Sanktionen Bumerang-Effekte nach sich zie-


hen kann48, verlangt eine shock-Strafe mit dieser Zielsetzung auf
jeden Fall eine gleiche Behandlung aller zu kurzen Freiheitsstrafen
Verurteilten ohne Differenzierung aufgrund der Straftaten, für die
diese Strafe verhängt ist. Daran aber fehlt es, denn im Hinblick auf die
zugrundeliegende Straftat wird differenziert und dadurch oft nur ein
"gemäßigter" Schock angewendet4g •
Außer bei sozial ranghohen Straftätern, zu denen neben den Ver-
kehrssündern die Wirtschaftsstraftäter gezählt werden können, kommt
dIe Verwendung eines "short sharp shock treatment" möglicherweise
noch für jugendliche Straftäter und Ersttäter in Betracht50• Es wäre
demnach wohl ein großes Anwendungsgebiet für die shock-Strafen vor-
handen. Gleichwohl ist dem entgegenzuhalten, daß eine häufig ange-
wendete shock-Therapie nichts nützt. Ihre Wirkung wird ebenso sehr
dadurch untergraben, daß diese Strafe in der Praxis erst viele Monate,
nachdem sie vom Richter ausgesprochen wurde, verbüßt wird51 •

2. In der in den skandinavischen Ländern geführten Diskussion über


die kurze Freiheitsstrafe spielt der Gedanke der shock-Strafen keine
Rolle. Zur Erklärung des Fortbestandes der kurzen Freiheitsstrafe

48 Eine der ursprünglichen Zielsetzungen des niederländischen Gesetzes


über die Wirtschaftsstraftaten war zum Beispiel, daß die Ahndung der Wirt-
schaftsstraftaten durch denselben Richter erfolgte, der auch über die klas-
sischen Straftaten urteilte. Es kam indes zu einer Spezialisierung innerhalb
der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Darüber hinaus haben die besonderen Re-
gelungen des Gesetzes über die Wirtschaftsstraftaten das kodifizierte mate-
rielle und formelle Strafrecht stark beeinflußt. Eingehend dazu SchatJmeister,
Entwicklung und Begriff des niederländischen Wirtschaftsstrafrechts, 1978,
S.100, 101 und 169 ff. Hingewiesen sei ferner auf das Zitat von Popitz
(Anm.73).
4t Im Gefängnis "De Raam" in Grave werden beispielsweise erwachsene
Männer untergebracht, die eine ein- bis vierwöchige Gefängnisstrafe antre-
ten müssen, ohne zuvor in U-Haft gesessen zu haben (sog. laufende Urteile).
Die meisten sind wegen Alkohol am Steuer verurteilt. Zusammen mit Dieben
und Betrügern sitzen diese Alkoholtäter ihre Gefägnisstrafe also nicht ab.
Siehe den Zeitungsbericht von Toonen über dieses Gefängnis, De Gelderlan-
der und De Nieuwe Krant, Zaterdagbijlage vom 10. Februar 1979.
50 Bei Rückfalltätern kann, wenn sie bereits einmal zu einer kurzen, nicht
zur Bewährung ausgesetzten Gefängnisstrafe verurteilt worden sind, eine
erneute kurze Freiheitsstrafe nicht als shock-Strafe gerechtfertigt werden.
11 Wieviel Zeit in den Niederlanden zwischen der Vollstreckbarkeit des
Urteils und der tatsächlichen Vollstreckung verstreicht, ist nicht bekannt.
Nachdem die Selektionszentrale für den Strafvollzug das Urteil zur Voll-
streckung erhalten hat, vergehen in der Regel nur wenige Wochen. Ein
großer Teil der Urteile scheint allerdings de facto nicht vollstreckbar zu sein.
Am 1. Mai 1981 war der Stapel formell zu vollstreckender Urteile auf 11 667
angewachsen. Vgl. den Bericht der Arbeitsgruppe, die durch gemeinschaft-
liche Verfügung des Justizministers und des Staatssekretärs am 24. Februar
1981 eingesetzt worden war und ihren Bericht im Juni 1981 unter dem Titel
"De capaciteitsproblemen bij het gevangeniswezen" vorlegte.
1004 Dieter Schaffmeister

wurde jedoch eine andere Theorie entwickelt. In einer eingehenden


Untersuchung des Strafensystems aus dem Jahre 1977 hat der schwe-
dische "Rat zur Verbrechensverhütung" die These aufgestellt, daß bei
der Beurteilung der Schwere der Strafe von einem Vergleich der
Situation des Gestraften mit der des (straf)freien Bürgers ausgegan-
gen werden müsse. Das Maß des Leides, das der zur Freiheitsstrafe
Verurteilte zu ertragen hat, hänge von der Qualität der Freiheit ab,
die ihm entzogen wird. Weil in Schweden die Wohlfahrt relativ hoch
ist, sei dort der Nachteil des Freiheitsentzugs größer und deshalb die
Dauer der Freiheitsstrafen kürzer als in Ländern mit geringerem
Wohlstands2 • Auch der norwegische Soziologe und Kriminologe Christie
vertritt diese Auffassung: "In einer Gemeinschaft, in der die Bevölke-
rung umfassendere Freiheiten genießt, wird die Freiheitsstrafe als ein
größeres übel betrachtet. Ihr Strafleid steigt erheblich, und deshalb
kann eine kleinere Menge als früher das begangene Unrecht kompen-
sieren53 ." Die in Norwegen erfolgte Abschaffung der lebenslangen Frei-
heitsstrafe und die angekündigte Herabsetzung des allgemeinen Min-
destmaßes von 21 auf 7 Tage werden demzufolge auch mit der Wert-
steigerung der Freiheit im Laufe der Entwicklung des norwegischen
Gemeinwesens in Zusammenhang gebracht54 •
Kann dieses Argument die Beibehaltung der kurzen Freiheitsstrafe
tragen? Man könnte auch umgekehrt argumentieren: Durch den Fort-
schritt von Medizin und Wohlfahrt ist die durchschnittliche Lebens-
dauer der Menschen stark gestiegen. Dadurch steht ihnen mehr Zeit
zur Verfügung, so daß wir, um dasselbe Strafleid zu erzielen wie frü-
her, eine längere Freiheitsstrafe auferlegen müßten. Bei der Geldstrafe
i-sr-dieallgemeine Anhebung der Einkommen mit gleichzeitiger Wert-
steigerung des Geldes aufgrund des gestiegenen Angebots an Konsum-
gütern jedenfalls als Argument für die Ausweitung des Anwendungs-
bereichs dieser Strafe und für die Heraufsetzung ihres Strafrahmens
62 Cornils, Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in Schweden, in: Je-
scheck (Hrsg.), Freiheitsstrafe (Anm. 15), S. 796 ff. unter Heranziehung des
im Text folgenden Zitats von Christie.
Ga Christie, Changes in Penal Values. Scandinavian Studies in Crimino-
logy, Bd.2, 1968, S.172. Vgl. auch Ermgassen, Geldstrafe (Anm.12), S.873:
..Der Freiheitsentzug scheint heute an die obere Grenze vertretbaren Straf-
übels zu stoßen. Die Verkürzung der Arbeitszeit und die Akzeleration der
gesellschaftlichen Entwicklung hat die subjektive Zeitperspektive verscho-
ben. Zeit ist knapper geworden. Dazu kommt eine Veränderung der Lebens-
qualität: Der materielle Lebensstandard hat sich gesteigert, es gibt allgemein
mehr Freizeit, es gibt ausgeweitete politische Partizipationsmöglichkeiten
usw. Das Gut Freiheit ist aufgewertet worden; man kann daher wohl zu
Recht mit dem norwegischen Soziologen und Kriminologen Nils Christie
von einer ,Änderung im pönalen Wert dieser Strafe' sprechen."
54 Vgl. Hansen, Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate in Norwegen, in:
Jescheck (Hrsg.), Freiheitsstrafe (Anm.15), S. 586 f., der sich ebenfalls auf
Christie beruft (siehe dort Fn. 354).
Durch Modifikation zu einer neuen Strafe 1005

verwendet worden. Gleichwohl ist die unterschiedliche Behandlung


dieser parallel laufenden Phänomene nicht inkonsistent, denn es gibt
einen bedeutsamen Unterschied. Während wir hinsichtlich eines kon-
kreten Straftäters ermitteln können, über welche finanziellen Mittel
er verfügt, insbesondere was er verdient und vorläufig verdienen wird,
sind über die voraussichtliche Lebensdauer einer zu einer Freiheits-
strafe zu verurteilenden Person keinerlei verläßliche Angaben zu
machen. Für den oben geschilderten Trend zu kürzeren Freiheitsstra-
fen in den skandinavischen und anderen Ländern ist deshalb der Hin-
weis auf die Wertsteigerung der Freiheit durchaus eine plausible
Erklärung. Nicht einsehbar ist aufgrund dieses Arguments jedoch,
warum die Strafrechtspraxis überhaupt an der kurzen Freiheitsstrafe
festhält, obgleich der Gesetzgeber reichlich alternative Sanktionen be-
reitgestellt hat.

3. Hierauf versucht die dritte, im folgenden Hauptteil zu erörternde


Hypothese eine Antwort zu geben. Sie hängt eng mit der gerade be-
sprochenen Entwicklung zu höherer Wohlfahrt zusammen, an der in
den verschiedenen Ländern breite Schichten der Bevölkerung teil-
haben. Das starke wirtschaftliche Wachstum in der Nachkriegszeit hat,
ungeachtet einiger Phasen wirtschaftlichen Rückgangs, kürzere Arbeits-
zeiten und mehr Urlaubstage gebracht. Es ist ein neues (Rechts)Gut
entstanden, über das der gewöhnliche Bürger früher kaum verfügte:
die Freizeit. Die Freizeit ist für die meisten Menschen eine Errungen-
schaft mit hohem Stellenwert. Seinen Ausdruck findet dies in einer
Flut neuer Wirtschaftszweige, die sich der Freizeitgestaltung widmen.
Das wertvolle Gut der Freizeit ist im Gemeinwesen ziemlich allgemein
und gleichmäßig verteilt, jedenfalls viel gleichmäßiger als die finan-
ziellen Mittel und außerdem, wenn es ungleich verteilt ist, korrespon-
diert dies nicht ohne weiteres mit der ungleichen Verteilung der finan-
ziellen Mittel, im Gegenteil, ,es gibt häufig gegenläufige Tendenzen.
Dieser Befund führt mich zu der Frage, ob mit der beibehaltenen
kurzen Freiheitsstrafe nicht dieses "neue" Rechtsgut Freizeit angetastet
wird und werden soll, zumal der Gedanke, die Freizeit für Strafzwecke
einzusetzen, schon in anderen Sanktionsformen Ausdruck gefunden hat.
Hauptbeispiel ist die Dienstleistungsstrafe, denn sie besteht aus ge-
meinnütziger Arbeit, die in der Freizeit des Delinquenten verrichtet
werden soll. Deutlich auf die Freizeit gerichtet ist jedoch auch die Voll-
streckung von kurzen Freiheitsstrafen an Wochenenden, die seit dem
Jahre 1964 im Gerichtsbezirk Den Haag erprobt und ab 1. Februar 1970
im gesamten Land eingeführt wurde55 • Außerdem sind in der Literatur

55 Die gesetzliche Basis des Wochenendvollzugs bildet Art. 46 Gesetz über


die Grundsätze des Gefängniswesens. Der ursprünglichen, in der Gesetzes-
1006 Dieter Schaffmeister

Vorschläge gemacht worden, die darauf hinauslaufen, die Vollstrek-


kung von verhängten kurzen Freiheitsstrafen in T,eilen zu ermöglichen,
so daß der Verurteilte dafür seine Freizeit verwenden kann56 • Der Ge-
setzgeber hat diese Vorschläge bisher zwar nicht verwirklicht, doch
könnten sie in der Strafzumessungspraxis auf fruchtbaren Boden ge-
fallen sein. Aus diesen überlegungen ließe sich die Hypothese ableiten,
daß die Strafanwender mit der weiteren Verwendung der kurzen Frei-
heisstrafe die Freizeit des überführten Straftäters treffen wollen und
diese Strafe für zweckmäßiger halten als die anderen verfügbaren
Sanktionen.
IV.
1. Gegen diese Hypothese spricht schon auf den ersten Blick eine
Erfahrungstatsache. Hier wird über die kurze Freiheitsstrafe unter-
halb von sechs Monaten gesprochen: soviel Freizeit steht den Bürgern
im allgemeinen nicht zu. Auf dieses Argument kann einerseits erwidert
werden, daß die zeitliche Abgrenzung des Begriffs der kurzen Frei-
heitsstrafe ziemlich willkürlich ist67 • Andererseits bedeutet Verurtei-
lung zu einer kurzen Freiheitsstrafe nicht, daß allen Verurteilten eine
Freiheitsstrafe in der Höhe des gewählten Abgrenzungskriteriums auf-
erlegt wird. Wir müssen demzufolge die konkrete Dauer der auferleg-
ten kurzen Freiheitsstrafen berücksichtigen. Dann stellen wir fest, daß
tatsächlich 61 % der auferlegten kurzen Freiheitsstrafen die Dauer von
einem Monat nicht überschreiten58• Eine solche Strafe könnte also inner-

begründung niedergelegten Zielsetzung dieser Bestimmung mußte allerdings


einige Gewalt angetan werden, weil sie offenbar nicht im Hinblick auf den
WQChenendvollzug konzipiert worden ist. Hierüber und über weitere Aus-
dehnungsvorschläge (mehr als 14 Tage und nicht nur an Wochenenden und
Festtagen) vgl. Rijksen/Kelk/Moering, Achter slot en grendel, 3. Aufl. 1980,
S.126 -129.
18 Hierfür sprach sich im Jahre 1969 eine Kommission aus, zu deren Mit-
gliedern Rijksen, Singer-Dekker, Boeken, Brongersma, Hummelen, Overbeek,
Vaandrager, van Veen und Verkruisen gehörten. Siehe: De Vrijheidsstraf.
Ausgabe der Wiardi Beckman Stichting 1969, S. 13 - 15: "Der spezifische
Sinn (des vorgeschlagenen Freiheitsentzugs in Teilen) ist aber, daß die Strafe
die Freizeit des Verurteilten trifft, wenn gerade daran Bedarf besteht"
(S. 15). Vgl. auch RijksenlKelklMoering, Achter slot (Anm. 55), S. 127 f.:
"Wenn die Staatsanwaltschaft in einem konkreten Fall in der Vollstreckung
in längeren Teilstücken als zwei Tage Sinn sieht, oder in einer Kombina-
tion der Vollstreckung während des Urlaubs und der Wochenenden, dann
muß das Gesetz dazu die Möglichkeit bieten." übrigens ist diese Passage
bereits in der ersten, von Rijksen bearbeiteten Auflage enthalten, 1. Aufl.
1968, S. 111 f.
67 Hinzuweisen ist auf die in Anm. 1 und 2 genannten verschiedenen Ab-
grenzungen: die durch die Wiardi Beckman Stichting berufene Kommission
hat übrigens unter den kurzen Freiheitsstrafen Verurteilungen zu weniger
als einem Jahr Gefängnis verstanden. Vgl. De Vrijheidsstraf (Anm.56), S.33.
SB Von den insgesamt in den Niederlanden im Jahre 1982 auferlegten
16382 zu verbüßenden Freiheitsstrafen unter sechs Monaten entfielen 60,7 %
Durch Modifikation zu einer neuen Strafe 1007

halb der Urlaubszeit, die dem normalen berufstätigen Bürger zusteht,


verbüßt werden. Hinsichtlich der restlichen 39 Ofo der verhängten kurzen
Freiheitsstrafen können zumindest zwei Gründe angeführt werden,
welche die den durchschnittlichen Urlaubsanspruch übersteigende
Dauer des Freiheitsentzugs erklären. Auf der einen Seite handelt es
sich bei einem Teil der mit kurzen Freiheitsstrafen endenden Straf-
sachen um Fälle, in denen bereits ein vorläufiger Freiheitsentzug in der
Form der Untersuchungshaft vorausgegangen ist. Aufgrund sowohl
der Dauer der Untersuchungshaft als auch der unmittelbaren Voll-
streckung dieses prozessualen SicherungsmiUels ist es in der Regel nicht
mehr möglich, den Beschuldigten durch die Strafe nur in der ihm zu-
stehenden Freizeit zu treffen. Auf der anderen Seite hat etwa die
Hälfte der zu kurzen Freiheitsstrafen Verurteilten kein festes Anstel-
lungs- bzw. ArbeitsverhältnissI. Bei diesen Personen könnte das Phäno-
men auftreten, das sich bei den bisherigen Erfahrungen mit der Dienst-
leistungsstrafe bereits gezeigt hat. Die Richtschnur der durchschnitt-
lichen Urlaubszeit wird verlassen in der (unreflektierten und hinsicht-
lich der Folgen unannehmbaren) Unterstellung, daß Arbeitslose un-
beschränkt Freizeit haben".
Mit Hilfe einer ähnlichen kategorisierenden Analyse der kurzen Frei-
heitsstrafen wird in einem Bericht über alternative Sanktionen deren
möglicher Anwendungsbereich konkretisiert, und das bedeutet in die-
sem Fall: stark eingeschränkt. Alle Freiheitsstrafen zwischen einem
Tag und einem Monat werden herausgenommen, weil sie durch die
schweren Sanktionsalternativen wie Dienstleistungs- und Bewährungs-
strafe mit intensiver Aufsicht nicht ersetzt werden könnten. Von den
Freiheitsstrafen zwischen einem Monat und sechs Monaten werden
ferner noch die Fälle in Abzug gebracht, in denen ein vorläufiger Frei-
heitsentzug vorausging61 • In den letztgenannten Fällen könne nämlich
durch alternative Sanktionen nichts verändert werden. Für die sehr
kurzen und die durch Untersuchungshaft teilweise bereits verbüß-
ten Freiheitsstrafen wird demnach nicht einmal nach Alternativen
gesucht. Liegt dieser Stellungnahme nicht unausgesprochen die hier
diskutierte Hypothese zugrunde: nämlich, daß die kurze Freiheitsstrafe

auf solche unter einem Monat. Errechnet aus der übersicht im Jahresbericht
der Staatsanwaltschaft über 1982 (Anm. 26), S. 68.
n Vgl. die Antwortnote zum Gesetzentwurf über die Vermögenssanktio-
nen (Anm. 5), S. 14.
80 van Schie, Alternative straf soms dubbel zwaar, De Volkskrant vom
6. Februar 1982, 1. Spalte, berichtet, daß in Alkmaar zweimal mit arbeitslosen
Beschuldigten vereinbart wurde, daß die Dienstleistung 624 Stunden dauern
sollte. Eine Strafdauer von 800 Stunden scheint der bisher erreichte Rekord
zu sein. Siehe van der Hoeven, Experiment alternatieve straf een succes; NRC
Handelsblad vom 28. Januar 1982,2. Spalte.
81 Siehe d'Anjou, Alternative sancties (Anm. 22), S. 23 - 25.
1008 Dieter Schaffmeister

in der Freizeit verbüßt werden kann und darum nicht so nachteilig


ist, wie die Gegner der kurzen Freiheitsstrafe seit einem Jahrhundert
behaupten?

2. Gegen die Hypothese könnte ferner vorgebracht werden, daß nach


geltendem Recht eine auferlegte Freiheitsstrafe "sobald wie möglich"
vollstreckt wird (Art. 561 Abs.1 nl.StPO). Die Vollstreckung kann am
neunten Tage nach Rechtskraft des Urteils beginnen (Art. 558 Abs.1
nl.StPO). In der Literatur wird darauf hingewiesen, daß jegliche un-
nötige Verzögerung vermieden werden muß 62 • Dem im Arbeitsleben
stehenden, zu einer kurzen Freiheitsstrafe Verurteilten bleibt, so scheint
es, wenig Spielraum, um mit seinem Arbeitgeber eine Urlaubsverein-
barung zu treffen. Auch wenn also der Richter die Strafe nach der
dem Verurteilten zustehenden Urlaubszeit bemessen hätte, könnte der
Verurteilte die gebotene Möglichkeit aufgrund des kurzfristigen Ter-
mins, in dem er seine Strafe anzutreten hat, nicht nutzen. Die Zeiten
indes, daß der zu einer kurzen Freiheitsstrafe Verurteilte "plötzlich
mit einem Haftbefehl konfrontiert und unvorbereitet von der Polizei
abgeführt wird"B3, gehören der Vergangenheit an.
Seit dem Jahre 1973 werden die Ladungen zum Strafantritt von zu
kurzen Freiheitsstrafen Verurteilten, die sich nicht in Untersuchungs-
haft, sondern in Freiheit befinden, zentral gesteuertu. Im Normalfall
übermittelt die Staatsanwaltschaft das vollstreckbare Urteil an die
Selektionszentrale für den Strafvollzug in Den Haag. Dieser Dienst ent-
scheidet darüber, wo die Strafe verbüßt werden und wann der Ver-
urteilte seine Strafe antreten muß. Nachdem diese Entscheidungen ge-
fallen sind, sendet der Leiter der Selektionszentrale (im Auftrag der
Staatsanwaltschaft) eine schriftliche Aufforderung an den Verurteilten,
sich zu dem festgesetzten Termin in der dafür vorgesehenen Strafanstalt
zum Strafantritt zu melden. Zwischen dieser Aufforderung und dem
Strafantritt muß ein Zeitraum von mindestens drei Wochen liegen. Der
Verurteilte kann unter bestimmten Voraussetzung,en um Aufschub er-
suchen. über ein Gesuch um Aufschub bis zu drei Monaten entscheidet
die Selektionszentrale selbst, in anderen Fällen die Staatsanwaltschaft.
Wird das Gesuch positiv beschieden, erfolgt zu gegebener Zeit eine er-

I! Siehe Jonkers, Het Peniteniair recht; strafrechtelijke sancties in Neder-


land. 1975 ff., VIII E, S.371. Ebenso van Veen, Over het kwaad der lopende
vonnissen, Rechtsgeleered Magazijn Themis 1980, S. 117 ff., 119: "Auch die
Tatsache, daß ein Delikt als so ernst befunden wird, daß zur schwersten
Strafe - der Freiheitsstrafe - gegriffen werden muß, impliziert, daß diese
Strafe dann auch so schnell wie möglich vollstreckt werden muß."
63 Jonkers, Penitentiair recht (Anm. 62), S. 373.
6' Eine ausführliche Beschreibung der Entstehung und Praxis des heutigen
Verfahrens gibt Jonkers, Penitentiair recht (Anm.62), S. 373 - 379. Die nach-
folgenden Informationen entnehme ich dieser Fundstelle.
Durch Modifikation zu einer neuen Strafe 1009

neute Vorladung. Es gibt also Möglichkeiten, um auf berechtigte Wün-


sche des Verurteilten einzugehen65 • Der Verurteilte wird demzufolge zur
Verbüßung einer seine verfügbare Urlaubszeit nicht überschreitenden
Freiheitsstrafe in den meisten Fällen auch den ihm zustehenden Urlaub
verwenden können.

3. Angesichts der tatsächlichen Dauer der meisten kurzen Freiheits-


strafen und der Flexibilität ihrer Vollstreckung ist zu erwarten, daß
der Verurteilte, wenn er in einem festen Anstellungs- bzw. Arbeits-
verhältnis steht, auch wirklich seinen Urlaub für die Verbüßung die-
ser Strafe verwendet66 • Er würde anderenfalls seine Arbeitsstelle ver-
lieren. Dies ist ein besonders bedeutsamer Aspekt der heutigen Reali-
tät der kurzen Freiheitsstrafe in den Niederlanden, der sich auch im
Verhältnis dieser Strafe zu den Nebenstrafen niederschlägt. Eine die-
ser Nebenstrafen, die in Verkehrsstrafsachen häufig angewendete Ent-
ziehung der Fahrerlaubnis, hat nämlich nicht nur den Effekt einer
Freiheitsbeschränkung, sondern bringt ebenfalls Gefahren für die Er-
haltung des Arbeitsplatzes mit sich. Bei Fahren unter Alkoholeinfluß
wird aufgrund der einschlägigen Strafantragsrichtlinien regelmäßig
eine Geldstrafe und ab einer bestimmten Blutalkoholkonzentration
eine kurze unbedingte Freiheitsstrafe mit dieser verkehrsstrafrecht-
lichen Nebenstrafe kombiniert. Dabei zeigt sich in einer Anzahl von
Fällen, daß diese Nebenstrafe selbst für schwerwiegender angesehen
wird als die Verbüßung einer kurzen Freiheitsstrafe67 • Viele Verurteilte
gehen gegen die unbedingte Entziehung der Fahrerlaubnis in Berufung;
sie erklären sich bereit, anstelle einer auferlegten Geldstrafe eine
Freiheitsstrafe oder, wenn diese bereits verhängt worden ist, eine
längere Freiheitsstrafe verbüßen zu wollen, falls die Entziehung der
Fahrerlaubnis zur Bewährung ausgesetzt würde. Ihre Argumente lau-

65 Mit dem Ziel, eine einheitliche Ausübung der Aufschubsentscheidungen


zu gewährleisten, hat der Justizminister mit Rundschreiben an die Justiz-
behörden vom 12. Mai 1980, Nr. 294/380 eine Anzahl Kriterien formuliert.
Bei der Gewährung des Aufschubs wird unterschieden zwischen medizinisch
und sozial indizierten Gesuchen um Aufschub. Bei den sozial indizierten Ge-
suchen ist danach zu streben, "Einblick in die möglicherweise negativen
Folgen zu bekommen, die eine Inhaftnahme zum festgestellten Zeitpunkt
für den Betroffenen selbst, für seine Familien- und/oder seine Arbeitssitua-
tion haben könnte." Siehe Penitentiaire Informatie 1981, Nr. 12.
88 Toonen gibt in dem erwähnten Zeitungsbericht über das Gefängnis ,De
Raam' in Grave (Anm. 49) unter anderen die folgenden beiden Beispiele:
ein gerade eingetroffener Beamter äußerte: "Ich habe zwei Wochen Urlaub
genommen, weil ich nicht riskieren will, daß mein Vorgesetzter mich als
Knastbruder ansieht"; und ein Neuankömmling aus dem Baugewerbe: "Nur
mein Chef weiß, daß ich hier bin. Glücklicherweise haben wir gerade Frost-
periode, hat er gesagt, sonst hätte ich für dich einen anderen nehmen
müssen."
67 van Veen, Ontzegging van de rijbevoegdheid. Een te zware straf? Delikt
en Delinkwent 1981, S. 419 ff., bes. S. 419.

64 Festschrift für H.-H• .Tescheck


1010 Dieter Schaffmeister

fen durchweg darauf hinaus, daß ein längeres Fahrverbot für sie den
Verlust ihres Arbeitsplatzes mit sich brächte. Die Gerichtshöfe, die mit
diesem Problem konfrontiert worden sind, haben hierfür eine Art
Kompensationsstrategie entwickelt. Sie verschärfen die Hauptstrafe
und erleichtern die als zu schwer empfundene Nebenstrafe zumeist
dadurch, daß sie sie zur Bewährung aussetzenGS • Dieses Phänomen zeigt
nicht nur, daß die Entziehung der Fahrerlaubnis eine zu einschneidende
Strafe ist, weil sie im Verkehrsstrafrecht auf indirekte Weise allge-
mein möglich macht, was im klassischen Strafrecht zu Recht eine Aus-
nahme geblieben ist: für jeden Beruf, der ohne Kraftfahrzeug nicht
ausgeübt werden kann, bedeutet sie nämlich ein zeitliches Berufsver-
botet. Zugleich indiziert es, daß sowohl in der Auffassung des Ver-
urteilten als auch des Richters und Staatsanwalts die kurze Freiheits-
strafe, ungeachtet der beibehaltenen Bezeichnung als Gefängnisstrafe,
sich zu einer anderen, weniger schädlichen Strafe entwickelt hat: einer
Strafe, die verbüßt werden kann, ohne daß der Arbeitsplatz aufgegeben
werden muß.

4. Wir haben bisher die Hypothese, daß die Strafanwender mit der
kurzen Freiheitsstrafe die Freizeit des Verurteilten treffen und auch
treffen wollen, hauptsächlich in bezug auf Verurteilte mit einem festen
Anstellungs- bzw. Arbeitsverhältnis besprochen: Kann die auferlegte
Strafe in der zustehenden Urlaubszeit abgesessen werden? Wird Ge-
legenheit geboten, mit dem Arbeitgeber eine entsprechende Urlaubs-
regelung zu treffen? Wird auch tatsächlich Urlaub für die Verbüßung
der Strafe genommen? Dadurch könnte der Eindruck entstehen, daß
die kurze Freiheitsstrafe eine Strafe ist, die den im Arbeitsleben ste-
henden Straftäter privilegiert und den arbeitslosen Straftäter diskri-
miniert. In der Praxis sind solche Tendenzen durchaus spürbar.
Ich habe bereits erwähnt, daß eine nach der Arbeitssituation des
Straftäters differenzierende Strafzumessungspraxis unreflektiert und
unannehmbar ist. Unannehmbar scheinen mir vor allem die finan-
ziellen Folgen für den arbeitslosen Straftäter. Das Resultat der An-
wendung der kurzen Freiheitsstrafe darf nämlich keineswegs sein,
daß für den im Beruf stehenden Verurteilten Lohn oder Gehalt
auch während der Dauer der Strafverbüßung weitergezahlt wird,
während beim arbeitslosen Gefangenen am ersten Tage seines Straf-

IS Ein Lkw-Chauffeur wurde beispielsweise in erster Instanz zu einer


Geldstrafe von 750 Gulden - ersatzweise 15 Tagen Haft - und sechsmona-
tiger Entziehung der Fahrerlaubnis verurteilt, wovon drei Monate zur Be-
währung ausgesetzt wurden. Durch Urteil des Gerichtshofs Den Haag vom
25. Januar 1982 wurde Gefängnisstrafe von zwei Wochen auferlegt, davon
eine Woche auf Bewährung, und eine sechsmonatige Entziehung der Fahr-
erlaubnis, die vollständig zur Bewährung ausgesetzt wurde.
68 van Veen, Ontzegging (Anm. 67), S. 422.
Durch Modifikation zu einer neuen Strafe 1011

antritts die Arbeitslosenunterstützung wegfällt, weil er für die Dauer


des Gefängnisaufenthalts auf dem Arbeitsmarkt nicht verfügbar ist.
Wichtig ist deshalb, daß ein Arbeitsloser über planbare Freizeit ver-
fügen kann, die er unter Umständen auch zum Absitzen einer kurzen
Freiheitsstrafe opfern könnte.
Im Hinblick auf arbeitslose Verurteilte ist ein anderer verdeckter
Aspekt der praktischen Handhabung der kurzen Freiheitsstrafe von
noch größerer Bedeutung. Zu einer kurzen Freiheitsstrafe Verurteilte
nehmen nicht nur Urlaub, um ihre Freiheitsstrafe abzusitzen; für ihre
soziale Umgebung tarnen sie ihre Strafzeit auch als Urlaub. Wahrschein-
lich gehen wenige in ihrer Verschleierung so weit, daß sie "ihr Auto mit
Koffern vollstopfen, die Skier sichtbar auf dem Dachträger anbringen
und dann auffällig ihr Wohnviertel verlassen", wie über einen im Ge-
fängnis "De Raam" in Grave aufgenommenen Alkoholsünder in der
Presse zu lesen war70 • Die Mehrzahl verhält sich wahrscheinlich eher wie
der Inhaber einer Boutique in Amsterdam, der "seinen Koffer packte,
nach Belgien raste, dort eine Serie Ansichtskarten mit ,Grüßen aus
Brüssel' verschickte und dann ebenfalls nach Grave fuhr, um in den
Anlagen Unkraut zu jäten". Diese beiden in einem Zeitungsartikel
über das Gefängnis für zu kurzer Freiheitsstrafe Verurteilte in Grave
geschilderten Vorfälle geben wohl Anlaß zum Schmunzeln; zugleich
offenbart sich in ihnen aber auch ein mit der strafrechtlichen Reaktion
verbundenes ernstes Problem, das besonders dann auftaucht, wenn
es um die als schwerste strafrechtliche Sanktion geltende Gefängnis-
strafe geht. Alle Verurteilten legen Wert darauf, anonym zu bleibe~.
Viele fürchten innerhalb ihres Bekanntenkreises und der weiteren
sozialen Umgebung als "Knastbruder" zu gelten, auf den mit dem
Finger gewiesen wird. "Verständlich", kommentiert ein Wärter des
genannten Gefängnisses in Grave, "denn die schwerste Strafe wird
außerhalb des Gefängnistores ausgeteilt"71.
Es wird als ein besonderer Vorteil der Geldstrafe hervorgehoben,
daß sie die Anonymität des Verurteilten gewährleisteF2 • Die traditio-
nelle Freiheitsstrafe mit ihrer auffälligen Entfernung des Verurteilten
aus seiner sozialen Umgebung, die zumeist auch noch mit einem Rück-
gang der wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen und seiner
Familie verbunden ist, konnte und kann dem Verurteilten keinen
gleichwertigen Schutz bieten, obgleich er ihn gerade bei der Freiheits-
strafe noch dringender nötig hat, weil es um eine schon definitions-
gemäß schwerere Sanktion geht. In der Form allerdings eines in den
70 Die hier angeführten Beispiele entnehme ich dem Zeitungsbericht von
Toonen (Anm. 49).
71 Ebenda.
7! Vgl. Grebing, Geldstrafe (Anm. 2), S. 1212.

64·
1012 Dieter Schaffmeister

Urlaubstagen abzusitzenden Freiheitsentzugs kann auch diese Strafe


dem elementaren Bedürfnis des Verurteilten genügen, zählt es doch
inzwischen zur Gewohnheit beinahe eines jeden Bürgers, für einige
Wochen Urlaub zu machen. Die Möglichkeit, sich dem sogenannten
Stigmatisierungseffekt zu entziehen, wird vereitelt, wenn der Richter
bei arbeitslosen Beschuldigten eine längere Freiheitsstrafe auferlegt,
als der konkrete Verurteilte durchschnittlich an freien Tagen zur Ver-
fügung hätte, wenn er berufstätig wäre. Dies scheint mir der bedeut-
samste Grund dafür zu sein, daß auch bei nicht berufstätigen Personen
das Kriterium der durchschnittlichen Urlaubszeit bei der Bemessung
der kurzen Freiheitsstrafe nicht außer acht gelassen werden darf, wie
es in der Strafzumessungspraxis im Hinblick auf die faktisch beste-
hende Freizeit anscheinend heute vielfach noch geschieht.
Die Anonymität der Strafvollstreckung ist nicht lediglich ein pri-
vates Interesse des Straftäters; sie hat vielmehr auch eine für die
allgemeine Wirkung der strafrechtlichen Repression sehr nützliche
Funktion. Die Information nämlich, daß gestraft wird, wenn eine be-
stimmte Norm übertreten wird, unterstreicht die Verbindlichkeit der
verletzten Norm innerhalb des Gemeinwesens. Zu wissen, wer wegen
übertretung dieser Norm bestraft wird, kann dagegen eine gegentei-
lige Wirkung haben. Jede Sanktion übermittelt ja zugleich die Nach-
richt, daß die Norm nicht befolgt worden ist. Die Anzahl der straf-
rechtlichen Reaktionen muß deshalb in Grenzen bleiben, weil sonst
durch die Demonstration der Häufigkeit von Normverstößen das Norm-
bewußtsein bei den Bürgern untergraben werden würde. Diese Ge-
fahr droht um so mehr - und hierin zeigt sich die auch allgemeine
Bedeutung der Anonymität -, wenn bekannt wird, wer die konkreten
Personen sind, die die Normen nicht beachten. Wenn beispielsweise
der Nachbar oder ein angesehener Mitbürger bestraft wird, bedeutet
dies, daß auch sie das Ge- oder Verbot nicht beachtet haben. Werden
etwa auf grund einer intensiven Fahndung vermehrt Angehörige der
sozial höheren Schichten überführt und sanktioniert, dann mag das
"dem Ruf des Sanktionensystems zugute kommen, - aber nicht dem
Ruf der übertretenen Normen"18.

5. Die kurze Freiheitsstrafe kann also ebenso wie die Geldstrafe


anonym bleiben, wenn sie innerhalb einer normalen Urlaubszeit ab-

73 Popitz, über die Präventivwirkung des Nichtwissens. Dunkelziffer,


Norm und Strafe, 1968, S. 17 f.: "Nun ist aber die Würde der Norm keines-
wegs unabhängig von der Würde der an den Pranger gestellten Normbre-
cher. Zu Kavaliersdelikten werden ja nicht Delikte, die auch Kavaliere be-
gehen, sondern Delikte, bei denen auch Kavaliere erwischt werden. Die
Sanktion statushoher Sünder mag dem Ruf des Sanktionensystems zugute
kommen -, aber nicht dem Ruf der übertretenen Normen."
Durch Modifikation zu einer neuen Strafe 1013

gesessen werden kann. Ein großer Nachteil, der allen Freiheitsstrafen


im Vergleich zu den Geldstrafen anhaftete, scheint hinsichtlich des
größten Teils der in den Niederlanden angewendeten kurzen Frei-
heitsstrafen vermeidbar geworden zu sein. Dadurch hat diese Strafe
plötzlich an Ansehen gewonnen. Alle Freiheitsstrafen haben nämlich
gegenüber der Geldstrafe einen eindeutigen Vorteil: Sie müssen höchst-
persönlich verbüßt und können nur schwerlich auf Dritte abgewälzt
werden. Dies paßt zum Verständnis des Strafrechts als Schuldstraf-
recht und dem daraus folgenden Bemühen, die Schuld individuell fest-
zustellen und individuell zu ahnden. Demgegenüber liegt der schwäch-
ste Punkt der Geldstrafe, wie gesagt, darin, daß sie von Dritten bezahlt
werden kann, obwohl sie den Verurteilten höchstpersönlich treffen
soll. Bei Zahlung durch einen Dritten verfehlt die Strafe ihren Zweck,
auch wenn sie in einigen Fällen für den Verurteilten nicht ganz ohne
Folgen bleibt, denn daß beispielsweise "Vater die Geldstrafe bezahlt,
will nicht sagen, daß der Sohn davon weiter nichts merkt U74 • Die Zah-
lung durch Dritte läßt sich nicht dadurch verhindern, daß sie ebenso
wie die Schenkung des Betrages an den Verurteilten, damit dieser die
Geldstrafe selbst bezahlen kann, für unzulässig erklärt wird oder
selbst für strafbar gehalten wird, wie das in Deutschland der Fall ist75 •
Wer nämlich letztendlich den Geldbetrag aufbringt, läßt sich doch
nicht, jedenfalls nur äußerst mühsam feststellen7G • Einfach ist dem-
gegenüber zu kontrollieren, ob der zu einer Freiheitsstrafe Verurteilte
höchstpersönlich seine Strafe absitzt. Zwar sind auch Fälle bekannt
geworden, in denen versucht wurde, die Freiheitsstrafe durch einen
anderen verbüßen zu lassen; das Risiko der Entdeckung und nachfol-
genden Bestrafung ist jedoch sehr hoch. Nur wenigen wird es dem-
zufolge gelungen sein, ihre Freiheitsstrafe zu umgehen, indem sie eine
dritte Person bereit und imstande gefunden haben, an ihrer Stelle die
Freiheitsstrafe abzusitzen77 •
Auch hinsichtlich des zweiten erwähnten Nachteils der Geldstrafe,
nämlich der möglichen Belastung unschuldiger Dritter, fällt der Ver-
gleich zugunsten der in der Urlaubszeit abzusitzenden Freiheitsstrafe
aus. Daß jemand für einige Wochen von seiner Familie getrennt ist,

74 Heijder, Geldboete (Anm. 1), S. 1340.


75 Jescheck, Lehrbuch (Anm. 14), S. 625,11 1 mit Fn. 11.
71 So Remmelink, in: Hazewinkel-Suringa/Remmelink, Inleiding tot de
Studie van het Nederlands strafrecht. 8. Aufl. 1981, S. 543.
77 Ein derartiger mißglückter Versuch liegt dem Urteil des Hoge Raad
vom 5. Januar 1982, Nederlandse Jurisprudentie 1982, Nr.232 zugrunde. In
seiner Anmerkung weist van Veen auf den Widerspruch hin, daß wir das
"Absitzen einer Freiheitsstrafe für einen anderen für eine Straftat halten,
das Bezahlen der Geldstrafe für einen Verurteilten jedoch nicht ... Das ist
ein Argument gegen die Geldstrafe als Strafe, dem jedoch die Befürworter
dieser Strafe merkwürdig wenig Aufmerksamkeit zu schenken pflegen."
1014 Dieter Schaffmeister

kommt zum Beispiel im Arbeitsleben regelmäßig vor und bedeutet


nicht gleich eine Katastrophe für das Familienleben. Zwar können
durch eine Freiheitsstrafe, für die der Urlaub aufgeopfert werden muß,
Ferienpläne mit der Familie oder anderen Personen durchkreuzt wer-
den. Eine Strafe jedoch, die dritte Personen in jeglicher Hinsicht ver-
schont, gibt es nicht und kann es nicht geben, weil jeder Mensch Teil
einer Gemeinschaft ist. Die kurze Freiheitsstrafe ist, jedenfalls soweit
sie in der Freizeit verbüßt werden kann, in ihrer Wirkung relativ
stark auf die Person des Verurteilten konzentriert und belastet nicht-
schuldige Dritte im Grundsatz erheblich weniger als die Geldstrafe
beispielsweise eine Familie, die in wirtschaftlich beschränkten Ver-
hältnissen lebt.
V.
Ich komme zu meiner Schlußfolgerung. Die allgemeine These, daß
die kurze Freiheitsstrafe alle Nachteile der langen Freiheitsstrafe hat
und keine ihrer Vorteile, ist unzutreffend, wenn wir davon ausgehen,
daß die kurze Freiheitsstrafe in der Freizeit des Verurteilten verbüßt
werden kann. Die sozialen Bindungen des Verurteilten werden in der
Regel nicht abgebrochen, er verliert weder seine Arbeitsstelle noch
werden die Familienverhältnisse durch den Strafvollzug erschüttert.
Die kurze Freiheitsstrafe hat ebenso wie die Geldstrafe den Vorteil,
daß sie weitgehend anonym bleiben kann. Sie wird im Gegensatz zur
Geldstrafe stets höchstpersönlich verbüßt und vermeidet eher als diese
belastende Folgen für Dritte. Die Zeit der Gefangenschaft ist zwar
zu kurz für sinnvolle Resozialisierungsarbeit; bei der Geldstrafe wird
d!'illlitjedoch nicht einmal begonnen, so daß sich die Frage stellt, ob sie
nicht ebenso völlig unterbleiben sollte. Das Gefängnis mag seine ab-
schreckende Wirkung verlieren, damit wird der Verurteilte jedoch noch
keineswegs gleichgültig gegenüber dem Verlust eines ihm besonders
teuren Gutes: seiner Freizeit.
Diese Argumente können· meines Erachtens erklären, warum Staats-
anwälte und Richter in den Niederlanden an der kurzen Freiheits-
strafe festgehalten und sie nicht durch eine noch weitere Ausbreitung
der Geldstrafe oder der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe
ersetzt haben, wie es den Wünschen des Gesetzgebers entspräche. Nach
meiner Meinung besteht begründeter Anlaß zu der Annahme, daß in
den Niederlanden durch Modifikation der berüchtigten kurzen Frei-
heitsstrafe eine neue Strafe entstanden ist: die Freizeitstraje.
GüNTER BLAU

Regelungsmängel beim Vollzug


der Unterbringung gemäß § 63 5tGB

I.
Im November 1983 waren seit dem Inkrafttreten des sog. Gewohn-
heitsverbrechergesetzes, durch das deutsche Strafgerichte erstmals er-
mächtigt wurden, schuldunfähige oder vermindert schuldfähige, aber
sozialgefährliche Straftäter in ein psychiatrisches Krankenhaus einzu-
weisen, fünfzig Jahre vergangen. Daß dieses Gesetz nicht nationalsozia-
listischem Gedankengut entsprang, ist unbestritten. Seit dem Jahre 1911
enthielten alle deutschen Strafrechtsreformentwürfe nach dem Vorbild
des schweizerischen Vorentwurfs von Carl Stooß! und im Einklang mit
der parallel verlaufenden europäischen Entwicklung mehr oder minder
umfangreiche Kataloge sichernder und bessernder Maßregeln!. Daß
unter nationalsozialistischer Herrschaft dann der Vollzug der Unter-
bringung gemäß § 12 b StGB a. F. entgegen den humanen Absichten der
geistigen Urheber bis zur Zwangs-"Euthanasie" entarteteS, war wohl
kaum die Folge einer latent vorhandenen Denaturierungstendenz der
zweiten Spur. Allerdings war dies niemals ganz unbestritten. Bekannt
sind die gegen den SchlüsselbegrifI der Zweispurigkeit, die Gefährlich-
keit des Täters, gerichteten Bedenken der Gegner Franz v. Liszts und
der IKV vor dem ersten Weltkrieg4 • Nach 1945 haben insbesondere
H. Mayer und Heinitz, aber auch Dreher und von den jüngeren Straf-
rechtlern Naucke aus grundsätzlichen Erwägungen Bedenken gegen
freiheitsentziehende Maßregeln vorgebracht'. Sie befürchten unter an-
! Vgl. Jescheck, SchwZStr 78 (1962), S. 172 ff. = "Strafrecht im Dienste der
Gemeinschaft", 1980, S. 184 ff. (189).
2 Nachweise bei Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 3. Auß.
1978, S. 66 Anm. 2.
_ Das Merkblatt des RM des Innern, in dem die als "kriminelle Geistes-
kranke" Verwahrten ausdrücklich als eine für die Zwangstötung vorgesehene
Patientengruppe bezeichnet wurden, ist bei MitscherZichlMieZke, Medizin
ohne Menschlichkeit, Fischerbücherei Nr. 332, 1960, S. 190, abgedruckt.
, Exner, Theorie der Sicherungsmittel, 1914, nannte die Gefährlichkeit
"einen gefährlichen Begriff". Zusammenfassend neuerdings Naucke, ZStW
94 (1982), S. 525 ff.
I Vgl. etwa H. Mayer, Strafrechtsreform für heute und morgen, 1962,
S. 49 ff. und im Hinblick auf geisteskranke Täter: S. 158; Heinitz, ZStW 63
(1951), S. 57; Dreher, ZStW 65 (1953), S. 481; Naucke, Strafrecht, 4. Auß., 1982,
S. 120 ff.
1016 GÜDterBlau

derm die politische Instrumentalisierung des Gefährlichkeitsbegriffes,


eine Befürchtung, die durch zeitgeschichtliche Erfahrungen aus Län-
dern, deren Systeme der "sozialen Verteidigung" den "gefährlichen Zu-
stand" zum Zentralbegriff der staatlichen Sanktionsgewalt erhoben
haben, zu belegen ists • Weder das humane Engagement des Schöpfers
der "defense sociale nouvelle" Marc Ancel vermochte diese Bedenken
zu beschwichtigen, noch der Hinweis auf das jetzt in § 62 StGB ver-
ankerte Verhältnismäßigkeitsprinzip, da der Grad der vom Täter aus-
gehenden Gefahr letztlich nicht lösbare Gewichtungsprobleme aufwirft7 •
Gleichwohl wird, wie Jescheck mit Recht feststellt 8 , bis zum heutigen
Tag das Prinzip der Zweispurigkeit - anders als in Großbritannien
und Frankreich - von der Mehrheit der deutschen Strafrechtslehrer
und Kriminalpolitiker nicht ernsthaft in Frage gestellt, schon gar nicht,
soweit es sich um die strafgerichtliche Einweisung psychisch gestörter
Täter in psychiatrische Krankenhäuser handelt.
Anders als die Sicherungsverwahcten, die heute in der Vollzugs-
statistik quantitativ kaum noch ins Gewicht fallen', stellen die Unterge-
brachten (§§ 42 b, 42 c a. F., §§ 63, 64 StGB) auch keinesfalls eine quantite
negligeable dar. Die Belegungszahlen in den Einweisungsanstalten zeig-
ten zwar seit 1963 (erst seither enthält die Vollzugsstatistik entspre-
chende Angaben) eine abnehmende Tendenz. Seit 1976 pendeln sie
aber mit bemerkenswerter Konstanz zwischen 3200 und 34001°.

II.
Trotz dieser beachtlichen Zahlen war das Interesse der einweisenden
Juristen am späteren Schicksal der Abgeurteilten, von rühmlichen Aus-
nahmen abgesehen, bis vor kurzem gering. Die überantwortung des
seelisch kranken Täters in die Obhut und Pflege des Facharztes inner-
halb einer "Heil- und Pflegeanstalt" - schon semantisch wirkte diese
Bezeichnung gewissensberuhigend - ließ im allgemeinen keine Zweifel
an der humanen Versorgung dieser Personengruppe aufkommen. Lange
Zeit erkannten weder der Gesetzgeber noch die Strafrechtspraktiker

S Vgl. etwa die Entwicklung in der UdSSR in den Jahren 1919 -1934 und
in Cuba (meine Einleitung zur dtsch. Übersetzung des kubanischen StGB,
Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher Nr. 100, 1983).
7 So Jakobs, Strafrecht. Allg. Teil, 1983, S. 24.
8 Jescheck (Fn.l), S.75; (Fn.2) § 9; s. auch Hanack. LK 10. Aufi. ab 1978.
Vbm. vor § 61, Rdn. 7 - 42.
, Ihr Rückgang beruht bemerkenswerterweise kaum auf strafrechtsdog-
matischen Skrupeln, weit mehr auf kriminologischen und vollzugstechnischen.
Nachweise bei KaiserjKernerjSchöch, Strafvollzug, Lehrbuch, 3. Aufi. 1982,
S. 239 fi.
10 1962: 3901; 1970: 4222; 1976: 3453; 1977: 3313; 1978: 3258; 1979: 3357; 1980:
3333; 1981: 3253; 1982: 3211.
Regelungsmängel beim Vollzug der Unterbringung gemäß § 63 StGB 1017

mit hinreichender Deutlichkeit die Diskrepanz zwischen der Idee (Hei-


lung und/oder Pflege) und den realen Vollzugsbedingungen. Kaum be-
achtet wurde insbesondere, daß dieses Abschieben psychisch gestörter
Täter in die Obhut des Psychiaters und damit in die Zuständigkeit eines
anderen Ressorts (das der obersten Gesundheitsbehörden in den einzel-
nen Bundesländern) die Rechtsstellung der Untergebrachten relativ zu
derjenigen der Strafgefangenen mit dem Fortschreiten der Strafvoll-
zugsreform kontinuierlich verschlechterte11 • Zwar kann man nicht -
wie Tondorj12 - von einem völlig rechtsfreien Raum sprechen, in dem
der Maßregelvollzug stattfindet. In Ermangelung einer über die Rah-
menvorschriften des StGB, der DVollzO und später des StVollzG (§§ 136
bis 138) hinausgehenden Normierung gilt (soweit einschlägige Landes-
gesetze bis heute fehlen) nach wie vor das Unterbringungsrecht der
Länder13, das freilich auf maßregelspezifische Probleme nicht gemünzt
ist und daher auf viele vollzugsrechtlich und -technisch brisante Fragen
keine Antwort gibt, und das Grundgesetz14•
Daß darüber hinaus zur Rechtfertigung von Vollzugslock:erungen, z. B.
von Urlaub aus therapeutischer Indikation oder zur Erprobung der
Entlassungsreife, so sachfremde Rechtsquellen wie die Gnadenordnun-
gen der Länder bemüht wurden15 , spricht für die Unübersichtlichkeit
und Strukturlosigkeit der Rechtslage.
Unter ihr hatten denn auch nicht nur Patienten, sondern auch Ärzte
zu leiden. Gewährten sie etwa auf eigene Verantwortung Kurzurlaub
oder Stadtausgang, ohne zuvor einen u. U. nur auf einige Stunden be-
fristeten "Gnadenerweis" zu erwirken, so wurden sie gelegentlich mit
Ermittlungsverfahren wegen vorsätzlicher Gefangenenbefreiung (§ 120
StGB) und MaßregelvoIlstreck:ungsvereitelung (§ 258 Abs. 2 StGB) über-
zogen18• Hier klaffte in Anbetracht der für andere Patienten mittler-
weile selbstverständlichen halboffenen und offenen Therapie eine be-
sonders anstößige Regelungslück:e. Die Rechtsauffassung, daß sich für

11 Vereinzelte Normierungsappelle im Schrifttum (auch diejenigen des Ver-


fassers, Der Nervenarzt 1956, 126, und ·ders., GA 1959, 141) blieben ohne Echo.
12 ZRP 1983, 118.
13 So Rüping, NStZ 1983, 13.
14 Konkretisierungen insoweit vor allem bei Volckart, Maßregelvollzug,
1984, passim.
16 Kritisch u. a. Baur, StrVert. 1982,33; Müller-Dietz, Forensia 1983, S. 117
(126); VenzlatJ, Evang. Akademie Hofgeismar, Maßregelvollzug in einem psy-
chiatrischen Krankenhaus, Protokoll 178/1981, 12 (17 ff.); Volckart, NStZ 1982,
496; a. M. offenbar WetterichlHamann, Strafvollstreckung, 3. Auft. 1978, Rdn.
341; vermittelnd Rittmann in BlaulKammeier (Hrsg.), Straftäter in der Psych-
iatrie, 1984, S. 165 f.
18 VenzlatJ/Schreiber in Bergener (Hrsg.), Psychiatrie und Rechtsstaat,
1981, S. 189.
1018 GünterBlau

die Untergebrachten aus dem Zweck der Unterbringung und dem Ver-
hältnismäßigkeitsprinzip bei günstiger Prognose für die Zeit des Ur-
laubs ein Anspruch auf Lockerungen herleiten lasse17 , hat sich bisher
nicht durchgesetzt.
Diese Rechtsunsicherheit war sicherlich mit ein Grund für die in den
70er Jahren einsetzende 8ensibilisierung der Fachleute, Juristen wie
Psychiater, für die desperate Lage der Untergebrachten, zumal im Jahre
1972 das BVerfG den "Abschied vom besonderen Gewaltverhältnis" an-
ordnete, jener bis dahin bequemen Eingriffsgrundlage für zahlreiche
Rechtsbeschränkungen im Vollzug18• Allerdings trat diese 8ensibilierung
"aus Rechtsgründen" für die Mängel des Maßregelvollzuges, verglichen
mit der Lage im 8trafvollzugswesen, erst mit erheblicher Zeitverschie-
bung ein. Während in jenem Bereich der Auftrag des BVerfG zur ge-
setzlichen Regelung der Materie bekanntlich ernst genommen wurde,
beunruhigten den Bundesgesetzgeber die Regelungsdefizite im Maß-
regelvollzug nicht sonderlich. Zwar waren sie Gegenstand der Beratun-
gen der Strafvollzugskommission18 , die vorschlug, die Rechtsstellung der
Untergebrachten und die Vollzugsbedingungen wenigstens in groben
Zügen zu regeln1o• Das Bundesjustizministerium war jedoch der Mei-
nung, die Durchnormierung dieser Materie müsse weitgehend dem Lan-
desrecht überlassen bleiben21 •
Von dieser Kompetenzzuweisung aus Opportunitätsgründen, nicht
aus Rechtsgründen (vgl. Art. 74 Nr.1 GG), nahmen die Landesgesetz-
geber jedoch zunächst keine Notiz. Dabei wuchs der Problemlösungs-
druck, zunächst wiederum "aus Rechtsgründen": die Umstellung der
~~j~kt_iva "sichernd" und "bessernd" in der überschrift des 6. Titels des
StGB ließ die bis dahin in Praxis und Judikatur2! kaum angefochtene
Prävalenz des Sicherungsgedankens fragwürdig erscheinen. Ein an mo-
dernen Rehabilitationsprogrammen ausgerichteter Behandlungsvollzug
wirft aber mehr vollzugsrechtliche Probleme auf als der bisher vielfach
übliche Verwahrungsvollzug.
Stärker noch als diese durch die Rechtsentwicklung initiierte zuneh-
mende Nachdenklichkeit über Ziele und Methoden des Vollzuges der
Maßregel aus § 63 8tGB wirkte sich dann der "Bericht zur Lage der

17 VoZckart (Fn. 14), S. 75 - 79.


18 BVerfGE 33,1.
19 Vgl. die Referate von VenzZaf! und Beyer, Tagungsberichte Bd. VIII,
1969, S. 130 - 150.
20 §§ 115 und 128 KommEntw. Mit Recht noch weitergehend Dünnebier in
seinem Abänderungsvorschlag vom 1. 7.1971.
!1 Vgl. Amt!. Begründung zum Entwurf eines StVollzG vom Jan. 1973, 142,
143.
!I Bedenklich BGH bei HoZtz, MDR 1978, 110.
Regelungsmängel beim Vollzug der Unterbringung gemäß § 63 StGB 1019

Psychiatrie" aus 23 • Erst jetzt wurde ganz klar, daß die Anstaltspsychia-
trie dem Auftrag des Gesetzgebers, psychisch gestörte Straftäter unter
angemessenen äußeren Bedingungen zu behandeln (oder bei Therapie-
unfähigkeit zu "pflegen"), kaum gewachsen war. In dem dem Bundestag
erstatteten Bericht ist davon die Rede, daß die Patienten der forensi-
schen Abteilungen bisher eine absolute Schlußlichtposition eingenom-
men hätten24 • Hornt5 spricht von dem "ungeliebten Adoptivkind" der
klinischen Psychiatrie. Dementsprechend halten VenzlafflSchreiber den
Maßregelvollzug für ein "Stiefkind der Strafrechtsreform2'. Situations-
berichte über das Elend der Patienten in "festen Häusern"l7 trugen zur
Problematisierung bei. Konkrete Verbesserungsvorschläge enthielt u. a.
das Sondervotum Degkwitz zum Psychiatriebericht28 •

Ende der 70er Jahre setzte dann eine von fachwissenschaftlichem


Raisonnement begleitete28 , fast stürmisch zu nennende legislatorische
Entwicklung ein.
Vorreiter dieser Entwicklung waren die nichtamtlichen Entwürfe, zunächst
der Alternativ-Entwurf zum AT eines StGB .(1966), der bereits einige Detail-

23 BT-Drucks. 7/4200 mit Anhang BT-Drucks. 7/4201; vgl. auch Stellung-


nahme der Bundesregierung BT-Drucks. 8/2565.
24 BT-Drucks. 7/4200,281.

25 Festschrift für Leferenz, 1983, S. 485 (488).

21 Bergener (Hrsg.) (Fn. 16), S. 189.


27 Vgl. schon Ehrhardt in Krim. Gegenwartsfragen Bd. 11, 1974, S. 152. Fer-
ner - als Vorbote der Krise der Anstaltspsychiatrie - den Tagungsbericht
des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Die Verantwor-
tung der Gesellschaft für ihre psychisch Kranken, 1967, sowie Frank Fischers
Bericht: Irrenhäuser, Kranke klagen an, 1969. Aktuelle Situationsbeschrei-
bungen etwa bei Lauter in Lauter/Schreiber, Rechtsprobleme in der Psychia-
trie, 1978 (bezügl. Hamburg-Ochsenzoll); Bergener in Bergener (Hrsg.) (Fn. 16),
(bezügl. Rheinische Landeskliniken).
28 BT-Drucks. 7/4200. 419 - 422.

28 Vgl. außer den in Fn.13 -16 Genannten: P. A. Albrecht, MschrKrim


1978, 104; Baur, RuP 1980, 161; ders., StrVert. 1982, 33, 125; 1983, 158;
Brauneck in Baumann (Hrsg.), Die Reform des Strafvollzuges, 1974, S. 129;
Ehret, MSchrKrim 1977, 297; Gretenkord/Lietz, MSchrKrim 1983, 376;
Hanack, JR 1975, 441; ders. (Fn.8); Hübener, NJW 1981, 620; Kammeier/Ton-
dDr!, RuP 1981, 137; Kneuker/Hübner, NStZ 1982, 457; Marschner, MSchrKrim
1982, 177; Menges, StrVert. 1981,415; Müller-Dietz, NStZ 1983, 145,203; ders.,
ZfStrVollz. 1983, 19; Ritzel, MSchrKrim 1975, 182; Rüping, JZ 1982, 744;
ders., NStZ 1983, 13; TondDr!, RuP 1980, 114; ders., StrVert. 1982, 373, 430;
ders., ZRP 1983, 118. Hinzu kommen Monographien (z. B. B. Müller, Anord-
nung und Aussetzung freiheitsentziehender Maßregeln der Besserung und
Sicherung, 1981), Dissertationen (Nachweise bei Blau/Kammeier (Fn.15» so-
wie die oben Fn. 14, 15 genannten Schriften. Auch in den Kommentaren
zum StVollzG werden die einschlägigen Vorschriften (§§ 136 - 138) neuer-
dings ausführlicher erläutert. Das gilt jedenfalls für Grunau/Tiesler, 2. Aufl.
1982, Schwind/Böhm/Rotthaus und besonders für Volckart im Alternativ-
Komm., 2. Aufl. 1982. Informativ jetzt auch Kaiser/Kerner/Schöch, Strafvoll-
zug, 3. Aufl. 1983, § 9, 4.2.
1020 GünterBlau

vorschriften zum Vollzug der Unterbringung enthieWo, dann der die Materie
sorgfältig durchnormierende AEStVollzG31. Maßregelvollzugsgesetzentwürfe
i. e. S. erarbeiteten später die Humanistische UnionS! und die Arbeitsgemein-
schaft sozialdemokratischer Juristen33 •
Allerdings hielt der Bundesgesetzgeber an seiner Regelungsabstinenz fest,
mit einer Ausnahme: Ende 1983 griff er eine vom Lande Hessen angeregte
Initiative des Bundesrates auf und glich das Maßregelvollzugsrecht durch das
StVollzÄnderungsG vom 20.1.1984 in zweierlei Hinsicht - Unpfändbarkeit
von überbrückungsgeld und von Entlassenenhilfe sowie im Rechtsbehelfs-
verfahren - dem Strafvollzugsrecht anM •
Auf Länderebene wurde der Gesetzgebungsauftrag des BVerfG und des
Bundesgesetzgebers (§ 138 StVollzG) im Jahre 1976 endlich ernst genommen.
Der ständige Arbeitskreis der für die Psychiatrie zuständigen Referenten des
Bundes und der Länder begann mit der Ausarbeitung eines Rahmenentwur-
fes zu einem "Gesetz über den Vollzug von Maßregeln der Besserung und
Sicherung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungs-
anstalt" unter der Federführung des niedersächsischen Sozialministeriums.
Es wurde im Februar 1979 als Bundestagsdrucksache veröffentlicht36 • An die-
sem Musterentwurf orientierten sich in der Folgezeit die meisten Landes-
gesetze und -entwürfe3'.
Die Länder Schleswig-Holstein und Bayern wählten einen anderen Weg.
Sie ergänzten ihre Landesunterbringungsgesetze (PsychKG) durch Vorschrif-
ten über den Vollzug der Maßregeln aus §§ 63, 64 StGB37.
Daß beide Regelungsmodelle trotz weitgehender Identität der Regelungs-
materie nicht beliebig austauschbar, vielmehr Ausdruck je unterschied-
licher Konzeptionen sind, ist im Schrifttum mit Recht hervorgehoben wor-
den38. Wer sich mit Sondervorschriften im Unterbringungsrecht begnügt,
wird im Prinzip die Angleichung des Maßregelvollzuges an das therapeutisch
orientierte Unterbringungsrecht befürworten. Wer einem besonderen Maß-
regelvollzugsgesetz den Vorzug gibt, wird die systematische Besonderheit der
strafgerichtlichen Einweisung und sachlich die strukturelle Eigenart der

80 1. Auf!. 1966, §§ 67 Abs. 3, 75.


31 1973. Vgl. §§ 183 - 193 (Psychiatr. Anstalt), §§ 194 - 200 (Entziehungs-
anstalt). Auffälligerweise ließen die von Jung und Müller-Dietz herausgege-
benen Vorschläge zum Entwurf eines StVollzG (Bundeszusammenschluß für
Straffälligenhilfe), 1974, den Maßregelvollzug unerwähnt.
8! Sept. 1982 (soweit ersichtlich, unveröffentlicht).
33 Abgedruckt in Frankfurter Rundschau v. 11.3.1981; hierzu Kammeierl
Tondorf, RuP 1981, 137.
M BGBI. I, 1984, 97. Zur Begründung vgl. noch BT-Drucks. 10/267 und BR-
Drucks. 162/81; s. auch DRiZ 1983,494.
35 BT-Drucks. 8/2565. Abgedruckt auch bei Grunau/Tiesler (Fn. 29).
a. Hess. G. v. 3.12.1981 (GVBI. 414) - vgl. hierzu Kneuker/Hübner und
Marsc1mer (Fn.29); Nds. G. v. 1. 6. 1982 (GVBl. 131); Ges.-Entw. der Landes-
regierung NRW v. 6.6. 1982 (Drucks. Landtag NRW 9/2640); in Rheinland-
Pfalz, Hamburg und Bremen werden entsprechende Gesetze vorbereitet.
37 (SchIH PsychKG v. 26.3. 1979, GVBI. 251), dazu in der Beeck, SchIH-
Anzeigen 1983, 161; Bayer. UnterbringungsG v. 20.4.1982 (BayGVBI. 202),
dazu Rüping (Fn.13). Ein ähnlicher Entwurf wird in Baden-Württemberg
vorbereitet. Zum ganzen Müller-Dietz (Fn. 15 und 29), Tondorf, ZRP 1983,
118.
88 Müller-Dietz (Fn. 15), S. 127; Bernsmann in BlaulKammeier (Fn. 15).
Regelungsmängel beim Vollzug der Unterbringung gemäß § 63 StGB 1021

Klientel mit ihren spezifischen Behandlungs- und Sicherungsbedürfnissen im


Sinne haben. Den Vorzug verdient die gesonderte Regelung in einem Maß-
regelvollzugsgesetz jedoch schon deshalb, weil sie erfahrungsgemäß weniger
lückenhaft ist als die stets nur um wenige Vorschriften angereicherten Unter-
bringungsgesetze.
III.
Die Qualität und die Sachgerechtigkeit der neuen Gesetze ist bisher
vor allem intranational durch einen Vergleich der Ländergesetze unter-
einander und mit den vergleichbaren Normen des StVollzG sowie an-
hand des Grundgesetzes geprüft worden, wobei die noch im Gesetzge-
bungsverfahren befindlichen Entwürfe verständlicherweise meist unbe-
rücksichtigt bliebensu.
Leider fehlt es aber auf normativer Ebene - auf der empirischen
Ebene der forensischen Psychiatrie verhält es sich glücklicherweise
etwas anders40 - an neue ren Versuchen, den "Lösungsvorrat" für die
mannigfachen rechtlichen Probleme durch einen transkulturellen Ver-
gleich zu bereichern und damit zugleich Beurteilungsmaßstäbe für die
eigene Rechtslage zu gewinnen41 • Die so zahlreichen auslandsrechtlichen
Informationen und Analysen weltweiter kriminalpolitischer Anglei-
chungstendenzen, die wir dem Jubilar verdanken42 , haben auf diesem
Spezialgebiet, soweit ersichtlich, noch zu wenig bewirkt. Hier ist ein
deutliches Defizit im Vergleich mit der viel stärker komparativ vorbe-
reiteten und fundierten Strafvollzugsrechtsreform festzustellenu.
Die auslandsrechtlichen Untersuchungen wären auf supranationale
Empfehlungen und Richtlinien zu erstrecken. In Betracht kommen hier
neben den "Minima" der Vereinten Nationen44 vor allem die von der
Association Internationale de Droit P€mal im Rahmen ihrer "Nouvelles
Etudes P€males" 1981 veröffentlichten "Draft Body of Principles" und
"Draft Guidelines for the Protection of Persons Suffering from Mental
Disorder"u. Nur durch solche komparativen Analysen kann die eigene

89 Synopsen finden sich bei Müller-Dietz (Fn.15); Moll, Maßregelvollzug -


überblick über die gesetzlichen Regelungen des Vollzuges der Maßregeln
nach § 63 und § 64 StGB in den Bundesländern, Stand 31. 8. 1982, 1982. Detail-
lierte Vergleiche bei Volckart (Fn.14).
40 Personalisiert wird die internationale Verflechtung der forensischen
Psychiatrie im deutschen Sprachbereich insbesondere durch Ehrhardt und
Rasch mit zahlreichen Beiträgen zur transkulturellen Psychiatrie.
41 Nach dem 1. Weltkrieg haben sich der IX. und X. Internationale Kon-
greß für Strafrecht und Gefängniswesen, London 1925 und Prag 1930 mit
dem Maßregelvollzug befaßt. Vgl. auch die rechtsvergleichende Bestandsauf-
nahme von Hernnann, Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 2, 1954, S. 193 ff.
4! Vgl. nur Jescheck (Fn. 1), S. 161 - 451.
48 Zuletzt Kaiser, Strafvollzug im europäischen Vergleich, 1983, S.7.
44 Nr. 82, 83 (abgedruckt bei GrunaulTiesler [Fn. 29]) zu § 136.
4$ Wichtig vor allem Art. 18 ff. der Principles, Art. 30 ff. der Guidelines.
1022 GUnterBlau

Rechtsordnung für Verbesserungen offen gehalten werden. Es wäre


ganz falsch, wollte man aus der umtriebigen kodifikatorischen Tätigkeit
der letzten Zeit schließen, zum mindesten die Kardinalprobleme der
Versorgung psychisch gestörter Täter seien nun so oder so für lange
Zeit "gelöst". Dazu verläuft die Entwicklung auf dem Felde der Psy-
chiatrie, aber auch dem des Sanktions rechts, viel zu dynamisch.
Als Kardinalproblem ist z. B. die Frage zu bewerten, ob die hier be-
handelte Tätergruppe in justizeigenen oder öffentlichen psychiatrischen
Landeskrankenhäusern oder gar in Privatkliniken untergebracht wer-
den soll.
Hier hat die östeTTeichische4f und in geringerem Umfang auch die
wesentlich älter,e italienische 47 Lösung, justizeigene psychiatrische Kran-
kenhäuser zu schaffen, bei den deutschen Psychiatern zeitweise lebhaf-
ten Widerhall gefunden48 •
Dabei wird in Östereich die Maßregel des § 21 öStGB zur Zeit noch
teilweise in öffentlichen Krankenhäusern vollzogen, wenn auch in be-
sonderen Abteilungen. Art. UI des StVollzAnpassungsG (öBGBl. 1974,
424) hat der Justizverwaltung aber für die Errichtung justizeigener An-
stalten für geistig abnorme Rechtsbrecher eine Frist bis zum 31.12.1984
gesetzt, die nach Burgstaller49 auch eingehalten werden dürfte.
In Italien haben die "ospedali psichiatriche giudiziari" (früher "mani-
comi criminali" genannt) eine lange Tradition. Gleichwohl sind Verein-
barungen zwischen psychiatrischen Justizkrankenhäusern und "ospedali
psichiatriche civili" über die übernahme verurteilter Patienten zulässig.
Der Rechtsstatus dieser Personengruppe wird dadurch bemerkenswer-
tetweise nicht verändertSo. Freilich könnte diese Regelung durch die auf
Abschaffung der psychiatrischen Spezialkrankenhäuser abzielende, teil-
weise allerdings bereits gescheiterte sog. Basaglia-Reform51 obsolet wer-
den, zumal da die Bestrebungen der Reformer noch weiter gehen. Nicht
nur die zivilen, auch die von der Justizverwaltung betriebenen psychia-

4f Lit.-Nachweise bei Kaiser (Fn.43), S.38. Informativ vor allem Sluga in


zahlreichen Beiträgen, zuletzt in Krim. Gegenwartsfragen, Bd. 15, 1982,
S.33 ff.
47 Sedes materiae sind Art. 215 c. p., Art. 62 des Vollzugsgesetzes vom 26.7.
1975, Nr.354.
48 Als vorläufiger Abschluß der Diskussion kann wohl der Bericht zur
Lage der Psychiatrie (Fn.23), S. 282, gelten.
" ZStW 94 (1982), S. 723 ff. (741).
50 Art. 100 StrafvollzG i. V. mit DVO vom Juli 1975.
61 Ihren gesetzlichen Niederschlag hat die Reform in den Gesetzen Nr. 180
v. 13. 5. 1978 und Nr.833 v. 23. 12. 1978 gefunden. Einzelheiten bei Basaglia
und Tranchina, beide in Gaertner (Hrsg.), Sozialtherapie, 1982, S. 58 ff., 72 ff.
Populäre Darstellungen bei Diehl, F AZ vom 9. 1. 1982, Polaczek, F AZ vom
20.3. 1984, Borsbach, Die Zeit vom 16.3. 1984; s. auch Der Spiegel, Nr.44/1983.
Regelungsmängel beim Vollzug der Unterbringung gemäß § 63 StGB 1023

trischen Krankenhäuser sollen abgeschafft werdenS!. Auch die Eingriffs-


voraussetzung der Schuldfähigkeit entfalle, nachdem der Gesetzgeber
somatische und geistige Erkrankungen gleich behandelt wissen wolle und
die Gefährlichkeitsvermutung bei psychisch gestörten Tätern beseitigt
haben. Geisteskranke seien wie "normale" Täter zu sanktionieren, wenn
auch mit der Maßgabe, daß ihnen im Vollzug psychiatrische Behandlung
zuteil werde. - Verschiedene Verfassungsbeschwerden wurden seit
1976 mit dieser Zielsetzung ohne durchschlagenden Erfolg eingebracht".
Daß entsprechende mit Hilfe der Oppositionsparteien dem Parlament
vorgelegte Gesetzesentwürfe55 erfolgreicher sein werden, ist kaum an-
zunehmen. Es ist jedoch nicht zu verkennen, daß Bestrebungen dieser
Art letzten Endes nur in der Konsequenz eines spezialpräventiven, die
Rechtsfolgen maximal individualisierenden Resozialisierungsstrafrechts
im Sinne der Defense Socialeso liegen.
Auf der Vollzugsebene, jedoch bei Wahrung des Zweispurigkeits-
dogmas auf der Anordnungsebene, gibt es bekanntlich auch bei uns
bereits Verschmelzungsprozesse zwischen Strafe und Maßregel 57• Auch
das Vikariierungsprinzip gehört in diesen Zusammenhang. Noch ausge-
prägter sind solche Erscheinungen in der Schweiz, wo Maßregeln gegen
"geistig Abnorme" (Art.43 StG) nicht selten zusammen mit Freiheits-
strafen vollstreckt werden58.
Demgegenüber löst Schweden das Problem der psychisch gestörten
Täter zwar ausschließlich auf der Sanktionsebene ohne jedes Interesse
für die Schuldfähigkeitsfrage und insofern den italienischen Reformern
nahestehend, aber doch mit einer Spezialsanktion, der zeitlich unbe-
stimmten Internierung in einer psychiatrischen Anstalt (ausnahmsweise
allerdings auch durch Anordnung ambulanter Behandlung)58.

52 S. Francesca MoZinaTi, Le misure de sicurezza psichiatriche vanno abo-


lite, Rivista italiana di diritto e procedura penale, 1980, S. 149 ff.
53 So auch F. MoZinaTi bei Hirsch in Jescheck (Hrsg.), Strafrechtsreform
in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien, 1981, S. 159. Zur Gesetzes-
lage vgl. Art. I, 2 des oben Fn.51 erwähnten Gesetzes v. 13.5.1978; ferner
Johanna Bosch, ZStW 88 (1976). S. 488 ff. - Gegen die Preisgabe der Schuld-
fähigkeitsnormen AzzaZi in Jescheck (a. a. 0.), S. 97 ff., 104.
" Z. B. Corte Costituzionale, Sentenza n. 139 Anno 1982. Den Zugang zu
den Materialien verdanke ich Frau Prof. MolinaTi.
55 Die letzte Gesetzesinitiative (Senato della Repubblica, IX. Legislatura,
Nr. 177 vom 29.9.1983) empfiehlt mit sorgfältiger, auch rechtsvergleichender
Begründung die "abrogazione deUa legislazione speciale per infermi e semi-
infermi di mente".
50 über die starke Resonanz der Defense Sociale bei jüngeren italienischen
Strafrechtlern s. Johanna Bosch (Fn. 53), S. 495 f.
67 Zusammenfassend: Müller-Dietz, Grundfragen des strafrechtlichen Sank-
tionensystems, 1979, S. 67 ff.
58 Nachweise bei Aebersold, Die Verwahrung und Versorgung vermindert
Zurechnungsfähiger in der Schweiz, 1972, S.116, 122.
1024 GünterBlau

Eine erstaunliche Parallele zu den radikalen Reformbestrebungen in


Italien findet sich in der neueren, eher konservativen Gesetzgebung
einiger Einzelstaaten der USA. In Michigan und sieben weiteren Staaten
führt die "Insanity Defense" im Erfolgsfalle nicht mehr ohne weiteres
zum Freispruch und erforderlichenfalls später zur zivilrechtlichen Ein-
weisung in eine psychiatrische Anstalt. Der Angeklagte kann auf
"guilty but mentally ill" plädieren und dann in der Sentencing-Phase
zu jeder für "normale" Täter zulässigen Sanktion verurteilt werden,
jedoch in Verbindung mit der Anordnung stationärer psychiatrischer
Behandlung in der Zuständigkeit des Department of Corrections oder
des Department of Mental Health80 •
Durch dieses Modell wird die sonst in den USA - aber auch z. B. in
Frankreich 81 und in Japan 82- geltende "reine" Unterbringungslösung,
d. h. die übersteIlung des psychisch gestörten Täters a limine oder nach
Freispruch in den Zuständigkeitsbereich der Polizeiverwaltung bzw. der
Vormundschaftsgerichte, abgelöst. Diese Unterbringungslösung wird
allgemein vor allem deshalb als mißlich empfunden, weil sie der Straf-
justiz keinerlei Kontrollmöglichkeiten über Modalitäten und Dauer des
Vollzuges gestattet.
Die Unterbringung in justizeigenen Anstalten oder umgekehrt in
privaten psychiatrischen Krankenhäusern dürfte bei uns zur Zeit kein
Thema sein; ebensowenig die Abkoppelung der Eingriffsvoraussetzun-
gen von den Schuldfähigkeitsnormen oder die "reine" Unterbringungs-
lösung.
Dem italienischen Reform- oder dem Michigan-Modell könnte jedoch
immerhin ein Rechtsgedanke entnommen werden, der uns der Lösung
eines in zunehmendem Maße als Ärgernis empfundenen Problems näher
bringt: der in bezug auf die Anlaßtat unverhältnismäßig langen Ver-
weildauer der Untergebrachten in den psychiatrischen Krankenhäusern.

5. Kap. 31 §§ 3, 4 Kriminalgesetzbuch v. 21. 2. 1962. Vgl. im einzelnen Sim-


san, MSchrKrim 1969, 49 ff.; ders., Festschrift für Dreher, 1977, S. 747 ff.
80 Vgl. den überblick von Vicky L. Plaut, Punishment versus Treatment
of the Guilty but Mentally Ill, The Journal of Criminal Law and Crimino-
logy, 1983, 428 - 456. Auch die einschlägigen Gesetzestexte (z. B. Mich. Comp.
Laws § 768.36, 1976) sind dort wiedergegeben.
81 Art. 64 Code penal i. V. mit Art. L 355, 1 - 2 Code de sante publique. Kri-
tisch: Pradel, Droit penal general, tome 1, 1981, S. 362 ff. Zur Krise der An-
staltspsychiatrie: Brisset, Le Monde v. 16. 10. 1983, 13.
8! Dabei sieht bereits der Vorentwurf eines japan. StGB vom Dez. 1961
(Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher in deutscher übersetzung,
Bd. 80) in §§ 109 ff. die Einweisung geistesgestörter Täter in eine psychia-
trische Sicherungsanstalt vor. Die Reformdiskussion befindet sich z. Z. in
einer Sackgasse, da die Anwaltschaft und "linke" Psychiater keine Ände-
rung wünschen (persönliche Mitteilung von Prof. Miyazawa).
Regelungsmängel beim Vollzug der Unterbringung gemäß § 63 StGB 1025

Die Verweildauer betrug noch bis vor kurzem durchschnittlich etwa


10 Jahre13 • Da in dieser statistischen Zahl viele frühzeitig Entlassene mit
enthalten sind, dürften weit mehr Personen lebenslänglich in psychia-
trischen Anstalten verwahrt werden als nach den Anlaßtaten und den
Einweisungsdiagnosen zu erwarten wäre84 • Offenbar sind juristische
Faktoren an diesem Befund beteiligt: Nach der Rechtsprechung genügen
schon Delikte von mittlerer Schwere, also auch Vermögensdelikte, als
Anlaßtaten für die Unterbringung gemäß § 63 StGB8S. Gleichwohl ist bei
dieser Maßregel, anders als bei erstmaliger Verhängung der Siche-
rungsverwahrung, bei der zudem § 66 Abs. 1 Ziff. 3 eine etwas präzisere
Definition der Anlaßtaten enthält, keine obere Zeitgrenze vorgesehen.
Hinzu kommt, daß die Entlassungsprognose ganz unspezifisch auf
"rechtswidrige Taten" (§ 67 d Abs.2) abstellt, wenn auch die Recht-
sprechung "erhebliche" Taten, die die Anordnung der Maßregel aus-
lösen könnten, verlangtS8 • Zieht man weiter in Betracht, daß zahlreiche
prognostisch ungünstige Fälle Anstaltsartefakte sind, Chronifizierungen
psychischer Leiden durch die Auswirkungen einer "totalen Institution",
so werden die Gründe für überproportional lange Unterbringungszei-
ten einsichtig.
Indessen legen die nicht seltenen Fälle langjähriger Internierung -
etwa die von Venzlatf mitgeteilten87 eines grenzdebilen Fahrraddiebes
oder eines geistig behinderten Tatgenossen von hochkriminellen Ban-
denmitgliedern, die viele Jahre früher aus der Strafhaft entlassen wur-
den als dieser Mitläufer aus der Unterbringung - die Frage nahe, ob
hier nicht, abgesehen von einer möglichen Verletzung des § 62 StGB bei
der Anordnung, die Grundsätze des BVerfG über den gerade noch ver-
fassungskonformen lebenslangen FreiheitsentzugS8 verletzt sind. Denn de
facto ist die lebenslange Unterbringung, bei der die therapeutische Zu-
wendung nach dem Zeugnis von Psychiatern88 bei längerer Verweil-
dauer kontinuierlich abnimmt, häufig weniger human als der Straf-
vollzug. Bernsmann hat in einer verfassungsrechtlichen Analyse dieser

13 Nach Hanack, LK, Rdn. 10 zu § 63; ebenso schon Ritzel, MSchrKrim


1975, 182. P. A. Albrecht, MSchrKrim 1978, 104 errechnet 11,8 Jahre, Baur,
StrVert. 1982, 35, 5 - 10 Jahre. Deutliche Verkürzungen neuerdings in Hes-
sen: vgl. Gretenkordt/Lietz (Fn.29); die Verweil dauer sank dort von 10,9 Jah-
ren (1971) auf 4,1 Jahre (1982).
84 Zu den Einweisungsdiagnosen vgl. Heinz/Leygraf bei Blllu/Kammeier
(Fn. 15), sowie GretenkordtlLietz (Fn. 29) und Ritzel (Fn. 63).
85 BGH bei Dallinger, MDR 1975, 724; NJW 1976, 1949; BGHSt 27, 246;
SChönkeISchröder!Stree, 21. Aufl., § 63, Rdn. 15.
88 DreherlTröndle, 41. Aufl., Rdn. 6 zu § 67 d StGB.
87 Bei Bergener (Fn. 16), S. 189 f.
88 BVerfGE 45, 187.
88 Ritzel (Fn. 63), S. 149 f.

65 Festschrift für H.-H• .Tescheck


1026 Günter Blau

unbefriedigenden Rechtslage kürzlich70 die Frage aufgeworfen, ob hier


nicht der Strafrahmen für schuldfähige Täter vergleichsweise eine die
Unterbringung nach oben zeitlich limitierende Funktion übernehmen
könnte. Bei Tötungsdelikten und anhaltender lebensbedrohender Ge-
fährlichkeit des Untergebrachten wäre bei diesem Vorschlag lebens-
lange Verwahrung weiterhin zulässig, nicht aber dann, unabhängig
vom Therapieerfolg, wenn Anlaßtat und mögliche neue Delinquenz zur
leichten bis mittleren Kriminalität zählen.
Differenzierende Erwägungen dieser Art dürften übrigens schon de
lege lata zulässig sein, sofern man die Entlassungsprognose mit Schöch71
als einen normativen Korrekturen zugänglichen Relationsbegriff be-
greift. Eine Widerrufssperre (§ 67 g StGB) wegen bereits erlittener und
dem Tatunrecht zeitlich adäquater Unterbringung, wie sie in der Konse-
quenz der Konzeption Bernsmanns läge, kennt das geltende Recht
aber nicht.
Der oben erörterte italienische Reformvorschlag: Bemessung der
Rechtsfolgen wie bei Normaltätern, würde das Problem ebenso lösen
wie die Sentencing-Richtlinien verschiedener amerikanischer Einzel-
staaten bei einem "guilty-but-not-mentally-ill"-Verdict (oder plea). Die
Regelung wäre auch nicht völlig systemfremd, da sie der "Vollzugslö-
sung" des § 9 StVollzG ähnelt. Die Festsetzung einer Mindestvollzugs-
dauer wäre freilich indiskutabel, sie steht hier aber auch nicht zur
Debatte. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß für die Gesetzes-
änderung in Michigan und sieben weiteren Einzelstaaten das gleiche
Ärgernis einer überlangen Internierung der früher nach Freispruch
zivilrechtlich in psychiatrische Anstalten eingewiesenen geistesgestörten
Straftäter mit ursächlich war7!.
Ein zweites bisher nicht überzeugend gelöstes Problem beim Vollzug
der Maßregel aus § 63 StGB wurzelt in dem Besserungsauftrag des Ge-
setzgebers. Es hat zwei diametral entgegengesetzte Aspekte: a) Hat der
Untergebrachte einen Rechtsanspruch auf Therapie und b) darf er
gegen seinen Willen zwangstherapiert werden (wobei die letzte Frage
auf das Anlaßleiden einzugrenzen und eine sonstige Zwangsbehand-
lung, etwa i. S. des § 101 StVollzG hier außer Betracht zu lassen ist)?

a) Während der Anspruch auf Therapie in Italien und in den USA


im Mittelpunkt der Erörterung steht und ihm verfassungs rechtlicher
Rang zuerkannt wird7l, wird ihm bei uns nur wenig Aufmerksamkeit
70 Bei BlaulKammeier (Hrsg.) (Fn. 15).
71 MSchrKrim 1983,333 (335).
72 Plaut (Fn. 60), 434 mit Anm. 29.
73 S. italienische Verfassung Art. 27. In den USA hat der Supreme Court
aus dem Eighth Amendment ein "right for medical treatment forprisoners"
Regelungsmängel beim Vollzug der Unterbringung gemäß § 63 StGB 1027

zuteiF'. Ein Recht auf Therapie räumen dem Untergebrachten nur der
AE-StVollzG (§§ 71, 188) und der Entwurf der ASJ (§ 12 Abs.1) ein. In
dem Rahmenentwurf eines MaßregelVollzG und den ihm nachgebilde-
ten Landesgesetzen fehlt eine solche Bestimmung. Der Untergebrachte
"erhält" eine auf die Erreichung des Vollzugszieles ausgerichtete Be-
handlung (§ 14 Abs.2 RahmenE); von seiner Subjekt-Stellung ist nicht
die Rede. Seine Herabstufung zum Objekt der Therapie würde aber
Art. 1, 2 GG zuwiderlaufen75• Zur KlarsteIlung sollte eine Bestimmung
eingefügt werden, deren Vorbild etwa Art. 1 der "Draft Guidelines"
sein könnte78 •

b) Noch prekärer ist die Frage, ob sich der Untergebrachte der Be-
handlung seines Einweisungsleidens unterziehen muß oder ob er sie
verweigern darf. In den Entwürfen und MaßregelVollzG der Länder
besteht Einigkeit darüber, daß es der Einwilligung in Notfällen i. S. von
§ 323 c StGB nicht bedarf und daß andererseits schwere chirurgische
oder persönlichkeitsverändernde Eingriffe (sofern hier an stereotak-
tische Eingriffe gedacht worden sein sollte, wären sie ohnehin unzuläs-
sig!) sowie psychotherapeutische Behandlung (als ob sie ohne Mitwir-
kung des Patienten möglich wäre!) einwilligungsbedürftig sind71 • Im
Kernbereich - Therapie des Einweisungsleidens - gehen die Mei-
nungen aber diametral auseinander. Der ASJ-Entwurf (§ 12 Abs.3)
und der Bremer Entwurf (§ 11 Abs.2), abgeschwächt auch der Entwurf
NRW (§ 14) bestimmen, daß die Behandlung grundsätzlich nicht gegen
den Willen des Patienten durchgeführt werden darf; der AE-StVollzG
(§§ 139 Abs.2 Satz 2, 184 Abs.2), der RahmenEntw. (§ 14 Abs.1), die
MaßrVollzG in Niedersachsen (§ 8 Abs.1'Satz 3) und Hessen (§ 7) dekre-
tieren, der Untergebrachte habe die Behandlung zu dulden und zu
unterstützen. Auch im Schrifttum gibt es Divergenzen. Während Berns-

abgeleitet (vgI. PZaut [Fn. 60], 445 ff.), und aus dem Fourteenth Amendment
ein solches für guilty but mentally ill convicts.
74 VoZckart (Fn.14) will einen Behandlungsanspruch der § 63-Patienten
ganz allgemein aus dem Rechtsstaatsprinzip herleiten (5. 89). Das erscheint
problematisch, zumal da in der Paralleldiskussion zu einem etwaigen An-
spruch des Strafgefangenen auf Resozialisie~g die Meinung vorherrscht,
dem ihm vom BVerfG bescheinigten Resozialisierungsinteresse (BVerfGE 35,
202) entspreche kein einklagbarer Anspruch (a. M. wohl CalZies, Theorie der
Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, 1973, S. 169).
75 Ebenso Müller-Dietz, Strafzweck:e und Vollzugsziel, 1973, 5.9.

78 Article 1 lautet: "A person suffering from mental disorder shall have
the right to the best care and treatment available regardless of the nature
of his disorder. He shall at all times be treated with humanity and respect
for the inherent dignity of the human person. He shall, save as hereinafter
provided, enjoy the same human rights and fundamental freedoms as his
fellow citizens."
77 VgI. § 7 Abs. 2 HessG, § 14 Abs. 2 RahmenEntw.

65*
1028 GünterBlau

mann, Kammeier und Tondor! eine Zwangsbehandlung des Anlaßlei-


dens aus verfassungsrechtlichen Gründen für bedenklich halten, wollen
Baur und Volckart eine vorübergehende und nicht zu schwerwiegende
Behandlung zum mindesten des krankheitsbedingt uneinsichtigen Un-
tergebrachten, insbesondere durch Verabreichung von Psychopharmaka,
"mit dem Ziel der Verkürzung des Krankheitszustandes und des da-
durch bedingten Freiheitsentzuges im Maßregelvollzug" (Volckart) zu-
lassen78 • Die landesrechtliche Regelung wäre somit in diesen Grenzen
verfassungskonform, allerdings auch unerläßlich: aus allgemeinen
Grundsätzen ergibt sich die Befugnis zu Zwangsbehandlung nicht78 •
Die Problematik ist aus dem Strafvollzugsrecht bekanntSo. Freilich
sind die Antworten nicht notwendigerweise identisch, da die Therapie
i. e. S. dort eher ein Randproblem, hier aber ein Essentiale des Voll-
zuges ist. Aus der Zurückhaltung des Strafvollzugsgesetzgebers, dem
Gefangenen eine unmittelbare Pflicht zur Mitwirkung an seiner
Resozialisierung aufzuerlegen, wird man daher nicht ohne weiteres
folgern können, auch den Untergebrachten dürfe eine Mitwirkungs-
oder auch nur Duldungspflicht nicht treffen. Andererseits kann die for-
male Legitimation der Zwangstherapie des Anlaßleidens durch die
Landesgesetze nicht die an Art. 1 und 2 GG ausgerichtete materielle
Prüfung entbehrlich machen, ob die Verweigerung einer totalen Inan-
spruchnahme durch den Therapeuten oder auch nur einer bestimmten
(pharmakologischen, triebdämpfenden usw.) Dauertherapie rechtswidrig
ist und dann evtl. Disziplinierungen nach sich ziehen kann, oder ob es so
etwas wie " Freiheit zur Krankheit" (BaumannJBl oder "Freiheit zur
Verrücktheit" (Volckart)B2 gibt. Eine vertiefte dogmatische Durchdrin-
gung dieses Spezialproblems, auch im Hinblick auf das dem Staat von:
BVerfG auferlegte "Besserungsverbot" (BVerfGE 22, 180. 219; 30, 47)
steht noch aus. Dabei ist die Einwilligungsfähigkeit des u. U. auch
mental Unfreien ein besonders heikler AspektS3. Materielles Kriterium
für die Zulässigkeit der Zwangsbehandlung sollte der inzwischen für
die hier fragliche Abwägung ausreichend geklärte Begriff der Ver-

78 Bernsmann und Kammeier in BlaulKammeier (Fn. 15); Tondorf (Fn.29);


Baur (Fn. 29); Volckart (Fn. 14).
7' So auch OLG Stuttgart für das nicht strafgerichtliche Unterbringungs-
recht (NJW 1981, 638).
so Vgl. für viele Böhm in SchwindjBöhm, Komm. zum StVollzG, 1983,
Rdn. 3 - 11 zu § 4; ferner Försterling, Methoden sozialtherapeutischer Be-
handlung im Strafvollzug und die Mitwirkungspflicht des Gefangenen, 1981.
81 Baumann, Unterbringungsrecht, 1966, S. 24; s. auch Neumann. NJW 1982,
2588 (2590).
81 Volckart (Fn. 14), S. 92.
SI Amelung, ZStW 95 (1983), S. 1 ff.; Helmchen in Bergener (Hrsg.) (Fn.26).
S. 172 ff.; Rüping, JZ 1982,745.
Regelungsmängel beim Vollzug der Unterbringung gemäß § 63 StGB 1029

hältnismäßigkeit sein84 • Zu beachten ist jedoch, daß nicht nur Volckart,


sondern auch die "Principles" die Zwangsbehandlung auf urteilsunfä-
hige Patienten ("unable to give an informed consent to treatment") be-
schränken. Danach gehen die zitierten landesrechtlichen Bestimmungen
zu weit.
Ungeregelt aber dringend regelungsbedürftig ist das Verhältnis der
strafgerichtlichen Unterbringung zur Unterbringung nach landesrecht-
lichen Unterbringungsgesetzen, und zwar sowohl bei der Anordnung
(Subsidiarität des Maßregel- oder des Unterbringungsrechts?8ä) wie auch
nach der bedingten Aussetzung oder Erledigung der Maßregel. Es wäre
im Regelfall unannehmbar, wenn der von der Strafvollstreckungskam-
mer bedingt oder endgültig aus der Unterbringung Entlassene von der
Gesundheitsbehörde aufgrund des gleichen Befundes, wenn auch anhand
etwas anderer Eingriffsvoraussetzungen, alsbald wieder interniert
würdeBe.
Kontroverse, mangelhafte und lückenhafte Regelungen - die hier
nur aufgelistet, aber nicht näher behandelt werden können - enthält
das geltende Maßregelvollzugsrecht darüber hinaus in großer Zahl81 •
So ist etwa die verfassungsrechtlich hochsensible Materie der Post-
überwachung unterschiedlich geregelt88 • Während privater Briefwechsel
in Niedersachsen ohne besonderen Begründungszwang praktisch unein-
geschränkt überwacht wird - entsprechendes gilt für Telefonge-
spräche - und sogar unterbunden werden kann, darf er in Hessen nur
kontrolliert werden, soweit dies aus Behandlungs-, Sicherheits- und
Ordnungsgründen "geboten" ist, also aus den gleichen Gründen wie im
Strafvollzug8s • In der Tat ist nicht einzusehen, inwiefern Maßregel-
patienten strengere Einschränkungen ihres Grundrechtes aus Art. 10 GG
hinnehmen müssen als StrafgefangeneDo•
84 VgI. z. B. Försterling (Fn.80), S. 82 ff.; HojJmeyer, Grundrechte im Straf-
vollzug, 1979, S. 143 ff.; Rüping (Fn.83) - allgemein für das Unterbringungs-
recht.
85 Hierzu ausführlich Hanack, LK, Rdn. 106 - 108 zu § 63; s. auch Baumann
(Fn. 81), 45 ff.
81 Im gleichen Sinne Art. 39 der "Draft Guidelines". Eine kumulative An-
ordnung hätte nur einen Sinn, wenn die strafgerichtliche Einweisung, wie
im Text erörtert, nach oben zeitlich begrenzt wäre.
87 VgI. die eingehende Erörterung von Volckart (Fn.14) sowie zuvor Ton-
dorf, ZRP 1983, 118 ff.
88 VgI. einerseits § 21 NdsG, § 19 Abs.2 UnterbringungsGEntw. Baden-
Württemberg; andererseits: §§ 20, 21 HessG; § 20 Entw. Bremen; vermittelnd
§ 6 Entw. Nordrhein-Westfalen. Zum ganzen früher schon Baur, MDR 1981,
803 ff.
8t § 29 Abs.3 StrVollzG. Ebenso Baur (Fn.88).
tO Nach Art. 6 i. V. mit Art. 18 der "Principles" soll der Untergebrachte das
Recht haben, "to receive and send uncontrolled communications". Ebenso
Tondor! (Fn. 87), der Briefzensur für schlechthin unzulässig hält.
1030 GünterBlau

Unbefriedigend sind ferner zahlreiche Detailregelungen, z. B. über


den Besuchsverkehr, den Zugang zu den Medien, über persönlichen
Besitz, Kleidung und das "Wohnen" in der Anstalt - also die verfas-
sungsrechtlich gleichfalls besonders geschützte Privatsphäre (vgl.
BVerfGE 35, 202, 220) - oder über die Arbeitsvergütung, die Sicherungs-
und Disziplinarmaßnahmen. Besonders heikel ist die Gestaltung der
Hausordnungen (§ 39 HessG, § 17 NdsG), weil hier auf indirektem Wege
das "besondere Gewaltverhältnis" wieder eingeführt werden könnte81 •
Auf die formellen Schwierigkeiten anwaltlicher Beratung ist kürzlich
Tondor! ausführlich eingegangenU2 • Die Diskussion über die umstrittene
Frage, ob der Anwalt und der Patient Krankenakten einsehen dürfen,
ist auch nach den jüngsten Entscheidungen des BGH (NJW 1983, 328,
330) nicht zur Ruhe gekommenU3 •

IV.
Reformwünsche gelten zunächst einer besseren inhaltlichen Koordi-
nierung des Maßregelvollzugsrechts in den einzelnen Bundesländern. Es
wird einem nach § 63 StGB Untergebrachten nur schwer begreiflich zu
machen sein, daß es von der geographischen Lage des Vollzugskranken-
hauses abhängt, welchen Eingriffen in welcher Intensität er ausgesetzt
ist.
Andere Reformwünsche wurzeln in einem nur durch mehr Transpa-
renz zu überwindenden Mißtrauen gegen die totale Institution Psy-
chiatrisches Krankenhaus. Das gilt etwa für den bedenkenswerten Vor-
schlag, Anstaltsbeiräte nach dem Vorbild der Beiräte in Justizvollzugs-
anstalten84 ztrbilden, aber auch für dieAnregong, in jedem Bundesland
einen Psychiatriebeauftragten nach Art eines Ombudsmannes zu bestel-
len. Ansätze für eine externe Kontrolle finden sich in Niedersachsen in
Gestalt der Besuchskommissionen (§ 24 NdsMaßrVollzG).
Andere Vorschläge zielen weniger auf eine weitere Ausdifferenzie-
rung der rechtsstaatlichen Sicherungen des Untergebrachten als viel-
mehr auf Verbesserungen des Rehabilitationsprogrammes. Sicherlich ist
der "Rechtsstellungsteil" der Maßregelvollzugsgesetze ungeachtet der

81 über eine höchst bedenkliche Hausordnung in der Anstalt in Moringen


habe ich, GA 1959, 141, berichtet. Nicht minder bedenklich sind die nach
Presseberichten (FAZ v. 29.2.1984) kürzlich im Verwaltungswege angeord-
neten Erschwernisse wie die Verdoppelung der Telefongebühren für Patien-
ten u. ä.
82 In: Blau/Kammeier (Fn. 15), S. 121 - 141.
83 Vgl. Baur in BZau/Kammeier (Fn. 15); VoZckart (Fn. 14), 98 ff.
" Baur (Fn. 15); Tondor!, ZRP 1983, 120. Für den Strafvollzug: Krebs,
Festschrift für Dünnebier, 1982, 706; ferner Rotthaus in SchwindlBöhm
(Fn. 80), Erl. zu §§ 162 - 165.
Regelungsmängel beim Vollzug der Unterbringung gemäß § 63 StGB 1031

erwähnten Defizite sorgfältiger durchnormiert als der "Behandlungs-


teil". Daß es auch anders geht, ohne daß deshalb der ärztliche Hand-
lungsspielraum sachwidrig eingeengt wird, zeigen z. B. die "Draft
Guidelines"95.
Kammeier hat zwecks Optimierung der medizinischen, sozialen und
beruflichen Rehabilitation der nach § 63 StGB Untergebrachten Kompe-
tenzzuweisungen an die Bundesanstalt für Arbeit empfohlen, um den Er-
fahrungsschatz dieser Anstalt mit Behinderten und Schwerbehinderten
- etwa in beschützenden Werkstätten - für diesen Personenkreis
nutzbar zu machenoe. Soweit er deshalb eine Ausgliederung der Maß-
regelrehabilitation aus der Strafjustiz und deren überführung in den
Sozialleistungsbereich mit neu zu begründender Zuständigkeit der
Sozialgerichte befürwortet, wird man ihm kaum folgen können. Eine
Erweiterung der medizinischen Rehabilitationsprogramme durch Be-
handlungsarten, die etwa für Debile in anderen Institutionen und Klini-
ken entwickelt worden sind, wäre aber sicher wünschenswert. Auch
der transkulturelle Vergleich kann hier hilfreich sein. Die Behand-
lungskonzepte ausländischer sozialtherapeutischer Anstalten, wie vor
allem der Van-der-Hoeven-Klinik und der S.-van-Mesdag-Klinik in
Holland97 , wurden bisher vornehmlich als Modelle für die deutschen
sozialtherapeutischen Anstalten in Anspruch genommen. Nachdem sich
aber die Hoffnung zerschlagen hat, die sozialtherapeutische Anstalt
werde als Maßregel verwirklicht werden, mit der Folge, daß die für sie
vorgesehene Klientel auch in Zukunft wahrscheinlich mehrheitlich in
den forensischen Abteilungen der psychiatrischen Krankenhäuser zu
finden sein wird, gilt es, jene Erfahrungen stärker als bisher für den
gemäß § 63 StGB eingewiesenen Personenkreis zu nutzen9S.

V.
Der überblick zeigt, daß die gesetzliche Regelung des Vollzuges der
Maßregel des § 63 StGB den Postulaten des Grundgesetzes, internatio-
nalen Empfehlungen, aber auch den Anforderungen an innere Stimmig-
keit und Widerspruchsfreiheit noch nicht genügt. Auch die begleitende

95 Art. 28 - 39.
88 In: BlaulKammeier (Fn. 15), S. 206 ff.
87 Vgl. aus der umfangreichen Literatur nur Rotthaus, MSchrKrim 1978,
126, und EmmeTik, MSchrKrim 1982,288 (über die v. d. Hoeven-Klinik) sowie
Jäger, MSchrKrim 1977,206 (über die v. Mesdag-Klinik).
8S Zur Agonie des § 65 StGB vgl. Schwind, NStZ 1981, 121; Kaiser/Dünkel/
Ortmann, ZRP 1982, 198; etwas hoffnungsvoller: Schöch, ZRP 1982, 207. -
Zur diagnostischen Aufgliederung der Klientel s. u. a. VenzlatJ (Fn.15) und
das Sondervotum zur Psychiatrie-Enquete, BT-Drucks. 7/4200, 418 f.; s. auch
Jescheck (Fn. 2), S.652.
1032 GünterBlau

wissenschaftliche Durchdringung der Materie läßt Wünsche offen. Die


Argumentationskraft für die Verdeutlichung solcher Wün&che verdan-
ken wir nicht zuletzt den grenzüberschreitenden Perspektiven, die das
Lebenswerk des Jubilars eröffnet und ständig erweitert hat.
Kriminologie
GüNTHER KAISER

Kriminologie im Verbund gesamter Strafrechtswissenschaft


am Beispiel kriminologischer Forschung
am Max-Planck-Institut in Freiburg

I.

Der Zweifel an einer ausschließlich juristischen Problemlösung des


Verbrechens reicht weit zurück. Die Einsicht in die vielschichtigen Be-
ziehungen zwischen Entstehung und Kontrolle kriminellen Verhaltens
hat schon seit der Aufklärung zu Alternativen, aber auch fachübergrei-
fenden Ansätzen angeregt. Eine Bereitschaft dazu war lebendig, ob-
wohl überzeugende Modelle zur empirischen und dogmatischen Straf-
rechtsforschung im integrativen Verbund noch fehlten. Deshalb be-
gnügte man sich zunächst mit dem lockeren Zusammenhang von Straf-
recht und seinen Hilfswissenschaften. Eine systematische Verknüpfung
dieser Disziplinen schien erst das Lisztsche Konzept der gesamten Straf-
rechtswissenschaft zu eröffnen. Dieser Weg wird für Integrationsver-
suche immer wieder empfohlen' . Gleichwohl handelt es sich bei ihm
nur um einen weitgefaßten kriminalwissenschaftlichen Zusammenhang
mit Integrationsbereitschaft. Die von Liszt beabsichtigte funktionale
und methodische Gliederung der gesamten Strafrechtswissenschaft
nach Strafrechtsdogmatik, Kriminalistik, Kriminologie, Pönologie und
Kriminalpolitik wird dabei heute kaum noch mitgedacht'. Daher ist
jenes Konzept im Laufe der Strafrechtsgeschichte während der letzten
einhundert Jahre nicht selten undeutlich geworden, ja zur inhaltslosen
Formel verblaßt. Im zyklischen Wechsel wurden Tendenzen kriminal-
wissenschaftlich breiter Orientierung durch Phasen strafrechtsdogmati-
scher Beschränkung abgelöst. Ihnen folgten wiederum erneute Durch-
brüche nach Wirklichkeit, mitunter begleitet vom Ruf nach den "sozia-
len Bezügen" des Strafrechts·.

1 Vgl. Schäch, Verstehen, Erklären, Bestrafen? - Vergangenes und Ak-


tuelles zur "gesamten Strafrechtswissenschaft" ,in: Rechtswissenschaft und
Rechtsentwicklung. Ringvorlesung von Professoren der Juristischen Fakultät
der Georg-August-Universität Göttingen, 1980, S. 305 - 321,320; ferner Kaiser,
Kriminologie. Ein Lehrbuch, 1980, S. 11 m. N.
I von Liszt, Die Aufgaben und die Methode der Strafrechtswissenschaft.
Antrittsvorlesung, ZStW 20 (1900), S. 161 - 174, 172.
1036 Günther Kaiser

Doch diese Entwicklung, so einseitig und wechselhaft sie auch sein


mochte, bewegte sich noch immer im Rahmen normativer und empiri-
scher Strafrechtswissenschaft. Obschon sich Empiriker mit der einbet-
tenden Umarmung durch das Konzept der gesamten Strafrechtswissen-
schaft nicht stets befreunden konnten" meldet sich die darüber hin-
ausgreifende Ablehnung erst neuerdings mit bemerkenswerter Schärfe.
Vor allem ist es die kritische Strafrechtssoziologie, welche das über-
lieferte Konzept der gesamten Strafrechtswissenschaft für überlebt
hält, ja als eine Strategie der Unterwerfung empirischer Wissenschaften
unter das Strafrecht verdächtigt5 •

Deshalb stellt sich die Frage, ob empirische und dogmatische Straf-


rechtsforschung im integrativen Verbund nötig, aber auch möglich ist.
über die Notwendigkeit hat der Jubilar seit dem denkwürdigen inter-
nationalen Colloquium der fünfziger Jahre über "Kriminologie und
Strafrechtsreform" keinerlei Zweifel aufkommen lassen8 • In der ein-
gängigen Formel, wonach Strafrecht ohne Kriminologie blind, Krimi-
nologie ohne Strafrecht uferlos seF, hat seine überzeugung prägnanten

3 Namentlich in der Juristenausbildung; siehe dazu Peters, In welcher


Weise empfiehlt es sich, die Grenzen des strafrichterlichen Ermessens im
künftigen Strafgesetzbuch zu regeln (Ermessensfreiheit oder gesetzliche Bin-
dung des Richters bei der Verhängung der Strafe und sonstiger Unrechts-
folgen)? Gutachten zum 41. Juristentag 1955, in: Verhandlungen des 41. Juri-
stentages, Bd. I, 2. Halbband, S. 1 - 56, 40 f.; zusammenfassend Heinz, Ausbil-
dung und Einsatzmöglichkeit von Kriminologen. Krim. Bulletin 10 (1984), 3 - 55;
Kaiser, Kriminologie in der Juristenausbildung, Festschrift für Wassermann,
1985, S. 589 ff., jeweils m. w. N.
4 Vgl. Leferenz, Rückkehr zur Gesamten Strafrechtswissenschaft? ZStW
itS--{t981), S. 199 - 221; 220 f.; ähnlich Göppinger, Kriminologie. 4. Auft. 1980,
S.30.
5 Vgl. Sack, Probleme der Kriminalsoziologie, in: Handbuch der empiri-
schen Sozialforschung. Bd.12: Wahlverhalten, Vorurteile, Kriminalität, hrsg.
v. König. 2. Auft. 1978, S. 192 - 492, 225; Treiber, Des Kaisers neue Kleider.
Nicht Popper, nicht Kuhn, vielmehr Feyerabend für Kaiser. KrimJ 11 (1979),
S. 124 - 142; Schumann, On Proper and Deviant Criminology - Varieties in
the Production of Legitimation for Penal Law, in: State Control on Infor-
mation in the Fields of Deviance and Social Control, hrsg. v. European
Group for the Study of Deviance and Social Control, 1981, 79 - 94, 80 ff.;
Baratta, Das Konzept der "gesamten Strafrechtswissenschaft". Zur Vergan-
genheit und Zukunft des Modells einer gesamten Strafrechtswissenschaft,
ZStW 92 (1980), S. 107 - 142, 108 f.; kritisch gegen ihn Fijnaut, Die Fiktion
einer integrierten Strafrechtswissenschaft gegen Ende des vergangenen Jahr-
hunderts, ZStW 96 (1984), S.135 - 171; ferner Monaco, Su Teoria e Prassi deI
Rapporto tra Diritto Penale e Criminologia. Studi Urbinati di Scienze
Giuridiche, Politiche ed Economiche 49 (1980/81), S. 1 - 100, 9 ff.
8 Vgl. dazu JeschecklWürtenberger (Hrsg.): Vorwort, in: Das Internatio-
nale Colloquium über Kriminologie und Strafrechtsreform, 1958, S. 5. Hin-
gegen maß Jescheck in seiner Freiburger Antrittsvorlesung über "Entwick-
lung, Aufgaben und Methoden der Strafrechtsvergleichung" , 1955, der
Kriminologie in Verbindung mit der Strafrechtsvergleichung noch keine Be-
deutung bei.
Kriminologie im Verbund gesamter Strafrechtswissenschaft 1037

Ausdruck gefunden. Dabei wird nicht verkannt, daß - wie erwähnt -


die Erforderlichkeit derartiger Wechselbeziehungen zwischen Strafrecht
und Kriminologie auch auf Kritik gestoßen ist8 • Folgt man den gegen-
wärtigen Reformtendenzen der Juristenausbildung, so wird nicht selten
die Verknüpfung geradezu für entbehrlich betrachtet, wenn man die
Frage nach der Prüfungsrelevanz stellte. Noch größere Schwierigkeiten
wirft die Frage auf, ob eine auf Integration angelegte Zusammenarbeit
zwischen Strafrecht und Kriminologie überhaupt möglich ist. Äußert
sich die Frage nach der Notwendigkeit vor allem in der Strafrechts-
lehre, so jene nach der Möglichkeit besonders in der empirischen Straf-
rechtsforschung. Dieser Frage soll am Beispiel der Institutionalisierung
kriminologischer Forschung am Freiburger Max-Planck-Institut nach-
gegangen werden. Die versuchte Klärung in einer Art Fallstudie liegt
auch nahe, da die institutionelle Entwicklung mit dem wissenschaftli-
chen Arbeitsprogramm und Lebenswerk Hans-Heinrich Jeschecks innig
verbunden ist.
H.
Obwohl die Vorläufer des Max-Planck-Instituts und damit die Insti-
tutsgeschichte mehr als vierzig Jahre zurückreichen, wird kriminolo-
gische Forschung an diesem Ort systematisch erst seit fünfzehn Jah-
ren betrieben. Im Jahre 1970 nämlich wurde neben der bereits seit lan-
ger Zeit arbeitenden Gruppe der Strafrechtsvergleicher eine krimino-
logische Forschungseinheit gegründet und bis zur Mitte der siebziger
Jahre allmählich ausgebaut. Dabei war nicht das Bedürfnis nach un-
wissenschaftlicher Harmonisierung, sondern die Einsicht in die wechsel-
seitige Zuordnung und Verflochtenheit des Problemfeldes leitend.
Freilich war die Idee, kriminologisches Arbeiten an einem kriminalwissen-
schaftlichen Forschungsinstitut fest zu verankern, keineswegs neu. Schon in
der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg forderte von Hentig, nicht zuletzt unter
Hinweis auf entsprechende ausländische Ansätze, die Schaffung eines "Insti-

1 Jescheck, Vorwort, in: Max-Planck-Institut für ausländisches und inter-


nationales Strafrecht. Berichte und Mitteilungen der Max-Planck-Gesell-
schaft. Heft 5, 1980, S.9. Verdeutlichend hat er dazu in seiner Eröffnungsrede
zum internationalen Kolloquium "Die Vergleichung als Methode der Straf-
rechtswissenschaft und der Kriminologie", Strafrecht und Kriminologie Bd. 6,
hrsg. v. Jescheck und Kaiser, 1980, S. 1 - 4, 2, ausgeführt: "Die Kriminologie
ohne das Strafrecht aber entbehrt der klaren Ausrichtung auf einen fest
umschriebenen Gegenstand." Auch in seinem Vortrag "Strafrecht und Krimi-
nologie unter einem Dach", Freiburger Universitätsblätter, hrsg. vom Rek-
torat, Heft 67, 1980, S. 39 - 43, 41 f., präzisiert er diesen Grundgedanken. Im
Lehrbuch des Strafrechts, A.T. 3. Aufl., 1978, S.32, meint Jescheck allerdings,
"Kriminologie ohne Strafrecht sei ,zwecklos''', wohl in dem Sinn, daß sie
dann für das Strafrecht nicht sinnvoll wäre.
8 Nachweise bei Kaiser (Fn. 1), S. 14.
• Vgl. Heinz (Fn.3), S.41; ferner Wassennann, Zur Neuordnung des Wahl-
fachstudiums in der Ersten juristischen Staatsprüfung. JuS 1983, 642 - 644,
644.
1038 Günther Kaiser

tuts für Kriminalwissenschaft und angewandtes Strafrecht"lO. Eine ähnliche


Forderung erhob auch Groß11. Mannigfaltigen Zwecken sollte die vorge-
schlagene Einrichtung dienen. Die Strafrechtstheorie sollte "vor Einseitigkeit,
Versteinerung und Selbstüberschätzung" ebenso bewahrt wie eine praktisch
verwertbare Erkenntnissteigerung für Gesetzgeber und Strafrechtspflege er-
reicht werden. Darüber hinaus wurden überwachungs- und Betreuungsfunk-
tionen des Instituts für "vermeintliche und wirklich Kriminelle" gefordert,
unter anderem auch die Beobachtung bedingt Entlassener. überdies sollte die
Forschungseinrichtung eng mit entsprechenden Instituten im In- und Aus-
land sowie mit den inländischen Polizeibehörden zusammenarbeiten!!.

Obschon in Ziel und Aufgabenstellung teilweise verändert, sind die


Forderungen nach einer Einrichtung zur empirisch-kriminologischen
Forschung auch in den nachfolgenden Jahrzehnten nicht verstummt. Zu
Beginn der fünfziger Jahre war es vor allem Bockelmann, der in einer
Situationsanalyse nachdrücklich auf die in der Bundesrepublik Deutsch-
land bestehende mangelhafte Forschungslage hingewiesen hatlI.
Er stellte damals fest, daß "die seit fünfzig Jahren betriebene, neuerdings
belebte Strafrechtsreform ... von bestimmten Vorstellungen über die mit
dem Strafvollzug erzielbaren kriminalpolitischen Wirkungen" ausgehe, "die
weithin auf bloßer Spekulation· oder rationalistischer Konstruktion" beruh-
ten. Hierbei fehle jedoch "die empirische Grundlage". Es mangele an "Er-
fahrungsmaterial über die praktischen Wirkungen der Kriminalstrafe ... ,
ohne dessen Besitz jede Strafrechtsreform bloße Theorie bleiben muß". Aus
dieser Bestandsaufnahme leitete Bockelmann die Forderung ab: "Die Aufgabe
ist also eine individualisierende Erforschung der Strafvollzugsfaktoren an
der Person des einzelnen Bestraften. Es kommt darauf an, Aufschluß darüber
zu gewinnen, wie die Bestrafung auf das Fortkommen, auf die soziale Stel-
lung, auf das soziale Verhalten des Bestraften sich auswirkt"14.

10 von Hentig, Institute für Kriniinalwissenschaft und angewandtes Straf-


recht. MschrKrim 10 (1914), S. 216 - 221.
11 Groß stellte die Errichtung eines Nationalen Instituts der Strafrechtswis-
senschaft für ganz Deutschland zur Diskussion; vgl. Groß, Ein kriminalistisches
Reichsinstitut für Deutschland. Zur Frage des Unterrichtes in den strafrecht-
lichen Hilfswissenschaften. Archiv für Kriminal-Anthropologie und Krimina-
listik 54 (1913), S. 193 - 199. Von Liszt dagegen hielt dies für unzweckmäßig und
zur damaligen Zeit nicht für wünschenswert. Die Einrichtung eines Krimina-
listischen Reichsinstitutes könnte, so von Liszt, die Hoheitsbefugnisse der Län-
der verletzen und deren besonderen Traditionen kaum Rechnung tragen. Hin-
gegen hielt er Landesinstitute, die eng mit der Polizei zusammenarbeiteten, für
sinnvoll; siehe hierzu die zusammenfassende Darstellung bei Radzinowicz,
Strafrecht und Kriminologie (unter besonderer Berücksichtigung heutiger
Strömungen in der Bundesrepublik Deutschland), in: Strafrechtspflege und
Strafrechtsreform, hrsg. v. Bundeskriminalamt, 1961, S. 17 - 34, 24, 30; ferner
ders.: In Search of Criminology, 1961, S. 50.
12 von Hentig (Fn. 10), S. 219 ff.
13 Dazu Kaiser, Was wissen wir von der Strafe? Zu den Aufgaben, Pro-
blemen und Grenzen pönologischer Forschung heute, in: Festschrift für
Bockelmann, 1979, S. 923 - 942, 937 m. N.
14 Bockelmann, Plan eines Instituts zur Erforschung der Wirkungsmög-
lichkeiten der Kriminalstrafe. Denkschrift, Göttingen 1953, S.l f.
Kriminologie im Verbund gesamter Strafrechtswissenschaft 1039

Dieser Fragen- und Aufgabenkatalog mündete in ein konkretes FOT-


schungspTogramm und zudem in eine jOTschungspolitische Initiative,
nämlich den "Plan eines Instituts zur Erforschung der Wirkungsmög-
lichkeiten der Kriminalstrafe" . Der Entwurf wurde 1953 der Max-
Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften vorgelegtu . Er
fand im Kreise der Fachkollegen lebhafte Unterstützung. Namentlich
Schaffstein setzte sich in einem Gutachten für die Verwirklichung ein18•
Gleichwohl blieb diese Initiative ebenso wie ein späterer Antrag
Bockelmanns einstweilen ohne Erfolg11 •
Insbesondere wurde gegen den Plan Bockelmanns das "etwas enge
Forschungsziel des beabsichtigten Instituts" eingewandt. Demgegen-
über machte Gallas in seiner Stellungnahme vom 27. November 1953
geltend, daß "die Notwendigkeit und Vordringlichkeit einer hinrei-
chend ausgestatteten zentralen Forschungsstätte für das Gebiet der
Kriminologie und KriminalpoIitik unbestreitbar" seien18 •
Zwar fehle es nicht an einzelnen trefflichen theoretischen Arbeiten, wohl
aber fast gänzlich an einer planvoll gesteuerten und in der notwendigen
Breite angelegten empirischen Forschung, zumal im Bereich der Kriminal-
soziologie.. Gerade die Gewinnung einer sicheren empirischen Basis aber
wäre, wie bereits Bockelmann und SchatJstein übereinstimmend betont hät-
ten, unerläßliche Voraussetzung sowohl für eine kritische Würdigung der im
Zuge der geplanten großen Strafrechtsreform angestrebten kriminalpoli-
tischen Neuerungen als auch für eine zweckentsprechende Handhabung der
schon eingeführten Maßnahmen eines modernen Täterstrafrechts. Ferner
würde der deutschen Strafrechtswissenschaft und praktischen Strafrechts-
pflege ein unschätzbarer Dienst geleistet, sowohl im Hinblick auf die zu lei-
stende sachliche Arbeit als auch auf die Heranbildung eines in diesem For-
schungsbereich, jedenfalls auf juristischer Seite, fast gänzlich fehlenden
wissenschaftlichen Nachwuchses.
Im Sinne einer weitergefaßten Zielsetzung schlug Gallas daher vor,
ein Max-Planck-Institut für "Kriminologie und Kriminalpolitik" zu
errichten und in der Erforschung der Wirkungsmöglichkeiten der Kri-
minalstrafe ein vordringliches Anliegen dieses Instituts als Ansatz-
punkt für seinen inneren Aufbau zu sehen.

1$ Anlage 1 des Schreibens Bockelmanns an den Generalsekretär der


Max-Planck-Gesellschaft vom 3.8.1953. Diesem Brief war ein Gespräch über
die Errichtung eines kriminologischen Institutes vorausgegangen.
18 SchatJstein, Stellungnahme vom 30. Juli 1953 zum Plan von Bockel-
mann, S. 1 - 6.
11 Siehe Bockelmann, Plan zur Errichtung Elines "Max-Planck-Institutes für
Strafrecht und Kriminologie", 1960, S. 1. Dieser neue Antrag wurde nicht wei-
ter betrieben, da Mitte der sechziger Jahre kaum Aussicht bestand, weitere
geisteswissenschaftliche Institute in den Verband der MPG zu übernehmen.
18 Gallas, Stellungnahme zu den Vorschlägen der Herren Professoren
BockeZmann und SchatJstein betreffend die Errichtung eines Max-Planck-
Instituts zur Erforschung der Wirkungsmöglichkeiten der Kriminalstrafe
vom 27. 11. 1953, S. 1 - 4.
1040 Günther Kaiser

Im Hinblick auf den "Rückstand, in den die deutsche Wissenschaft


geraten" war, legte von Hentig im Juli 1960 ein "Memorandum" zur
"Errichtung eines Forschungsinstituts für Kriminalwissenschaft" vorlO
und setzte sich Mergen in den sechziger Jahren wiederholt für die
Gründung eines Max-Planck-Instituts für Kriminologie ein20 •
Doch an diese hoffnungsvollen Programme und Mahnrufe blieben
zunächst ohne Widerhall. Lediglich die Gründung des Tübinger In-
stituts für Kriminologie im Jahre 1962 und sein allmählicher Ausbau
zu einer interdisziplinären Forschungsgruppe mit acht Assistentenstellen
bildete eine herausragende Ausnahme21 • Im übrigen jedoch veränderte
sich die allgemein unbefriedigende Situation bis in die sechziger Jahre
hinein kaum. Hierauf wies Sieverts im Rahmen einer Anhörung zur
Strafrechtsreform 1963 nachdrücklich hin:
"Wir wissen über sehr dringende Fragen, deren Sachverhalte wir eigent-
lich kennen müßten, praktisch nichts. Daraus ergibt sich die Forderung ... ,
die Forschung auf diesen Gebieten (Kriminologie und Kriminalpolitik) sehr
vorwärts zu treiben ... Wir besitzen in der Bundesrepublik kein kriminolo-
gisches Forschungsinstitut von einer solchen Bedeutung, wie es eigentlich
diesem Gegenstand angemessen ist... Im Ausland ist man in dieser Bezie-
hung zum Teil sehr viel weiter. Dort sind in den letzten Jahrzehnten solche
Forschungsinstitute gegründet worden. Es ist einfach eine Notwendigkeit,
daß wir da in der Bundesrepublik allmählich nachziehen. Wir hoffen sehr,
daß die Max-Planck-Gesellschaft einem schon einmal vor zehn Jahren ge-
stellten Antrag, ein solches Max-Planck-Institut für Kriminologie zu errich-
ten, wieder einmal nähertritt und damit eine sehr schwerwiegende Lücke
ausfüllt"!!.

Sechs Jahre später allerdings hatte Sieverts seine Auffassung gewan-


dellund meinte, daß die Kriminologie um der Aus- und Fortbildung
willen an jeder Universität betrieben werden müsse. Die vorhandenen
und besetzten Lehrstühle der Kriminologie seien auch von den Ländern
für den Anfang relativ angemessen mit Assistenten und Sachmitteln
ausgestattet worden, Mittel, die allerdings nicht ausreichten, um um-
fangreiche kriminologische "Feldforschungen" zu finanzieren.

18 von Hentig, Memorandum "Errichtung eines Forschungsinstitutes für


Kriminalwissenschaft" vom 9. Juli 1960.
20 Mergen, Schreiben der Deutschen Kriminologischen Gesellschaft vom
22. Juni 1960 und vom 27. Juli 1960; vgl. auch ders., Die tatsächliche Situation
der Kriminologie in Deutschland: Ein Bericht, Hamburg 1964, und Midden-
dortJ, Gegenwartsprobleme der Kriminologie, RdJ 8 (1960), S. 116 - 119.
21 Vgl. United Nations Social Defence Research Institute (Hrsg.): A World
Directory of Criminological Institutes, 3. Auf!. 1982, S. 256 f.; siehe ferner
den Forschungsbericht des Instituts für Kriminologie der Universität Tübin-
gen,1983.
22 Sieverts, Protokolle des Unterausschusses für Strafrecht, 8. Sitzung,
4. Wahlperiode 1963, S. 48.
Kriminologie im Verbund gesamter Strafrechtswissenschaft 1041

"Aber alle diese ärgerlichen gegenwärtigen Schwierigkeiten der Finanzie-


rung kriminologischer Forschung" halte er "von vorübergehender Natur und
nicht für institutionell. Es wäre übrigens zu befürchten, daß, wenn ein Max-
Planck-Institut für Kriminologie eingerichtet würde, das ein Vorwand für
die DFG und die Länder sein könnte, zu meinen, daß damit nun genug für
die kriminologische Forschung getan worden sei und nunmehr der dringende
Ausbau der Kriminologie an den Universitäten aus diesem Motiv vernach-
lässigt würde"zs.
Demgegenüber war zwischenzeitlich von Quensel zutreffend hervor-
gehoben worden, daß die bestehenden kriminologischen Universitäts-
einrichtungen wegen ihrer häufigen Belastung mit Lehr- und Verwal-
tungsaufgaben eine hinreichend effiziente kriminologische Forschung
nicht gewährleisten könntenu. überdies meinte Arndt auf dem 47.
Deutschen Juristentag 1968: "Die Kriminologie ist ein in der Bundes-
republik Deutschland unterentwickeltes Gebiet"; es "fehlen kriminolo-
gische Institute", weshalb "dringlich ein Max-Planck-Institut für Krimi-
nologie geschaffen werden sollte"!5. Diese Forderung wUrde auch von
der Justizbehörde Hamburg in einem "Arbeitspapier über Möglichkei-
ten der Zusammenarbeit und Koordinierung auf dem Gebiet der kri-
minologischen Forschung" aufgegriffen, nachdem verschiedene andere
Möglichkeiten der Institutionalisierung erwogen und verworfen wor-
den waren28 • Vor allem sprach sich Würtenberger auf einer Arbeits-
tagung des Bundeskriminalamts über Grundlagenforschung und Krimi-
nalpolizei für die notwendige Koordinierung kriminologischer For-
schung aus. Er stellte fest:
"Es ist der Hauptmangel der bisherigen Maßnahmen zur Förderung der
kriminologischen Forschung, daß sie zu wenig die auf längere Dauer berech-
nete Institutionalisierung der kriminologischen Forschungsarbeit verfolgen
... Es fehlt die für den Gang der Forschung so notwendige Stabilität und
Kontinuität ... Das unbedingt erforderliche Maß an Stabilität einer echten
Institutionalisierung kriminologischer Forschung wird daher allein gewähr-
leistet durch die Grundung eines oder mehrerer Institute neuer Art. Durch
ihre großzügige Ausstattung mit genau festzulegenden Sach- und Personal-
mitteln würden solche Institute eine in die Tiefe wie in die Breite gehende
echte interdisziplinäre Forschung im Bereich der Kriminologie gestatten.
Einem solchen Modell würde ohne Zweifel das schon erwähnte Max-Planck-
Institut für Kriminologie am ehesten entsprechen"27.
ZS Stellungnahme vom 6. März 1969.
24 QuenseZ, Die Kehrseite der Beccaria-Medaille. Folgerungen aus der
Diskussion zwischen H.-J. Schneider und G. Kaiser, MschrKrim 50 (1967),
S. 406 - 411, 410.
2& Arndt, Strafrecht in einer offenen Gesellschaft. Verhandlungen des
47. Deutschen Juristentages, 1969, Teil J, S.12.
!I Vgl. Justizbehörde Hamburg: Arbeitspapier über Möglichkeiten der Zu-
sammenarbeit und Koordinierung auf dem Gebiet der kriminologischen For-
schung, Hamburg 1969, S. 12 ff.
27 Würtenberger, Notwendigkeit und Möglichkeit einer koordinierten
kriminologischen Forschung, in: Grundlagenforschung und Kriminalpolizei,

66 Festschrift für H.-H. J'escheck


1042 Günther Kaiser

Brauneck wies darüber hinaus auf die schon in Osteuropa seit länge-
rer Zeit bestehenden großen zentralen kriminologischen Forschungs-
institute hin28 • Auch Schneider unterstrich die Forderung, kriminologi-
sche Forschungsinstitute "in einem so industriell-wirtschaftlich starken
Land wie der Bundesrepublik" einzurichten und empfand die Vernach-
lässigung kriminologischer Forschung als "beschämendes Ergebnis"2D.
Die SPD-Fraktion des Bundestages plante überdies, "ein interdiszi-
plinäres Institut für Kriminologie und Pänologie" zu errichten30 •
Schließlich suchten die Justizverwaltungen des Bundes und der Länder
seit Anfang der siebziger Jahre eine "Kriminologische Zentralstelle"
einzurichten, um die Praxisbedürfnisse besser zu befriedigen31 •

IIl.
Nachdem die Max-Planck-Gesellschaft die "Gründung eines Instituts
für Strafrecht und Kriminologie" seit 1965 nicht weiter betrieben hatte,
weil nach Lage der Dinge kaum Aussicht bestand, weitere geisteswis-
senschaftliche Institute in den Verband der MPG zu übernehmen, un-
terrichtete der Jubilar 1968 die Max-Planck-Gesellschaft über Bestre-
bungen, den alten Plan wieder aufzunehmen, um in der Max-Planck-
Gesellschaft ein Institut für Kriminologie zu errichten. Er hielt diese
überlegungen für erwägenswert und empfahl für den Fall, daß die
Max-Planck-Gesellschaft sich entschließen sollte, diesem Plan nahe-
zutreten, die Verwirklichung im Zusammenhang mit dem Freiburger
Institut".
Zwar hatte Jescheck ursprünglich die Auffassung vertreten, daß in
dem Freiburger Max-Planck-Institut nur eine Informationsstelle über
ausländische kriminologische Literatur geschaffen werden sollte. Die
Kriminologie darüber hinaus als eigenes Forschungsgebiet zu pflegen,
erschien entbehrlich, weil dafür an der Freiburger Universität ein ge-

hrsg. v. Bundeskriminalamt, 1969, S. 225 - 238, 236 f. Auch Shils, Geschichte


der Soziologie. Tradition, Ökologie und Institutionalisierung, in: Soziologie
- autobiographisch, von Parsons u. a., 1975, S. 69 - 146, 88, hebt "die Insti-
tutionalisierung für die Etablierung eines Faches" hervor. "Zwar birgt In-
stitutionalisierung noch keine Garantie für Wahrheit, sie erleichtert aber
Konsolidierung, Ausbau und Vorbereitung eines Ideensystems."
28 Brauneck, Allgemeine Kriminologie. Vorlesungsskripten, Gießen 1970,
S.2.
H Schneider, Dynamische Kriminologie, JZ 1970,312 - 315, 315.
30 Dazu Majer, Einige überlegungen zu dem Plan der SPD-Fraktion des
Bundestages, ein interdisziplinäres Institut für Kriminologie und Pönologie
zu errichten. MschrKrim 53 (1970), S. 266 - 270.
31 Vgl. die Stellungnahme des Wissenschafts rates zur Errichtung einer
Kriminologischen Zentralstelle, in: Empfehlungen und Stellungnahmen des
Wissenschaftsrates 1972, Bonn 1972, S. 39 - 41.
32 Vermerk vom 30. September 1968.
Kriminologie im Verbund gesamter Strafrechtswissenschaft 1043

sondertes Fachinstitut bestand, mit dem man eng zusammenarbeitete33•


Doch war es J escheck bewußt, daß es die Kriminologie ist, "die die
Brücke von der Normwissenschaft zur Lebenswirklichkeit schlägt und
deswegen Zur Erklärung und Bewertung juristischer Lösungen ständig
gebraucht wird"S4. Zunehmend war er zu der Überzeugung gelangt, daß
das Freiburger Max-Planck-Institut für Strafrecht im Interesse seiner
eigenen Forschungsrichtung auch selbst Kriminologie betreiben sollte.
"Es sieht immer mehr so aus, als ob die Strafrechtswissenschaft sich schon
in den nächsten zwanzig Jahren von einer rein normativ betriebenen juri-
stischen Disziplin zu einer doppelspurigen Wissenschaft entwickeln wird,
die neben dem Recht in gleicher Weise die ,Realien des Lebens' erforscht."
Diese Entwicklung sei im Ausland längst im Gange und teilweise weit fort-
geschritten. Die Beobachtungen hätten immer mehr dazu geführt, auch das
Freiburger Institut in diese Richtung zu lenken, damit man "die Zeichen der
Zeit" rechtzeitig erkenne und nicht hinter dem internationalen Stand der
Wissenschaft zurückbleibe. Dabei sei enge Zusammenarbeit der Kriminologie
mit der Jurisprudenz entscheidend, zumal nur dadurch Fehlentwicklungen
und Fehlinvestitionen vermieden werden könnten. In Abgrenzung zum Tü-
binger Sonderforschungsbereich für Kriminologie würde man in Freiburg
"den Schwerpunkt auf Sozialwissenschaft und Verhaltensforschung legen".
Außerdem sei das gesamte Gebiet so groß und in Deutschland noch so un-
erforscht, daß man es unbedingt an mehreren Stellen intensiv pflegen sollte36•

In der Ende Februar 1969 folgenden Jahressitzung des Instituts-


Kuratoriums verstand es J escheck, dieses für seine Pläne zu gewinnen.
In einem einleitenden Referat begründete er die Erweiterung des In-
stituts um eine selbständige Abteilung für Kriminologie. Dazu führte
er aus:
"Eine verstärkte Förderung der Kriminologie liege sowohl im dringenden
Interesse des Strafrechts als auch der Kriminologie selbst. Die Erkenntnis-
möglichkeiten der Strafrechtsdogmatik seien begrenzt, der drohenden Verar-
mung und Austrocknung könne nur dann begegnet werden, wenn die juri-
stischen Lösungen ständig durch die Seinswissenschaft Kriminologie über-
prüft und ergänzt würden. Zum anderen laufe die Kriminologie in Deutsch-
land Gefahr, den Anschluß an die internationale Entwicklung, namentlich in
den USA, Kanada, aber auch England, zu verlieren. Das liege keineswegs an
den deutschen Forscherpersönlichkeiten, sondern allein an den mangelnden
Mitteln, die eine Beschränkung der deutschen Forschung vornehmlich auf
sekundäranalytische Arbeiten zur Folge hätten, während die internationale
Entwicklung eindeutig auf eine großangelegte, empirische und interdiszipli-
när arbeitende Forschung gehe. Eine solche Forschung könne auch in Zu-
kunft nicht von den Universitäten erwartet werden, auch nicht durch eine
Gemeinschaftsarbeit mehrerer Universitäten. Deren zentrales Problem werde

33 Jescheck, Das Institut für ausländisches und internationales Strafrecht


in Freiburg i. Br. 1938 - 1963, Berlin 1963, S.17.
34 Jescheck, Rechtsvergleichung im Max-Planck-Institut für ausländisches
und internationales Strafrecht in Freiburg i. Br., ZStW 79 (1967), S. 128 - 144,
139.
36 Schreiben an den Generalsekretär der MPG vom 3. Dezember 1968.

66'
1044 Günther Kaiser

die Lösung des Massenproblems sein, die hierzu erforderlichen Geldmittel


würden für eine großzügige Förderung der Kriminologie keinen Raum las-
sen ... Die Förderung des akademischen Unterrichts sei dadurch zu erreichen,
daß die Wissenschaftlichen Mitglieder des Instituts durch Lehraufträge oder
Honorarprofessuren die kriminologische Ausbildung an den Universitäten
übernehmen könnten, während gleichzeitig für vorgerückte Studenten, insbe-
sondere Diplomanden und Doktoranden, Möglichkeiten eigener Forschungs-
tätigkeit im Rahmen des Instituts geschaffen würden. Auf diese Weise wäre
den Interessen des Strafrechts, der Kriminologie und der Universität in opti-
maler Weise gedient.
Kriminologie und Strafrecht seien mit unterschiedlicher Methodik arbei-
tende und daher selbständige und gleichberechtigte Wissensgebiete. Frucht-
bare Ergebnisse seien durch das Erlangen einer engen Kooperation beider
Wissenschaften zu gewinnen. Deshalb sei die von verschiedenen Krimino-
logen geforderte Trennung von Strafrecht und Kriminologie abzulehnen. Ein
solches Trennungsdenken stoße vor allem auch im Ausland auf Unverständ-
nis ... Die Gleichrangigkeit von Strafrecht und Kriminologie lege als Organi-
sationsform das Departmentsystem nahe ... Abschließend betonte der Insti-
tutsdirektor, der Stellenplan lasse erkennen, daß das Institut vorwiegend
sozialwissenschaftlichen Fragestellungen nachgehen wolle, die im Schwer-
punkt des Interesses für die Entwicklung des Strafrechts stündenss."

Würtenberger und überwiegend auch die anderen Mitglieder des


Kuratoriums unterstrichen diese Ausführungen. Die allenthalben offen-
kundigen· Lücken könnten mit den bestehenden Instituten nicht ge-
schlossen werden. Die Verwirklichung des geplanten Projektes lasse
auch erhoffen, daß es in Zukunft zu einer besseren Zusammenarbeit
staatlicher Stellen mit der Forschung kommen werde, wie sie sich be-
sonders in den USA, Kanada, Großbritannien und der Sowjetunion
bewährt habe. Der Weg über einen Sonderforschungsbereich der DFG
hingegen sei nicht erfolgversprechend. Damit sei keine Basis für eine
langfristige Großforschung erreichbar. Denn es fehlten die notwendi-
gen Voraussetzungen der Kontinuität und der Institutionalisierung. Im
übrigen sei die geplante sozialwissenschaftliche Orientierung einer kri-
minologischen Abteilung zu begrüßen37 •
Im Hinblick auf den Stand der Kriminologie in Deutschland bejahte
das Kuratorium unter Vorsitz von Staatssekretär Strauss die Notwen-
digkeit, einen Schwerpunkt für die kriminologische Forschung zu bil-
den, und sprach sich überwiegend für die Erweiterung des Max-
Planck-Instituts um eine selbständige kriminologische Abteilung ausM •
Wegen der verschiedentlich geäußerten Bedenken, die mit dem Aus-
bau der Kriminologie verbundenen wichtigen Aufgaben den Universi-

8B Protokoll der Sitzung des Kuratoriums des Max-Planck-Instituts am


26. Februar 1969, S. 7 - 10.
37 Brief Zweigerts an den Generalsekretär der MPG vom 25. März 1969.

38 Protokoll (Fn. 36), S. 16.


Kriminologie im Verbund gesamter Strafrechtswissenschaft 1045

täten zu entziehen, ließ Jescheck jedoch alsbald seinen Plan, das Institut
um eine "große Abteilung für Kriminologie" zu erweitern, fallen zu-
gunsten der Eventuallösung, dem Institut eine kleinere Abteilung für
Kriminologie anzugliedern3'.
Bei der Prüfung dieser Frage spielte vor allem eine Rolle, daß man es im
Ausland, vorwiegend in Amerika, nicht verstehe, daß sich ein Strafrechtler
mit der Auslegung von Strafgesetzen beschäftige, ohne kriminologische For-
schungen zu betreiben. Man habe es wiederholt erlebt, daß amerikanische
Gäste das Institut enttäuscht verlassen hätten, weil sie der Auffassung
gewesen seien, daß Strafrechtsvergleichung ohne Kriminologie undenkbar
sei. Denn in der Kritik wurde mitunter geäußert, daß sich die Freiburger
Forschungsarbeit zu wenig mit den grundlegenden Problemen und allzusehr
mit "alltäglichen" Fragestellungen beschäftige40 • Das im Umfang wesentlich
reduzierte Projekt wurde nunmehr im ganzen nicht nur als nützlich, sondern
für eine fruchtbare Arbeit des Instituts als schlechterdings nötig einge-
schätzt41 •
Mit Antrag an den Präsidenten der MPG vom 8. April 1969 sprach
sich Jescheck für eine "eingeschränkte Lösung für die Kriminologie"
im Rahmen des Freiburger Max-Planck-Instituts aus. Zur Begründung
verwies er darauf, daß abgesehen von der Förderung der Kriminologie
als solcher und um ihrer selbst willen es auch der Pflege der Krimi-
nologie als Ergänzung der Strafrechtswissenschaft bedürfe. Die etwai-
gen Gefahren einer Auswanderung der Forschung aus der Universität
suchte er dadurch zu entkräften, daß er auf die durch das Massenpro-
blem immer schwieriger werdende Lage der Universität verwies. In
einem solchen Rahmen sei es zweifelhaft, ob die Kriminologie wirklich
großzügig, wirkungsvoll und dauerhaft gefördert werde. Freilich
müsse man die Entwicklung abwarten, ehe man ein negatives Urteil
fällen dürfe, und man sollte nach zehn bis fünfzehn Jahren erst einmal
prüfen, was aus den bestehenden Plänen geworden seiu . Die Notwen-
digkeit aber, die Kriminologie als Ergänzung der Strafrechtswissen-
schaft gewissermaßen im Hause zu betreiben, werde durch die erwähn-
ten wissenschaftspolitischen Erwägungen nicht berührt. Demgemäß
ziele der Antrag auf die Verwirklichung der sogenannten "kleinen
Lösung".
Wie gut der Zeitpunkt gewählt und wie richtig die Entwicklung beurteilt
war, sollte sich alsbald zeigen. Treffsichere Lageeinschätzung, Flexibilität,
Augenmaß in der wissenschaftspolitischen Planung, persönliches Ansehen
Jeschecks und die "Gunst der Stunde" ermöglichten die Institutionalisierung

3' Schreiben Jeschecks an den Präsidenten der MPG vom 8. April 1969,
S.3.
40 So die Kritik von Riegert, The Max-Planck-Institute for Foreign and
International Criminal Law, The American Journal of Comparative Law 16
(1968),247 - 257, 257.
41 So Zweigert (Fn. 37).
41 So der Antrag Jeschecks vom 8. April 1969, S. 3.
1046 Günther Kaiser

kriminologischer Forschung am Freiburger MPI, ein wohl unwiederholbarer


Vorgang, der - hätte man zehn oder fünfzehn Jahre zugewartet - kaum noch
zu dem erstrebten Erfolg geführt hätte.
Die späteren Nöte der Universitäten sind nur allzusehr bekannt. Sie wur-
den, soweit es um die kriminologische Forschung geht, durch die Sachbei-
hilfen der Deutschen Forschungsgemeinschaft nur teilweise gemildert. Der
Sonderforschungsbereich Kriminologie in Tübingen wurde bereits 1973 nicht
mehr von der DFG gefördert43 , und um die Einrichtung einer Kriminologi-
schen Zentralstelle der Justizverwaltungen wird - selbst als viel bespöttel-
tes Rumpfgebilde - noch immer gestritten". Einzig die Gründung des
Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen in Hannover durch die
Initiative des damaligen Justizministers Schwind im Jahr 1980 ist auf der
Habenseite unabhängiger kriminologischer Institutionalisierung zu verbu-
chenu und ferner die über ein Jahrzehnt sich erstreckenden Impulse des
DFG-Schwerpunktes "Empirische Kriminologie"'8. So wird verständlich,
wenn der Wissenschafts rat das Bedürfnis nach Institutionalisierung krimi-

43 Vgl. DFG: Tätigkeitsbericht 1972, S. 140; 1973, S. 110; siehe ferner die
Stellungnahme des Wissenschaftsrates (Fn. 31), S. 39.
" Vgl. Brusten, Staatliche Institutionalisierung kriminologischer For-
schung. Perspektiven und Probleme, in: Perspektiven und Probleme krimi-
nologischer Forschung, hrsg. v. Kury, 1981, S. 135 - 182, 142, 168; ders.: Politik
und Praxis der kriminologischen Forschung. Anmerkungen zu einer AJK-
Podiumsdiskussion in Bremen, KrimJ 12 (1980), S. 69 - 74, 69; ferner Stein-
hilper, Öffnet sich die Praxis der Strafvollzugsforschung?, in: Problematik
des Strafvollzugs und Jugendkriminalität. Arbeitstagung der Deutschen
Kriminologischen Gesellschaft am 26. Juni 1982 in Frankfurt, 1984, S. 57 - 62, 60.
U Vgl. Kury, Das kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen e. V.
und sein Forschungsprogramm, in: Perspektiven und Probleme kriminolo-
gischer Forschung, hrsg. v. Kury. 1981, S. 33 - 79, 5I.
In seiner Stellungnahme vom 11. Mai 1984 führt der Wissenschajtsrat dazu
kennzeichnend folgendes aus: "Der große Bedarf an kriminologischen For-
schungsergebnissen kann nicht ohne Forschungseinrichtungen befriedigt wer-
den, an denen langfristig angelegte, empirische Untersuchungen in Zusam-
menarbeit von Forschern verschiedener Disziplinen durchgeführt werden
können. Nach Auffassung des Wissenschaftsrates ist die Schaffung entspre-
chender Einrichtungen in den Universitäten sowohl dringend erwünscht als
auch möglich ... De facto sind jedoch unter den gegenwärtigen Verhältnissen
solche Einrichtungen für kriminologische Forschung in den Universitäten
nicht vorhanden. Die kriminologischen Institute der juristischen Fakultäten
sind in aller Regel weder mit PersonalsteIlen noch mit Sachmitteln hinrei-
chend ausgestattet, um anspruchsvolle empirische Forschung mit hinreichen-
der Kontinuität betreiben zu können. Zudem stößt innerhalb einer juristi-
schen Fakultät interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Sozialwissen-
schaftlern nicht selten auf Skepsis oder Widerstand derjenigen, deren Ar-
beitsweise überwiegend normativ-exegetisch bestimmt ist. Schließlich steht
einer angemessenen Ausstattung der Kriminologie für empirische Forschung
auch die Notwendigkeit entgegen, die knappen Ressourcen der juristischen
Fakultäten auf die Ausbildung unter den Bedingungen der ,überlast' zu kon-
zentrieren. Der Wissenschaftsrat hält diese Sachlage für unbefriedigend. Er
sieht jedoch wenig Chancen, daß in den Universitäten kurzfristig durch-
greifende Verbesserungen erreicht werden können. Auch die behördennahen
außeruniversitären Institute können allein den Bedarf an Forschungs-
erkenntnissen nicht decken" (S. 25 f.).
48 Vgl. DFG: Tätigkeitsbericht 1968, S.82; im Jahre 1979 wurde die "Em-
pirische Sanktionsforschung" als neues Schwerpunktprogramm aufgenom-
men, vgl. Tätigkeitsbericht 1979, S. 52.
Kriminologie im Verbund gesamter Strafrechtswissenschaft 1047

nologischer Forschung erneut bejaht hat, obschon seine Stellungnahme nicht


erkennen läßt, ob er sich ein umfassendes Bild von der gegenwärtigen
kriminologischen Forschungslage im Bundesgebiet verschafft hat.
Im Juni 1969 befaßte sich der Verwaltungsrat der Max-Planck-
Gesellschaft mit dem Antrag Jeschecks zur Erweiterung des Freibur-
ger Max-Planck-Instituts um das Forschungsgebiet der Kriminologie
und stimmte grundsätzlich dem beabsichtigten Plan ZU47 • Anfang 1971
sollte die Arbeitsgruppe bereits mit einem empirischen Forschungs-
vorhaben ihre Tätigkeit aufnehmen können. Im Rahmen der späteren
Verhandlungen sollte auch darüber beraten werden, ob für die Krimi-
nologische Arbeitsgruppe ein weiteres Wissenschaftliches Mitglied an
dem Freiburger MPI vorgesehen werden sollte48 • Im folgenden Novem-
ber stimmte dann der Verwaltungsrat der MPG grundsätzlich dem An-
trag zu, für die Arbeitsgruppe Kriminologie ein Wissenschaftliches Mit-
glied vorzusehen. Mit dem Berufungsverfahren wurde die Geisteswis-
senschaftliche Sektion der MPG befaßt4l • Nachdem die zuständigen Gre-
mien der Max-Planck-Gesellschaft der Einrichtung einer kriminologi-
schen Arbeitsgruppe zugestimmt hatten, wurde schon im Sommer 1970
mit dem Entwurf des Forschungsprogramms und den ersten Schritten
zum organisatorischen Aufbau der Arbeitsgruppe, die aus acht Wissen-
schaftlern bestehen sollte, begonnenllO •

IV.
Das Konzept kriminologischer Forschung wurde vor allem durch die
als notwendig erkannte vergleichende Untersuchung beeinflußt. Wie
bei der Strafrechtsvergleichung verspricht auch in der Kriminologie
die komparative Analyse gesteigerte Erkenntnis. Durch Auseinander-
setzung mit überlegenen Methoden, Untersuchungsansätzen und
Schwerpunkten sowie den Befunden der Forscher anderer Länder wird
oftmals die begrenzte Perspektive des eigenen Vorhabens deutlich.
Dementsprechend haben internationale Impulse auch bei der krimino-
logischen Forschungstätigkeit am MPI ihren Ausdruck gefunden.
Die Kriminologie ist aufgrund ihres pluralistischen Systems und wegen
der Komplexität ihres Untersuchungsgegenstandes für neue Strömungen
überdies besonders offen und empfänglich. Dies wird auch durch ihre Wis-
senschaftsgeschichte belegt, wonach neue Konzeptionen wiederholt gefordert,
vermutet und beschrieben worden sind51 • Dabei ist bekanntlich die Entwick-
47 Schreiben des Präsidenten der MPG vom 3. Juni 1969.
48 Schreiben des Präsidenten der MPG vom 21. August 1969.
4D Schreiben des Präsidenten der MPG vom 9. Dezember 1969.
50 Dazu Kaiser, Probleme, Aufgaben und Strategie kriminologischer For~
schung heute, ZStW 83 (1971), S. 881 - 910, 895 ff.
51 Kaiser, Kriminologie. Eine Einführung in die Grundlagen, 6. Auft. 1983,
S. 2 f.; ferner Sack, Neue Perspektiven in der Kriminologie, in: Kriminal-
soziologie, hrsg. v. Sack und Knnig, 1968, S. 431 - 475.
1048 Günther Kaiser

lung der Kriminologie auch in der Bundesrepublik während der letzten ein-
einhalb Jahrzehnte durch die zunehmende Beteiligung von Sozialwissen-
schaftlern an kriminologischer Forschung und Theoriebildung deutlich mit-
bestimmt52• Die ehemals weitgehend in den Händen von Juristen und
Psychiatern liegende kriminologische Forschung und die Praxisbedürfnissen
folgende Täterorientierung wurden daher zunehmend auf dem Hintergrund
sozial wissenschaftlichen Erkenntniswandels kritisiert. Außerdem dürfte für
Stellung, Selbst- und Fremdverständnis der Kriminologie auch die Auf-
nahme dieser Disziplin als Wahlfach innerhalb der Juristenausbildung von
Bedeutung sein6S •
Ist die Frage nach dem wissenschaftlichen Konzept empirischer Forschung
noch im Fluß, so birgt jedes kritiklose Sichverschreiben für einen theo-
retischen Ansatz die Gefahr der einseitigen Begrenzung. Freilich: wenn die
Kriminologie eine Wissenschaft sein will, muß sie auch die verschiedenen
Verbrechensfaktoren in einen theoretischen Erklärungszusammenhang stel-
len können, der angibt, wann das Auftreten von Verbrechensfaktoren Krimi-
nalität zur Folge hat und umgekehrt auch zu benennen weiß, welche Bedin-
gungen normkonformes Verhalten nach sich ziehen. Eine derartige Erklärung
soll einer allgemeinen Theorie menschlichen Verhaltens entstammen, wobei
nur die kriminovalenten Bedingungen und Prozesse spezifisch sind. Eine
solche Theorie könnte die kriminologische Forschung vereinfachen, sie an-
regen, ihr die Richtung vermitteln und zudem einen überzeugenden Rahmen
zum Verständnis und für die Bedeutung des gesammelten Tatsachenwissens
geben. Dabei wird am ehesten eine Theorie von der unterschiedlichen
Sozialisation und Sozialkontrolle befriedigen. Denn sie vermag nicht nur
unterschiedliche Kriminalitätsbewegung, Werdegang des Rechtsbrechers,
Situation des Rechtsbruchs und soziales Reaktionsverhalten zu erklären,
sondern auch die Frage hinreichend zu beantworten, warum trotz soziostruk-
tureller Unterschiede der Großteil der Menschen überwiegend rechtskonform
handelt. Im übrigen ermöglicht sie die Begegnung mit der ihr entsprechenden
Straftheorie der Resozialisierung und positiven Generalprävention. Sie
schließt damit das Strafrecht nicht aus, sondern ein".
So war und ist die Zielsetzung empirischer Forschung am MPI im
wesentlichen durch vier Gesichtspunkte bestimmt55• Diese lassen sich
als internationale, nationale, institutionelle und forschungsökonomi-
sche Aspekte kennzeichnen.
Dabei meint international schon immer eine über die nationalen Grenzen
des Bundesgebiets hinausgreifende wissenschaftliche Orientierung sowie die
innige Fühlungnahme mit weltweiten Fragestellungen und Entwicklungs-
richtungen. Konkret gesprochen handelt es sich um die Frage, ob und unter
welchen Bedingungen das Strafrecht und seine Alternativen individuelle,
soziale und administrative Prozesse zu steuern vermögen und mit welcher
Wirkung.
Der nationale Aspekt bezieht sich auf die Lage empirischer KriminOlogie
im Bundesgebiet, insbesondere auf Lücken der Forschung, die durch andere
52 Kaiser (Fn. 51), S. 20 ff.
n Vgl. Heinz (Fn. 3); ferner Kaiser (Fn. 3).
6' Kaiser (Fn. 51), S. 207 ff.
15 Kaiser, Kriminologie am Max-Planck-Institut, in: Freiburger Universi-
tätsbIätter, hrsg. vom Rektorat, Heft 67, 1980, S.45 - 47, 45.
Kriminologie im Verbund gesamter Strafrechtswissenschaft 1049

Wissenschaftler nicht oder nicht ausreichend geschlossen werden können.


Dabei geht es nicht zuletzt um breiter angelegte Projekte, die sich an den
Einrichtungen der Universitäten kaum durchführen lassen.
Der institutionelle Aspekt hingegen betont die gemeinsamen Forschungs-
aufgaben des Freiburger MPI unter besonderer Berücksichtigung des inte-
grierten Vorgehens von Strafrechtsvergleichung und vergleichender Krimi-
nologie.
Der forschungsökonomische Aspekt will schließlich nichts anderes aus-
drücken, als daß man nicht mehr an Forschungen initiieren und betreiben
kann, als die personellen und sachlichen Mittel sowie die Kapazität und
Struktur dies zulassen.

Demgemäß wurde versucht, das Gesamtspe:k:trum von Verbrechen


und Verbrechenskontrolle zu erforschen. Konzeptuell waren und sind
dabei Fragestellungen sowie Theoriebruchstücke des labeling approach
(Definitions- oder Etikettierungsansatz), der differentiellen Sozialisa-
tions- und Kontrolltheorie leitend, ohne sich einem dieser Ansätze un-
kritisch zu verschreiben. Die Aufnahme der erwähnten Konzepte be-
ruhte zum Teil auf dem weltweiten Erkenntniswandel in den späten
sechziger Jahren mit der Blickschärfung für die Mechanismen und Pro-
zesse der strafrechtlichen Sozi~lkontrolle6'. Die Umsetzung dieser über-
legungen vollzog sich in der Planung und Durchführung empirisch an-
gelegter Einzelprojekte, dem spezifischen Tätigkeitsbereich der krimi-
nologischen Forschungsgruppe. Dabei folgte das Vorgehen einem mul-
tidisziplinären Ansatz, da - in der Fragestellung und Methodik -
Juristen, Psychologen, Soziologen und Statistiker zusammenarbeiteten.
Die Forschungsarbeit in den zwölf Jahren bis zur Emeritierung des
Jubilars 1983 um faßte im wesentlichen fünf größere Komplexe, näm-
lich Betriebsjustiz, Staatsanwaltschaft und Polizei, Geldstrafe und
Strafvollzug, Wirtschafts:k:riminalität sowie Dunkelfeld und Opferbe-
fragung67. Durch ergänzende empirische Forschung sollte die Wirklich-
keit des Rechts, die als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung
mitunter verloren gegangen war, in die strafrechtswissenschaftliche
Betrachtung zurückgeholt werden, ohne freilich die bewährten Mittel
und Grundsätze des Strafrechts preiszugeben. Immerhin hat das auf
Zusammenarbeit hin angelegte Konzept normativer und empirischer
Strafrechtsforschung an Bedeutung und Kraft gewonnen, als sich die
Kriminologie anschickte, Verbrechens- und Sanktionsdaten nicht nur
als vorgegebene, problemlose Fa:k:ten zu sehen, sondern sie in ihren
Enstehungsprozessen, ihrer Dynamik und ihren sozialen Folgen un-

68 Vgl. Kaiser, Strategien und Prozesse strafrechtlicher Sozialkontrolle,


1972.
67 Vgl. die zusammenfassende Darstellung in: Empirische Kriminologie.
Ein Jahrzehnt kriminOlogischer Forschung am Max-Planck-Institut Freiburg
i. Br., hrsg. v. der Forschungsgruppe Kriminologie, 1980, S. 512 f.
1050 Günther Kaiser

mittelbar zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Strafrechts-


vergleichung, vergleichende Kriminologie und weltweite Kriminalpoli-
tik sind damit aneinandergerückt.
Die empirische Forschung am MPI hat in den siebziger Jahren auch eine
beachtliche Reihe von Forschungsergebnissen erbracht58• Diese beziehen sich
z. B. auf den großen Umfang erfragter Kriminalität, der über die polizeilich
registrierten Straftaten zum Teil um das Mehrfache hinausreicht, wenn auch
vorwiegend im minderschweren Bereich; die hohe Opferbelastung im Jugend-
alter, selbst bei jugendlichen Delinquenten; den kumulativen Effekt von
primärem Konfliktpotential durch Sozialisationsmängel und Arbeitslosigkeit
einerseits sowie Straffälligkeit andererseits; auf die erhebliche Ausdehnung
privater Verbrechenskontrolle bei Bagatellfällen und durch sogenannte Be-
triebsjustiz; das bedeutsame Ausmaß und die Selektivität der Anzeige-
erstattung durch Privatpersonen; das faktisch erhebliche Beurteilungsver-
mögen der Polizei bei Verdacht vorsätzlicher Tötung; auf die umfangreiche,
wenn auch gleichförmige Einstellungspraxis der Staatsanwaltschaft; die über-
ragende Bedeutung der Geständnisbereitschaft verglichen mit den sozialen
Merkmalen des Beschuldigten für den Ausgang des strafprozessualen Vor-
verfahrens; die hohen Geschädigten- und Opferzahlen durch die schweren
Wirtschaftsstraftaten einzelner Täter und die äußerst lange Verfahrens dauer
bei derartigen Deliktskomplexen; den geringen Anstieg der Ersatzfreiheits-
strafe trotz erheblicher Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Geldstrafe
und schließlich die bessere Rechtstreue und Resozialisierung von sozialthera-
peutisch behandelten Strafgefangenen verglichen mit Personen von Kon-
trollgruppen des Regelvollzuges.

V.
Ist damit umrissen, was die empirische Arbeit am Freiburger Max-
Planck-Institut bis zum Ausscheiden Jeschecks der Habenseite zu rech-
~en darf, so fragt sic;h dennoch, ob und inwieweit sich die gesetzten
Erwartungen in dem Zwölfjahreszeitraum erfüllt haben. Obschon die
Kriminologie am Freiburger Max-Planck-Institut ursprünglich "nur
als Ergänzung" der strafrechtlichen Forschungstätigkeit gedacht war5O,
ist durch die Dynamik der Sache ein selbständiger Forschungsschwer-
punkt daraus geworden. Gleichwohl gerieten die auf Integration an-
gelegten gemeinsamen Aufgaben des Instituts nicht aus dem Blick, son-
dern dienten der erfahrungswissenschaftlichen Arbeit als Programm-
vorgabe und Ansporn.
Wie der bilanzierende Rückblick ferner zeigt, lassen sich allerdings
manche Schwierigkeiten und unterschiedlichen Akzente nicht verken-
nen80 • Schon eine übergreifende Theorie strafrechtlichen und krimino-
logischen Vorgehens ist (weltweit) nicht vorhanden. Auch befaßt sich

58 Kaiser, Bestandsaufnahme, Forschungsplanung und Ausblick auf die


achtziger Jahre, in: Empirische Kriminologie (Fn. 57), S. 503 - 510,503.
50 Jescheck (Fn. 7), S. 9.

80 Kaiser (Fn. 58), S. 504 f.


Kriminologie im Verbund gesamter Strafrechtswissenschaft 1051

Strafrechtsvergleichung mit der systematischen Gegenüberstellung von


strafjuristischen Problemlösungen verschiedener Rechtsordnungen.
Hingegen erblickt die vergleichende Kriminologie ihre Aufgabe vor
allem in der empirischen Analyse von Verbrechen und Verbrechens-
kontrolle sowie in der Erklärung rechtsbrechenden Verhaltens. Eine
solche Betrachtung schließt neben der Erforschung des Rechtsbrechers
auch die Opferanalyse ein sowie die empirische Untersuchung der Ver-
brechensverhütung und der Konsequenzen strafrechtlicher Sanktions-
praxis. Folglich mußte neben der Wahrnehmung gemeinsamer For-
schungsaufgaben auch noch genügend "Freiraum", Zeit und Kapazität
bleiben, um auf die empirische Arbeitsgruppe beschränkte Ziele durch
Projektforschung zu verfolgen. Beispiele boten die Dunkelfeldfor-
schung (Viktimisierung), die Anzeigeerstattung, ferner die schwere
Wirtschaftskriminalität und die Tötungsdelinquenz sowie die sozial-
therapeutische Behandlung81 • Allerdings lassen sich gerade in den Be-
reichen, die zunächst nur aus kriminologischer Perspektive bedeutsam
erschienen, Anhaltspunkte für ein mit zunehmendem Erfahrungswis-
sen beginnendes strafrechtliches Interesse am Problemfeld erkennen.
Dies gilt für die Opferforschung ebenso wie für die durch Dunkelfeld-
untersuchungen angeregten Auseinandersetzungen in Straf- und Straf-
verfahrensrecht. Diese Beispiele können als Hinweise dafür dienen,
daß Freiräume sowohl strafrechtlicher als auch kriminologischer For-
schung zur Entdeckung und Bearbeitung von Problemfeldern beider-
seitigen Interesses in erheblichem Maße beizutragen vermögen.
Haben sich die gegenüber der kriminologischen Forschungsarbeit
gehegten Erwartungen auch überwiegend erfüllt, und sind überdies
zusätzlich Projekte in das Arbeitsprogramm aufgenommen worden,
so läßt sich doch nicht übersehen, daß hinsichtlich einiger Forschungs-
aufgaben, die zu Beginn der siebziger Jahre geplant waren, ein Soll
zu verzeichnen ist.
Die als Begleitprojekte geplanten Vorhaben, soweit sie sich auf Schule,
Gemeinde, Bußgeldstelle und Bundeswehr als Institutionen der Verbrechens-
kontrolle beziehen sollten, ließen sich allein in Form von Dissertationen
nicht verwirklichen. Auch soweit Aspekte der Gemeinde und Schule als
Kontrollinstitutionen bereits in Hauptprojekte einbezogen wurden wie z. B.
in das umfassend angelegte Dunkelfeldprojekt, blieb die Verwirklichung der
Forschungsziele hinter der Forschungsplanung zurück.
Zudem wirkte sich der an sich erwünschte Wechsel der wissenschaftlichen
Mitarbeiter nach drei bis fünf Jahren auf den Abschluß einzelner Projekte
nachteilig aus. Die Gründe lagen darin, daß die verfügbare Zeit für Projekt-
planung, -durchführung und Niederschrift des Forschungsberichts oft nicht
ausreichte, und daher die ehemaligen Projektbetreuer von ihren neuen Posi-
tionen aus "nebenbei" die Vorhaben zu Ende führen und die Forschungs-

81 Kaiser (Fn. 58), S. 503.


1052 Günther Kaiser

berichte fertigstellen mußten, oder neue Mitarbeiter mit der Wahrnehmung


dieser Aufgaben zu betrauen waren82 •
Ferner äußerte sich der Qualifikationsdruck für die Forschungsassistenten
nicht durchweg günstig, insofern die an sich erwünschte gesunde Rivalität
unter den wissenschaftlichen Mitarbeitern die Durchführung von Gesamt-
projekten nicht stets förderte. Obwohl sich die Gruppenarbeit von Wissen-
schaftlern aus verschiedenen Disziplinen in der Planung, durch Inangriff-
nahme und Lösung kriminologischer Forschungsprobleme als fruchtbar er-
wiesen hat, haben die aus solcher Teamarbeit83 folgenden Schwierigkeiten
nicht sämtlich ausgeräumt oder befriedigend bewältigt werden können. Auch
wenn sich der Einzelforscher des Rückhalts einer Arbeitsgruppe versichern
kann, ist die angestrebte Integration stets von ihm und weithin auf sich
allein gestellt zu leisten. Interdisziplinarität ist daher nur Möglichkeit und
Aufgabe empirischer Forschung.
Schließlich behinderte bis zu Beginn der achtziger Jahre die begrenzte
Infrastruktur im EDV-Bereich den wachsenden Bedarf der Forschung, da
nur ein Kleinrechner verfügbar war. .

Allerdings ist nicht nur die Frage wichtig, ob sich die Erwartungen
erfüllt haben, und wo man gegebenenfalls hinter dem Arbeitspro-
gramm zurückgeblieben ist. Vielmehr wird man auch danach fragen,
welche konzeptionellen Wandlungen sich zwischenzeitlich ergeben ha-
ben, die man auf dem Erfahrungshintergrund der sechziger Jahre noch
nicht gekannt und auch nicht vorausgesehen hat. Wenn man die kri-
minologischen Forschungsprobleme und Streitpunkte im Situations-
vergleich der Jahre 1969 und 1984 betrachtet, so fällt auf, daß in der
Gegenwart die Forschung einige Fragen beschäftigen, die in den sech-
ziger Jahren noch weithin unbekannt waren oder nicht als dringlich
empfunden wurden.
- Zu ihnen zählen der Konflikt zwisChen .den verschiedenen erfahrungs-
wissenschaftlichen Disziplinen, der Streit zwischen traditioneller und kri-
tischer Kriminologie, die Verdächtigung praxisorientierter Forschung, der
Kampf um die Forschungsmittel, das Thema der sogenannten Staatskrimi-
nologie sowie forschungsbegrenzende Wirkungen des Datenschutzesu . Inhalt-
lich haben besonders Opferperspektiven, Anzeigeerstattung und Selektions-
probleme Bedeutung gewonnen, ferner methodische Probleme der Behand-
lungsforschung und Verbrechlmsverhütung, die Funktionen von Polizei und
Staatsanwaltschaft, die Öffnung des Strafvollzuges und die Entwicklung
gemeinnütziger Arbeit (community service) als Sanktionsalternative. Auch
Terrorismus, Demonstrationsgewalt, organisiertes Verbrechen, Wirtschafts-
und Umweltkriminalität gehören erst zu den neueren Erfahrungen, obgleich
es bereits vor Jahrzehnten oder in anderen Ländern vergleichbare Erschei-

S2 Kaiser (Fn. 58), S. 506.


81 Kaiser (Fn. 50), S. 896 ff.
s, Vgl. Kaiser (Fn.51), S.2 ff., 12 ff., 32 f., 14; ders.: "Biokriminologie" ,
"Staatskriminologie" und die Grenzen kriminologischer Forschungsfreiheit,
Festschrift für Leferenz, 1983, S. 47 - 68, 48 ff.; Berckhauer, Institutionen der
Kriminologie, in: Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 2. Aufl. 1984, S. 152
bis 156.
Kriminologie im Verbund gesamter Strafrechtswissenschaft 1053

nungen gegeben hat. Sinngemäß das gleiche trifft für die Abschätzung des
kriminogenen Potentials von wirtschaftlicher Krise und Arbeitslosigkeit zu
und für die veränderte Bedeutung der Ausländerkriminalität. Daraus er-
wachsen wiederum ganz neue Forschungsbedürfnisse. Auf der anderen Seite
erscheinen Strukturen der Dunkelfeldkriminalität anhand der verfügbaren
Methoden weithin geklärt. Weitergehende Einsichten lassen sich am ehesten
von Kohortenstudien erwarten, einem in Deutschland unverändert dring-
lichen Desiderat kriminologischer Forschung'l.,

VI.
Freilich hat es trotz nationaler88 und internationaler87 Zustimmung
zur empirischen Arbeit am Freiburger MPI auch an Kritik nicht ge-
fehlt". Fruchtbar und weiterführend haben sich vor allem die am MPI
regelmäßig stattfindenden Sitzungen von Kuratorium und Fachbeirat
sowie die wissenschaftlichen Kolloquien erwiesen. Diese dienen sowohl
der Vermittlung von Forschungsergebnissen und Erfahrungen an die
weitere wissenschaftliche Öffentlichkeit und an die Praxis wie auch
als Forum für Diskussion, Anregung und wissenschaftliche Kritikto • Die

tl Kaiser (Fn.58), S.510; ferner z. B. Lamnek, Die Bedeutung der Theorie


für die empirische Forschung in der Kriminologie, in: Methodologische Pro-
bleme in der kriniinologischen Forschungspraxis, hrsg. v. Kury, 1984, S.25
bis 93.
88 Vgl. etwa Müller-Dietz, MschrKrim 65 (1982), S.124, sowie Krimina-
listik 1982, S. 58, und Der Kriminalist 1981, S. 338.
17 Mannheim, Vergleichende Kriminologie, Bd.2, 1974, S.869; Johnson,
Vergleichende und angewandte Kriminologie am Max-Planck-Institut in
Freiburg. Aus der Sicht eines amerikanischen Wissenschaftlers, in: Max-
Planck-Gesellschaft. Berichte und Mitteilungen, Heft 5, 1980, S. 49 - 55 (unge-
kürzte englischsprachige Fassung unter dem Titel: Comparative and Applied
Criminology at the Max-Planck-Institute in Freiburg. International Journal
of Comparative and Applied Criminal Justice 3 (1979), S.131- 141); siehe
ferner die Nachweise bei Kaiser, Strategie, Aufgabe und Tätigkeit der krimi-
nologischen Forschungsgruppe in den siebziger Jahren (Fn.57), S.2 - 11, 4.
18 Vgl. Sack (Fn.5), S.225; Treiber (Fn.5), S. 124 ff.; Schumann (Fn.5),
S. 80 ff.; Brusten (Fn. 44), 1981, S. 150 f.
.. Dazu die veröffentlichten Diskussionsberichte von: Feest, Bericht über
das Kolloquium "Kriminologische Forschung in Deutschland und die empi-
rischen Untersuchungen am Max-Planck-Institut". ZStW 83 (1971), S. 1131 bis
1147; Metzger-Pregizer, Bericht über das Kolloquium "Betriebsjustiz". ZStW
85 (1973), S. 1154 - 1174; StejJen, Bericht über das Kolloquium "Staatsanwalt-
schaft". ZStW 87 (1975), S. 1063 - 1078; Albrecht, Bericht über das Kolloquium
"Die Erledigung von Wirtschaftsstrafsachen durch Staatsanwaltschaften und
Gerichte." ZStW 89 (1977), S. 1088 - 1102; ders.lVillmow, Die Vergleichung als
Methode der Strafrechtswissenschaft und der Kriminologie. MschrKrim 62
(1979), S. 163 - 170; Ortmann, Bericht über das Kolloquium "Junge Rechtsbre-
cher und ihre Behandlung: Sozialer Hintergrund, Persönlichkeit und Resozia-
lisierung bei jugendlichen und heranwachsenden Untersuchungshäftlingen".
ZStW 93 (1981), S. 360 - 364; Rosner, Bericht über das Kolloquium "Die Öffnung
des Vollzugs - Anspruch und Wirklichkeit". ZStW 94 (1982), S. 711 - 720; Ne-
mec, Bericht über das Kolloquium "Resozialisierung durch Sozialtherapie".
ZStW 96 (1984), S. 834 - 848.
1054 Günther Kaiser

vorliegenden acht Berichte darüber lassen erkennen, daß die krimi-


nologische Forschung am MPI sich von vornherein nicht stets nur der
Anerkennung und des ermutigenden Zuspruchs erfreuen durfte, son-
dern daß ihr gelegentlich auch "der Wind kräftig ins Gesicht blies"".
Aber dies war und ist prinzipiell gewollt und muß in der Wissenschaft
auch so sein, dient doch gerade die Kritik als ein Mittel zur Erkenntnis.
Allerdings hat kaum eine vergleichbare Arbeitsgruppe im krimino-
logisch-sozialwissenschaftlichen Bereich sich in dem letzten Jahrzehnt
der wissenschaftlichen Kritik so kontinuierlich, freimütig offen und
vielfältig gestellt sowie die Einwände jedermann zugänglich dokumen-
tiert wie die Forschungsgruppe Kriminologie am MPI. Dies wird als
Notwendigkeit bejaht und sollte deshalb nicht als Schwäche fehlinter-
pretiert werden. Doch sei nicht verschwiegen, daß es den mitunter
anderen Zielen und Spielregeln folgenden empirischen Forschern
manchmal schwerfällt, sich in gleicher Weise sowohl gegenüber Theore-
tikern und Praktikern als auch gegenüber Juristen und Erfahrungs-
wissenschaftlern zu rechtfertigen. Dieser gesteigerte Rechtfertigungs-
druck geht über die erwartbare Fähigkeit, wissenschaftliche Kritik
zu ertragen und möglichst fruchtbar zu verarbeiten, hinaus und ist von
grundsätzlicher Natur. Er rührt an die Frage, ob bei derart gelagerten
Begründungs-, Rechtfertigungs- und Kontrollmechanismen empirische
Forschung im Verbund des Strafrechts dauerhaft überhaupt möglich
ist. Die bisherigen Erfahrungen sprechen dafür. Dies will besagen:
empirische Untersuchung ist sinnvoll zu verwirklichen, solange nicht
nur die Kritik, sondern auch die Unabhängigkeit und der Freiraum
kriminologischer Forschung gewährleistet bleiben.
Daß es gerade hieran mangeln könnte, ist gelegentlich vermutet wor-
den. Kriminalsoziologen haben die Freiburger Forschungstätigkeit viel-
leicht gerade deshalb kritisiert. Die Einwände gegen eine "rein straf-
rechtlich geprägte Anwendungs- und Verwertungsorientierung" krimi-
nologischer Befunde hat am entschiedensten Sack formuliert.
Er meint, die Kriminologie habe sich mit "der ihr angesonnenen Funktion,
eine Hilfswissenschaft im Sinne strafrechtlicher Praxis und des das Straf-
recht prägenden Menschenbildes zu sein, mehr oder weniger widerstandslos
gefügt und damit gleichzeitig die Chance zu einer Grundlagenwissenschaft
vertan. Sie verfehlt damit strukturell die Errungenschaft institutioneller
Wissenschaftsautonomie, die gerade darin besteht, der Wissenschaft staats-
freie Räume der Betätigung zu sichern. Dieses ,wissenschaftliche' Selbstver-
ständnis der traditionellen Kriminologie wiegt um so schwerer, wenn die
Kriminologie darüber hinaus auch institutionell, organisatorisch und per-
sonell mit dem Recht verknüpft ist - in juristischen Fakultäten, in staat-

70 Kaiser, in den Begrüßungsworten zur Verabschiedung von H.-H. Jescheck


und zur Einführung von A. Eser, in: Max-Planck-Institut für ausländisches
und internationales Strafrecht Freiburg i. Br., 1983, S. 1 - 5, 4.
Kriminologie im Verbund gesämter Strafrechtswissenschaft 1055

lich oder von Beiräten kontrollierten und beaufsichtigten Institutionen von


Wissenschaft und Forschung, in Juristen-Kriminologen"71.
Eine derartige Außenperspektive der empirischen Forschung am MPI
ist zwar nicht verwunderlich, weil Kriminologie als interdisziplinär
verstandene Forschungsrichtung wegen der wechselnden Hegemonie-
ansprüche einzelner Disziplinen stets ein Wagnis bedeutet. Doch als
"Stein des Anstoßes" gilt die Strafrechtsorientierung und die vermeint-
liche legitimationswissenschaftliche Funktion zugunsten der Straf-
rechtsordnung. Mit anderen Worten entzündet sich die Kritik daran,
was Jescheck als Zwecklosigkeit oder Uferlosigkeit der Kriminologie
bezeichnet hat, falls das Strafrecht aus dem Blick gerate72 • Gibt aber
die Kriminologie durch Anlehnung oder "Anbindung" an das Straf-
recht ihre Unabhängigkeit auf? Wird sie gegebenenfalls dadurch "kor-
rumpiert", daß sie Gefahr läuft, ihren wissenschaftlichen Auftrag zu
"verraten"?
Obwohl die möglichen Gefahren, die sich mit zu weitgehender Identi-
fizierung mit dem geltenden Recht verbinden, nicht verkannt werden
sollen, scheinen die Einwände auf einem Mißverständnis zu beruhen.
Nicht nur "kritische Kriminologie" oder "Strafrechtssoziologie" werden
von institutioneller Wissenschaftsautonomie gedeckt, sondern auch
Strafrechtswissenschaft. Eine institutionelle, organisatorische oder per-
sonelle Verknüpfung mit der Rechtswissenschaft kann als solche noch
nicht bedenklich sein. Dies könnte allenfalls für eine weisungsgebun-
dene "Staatsforschung" zutreffen. Doch Freiraum und Unabhängigkeit
der Forschung sind nicht nur außerhalb des Verbundes gesamter Straf-
rechtswissenschaft möglich. Auch innerhalb dessen können Beobachtung
und wissenschaftliche Kritik gewährleistet sein, ohne an Legitimations-
auflagen gebunden zu werden. Projekte der kriminologischen For-
schungsgruppe zum Dunkelfeld und zur Viktimisierung, zur Betriebs-
justiz, zur polizeilichen Reaktion, zum staatsanwaltlichen Entschei-
dungsverhalten, zur schweren Wirtschaftskriminalität, zur Entwicklung
des Strafvollzugs und neuerdings zur Strafverfolgung beim Schwan-
gerschaftsabbruch widerlegen zumindest den pauschalen Vorwurf,
empirische Grundlagenforschung sei im strafrechtlichen Verbund un-
möglich. Erfahrungsgemäß bestehen weniger Gefahren für die Krimi-
nologie, den jeweiligen Status quo des Normensystems unkritisch zu
verteidigen, als vielmehr die aus ihrem Selbstverständnis folgende

Tl Sack, Kritische Kriminologie, in: Kleines Kriminologisches Wörterbuch.


2. Auti. 1984, S. 277 - 286; ders. (Fn.5), S. 205 ff., 218 ff.; gegen ihn wiederum
Kaiser, Strafrechtssoziologie - Dimension oder Partitur der Kriminologie? -
Kriminologie vor dem Tribunal kritisch-radikaler Devianzsoziologie, Mschr-
Krim 62 (1979), S. 50 - 62.
72 Jescheck (Fn. 7).
1056 Günther Kaiser

Tendenz, zur empirisch angereicherten Norminterpretation und zur


Verbesserung des herrschenden Systems anzusetzen. Vollständige Inte-
gration von Kriminologie und Strafrecht erschiene freilich ebenso
bedenklich wie totale Konfrontation mit dem Strafrecht. Nur insoweit,
als Kriminologen zur jeweiligen Rechtsordnung notwendig ein "gebro-
chenes" Verhältnis haben, da sie Rechtsnormen als soziale Tatsachen
sehen (müssen) - eine Gemeinsamkeit, die sie mit sozialwissenschaft-
lichen Disziplinen verbindet -, ist eine "Strategie des begrenzten
Konflikts" denkbar, wobei freilich der Konsens über die fundamenta-
len Rechtswerte der Gesellschaft nicht in Frage stehen muß. Diekri-
tisch-kriminologischen Ansätze hingegen bestreiten Möglichkeit und
Notwendigkeit zur Zusammenarbeit m.it dem Strafrecht; sie wenden
allerdings partiell verschämt den Blick beiseite, wenn andere gesell-
schaftliche Gruppen das Recht, namentlich das Strafrecht, zur Verfol-
gung vertretbarer Ziele nutzen wollen. Kriminalpolitisch erliegen sie
mit ihrer Kompetenz- und Verantwortungszuweisung an den einzelnen
Rechtsbrecher überdies der Gefahr, den Betroffenen zu überfordern,
und führen zur Vergeltungsdoktrin7S • Trotz der von ihnen favorisierten
Postulate nach Entkriminalisierung und Diversion lassen sie den Stüt-
zungsbedürftigen allein. Im übrigen darf Anlehnung und Begrenzung
durch das Strafrecht nicht als Hinweis oder Aufforderung zu treuer
Gefolgschaft mißverstanden werden. Vielmehr wird auf die Eingren-
zung des Forschungsgegenstandes auf Rechtsnormen, insbesondere auf
Strafrechtsnormen, . verwiesen. Ferner wird an die Strafrechtswissen-
schaft und Sozialwissenschaft sowie an die weit zurückliegende ge-
meinsame Fragestellung nach den Bedingungen gesellschaftlicher Ord-
JlUng erinnert. Hier treffen Fragen nach der Entstehung, der Handha-
bung von Rechtsnormen mit solchen zusammen, welche die Befolgung
von festgeschriebenen Erwartungen betreffen, mithin Fragen, die alle-
samt ein kritisches Verhältnis zu Strafrechtsnormen nicht ausschließen,
sondern nahelegen, Kritik teilweise zum Forschungsgegenstand selbst
zumachen.
Darüber hinaus vermutet die neuere Kritik an der MPI-Forschung
"personelle Verflechtungen" einer "arrivierten Kriminologenschaft"
gegenüber den dadurch vermeintlich weniger zum Zuge kommenden
"kritischen Kriminologen", ferner eine anscheinend "sehr ertragreiche
Zusammenarbeit mit dem BKA" oder "eine recht enge Kooperation
mit den Justizverwaltungen" , jedenfalls "eine enge Verzahnung mit
der staatlich institutionalisierten Kriminologie" und überdies eine
"Bevorzugung" der MPI-Forschung gegenüber anderen wissenschaft-

7S So die unausgesprochenen Konsequenzen des von Sack (Fn.71), 1984,


s. 280 f., entworfenen Menschenbildes in der Perspektive kritischer Krimi-
nologie.
Kriminologie im Verbund gesamter Strafrechtswissenschaft 1057

lichen Arbeitsgruppen74 • Hier wird mit anderen Worten die MPI-For-


schung nicht an Qualitätskriterien gemessen, sondern behauptet, daß
sie ausschließlich oder hauptsächlich aus personellen und staatsideo-
logischen Gründen gefördert worden sei. Eine derart realitätsblinde
Kritik ist nicht nur wegen fehlender Belege unbegründet, sondern auch
diffamierend, unterstellt sie doch den Prüfungsgremien der DFG und
anderer Einrichtungen eine unsachliche und unredliche Begutachtungs-
praxis. Allerdings wäre es für die freie Forschung äußerst gefährlich,
wenn die Durchführung wissenschaftlicher Arbeiten seitens des Staates
von Ideologie oder Etikettierung der Forschung insoweit abhängig ge-
macht würde, als nur Wissenschaftler bestimmter Forschungsrichtungen
Zugang zu den notwendigen Daten erhielten und bei der Vergabe von
Forschungsmitteln berücksichtigt würden, während·dies den Anhängern
kritischer Positionen aus ideologischen Gründen v~rwehrt bliebe. Je-
doch anzunehmen, daß die kriminologische Forschungsgruppe am MPI
in der Regel einen problemfreien Datenzugang hätte, erscheint gerade-
zu naiv. Gleichwohl kann nicht zweifelhaft sein, daß durch die Ver-
teilung der Forschungsmittel auch über Art und Inhalt der Forschung
entschieden wird. Soweit sich aber das MPI am pFG-Schwerpunkt
"EmpirisChe Kriminologie". beteiligt und um
Forschungsmittel bemüht
hat, ging es nie allein um den Zugang zu Forschungsmitteln, sondern
auch zugleich darum, sich mit Forscherkollegen gemeinsam um Res-
sourcen zu bewerben, sich mit ihnen zu messen und sich der Außen-
kritik zu stellen. Dabei mußten auch Rückschläge durch Ablehnungen
in Kauf genommen werden. Doch solchem Vorgehen liegt die über-
zeugung zugrunde, hauptsächlich auf diese Weise Mitarbeiter zu größe-
ren Forschungsleistungen herauszufordern und zu ermutigen, als es

7' Beste, Innere Sicherheit und Sozialforschung. Eine empirische Analyse


der Entwicklung kriminologischer Forschung und staatlicher Kontrollpolitik.
1983, S. 334 ff. Geht man von der von Berckhauer (Fn.64) Ende 1982 durch-
geführten Umfrage zum "Wissenschaftsbudget (Lehre unci Forschung) der Kri-
minologie in der Bundesrepublik Deutschland" aus, so gab es damals rd.
200 Planstellen bei einem Gesamtausgabevolumen von 13 Millionen DM.
Danach machte der Anteil der Forscb,ungsgruppe Kriminologie am J:dPI an
Stellen und Mitteln (Sach- und Personalmittel) etwa 10 Prozent aus. Was die
von Beste apostrophierte "ertragreiche Zusammenarbeit mit· dem· BKA" an-
betrifft, ist es hilfreich, sich vor Augen zu führßll, daß. der Förderungsanteil
des BKA an den Gesamtausgaben kriminologischer Forschung am MPI Wäh-
rend der letzten fünfzehn Jahre kaum 1 Prozent beträgt!
Zur kriminologischen Forschungslage in den siebziger Jahren im Bundes-
gebiet ganz allgemein Göppinger (Fn.4, S.35) und Kaiser (Fn. I, S. 67 ff.);
von Alemann, Sozialwissenschaftliche ForschungsinstitUte, 1981, S. 176 - 181;
Reuband, Soziale Probleme und soziale Kontrolle· alS· Gegenstand empirischer
Sozialforschung, in: Soziale PrObleme und soziale Kontrolle, hrsg. v. Albrecht
u. a. 1982, S. 288 - 312; Beste a.a.O., S. 287 f. Auch danach ergibt sich kein
wesentlich anderes Bild. Immerhin widtneten sich im Jahr 1974 weniger als
ein Zehntel von mehr als 400 befragten sozialwissenschaftlichen Forschungs-
instituten vor allem oder auch kriminologischen Fragestellungen.

67 Festschrift für H.-H. Jescheck


1058 Günther Kaiser

sonst der Fall wäre. Dies freilich ist eine völlig andere Forschungsstra-
tegie, als es manche Forschungskritik ideologisch vordergründig ver-
mutet.
VII.
Versucht man heute eine Zwischenbilanz des mit Aufnahme der em-
pirischen Forschungstätigkeit im Jahre 1970 am Freiburger MPI begon-
nenen Experiments "Kriminologie im Verbund gesamter Strafrechts-
wissenschaft" , so erscheinen die bisherigen Ergebnisse als fruchtbar und
die institutionellen Erfahrungen als ermutigend.
Zunächst war es von JescheCk richtig erkannt und vorausgesehen
worden, daß die Universitäten im Laufe der siebziger und achtziger
Jahre aufgrund des gewaltigen Ansturms der Studenten und des "Mas-
senbetriebes" kaum noch in der Lage sein könnten, größere Kapazitä-
ten für die kriminologische Forschung frei zu machen oder zu ent-
wickeln. Aber auch unabhängig davon zeigt das Schicksal der sogenann-
ten "Kriminologischen Zentralstelle" der Justizverwaltungen oder die
Entwicklung des Kriminologischen Dienstes im Strafvollzug die Schwie-
rigkeit, empirische Forschung in Zeiten knapper Haushaltsmittel einzu-
richten und zu betreiben. Selbst die Anfang der siebziger Jahre mit
großen Hoffnungen gegründete Arbeitsgruppe am Bundeskriminalamt
für kriminologisch-kriminalistische Forschung hat inzwischen erhebli-
che finanzielle Einschränkungen hinnehmen müssen.
Soweit man die Frage danach stellt, ob das Freiburger Experiment
"geglückt" ist und sich im ganzen bewährt hat, wird man sich der
AuffEl,sf!ung de~_ .Tubilars anschließen dürfen. Denn durch das Konzept
"Strafrecht und Kriminologie unter einem Dach"75 wurde die aus-
schließlich theoretische Betrachtungsweise des Strafrechts verlassen
und die Rechtswirklichkeit mit einbezogen. Auf der anderen Seite
wurde durch die bewußt empirische Orientierung dafür gesorgt, daß
sich die Kriminologie am MPI nicht in bloßer Spekulation am Schreib-
tisch erschöpfte, sondern vor allem durch Primärforschung die Annah-
men über das Strafrecht in der Wirklichkeit zu überprüfen suchte.
Zwar dienten Normen des materiellen Strafrechts, des Strafverfahrens-
rechts und des Strafvollzugsrechts stets als Ausgangs- und Bezugs-
punkt der empirischen Untersuchung. Aber dadurch wurde kriminolo-
gische Reflektion am MPI nicht eingeengt oder gar "an die Kette ge-
legt", es sei denn durch legitime wissenschaftsimmanente Kritik. Eine
solche ist aber notwendig, um leichtfüßige und allzu eingängige An-
nahmen anhand von Tatsachenwissen zu überprüfen, nicht jedoch um
kriminologische Phantasie zu ersticken.

75 Jescheck, Rückblick und Ausblick, in: (Fn. 70), S. 19.


Kriminologie im Verbund gesamter Strafrechtswissenschaft 1059

Gleichwohl bleibt die Kriminologie im Verbund gesamter Straf-


rechtswissenschaft auch weiterhin ein Experiment. Denn zu kurz
ist ihre bisherige Geschichte und zu verschieden sind die Denk- und
Vorgehensweisen VOn Juristen und Kriminologen. Aber daraus erwach-
sen auch die Anziehungskraft der Aufgabe und das beglückende Erleb-
nis seiner Bewältigung, die zudem immer erneut versucht werden muß.
Dem steht nicht entgegen, daß die Fortentwicklung der Kriminologie
nur durch Forschungspluralismus und institutionalisierte Kritik sicher-
gestellt werden kann. Doch auch das ändert nichts daran, daß Krimi-
nologie im Verbund gesamter Strafrechtswissenschaft eine notwen-
dige Aufgabe bleibt. Wie die Erfahrung zeigt, ist sie auch zu verwirk-
lichen.
JOSEF KüRZINGER

Der kriminelle Mensch -.


Ausgangspunkt oder Ziel empirischer
kriminologischer Forschung?

1.
Hans-Heinrich Jescheck hat in seiner bedeutsamen Rede zum Ver-
hältnis von Kriminologie und Strafrechtt auf die Interdependenz bei-
der Disziplinen hingewiesen und dabei vor allem dargelegt, daß - wie
er es später! in einer prägnanten Formel ausdrü~te - Strafrecht ohne
Kriminologie blind, Kriminologie ohne Strafrecht aber uferlos sei3 •
Freilich ist der Zusammenhang beider Disziplinen nicht allein damit zu
begründen, daß man sich ihr eigentliches Ziel vor Augen führt: bei-
zutragen zu einer gerechteren Regelung der Reaktion der Gesellschaft
auf das Verbrechen, denn nach Jescheck steht, wie der Titel seiner
gesammelten Aufsätze zutreffend sein wissenschaftliches Bemühen
widerspiegelt, (auch) das Strafrecht "im Dienste der Gemeinschaft"'.
Deshalb ist eine rationale Kriminalpolitik ohne ausreichende krimi-
nologische Vorarbeit nicht möglich5 • "Die Frage, wie das Strafrecht
eingerichtet werden soll, um dem Rechtsfrieden und der öffentlichen
Sicherheit am besten dienen zu können, ist zunächst einmal eine Frage
der Zweckmäßigkeit, und mit welchen Mitteln die Zwecke des Straf-
rechts am besten erreicht werden können, sagt uns die Kriminologieo."
Im Mittelpunkt des Interesses sowohl des Strafrechts als auch der
Kriminologie7 steht der straffällige Mensch, der "Kriminelle". Ist für

1 Jescheck, Strafrecht und Kriminologie- unter einem Dach, Freiburger


Universitätsblätter 1980, Heft 67, S. 39 - 43.
2 Jescheck, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales
Strafrecht, Freiburg 1. Br., herausgegeben von der Generalverwaltung der
Max-Planck-Gesellschaft, Heft.5, 1980, S. 9.
a Jescheck (Fn. 2), S. 9.
4 So der Titel der 1980 von Vogler herausgegebenen Sammlung von Schrif-
ten Hans-Heinrich Jeschecks.
5 Jescheck (Fn. 1), S. 41.

8 Jescheck (Fn. 1), S. 41 f.

7 Vgl. dazu für die Kriminologie etwa Fijnaut, Die Fiktion einer integrier-
ten Strafrechtswissenschaft gegen Ende_ des vergangenen Jahrhundl;!rts, ZStW
1062 J osef Kürzinger

das Strafrecht vor allem bedeutsam, ihm in den Rechtsfolgen gerecht


zu werden, so versucht die Kriminologie, sich ein Bild davon zu
machen, wer der Kriminelle ist und wie es zu seiner Tat kam. Krimi-
nologie ist deswegen traditionell immer auch Ursachenforschung8 • Seit
es eine sich erfahrungswissenschaftlich verstehende Kriminologie gibt,
stehen im Mittelpunkt Kriminalphänomenologie und Kriminalätiolo-
gie 9 , wobei zwar für beide Bereiche besondere methodische Probleme
bestehen, doch sich die entscheidende Frage bei der Kriminalätiologie
stellt, die die Ursachen des Verbrechens erhellen will. Da sinnvoller..!
weise eine Ursachenforschung, die über das Deskriptive hinausgeht,
sich gerade dadurch ausz~ichnet, daß sie den Kriminellen mit dem
Nichtkriminellen vergleicht, bestand von Anfang an für die empirische
Forschung die Notwendigkeit der Suche nach dem "richtigen" For-
schungsgegenstand, die zutreffende Unterscheidung von Kriminellen
und Nichtkriminellen. Obwqhl das Dunkelfeldbereits im letzten Jahr-
hundert in der Kriminologie thematisiert wurde, ist es erstaunlich, daß
diese entscheidende Problematik für die empirische Forschung lange
nicht gesehen wurde. Dies lag vor allem daran, daß man ursprünglich
die Frage des Dunkelfeldes allein vom Standpunkt der Quantität aus
betrachtete: zwar würden wir nicht inne, wieviel Verbrechen und Ver-
brecher es tatsächlich gibt, doch hinge es vom (willkürlichen) Zufall
ab, ob jemand als Verbrecher identifiziert werde oder nicht 1o • Für die
Vertreter dieser Position war es ein leichtes, die methodische Frage
nach dem "richtigen" Untersuchungsgegenstand bei den registrierten
Tätern zu vernachlässigen, wobei freilich auch hier nur ein Aspekt
des Dunkelfeldes angesprochen ist. Auch wenn die Selektion dem "Zu-
fal~ überlassen wäre, was, wie näher auszuführen ist, keineswegs
zutrifItII, so bliebe für die Abgrenzung zwischen Kriminellen und
Nichtkriminellen immer noch die Problematik bestehen, daß wir für
einen Vergleich Kriminelle von Nichtkriminellen nicht unterscheiden
können.

96 (1984), S. 135 - 171; Lange, Die Entwicklung der Kriminologie im Spiegel


der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, ZStW 93 (1981),
S. 151 - 198; Schöch, Das Marburger Programm aus der Sicht der modernen
Kriminologie, ZStW 94 (1982), S. 864 - 887.
8 Vgl. etwa Baratta, Strafrechtsdogmatik und Kriminologie, ZStW 92
(1980), S. 107 - 142.
9 Kritisch dazu Kaiser, Kriminologie. Ein Lehrbuch, 1980, S. 20.
10 Vgl. von Mayr, Statistik der Gerichtlichen Polizei im Königreich Bayern
und in einigen anderen Ländern, 1867, S. 1.
11 Dies ist heute, unabhängig von der jeweiligen kriminaltheoretischen
Position der Autoren, auch nicht mehr im Streit. Zusammenfassend zum
Dunkelfeld vgl. etwa Müller, Dunkelfeldforschung - ein verläßlicher Indi-
kator der Kriminalität? Darstellung, Analyse und Kritik des internationalen
Forschungsstandes, Jur. Diss. Freiburg i. Br., 1978.
Der kriminelle Mensch 1063

Für eine empirische Erforschung der Kriminalitätsursachen ergeben


sich aus den genannten Problemen eine Reihe von Fragen, die hier
näher betrachtet werden sollen. Es soll danach gefragt werden, ob eine
Kriminalätiologie im traditionellen Sinne an identifizierten Kriminel-
len Persönlichkeitsmerkmale zutreffend untersuchen kann, ob eine
Vergleichsuntersuchung von Kriminellen mit Nichtkriminellen möglich
ist und schließlich, welche Auswirkungen es auf das weitere For-
schungsvorgehen in der Kriminologie haben muß, wenn sich ergeben
sollte, daß die beiden ersten Fragen zu verneinen sind.

11.
Die Feststellung von Ursachen der Kriminalität in Untersuchungen
an (identifizierten) Kriminellen gehört zu den herkömmlichen Vor-
haben empirischer Forschung. Erst in jüngster Zeit haben hier, worauf
noch einzugehen ist, der labeling approach und auch andere Defini-
tionsansätze die Problematik anders gesehenl!. Wenn es richtig ist, daß
durch die Untersuchung an registrierten Kriminellen der Kriminelle
methodisch zuverlässig erfaßt werden kann, dann ist eine erste Vor-
aussetzung, daß wir bei der Registrierung der Täter, wenn schon nicht
alle Straftäter, so doch zumindest eine zufällige Auswahl von ihnen
erfassen können. Es ist aber inzwischen eine gut abgesicherte Erkennt-
nis, daß sich nicht sagen läßt, am Ende des Prozesses der Identifizierung
von Straftätern stünde eine zufällige Auswahl aller strafrechtlich Auf-
fälligen l3 •
Die Beachtung, die das Dunkelfeld in der Kriminologie gefunden
hat, ist nicht frei von Merkwürdigkeiten. Zwar war schon spätestens
seit Quetelet (1846)14 bekannt, daß keineswegs alle Straftäter, ebenso
wie alle Straftaten, auch bei den staatlichen Stellen bekannt werden,
doch zog man sich, um darzulegen, daß mit dieser Feststellung nicht
auch ein Problem entstand, auf die unbewiesene Feststellung zurück,
die Auswahl der registrierten Taten und Täter unterliege allein dem
"Zufall". Wäre dies richtig (gewesen), dann hätte sich freilich sagen
lassen, daß es sich bei den identifizierten Tätern um solche handelt,
die für die Gesamtheit der Kriminellen repräsentativ sind, daß also,
methodisch gesprochen, eine richtige Stichprobe zur Verfügung stand.
Jedoch konnte selbst beim damaligen Wissensstand nicht ernsthaft

12 Zum labeling approach ausführlich etwa Rüther, Abweichendes Verhal-


ten und labeling approach, 1975, und Lamnek, Kriminalitätstheorien - kri-
tisch. Anomie und Labeling im Vergleich, 1977, dort vor allem S. 70 ff.
13 Vgl. etwa Blankenburg/Sessar/StetJen, Die Staatsanwaltschaft im Pro-
zeß strafrechtlicher Sozialkontrolle, 1978, S. 324 ff.
14 Quetelet, Lettres sur la theorie des probabilites, appliquee aux sciences
morales et politiques, 1846.
1064 J osef Kürzinger

die Auffassung von einer zufälligen Auslese der Straftäter vertreten


werden. Schon die Schätzungen zum Dunkelfeld, wie sie etwa di~
Arbeiten von Meyer 1941, Wehner 1957 und vonHentig 1964 enthal-
ten l5 , machten deutlich, daß ein ziel gerichteter Selektionsprozeß statt-
findet, dessen Determinanten allerdings noch (weitgehend) unbekannt
waren. Inzwischen sind, unter dem Einfluß auch des labeling ap-
proach, der den Selektionsprozeß der Kriminalisierung in den Mittel-
pUIikt stellt, so viele empirische Ergebnisse zum Selektionsprozeß auch
für die Bundesrepublik Deutschland vorgelegt worden, daß sich Aus-
maß und Richtung dieses Prozesses einigermaßen bestimmen lassen
und uns zeigen, wer am Ende dieses Prozesses schließlich als Krimi-
neller identifiziert wird. Wir wissen inzwischen, daß die Selektion
keineswegs "zufällig" ist, und daß sie auf jeder Stufe des Kriminali-
sierungsprozesses16 stattfindet: beim Verbrechensopfer und Anzeige-
erstatter, bei der Polizei und Staatsanwaltschaft, beim Gericht und
schließlich - hinsichtlich der Verurteilung zu Freiheitsstrafe, wobei
diese Sanktion insofern hier besonders interessiert, weil nicht wenige
Untersuchungen als Stichprobe für "die" Kriminellen gerade Straf-
gefangene aussuchen - beim Strafvollzug.

111.
Kriminalität stellt für den Durchschnittsbürger ein relativ seltenes
Lebensereignis dar. Folgt man den Ergebnissen der Dunkelfeldunter-
suchungen17 , so kann man sagen, daß in der Bundesrepublik Deutsch-
land im Durchschnitt jeder Bewohner etwa einmal im Jahr damit zu
rechnen hat, Opfer einer Straftat zu werden, wobei diese Wahrschein-
liClikeit je nach der Lebenssituation und· ·Person geringer oder größer
ist l8 • Dieser Feststellung entspricht auch die Tatsache, daß die Verbre-
chensfurcht der Bevölkerung nicht überaus ausgeprägt erschein tU. Der

15 K. Meyer, Die unbestraften Verbrechen. Eine Untersuchung über die


sog. Dunkelziffer in der deutschen Kriminalstatistik, 1941; Wehner, Die La-
tenz der Straftaten (Die nicht entdeckte Kriminalität), 1957; von Hentig, Die
unbekannte Straftat, 1964.
IS Der Ausdruck "Kriminalisierungsprozeß" meint hier allein den Prozeß
des Ablaufs der Strafverfolgung; andere inhaltliche Aussagen sind mit der
Benutzung des Begriffes nicht intendiert.
17 Ausführliche Ergebnisse der Dunkelfelduntersuchungen wurden zuletzt
mitgeteilt in VillmowlStephan (unter Mitarbeit von Arnold), Jugendkrimi-
nalität in einer Gemeinde. Eine Analyse erfaßter Delinquenz und Viktimi-
sierung sowie amtlicher Registrierung, 1983, S. 12 ff.
18 Kerner, Kriminalitätseinschätzung und Innere Sicherheit. Eine Unter-
suchung über die Beurteilung der Sicherheitslage und über das Sicherheits-
gefühl in der Bundesrepublik Deutschland, mit vergleichenden Betrachtun-
gen zur Situation im Ausland, 1980, S. 57.
U Kerner (Fn. 18), S.-151; vgl. auch Kürzinger, Private Strafanzeige und
polizeiliche Reaktion, 1978, S. 23 f.
Der kriminelle Mensch 1065

Umstand, daß in einzelnen Untersuchungen von der Bevölkerung eirie


deutliche Verbrechensfurcht geäußert zu werden scheint20 , ist eher ein
Artefakt des angewendeten methodischen Vorgehens als ein empirisch
begründetes Ergebnis individueller Einschätzung des persönlichen Ver-
brechensrisikos21 • Man kann daher als sicher ansehen, daß die. Bevöl-
kerung ein eher emotionsfreies Verhältnis zur Kriminalität zeigt und
deswegen weitgehend die von ihr wahrgenommene weniger intensive
Kriminalität nicht den staatlichen Instanzen meldet. Das Anzeigever-
halten der Bevölkerung erfaßt daher nur Bruchteile der wirklich be-
kanntgewordenen Kriminalität!!. Ist dies aber so, dann wird ein weiter
Bereich der Täter (die die Polizei an sich hätte ermitteln können)
überhaupt nicht offiziell als kriminell erkannt. Bestimmender Grund
für den Anstoß zur Strafverfolgung ist offenbar die Schwere der Tat.
Erwartungsgemäß wird der Verzicht auf eine Strafanzeige~ vor
allem damit begründet, daß es sich wegen des zu geringen Schadens
nicht lohne, die Polizei einzuschalten, aber auch, daß eine Strafver-
folgung nicht als effizient angesehen wird. Das wirkliche Ausmaß der
Selektion bei (entdeckten) Straftätern mag daraus ersehen werden,
daß nach offenbar zutreffenden Ergebnissen der Dunkelfeldunter-
suchung derzeit in der: Bundesrepublik Deutschland mit jährlich etwa
30 bis 40 Millionen Tätern der sogenannten klassischen Kriminalität
zu rechnen ist, daß aber gerade noch 460000, demnach nur rund 10 %,
tatsächlich verurteilt werdenu. Somit ist die Verurteilung eines Straf-
täters nicht die Regel, sondern die (seltene) Ausnahme. Dies heißt,
bezogen auf die Ermittlung aller Straftäter für kriminologische Unter-
suchungen, daß für maximal 10 % der Straftaten auch ein Täter fest-
steht. Sicherlich ist diese Zahl, bezogen auf individuelle Täterpersön-
lichkeiten, zu hoch, da bekannt ist, daß in der Statistik diesbezüglich

20 Beispielsweise in Noelle-Neumann/PieZ (Hrsg.), Allensbacher Jahrbuch


der Demoskopie 1978 - 1983, Band VIII, 1983, S. 314.
21 Vgl. Stephan, Die Stuttgarter Opferbefragung. Eine kriminologisch-vikti-
mologische Analyse zur Erforschung des Dunkelfeldes unter besonderer Be-
rücksichtigung der Einstellung der Bevölkerung zur Kriminalität, 1976, S. 157.
22 Dies ist ein einheitliches Ergebnis der bedeutsamsten deutschen Dun-
kelfelduntersuchungen: SChwind/Ahlborn/Eger u.a.; Dunkelfeldforschung in
Göttingen 1973/74. Eine Opferbefragung zur Aufhellung des Dunkelfeldes
und zur Erforschung der Bestimmungsgründe für die Unterlassung von Straf-
anzeigen, 1975; SChwind/AhZborn/Weiss, Empirische Kriminalgeographie. Be-
standsaufnahme und Weiterführung am BI:!ispiel von Bochum ("Kriminali-
tätsatlas Bochum"), 1978; Stephan (Fn.21); ViZZmow/Stephan (unter Mitarbeit
von ArnoZd) (Fn. 17).
23 Dazu ausführlich die vorstehenden (Fn. 22) Dunkelfelduntersuchungen.
Vgl. auch Heinz, Bestimmungsgründe der Anzeigebereitschaft des Opfers.
Ein kriminologischer Beitrag ZQm Problem der differentiellen Wahrschein-
lichkeit strafrechtlicher Sanktionierung, Jur. Diss. Freiburg i. Br., 1972.
24 Strafverfolgung 1982, 1983, S. 28.
1066 J osef Kürzinger

häufig Doppel- bzw. Mehrfachnennungen enthalten sind. Man rechnet


mit einer Schwundquote von etwa einem FünfteJ25.
Die Polizei nimmt nach der Bevölkerung eine zentrale Stelle für die
Verbrechenskontrolle ein, da sie faktisch jene staatliche Instanz ist.
die den Prozeß der Strafverfolgung einleitet. Die eigene polizeiliche
Tätigkeit bei der Strafverfolgung hat jedoch zahlenmäßig nur geringe
Bedeutung, da man davon ausgehen kann, daß allenfalls 5 bis 15 %
der "klassischen" Delikte durch die Erstwahrnehmung der Polizei ver-
folgt werden18• Der weit überwiegende Teil der Kriminalität wird erst
durch Informationen von dritter Seite verfolgt. Dennoch ist die Selek-
tion der Polizei bei Taten und Tätern umfangreich und zudem, was
hier bedeutsam ist, zielgerichtet. Der oft ausgesprochene Vorwurf, die
Polizei gehe vor allem schichtenspezifisch vorn, ist in dieser Verall-
gemeinerung zwar nicht richtig, doch ist beim Ergebnis des Selektions-
prozesses insoweit eine Schichtabhängigkeit der Verfolgungsentschei-
dung festzustellen, als dieses durch das Delikt, das der Polizei berichtet
wird, vermittelt wird. Offenbar ist das Delikt von ausschlaggebender
Bedeutung für die weitere Strafverfolgung. Die Häufigkeit von Delikts-
begehungen ist aber schichtenspezifisch ungleicht8 • Deshalb werden be-
stimmte Tätergruppen nicht entsprechend ihrem Anteil an der Krimi-
nalität erfaßt. Allerdings muß dies nicht immer zum Nachteil von
Unterschichtsangehörigen gehen, wie gelegentlich unterstellt wird, vor
allem deswegen, weil die Polizei nicht generell zu einer überkrimi-
nalisierung neigt, allein schon wegen der beschränkten Ressourcen, die
ihr zur Verfügung stehen. Am Ende der polizeilichen Selektion, bei
der übergabe des Falles an die Staatsanwaltschaft, sind die Verdäch-
tigen-stark ausgelesen. Vor allem Täter -von Alltagsdelikten gegen die
Person sind unter den überführten Verdächtigen zu selten vertreten,
während dies für Eigentums- und Vermögenstäter nicht gilt2D • Diese
Ergebnisse müssen noch anhand des Erfolges einer Strafanzeige näher
erörtert werden30 • Der Erfolg der Tataufklärung und damit die Fest-
stellung eines (vermutlichen) Straftäters ist vor allem deliktsbe-
stimmt31 • Bei Straftaten der Alltagskriminalität, bei denen die Polizei
%5 Dörmann, Zur Kriminalitätsentwicklung nach der Polizeilichen Krimi-
nalstatistik, Kriminalistik 1981, S. 411 - 416, 415.
!8 Blankenburg/Sessar/StetJen (Fn. 13), S. 120.
%7 Dieser Vorwurf wird vor allem von "linken" Kriminologen erhoben;
vgl. etwa Feest/Blankenburg, Die Deftnitionsmacht der Polizei. Strategien der
Strafverfolgung und sozialen Selektion, 1972.
18 Vgl. Kürzinger, Kriminologie. Eine Einführung in die Lehre vom Ver-
brechen, 1982, S. 156 ff.
!t Vgl. Kürzinger (Fn. 19), S. 236.
30 Vgl. dazu StetJen, Analyse polizeilicher Ermittlungstätigkeit aus der
Sicht des späteren Strafverfahrens, 1976.
31 StetJen (Fn. 30), S. 150.
Der kriminelle Mensch 1067

annimmt, sie sei bei der Aufklärung wenig erfolgreich, wird weniger
intensiv ermittelt als bei schwereren Delikten und bei solchen, bei
denen man sich einen Aufklärungserfolg verspricht3!. Die Tatschwere
als solche ist allerdings kein Kriterium für eine erfolgreiche Täter-
ermittlungll3 • Dennoch bleibt seit einigen Jahren das fast konstante
Ergebnis, daß bei den registrierten Straftaten für weniger als die
Hälfte ein Täter ermittelt werden kann. Deswegen sind die erfaßten
Kriminellen nicht für alle Straftäter eines bestimmten Zeitabschnittes
repräsentativ. Im übrigen scheint es auch eine, zwar statistisch nicht
signifikante, wohl aber tendenziell deutlich sichtbare Benachteili-
gung von Unterschichtsangehörigen zu gebenu. Ein Aufklärungserfolg
bei der Polizei wird (immer noch) durch ein Geständnis des Verdäch-
tigen erreicht. Nun hängt die Geständnisfreudigkeit aber deutlich von
der Schichtzugehörigkeit ab. Mittelschichtsangehörige gestehen seltener
eine Straftat als Unterschichtsangehörige, die sich weniger erfolgreich
gegen die polizeiliche Ermittlungstätigkeit wehren können und daher
eher durch ein Geständnis überführt werden llll • Damit sind im Ergeb-
nis Unterschichtsangehörige unter den registrierten Straftätern über-
repräsentiert.
Aber auch die Staatsanwaltschaft übt eine deutliche und umfang-
reiche Selektion aus3l • Aus der Statistik für das Jahr 198137 ergibt
sich, daß nur 35 'l'o der erledigten Ermittlungsverfahren mit einer Fort-
führung der Strafverfolgung endeten. Insgesamt schlossen die Staats-
anwaltschaften in diesem Jahr rund 2,13 Millionen Strafverfahren ab,
von denen sie 13,3 Ofo einstellten, obwohl die Staatsanwaltschaften
meinten, ein Tatverdächtiger sei der Tat überführt und könne auch
verfolgt werden38• Demnach wurde gegen gut 280 000 identifizierte und
auch verfolgbare Personen eine Strafverfolgung seitens der Staats-
anwaltschaft unterlassen. Die Frage, weshalb einzelne Tatverdächtige
und Straftaten nicht (weiter) verfolgt werden, ist Gegenstand einer
ausführlichen Untersuchung gewesen3' . Dabei hat sich gezeigt, daß mit
zunehmender Größe der Staatsanwaltschaft auch die Einstellungsquote
steigt. Bei großen Staatsanwaltschaften wird seltener angeklagt als
bei kleinen. Die Tatverdächtigen haben daher - abhängig vom Tat-
ort - sogar unterschiedliche Chancen, wegen einer an sich vergleich-

32 StejJen (Fn. 30), S. 140.


33 StejJen (Fn. 30), S. 140.
M StejJen (Fn. 30), S. 258.
35 StejJen (Fn. 30), S. 186 fi.
38 Blankenburg/Sessar/StejJen (Fn. 13), S. 305 fi.
37 Staatsanwaltschaften 1981, 1982, S. 12.
38 Staatsanwaltschaften 1981 (Fn. 37), S. 10 und 12.
38 Vgl. Blankenburg/Sessar/StejJen (Fn. 13).
1068 J osef Kürzinger

baren Straftat verurteilt zu werden40 • Im übrigen sind Jugendliche und


heranwachsende Tatverdächtige einem stärkeren Verfolgungsdruck
durch die Staatsanwaltschaft ausgesetzt als Erwachsene 41 • Schichtzuge-
hörigkeit, Nationalität und Geschlecht sind für die weitere Strafver-
folgung zwar bedeutsam, offenbar aber nur im Zusammenhang. mit
dem einzelnen Delikt, das zumeist über den Fortgang der Strafver-
folgung entscheidet4!. Am Ende der Selektion durch die Staatsanwalt-
schaft stehen nicht nur zahlenmäßig weniger Verdächtige, sondern die
im Kriminalisierungsprozeß verbleibenden Verdächtigen sind auch hin-
sichtlich bestimmter sozialer Kriterien ausgelesen worden. Die Reprä-
sentativität der erfaßten Population für "die" Kriminellen ist also um
einen weiteren Schritt vermindert worden.
Die letzte Selektionsinstanz auf dem Wege zur Verurteilung stellt
das Gericht dar. Dem Gericht stehen eine Anzahl von Entscheidunga-
möglichkeiten zur Verfügung, die alle (bis auf die Verurteilung) zu
einem Ausscheiden aus dem Kriminalisierungsprozeß führen, wobei
nicht immer - ausgenommen bei Freispruch - entscheidend ist, daß
der Verdächtige als der Tat nicht überführt angesehen wird. Derzeit
enden etwa vier Fünftel aller Strafverfahren, bei denen das Haupt-
verfahren eröffnet wurde, mit einer Verurteilung4S • Ob ein Strafver-
fahren mit einer Verurteilung endet, ist u. a. von der Art des Deliktes
abhängigu . Aber auch die sozialen Daten des Angeklagten spielen
offenbar für das Ergebnis eine RollefS • Die behauptete Bevorzugung
von Frauen hat sich freilich nicht erweisen lassen4G • Tatsächlich kann
die geringere Verurteilungshäufigkeit bei Frauen darauf beruhen, daß
sie Straftaten anderer Art oder Schwere begehen als Männer. Aller-
dings scheint es, wie Ergebnisse von' Steffen47 zeigen,'eine begründete
Annahme dafür zu geben, daß die Schichtzugehörigkeit bei der Ver-
urteilung eine Rolle spielt. Unterschichtsangehörige haben demnach
eine größere Chance, verurteilt zu werden, als Angeklagte aus der Mit-
telschicht. Wie stark die Schichtzugehörigkeit eines Tatverdächtigen
tatsächlich die richterliche Entscheidung beeinflußt, ist freilich noch
weitgehend ungeklärt. Die Schichtzugehörigkeit korrespondiert aber,
wie erwähnt, mit der Geständnisfreudigkeit und diese wiederum mit
40 Blankenburg/Sessar/StetJen (Fn. 13). S. 306 f.
41 Blankenburg/Sessar/StetJen (Fn. 13), S. 308 f.
42 Blankenburg/Sessar!StetJen (Fn. 13), S. 308 f.
43 Strafverfolgung 1982 (Fn. 24), S. 28.
44 Vgl. etwa Kürzinger (Fn. 28), S. 142 ff.
46 Vgl. StetJen (Fn.30), S.242; Blankenburg/Sessar/StetJen (Fn.13), S.213;
Albrecht, Strafzumessung und Vollstreckung bei Geldstrafen unter Berück-
sichtigung des Tagessatzsystems, 1980, S. 99 f. und 158 ff.
48 Vgl. Kürzinger (Fn. 28), S. 219 f.; StetJen (Fn. 30), S. 235.

47 StetJen (Fn.30), S. 241 und.243.


Der kriminelle Mensch 1069

der Verurteilungswahrscheinlichkeit. Geständige Angeklagte werden


häufiger verurteilt als solche, die kein Geständnis ablegen48 •
Zieht man aus den Untersuchungen zum Selektionsprozeß im Straf-
verfahren das Fazit, so läßt sich festhalten, daß von allen erkannten
Straftaten nur eine geringe Zahl überhaupt in den Strafverfolgungs-
prozeß gelangt und daß schließlich von den als Straftäter identifi-
zierten Personen nur ein geringer Teil als Täter auch verurteilt wird.
Die Entscheidung darüber, ob man als Straftäter identifiziert und ver..
urteilt wird, ist nicht zufiillig, sondern wird durch die oben näher
angeführten Faktoren bestimmt. Als erstes Ergebnis läßt sich somit
feststellen, daß die - an welcher Stelle auch immer - registrierten
Straftäter keine zufällig ausgewäh)te Stichprobe aller Straftäter eines
bestimmten Gebietes und eines bestimmten Zeitraumes darstellen, son-
dern daß sie das Resultat eines ziel gerichteten Selektionsprozesses sind~
Methodisch gesehen arbeiten daher alle Untersuchungen mit identifi-
zierten Straftätern mit einer, bezogen auf die Grundgesamtheit, nicht
repräsentativen Stichprobe.

IV.
Haben wir also gesehen, daß die bei nahezu allen kriminologischen
Untersuchungen herangezogenen "Kriminellen" nicht die "wirklich"
Kriminellen eines bestimmten Gebietes zu einer bestimmten Zeit
repräsentieren, so fragt es sich nun, ob es für Vergleichsuntersuchun-
gen wenigstens möglich ist, Kriminelle von Nichtkriminellen zu unter-
scheiden und so Faktoren zu untersuchen, die mit der Entstehung des
Verbrechens in Verbindung gebracht werden können.
Bevor wir uns der Frage nach der Häufigkeit des Vorkommens von
Kriminellen in einer Gesellschaft zuwenden, gilt es zu defirlieren, was
unter einem "Kriminellen" eigentlich verstanden werden soll. Dies hat
seit den Darlegungen von Garofalo 49 zum crimen naturale im vorigen
Jahrhundert immer wieder eine Rolle gespielt. Jede Kr~minologie, die
kausale Aussagen über die Verbrechensentstehung machen möchte, ist
gezwungen, sich bei der Definition dieses Begriffes auf Handlungsakte
eines Menschen zu beziehen. Tut man dies aber, so ist man wohl auch
gezwungen, ~ie Frage der rechtlichen Wertung einer Handlung als
relevant zu bezeichnen. Wie immer man den Begriff der Kriminalität
noch anderweitig eingrenzen will, auf die durch die Tat herbeigeführte
Verletzung einer strafbewehrten Norm wird man nicht verzichten
können. Damit ist aber jeder Mensch kriminell, der wenigstens' eil).mal
48 Blankenburg/Sessar/Steffen (Fn. 13), S. 251 ff.
49 Garojalo, La criminologia. Studio sul delitto, sulle sue cause e sui mezzi
di repressione, 1885, S. 3 ff.
1070 Jösef Kürzinger

in seinem Leben (zurechenbar) eine Strafnorm übertreten hat. In der


Tat wird auch herkömmlicherweise bei den ätiologisch orientierten
Kriminologen diese Begriffsbestimmung nicht angezweifelt50 • Wählt
man aber diesen Begriff des Kriminellen, dann zeigen die bisherigen
Ergebnisse der Dunkelfeldforschung, daß, jedenfalls in den westlichen
Industriestaaten, praktisch alle Menschen wegen eines (zumeist) ein-
maligen Rechtsbruches in diesem Sinne als "kriminell" bezeichnet wer-
den können und zum anderen, daß der schwere und mehrmalige
Rechtsbruch in der Bevölkerung relativ selten ist51 • Hält man sich diese
beiden, empirisch abgesicherten Ergebnisse vor Augen, so läßt sich für
die Erforschung der kri'minellen Persönlichkeit, vor allem bei der
Frage nach der Verursachung der Kriminalität, folgern, daß wir in der
Bevölkerung praktisch nur Kriminelle finden können. Die Vorstellung,
es gebe auch "Nichtkriminelle" , ist fiktiv.

V.
Haben wir also gesehen, daß es empirisch die Unterscheidungsmög-
lichkeit zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen in der herkömm-
lichen juristischen Definition nicht gibt, so fragt es sich, ob es denn
überhaupt sinnvoll ist, nach biologischen Unterscheidungsmerkmalen
zu suchen und sie in einen Zusammenhang mit dem Verbrechen zu
bringen. Diese Frage bedarf deswegen einer Klärung, weil später
untersucht werden soll, ob man sich nicht einer anderen Definition des
Kriminellen bedienen sollte, um dennoch Unterschiede in Persönlich-
keitsmerkmalen von (massiv) "Kriminellen" und (vorgeblich) "Nicht-
kriminelIen" feststellen zu können. Die Fragel-Qb Kriminalität gene-
tisch bedingt ist, stand historisch gesehen am Anfang der traditionellen
Ursachenforschung in der Kriminologie5!. Eine solche Sichtweise ist auch
verständlich, nachdem die Auffassung vertreten wurde, der Kriminelle
sei der "andere", der "Böse" schlechthin. Vertritt man ein solches Er-
klärungsmodell, so stellt man auch die Persönlichkeit des Kriminellen
in den Mittelpunkt. Deshalb ist es nur folgerichtig, wenn Lombroso die
vorwissenschaftlichen Anschauungen zur biologischen Verbrechensbe-
dingtheit, wie sie etwa bei della Porta (1545 - 1615), Lavater (1741 - 1801)

60 Zum Begriff "Kriminalität" vgl. etwa Kaiser (Fn.9), S. 115 ff.; Kürzinger
(Fn. 28), S. 13 ff.
51 Schöch, Ist Kriminalität normal? Probleme und Ergebnisse der Dunkel-
feldforschung, in: Göppinger/Kaiser (Hrsg.), Kriminologie und Strafverfah-
ren. Neuere Ergebnisse zur Dunkelfeldforschung in Deutschland. Bericht über
die XVIII. Tagung der Gesellschaft für die gesamte Kriminologie vom 9. bis
12. Oktober 1975 in Freiburg, 1976, S. 211 - 228, 222.
51! Zur Geschichte der Kriminologie vgl. etwa Mannheim (ed.), Pioneers in
criminology, 1960; Hering, Der Weg der Kriminologie zur selbständigen Wis-
senschaft, 1966; Mechler, Studien zur Geschichte der Kriminalsoziologie, 1970.
Der kriminelle Mensch 1071

oder Gall (1758 - 1828) anklingen, weiterführt. Der Durchbruch einer bio-
logischen Sichtweise der Verbrechensverursachung wird erst mit Lom-
broso 187653 erreicht, dies allerdings nicht deswegen, weil etwa Lom-
broso überzeugenderes Beweismaterial vorgetragen hätte, sondern
weil er die spekulativ und methodisch fragwürdig erhobenen empiri-
schen Daten erstmals systematisch erschlossen und auch dargestellt
hat. Seine (später relativierte) Aussage über den "geborenen Verbre-
cher"54 stellt insofern eine Weiterentwicklung biologischer Gedanken-
gänge dar, als nunmehr einem bestimmten Menschentypus, dem atavi-
stischen Menschen, der Entwicklungsdefekte zeige, Kriminalität zuge-
schrieben wird. Daß dies im konkreten Fall bei Lombroso zu heute
geradezu grotesk anmutenden Ansichten über einzelne Verbrecher-
(gruppen) führte, beruht nicht so sehr auf einer naiven Betrachtungs-
weise, sondern spiegelt vielmehr ein methodisches Hauptproblem krimi-
nologischer Forschung wider, nämlich das der repräsentativen Stichpro-
be. Die kritiklose Annahme, die in den Gefängnissen untergebrachten
Mörder, Räuber und Diebe seien deren Prototypen oder doch wenig-
stens identisch mit allen Verbrechern dieser Kategorie, führte zu den
genannten Ergebnissen. Im übrigen können wir heute davon ausgehen,
daß biologische Dimensionen bei dem sozialen Phänomen des Verbre-
chens nur insofern eine Rolle spielen, als Charakterzüge, die biologisch
verankert sind, sich in den Handlungen ausdrücken, die gegen Straf-
normen verstoßen. Eine solche Annahme ist nicht schon an sich unzu-
treffend, weil es offensichtlich Verhaltensmuster gibt, die über sehr
lange Zeiträume hinweg und bei vielen Kulturen als "Verbrechen"
gelten und biologische Faktoren der Persönlichkeit eines "Verbrechers"
dazu in einer Beziehung stehen können. Freilich sind die bisherigen
Nachweise der biologischen (Mit-)Bedingtheit des Verbrechens von
zweifelhaftem Wert geblieben und halten kaum methodischen Anfor-
derungen stand. Weder die Sippenforschung55 vor allem in den 40er
Jahren noch die seit dem Ende der 20er Jahre erstmals durchgeführten
Zwillingsforschungen56 haben einen überzeugenden Beweis der (vor

53 In diesem Jahr erschien sein Buch "L'uomo delinquente"; Näheres zum


Leben Lombrasas bei Kürzinger, Cesare Lombroso, in: Faßmann (Hrsg.), Die
Großen der Weltgeschichte, Band VIII, 1978, S. 626 - 635.
54 Dieser Ausdruck stammt von seinem Schüler Enrico Fern (1856 - 1929).
66 Für Deutschland vgl. z. B. Holl, Erbcharakterkundliche Untersuchungen
krimineller Sippen, Med. Diss. Freiburg i. Br., 1939; Knarr, Vergleichende
erbbiologische Untersuchungen an drei asozialen Großfamilien, 1939; Balssen,
Beitrag zur Frage der Erblichkeit der Asozialität, Med. Diss. Hamburg, 1940;
Klose, Charakterkundliche UntersuchUngen an kriminellen Sippen, Med.
Diss. Halle, 1940; Rechenbach, Moordorf. Ein Beitrag zur Siedlungsgeschichte
und zur sozialen Frage, 1940; Dubitscher, Asoziale Sippen. Erb- und sozial-
biologische Untersuchungen, 1942.
58 Vgl. etwa Lange, Verbrechen als Schicksal, 1929; Kranz, Lebensschick-
sale krimineller Zwillinge, 1936.
1072 Josef Kürzinger

allem) genetischen Bedingtheit der Kriminalität erbringen können57 •


Die teilweise deutliche überrepräsentierung von Kriminalität in den
einzelnen (Asozialen-)Sippen läßt sich ohne Schwierigkeit als Auswir-
kung des (bei allen Untersuchten) gleichartigen sozialen Milieus deu-
ten. Die Zwillings forschungen litten (und leiden iIiuner noch) daran,
daß die mühsam ermittelten Stichproben alles andere als repräsen-
tativ für "die" Zwillinge sind. Im übrigen ist die übereinstimmung
in der Kriminalitätsbelastung (Konkordanz) so undeutlich58 , daß eine
Rückführung der Kriminalität auf biologische bzw. genetische Fakto-
ren als nicht sehr wahrscheinlich angesehen werden muß. Auch die
neueren Ergebnisse der Adoptionsforschung58 , die zumindest den Ein-
fluß der Umwelt für einigermaßen kontrollierbarhalten, überzeugen
weder hinsichtlich der Konkordanz kriminellen Verhaltens noch der
Repräsentativität der Untersuchtenso. Versuche, auf der Grundlage des
Körperbaus entsprechend den Typen von KretschmerS1 Aussagen zur
Kriminalität zu machen, sind wenig überzeugend. Einzig die Verknüp-
fung zwischen Chromosomenanomalien und KriminalitätSI scheint für
bestimmte Formen des Verbrechers empirisch gesicherte Aussagen zu-
zulassen. Unglücklicherweise lief die Diskussion um diese genetischen
Fehlbildungen in den 60er Jahren unter dem Stichwort "Mörder-
chromosom" und war schon deshalb wissenschaftlich suspekt. Bisherige
Untersuchungen8S zum Einfluß von Chromosomenanomalien auf die
Kriminalität eines Menschen scheinen den Nachweis erbracht zu haben,
daß unter den registrierten Kriminellen die Anzahl der Personen, die
an solchen Anomalien leidet, deutlich höher ist als in d~r (unausgelese-
nen) Durchschnittsbevölkerung. Allerdings ist auch bei diesen Unter-
.s:l.lmungen die Frage einer möglicherweise. erhöhten Sichtbarkeit der
Kriminalität der Betroffenen nicht von der Hand zu weisen, da diese
Anomalien auch mit körperlichen Auffälligkeiten verbunden sein kön-

67 So auch im Ergebnis etwa Zerbin-Rüdin, Gegenwärtiger Stand der


Zwillings- und Adoptionsstudien zur Kriminalität, in: Göppinger/Vossen
(Hrsg.), Humangenetik und Kriminologie. Kinderdelinquenz und Frühkrimi-
nalität. Bericht über die XXII. Tagung der Gesellschaft für die gesamte Kri-
minologie vom 13. bis 15. Oktober 1983 in Bern, 1984, S. 1 - 17, 1.
58 Vgl. dazu die übersicht bei Zerbin-Rüdin (Fn. 57), S. 2.
58 Nachweise für diese Untersuchungen bei Zerbin-~üdin (]<'n. 57), S. 4 fI.
80 Vgl. Zerbin-Rüdin (Fn. 57), S. 4 fI.
61 Kretschmer, Körperbau und Charakter, 26. Auft. 1977.
62 Zu Chromosomenanomalien im allgemeinen vgl. etwa Therman, Human
chromosomes. Structure, behavior, effects, 1980, S. 125 fI.
es Für Deutschland etwa Klein-VoglerIHaberlandt, Kriminalität und chro-
mosomale Konstitution, MSchrKrim.57 (1974), S. 329 - 337; Kaiser, Genetics
and crime, 1975; Quensel, Zur Problematik eines biologischen Ansatzes,
MSchrKrim.59 (1976), S. 223 - 229; Jörgensen, Chromosomenanomalien und
deren Folgen für abweichendes Verhalten, Münchener Medizinische Wochen-
schrift 123 (1981), S. 119 - 123.
Der kriminelle Mensch 1073

nen. Im übrigen leidet diese Erklärung unter einem weiteren Mangel.


Nach den bisherigen Erkenntnissen kann man davon ausgehen, daß
allenfalls 1 bis 2 Promille der Bevölkerung an Chromosomenanomalien
leiden84 • Damit wäre aber, selbst unterstellt, was nicht erwiesen ist,
alle Träger der Anomalie seien auch kriminell, die Anzahl der regi-
strierten Kriminellen unverhältnismäßig höher, denn immerhin sind
nach den bekannten SchätzungenU rund ein Drittel der männlichen
Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland bis zum Alter von
25 Jahren wegen wenigstens einer kriminellen Tat amtlich registriert.
Das wäre etwa das Zweihundertfünfzigfache derer, die an Chromo-
somenanomalien in diesem Land leiden. Angesichts dieses Zahlenver-
hältnisses läßt sich eine einleuchtende Erklärung der Kriminalität
generell auf der Basis von Chromosomendefekten allenfalls für den
Einzelfall deutlich machen, nicht aber als Erklärung auf biologischer
Basis für die Gesamtheit der Kriminellen verstehen. Auch die Ver-
suche, in einer bestimmten Mangel- oder überernährung mit gewissen
Stoffen eine Ursache der Kriminalität zu sehen66 , bestätigen die An-
nahme einer biologischen Bedingtheit des Verbrechens nicht. Solche
Fehlernährung in Verbindung mit im Einzelfall auftretenden krimi-
nellen Handlungen kann nicht allgemein als Ursache für die Krimi-
nalität verstanden werden.
Zieht man ein Fazit aus den bisherigen empirischen Bemühungen,
die biologischen Wurzeln kriminellen Verhaltens - abgegrenzt von
der Frage des Einflusses der (sozialen) Umwelt - sichtbar zu machen,
dann ist nicht zu übersehen, daß es nicht gelungen ist (auch unter
Vernachlässigung des Problems der Repräsentativität der Stichprobe
und der zuverlässigen Abgrenzung der "Kriminellen" von den "Nicht-
kriminellen"), eine (bedeutsame) Determiniertheit der Verbrechensbe-
gehung durch biologische Faktoren darzutun. Daß man diesen Erklä-
rungen dennoch weiterhin (unkritisch) so deutlich anhängt, hat weni-
ger mit dem Realitätsgehalt der Aussagen zu tun, als vielmehr damit,
daß offenbar überkommene Vorstellungen und Vorurteile ungern auf-
gegeben werden, zumal für Bereiche, in denen der "gesunde Men-
schenverstand" täglich scheinbare Beweise erhält.

84 (Fn. 63), S. 121 fi.


Jörgensen
85 Vgl. etwa Kaiser (Fn. 9), S. 338.
G8 Eine Zusammenfassung findet sich bei Schauss, Diet, crime and delin-
quency, 1980; vgl. auch Hafer, Nahrungsphosphate als Ursache für Verhal-
tensstörungen und Jugendkriminalität, 2. Aufl. 1979.

68 Festschrift für H.-H. Jescheck


1074 Josef Kürzinger

VI.
Wenn es also keine immanenten Unterscheidungskriterien zwischen
Kriminellen und Nichtkriminellen gibt und zugleich praktisch jeder-
mann wenigstens einmal in seinem Leben kriminell wird, ist in der
Tat zu fragen, ob die zahlreichen bisherigen Untersuchungen an regi-
strierten Kriminellen überhaupt Zuverlässiges über Kriminelle aus-
sagen können. Angesichts dieser Situation, die bisher nicht adäquat
zu lösen war, wollte man immer wieder dartun, es handle sich hierbei
eigentlich um etwas nicht Relevantes. Die Versuche, das durchaus
erkannte Dilemma zu lösen, werden auf verschiedenen Ebenen ge-
führt. Zum einen will man sich von der überkommenen Definition des
Verbrechens lösen und sozusagen eine (neue) Figur des "wirklich"
Kriminellen einführen. Dieser Gedanke kommt etwa in den Ausfüh-
rungen von Christiansen67 zum Ausdruck, wenn er feststellt, die medi-
zinische Forschung sei zu Ergebnissen gekommen, obwohl nur ein
Bruchteil aller Krankheiten diagnostiziert werde und davon wieder nur
ein Bruchteil zur Einweisung in ein Krankenhaus komme, wo der Haupt-
teil der medizinischen Forschung konzentriert sei. Diese Argumenta-
tion stellt die (sozialen) Verhältnisse bei Kriminellen geradezu auf den
Kopf und unterstellt, ein Einbrecher, der eine lange kriminelle Kar-
riere hinter sich gebracht habe, sei "besonders" kriminell in dem
Sinne, daß an ihm überdeutlich die Merkmale "des" Kriminellen er-
kannt werden könnten. Richtig ist zwar, daß etwa bei Infektions-
krankheiten die Verursacher auch dann zu finden sind, wenn nur ein
Träger der Krankheit erkannt ist, ohne alle anderen Kranken kennen
zu müssen, doch setzt dies eben in dem medizinischen Sinne einen - von
dem Kranken - unabhängig existierenden Krankheitserreger voraus.
Dieses Bild für die soziale Erscheinung des Verbrechens zu verwen-
den, wie es der Vergleich nahelegt, ist aber offensichtlich unzutreffend.
Auch der Einwand von Schöch6S , zahlreiche Untersuchungen hätten
inzwischen dokumentiert, daß sich Erst- und Gelegenheitstäter von
mehrmals rückfälligen Tätern unterschieden, ist in diesem Zusammen-
hang irrelevant, selbst wenn er zutreffen sollte, denn die Fragestellung
der (Vergleichs-)Untersuchungen geht nicht dahin, ob und wie sich ein-
malige von mehrmaligen Tätern unterscheiden, sondern Kriminelle
von Nichtkriminellen. Beide von Schöch genannten Gruppen sind kri-
minell; die Unterschiede müssen sich also notwendigerweise auf andere
Sachverhalte beziehen. Eine ähnliche Argumentation wird etwa zur
Rechtfertigung der Verallgemeinerungen der Ergebnisse der Cam-

67 Christiansen, Kriminologie (Grundlagen) I, in: Sieverts/H. J. Schneider


(Hrsg.), Handwörterbuch der Kriminologie, 2. Aufl., Band 2, 1977, S. 187 - 220,
212.
6S Schöch (Fn. 7), S. 871.
Der kriminelle Mensch 1075

bridge-Somerville-Youth-Study 89 verwendet, ohne auch hier überzeu-


gen zu können, weil ja nicht, was sinnvoll wäre, unterschiedliche kri-
minelle Karrieren oder Lebensstile erforscht werden, sondern Krimi-
nalität bzw. deren Fehlen bei den Untersuchten. Die Problematik von
Aussagen über Kriminelle und Nichtkriminelle anhand von Ver-
gleichsuntersuchungen mit Stichproben, die nicht dem Modell des (real)
Kriminellen und des (real) Nichtkriminellen folgen, ergibt sich auch
für die jüngste und umfangreichste deutsche kriminologische Unter-
suchung, die Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung70 • Göppinger71
hat versucht, den Einwand der Irrelevanz des Dunkelfeldes der Kri-
minalität für täterorientierte Vergleichsuntersuchungen mit einem aus-
drücklichen Hinweis auf Sack7 ! zu entkräften, allerdings methodisch
wenig überzeugend. Er meint73 , daß bei strenger Anwendung der Prä-
missen Sacks ein Dunkelfeld überhaupt nicht vorhanden sein könne
und daß man es dann, so muß man diese Einwände wohl interpretie-
ren, mit den identifizierten Tätern allein zu tun habe. Diese Argumen-
tation überzeugt freilich im Konzept der traditionellen täterorientierten
kriminologischen Forschung, und um eine solche handelt es sich bei
der Tübinger Untersuchung, nicht, denn für Sack spielt das Dunkel-
feld (nur) deswegen keine Rolle, weil er Kriminalität als einen Zu-
schreibungsprozeß, losgelöst vom konkreten Handeln einer Person, be-
greift1'. Eine täterorientierte Fragestellung nach den Gründen dafür,
warum ein Krimineller strafbare Handlungen begeht, ist im Sinne
der Sackschen Definition von Kriminalität sinnlos, denn nicht die
Handlung eines Menschen hat damit zu tun, daß er "kriminell" (ge-
macht) wird, sondern die Reaktion staatlicher Kontrollinstanzen defi-
niert, wer ein Krimineller ist. Da aber gerade der kriminell handelnde
Mensch untersucht werden soll, ist der Sacksche Kriminalitätsbegriff
hierfür irrelevant. Eine täterorientierte Kriminologie kann in der Tat
das Dilemma, daß es eine offenbar ubiquitäre Dunkelfeldkriminalität
gibt und daß die Grundgesamtheit "Kriminelle" nicht von der "Durch-
schnittsbevölkerung" getrennt werden kann, auf die herkömmliche
Weise methodisch nicht befriedigend lösen. Auch ein zweites Argu-
ment, die Irrelevanz des bestehenden Dunkelfeldes für die (Persön-

89 W. McCord/J. McCord, Origins of crime. A new evaluation of the Cam-


bridge-Somerville Youth Study, 1959, S. 166.
70 Ausführlich dargestellt bei Göppinger (unter Mitarbeit von Bock, Jehle
und Maschke), Der Täter in seinen sozialen Bezügen. Ergebnisse aus der
Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung, 1983.
71 Göppinger (Fn. 70).

72 Göppinger (Fn. 70), S. 7.

73 Göppinger (Fn. 70), S. 7.

74 Vgl. dazu Sack, Neue Perspektiven in der Kriminologie, in: Sack/König


(Hrsg.), Kriminalsoziologie, 1968, S. 431 - 475, 463.

68·
1076 Josef Kürzinger

lichkeits-)Untersuchungen an Kriminellen und Nichtkriminellen darzu-


tun, ist nicht überzeugend. Göppinger7S etwa meint, daß ein Verweis
auf das Dunkelfeld eine Vergleichsuntersuchung wie die Tübinger
Jungtäteruntersuchung nur dann in Frage stellen könnte, wenn die
tatsächliche Delinquenz nicht die starken Unterschiede zwischen Straf-
gefangenen und Durchschnittspopulation aufwiese, wie sie bei der amt-
lich dokumentierten Delinquenz bestünden, sondern ähnlich oder gar
gleich zwischen Bestraften und Nichtbestraften verteilt sei. Nur dann
könnten die aufgefundenen persönlichen und sozialen Unterschiede
zwischen Strafgefangenen und der Durchschnittspopulation als bloße
Kriterien der Auslese bzw. der "Kriminalisierung" durch die Strafver-
folgungsbehörden interpretiert werden, nur dann hätten sie nichts zu
tun mit der Art und Häufigkeit der verfolgten und der tatsächlichen
Delinquenz und nur dann wäre ein Vergleich von Straffälligen mit
der Durchschnittspopulation kriminologisch sinnlos. Dazu ist zu sagen,
daß es selbstverständlich immer noch sinnvoll bleibt, Vergleichsunter-
suchungen durchzuführen, selbst wenn beide Gruppen "kriminell" sind.
Die Frage ist nur, was miteinander verglichen wird. Da eigentlich aber
verglichen werden soll, ob sich Kriminelle von Nichtkriminellen unter-
scheiden und nicht, ob sich Gefangene von Nichtgefangenen unterschei-
den, ist es für die Interpretation der Ergebnisse entscheidend, welcher
Kategorie die Untersuchten zuzuzählen sind. Da aber solche Vergleichs-
untersuchungen gerade etwas über Kriminelle und Nichtkriminelle
aussagen wollen, spielt es gar keine Rolle, wie die Verhältnisse bei
Gefangenen und Nichtgefangenen liegen, denn dies sind nicht iden-
tische Gruppen. Im übrigen ist es zumindest empirisch fragwürdig zu
):J:l~i_nen, Unterschiede zwischen Gefangenen- und Durchschnittspopu-
lation müßten auf Unterschieden zwischen Kriminellen und Nichtkri-
minellen beruhen, da Häftlinge ja auch durch den Prisonisierungspro-
zeß beeinflußt sind und sich nicht zuverlässig sagen läßt, ob Defor-
mationen, die sich in den Persönlichkeitszügen finden, das Ergebnis
der Haft sind oder schon vorher bestanden haben. Immerhin kommen
von den registrierten Kriminellen, die auch verurteilt werden, "nur"
maximal 5 % in den Strafvollzug78 , und dies nach einer massiven Aus-
lese. Göppinger77 nimmt diesen Einwand vorweg, wenn er ausführt,
Anliegen der Tübinger Jungtäter-Vergleichsuntersuchung sei es nicht
gewesen, über die Kriminalität in all ihren, auch zufälligen, einmali-
gen, bagatellhaften Formen eine Aussage zu treffen, sondern die sozia-
len und persönlichen Begleitumstände herauszufinden. Vertritt man

75 (Fn. 70), S. 7.
Göppinger
78 Diese Zahlen ergeben sich aus der Verurteiltenstatistik für die Bundes-
republik Deutschland in den letzten Jahren.
77 Göppinger (Fn. 70), S. 8.
Der kriminelle Mensch 1077

diese Auffassung, dann stellt man freilich den Weg ins Gefängnis,
nicht aber den Weg in die Kriminalität dar, auch wenn man, wie aus-
drücklich betont wird 78, keine Kausalaussage zum kriminellen Verhal-
ten machen möchte.
VII.
Da wir gesehen haben, daß es (im traditionellen Sinne definiert) die
Unterscheidung Kriminelle/Nichtkriminelle in der Wirklichkeit nicht
gibt, steht jede vergleichende Untersuchung vor der Frage, wie sie
diese Erkenntnis sinnvoll im wissenschaftlichen Forschungsprozeß um-
setzen kann. Grundsätzlich gibt es zwei Wege, dem Dilemma zu ent-
kommen: entweder man definiert den Begriff des Kriminellen neu,
oder man löst sich von der Vorstellung, Aussagen über den "Krimi-
nellen an sich" machen zu können, sondern legt lediglich dar, wie der
Prozeß des Kriminellwerdens verläuft, unter welchen Bedingungen
jemand Kriminalität als Lebensstil oder als Lösung eines relevanten
Konflikts wählt. Eine Definition des Kriminellen, die dann allein für
kriminologische Vergleichsuntersuchungen sowohl die Schwere der
Rechtsverletzung als auch deren Häufigkeit bei einer Person berück-
sichtigen müßte, stünde freilich auch vor Schwierigkeiten, da es zuver-
lässige, willkürfreie Kriterien dafür, was als "schwerwiegend" und
"häufig" bei strafbaren Handlungen zu gelten hat, nicht gibt. Zwar
hätte eine solche Definition den Vorteil, sich nicht auf Zuschreibungs-
prozesse beziehen zu müssen, sondern den Begriff des Kriminellen
aufgrund tatsächlichen Verhaltens festzulegen, doch bliebe er weithin
unklar. Freilich ist auch der andere Weg der Definition, nämlich Kri-
minalität als "Lebensstil" zu begreifen, nicht unproblematisch. Ab
wann läßt sich "objektiv" sagen, ein wiederholt Straffälliger oder
Verurteilter habe Kriminalität als "Lebensstil" gewählt? Die Krite-
rien dafür sind, außer bei den relativ wenigen "Berufsverbrechern",
nur in Grenzen intersubjektiv nachvollziehbar. Beide Definitionsvor-
schläge bringen somit relativ große Probleme bei der Abgrenzung mit
sich. Dies führt für die Vergleichbarkeit von Kriminellen mit Nicht-
kriminelIen zu Schwierigkeiten, da die Trennbarkeit beider Gruppen
die Untersuchungsergebnisse unmittelbar beeinflußt. Angesichts dieser
Situation fragt es sich, ob es ein methodisches Vorgehen gibt, das er-
laubt, Vergleichsuntersuchungen zwischen "Kriminellen" und "Nicht-
kriminelIen" sinnvoll durchzuführen, wenn dabei Aussagen gewonnen
werden sollen, die sich auf Unterschiede in der Persönlichkeit und/
oder den Lebensumständen beziehen. Sicherlich wäre es zu optimistisch
gedacht, ginge man davon aus, daß ein solches Forschungsvorgehen
zur Verfügung stünde. Als Ausweg aus diesem Dilemma erscheint die

78 Göppinger (Fn. 70), S. 184.


1078 J osef Kürzinger

Methode der Langzeituntersuchungen79 , die ein Kollektiv von Personen


über längere Zeit hin (prospektiv) erfassen und anhand der erhobenen
Daten und der (unentdeckten und entdeckten) Kriminalität Aussagen
über den "Weg ins Verbrechen"80 ermöglichen. Diese Art von Unter-
suchungen ist vor allem im englischsprachigen Bereich nicht neu, wie
auch eine neuere übersicht81 verdeutlicht. Langzeituntersuchungen
haben den Vorteil, daß der Ausgangspunkt für alle Probanden gleich
ist und meist so gewählt wird, daß die Probanden zu Beginn der Unter-
suchung noch nicht kriminell sein können, weil ihr Alter unter dem
der Strafmündigkeitsgrenze liegt. Natürlich ist es unzutreffend anzu-
nehmen, man könne in diesen Untersuchungen die "wirkliche" Krimi-
nalität der Probanden erfassen. Das ist auch mit diesem methodischen
Vorgehen nicht möglich, wohl auch gar nicht erforderlich. Denn wenn
es richtig ist, daß jeder Mensch im Laufe seines Lebens wenigstens
eine Tat begeht, die das Gesetz als Straftat definiert, dann ist dieses
Merkmal auch bei den Probandengruppen nicht relevant, die in Lang-
zeituntersuchungen erfaßt werden. Tatsächlich wird in diesen Unter-
suchungen die Kriminalität anders betrachtet; es kann nunmehr auf-
gezeigt werden, welche Rolle die Kriminalität im Lebenslauf des ein-
zelnen einnimmt. Ob man daraus (vergleichende) Rückschlüsse ziehen
kann, weshalb jemand "kriminell" geworden ist, ist nicht beantwortet.
Das Dilemma der Kriminologie besteht wohl generell darin, daß sie
Fragen zu beantworten sucht, die mit den uns zur Verfügung stehen-
den empirischen Methoden nicht zu lösen sind. Kriminalität ist eine
sehr komplexe soziale Erscheinung, die sich der empirischen Erklä-
rung offensichtlich weithin entzieht82 . Gut ein Jahrhundert nach den
ersten empirischen Untersuchungen in der Kriminologie muß festge-
stellt werden, daß es zwar eine Fülle von erfahrungswissenschaftlichen
Ergebnissen über die Kriminalität gibt, die uns bestimmte Zusammen-
hänge zwischen Kriminalität und Persönlichkeits- sowie Umweltfak-
toren nahelegen, daß es aber nicht geglückt ist, erfahrungswissen-
schaftlich überzeugend darzutun, wie und weshalb Kriminalität im
Einzelfall entsteht. Die bisherigen Kausalerklärungen befriedigen
wenig. Sie besagen zudem für den Einzelfall kaum etwas. Angesichts

70 Vgl. dazu etwa W. McCord/J. McCord (Fn. 69); WOlfang/Figlio!Sellin,


Delinquency in a birth cohort, 1972; Wadsworth, Roots of delinquency. In-
fancy, adolescence and crime, 1979; West, Delinquency. Its roots, careers, and
prospects, 1982.
80 Dieses Diktum verwendete z. B. Abels für sein gleichnamiges, 1970 in
Stuttgart erschienenes Buch.
81 Farrington, Longitudinal research on crime and delinquency, in: MoTTis/
Tonry (eds.), Crime and Justice. An annual review of research, Volume I,
1979, S. 289 - 348, 292 und 294 f.
82 Das ergibt sich auch aus der Vielzahl der sich z. T. widersprechenden
Kriminalitätstheorien.
Der kriminelle Mensch 1079

dieser Situation muß wohl ein zweifaches Fazit aus den überlegungen
gezogen werden. Zum einen sollte man sich damit begnügen, allein
Zusammenhänge zwischen Kriminalität und Lebensumständen festzu-
stellen und zum anderen die - hier wohl falsche - Frage nach der
(naturwissenschaftlich verstandenen) Ursache des Verbrechens nicht
weiterverfolgen. Nichts spricht dafür, daß wir in der Lage sein wer-
den, diese Fragen empirisch beantworten zu können. Alle bisherigen
kausalen Ursachenerklärungen beruhen auf weltanschaulichen Grund-
annahmen, deren Richtigkeit erfahrungswissenschaftlich nicht beweis-
bar ist. Dies gilt sowohl für die psychoanalytischen, marxistischen und
vielen soziologischen Verbrechenstheorien. Wenn dies so ist, dann muß
mit einer empirischen Bescheidung auch einhergehen, andere Lösungs-
möglichkeiten für das Problem der Bewältigung der Kriminalität zu
suchen. Insbesondere läßt sich dann der Stellenwert des Strafrechts
selbst für kriminalpolitische Entscheidungen nicht unterschätzen. Die
Kriminologie leistet nur einen Beitrag unter mehreren zur Problem-
lösung. Man muß sich darüber im klaren sein, daß erfahrungswissen-
schaftliche Erkenntnis immer Stückwerk bleibt, daß anstelle des Wis-
sens gelegentlich das Gewissen, anstelle der Erkenntnis aber die Ent-
scheidung zu treten hat. Dieses Spannungsverhältnis taucht in den
Schriften von Hans-Heinrich Jescheck an vielen Stellen83 geradezu als
Leitmotiv auf. Auch die Erfahrungswissenschaft beruht auf vorwissen-
schaftlichen Annahmen, und mehr noch als die Naturwissenschaften
sind die Sozialwissenschaften geprägt von einem Vorverständnis der
Welt. Ziemt also der empirischen Kriminologie Bescheidenheit, weil
sie bestimmte Grenzen der Erkenntnis nicht zu überschreiten vermag,
dann muß sie sich an ihre grundlegende Funktion erinnern lassen:
der gerechten menschlichen Ordnung zu dienen. Damit aber stimmt
sie in ihrem Ziel mit dem des Strafrechtes überein, wie es gerade
Hans-Heinrich J es check in seinen Schriften immer wieder leidenschaft-
lich vertreten hat: dem Gedanken der Humanität.

83 Etwa Jescheck, Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft. Ausgewählte


Beiträge zur Strafrechts reform, zur Strafrechtsvergleichung und zum Inter-
nationalen Strafrecht aus den Jahren 1953 - 1979, hrsg. von Vogler, 1980, vor
allem dort S. 3 - 27.
HEINZ SCHÖCH

Empirische Grundlagen der Generalprävention

I. Kriminologie, Strafrecht und Generalprävention

Dte deutsche Kriminologie verdankt Hans-Heinrich Jescheck nicht


nur die Zusammenführung von "Strafrechtswissenschaft und Krimino-
logie unter einem Dach"l. Seiner überzeugung von der "Einheit der
Kriminalwissenschaften"! ist auch der glückliche Umstand zuzuschrei-
ben, daß Jescheck währ,end einer kritischen Entwicklungsphase der
deutschen Kriminologie den Vorsitz der interdisziplinären Prüfungs-
gruppe für das Schwerpunktprogramm "Empirische Kriminologie ,ein-
schließlich Kriminalsoziologie" bei der Deutschen Forschungsgemein-
schaft (DFG) übernahm. Die erfolgreiche Arbeit dieser Prüfungsgruppe
in den Jahren 1972 -1978 spieg,elt sich in mehreren international be-
achteten Forschungsprojekten wider, in denen neue Forschungsfelder
erschlossen und moderne Methoden der Human- und Sozialwissen-
schaften eingesetzt wurden. Sie wird auch dadurch dokumentiert, daß
es nach Ablauf des normalen Förderungszeitraums gelungen ist, die
Entscheidungsgremien der DFG von der Notwendigkeit der weiteren
Förderung der empirischen Kriminologie zu überzeugen. Dem Engage-
ment von Jescheck ist es vor allem zu verdanken, daß es 1979 zur Ein-
richtung des neuen Schwerpunktprogrammes "Empirische Sanktions-
forschung - Genese und Wirkung von Sanktionsnormen" karns.
In der folgenden Abhandlung wird über ein Forschungsprojekt zur
Generalprävention berichtet, das ohne die Förderung im Rahmen die-
ses Schwerpunktprogrammes der DFG nicht möglich gewesen wäre·.

1 Jescheck, Rückblick und Ausblick, in: Festveranstaltung zur Emeritie-


rung von Jescheck und Amtseinführung von Eser am 4.2.1983, hrsg. vom
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, 1983,
S.26; ebenso Kaiser, a. a. 0., S. 4.
2 J escheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 1978,
S.32.
S Der Antragsentwurf eines von den beteiligten Forschern beauftragten
Arbeitskreises (Brusten, Hajerkamp, Kaiser, Schöch) wurde von Jescheck
überarbeitet und gegenüber den DFG-Gremien vertreten. Zu den Vorüber-
legungen vgl. Kaiser, MschrKrim 60 (1977), S. 41 fi.; Albrecht, MschrKrim 60
(1977), S. 185 fi.
• Förderungszeitraum vom 1. 7. 1980 - 30. 6.1983.
1082 Heinz Schäch

Es wurde von meinem Göttinger Kollegen Schreiber und mir geleitet!.


Die Behandlung dieses Themas im Rahmen der dem Jubilar gewidme-
ten Festschrift bietet sich auch deshalb an, weil Jescheck wiederholt
die umfassende general präventive Funktion des Strafrechts hervorge-
hoben, zugleich aber auf dte Gefahr,en einer sich verselbständigenden
Generalprävention hingewiesen hat: "In Wahrheit ist es aber nicht
die möglichst strenge, sondern die im V,erhältnis zum Unrechtsgehalt
der Tat und zur Schuld des Täters möglichst gerechte Strafe, die sich
im Rechtsbewußtsein des Volkes als ,sittenbildende Kraft' niederschlägt.
Die Generalprävention für sich allein stiftet mehr Schaden als Nutzen"8.
Diese maßvolle Begrenzung general präventiver Zielvorstellungen ist
heute nicht mehr selbstverständlich. Teils wird die generalpräventive
Effizienz strafrechtlicher Sanktionen geleugnet 7 , teils wird die General-
prävention zum dominanten Prinzip des Strafr,echts erhoben8 • Ange-
sichts eines international feststellbaren Trends zur F,avorisierung der
Generalprävention in der Diskussion über Sinn und Zweck staatlicher
Strafen' erschien es uns sinnvoll, den Realitätsgehalt generalpräven-
tiver Effekte des Strafrechts zu ergründen und deren Gewicht für kon-
forme Einstellungen und Verhaltensweisen im Vergleich mit infor-
mellen Sanktionen und mit sonstigen konformitätsbegünstigenden per-
sönlichen und sozialen Merkmalen festzustellen.

11. Der empirische Gehalt der generalpräventiven Straftheorie


Die neue generalpräventive Strömung profitiert nicht nur von der
"Krise der Spezialprävention"IO und der Skepsis gegenüber absoluter

5 Weitere Projektmitarbeiter: Bönitz, Dölling.


e Jescheck (Fn.2), S.59, ähnlich S.3, wo außerdem die Gleichmäßigkeit
des Strafens erwähnt wird. Ders., ZStW 93 (1981), S. 24 ff., 25.
7 PZack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, 1982, S. 105 ff.;
Steinert, Festschrift für Broda, 1976, S. 337 ff.; zur Abschreckung bereits frü-
her Eb. Schmidt, Materialien zur Strafrechtsreform, 1. Band, Gutachten der
Strafrechtslehrer, 1954, S. 9 ff., 18; BockeZmann, Vom Sinn der Strafe, Hei-
delberger Jahrbücher, V, 1961, S. 25 ff., 33 f.
8 Vanberg, Verbrechen, Strafe und Abschreckung, Recht und Staat 509,
1982 (mit Darstellung utilitaristischer Okonomiemodelle aus den USA); An-
sätze auch bei Hoerster, GA 1970, 272 ff.; Ostendorf, ZRP 1976, 281 ff.; die
Dominanz der positiven Generalprävention betont vor allem Jakobs, Straf-
recht, Allgemeiner Teil, 1983, S. 1 - 23; noch stärker differenzierend Schmid-
häuser, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., 1975, S. 52 ff.
g Überblick bei Otto, Generalprävention und externe Verhaltenskontrolle,
1982, S.3 ff.; Hassemer/LüderssenlNaucke, Hauptprobleme der Generalprä-
vention, 1979; zu den Hintergründen Arzt, Der Ruf nach Recht und Ordnung,
1976.
10 Dazu Eser, Festschrift für Peters, 1974, S. 505 ff.; Kaiser, Festschrift für
Würtenberger, 1977, S. 359 ff.; Schöch, ZStW 92 (1980), S. 143 ff.; ders., Verste-
hen, Erklären, Bestrafen? In: Rechtswissenschaft und Rechtsentwicklung,
Göttinger Rechtswissenschaftliche Studien, Band 111,1980, S. 305 ff., 315 ff.
Empirische Grundlagen der Generalprävention 1083

Rechtfertigung der Strafe 11 • Entscheidend hat zu ihrer Renaissance -


jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland - auch die Akzentver-
lagerung von der negativen (speziellen) auf die positive (allgemeine)
Generalprävention beigetragen12 . Seit der gesetzlichen Veran~erung des
Begriffes "Verteidigung der Rechtsordnung" wird zunehmend betont,
daß die Generalprävention neben der Abschreckung potentieller Täter
auch die "Erhaltung und Stärkung des Vertrauens in die Bestands-
und Durchsetzungskraft der Rechtsordnung" umfasse 13 . Mit dieser Er-
weiterung des Blickfeldes ist die ohnehin schwierige empirische Kon-
trolle gener,alpräventiver Strategien noch schwieriger geworden. Has-
semer meint, daß dieses moderne generalpräventive Konzept der Sta-
bilisierung des Rechtsvertrauens und der Bekräftigung sozialer Normen
durch das Strafrecht vollständig gegen Falsifizierung abgesichert sein
dürfteu.
Gewiß trifft es zu, daß die positive Generalprävention ein komplexes
normativ-empirisches Geflecht umschreibt, das nur begrenzter empiri-
scher Prüfung zugänglich ist. Andererseits enthalten Begriffe wie
"ernstliche Beeinträchtigung der Rechtstreue der Bevölkerung"15 oder
"Erschütterung des Vertrauens der Bevölkerung in die Unverbrüchlich-
keit des Rechts und in den Schutz der Rechtsordnung vor kriminellen
Angriffen"lO empirisch feststellbare tatsächliche Elemente über Einstel-
lungen und Kenntnisse der Bürger, die für die Anwendung der Rechts-
begriffe nicht völlig bedeutungslos sein können17. Lediglich die Gewich-
tung empirischer Befunde und ihre Bewertung nach den strafrechtli-
chen Sollensanforderungen bleibt eine normative Frage18.
Schließlich ist zu berücksichtigen, daß die Theorie der positiven Ge-
neralprävention nicht nur eine Straf theorie ist, die sich auf die Wir-
kungen der Straf,e bezieht. Vielmehr handelt es sich zu einem wesent-
lichen Teil um eine Strafrechtstheorie, welche die Funktion des Straf-
rechts und der damit verbundenen Sanktionen in der Gesellschaft er-

11 Roxin, JuS 1966, 377 ff.; Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe, 2. Aufl.,
1971, S.43 ff.; Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 2. Aufl. 1976,
S. 20 ff.
12 Hassemer, in: Hassemer/LüderssenlNaucke (Fn.9), S.36; Jakobs (Fn.8),
S. 15 f., 21; aus tiefenpsychologischer Sicht: Haffke, Tiefenpsychologie und
Generalprävention, 1976; Streng, ZStW 92 (1980), S. 637 ff.
13 BVerfGE 45, 187,256; ähnlich BGHSt. 24, 40, 44 ff.; 24,64, 66.
14 Hassemer (Fn. 12), S. 36, 52.
15 BGHSt. 24, 40, 45.
10 BGHSt. 24, 64, 66.
17 Vgl. Maiwald, GA 1983, 49 ff., 66 ff.; Naucke, JR 1980, 257 ff.; Schreiber,
Recht und Politik 1983, 36 ff., 37 f.
18 Insoweit zutreffend OLG Celle, JR 1980, 256 m. Anm. Naucke; aus-
schließlich normativ dagegen BayObLG JR 1978, 513 m. Anm. Horn.
1084 Heinz Schöch

klärti'. Danach ist es oberstes Ziel des Strafrechts, "die Gesellschaft vor
sozialschädlichem Verhalten zu bewahren und die elementar,en Werte
des Gemeinschaftslebens zu schützen (,allgemeine Generalpräv,en-
tion')"zo.
Diese normative Ebene der Rechtfertigung des Strafrechts ist gegen em-
pirische Falsifizierung in der Tat weitgehend immun. Es ist praktisch unbe-
streitbar, daß jede Sanktion der Bekräftigung der Norm dient oder eine
"Bestätigung der Rechtsordnung durch Widerspruch auf den Normbruch des
Täters"21 darstellt. Die normative generalpräventive Grundlage der "Insti-
tution Strafe" wäre nur dann aus den Angeln gehoben, wenn die völlige
Entbehrlichkeit des Strafrechts zum Schutze elementarer Rechtsgüter oder
die totale Wirkungslosigkeit sicherer Bestrafung auf potentielle Täter nach-
gewiesen wäre. Beides sind utopische Vorstellungen.

Auf der Ebene der realen Wirkungen der Strafe verbleiben demnach
folgende empirisch prüfbare Grundannahmen, die aus der Theorie
der Generalprävention abzuleiten sind 22 •
- Durch Intensivierung staatlicher Strafen werden potentielle Täter
von der Begehung ähnlicher Straftaten abgehalten (spezielle oder
negative Generalprävention).
- Durch Intensivierung staatlicher Strafen wird das Gefühl der Straf-
rechtsgeltung in der Bevölkerung gestärkt und ihr Vertrauen in den
Schutz der Strafrechtsordnung vor kriminellen Angriffen gefestigt
(positive Generalprävention).
Im Rahmen beider Thesen ist die Intensivierung staatlicher Strafen
auf den verschiedenen Stufen der Verwirklichung des Strafrechts denk-
bar und überprüfbar, von der gesetzlichen Strafdrohung über die Ver-
brechensaufklärung und -verfolgung durch Polizei und Staatsanwalt-
schaft, die Strafzumessungspraxis der Gerichte bis zu den Entscheidun-
gen über die VollstI'leckung der Strafe!~.

19 Ähnlich Hassemer (Fn. 12), S.40; ders., in: Hassemer/LüderssenlNaucke,


Fortschritte im Strafrecht durch die Sozialwissenschaften, 1983, S. 39 ff., 43,
58 ff.
20 BVerfGE 45, 187, 254; vgl. auch BVerfGE 39, 1 ff.; differenzierend
Naucke (Fn. 19), S.9 ff., 27 f.
21 Jakobs (Fn. 8), S. 3 f., 7 f., Vorwort V.
22 Formulierung auf der Grundlage von BGHSt. 24, 40, 45 f.; BGHSt. 24,
64,66.
23 Vgl. Schmidhäuser (Fn.8), S. 58 ff. mit Differenzierung nach Sinnerleb-
nissen der Beteiligten und Ablehnung der Generalprävention auf den letz-
ten beiden Stufen.
Empirische Grundlagen der Generalprävention 1085

IH. Methodische Ansätze zur empirischen


Prüfung der Generalprävention

Die herkömmliche Methode zur Prüfung generalpräventiv,er Wir-


kungen besteht in einem Vergleich zwischen Sanktionspraxis und Ver-
urteilten- bzw. Straftatenzi,ffern anhand offizieller Statistikenu . Die
hierfür erforderliche quasiexperimentelle Forschungsanordnung setzt
voraus, daß es geographische Regionen oder verschiedene Zeitabschnitte
gibt, die sich in der Sanktionspraxis unterscheiden, in anderen krimin.a-
litätsrelevanten Bereichen aber im wesentlichen gleich sind (z. B. Wirt-
schafts-, Bevölkerungs- und Sozialstruktur, Urbanisierung, gesellschaft-
liche Moralvorstellungen, Staatsverfassung). Solche Konstellationen sind
äußerst selten. Selbst wenn es gelingt, bei plötzlichem Wandel der
Sanktionspolitik oder bei regional unterschiedlichen Sanktionsstrate-
gien einigermaßen vergleichbare Verhältnisse aufzufinden, ist die Aus-
sagekraft dieser kriminalstatistischen Methode begrenzt.
Die registrierten Straftatenziffern werden durch andere schwer kontrol-
lierbare Faktoren des strafrechtlichen Kontrollsystems vermutlich stärker
beeinflußt als durch Strafdrohungen und Strafzumessungspraxis, z. B. durch
das Anzeigeverhalten der Bevölkerung oder durch die Strafverfolgungska-
pazität, die Verurteiltenziffern darüber hinaus durch unterschiedliche An-
klage-, Einstellungs- und Verurteiltenquoten. Lediglich bei Kapitaldelikten
oder Delikten mit schweren Folgen kann eine gewisse Konstanz dieser Fak-
toren vermutet werden; im Bereich der kleineren und mittleren Krimina-
lität muß aber mit erheblichen Schwankungen gerechnet werden. Diese
Methode ist in der Bundesrepublik Deutschland bisher nur im Bereich der
Trunkenheitsdelikte im Verkehr einigermaßen konsequent eingesetzt wor-
den25 • Dabei ließen sich insbesondere die Verurteilungen wegen fahr-
lässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung unter Alkoholeinfluß
als Indikator für die tatsächliche Delinquenzentwicklung heranziehen,
weil hier die Fehlerquellen der Statistik am wenigsten ins Gewicht
fallen. Insgesamt konnte die generalpräventive Gleichwertigkeit der
Geldstrafe gegenüber der kurzen Freiheitsstrafe dokumentiert werden28 •
Im übrigen wurden die internationalen Befunde zur generalprä-
ventiven Effektivität der Todesstrafe bei Tötungsdelikten rezipiert,
die ganz überwiegend die Ersetzbarkeit der Todesstrafe durch die
lebenslange Freiheitsstrafe aus generalpräventiver Sicht stützten!7. Für
andere Delikte liegen - wohl vor allem aus den genannten methodischen
Gründen - nicht einmal solche Vergleiche zwischen Strafpraxis und Kri-
minalitäts- bzw. Verurteiltenziffern vorl8 •

U Kaiser, MschrKrim 60 (1977), S. 41 ff., 46 f. m. w. N.


!5 Kaiser, Verkehrsdelinquenz und Generalprävention, 1970, S. 339 ff.;
Schöch, Strafzumessungspraxis und Verkehrs delinquenz , 1973, S. 197 ff.
28 Schöch (Fn. 25), S. 203 ff.; weitere (noch nicht veröffentlichte) statistische
Auswertungen bestätigen die damaligen Ergebnisse.
27 Vgl. die Gutachten von Müller-Dietz und Kaiser für das BVerfG, in:
Jescheck/TritJterer, Ist die lebenslange Freiheitsstrafe verfassungswidrig?
1978, S. 91 ff., 115 ff. m. w. N.; ferner Schöm (Fn. 25), S. 88.
1086 Heinz Schöch

In Anlehnung an neuere ausländische ForschungsansätzeZg wurde des-


halb in der vorliegenden Untersuchung die Methode der Befragung
und Einstellungsmessung bei Individuen eingesetzt, um differenzier-
ter,e Erkenntnisse über generalpräventive Wirkungsmechanismen bei
v,erschi,edenen Deliktstypen zu erhalten. Diese Methode ist in der
deutschsprachigen Kriminologie bisher noch relativ selten angewandt
worden. Sie ist aber notwendig und legitim, weil nur so die subjektive
Perzeption der Sanktionswirklichkeit ermittelt und mit deliktischem
Verhalten oder mit Einstellungen zu potentieller Kriminalität in Ver-
bindung g,ebracht werden kann. Sowohl für die allgemeine Abschrek-
kung als auch für die positive Generalprävention kommt es aber ent-
scheidend darauf an, wie die Bürger die Strafdrohungen, Strafverfol-
gungsrisiken und die Strafzumessungspraxis wahrnehmen und wie sich
dies auf Konformität oder Abweichung und auf das Gefühl der Rechts-
geltung auswirkt. Nur auf diesem Weg kann auch das Gewicht straf-
rechtlicher Sanktionen im Vergleich mit anderen konformitätsrelevan-
ten sozialen und persönlichen Merkmalen ermittelt werden, die nach
kriminalitätstheoretisch begründeten Erfahrungen bedeutsam sind.
Erste Ansätze in dieser Richtung finden sich in Deutschland in einer Un-
tersuchung von Breland30 und - zunehmend differenzierter - in Unter-
suchungen von Diekmann81 und Albrecht8!. Etwa gleichzeitig mit unserer
Untersuchung wurde von der DFG ein Bremer Forschungsprojekt unter der
Leitung des Soziologen Schumann gefördert, das sich mit der "Rolle des
Strafrechtssystems bei der Motivierung Jugendlicher zu konformem Ver-
halten" befaßt. Die dortige Befragung bezieht sich auf 6 Delikte (Drogen-
gebrauch, Schwarzfahren, Sachbeschädigung, Fahren ohne Fahrerlaubnis,
Ladendiebstahl, Körperverletzung) und wurde bei insgesamt 750 Jungen
und Mädchen als Längsschnittstudie durchgeführt: Zunächst wurden Rechts-
und Sanktionswissen, Normbindung, Gruppenzugehörigkeit und Legalver-
halten, zu einem späteren Zeitpunkt ein zweites Mal das Legalverhalten

28 Zum internationalen Erkenntnisstand vgl. Andenaes, Punishment and


Deterrence, 1974 (mit zahlreichen historischen Beispielen); ZimringlHawkins,
Deterrence, 1973; Beyleveld, A Bibliography on General Deterrence Research,
1980.
29 Insbesondere Tittle, Sanction Fear and the Maintenance of Social Order,
Social Forces 55; 3 (1977), S. 579 ff.; ähnliche Ansätze bei WaldolChiricos, Per-
ceived Penal Sanctions and Self-reported Criminality, Social Problems 19
(1972), S. 522 ff.; Teevan, Jr., Subjective Perception of Deterrence, Journal
of Research in Crime and Delinquency 13 (1976), S. 155 ff.; BaileylLott, Crime,
Punishment and Personality. Journal of Criminal Law and Criminology 67
(1976), S. 99 ff.; Silbermann, Toward a Theory of Criminal Deterrence, Ame-
rican Sociological Review 41 (1976), S. 442 ff.; Upper/White, An Experimen-
tal Study of General Deterrence, Nederlands Tijdschrift voor Criminologie 18
(1976), S. 68 ff.
30 Breland, Lernen und Verlernen von Kriminalität, 1975.
81 Diekmann, Die Befolgung von Gesetzen, 1980.
81 Albrecht, Die generalpräventive Effizienz von strafrechtlichen Sank-
tionen, in: Empirische Kriminologie, Kriminologische Forschungsberichte
aus dem Max-Planck-Institut, Band 1, 1980, S. 305 ff.
Empirische Grundlagen der Generalprävention 1087

erfragt; ergänzend wurden Auszüge aus dem Erziehungsregister herange-


zogen. Durch diese Forschungsanordnung wurde dem theoretisch berech-
tigten Einwand Rechnung getragen, daß bei dem bisher im internationalen
Bereich dominierenden Querschnittsdesign eine eindeutige kausale Zuord-
nung der Variablengruppen kaum möglich sei33 • Denn bei gleichzeitiger Er-
fassung von Sanktions- und Delinquenzvariablen kann nicht unbedingt
festgestellt werden, welches die unabhängige und welches die abhängige
Variable ist. Es ist nicht auszuschließen, daß die Sanktionsperzeption von
den Erfahrungen aufgrund früherer Delinquenz abhängt und nicht - wie
es der zugrunde liegenden Theorie entspräche - umgekehrt die Delinquenz
von der Sanktionsperzeption.
Die ersten Auswertungen des Bremer Projektes zeigen, daß die Unter-
schiede zwischen Längsschnitts- und Querschnittsbetrachtung hinsichtlich
des Zusammenhangs zwischen Sanktionsrisiko und Deliktsverhalten so mi-
nimal sind, daß sie praktisch kaum ins Gewicht fallen 34 • Dies konnte auch
erwartet werden, weil die Sanktionsperzeption ein relativ stabiles Merkmal
sein dürfte, das aus langjähriger Selbst- und Fremderfahrung entsteht und
in relativ geringem Umfang durch Deliktsbegehungen innerhalb eines Jah-
res, beeinflußt wird. Die Klärung dieser Frage durch die Bremer Studie ist
ohne Zweifel ein wesentlicher Beitrag zur methodischen Verfeinerung ge-
neralpräventiver Effektivitätsmessung. Als Ertrag ist jedoch festzuhalten,
daß auch die herkömmlichen Querschnittsdesigns zu vergleichbaren und
theoretisch interpretierbaren Ergebnissen gelangen.

IV. Methodische Anlage der eigenen Untersuchung


In unserer Untersuchung wurde deshalb auf die relativ aufwendige
Doppelbefr.agung verzichtet, zumal bei dieser die für Deliktsbefra-
gungen unbedingt notwendige Anonymität - zumindest aus der Sicht
der Befragten - nicht in gleicher Weise gewährleistet werden kann
wie bei einer einmaligen Befragung. Dem eben ·erwähnten methodi-
schen Einwand wurde dadurch Rechnung getragen, daß nicht nur ver-
gangenes deliktisches Verhalten, sondern auch die selbsteing.eschätzte
künftige Begehungswahrscheinlichkeit als Kriterium für die Abschrek-
kungswirkung herangezogen wurde ss. Außerdem wurde zur Kontrolle
möglicher Perzeptions änderungen danach gefragt, ob sich das einge-
schätzte Sanktionsrisiko im Laufe des letzten Jahres (Zeitraum für die
erfragte Deliktsbegehung) geändert habe. Dieses "ökonomischere" Vor-
gehen machte es möglich, insgesamt zwölf Delikte in die Untersuchung
einzubeziehen, die formellen und informellen Sanktionen sowie die In-

88 SchumannlBerlitzlGuthlKaulitzki, Lassen sich generalpräventive Wir-


kungen der Strafrechtspflege bei Jugendlichen nachweisen? In: Jugendge-
richtsverfahren und Kriminalprävention, Schriftenreihe der Deutschen Ver-
einigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen, Neue Folge, Heft 13,
1984, S. 281 ff., 286; vgl. auch Albrecht (Fn. 32), S. 315 m. w. N.
84 Schumann u. a. (Fn. 33), S. 286, 294.
85 Ebenso Tittle (Fn.29), S. 580 f.; nur Begehungswahrscheinlichkeit bei
Albrecht (Fn. 32), S.316.
1088 Heinz Schöch

dikatoren für generalpräventive Effekte und mögliche Moderatorva-


riablen relativ differenziert zu erfassen, und schließlich in zwei Stufen
einen relativ großen Probandenkreis zu befragen.
Im ersten Untersuchungsabschnitt (1981) wurden 362 iunge Männer im
Alter von 18 - 21 Jahren im Rahmen der Eignungs- und Verwendungsprü-
fung bei der Musterung für die Bundeswehr zu 12 Delikten und 2 Schein-
delikten (fahrlässige Sachbeschädigung und Nichtbezahlen von Schulden)
befragt; in gleicher Weise wurden im Sinne einer Validitätskontrolle 82 Ju-
gendarrestanten und 96 Jugendstrafgefangene untersucht. Im zweiten Ab-
schnitt (1982) wurde mit Hilfe eines Meinungsforschungsinstituts eine reprä-
sentative Stichprobe der strafmündigen Bevölkerung der Bundesrepublik
Deutschland zu 4 Delikten befragt, insgesamt 2036 Männer und Frauen im
Alter zwischen 14 und 87 Jahren. Sämtliche Befragungen wurden vollstan-
dardisiert und schriftlich durchgeführt. Die Vertraulichkeit und Anonymität
wurde im ersten Abschnitt durch Gruppenbefragungen mit verdeckter Fra-
gebogenabgabe (Urne) dokumentiert, bei der Repräsentativbefragung durch
nachdrückliche Versicherungen und Abgabe des vom Probanden allein aus-
gefüllten Fragebogens in einem versiegelten Umschlag.

Der Untersuchungsplan ergibt sich aus Tabelle 1. Die Probanden


wurden nicht etwa gefragt, wie sie die abschreckenden oder normstabili-
sierenden Wirkungen bestimmter Sanktionen einschätzen. Vielmehr
wurden nach einleitenden Fragen zu soziodemographischen Daten die
einzelnen Merkmale der potentiellen Wirkungsfaktoren (unabhängige
Variablen) und der interessierenden Auswirkungen (abhängig,e Variab-
len) getrennt voneinander erhoben, wobei mit den Fragen zur selbst-
berichteten Delinquenz begonnen wurde, um die Deliktsdefinitionen'
einzuführen und verfälschende Einflüsse auszuschließen, die sich aus
der Durchschaubar~eit des Untersuchungszieles für die Befragten er-
g,eben könnten. Diese Untersuchungsanordnung ermöglicht es, bei der
Auswertung der Befragungsergebnisse ein quasiexperimentelles For-
schungsdesign zu bildenlll , in dem Teilgruppen mit hohem und solche
mit niedrigem perzipiertem Sanktionsrisiko im Hinblick auf Delikts-
belastung oder selbsteingeschätzte Begehungswahrscheinlichkeit ver-
glichen werden. Auf diese Weise lassen sich beispielhaft Hypothesen mit
folgender Grundstruktur prüfen:
- Je höher das Entdeckungsrisiko bei einem Delikt eingeschätzt wird, desto
seltener wird dieses Delikt begangen.
- Je strenger die von den Probanden perzipierte Strafzumessungspraxis
für ein Delikt ist, desto geringer ist die selbsteingeschätzte künftige Be-
gehungswahrscheinlichkeit.

38 Vgl. MayntzlHolmlHübner, Einführung in die Methoden der empiri-


schen Soziologie, 4. Auft. 1974, S. 187 f.
Tabelle 1: Untersuchungsplan "Generalprävention"
'"'"
~ Popu-
lation Unabhängige Variablen (UV) Moderator-Variablen (MV) Abhängige Variablen (AV)

i
~ I. 1. Perzipierte Strafwirklichkeit 1. Soziodemograph. Daten 1. Abschreckungswirkung
12 Delikte (skalierte Einschätzungen) sozioökon. Status, Schulbil-
bei jM8 l Kenntnis der Strafbarkeit, Auf- dung, juristische Vorbil- 1.1 Selbstberichtete
Delinquenz
~ klärungs- und Verurteilungs- dung, Alter, Stadt/Land-
(registrierte und nicht
i.
::l.
U>
wahrscheinlichkeit, Höchststrafe, Herkunft
Strafzumessungspraxis, subjektiv registrierte Delinquenz) ~
empfundene Strafschwere, 2. Persönlichkeitsdaten t:;)
I Straf-Index Aggressivität, Extraversion, 1.2 Selbsteingeschätzte §
Dominanz, Offenheit u. wei- künftige Begehungswahr-
2. Perzipierte informelle Sanktionen scheinlichkeit e:
(skalierte Einschätzungen) tere Dimensionen des FPI,
Autoritarismus, kognitive (skaliert 0 - 100 %)
Ansehensverlust bei Bekannten Komplexität, internale/ex- ~
und Verwandten, berufliche ternale Kontrollüberzeu- 1.3 Abschreckungsindex
Nachteile gung, Rigidität (NR-Skala), (Deliktsneigung: 1.1 + 1.2) ~
Risikoneigung
11. 3. Konformitätsrelevante Variablen 2. Gefühl der Rechtsgeltung
4 Delikte Moralische Verbindlichkeit der 3. Sonstige
~
'1
beiDbl Norm, Deliktsbegehung im 2.1 Eingeschätzte
Subjektive Strafzweck- ~
Bekanntenkreis orientierung, perzipierter Begehungshäufigkeit Dl:
Vorteil bei Deliktsbegehung hinsichtlich der Gesamt- r6
4. Modifizierte Situation bevölkerung
(experimentähnliche Variation: Je nach Fragerichtung kön- (skaliert 0 - 100 %)
ao·
z. B. Straflosigkeit) nen UV, MV und AVunter- ::J
schiedlich zugeordnet 2.2 Verbrechens- und
werden, insbes. MV Opferangst

a) 362 junge Männer (18 - 21 J.) im Rahmen der Eignungs- und Verwendungsprüfung bei der Musterung für die Bun-
deswehr; ergänzend 82 Jugendarrestanten und 96 Jugendstrafgefangene. ....
c
(Xl
b) 2036 Deutsche - repräsentative StichprObe aus der gesamten Bundesrepublik Deutschland (männlich und weiblich; ce
14 - 87 J.).
1090 Heim Schöch

V. Operationalisierung der Variablen


in der Repräsentativbefragung und deskriptive Ergebnisse
Die Auswertung der ersten Untersuchung hatte ergeben, daß bei jun-
gen Männern aus der Normalpopulation gewisse Einflüsse der Strafva-
riablen auf das Legalverhalten eher bei leichteren Delikten wie Schmug-
gel, Diebstahl am Arbeitsplatz, Ladendiebstahl, Leistungserschlei-
chung, Körperverletzung und Rauschgiftgenuß feststellbar sind, wäh-
rend bei Mord, Raub, sexueller Nötigung oder Einbruchsdiebstahl keine
signifikanten Korrelationen ermittelt werden konnten, überraschender-
weise auch nicht bei Fahren ohne Fahrerlaubnis und Trunkenheit im
V,erkehr37 • Soweit Einflüsse erkennbar waren, hatte - in übereinstim-
mung mit internationalen Befunden und den ersten deutschen Ergeb-
nissen - das Entdeckungsrisiko größeres Gewicht als die erwartete
Strafschweress. Insgesamt waren jedoch die Korrelationen recht schwach
ausgeprägtS9 • Als wesentlich wichtiger erwiesen sich die moralische Ver-
bindlichkeit der Norm und - deliktsfördernd - die Deliktsbegehung
im Bekannten- und Freundeskreis, in geringerem Umfang die infor-
melle Reaktion bei Bekannten und Verwandten. Danach scheint insbe-
sondere bei den schweren Delikten die moralische Verbindlichkeit -
möglicherweise mitbedingt durch tradierte Strafrechtsnormen - so
stark und die Distanz zur Delinquenz so groß zu sein, daß Vorstellun-
gen über Entdeckungs- oder Strafrisiken jedenfalls statistisch keine
nachweisbare Bedeutung haben'o.
Deshalb und aus ökonomischen Gründen wurde die Repräsentativ-
befragung ,auf vier leichtere bis mittelschwere Delikte beschränkt:
S~muggel, Diebstahl am Arbeitsplatz, Trunkenheit im Verkehr und
Körperverletzung. Dabei erfolgte eine Beschränkung auf Körperver-
letzung mit ärztlich zu behandelnden Folgen, um auch ein Delikt mit
mittelschwerem Unrechtsgehalt zu erfassen.
Im folgenden soll am Beispiel der Repräsentativbefragung dargelegt
werden, wie die wichtigsten Variablen operationalisiert wurden. Die
in Tabelle 2 hierzu mitgeteilten Ergebnisse auf deskriptiver Ebene
(Mittelwerte) zeigen die Differenzierungsfähigkeit des methodischen
Instrumentariums und geben bereits erste Hinweise für das Gewicht
generalpräventiv wirksamer Faktoren.
37 Dazu Dölling, Strafeinschätzungen und Delinquenz bei Jugendlichen
und Heranwachsenden, in: Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentste-
hung und Kriminalitätskontrolle, hrsg. von KernerlKurylSessar, Interdiszi-
plinäre Beiträge zur kriminologischen Forschung, Band 6/1, S. 51 ff., 70, 72.
3S DölZing (Fn. 37), S.73.
3D Dölling (Fn.37), S. 70, 72: beim Entdeckungsrisiko von -.03 bis -.33,
bei der Strafschwere von 0 bis -.21.
40 Eine Abweichung in Sonderfällen ist möglich, da statistische Regel-
mäßigkeiten immer nur allgemeine Orientierungshilfen sein können.
Empirische Grundlagen der Generalprävention 1091

Tabelle 2: Perzipierte Sanktionswirklichkeit,


Tatbegehung, Gefühl der Rechtsgeltung
Arithmetische Mittel der Einschätzungen auf Skalen") von 0 (= gar nicht
schlimm oder 0 %) bis 100 (= sehr schlimm oder 100 %)

Schmuggel Diebstahl Trunken- Körperverl.


am heitim mitschw.
ArbeitspI. Verkehr Folgen

1. Informelle
Reaktionen
Verwerflichkeit
der Straftat 38 58 80 92
Erwart. Reaktion
der Mutter 62 72 78 90
Erwart. Reaktion
bei Freunden
u. Bekannten 52 62 66 82
Erwart. berufl.
Nachteile 22 52 43 58
Delikte bei
Bekannten (%) 41 33 54 15
2. Formelle Sanktionen
Geschätztes persönl.
Entdeckungs-
risiko (%) 48 41 55 66
Erfahrene tatsächI.
Entdeckungsquote
bei Tätern (%) 10 5 17 30
Subjektive Straf-
schwere
(Einschätzung) 50 60 78 88

3. Tatbegehung
Angegebene eigene
Begehungshäufigkeit
(% der Befragten) 28 20 25 5
Selbsteingeschätzte
Begehungswahr-
scheinlichkeit (%) 36 23 21 10

4. Gefühl der Rechts-


geltung
Geschätzter Anteil
der Täter in der
Bundesrepublik
Deutschland (%) 54 48 49 19

a) In der Erhebung wurden nur die in der Tabelle mit %-Werten gekenn-
zeichneten Merkmale auf Skalen von 0 - 100 % erfaßt, die übrigen Merk-
male auf sechsstufigen Skalen von 1- 6 nach dem subjektiv empfundenen Ge-
wicht eingeschätzt. Um die Anschaulichkeit und Vergleichbarkeit der Darstel-
lung zu ermöglichen, erfolgte eine Skalentransformation der Mittelwerte auf
die 100er-Skala.

69·
1092 Heinz Schöch

Tabelle 2 (Fortsetzung)
Schmuggel Diebstahl Trunken- Körperverl.
am heitim mitschw.
Arbeitspl. Verkehr Folgen

nicht auf einzelne Delikte bezogen


Verbrechensangst
(Kriminalitätsan- 56
stieg im Wohnort)
Bedürfnis nach
strengeren Strafen
für Verbrechens-
bekämpfung 64

1. Zu den schwierigsten Aufgaben bei der Generalpräventionsfor-


schung gehört die angemessene Operationalisierung der abhängigen
Variablen "Abschreckungswirkung". Da es hierbei um die Unterlas-
sung künftiger Straftaten geht und und eine totale Verhaltenskontrolle
weder gegenwärtig noch künftig möglich oder wünschenswert ist,
kommt nur eine Annäherung über geeignete Indikatoren in Betracht.
Um alle denkbaren Ansatzpunkte auszuschöpfen, haben wir die Ab-
schreckungswirkung durch zwei Merkmale auf verschiedenen Ebenen
erfaßt: die tatsächlich,e bisherige Deliktsbegehung und die selbsteinge-
schätzte künftige Begehungsbereitschaft. Die Ebene des tatsächlichen
Verhaltens kann nach den aus der Dunkelfeldforschung vorliegenden
Erfahrungen durch anonyme Befragungen nach begangenen Straftaten
einigermaßen zuverlässigerfaßt werden (selbstberichtete Delinquenz),
. jedenfalls sofern es sich nicht um schwerste Delikte handeltu. Ergän-
zende Untersuchungen haben ergeben, daß Straftatbestände mit Hilfe
allgemeinverständlicher Umschreibungen auch von weniger Gebilde-
ten im Kern durchaus richtig verstanden werdenu.
Am Beispiel des Schmuggels und der Trunkenheit im Verkehr sei
die Formulierung der Deliktsfragen v,erdeutlicht:
"Es ist ja bekannt, daß die meisten Menschen schon einmal etwas ange-
stellt haben, was nicht ganz mit dem Gesetz zu vereinbaren ist, z. B. werden
Obst oder Blumen aus Gärten oder Feldern mitgenommen. Einige solcher
Dinge interessieren uns jetzt bei Ihnen.
- Haben Sie im letzten Jahr oder früher schon einmal zollpflichtige Wa-
ren über die Grenze gebracht, ohne sie zu verzollen (z. B. Tabakwaren,
Schnaps mehr als erlaubt oder auch Pelze, Schmuck)?

41 Schöch, Kriminologische Gegenwartsfragen 12 (1976), S. 211 ff.; Ame-


lung, MschrKrim 54 (1971), S. 98 ff., 101; Kreuzer, RdJ 23 (1975), S. 229 ff.;
ders., Festschrift für Mallmann, 1979, S. 129 ff.
42 Schöch (Fn.41), S. 218 f.; Stephan, KrimJ 1972, 272 ff.; Kürzinger, RdJ
21 (1973), S.147 ff.; Villmow, Schwereeinschätzung von Delikten, 1977, S. 94 ff.
Empirische Grundlagen der Generalprävention 1093

- Sind Sie im letzten Jahr oder früher schon einmal mit einem Kfz oder
Fahrrad im öffentlichen Straßenverkehr gefahren, obwohl Sie zuviel Alkohol
(1,3 %0 und mehr, das entspricht z. B. 2,5 Liter Bier oder 1 Liter Wein in
3 Stunden) getrunken hatten?"
Aus Tabelle 2 Nr.3 ergibt sich, daß die durchschnittliche Quote derer,
die das Delikt mindestens einmal begangen haben, von 5 % bei der
Körperverletzung bis zu 28 % beim Schmuggel reicht. Die Differenzen
entsprechen der unterschiedlichen Deliktsschwere (im Regelfall) und
der Häufigkeit der potentiellen Deliktssituation. Die im Vergleich zu
anderen Dunkelfelduntersuchungen geringeren Begehungsquoten43 be-
ruhen auf der Einbeziehung der erfahrungsgemäß weniger delikts an-
fällig,en Frauen und der älteren Jahrgänge.
Noch deutlicher sind die Abstufungen bei den Durchschnittswerten
des zweiten Indikators, der selbsteingeschätzten künftigen Begehungs-
wahrscheinlichkeit (Tabelle 2 Nr.3). Hier waren die Probanden fol-
gendermaßen gefragt worden:
"Es gibt vielleicht Sachen, die Sie niemals tun, andere, die Sie fast selbst-
verständlich tun würden. Wie ist das bei den vier Taten?
Könnten Sie sich vorstellen, daß Sie das vielleicht einmal tun werden,
wenn sich eine gute Gelegenheit bietet?" (Die Antworten waren auf einer
elfstufigen Skala von 0 - 100 % einzutragen.)

Die selbsteingeschätzte Begehungswahrscheinlichkeit reicht von


durchschnittlich 10 % bei der Körperverletzung bis zu 36 % beim
Schmuggel, weist also eine etwas größere Varianz auf als die Delikts-
begehung. Allerdings bewegen wir uns mit diesem Indikator bereits
auf der subjektiven Ebene der Einstellungen, deren Relevanz für tat-
sächliches Verhalten bisher nur plausibel vermutet, aber nicht nach-
gewiesen werden kann. Die selbsteingeschätzte Begehungswahrschein-
lichkeit läßt sich aber wohl interpretieren als Verhaltensbereitschaft,
die in der Regel der tatsächlichen Begehung eines Deliktes vorausgehtU.
Dafür sprechen auch relativ hohe Korrelationen mit der früheren De-
liktsbegehung. Im übrigen ist sie Ausdruck für "Konformität" oder
"Rechtstreue" , deren Erhaltung das Ziel der Generalprävention nach
der neue ren Rechtsprechung ist 45.
Aus beiden Merkmalen wurde schließlich ,ein kombinierter Maßstab
gebildet, den man als Index für die "Deliktsneigung" bezeichnen kann
und der in mehreren Ausprägungsgraden von der völlig fehlenden über

43 Vgl. die in Fn.41 genannten Forschungsberichte; Zusammenfassung


weiterer Forschungsergebnisse bei Kaiser, Kriminologie (Lehrbuch) 1980,
S.236 ff.
44 Albrecht (Fn. 32), S. 316.
41 Siehe Fn. 13, 15, 16.
1094 Heinz Schöch

die geringe, mittlere und hohe Begehungsbereitschaft bis zur einmali-


gen und mehrfachen Deliktsbegehung reicht. Als Indikator für das
Gefühl der Rechtsgeltung, mit dem die positive Generalprävention ver-
einfacht erfaßt werden kann, wurde der von den Probanden geschätzte
Anteil der Täter in der Bundesrepublik Deutschland herangezogen. Aus
Tabelle 3 Nr.4 ergibt sich, daß die allgemeine Begehungshäufigkeit
durchschnittlich höher eingeschätzt wird als die eigene (19 % für Kör-
perverletzung bis 54 % für Schmuggel).
Diese zunächst überraschende Diskrepanz dürfte dadurch zu erklären sein,
daß es sich um gefühlsabhängige Einstellungen handelt und die schlechtere
Einschätzung des anderen eine durchaus verbreitete menschliche Haltung
ist. Hinzu kommt, daß bei der selbstberichteten Delinquenz nach früheren
Untersuchungen mit gewissen Beschönigungstendenzen aufgrund von Er-
innerungsschwäche oder begrenzter Offenheit zu rechnen ist, eine Erfah-
rung, die nach den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung auch auf die
selbsteingeschätzte Begehungswahrscheinlichkeit zu übertragen ist48 •
Diese Unschärferelation der abhängigen Variablen schließt es trotz der
Repräsentativität der Untersuchung aus, insoweit von gesicherten Abbildern
der Realität zu sprechen. Vielmehr geben auch die Antworten zur Delikts-
begehung hinsichtlich der Befragten selbst und der Allgemeinheit nur eine
subiektiv gefilterte Realität wieder. Dennoch handelt es sich um die bisher
validesten IndikatorenU für die Messung generalpräventiver Effekte, die
sich vor allem für einen Vergleich zwischen den Einflüssen von Strafvaria-
blen und anderen konformitätsrelevanten Variablen eignen, weil sich mög-
liche Ungenauigkeiten auf feststellbare Zusammenhänge in gleicher Rich-
tung und Stärke auswirken. Lediglich die Höhe der Korrelationen kann
insgesamt durch die etwas zu geringe Varianz der Abschreckungsvariablen
beeinflußt sein.

--8chließlich wurden als Indikatoren für das Gefühl der Rech.tsgeltung


und Rechtsdurchsetzung noch die Meinungen zum Kriminalitätsanstieg
in den letzten Jahren und zum Einfluß der Strenge der Bestrafung auf
die Kriminalitätsbekämpfung erfragt. Diese Fragen konnten nur pau-
schal gestellt werden, da die Projektion auf einzelne Delikte eine über-
forderung der Befragten bedeutet hätte. Bei einer Antwortskala von
0-100 und einem Neutralitätswert von 50 zeigen die in Tabelle 3 Nr.4
angegebenen Einschätzungsmittelwerte von 56 für die Verbrech.ens-
angst und 64 für strengere Strafbedürfnisse, daß die Bevölkerung prak-
tisch kaum einen Kriminalitätsanstieg wahrnimmt und daß Strafschär-
fung nur in sehr geringem Umfang als notwendiges Mittel zur Krimi-
nalitätsbekämpfung gefordert wird48 •

48 Tabelle 3 und unten S. 1099.


U Die üblichen Validitätskriterien sind jedenfalls erfüllt (vg1. Mayntz/
Holm/Hübner, Fn.36, S.66): Expertenvalidierung (Befragungen in einer Vor-
studie, internationaler Methodenvergleich), Trennschärfe bei "known groups"
(Anstaltspopulation/Wehrpftichtige), Vorhersage- und Konstruktvalidierung
durch Bestätigung der meisten Hypothesen.
Empirische Grundlagen der Generalprävention 1095

Diese überraschend maßvollen Einschätzungen werden bestätigt


durch weitere - in die Tabelle nicht aufgenommene - Befragungs-
ergebnisse zum Sinn und Zweck der Strafe nach der persönlichen Mei-
nung der Befragten: Von ,allen Antworten lassen sich 70,3 010 der Spe-
zialprävention (39,1 % der individuellen Abschreckung, 31,2 % der
Erziehung und Besserung), 18,3 % dem Schuldausgleich und 9,2 % der
Generalprävention zuordnen; die restlichen 2,2 010 konnten nicht einge-
ordnet werden.

2. Bei der Operationalisierung der unabhängigen Variablen wurden


zunächst di,e drei wichtigsten Ebenen der general präventiven Wir-
kungsfaktoren des Strafrechts in der Perzeption der Befragten erfaßt4',
die Aufklärungswahrscheinlichkeit (allgemeinverständlicher als Ent-
deckungsrisiko definiert), die gesetzliche Höchststrafe und die erwartete
Stllafhöhe, ergänzend hierzu die subjektiv empfundene Schwere dieser
Strafe.
Hierzu wurden - nach Erläuterung der drei Hauptstrafen Geldstrafe
(Tagessatzsystem orientiert am Nettoeinkommen), Freiheitsstrafe mit und
ohne Bewährung - z. B. folgende Fragen gestellt:
- Erwartete Strafe: "Nehmen wir einmal an, Sie hätten die angeführten
Taten begangen und sollten dafür bestraft werden. Was glauben Sie, wür-
den Sie persönlich bekommen, wenn Sie verurteilt würden wegen... (De-
likt)? Nennen Sie mir die jeweilige Strafart und deren Höhe in Monaten."
- Subjektive Strafschwere: "Und wie schlimm würde die erwartete Strafe
für Sie sein?"
Die Aufklärungswahrscheinlichkeit wird von den Befragten mit
durchschnittlich 41 % (Diebstahl) bis 66 % (Körperverletzung) relativ
hoch eingeschätzt. In Tabelle 2 Nr.2 sind zum Vergleich die tatsächli-
chen Quoten der nach ihren Angaben von der Polizei Entdeckten unter
denjenigen angegeben, die frühere Täterschaft bejaht hatten. Sie be-
tragen bei Schmuggel, Diebstahl am Arbeitsplatz und Trunkenheit im
Verkehr nur ein Achtel bis ein Drittel, bei Körperverletzung immer-
hin noch die Hälfte der vermuteten Aufklärungsquote. Das Entdek-
kungsrisiko wird also wesentlich höher eingeschätzt als es tatsächlich
ist. Man kann daher von einem beachtlichen PropagandaefJekt der
Strafverfolgungspraxis sprechen, insbesondere auf der polizeilichen
Ebene50 •

48 Ähnliche Ergebnisse bei Kerner, Kriminalitätseinschätzung und innere


Sicherheit, BKA-Forschungsreihe Band 11, 1980, S. 137 ff., 324 ff.
4t Auf die Kenntnis der Strafbarkeit und die angenommene Straflosig-
keit mußte aus ökonomischen Gründen verzichtet werden; vgl. hierzu aber
DöZZing (Fn. 37), S. 68.
50 Diese Feststellung eröffnet m. E. Ansätze für eine gezielte Presse- und
Medienpolitik, mit der die begrenzten Ressourcen der Strafverfolgungs-
behörden teilweise ausgeglichen werden können. Ansätze dazu finelen sich
1096 Heinz Schäch

Die Angaben zur erwarteten Strafe S1 lassen eine am Unrechtsgehalt


des Regelfalles orientierte Abstufung erkennen, die etwas strenger
als die aus der Verurteilungsstatistik zu entnehmende tatsächliche
Strafzumessungspraxis ist, ihr aber doch relativ nahe kommt. Die An-
gaben zur gesetzlichen Höchststrafe S1 liegen erwartungsgemäß deutlich
höher, erreichen aber bei weitem nicht die Obergrenzen, die das Gesetz
für die denkbar schwersten Fälle vorsieht. Insoweit dürfte also das Vor-
stellungsvermögen der Befragten überfordert sein, da sie sich nur an
tatsächlich vorkommenden Fällen orientieren können.
Nach den Ergebnissen bisheriger Untersuchungen konnte erwartet
werden, daß gesetzliche Strafdrohung und Strafhöhe nur schwache Kor-
relationen mit der Deliktsneigung aufweisen. Deshalb wurde ergänzend
die subjektiv empfundene Strafschwere erhobenSl • Dieses Merkmal
erfaßt über die perzipierte Sanktionswirklichkeit hinaus die subjektive
Strafempfindlichkeit und berücksichtigt, daß auch niedrig,e Strafen in-
dividuell als schwer empfunden werden können (in Ausnahmefällen
auch umgekehrt). Damit wird auch der Vermutung Rechnung getragen,
daß viele Bürger bereits die Bestrafung als solche abschreckend ,empfin-
den, so daß es auf die Strafhöhe nicht mehr entscheidend ankommt.
Die in Tabelle 3 Nr.2 mitgeteilten Mittelwerte der subjektiven Schwe-
reeinschätzung bekräftigen diese These: Obwohl die Probanden bei
den ersten drei Delikten ganz überwiegend nur leichte Geldstrafen er-
warten, erreichen die erwarteten Strafen bei einer Skalierung von 0
(nicht schlimm) bis 100 (sehr schlimm) ber,eits bei Schmuggel einen
durchschnittlichen Schwerewert von 50, bei Diebstahl am Arbeitsplatz
y~~ 60 und bei Trunkenheit im Verkehr von 78. Bei Körperverletzung
liegt die subjektive Strafschwere mit 88 nahe an der Obergrenze, ob-
wohl auch hier zu etwa 75 % Geldstrafen oder niedrige Fl'\eiheitsstra-
fen mit Bewährung erwartet werden.

3. Die strafrechtlichen Sanktionen sind eingebettet in ein System


sozialer Normen und informeller Reaktionen, deren Bedeutung für
Konformität möglicherweise größer ist als die der Strafvariablen. Aus
der Vielzahl denkbarer Merkmale wurden diejenigen ausgewählt, die

im Bereich der Steuerfahndung, vgl. Schöch, Strafverfolgung und Strafzu-


messung bei der Steuerhinterziehung, in: Politische Kriminalität und Wirt-
schaftskriminalität, hrsg. von der Schweizerischen Arbeitsgruppe für Kri-
minologie, 1984 (im Druck).
11 Auf den Abdruck der einschlägigen Ergebnisse wurde aus Raumgrün-
den verzichtet.
12 Dies ist in den bisherigen Untersuchungen meist nicht geschehen; kri-
tisch hierzu GrasmicklBryiak, The Deterrent Effect of Perceived Severity
of Punishment, Social Forces 59:2 (1980), S. 471 ff. mit Nachweis der Unter-
schiede zwischen erwarteter Strafe und subjektiver Schwerebeurteilung.
Empirische Grundlagen der Generalprävention 1097

nach kriminalitätstheoretisch begründeten Annahmen am ehesten in


einer potentiellen Deliktssitll'ation Einfluß erlangen könnten53•
Nach einem umfassenderen Katalog im ersten Untersuchungsabschnitt
wurden in der Repräsentativbefragung nur noch diejenigen Faktoren be-
rücksichtigt, die zur Erklärung der Konformität oder Abweichung am mei-
sten beitragen: die moralische Verbindlichkeit der Norm, die erwartete Re-
aktion der Mutter, die Reaktion von Freunden und Bekannten und die er-
warteten beruflichen Nachteile, schließlich die vermutete Deliktsbegehung
im Bekanntenkreis als möglicher kriminalitätsbegünstigender Faktor. Hierzu
wurden z. B. folgende Fragen gestellt:
- Moralische Verbindlichkeit: "Kreuzen Sie bitte an, wie schlimm, ver-
werflich oder abscheulich Sie die angeführten Taten empfinden" (Skala von
gar nicht bis sehr schlimm).
- Deliktsbegehung im Bekanntenkreis: "Wie ist das so in Ihrem Be-
kannten- oder Freundeskreis oder bei Ihren Verwandten. Haben Sie schon
davon gehört, daß diese Personen im letzten Jahr oder überhaupt schon ein-
mal solche Taten begangen haben?"
Die in Tabelle 3 Nr.l angegebenen Mittelwerte zeigen, daß die Ver-
bindlichkeit der Norm54 - ausg,edrückt durch den Grad der Verwerf-
lichkeit von 0 - 100 - bei Schmuggel relativ gering ist, bei Trunkenheit
im Verkehr und bei Körperverletzung mit schweren Folgen jedoch be-
achtlich hoch. Die erwartete Reaktion der Mutter, die man als Indikator
für das durch familiäre Sozialisation vermittelte Gewissen bezeichnen
kann, erreicht auch bei den beiden zuerst genannten "Bagatelldelikten"
relativ hohe Werte. Das Gewicht der erwarteten Reaktion bei Freunden
und Bekannten - Ausdruck für die eingeschätzte soziale Mißbilligung
bei Deliktsbegehung - scheint nicht ganz so hoch zu sein, wird aber
doch bei aUen Delikten im überdurchschnittlichen Bereich eingeordnet.
Erstaunlich gering werden die erwarteten beruflichen Nachteile be-
wertet, doch dürften die Einschätzungen auf der realen Erfahrung be-
ruhen, daß relativ leichte Delikte im beruflichen Bereich meist nicht
bekannt werden und in der Regel auch keine gravierenden Konsequen-
zen nach sich ziehen.
Die Deliktsbegehung im Bekanntenkreis - Indikator für informelle
Gruppennormen und sozial psychologische Lernvorgänge - ist gegenläu-
fig zu interpretieren. Die relativ hohen Werte, insbesondere bei Trun-
kenheit im Verkehr, signalisieren soziale Einflüsse, die der präv.entiveh
Wirkung der anderen Variablen ,entgegenstehen können.

53 Vor allem die Kontrolltheorien (vgl. Albrecht [Fn. 32], S.307), aber auch
die Sozialisationstheorien und lerntheoretische Ansätze; vgl. dazu Göppin-
ger, Kriminologie, 4. Aufi. 1980, S. 63 ff.; Heinz, Zeitschrift für Pädagogik 29
(1983), 11 ff., 19 ff.
G' Albrecht (Fn.32, S.317) verwendet den Ausdruck "Normbindung"; die
Bezeichnung ,,(moralische) Verbindlichkeit der Norm" bringt jedoch m. E.
besser zum Ausdruck, daß es sich um eine außerrechtliche Bewertung han-
delt.
1098 Heiriz Schöch

4. Soziodemographische Daten (wie Schichtzugehörigkeit, Schulbildung,


Stadt/Land-Herkunft) und psychische Eigenschaften (wie Aggressivität, Ex-
traversion, Risikoneigung) können generalpräventiv relevante Einflüsse ver-
stärken oder verringern55 • Die Darstellung der Einflüsse solcher Moderator-
variablen würde den Rahmen des vorliegenden Beitrages sprengen. Deshalb
seien hier nur kurz die Beschreibungen derjenigen Persönlichkeitsmerkmale
dargestellt, die bei der folgenden übersicht über die wichtigsten general-
präventiven Einflüsse herangezogen werden und die sich bei der bisherigen
Auswertung als relativ gewichtig erwiesen haben. Nach der Beschreibung
der Autoren des Freiburger Persönlichkeitsinventars (FPI) lassen sich die
hier relevanten Testwerte folgendermaßen umschreiben56 •
Aggressivität: spontan aggressiv, emotional unreif, impulsiv, unbeherrscht.
Dominanz: reaktiv aggressiv, sich durchsetzend, Neigung zu autorität-
konformistischem Denken.
Offenheit: offen, selbstkritisch, verschiedene kleine Schwächen zugebend,
u. U. auch unbekümmerte Haltung.

VI. Das generalpräventive Gewicht der untersuchten Merkmale

In Tabelle 3 sind in Form einer Korrelationsmatrix di.e Ergebnisse


zu den wichtigsten generalpräventiven Hypothesen zusammengefaßt.
In den Zeilen 1-12 sind die unabhängigen Variablen, in den Spalten
I - VI die abhängigen V,ariablen und in den daraus entstehenden Fel-
dern die j.eweiligen Zusammenhänge zwischen den beiden Variablen
für die ,vier Delikte ausgewiesen.
Die hier angegebenen Korrelationskoeffizienten sind ein mathematisch-
statistisches Maß für die Stärke des Zusammenhanges zwischen zwei Varia-
blen. Die Werte dieser Koeffizienten können sich zwischen -1 und + 1 be-
wegen. Ein Wert von 0 bedeutet, daß zwischen den beiden Merkmalen keine
Beziehung besteht, daß die zugrunde liegende Hypothese also nicht bestätigt
werden kann. Je näher der Korrelationskoeffizient bei + 1 liegt, desto häu-
figer treten die beiden Merkmale gemeinsam bzw. mit jeweils steigender
Intensität auf, je näher er bei -1 liegt, desto seltener treten sie gemeinsam
auf, bzw. desto gegenläufiger ist die jeweilige Intensität. Im vorliegenden
Zusammenhang bedeuten Minuskorrelationen einen deliktshemmenden Ein-
fluß, positive Korrelationen einen deliktsfördemden Einfluß. So bedeutet
z. B. der in Zeile 4/Spalte 11 angegebene Koeffizient von -.32 bei Diebstahl
am Arbeitsplatz eine Bestätigung folgender Hypothese: Je schwerer die er-
wartete Strafe für dieses Delikt empfunden wird, desto geringer ist die Be-
gehungswahrscheinlichkeit. Der in Zeile 9/Spalte I mitgeteilte Wert von +.49
bei Schmuggel bedeutet: Diejenigen, die bei Bekannten oder Verwandten
von der Begehung dieses Delikts erfahren haben, schmuggeln auch selbst
eher.

55 Für diese sog. Moderatorvariablen konnte weitgehend auf die in den


Sozialwissenschaften üblichen Skalen und Testverfahren zurückgegriffen
werden.
58 Fahrenberg/Selg/Hampel, Das Freiburger Persönlichkeitsinventar, 2.Aufl.
1973, S. 46 ff.
Empirische Grundlagen der Generalprävention 1099
In sozialwissenschaftlichen Untersuchungen gilt ein Koeffizient über .50
als starker, zwischen .30 bis .50 als mittelstarker und unter .30 als schwacher
Zusammenhang. Bei der vorliegenden Stichprobengröße sind bereits Kor-
relationskoeffizienten ab etwa .08 statistisch hochsignifikant57 , jedoch sind
derart schwache Zusammenhänge kaum mehr interpretierbar. Deshalb und
um den Überblick über wesentlichere Zusammenhänge zu erleichtern, wur-
den in die Tabelle nur Korrelationen ab .1414 aufgenommen58•
Ein überblick über die Gesamttabelle zeigt zunächst, daß die mora-
lische Verbindlichkeit der Norm und die informellen Reaktionen gene-
ralpräventiv das größte Gewicht aufweisen, sowohl hinsichtlich der
Indikatoren für die Abschreckungswirkung als auch - in geringerem
Ausmaß - hinsichtlich der Indikatoren für die positive Generalprä-
vention. Fast genauso bedeutsam sind aber in gegenläufiger delinquenz-
fördernder Richtung die vermuteten Gruppennormen (Delikte im Be-
kanntenkreis) sowie - in geringerem Umfang und auf die spezielle
Generalprävention begrenzt - die Persönlichkeitseigenschaften Aggres-
sivität und Dominanz. Die beachtlichen Koeffizienten für die Offenheit
sind eher als Hinweise auf Grenzen der Erhebungsmethode zu inter-
pretieren: Die Antworten zur Häufigkeit der Deliktsbegehung und zur
Begehungswahrscheinlichkeit werden zu etwa 3 - 12 % durch Aufrich-
tigkeit und Selbstkritik der Befragten beeinflußt5D •
Bemerkenswert 1st schließlich, daß die Verbrechensangst als denkbarer
Indikator für positive generalpräventive Bedürfnisse von keiner der formel-
len oder informellen Sanktionen abhängt. Sie wird weder durch hohe Sank-
tionserwartungen reduziert noch aufgrund geringer Sanktionserwartungen
vergrößert. Auch das Bedürfnis nach strengerer Bestrafung (Strafrigidität)
ist nicht von einer perzipierten milden Sanktionspraxis abhängig, sondern
vor allem von der höheren moralischen Verbindlichkeit der Norm; die übri-
gen schwachen Korrelationen sind in ähnlicher Richtung zu interpretieren.

Im Mittelpunkt des Interesses stehen die Einflüsse der Strafvariab-


len. Mit Ausnahme des Entdeckungsrisikos bei Diebstahl am Arbeits-
platz und der erwarteten Strafe bei Trunkenheit im Verkehr sind hier
zunächst keine Einflüsse feststellbar. Insoweit stimmen die Befunde
im wesentlichen mit den Ergebnissen bisheriger Untersuchungen über-
einIG. Beachtlich sind jedoch die Einflüsse der subjektiv empfundenen
Strafschwere bei allen Indikatoren für die Abschreckungswirkung, bei
57 Irrtumswahrscheinlichkeit kleiner als 0,1 %; vgl. dazu Schäch, For-
schungsmethoden, in: KaiserlSchäch, Kriminologie, Jugendstrafrecht, Straf-
vollzug, 2. Auft. 1982, S. 24 f.
58 Die erklärte Varianz (rZ) liegt damit bei mindestens 2 %.
GI Erklärte Varianz aus den quadrierten Korrelationskoeffizienten. Zu
fast gleichen Werten kamen andere Dunkelfelduntersuchungen mit anderen
"LügenskaIen": vgl. Schäch (Fn. 41), S. 217 f. m. w. N.
10 Vgl. die in Fn.29, 31, 32 genannten Autoren, bei denen jedoch das
Entdeckungsrisiko etwas größeres Gewicht hatte, ebenso in unserer 1. Un-
tersuchung bei jungen Männern (Dälling, Fn. 39).
....
....
o
Tabelle 3: Zusammenhänge zwischen perzipierter Sanktionswirklichkeit, o
sonstigen konjormitätsrelevanten Variablen und Indikatoren für generalpräventive Wirkungen
(nur hochsignifikante Rangkorrelationskoeffizienten nach Spearman ab rs = 0.1414)

Abhängige Variablen
I II III IV V VI
Delikts- Begeh.- Abschr.- Häufigkt. Verbr.- Straf-
Unabhängige Variablen Deliktn) begehung wahrsch. Index D.ü.18J. angst rigi-
Del.-Nei- dität
gung

1. Gesetzliche Sch
Höchststrafe DiA
TiV
:z:
~

KV ~.

2. Entdeckungsrisiko Sch rn
DiA -.14 -.14 -.15 B-
a:
TiV B-
KV
3. Erwartete Strafe Sch
(Art und Höhe) DiA
TiV -.15 -.16 -.15
KV
4. Subjektive Sch -.23 -.30 -.29 -.17
Strafschwere DiA -.21 -.32 -.32 -.20 +.15
TiV -.21 -.27 -.26 +.16
KV -.19 -.19
5. Straf-Index Sch -.23 -.27 -.27 -.15
(aus 1,2,4) Dia -.20 -.28 -.28 -.19 +.14
TiV -.15
KV ---- - ------- -
6. Moralische Verbind- Sch -.30 -.46 I -.42 -.22 I +.15
lichkeit der Norm !jlA -.39 -.50 -.51 -.32 +.16
Ti" -.35 -.47 -.45 -.17 +.14
KV -.22 -.28 -.29 I
7. Reaktion der Sch -.23 ! -.37 -.33 -.17
Mutter DiA -.26 i -.38 -.38 -.25
TiV -.17 -.29 -.27 +.15
KV I -.22 -.22
8. Reaktion der Freunde Scll -.32 -.47 -.44 -.24 I
und Bekannten DiA -.35 -.46 -.46 -.30 +.16 ::l.
TiV -.25 -.36 -.34 -.20 '"g.
KV -.18 -.27 -.27 ClI
I Cl
9. Deliktsbegehung bei Sch +.49 +.45 +.52 +.24
Bekannten oder Ver- DiA +.47 +.45 +.49 +.31
2
I:'
wandten TiV +.35
I +.30 +.36 +.19 e:g,
KV +.31 I +.24 +.26 OQ

10. Aggressivität- Sch +.23 I +.38 +.34


g
I C.
FPI DiA +.20 +.33 +.30 ClI
I "1
TiV +.23 +.32 +.31
KV +.20 ! +.29 +.30 I Cl
11. Dominanz- Sch +.16 I +.25 +.23 ~
"1
FPI DiA +.17 +.23 +.23 I
I I ~
TiV +.17 +.22 +.20 "1
KV +.22 +.30 +.30 g,:
I I <
12. Offenheit- Sch +.24 I +.35 +.35 +.15
FPI DiA +.24 I +.33 +.33 +.17 I a§'
TiV +.25 I +.31 +.31 I
KV +.26 +.26
I I
a) Sch = Schmuggel; DiA = Diebstahl am Arbeitsplatz; TiV = Trunkenheit im Verkehr; KV = Körperverletzung mit
ärztlich zu behandelnden Folgen.
...
CI
......
1102 Heinz Schöch

zwei Delikten sogar für das Gefühl der Rechtsgeltung. Diese Einflüsse
sind mit Koeffizienten bis -.32 am stärksten bei den beiden Delikten
mit geringerer Normverbindlichkeit (Schmuggel und Diebstahl am
Arbeitsplatz), während sie bei Delikten mit höherer Normverbindlich-
keit etwas geringer sind (Trunkenheit im Verkehr, Körperverletzung)u.
Der mit dem Str,af-Index erfaßte Gesamteindruck der Strafwirklichkeit
erreicht im Vergleich dazu nur g,eringe Abschreckungseffekte.
Wir können also festhalten, daß die perzipierte Strafverfolgungs-
wirklichkeit für die Einstellung,en des Normalbürgers zu strafrechts-
konformem Verhalten nur geringe oder keine Bedeutung hat, während
die subjektiv,e Strafempfindlichkeit durchaus relevant ist. Dieser schein-
bare Widerspruch läßt sich folgendermaßen erklären. Für den Bevöl-
kerungsdurchschnitt liegt die Begehung von Straftaten wegen der ho-
hen mor,alischen Verbindlichkeit von Strafrechtsnormen so fern, daß
selbst bei minimalem Entdeckungsrisiko oder bei mildester Strafzu-
messungspraxis keine verbreitete Neigung zur Deliktsbegehung be--
steht. Wegen dieser inneren Distanz zur Kriminalität und der geringen
Varianz entsprechender Indikatoren erlangt die perzipierte Sanktions-
wirklichkeit keine oder nur minimale statistische Bedeutung. Allein
die Vorstellung, für ein Verhalten bestraft werden zu können - und
sei die Wahrscheinlichkeit oder Höhe der Bestrafung auch sehr gering-
wird bereits als so gravierend empfunden (subjektive Strafschwere),
daß hiervon abschreckende und positive generalpräventive Effekte aus-
gehen.
Die dargestellte Bedeutung des subjektiven Strafempfindens als
Transformationsinstanz zwischen Strafpraxis und deliktischem Verhal-
ten spricht für die These, daß eine Senkung des Strafniveaus zu einer
Sensibilisierung des Strafempfindens führen kann, so daß schließlich
durch mildere Strafen gleiche Abschreckungseffekte erzielt werden kön-
nen.
Der Versuch, diese im Bereich der Sinnesphysiologie entwickelte "Theorie
der Adaptation"n im ersten Untersuchungs abschnitt im Zusammenhang mit
der Generalprävention zu überprüfen, blieb erfolglos, vermutlich weil sich
die Methode der Befragung hierfür als unzulänglich erwies. Immerhin spricht
für sie aber ein Vergleich zwischen der Strafzumessungspraxis und den Ver-
urteiltenziffern um die Jahrhundertwende und heute: Trotz erheblich mil-
derer und kürzerer Strafen sind die Verurteiltenziffern bei den meisten De-
likten der klassischen Kriminalität (mit Ausnahme von Diebstahl und Raub)
nicht wesentlich angestiegen63 •

61 Vgl. dazu die Halttheorie von Reckless, The Crime Problem. 5. Aufl.
1973; aber auch die Kontrolltheorie von Rirschi, Causes of Delinquency,
1969, S. 16 ff.
12 Relson, Adaption-level theory. An experimental and systematic ap-
proach to behaviour, 1964.
Empirische Grundlagen der Generalprävention 1103

Dagegen rechtfertigen die vorliegenden Ergebnisse nicht die gele-


gentlich gezogene Schlußfolgerung, wegen der hohen moralischen Ver-
bindlichkeit der einschlägigen Normen und wegen des größeren Ge-
wichts informeller Sanktionen sei die Bestrafung, jedenfalls bei leich-
teren und mittelschweren Delikten, weitgehend entbehrlich und könne
durch außerstrafrechtliche Erledigungsarten ersetzt werdenu. Gegen
diese These spr,echen folgende Anhaltspunkte:
- Die als bedeutsam ermittelte subjektive Strafschwere bezieht sich aus-
drücklich auf die Kriminalstrafe, nicht auf irgendeine andere Sanktion86 •
- Bei hypothetisch angenommener Straflosigkeit eines Verhaltens schätz-
ten die befragten jungen Männer im ersten Untersuchungsabschnitt die
Begehungswahrscheinlichkeit für die einzelnen Delikte um etwa 10 - 30 %
höher ein als bei Strafbarkeit.
- Die zentrale Variable der moralischen Verbindlichkeit der Norm ist ihrer-
seits keine völlig unabhängige Konstante, sondern weist mittlere bis
starke Korrelationen mit der Strafperzeption auf8'. Es ist nicht eindeu-
tig festzustellen, welches hierbei die abhängige und welches die unab-
hängige Variable ist. Vermutlich handelt es sich um Wechselwirkungen,
wobei anzunehmen ist, daß die Strafpraxis kraft langer Tradition über
die Sozialisation auf Moral und Normbewußtsein einwirkt und diese im-
mer wieder neu bekräftigtl7.

VII. Konsequenzen für Kriminalpolitik und Strafrechtspftege

Primär bezieht sich die vorliegende Untersuchung auf die straftheo-


retische Grundlagendiskussion über Möglichkeiten und Grenzen gene-
ralpräventiver Strategien im Strafrecht. Sie hat gezeigt, daß die gene-

83 Eine vollständige Gegenüberstellung liegt nicht vor, vgl. jedoch zur


Sanktionsstatistik Exner, Studien über die Strafzumessungspraxis deutscher
Gerichte, 1931 und Kaiser (Fn.43), S. 287 ff.; Heinz, ZStW 94 (1982), S. 632 ff.;
ferner Albrecht, Bewährungshilfe 1984, S. 37 ff. In ähnlicher Weise können im
Vergleich mit der Bundesrepublik Deutschland die wesentlich höheren Krimi-
nalitätsziffern in den USA bei höherem Strafniveau sowie umgekehrt die etwa
gleichen Kriminalitätsziffern in Holland bei niedrigerem Strafniveau inter-
pretiert werden (vgl. dazu SchatJmeister, ZStW 90 [1978], S. 309 ff.).
" So wohl Steinert (Fn.7), S. 337 ff.; deutlicher Pilgram!Steinert, in: Ort-
ner (Hrsg.), Freiheit statt Strafe, 1981, S. 133 ff., 147 ff.; für das Jugendstraf-
recht Schumann u. a. (Fn. 33), S. 291.
86 Damit ist die Frage von zivilrechtlichen Sanktionen abgegrenzt, die
in der 1. Untersuchung auch deutlich von der Strafbarkeit unterschieden
werden konnten. Ob auch der Unterschied zwischen Ordnungswidrigkeit
und Strafbarkeit allen Befragten klar war, kann nach den vorliegenden
Ergebnissen nicht beantwortet werden. Dafür sprechen aber die Erfahrun-
gen großer Bevölkerungsteile mit dem Verkehrsrecht, teilweise auch mit
dem Wirtschaftsrecht.
es Korrelationskoeffizienten bei der subjektiven Strafschwere zwischen
.51 und .38, bei der erwarteten Strafe zwischen .28 und .21.
87 Vgl. Schreiber (Fn.17), S.37; Maiwald (Fn.17), S. 69 f.; Kaiser (Fn.3),
S.47.
1104 Heinz Schöch

ralpräventive Funktion des Strafrechts durchaus empirisch fundiert


ist. Daher muß bei EntkriminaHsierungs- und Diversionsstrategien be-
dacht werden, daß der prinzipielle Verzicht auf Strafe zu Einbußen
der generalpräventiven Effektivität des Strafrechts führen kann68 • So-
weit nicht wegen der geringen Sozialschädlichkeit bestimmter Verhal-
tensweisen Entkriminalisierung geboten ist, sind nur elastische Wege
der Diversion zu empfehlen, bei denen die potentielle Strafbarkeit
erhalten bleibt69 •
Andererseits hat die Untersuchung aber auch gezeigt, daß zur Ver-
hinderung von Straftaten und zur Erhaltung der Strafrechts geltung
in der Normalbevölkerung Strafverschärfungen fast durchgehend nicht
erforderlich und auch nicht erfolgversprechend sind. über Sondergrup-
pen, bei denen die höchstrichterliche Rechtsprechung generalpräventive
Strafschärfungen im Rahmen des Schuldspielraums anerkennt (z. B.
Rauschgifthändler, Geheimdienstag.enten, ausländische Messerstecher ,
spezLelle WirtschaftsstraftäterYo, kann aufgrund einer Repräsentativ-
untersuchung zur leichteren und mittleren Kriminalität naturgemäß
nichts ausgesagt werden. Auch eine außergewöhnliche Zunahme spe-
zieller Delikte mit begrenztem potentiellen Täterkreis kann, wenn sie
wirklich zuverlässig festgestellt wird, zu besonderen Konstellationen
und sozialpsychologischen Prozessen führen, die sich mit repräsentati-
ven Untersuchungen nicht erfassen lassen (z. B. Aggressionsdelikte ran-
dalier·ender Fußballfans).
Für die große Mehrzahl der Straftaten, insbesondere für die sog.
Massen- und Jedermannsdelikte, widersprechen jedoch generalprä-
v~p.tive Strafverschärfungen - auch innerhalb des Schuldrahmens -
den bisherigen Erkenntnissen der empirischen Kriminologie und den
Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung. Jede Strafe, welche den
Normbruch überhaupt deutlich macht und nicht verharmlost, ist geeig-
net, die generalpräventive Aufgabe des Strafrechts zu erfüllen. Die
verhaltenssteuernde und einstellungsprägende Wirkung des Strafrechts
ist so stark, daß das Niveau der richterlichen Strafzumessungspraxis
weiter gesenkt und - vor dem Hintergrund prinzipieller Strafbarkeit

es Ebenso Jescheck (Fn.2), S.611; Lüderssen (Fn.9), S.54, 64 ff. weist auf
positive Beziehungen zwischen formellem Strafrecht und Akzeptanz der Ent-
scheidung hin.
IU Im Prinzip ähnlich Kerner, Möglichkeiten der Öffnung der Verfahren
strafrechtlicher Sozialkontrolle für präventive Maßnahmen, Interdiszipli-
näre Beiträge zur kriminologischen Forschung, Band 3, 1982, S. 789 ff., 815 ff.
70 Vgl. dazu Bruns, Leitfaden des Strafzumessungsrechts, 1980, S. 78 ff.
m. N.; sowie MaiwaZd (Fn.17), S. 57 ff., der als weitere Fallgruppen Delikte
gegen die staatliche Ordnung und Verkehrsdelikte unter Alkoholeinfluß
nennt (zu letzteren mit Recht kritisch S.58 Fn.40); für bloße "Bremsfunk-
tion" im österreichischen Strafrecht: PalZin, Österreichische Richterzeitung
1980, S. 120 ff.
Empirische Grundlagen der Generalprävention 1105

die Spielräume für individualisierende Sanktions- und Diversions-


strategien ausgeweitet werden können71 , ohne die Erwartungen der Be-
völkerung gegenüber der Strafrechtspflege zu enttäuschen7! und ohne
die general präventive Kraft des Strafrechts zu schwächen.

71 In diesem Sinne wohl auch Schmidhäuser (Fn.8), S. 52 ff., 58 ff.: vor


dem Hintergrund generalpräventiv gerechtfertigten Strafens seien erheb-
liche Differenzierungen nach subjektiven SinnerIebnissen möglich und ge-
boten.
72 Vgl. oben S. 1094 f.; zutreffend weist MaiwaZd (Fn. 17), S.63 auf die Ver-
ringerung generalpräventiver Bedürfnisse bei Verdeutlichung der Individuali-
sierungsgründe konkreter Sanktionsentscheidungen hin.

70 Festschrift für H.-H . .Tescheck


HORST SCHüLER-SPRINGORUM

Jugend, Kriminalität und Recht*

Es war auf einem dieser internationalen Kongresse. Jugendkriminalität


stand zur Debatte, und die war erhitzt. Jedes Phänomen forderte eine andere
Erklärung heraus, die Palette von "Ursachen" wurde breiter und breiter.
Dementsprechend wuchsen die Anforderungen an die "richtige" Ausübung
von Entscheidungsermessen im Einzelfall mehr und mehr an - wie gut, daß
es das Opportunitätsprinzip gibt, wenigstens mancherorts. Ein Teilnehmer
aus Afrika, zuhause Polizeibeamter, hielt es schließlich nicht länger aus:
"Das ist ja alles riesig interessant hier, nur helfen tut es mir kein bißchen!
Wenn ich einen Burschen auf dem Markt herumstreichen sehe und er stiehlt
was er zu fassen kriegt, dann muß ich wissen, ob ich ihn einsperre oder
nicht; und um das zu wissen, brauche ich klare Regeln für mein Handeln -
ganz egal, wie sein Familienhintergrund aussieht oder welche persönlichen
Probleme er alles haben mag!" Nun ja, einen solchen Polizisten nennen wir
gern einen "einfachen" Polizisten; mit Recht?
Ein japanischer Bewährungshelfer erzählte mir einmal von einem seiner
jungen Probanden. Der hatte als Motorradfahrer einen Fußgänger erfaßt
und ihn schwer verletzt. Die ganze Familie litt unter dem Ereignis, vor allem
weil die Mutter des Jungen hatte Arbeit aufnehmen müssen, um über lange
Zeit hinweg das Geld zusammenzuverdienen, das zur Entschädigung des
Opfers nötig war. Ob dies nicht eigentlich ein Versicherungsproblem sei,
wollte ich von dem Sozialarbeiter wissen, und erläuterte ihm, daß für solche
Haftungsfälle eine Versicherung bei uns sogar obligatorisch sei. Seine Ant-
wort: Als Japaner würde er es ablehnen, in einer Gesellschaft zu leben, wo
man sich der persönlichen Verantwortung und ihren Folgen einfach durch
Versicherungsschutz entziehe.
In einer deutschen Studie über Jugendstrafe an vierzehn- und fünfzehn-
jährigen Delinquenten äußert sich ein Aufsichtsbediensteter über den Sinn
dieses Vollzuges: "Da haben wir hier zwei Knaben, die sind 14 und 15. Da

• Text eines Referats, welches der Verf. am 26.4. 1984 für die Internatio-
nale Strafrechtsgesellschaft (AIDP) auf einem Kolloquium gehalten hat, das
zum selben Thema ("Jeunesse, crime et justice") vom 25. bis 28.4.1984 in
Bellagio/Italien stattfand (6. Gemeinsames Kolloquium der Association inter-
nationale de droit penal, der Societe internationale de criminologie, der So-
ciete internationale de defense sociale und der Fondation internationale
penale et penitentiaire). - Die Erinnerung an dieses Kolloquium, seine Vor-
bereitung und seine Durchführung, wird für mich vor allem geprägt durch
die enge und überaus freundschaftliche Zusammenarbeit mit dem Präsiden-
ten der AIDP, Hans-Heinrich Jescheck, für den auch dieser Beitrag ein Sou-
venir sein möge. Die übersetzung aus dem Englischen hält sich nur insoweit
an die Vorlage, als dies sprachlich zulässig erschien; Text und Nachweise
wurden stellenweise erweitert.

70·
1108 Horst Schüler-Springorum

frage ich mich manchmal, begreifen die überhaupt schon, wo sie sind und
wofür die hier sitzen müssen? Und ich habe so den Eindruck, die blicken noch
gar nicht durch oder sind sich gar nicht dessen bewußt, daß sie hier drinnen
sitzen .. .1"
Im vorigen Wintersemester hielt ein Experte aus der UdSSR, Professor
Jakovlev aus Moskau, an der Universität München eine Gastvorlesung über
Probleme von Strafrecht und Kriminologie. Das Strafrecht und die Straf-
justiz, so meinte er, seien gefährlichen Hunden vergleichbar, die man fest an
der Kette halten und eher durch Bellen als durch Beißen wirken lassen solle.
Denn sobald losgelassen, richten sie leicht mehr Unheil an als Heil. Zurück
also zu Feuerbach? "Vorwärts - zu Kant!", schloß Jakovlev.

UNO-Kongresse über Verbrechensverhütung und die Behandlung


Straffälliger finden alle fünf Jahre statt. Auch Fragen der Jugend-
kriminalität hatten schon früh auf dem Programm gestanden, waren
dann aber 15 Jahre lang ausgeblendet worden. Erst 1980, in Caracas,
erschienen sie wieder auf der Tagesordnung, damals in der Formulie-
rung: "Jugendgerichtsbarkeit vor und nach Ausbruch der Delinquenz".
Der Bericht über die zu diesem Thema damals erzielten Ergebnisse
schließt mit dem Satz: "Es wird festgestellt, daß die Völkergemein-
schaft sich bisher als unfähig erwiesen hat, sich den Problemen der
Jugendgerichtsbarkeit wirklich zuzuwenden2 ." Grund genug, das Thema
wieder aufzugreifen; daß es das nächste Mal wieder seine Rolle spielen
sollte, war schon 1980 absehbar. Diesmal soll die überschrift lauten:
"Jugend, Kriminalität und Justiz". Im Vergleich zu 1980 geht es 1985
also um die Zeit nach "Ausbruch der Delinquenz". Aber was hat
Jugend mit Kriminalität zu tun, und was Jugendkriminalität mit
Gerechtigkeit?

I. Die wichtigsten Fakten - bekannt wie sie sind

1. Phänomene und Dimensionen der Jugendkriminalität

Die Unterüberschrift ist einem der Vorbereitung des nächsten Kon-


gresses dienenden UNO-Dokument entnommen3 • Anders als über
"Phänomene und Dimensionen" läßt sich wohl auch kaum einsteigen
ins Thema - doch Phänomene und Dimensionen von was? Ist wirklich
so klar, was wir unter "Jugendkriminalität" verstehen?

1 P.-A. AlbrechtjSchüler-Springorum (Hrsg.), Jugendstrafe an Vierzehn-


und Fünfzehnjährigen, 1983, S. 144.
2 United Nations, Report on the VIth Congress on the Prevention of Crime
and the Treatment of Offenders, 1981 (fortan zitiert als UN Caracas), S. 66
Nr.153.
3 United Nations, Discussion Guide for ... preparatory meetings for the
VIIth UN Congress on the Prevention of Crime and the Treatment of Of-
fenders, AjCONF. 121jPM. 1 (4.4.1983, fortan zitiert als UN Discussion Guide),
S. 24 Nr. 61.
Jugend, Kriminalität und Recht 1109

Wenigstens "Kriminalität" scheint einigermaßen klar zu sein. Bei


"Jugend" aber zerfließen die Grenzen. Pädagogen, Soziologen, Juristen
definieren sie jeweils anders, von "Jugend" als einem Selbstverständ-
nis ganz zu schweigen. Das deutsche Jugendgericht ist zuständig auch
für die ersten drei Jahrgänge der Volljährigen, die wir "Heranwach-
sende" nennen. Lassen wir diesen Spezialterminus (fortan) beiseite,
so grenzt die "Jugend" an Kinder auf der einen Seite und an die
Erwachsenen auf der anderen. Im islamischen Recht, der sog. Sharia
des Koran, endet die Kindheit mit Vollendung des 7. Lebensjahres und
beginnt das Erwachsenenalter mit 14 Jahren. In anderen Rechtssyste-
men wird man mit 14 Jahren Jugendlicher - und bleibt es Gedenfalls
strafrechtlich) vielleicht sogar bis zum 25. Lebensjahr; in Teilen Afri-
kas galt bis vor nicht allzu langer Zeit eine Regelung, wonach Europäer
mit 21 Jahren als erwachsen angesehen wurden, Asiaten mit 18 und
Afrikaner mit 15 Jahren'. So gibt es, weltweit gesehen, nicht ein ein-
ziges Jahr des Lebens, das in jedem Rechtssystem dem Jugendalter
zugerechnet würde - ein eindrucksvoller Beleg für historische und
kulturelle "Varianz"! Und wahrscheinlich ist es sogar von Vorteil, daß
eine solche kleinste gemeinschaftliche Zeitspanne fehlt. Denn ange-
nommen, ein Junge von z. B. 13 Jahren würde als "Jugendlicher" an-
gesehen sowohl in Taipeh als auch in Teheran, ließe eine solche über-
einstimmung doch nur allzu leicht vergessen, was an historisch-kul-
turellen Unterschieden sich hinter ihr verbirgt.
So muß man wohl, wenn von Jugendkriminalität die Rede ist, still-
schweigend einfach von jenen "Jugendlichen" ausgehen, die im jeweils
eigenen Rechtssystem von dieser Definition betroffen sind? Einen ande-
ren Weg ging der Kongreß von Caracas (1980), wo man die Delinquenz
zum Ausgangspunkt nahm, um sich über Jugenddelinquenz zu äußern:
"Die kritische Zeitspanne für Delinquenz in dieser Altersgruppe liegt
offenbar zwischen 12 und 18 Jahren5." Auch das ist eine Lösung; wir
wollen uns ihr einstweilen anschließen, um wenigstens die wichtigsten
Phänomene von Jugendkriminalität zu benennen, und lassen dabei
auch den Unterschied zwischen "Kriminalität" und "Delinquenz" vor-
erst beiseite.
Folgende Gemeinplätze beherrschen dann das Feld:
- Die Jugendkriminalität steigt. Sie nimmt zu sowohl in absoluten Zahlen
als auch im Verhältnis zur Kriminalität der Erwachsenen.
~ Jungen begehen bei weitem mehr Straftaten als Mädchen, zumindest aus-
weislich der Statistiken über bekanntgewordene Delikte.
4 United Nations, Juvenile Justice: Before and after the Qnset of delin-
quency, Working paper prepared by the Secretariat, A/CONF. 87/5 (4.6.1980,
fortan zitiert als UN Working paper), S. 24, 25 Nr. 60 - 62.
5 UN Caracas (Fn. 2), S. 63 Nr. 140.
1110 Horst Schüler-Springorum

- Größte Besorgnis erregt die Zunahme von Gewalttaten, in manchen Län-


dern mehr oder weniger dicht gefolgt von der Besorgnis über den Drogen-
mißbrauch Jugendlicher.
- Der quantitativ größte Anteil aller Jugenddelikte besteht allerdings in
Bereicherungskriminalität; in vielen Teilen der Welt entfällt eine Quote
von etwa zwei Dritteln mit erstaunlicher Konstanz auf den Diebstahl.
- Wo immer Jugendliche Zugang zum motorisierten Straßenverkehr haben,
kommen sie auf ihren Anteil auch an Verkehrsdelikten.

Diese Feststellungen sind nicht nur sehr pauschal, sie sind sogar
gefährlich pauschal. Sie verallgemeinernd zu interpretieren, verbietet
sich schon aus Gründen der Quantität und Qualität der verfügbaren
Daten. Zwar gibt es Flecken auf der Landkarte, wo Kriminologen
ziemlich tief geschürft und eine Vielzahl von Faktoren zutage geför-
dert haben, die die örtliche Kriminalitätsszene bestimmen. Andere
Teile der Karte aber weisen mehr oder weniger ausgedehnte weiße
Flächen auf; in der Dritten Welt zum Beispiel weiß man Genaueres
über Jugendkriminalität oft nur in bezug auf ganz bestimmte Gegen-
den, und in Ländern des Ostblocks mag es vorkommen, daß man an
Ort und Stelle mehr über Jugendkriminalität weiß als man andere
wissen läßr'. In einer Ausarbeitung der UNO über "Die Lage der
Jugend in den achtziger Jahren" heißt es andererseits: "Länder mit
staatlicher Planwirtschaft berichten über eine Abnahme der Krimi-
nalität und führen diese auf verbesserte soziale Bedingungen zurück",
während "in den meisten Entwicklungsländern die Jugendkriminalität
zunimmt, hier resultierend aus rapider Industrialisierung mit einem
,entsprechenden Anwachsen der Städte, aus unzureichenden Woh-
nungs-, Erziehungs- und Arbeitsbedingungen, mangelhaften Gesund-
heits- und Fürsorgeeinrichtungen, aus Konflikten zwischen traditionel-
len und modernen Werten und aus den zunehmenden Einflüssen west-
licher Lebensart"7. Der letzte Teil des Zitats faßt zugleich die heute
vorherrschende Einstellung von Kriminologen zusammen, wenn sie
sich mit der Jugendkriminalität in Ländern der Dritten Welt befassen:
Verstädterung und Industrialisierung stehen als Kürzel sowohl für das
Phänomen selbst als auch für seine GrÜnde8 •

I Hingegen vgl. z. B. Valkova, Czechoslovak criminological investigations


in the sphere of the juvenile criminality prevention, in: Prenosil (Hrsg.),
Topical questions of the Czechoslovak criminological research, 1983, S. 48 - 58;
Szewczyk (Hrsg.), Der fehlentwickelte Jugendliche und seine Kriminalität,
1982; Selih, Juvenile Justice in Yugoslavia, in: Stewart, ed., The Changing
Faces of Juvenile Justice, 1978, S. 111 - 134, und schon den Bericht über das
20. franko-jugoslawische Seminar über Sozialverteidigung, Revue de science
criminelle et de droit penal compare 1974, S. 152 - 181.
7 United Nations, Report of the Secretary General on the Situation of
youth in the 1980s, E/1983/3 (6. 12. 1982, fortan zitiert als UN Report), S. 13
Nr.37,38.
8 Vgl. z. B. Brillon, Ethnocriminologie de l'Afrique noire, 1980, m. zahlr. N.
Jugend, Kriminalität und Recht 1111

Darauf wird zurückzukommen sein. Hier sollen Industrialisierung


und "Urbanisierung" zunächst etwas anderes illustrieren: Sie gelten
nämlich vor allem als Auslöser auch für Gewaltkriminalität. Diese ist
in der Tat in solchen Regionen wirtschaftlichen Schnellwachstums zu-
meist besonders ausgeprägt. Dennoch handelt es sich dabei um nur
eine Ausprägung des Phänomens, wenngleich um eine so typische, daß
es keiner Beispiele bedarf, um der Phantasie nachzuhelfen. Aber Ge-
walt, als Charakteristikum der Jugendkriminalität unserer Zeit, hat
eben viele Gesichter. Einzeltäter üben sie anders aus als Gruppen,
Cliquen und Banden; und selbst eine gewalttätige Bande dürfte in
Bogob! eine andere als in London sein oder als in Los Angeles8 • Gewalt
bei Sexualdelikten10 ist eine andere als Gewalt in der Familie oder
Gewalt in der Schule, und selbst die beiden letzteren werden sich als
"westliche" Phänomene unterscheiden von ihren Parallelen, die gegen-
wärtig die Japaner11 beunruhigen. "Gewalt", so stellt sich heraus, ist
selbst eine Art Sammelbegriff für alles mögliche; wir dürfen dies nicht
vergessen, wenn auf die heute so gewalttätige Jugend die Rede kommt.
Als eine sehr wichtige Frage gilt ferner die nach dem Anteil künf-
tiger Hangtäter (oder gar "Gewohnheitsverbrecher") im Gesamt
jugendlicher Delinquenten. "Karrieristen"12 werden sie heute gern
(und neutraler) genannt, und meist gelten sie zugleich als "gefährlich"
(obwohl sie es oft ebensowenig sind, wie ein wirklich "Gefährlicher"
eine entsprechende "Karriere" einschlagen muß). Der Begriff der "kri-
minellen Karriere" dürfte sich aus bestimmten kriminologischen For-
schungsergebnissen heraus entwickelt haben, so vor allem denen über
vielfach Rückfällige13, aber etwa auch aus den Befunden darüber, wie
viele (gezählte) Straftaten eines bestimmten Einzugsbereichs auf das
Konto von wie wenigen Personen gehen, die dann oft "Multi-Problem-
Familien" angehören14• Anfang der siebziger Jahre war die berühmte
• Dinitz, La criminalite et la delinquance juvenile dans le monde, Revue
internationale de criminologie 19S2, 291 - 30S, 302 ff.
10 VgI. Weis, Die Vergewaltigung und ihre Opfer, 19S2, S. 46 ff., 53 ff.
11 Fujimoto, Problems of juveniles in schools of Japan, in: Cultural and
Social Centre for the Asian and Pacific Region (ASPAC), The Second Asian-
Pacific Conference on Juvenile Delinquency, 19S3, S. 144 - 155; Miyazawa,
Problems of Juvenile Delinquency in School and Family, ebd., S. 193 - 199.
11 VgI. Schüler-Springorum (Hrsg.), Mehrfach auffällig, 19S2; nach den Erhe-
bungen von Lamnek dortselbst (Sozialisation und kriminelle Karriere) S. 13 ff.,
kategorisiert die Polizei selbst Jugendliche ggf. schon als "Berufs- und Ge-
wohnheitsverbrecher", S. 15.
13 z. B. Dolde, Sozialisation und kriminelle Karriere, 1975; PhillpottslLan-
cucki, Previous convictions, sentence and reconviction, Home Office Research
Study Nr.53, 1979; Weis!SederstTom, Prevention of serious delinquency-
What to do?, 19S1; BaumannlMaetzelMey, Zur Rückfälligkeit nach Strafvoll-
zug, MschrKrim 19S3, 133 - 14S.
1« Mannheim, Comparative Criminology, 1965, S. 624 f.; FZade, Jugend-
kriminalität in einer Neubausiedlung, MschrKrim 19S3, 197 - 206.
1112 Horst Schüler-Springorum

Kohortenstudie aus Philadelphia erschienen, derzufolge auf 6 % eines


ganzen Geburtsjahrgangs (= auf 18 % seines Delinquentenanteils) mehr
als die Hälfte der für die ganze Kohorte registrierten Jugendkrimi-
nalität entfieP5. Diese und andere Studien verdichteten den Eindruck,
daß es in jeder neuen Jugendlichengeneration einen kleinen "harten
Kern" künftiger Karrieristen gebe. Dem kriminologischen Konsens
hierüber entspricht das gesteigerte Interesse daran, wann und woran
er wohl zu erkennen sei; denn vom prognostischen Instrumentarium
verspricht man sich - oft genug allerdings voreilig - das präventive
Rezept. überhaupt ist daran zu erinnern, daß das ganze Karrieristen-
Konzept sich auf Ergebnisse stützt, die eine typisch "westliche" Krimi-
nologie für die Jugend einer typisch westlichen Großstadt gefunden
hat; und selbst innerhalb dieses Zusammenhangs könnte eine in einer
späteren Dekade geborene Kohorte wieder sehr andere Ergebnisse
zeitigen, mit allen Konsequenzen für Prognose und Prävention.
Eine letzte Feststellung in diesem Abschnitt muß deshalb der Kri-
minologie selber gelten. Sie macht sich stark, maßgeblich zur Krimi-
nalpolitik beizutragen, und zwar durch überzeugende und eindeutige
empirische Befunde. Dies jedenfalls war ihr Anspruch bis vor kurzem.
Erst ein noch breiterer Zustrom von Forschungsergebnissen, gewonnen
aus einer sich ständig verfeinernden Methodologie, hat uns gelehrt,
daß kriminologische Erkenntnisse nicht weniger zeit- und ortsgebun-
den sind als alle anderen Erkenntnisse auch. Zwar läßt der Ruf nach
mehr und besserer Forschung sich noch immer oft so vernehmen (oder
lesen) wie das Amen in der Kirche. Dennoch wird es auch in Zukunft
ausbleiben, das kriminologische Wunder, das die Kriminalpolitik im
wahrsten Sinne des Wortes "entscheidend" entlastete. Mehr Forschung
und bessere Forschung werden mit ihren Resultaten deshalb auch
weiterhin bestenfalls politische Teilassistenz leisten können l6 • Viel-
leicht hilft der Vergleich mit dem Verhältnis zwischen Sachverstän-
digem und Richter, um das zwischen Kriminologie und Kriminalpolitik
zu erläutern: Auch der Sachverständige muß den Richter erst über-
zeugen, und nur in dem Maße, in dem ihm dies gelingt, wird er des-
sen Entscheidung beeinflussen.

2. Maßnahmen, Programme und Strategien


gegen Jugendkriminalität

Auch dieser Zwischentitel hält sich an die Themenstellungen des


obenerwähnten UN-Papiers. Nach der Rohübersicht über einige

15WOlfganglFigliolSeZlin, Delinquency in a birth cohort, 1972.


18Vgl. Schüler-Springorum, Zum Verhältnis von Kriminologie und Kri-
minalpolitik, Gedächtnisschrift für NoH, 1984.
Jugend, Kriminalität und Recht 1113

wesentliche Gegebenheiten der Jugendkriminalität liegt es mehr als


nahe zu fragen: Wer tut Was und Wie dagegen?
Wer: Es geht um Sozialkontrolle. Die kann "formell" oder "infor-
mell" sein, was eine noch gar nicht sehr lange gebräuchliche Unter-
scheidung ist. Zu verdanken ist sie der Dunkelfeldforschung. In dem
Maße, in dem Umfang und Bedeutung des Dunkelfeldes - insbeson-
dere der Jugendkriminalität, insbesondere ihrer leichteren Formen -
erhellt wurden, wuchs auch die Einsicht, eine wie begrenzte Rolle
allem formellen Eingreifen, insbesondere durch das Kriminaljustiz-
system, nur zukommt. Begreift man Kriminalprävention als eine Art
konzertierte gesellschaftliche Aktion, so dürfte der bei weitem größte
Teil der vielleicht Abermillionen nicht begangener (oder nicht wieder-
begangener) Delikte durch informelle Sozialkontrollen verhindert wer-
den: durch Familienangehörige, Freunde und Gefährten, Nachbarn
usw. Doch lassen sich solche Kontrollmechanismen, eben weil sie infor-
mell sind, nicht gut für sozusagen frontal gegen die Jugendkriminali-
tät gerichtete "Maßnahmen, Programme und Strategien" verplanen17 •
Zwangsläufig liegt deren Schwerpunkt deshalb bei der formellen
Sozialkontrolle, die - ebenso zwangsläufig - mithin immer erst dann
zum Zuge kommt, wenn die informellen Sozialkontrollen ein Delikt
eben nicht verhindert haben18 • Hinzukommen muß allerdings, daß das
Delikt aus irgend einem Grunde auch nicht im Dunkelfeld verblieben
ist. In den allermeisten Fällen ist die Anzeige der Tat bei der Polizei
ein solcher Grund; gelegentlich ertappt die Polizei den Täter selbst.
In jedem Fall bedarf es eines solchen Auslösers, um die formellen Kon-
trollmechanismen in Gang zu setzen. Wer hat hier dann das Sagen?
In vielen Ländern ein Jugendgericht - oder wohl besser: irgend-
ein Gericht. Denn wenn wir wirklich alle Gerichtssysteme dieser Erde
überblicken könnten, würden wir sehen, daß es eine spezielle Jugend-
gerichtsbarkeit nur in einer Minderzahl der Staaten gibt. Dabei mag
offenbleiben, ob das Gesamtbild dadurch noch weiter verzerrt (oder
eher wieder entzerrt?) wird, daß viele Staaten nur einen überaus klei-
nen Teil der Weltbevölkerung repräsentieren, manche Staaten aber
einen unverhältnismäßig großen. Da beansprucht zum Beispiel die
Internationale Jugendrichtervereinigung l9 , die formelle Sozialkontrolle

17 Ein Beispiel für solches Verplanen: Davids, Delinquency Prevention


through father training, in: FTiday!Stewart (Hrsg.), Youth crimeand juvenile
justice - International perspectives, 1977, S. 109 - 118.
18 Conseil de l'Europe, Prevention de la delinquance juvenile: Le röle des
institutions de socialisation dans une societe en evolution, Strasbourg 1981.
19 Association Internationale des Magistrats de la Jeunesse et de la Fa-
mille (AIMJF), gegründet 1928 in Paris; vgl. Vifias, Delincuencia Juvenil y
Derecho Penal de Menores, 1983, S. 72 ff.
1114 Horst Schüler-Springorum

der Jugendkriminalität weltweit zu vertreten; unter ihrem Dach fin-


den sich jedoch nur 15 Länder - weniger also als 10 % aller Mitglieds-
staaten der Vereinten Nationen -, in denen die Jugendgerichtsbarkeit
sich so weit verselbständigt hat, daß nationale Jugendrichterverbände
die Arbeit der Internationalen Vereinigung mittragen können.
"Das Jugendgericht" also: Das kann ein Einzelrichter sein oder ein
Kollegialgericht; wo es ein Spruchkörper ist, kann es aus Berufsrich-
tern bestehen oder aus solchen plus Schöffen. Das Jugendgericht kann
sogar ausschließlich aus Nichtjuristen bestehen, wie z. B. in England,
wo Laienrichter (magistrates), gegebenenfalls beraten durch einen
Rechtskundigen (clerk), durch ihre erstinstanzliche Rechtsprechung fast
alle Fälle erledigen; in vielen britischen Kolonien übernommen, wurde
dieses System eine Art Commonwealth-Modell. Auf den britischen Inseln
selbst jedoch existiert daneben, nämlich in Schottland, die wichtigste
Konkurrenz zum Jugendgericht, nämlich das Modell einer Behörden-
Zuständigkeit20 • Die "schottische Jugendverhandlung" (children's hear-
ing, eingeführt 1971) findet vor einem Gremium aus Mitgliedern der
(politischen) Gemeinde statt, ausgesucht nach Interesse an und Erfah-
rung in Jugendfragen; anwesend ist ferner (außer dem Jugendlichen
und möglichst seinen Eltern) der "Berichterstatter" (reporter), der den
Fall vor den Ausschuß gebracht hat. Im Wege der Jugendverhandlung
wird dort (außer über Jugendhilfesachen) über einen nicht geringeren
Teil von Jugenddelinquenz befunden als in England durch das Laien-
gericht. Wegen seiner Neuheit hat das schottische System jüngsthin
viel Aufmerksamkeit gefunden21 • In den skandinavischen Ländern da-
gegen gibt es entsprechende Jugendkommissionen o. ä. schon lange,
weshalb das Modell einer administrativen (anstatt justiziellen) Zu-
ständigkeit am "skandinavischen System" auch zuerst wahrgenommen
wurde. Doch dürfte selbst dies wieder ein eingeengter Blickwinkel sein:
Bessere oder gar vollständige Informiertheit würde höchstwahrschein-
lich in anderen Teilen der Welt nicht wenige weitere "Behörden-
Modelle" nachweisen können, und zwar solche, die nicht als Kontrast-
programm zum "Justiz-Modell" geschaffen wurden, sondern sich aus
örtlichen oder regionalen Traditionen ganz "natürlich" entwickelt
haben.
Hinzu tritt eine weitere Komplikation: Jugendgerichte und Jugend-
kommissionen interessieren hier, soweit sie sich - und sei es auch nur
zo Im Englischen unübersetzbar plastisch als "court model vs. board model"
diskutiert.
21 MartinlFoxlMuTTay, Children out of Court, 1981; Asquith, Children and
Justice - Decision-making in children's hearings and juvenile courts, 1983;
Tahourdin, Juvenile Justice in England and Scotland, Internat. Joum. of
Offender Therapy and Comparative Criminology 1982, S. 32 - 35; vgl. auch
UN Working paper (Fn.4), S. 26,27 Nr. 70 - 72.
Jugend, Kriminalität und Recht 1115

unter anderem - mit Jugendkriminalität befassen. Man sollte mei-


nen, ein wesentlicher Unterschied zwischen den "Modellen" werde
darin bestehen, daß ein Justizorgan den Begriff der strafrechtlichen
Verantwortlichkeit braucht, um daran entsprechende Reaktionen zu
knüpfen, - eine wie immer geartete behördliche Stelle hingegen nicht.
Doch der Schein trügt, die "strafrechtliche Verantwortlichkeit" unter-
scheidet nicht. Daß sie im Behörden-Modell keine besondere Rolle
spielt, leuchtet ein. Aber auch das Gerichts-Modell ist auf sie nicht
angewiesen, denn das Gericht muß ja nicht, nur weil es für Kriminali-
tät zuständig ist, gleich ein Strafgericht sein. überall dort, wo die
strafrechtliche Verantwortlichkeit relativ spät einsetzt - z. B. erst mit
Vollendung des 18. Lebensjahres, wie in vielen spanischsprechenden
Ländern _22, bedient die justizielle Kontrolle sich an Hilfe und Für-
sorge orientierter Argumentationen. Die ganze Familiengerichts-Bewe-
gung unserer Zeit gewinnt ihren Impetus nicht zuletzt aus dem Stre-
ben nach mehr helfenden Maßnahmen für (anstatt strafenden Maß-
nahmen gegen) delinquente Jugendliche!3.
Dieses breite Spektrum allein im Bereich der formellen Sozialkontrolle
führt in ein zwar nur terminologisches, gleichwohl folgenreiches Dilemma:
Wie soll man, was oben mit "Wer" bezeichnet wurde, nennen? Gibt es einen
Namen, der den verschiedenen Organisationsformen (Gericht, Behörde usw.)
und Zielsetzungen (Strafe, Erziehung, Hilfe usw.) gemeinsam sein könnte?
Auf internationalen Tagungen muß man sich auf so etwas einigen können,
um sich über Weiteres zu verständigen; und internationale Setzungen (wie
z. B. Vereinbarungen über Mindestgrundsätze, Erklärungen über Grund-
rechte o. ä.) müssen für jeden ihrer Adressaten verständlich sein, um ver-
bindlich werden zu können. Bisher hat man, was unser Problem betrifft, nur
ein Kunstgebilde von Begriff gefunden: die "zuständige Stelle"24; etwas Bes-
seres gibt die Sprache, so scheint es, nicht her.

Die "zuständige Stelle" also; was aber tut sie? Bei dieser Frage
geraten die persönlichen Interessen des jungen Delinquenten stets in
Konflikt mit anderen Interessen: solchen des Opfers, solchen seiner
Umgebung, solchen der Gesellschaft. Die Rücksichtnahme auf die einen
oder anderen von ihnen läßt sich ihrerseits nicht etwa daran fest-
machen, ob ein Gericht oder eine Behörde auf den Plan tritt. Nehmen
doch sogar Strafgerichte als zuständige Instanz ggf. für sich in An-
spruch, mehr oder weniger ausschließlich nach den individuellen Be-

22 _ nämlich Lateinamerikas (Venezuela, Peru pp.), ebenso der neue C6-


digo de Menores (1979) für Brasilien; in Spanien selbst hingegen beginnt die
strafrechtliche Verantwortlichkeit mit 16 Jahren, wobei für die bis 18jährigen
mildernde Sondervorschriften gelten, vgl. Viiias (Fn. 19), S. 94 ff., und - für
Argentinien - S. 241 ff.
n Die AIMJF (Fn. 19) fügte die Familiengerichtsbarkeit erst 1978 ihrer
Verbandsbezeichnung hinzu.
t4 Competent authority - auto rite competente; mit "Stelle" wegen der
Unklarheit übersetzt, ob auch ein Gericht allenthalben als "Behörde" gilt.
1116 Horst Schüler-Springorum

dürfnissen des Jugendlichen zu judizieren, und sie mögen sogar dazu


verpflichtet sein von Gesetzes wegen. Dennoch bleibt überall, wo zu-
nächst einmal die strafrechtliche Verantwortlichkeit festgestellt wird,
die spätere Entscheidung sozusagen durchwürzt mit den Zutaten echter
Strafjustiz; vor allem das Schuldprinzip wird eine Statistenrolle -
mindestens diese! - beibehalten. Reaktionen werden zu Sanktionen,
so überhaupt erst meßbar an Kriterien wie "hart" oder "mild". Dieser
Sprach- und Sachzusammenhang verdeutlicht, warum nicht so sehr das
Gerichtsmodell als solches, wie gerade das strafjustizielle Modell für
die beiden Haupttendenzen der gegenwärtigen Jugendkriminalpolitik
verantwortlich zeichnet, als da sind: weniger Einsperrung und mehr
Diversion.
Die Forderung nach weniger Freiheitsentzug für delinquente Jugend-
liche wird heute ziemlich weltweit geäußert (oder wurde es zumindest
bis vor sehr kurzem). Mangel an Haftraum, so sagen die Spötter, sei
der ganze Grund dafür, aber sie treffen damit nicht den Kern. Denn
auch ohne jenen Mangel sind die Gefahren und schädlichen Einflüsse
freiheitsentziehender Sanktionen nur allzu lange schon bekannt, eben-
so wie man weiß, daß Jugendliche ihnen ganz besonders hilflos preis-
gegeben sind. Deshalb richtet sich das Entkerkerungspostulat~ gegen
die Praxis der Untersuchungshaft eher noch stärker als gegen frei-
heitsentziehende Strafen. Denn Grund und Zwecke der Untersuchungs-
haft machen diese zu einer Art Tiefkühltruhe, weil bloßer Vorrats-
haltung für das spätere Verfahren, - jedenfalls zu etwas, was allen
Lebensbedürfnissen eines jungen Menschen diametral zuwiderläuft.
Der Kongreß von Caracas empfahl, diese Maßnahme nur als "aller-
letztes Mittel" zU gebrauchen!8; wer ahnt schon, welches Dunkelfeld
an Viktimisierung sich hinter ihrer Anwendung weltweit ausbreitet27?
Die Idee der Diversion stammt offenbar aus den USA. Auch sie zielt
darauf ab, vermeidbare Schäden zu vermeiden. Diese Schäden werden
hier aber nicht, wie beim Freiheitsentzug, von irgend einem bestimm-
ten Reaktionstyp der Justiz befürchtet, sondern vom ganzen System
der formellen Sozialkontrolleals solchem. Insofern ist Diversion ein
Produkt der Labeling-Theorie. Die inzwischen beträchtliche Diver-
sionsliteratur kann hier nicht diskutiert, die Formen, Probleme, Ver-
dienste und Mängel der Diversionspraxis können hier nicht ausgebrei-
!5 Der plastische Ausdruck "Entkerkerung" hat sich seit dem Buch von
SculZ, Decarceration, 1977, verbreitet (deutsch: Die Anstalten öffnen?, 1980).
28 UN Caracas (Fn.2), Resolution 4, S.7; vgl. auch UN Working paper
(Fn.4), S. 33, 34 Nr. 85.
27 Für die Bundesrepublik vgl. Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte
und Jugendgerichtshilfen e. V. (DVJJ) (Hrsg.), Jugendgerichtsverfahren und
Kriminalprävention (Bericht über den Jugendgerichtstag 1983), 1984, S. 233 -
258, 560, 561.
Jugend, Kriminalität und Recht 1117

tet werden28 • Natürlich wird die Idee auch befehdet. Ihre Gegner wei-
sen z. B. darauf hin, daß dort, wo Diversion die jungen Missetäter an
eine andere (nichtjustizielle) Instanz weitertransportiert (z. B. an das
kommunale Jugendamt), der Gesamtumfang sozialer Kontrolle letzt-
lich ausgeweitet werde, wobei die "überwiesenen" Jugendlichen, an-
statt wenigstens von den Rechtsgarantien formeller Sozialkontrolle
zu profitieren, allen Zufälligkeiten informeller Kontrollmechanismen
ausgesetzt würden. Andere wieder argwöhnen, Diversion sei nur ein
schönes Mäntelchen um eine reine Verlegenheitslösung, die die Justiz
sich habe einfallen lassen, um einen ständigen Zuwachs an Jugend-
kriminalität, der sie zu erdrücken drohe, ab instantia wegzudrücken.
Was immer daran wahr sein mag, scheinen die Vorteile von Diver-
sion ihre Nachteile aber doch zu überwiegen. Zumindest ist es an-
scheinend möglich, eine "strukturierte Diversion" zu entwickeln, die
den genannten Risiken begegnen kann. Zu ihren Strukturen gehört,
daß eine schlichte Einstellung des Verfahrens im Zweifel den Vorzug
verdient vor einer solchen, die mit irgendwelchen "überweisungen"2D
des Jugendlichen verknüpft ist. Auch die Bindung von Einstellungs-
Ermessen an einen Mindestkatalog genauer definierter Voraussetzun-
gen wäre eine solche Diversionsstruktur30 •
Die Entwicklungen zu "mehr Diversion" und "weniger Einsperrung"
wurden hier als Politik-Elemente im Rahmen solcher Rechtssysteme
vorgestellt, die das "Justiz-Modell" praktizieren. Im Rahmen eines
"Behörden-Modells" ergeben sich durchaus parallele Fragen. In dem
Maße z. B., in dem dort Heimerziehung eine Rolle spielt, wird sich
die eine solche Maßnahme anordnende Stelle mit den Argumenten
auseinandersetzen müssen, die seitens der Pädagogik gegen deren
Durchführung in geschlossenen (somit "besonders" freiheitsentziehen-
den) Einrichtungen heute vorgetragen werden81 • Oder: Je stärker ein
Jugendhilfeausschuß, eine Jugendkommission oder ein ähnliches Gre-
mium sein eigenes Verfahren formalisiert (oder formalisieren muß),

28 Lemert, Instead of Court - Diversion in Juvenile Justice, 1974; Heinzl


Spieß, Alternativen zur formellen Reaktion im deutschen Jugendstrafrecht,
in: Kerner/Kury/Sessar (Hrsg.), Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsent-
stehung und Kriminalitätskontrolle, 1983, S. 896 - 955; Kerner (Hrsg.), Diver-
sion statt Strafe?, 1983; Kluegel, ed., Evaluating juvenile justice, 1983; Wal-
ter, "Innere" Reform jugendkriminalrechtlicher Praxis - Einige kritische
überlegungen, in: Kerner/Kury/Sessar (Hrsg.), 1983, S. 1023 - 1052; Walter/
Koop (Hrsg.), Die Einstellung des Strafverfahrens im Jugendrecht, 1984.
U z. B. "Diversion mit überweisung zum Jugendbüro" , vgl. P.-A. Albrecht,
Perspektiven und Grenzen polizeilicher Kriminalprävention, 1983, S. 39 ff.
30 Palmer/Lewis, A differentiated approach to juvenile diversion, Journal
ofresearch in crime and delinquency 1980, S. 209 - 229.
81 Vgl. MillhamlBullocklHosie, Locking up Children, 1978; Bundesjugend-
kuratorium (Hrsg.), Erziehung in geschlossenen Heimen, 1982.
1118 Horst Schüler-SpringorUIIl.

desto eher wird man auch dort nach solchen Verfahrensalternativen


suchen, die man im Rahmen eines Gerichts-Systems "Diversion" nen-
nen würde. Jugendbehörden mögen sich, nicht weniger als auch Rich-
ter, entweder konservativen oder progressiven, ja sogar harten oder
milden Vorgehensweisen verpflichtet fühlen, usw.
Die Ähnlichkeit solcher Muster - oder sollten wir von einem Grund-
muster hinter den Mustern sprechen? - läßt sich sogar noch weiter
verfolgen, nämlich bis in den Bereich der Reaktionen hinein: Ein Ge-
richt wird zu Sanktionen (vielleicht zu "Maßregeln") greifen, eine
Behörde wird Maßnahmen ergreifen. Beide Instanzen werden ihr Tun
als sinnvoll und zweckmäßig begründen, und beide werden oft genug
einen Sinn und Zweck verfolgen, der sich hinter der offiziellen Be-
gründung verbirgt. Man braucht dafür nur ein paar Begriffe aus dem
Arsenal zu holen, - "Rehabilitation" zum Beispiel, "gerechte Sühne",
"Besserung" und "Erziehung", "Schutz der Allgemeinheit" usw.: Ein
Familiengericht z. B. mag sehr wohl offiziell von Erziehung reden und
den Jugendlichen in eine Institution stecken, wo jedenfalls die Gesell-
schaft erst einmal vor ihm sicher ist. Eine Jugendstrafkammer mag,
was sie verhängt, offiziell damit begründen, daß Abschreckung nötig
sei, und dennoch den Delinquenten in erster Linie resozialisieren
wollen. Eine Behördeninstanz mag davon reden, daß der Jugendliche
in. bestimmter Weise zu "behandeln" sei, und dabei doch von dem
Gefühl geleitet oder mitgeleitet sein, daß durch eben jene Behandlung
auch seine Tat genau richtig vergolten werde.
Mit diesen Erwägungen befinden wir uns bereits bei der Frage nach
dem Wie, der Frage also nach dem Verfahren der jeweils "zuständi-
g-en Stelle". Auch hier wieder ließen sich, je nach Standpunkt oder
Geschmack, entweder systembedingte Unterschiede oder systemüber-
greifende Parallelen aufzeigen. So gehört zu den meistgepriesenen
Vorzügen des schottischen Systems, daß das Gremium, vor dem die
Jugendverhandlung stattfindet, so besonders "gemeinde-nah" zusam-
mengesetzt seiSI; andererseits aber steht zu lesen, ein besonders wich-
tiges Charakteristikum des Gremiums sei gerade seine nahe Verwandt-
schaft mit einem Strafgericht, - nur daß der Berichterstatter (repor-
ter, der mutatis mutandis die Rolle des Staatsanwalts spielt) ver-
gleichsweise zu viel Ermessensfreiheit genieße 33 ! Kritik am Spielraum
findet sich aber auch dort, wo es ein Richter ist, der nach Ermessen
az Eben dieses wurde in den Diskussionen des Kolloquiums in Bellagio
(April 1984) von dem Referenten der 80ciete internationale de criminologie,
McClintock aus Edinburgh, bestritten - und zwar sowohl hinsichtlich der
Faktizität als auch des Nutzens von "Gemeindenähe" .
33 Vgl. Gandy, Juvenile Justice in England and 8cotland, in: Friday!
Stewart (Fn.17), 1977, 8.17 - 21, 20; auch Asquith (Fn.21); Puschmann, Der
amerikanische Jugendstaatsanwalt, 1981.
Jugend, Kriminalität und Recht 1119

entscheidet: Der deutsche Jugendrichter z. B., weil in der Regel (nur)


als Jurist ausgebildet, ermangele eben deshalb der Kompetenz, die
differenzierten erzieherischen Maßnahmen des deutschen Jugendge-
richtsgesetzes (anknüpfend an strafrechtliche Verantwortlichkeit!) dif-
ferenziert zu handhaben34 •
Von derlei Interferenzen abgesehen lassen Verfahrensfragen sich
natürlich am besten am Justizsystem studieren. Manches allgemeine
Problem jeden (straf-)gerichtlichen Verfahrens tritt hier deshalb ver-
schärft auf, weil es um "Jugendkriminalität" geht. Der Streit um das
Legalitäts- vs. Opportunitätsprinzip ist ein gutes Beispiel. Allgemein
dürfte wohl gelten, daß beide Verfahrensweisen mit einer rechtsstaat-
lichen Verfahrensgestaltung vereinbar sind. Im Falle der Jugendkri-
minalität gibt es aber gute Gründe, das Opportunitätsprinzip zu be-
vorzugen. Denn es öffnet die Tür für Diversion nicht nur für den
Richter oder Staatsanwalt, sondern primär auch für die Polizei. So-
bald die Tür aber wirklich so weit offen ist, ertönt unweigerlich der
Ruf nach einem besseren Schutz individueller Rechte gegen willkür-
liches und unstrukturiertes Diversionsermessen. Und wieder: Je ge-
nauer man ein System mit Opportunitätsprinzip inklusive seiner Aus-
nahmen davon kennenlernt, und je genauer man ein System mit Lega-
litätsprinzip inklusive seiner Abstriche davon studiert, desto näher
werden beide aneinanderrucken. Denn beide haben es mit ganz ähn-
lichen Schwierigkeiten zu tun, nur sozusagen über kreuz.

Ein letztes Beispiel in diesem Zusammenhang: Oft wird betont, daß


die Abläufe eines ausgefeilten justizförmigen Verfahrens den Inter-
essen an individualpräventiv optimalen Verfahrensergebnissen wider-
streiten35 • Zwar sind Resozialisierung und Rehabilitation des Täters
heute auch im Strafverfahren gegen Erwachsene als Zielvorgaben,
zumindest inter alia, so gut wie weltweit anerkannt. Um zu einer
wirklich resozialisierenden Sanktion (= ein Widerspruch in sich?) zu
kommen, muß das Gericht aber zuvor die Persönlichkeit des Täters
möglichst gründlich durchleuchten, - eine Prozedur, der Jugendliche
wiederum um Grade wehrloser ausgeliefert sind als Erwachsene. Hier
stoßen wir auf einen der Gründe, warum bestimmte formelle Garan-
tien gerade für das Jugendgerichtsverfahren ganz besonders propa-
giert werden - Rechtsrat und anwaltliche Vertretung zum Beispiel,

14 Vgl. DVJJ (Fn.27) (Hrsg.), Die jugendrichterlichen Entscheidungen -


Anspruch und Wirklichkeit (Bericht über den Jugendgerichtstag 1980), 1981,
insbes. S. 354 ff. (Bußmann), S. 396 ff., 554 f.; Bosselmann, Jugendgericht und
Juvenile Court, ZBIJugR 1983, 62 - 68.
U _ wohl weil die "schützenden Formen" (Eb. Schmidt) eben dadurch
schützen, daß sie den Prozeß der Individualisierung (des Verfahrensergeb-
nisses) bremsen.
1120 Horst Schüler-Springorum

rechtliches Gehör oder andere Verfahrensgrundrechte. Bevor der


Punkt wiederaufgegriffen wird, sei noch eine weitere J e-desto-Gesetz-
mäßigkeit in Erinnerung gebracht: Je mehr ein Gericht wirklich auf
spezialpräventive Ziele (Resozialisierung, Rehabilitation) hin judiziert,
desto mehr wird es sich für den "Fall" auch über die zunächst getrof-
fene Entscheidung hinaus verantwortlich fühlen - und es auch sein.
Es wird für ihn also länger "zuständig" bleiben, und es wird mehr
Arbeit bekommen mit ihm. Denn wo nicht eine Strafe, sondern indi-
vidualpräventives Bemühen zu "vollstrecken" ist, werden die unmit-
telbaren Vollstrecker solchen Bemühens zumindest noch eine Zeitlang
richterlich zu überwachen sein, - wie gut oder schlecht solche über-
wachung sich auch immer auswirken mag.

n. Handeln als Symbol


Von einem sehr schlichten Ausgangspunkt her sei versucht, die Be-
ziehungen zwischen Jugend, Kriminalität und Recht weiter aufzuhel-
len. Alles menschliche Verhalten hat bekanntlich nicht einen abstrak-
ten Sinn in sich selbst, sondern gewinnt jeweils den Sinn, als dessen
Äußerung wir es wahrnehmen. "Äußerung" kann heißen, daß wir den
Sinn (das "Gemeinte", die "Bedeutung") sozusagen "hinter" dem, was
sich äußerlich abspielt, entdecken; es kann aber auch sein, daß wir
Sinn und Bedeutung dem, was wir wahrnehmen, einfach zuschreiben.
Alle menschliche Interaktion spielt dieses Spiel auf Gegenseitigkeit, -
mag es nun zum Verstehen führen oder zum Mißverständnis .
.Ein kaum überbietbar einfaches Beispiel: Ein Mann und eine Frau küssen
einander. Die Zahl der Bedeutungen solchen HandeIns ist nahezu unendlich,
und zwar für beide. Natürlich kann es heißen ..ich liebe dich", aber zum Bei-
spiel auch: "ich muß dich haben" oder "adieu denn" oder "paß gut auf dich
auf" oder "du bist - oder warst - phantastisch" oder "verzeih mir bitte"
oder "schlaf gut, Schatz" oder "guten Morgen,mein(e) Liebe(r)", usw. usf.
Was genau jeweils gemeint ist, wird davon abhängen, was das Handeln im
jeweiligen Zusammenhang symbolisiert. Hilfreicherweise nun liegt die sym-
bolische Bedeutung der meisten Verhaltensweisen ziemlich klar fest, und
zwar dank entsprechend vereindeutigender Konventionen, die bewirken, daß
es mehr Verstehen als Mißverstehen unter den Menschen gibt. Trotzdem
lebt a11 unsere Kommunikation von Versuch und Irrtum.

1. Unsere Antwort auf Jugendkriminalität:


eine symbolische Reaktion
Sich mit Jugendkriminalität zu befassen, läuft - wie wir sahen -
letztlich auf die "zuständigen Stellen" zu, und zwar "letztlich" auch
im Sinne der letzten Instanz, deren Rolle, faute deml.eux, der Staat
übernimmt88 • Ihn, den Staat, symbolisiert die "zuständige Stelle" da-
Jugend, Kriminalität und Recht 1121

her für den Jugendlichen ebenso wie für Dritte. Ganz entsprechend
sieht das Selbstverständnis derer aus, die "zuständige Stelle" sind:
Wo nicht den "Staat", repräsentieren sie zumindest die "Gesellschaft".
Und wofür wiederum stehen Staat und Gesellschaft als Kürzel? Hier
stoßen wir sogleich wieder auf die für unseren Gegenstand so kenn-
zeichnenden Antagonismen.
Einerseits wird gesagt, daß der Staat es sich nicht leisten kann,
jugendlichen Delinquenten, mit denen er zu tun bekommt, nur als die
Verkörperung von Recht und Ordnung gegenüberzutreten. Anstatt so
kühl und unpersönlich aufzutreten, solle er sich lieber als eine nähere
Bezugsperson verkleiden, am besten als Vater oder Mutter, und so
handeln wie beide zusammen. Diesem Ansatz (dieser Ideologie?) fol-
gend leistet der Staat also vor allem Hilfe. Behandlung, Ersatzerzie-
hung, Fürsorge usw. sind alternative Vokabeln dazu 37 ; in der anglo-
amerikanischen Tradition spricht man von der Par€nS-Patriae-Theo-
rie38 • Ungeachtet mancherlei historischer und weltanschaulicher Nuan-
eierungen läuft die Reaktion des Staates in dieser Sicht allemal auf
dasselbe hinaus: Es gilt, den jungen Delinquenten zu erziehen, zu (re-)
sozialisieren, ihm individuellen und/oder sozialen Beistand zu leisten.
Und solches Bemühen hat anzudauern, bis ein Erfolg konstatiert wer-
den kann. Widersetzt der Jugendliche sich dem oder erscheint er gar
unerziehbar, gibt es nur eine konsequente Reaktion: mehr und ver-
stärkter Einsatz - in derselben Richtung!
Die vielen Schwachpunkte dieses Rituals sind heute wohlbekannt.
Vor allem ist es pure Illusion zu meinen, ausgerechnet der Staat könne
die Rolle eines wie immer definierten Elternersatzes spielen, wer auch
immer ihn persönlich repräsentieren mag. Denn die bloße Anmaßung
einer solchen Rolle ersetzt nicht das, was "Eltern" symbolisch bedeu-
ten, nämlich eine menschliche Beziehung. "Beziehung" wiederum, erst
recht eine enge, steht für ein so dichtes und zugleich so feines Ge-
flecht von Interaktionen, daß alle Formen und Methoden staatlicher
Ersatzerziehung einem vergleichsweise grob simplifizierenden Ursache-
Wirkung-Modell verhaftet erscheinen. Dieses Kontrastes wegen hat
86 UN Working paper (Fn.4), S.35 Nr.89: " ... the juvenile court is 1n-
creasingly becoming a legal court of last resort ..."; UN Caracas (Fn.2),
S. 64 Nr. 146: "The ultimate role of the state ...".
87 "Welfare model, treatment model, medical model" usw.: vgl. FlickeT,
Standards for juvenile justice - A summary and analysis, 2. Aufl. 1982;
Jung, Structural Problems of Juvenile Justice Systems, Journal of the Law
Society of Scotland 1982,325 - 328; StewaTt, ed., Justice and troubled children
around the world, Vol. I - V, 1980 - 83; McClintock, Some Aspects of Discre-
tion in Criminal Justice, in: AdlerlAsquith (Hrsg.), Discretion and Welfare,
1981, S. 185 - 199, spricht vom "paternalistic rehabilitative ideal" (S. 187).
88 Asquith (Fn.21); BaileylRothblatt, Handling juvenile delinquency cases,
1982.

71 Festschrift für H.-H. JesCheck


1122 Horst Schüler-Springorum

auch die kriminologische Forschung bisher so wenig zum Problem der


Behandlung jugendlicher Delinquenten beitragen können: Weil schon
in den Ausgangshypothesen bei weitem zu großmaschig angesetzt,
haben Einzelforschungen immer wieder die Austauschbarkeit von Be-
handlungsmaßnahmen (Austauschbarkeit ihrer Art und ihrer Dauer,
bezogen auf Erfolg oder Mißerfolg) erbracht, wenn nicht gar nahe-
gelegt, daß man die Maßnahmen auch ebensogut hätte unterlassen
können39 •
Wendet man sich der Situation des Jugendlichen selbst zu, wird
jede staatliche Parens-PatTiae-Attitude eher noch befremdlicher: Alle
Personen, mit denen er es wegen seiner Straftat zu tun bekommt -
Polizist, Richter, Sozialarbeiter usw. -, sind für ihn Fremde; wenn
sie überhaupt etwas gemein haben, so dies, daß sie "den Staat" ver-
treten. Gibt sich der eine oder andere von ihnen als potentielle Be-
zugsperson aus, so gibt es für den Jugendlichen nur eine "natürliche"
Antwort - nämlich einen solchen Wechsel in der Symbolik nicht zu
akzeptieren. Die Antwort auf die Rollenanmaßung besteht dann darin,
daß der Jugendliche selbst in Deckung geht. Die Autoren eines Be-
richts über die Anstaltserziehung kriminalitätsgefährdeter Jungen fan-
den denn auch den denkbar treffendsten Buchtitel: "Laat je niet
kennen40 !"
Und die "natürliche" Replik des Staates auf solche Verweigerung?
Die erste von mehreren Möglichkeiten besteht darin, am Hilfe-Theo-
rem zwar festzuhalten, aber die Methoden der Behandlung auszu-
wechseln. An die Stelle von Erziehungshilfen durch versuchte Zuwen-
dung tritt dann sehr schnell die Abhilfe durch Abschreckung und Diszi-
plinierung. Das umstrittene "Angstschock"-Projekt in den USA41 wäre
ein Beispiel dafür. Eine weitere, mit dem Ausgangspunkt "Hilfe" noch
vereinbare Variante ist, die freiwillige Mitwirkung des Betroffenen
zu rekrutieren. Darin stecken zahlreiche hier nicht weiter diskutier-

3V Die allzu griffige Formel hierfür ist Martinsans "Nothing works" (vgl.
Martinsan, What Works?, The Public Interest, 1974). LiptonIMartinson/Wilks,
Effectiveness of Correctional Treatment, 1975; nach Th. Weigend, Neoklassi-
zismus - ein transatlantisches Mißverständnis, ZStW 94 (1982), S. 801 - 814,
hat "Nothing works" (und der entsprechende "nothing-worksism") bereits
Kriminologiegeschichte gemacht, S. 808 f.; dazu vgl. auch Schüler-Springorum,
Societe moderne et delinquance juvenile, Revue internationale de crimino-
logie 1983, 31 - 42, 39 ff.
40 SchoutenlHirschjBlankstein, 1974; die wörtliche Übersetzung mit "Laß
dich nicht durchschauen!" wäre wohl zu schwach; besser vielleicht: Verstell
dich!, Mach ihnen was vor!, Gib dich ja nicht so wie du bist!
41 Finckenauer, Scared Straight! and the panacea phenomenon, 1982; MOT-
rison, Toward reducing juvenile delinquency: A look at two innovative
programs in the United States, in: ASPAC (Fn.11), S.109 -114; auch Roddy,
Juvenile Aversion Therapy, Juvenile and Family Court Journal 4/1979, 17 - 38.
Jugend, Kriminalität und Recht 1123

bare Probleme, die zumeist die Herstellung von "Freiwilligkeit" be-


treffen (z. B.: Welchen Mindestgrad an Informiertheit braucht der
Jugendliche, um seine Zustimmung tragfähig zu machen? Woran läßt
sich erkennen, ob er "ehrlich" mitarbeitet oder aber nur zwecks bes-
serer Tarnung seines Ich?). Immerhin haben alle Behandlungsmetho-
den, die "Freiwilligkeit" voraussetzen und "Hilfe" als Angebot be-
greifenu, den Vorzug, die Persönlichkeit des Jugendlichen relativ
ernster zu nehmen, sie weniger zu instrumentalisieren - was sich ja
eigentlich von selbst verstehen sollte.
Doch können Ernüchterung und Resignation über die Machbarkeit
von "Behandlung" staatlicherseits auch eine ganz andere Antwort
auslösen, die (statt der Methoden) das Symbol selbst vertauscht: An
die Stelle des Versuchs, für Vater oder Mutter zu stehen, tritt dann
der Anspruch abstrakter Autorität, versinnbildlicht in staatlicher
Strafgewalt4S • Abstrakt ist sie, weil sie es sich gerade versagt, irgend-
eine persönliche Beziehung einzugehen; und autoritär ist der An-
spruch, übel zuzufügen, wohl allemal. Von Staats wegen Vergeltung
zu üben ist bekanntlich eine so gefährliche Machtbefugnis, daß sich
Jahrhunderte darum bemühten, sie zu zähmen, nämlich durch die
Entwicklung von Verfahrens förmlichkeiten und -garantien und nicht
zuletzt durch die Filigranarbeit am Schuldprinzip. Auf diese Weise
wurde eine Art Balance erreicht, auf die der Anspruch sich gründet,
beim übel tun Gerechtigkeit zu üben.
Das ganze kunstvolle Gebäude beruht freilich auf der Prämisse, daß
auf der anderen Seite ein Erwachsener ("mündiger Bürger") steht.
Das heißt, das Gerechtigkeits-Theorem "lebt" davon, daß die Straf-
justiz als abstraktes Symbol für die Interessen der Gesellschaft sich
an jemanden wenden kann, der diese Symbolik auch versteht. Daß
Jugendliche damit überfordert sind, bedarf sicher keines Kommentars.
Wie sehr sie überfordert sind, läßt sich am besten an den Konsequen-
zen verdeutlichen, die aus der Diagnose stammen, der Jugendliche sei
(obendrein) "gefährlich"u: Das Hilfe-Theorem bietet, wie wir sahen,
keine wirkliche Lösung für das Problem "gefährlicher" Delinquenten;
Fortsetzung der "Hilfe" mit anderen Mitteln wäre allein konsistent -
mit dem schwachen Trost immerhin, daß bis ein junger Mensch sich
wirklich als gefährlich erweist, er im Zweifel kein Jugendlicher mehr
ist. Im Rahmen des Gerechtigkeits-Theorems jedoch bilden gefährliche

4Z "Whenever a problem is susceptible to voluntary solutions, they should


be preferred", UN Working paper (Fn. 4), S. 36 Nr.93.
43 The "justice model", vgl. Grass/von Hirsch, Sentencing, 1981; von Hirsch,
Doing justice, 1977.
U Vgl. Kerner, Gefährlich oder gefährdet?, 1983.

71"
1124 Horst Schüler-Springorum

Kriminelle (abgesehen von allen prognostischen Problemen)45 ein ech-


tes Dilemma; denn hier kann man weder (wie bei Jugendlichen) ein-
fach die Zeit überbrücken noch bietet die schuldadäquate Vergeltung
eine Lösung. Deshalb wird wohl überall in der Welt zu Maßnahmen
gesellschaftlicher Notwehr Zuflucht genommen, bestehend meist in
sicherer Verwahrung. Soweit dies Erwachsene trifft, mag die Beurtei-
lung einer solchen Praxis hier dahinstehen. Wo aber ein Jugendlicher
durch das Strafjustizsystem als "Gefährlicher" abgefertigt wird, dürfte
er den Symbol gehalt des staatlichen HandeIns, das ihn auf solche
Weise unschädlich macht, weder verstehen noch akzeptieren; wer
wollte ihm solches auch zumuten?
Das Problem einer Jugendgerichtsbarkeit "nach Ausbruch der Delin-
quenz" läßt sich nach alledem als ein Grundwiderspruch beschreiben.
Versucht man, nach Maßgabe der wirklichen Bedürfnisse des Jugend-
lichen zu reagieren, wird man bald erfahren, daß staatliche Eingriffe
als Mittel zum Zweck untauglich sind, vor allem weil sie emotional
leerlaufen. Zieht man sich auf die überkommenen Strukturen einer
wie immer praktizierten Strafgerechtigkeit zurück, muß man sich vor-
werfen lassen, Jugendliche so zu behandeln wie Erwachsene; nicht
einmal der Schutz von Persönlichkeitsrechten wird den altersentspre-
chenden Persönlichkeitsbedürfnissen gerecht. Im ersten Fall mag der
junge Delinquent vielleicht sogar verstehen, wen der Staat dort sym-
bolisch vertreten will, nur annehmen wird er es nicht. Im zweiten Fall
mag er vielleicht sogar akzeptieren, daß der Staat, was er ihm antut,
symbolisch für "die Gesellschaft" tut; nur begreifen wird er es nicht.
----80 sehroff formuliert, erscheinen die Extreme unversöhnbar. In
Wirklichkeit sorgt die Praxis allenthalben für Abmilderungen des
theoretischen Gegensatzes. Wo z. B. die für Jugendkriminalität "zu-
ständige Stelle" eine Behörde ist, wird der Grundwiderspruch allen-
falls unter der Oberfläche spürbar. Aber auch wo Jugendgerichte agie-
ren, wird er sich im Einzelfall immer wieder einmal auflösen lassen.
Warum etwa sollte ein 17jähriger Brandstifter die ihm auferlegte
Gefängnisstrafe nicht davon überzeugt antreten können, ihm sei Ge-
rechtigkeit widerfahren? Und warum sollte ein 14jähriger Feuerteufel
nicht auf einen Menschen stoßen, der ihm - etwa als Psychothera-
peut - wirklich hilft? Weitere Chancen, das Unvereinbare zu verein-
baren, dürften sich aus dem jeweiligen sozio-kulturellen Hintergrund
ergeben, der mitbestimmt, wie Staat und Jugendlicher- als Kontra-
henten im selben Spiel - aufeinandertreffen. Denn schließlich ge-
hören ja sowohl der Jugendliche als auch die Repräsentanten der

45 Vgl. z. B. Hinton, ed., Dangerousness - Problems of assessment and


prediction, 1983.
Jugend, Kriminalität und Recht 1125

"zuständigen Stelle" Uedenfalls in der Regel) demselben Volke an.


Das bedeutet, daß sie ungeachtet aller biographischen Unterschiede
und biographiebedingten Anschauungen immerhin dieselbe "Sprache"
sprechen, und zwar im Sinne einer Mindestvoraussetzung für Kommu-
nikation und Interaktion. Daraus folgt nicht nur, daß beide Seiten ein-
ander wenigstens bis zu einem gewissen Grade "verstehen" werden,
sondern vor allem auch, daß man wenigstens bis zu einem gewissen
Grade wahrnehmen wird, wo man einander nicht (mehr) versteht.
Gut veranschaulichen läßt sich dieser (im Wortsinn!) Zusammenhang an
den verschiedenen Wertsystemen, die in den je nach Kultur und Tradition
verschiedenen Zielsetzungen staatlicher Ersatzerziehung aufscheinen. Mate-
rial hierfür liefern vor allem die Regeln, die für die Anstaltsbehandlung
Jugendlicher vorherrschen. Denn die dort formulierten Aufgaben und Metho-
den drücken nicht nur aus, wie der Staat seine Jugendlichen gern hätte,
sondern - symbolisch - auch, wie das jeweilige Selbstbild von Staat und
Gesellschaft aussieht. In westlichen Ländern zum Beispiel würden sich hier,
in je unterschiedlicher Mischung, etwa folgende (zu "trainierende") Ideale
auffinden lassen: Selbstverantwortung, Leistungsstreben, Konfliktfähigkeit
und die Fähigkeit zu problemlösendem Verhalten, Achtung der Rechte ande-
rer und ein Minimum an gesetzmäßigem Verhalten. In Taiwan dagegen liest
sich der Paralleltextee wie folgt: Bescheidenheit, Sauberkeit, Fleiß, Selbst-
beherrschung und Selbstachtung, Bereitschaft zu Zusammenarbeit und ge-
meinsamem Leben, Gehorsam gegenüber tradierten Moralgrundsätzen, Vater-
landsliebe, Ehrfurcht vor dem Recht und, als "zentrale Idee", Liebe. Solche
Aufzählungen sind Spiegel und Zerrspiegel zugleich. Sie offenbaren zahl-
reiche Symbole und nähren zugleich den Zweifel, ob der eine oder der andere
Anspruchs-Katalog wohl je eingelöst werden kann. Für unseren Zusammen-
hang mildern sie jedoch den Antagonismus zwischen dem Staat als "Parens
Patriae" oder als strafender Instanz.
Dennoch bleibt festzuhalten, in welche Ausweglosigkeit der Grund-
widerspruch uns führte: Mag der Staat nun persönliche Hilfe leisten
wollen oder unpersönliche Vergeltung üben, glaubwürdig wird er
einem Jugendlichen weder so noch so begegnen.

2. Jugendkriminalität: eine symbolische Aktion


Die symbolische Bedeutung von Delikten gehört zu den etablierten
Befunden der Kriminalpsychologie. So kann eine Straftat Ausdruck
aller möglichen persönlichen Probleme sein, sowohl solcher der Per-
son mit sich selbst als auch mit anderen Personen, und sowohl solcher,
ce Entnommen aus einer Selbstdarstellung des (für die Republik China
zentralen) Hsin Chu-Jugendgefängnisses bei Taipeh. Auf ähnliche Orientie-
rungen trifft der Besucher wohl in den meisten Staaten Ostasiens; vgl. auch
die Bezugnahme auf die fünf Prinzipien der "Pancasila" bei Thalib, Problem
of juvenile Delinquency and the handling thereof in Indonesia, in: ASPAC
(Fn. 11), S. 326 - 330: 1. a belief in One Almighty God, 2. a just and civilized
humanity, 3. the unity of Indonesia, 4. democracy, led by the wisdom of
unanimity arising from deliberations amongst representatives, and 5. social
justice for the entire Indonesian nation, S. 329 f.
1126 Horst Schüler-Springorum

die aus überfordernden Situationen, als auch solcher, die aus mißlun-
gener Erlebnisverarbeitung entspringen. Sie alle lassen wir hier bei-
seite, um uns den möglichen symbolischen Gehalten von Jugendkrimi-
nalität im allgemeineren (d. h. die Allgemeinheit betreffenden) Sinn zu-
zuwenden. Diese Perspektive gründet sich auf Forschungsergebnisse,
die Jugendkriminalität und soziale Benachteiligung in einen sozial-
strukturellen Zusammenhang gebracht haben; Mehrfachtäter insbeson-
dere erscheinen mehrfach vor-benachteiligt durch eine Anzahl nega-
tiver Bedingungen wie z. B. familiäre Probleme plus Schulschwierig-
keiten plus "falsche" Freunde plus defiziente oder fehlende Berufs-
ausbildung plus Arbeitslosigkeit usw. Ungeachtet aller damit jeweils
verbundenen individuellen Probleme indiziert Kriminalität, die mit
solchen Umständen einhergeht, immer auch soziale Mängellagen47 • Das
heißt allerdings nicht, daß die Gesellschaft stets an ihnen auch "schuld"
sei; denn auch Gesellschaften, so wird sich zeigen, können nichts dafür
können. Erinnern wir uns einiger weiter oben schon erwähnter Be-
funde.
Bereicherungsdelikte führen bekanntlich die Statistik an, und dies
weltweit. In den Industrieländern pflegt man materiellen überfluß
und kriminalitätsbedingte materielle Verluste recht eng miteinander
zu verknüpfen. In Entwicklungsländern gewinnt ebendasseIbe Verhal-
ten eine ganz andere Bedeutung: "Wenn Kinder hungrig sind, brau-
chen sie Nahrung; und wenn man sie ihnen nicht gibt, werden zumin-
dest manche sie stehlen48 ." Hinter dieser banalen Feststellung verbirgt
sich eine bemerkenswerte Umwertung von Werten, die sich (immer
noch stark vereinfacht) so vollzieht: Wo fremdes Eigentum zum Objekt
weitverbreiteter Diebstahlsdelikte wird, muß entweder die Achtung
vor fremdem Eigentum weitverbreitete Einbußen erlitten haben oder
andere Werte müssen überwiegen. Für Wohlstandsgesellschaften hat
man oft genug den erstgenannten Vorgang beschrieben; im Beispiel
des Zitats weicht der Respekt vor fremdem Eigentum dem höchstper-
sönlichen Hunger.
Das Bild der Delinquenz, das sich wie ein Mosaik für jede Gesell-
schaft spezifisch zusammensetzt, bildet offenbar überhaupt viel von
der Hierarchie und Stärke der herrschenden Werte ab. Wo ein Wert-
system "gesellschaftlich" (noch) besonders fest verankert ist, geht eine
geringe allgemeine Toleranz gegenüber abweichendem Verhalten oft mit
einer relativ reduzierten Kriminalitätsrate einher40 • Als man Einstellun-

47 Lamnek, Wider den Schulenzwang, soziologische Habilitationsschrift,


München 1984, und Schüler-Springorum (Hrsg.) (Fn. 12), jeweils m. w. N.
48 UN Working paper (Fn. 4), S. 16 Nr.42.
40 Für Spanien z. B. berichtet solches Barbero Santos, La delincuencia
juvenil en Espaiia: Imagen y realidad, 1983, S. 17.
Jugend, Kriminalität und Recht 1127

gen gegenüber Jugendkriminalität zum Gegenstand einer vergleichen-


den Untersuchung in Frankreich, Belgien und Polen machte, stellte
man fest, daß je stabiler ein Wertsystem ist, desto wirksamer seine
Einhaltung auch kontrolliert werden kann50 • Für pluralistische Gesell-
schaften versteht sich die Kehrseite fast von selbst; und andere Erschei-
nungsformen von Jugendkriminalität lassen sich auf dieselbe Weise
deuten. So dürfte die selbstzerstörerische Komponente des Drogen-
mißbrauchs zumindest auch Symbol sein für eine Gesellschaft, die
dabei ist, sich auf dem Wege der Umweltvernichtung selbst umzu-
bringen. Und die Gewaltkriminalität Jugendlicher dürfte auch aus-
drucken, wie weit Gewalt zum Lebensstil einer Gesellschaft gehört.
Was die Gewaltdelikte angeht, halten die USA im internationalen
Vergleich bekanntlich einen Rekord - was mit dem tautologischen
Argument, es handele sich eben um eine "Ellbogengesellschaft", er-
klärt zu werden pflegt. Doch kann man zum Beispiel in Japan beob-
achten, daß sich dort in zahlreichen Fernsehprogrammen ständig und
überall Gewalt entfaltet, und zwar in Gestalt harter physischer Bru-
talität - für manch einen Besucher ein schockierendes Erlebnis. Wenn
der Besucher nun obendrein ein Kriminologe ist, wird er sich ange-
sichts dessen irritiert die in Japan notorisch ganz besonders niedrigen
Statistiken über Gewaltkriminalität vergegenwärtigen51 • Aber auch
hierfür hat man natürlich eine Erklärung zur Hand: Das Netz infor-
meller und halb formeller Sozialkontrollen sei in Japan eben ganz
besonders dicht - und wirksam! So überzeugend diese (übrigens von
Japanern selbst geteilte) Interpretation auch sein mag, ~ könnte nicht
hinter jenen Formen von Sozialkontrolle vor allem ein noch festge-
fügtes und traditionsträchtiges Wertsystem verhaltenswirksam wer-
den? Wenn dem so ist, würde ein japanischer Fernsehzuschauer einen
Gewaltfilm vielleicht ganz anders "sehen" als unsereins; etwa in der
Distanz, daß sich dort etwas Fremdes vollzieht anstatt unseres eigenen
Lebens.
Andererseits beunruhigen sich neuerdings auch die Japaner: über
Gewaltdelikte jugendlicher Extremisten, über Gewalt gegen Eltern
und Lehrer, über gewalttätige Jugendbanden5!. Auf der Suche nach
Grunden für diese Phänomene wird man sich auch den Veränderungen
zuwenden müssen, denen japanische Wertstrukturen in unseren Tagen
unterliegen. So könnte man zum Beispiel herausfinden, wofür die

50 WaZgrave/MaZewska, in: Bonerandi et al., Delits des Jeunes et jugement


social, 1983, S. 129 ff., 140.
61 Government of Japan, Summary of the White Paper on Crime 1977,
S.18 f.
52 Government of Japan, Summary of the White Paper on Crime 1981,
S.9 ff., 65 ff.
1128 Horst Schüler-Springorum

Gruppendelinquenz junger Leute in Japan heute als Symbol steht.


Und was immer sie symbolisiert, wird sich wiederum erdteilweit
unterscheiden von der symbolischen Aussage des Gruppenverhaltens
von Kindern und Jugendlichen in vielen Städten Afrikas, wo sie "aus-
schwärmen zu Hunderten, ohne irgendein anderes Ziel als zu über-
leben, ohne Hilfe, ohne Hoffnung, nur dem Druck der Gleichaltrigen
unterworfen"5S.
Wir werden, so scheint es, immer wieder zurückgeworfen auf das
Kriminalitätsbild der am stärksten bevölkerten und am wenigsten
begüterten Länder. Ihr Unterprivilegiertsein überspielend, haben wir
uns angewöhnt, sie "Entwicklungsländer" zu nennen - und so nennen
sie sich auch schon selbst. Die Vereinten Nationen haben sogar ein
"Menschenrecht auf Entwicklung" proklamiertM. Entwicklung aber wo-
hin? "Als wichtigste Voraussetzung gilt es, strukturelle Veränderun-
gen der weltwirtschaftlichen Lage zu bewirken", und zwar so funda-
mentale Veränderungen, daß aus ihnen das Postulat einer "Neuen
Weltwirtschaftsordnung" entwickelt und von der UN-Vollversamm-
lung schon vor rund einem Jahrzehnt beschlossen wurde55 . Der Zu-
sammenhang dieser Konzeption mit den Problemen der Dritten Welt
ist unverkennbar. Zwar wird die Neue Weltwirtschaftsordnung als
eine Synthese von "Entwicklung" in sehr verschiedenen Bereichen
beschrieben, unter denen die der Wirtschaft nicht unbedingt primär
sei; "Beschleunigung des Wirtschaftswachstums" und "industrielle Ex-
pansion" rangieren aber dennoch unter den wichtigsten Maßnahmen
auf dem Wege zum angestrebten Ziepe. Das Heil für Leid und Elend
dieser Welt wird also letztlich darin gesucht, daß auch die Entwick-
lUngsländer sich langsam aber sicher zum Lebensstandard der Indu-
strienationen emporentwickeln. Und warum auch nicht, - haben sie
etwa keinen Anspruch auf Teilhabe am großen Kuchen?
Man braucht kein Prophet zu sein, um die kriminogenen Folgen sol-
cher Abläufe vorauszusagen 57. Oft genug ist beschrieben worden, wie

53 UN Working paper (Fn. 4), S. 9 Nr. 19.


M Vgl. schon vom 11.12.1969: UN Declaration on Soeial Progress and
Development; ferner United Nations, Report of the Secretary General on
Crime prevention in the context of the New International Economic Order
(March 1984, fortan zitiert als UN NIEO), S. 12, 13 Nr.24, 25.
55 UN Report (Fn. 7), S. 19, 20 Nr. 62 - 66.
68 UN NIEO (Fn.54), S.3 Nr.6, 7; daneben werden als Ziele der Neuen
Weltwirtschaftsordnung u. a. genannt: Gleichheit, Souveränität, Unabhängig-
keit, internationale Zusammenarbeit, nationale Selbstbestimmung, Schaden-
ersatz für die Ausbeutung von Bodenschätzen und Befreiung vom Kolonialis-
mus (a. a. 0., S. 2 f. Nr. 5).
G7 UN NIEO (Fn. 54) ist hauptsächlich diesem Thema gewidmet, doch ist
der Zusammenhang innerhalb der Vereinten Nationen nicht unumstritten -
vgl. UN Committee on Crime Prevention and Control, Research Report on
Jugend, Kriminalität und Recht 1129

sich eine Wirtschaftsexpansion im Zeitraffer, die die tradierten hei-


mischen Gemeinschaftswerte auf den Kopf stellt, auf die Jugendkrimi-
nalität auswirkt58• Denn in dem Maße, in dem die Ideologie von Wirt-
schaftswachstum und Industrialisierung sich in der Dritten Welt aus-
breitet, importieren die Entwicklungsländer nicht nur Fabriken und
aus 'dem Boden gestampfte Gebilde von Großstädten, sondern auch
alle jene Werte und Wertprioritäten, die die westliche Welt von heute
prägen. Radio, Fernsehen, Film und andere Massenmedien tun das
ihre, um sie zu verbreiten. Insbesondere junge Menschen sind ihnen
mehr oder weniger wehrlos ausgesetzt. Auf dem UN-Kongreß in
Caracas (1980) hielt ein Marokkaner (Cheddadi) ein Referat über
"Sozialverteidigung in Arabien": Von allen 100 Millionen Arabern
leben, so berichtete er, bereits etwa 40 % in größeren Städten - eine
Tatsache, die zugleich erkläre, warum über 50 % aller Straftaten von
Personen unter 20 Jahren begangen würden; in Marokko, so habe eine
Interview-Untersuchung ergeben, bestätigten 28 % der befragten
Jugendlichen, daß sie ihr Verhalten an Filmvorbildern ausrichten.
Das Gesamtbild wird erst vollständig, wenn man sich den Anteil
junger Menschen an der jeweiligen Bevölkerung vergegenwärtigt.
"Bezogen auf die Erdbevölkerung, ist heute jeder fünfte zwischen
15 und 24 Jahre alt59." In Europa (mit UdSSR) und Nordamerika be-
trägt dieser Anteil aber nur etwa 15 %, während er in Ländern Latein-
amerikas und Ostasiens entsprechend hoch über 20 % liegt60 • In den
Angaben über Jugendarbeitslosigkeit schlägt sich das folgerichtig nie-
der: Diese betrug (vor einigen Jahren) in den erstgenannten Teilen
der Erde zwischen 25 und 45 %, aber zwischen 60 und 75 % in den
letztgenannten81 - wobei "Arbeitslosigkeit" freilich ein Begriff ist, der
eine bestimmte Situation ganz nach westlichen Standards definiert.
Eine beliebte kriminologische These lautet, jede Gesellschaft habe
die Kriminalität, die sie verdient. Eben deshalb wohl beschäftigt man
sich in jeder einzelnen Gesellschaft so ausdauernd mit der Frage nach
den Gründen für das je eigene, "nationale" Kriminalitätsbild; selbst

the Causes of Delinquency ... , 1984, S. 16, 20, 44 Nr.34, 44, 96 (HEUNI) u.
S. 52 ff., 53 - 55 (UNSDRI); andererseits schon Lopez-Rey, Les jeunes et la cri-
minalite dans la societe contemporaine et la societe future, Revue de science
criminelle et de droit penal compare 1980, 897 - 909, 901: "La delinquance
juvenile et le developpement sont etroitement lies".
58 Vgl. BriZlon (Fn. 8); Leunmi, Der Kulturkonflikt und die Jugendkrimina-
lität in Afrika, 1978.
59 UN Report (Fn. 7), S. 5 Nr. 8.
eo ebd., S. 24 ff.; Lopez-Rey, Youth and Crime in Contemporary and Future
Society, in: UNAFEI Resource Material Series Nr. 14 (1978), S. 69 - 84, 74 ff.
el UN Report (Fn. 7), S. 30.
1130 Horst Schüler-Springorum

dort, wo das Kriminalitätsniveau vergleichsweise niedrig liegt, wird


den möglichen Ursachen für Straftaten nachgeforscht, - so als ob
man, anstatt auf die niedrige Gesamtrate stolz zu sein, sich auch für
sie noch schuldig fühlte. Gerade die symbolische Bedeutung von
Jugendkriminalität als Indikator für den Zustand einer Gesellschaft
sollte uns aber daran erinnern, daß auch ganze Gesellschaften mög-
licherweise an ihrem Zustand "unschuldig" sind, unschuldige Opfer
nämlich von Entwicklungen, die ihnen von außen aufgeschwatzt oder
gar aufgezwungen werden8!. Die Aussichten, zumindest für die abseh-
bare Zukunft, sind entsprechend finster: Alle Zeichen deuten auf groß-
angelegte wirtschaftliche und politische Abläufe hin, deren Einflüsse
weltweit das mühsame Stückwerk je nationaler Kriminalpolitik fru-
strieren werden.

m. Jugendkriminalität und Recht

Kehren wir zum engeren Thema zurück, für das Kriminologie und
Kriminalpolitik ja nicht die Zentralfragen sind. Immerhin lassen die
bisherigen Überlegungen einige Schlüsse zu, die zwar eher bescheiden,
dafür aber ziemlich zwingend ableitbar erscheinen.

1. Jugend und Kriminalität

"Kriminalität" ist bekanntlich eine Sache der Definition. Mit "Ju-


gend" verhält es sich aber nicht anders, wie die vorerwähnten sehr
verschiedenen oberen und unteren Altersgrenzen, durch die nationale
-Rechtsordnungen den "Jugendlichen" definieren, beweisen. Selbst der
heute so geläufige Begriff der "Kindheit" ist ja nicht älter als rd. 400
J ahre88 • Der "Jugendliche" als Rechtsbegriff taucht erst im vorigen
Jahrhundert auf, und zwar um ihn im Strafvollzug (I) abzugrenzen
gegen Erwachsene und um ihn als strafrechtlich verantwortlich von
Kindern zu unterscheiden84 • Mag der Begriff deswegen ein Produkt
der ersten industriellen Revolution sein oder nicht, jedenfalls war der
"Jugendliche" eine Erfindung des Westens, die erst sehr viel später
allgemeine Verbreitung fand. Bis heute haben manche nicht-westliche
Gesellschaften anscheinend Schwierigkeiten mit ihm. In Ägypten z. B.
geht man davon aus, daß "die Jugendlichen keine eigenständige Grup-

82 Vgl. UN Caracas (Fn. 2), Resolution 7, S. 10, 11; ebd., S. 67 - 69, Nr.157 - 167.
83 Postman, The disappearence of childhood, 1982 (deutsch: Das Ver-
schwinden der Kindheit, 1983).
84 Roth, Die Erfindung des Jugendlichen, 1983, S. 96 ff., 101, 135 ff.; vgl.
auch DeZmas-Marty, Les chemins de la repression, 1980, S. 36 f.; Jescheck,
Der Einfluß der IKV und der AIDP auf die internationale Entwicklung der
modernen Kriminalpolitik, ZStW 92 (1980), S. 997 - 1020, 1005 f.
Jugend, Kriminalität und Recht 1131

pierung bilden"8S; auch in der Volksrepublik China sieht man das wohl
ähnlich88 •
Das alles spricht dagegen, "Jugend" und "Kriminalität" vorschnell
miteinander zu verbinden. Je nach festgelegter Altersgrenze drängt
sich sogar der Standpunkt auf, daß Jugend und Kriminalität apriori
miteinander nichts zu tun haben, - definitorisch ausgedrückt also, daß
eine Straftat eines Jugendlichen keine Straftat ist. Rechtssysteme, die
keine strafrechtliche Verantwortlichkeit Jugendlicher kennen, gehen
eben hiervon aus. Und Rechtssysteme, die Jugendliche strafrechtlich
verantwortlich machen, beweisen durch die vielen damit eingehandel-
ten Probleme - Verantwortlichkeit abhängig vom Alter und/oder von
anderen Kriterien wie Reife, Unterscheidungsvermögen, fallbezogener
Unrechtseinsicht oder Deliktsschwere? Voraussetzungen und Folgen
verminderter Verantwortlichkeit? usw. - eigentlich nur, daß solche
Verantwortlichkeit dem Jugendlichen mehr zugerechnet (in-culpiert!)
als in ihm diagnostiziert wird.
Zwei Konsequenzen dessen bieten sich an: Wo immer Art und Weise
der staatlichen Reaktion davon abhängen, ob ein Jugendlicher eine
Straftat begangen hat, sollte der Bereich dessen, was als (Jugend-)
Straftat gilt, (1.) nach Möglichkeit enger und (2.) keinesfalls weiter als
für Erwachsene sein.
Der erste Punkt betrifft die vieldiskutierte Entkriminalisierung87 •
Ohne daß hier auf Einzelheiten eingegangen werden könnte, sollte sich
als eine Art Dauerpostulat ergeben, daß beileibe nicht alles Verhalten,
das für Erwachsene strafbar gestellt ist, allein deshalb auch für
Jugendliche gleichgewertet wird. Schon die Erkenntnis, daß das Er-
wachsenwerden einen mehr oder weniger langsam, mehr oder weniger
kontinuierlich ablaufenden Prozeß darstellt, spricht dagegen, Jugend-
liche ab einem bestimmten Zeitpunkt sozusagen mit der Totalität des
Strafrechts zu überfallen.
Besonders problematisch wird in dieser Sicht der Einsatz des Strafrechts
gegen Drogenmißbrauch. Da junge Menschen viel eher Opfer als "Täter"
solchen Verhaltens sind, gehören die einschlägigen Maßnahmen eigentlich
zur staatlichen Jugendschutzpolitik. Inwieweit diese in dem Versuch be-
stehen darf, Schutz durch Kriminalisierung zu bewirken, sollte mehr als eine
nur rhetorische Frage seinGs • Denn letztlich betreibt eine jede Generation den
Jugendschutz doch im höchsteigenen Interesse.

85 UN Working paper (Fn.4), S. 30 Nr. 75.


G8 WU Han, The Major Principles of Juvenile Justice Administration in
China, unveröff. Manuskr. 1983.
87 Vgl. Council of Europe, Report on Decriminalisation, 1980; Kaiser, Mög-
lichkeiten der Entkriminalisierung nach dem Jugendgerichtsgesetz im Ver-
gleich zum Ausland, RdJB 1980, 266 - 277.
GS Engagiert hierzu (und statt vieler) Quensel, Drogenelend, 1982.
1132 Horst Schüler-Springorum

(Angeblichen) Jugendschutz durch Kriminalisierung finden wir aber


auch dort, wo der Bereich als delinquent!' geltenden Verhaltens für
Jugendliche sogar weiter ist als für Erwachsene. Beispiele sind Weg-
laufen und Streunen, sexuelle und andere Verwahrlosung, Schul-
schwänzen usw. Wo diese strafbar sind, ist die Parens-PatTiae-Ideo-
logie in ihrem Anspruch, die erziehende Mutter oder den disziplinieren-
den Vater zu vertreten, denaturiert zur staatlichen Strafgewalt; wie
sehr denaturiert, erhellt aus der nicht selten zu hörenden Begründung,
der Staat müsse strafend eingreifen, um einer weiteren Gefährdung
der Entwicklung vorzubeugen. Die Konsequenz daraus kann nur die
obengenannte sein, daß das Verhalten Jugendlicher unter strafrecht-
lichem Aspekt jedenfalls nicht strengeren Anforderungen unterliegen
darf als das Erwachsener. Denn - da capo:
"Die spezifische Definition des Jugendbegriffs durch die Erwachsenen dient
letztlich ihrer eigenen Identitätssicherung; sie ist kein Ergebnis des ,Ver-
stehens' der Jugendlichen, sondern Funktion der Erwachsenenbedürfnisse70 ."

2. Jugend und Gerechtigkeit


Jugendlichen "Gerechtigkeit" widerfahren zu lassen ist schwer ge-
nug; es wird, wie wir sahen, fast unmöglich, wo das Verhalten Jugend-
licher sich als "Kriminalität" niederschlägt. Dieser besonderen Kon-
stellation wegen bestände die beste "Gerechtigkeit" für Jugendliche
natürlich darin, sie vor Kriminalität ebenso zu bewahren wie schon
vor krimineller Gefährdung. So gestellt, verwandelt die Frage sich
unversehens in eine viktimologische. Denn es ist ja schon angeklungen,
_daß_die meisten Klienten des Themas "Jugend, Kriminalität und Recht"
im Zweifel Opfer waren, bevor wir sie als Täter wahrnehmen.
Ein letztes Beispiel möge dies illustrieren: In Brasilien besteht die quan-
titativ wohl bedeutendste Klientel des Jugendrechts aus solchen Kindern
und Jugendlichen, die von ihren Müttern oder Eltern ausgesetzt oder schlicht
verlassen wurden ("los abandonados"). Es handelt sich um viele Millionen71 •
Daß sie Opfer sind, bedarf kaum einer Begründung: Opfer einer Gesellschaft,
in der ein Leben am Existenzminimum die Regel ist, in der Männer sich in
der "Macho"-Attitüde gefallen, und in der Frauen von Empfängnisverhütung
entweder nichts verstehen oder sie ablehnen. Das neue brasilianische Jugend-
gesetz von 1979 (C6digo de Menores) vermeidet zwar den Begriff "abando-
nados"; deren faktische Situation jedoch, vom Gesetz näher umschrieben,
bildet als "irregulärer Zustand" ("situac;ao irregular") einen von sechs Ein-

69 "Delinquency" vor allem i. S. des US-amerikanischen Rechts, vgl. UN


Working paper (Fn. 4), S. 30 Nr. 77.
70 Ziehe, Pubertät und Narzißmus, 3. Aufl. 1979, S. 7; vgl. auch UN Caracas
(Fn.2), S.65 Nr. 149: "How legitimate is it for the minority adult to legislate
for, decide for and judge the majority youth with reference only to minority
adult norms and culture (or subculture)?"
71 UN Working paper (Fn.4), S. 9 Nr. 19.
Jugend, Kriminalität und Recht 1133

griffstatbeständen für Maßnahmen der Jugendhilfe (als sechster "irregulärer


Zustand" gilt das Begehen einer Straftat), derweil die brasilianische Gesell-
schaft das Problem als solches weiterproduziert: Jahr für Jahr kommt eine
neue Generation von Hunderttausenden von "abandonados" und Straftaten
begehenden Jugendlichen hinzu. Deshalb spielt dort (wie überhaupt in Süd-
amerika) das Bestreben, den illegalen Kinderhandel durch rechtlich geregelte
internationale Adoptionen einzudämmen, eine so große, den je innerstaat-
lichen "Lösungs"-Strategien durchaus gleichkommende Rolle.

Die Diskrepanz zwischen solchen Realitäten und dem, was eigent-


lich sein sollte, ist schrecklich - wenn wir etwa verlautbart hören,
jedes Kind habe ein Recht darauf, "in einer Atmosphäre liebevoller
Zuwendung, persönlicher Geborgenheit und materieller Sicherheit"
aufzuwachsen72 , weil last not least die beste Kriminalprävention darin
bestehe, jedem Kind "Vertrauen, das Gefühl von Sicherheit und das
Bewußtsein von Verantwortlichkeit" zu vermitteln73 • Ungeachtet sol-
cher idyllischen Entwürfe ist indes festzuhalten, daß auch heute noch
die Familie "weltweit als wichtigste Instanz der Sozialkontrolle" giJt14 •
Für die Frage nach "Jugend und Gerechtigkeit" gewinnen zwei schon
weiter oben erhobene Forderungen an zusätzlicher Stringenz: (1.) Mit
Freiheitsentzug widerfährt einem Jugendlichen so gut wie nie Gerech-
tigkeit, und (2.) alle in unserem Zusammenhang diskutierten Maß-
nahmen sollten versuchen, Familienstrukturen nachzubauen.
Wo immer jugendliche Straftäter zu Freiheitsentzug verurteilt wer-
den, läuft das erste Postulat auf Entpönalisierung1l hinaus; für die
Untersuchungshaft gilt es - wie gesagt - entsprechend. Nachzutra-
gen bleibt nur noch, warum dies so überaus wichtig erscheint: Für
einen jungen Menschen ist die "Freiheit" physisch-körperlicher Be-
wegung ("liberte locomotrice") etwa genauso lebenswichtig wie für
einen alten die Möglichkeit, sich in Erinnerungen zu ergehen. Erwach-
sene halten selbst jahrelangen Freiheitsentzug aus, weil sie inzwischen
wissen, wie lange ein Jahr währt. Für einen Jugendlichen hat das
Erlebnis, eingesperrt zu werden, u. U. die Qualität von Ewigkeit. Oder
anders ausgedrückt: Wenn persönliche Beziehungen, das Erfahren von
"Umwelt" und die Interaktion mit anderen wirklich entscheidende
Bedingungen für ein "gedeihliches" Heranwachsen sind, bietet ein
einziger Tag mit körperlicher Bewegungsfreiheit mehr davon, als hin-
ter Gittern in vielen Monaten ersetzt werden kann.

72 UN Dec1aration of the Rights of the Child, 20. 11. 1959, Principle 6.


13 UN Working paper (Fn.4), S. 11 Nr.23.
l' UN Caracas (Fn. 2), S. 63 Nr. 143.
16 Vgl. PfeifJer, Kriminalprävention im Jugendgerichtsverfahren, 1983,
und P.-A. Albrecht/Schüler-Springorum (Hrsg.) (Fn.l); kritisch z. B. Pinatel,
Doctrine et pratique en matiere de delinquance juvenile, Revue internatio-
nale de criminologie 1983, 50 - 61, 57 ff.
1134 Horst Schüler-Springorum

Der zweite Punkt wendet dieselbe Einsicht ins Positive: Wenn es


stimmt, daß die (intakte) Familie das gesellschaftspolitische Optimum
ist, sind Ersatzmaßnahmen so zu strukturieren, daß sie ihr möglichst
ähnlich sind. Pflegefamilien und Wohngemeinschaften, zeitlich be-
grenzte auch erlebnistherapeutische Programme wie das "Interme-
diate Treatment" in England76 , "Vision Quest" in den USA77 oder
"Segelschiff Corsar" in der Bundesrepublik78 bieten mehr Chancen
für ein Lernen über Beziehungen und Interaktionen, als Reformen
der Anstaltsbehandlung je erreichen können. Die Idee gemeinwesen-
orientierter Erziehungshilfen (community-based corrections) hatte und
hat hier ihr stärkstes Argument7u •

3. Jugendkriminalität und Justiz

Um zum Schluß an unseren wichtigsten Befund zu erinnern: Jede


staatliche Reaktion auf Jugendkriminalität ist einer doppelten Gefahr
ausgesetzt. Wo die "zuständige Stelle" auf Hilfe und Behandlung hin
orientiert ist, verfehlt sie im Zweifel die wirklichen Bedürfnisse des
Jugendlichen. Wo sie hingegen Strafgerechtigkeit zu realisieren sucht,
fingiert sie den Jugendlichen als Erwachsenen. Im Ergebnis läuft bei-
des zumindest tendenziell auf eine Verletzung existentieller Persön-
lichkeitsinteressen hinaus. Scylla und Charybdis also? Unsere letzte
Konsequenz kann nur von den "zuständigen Stellen" aller Art und
Zusammensetzung eben das verlangen, wozu diese gern "die Jugend"
bekehren würden - mehr Bescheidenheit und weniger hoch gesteckte
Ansprüche!
-_Die "Erklärung von Caracas", krönende Resolution des UNO-Kon-
gresses 1980, fordert die Staaten dazu auf, das "Strafrecht so fortzu-
entwickeln, daß es entscheidend dazu beiträgt, stabile soziale Bedin-
gungen zu schaffen" 80. Geradezu ein Paradebeispiel dies, wie mir
scheint, für einen zu hoch gesteckten Anspruch; jedenfalls (um die
Erklärung weiter zu zitieren) "stabile soziale Bedingungen frei von
Unterdrückung und Manipulation" dürften durch andere Rechtsquel-
len einschließlich der Menschenrechte eher gefördert werden können
als gerade durch das Strafrecht. Recht, das sich an jugendliche Delin-
78 Fard, Children, Courts and Caring, 1975, S. 113 ff.
77 Marrisan (Fn.41), S. 112 ff.
78 An eine Vorbereitungszeit in einem heilpädagogischen Jugendheim
schließt sich ein mehrmonatiges, intensives Sozialtraining auf einem Segel-
schoner an (Jugendschiff Corsar e. V., 2855 Beverstedt).
78 Vgl. PerlsteinlPhelps (Hrsg.), Alternatives to prison - Community-based
corrections, 1975; Friday, International review of youth crime and delinquency,
in: Graeme Newman, ed., Deviance and Crime: Comparative Perspectives, 1981,
S. 100 - 129, 120 ff.
80 UN Caracas (Fn. 2), S. 4 Nr. 7.
Jugend, Kriminalität und Recht 1135

quenten wendet, wird allemal nur Randkorrekturen der gesellschaft-


lichen Entwicklung bewirken können. Die seit 1980 im Rahmen der
Vereinten Nationen erarbeiteten Vorschläge für ein Regelwerk von
"Mindestgrundsätzen für die Jugendgerichtsbarkeit"81 versuchen dies
auf dem Wege eines eher pragmatischen Gleichgewichts zwischen den
"Modellen" umfassender sozialer Hilfe und umfassenden Rechtsschut-
zes für jugendliche Delinquenten. Immerhin legt der entsprechende
Entwurf das Hauptgewicht nicht auf das Interesse der Gesellschaft,
ihrerseits vor Jugendkriminalität bewahrt zu werden, sondern auf die
"eigenen" Interessen des Jugendlichen. Denn selbst wo sein Verhalten
andere viktimisiert, ja sogar weiter zu viktimisieren droht, riskiert
staatliche Intervention doch stets auch, den Schaden zu perpetuieren
oder gar erst den Grund für künftige "Gefährlichkeit" zu legen. Wo
man dem Jugendlichen nicht gerecht werden kann, sollte man ihm
zumindest möglichst wenig Unrecht tun - schon das heißt per Saldo,
Schaden und Leid zu verringern.

81 Standard Minimum rules for the administration of juvenile justice


and (I) the care of juveniles, vgl. UN Caracas (Fn.2), Resolution Nr.4, S.7/8;
UN Discussion Guide (Fn. 3), S.24 Nr. 61.
KLAUS SESSAR

Ober das Opfer


Eine viktimalogische Zwischenbilanz

I. Vorbemerkung

Nachdem seit 1973 eine Reihe von internationalen Symposien, Tagun-


gen und Kursen zum Thema "Viktimologie" stattgefunden hat!, nach-
dem sich eine viktimologische "scientific community" unter der - aber
auch ohne die - Obhut einer "World Society of Victimology" (mit der-
zeitigem Sitz in Münster/Westfalen) gebildet hat, nachdem die entspre-
chenden Publikationen Legion geworden und nicht mehr überschaubar
sind, und nachdem sich schließlich eine Vielzahl politischer und sozialer
Gruppierungen aufgerufen fühlt, die Sache des Opfers, insbesondere
des Verbrechensopfers zu vertreten, ist es an der Zeit, eine Zwischen-
bilanz zu ziehen. Dabei wird es auch ein Anliegen sein, das allge-
meine Interesse am Opfer vor vordergründigen, modepolitischen Ak-
tivitäten in Schutz zu nehmen. Dies kann nur dadurch gelingen, daß
das Opferthema in einen sozialwissenschaftlichen wie rechtlichen Zu-
sammenhang gestellt wird2• Hieraus folgt die Vermeidung oder besser
überwindung einer das Opfer isolierenden Betrachtungsweise, wie man
sie interessanterweise nicht so sehr bei den "naiven Vätern" der Vikti-
mologie antraf, sondern erst später, als die Verwissenschaftlichung ein-
setzte und politisches Kapital winkte.

lOhne Versuch der Vollständigkeit: Internationale viktimologische Sym-


posien 1973 in Jerusalem; 1976 in Boston; 1979 in Münster; 1982 in Tokio und
Kyoto; 1985 in Zagreb. Ein "International Study Institute on Victimology"
1975 in Bellagio; ein "First World Congress of Victimology" 1980 in Washing-
ton D.C. Ein internationaler kriminologischer Kurs mit dem Thema "Victims
of Crime" 1982 in Vancouver. Ein "International Workshop on Victim Rights"
und ein Postgraduiertenkurs "Victims and the Criminal Justice System" 1984
in Dubrovnik. Die ,,16th Criminological Research Conference on Research on
Victimization" des Europarats, 1984 in Straßburg. In diesem Zusammenhang
ist noch der 55. Deutsche' Juristentag zu erwähnen, mit dem Thema in der
strafrechtlichen Abteilung: "Die Rechtsstellung des Verletzten im Strafpro-
zeß", 1984 in Hamburg.
! Solche Zusammenhänge sind bis in die Strafrechtsdogmatik hinein zu
verfolgen, wo sich eine "Viktimodogmatik" zu Wort meldet. Hierzu Jung, Das
Vierte Internationale Symposium für Viktimologie, MSchrKrim 1984, S. 125 -
134, 132 f. sowie Arzt, Viktimologie und Strafrecht, MschrKrim 1984, 105 - 124,
107 ff.

72 Festschrift für H.-H. Jescheck


1138 Klaus Sessar

Die alles beherrschende Frage war eine Zeitlang: Brauchen wir neben
der Kriminologie eine Viktimologie? Mendelsohn, der die Wortschöp-
fung für diesen neuen Wissenschaftszweig für sich in Anspruch nimmt3 ,
verneinte dies, falls nur Verbrechensopfer hierunter fallen würden, wes-
halb eine sogenannte Allgemeine Viktimologie für alle Arten von Opfern
(einschließlich solcher von Hungersnöten, Erdbeben, usw.) zuständig
werden sollte. Dies wurde von vielen, vielleicht den meisten Wissen-
schaftlern abgelehnt'. Für sie ist weitaus wesentlicher, welchen Beitrag
die Viktimologie zur Kriminologie im Hinblick auf die Analyse sozial
auffälligen Verhaltens und der daraus zu ziehenden Konsequenzen lei-
stet. Betrifft dies den ätiologischen Aspekt, so gilt die gleiche Frage dem
kontrollparadigmatischen Aspekt, den es in der Viktimologie ebenfalls
gibt 5 : das Opfer als informelle Instanz der Verbrechenskontrolle.
Dies leitet über zu einem anderen, eher strafrechtspolitisch getönten
Thema, das die Rechte des Opfers im Strafverfahren betrifft - oder bes-
ser ihr Fehlen. Man begreift allmählich, daß das strafrechtliche Kon-
zept durch die Ausklammerung des Opfers gewisse Defizite aufweist;
ob freilich bereits begriffen wird, daß hierin ein Strukturfehler liegt,
muß einstweilen bezweifelt werden. Immerhin häufen sich die Initia-
tiven: von staatlicher Opferentschädigung über neue Beweisregeln und
Beweisermittlungsanleitungen zum Zwecke der Schonung des oder der
Verletzten, über strafrechtliche Schadenswiedergutmachung durch den
Täter bis hin zur Forderung nach einem Opferanwalt, ja, im internatio-
nalen Kontext bis hin zu Bemühungen, die Vereinten Nationen zu einer
Erklärung, betreffend den Schutz von und die Hilfe für Verbrechens-
opfer, zu bewegen. Hier noch von viktimologischen Initiativen zu spre-
-cllen; gelingt vielleicht nur mit deIll Pragmatismus, den der amerikani-
sche Kriminologe Cressey in Münster anläßlich des 3. Internationalen
Symposiums für Viktimologie (1979) in Anspruch nahm:
.,- Jedem steht frei, Verbrechensopfer zu unterstützen und das dann Vikti-
mologie zu nennen.
- Jedem steht frei, sich für Entschädigungen von Verbrechensopfem einzu-
setzen und das Viktimologie zu nennen.

- Jedem steht frei, eine Kommission zur Wahrnehmung der Menschenrechte


zu gründen, die der Diskriminierung, Ausbeutung, Ungerechtigkeit, Um-

3 Vgl. Weis, Viktimologie: Wissenschaft oder Perspektive?, in: Kirchhoffl


Sessar (Hrsg.), Das Verbrechensopfer. Ein Reader zur Viktimologie, 1979, S. 15
-37,17f.
, Vgl. Jung, Viktimologie, in: Kaiser u. a. (Hrsg.), Kleines Kriminologisches
Wörterbuch, 2. Aufl. 1984, S. 518 - 525, 518.
5 Szabo, Viktimologie und Kriminologie: Tendenzen und Anwendungsbe-
reiche, in: H. J. Schneider (Hrsg.), Das Verbrechensopfer in der Strafrechts-
pflege, 1982, S. 67 - 79, 69 f.
über das Opfer. Eine viktimologische Zwischenbilanz 1139
weltverschmutzung, menschlichem Leid, ja sogar dem Völkermord ent-
gegenwirken sol1- und auch das Viktimologie zu nennen8 ."
Schließlich sind noch die - meist privaten - Opferhilfen zu nennen,
die quasi die Quintessenz der Viktimologie darstellen, in Antwort auf
besagte Vernachlässigung von Verbrechensopfern durch den Staat. Zu
erwähnen sind auf nationaler Ebene der "Weiße Ring", der freilich mit
der Unterstützung von Opfern die Ausgrenzung des Täters verbindet
und damit den Zusammenhang, von dem die Rede war, aufkündigt, und
die "Opferhilfe - Hilfe für Opfer von Straftaten", die mit dem Ge-
danken des Täter-Opfer-Ausgleichs eben diesen Zusammenhang erhal-
ten wissen will. Im lokalen Bereich existieren Kinderschutzzentren,
Frauenhäuser und Zentren für vergewaltigte Frauen. Hier wird Differen-
zierung nötig. Denn wer Frauenhäuser viktimologische Institutionen
nennt, tut sich schwer, weil sie natürlich ohne diesen Wissenschaftszweig
nötig wurden und entstanden sind, doch er hat recht, weil die dort un-
tergekommenen Frauen und Kinder über ihr individuelles Schicksal
hinaus als Opfer viktimogener gesellschaftlicher Strukturen (im Sinne
"struktureller Gewalt") identifiziert wurden. Auf diesen Opferbereich
soll im folgenden nicht weiter eingegangen werden.

11. Kriminologie und Viktimologie

Es muß mit der die Kriminologie einschnürenden Abhängigkeit vom


Strafrecht zu tun gehabt haben, wenn sie in ihren Theorieansätzen und
Forschungen nur den Täter im Visier hatte. So wurden die normativen
Vorgaben sowohl im Bereich des Verhaltens wie seiner Bewertung und
Behandlung übernommen; selbst die Diskussion um einen selbständigen
kriminologischen Verbrechensbegriff wurde hiervon geprägt, wie jeder-
mann weiß. Die Folge war eine, wie sich allmählich herausstellte, bruch-
stückhafte Realitätsverarbeitung. So trat die Kriminologie auf der Stelle,
befaßt mit den immer gleichen, lediglich verfeinerten täterorientierten
Diagnose-, Prognose und Therapiekonzepten, oder mit Täterbefragun-
gen zur valideren Erfassung der Kriminalitätswirklichkeit. Interessan-
terweise änderte sich an dieser Perspektive nicht viel, als die Kriminolo-
gie sich die strafrechtliche Verbrech.enskontrolle vornahm und - eine
Zeitlang jedenfalls - Kriminalität als Produkt nicht nur der Norm (dies
war spätestens seit Fern kein Problem mehr), sondern auch der Norm-
anwendung definierte; denn, so hieß es gleich weiter, die Verbrechens-
kontrolle richte sich gegen die Unterschicht, mithin gegen bestimmte
Bevölkerungsgruppen, die von Polizei und Justiz bevorzugt zu Tätern
"gemacht" würden.

8 Cressey, Demokratie und das "Dritte Internationale Symposium für Vik-


timologie", in: Schneider (Anm. 5), S. 437 - 439,437.

72·
1140 Klaus Sessar

Dieser interaktionistische Ansatz, der unter dem Begriff des labeling


approach bekannt wurde, war für die Entwicklung der Kriminologie zu
einer selbständigen Disziplin trotz gelegentlicher, auch unter wissen-
schaftstheoretischen Aspekten ärgerlicher überspitzungen unerläßlich,
sozusagen ihr "Freischwimmer-Zeugnis". Nur: mit der Fixierung auf
die interaktionistischen Prozesse zwischen den Instanzen sozialer Kon-
trolle und dem "Täter" blieben interaktionistische Prozesse einer an-
deren Art, denen zwischen (späterem) Täter und (späterem) Opfer aus-
geklammert.
1. Atiologische Aspekte
Ohne daß dies chronologisch streng gemeint ist, kamen dann vikti-
mologische Gesichtspunkte ätiologischer Art ins SpieL Alles begann mit
der Feststellung von Hentigs, das Opfer bilde und forme den Täter7 -
"seinen Täter", wie Schafer später sagte8 - , womit es erstmals in der
Analyse der Tat- und Tätergenese, wenn freilich noch sehr naiv und
spekulativ, Berücksichtigung fand. Seither wird die Frage gestellt, in-
wieweit das Opfer über die bis dahin bekannte Form der Provokation
hinaus die Tat auslöst oder zur Tat beiträgt; entsprechend gibt es über-
legungen zu einer den sozialen Lebensstil wie die individuelle Persön-
lichkeit betreffenden Opfereignung oder Opferneigung (einschließlich
der Frage nach dem "geborenen Opfer")9. Reckless entwickelte beispiels-
weise zur Erklärung ein Reiz-Reaktions-Modell, wonach das Opfer Sig-
nale aussende, die der Täter dechiffriere10 , und Holyst versuchte sich an
einem ähnlichen Rückkoppelungsmodell mit gegenläufigen Reiz-Reak-
tions-Abfolgenl l •
Die empirischen Bemühungen sind zahlreich, ihr Ertrag reicht noch nicht
sehr weit. Eine Opferforschung als Korrelat zur Täterforschung bedeutet die
Suche nach viktimogenen Faktoren vor allem psychischer und sozialer Art,
Charakteristika also, die jemanden attraktiv genug machen, das Ziel einer
Straftat zu werden12 • Ähnlich der Kriminologie, deren Entstehungsbedingun-
gen bei näherem Hinsehen stets den Mehrfachtäter meinen, interessiert sich
die Viktimologie für Mehrlachopler, doch hier beginnen die methodischen
Schwierigkeiten. Die in Großbritannien, Skandinavien und den USA durchge-
führten Opferbefragungen ergaben durchweg nur geringe Anteile von Per-

7 von Hentig, The Criminal and His Victim. Studies in the Sociobiology of
Crime, 1948 (Nachdruck 1979), S. 384.
8 Schaler, The Victim and His Criminal. Study in Functional Responsibility,
1968.
• Kritisch hierzu Nagel, Strukturelle Viktimisation, in: KirchhofjlSessar
(Anm. 3), S. 61 - 84, 66.
10 Reckless, The Crime Problem, 5. Auf!. 1973, S. 91 ff.
11 Holyst, Nutzbarkeit der Rückkoppelung in der viktimologischen For-
schung, in: Schneider (Anm. 5), S. 80 - 89.
12 van Dijk!Steinmetz, The RDC Victim Surveys 1974 - 1979. Research and
Documentation Centre XXXV. Ministry of Justice, 1980, S. 32.
über das Opfer. Eine viktimologische Zwischenbilanz 1141

sonen, die, sagen wir, mehr als dreimal viktimisiert worden waren, und mit
solchen kleinen Gruppen wachsen etwaige methodische Verzerrungen der Be-
fragung überproportional an. Die primäre Schwierigkeit liegt außerdem darin,
daß sie in dieser geringen Menge einer zu erwartenden Zufallsverteilung ent-
sprechen könnten, was aber offenbar nicht der Fall ist18 ; die Differenzen zwi-
schen statistisch erwarteter und beobachteter Verteilung sind vielfach so groß,
daß die Annahme besonders gefährdeter Personen (und Sachen, Zeiten, Plätze,
usw.) als gesichert angesehen wird14 •
Eine Systematisierung viktimogener Faktoren in der Person des Opfers
(und nun nicht mehr allein auf Mehrfachopfer bezogen) wurde von Sparks
versucht: Opferprovokation im Sinne emotionaler Reaktionsauslösung beim
späteren Täter; Schaffung spezifischer Risiken ("Gelegenheit macht Diebe");
Verwundbarkeit, bedingt durch persönliche Attribute wie Alter, Geschlecht,
Behinderungen; Attraktivität, z. B. ökonomischer oder sexueller Art; Schutz-
losigkeit im Sinne des Fehlens ausreichender sozialer Kontrolle (z. B. bei
Homosexuellen oder Prostituierten als Opfer)15. Solche Klassifizierungen eines
unterschiedlichen Opferrisikos bedeuten gegenüber denen, die sich etwa bei
von Hentig finden, einen systematischen Gewinn, bleiben jedoch deskriptiv. Es
gibt aber mittlerweile theoretische Konzepte, deren bekanntestes das Le-
bensstil-Konzept von Hindelang, Gottjredson und Garofalo geworden ist18 •
Die Chance, das Opfer einer Straftat zu werden, hängt danach mit dem Le-
bensstil zusammen, verstanden als ein System aus Rollenerwartungen und
strukturellen Zwängen, in dem die täglichen Aktivitäten (Beruf, Haushalts-
führung, Freizeit, usw.) ablaufen und das von Merkmalen wie Alter, Ge-
schlecht, Eigentum, Familienstand oder Erziehung abhängt. Der Lebensstil
gibt wieder, inwieweit man Opferrisiken ausgesetzt ist, weil von ihm abhängt,
mit welcher Wahrscheinlichkeit man sich unter bestimmten Umständen zu
einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort aufhält, um dort mit be-
stimmten Personen Kontakt aufzunehmen17• Die Autoren verstehen dieses
Konzept vorsichtig als einen ersten Schritt, und tatsächlich ist es seltsam
banal, vor allem im Hinblick auf die mit solcher Theorie verbundene Absicht
der Prävention. Wenn die Wahrscheinlichkeit, bestohlen zu werden, mit den
Zeitanteilen steigt, die eine Person mit Personen außerhalb ihrer Familie ver-
bringt18, dann wird sie den Zeitanteil künftig kaum reduzieren wollen oder
können, nur um einer etwaigen Straftat aus dem Weg zu gehen. Von extremen
Situationen abgesehen bedeutet die Theorie in ihrer äußersten Konsequenz
eine Kapitulation vor der Kriminalität, da sie die Veränderung des Lebens-

13 Sparks/Genn/Dodd, Surveying Victims. A study of the measurement of


criminal victimization, perceptions of crime, and attitudes to criminal justice,
1977, S. 88 ff.
14 Gottfredson, On the Etiology of Criminal Victimization, The Journal of
Criminal Law & Criminology 1981, S. 714 - 726, 718 f. Zu den methodischen Ein-
wänden Sparks, Multiple Victimization: Evidence, Theory and Future Re-
search, The Journal of Criminal Law & Criminology 1981, S. 762 - 778, 764 ff.
lS Sparks (Anm. 14), S. 772 ff. Ähnlich aufgrund niederländischer Opferbe-
fragungen van Dijk/Steinmetz (Anm. 12), S. 32 ff.
18 Hindelang/Gottfredson/Garofalo, Victims of Personal Crime: An Em-
pirical Foundation for a Theory of Personal Victimization, 1978.
17 VgI. Hindelang, Opferbefragungen in Theorie und Forschung. Eine Ein-
führung in das "National Crime Survey Program", in: Schneider (Anm.5),
S. 115 - 131, 124.
18 Hindelang (Anm. 17), S. 128.
1142 Klaus Sessar

stils aus präventiven Gründen impliziert; die Entvölkerung der amerikani-


schen Innenstädte paßt hierher - nur daß dort Opferrisiken nicht abgebaut,
sondern verlagert wurden.
Neben solchen soziologischen Ansätzen wurde versucht, individuelle Merk-
male erhöhten Risikos herauszuarbeiten. Die Ergebnisse zu Variablen wie Ge-
schlecht, Alter und Schichtzugehörigkeit waren in früheren Untersuchungen
widersprüchlich, sind mittlerweile aber doch in der Weise interpretierbar, daß
Männer häufiger als Frauen Opfer von Straftaten werden, Jüngere häufiger
als Ältere, Ledige und Geschiedene häufiger als Verheiratete, während die
Zugehörigkeit zu unterschiedlichen sozialen Schichten keine schlüssigen Zu-
sammenhänge mit Opferrisiken aufweisen. Die Bedeutung dieser Resultate
ist zweifelhaft, weil diese Merkmale häufig für andere Merkmale stehen,
z. B. für einen bestimmten Lebensstil (s.o.), und deshalb im Sinne von Prä-
vention nicht oder nur wenig beeinflußbar sind. Deshalb ist ein nächster
Schritt die Analyse solcher Merkmale unter Einbezug von Persönlichkeits-
strukturen, wie sie durch Persönlichkeitsinventare erhoben werden können.
Das Ziel ist die Gewinnung von Merkmalskonstellationen. Stephan hat dies
versucht; unter Berücksichtigung der geringen Datenbasis wurden bei Eigen-
tumsdelikten als besonders opferanfällig solche Personen ermittelt, die im
Sinne des Freiburger Persönlichkeitsinventars (FPI) emotional labil, aggressiv,
jünger als 30 Jahre und selbstbewußt sind; typische Opfer von Gewalttaten
sollen Personen unter 50 Jahren sein, die aus den oberen sozialen Schichten
stammen und aggressiv sind18•
Andere Untersuchungen betreffen Zusammenhänge zwischen Körperhaltung
und Opferanfälligkeit. Nach Grayson und Stein sollen bestimmte Arten der
menschlichen Fortbewegung (z. B. Paßgang, Anheben statt Abrollen des Fußes)
signalisieren, daß die betreffende Person mit sich selbst nicht im Reinen ist,
wodurch das Risiko für überfälle erhöht werde; jedenfalls wurden solche
Personen unter einer Vielzahl· gefilmter Straßenpassanten von "Experten"
(wegen Raubüberfalls verurteilten Strafgefangenen) als leichte Opfer einge-
stuft20 • In einer eigenen Pilotstudie (Opferbefragung unter Studentinnen und
Studenten der Universität Hamburg im Jahre 1982; N = 230) wurde dem
Zusammenhang zwischen einer allgemeinen Tendenz, alltägliche Beeinträch-
tigungen und Zurücksetzungen "zu erleiden", und tatsächlicher strafrechtli-
cher Viktimisierung, und zwar mit aggressivem Einschlag, nachgegangen;
ebenfalls wurde das FPI (mit der Skala 2 "spontane Aggressivität", Halb-
form A) verwendet!1. Die überlegung war, daß, sollte es Menschen mit unter-
schiedlicher Opferanfälligkeit geben, sich diese in einem starken Zusammen-
hang zwischen allgemeinen und strafrechtlich relevanten Viktimisierungen
ausdrücken müßte, da deren Unterscheidung keine empirische, sondern eine
normative ist. Zu diesem Zweck wurden 11 Alltagsviktimisierungen abgefragt
(z. B.: beim Bezahlen oder Abwiegen übervorteilt werden, bloßgestellt werden,
Dinge aufgeschwatzt bekommen, usw.), die jeweils 3 Ausprägungen bekamen
(nie; höchstens ein- bis zweimal; eigentlich häufiger); die 14 strafrechtlichen

18 Stephan, Opfertypologien und der Vorschlag einer sozialpsychologisch


fundierten Alternative: Zu einer Taxonomie viktimogener Situationen, in:
KirchhotJ/Sessar (Anm. 3), S. 219 - 241,232.
20 Wie man geht, so fällt man, in: Psychologie heute, November 1980, S. 7 f.;
vgl. auch den dreiteiligen Fernsehbeitrag auf NDR 3 (November 1983) von Uta
Krüger und Mechthild Lange: "Opfer - ein Zufall?".
!1 Fahrenberg/Selg/Hampel, Das Freiburger Persönlichkeitsinventar FPI,
3. Aufl. 1978.
über das Opfer. Eine viktimologische Zwischenbilanz 1143

Opferwerdungen reichten von Bedrohung bis zur Vergewaltigung. Erste Ana-


lysen ergeben einen substantiellen Zusammenhang zwischen beiden Variablen
(r = .39), ebenso zeigen Probanden mit stärkerer strafrechtlicher Viktimisie-
rung höhere Aggressionswerte als Personen mit geringerer strafrechtlicher
Viktimisierung (r = .33)22.
Eine hierauf aufbauende Hauptstudie hätte Anhaltspunkte für die Ver-
mutung, daß strafrechtliche Opferrisiken mit der Wahrscheinlichkeit zu tun
haben, auch sonst sozialen Benachteiligungen ausgesetzt zu sein, und daß dies
möglicherweise mit psychischen Dispositionen, in diesem Fall mit Aggressivi-
tät, zusammenhängtU.
Solche Studien sind Hinweise, daß man auf dem Weg zu neuen Ufern
ist; ihre Aussagekraft ist einstweilen begrenzt. Dies gilt auch für die Er-
forschung der Beziehung zwischen Opfer und Täter, die erst eigentlich
den viktimologischen Zugewinn darstellt; denn jeder im oder beim
Opfer aufgefundene Risikofaktor gibt den Aufmerksamkeitsgrad wie-
der, den er bei einem potentiellen Täter erregt, wodurch eine Beziehung
zu ihm aufgebaut wird oder eine bestimmte Färbung erhält (wie auch,
und dies sollte der Erkenntnisgewinn sein, die traditionellen Täterfak-
toren oft nicht nur eines Opfers, sondern eines bestimmten Opfers be-
dürfen, um virulent zu werden).
Auch hier herrschen deskriptive Untersuchungen vor. Sie betreffen bei-
spielsweise den Nachweis unterschiedlich dichter sozialer Beziehungen zwi-
schen Täter und Opfer, in Abhängigkeit vom Deliktstyp. So sind insbesondere
Gewaltdelikte (vom Raub abgesehen), aber auch Delikte mit Vertrauenshin-
tergrund (Betrug, Untreue, Unterschlagung, manche Wirtschafts delikte) soge-
nannte Beziehungsdelikte; bei Tötungsdelikten etwa geht die größte Gefahr
von Familienmitgliedern, die geringste Gefahr von Fremden ausu . Ergänzt
wird dieses Bild durch die Ähnlichkeit der demographischen Merkmale beider
Konfiiktpartner und den Intragruppencharakter von Gewalthandlungen, die
typischerweise innerhalb der jeweiligen sozialen Schichten, Nationalitäten,
Rassen, Geschlechter und selbst Altersgruppen auftreten25 (Ausnahmen sind

!2 Die Daten werden derzeit ausgewertet, eine Publikation ist für 1985 ge-
plant.
23 Hierfür gibt es auch sonst Anhaltspunkte. Schonborn untersuchte in den
USA das Konfiiktverhalten von Polizisten und Teilnehmern von UN-Friedens-
corps. Er unterschied sie in idealtypischer Weise nach ihren "humanen" und
"autoritären" Einstellungen (human bedeutete hiernach erziehungs freundlich
und strafenfeindlich, innovativ und experimentierfreudig, Priorität verbaler
gegenüber gewaltmäßiger Konfiiktregelung; autoritär hieß danach Anti-Intel-
lektualität, Mißtrauen gegenüber sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen, ge-
ringe Innovation mit Ausnahme bei Waffen und Ausrüstungen, Vertrauen
auf Gewalt bei Konfiiktregelungen). In Korrelation mit tatsächlichen Kon-
fiiktregelungen zeigte sich in der Tendenz, daß "humane" Beamte effektiver
in dem Sinne vorgingen, als sie weniger Schäden anrichteten und selbst weni-
ger geschädigt wurden als "autoritäre" Beamte; Schonborn, Dealing with
Violence, 1975, S. 163 ff.
U Sessar, über die verschiedenen Aussichten, Opfer einer gewaltsamen
Tötung zu werden, in: Kirchhot1!Sessar (Anm. 3), S. 301 - 320,307.
!S Sessar, Rechtliche und soziale Prozesse einer Definition der Tötungs-
kriminalität. Kriminologische Forschungsberichte aus dem Max-Planck-In-
1144 Klaus Sessar

natürlich die Vergewaltigung und eheliche Gewaltdelikte in bezug auf das


Geschlecht).
Ist dies das Gebiet der objektiven sozialen Beziehungen, so meinen die
subjektiven Beziehungen darüber hinaus Orientierungen des einen Partners
an den Erwartungen und Einstellungen des anderen Partners 28 • Dies wird als
theoretisch weiterreichend angesehen als bloße Graduierungen sozialer Nähe,
da mit der Stärke der Übereinstimmung in solchen Wahrnehmungen und
Projektionen die Austauschbarkeit bei der Seiten wächst: Täter und Opfer wer-
den zu bloß normativen Rollenzuschreibungen, die Tatgenese ist in der Be-
ziehung selbst zu suchen27 • Allerdings gibt es auch - auf den ersten Blick
- entgegengesetzte Beobachtungen, denen zufolge die Straftat nur möglich
wird, wenn keinerlei Beziehung im obigen Sinne existiert. Es handelt sich
um Vergewaltigungen durch Überfall, deren Gelingen die Entpersönlichung
und Objektivierung der Frau voraussetzt28 • Bei näherem Hinsehen handelt
es sich um die beiden Seiten der gleichen Münze, denn auch hier ist es die
Beziehung, die über die Tatbegehung entscheidet.

2. Aspekte der Verbrechenskontrolle


Das Opfer als Faktor der Verbrechenskontrolle, bis dahin eher in der
Kriminalistik für die Ermittlungsarbeit gesehen, ist eine der großen
"Entdeckungen" der letzten Jahre. Sie wurde durch die Entwicklung
von Op/erbe/Tagungen ermöglicht, deren methodisch ausgefeilteste und
umfassendste die amerikanischen "National Crime Surveys" sind: seit
1972 werden monatlich ca. 20 000 Personen und Unternehmen befragt2U
(derartige Längsschnittuntersuchungen werden ebenso in Holland durch-
geführt, in Großbritannien und Jugoslawien laufen sie an; in Deutsch-
land gibt es lediglich Querschnittuntersuchungen, auf die hier zurück-
gegriffen wird).
··Die wohl wichtigste Erkenntnis war die, daß, von wenigen meist opfer-
losen Delikten abgesehen, die Registrierung einer Straftat nicht oder
kaum von polizeilichen Initiativen abhängt, sondern überwiegend von
Informanten, unter denen das Opfer an erster Stelle steht. Die Bedeu-
tung liegt darin, daß nicht jedes Opfer, sondern durchschnittlich - in

stitut für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg i. Br., Band 3,


1981, S.61; HindelanglGott/TedsonlGarojalo (Anm.16), S. 257 ff.
28 H. J. Schneider, Viktimologie. Wissenschaft vom Verbrechensopfer, 1975,
S. 99 ff.
27 Vgl. hierzu die Studie von Weber, Zur Psychodiagnostik der Täter-
Opfer-Beziehung, 1980, S. 116 ff.
28 Ben-David, Die Interaktion zwischen Täter und Opfer während der Ver-
gewaltigung, in: Schneider (Anm. 5), S. 242 - 252.
28 Ziel der Befragungen ist die Erweiterung der Informationen über Aus-
maß, Struktur und Bewegung der Kriminalität in Ergänzung der offiziellen
Polizeistatistiken (Uniform Crime Reports); darüber hinaus werden Einstel-
lungen zur Kriminalität (insbesondere zur Kriminalitätsfurcht), zur Polizei
und Justiz, usw. erfaßt. Vgl. Dussich, Lokale und nationale Opferbefragungen
in den Vereinigten Staaten, in: KirchhoJJISessar (Anm.3), S. 95 - 110; Hinde-
lang (Anm. 17).
über das Opfer. Eine viktimologische Zwischenbilanz 1145

Abhängigkeit vom Deliktstyp - nur etwa jedes zweite Opfer die Straf-
tat meldet, und daß die Kriterien für Anzeige bzw. Nichtanzeige eine ge-
wisse kriminalpolitische Eigenwilligkeit aufweisen. An erster Stelle
steht in deutschen Untersuchungen bei Eigentumsdelikten die Höhe des
verursachten Schadens (in amerikanischen Untersuchungen die Ineffek-
tivität der Polizei). In der Göttinger Opferbefragung von Schwind und
Mitarbeitern gingen bei einem Schaden bis 25 DM 2 % der Opfer zur
Polizei, bei einem Schaden darüber 33 %; Stephan ermittelte in der
Stuttgarter Opferbefragung einen durchschnittlichen Schaden von 63
DM bei nichtangezeigten und 285 DM bei angezeigten Straftaten30 • Bei
Gewaltdelikten ist die Täter-Opfer-Beziehung wohl eines der ausschlag-
gebenden Motive für die Entscheidung, die erlittene Tat zu melden. Je
näher sich Opfer und Täter sind, desto unwahrscheinlicher wird die An-
zeige; erfolgt sie dennoch, dann häufig aus Gründen der Kriseninterven-
tion, weniger der Strafverfolgungl1 •
Besonders bei Gewalttaten besitzen die Gründe für eine Nichtanzeige
eine gewisse Evidenz, soweit es um die weitere Aufrechterhaltung der
Beziehung geht; nur in kleinen Anteilen kommt daneben die Furcht vor
dem Täter vor. Wesentlich wird daher die Annahme, daß zur Dynamik
der Beziehung, die zur Tat führte, die anschließende Aufarbeitung des
Ereignisses gehört, so daß die interne Konfliktbereinigung Vorrang hat.
Damit erweitert sich aber die Bedeutung des Opfers im Rahmen der
Verbrechenskontrolle. Denn die Anzeigebereitschaft ist auch Ausdruck
von Einstellungen gegenüber Kriminalität und Kriminellen. Der Ge-
danke, mit Opfern eine besonders rigide und punitive soziale Grup-
pierung vor sich zu haben, war naheliegend, erwies sich aber als trüge-
risch. Es gehört im Gegenteil zu den empirischen Erfahrungen, daß sie
im allgemeinen keine größere Furcht vor Verbrechen haben, keine ne-
gativeren Einstellungen gegenüber Straftätern entwickeln und Delikte
nicht durchweg schwerer einschätzen, wenn man sie mit Nichtopfern
vergleicht, ja, es gibt eine Reihe von Beobachtungen, wonach sie größere
Gelassenheit, selbst Toleranz an den Tag legen12 • Selbst die Wahrneh-
30 Schwind u. a., Dunkelfeldforschung in Göttingen 1973/74. Eine Opferbe-
fragung zur Aufhellung des Dunkelfeldes und zur Erforschung der Bestim-
mungsgründe für die Unterlassung von Strafanzeigen. BKA-Forschungsreihe,
Band 2, 1975, S. 208; Stephan, Die Stuttgarter Opferbefragung. Eine kriminolo-
gisch-viktimologische Analyse zur Erforschung des Dunkelfeldes unter beson-
derer Berücksichtigung der Einstellung der Bevölkerung zur Kriminalität,
BKA-Forschungsreihe, Band 3,1976, S. 197.
31 Block, Why Notify the Police: The Victim's Decision to Notify the Police
of an Assault, in: Criminology 1973, S. 555 - 569, 561; Hindelang, Criminal
Victimization in Eight American Cities. A Descriptive Analysis of Common
Theft and Assault, 1976, S. 392 f.; Sessar (Anm.25), S. 92 ff.; Sparks!Genn!
Dodd (Anm. 13), S. 120 f.
32 Villmow, Die Einstellung des Opfers zu Tat und Täter, in: KirchhofJ!
Sessar (Anm.3), S. 199 - 218; Kerner, Kriminalitätseinschätzung und innere
1146 Klaus Sessar

mung des "eigenen" Täters ist differenziert. Zwar ist es richtig, daß oft-
mals Rachegefühle und Bestrafungsbedürfnisse zu beobachten sind, doch
möglicherweise mehr in Abhängigkeit von unterlassenen Wiedergut-
machungsleistungen als infolge eines Gleichklangs mit dem staatlichen
Strafanspruch. Zusammen mit der sehr verhaltenen und selektiven Nei-
gung, die Polizei bei einer erlittenen Straftat einzuschalten, kann daher
von einer eigenständigen, nämlich privaten Form der Konfliktverarbei-
tung gesprochen werden, die dem Strafrecht seine Legitimation abstrei-
tet; bekanntlich besteht sie u. a. darin, daß es ohne das Strafrecht zu
sozial unerwünschter Privatjustiz käme. Entsprechend bedeutet dies
alles für die Kriminologie, soweit sie dem Kontrollansatz folgt, eine
Akzentverschiebung von den formellen Instanzen weg und hin zu den
informellen Instanzen, mit dem Opfer als "Torhüter" des Strafverfol-
gungssystems·, und damit zu einer zunehmenden Beschäftigung mit
privaten Konfliktregelungsmustern als Alternativen zu denen des Straf-
rechts. Dies wird noch einmal aufgegriffen werden müssen.

3. Resümee

Es mag deutlich geworden sein, daß eine auf sich gestellte Viktimolo-
gie keinen ausreichenden wissenschaftlichen Fundus hat. Es fehlen ihr
die Voraussetzungen, da weder eine eigenständige Methode noch ein
allgemein anerkanntes Objekt des Forschungsinteresses in Sicht istu .
Konfliktreich ist bereits die Definition des OpferbegrijJs. Unproblema-
tisch ist er nur dort, wo Straftaten immer ein Opfer haben sollen, weil
dazu auch die Gesellschaft, der Staat oder die Rechtspflege gerechnet
werdenS5 ; er ist dann allerdings auch nichtssagend und wegen der darin
liegenden übereinstimmung mit dem strafrechtlichen Verbrechensbe-
griff wissenschaftlich nicht weiterführendS!. Tatsächlich ist er genauso
wenig normativ vorgegeben wie der Verbrechensbegriff der Kriminolo-
gieS1, weil es das Ziel sein muß, mit Hilfe eines vom Strafrecht losge-
lösten Verbrechens- und Opferbegriffs an der Formulierung des straf-

Sicherheit. Eine Untersuchung über die Beurteilung der Sicherheitslage und


über das Sicherheitsgefühl in der Bundesrepublik Deutschland, mit verglei-
chenden Betrachtungen zur Situation im Ausland. BKA-Forschungsreihe,
Band 11, 1980, S. 203 fl., 307 fl.
S3 HindelanglGotttredson, The Victim's Decision Not to Invoke the Criminal
Justice Process, in: McDonald (Hrsg.), Criminal Justice and the Victim, 1976,
S. 57 - 78, 58.
34 Robert, La victimologie, victime des postulats criminologiques et socio-
logiques, in: SchwZStr. 1979, S. 225 - 242, 225.
35 Schneider(Anm. 26), S. 11.
38 Hierzu auch Jung (Anm. 4), S. 520.

31 Hierzu Zipf, Die Bedeutung der Viktimologie für die Strafrechtspflege,


MSchrKrim 1970, S. 1 - 13, 3; Kaiser, Kriminologie. Ein Lehrbuch, 1980, S. 120 f.
über das Opfer. Eine viktimologische Zwischenbilanz 1147

rechtlichen Verbrechens- und Opferbegriffs beteiligt zu werden. Frei-


lich fangen damit die Probleme erst an. So ist z. B. unklar, inwieweit
sich die Viktimologie auf Wirtschaftsdelikte wegen sich "verflüchtigen-
der Opfereigenschaft"38 oder auf das ungeborene Kind erstrecken soll,
gilt doch die Abtreibung als "crime without victim"39. Hier bedarf es
also noch weiterer Konturierung, die davon abhängen wird, inwieweit
jenseits des Bedürfnisses nach geschlossenen kategorialen Systemen
spezifische Opferlagen zur Beschäftigung damit nötigen.
Die Rechtfertigung der Viktimologie liegt also in ihrem Korrelat zur
Kriminologie; Scheerer verwendet dazu das Bild siamesischer Zwil-
linge40 • Die schlichte Vernachlässigung der Opferseite bei der Entste-
hung von Straftaten macht es verständlich, daß es opferzentrierte For-
schungen gibt, wie es auf der anderen Seite täterzentrierte Forschungen
gibt. Dabei ergibt die Feinanalyse Differenzen in der Richtung des Er-
kenntnisinteresses. Gemeint ist zwar auf beiden Seiten die Reduzierung
von Kriminalität im Wege der Prävention. Während nun die Krimi-
nologie vor oder nach einer Straftat Bedingungen schaffen möchte, die in
der Person des Täters oder potentieller Täter die Begehung von Straf-
taten erschweren (je weniger Täter, desto weniger Opfer), setzt die Vik-
timologie an personalen und sozialen Opferrisiken an, um diese zu ver-
ringern (je weniger Opfer, desto weniger Täter)41.
Die aufgezeigte Bedeutung der Täter-Opfer-Beziehung für die Krimi-
nalitätsentstehung zeigt dann schon, daß der nächste Schritt beide Seiten
integrieren wird, wodurch die Tat oder genauer die kriminelle Situation
in den Blickpunkt der Forschung gerät, nach Stephan mit detaillierten
Handlungs-, Interaktions- bzw. Situationsanalysen42 • So muß als unent-
schieden gelten, ob etwa Forschungen zum Zusammenhang zwischen
Wohnhaus- oder Stadtarchitektur und Kriminalität eher kriminologisch
oder eher viktimologisch sind, weil der Raum, die Situation also, po-
tentielle Täter und Opfer bindet43 • Möglicherweise hat dies dann damit
zu tun, daß sich eine "Environmental Criminology"zu Wort meldet, an-

38 Kaiser, Viktimologie an der Schwelle der 80er Jahre - Ein kritisches


Resümee -, in: Kirchhoff/Sessar (Anm. 3), S. 481 - 493, 4813.
38 Schur, Crimes Without Victims. Deviant Behavior and Public Policy,
1965, S. 11 ff.
40 Scheerer, Victimless Crime and Victimology. Notes on the victim in crim-
inal policy. Referat auf dem 4. Internationalen Symposium für Viktimologie
in Tokio und Kyoto, 1982 (unveröffentlichtes Manuskript).
41 Hierzu treffend Kube, Polizeiübergreifendes Präventionsprogramm für
Wohngebiete, in: KUbe/ApTill (Hrsg.), Planung der Verbrechensbekämpfung,
1980, S. 61- 87, 61 f., freilich bezogen auf polizeiliche Präventionsvorstel-
lungen.
41 Stephan (Anm. 19), S. 236 f.
43 Kube (Anm. 41), S. 63 ff.
1148 Klaus Sessar

knüpfend an die Chicagoer Schule und andere kriminalgeographische


Bemühungen in der Vergangenheit44 •
Was das Opfer als Kontrollinstanz angeht, so sollten die entsprechen-
den Untersuchungen uns lehren, das Verbrechen nicht ernster zu neh-
men als das Opfer dies tut. Dies ist nicht nur ironisch gemeint - wie
noch begründet werden soll (unten S. 1155 f.).

III. Strafrecht und Viktimologie

Es ist die Annahme nicht vermessen, daß das derzeitige Bemühen


um "das Opfer in der Strafrechtspflege" auf viktimologische Initiativen
zurückgeht. Spätestens seit den Forderungen von Schaler, das Opfer
"wieder" an der durch die Straftat notwendig gewordenen Konflikt-
bewältigung durch Entschädigung und Wiedergutmachung zu beteiligen,
und seit den praktischen Vorstößen von Fry, Opfer von Straftaten durch
den Staat entschädigen zu lassen", steht dieses Thema auf dem Pro-
gramm sämtlicher bisher veranstalteter viktimologischer Tagungen und
Symposien, von wo aus es allmählich, und dann mit immer stärkerer
Zugkraft, Eingang in die rechtspolitische Diskussion gefunden hat. Die
hierbei angesprochenen Probleme betreffen flächendeckend nahezu alle
Bereiche des Strafprozesses und Teile der Gerichtsverfassung und des
Strafgesetzbuches. Bezogen auf die deutsche Situation können, keines-
wegs abschließend, genannt werden: die - im strafrechtlichen Ver-
ständnis - Schutzlosstellung der durch den Ehemann vergewaltigten
Frau; das durch den öffentlichen Strafanspruch fast stets relativierte)
SJ~afantragsrecht des V~:rletzten; das vom Gesetz kurzgehaltene und von
der Praxis zusätzlich ausgetrocknete Privatklageverfahren; die neuer-
dings gefährdete, im übrigen völlig ineffektive Nebenklage; das ebenso
ineffektive Klageerzwingungsverfahren; die Unangemessenheit der Be-
handlung von Opfern als Zeugen (insbesondere bei Vergewaltigung und
sexuellem Mißbrauch von Kindern); die Öffentlichkeit der Hauptver-
handlung insbesondere bei Sexualstraftaten; die Bedeutungslosigkeit
solcher Sanktionen, die Schadenswiedergutmachung vorsehen, sowie des
Adhäsionsverfahrens. J escheck hat zur Bedeutung einiger dieser Rechts-
institute die erforderlichen Erläuterungen gegeben und vor allem auf
ihre rechtshistorische Begründung aufmerksam gemachf48 •

44 P. J. Brantingham/P. L. Brantingham (Hrsg.), Environmental Crimino-


logy, 1981; vgI. auch SchwindlAhlbornlWeiß, Empirische Kriminalgeographie.
Kriminalitätsatlas Bochum, BKA-Forschungsreihe, Band 8, 1978, S. 5 ff.
45 Pioneers In Victimology, in: Victimology, An International Journa11976,
S. 193 - 228, 204 ff., 222 ff.
48 Jescheck, Die Entschädigung des Verletzten nach deutschem Strafrecht,
JZ 1958, S. 591 - 595. Grundlegend nunmehr Rieß, Die Rechtsstellung des Ver-
letzten im Strafverfahren. Gutachten C für den 55. Deutschen Juristentag, 1984;
über das Opfer. Eine viktimologische Zwischenbilanz 1149

Das Opfer wird also als Subjekt weder am Verfahren noch an der
Sanktionierung beteiligt; es ist bloßer Auslöser eines verselbständigten
staatlichen Strafverfolgungsanspruchs, danach sein Objekt zum Zweck
der Realisierung dieses Anspruchs. Im übrigen wird es im Stich gelassen,
da die Sanktion stets ohne Rücksicht auf seine Interessenlage, ja oft-
mals im Widerspruch zu seiner Interessenlage verhängt wird, wenn näm-
lich die Geldstrafe den Schadensersatz unmöglich macht oder der Straf-
vollzug dem Opfer seinen Schuldner buchstäblich wegnimmt.
Außerhalb des deutschen Rechtsraumes sieht es nicht anders aus,
die Behandlung des Opfers in der und durch die Strafrechtspflege ist
ein internationales soziales Problem. Die Beispiele für Versuche, dem
abzuhelfen, sind mittlerweile unübersehbar. Sie betreffen etwa die Kri-
minalisierung der ehelichen Vergewaltigung und der ehelichen Gewalt,
eine Änderung der Beweisregeln in Vergewaltigungsfällen zum Schutz
der Frau, eine Erweiterung der Meldepflicht bei Kindesmißhandlung,
die Einführung eines Pflichtanwalts für mißhandelte Kinder, die Ver-
wendung von Videoaufnahmen der Zeugenvernehmung zur Vermei-
dung traumatischer Begegnungen mit dem Täter im Gerichtssaal oder
den Ausschluß der Öffentlichkeit während der Zeugenaussage47 •
Aus Deutschland ist einstweilen nicht viel mehr zu berichten, als daß
der Unterausschuß der Justizministerkonferenz "Richtlinien für das
Strafverfahren und das Bußgeldverfahren" beschlossen hat, im Inter-
esse eines verstärkten Opferschutzes im Strafverfahren bestimmte Re-
gelungen aufzunehmen, um unnötige Belastungen des (wohl auch der)
Verletzten möglichst zu vermeiden. Immer unter dem Vorbehalt, daß der
Untersuchungszweck nicht gefährdet wird, soll gestattet werden können,
daß der oder die Verletzte bei der Vernehmung eine Person des Ver-
trauens hinzuzieht. Die Berücksichtigung der Persönlichkeitsrechte in
Abwägung des Interesses der Öffentlichkeit an einer vollständigen Be-
richterstattung wird auf die Verletzten ausgedehnt, ebenso soll die Öf-
fentlichkeit ausgeschlossen werden, wenn ihr Interesse am Schutz des
persönlichen Lebensbereichs überwiegt48 • Im übrigen liegt ein Gesetz-
entwurf der Opposition vor, wonach die eheliche Vergewaltigung unter
Strafe gestellt werden soll, auch soll dem Opfer bei Straftaten gegen die
sexuelle Selbstbestimmung auf seinen Antrag ein Rechtsanwalt als Bei-
stand bereits im Vorverfahren beigeordnet werden; dieser soll die Rechte

Th. Weigend, Viktimologische und kriminalpolitische überlegungen zur Stel-


lung des Verletzten im Strafverfahren, ZStW 96 (1984), S. 761 - 793.
47 Lamborn, The Impact of Victimology on the Criminal Law in the United
States. Referat auf dem 9. Internationalen Kongreß für Kriminologie in Wien
1983 (unveröffentlichtes Manuskript).
48 Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren, Nummern
4 b, 19 a, 23 Satz 3, 130 a Absatz 2, 131 a.
1150 Klaus Sessar

des Beistandes des Nebenklägers erhalten, wie überhaupt die Vorschrif-


ten über den gerichtlich bestellten Verteidiger sinngemäß gelten sollen49 •

1. Straf theoretische Aspekte


Man sieht solchen Anstrengungen mit gemischten Gefühlen zu, und
dies aus mehreren Gründen.
Der Kriminologe im Forscher, der "sonst" gerne der Entkriminalisie-
rung, also der Reduzierung der formellen Verbrechenskontrolle auf das
empirisch Unerläßliche, das Wort redet, sieht sich in Zugzwang, wenn
der Viktimologe in ihm aus Gründen des Opferschutzes die Kriminali-
sierung verlangt. Gleiches gilt für die defizitäre prozessuale Position,
deren Milderung wohl die Repression gegenüber dem Täter stärken
dürfte. Dies ist aber nur Ausdruck eines allgemeinen Konflikts, der der-
zeit ausgetragen wird und damit zu tun hat, daß die Opferperspektive
isoliert behandelt wird. Wissenschaftlich wurde hierzu einiges gesagt:
die Wiederentdeckung des Opfers führte zunächst zwangsläufig zu einem
sehr spezifischen Engagement. Im strafrechtspolitischen Raum hat dies
allerdings mißliche Konsequenzen, eignen sich doch die Leiden von Ver-
brechensopfern zur emotionalen Einfärbung des Verbrechensproblems
und damit zur weiteren Ausgrenzung des Täters. Nicht wenige Stellung-
nahmen zwingen zu dieser Befürchtung; das Opfer verspricht klingende
Münze im politischen Geschäft und ist daher der ständigen Gefahr des
- weiteren - Mißbrauchs ausgesetzt.
Doch ist es dies nicht allein, was ein gewisses Unwohlsein hervorruft.
Da hat man ein Problem erkannt und eingekreist - das vernachlässigte
Opfer im Strafprozeß - und bemüht sich nun de lege lata und de lege
ferenda um partikulare Lösungen - im Bereich der Nebenklage, des
Klageerzwingungsverfahrens, usw. Es müßte aber stutzig machen, daß
das Grundproblem in den meisten anderen Rechtsordnungen ebenfalls
besteht, nicht selten bis in die kleinsten Ausprägungen hinein, und daß
das gleiche Problem in historischer Perspektive neueren Datums ist,
früher also eine geringere Bedeutung hatte. Dann darf aber nicht er-
wartet werden, daß sich in der Praxis mit Teilreformen sehr viel ändern
wird - solange sich nicht das Grundproblem ändern läßt. Tatsächlich
ist es, als würde man einen Korb an seinen Rändern zu flechten beginnen,
statt in der Mitte anzufangen. Daher ist es zwar richtig, daß "sich wich-
tige Reformziele optimal nur durch eine umfassende Neuordnung der
Rechtsstellung des Verletzten verwirklichen" lassen5o , weshalb nur eine
48 Gesetzentwurf zum besseren Schutz der Opfer von Sexualdelikten vom
9.11.1983. Deutscher Bundestag. 10. Wahlperiode. Drucksache 10/585; Antrag
der Fraktion der SPD: Besserer Schutz der Opfer von Sexualstraftaten vom
9. 11. 1983, Drucksache 10/580.
50 Rieß (Anm. 46), Rdnr. 92.
über das Opfer. Eine viktimologische Zwischenbilanz 1151

"radikale Neubesinnung wirksame Abhilfe verspricht"51; dann muß aber


mit der Rolle des Opfers in der Straftheorie begonnen werden.
Es braucht nicht im näheren ausgeführt zu werden, wie sehr das Straf-
recht im Lauf seiner Geschichte durch zunehmende Abstrahierung seiner
Schutz- und Strafzwecke zu einem sozial-fernen Rechtsgüterschutz ge-
langt war, in dem die Tat als Störung der Rechtsordnung galt und die
Reaktion der Wiederherstellung des gestörten Rechtsfriedens dienen
sollte. Dieser überindividuelle, theologisch abgeleitete Bezugsrahmen
ließ für das individuelle Opfer keinen Platz, seine Beschädigung war
nichts weiter als der sichtbare Beweis, daß das Recht gebrochen worden
war. Opfer, soweit diese Bezeichnung hier zulässig ist, war die - fast
zum Rechtsbegriff gewordene - Allgemeinheit oder Gemeinschaft. Der
Begründung, ob sie denn durch die Tat wirklich verletzt worden sei, be-
durfte es ebenso wenig wie der Begründung, ob die Strafe denn wirklich
zur Befriedung beitragen könne, vor allem welche Strafe; in einem
zweckfreien Strafrecht war dies so.
Und es ist vielfach noch heute so. Zwar hat das Strafrecht durch die
Ablösung der zweckfreien durch die präventive Strafe5! seine alte Legi-
timation eingebüßt und muß sich um eine neue Legitimation bemühen,
die in der Beteiligung an der Bewältigung sozialer Probleme liegen
könnte". Die Konsequenz ist eine Reformulierung der alten Begriffe
und Begründungen, und dies auf empirischer Basis54 . So wurde der Ver-
such unternommen, dem im Jahre 1969 eingeführten Begriff der "Ver-
teidigung der Rechtsordnung" eine rationalere Interpretation zu geben,
als dies wohl früher der Fall gewesen wäre; gemeint ist damit nach ver-
breiteter Auffassung, daß die Strafe die Gefährdung der rechtlichen Ge-
sinnung der Bevölkerung als Folge schwindenden Vertrauens in die
Funktion der Rechtspflege zu verhindern habe. Dies ist nun, wie Mai-
wald herausgearbeitet hat, eine empirische Situation, da die Gefähr-
dung ermittelt werden müßte. Nicht so die Rechtsprechung, die in ihre
Uraltraster zurückfällt und die Erhaltung der Rechtstreue der Bevölke-
rung "als eine Art idealisierte Leitlinie" versteht, also nicht für ent-
scheidend hält, ob die Bevölkerung Rechtstreue hat, sondern daß sie
Rechtstreue haben so1l5s.

51 Weigend (Anm. 46), S. 765.


52 Vgl. BGHSt. 24, S. 40.
53 Krauß, Subjekt im Strafverfahren?, in: Das Tatopfer als Subjekt, Tagung
der Evangelischen Akademie Hofgeismar, Protokoll 177/1981, S.44 - 59, 48.
54 Hassemer, Strafziele im sozialwissenschaftIich orientierten Strafrecht, in:
Hassemer/Lüderssen/Naucke (Hrsg.), Fortschritte im Strafrecht durch die
Sozialwissenschaften?, 1983, S. 39 - 66,44 ff.
55 MaiwaZd, Die Verteidigung der Rechtsordnung - Analyse eines Begriffs,
GA 1983, S. 49 - 72, 67, mit Hinweis auf das Urteil des OLG Celle, JR 1980, S. 257.
1152 Klaus Sessar

Diese Auffassung erschwert ganz erheblich die Diskussion um das


Opfer im Strafrecht. Zu ihrer Verteidigung wird angeführt, daß sich
das Recht auch sonst nicht von der Volksmeinung tragen lassen dürfe;
schließlich dürfe beispielsweise die Todesstrafe auch dann nicht ange-
wandt werden, wenn das Volk sie fordere 58 • Dies ist natürlich richtig,
und daß es so etwas wie eine sittenbiZdende Kraft des Strafrechts gibt,
soll nicht bestritten werden. Allerdings gibt es in der gleichen Weise
eine sittenverhindernde Kraft des Strafrechts. Man trifft sie dort an,
wo strafrechtliche Regulierungen intervenieren, obwohl sozial akzep-
tierte private Regulierungen längst gegriffen haben oder greifen wür-
den, etwa zwischen Täter und Opfer. Wenn es heißt, daß das Strafrecht
nötig wurde und ist, um einer sozial unerwünschten Privatjustiz zuvor-
zukommen, dann ist dies ebenfalls nicht zu bestreiten, aber nur die halbe
Wahrheit; das Strafrecht kommt in der gleichen Weise privaten fried-
lichen Konfliktregelungen zuvor, zerstört sie, weil es solche empirischen
Ausgangspunkte lange verlassen und ein von der sozialen Realität abge-
hobenes, aber auf diese soziale Realität zugreifendes eigenes Werte-
system geschaffen hat. Habermas spricht, wenn freilich in einem allge-
meinen Rahmen, von einer Kolonialisierung der Lebenswelt, verstanden
als die Verarmung an Ausdrucks- und Kommunikationsmöglichkeiten
durch Verrechtlichung5 \ und in diesem Sinne ist der viel zitierte Aus-
spruch von Christie zu verstehen, das Strafrecht würde den Menschen
ihre Konflikte stehlen58 •
Vielleicht also darf das Opfer keine Berücksichtigung finden, weil
es nicht nur mit seinen etwaigen Rachegefühlen den allgemeinen Frie-
den, sondern auch mit seinem etwaigen Entgegenkommen das Strafrecht
beefroht; ähnliches gilt für die Allgemeinheit, wo sie weniger antago-
nistisch eingestellt ist als das Strafrecht.
Der Umkehrschluß aus dieser noch anhaltenden, aber sich allmählich
ändernden Situation ist, daß das Opfer in einer "sozialwissenschaftlich
orientierten Straftheorie"59 eine größere Bedeutung erlangen wird, wenn
nämlich seine Interessen zusammen mit denen der Allgemeinheit - und
die Interdependenz beider Interessen - das Ob und Wie staatlichen
Strafens mitbestimmen helfen. Dabei wird der eherne Grundsatz, daß
die Gemeinschaft über eine etwaige Einigung zwischen Täter und Opfer
hinaus darüber wachen muß, daß der ihr zugefügte Schaden beseitigt

68 Maiwald (Anm. 55), S. 68.


n Habermas, Einleitung, in: Habermas (Hrsg.), Stichworte zur "Geistigen
Situation der Zeit", 1. Band: Nation und Republik, 2. Aufl. 1979, S.7 - 35, 28.
58 Christie, Conflicts as Property, British Journal of Criminology 1977,
S.1-19.
59 Hassemer (Anm. 54), S. 54.
über das Opfer. Eine viktimologische Zwischenbilanz 1153

wird80 , wohl ohne nähere überprüfung nicht stehenbleiben können. Die


überprüfung würde sich u. a. auf die Frage erstrecken müssen, wieviel
originäres im Unterschied zu programmiertem und dann nach Bedarf
abrufbarem Ausgleichsbedürfnis81 besteht,und ob es, als allgemeines
Sanktions- oder Reaktionsbedürfnis, nicht eben doch befriedigt - be-
friedet - werden kann, wenn der Täter den Schaden wiedergutmacht.
Man darf daher die Vermutung wagen, daß sich mit der straftheoreti-
schen Integrierung des Opfers Strafrecht und Strafverfahrensrecht von
Grund auf ändern würden, weil die Techtliche Dimension einer Bezie-
hung allein zwischen Recht und Rechtsunterworfenem die Beziehung
zwischen Täter und Opfer nicht oder nur am Rande zuläßt. Entspre-
chende überlegungen haben in voller Breite eingesetzt; sie haben die
unterschiedlichsten Ausgangspunkte, doch scheint ihnen die Auffassung
gemeinsam zu sein, mit dem Opfer die vermißte soziale Dimension in
der Konfliktlösung (wieder) gefunden zu haben. Rechtshistonsch etwa
wird auf frühere, in gleicher Weise straf- und privatrechtliche Konflikt-
lösungsmuster verwiesen. Rechtsethnologische Untersuchungen belegen
die Priorität und das Funktionieren privater Problembewältigung, weil
das abweichende Verhalten in erster Linie den sozialen Frieden stört
und es deshalb um die Wiederherstellung der gestörten sozialen Bezie-
hungen geht'!. Theologisch wird es mehr und mehr als ein Mißverständ-
nis betrachtet, wenn Gott für eine religiöse Überhöhung des staatlichen
Strafmonopols vereinnahmt wird; Gott ist ganz im Gegenteil "Schieds-
richter zwischen Täter und Opfer ..., der sowohl an der Seite des Opfers
wie des Täters steht und für den versöhnenden Ausgleich sorgt"ea.
Eine moderne Umsetzung dieser Erfahrungen steht freilich erst am
Anfang. Etwa wird versucht, die Idee des WohlfahTtsstaates in das Straf-
recht hineinzunehmen, wodurch es an der Lösung sozialer Probleme be-

80 Weigend (Anm. 46), S. 775.


81 Vgl. die in Anm.55 zitierte Entscheidung des OLG Celle, in der sich das
Bemühen ausdrückt, einem RechtsbeW1.1ßtsein in der Allgemeinheit, das mög-
licherweise nicht stramm genug erscheint, durch eine entsprechende Recht-
sprechung abzuhelfen.
&! von Benda-Beckmann, Individualisierung und Kriminalität - Eine
rechtsethnologische Betrachtung, Z für Rechtssoziologie 1982, S. 14 - 30, 16.
8a Albertz, Täter und Opfer im Alten Testament, in: Z für Evangelische
Ethik 1984, 146 - 166 (S.162). Eine "verheerende Auslegungstradition" habe
die Erkenntnis verhindert, "daß die Talionsformel Auge um Auge, Zahn um
Zahn usw.... im Alten Testament ausschließlich als Bemessungsgrundlage
für die Wiedergutmachungsleistung diente ... und nie im wörtlichen Sinn ver-
standen wurde" (S.150). Vergelten bedeutete "Wiedergutmachen" im Sinne
einer Ersatzzahlung in Sachwerten oder Geld an das Opfer (S. 149), auch "Frie-
den bringen" (vgl. Bianchi, Das Tsedeka-Modell als Alternative zum konven-
tionellen Strafrecht, Z für Evangelische Ethik 1974, 89 - 110, 107). Der liebens-
Würdige süddeutsche Ausspruch "Vergelt's Gott" erinnert hieran, im Straf-
recht klänge er immer noch wie eine Kriegserklärung.

73 Festschrift für H.-H. Jescheck


1154 Klaus Sessar

teiligt werden soll64; hierzu gehörte dann der Interessenausgleich. Wie


immer, es wird offenbar mehr anvisiert als eine bloße Korrektur der
bisherigen Situation. In Aussicht genommen wird eine Strafrechtspflege,
welche den Rechtsfrieden nur in Zusammenhang mit der Wiederherstel-
lung des sozialen Friedens sucht, also jenen nicht länger zur Vorausset-
zung von diesem macht; welche friedliche nichtstrafrechtliche Regelun-
gen strafrechtlicher Konflikte nicht behindert, sondern fördert, sich
selbst also zurücknimmt; welche unter Bereitstellung formalisierter
Verfahrensregeln und -garantien im Bezug auf Sanktionen endlich zum
ultimum remedium wird.

2. Kriminalpolitische Aspekte
Eine der Konsequenzen hieraus wäre die Umformulierung des Sank-
tionensystems in dem Sinne, daß die Wiedergutmachung hierin ihren
Platz fände. Hierzu wurde schon ein eigener Vorschlag gemacht, der auf
eine Verschränkung von Strafe und Wiedergutmachung hinausläuft;
letztere sollte die Strafe danach ganz, teilweise oder, in besonders schwe-
ren Fällen, gar nicht ersetzen können65 • Gleichzeitig bedeutete dies die
Absage an alle Modelle einer Kumulierung von Strafe und Schadens-
ersatz, wie sie im deutschen Adhäsionsverfahren, in der französischen
action dvile oder in der bisherigen britischen compensation order zu
finden sind.
Die Schadenswiedergutmachung als strafrechtliche Sanktion wird in
den letzten Jahren zunehmend diskutiert und findet in empirischen Be-
fragungen eine überraschend breite Zustimmung. Einige Staaten sind
dazu übergegangen, die entsprechenden legislativen Vorkehrungen zu
treffen, etwa Kanada mit dem Gesetzentwurf "Bill C-19", wonach die
Schadenswiedergutmachung Vorrang vor der Geldstrafe bekommen
kann, wenn die finanziellen Mittel des Täters beschränkt sind 66 ; oder

64 Vgl. Sebba, The Victim's Role in the Penal Process: A Theoretical Orien-
tation, The American Journal of Comparative Law 1982, 217 - 240, wo ein
"Social Defense-Welfare Model" vorgeschlagen wird, das die strafrechtliche
Opfer-Täter-Konfrontation vermeiden helfen soll. Statt dessen solle der Staat
eine kritische und vermittelnde Rolle gegenüber jeder Partei spielen und sich
bemühen, die vom Täter ausgehende Bedrohung der Allgemeinheit ebenso zu
kontrollieren wie die Bedürfnisse des Opfers zu berücksichtigen. Vgl. hierzu
auch Krauß (Anm.53), S.48 sowie Naucke, Die Sozialphilosophie des sozial-
wissenschaftlich orientierten Strafrechts, in: Hassemer/LüderssenlNaucke
(Anm.54), S. 1 - 38, 32: "Das sozial wissenschaftlich orientierte Strafrecht
schwankt zwischen Täter und Opfer" - um sie und ihre Interessen eines Ta-
ges zu integrieren, möchte man hinzufügen.
65 Sessar, Schadenswiedergutmachung in einer künftigen Kriminalpolitik,
in: Kriminologie - Psychiatrie - Strafrecht, Festschrift für Heinz Leferenz,
1983, S. 145 - 161.
66 Art. 667 Bill C-19, Criminal Law Reform, 1984 (Erste Lesung 7. Februar
1984).
über das Opfer. Eine viktimologische Zwischenbilanz 1155

Großbritannien mit der ""Criminal Justice Bill" von 1982, wo zum einen
ebenfalls dieser Vorrang festgelegt, zum anderen, darüber hinausgehend,
die Schadenswiedergutmachung (compensation) zur selbständigen Sank-
tion erhoben wird: "A compensation order will rank as a sentence in
its own right and not as an adjunct to some other sanction where the
court considers this appropriate87 ."
Unter diesem Eindruck wurde in einer derzeit durchgeführten empirischen
Untersuchung zur Akzeptanz der Schadenswiedergutmachung als Sanktion
des Strafrechts u. a. folgende Frage aufgenommen88:
Der Richter hat einen Diebstahl abzuurteilen. Er möchte, daß der Täter
eine Geldstrafe von 1 000 D-Mark zahlt (die in die Staatskasse fließen). Er sieht
aber, daß das Opfer mit seinem Schaden, der auch annähernd 1 000 D-Mark
beträgt, leer ausgehen würde; denn der Täter könnte nicht beides zahlen.
Nehmen wir an, der Richter könnte zwischen folgenden Möglichkeiten wäh-
len. Zu welcher würden Sie ihm raten?
Der Richter soll den Täter
- zu einer Geldstrafe in Höhe von 1 000 D-Mark verurteilen
- zu einer Geldstrafe von 500 D-Mark und zur Entschädigung des Opfers
in Höhe von 500 D-Mark verurteilen
- statt zu einer Geldstrafe zur Entschädigung des Opfers in Höhe von
1000 D-Mark verurteilen.
Von den inzwischen ausgezählten Probanden (N = 703) waren 16 % für die
mittlere und 75 % für die letztere Lösung; 9 % vertraten die uneingeschränkte
Geldstrafe.
Die Schadenswiedergutmachung hat ihre Chance, wie viele empiri-
sche Untersuchungen belegen, auch bei Opfern, die am Strafverfahren in
erster Linie zum Zweck der Anerkennung ihrer Lage und Bedürfnisse
beteiligt werden möchten, regelmäßig nicht, um den Täter schwer be-
straft zu sehen. Nach der Untersuchung von Shapland steht bei der
Strafzumessung der Schadensersatz im Vordergrund, der als materielle
und symbolische Wiedergutmachung "in einem ursprünglichen Sinn"
verstanden wird. Für die von ihr untersuchten Opfer von Gewalttaten
war es daher wesentlich, daß die Wiedergutmachung im Urteil vorrangig

87 Clause 44, Criminal Justice Bill 1982; hierzu näher BZom-Cooper, Crime
and Redress: Theory, Policy and Practice, in: ThorvaZdson (Hrsg.), Crime and
Redress: National Symposium on Reparation by Offenders, 1983 (unveröffent-
lichtes Manuskript). Nichts kennzeichnet den Wandel in den vergangenen
Jahren mehr als dieser Gesetzentwurf, vergleicht man ihn mit der "Powers of
Criminal Courts Act" von 1973, die die Schadenswiedergutmachung zusätzlich
zur strafrechtlichen Sanktion einführte; denn damals hieß es: "Compensation
orders were not introduced into our law to enable the convicted to buy them-
selves out of the penalties of crime" (vgl. Sesfjar [Anm. 65], S. 147).
88 Empirische, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützte
Untersuchung zur "Wiedergutmachung als alternativer Sanktionsansatz" , mit
einer allgemeinen Bevölkerungsbefragung (N = 4400), sowie der Befra-
gung von Angehörigen der Strafjustiz (Richter, Staatsanwälte, [Jugend] Ge-
richtshelfer und [Jugend] Bewährungshelfer), von Anwälten, Schiedsleuten,
Studenten sowie von Tätern und Opfern.

73·
1156 Klaus Sessar

berücksichtigt wurde und daß sie vom Täter, erst in zweiter Linie vom
Staat (als Opferentschädigung), geleistet wurde. Ihrem Symbolcharakter
entsprach auch, daß sie primär als Teil der Strafe und nicht als privat-
rechtlich geschuldete Leistung angesehen und auch nicht in voller Höhe
beansprucht wurde, wenn der Täter ohne Mittel ware8 •
Welche Entwicklung das deutsche Strafrecht nehmen wird, ist noch
nicht abzusehen, die Diskussion hat erst begonnen, doch mehren sich
die Stimmen, die einer Wiedergutmachung unter strafrechtlichen Aspek-
ten das Wort reden, ohne das Adhäsionsverfahren wieder aufleben las-
sen zu wollen70 • Der 55. Deutsche Juristentag hat hierzu zusätzliche Bei-
träge gebracht, die nun ausgewertet werden müssen.

IV. Schlußbemerkung

Es sollte deutlich gemacht werden, daß das Opfer dabei ist, mit Hilfe
der Viktimologie in den Kriminalwissenschaften seinen Platz einzuneh-
men. Es wird die Kriminalwissenschaften dadurch verändern, weil es
nicht nur ein vergessener, übersehener oder vernachlässigter Faktor in
der Kriminologie und im Strafrecht ist, sondern eine neue Dimension re-
präsentiert, die beide Wissenschaften überhaupt erst mit Raumtiefe
ausstattet.
Und dazu gehört dann auch die jüngste Anstrengung, eine eigene von
den Vereinten Nationen gestützte Opferdeklaration durchzusetzen. Es
liegen zwei Entwürfe vor, die von verschiedenen wissenschaftlichen Or-
ganisationen (z. B. World Federation for Mental Health; US National
Orgamzation forVictim Assistance;World -SocietyofVietimology) und
auf wissenschaftlichen Tagungen (z. B. International Workshop on Victim
Rights, 1984 in Dubrovnik) beraten wurden71 • Sie sind Bestandteil eines
eigenen Entwurfs der Vereinten Nationen, der in der Abteilung "Vic-
tims of Crime" auf dem 7. United Nations Congress on the Prevention
of Crime and the Treatment of Offenders (1985 in Mailand) zur Beratung
und Abstimmung vorgelegt werden wird?!.

68 Shapland, Victims, The Criminal Justice System and Compensation, Bri-


tish Journal of Criminology 1984, S. 131 - 149, 144 f. Vgl. auch McKnight, The
Victim-Offender Reconciliation Project, in: Galaway/Hudson (Hrsg.), Perspec-
tives on Crime Victims, 1983, S. 292 - 299.
70 Rieß (Anm. 46), Rdnr. 138 ff.; Weigend (Anm. 46), S. 792. SeeZmann, Straf-
zwecke und Wiedergutmachung, Z für Evangelische Ethik 1981,44 - 55, 52 ff.
71 Waller, United Nations Declaration on the Proteetion and Assistance of
Victims of Crime: Draft Explanatory Report and Draft Text; Lamborn, Toward
a United Nations Dec1aration on Crime, Abuses of Power, and the Rights of
Victims (beide 1983, unveröffentlicht).
72 Vorläufige "Guidelines for Measures on Behalf of Victims of Crime and
of Abuses of Power" unter Einschluß einer "Draft Declaration on the Rights
Über das Opfer. Eine viktimologische Zwischenbilanz 1157

Wie immer man zu diesem oder jenem Schritt steht, unbestreitbar ist,
daß das Opfer für nicht absehbare Zeit das Erkenntnisinteresse in sozial-
und rechtswissenschaftlicher, sozial- und kriminalpolitischer Hinsicht
binden wird.

of Victims of Crimes or Other Illegal Acts Involving the Abuse of Power"


(Crime Prevention and Criminal Justice Branch der Vereinten Nationen, 1984,
unveröffentlicht).
KOICHI MIYAZAWA

Informelle Sozialkontrolle in Japan


unter besonderer Berücksichtigung ihrer praktischen
Vorgehensweisen und Handlungsstrategien im Bereich
informeller Verbrechenskontrolle

Einleitung

An mehreren Stellen meiner Schriften habe ich über die geschicht-


liche Entwicklung und die praktische Handhabung des japanischen
Strafrechtssystems einschließlich des Jugendrechts sowie des Strafvoll-
zugsrechts berichtet'. Ich habe dort dargestellt, daß man in der japani-
schen Strafrechtspflege eher von sanften Kontrollmaßnahmen, wie z. B.
von der staatsanwaltschaftlichen und der richterlichen Verfahrensein-
stellung bzw. von Aussetzung der Strafe zur Bewährung, Gebrauch
macht!. Diese Art der Verbrechenskontrolle hat hierzulande eine lange
Geschichte und kommt im Erwachsenenstrafrecht und besonders im
Jugendrecht zum Ausdrucks.
Aufgrund der Wirtschaftskrise in der zweiten Hälfte der 7Der Jahre
hat die Kriminalität überhaupt, vor allem aber die Jugendkriminalität
in den aDer Jahren ständig zugenommen. Infolgedessen ist auch die
Anzahl der Insassen in den Strafanstalten und in den Jugendtrainings-

, Miyazawa, Die Entwicklung des japanischen Strafrechts- und Vollzugs-


wesens. Straf- und Maßregelvollzug: Situation und Reform. Kriminologie
und Kriminalstatistik, KrimGegfr.11 (1974), S.161; ders., Traditionelles und
Modernes im japanischen Strafrecht, ZStW 88 (1976), S.813; ders., Erschei-
nungsbild und Tendenzen der Kriminalität in Japan, MSchrKrim.60 (1977),
S. 1; ders., Kriminalität und ihre Bekämpfung in Japan, Festschrift für Wür-
tenberger, 1977, S.299; ders., Vergleichende Kriminologie: Japan, in: H. J.
Schneider (Hrsg.), Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Bd. 14, 1981, S. 1063.
MiyazawalH. J. Schneider, Vergleichende Kriminologie: Japan, in: Sieverts!
H. J. Schneider (Hrsg.), Handwörterbuch der Kriminologie, Ergänzungsband,
1977, S.I; Kühne!Miyazawa, Kriminalität und Kriminalitätsbekämpfung in
Japan, 1979; Miyazawa!Kühne, Kriminologie, in: EubeZ (Hrsg.), Das japani-
sche Rechtssystem, 1979, S. 323.
2 Vgl. dazu Miyazawa, ZStW 88 (1976), S. 840, und eingehender dazu Kühne,
Opportunität und quasi-richterliche Tätigkeit des japanischen Staatsanwalts,
ZStW 85 (1973), S.258; neuerdings Miyazawa, Die Verfolgungstätigkeit der
japanischen Staatsanwälte, ZStW 95 (1983), S. 1207.
3 Kühne!Miyazawa, Das japanische Jugendgesetz, 1975.
1160 Koichi Miyazawa

anstalten erheblich angestiegen'. Grundsätzlich ist jedoch die Situation


der Verbrechenskontrolle, insbesondere der institutionellen Behand-
lung, in Japan nicht so bedrohlich wie in den angloamerikanischen
und europäischen Ländern. Man kann hier durchaus noch von einer
sanften Kontrolle der Kriminalität sprechen. Zur Veranschaulichung
meiner Thesen habe ich kriminalstatistische Daten und kriminologi-
sche Hypothesen in meine Ausführungen aufgenommen. Dies beruht
auf einer Anregung des Jubilars, die er in seiner Antrittsvorlesung im
Jahre 19555 gegeben hat - in dem Jahr also, in dem ich meine akade-
mische Karriere begonnen habe. Diese Schrift hat damals die jüngeren
japanischen Kollegen, die sich um eine eigene Methode vor allem auf
dem Gebiet der Strafrechtsvergleichung bemühten, stark beeinflußt.
Die vorliegende Arbeit handelt von den sozialen Hintergründen des
Systems der Verbrechenskontrolle in Japan, also von der soziologi-
schen Tiefenschicht der Rechtsordnung, die nach J escheck für die
Rechtsvergleichung und für das Studium des ausländischen Rechts von
besonderer Bedeutung ist. Diese soziologischen Grundlagen "sind oft-
mals geradezu der Schlüssel für Erscheinungen, die sonst unerklärlich
bleiben"8. Mit meinem Versuch, einen Schlüssel zum Verständnis der
japanischen Kontrollmechanismen aufzuzeigen, möchte ich meiner Ver-
ehrung für den Jubilar und meiner Dankbarkeit für seinen langjäh-
rigen Rat und Beistand Ausdruck verleihen.

Der heutige Stand der Kriminalitätsentwicklung


und ihrer Bekämpfung in Japan'
··Seit dem Bericht "Crime Preventiorian,rC6ntrol - the Challenge
of the Last Quarter Century _"8, den die japanische Regierung dem
V. Internationalen Kongreß für Verbrechensprävention und Behand-
lung von Straffälligen 1975 in Genf vorgelegt hat, ist weltweit be-
, Miyazawa, Zur Praxis der jugendrechtlichen Reaktion auf jugendliche
Delinquenz in Japan, in: KurylLerchenmülZer (Hrsg.), Diversion. Alternativen
zu klassischen Sanktionsformen, 1981, S.538, 548; siehe auch ders., Juvenile
Delinquency in Japan Today - Its Sociological Backgrounds. Proceedings
of The First Asian-Pacific Conference on Juvenile Delinquency, Seoul 1980,
S.105; ders., Problems of Juvenile Delinquency in School and Family. Pro-
ceedings of The Second Asian-Pacific Conference on Juvenile Delinquency,
Seoul1983, S. 193 (auch in: Keio Law Review 3 [1983], S. 25).
& Jescheck, Entwicklung, Aufgaben und Methoden der Strafrechtsverglei-
chung. Antrittsrede, 1955.
8 Jescheck (Anm. 5), S.41.
1 Der folgende Text gibt ein Referat wieder, das der Verfasser auf der
Wiener Tagung der Internationalen Gesellschaft für Kriminologie am 29. Sep-
tember 1983 gehalten hat.
8 National Statement byJapan. The Fifth United Nations Congress on
the Prevention of Crime and the Treatment of Offenders, 1975.
Informelle Sozialkontrolle in Japan 1161

kannt, daß Japan trotz Industrialisierung, Modernisierung und Urba-


nisierung keineswegs so stark unter dem Ansteigen der Kriminalität
leidet wie die westeuropäischen Länder und die USA. Jedoch hat sich
im Vergleich zur Lage vor zehn Jahren die diesbezügliche Situation
vor allem in den letzten fünf Jahren stark verändert. Betrachtet man
den heutigen Stand der Kriminalität, vor allem der Jugendkrimina-
lität, anhand der polizeilichen Kriminalstatistik - hier handelt es sich
um die polizeilich bekanntgewordenen Fälle -, stellt man sofort eine
erheblich steigende Tendenz fest, die durch die Zunahme von Ver-
mögensdelikten (Diebstahl und Unterschlagung, d. i. Fundunterschla-
gung von Fahrrädern) bedingt ist. Die Schwerkriminalität (vorsätz-
liche Tötung, Raub und Notzucht) sowie die Gewaltkriminalität (Kör-
perverletzung, Raufhandel und Drohung) zeigen hingegen eine stabile
bzw. leicht abnehmende Tendenz'.
Bei den jugendlichen Delinquenten verlief die Entwicklung in den
letzten zehn Jahren dagegen völlig anders. Ihre Kriminalität zeigt
insgesamt bei der Vermögens-, Schwer-, Gewalt- und Sexualdelin-
quenz eine erheblich ansteigende Tendenz10, wobei auch hier nur von
polizeilich festgenommenen Jugendlichen die Rede ist.
Auf die Ursache dieses bemerkenswerten Phänomens kann ich hier
nicht näher eingehen; insoweit verweise ich auf meine früheren Dar-
stellungen11• Im folgenden beschränke ich mich auf die Problematik
der informellen Sozialkontrolle in Japan.
Seit etwa zehn Jahren spricht man unter amerikanischen und west-
europäischen Kriminologen viel von der sog. "sanften Kontrolle"
(velvet glove approach). Darunter versteht man z. B. die Ersetzung
institutioneller Behandlung durch Behandlung in FreiheWI oder die
Verhängung von Geldstrafen anstelle von Freiheitsstrafen1S • In Japan
praktiziert man eine derartige sanfte Kontrolle des Verbrechens schon
seit langem, ohne von diesem kriminalpolitischen Schlagwort Gebrauch
zumachen.

, Hanzai hakusho (Weißbuch der Kriminalität), 1983, S. 10.


10 Ebenda, S. 285; siehe dazu Miyazawa, Zur Praxis der jugendrechtlichen
Reaktion ... (Anm.4), S. 548, und neuerdings ders., Keio Law Review 3 (1983),
S.27.
11 So Miyazawa, Juvenile Delinquency in Japan Today (Anm.4), S.106;
ders., Problems of Juvenile Delinquency (Anm. 4), S. 194.
11 Jescheck, Alternativen zur Freiheitsstrafe. Contemporary Problems in
Criminal Justice. Essays in Honour cf Professor Shigemitsu Dando, 1983,
S. 88 ff.; siehe auch ders. (Hrsg.), Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im
deutschen und ausländischen Recht, 1983 - 1984, Bd.16.3, S. 2113 ff.
18 Jescheck/Grebing (Hrsg.), Die Geldstrafe im deutschen und ausländi;.
schen Recht, 1978, insbes; S. 1199 ff.
1162 Koichi Miyazawa

Dem Rechtsbewußtsein des durchschnittlichen Japaners entspricht es,


daß man Streitigkeiten unter Privatpersonen, auch wenn sie den Cha-
rakter einer Straftat haben, lieber informell als mit Hilfe der Staats-
gewalt regelt. Die Ursachen hierfür mögen in den geschichtlichen
Hintergründen unseres Rechtssystems liegen. Vor etwa 110 Jahren,
also unmittelbar nach der Meiji-Restauration, versuchte die neu an
die Macht gekommene Regierung, Japan möglichst schnell in einen
Rechtsstaat im angloamerikanisch-europäischen Sinne umzuformen,
d. h. rasch die Modernisierung des Rechts und des Rechtssystems nach
dem Modell der damaligen Weltmächte in Gang zu setzenl4 • Dabei
wurden die herkömmlichen Rechtsgebräuche wenig berücksichtigt. In-
folgedessen blieben alle neugeschaffenen rechtlichen Institutionen vom
allgemeinen Bewußtsein der Bevölkerung isoliert. Das Gesetz spielt
nur im Gerichtssaal oder unter Juristen eine Rolle, nicht für den Marui
auf der Straße.
Die meisten Gesetze, die um die Jahrhundertwende erlassen wurden,
d. h. das BGB, das HGB, das StGB, die StPO und die ZPO, basierten
auf deutschem Recht; in Japan dominierte die deutsche Rechtsdogma-
tik. Unter diesen Umständen war es den Bürgern nahezu unmöglich,
die Rechtsnormen zu internalisieren. Sie gelten für die Bevölkerung
nicht als Bestimmungsnormen, sondern werden als Entscheidungsnor-
men erst im Gerichtssaal angewandt. Wenn der Deutsche sagt, "Gesetz
ist Gesetz", so meint er, "wir müssen es befolgen". Wenn wir J apaner
dasselbe sagen, so meinen wir, "Gesetz ist Gesetz, also nehmen wir
einen anderen Weg! Auf geht's!".
Oiese Situation läßt sich anhand konkreter Daten veranschaulichen:
Im Jahre 1981 wurde in 240000 zivil- und verwaltungsrechtlichen Fäl-
len ein ordentliches Gerichtsverfahren eingeleitet; ca. 1 330 000 Fälle
wurden dagegen informell erledigt, und zwar durch Schiedsverfahren,
Freiwillige Gerichtsbarkeit oder Vergleich.
Ähnliches gilt für den Strafprozeß. Im Jahre 1982 wurden ca. 904000
Personen wegen Verstößen gegen das StGB polizeilich festgenommen.
Im gleichen Jahre wurden nur 80 000 Angeklagte in einem ordent-
lichen Strafverfahren verurteilt. Gegen ca. 93 % von ihnen wurden
Freiheitsstrafen verhängt, und bei ca. 57 % der zu Freiheitsstrafe Ver-
urteilten wurde die Strafe ausgesetzt. Vor einer richterlichen Ent-
scheidung wurden ca. 22 % der polizeilich festgenommenen Tatver-
dächtigen (1982: 441963 Personen) wegen der Geringfügigkeit des
Schadens aufgrund des Ermessens der Polizei und ca. 36 % der Tatver-

14 Hierzu siehe Miyazawa, ZStW 88 (1976), S.813; Miyazawa/Schneider


(Anm.l), S.I; Murakami, Einführung in die Grundlagen des japanischen
Rechts, 1974, und Rähl, Rechtsgeschichte, in: Eubel (Hrsg.) (Anm. 1), S. 2.
Informelle Sozialkontrolle in Japan 1163

dächtigen nach staatsanwaltschaftlicher Verfahrenseinstellung gemäß


dem Opportunitätsprinzip freigelassen15 • In den meisten Fällen ein-
schließlich der Verkehrsdelikte wurde durch Strafbefehl auf eine Geld-
strafe erkannt (1982: 2 134810 von 2214239 = ca. 96 % der Fälle).
Diese Art, Strafsachen zu erledigen, können wir als außerjustizielle
Kontrolle bezeichnen.
Im folgenden möchte ich die Wirkungsweise der informellen Sozial-
kontrolle im weiteren Sinne, d. h. der familiären Kontrolle sowie der
Sozialkontrolle in der Nachbarschaft, in der Schule und in der Berufs-
welt darlegen. In diesen sozialen Faktoren spiegelt sich die Gruppen-
mentalität der Japaner wider. Der zentrale Begriff, der das Verständ-
nis für die japanische Lebensform eröffnet, ist die Gruppe. Der Japa-
ner denkt und lebt als Gruppenmitglied. Seine Individualität existiert
nur innerhalb von Gruppenbildungen16• Sein Selbstverständnis erlangt
der Japaner durch eine Innenschau, die gleichsam mit den Augen der
Gruppe vollzogen wird. In der Regel gehört der J apaner vier Gruppen
an, die sein Leben bestimmen17: einer durch Geburt vorgegebenen,
dem Familienc1an, und zwei durch Sozialisation erworbenen, der Be-
rufs- und der Schulgemeinschaft, d. h. der Gruppe derjenigen Per-
sonen, mit denen er am Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz verbunden ist.
Ebenfalls regelmäßig vorhanden ist die Nachbarschaftsgruppe, deren
Einfluß jedoch vergleichsweise weniger stark ist.

Die kriminalpolitische Bedeutung der informellen


Sozialkontrolle im japanischen Rechtsleben

Die informelle Sozialkontrolle spielt in Japan insofern eine wichtige


Rolle, als der Staatsanwalt bei seiner selektiven Tätigkeit nach dem
Opportunitätsprinzip und der Richter bei der Wahrnehmung seiner
Selektionsmöglichkeit bei der richterlichen Einstellung des Verfahrens
u. a. folgende persönliche Umstände des Täters zu berücksichtigen pfle-
gen: Alter, Charakter, Lebensgeschichte und Umfeld des Täters, den
Beweggrund, die Folgen und den Einfluß der Straftat auf die Öffent-
lichkeit sowie die Haltung des Täters nach der Straftat18 • Unter dem
"Umfeld" versteht man die oben genannten Kontrollinstitutionen wie
Familie, Nachbarschaft, Schule und Arbeitswelt, also die soziale Kon-
trolle durch die Bezugsgruppe des Täters. Staatsanwalt und Richter
fragen sich gewöhnlich, ob der Täter in der eigenen Familie behandelt

15 Hierzu vgl. Kühne (Anm.2); zum Vergleich auch JeschecklLeibinger,


Funktion und Tätigkeit der Anklagebehörde im ausländischen Recht, 1980.
18 Chie Nakane, Japanese Society, 1972.
17 Hierzu bereits in Kühne/Miyazawa (Anm. 1), S. 91.
18 Nakamura, Die japanische Strafprozeßordnung, 1970, S. 63.
1164 Koichi Miyazawa

werden kann oder ob er einem Träger der informellen Sozialkontrolle


zUr Behandlung in Freiheit überlassen werden soll. Falls die Familie
des Täters geordnet ist und der Täter reibungslos wieder in das ScllU-
lische oder berufliche Leben eingegliedert werden kann, wird die
Lösung vorgezogen, ihn in die Freiheit zu entlassen. Zwar besteht hier
die Gefahr, dem Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz zuwiderzu-
handeln. Tatsächlich kommt dies jedoch nur selten vor, da Armut in
Japan heute kaum mehr ein Problem ist und sich ca. 80 Dfo der Bevöl-
kerung zur Mittelschicht oder zu noch höheren sozialen Schichten zu-
gehörig fühlen. In der Tat sind 75 % der straffälligen Jugendlichen
Schüler oder Studenten und stammen zum größten Teil (85 Dfo) aus der
Mittel- und Oberschicht10 • Diese Delinquenten begehen ihre Verfeh-
lung, weil das familiäre und schulische Leben heutzutage zunehmend
pathologische Züge zeigt. Im folgenden seien Funktion und Disfunk-
tion der verschiedenen Instanzen der informellen Sozialkontrolle in
Japan skizzenhaft dargestellt.

Familie: Im Vergleich zur Vergangenheit haben sich die familiären


Bindungen in Japan stark gelockert. In der Durchschnittsfamilie ist
jedoch die Kontrolle durch die Eltern immer noch streng20 • Die mei-
sten Mütter sind ausschließlich daran interessiert, daß ihr Kind mög-
lichst viel Zeit am Schreibtisch verbringt. Für sie hängt alles vom
Examen, insbesondere von der Aufnahmeprüfung für die nächsthöhere
Stufe der Ausbildung ab. Sie treiben ihr Kind ständig zum Studium
an, das hauptsächlich aus dem Pauken uninteressanten Prüfungswis-
sens besteht. Nach der Schule lernen die Kinder unter der Leitung
!!iges Nachhilfelehrers oder besuchen ein Privatrepetitorium. In ihrer
Freizeit spielen sie selten draußen, sondern sehen fern oder hören in
ihrem eigenen Zimmer Schallplatten. Die Schulpflicht endet mit dem
Abschluß der Mittelschule, die durchschnittlich im Alter von 13 - 14
Jahren beendet wird; dies bedeutet, daß ein Schüler, der delinquent
wird, nicht von der Schule verwiesen werden darf.
Die Eltern, vor allem die Mutter, kontrollieren das Verhalten ihrer
Kinder, insbesondere der Töchter, streng. So überwacht die Mutter
etwa den Kontakt mit dem anderen Geschlecht und achtet auch dar-
auf, daß ihr Kind nicht mit Delinquenten verkehrt. Bei Jugendlichen
unter 20 Jahren ist es gesetzlich verboten, den Namen oder andere auf
die Identität des Delinquenten hinweisende Tatsachen in den Massen-
10 Miyazawa, Zur Praxis der jugendrechtlichen Reaktion ... (Anm. 4),
S.553; vgl. auch meine beiden Berichte auf der Ostasiatischen Tagung für
Jugendkriminalität (Anm. 4). .
10 Siehe auch 19uchi, Die Eltem-Kind-Beziehung in Japan und die darauf
basierende psychische Struktur.ZSchr.f. Kinder- u. Jugertdpsychiatrie 11
(1983), S. 52.
Informelle Sozialkontrolle in Japan 1165

kommunikationsmitteln anzugeben. Bei jungen Erwachsenen, die einer


Straftat verdächtigt werden, können dagegen sämtliche Personaldaten
in der Presse oder im Fernsehen wiedergegeben werden, auch wenn
dadurch die Privatsphäre des Betroffenen verletzt wird. Die Reaktion
von seiten der Opfer sowie der Gesellschaft ist je nach Delikt unter-
schiedlich: Bei Vermögensdeliktenziehen es die Opfer vor, die Sache
privat zu bereinigen, indem sie mit. dem Täter selbst oder mit seinen
Familienangehörigen verhandeln. Leichte Körperverletzungsdelikte
und dergleichen versucht man durch die informelle Vereinbarung von
Schmerzensgeld zu erledigen.
Falls in den Massenkommunikationsmitteln über schwere Straftaten
oder gesellschaftliche Skandale berichtet wird, werden nicht nur der
Verdächtige selbst, sondern auch seine Familienangehörigen sozial
degradiert und als asozial gebrandmarkt. Begeht ein erwachsenes Kind
eine Straftat, so läuft der Vater Gefahr, seine Stelle zu verlieren.
Hierzu gibt es mehrere Beispiele: Zur Zeit der Studentenunruhen im
Jahre 1972 wurden von Mitgliedern der sog. japanischen Roten Armee
Masserunordean ihren "Soldaten" begangen und zwei Polizisten· bei
einem Kampf erschossen. In den Zeitungen standen detaillierte An-
gaben über Namen und Wohnort der Eltern, über den Beruf des
Vaters usw. Durch Drohbriefe und andere Drohungen wurde ein be-
dauernswerter Vater in den Selbstmord getrieben; ein anderer Vater
mußte als Vize-Präsident einer bekannten Firma zurücktreten. Im
Jahre 1982 erschoß ein über 30jähriger schizophrener Student in Paris
seine Bekannte in seiner Wohnung und entledigte sich der Leiche des
Opfers im Wald von Boulogne. Nachdem die Presse über diesen sen-
sationellen Fall berichtet hatte, mußte der Vater des Tatverdächtigen
unter dem Druck der Presse von seiner Position als Präsident eines
großen Unternehmens zurücktreten.
Begeht ein Familienangehöriger ein sozial stark verwerfliches Delikt,
so erleidet die ganze Familie erhebliche Nachteile. Es gibt z. B. Schwie-
rigkeiten bei der Suche nach einem Ehepartner; auch eine Arbeitsstelle
ist schwer zu finden. Die Tatsache, daß sich die Straftat eines Familien-
mitgliedes in Japan wesentlich ungünstiger als in anderen Gesellschaf-
ten auf die übrigen Angehörigen auswirkt, erklärt deren Bestreben,
an der Besserung eines straffällig gewordenen Familienmitgliedes mit-
zuwirken und den durch die Straftat entstandenen Schaden wieder-
gutzumachen, um so aus eigener Kraft die Familie sozial zu reinte-
grieren. Zwar liegen die Dinge bei Jugendlichen etwas anders; im all-
gemeinen sieht sich aber a:uch ein Jugendlicher, der in institutioneller
Behandlung war, nach der Entlassung in seinem weiteren Sozialleben
stark beeinträchtigt. Also versuchen die Eltern und die übrigen An-
gehörigen, die ultima ratio, nämlich die institutionelle Behandlung,
1166 Koichi Miyazawa

zu verhindern. Um ein störungsfreies Leben zu sichern, nehmen nicht


nur die Eltern, sondern auch andere Angehörige am Verhalten eines
kriminell gefährdeten Jugendlichen innerhalb des eigenen Familien-
kreises Anteil und tun alles, um ihn von der Begehung von Straftaten
abzuhalten21 •
Angesichts der Zunahme der Jugendkriminalität appellieren die
Polizei und die Sonderkommission für Jugendfragen im Kultusmini-
sterium in Presseerklärungen und auf andere Weise an die Allgemein-
heit, durch Mitwirkung der Eltern und der Nachbarschaft die gegen-
wärtig gefährliche Entwicklung der Jugendkriminalität aufhalten zu
helfen. In diesen Appellen an die Öffentlichkeit spiegelt sich die Be-
sonderheit der japanischen Sozialkontrolle durch private Bezugsgrup-
pen, etwa durch die Nachbarschaft, wider.

Nachbarschaft: Vor 25 Jahren, als Japan noch unter den Kriegsschä-


den zu leiden hatte, lebten die meisten Japaner sowohl in den größe-
ren Städten als auch auf dem Lande in eng verknüpften menschlichen
Beziehungen. Heute lebt man isoliert. Vor allem in den Städten, in den
Neubausiedlungen, wo ein Hochhaus neben dem anderen steht, leben
die Bewohner ohne persönlichen Kontakt und in Distanz zueinander.
In den alten, gewachsenen Wohnvierteln bestehen noch enge mensch-
liche Beziehungen im Sinne echter Nachbarschaft, und zwar sogar in
Tokio, der größten Stadt Japans. Dort ist es noch üblich, einen Frem-
den anzusprechen und zu fragen, wen er besuchen will. In diesen
Stadtteilen gibt es gewöhnlich kleine Polizeiwachen (koban) , über die
der amerikanische Soziologe D. H. Bayley berichtet hat2l • Zwischen der
Bevölkerung und· den Polizisten oesteht auch heute· noch eine enge
Beziehung. Geschieht etwas sozial Auffälliges, wird es sofort gemeldet,
um eine wirksame Kontrolle in Gang zu setzen!'.
In vielen Stadtteilen gibt es auch Verbindungsstellen für Verbre-
chensverhütung, die dem Polizeihauptquartier der Stadt unterstehen.
In der Stadt Tokio gab es im Jahre 1982 etwa 110000, in ganz Japan
rund 686000 solcher Verbindungsstellen24 • Etwaige Auffälligkeiten teilt
man der nächsten Verbindungsstelle mit, die diese Information dann
an die nächste Polizeistation weitergibt. Außerdem wurden 1982 in
38 Präfekturen Japans etwa 950 Verbindungs- und Beratungsgremien
eingerichtet.
21 Miyazawa/Schneider (Anm. 1), S. 19.
!2 Bailey, Forces of Order. Police Behavior in Japan and the United
States, 1976.
23 über "koban" vgl. Kühne/Miyazawa (Anm. 1), S. 125.

U Die Zahlenangaben hier und später sind aus Hanzai hakusho sowie aus
Keisatsu hakusho (Weißbuch der Polizei) entnommen.
Informelle Sozialkontrolle in Japan 1167

Wurde ein Verbrechen begangen und der Polizei gemeldet, so be-


ginnt die Tätigkeit der Ermittlungsbeamten. Sie begeben sich an den
Tatort und stellen Fragen an Nachbarn und Passanten. Daß viele Fälle
von Privatpersonen gemeldet werden, zeigen folgende Zahlen: Im
Jahre 1982 gingen bei der Polizei etwa 3000000 Notrufe ein; davon
enthielten 30 Dfo Informationen über Verkehrsunfälle bzw. Verkehrs-
zuwiderhandlungen, 15 Dfo verschiedene andere Informationen, 10 %
Meldungen von Straftaten durch Opfer, 6 % Bitten um Hilfe für Be-
trunkene und 5 % Meldungen von Streitigkeiten usw. Im gleichen Jahr
wurden der Polizei 1530000 Verstöße gegen das StGB bekannt, davon
78 Dfo (1,5 Millionen Fälle) durch Meldungen von Opfern, 0,1 Dfo durch
Anzeigen Dritter, 0,1 % durch Detektive und 18 % durch die eigene
Ermittlungstätigkeit der Polizei. Insgesamt betrachtet scheint die Kom-
munikation zwischen Einwohnern und Polizei gut zu funktionieren.
Ein weiteres Beispiel für den engen Kontakt zwischen Polizei und
Bevölkerung sei genannt: 1982 wurden 190000 Jugendliche wegen Ver-
stöße gegen das StGB, ca. 40000 Jugendliche wegen Verstöße gegen
das Nebenstrafrecht und ca. 6000 Jugendliche wegen Prädelinquenz
polizeilich festgenommen 25 • Außerdem wurden ca. 66 000 Kinder wegen
Verstöße gegen das StGB sowie das Nebenstrafrecht polizeilich fest-
genommen. Weitere 1340000 Jugendliche und Kinder standen unter
polizeilicher Führung. In diesem Zusammenhang waren ca. 53 000 Bür-
ger, meist Hausfrauen und Lehrer, als Jugendführer tätig. Diese Tätig-
keit wird vor allem in den Provinz städten sehr intensiv ausgeübt.

Schule: Um die Situation der Kontrolle durch die Schule in Japan


zu verdeutlichen, sei zunächst darauf hingewiesen, daß die Schulpflicht
mit dem 6. Lebensjahr beginnt und mit dem 15. Lebensjahr endet. Sie
umfaßt sechs Jahre Volksschule und drei Jahre Mittelschule.
Im Jahre 1982 gab es in Japan insgesamt etwa 12 Millionen Schüler
in ca. 25000 Volksschulen, etwa 5620000 Schüler in ca. 11 000 Mittel-
schulen und etwa 4700 000 Schüler in ca. 5219 Oberschulen. Außerdem
studierten etwa 1 800000 Studenten und Studentinnen an 455 Univer-
sitäten, und etwa 370000 überwiegend weibliche Studenten besuchten
525 Fachhochschulen28 • Diese Zahlen scheinen auf breite Auswahlmög-
lichkeiten hinzuweisen; in Wirklichkeit verdeutlichen sie jedoch den
unwahrscheinlich starken Wettbewerb um die Aufnahme in eine gute
Schule. Das heutige Schulsystem in Japan dient nicht mehr der mensch-
lichen Bildung, sondern es hat die Funktion einer sozialen Rolltreppe

25 Hanzai hakusho (Anm. 9), S. 285.


28 Seishonen hakusho (Weißbuch der Jugend), 1983, S.110. Siehe auch
Miyazawa, Der japanische Jurist - Ausbildung und soziale Stellung, JuS
1982,382.
1168 Koichi Miyazawa

zu einem höheren Status. Die Aktivitäten in der Schule orientieren


sich an der Aufnahmeprüfung für die nächsthöhere Stufe und sind
vollständig auf diesen Zweck ausgerichtet. Anders als in den USA oder
in Europa haben die japanischen Schüler einen langen Schultag. Werk-
tags dauert der Unterricht gewöhnlich bis 16 oder 17 Uhr, samstags
bis 12 Uhr. Die Sommerferien dauern nur einen Monat. Nach der
Schule lernt man bei einem Nachhilfelehrer weiter oder besucht ein
Repetitorium, um sich auf die Aufnahmeprüfung vorzubereiten. Die
Schule ist ein Feld der Konkurrenz. Der Konkurrenzkampf setzt heute
so früh ein, daß für viele Kinder die quasi-Schulpflicht mit dem Kin-
dergarten beginnt. Im Jahre 1983 besuchten etwa 2500000 Kinder, das
sind mehr als 60 % der entsprechenden Jahrgänge, einen Kindergarten.
In und nach der Schule unterliegen die Schüler einer strengen Kon-
trolle. Die Schulordnungen enthalten viele überflüssige Regeln, etwa
bezüglich der Haartracht, Hosen- und Rocklänge und Farbe der Socken.
Während der Schulzeit müssen die meisten Schüler und Schülerinnen
eine Schuluniform in Schwarz, Dunkelblau, Grau oder Dunkelgrün
tragen, wozu vor allem für die männlichen Schüler noch eine Schirm-
mütze gehört. An dem Abzeichen am Kragen, an den Knöpfen der
Uniform sowie an der Mütze kann man sofort erkennen, zu welcher
Schule der Jugendliche gehört. Deshalb bewahren deviante Jugend-
liche ihre Alltagskleidung, also Pullover und Jeans, in Schließfächern
am Bahnhof auf. Nach der Schule ziehen sie sich um, bevor sie in den
Vergnügungsvierteln herumbummeln. Dies bedeutet für die Schüler
eine Verfehlung, die durch polizeiliche Führung geahndet wird. In
ganz Japan gibt es etwa 2 500 Führungsgremien, in denen Polizei und
SClilile zusammenarbeiten. EtWa 40000 Schulen sind solchen Gremien
beigetreten.
In letzter Zeit wird viel über Gewalttaten, insbesondere gegen Leh-
rer, berichtet. Ihre absolute ,Zahl ist an sich sehr gering; es ist jedoch
eine erhebliche Zunahme festzustellen, die m. E. eine Reaktion bzw.
einen Widerstand gegen allzu strenge Kontrolle innerhalb und außer-
halb der Schule darstellt. Paradoxerweise zeigen gerade diese Gewalt-
taten die Existenz einer wirksamen Sozialkontrolle innerhalb der
Schulgemeinschaft.

ATbeitswelt: In der Tatsache, daß der Betrieb, zu dem der einzelne


gehört, eine Kontrollfunktion ausübt, manifestiert sich eine eigentüm-
liche Seite des gesellschaftlichen Lebens der Japaner. Die Loyalität
und das Zugehörigkeitsgefühl zu ihrer Firma oder Fabrik wirken sich
verbrechensverhütend aus, weil man den Verlust seiner Stellung für
den Fall befürchtet, daß man wegen einer Straftat oder eines sonstigen
sozial mißbilligten Verhaltens polizeilich festgenommen und in den
Informelle Sozialkontrolle in Japan 1169

Massenkommunikationsmitteln bloßgestellt wird. Zur Bekämpfung der


Jugendkriminalität gibt es in den Betrieben etwa 1100 Verbindungs-
und Beratungsgremien der Polizei, die sich um Auffälligkeiten unter
den jungen Arbeitern und Angestellten kümmern. Dieser Einrichtung
sind bis heute etwa 36000 Betriebe beigetreten!7, die untereinander
Informationen über Jugendprobleme austauschen und ständig mitein-
ander in Kontakt stehen, um so den Verfehlungen junger Betriebs-
angehöriger vorzubeugen.
Die informelle Sozialkontrolle in der Arbeitswelt funktioniert auch
bei Erwachsenen als Präventionsmechanismus, da die meisten J apaner
bis zur Pension in dem Betrieb bleiben, in dem sie angefangen haben.
So fühlen sie sich ihrem Unternehmen stark verbunden. Wenn jemand
eine sozial mißbilligte Handlung begeht und die Presse darüber be-
richtet, wird nicht nur der Täter, sondern auch sein Betrieb heftigen
Vorwürfen ausgesetzt und stark stigmatisiert. Der Täter verliert seine
Stelle und auch seine Ansprüche auf Pension und Abfindung. Heute
ist es üblich, nach der Pensionierung durch Vermittlung des Betriebes
in eine andere Stelle zu wechseln. Durch die hierarchische Bindung
innerhalb des Betriebes und der Gruppe findet eine wirksame Sozial-
kontrolle gegenüber dem einzelnen statt28 • Gegenüber demjenigen, der
auf Status, Beruf und Gruppenzugehörigkeit keinen Wert legt, funk-
tioniert die informelle Sozialkontrolle durch die Arbeitswelt allerdings
nicht. Umgekehrt wirkt sich die informelle Sozialkontrolle in gewissen
Gruppen, z. B. unter den Mitgliedern des organisierten Verbrechens,
kriminalitätsfördernd aus. Aber auch bei Firmenangestellten kann die
Gruppentreue kriminalitätsfördernd sein, wenn ihnen die Gruppen-
normen wichtiger sind als die staatlichen Gesetze. Dieser Konflikt
zwischen den Rechtsnormen und der Gruppentreue spielt bei Steuer-
delikten, Bestechung und bei verschiedenen anderen Formen der
Weiße-Kragen-Kriminalität eine Rolle2u•

Exkurs: Japanische Rechtsgebräuche und japanische Sprachei.

Auch heute noch besteht bei Japanern die traditionelle Neigung,


private Streitigkeiten eher privat als vor einer formellen Instanz, z. B.

21 Keisatsu hakusho (Anm. 24), 1983, S. 131.


28 Zur psycho-sozialen Analyse der japanischen Gesellschaft vgl. Kühne/
Miyazawa (Anm.1), S.91; siehe auch Miyazawa/Kühne (Anm.1), S.329; vgl.
auch Chie Nakane (Anm. 16), und Kenro Doi, The Anatomy of Dependence,
1973, und Dore (Hrsg.), Aspects of Social Change in Modern Japan, 1967.
2U Shibahara, Lockheed Payoff Scandal and Criminal Law in Japan, in: Tie-
demann (Hrsg.), Multinationale Unternehmen und Strafrecht, 1980, S.137.
30 Vortrag, gehalten auf einer Versammlung des Rotary Club in Münster
am 5. März 1976.

74 Festschritt für H.-H. Jescheck


1170 Koichi Miyazawa

einem Gericht auszutragen. Woher kommt diese japanische Mentalität?


Einen Schlüssel zur Entzifferung dieser eigenartigen Einstellung kann
man in der japanischen Sprache finden, in der sich das Rechtsbewußt-
sein der Japaner widerspiegeW1 • Die japanische Sprache ist eine Klas-
sen-Sprache und verfügt über besondere Ausdrucksweisen, die in frem-
den Sprachen kaum vorkommenS!. Als Beispiele nenne ich die beson-
dere Wendung der Personalpronomen und die Konjugation der Tätig-
keitswörter je nach dem Geschlecht und dem sozialen Status der Spre-
chenden. In der japanischen Sprache gibt es große Unterschiede zwi-
schen der männlichen und der weiblichen, der geschriebenen und der
gesprochenen Sprache.
In den europäischen Sprachen gibt es Personalpronomina für den
Redner und seinen Partner, wie z. B. I und you, ich und Sie bzw. du,
je und vous bzw. tu. In der japanischen Sprache unterscheidet man
diese Ausdrücke in sehr verschiedenartiger Weise je nach den mensch-
lichen Beziehungen zwischen Redner und Partner. So kann etwa das
Personalpronomen in der ersten Person lauten: watakushi (sehr for-
mell, männlich und weiblich), watashi (männlich und weiblich, etwas
informell, gegenüber einigermaßen befreundeten Personen), washi (nur
männlich, jedoch nur gegenüber intimsten Familienangehörigen, ins-
besondere gegenüber der traditionell ausgebildeten eigenen Frau),
boku (sehr allgemeiner männlicher Ausdruck, jedoch nur Kameraden
untereinander), ore (männlich, nur gegenüber intimen Freunden),
atashi (weiblich, gegenüber intimen Personen), atai (weiblich, Aus-
drucksform der Angehörigen der niedrigen sozialen Schichten). Wenn
man den deutschen Satz "Ich mache es" richtig ins Japanische über-
setzen will, muß man wie folgt formulieren: "Watakushi ga itashimasu"
(die traditionell ausgebildete Hausfrau gegenüber ihrem Mann); "Ore
(washi) ga suruzo" (der Ehemann - in traditionellem Verständnis -
gegenüber seiner Frau); "Boku ga suruyo" (unter intimen Freunden);
"Watashi ga suruwa" (allgemeine weibliche Ausdrucksform); "Atai ga
suru" (weibliche Ausdrucksform der niedrigen Schichten).
Das Personalpronomen der 2. Person kann wie folgt ausgedrückt
werden: anata (allgemeiner Ausdruck der Männer und Frauen), kimi
(etwas intimer Ausdruck, nie gegenüber einer Person mit höherem
Status); omae (intimer Ausdruck des Ehemannes gegenüber der Ehe-
frau, jedoch nie der Frau gegenüber dem Mann), anta (intimer Aus-
druck unter Angehörigen niedriger sozialer Schichten). Der deutsche
Satz "Sie sind bzw. du bist reizend" lautet im Japanischen je nach dem
11 Suzuki, Japanese and the Japanese. Words in Culture, 1978. (Die deut-
sche Ausgabe ist in Vorbereitung: Suzuki, Eine verschlossene Sprache - Die
Welt des Japanischen, Suhrkamp Verlag.)
I! In der koreanischen Sprache gibt es die gleichen Ausdrucksformen.
Informelle Sozialkontrolle in Japan 1171

Zusammenhang "Anatatte sutekinakata ne" (weiblicher Ausdruck


gegenüber dem Ehemann oder einer nicht eng befreundeten Person),
"Kimiwa sutekina hitoda" (männlicher Ausdruck gegenüber der Freun-
din, Verlobten oder frisch verheirateten Ehefrau), "Omaewa sute-
kidayo" (männlicher Ausdruck gegenüber der drei bis vier Jahre ver-
heirateten Ehefrau)3a oder "Anta sutekijanai" (weiblicher Ausdruck,
niedrige Schicht).
Das Personalpronomen spielt bei uns eine große Rolle: In ihm
kommt oft die menschliche Beziehung zwischen Redner und Gesprächs-
partner genau zum Ausdruck. J apaner sagen gerne "meue" und
"meshita". Me heißt "Augen", "ue" bedeutet oben, "shita" bedeutet
unten. "Meue" bezeichnet also bei wörtlicher übersetzung eine Person,
die höher steht als die Augenhöhe des Redners, d. h. eine dem Redner
gegenüber höheren sozialen Status genießende Person. "Meshita" ist
umgekehrt eine Person, die niedriger als in Augenhöhe des Redners
steht, also einen niedrigeren Sozialstatus als der Redner hat. Nach
unserem Sprachgebrauch darf "meshita" nie den "meue" gegenüber
das Personalpronomen "Sie" verwenden, geschweige denn "Du". Ein
deutscher Student kann beispielsweise sagen "Herr Professor, darf ich
Sie nach dem Seminar in Ihrem Büro besuchen?" oder "Herr Professor,
wir wollen nach dem Seminar gemeinsam essen; wollen Sie mitkom-
men?" So darf sein japanischer Kollege gegenüber einem japanischen
Professor nicht sprechen. Unser Student formuliert sehr sorgfältig
wie folgt: "Sensei, semi no atode oheya ni itte yoidesuka" (wörtlich
übersetzt: "Herr Lehrer, möchte höflichst bitten, nach dem Seminar
zum Zimmer zu kommen"). Der japanische Student redet also den
Lehrer ohne "ich" an und sagt statt "zu Ihrem Zimmer" bloß "zu Zim-
mer". Das Possessivpronomen "Ihr" darf meshita gegenüber meue nie
benutzen.
Im anderen Beispiel sagt der japanische Student "Sensei, minade
semi no atode shokujioshimasu, irasshaimasenka" (wörtlich übersetzt:
"Herr Lehrer, alle werden nach dem Seminar gemeinsam essen; kom-
men Herr Lehrer mit?"); der "meshita", d. h. der Student, redet den
Lehrer also ohne Personalpronomen an und nicht mit "Sie", sondern
mit "Herr Lehrer", und als Höflichkeitsformel benutzt er nicht
"kommt", sondern "kommen". Wenn der Professor einem Studenten
gegenüber den oben deutsch formulierten Satz spricht, sagt er wie
folgt: "Semi no atode watashi no heyani kinasai" (wörtlich übersetzt:
"Nach dem Seminar kommst Du zu meinem Zimmer") bzw. "Semi no
atode minade isshoni shokuji 0 shinaika, kimitachi konaika" (wörtlich
übersetzt: "Gehen alle zusammen nach dem Seminar zum Essen, kommt

Ja Später pflegen die japanischen Männer so etwas nicht mehr zu sagen.

74·
1172 Koichi Miyazawa

Ihr mit?"). Der Lehrer benutzt die Wörter "meinem Zimmer" bzw.
"kommt Ihr", denn der meue kann dem meshita gegenüber das Per-
sonalpronomen ohne weiteres gebrauchen. Entsprechende Sprachge-
bräuche finden sich auch bei der Konjugation der Verben je nach dem
Sozialstatus und dem Geschlecht des Redners. Der japanische Leser
eines Romans weiß deshalb beispielsweise sofort, ob der Redner männ-
lich oder weiblich ist, wenn er die Ausdrucksweise der Verben und
das Personalpronomen der 1. Person sieht.
Wir können die japanische Mentalität, die sich in den Sprachgebräu-
chen genau widerspiegelt, wie folgt umschreiben: Wenn ein J apaner
seinen Willen äußern will, versucht er zuerst zu erkennen, wer der-
jenige ist, der vor ihm steht. Dann wählt er die traditionsgemäß zu
dem sozialen Statusverhältnis zwischen ihm und dem anderen passende
Ausdrucksform, d. h. die seiner Klasse entsprechende Sprache. Er
unterwirft sich also immer den sprachlichen Riten. Anders als im
angloamerikanischen und europäischen Sprachraum muß man sich in
der japanischen Sprache diesen sprachlichen Gesetzen unterwerfen.
Wählt man unpassende Ausdrücke und will man seine Ansicht gar mit
frecher Haltung geltend machen, dann wird dies zwar bestimmt mit
leichtem Lächeln aufgenommen; letztlich wird der Betreffende aber
aus der sozialen Gruppe ausgeschlossen. Da niemand versuchen darf,
eine Individualität durchzusetzen, müssen Japaner sehr vorsichtig sein,
wenn sie individualisierende Meinungen vor Fremden oder vor Per-
sonen, die "meue" sind, äußern. Deshalb kann sich der Individualis-
mus im eigentlichen Sinne nur schwer eine feste Basis im japanischen
Gesellschaftsleben schaffen. Einstellungen zu Gewissensfragen, die
allzu deutlich den Konventionen der "meue"-Klassen widersprechen,
kann man kaum äußern, ohne daß man als unhöflicher, frecher Kerl
stigmatisiert wird.
Zu unserem Rechtsleben ist noch von weiteren unserem Volk eigen-
tümlichen Verhaltensweisen zu berichten. Gustav Radbruch hat in sei-
ner "Vorschule der Rechtsphilosophie" die deutsche und die englische
Rechtsmentalität mit konkreten Beispielen vergleichend dargestellt:
"Auf jeden ästhetisch fühlenden Menschen haben bei der Würdigung
juristischer Erkenntnisse auch ästhetische Werte Einfluß: Werte der
Symmetrie in der Systematik, bevorzugte und minder beliebte Zahlen
der Einteilungen, Verschmähung von Zickzacklinien und Bevorzugung
bruchloser Kurven bei der Darstellung historischer und logischer Ent-
wicklungen. Solche ästhetische Wirkung kann zur Gefahr werden, wie
an dem Gegensatz deutschen und englischen Denkens gezeigt sein
möge. Das englische Denken verwirft, wie im Recht so auch in der
Politik, weit vorausschauende Planung, es wartet die Entwicklung der
Dinge ab, um sich dann durch die Situation belehren zu lassen, und
Informelle Sozialkontrolle in Japan 1173

seine Stärke liegt darin, ohne Scheu vor dem Herumwerfen des Steu-
ers, vor dem unschönen Bilde eines Zickzackkurses, das jeweils Not-
wendige zu tun. Demgegenüber ist der Deutsche geneigt, wenn der
erste Westenknopf falsch zugeknöpft ist, auch den zweiten, dritten und
letzten im selben Sinne weiter zu knöpfen, die einmal gewählte Linie
stur festzuhalten, nicht nur aus Folgerichtigkeit, sondern auch aus
ästhetischem Bedürfnis nach der geschwungenen Kurve und der un-
gebrochenen Linie. Aber Eleganz der Lösung ist allzu oft nur ein sehr
trügerisches Symptom für ihre RichtigkeitM."
Ich möchte dieses Gleichnis der Westenknöpfe für den Fall Japans
fortführen. Sie kennen das Wort "kimono". Der Kimono ist eine tra-
ditionelle Männer- und Damenkleidung. Er hat keine Knöpfe; statt
dessen trägt man einen Gürtel. Man kann bei diesem Kleidungsstück
also je nach Umfang des Bauches oder der Brust die Seiten übereinander-
schlagen und die Weite mit dem Gürtel regulieren. Für Japaner er-
scheint diese flexible Lösung sehr angenehm; der ästhetische Gesichts-
punkt wird von der gesamten Gestalt her beurteilt, nicht von den
einzelnen Punkten. Formlose Form entspricht unserem Sinn am besten.
Wir J apaner sprechen wenig und möchten immer viele Spielräume
übriglassen. Im Vergleich mit einem europäischen Ölbild zeichnet
unser Pinselmaler sehr wenig und läßt auf dem Papier viele weiße
Stellen frei. Im Gespräch und in der Sprache findet sich dasselbe
Phänomen: Wir müssen zwischen den Zeilen lesen, in den Gesichts-
zügen des Gegenübers erkennen, was er wünscht und was nicht.

Schlußbemerkungen

Wie ich anhand von Beispielen erläutert habe, spielt die informelle,
aber tatsächlich wirksame Sozialkontrolle in Japan eine große Rolle.
Die Bevölkerung richtet sich lieber nach ihr als nach den formellen
Gesetzen. Untersucht man die Praxis und die tatsächliche Vorgehens-
weise der Instanzen der formellen Sozialkontrolle genauer, so läßt sich
feststellen, daß die staatlichen Systeme der Verbrechenskontrolle in
Japan auf das Funktionieren der informellen Sozialkontrolle ver-
trauen. Folgende Daten veranschaulichen diese Behauptung: Auf einen
japanischen Polizisten kommen durchschnittlich etwa 550 Einwohner,
auf seinen amerikanischen Kollegen kommen 363, auf seinen bundes-
deutschen 317 und auf seinen französischen Kollegen 280 Einwohner.
Japan l;1at etwa 120 Millionen Einwohner, jedoch nur 2800 Richter,
2 000 Staatsanwälte und etwas mehr als 12 500 Rechtsanwälte. Wir
haben nur 900 berufsmäßige Bewährungshelfer, während 50 000 Frei-

" Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Auft. 1959, S. 88 f.


1174 Koichi Miyazawa

willige als ehrenamtliche Bewährungshelfer arbeiten3s • Unter diesen


Umständen muß das Funktionieren der informellen Sozialkontrolle
vorausgesetzt werden.
"Die Vergleichsarbeit schafft Gegengewichte gegen die überschät-
zung der eigenen Dogmatik und ihrer Begriffswelt, sie weckt das Ver-
ständnis für Schwerpunkte, die anderswo im Vordergrund stehen3s ."
Dieser Satz steht fast am Ende der anfangs zitierten Antrittsvorlesung
aus dem Jahre 1955. Im Jahre 1965 habe ich damit begonnen, die deut-
sche Strafrechtswissenschaft, die deutsche Strafgesetzgebung und die
deutsche Rechtsprechung zu dokumentieren und systematisch zu stu-
dieren17 • In Japan findet man allzu oft Auffassungen, die die auslän-
dische Rechtslehre ohne genaue vergleichende Betrachtung ohne wei-
teres als "herrschend" überschätzen oder die umgekehrt versuchen,
eine Modernisierung des Strafrechts durch Reformen zu verhindern,
ohne Strömungen im Ausland zur Kenntnis zu nehmen. Bei meiner
mühsamen Arbeit denke ich oft an den Satz des Jubilars als mein
Leitmotiv.
Neben dieser Arbeit versuche ich, meinen ausländischen Kollegen,
die der japanischen Sprache nicht mächtig sind, an konkreten Beispie-
len zu zeigen, wie Strafrecht und Verbrechenskontrolle in einer Rechts-
ordnung mit völlig anderen Rechtstraditionen funktionieren, wie das
Strafrecht bei der Lösung von Konflikten angewandt wird und welche
anderen sozialen Kontrollinstanzen bei der Verbrechensbekämpfung
eine Rolle spielen. Mit diesem meinem Vorhaben möchte ich meinem
Lieblingssatz aus dem Vortrag des Jubilars entsprechen: Die Ver-
gleichsarbeit "gibt uns die Möglichkeit, gemeinsam mit dem Ausland
die Aufgaben in Angriff zu nehmen, die sich der internationalen Zu-
sammenarbeit auf dem Gebiet des Strafrechts stellen. Die Rechtsver-
gleichung ist eine Brücke zur Welt, ein Feld friedlichen Wettstreits
der Völker um das beste und menschlichste Strafrecht, eine Stätte des
Austausches"ls.

15 Miyazawa, Bewährungshilfe in Japan, in: Dünkel/Spieß (Hrsg.), Straf-


aussetzung zur Bewährung und Bewährungshilfe im internationalen Ver-
gleich, 1983, S. 319, 323.
11 Jescheck (Anm. 5), S. 44.
sr Miyazawa (Hrsg.), Der Gerichtssaal. Autorenverzeichnis, 1976; ders.
(Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft. Akademiker, 1978, 1. Ergänzung
1978, 2. - 1981, 3. - 1983, 4. - 1983, 5. Ergänzung in Vorbereitung; ders.
(Hrsg.), Aufsätzesammlung zum Strafrechtsvergleich Bd. 2, Schweizerische
Zeitschrift für Strafrecht. Autoren- und Sachverzeichnis, 1981.
38 Jescheck (Anm. 5), S. 44.
WOLF MIDDENDORFF

Claus Graf Schenk von Stauffenherg


Eine historisch-kriminologische Studie

I. Stauflenberg im Streit der Meinungen

Schillers Worte "Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt,


schwankt sein Charakterbild in der Geschichte" (Prolog zu "Wallen-
steins Lager") gelten auch für den Obersten i. G. Claus Philipp Maria
Graf Schenk von StaujJenberg, für seine politischen Ansichten, das
Attentat auf seinen Obersten Kriegsherrn Adolf Hitler und für den
Staatsstreich vom 20. Juli 1944, dessen Symbol Stauffenberg geworden
ist. Einig ist man sich jedoch in der Auffassung, daß Stauffenberg eine
überragende und außergewöhnliche Persönlichkeit war, der auch Geg-
ner ihren Respekt nicht versagten. Am Morgen des 21. 7.1944, nachdem
der Staatsstreich niedergeschlagen war, verspottete Goebbels die Ver-
schwörer und sagte anschließend: "Der Stauffenberg, allerdings, das
war ein Kerl! Um den ist es beinahe schade. Welche Kaltblütigkeit!
Welche Intelligenz, welch eiserner Wille! Unbegreiflich, daß er sich mit
dieser Garde von Trotteln umgab!1"
Die Auseinandersetzungen um Stauffenberg werden nicht zuletzt
deshalb so erbittert geführt, weil hinter ihnen Probleme grundsätz-
licher Art stehen wie beispielsweise das, ob der Fahneneid, den alle
Soldaten auf Hitler als den Obersten Befehlshaber der Wehrmacht ge-
leistet hatten, unter allen Umständen verbindlich war. Bei Stauffen-
bergs Kontakten zur Vorbereitung des Staatsstreichs zeigte es sich, daß
viele Offiziere erst nach Hitlers Tod bereit waren, sich dem Widerstand
gegen das NS-Regime anzuschließen. Bezeichnend für diese Einstellung
war die Antwort des Generalfeldmarschalls von Rundstedt auf die
Frage, warum er sich nicht an dem Attentat gegen Hitler beteiligt
habe: "Ich bin kein Hundsfott, der seinen Eid bricht!."
Weiter war unter den Verschwörern umstritten, ob im Kampf gegen
das Dritte Reich auch das Mittel des Landesverrats eingesetzt werden

1 Zitiert bei Finker, Stauffenberg und der 20. Juli 1944, 1977, S. 344.
2 Zitiert bei Graf Schwerin von KTOsigk, Es geschah in Deutschland,
3. Aufl. 1952, S. 345.
1176 Wolf Middendorff

dürfe, durch das eventuell das Leben deutscher Soldaten gefährdet


werden könnte. Im Wilhelmstraßenprozeß in Nürnberg erläuterte der
Staatssekretär von Weizsäcker diese Problematik an einem Beispiel:
Wenn Hitler sich zu einem überfall auf die Schweiz entschlossen hätte,
wäre es nach von Weizsäckers Ansicht moralisch erlaubt und geboten
gewesen, dieses Land zu warnen, um den Angriff durch die Reaktion
der Weltöffentlichkeit zu verhüten. Die Mitteilung des genauen An-
griffsdatums an die Schweiz wäre hingegen nach von Weizsäckers An-
sicht verwerflicher Landesverrat gewesen, da sie unmittelbar den Tod
deutscher Soldaten verursacht hätte. "Stauffenberg lehnte Landesver-
rat und Sabotage ab 3 ."
Ob überhaupt Widerstand gegen einen Staat und ein Regime ge-
leistet werden darf oder geleistet werden muß, ob als letztes Mittel ein
Tyrann ermordet werden darf, ist eine Frage, die so alt ist, wie die
Menschheit Formen der Tyrannis kennt. Die zwiespältige Beurteilung
des Tyrannenmordes hat kaum jemand besser ausgedrückt als LamaT-
tine, der über Charlotte Corday, die 1793 Jean Paul Marat ermordet
hatte, schrieb: "Wenn wir für diese erhabene FreiheitsheIdin und hoch-
herzige Tyrannenmörderin einen Namen finden wollten, der die ge-
rechte Bewunderung mit dem ernsten Urteil über ihr Vorgehen ver-
bindet, würden wir sie den Engel des Mordes nennen und in einem
Worte Bewunderung und Schauder vereinen4 ." In der neu esten Auflage
des Staatslexikons schließt der Abschnitt über den Tyrannenmord mit
dem Satz: "Das Problem des Tyrannenmordes lösten weder Vergangen-
heit noch Gegenwart, jede Antwort überschattet menschliche Tragik5 ."
In seinen frühen Jahren erkannte Hitler ein Widerstandsrecht mit
den Worten an: "Staatsautorität als Selbstzweck kann es nicht geben,
da in diesem Falle jede Tyrannei auf dieser Welt unangreifbar und
geheiligt wäre. Wenn durch die Hilfsmittel der Regierungsgewalt ein
Volkstum dem Untergang entgegengeführt wird, dann ist die Rebellion
eines jeden Angehörigen eines solchen Volkes nicht nur Recht, sondern
Pflicht, die Frage aber, wann ein solcher Fall gegeben sei, wird nicht
entschieden durch theoretische Abhandlungen, sondern durch die Ge-
walt und - den Erfolg ... Menschenrecht bricht Staatsrechts."
Man kann Widerstandsrecht und Tyrannenmord auch in Verbindung
mit jener uralten Tradition sehen, in der Menschen immer schon das

3 Graf Schwerin von Krosigk (Anm. 2), S. 346.


4 Zitiert bei Alberty, Königs- und Präsidentenmörder, Dissertation, Mün-
chen 1942, S. 20.
& 7. Bd., 1962, Spalte 1104; siehe auch Schorn, Das Widerstandsrecht in sitt-
licher und rechtlicher Beleuchtung, Das Parlament, 28. 1. 1953.
S Mein Kampf, IV. Auf!. 1930, S. 104 - 105.
Claus Graf Schenk von Stauffenberg 1177

echte oder vermeintliche Recht in die eigene Hand genommen haben,


wenn die Ehre es ihnen gebot, sie das Recht auf andere Weise nicht
erlangen konnten oder an die Gerechtigkeit der Justiz nicht zu glauben
vermochten. In diesem Zusammenhang können nur Stichworte genannt
werden: Duell - Fehde - Blutrache - Veme - Fememorde und
Lynchjustiz7 •
Den Verschwörern des 20. Juli war die Problematik des Tyrannen-
mordes bewußt. Stauffenberg suchte den Bischof von Berlin, Conrad
Graf Preysing, auf, und das Gespräch kam schon bald auf die Frage
der Notwendigkeit eines Umsturzes und der Rechtfertigung des Tyran-
nenmordes. Bischof Graf Preysing berichtete später Stauffenbergs
Mutter, er habe bei dieser Begegnung ihrem Sohn nicht den Segen der
Kirche, aber seinen eigenen priesterlichen Segen erteilen können8 •
Der an der Verschwörung beteiligte Major Freiherr von Leonrod
sagte vor dem Volksgerichtshof aus, er habe vor der Teilnahme an der
Verschwörung seinen Beichtvater um Rat gebeten; dieser habe geant-
wortet, unter manchen Umständen sei Tyrannenmord keine Sünde.
Der Geistliche, Kaplan Wehrle aus München, wurde sofort vor das Ge-
richt geholt, zum Tode verurteilt und am 14.9.1944 hingerichtet'.
Auch später, nach dem 20. Juli, beriefen sich Attentäter auf ein Recht
zum Tyrannenmord; der wegen eines Attentats auf Staatspräsident
de GauBe - die Vorbereitungen des Anschlages standen unter dem
Codewort "Charlotte Corday" - 1962 vor einem Militärsondergericht
stehende Oberstleutnant der Luftwaffe Bastien-Thiry verglich de
Gaulle mit Hitler und sich selbst mit Stauffenberg. Er sagte aus, er
habe aus religiöser überzeugung gehandelt: "Ich bin dazu erzogen wor-
den, gegen die Unterdrückung aufzustehen. In manchen Perioden der
Geschichte haben die Kirchenführer die Christen aufgerufen, sich mit
allen Kräften gegen die Tyrannen zu erheben." Die Verteidiger Bastien-
Thirys versicherten, er habe vor seinem Attentat hervorragende Kir-
chenmitglieder zu Rate gezogen. Die Pressestelle der französischen
Bischöfe sah sich nach der Veröffentlichung der Aussage Bastien-
Thirys zur Herausgabe eines Kommuniques veranlaßt, in dem zum
Problem des Tyrannenmordes keine klare Stellung bezogen wurde.
Einer der Mittäter Bastien-Thirys hatte seinem Beichtvater das ge-
plante Attentat offenbart, und dieser hatte ihm geantwortet: "Friede
sei mit Dir, mein Sohn, und viel GlückiD."

7 Middendorff, Kriminologie der Tötungsdelikte, 1984, S. 124 ff.


8 Müller, Oberst i. G. Stauffenberg, 1970, S. 391 - 392.
9 Zeller, Geist der Freiheit, 5. Auft. 1965, S. 283.
10 Plume und Demaret, Target: de Gaulle, 1976, S. 255.
1178 Wolf Middendorff

Es ist eine alte kriminologische Erfahrung, daß Menschen, die - sei


es aus einem noch so ehrenwerten Motiv heraus - Blut vergossen
haben, in eine zwiespältige Lage geraten. So zeigte Hans von Hentig,
daß der von der Anklage des Mordes Freigesprochene nicht "wirklich
freigesprochen" istl1 • Generalmajor von Tresckow, einer der Köpfe der
Verschwörung, sagte, sie alle trügen das "KainsmaP2".
Albert Camus hat in seinem Schauspiel "Die Gerechten" in bezug auf
die Attentate russischer Anarchisten dieses Problem dadurch zu lösen
versucht, daß der Mörder freudig sein eigenes Leben als Sühne an-
bietet, da er seine Tat nicht bereuen kann. Stauffenberg hat man den
Vorwurf gemacht, daß er sich als Sühne für seine Tat nicht selbst ge-
opfert habe, er war jedoch für die spätere Durchführung des Staats-
streichs unersetzlich.

ll. Stauftenberg und die Forschung

Es ist kein Wunder, daß über Stauffenberg und den 20. Juli Arbeiten
erschienen sind, die sich stark voneinander unterscheiden. Eberhard
Zellers Buch erinnert an ein Heldenepos und eine Heiligenlegende.
Zeller wehrt jede Kritik mit dem Hinweis auf "betrachtungsbeflissene
Historiker" abU. Hans Bernd Gisevius läßt Ressentiments gegen Stauf-
fenberg erkennen, er fühlte sich mehr zu den "Polizisten", dem Polizei-
präsidenten von Berlin Graf von Helldorf und Reichskriminaldirektor
Nebe hingezogena. Die umfassendste Darstellung der gesamten Wider-
standsbewegung hat Peter Hotfmann geschrieben, und er übt auch vor-
!~~~i&e Kritik15 • Kurt Finker reklamiert Stauffenberg für die DDRI8 •
Der Schweizer Historiker Christian Müller hat mit jenem von der
amerikanischen Historikerin Barbara Tuchman geforderten Abstand17
des neutralen Beobachters die wohl beste Biographie Stauffenbergs
verfaßtl8 •
Es ist überhaupt ein Zeichen unserer Zeit, daß Historiker sich wieder
mehr der Biographie zuwenden im Sinne eines Wortes des englischen
Poeten Pope, das Goethe sich zu eigen gemacht hatte und das der So-
ziologe Max Graf zu Solms als Motto für seine Forschungen aufgriff:

11 Probleme des Freispruchs beim Morde, 1957.


1! ZeZZer (Anm. 9), S. 484.
13 (Anm. 9), S. 365.

l' Gisevius, Wo ist Nebe?, 1966.


15 Widerstand, Staatsstreich, Attentat, 3. Auft. 1979.
18 (Anm.l).

17 Tuchman, In Geschichte denken, 1984, S. 103.


18 CAnm.8).
Claus Graf Schenk von Stauffenberg 1179

"Das eigentliche Studium der Menschheit ist der Menschle." Gerhard


Ritter warnte in seiner Biographie earl Goerdelers, jeder Biograph sei
in Versuchung, die persönliche Leistung und Bedeutung seines Helden
zu überschätzen".
Auch in der Kriminologie nimmt das Biographische, die Erforschung
der Täterpersönlichkeit, einen breiten Raum ein!1. Der Kriminologe
geht bei seiner Arbeit zunächst formal von der Feststellung aus, daß
ein "crimen", d. h. ein Verstoß gegen die in dem betreffenden Land
geltenden Strafgesetze, vorliegt, wie z. B. Hochverrat, Totschlag oder
Mord. In den Begriff "crimen" ethische, moralische oder ideologische
Wertungen aufzunehmen, würde in vielen Fällen wissenschaftliche
Untersuchungen unmöglich machen. Was beispielsweise für die Araber
"Freiheitskämpfer" sind, sind in den Augen der Israelis "Terroristen"
- und umgekehrt. Eine andere Frage ist es, ob die anfängliche Wer-
tung als "crimen" später korrigiert wird. Die rechtliche Beurteilung
durch die Gerichte oder die geschichtliche Würdigung mögen später zu
anderen Ergebnissen kommen und z. B. zum Freispruch wegen Vor-
liegens eines Notstandes oder wegen sonst fehlender Schuld führen.
Historiker und Kriminologen treffen sich im Interesse an politischen
Morden, an Staatsstreichen und Revolutionen. Was heute als Verbre-
chen zunächst den Kriminologen interessiert, ist vielleicht morgen, nach
gelungenem Umsturz, als Geschichte für den Historiker bevorzugter
Gegenstand der Forschung, und was heute noch allein Historie ist, mag
morgen nach einer Revolution zum Verbrechen gestempelt werden.
Die Methoden beider Wissenschaften beim Studium der Persönlich-
keit des Menschen sind die gleichen, es verbindet sie das Verstehen;
frühere Historiker wie J ohann Gustav Droysen haben den Akt des
Verstehens "als grundlegenden Akt der Begegnung des Menschen mit
dem Menschen" aufgefaß~!. Auch heute noch ist das "forschende Ver-
stehen ein unverzichtbares Element historischer Forschung"23.
Das Verstehen des Kriminologen wurde von Franz Exner als Erfas-
sen der Sinnzusammenhänge definiert. "Ich verstehe ein Verbrechen,
wenn ich den Sinn erfasse, den die Tat im Zuge des Denkens, Fühlens
und Wollens des Täters erfüllt, wenn ich die seelischen Zustände und

18 Max Graf zu Solms, Ein Lebensgang, 1982, S. 356.


10 Ritter, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, 1955,
S.13.
Z1 Kaiser, Kriminologische Forschung in Deutschland und die empirischen
Untersuchungen am Max-Planck-Institut, ZStW 21 (1971), S. 1093 - 1130.
U Schieder, Einsichten in die Geschichte, 1980, S. 510.
U Mommsen, Die Geschichtswissenschaft in der modemen Industriegesell-
schaft, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 22 (1974), S. 1 - 17.
1180 Wolf Middendorff

Beweggründe, aus denen sie entsprungen ist, einfühlend erkenne24 ."


Heute wird das Verstehen ähnlich definiert25 •
Die Kriminologen haben aus den begreiflichen Gründen der Schwie-
rigkeiten der Definitionen, der wechselnden rechtlichen und histori-
schen Beurteilung und vielleicht auch der politischen Brisanz das Gebiet
des Attentats und des Staatsstreichs bisher kaum bearbeitet; Hans
Langemann hat in seinem grundlegenden Werk "Das Attentat" den
20. Juli 1944 nur im Anhang behandelt28 ; und auch von dieser Behand-
lung des Stoffes haben ihm damals warnende Stimmen abgeraten. Es
sei bedenklich, eine Subsumtion des 20. Juli unter den Begriff "crimen"
vorzunehmen. Heute, im Abstand von mehr als vierzig Jahren, besteht
jedoch kein Grund, diesem Thema auszuweichen, und in einem neuen
Versuch sollen Stauffenberg und der 20. Juli 1944 mit Hilfe der Metho-
den und Erfahrungen der Kriminologie ausgewertet werden, und zwar
nach den formalen Kriterien Tat, Täter und Opfer.

m. Das Attentat

Der Sprengstoffanschlag - über seine Geschichte hat Langemann


berichtet!7 - hat für den (oder die) Täter den Vorteil, daß er die un-
mittelbare Konfrontation mit seinem Opfer vermeiden kann und aus
der Distanz tötet, in der die normale Tötungshemmung weniger wirk-
sam wird als in der unmittelbaren Gegenwart des Opfers28 • Auf der
anderen Seite läßt sich beim Gebrauch von Sprengstoff die Wirkung
nur schwer oder überhaupt nicht begrenzen, so daß Unbeteiligte be-
troffen sein können und es oft auch sind. Ein Nachteil für den Täter ist
es;-daß er häufig eine kurzfristige Änderung des Zeitplans durch das
Opfer beim Sprengstoffattentat nicht mehr berücksichtigen kann. Es ist
auch möglich, daß bei Sprengstoffexplosionen das eigentliche Opfer,
auf das der Anschlag zielt, überlebt, während Personen, die in einiger
Entfernung vom Explosionsherd stehen, getötet werden2u • Einige Bei-
spiele von Sprengstoffattentaten seien erwähnt. Als Napoleon I. noch
Erster Konsul war, fuhr er am Weihnachtsabend des Jahres 1800 durch
die Rue Saint-Ni.;:aise in Paris. Die Straße war durch einen kleinen
Karren blockiert; nachdem dieser aus dem Wege geräumt und Napo-
leon schon weitergefahren war, erfolgte eine Explosion. Zahlreiche

u Kriminalbiologie, 2. Aufl. 1944, S. 16.


25 MiddendortJ, Historische Kriminologie, in: Schneider (Hrsg.), Die Psy-
chologie des 20. Jahrhunderts, Bd. XIV, 1981, S.172 -173.
28 1956.
!7 (Anm. 26), S. 272 ff.

28 Böhme (Hrsg.), Terrorismus und Freiheit, 1978, S. 34 ff.

!8 HotJmann (Anm. 15), S. 506.


Claus Graf Schenk von Stauffenberg 1181

Opfer wurden getötet oder verletzt, 46 Häuser wurden zerstört. In dem


Karren hatte ein Faß gelegen, das mit Sprengstoff gefüllt war.
Russische Anarchisten bereiteten in St. Petersburg eine Sprengung
des Winterpalais während eines Familiendiners am 17.2.1880 vor, bei
dem der Prinz von Hessen zu Gast sein sollte. Da dessen Zug eine
halbe Stunde Verspätung hatte, war der Speisesaal noch leer, als die
Explosion erfolgte, bei der 11 Personen getötet und 44 verwundet wur-
den. Der Zar und seine Familie blieben unverletzt.
Am 8.11.1939 explodierte um 21.20 Uhr im Bürgerbräukeller in
München anläßlich der Gedenkfeier der NSDAP an den Putsch vom
9.11. 1923 eine Höllenmaschine. 7 Personen waren tot, 63 verletzt. Hit-
ler, dem der Anschlag galt, hatte entgegen der bisherigen übung nur
kurz gesprochen und 18 Minuten zuvor den Saal verlassen.
Am 13. 3. 1943 explodierte nach Hitlers Besuch bei der Heeresgruppe
Mitte eine in sein Flugzeug eingeschmuggelte Bombe nicht, wahr-
scheinlich, weil zu jenem Zeitpunkt die Kälte zu groß war30 •
Am 9. 10. 1983 verübten zwei nordkoreanische Offiziere einen Spreng-
stoffanschlag auf den Präsidenten von Südkorea, Tschon Doo Hwan,
der sich in Rangun, Birma aufhielt. 21 Menschen, darunter vier korea-
nische Minister, wurden getötet, der Präsident blieb unverletzt, weil
er einige Minuten zu spät zur Kranzniederlegung am Heldenmauso-
leum eingetroffen war.
Stauffenberg entschloß sich zum Distanz-Sprengstoffattentat, weil er
trotz eigener erheblicher Bedenken "Generalstabschef" und zugleich
"Stoßtruppführer" des Staatsstreichs sein mußteS1 ; er hatte niemanden
gefunden, der sich für ein Pistolenattentat bereit erklärt hatte und der
die Möglichkeit gehabt hätte, in die unmittelbare Nähe Hitlers zu
gelangen. Zwei weitere Gründe sprachen gegen ein Schußwaffenatten-
tat; Oberst i. G. Freiherr von Gersdorff, der selbst einmal ein Spreng-
stoffattentat auf Hitler versucht hatte, hatte erfahren, daß Hitler an
allen lebenswichtigen Stellen seines Körpers gegen Pistolenmunition
geschützt sei. von Gersdorff hatte sich selbst einmal davon überzeugen
können, daß Hitlers Mütze Stahleinlagen enthielt. Die besten Pistolen-
schützen unter den Verschwörern konnten nicht garantieren, das übrig-
bleibende Gesichtsfeld mit absoluter Sicherheit so zu treffen, daß Hitler
getötet worden wäre32• Der Kriminologe kann von einer Reihe von Bei-
spielen berichten, daß Attentäter trotz nächster Nähe zum Opfer ihr

30 Hoffmann (Arun. 15), S. 353.


31 Zeller (Anm. 9), S. 367.
S! Der Spiegel, 17, 1976.
1182 Wolf Middendorff

Ziel verfehlt haben. So hat der Jurastudent Oskar Becker am 14.7.1861


in Baden-Baden auf der Lichtentaler Allee auf den unbewacht vor ihm
gehenden König Wilhelm I. von Preußen zweimal geschossen und ihn
nur ganz leicht verletzt.
Der Grund für derartige Fehlschläge mag darin liegen, daß die
Attentäter trotz intensiver innerer und äußerer Vorbereitung auf ihre
Tat im letzten Augenblick doch sehr aufgeregt und unsicher waren
und vielleicht auch instinktiv vor dem Mord zurückschreckten. Der-
artige Hemmungen mögen um so stärker wirksam werden, wenn nicht
ein sonst im Leben gescheiterter Fanatiker, sondern ein untadeliger
Offizier seinem Staatschef gegenübersteht. Die Verschwörer hatten
deshalb geplant, bei einem Besuch Hitlers bei der Heeresgruppe Mitte
Hitler während des Essens zu mehreren zugleich zu erschießen, "aber
Kluge (Generalfeldmarschall) war gegen diesen Plan und meinte, man
könne doch den Mann nicht einfach so beim Essen umbringen"ss.
Es ist eine alte kriminologische Erfahrung, daß Mittäterschaft -
mehr oder weniger - von persönlicher Verantwortung entlastet34, und
jeder Beteiligte kann sich und sein Gewissen damit beruhigen, daß er
sich sagt, er selbst habe vielleicht nicht getötet. Früher hat man aus
diesem Grunde das Gewehr von einem der Soldaten eines Exekutions-
kommandos mit einer Platzpatrone geladen; und bei einer Hinrichtung
auf dem elektrischen Stuhl in den USA betätigen bis heute mehrere
Vollzugsbeamte je einen Schalter, und jeder kann glauben, daß nicht
er den entscheidenden und todbringenden betätigt hat.
Am 11. 3. 1944 hatte sich der Ordonnanzoffizier des Generalfeldmar-
schalls Busch, Rittmeister von Breitenbuch, vorgenommen, während
des Lagevortrags bei Hitler diesen mit seiner Privatpistole zu erschie-
ßen, die Dienstpistole mußte vor dem Eintritt in den Lageraum abge-
legt werden. An diesem Tage wurden jedoch alle Ordonnanzoffiziere
vor dem Konferenzraum zurückgehalten und von der Besprechung aus-
geschlossen. Später hat von Breitenbuch niemals einen neuen Atten-
tatsversuch in Betracht gezogen, weil die seelische Belastung und
Nervenbeanspruchung so groß gewesen waren und er nicht glaubte, sie
noch einmal durchhalten zu können. "So etwas macht man nur ein-
malss ."
Stauffenberg versuchte es mehrfach. Am 11. 7.1944 nahm er an einer
Lagebesprechung im Führerhauptquartier in Berchtesgaden teil und
hatte den Sprengstoff mitgebracht. Er zündete die Sprengladung jedoch

SS HojJmann, Die Sicherheit des Diktators, 1975, S. 164.


ac Böhme (Anm. 28), S. 34.
31 HojJmann (Anm. 15), S. 407,409,310.
Claus Graf Schenk von Stauffenberg 1183

nicht, weil nach dem Willen mehrerer Generäle das Attentat nur bei
gleichzeitiger Anwesenheit von Himmler und Göring stattfinden sollte".
Am 15.7.1944 flog Stauffenberg mit seinem Chef, dem Befehlshaber
des Ersatzheeres Generaloberst Fromm, nach Rastenburg in das dorthin
verlegte Führerhauptquartier Wolfsschanze. Wieder hatte er den
Sprengstoff mitgenommen, zündete die Bombe aber nicht, sondern rief
seinen Freund, den Oberst i. G. Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim, in
Berlin an. Als Stauffenberg nach einer quälenden halben Stunde zum
Lageraum zurückkehrte, gab es für ihn keine Möglichkeit mehr, Hitler
zu erreichen.
über den Grund für dieses Telefongespräch gibt es verschiedene
Versionen. Vielleicht hatte Stauffenberg keine klare Weisung bezüg-
lich der Anwesenheit von Himmler und Göring oder einem von beiden
erhalten. Auch während Stauffenbergs Anruf mußte Mertz von Quirn-
heim anscheinend mehrfach rückfragen, und dadurch dauerte das Ge-
spräch viel zu lange. Auf der anderen Seite hatte Stauffenberg häufig
bewiesen, daß er auch ohne ausdrücklichen Befehl handeln konnte und
wollte, war er doch Seele, Motor und Mittelpunkt des militärischen
Armes der Verschwörung. Am Ende des Gesprächs, das Mertz von
Quirnheim seiner Frau am selben Tage berichtete, sagte Stauffenberg:
"Ali, Du weißt, daß es letztlich nur eine Angelegenheit zwischen Dir
und mir ist, was sagst Du?" Und der Freund habe geantwortet:
"TU'SS7!"
Es ist auch möglich, daß Stauffenberg, wie Generaloberst Beck ge-
äußert haben soll, den "Sprung verweigert" habe und nicht durch
äußere Umstände, sondern durch seine Nervosität nicht zum Zuge ge-
kommen sei38 •
MachiaveZli sagte einmal aus seinen Erfahrungen über die Erfolgs-
aussichten bei Verschwörungen: "Mag ein Mensch noch so kaltblütig
und noch so gewöhnt sein, andere umzubringen und die Waffen zu
handhaben, er wird bei einer solchen Gelegenheit (der Ausführung
eines Attentats) immer aus der Fassung geraten38 ." Stauffenberg hatte,
soweit wir wissen, nie eigenhändig getötet. HofJmann weist auf den
Widerspruch hin, daß die "Verschwörer, die Hitler den Tod wünschten,
ihn auch hätten umbringen können, wenn sie dazu psychisch fähig ge-
wesen wären"'o.

31 Hoffmann (Anm. 15), S. 469.


S7 Hoffmann (Anm. 15), S. 475.
38 Hoffmann (Anm. 15), S. 804.

11 Machiavelli, Gedanken über Politik und Staatsführung, 1941, S.157.


40 Hoffmann (Anm. 33), S. 249.
1184 Wolf Middendorff

Der mehrfache Anlauf zu einem Attentat bedeutete für den schwer


verwundeten und noch nicht wieder gesunden Stauffenberg eine kaum
vorstellbare Nervenbelastung. Der Chirurg Professor Sauerbruch, der
Stauffenberg behandelt hatte, hatte ihn gewarnt, seine Nerven könnten
versagen, da er noch für längere Zeit nicht im vollen Besitz seiner
Kräfte sein werde. Sauerbruch schlug ihm daher vor, sich zunächst ein
paar Wochen lang zu erholen, Stauffenberg lehnte dies jedoch abu.
Auch Stauffenbergs Mitverschwörer atto J ahn hatte den Eindruck, daß
Stauffenberg zuviel auf sich nahm, weil kein anderer es ihm gut genug
machte42 • Gerhard Ritter erklärt Stauffenbergs "verhängnisvolles Zö-
gern" damit, daß auch eine so entschlossene Soldatennatur "nicht gänz-
lich gefeit gegen jenes Versagen seelisch-geistiger Kräfte, das der
menschlichen Natur in entscheidenden Augenblicken so leicht zum Ver-
hängnis wird", sei'3. Vielleicht dachte Stauffenberg auch einen Augen-
blick an seine Frau, die ihr fünftes Kind erwartete.
Man kann die Auffassung vertreten, daß Stauffenbergs mißlungener
Versuch am 15. 7. 1944 die Peripetie in den Bemühungen der Verschwö-
rer darstellte. Die Truppenteile in und um Berlin waren an diesem
Tage frühzeitig alarmiert worden, was um so leichter möglich war, da
Fromm ins Führerhauptquartier geflogen war. Am 20.7.1944 kam dann
der Alarm viel zu spät, und Fromm war zudem in Berlin geblieben.
Nach den zahlreichen vergeblichen Attentatsversuchen hatte sich unter
den Verschwörern einerseits eine gewisse Resignation ausgebreitet,
andererseits aber hatte sich der Wille verstärkt, nun auf jeden Fall zu
handeln. Der Generalstabschef der Heeresgruppe Mitte, Generalmajor
von Tresckow, ließ Stauffenberg ausrichten: "Das Attentat muß erfol-
gen; toilte que coilte. Sollte es nicht gelingen, so muß trotzdem in Ber-
lin gehandelt werden, denn es kommt nicht mehr auf den praktischen
Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor
der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat.
Alles andere ist daneben gleichgültig"." von Gersdorff drückte densel-
ben Gedanken mit den Worten aus, die Ehre des deutschen Volkes
müsse wiederhergestellt werden; er bezog sich auf ein Wort des fran-
zösischen Königs Franz 1. nach der Schlacht von Pavia 1525: "Tout est
perdu hors l'honneur45 ."
Das Ergebnis des Attentats vom 20.7.1944 ist bekannt; Hitler blieb
fast unverletzt, andere Teilnehmer an der Lagebesprechung wurden

U HotJmann (Anm. 15), S. 463.


42 John, Zweimal kam ich heim, 1969, S. 153.
43 (Anm. 20), S. 399.
44 HotJmann (Anm. 15), S.462; siehe auch Scheurig, Henning von Tresckow,
1980.
45 Freiherr von GersdortJ, Soldat im Untergang, 1979, S. 149.
Claus Graf Schenk voIi Stauffenberg 1185

getötet oder verletzt. Hitler äußerte sich gegenüber dem Leiter der
Reichszentrale zur Bekämpfung der Kapitalverbrechen, dem Kriminal-
rat Wehner, der zu Ermittlungen in das Führerhauptquartier beordert
worden war: "Was sagen Sie zu dem Wunder, daß mir nichts passiert
ist? Ist es nicht ein Wunder46 ?" Diese Erklärung wurde auch bei der
Ansprache des Reichsmarschalls Göring an die Luftwaffe in der Nacht
vom 20. auf den 21. 7.1944 aufgenommen: "Der Führer wurde durch
die allmächtige Vorsehung wie durch ein Wunder gerettet."
Oben wurde schon ausgeführt, daß bei Sprengstoffattentaten der-
artige Mißerfolge sich im Rahmen der kriminologischen Erfahrungen
bewegen. Auch allgemein führen von allen mit den verschiedensten
Waffen geplanten, versuchten und durchgeführten Attentaten nur die
wenigsten zum Tode der gewollten Opfer. Die Dunkelziffer der unter-
lassenen und verhinderten Attentate ist wahrscheinlich groß.

IV. Die Persönlichkeit Stauffenbergs

Stauffenberg hat versucht, seinen Staatschef und Obersten Kriegs-


herrn, den Diktator Adolf Hitler, zu töten, d. h. er hat das getan, was
zahlreiche Attentäter in vielen Ländern vor ihm und nach ihm getan
haben. Es ist deshalb angebracht, einen Blick auf die Erkenntnisse der
Kriminologie über die Persönlichkeit von Attentätern zu werfen. Man
hat erhebliche Unterschiede zwischen den Attentätern festgestellt, die
ihren Anschlag allein ausführten, denjenigen, die im Komplott und in
der Gruppe gehandelt haben, und denjenigen, die im Zusammenhang
mit einem Staatsstreich getötet haben. Die Einzeltäter sind sehr häufig
Fanatiker; die für sie bezeichnenden Merkmale sind starker Wille und
schwache Intelligenz. Bei der Mehrheit der Fanatiker beginnt die
Entwicklung zum Attentäter mit Frustrationen, Mißerfolgen und be-
ruflichem Scheitern. Als Ausweg greifen sie in der Luft liegende Ideen
auf und vertreten sie mit Leidenschaft, ohne daß dahinter eine ge-
reifte, ausgewogene politische Überzeugung steht. Die meisten dieser
Attentäter sind sehr jung, das Alter um die 20 Jahre herum scheint
besonders "attentatsträchtig" zu sein. Die Berufssituation des Einzel-
täters ist eindeutig, sie ist selten oder nie in Ordnung; die meisten
Täter sind gescheiterte Existenzen und haben nur selten echte familiäre
Bindungen.
Demgegenüber zeigen die Gruppentäter einige Unterschiede: sie
rechtfertigten nach einer Untersuchung von R. Mindt und F. Kiener
zu 98 Prozent ihre Tat, nicht zuletzt deshalb, weil sie zu 85 Prozent aus
Minoritätengruppen stammten. Bezüglich ihrer Bildung und Intelligenz

4G Wehner, Dem Täter auf der Spur, 1983, S. 251.

75 Festschrift für H.-H. Jescheck


1186 Wolf Middendorff

standen sie überwiegend über dem Durchschnitt und fanden Bestäti-


gung und Betätigung in der Zusammengehörigkeit der konspirativen
Gruppe, insbesondere diejenigen, die in ihrer Berufslaufbahn geschei-
tert waren. Die Gruppentäter waren mehr besorgt um ihr eigenes
Leben und entkamen nach dem Attentat häufiger als die Einzeltäter47 •
Je näher ein Attentat an einen Putsch oder Staatsstreich heranreicht
und mit einem solchen verbunden ist, desto seltener finden sich in den
Biographien der Attentäter Auffälligkeiten. Nicht selten waren auch in
der Vergangenheit Offiziere und Angehörige des Adels in Verschwörer-
gruppen an politischen Morden und Staatsstreichen beteiligt. 1762
wurde Zar Peter IU. von einer Offiziersgruppe ermordet; durch seinen
Tod wurde Katharina die Große Alleinherrscherin. 1792 wurde der
schwedische König Gustav IU. im Zusammenhang mit einer Adelsver-
schwörung bei einem Maskenball durch einen Pistolenschuß des Haupt-
manns Anckarström tödlich verletzt. 1801 ermordeten Verschwörer den
geisteskranken Zaren Paul!., weil er nicht zur Abdankung bereit war.
Stauffenberg wollte Deutschland von Hitler und seinem Regime be-
freien, und er hatte Pläne für einen politischen Neuanfang. Sein Leben
und Wirken zeigt kaum eines der biographischen Merkmale, wie sie
Kriminologen für Attentäter ermittelt haben.
Stauffenberg wurde am 15.11. 1907 in Jettingen im bayerischen
Schwaben geboren. Sein Vater war Oberhofmarschall des letzten Kö-
nigs von Württemberg, seine Mutter eine Urenkelin des Feldmar-
schalls VOn Gneisenau. Stauffenberg hatte zwei ältere Brüder; er war
katholisch. Über sein Leben haben wir im wesentlichen nur die äuße-
ren Daten; sie sind, soweit nicht anders angegeben, der Biographie VOn
Christian Müller entnommen. Stauffenberg trat 1926 als Fahnenjunker
in die Reichswehr ein. Ein Foto, das Ende der zwanziger Jahre auf-
genommen wurde, zeigt, wie Claus Jürgen Frank im Zeit-Magazin 1974
schrieb, "einen jungen Mann, aus dessen Zügen Entschlossenheit,
Durchsetzvermögen, aber auch ein Anflug von Weichheit, von schwär-
merischer Begeisterungsfähigkeit herauszulesen sind". Die Offiziers-
prüfung bestand Stauffenberg als Jahrgangsbester der Kavallerie, und
er wurde am 1. 1. 1930 zum Leutnant befördert. Auf der Infanterie-
schule in Dresden lernte er Man/red von Brauchitsch kennen, der über
Stauffenberg schrieb: "Das hervorstechendste Merkmal an ihm waren
seine hervorragenden geistigen Fähigkeiten, sein geschliffener Ver-
stand. Während wir mit dem Unterrichtsstoff unsere Mühe hatten, be-
wältigte er ihn leicht, begann zusätzlich mit dem Erlernen der russi-
schen Sprache und widmete sich künstlerischer Betätigung. Stauffenberg

47 Nachweise bei Middendor[f, Attentat, in: SievertslSchneider (Hrsg.),


Handwörterbuch der Kriminologie, 2. Aufl., Bd. IV, 1979, S. 157 ff.
Cl aus Graf Schenkvon Stauffenberg 1187

war eher zum Wissenschaftler als zum Offizier geboren. Ist sein Ent-
schluß, Offizier zu werden, noch aus der Familientradition verständlich,
so fällt mir die Erklärung schwer, warum er auch später Offizier ge-
blieben ist. Ich kann es nur so verstehen, daß die Arbeit als General-
stabsoffizier, die er tat, mehr der wissenschaftlichen Tätigkeit nahe-
stand, während der er mit dem Handwerk des Tötenmüssens nicht
unmittelbar in Berührung kam48 ." In diesem Zusammenhang ist viel-
leicht an das Zögern am 15. Juli 1944 zu denken.
Am 1. 5.1933 wurde Stauffenberg Oberleutnant. Für die Wehrkreis-
prüfung unterzog er sich einer Militärdolmetscherprüfung in englischer
Sprache. Seine Leistungen wurden mit einem Preis belohnt, mit dem
er eine Reise nach England finanzierte. Am 1. 10. 1936 wurde Stauffen-
berg zur Generalstabsausbildung abkommandiert, man nannte ihn dort
unter den Kameraden den neuen Schlieffen. Am 1. 1. 1937 wurde
Stauffenberg Rittmeister.
Stauffenberg war gerne Soldat; bei Ausbruch des Zweiten Weltkrie-
ges äußerte er, der Krieg sei ja schließlich sein Handwerk von Jahr-
hunderten her49 • Den Einmarsch ins Sudetenland und den Polenfeldzug
machte er mit der 1. Leichten und späteren 6. Panzerdivision mit. Im
Westfeldzug war er I b der Division; seine Frau sagte 30 Jahre später
über seine Haltung zu dieser Zeit: "Wenn man mitten im Geschehen
steckt, wenn man Erfolge hat, ist es klar, daß man davon auch getra-
gen wird. Nur sobald er Zeit hatte, darüber nachzudenken, kam ihm
die Sache doch sehr unheimlich vor." Ende Mai 1940 wurde Stauffen-
berg in die Organisationsabteilung des Generalstabs des Heeres ver-
setzt. Im April 1941 wurde er Major und am 1.1. 1943 Oberstleutnant.
In diesem Jahr wurde er als I a zu einer Panzerdivision nach Tunis
versetzt und dort bei einem Tieffliegerangriff am 7.4.1943 schwer ver-
letzt. Er verlor ein Auge, die rechte Hand und die beiden letzten Fin-
ger der linken Hand. Zum 1. 10. 1943 wurde Stauffenberg Chef des
Stabes bei General Olbricht im Allgemeinen Heeresamt in Berlin, und
am 1. 7.1944 als Oberst Chef des Stabes beim Befehlshaber des Ersatz-
heeres.
In seinen Stabsstellungen begann Stauffenbergs Entwicklung zum
Verschwörer gegen das Regime, und schließlich festigte sich in ihm die
überzeugung von der Notwendigkeit der Beseitigung Hitlers. Diese
Entwicklung wurde begünstigt durch Erlebnisse, Erfahrungen und
geistige Einflüsse seiner frühen Jahre. Stauffenberg las in seiner
Jugend Rudolf G. Binding, Oswald Spengler, Hölderlin und Walter
Flex und fühlte sich zu dem Kreis um Stefan George hingezogen.

48 Finker (Anm. 1), S. 39.


48 HotJmann (Anm. 15), S. 393.

75·
1188 Wolf Middendorff

Stauffenberg gehörte zur Jugendbewegung, sang Landsknechtslieder


und träumte vom "Neuen Reich" und von einer konservativen Revo-
lution. Ihm schwebten eine Volkserhebung und Erneuerungen vor, wie
sie sein Vorfahre Gneisenau geplant hatte, der "Preußens unbequemer
Patriot" gewesen war50 •
Gefördert wurde diese Entwicklung Stauffenbergs durch die Er-
kenntnisse, die ihm aus seiner Tätigkeit im Generalstab zuwuchsen. So
erlebte er im Sommer 1940 den Wirrwarr in der deutschen Führung,
der durch Hitlers Prinzip des "divide et impera" hervorgerufen wurde.
1942 kritisierte Stauffenberg den gleichzeitigen Vorstoß der Wehr-
macht auf Stalingrad und den Kaukasus, der die Kräfte des Feldheeres
weit überstieg. Schon damals äußerte er gegenüber einem Kameraden:
"Findet sich denn da drüben im Führerhauptquartier kein Offizier, der
das Schwein mit der Pistole umlegt51 ?" Ein ebenso falscher Entschluß
der Führung war die Aufstellung der sogenannten Luftwaffenfeld-
divisionen, deren Verluste infolge mangelnder Ausbildung im Erd-
kampf unverhältnismäßig hoch waren. Ähnlich verhängnisvoll war der
Entschluß Hitlers, der 6. Armee in Stalingrad zu befehlen, sich einzu-
igeln, und sie der voraussehbar unzulänglichen Luftversorgung zu
überlassen. Stauffenberg war "ob solchen unverantwortlichen und ver-
brecherischen HandeIns völlig niedergeschlagen"sz. Bei anderer Gele-
genheit sagte Stauffenberg 1942, die Verbrechen und die Sinnlosigkeit
von Hitlers Kriegführung seien nicht weiter zu tolerieren, "ich könnte
den Frauen und Kindern der Gefallenen nicht in die Augen sehen,
wenn ich nicht alles täte, dieses sinnlose Menschenopfer zu verhin-
dern"53.
-"Stimffenbergs Auffassungen werden durch die Eindrücke von Ferdi-
dinand Prinz. von der Leyen bestätigt, der vier Jahre im Oberkom-
mando des Heeres arbeitete. Er berichtete vom weitgehenden Versagen
der militärischen Führungsschicht und fuhr fort: "Es gab viele verschie-
dene Fäden, aus denen das Gewebe des Dritten Reiches gesponnen
war, aber immer war im Muster der rote Faden der Feigheit sicht-
bar54 ."
Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, daß Stauffenberg
nach zahlreichen Kontakten mit Feldmarschällen, Generälen und an-
deren hohen Offizieren zutiefst enttäuscht, ja verzweifelt war. Einem
Freund gegenüber äußerte er voller Zorn: "Die Kerle haben ja die
50 Dtto, Gneisenau, 1981.
51 Müller (Arun. 8), S. 244.
52 Müller (Anm. 8), S. 265.

53 Müller (Anm. 8), S. 296; siehe auch HofJmann (Anm. 15), S. 394.

M Prinz von der Leyen, Rückblick zum Mauerwald, 2. Aufl. 1966, S. 141
und 164.
Claus Graf Schenk von Stauffenberg 1189

Hosen voll oder Stroh im Kopf, sie wollen nicht~~!" Bei anderer Gele-
genheit sprach er davon, daß dann, wenn jemand in Amt und Ehre und
einen führenden Rang rücke, er an einen Punkt komme, wo er für den
Sinn des Ganzen zu stehen habe. Wenige verhielten sich jedoch so
oder empfänden auch nur die Notwendigkeit: "Bürger, Pfründner,
Teppichleger im Generalsrang. Man beziehe sein Einkommen, tue seine
,Pflicht', vertraue auf den Führer und freue sich auf den Urlaub - auf
wen sollte das Vaterland denn noch bauen55 ?"
Was Stauffenberg über die Feldmarschälle sagte, galt nicht "mehr
ganz genau" für Feldmarschall Rommel; dieser war kritischer und
auch bereit, mit der Widerstandsbewegung zusammenzuarbeiten,
lehnte allerdings ein Attentat ab. Christian Müller urteilt über Rom-
mel: "Er war überhaupt nur sehr begrenzt zum Umsturz bereit und
gehörte, wie eben so viele Offiziere und Feldmarschälle, .zu den - von
der Konspiration ausgesehen - hoffnungsvollen, potentiellen Mit-
läufern, die nach erfolgtem Umsturz mitmachen und gerne wieder Be-
fehle entgegennehmen würden57 ."
1943 sagte General Hoßbach, der als Oberst und Adjutant Hitlers
diesem so widersprochen hatte, wie es später wohl kein General mehr
gewagt hat58 , seinem Begleitoffizier, dem Historiker und späteren Pro-
fessor in Karlsruhe, Bußmann: "Merken Sie sich das als Historiker; so
sind die Generäle des Zweiten Weltkriegs; sie haben Angst um ihren
eigenen Kopfs8 ."
Die Marschälle und Generäle im Zweiten Weltkrieg waren alle ein-
mal Obersten gewesen, viele hatten im Ersten Weltkrieg tapfer ge-
kämpft; ihre spätere Haltung, die von weithin mangelnder Zivil-
courage gegenüber Hitler und SChwanken und Entschlußlosigkeit
gegenüber der Widerstandsbewegung gekennzeichnet war, hängt sicher
auch mit ihrem fortgeschrittenen Alter zusammen. Anzufügen ist, daß
es Konflikte zwischen den Generationen immer gegeben hat und daß
Kritik an hohen Militärs auch immer geäußert wurde; ein historischer
Vergleich drängt sich auf: Prinz Louis Ferdinand von Preußen, "Künst-
ler - Held - Politiker - und eine geniale Natur"80, wurde auch der
Jakobiner genannt. 1806 inspirierte er eine Denkschrift an den preu-
ßischen König, in der es "im Klartext" heißt, das Kabinett des Königs
55 Müller (Anm. 8), S. 280.
58 Müller (Anm. 8), S. 258.
57 Müller (Anm. 8), S. 421 - 422.

58 Siehe MiddendortJ, Die Affäre Blomberg-Fritsch, Polizei Digest, 2,


1984, S. 54 ff.
59 Bußmann, Politik und Kriegführung, Abschiedsvorlesung am 2. 2. 1983,
5.14.
60 Nadolny, Prinz Louis Ferdinand, 1967.
1190 Wolf Middendorff

betreibe Hochverrat, und der König sei außerstande, die wirkliche


Tragweite der derzeitigen Situation zu erkennen. Der König reagierte
lediglich mit der Strafversetzung der Unterzeichner und befahl Louis
Ferdinand, sich zur Armee zu begeben. In einem Brief beklagte Louis
Ferdinand kurze Zeit später "die unselige Schwachheit aller Fürsten",
das an "wirklich großen Männern karge Zeitalter" und den Mangel an
"großen Charakteren"61. Über das preußische Offizierskorps, vor allem
den Generalstab, schreibt Kleßmann, sie hätten ihre Pläne jeden Tag
aufs Neue geändert und ihre Energie in stundenlangen Diskussionen
erschöpft, während Napoleons Armeen nach exakten Plänen herange-
rückt seien.
Nicht nur für diese Zeit ist Louis Ferdinands Ausspruch bedeutsam:
"Ein großer Teil der Menschen, und wohl der größte, wird durch die
vis inertiae regiertsz ."
Über den Oberkommandierenden der Preußischen Armee zur Zeit
der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt, den 72 Jahre alten Herzog
von Braunschweig, schrieb Napoleon später: "Es gibt Berühmtheiten,
die zuweilen eigens dazu bestimmt sind, Reiche zugrunde zu richten.
Man kann ihnen den Oberbefehl nicht versagen83 ." Heinrich von
Treitschke beklagte, daß die Franzosen das kriegerische Feuer junger,
sieggewohnter Führer beflügele, die Alliierten hingegen die Bedacht-
samkeit ihrer hilflosen, alten Stabsoffiziere lähmest.
Die Haltung mancher deutscher Generäle hatte sich auch nicht durch
die endgültige Niederlage geändert; als 1946 in einem Kriegsgefange-
nenlager bekannt wurde, daß von Gersdorff den Attentatsversuch auf
Hitler im März 1943 unternommen hatte, wurde er von der überwie-
genden Mehrzahl aller Lagerinsassen geschnitten. Man grüßte ihn nicht
mehr und gab ihm nicht die Hand. Auf seine Vorstellungen hin sagte
ihm der deutsche Lagerkommandant, ein General: "Sie sind sich offen-
bar über Ihre tatsächliche Situation nicht klar. Vor kurzem war eine
Abordnung von Generälen bei mir, die Ihre sofortige Entfernung aus
dem Lager gefordert haben. Sie haben mir erklärt, anderenfalls wür-
den sie die im Lager anwesenden SS-Leute veranlassen, Sie totzu-
schlagen85 ."
Von Gersdorff hat sich vielleicht damit getröstet, daß schon Machia-
velli erkannt hatte: "Doch Männer der Tat gibt es wenige"88, und daß

81 Kleßmann, Prinz Louis Ferdinand von Preußen, 1772 - 1806, 1978, S. 209 -
210.
82 Kleßmann (Anm. 61), S. 218 - 219, 222.
83 atto (Anm. 50), S. 177.
st von Treitschke, Der Untergang des Ersten Reiches, 1942, S. 328.
85 von Gersdorff (Anm. 45), S. 201.
Cl aus Graf Schenk von Stauffenberg 1191

Thomas von Aquin auf der Höhe des Mittelalters feststellte, "daß die
,virtuosi', die Tugendhaften, eine kleine Minderheit darstellen67 ."
Nach dem Mißlingen des Staatsstreichs vom 20. Juli 1944 hat Stauf-
fenberg mit unbeschreiblich "trostlosem Gesicht" zu einer Sekretärin
gesagt: "Sie haben mich ja alle im Stich gelassen'S!"
Im SS-Bericht über den 20. Juli, den der SS-Obersturmbannführer
Dr. Georg Kiesel (auch Kießel) abgefaßt hat, heißt es über Stauffen-
berg: "Von unbedingt lauterem Charakter, war er rückhaltlos zu jedem
Opfer bereit ... Seine Persönlichkeit fiel völlig aus dem militärischen
Rahmen. Er war in seiner elementaren, seelischen, geistigen und phy-
sischen Konstruktion ein echter Revolutionär69 ." Es ist sehr schwierig,
zu sagen, was genau einen Revolutionär ausmacht; auch die Definition,
,Revolution' sei ein "geschichtlich bedeutsamer plötzlicher Bruch mit
der Tradition und Vergangenheit", hilft nicht viel weiter70 • Auf der
anderen Seite wurden die Verschwörer vom 20. Juli, insbesondere die
Offiziere, gerade deshalb kritisiert, weil sie keine "gelernten Revolutio-
näre" gewesen seien71 • Viele hielten sich auch nicht für Revolutionäre;
Generaloberst Halder und Feldmarschall von Witzleben haben sich,
nach Gisevius, gegenseitig gelobt, nach gelungenem Putsch sofort ihren
Abschied zu fordern, weil revolutionäres Handeln das Wesen des Sol-
datenturns gefährde72 •
Es sei angefügt, daß der Historiker Lothar Gall 1980 seiner Biogra-
phie über Bismarck den Untertitel "Der weiße Revolutionär" gab.
Hans von Hentig hat sich aus kriminologischer Sicht im Zusammen-
hang mit der Französischen Revolution mit der Persönlichkeit der
Revolutionäre befaßt und ist zu dem Schluß gekommen, daß die Füh-
rer von Revolutionen nicht aus der Schicht der sogenannten Kleinen
Leute, sondern vielmehr aus zwei Berufen, dem der Rechtsanwälte und
dem der Lehrer, kommen73 •
Nach alledem war Stauffenberg - kriminologisch betrachtet - ein
stark atypischer Attentäter, und man wird ihn wohl auch kaum als
Revolutionär bezeichnen können. Stauffenberg war ein reiner Über-
66 Maehiavelli (Anm. 39), S. 149.
67 Sehällgen, Römer 13, 1 - 7 in
der Sicht der katholischen Moraltheologie,
Sonderdruck, S. 149.
6S HotJmann (Anm. 15), S. 622.
69 SS-Bericht über den 20. Juli, Nordwestdeutsche Hefte, 1 - 2,1947, S. 17.
70 FraenkeUBraeher (Hrsg.), Staat und Politik, Fischer Lexikon, 1959, S. 264.
S.264.
71 Prinz von der Leyen (Anm. 54), S. 153.
72 Zitiert bei Ritter (Anm. 20), S. 479.
73 von Hentig, Terror, 1971, S. 14 - 15.
1192 Wolf Middendorff

zeugungstäter74 mit idealen Zielen. Der kanadische Generalstäbler


D. J. Goodspead grenzt Stauffenberg von den anderen von ihm unter-
suchten Teilnehmern an Staatsstreichen dadurch ab, daß nur Stauf-
fenberg und seine Mitverschwörer nach seiner Meinung fest auf dem
Boden der Wirklichkeit standen75 •
Gewisse Ähnlichkeiten zwischen Stauffenberg und Bastien-Thiry
sind vorhanden; Jean-Marie Bastien-Thiry wurde am 10.10.1927 ge-
boren, er stammte aus einer alten lothringischen Familie, und unter
seinen Vorfahren waren mehrere Generäle und ein Kriegsminister.
Nach seiner Ausbildung, insbesondere auf der Ecole Polytechnique,
wurde er Chefingenieur der Luftwaffe im Range eines Oberstleutnants.
Er galt als einer der wichtigsten Spezialisten Frankreichs für die
Raketenforschung; Bastien-Thiry war verheiratet und hatte drei Kin-
der. In seinem Prozeß beurteilten ihn die Psychiater als "überdurch-
schnittlich begabt, sehr rationalistisch, aber von einer Unruhe vor dem
mit dem Verstand nicht Faßbaren getrieben"78. Der Unterschied zu
Stauffenberg lag darin, daß Bastien-Thiry von einem besinnungslosen,
ganz irrationalen Haß auf seinen Staatschef getrieben war und wohl
nur wenig Pläne für die Zukunft - nach einem geglückten Attentat -
hatte.
V. Viktimologisches
Die Viktimologie untersucht das Verhalten des Opfers einer Straftat
und die Beziehungen zwischen Täter und Opfer. Bei Tötungsdelikten
ist das Opfer nicht selten "ein aktives Element in der Dynamik der
Mordtat"; beim Betrug passen Täter und Opfer oft zueinander wie
"Schloß und Schlüssel'<77.
Beim politischen Mord besteht selten eine direkte Verbindung zwi-
schen Täter und Opfer, im allgemeinen kennt der oben beschriebene
Einzelattentäter sein Opfer nicht persönlich. Eine indirekte Beziehung
ergibt sich zwischen Täter und Opfer eines Attentats häufig durch die
Nachlässigkeit des Opfers oder seiner Umgebung oder der für seine
Sicherheit Verantwortlichen, wodurch die Ausführung des Attentats
erleichtert wird. Opfer politischer Kriminalität sind oftmals auch
"völlig unschuldige, macht- und wehrlose Menschen"78. Einer der
Attentäter gegen Napoleon I. hatte in der Rue Saint-Ni~aise in Paris

74 Siehe Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 3. Auft.,


1978, S. 334, und Ebert, Der überzeugungstäter in der neueren Rechtsent-
wicklung, 1975.
75 Goodspead, Verschwörung und Umsturz, 1963, S. 252.
78 Badische Zeitung, 22. 2. 1963.
77 von Hentig, Zur Psychologie der Einzeldelikte II, Der Mord, ·1956, S. 266.
78 Schneider, Viktimologie, 1975, S. 224.
Claus Graf Schenk von Stauffenberg 1193

ein kleines Mädchen gebeten, das Pferd am Zügel zu halten, das vor
den Karren mit dem Schießpulver gespannt war. Das Mädchen wurde
durch die Explosion zerrissen. Der Attentäter selbst konnte entkom-
men, wurde Priester, wanderte nach Amerika aus und versuchte ein
Leben lang, seine Tat zu sühnen7t •
Hitler war zwar meistens sehr gut bewacht, es gab aber auch "reich-
lich Möglichkeiten für erfolgreiche Attentate"80. In seinen "Tischge-
sprächen" sagte Hitler, gegen Idealisten unter den Attentätern gebe es
keinen hundertprozentigen Schutz, er stelle sich daher ruhig aufrecht
in den Wagen, dem Mutigen gehöre die Welt. Bei den beiden Atten-
taten, die sein Leben wirklich ernstlich gefährdet hätten, sei er nicht
durch die Polizei, sondern durch ausgesprochene Zufälle gerettet wor-
den, so sei er beim Bürgerbräutreffen am 9.11.1939 nur deshalb dem
Attentat entgangen, weil er vor der festgesetzten Zeit aufgebrochen
sei81 • Zeller glaubte, an Hitler einen "Raubtierinstinkt für die eigene
Sicherheit" feststellen zu können,. Hitler habe eine meist untrügliche
Witterung dafür gehabt, ob die ihm gegenübertretenden Menschen
seiner Einwirkung unterlagen oder nichtS!. Nicht erklärlich ist jeden-
falls bis heute das Mißlingen des Attentats, das von Gersdorff beab-
sichtigt hatte. von Gersdorff wollte sich am 21. 3. 1943 im Zeughaus in
Berlin zusammen mit Hitler während des Besuchs einer Ausstellung
in die Luft sprengen. Hitler hielt jedoch den vorgesehenen Zeitplan
der Besichtigung nicht ein, sondern verließ die Ausstellung schon nach
nur 2 Minuten. von Gersdorff hatte den Zünder seiner Haftmine auf
10 Minuten eingestellt und konnte den Zünder wieder "loswerden"sa.
Fest steht jedenfalls, daß Hitler in ständiger Furcht vor Vergiftung
lebte84 , auf der anderen Seite aber schien er nicht zu befürchten oder
gar nicht daran zu denken, daß seine dauernd auf einem Seitentisch
stehende Magenmedizin vergiftet werden könnte85 • Es ist wohl keinem
der Offiziere, die der Verschwörung vom 20.7.1944 angehörten, der
Gedanke gekommen, zu versuchen, sich eines derartigen Mittels für ein
Attentat zu bedienen.
Will Berthold schätzt die Zahl der gegen Hitler geplanten und ver-
suchten Anschläge auf 42 88 • General de Gaulle überlebte 30 Anschläge;
er schien den Bemühungen um seine Sicherheit keine große Beachtung
78 Sieburg, Helden und Opfer, 1960, S. 55 ff.
80 Hoffmann (Anm. 33), S. 249.
81 Picker, Hitlers Tischgespräche, 1951, S. 232 und 230.
81 Zeller (Anm. 9), S. 330.
83 von GersdorfJ (Anm. 45), S. 130 - 132.
8' Hoffmann (Anm. 33), S. 223.
8S Picker (Anm. 81), S. 36.
86 Berthold, Die 42 Attentate auf Adolf Hitler, 1981".
1194 Wolf Middendorff

zu schenken87 • Verstärkte Sicherheitsrnaßnahmen lehnte er einmal mit


der Bemerkung ab: "Die, die mir nach dem Leben trachten, sind ebenso
unfähig wie die, die mich beschützen sollen." De Gaulle hat sich seiner
Gegner auf unterschiedliche Weise entledigt; Bastien-Thiry war einer
der wenigen, die zum Tode verurteilt wurden. Er wurde am 11. 3.1963
von einem Exekutionskommando seiner eigenen Luftwaffeneinheit er-
schossen und starb mit den Worten "Vive la France" und einem Rosen-
kranz in der Hand. Stauffenberg wurde im Hof des Bendler-Blocks
zusammen mit seinem Adjutanten Werner von Haeften, Oberst Mertz
von Quirnheim und General Olbricht erschossen. Seine letzten Worte
waren "Es lebe das heilige Deutschland88."
Nina Gräfin von StaujJenberg sagte im Rückblick auf das Jahr 1944:
"Ich stehe heute den Ereignissen nicht anders gegenüber als vor 30 Jah-
ren. Was damals geschah, war notwendig, ich würde mich heute diesen
Notwendigkeiten genau so beugen, wie ich das dainals getan habe."
Ihr Sohn Berthold ist heute Oberst in der Bundeswehr.

87 Plume und Demaret (Anm. 10), S. 264.


88 Hof/mann (Anm. 15), S. 623 - 624.
Rechtsvergleichung
VIKTOR LIEB SCHER

Hans-Heinrich Jescheck
und die österreichlsche Strafrechtswissenschaft

Wenn von den Beziehungen Jeschecks zur österreichischen Straf-


rechtswissenschaft gesprochen werden soll, so ist das zwar nur eine
Facette, ein kleiner Ausschnitt aus seinem so vielfältigen, eindrucks-
reichen, für ihn selbst und alle, die daran teilnehmen durften, be-
glückenden Juristenleben; der Titel ist aber seinerseits so komplex
und undifferenziert, daß es nicht leicht ist, .die fast unüberschaubare
Zahl seiner Berührungspunkte zum österreichischen Strafrecht in eine
gewisse Ordnung zu bringen:
Die Hin- und Zuneigung des Jubilars zur österreichischen Jurispru-
denz beginnt bereits mit der österreichischen Staats-, Rechts- und Dog-
mengeschichte, die er bis in ihre Wurzeln verfolgt. Sie entfaltet sich
in der Rechtsvergleichung, die einerseits die Entstehungsgeschichte und
Grundlinien des am 1. 1. 1975 in Kraft getretenen österreichischen
Strafgesetzbuchs und zahlreiche seiner Einzelbestimmungen, wie vor-
beugende Maßnahmen, Tat- und Verbotsirrtum, die mangelnde Straf-
würdigkeit nach § 42 öStGB, die Strafzumessung und die Geldstrafe
zum Gegenstand hat. Sie bezieht sich anderseits auf verfahrensrecht-
liche Gebiete wie die Untersuchungshaft, die Struktur und Funktion
der Staatsanwaltschaft, die Laiengerichtsbarkeit, das Sachverständi-
gengutachten, die Maßnahmen zur BesChleunigung des Verfahrens
und die Wiederaufnahme. Das neue österreichische internationale
Strafrecht (§§ 62 - 67 öStGB) wurde weitgehend nach den Vorstellun-
gen J eschecks gestaltet, der in der Beschäftigung mit dem Völkerstraf-
recht und der Verarbeitung der in dem Internationalen Militärtribunal
(IMT) von Nürnberg aufgetauchten staats-, straf-· und völkerrechtlichem
Probleme in der unmittelbaren Nachkriegszeit seinen Weltruf begrün-
dete. Seine Befassung mit den Anfängen, dem Höhepunkt und der nun-
mehrigen Krise der Kriminalpolitik in Amerika und einzelnen Ländern
Europas führt ihn unweigerlich auf den Österreicher Franz von Liszt zu-
rück, dessen Persönlichkeit und bis heute spürbarem Wirken er sich seit
eh und je wie kaum ein anderer deutscher Pönalist verpflichtet fühlt. Die
dominierende und gestaltende Rolle, die J eschecks rechtsdogmatische
Formulierungen in der Rechtsprechung des österreichischen OGH spielen
1198 Viktor Liebscher

(und schon vor dem neuen StGB spielten), wird einer besonderen Her-
vorhebung bedürfen.
Schließlich basiert die bei ihm jederzeit präsente Rechtsphilosophie,
Sozialethik und Psychologie neben den antiken und klassischen deut-
schen Autoren in nicht geringem Maße auf den österreichischen For-
schungsarbeiten von KTatft-Ebing, Siegmund FTeud, ViktoT E. Frankl
und Friedrich Stumpfl, als deren exzellenter Kenner er sich erweist.

I. Persönliches

Ehe wir aber dazu übergehen, die wichtigsten der hier andeutungs-
weise genannten Materien einer übersichtlichen - und, soweit dies der
zur Verfügung stehende Raum erlaubt, umfassenden - Darstellung
zuzuführen, sei es gestattet, einige sehr persönliche Betrachtungen vor-
auszuschicken. Nicht daß der Verfasser dieses Beitrages sich anmaßen
würde, eine Biographie oder ein wissenschaftliches Konterfei des Ju-
bilars zu entwerfen; das wird in dieser Festschrift zweifellos von beru-
fenerer Seite her erfolgen. Aber einige Momentaufnahmen, die das
menschliche Nahverhältnis J eschecks zu Österreich beleuchten, seien
hier festgehalten:
Es war im April 1975 in Bellaggio beim ersten Conseil de Direction,
an dem der Verfasser als Vertreter der kurz zuvor beim XI. Kongreß
in Budapest gegründeten österreichischen Landesgruppe der AIDP
teilnahm. Beim Abendessen im kleinen Kreis mit dem unvergeßlichen
Mitarbeiter Professor GeThaTdt GTebing, bei dem vermerkt wurde,
-daß--in eben diesem Bellaggio 1837 die Tochter des burgenländischen
Komponisten Franz Liszt, die später so berühmt gewordene Cosima
Wagner - also eine Nichte Franz von Liszts - geboren wurde, er-
zählte Jescheck in launiger Weise, wie er selbst erstmalig seinen Fuß
auf österreichischen Boden gesetzt hatte. Es war dies während des
Ersten Weltkrieges, als er einige Zeit bei seinen Großeltern im schle-
sischen Reichenstein knapp an der Grenze zu Böhmen - wie dieses
österreichische Kronland damals noch hieß - verbrachte. Im zarten
Kindesalter, es muß wohl in den letzten Monaten der österreichisch-
ungarischen Monarchie gewesen sein, begleitete Hans-Heinrich den
Großvater, der in Österreich Zigarren einkaufte, da sie dort besser und
billiger waren, "hinüber".
Die Kriegsjahre und die erste Zeit nach 1945 waren weder kultur-
geschichtlichen noch rechtswissenschaftlichen grenzüberschreitenden
Kontakten sehr günstig. Nachdem aber schon im Oktober 1960 in
Salzburg ein Symposion über Grundfragen der Strafrechtsreform
von deutschen und österreichischen Gelehrten und Praktikern stattge-
J escheck und die österreichische Strafrechtswissenschaft 1199

funden hatte, hielt Hans-HeinriCh Jescheck am 26. Jänner 1961 in der


Wiener Liebiggasse einen Vortrag vor der österreichischen Gesellschaft
für Strafrecht und Kriminologie über das Thema: "Die Entwicklung
des Verbrechensbegriffs in Deutschland seit Beling im Vergleich mit der
österreichischen Lehre" 1. Alle von der heute meist schon emeritierten
österreichischen Juristengeneration, die damals zum ersten Mal dem
jungen, dem Namen nach freilich auch bei uns schon bekannten Frei-
burger Professor persönlich gegenübersaßen, waren von seiner anre-
genden juristischen Gestaltungskraft, ebenso aber von seiner klaren,
bildhaften, oft genug unmittelbar zum Herzen redenden Sprache an-
getan. So versäumte er es nicht, einleitend auf die besondere Rolle
hinzuweisen, die Freiburg im Breisgau vor Jahrhunderten im Habs-
burgerreich innerhalb "Vorderösterreichs" gespielt hatte. In der Tat
wird kein Österreicher, der in diese schöne Schwarzwaldstadt kommt,
die durch das Institut zum Zentrum der internationalen Strafrechts-
forschung geworden ist, sich des Eindrucks erwehren können, hier zu
Hause zu sein. Schon zwei Jahre später bei der österreichisch-deutschen
Tagung für Rechtsvergleichung vom 18. bis 21. September 1963 führte
Jescheck in den Räumen der Wiener Universität den Vorsitz der straf-
rechtlichen Sektion, wobei er den Verfasser in seiner sordiniert-hu-
morigen Art einlud, nach dem Vorbild des weiland hier ortsansässig
gewesenen "Doppeladlers" mit ihm das Co-Präsidium zu übernehmen.
Seither erfolgten nahezu alljährlich Begegnungen entweder in Öster-
reich, in der Bundesrepublik Deutschland oder anderen Ländern Euro-
pas, die sich vorwiegend mit der von beiden Staaten nun intensiv
betriebenen und dem Abschluß zugeführten Strafrechtsreform befaß-
ten. Ein Höhepunkt war die von der Generalprokuratur beim Ober-
sten Gerichtshof veranstaltete IOO-Jahr-Feier der österreichischen
StPO im Dezember 1973, zu der Jescheck als Ehrengast der deutschen
Wissenschaft erschien und die er durch seinen Beitrag "Neue Entwick-
lungstendenzen des deutschen Strafverfahrensrechts im Vergleich mit
dem österreichischen Recht" in der von uns herausgegebenen Festschrift!
auszeichnete. Besonders herzlich wurden dann die Beziehungen, als
Österreich 1974 der AIDP beitrat, da die enge Zusammenarbeit zwi-
schen der deutschen und der österreichischen Landesgruppe, die auch
beim Hamburger Kongreß 1979 sichtbar in Erscheinung trat, geradezu
eine Selbstverständlichkeit wurde. Auch an dieser Stelle sei der gro-
ßen Verdienste, die sich der damalige Generalsekretär der deutschen
Landesgruppe, Jeschecks vertrauter Mitarbeiter Professor Gerhardt
Grebing, um diese Kooperation erwarb, pietätvoll gedacht.

1 ZStw 73 (1961), S. 179 - 209.


2 Festschrift Hundert Jahre österr. StPO, hrsg. von Liebseher und O. F.
Müller, 1983, S. 39 - 58.
1200 Viktor Liebscher

ll. Strafrecbtsdogmatik
Gerade der erste Wiener Vortrag Jeschecks leitete nahtlos zu dem
Thema über, das eine der tragenden Säulen (die .Amerikaner würden
sagen, der "guiding principles") im Lebenswerk Jeschecks repräsen-
tiert. Die Dogmengeschichte ist an sich ein so trockener Stoff, daß ihr
auch überzeugte Anhänger der Jurisprudenz lieber aus dem Wege ge-
hen. Nichts von solcher Sprödigkeit aber in der vergleichenden Dar-
stellung der deutschen und österreichischen Rechtslehre: Gleich einem
bunten Bilderbogen reihen sich die einzelnen Epochen des Strafrechts
aneinander, von souveräner Kenntnis der Materie und ebensolcher Sub-
tilität erfüllt. Wenn Jescheck richtig vom "Strafgesetz 1803/1852" spricht,
kommt es dem österreichischen Juristen erst so recht zum Bewußt-
sein, daß jene rund vier Generationen, die unter dem Regime des
Strafgesetzes von 1852 lebten und judizierten, noch die Gedanken
und Vorstellungen Beccarias, von SonnenjeIs' und Feuerbachs vollzo-
gen, da dieses im weiten Umfang Inhalt und Gesetzestext seines noch
unter dem ;,Römischen Kaiser Franz" geschaffenen Vorgängers, des
"Gesetzes über Verbrechen und schwere Polizeiübertretungen von
1803" wörtlich übernahm. So ging etwa die Schuldform des dolus in-
directus bei Totschlag (§ 140) und schwerer Körperverletzung (§ 152),
nämlich die Verantwortlichkeit für einen schwereren Erfolg, der zwar
nicht beabsichtigt, aber mit dem herbeigeführten übel regelmäßig ver-
bunden war, das heißt "daraus gemeiniglich erfolgt oder doch leicht
erfolgen kann", eine Schuldform, mit der österreichische Strafrechtler
noch bis vor zehn Jahren operierten, auf das "versari in re illicita"
des~l. 'rhomas von Aquin zurück. Diese Zusammenhänge aufgedeckt
und fesselnd beleuchtet zu haben, war die Frucht eingehender dog-
matischer und historischer Untersuchungen.
Noch viel größer war aber das Verdienst Jeschecks um die österrei-
chische Lehre, daß er solchen vergleichenden Forschungen einen dau-
ernden Platz in dem von ihm geleiteten Freiburger Institut für aus-
ländisches und internationales Strafrecht einräumte. So stellte sich
sein damaliger Assistent und Österreich-Referent des Instituts, Dr.
Reinhard Moos, die Aufgabe, den Sinn und StrukturwandeI des Ver-
brechensbegrijJs in Österreich in einer weiter zurückliegenden Zeit
zu verfolgen. 1968 erschien das Standardwerk "Der Verbrechensbe-
griff in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert". Es schildert die wis-
senschaftliche Befassung mit dem Verbrechen in der Ära des Natur-
rechts, vom Humanismus bis zur Aufklärung, die Zeit der Constitutio
Criminalis Theresiana und der Josefina, den Verbrechensbegriff bei
Martini, ZeiZler und dem Strafgesetz von 1803/1852. Es entreißt Namen,
wie von Beck, Banniza, Hupka, JenuZl, Kitka, WahIberg und viele an-
Jescheck und die österreichische Strafrechtswissenschaft 1201

dere der wissenschaftlichen Vergessenheit. Und wenn Moos in der Ein-


leitung bescheiden meint, daß diese Arbeit "eine Lücke in der öster-
reichischen Literatur schließen helfen" wolle, so muß der geborene
Österreicher beschämt eingestehen, daß wir eine Strafrechtsgeschichte
so globalen, tiefschürfenden und umfassenden Ausmaßes nie hatten,
ihre Lektüre aber fundamentale Erkenntnisse vermittelt, da dem Le-
ser manches "wie Schuppen von den Augen fällt". So wird deutlich,
daß sich der geringe Einfluß des Code penal von 1791 auf das österrei-
chische Strafrecht nicht nur durch das andere politische System - es
gab allerdings auch in Wien bereits eine aufmüpfige Jakobinerge-
meinde -, sondern vor allem darauf zurückzuführen ist, daß Öster-
reich bereits eine gefestigte Tradition auf dem Gebiet der Strafgesetz-
gebung hatte'. Der Jose{inismus hatte in Politik und Gesetzgebung den
Radikalismus der französischen Revolution aufgefangen und vorweg
gemildert. Das Strafgesetz 1803/1852, das das ganze 19. Jahrhundert
und genau drei Viertel des 20. Jahrhunderts regierte, ist nicht nur die
Klammer des Rechtslebens, sondern auch der umwälzenden, politischen
Ereign,isse geworden. In der von Moos geschilderten Strafrechtsge-
schichte spiegeln sich Kriege und Verfassungsumbrüche, die Hoch-
schulreform des Grafen Thun-Hohenstein und die soziale Frage, die
Entwicklung von Rechtsphilosophie und Naturwissenschaft, kurz die
tragenden Bewegungen des geistigen und gesellschaftlichen Lebens
zweier Jahrhunderte wider.
Man könnte diese von J escheck initiierte und durch seine Förderung
zustandegekommene, ihrer ganzen Bedeutung nach noch immer nicht
vollkommen erkannte und gewürdigte Forschungsarbeit als Spezial-
schrift für Dogmatiker und Rechtshistoriker, allenfalls als Hobby-
Lektüre für andere Juristen abtun, da nach einem von Feuerbach und
Würtenberger entlehnten Worte MOOS'4 "ein Verständnis der Gegen-
wart ohne Kenntnis der Geschichte nicht möglich ist". Man irrt aber
gewaltig, würde man den Einfluß des strafrechtlichen Historismus und
damit auch der Dogmengeschichte auf die Wertung der Strafrechts-
pflege der Gegenwart durch breite Bevölkerungskreise (um das ab-
gegriffene, aber nun einmal gängige Wort vom "Image der Justiz" zu
gebrauchen) unterschätzen. Der Schreiber dieses Beitrages hat hier-
auf in gewissem Sinne die Probe aufs Exempel gemacht.
Anlaß dazu bot die 1000-Jahr-Feier des an der niederösterreichisch-
steirischen Grenze gelegenen Städtchens Aspang am Wechsel, unweit

I Moos, Der Verbrechensbegriff in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert,


1968, S. 189.
, Würtenberger, Die geistige Situation der deutschen Strafrechtswissen-
schaft, 2. Aufl. 1959, S. 32; Feuerbach, über Philosophie und Empirie in ihrem
Verhältnisse zur positiven Rechtswissenschaft. Antrittsrede, 1804, S.45/46.

76 Festschrift für H.-H. Jescheck


1202 Viktor Liebscher

des wesentlich mondäneren Höhenkurorts Semmering gelegen. Mit der


im Jahre 1529 erfolgten Gründung des Landgerichts Aspang wurde
der damaligen Herrschaft von Ferdinand 1., dem Bruder Karls V. (und
Schöpfers der CCC) die Hohe oder Blutgerichtsbarkeit verliehen, die
bis zur allgemeinen staatlichen Gerichtsorganisation von 1849 weiter
bestand. In einem Vortrag "Die Aspanger Kriminalgerichtsbarkeit im
Wandel der Jahrhunderte"5 hatte ich einem Kreis von Historikern,
Juristen und interessierten Bürgern Niederösterreichs anhand der aus
den Archiven hervorgehalten Kriminalakten, meist aus der Zeit Franz 1.
(1792 - 1835) und Ferdinands I. (des "Gütigen", 1835 - 1848), also aus
der Zeit des Strafgesetzes von 1803, den Unterschied in den tragenden
Grundsätzen des Strafrechts und des Strafverfahrensrechtes von da-
mals und heute zu erläutern. Es ist erstaunlich, wie aufgeschlossen die
zum Teil aus Laien bestehende Zuhörerschaft auch rein dogmatischen
Fragen gegenüberstand. So wurde einer der Täter, der Bauernbursche
Franz Dörfler, der sich an Frauen wegen "unerwiderter Liebe" blutig
rächte, wegen zweifachen Mordes und zweifachen Mordversuchs (da
die ersten beiden Anschläge auf seine Opfer jeweils fehlgeschlagen
waren) zum Tod durch den Strang verurteiUO. Mein Hinweis, daß die
heutige Strafrechtswissenschaft in einem solchen Falle von einer
"scheinbaren Realkonkurrenz" spricht und nur die Vollendung bestraft,
während es sich beim Versuch um eine "nachbestrafte Vortat" han-
delt, löste lebhafte Diskussionen aus. Desgleichen die Tatsache, daß die
Constitutio Criminalis Theresiana den Selbstmordversuch (Dörfler
wollte im Gefängnis seinem Leben ein Ende machen) streng ahndete
(Artikel 93: "Eine zum erspieglenden Abschrecken anderer dienende
Bestraffung"), während das Strafgesetz von 1803 (§§ 90 - 92) eine
"ernste Ermahrlung über die Abscheulichkeit seines viele Pflichten
verletzenden Unternehmens", allenfalls "die sichere Verwahrung und
strenge Aufsicht" (ein Vorläufer der heutigen Psychiatrierung) vor-
sah. Beide Gesetzbücher ordneten aber die nächtliche Verscharrung
des Leichnams bei gelungenem Selbstmord an.
Noch deutlicher spiegelt sich der Unterschied von Einst und Jetzt
in der Reaktion wider, welche die Strafe auf den Verurteilten selbst
auslöste. In allen in diesem Vortrag behandelten Fällen; sogar in je-
nem, der mit einem Todesurteil endete, war eine klare und reumütige
Schuldeinsicht des Verurteilten festzustellen. Daß die Menschen von

5 Liebseher, Unsere Heimat (Zeitschrift hrsg. vom Verein für Landeskunde


von Niederösterreich), 1984, Heft 2.
8 Franz Dörfler wurde vom Kaiser begnadigt und seine Strafe umgewan-
delt in 20 Jahre schweren Kerker, zu verbüßen am Spielberg bei Brünn,
jenem berüchtigten, altösterreichischen Staatsgefängnis, das durch SiZvio Pel-
lieos "Le mie prigioni" in der Justizgeschichte Europas traurige Berühmt-
heit erlangte.
J escheck und die österreichische Strafrechtswissenschaft 1203

damals der irdischen Justiz gegenüber viel aufgeschlossener waren als


heute, hängt wohl damit zusammen, daß sie glaubten, sich dereinst
vor einem höheren Richter für alle auf Erden begangenen Handlun-
gen verantworten zu müssen. Die "entsühnende Kraft verbüßter Stra-
fen", die man heute als eines der wesentlichsten Elemente der Resozia-
lisierung und der Strafrechtspflege überhaupt erkannt hat7 und die
man freilich nur mit geringem Erfolg wiederzubeleben sucht, war da-
mals im Volksbewußtsein absolut lebendig.
Mag also heute der Strafrechtsdogmatik auch längst nicht mehr die
Krone der Strafrechtswissenschaft zufallen, so ist sie doch weit davon
entfernt, ein Dasein als bloße "L'art pour l'art" führen zu müssen. Auch
Franz von Liszt, der im Marburger ProgrammS einmal bissig bemerkte,
die Dogmatik habe lImit der Lehre vom Kausalzusammenhang und den
Unterlassungsdelikten so viel zu tun, daß es ihre Zeit nicht gestatte,
sich mit solchen Kleinigkeiten wie der Frage, ob denn Rechtsbrecher
in den Zellengefängnissen wirklich gebessert würden, abzugeben",
räumt schließlich ein, daß zwar "die Strafrechtswissenschaft ohne
Rechtswirklichkeit den Boden unter den Füßen verliere, anderseits
aber auch eine Praxis ohne Wissenschaft ins Handwerksmäßige ab-
gleite".
m. Internationales Strafrecht
1. Diese strafrechtliche Sparte hat Jeschecks Bekanntheitsgrad un-
zweifelhaft am meisten bewirkt und ihm weit über den deutschen
Sprachraum hinaus wissenschaftliche Anerkennung gebracht. Sie ist
es wohl auch, die am stärksten durch das eigene Erleben und Erleiden
einer Epoche der Gewalt und des Rechtsniedergangs seine Persönlich-
keit geprägt und die ethische Verwurzelung seines Weltbildes ausge-
löst hat. Denn dies ist der große Generationenunterschied: Die Altvor-
deren des vergangenen Jahrhunderts kannten das Crimen, das sie
mit Akribie analysierten und beschrieben, nur vom Hörensagen, ge-
wissermaßen vom grünen Tisch aus; die später, wie Jescheck etwa im
zweiten Dezenium unseres Jahrhunderts Geborenen, wurden mit dem
Verbrechen oft in seiner abstoßendsten Form persönlich konfrontiert.
Das kommt immer wieder in Jeschecks Reden, Vorträgen und Schrif-
ten zum Ausdruck, wo er von den Schandtaten' spricht, die er schon
als Student im Jahre 1933, dann wieder 1938 ("Reichskristallnacht")lO
miterlebte oder von der "contradiction des devoirs"l1, die ihm als
7 Bockelmann, Zur Reform des Strafensystems, DJZ 1951, 498; Jescheck,
Das Menschenbild unserer Zeit und die Strafrechtsreform, 1957.
S Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge Bd. 1, Nachdruck 1970, S. 169.
, Jescheck (Anm.7).
10 Jescheck, Strafrecht im Wandel, ÖJZ 1971, 7.
11 Jescheck, Esprit (franz. Zeitschrift), 1947, 953.

76·
1204 Viktor Liebscher

Frontoffizier auferlegt war. Es wurde die Aufgabe seines Lebens, sich


als Jurist mit dem, was in dieser Epoche durch staatliche Machtappa-
rate an Verbrechen begangen worden war, auseinanderzusetzen und
das Völkerstrafrecht, das vorher nur als blasser Begriff bestandlZ, mit
Leben und Aussagekraft zu erfüllen. Dies war damals für einen deut-
schen Wissenschaftler eine unendlich heikle Aufgabe, der er sich mit
schmerzlicher Objektivität, aber auch mit innerer Würde unterzog. So
wurde "Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht"
(1952) eines seiner ersten grundlegenden Werke der großen Bilanz.
Und es kam nicht von ungefähr, daß schon im folgenden Jahr, beim
VI. Internationalen Strafrechtskongreß in Rom, die Bundesrepublik
Deutschland der AIDP als Mitgliedstaat angehörte, und wieder ein
Jahr später, beim IV. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung
in Paris, Jescheck den Generalbericht zum Thema: "Verbrechen gegen
das Völkerrecht" vorlegtelS.
Seine damaligen Thesen sind in allgemeiner Erinnerung und haben
auch heute nach mehr als 30 Jahren unverminderte Gültigkeit. Auf
eine Kurzformel gebracht lauten sie: Die Kriegsverbrecherprozesse,
die "für die Besiegten tiefe Erniedrigung, aber auch vielfach heilsame
Lehre waren", ließen trotz ihrer offenkundigen Mängel (beim IMT
handelte es sich nicht um ein völkerrechtliches Organ, sondern um ein
Besatzungssgericht der Sieger, sein Spruch kam daher nicht unter
Beteiligung der Deutschen zustande; die Fragwürdigkeit der Straf-
barkeit des Angriffskrieges als allgemein verbindliche Völkerrechts-
norm usw.) die Hoffnung der Menschheit nach einer Renaissance eines
effizienten Völkerstrafrechts entstehen. Dies wurde hinsichtlich der
Kriegsverbrechen im engeren Sinn und der Verbrechen gegen die
Menschlichkeit insofern erfüllt, als heute deren allgemeine Strafbar-
keit, sei es unmittelbar nach Völkerrecht, sei es nach innerstaatlichem
Recht gewährleistet ist. Bei den Humanitätsverbrechen hat die Geno-
zidkonvention von 1948 partikuläres Völkerrecht geschaffen. Unser
StGB hat die entsprechenden Tatbestände nach § 320 ins österreichische
Recht umgegossen.
Vergeblich blieben jedoch alle Bemühungen, die darauf hinauslie-
fen, für die völkerrechtlichen Belange eine internationale Strafgerichts-
barkeit zu schaffen, der eine automatische, von der Zustimmung der
Staaten unabhängige Gerichtsgewalt über die betreffenden Täter zu-
kommen sollte. Hier befindet sich das Strafrecht noch im Gebiet der
politischen und juristischen Utopie1'. Auch im Jahre 1984 liegen noch
12 Trifjterer, Dogmatische Untersuchungen zur Entwicklung des materiel-
len Völkerstrafrechts nach Nürnberg, 1966, S. 4 ff.
18 Revue Internationale de Droit Penal 1955,351 - 382.
14 (Anm. 13), 381.
Jescheck und die österreichische Strafrechtswissenschaft 1205

keinerlei Anzeichen für die Verwirklichung des Menschheitstratimes


von einem internationalen Strafgerichtshof vor.
2. Beachtliche Impulse verdanken wir J escheck aber auch, soweit das
internationale Strafrecht als nationales Strafrechtsanwendungsrecht in
Erscheinung tritt. Auch hier sind wir trotz aller Bemühungen, so
etwa die Empfehlung 420 der Konsultativversammlung des Europa-
rates, betreffend eine Konvention über internationales Strafrecht, noch
nicht zu einer überstaatlichen Regelung gekommen. Es gilt daher das
von ihm in den Vordergrund gestellte "pouvoir discretionnaire"15, das
ist die Befugnis der einzelnen Staaten, die räumliche Geltung seiner
Strafgesetze nach eigenem Ermessen zu bestimmen. Auf das Völker-
recht ist nur insoweit Bedacht zu nehmen, als diese Befugnis nicht
mißbraucht werden darf, was etwa der Fall wäre, wenn über die gän-
gigen Prinzipien des internationalen Strafrechts hinaus sich ein Staat
die Strafgewalt über irgendwelche in der Welt begangene Verbrechen
nach Willkür arrogieren würde. An sich ist aber die Anwendung eige-
nen Strafrechts auf Taten mit Auslandsbeziehung unbedenklich. Analy-
sen des Falles Eichmann und des Lotus-Falles18 geben guten Anschau-
ungsunterricht.
3. Sehr aufschlußreich ist die historische Untersuchung des Perso-
nalprinzips, von dem das österreichische Strafgesetz 1852 während
der gesamten Dauer seiner Geltung beherrscht war, das aber in das
Strafgesetzbuch des Deutschen Reichs erst durch ein Gesetz von 1940
hineingetragen wurde. Ist nun schon das Datum 1940 verdächtig, so
zeigt eine Sichtung der Materialien, daß keineswegs eine Revision
doktrinärer Standpunkte, auf welche der damalige Gesetzgebungsappa-
rat auch kaum Bedacht genommen hätte, sondern hochbrisante poli-
tische Motive dieser Neuerung zugrundelagen. Entgegen auch heute
noch vertretenen Auffassungen, daß sachliche Gründe zur Grundsatz-
änderung führten, beweist das von J escheck sorgfältig studierte zeit-
genössische Schrifttum17, daß der Personalgrundsatz bei Beginn des
Krieges ausschließlich zum Zweck der Durchsetzung ideologischer,
machtpolitischer und rassischer Ziele des Nationalsozialismus einge-
führt worden ist. Es ging vor allem darum, den im Ausland verwirk-
lichten Tatbestand der "Rassenschande" zu erfassen, was nach dem
Territorialgrundsatz trotz verschiedener Anläufe des Reichsgerichts
nicht einwandfrei zuwege gebracht werden konnte. Darüber hinaus
ging es natürlich ganz allgemein darum, den "Volksgenossen" auch

11 Jescheck, Lehrbuch, Allg. Teil, 3. Aufl. 1978, S.130; Liebscher, Wiener


Kommentar, Vorbem. zu §§ 62 - 66, Rdn. 17.
11 Jescheck (Anm. 15), S. 131, 135.

17 Zitiert in: Internationales Recht und Diplomatie 1956, 80.


1206 Viktor Liebscher

im Ausland zu gängeln, ihn mit einer "ideologischen Zwangsjacke"


zu bekleiden.
Ganz anders das österreichische Strafgesetz 1803/1852. Der Personal-
grundsatz war zwar auch dort vom obrigkeitsstaatlichen Denken des
18. und 19. Jahrhunderts beeinflußt, hatte aber einen ganz realen
Hintergrund, da damals viele österreichische "Untertanen" als Kaufleute
oder Gewerbetreibende im östlichen Ausland, besonders im Osmani-
schen Reich, am Balkan lebten. Es galt, sie von der wenig attraktiven
Justiz des Halbmondes fernzuhalten. Dazu war außer den entspre-
chenden Konsulargerichtsverträgen die absolute Unterordnung des
Österreichers unter das heimische Recht erforderlich. Heute kennt das
österreichische StGB nur wenige Anwendungsfälle des Personalprin-
zips. Um jeden Verdacht einer "Treuepflicht" im Sinne des deutschen
Gesetzes von 1940 von vornherein zu entkräften, sieht § 65 öStGB vor,
daß Auslandstaten von Österreichern nur unter der Voraussetzung
ihrer Strafbedrohtheit am Tatort verfolgt werden können (Prinzip
der identischen Norm).

IV. Gesetzgebung

1. Daß die deutsche und die österreichische Strafgesetzgebung im


19. Jahrhundert verschiedene Wege gingen, hing vor allem damit zu-
sammen, daß das deutsche RStGB von 1871 über das preußische StGB
von 1951 starke Impulse vom Code penal empfing, während Österreich,
wie bereits angedeutet, spätestens seit 1803 auf eine eigene solide
Gesetzgebungstradition zurückblicken konnte, der es auch treu zu blei-
ben-gedachte. Trotzdem wiesen der deutsche Vorentwurf 1913 und der
österreichische Regierungsentwurf 1912 schon zufolge des regen Ge-
dankenaustausches der Gelehrten beachtliche Gemeinsamkeiten auf.
Beide Entwürfe kamen aber wegen des Kriegsausbruchs von 1914 nicht
mehr zum Zug.
Ein politisch wie legistisch recht anschauliches Zwischenspiel bot
dann der österreichisch-deutsche Strafgesetzentwurf 1927, den die heu-
tige Generation so gut wie vergessen hat, die dem betagten Österrei-
cher aber schon deswegen noch in guter Erinnerung ist, weil seine Be-
stimmungen bis zum Jahre 1933 zum Rechtsunterricht gehörten. Be-
zeichnenderweise gingen die Bestrebungen zu diesem Gemeinschafts-
werk, das absolut auf der Linie der politischen Zeitströmung lag, von
der österreichischen Landesgruppe der IKV, der letzten Teilorgani-
sation der von Franz von Liszt 1889 gegründeten und durch den Ersten
Weltkrieg zerschlagenen, weltweiten Verbindung aus. Sie waren auf
österreichischer Seite mit Namen wie Wenzeslaus Graf Gleispach und
Ferdinand Kadecka, auf deutscher Seite mit jenen von Erwin Bumke,
J escheck und die österreichische Strafrechtswissenschaft 1207

Gustav Radbruch und Wilhelm Kahl verbunden. Man gelangte zu


einem nahezu wörtlich übereinstimmenden Entwurf, der sich nur in
drei Punkten unterschied 1B : In der Frage der Todesstrafe, die in Öster-
reich seit 1919 durch Verfassungsbestimmung abgeschafft war, im Deut-
schen Reich aber noch fortbestand; in der Bestimmung über die An-
staltsverwahrung "geisteskranker, vermindert zurechnungsfähiger und
trunksüchtiger Verbrecher", für welche Neuerung in Österreich durch
den Bund eigene Anstalten errichtet werden sollten; schließlich auf
dem Gebiete der medizinisch-indizierten Schwangerschaftsunterbre-
chung, die nicht, wie deutscherseits vorgesehen, im Tatbestand selbst
geregelt, sondern nach allgemeinen Notstandsbestimmungen gelöst
werden sollte. Der Entwurf wurde am 14. Mai 1927 dem deutschen
Reichstag und am 12.7.1927 dem österreichischen Nationalrat zugelei-
tet, er wurde aber zufolge der nachfolgenden Ereignisse nicht mehr
behandelt.

2. Selbstverständlich dachte nach 1945 niemand mehr an ein ge-


meinsames Gesetzeswerk. Das änderte aber nichts daran, daß in der
Wissenschaft, wie früher, ein weitgehender Gleichklang bestand und
dogmatische Gegensätze nicht Angelegenheiten von "hüben" und "drü-
ben" waren. Vor allem aber hatte in der Öffentlichkeit, im Volk selbst,
ein tiefgreifender Lern- und Umdenkungsprozeß stattgefunden19 , der
eine ganz neue Einstellung zur Kriminalität, zu den rechtlich geschütz-
ten Werten und ihrer Rangordnung, der Stellung des einzelnen zur Ge-
sellschaft und dem Sanktionensystem geboren hatte. Außerdem wur-
den durch die Rom-Konvention vom 4. 11. 1950 (Europäische Menschen-
rechtskonvention), der sich beide Länder unterworfen hatten, eben
diese neuen Gedanken und Vorstellungen, die weitgehend das Straf-
recht berühren, neu und allgemeinverbindlich artikuliert. Durch ein
völlig neues Instrument, die Individualbeschwerde an die Straßburger
Instanzen des Europarates, wurde sichergestellt, daß diese Neuordnung
kein Lippenbekenntnis bleiben sollte.
Das war der Rahmen, in welchem sowohl das österreichische StGB
vom 23.1.1974 wie auch die Neufassung des deutschen StGB, die vor
allem eine völlige Umgestaltung des Allgemeinen Teils betraf, am
1. 1. 1975 in Kraft traten. In welch vielfältiger Weise Hans-Heinrich
J escheck an dieser Erneuerung europäischen strafrechtlichen Denkens
durch persönlichen Einsatz mitgewirkt hat, indem er wertvolles Altes
bewahrte, es aber in freiere und humanere Auffassungen hüllte, wird
in diesem Jubiläumswerk übersichtlich zur Darstellung gelangen. Auf-
gabe dieses Beitrages kann es nur sein, einige Stellen zu markieren,

18 RittZer, Lehrbuch, Bd. I, 1933, S. 18 f.


18 Jescheck (Anm. 15), S. 81, und ders., SchwZStr. 91 (1975), S. 11 ff.
1208 Viktor Liebscher

in denen das gedankliche Konzept Jeschecks bei der Gestaltung des


Allgemeinen Teils des österreichischen StGB besonders deutlich zum
Ausdruck kommt. Erleichtert wird dieses Unternehmen dadurch, daß
die dritte Auflage des Lehrbuchs jedes Kapitel (Notwehr, Einwilligung
des Verletzten, Versuch, Teilnahme usw.) mit einer besonderen Rubrik
"Ausländisches Recht" abschließt, in welcher die Behandlung des be-
treffenden Sachgebietes im österreichischen Strafgesetzbuch meist an
erster Stelle klar und übersichtlich erläutert wird.

3. Der wichtigste Komplex, der in diesem Zusammenhang einer


näheren Erörterung bedarf, ist der des Verbotsirrtums. Das Strafge-
setz 1852 hatte sich in seinem § 3 auf den naturrechtlichen Grundsatz:
"ignorantia iuris nocet" zurückgezogen, da es sich beim Strafgesetz ge-
wissermaßen um eine lex cordi hominum inscriptalO handle. Der OGH
hatte, um einigermaßen den gewandelten Realitäten des Lebens Rech-
nung zu tragen, diese sture Negation auf den strafrechtlichen Rechts-
irrtum beschränkt, den außerstrafrechtlichen Irrtum jedoch in der
Regel als Strafausschließungsgrund zugelassen. Zu welch heillosem
Chaos diese Scheindifferenzierung führen mußte, zeigt sich schon beim
sogenannten "indirekten Verbotsirrtum", also jenem über die Recht-
fertigungsgründe, bei dem die Grenzen vollkommen fließend sind. Dar-
auf hat die Wissenschaft wiederholt hingewiesenil und mancherlei
Lösungsvorschläge präsentiert.
Die Klärung für den deutschen Rechtsbereich brachte bekanntlich
die Grundsatzentscheidung des Großen Senats für Strafsachen des
Bundesgerichtshofes vom 18. 3. 195211, die - im Zusammenhang mit der
Aburteilung nationalsozialistischer Gewalttaten - aussprach, daß "nur
schuldhaft handelt, wer weiß, daß. das, wozu er sich in Freiheit ent-
schließt, Unrecht ist; ... das Bewußtsein, Unrecht zu tun, kann im Ein-
zelfall auch beim zurechnungsfähigen Menschen fehlen, weil er die
Verbotsnorm nicht kennt oder sie verkennt". Damit stellte sich der
BGH in dieser weithin als "Markstein der neueren Strafrechtsge-
schichte" gewerteten Entscheidung23 klar auf den Boden der sogenann-
ten "Schuldtheorie" , die für das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit als ein
vom Vorsatz getrenntes, selbständiges Schuldmerkmal eintrat. Für
Jescheck, der zu den führenden Vertretern dieser Auffassung gehörte,
war die Entscheidung schon dadurch gefallen, daß er - ohne sich des-
wegen mit den Finalisten zu identifizieren - den Vorsatz als Kern-
stück des personalen Handlungsunrechts auffaßteU.
20 Hye, Das österr. StG, Bd. I, 1855, zu § 3 S. 214.
11 Vor allem Platzgummer, JBI 1971, 241.
11 BGHSt.2, 194, 201.
13 Jescheck (Anm.15), S.365.
14 Jescheck (Anm. 15), S. 339.
Jescheck und die österreichische Strafrechtswissenschaft 1209

Die heute in der Bundesrepublik Deutschland fast einhellige Lehre


setzte sich über die Grenzen hinaus durch25 und bedeutete für Öster-
reich die entscheidende Wendung, die "das Gesetz mit einem Schritt
über 150 Jahre in die moderne pluralistische Gesellschaft mit ihrem
vielschichtigen und verschiedengewichtigen Normengeflecht hineinge-
stellt hat"l8.
§ 9 öStGB bestimmt nunmehr, daß nicht schuldhaft handelt, wer das
Unrecht der Tat wegen eines Rechtsirrtums nicht erkennt, wenn ihm
der Irrtum nicht vorzuwerfen ist. Drei Unterschiedlichkeiten bestehen
gegenüber dem den gleichen modernen Gedanken ausdrückenden § 17
dStGB: a) § 9 öStGB spricht von Vorwerfbarkeit, nicht von Vermeid-
barkeit, meint aber damit dasselbe, nämlich, daß es darauf ankommt,
ob der Täter in der Lage ist, das Unrecht der Tat einzusehen. b) Wich-
tiger ist, daß § 9 Abs.2 öStGB im Gegensatz zu § 17 dStGB selbst zwei
wichtige Hinweise für die Vorwerfbarkeit gibt, nämlich, wenn das
Unrecht "für den Täter wie für jedermann leicht erkennbar ist", oder
wenn er sich "mit den einschlägigen Vorschriften nicht bekannt ge-
macht hat, obwohl er nach den Umständen dazu verpflichtet gewesen
wäre". c) Während § 17 dStGB bei vorwerfbarem Verbotsirrtum einen
Sonderstrafrahmen vorsieht, findet nach § 9 öStGB - anders als nach
der in den Vorentwürfen vorgesehenen Regelung - die Bestrafung
nach dem Normalstrafrahmen statt. Doch § 34 Z 12 öStGB nimmt dar-
auf insofern Bezug, als er als Milderungsgrund vorsieht, daß der Täter
"die Tat in einem die Schuld nicht ausschließenden Rechtsirrtum (§ 9)
begangen hat, insbesondere, wenn er wegen vorsätzlicher Begehung
bestraft wird". Ein weiterer Unterschied gegenüber der deutschen
Rechtslage besteht auch darin, daß die österreichischen Bestimmungen
über den Rechtsirrtum durch die plausible Vorschrift des § 8 öStGB
über die "irrtümliche Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts"
ergänzt wird, die den Tatirrtum auf dem Gebiet der Unrechtsausschlie-
ßungsgründe jenem im Bereich des Tatbildes gleichstellt.
Die Erwartung Jeschecks27 , daß die Auslegung hier auch den Irrtum
über Rechtsbegriffe innerhalb des rechtfertigenden Sachverhalts ein-
ordnen wird, dürfte freilich kaum in Erfüllung gehen, da man die
ganze Regelung eben deswegen getroffen hat, um endlich über die lei-
dige Alternative von strafrechtlichem und außerstrafrechtlichem Rechts-
irrtum hinwegzukommen!8. Hingegen wird bei der Interpretation des
15 Mit Nachdruck schon immer vertreten von Platzgummer, Die Bewußt-
seinsform des Vorsatzes, 1964.
I1 Jescheck, Festvortrag zur Eröffnung der Tagung für Rechtsvergleichung
am 17.9.1975 in München, Festschrift für Lange, 1976, S. 372.
27 Jescheck (Anm. 15), S. 346.
28 Siehe hierzu auch Platzgummer, in: Strafrechtsprobleme der Gegenwart,
1973, S. 57 f.
1210 Viktor Liebscher

§ 9 öStGB durch die österreichische Judikatur die von J escheck immer


unterstrichene These zu beherzigen sein, daß es beim Unrechtsbewußt-
sein nicht auf die Kenntnis der Strafbarkeit, sondern auf die der ma-
teriellen Rechtswidrigkeit, also auf eine "Kenntnis nach Laienart"
ankommt28 • Das ist auch die Auffassung der österreichischen Lehre.
Platzgummer8IJ spricht sich für die "Parallelbewertung in der Laien-
sphäre" des Täters aus, die gerade dann als Minimalerfordernis an-
erkannt werden muß, wenn man sich in der Frage des Verbotsirrtums
für die Schuldtheorie entscheidet.

4. Wurzeln die Vorstellungen Jeschecks über das Unrechtsbewußt-


sein in der seitens einer pervertierten Rechtsordnung gezeugten tiefen
Erschütterung des Rechtsgefühls31 , die ihm diese Thematik zum zen-
tralen Anliegen seines wissenschaftlichen Schaffens werden ließ, dessen
Ergebnisse Eingang in die zeitgenössische Gesetzgebung fanden, so
trifft dieser emotionale Hintergrund auch auf eine Reihe anderer
Rechtsinstitute zu, die den Allgemeinen Teil eines StGB ausmachen.
Er bezeichnet es als "Gewinn für die Gerechtigkeit"8!, daß beim Auf-
bau der Fahrlässigkeit eine doppelte Prüfung stattfindet, nämlich
einerseits die der objektiven Sorgfaltspflicht und anderseits die
Prüfung der Frage, ob der Täter den Sorgfaltsanforderungen nach sei-
nen persönlichen Gegebenheiten auch nachzukommen vermag. Das
österreichische Strafgesetzbuch hat in § 6 Abs. 1 diesen konstruktiven
Gedanken noch vertieft, indem es von einer "Befähigung nach seinen
geistigen und körperlichen Verhältnissen" spricht, aber nur jene Sorg-
falt vom Täter verlangt, "die ihm zuzumuten ist". Damit ist das gleiche
normative Element wie beim entschuldigenden Notstand (§ 10 öStGB)
auCh-für die Fahrlässigkeit zum Maßstab geworden. Fehlleistungen,
die bei einer gefahrgeneigten Tätigkeit unterlaufen, können im Hin-
blick auf das Ausmaß der Belastung und die darin begründete über-
forderung unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit gegebenen-
falls entschuldigt sein33 • Jescheck selbst hält diese Regelung für einen
"häufig übersehenen Gesichtspunkt", der die strafrechtliche Verant-
wortung auf ein vertretbares Maß zurückführt34 •

ze Jescheck, Lehrbuch, Allg. Teil, 2. Auf!. 1972, S. 340.


~o JBl 1971, 242.
11 Jescheck (Anm. 7).
SI Jescheck (Anm. 26), S. 375.
33 Erläuternde Bemerkungen zur Regierungsvorlage 1971, S. 69.

u Anm.26.
Jescheck und die österreichische Strafrechtswissenschaft 1211

v. Rechtsprechung

Ist es ein durchaus üblicher Vorgang, daß bei Gesetzesreformen auf


das Material zurückgegriffen wird, das sich in Gelehrtenstuben und auf
den Lehrstühlen der Universitäten ansammelte, daß also die Lehre
zum Gesetzgebungsprozeß ihren Beitrag leistet, so überraschend ist es,
wenn Gerichte ohne jedwede Gesetzänderung eine jahrzehntelange Ju-
dikatur neuen Gedanken opfern, die ausschließlich der Doktrin ent-
stammen. Das kann nur eine überzeugungskraft ganz besonderer Art
bewirken. Eben diese Auszeichnung wurde dem Jubilar seitens des
österreichischen Obersten Gerichtshofs in der Frage des bedingten
Vorsatzes zuteil.
Seit dem Beginn des Jahrhunderts hatte das österreichische Höchst-
gericht die (dem Strafgesetz selbst fremde) Schuldform des dolus even-
tualis (als Abart des dolus directus, nicht des dolus indirectus) aner-
kannfl 5, wenn der Urheber eines Verletzungs erfolges sich desselben
als einer möglichen Folge seines Verhaltens bewußt war und trotz
dieses Bewußtseins die betreffende Handlung auf die Gefahr hin un-
ternommen hatte, daß dieser mögliche Erfolg auch wirklich eintritt.
Er befand sich damit, ebenso wie die Lehre, auf dem Boden der soge-
nannten "ersten Frankschen Formel", die danach fragt: "Wie hätte
sich der Täter verhalten, hätte er sich das, was ihm möglich erschien,
als gewiß vorgestellt?"iI8.
Fast abrupt brach das Höchstgericht mit dieser Tradition in seiner
Entscheidung vom 20.4. 1970, 9 Os 178/69, die später als SSt 41119 in
die amtliche Sammlung einging. "Zur Annahme eines bedingten Vor-
satzes", heißt es dort (es handelte sich um die Herauslockung eines
Mietwagens, also um Betrug im Sinne des § 197 öStGB), "würde die
bloße Feststellung, der Täter habe die Möglichkeit eines Schadensein-
trittes in Kauf genommen, in dem Sinn, daß er bewußt daran gedacht
habe, noch nicht hinreichen. Die Rechtsfigur des dolus eventualis setzt
vielmehr voraus, daß der Täter den keineswegs angestrebten, aber
seinem Wissen nach im Bereich des Möglichen gelegenen Taterfolg -
beim Betrug den der Irreführung entspringenden Schaden - ernstlich
für möglich hält und sich mit dessen allfälligem, tatsächlichen Eintritt
abfindet. Mit anderen Worten gesagt, ist einem solchen Täter die in-
nere Einstellung zu eigen, daß er in jedem Fall zur Handlung ent-
schlossen ist, mag deren Erfolg so oder anders sein". Noch vor Inkraft-
treten des neuen StGB bekräftigte der OGH diese grundsätzliche Wen-
dung in einer Reihe weiterer Entscheidungenl7 , indem er siCh aus-
85 Entscheidung vom 17.5.1912, SSt 4/19, 14/48, EvBI 1947/108.
I' Vgl. Rittler (Anm. 18), S. 132.
87 EvBI 1971/144. 1972/137 und 353. 1973/22.
1212 Viktor Liebscher

drücklich auf J escheck38 berief und der ersten Frankschen Formel


deswegen eine endgültige Absage erteilte, weil die hypothetische Er-
wägung, wieder Täter bei sicherer Kenntnis vom Erfolgseintritt ge-
handelt hätte, schon aus praktischen Gründen nie zielführend sein
könne. Denn der Versuch der Feststellung eines solchen inneren Vor-
habens müsse in der Regel an Beweisschwierigkeiten scheitern. Für
einen bedingten Vorsatz sei eben gerade das Handeln auf die hinge-
nommene Ungewißheit des Erfolges charakteristisch.
Dieser Wandel auf einem auch praktisch sehr bedeutsamen Sektor
der Rechtsprechung - im Wirtschaftsstrafrecht geht es hier immer
wieder um die Abgrenzung des Betruges von der fahrlässigen Krida -
spielte sich bereits im Vorfeld des neuen § 5 öStGB ab und fand die
einmütige Billigung desSchrifttumsat. Ähnliche überlegungen waren
ja auch bereits bei uns angestellt worden, aber die neue Formel wurde
am präzisesten von J escheck.40 gefaßt und vorgestellt. Hierzu Platz-
gummer41 : "Während die Entwürfe bis 1968 den bedingten Vorsatz noch
von der Feststellung fragwürdiger Gefühlserlebnisse abhängig machen
wollten, stellt § 5 nunmehr darauf ab, ob der Täter ernstlich mit der
Tatbildverwirklichung gerechnet und sich mit ihr abgefunden hat.
Danach ist also nicht mehr die innere Einstellung zum möglichen Un-
rechtserfolg - ein Billigen oder Einverstandensein - entscheidend,
sondern es kommt in erster Linie darauf an, wie der Täter die Mög-
lichkeit des Erfolgseintritts eingeschätzt hat ... Diese Abgrenzung ver-
dient unter den vielen bisher eingebrachten Lösungsvorschlägen den
Vorzug. Sie ist nicht nur wegen der stärkeren Betonung der intellek-
tuellen Seite eher praktikabel, sondern auch sachgerecht, weil sie die
"EntsCheidung über die mögliche Tatbildverwirklichung zum eigent-
lichen Kriterium macht."

VI. Remtsethik

Alle diese Einzeldisziplinen des Strafrechts wären, soviel sie für den
wissenschaftlichen Fortschritt an sich bedeuten mögen, ein Torso, wür-
den sie nicht durch das einigende Band dieses Lebenswerkes zusam-
mengeschweißt: die sittlichen Werte und die Besinnung auf die sitt-

as Jescheck, Lehrbuch, Allg. Teil, 1. Auft. 1969, S. 201 f.; siehe auch ders ..
Allg. Teil, 2. Auft. 1972, S.222 f.; BGHSt. 2, 194, 201.
38 Pallin, ZStW 84 (1972), S.201; LeukauflSteininger, 2. Auft. 1979, § 5
Rdn. 15; Liebscher, ZfRV 1970, 188.
40 Festschrift für Erik Wolf, 1972, S. 482 ff. Über den Zusammenhang dieser
Formel mit der Rechtsprechung des Schweizer Bundesgerichts siehe Ger-
mann, ZStW 71 (1959), S. 161, und ders., SchwZStr. 77 (1961), S. 378 ff.
41 JBl 1971, 239; siehe auch ders., Die Bewußtseinsform des Vorsatzes, 1964,
S.62 Fn.23.
J escheck und die österreichische Strafrechtswissenschaft 1213

lichen Pflichten, die hinter jedem Strafgesetz stehen müssen4!. Kaum


eine der vielen Aktivitäten Jeschecks, die nicht auf diese Grundforde-
rung als Wurzel des Gesamtbaues der Rechtsordnung ausgerichtet wäre.
Man feiert zu Recht Christian Thomasius als jenen Rechtsphiloso-
phen, der Wissenschaft und Rechtsordnung endgültig von der Bevor-
mundung dllrch die Theologie befreite und beide zu selbständigen, vom
kirchlichen Dogma unabhängigen geistigen Werten gemacht hatCI. Be-
denklich wird es jedoch, wenn seine Epigonen sich nicht nur zu der
auch dem Juristen geläufigen Differenzierung von Recht und Moral
bekennen, sondern darüber hinaus im Sinne eines positivistischen
Wissenschaftsbegriffes die "sittliche Wertfreiheit der Norm" fordern,
so daß der Jurist über deren "Gerechtigkeitswert" nicht mehr zu dis-
kutieren hätte. Dieser Strömung erteilt J escheck - und das ist die
Quintessenz seines Schaffens - eine klare Absage: "Gerade diese Ein-
schränkung der Aufgabe des Juristen würden wir in Deutschland aber
nicht mehr hinnehmen"."
Ähnlich, wenn auch viel drastischer, hat es schon vor mehr als
50 Jahren der große, aus dem Richterberuf hervorgegangene österrei-
chische Lyriker Anton Wildgans gesehen: "Bessere Halunken gehen
legaliter vor"45. Ein Wort des 1932 als Burgtheaterdirektor verstorbenen
österreichischen Dichters, der ein Leben lang um die Probleme der Ge-
rechtigkeit gerungen hat, mag denn auch diesen Beitrag beschließen:
"Und wär' fast schlecht geworden in all der Schlechtigkeit,
ach, eine zarte Rebe ist die Gerechtigkeit!"

42 Jescheck (Anm. 7).


CI Simson, Einer gegen Alle, 1960, S. 9.
" Jescheck (Anm. 1).
U "Kirbisch oder der Gendarm, die Schande und das Glück", ein episches
Gedicht, neunter Gesang.
ROBERT HAUSER

Die Rechtsvergleichung als Auslegungshilfe in


der höchstrichterlichen Rechtsprechung
im materiellen Strafrecht

Wie für den Einzelnen so ist für die Völker der Um-
gang mit andern ein unentbehrliches Lebenselement.
Die Gesetzgebung darf nicht zur chinesischen Mauer
werden. Eugen Huber

I. Der Gegenstand der Abhandlung

Der Strafrichter kommt bei seiner Tätigkeit öfters mit dem Recht
eines anderen Staates in Berührung. Zu berücksichtigen ist eine fremde
Rechtsordnung beispielsweise beim Erfordernis der beidseitigen Straf-
barkeit im Rahmen der Auslieferung1 oder bei der Gewährung von
Rechtshilfe 2 • Für den schweizerischen Richter stellt sich bei der Beurtei-
lung von Delikten mit Beziehungen zum Ausland die Frage, ob konkur-
rierendes ausländisches Recht als "lex mitior" anzuwenden sei (Art. 5
Abs. 1, 6 Ziff. 1, 6 bis Ziff. 1 StGB).
Auf diese Problematik ist jedoch nicht einzugehen. Gegenstand der
Abhandlung bildet vielmehr die Darstellung, wie bei der Anwendung
des eigenen Landesrechtes der Richter Gesetzgebung, Doktrin und
Praxis eines andern Rechtes konsultiert und berücksichtigr'. Aus Platz-
gründen beschränken sich die Ausführungen auf die Präjudizien des

1 § 3 Abs. 1 dGesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen von


1982; § 11 öGesetz über die Auslieferung und Rechtshilfe in Strafsachen von
1979; Art.35, 36 schwGesetz über internationale Rechtshilfe in Strafsachen
von 1981; vgl. einen Anwendungsfall in SSt 41, 1970, Nr. 14 (Betrug im öster-
reichischen und schweizerischen Strafrecht).
2 BGHSt.24, 1974, S. 297 ff. betr. Gewährung von Rechtshilfe durch die
Bundesrepublik Deutschland gegenüber einem schweizerischen Ersuchen.
a Vgl. dazu allgemein: Aubin, Die rechtsvergleichende Interpretation auto-
nomen-internen Rechts in der deutschen Rechtsprechung, Rabels Zeitschrift
für ausländisches und internationales Privatrecht 34, 1970, S. 458 ff.; Ebert.
Rechtsvergleichung, 1978, S. 176 ff.; Germann, Präjudizien als Rechtsquellen,
1960, S. 18 ff.; Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 3. Aufl. 1978,
S. 34 f.; Uyterhoeven, Richterliche Rechtsfindung und Rechtsvergleichung,
1959; ZweigertlKötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, Bd. I, 2. Aufl.
1984, S. 17 ff.
1216 Robert Hauser

deutschen Bundesgerichtshofes (zit. BGHSt), des österreichischen Ober-


sten Gerichtshofes (SSt) und des schweizerischen Bundesgerichts (BGE).
Auch das Strafverfahrensrecht muß unbehandelt bleiben'. Selbst bei
dieser Beschränkung kann aus der Fülle des Stoffes nur eine Auswahl
vorgetragen werden.

11. Die Rechtsvergleichung in den Präjudizien

1. StrafreCht allgemeiner Teil


a) Die Auslegung
Das österreichische und das deutsche StGB ahnden den Einbruchs-
diebstahl mittels eines "Schlüssels" als qualifizierten Tatbestand. § 129
Ziff. 1 öStGB spricht von einem "nachgeahmten oder widerrechtlich er-
langten Schlüssel", § 243 Abs. 1 Nr. 1 dStGB von einem "falschen Schlüs-
seI". Hierzu führt der Oberste Gerichtshof aus:
"Das Strafgesetzbuch stellt - im Gegensatz etwa zu § 243 Abs. 1 Nr. 1
dStGB - ausdrücklich nicht auf den ,falschen', sondern auf den ,nachge-
machten' Schlüssel ab .... Es kann nun nicht im Wege der Auslegung der
Begriff ,nachgemacht' in den (umfassenderen) Begriff ,falsch' umgedeutet
werden. Denn die Auslegung muß stets ihre äußerste Grenze im ,möglichen
Wortsinn' des auszulegenden Begriffs haben; was jenseits dieser Grenze
liegt, ist nicht mehr Auslegung, sondern bereits unzulässige richterliche
Rechtsfindung (Jeseheek, 2. Aufl., S. 125)5."
Eine fast wörtlich gleiche Formulierung findet sich auch in der Recht-
sprechung des Bundesgerichts'.
_ Di~ses Ein~angsbeispiel zeigt bereits sehr deutlich, wie die höchstrich-
terliche Rechtsprechung übereinstimmt, auch wenn eine beschränkte
Rechtsvergleichung stattfindet.

b) Die Schuldfähigkeit
Nach Art. 13 schwStGB ordnet die urteilende Behörde eine psychia-
trische Begutachtung des Beschuldigten an, wenn Zweifel an seiner Zu-
rechnungsfähigkeit bestehen. Wann der Richter solche Zweifel hegen
müsse, legte das Bundesgericht zunächst einschränkend aus. In BGE 98,
1972, IV 157 änderte das Gericht seine Auffassung und erklärte, es ge-
nüge, wenn "ernsthafter Anlaß zum Zweifel bestehe". Die Begründung
führt aus:

4 Dazu CIere, Un exemple de l'apport du droit compare a !'interpretation


des lois de procedure penale, in: Varia luridica, 1981, S. 127 ff.; Jescheck,
Rechtsvergleichung als Grundlage der Strafprozeßreform, in: Strafrecht im
Dienste der Gemeinschaft, 1980, S. 303 ff.
5 SSt 48,1977, Nr. 37 S.163.
• BGE 103, 1977, I a 97, IV 130.
Die Rechtsvergleichung als Auslegungshilfe 1217

"Entsprechend ist nach der deutschen Rechtsprechung die Zurechnungs-


fähigkeit ,bei genügendem Anlaß', beim Vorliegen ,begründeter Zweifel' von
Amts wegen zu prüfen (Leipziger Kommentar zu § 51 StGB, Anm.3 und 14).
Eine ähnliche Auffassung wird in Frankreich vertreten (Repertoire Dalloz,
Responsabilite penale, Nr. 16 Expertise mentale: ,Le juge ... n'en a pas moins
le devoir de faire un large appel aux medecins experts')."

c) Vorsatz - Probleme
aal Voraussetzungen des Vorsatzes; dolus incidens et superveniens
Aufschlußreich ist der Entscheid des Obersten Gerichtshofes, SSt 44,
1973, Nr. 19 S. 65 f.
"Die Zurechnung der Tat zur Schuld setzt nach Lehre und Rechtsprechung
bei den Vorsatz delikten voraus, daß der Täter im Zeitpunkt des HandeIns die
Geschehensmomente kennt und vom Unerlaubtsein seines Verhaltens im
Rahmen der Grundordnung des Gemeinwesens weiß (Schmidhäuser, Straf-
recht, Allgemeiner Teil, S. 302 ff.). Tatbewußtsein und Unrechtsbewußtsein
müssen demnach der Tat zeitlich vorausgehen und das Handeln begleiten. Der
Handlung folgende Erkenntnisse und Willensvorgänge sind ebenso unerheb-
lich - dolus superveniens non nocet - wie vorausgegangene, die im Augen-
blick des HandeIns nicht mehr aktuell sind."
Ob der "dolus malus superveniens" beim Tatbestand der Hehlerei
nach Art. 144 schwStGB strafbar sei, hat das Bundesgericht mit folgen-
den überlegungen entschieden:
"Würde das Verheimlichen nur in den Fällen bestraft, in denen der Täter
die Sache bereits bösgläubig erworben hatte, so bliebe dieser Tatbestand
nahezu bedeutungslos ... Die Auffassung, daß der Grundsatz ,mala fides
superveniens non nocet' keine Geltung hat, wenn der nachträglich bösgläu-
big gewordene Erwerber die Sache verheimlicht, wird dann auch in Lehre
und Rechtsprechung vertreten (Leipziger Kommentar II S. 430, Schönke/
Schröder, 11. Aufl., S. 1066 Anm. 48, RGSt.33 S. 122, 47 S. 242, 57 S. 160)1."

bb) Bedingter Vorsatz


Nach allgemeiner Auffassung handelt mit Wissen und Willen auch
derjenige, der seine Tat eventualvorsätzlich ausführt.
Schweizerischer Rechtsauffassung folgend hält der Täter den delikti-
schen Erfolg für möglich und er will diesen für den Fall, daß er eintre-
ten sollte. Zur näheren Auslegung stützt sich das Bundesgericht auf
folgende überlegungen:
«D'ailleurs, la Cour supreme allemande ne s'est pas laisse ebranler par les
critiques de la doctrine. Se referant a la jurisprudence du Tribunal d'Empire
et a la sienne, le Tribunal federal allemand a precise que le consentement
(Billigung) ne signifiait pas que le resultat doive correspondre aux desirs de
l'auteur; il peut y avoir dol eventuel meme si l'auteur ne desire pas que le
resultat se produise; l'auteur consent neanmoins a ce resultat, lorsque pour

7 BGE 90, 1964, IV 18.

77 Festschrift für H.-H . .Tescheck


1218 Robert Hauser

atteindre le but qu'il se propose il s'aeeomode aussi, dans la mesure ou il ne


peut arriver a chef autrement, du fait que son aete eonduise a un resultat
qu'il ne desire pas eomme tel; il veut des lors ce resultat pour le eas ou il
se produirait (BGHSt. 7, 1955, p. 369)8. »
Wie die helvetische Rechtsprechung zieht auch die österreichische das
Recht der Bundesrepublik Deutschland zu Rate:
"Bedingter Vorsatz setzt voraus, daß der Täter das verbrecherische Übel
bedacht und beschlossen hat, wobei er sich dasselbe zumindest als eine mög-
liche Folge seines Verhaltens vorstellt, trotz dieser Vorstellung auf die Ge-
fahr hin handelt, daß die von ihm ernstlich für möglich gehaltene Unrechts-
folge auch wirklich eintritt und sich damit abfindet (Jescheck, Lehrbuch,
S. 201 f.)v."

In diesem Zusammenhang stellt sich auch das schwierige Problem der


Unterscheidung zwischen dolus eventualis und bewußter Fahrlässigkeit.
Der Oberste Gerichtshof nimmt diese Abgrenzung gestützt auf die
deutsche Doktrin folgendermaßen vor:
"Für die Entscheidung, ob der Täter in der einen oder der anderen Willens-
richtung (bedingt vorsätzlich oder bewußt fahrlässig) gehandelt hat, wird es
neben der Beurteilung seiner Persönlichkeit und der damit verbundenen
Frage, ob dem Täter nach den Umständen eine vorsätzliche Handlung zu-
zumuten war, auch auf das objektive Moment, nämlich das Gewicht des ein-
gegangenen Risikos und die Größe sowie Nähe der Gefahr, aber auch auf die
Kenntnis und Einschätzung dieser Umstände durch den Täter ankommen
(Jescheck, 2. Aufl., S. 222 f.: ähnlich auch Leukauf/Steininger, Komm. S.69)10."

d) Fragen aus dem Gebiete der Teilnahme


aal Gehilfenschaft
--Zur Frage, wie lange Gehilfenschaft mit Bezug auf die Verwirkli-
chung der Haupttat möglich sei, führte das Bundesgericht aus:
"Die Beteiligung des Gehilfen ist dabei so lange möglich, als die Tat noch
nicht beendet ist, d. h. als nach einem rechtlich vollendeten Delikt durch das
nachfolgende Verhalten des Täters das verletzte Rechtsgut weiterhin beein-
trächtigt wird (Schönke/Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 14. Aufl.,
S. 278 N. 1-2 bund S. 364 N. 8)11."

bb) Die Abgrenzung der Gehilfenschaft zur Täterschaft


In einem der eher seltenen rechtsvergleichenden Präjudizien berief
sich der Bundesgerichtshof unter anderem auf die österreichische Dok-
trin und entschied, auf Beihilfe sei zu erkennen, wenn zweifelhaft

8 BGE 92, 1966, IV 68 f., deutsche übersetzung Praxis des Bundesgerichts


(Pr) 55, 1966, Nr. 137.
• SSt 42, 1971, Nr. 22 S. 84.
10 SSt 46, 1975, Nr. 8 S. 24.
11 BGE 98, 1972, IV 85.
Die Rechtsvergleichung als Auslegungshilfe 1219

bleibe, ob der Angeklagte mit Täter- oder Gehilfenvorsatz gehandelt


habei!. Eine Wahlfeststellung wurde damit abgelehnt.

ce) Das Verhältnis von Anstiftung zu Täterschaft


Lehre und Rechtsprechung lassen die Handlungen i. S. der Anstiftung
und der Teilnalune in letzterer aufgehen. Nach Zitierung schweizeri-
scher Autoren und eines kantonalen Entscheides führt der Kassations-
hof des Bundesgerichtes aus:
"Gleicher Ansicht sind Lehre und Rechtsprechung in Deutschland und
Österreich, die im Hinblick auf die Teilnahme eine analoge Regelung wie die
Schweiz haben (z. B. Jescheck, Lehrbuch, 2. Aufl., S. 528 und 561, RGSt. 62 S. 74,
BGHSt.4 S. 247, Rittler, Strafrecht, Bd. 1 S.256)13."

dd) Mittäterschaft
Der Mittäter wird in § 12 öStGB erwähnt, aber kaum näher um-
schrieben. Die Rechtsprechung läßt sich vom "Prinzip der allgemeinen
Zurechnung aller Tathandlungen an die Mittäter" leiten und führt dazu
aus:
"Die gemeinschaftliche strafrechtliche Verantwortlichkeit reicht so weit, wie
der gemeinsame Tatentschluß geht. Handlungen einzelner Beteiligter, die
darüber hinausgehen (Exzeß), können allerdings nur diesem zur Last gelegt
werden (Jescheck, S. 515)14."
Und in SSt 45, 1974, Nr.27 S. 117 findet sich folgende Passage:
"Ist doch nach dem oben Gesagten eine Abweichung der Vorstellungen
eines Mitwirkenden über den konkreten Ablauf der Tat, an welcher er sich
als Mittäter beteiligt, insolange nicht beachtlich, als die Differenz zwischen
den Lebenskonkreta und dem vorgestellten Verlauf keine andere rechtliche
Bewertung zu seinen Gunsten erfordert (Jescheck, 2. Aufl., S.232, 522, 527,
vgl. auch Rittler, 2. Aufl., S. 204)."

ee) Nebentäterschaft
Mit dem Wesen und der Bedeutung der Nebentäterschaft sowie ihrer
Abgrenzung zur Mittäterschaft befaßt sich ausschließlich die Wissen-
schaft. Die von ihr entwickelten Erkenntnisse übernimmt die österrei-
chische Rechtsprechung mit folgender Rechtsvergleichung:
"Richtig ist, daß die Lehre zwischen Mittäterschaft und Mehrtäterschaft im
engeren Sinn (Nebentäterschaft) unterscheidet. Erstere liegt vor, wenn meh-
rere Personen ... eine Vorsatztat gemeinschaftlich verwirklichen. Dagegen
spricht man von Nebentäterschaft dann, wenn mehrere Personen, jedoch
nicht im bewußten und gewollten Zusammenwirken hinsichtlich des Erfol-
ges, den Tatbestand einer strafbaren Handlung verwirklichen. Wesentlich ist

11 BGHSt.23, 1969, S.206, unter Berufung auf Nowakowski, Verkappte


Wahlfeststellungen?, Juristische Blätter 1958, S. 380, 383.
13 BGE 100, 1974, IV 3.
14 SSt 46, 1975, Nr. 72 S.222.

77'
1220 Robert Hauser

also, daß die Nebentäter den tatbestandsmäßigen Erfolg gemeinschaftlich


herbeiführen, ohne subjektiv durch einen - auch den Erfolg betreffenden-
gemeinsamen Tatentschluß verbunden zu sein (Jescheck, Lehrbuch des Straf-
rechts, Allg. Teil, 2. Aufl., S. 516)15."

e) Probleme zu den Rechtfertigungsgründen


aal Das Verhältnis von Notwehr zu Notstand
Die Rechtfertigung einer Tat durch Notwehr setzt einen rechtswidri-
gen Angriff durch einen Menschen voraus. Die von einem Tier ausge-
hende unmittelbare Gefahr begründet eine Notstands- und keine Not-
wehrlage, es sei denn, das Tier werde von einem Menschen als Angriffs-
mittel benützt. Bei dieser Auslegung stützt sich das Bundesgericht auf
die schweizerische Doktrin und führt zur Unterstützung dieser Ansicht
folgendes aus:
« En Allemagne, la doctrine dominante et le Reichsgericht se sont pronon-
ces dans le meme sens (SchönkeISchröder, 14" ed., n 6 ad § 53 et les referen-
ces)18. »

bb) Angemessenheit der Abwehrhandlung bei Notwehr


Das österreichische Recht verlangt in § 3 StGB, daß die Gegenwehr
dem Angriff angemessen sei, d. h. der Angegriffene darf sich nur der
"nötigen" Verteidigung bedienen. Ein Ausweichen vor einem Angriff
ist insbesondere dann zumutbar, wenn der Angriff von einer nicht er-
wachsenen Person, einem Geisteskranken oder einem Betrunkenen aus-
geht17 • Dazu der Oberste Gerichtshof:
"Unter diesem sozialethischen Gesichtspunkt ist daher für die Annahme
einer gebotenen Notwehr das SelbstschutzpFinzip Wld nicht das sogenannte
Rechtsbewährungsprinzip in den Vordergrund zu stellen, zumal zur Vertei-
digung der Rechtsordnung nicht der Einzelne, sondern der Staat berufen ist
(Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, S.32, Anm.68) ... Jedenfalls
kann für die Beurteilung eine Art übergesetzlicher Ehrenkodex (vgl. etwa
Rittler Bd. I, 2. Aufl., S. 140, Nowakowski, S.58, Dreher, dStGB zu § 53, die
von ,feiger bzw. unehrenhafter' oder ,schimpflicher' Flucht sprechen) keine
Rolle spielen18."
f) Die fortgesetzte Tat

Das fortgesetzte Delikt wird, obwohl es aus einer Mehrzahl von Hand-
lungen besteht, als eine Straftat behandelt. Zusammengefaßt wird sie
durch einen einheitlichen im voraus ge faßten Willensentschluß, gleiche
oder ähnliche Handlungen zu begehen1D .

15 Sst 44, 1973, Nr. 36 S. 123.


10 BGE 97, 1971, IV 75 = Pr. 60, 1971, Nr. 112.
17 ForeggerlSerini, 1978, § 3 StGB Anm. 11.
18 SSt 43, 1972, Nr. 50 S. 225 f.
Die Rechtsvergleichung als Auslegungshilfe 1221

Zur juristischen Qualifikation steIlten der Oberste Gerichtshof und


das Bundesgericht folgende Erwägungen an:
"J eder einzelne Teilakt erfüllt die Deliktsvoraussetzungen des § 223 Abs. 2
öStGB, der Tathergang ist jeweils gleichartig, es besteht ein zeitlicher und
räumlicher Zusammenhang, dasselbe Re~tsgut wurde verletzt und es war
eine Einheitlichkeit des Vorsatzes gegeben (Schönke/Schröder, Kommentar,
dStGB, 20. AufI.., Vorbemerkungen zu §§ 52 ff., N 33, 34, 36, 38, 41, 42 und 47 ff.,
Vogler im Leipziger Kommentar, dStGB, 10. Aufl., Vorbemerkungen zu
§§ 52 ff., N 50, 52, 53, 54, 57 ff.)!o."
"Für die Annahme eines solchen Fortsetzungszusammenhanges ist jedoch
u. a. Voraussetzung, daß die einzelnen Teilakte in einem noch erkennbaren
zeitlichen Zusammenhang stehen und nicht durch einen großen Zeitraum
unterbrochen sind (LeukaufISteininger, Kommentar zum öStGB, 2. Aufl.,
N 32 zu § 28, Schönke/Schröder, Vorbemerkungen zu §§ 52 ff., N 36, 41, Vogler,
Vorbemerkungen zu §§ 52 ff., N 52)21."
"Nicht im Fortsetzungszusammenhang stehen können dagegen Strafhand-
lungen, die dem gesetzlichen Tatbestand oder ihrer rechtlichen Natur nach
verschieden sind (BGHSt. 12 S. 147 und dort angeführte Urteile, ferner Kom-
mentar Schönke/Schröder, 12. Aufl., S. 488 ff.)22."

g) Bemessung der Geldstrafe


Die Bundesrepublik Deutschland und Österreich bemessen die Geld-
strafe nach dem Tagessatzsystem (§ 40 dStGB, § 19 öStGB)23. Nach
J escheck befindet sich der Richter bei der Bemessung der Tagessätze für
eine erwerbslose Hausfrau in "einiger Verlegenheit". Als sich der
Oberste Gerichtshof mit diesem Problem befassen mußte, konsultierte
er den Aufsatz des deutschen Strafrechtlers Trändle u und zog daraus
folgenden Schluß:
"Handelt es sich bei dem Rechtsbrecher um eine - ausschließlich mit der
Besorgung des Haushalts und der Erziehung von Kleinkindern befaßte -
vermögenslose Ehefrau, der eine zusätzliche Nebenbeschäftigung nicht zuzu-
muten ist, so bestimmt sich ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit etwa nach
dem, was im Rahmen des Lebenszuschnitts der Familie aus dem Familien-
einkommen bei Berücksichtigung der unbedingt notwendigen Aufwendungen
für die Lebenshaltung (bezüglich deren die Vorschriften des Lohnpfändungs-
gesetzes über das Existenzminimum eine Richtschnur abzugeben vermögen)
ihr allein für ihre Person durchschnittlich zufließt bzw. zusteht (Tröndle,
ÖJZ 1975, insbesondere S. 593 f.)u."

1V So auch SSt 52, 1981, Nr.61 S.229 unter Berufung auf SchönkelSchrö-
der, 20. Aufl., Vorbem. zu §§ 52 ff., dStGB N 34, 47 ff.
20 Sst 52, 1981, Nr. 60 S. 220, Nr. 61 S.229.
21 SSt 52, 1981, Nr. 60 S. 214.
22 BGE 91, 1965, IV 66 f.

23 Dazu Jescheck, Die Geldstrafe als Mittel moderner Kriminalpolitik in


rechtsvergleichender Sicht, in: Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft, 1980,
S. 386 ff.
24 Tröndle, Geldstrafe und Tagessatzsystem, ÖJZ 1975, S. 589 ff.
!5 SSt 47, 1976, Nr. 6 S. 20 f.
1222 Robert Hauser

h) Probleme zum Strafantrag


aal Der Strafantrag als Prozeßvoraussetzung
Die Frage, ob der Strafantrag objektive Strafbarkeitsbedingung oder
Prozeßvoraussetzung sei, ist in' der Schweiz lebhaft umstritten. Das
Bundesgericht hat sich in ständiger Rechtsprechung für die Prozeßvor-
aussetzung entschieden. Es findet sich damit nach seinen eigenen Fest-
stellungen mit den Rechtsordnungen der angrenzenden Staaten in über-
einstimmung:
« 11 y a d'autant moins de raisons de s'en ecarter que la jurisprudence des
Etats voisins va dans le meme sens (Allemagne: Schönke/Schröder, § 61 N 8 ;
France: Bouzat, Traite, Tome 1 N 866; Autriche: Rittler, Tome 1 p.71 et
248). La Cour de cassation penale italienne notamment, en accord avec la
majorite de la doctrine, considere la plainte comme une condition de la
poursuite (Foro penale, 1952, 21 cite par Manzini, Trattato di diritto penale
italiano, Tome 1, 4" edition 1961, N 187 III p.490, rem. 9 in fine ...)28.»

bb) Das Recht, Strafantrag zu stellen


Dieses Recht steht dem Verletzten zu, Art. 28 Abs.l schwStGB. Dazu
entschied der Kassationshof des Bundesgerichts:
«La nozione di leso non e necessariamente unitaria ed identica rispetto ad
ogni fattispecie penale e pub pertanto essere definita solo determinando gli
scopi della norma materialmente applicabile e il relativa oggetto della tutela
penale (cosi anche BGHSt.5, 87, Saltelli Romano/Di Falco, Nuovo codice
penale, Vol. IV, pag. 385, e riferimenti.»
Zur Legitimation der Erben zum Strafantrag bei Verletzung des Be-
rufsgeheimnisses durch den Arzt nach Ableben des Patienten erwog
d_~Egleiche Entscheid:
«Partendo da queste ed altre considerazioni, la dottrina svizzera ed estera,
e andata anche oltre, suggerendo di riconoscere come lesi e quindi come tito-
lari deI diritto di querela, nel caso di violazione di un segreto riferentesi a
persona defunta, ogni datore deI segreto ehe, per ragioni familiari, sia inter-
venuto nel rapporto di fiducia gis esistente fra la persona defunta e il pro-
fessionista (Poiger, NJW 1954, p.1107/1108, Leipziger Kommentar, VIII ed.
vol. 2, pag.615). Questa tesi, controversa anche nella letteratura germanica
(NJW 1957, 694; Schönke!Schröder, Kommentar, X ed., p.1150), porterebbe
tuttavia ad una estensione deI diritto di querela inconciliabile colla giurispru-
denza dell'art 28 CP27.»

ce) Anfechtung des Rückzuges des Strafantrags


infolge eines Willensmangels
Das Bundesgericht geht davon aus, die Willenserklärung auf dem Ge-
biete des Strafantragsrechts beurteile sich ausschließlich nach dem
Strafrecht und die Bestimmungen des Zivilrechts über Irrtum, Täu-

2G BGE 99, 1973, IV 263.


27 BGE 87, 1961, IV 107 f., 109 = Pr. 51, 1962, Nr. 11.
Die Rechtsvergleichung als Auslegungshilfe 1223

schung oder Drohung seien nicht von Bedeutung. Zur Begründung führt
es u. a. aus:
..Der Literatur und Rechtsprechung zum kantonalen und ausländischen
Recht ist die Frage, ob prozessuale Erklärungen, insbesondere der Rückzug
des Strafantrags, wegen Irrtums angefochten werden können, bekannt ge-
wesen (vgl. Blätter Zürcherische Rechtsprechung 15, 1916, Nr.68, WaibZinger,
Das Strafverfahren für den Kanton Bern, Art. 2 N 14, BeZing, Deutsches
Reichsstrafprozeßrecht, S. 204 f.). Das Schweigen des StGB kann nur dahin
ausgelegt werden, daß auch der unter dem Einfluß eines Irrtums erklärte
Rückzug endgültig der Strafverfolgung ein Ende setzt28."

2. BesondereT Teil
a) Körperverletzung
Vorsätzliche einfache Körperverletzung wird nach Art.123 Ziff.l
Abs.2 schwStGB von Amtes wegen verfolgt, wenn der Täter "eine
Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug" benützt. Darunter fällt
auch der von einem Polizisten verwendete Gummiknüppel, mit dem er
einen Festgenommenen mißhandelt:
..Der Beschwerdeführer glaubt, der Begriff der Waffe sei zu bestimmen,
indem unterschieden werde, ob die in Frage stehende Waffe einem gefähr-
lichen Werkzeug gleichzusetzen sei. Waffe und Werkzeug unterscheiden sich
im vorliegenden Zusammenhang dadurch, daß jene für Angriff und Verteidi-
gung bestimmt ist, während diese hiefür verwendet wird, jedoch eine andere
Zweckbestimmung hat. Die Doktrin zu Art. 101 franz. CP stellt den Unter-
schied anschaulich dar, indem sie von ,armes par leur nature' und ,armes par
l'usage qui en est fait' spricht (Garcon, Code penal annote S. 440, Goyet, Pre-
cis de droit penal special S.362). In gleicher Weise setzt Art. 123 StGB das
Werkzeug der Waffe gleich, nicht umgekehrt die Waffe dem Werkzeug":'

b) Raufhandel
Das öStGB ahndet in § 91 den Raufhandel. In der Literatur wurde
ursprünglich gelehrt, auf der Seite der aktiven Teilnehmer müßten
mindestens drei Personen beteiligt sein. Der Oberste Gerichtshof ist
dieser Auslegung nicht gefolgt und begnügt sich mit zwei Angreifern:
.. Für die Richtigkeit dieser Auffassung spricht schließlich auch der Um-
stand, daß die Bestimmung des § 91 StGB ihrer Entstehung nach aus dem
§ 227 dStGB bewußt übernommen worden ist (vgl. Protokoll der Kommission
zur Ausarbeitung eines Strafgesetzentwurfes - 1956, 998) und hiezu von der
deutschen Lehre und Rechtsprechung seit jeher die Auffassung vertreten
wird, daß bei dem in Rede stehenden Deliktsfall zur Tatbestandsverwirk-
lichung ein Angriff von mindestens zwei Personen genügt (vgl. Schönke/
Schröder, 18. Aufl.., Kommentar zum deutschen Strafgesetzbuch, S. 1349 und
Leipziger Kommentar, 9. Aufl.., Anm. 5 zu § 227 StGB)so:'

28 BGE 79, 1953, IV 102.


28 BGE 96, 1970, IV 19.
30 SSt 47, 1976, Nr. 25 S. 110.
1224 Robert Hauser

c) Betrug
aal Arglistige Täuschung
Das schwStGB verlangt in Art. 148, daß die Täuschung "arglistig" sei.
Damit nimmt das schweizerische Recht eine Mittelstellung zwischen dem
für den Täter günstigeren französischen und dem strengeren deutschen
Recht ein. Es liegt nahe, daß der Richter für die Auslegung des Begrif-
fes "Arglist" die französische Doktrin konsultiert und davon ausgeht,
daß Arglist auf jeden Fall bejaht werden müsse, wenn die Täuschung
nach französischem Recht erfüllt ist:
"Baut der Täter ein ganzes Lügengebäude auf, das von besonderer Hinter-
hältigkeit zeugt, wendet er Kniffe an (manceuvres frauduleuses, vgl. GaTTaud,
Traite de droit penal francais 6, 333 ff.) oder stützt er die Lüge sonstwie durch
Machenschaften (mise en scene), so handelt er arglistig ...31."

bb) Grundsatz der Stoffgleichheit


Nach der Umschreibung des Bundesgerichts handelt es sich um fol-
gende überlegung:
"Nach gewissen schweizerischen Autoren muß der dem Opfer zugefügte
Schaden der vom Täter beabsichtigten Bereicherung entsprechen; der Scha-
den des Betrogenen soll zum Nutzen des Täters werden. Bereicherung und
Schaden sollen gleicher Art, eines die Kehrseite des andern sein. Die gleiche
Auffassung wird in der deutschen Rechtsprechung und Lehre vertreten
(RGSt.64 S. 435, 75 S. 379, Schönke!Schröder, 8. Aufl., S.93732."
Das Bundesgericht ist zwar der Auffassung, das Prinzip der Stoff-
gleichheit sei dem schweizerischen Recht fremd, jedoch wird diese
Praxis von der Literatur abgelehnt33•
---Führt man die Rechtsvergleichung weiter, so ergibt sich, daß die
oberste österreichische Rechtsprechung vom Grundsatz der Stoffgleich-
heit beim Betrug ausgeht und sich hiebei auf die bundes deutsche Aus-
legung stütztu.
d) Hehlerei
Das bloße Mitverprassen des vom Täter erbeuteten Geldes ist keine
Mitwirkung i. S. des "Absetzens" von § 259 dStGB:
"Um eine strafbare Absatzhilfe in den genannten Fällen des Sichaushal-
tenlassens bej ahen zu können, müßte bei dem Mitzecher ... noch ein den
Absatz förderndes und von entsprechendem Vorsatz getragenes Tun hinzu-
kommen. Das wäre z. B. dann der Fall, wenn der Freund oder Bekannte des

Sl BGE 74, 1948, IV 151 f.


3! BGE 84, 1958, IV 90 = Pr. 48, 1959, Nr. 13.
3S Noll, Schweizerisches Strafrecht, Bes. Teil I, 1983, S.205; Rehberg,
Grundriß Strafrecht III, 1982, S.83; Stratenwerth, Schweizerisches Straf-
recht, Bes. Teil I, 1983, S. 253.
34 SSt 51, 1980, Nr. 19 S. 70, Nr.24 S. 107.
Die Rechtsvergleichung als Auslegungshilfe 1225
Diebes durch tätiges Handeln ,bewußt dazu beiträgt, daß dieser das gestoh-
lene Geld rascher los wird' (so Schweizer Bundesgericht Bd. 9 [richtig 69] IV
S. 72 zu dem mit § 259 RStGB fast wörtlich übereinstimmenden Art. 144 Abs. 1
schwStGB) ...35."
e) Homosexuelle Handlungen
Nach § 175 dStGB in der Fassung von 1935 wurde ein Mann bestraft,
der mit einem andern Mann Unzucht trieb oder sich von ihm zur Un-
zucht mißbrauchen ließ. Bereits im ersten Band seiner veröffentlichten
Entscheide schränkte der Bundesgerichtshof die Anwendung gegenüber
der Praxis des Reichsgerichtes ein. Dazu bemerkten die Erwägungen,
"die vom Senat getroffene neue Auslegung füge die deutsche Recht-
sprechung wieder in den Rahmen der europäischen Rechtsentwicklung
ein88 ."
f) Urkundendelikte
Das schweizerische Recht umschreibt die Tathandlungen bei den
Urkundendelikten außerordentlich weit. So macht sich nach Art. 251
Ziff. 1 Abs.2 StGB auch strafbar, wer auf einer privatschriftlichen Ur-
kunde "eine rechtlich erhebliche Tatsache unrichtig beurkundet". Das
Bundesgericht erkannte schon frühzeitig, daß nicht jeder, der etwas
unrichtiges schreibe, von dieser Bestimmung erfaßt werde:
"Beurkundet ist daher eine rechtlich erhebliche Tatsache nur, wenn die
Schrift bestimmt oder geeignet ist, gerade diese Tatsache zu beweisen. Das
Strafgesetzbuch von Frankreich drückt in Art.147 die gleiche Auffassung
dadurch aus, daß es unter anderem strafbar erklärt die Personen, die eine
Fälschung begehen ,par addition ou alteration de clauses, de declarations ou
de faits que ces actes avaient pour objet de recevoir et de constater'. Recht-
sprechung und Doktrin legen diese Bestimmung dahin aus, daß nicht jede
Niederschrift einer Lüge, sogar dann nicht, wenn sie in einer öffentlichen
Urkunde erfolgt, eine strafbare Falschbeurkundung ist, daß eine solche viel-
mehr nur dann vorliegt, wenn die Urkunde gerade dazu bestimmt ist, die
erlogene Tatsache aufzunehmen und festzustellen (Garraud, Traite de droit
penal francais 4, 1364, 1366, Garcon, Code penal Art. 145-147 Bem. 184)37."
Diese übernahme aus dem französischen Recht hat wesentlich dazu
beigetragen, einer der unglücklichsten Bestimmungen des StGB Kontur
zu verleihen und Grenzen zu setzen.

g) Falsches Zeugnis
Nach gefestigter, vom Bundesgericht eingeleiteter Praxis ist der Tat-
bestand des falschen Zeugnisses nach Art. 307 schwStGB so lange nicht
erfüllt, als die Zeugeneinvernahme nicht abgeschlossen ist (das Proto-
koll z. B. nicht bestätigt und unterschrieben ist).

35 BGHSt.9, 1956, S. 139.


38 BGHSt. 1, 1951, S. 297.
37 BGE 72, 1976, IV 72 f.
1226 Robert Hauser

Die Staatsanwaltschaft Zürich hatte in einer Nichtigkeitsbeschwerde


geltend gemacht, das falsche Zeugnis sei mit jedem einzelnen falschen
Satz abgeschlossen. Dem entgegnete der Kassationshof:
"Vollendet ist das Zeugnis erst mit dem Abschluß der Einvernahme (so
auch die deutsche und die österreichische Rechtsprechung, vgl. BGHSt. 4 S. 174,
8 S. 306, SSt. 16 Nr.43 und 79)38."
In den weiteren Erwägungen rechtfertigt das Gericht seine Praxis für
die Straflosigkeit der falschen, aber vor dem Abschluß der Einvernahme
widerrufenen oder berichtigten Zeugenaussagen:
"Die in BGE 80 IV 124 angeführten Gründe ... behalten somit weiterhin
ihren vollen Wert; dies um so mehr, als der Verzicht auf eine strafrechtliche
Verfolgung des Zeugen in einem solchen Falle nicht eine Eigenart der schwei-
zerischen Rechtsprechung darstellt, sondern sich auch in ausländischen Straf-
gesetzen findet. So sieht beispielsweise § 43 Abs.2 (jetzt § 23 Abs. 1) dStGB
vor, daß der Versuch eines Vergehens nur in den Fällen bestraft wird, in
welchen das Gesetz dies ausdrücklich bestimmt ... Nach der französischen
Strafrechtslehre und Rechtsprechung bleibt der Zeuge ebenfalls straflos,
wenn er seine falsche Aussage vor Abschluß der Einvernahme, oder je nach
dem Verfahren sogar noch, wenn er sie in einem späteren Stadium wider-
ruft (Dalloz, Encyclopedie juridique, Droit criminel II, S. 31 N. 22 !f., Garcon,
Code penal annote, 1956, II S. 418 N. 84, S. 421 N. 106)39."

3. Delikte im Straßenverkehr

a) überholen auf der Autobahn


Auf Autobahnen ist das Rechtsüberholen auch dann verboten, wenn
der Vorausfahrer den linken Fahrstreifen nicht frei gibt. Das Bundes-
gericht gründet seine Rechtsprechung unter anderem auf nachstehende
überlegungen:
"Die Schweiz stünde übrigens mit der vom Obergericht (Zürich) befürwor-
teten Regelung offensichtlich allein da, was für den internationalen Verkehr
höchst unerwünscht wäre. In der Deutschen Bundesrepublik, die auf diesem
Gebiet viel Erfahrung hat, ist das Rechtsüberholen auf der Autobahn grund-
sätzlich verboten. Das gilt auch für den Fall, daß auf der Überholspur eine
Kolonne und rechts nur einzelne Fahrzeuge verkehren. Ausnahmen sind nur
zugelassen, wenn auf beiden Fahrstreifen Kolonnenverkehr herrscht und
selbst dann ist das Rechtsüberholen nur innerhalb einer engen Grenze ge-
stattet (BGHSt. 12 S.258, sowie dessen Beschluß vom 3. Mai 1968 abgedruckt
in der Zeitschrift ,Deutsches Autorecht' 1968, S. 248).
Die belgische, französische und italienische Straßenverkehrsordnung neh-
men Autobahnen und Autostraßen vom Gebot des Linksüberholens eben-
falls nicht aus (Belgien: van Roye, Le code de la circulation, Nr.906, 917, 920,
921; Frankreich: Bedour, Precis des accidents d'automobile, S. 21,22, 90; Ita-
lien: Cigolini, La responsabilita dalla circolatione stradale, S.466, 467, 46&,
490). Auch der Entwurf einer europäischen Straßenverkehrsordnung enthält

88 BGE 85, 1959, IV 32.


39 BGE 85, 1959, IV 34. In der Schweiz erfolgen die Zeugenaussagen ohne
Eid, so daß der Verweis des Bundesgerichts richtig ist.
Die Rechtsvergleichung als Auslegungshilfe 1227
unter den Sonderregeln, die für den Verkehr auf Autobahnen gelten
(Art. 42 ff.), keine vom Gebot des Linksüberholens (Art. 21) abweichende Son-
derbestimmungf°."
b) Sichern des Motorfahrzeuges
Nach Art. 37 Abs.3 des schweizerischen Straßenverkehrsgesetzes von
1958 sowie Art. 22 Abs. 1 der dazu gehörenden Straßenverkehrsregeln
von 1962 muß der Automobilist beim Verlassen des Fahrzeuges ange-
messene Maßnahmen gegen die Verwendung durch Unbefugte treffen.
Diese weitgezogene Pflicht reduziert das Bundesgericht unter Berufung
auf ausländisches Recht:
"Auch nach der französischen und italienischen Rechtsprechung besteht
keine Pflicht, die Türen parkierter Fahrzeuge unter allen Umständen zu ver-
schließen (BedouT, Precis des accidents d'automobile, S. 220 f., Cigolini, La
responsabilita dalla circolazione stradale, S.532, Anm.145); die gleiche Auf-
fassung wird in Belgien im Kommentar van Raye (S.168 N.349) und in
Deutschland von Müller (Straßenverkehrsrecht, 21. Aufl., S. 265) vertreten41 ."

c) Fahren in angetrunkenem Zustand


aal Die Rechtsprechung des Bundesgerichts
Der Begriff der Angetrunkenheit wird in der Schweiz durch die Ge-
richtspraxis bestimmt. Längere Zeit wurde das Tatbestandsmerkmal bei
einem Gewichtspromille und mehr angenommen. Anlaß zur überprü-
fung bildeten folgende Feststellungen des Bundesgerichts:
"österreich hat den bisher von der Rechtsprechung einheitlich angenom-
menen Grenzwert von einem Promille durch die Straßenverkehrsordnung
vom 6. Juli 1960 auf 0,8 %0 gesenkt. Nach einer Verlautbarung des westdeut-
schen Bundesministeriums der Justiz wird der Vorschlag, das Führen von
Kraftfahrzeugen bei einem Blutalkoholwert von mindestens 0,8 %0 allgemein
zu verbieten, damit begründet, daß bei diesem Wert nach der nahezu ein-
stimmigen Meinung eines Ausschusses von maßgeblichen Wissenschaftern
auf dem Gebiet der Blutalkoholforschung die Kraftfahrer meistens verkehrs-
gefährdende Leistungsminderungen aufweisen (vgl. DRiZ 1968 S. 63). Andere
Staaten wie Dänemark, Schweden und Norwegen bemessen dEm Grenzwert
noch niedriger (vgl. GTisel, L'analyse du sang, in Journal des Tribunaux
1958 IV S.I44, Gaisbauer, Fahrsicherheit und 0,8 Promillegrenze, in Juristi-
sche Blätter 1963, S. 364/5)42."
Diese Entwicklung im Ausland veranlaßte den Kassationshof bei zwei
Gerichtsmedizinern und einem Psychiater ein Gutachten zur Frage ein-
zuholen, welcher Grenzwert für die Feststellung des Angetrunkenseins
maßgebend sein könne. Die drei Experten sprachen sich für eine BIut-
alkoholkonzentration von 0,8 %0 aus. Das Bundesgericht folgte dieser
Ansicht.

40 BGE 95, 1969, IV 90 f.


41 BGE 91, 1965, IV 209 f.
C2 BGE 90, 1964, IV 162.
1228 Robert Hauser

bb) Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs


Gemäß BGHSt. 28, 1978, S. 1 H. ist das Tatbestandsmerkmal ,,0,8 %0 und
mehr im Blut" (§ 24 Abs. 1 Straßenverkehrsgesetz von 1974) nicht erfüllt,
wenn der Mittelwert aus mehreren Einzelanalysen keine Konzentration
von 0,8 %0 ergibt, dieser Wert vielmehr erst durch Aufrechnung (z. B.
von 0,7975 %0) erreicht wird. Zur Ablehnung einer "pseudowissenschaft-
lichen Aufrechnung" beruft sich der 4. Strafsenat auf österreichische
und schweizerische gerichtsmedizinische Institute.

Irr. Würdigung der Rechtsprechung


1. Das äußere Bild
a) Nationales und fremdes Recht
Überblickt man die oberste deutsche, österreichische und schweize-
rische Rechtsprechung als Ganzes, so gelangt man zur Feststellung, die
Rechtsvergleichung spiele eine wichtige, aber keine dominierende Rolle.
Das erscheint auch als natürlich. Denn der Richter ist aufgerufen, sein
internes, autonomes Recht anzuwenden und auszulegen. So führte der
Oberste Gerichtshof zu einer Nichtigkeitsbeschwerde, die unter Beru-
fung auf ausländisches Recht eine Praxisänderung forderte, folgendes
aus:
"Der Hinweis des Beschwerdeführers auf eine in einer ausländischen
Rechtsordnung zum Teil abweichend getroffene ausdrückliche Regelung (§ 184
Abs.3 dStGB) versagt im Hinblick auf das Fehlen einer gleichartigen Nor-
mierung im österreichischen (Straf-)Recht und die grundsätzliche Verschie-
denheit nationaler Rechtsordnungenu ."
Die Rechtsvergleichung erleidet deswegen keine Einbuße. "Ob eine
ausländische Lösung übernommen oder aus bestimmten Gründen abge-
lehnt wird, die kritische Auseinandersetzung mit dem fremden Recht
erscheint in beiden Fällen als höchst fruchtbar. Durch solche Vergleiche
tritt das Verglichene um so klarer in Erscheinung. Der Wert dieses
rechtsvergleichenden Vorgehens liegt entweder in der damit vermittel-
ten formalen Anregung oder dann in der damit zu gewinnenden Be-
stätigung für ein unabhängig davon erzieltes Resultatu."

b) Der Stellenwert der Rechtsvergleichung


in der Rechtsprechung der drei Länder
Von den untersuchten Staaten steht die Schweiz an der Spitze, ge-
folgt von Österreich. In den Präjudizien des Bundesgerichtshofes finden
sich eher selten komparative Erwägungen.

43 SSt 50, 1979, Nr.44 S. 165, ähnlich auch BGE 93, 1967, IV 55.
4' Meier-Hayoz, Der Richter als Gesetzgeber, 1951, S. 198 f.
Die Rechtsvergleichung als Auslegungshilfe 1229

Das Resultat erstaunt nicht. In kleineren Gemeinwesen sind Wissen-


schaft und Rechtsprechung nicht so entwickelt wie in größeren. Für die
Schweiz kommt hinzu, daß ihr der deutsche, französische und italie-
nische Sprach- und Kulturkreis offenstehen. Es darf in diesem Zusam-
menhang auch auf Art. 107 der Bundesverfassung hingewiesen werden;
hier wird verlangt, daß im Bundesgericht alle drei Amtssprachen ver-
treten sein müssen. Das Lob von der "conception universaliste" des
Bundesgerichts45 ist gewiß verdient; doch erklärt sich die Auszeichnung
zum Teil aus der besonderen Lage des Landes.

c) Die zur Vergleichung beigezogenen Rechtsordnungen


Der Bundesgerichtshof und der Oberste Gerichtshof beziehen ihre
Erkenntnisse fast ausnahmslos aus deutschsprachigen Quellen. Das Bun-
desgericht zieht den Kreis wesentlich weiter. Wie in Österreich steht
auch hier das Recht der Bundesrepublik Deutschland im Vordergrund.
Diese Rechtsprechung bildet einen schönen Beweis für den hohen Stand
der westdeutschen Gesetzgebung, vor allem aber auch der Dogmatik
und Praxis. Es geziemt sich, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, welch
vorrangige Bedeutung den scharfsinnigen, gründlichen und so überaus
verständlichen Werken des verehrten Kollegen Jescheck zukommt.

2. Die Grunde für die Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung


a) Allgemeine überlegungen
Die Gerichte äußern sich kaum oder nur beiläufig dazu, weshalb sie
bei der Urteilsfindung dem ausländischen Recht Beachtung schenken.
Sucht man einen gemeinsamen Nenner, so ist es wohl der folgende: Die
Gesetze, die Judikatur und die Literatur eines anderen Staates bilden
wichtige Quellen, aus denen sich Bestätigungen, Ergänzungen und
Wandlungen der einheimischen Rechtsprechung ergeben41 •
Dieser überlegung ist im folgenden nachzugehen.

b) Die Gesetzgebung als Teil der Rechtsvergleichung


Der Gesetzgeber wird treffend als "rechtsvergleichender Eklektiker"
bezeichnet47 • In der Tat: Bei jeder Gesetzesarbeit wird fremdes Recht
gesammelt, geprüft, abgewogen und schließlich vielfach auch übernom-
men4S • Gemeinsames Kulturdenken, eine lange zusammen zurückgelegte
45 Kramer, Topik und Rechtsvergleichung, Rabels ZeitsChrift für auslän-
disches und internationales Privatrecht 33 (1969), S. 6.
41 Spiro, über den Gerichtsgebrauch zum allgemeinen Teil des revidierten
Obligationsrechts, 1948, S. 183.
47 ZweigertlKötz (Fn. 3), S. 20.

48 Das belegt in eindrücklicher Weise Jescheck, Die Bedeutung der Rechts-


vergleichung für die Strafrechtsreform, in: Strafrecht im Dienste der Ge-
meinschaft, 1980, S. 417 ff.
1230 Robert Hauser

Strecke an Rechtstradition sowie die gleiche Gesellschafts- und Wirt-


schaftsordnung erleichtern diesen Vorgang, besonders im Kreise der
westeuropäischen Staaten.
Im Blick auf solche Zusammenhänge gehört es zur "historischen Aus-
legung", wenn sich der Richter auf die Herkunft einer Bestimmung be-
sinnt und bei der Quelle des Ursprungs Aufschluß sucht, wo er ihn auch
meistens findet.
In dieser Hinsicht ist die Auslegung von § 91 öStGB aufschlußreich,
der sich an § 227 dStGB anlehnt (vorn II/2lit. b).

c) Fremdes Recht als Indikator des Landesrechts


Es kommt vor, daß eine Frage in einem fremden Recht eine Regelung
erfahren hat, im eigenen nationalen Recht jedoch nicht. Auf eine solche
Situation kann die Judikatur mit einem Umkehrschluß reagieren: Weil
das anwendbare Landesrecht die in einem Nachbarstaat getroffene Be-
stimmung nicht kennt, soll diese für das eigene Recht nicht gelten. Ein
Beispiel für eine derart formale Argumentation findet sich vorn in lI/I
lit. h/cc. Doch erscheint sie gerade in diesem Falle als zu einseitig und
vereinf achend48 •

d) Der fragmentarische Charakter des Gesetzes


Den praktisch häufigsten Anlaß zur Bezugnahme auf fremdes Recht
bildet die fragmentarische Ausgestaltung des Gesetzes. Auch das Straf-
recht ist trotz des Gesetzlichkeitsprinzips und des Gebots der Bestimmt-
heit vielfach auslegungsbedürftig.
--Wie Schultz - Bülow folgend - treffend darlegt, ist das Gesetz höch-
stens der Entwurf, der Plan der erwünschten Ordnung, die ohne schöp-
ferische Mitarbeit des Richters nicht zur geltenden Rechtsordnung
wird50 • Von der Bedeutung des Richterrechtes und der Wissenschaft für
die Verdeutlichung des Rechts zeugen die Absätze 2 und 3 des be-
rühmten Art. 1 schwZGB: "Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnom-
men werden, so soll der Richter nach Gewohnheitsrecht und, wo auch
ein solches fehlt, nach den Regeln entscheiden, die er als Gesetzgeber
aufstellen würde. - Er folgt dabei bewährter Lehre und überlie-
ferung."
Ist die Rechtsfindung gleich wie die Gesetzgebung ein schöpferischer
Akt, so sollen und müssen auch die Gerichte ihren Blick über die Gren-
48 Kritisch zur Rechtsprechung Schultz, Einführung in den Allgemeinen
Teil des Strafrechts, 1982, I. Bd., S. 244.
GO Schultz, Strafrechtsvergleichung als Grundlagenforschung, in: Verglei-
chung als Methode der Strafrechtswissenschaft und der Kriminologie, 1980,
S.9 f.
Die Rechtsvergleichung als Auslegungshilfe 1231

zen werfen. Auftauchende Schwierigkeiten, Unsicherheiten und Zweifel


können bei einer solchen Gesamtschau behoben werden, und die Rechts-
vergleichung kann mitunter den richtigen Weg weisen51 • Im einzelnen
können drei Gruppen von Anwendungsfällen gebildet werden:

aal Bestimmungsbedürftige Rechtsbegriffe


Wo das Gesetz die Rechtsfindung weitgehend dem Richter überläßt,
wie bei der Mittäterschaft und der Nebentäterschaft (vorn II/l lit. d/dd
und ee) oder bei der Pflicht, das Fahrzeug zu sichern (vorn 11/3 lit. b),
wird er vernünftigerweise ausländisches Recht konsultieren. Staaten
mit hohem juristischen Niveau sind prädestiniert, wichtige Anhalts-
punkte zu liefern. Auf diese Weise fließt deutsches Rechtsdenken in die
österreichische Rechtsprechung ein, in der Schweiz auch französische so-
wie italienische Doktrin und Judikatur.

bb) Ergänzung und Bestätigung der Rechtsprechung


Sind die verglichenen Rechtsordnungen gleich oder ähnlich gelagert,
so kann die für das eigene Recht gefundene Lösung ihre Unterstützung
finden, wenn sie auch der Auffassung des zum Vergleich herangezoge-
nen Landes entspricht. Beispiele hierfür sind die Präjudizien in 11/2 lit. a
(Begriff der Waffe), II/2 lit. d (Absetzen bei der Hehlerei), II/3 lit. clbb
(Verpönte Aufrundung auf 0,8 %0 Blutalkoholkonzentration).
Besonders wertvoll erweist sich eine Auslegung, wenn sie durch aus-
ländische Erfahrungen gestützt wird. So rechtfertigt BGE 95, 1969,
IV 90 das Festhalten am Verbot des Rechtsüberholens auf der Auto-
bahn mit den reichen Erfahrungen in der Bundesrepublik Deutschland.
Eine Berufung auf die langjährigen Erfahrungen der deutschen Recht-
sprechung findet sich ebenfalls in BGE 93, 1967, IV 119; hier wird der
Grundsatz entwickelt, daß die Geschwindigkeit der Sichtweite ange-
paßt werden müsse.

cc) Beseitigung von Zweifeln


Wird die oberste Rechtsprechung kritisiert, z. B. die Qualifikation
des Strafantrages als Prozeßvoraussetzung (vorn lI/I lit. h/aa) oder
die Straflosigkeit des falschen Zeugnisses vor Abschluß der Einver-
nahme (vorn 11/2 lit. g), ist die Rechtsvergleichung vorzüglich geeignet,
Zweifel zu beheben und mit Grund an der bisherigen Rechtsprechung
festzuhalten. Eine konstante Praxis liegt auch im Interesse der Rechts-
gleichheit und der Rechtssicherheit.

61 Ebert (Fn. 3), S. 176.


1232 Robert Hauser

e) Die Fortbildung des Rechts


Rechtsvergleichung öffnet dem Richter das Gesichtsfeld und zeigt
ihm Tendenzen in der Rechtsentwicklung auf. Der verantwortungsbe-
wußte Richter muß diese Vorgänge sorgfältig prüfen und sie im Rah-
men des Gesetzlichkeitsgrundsatzes in seiner Rechtsprechung berück-
sichtigen, wenn er die Entwicklung für sachlich richtig hält.
Solchermaßen hat der Bundesgerichtshof die Rechtsprechung des
Reichsgerichtes zum alten "Homosexuellenparagraphen" gelockert (vorn
II/2 lit. e) und das Bundesgericht die Rechtsprechung zum Fahren im
angetrunkenen Zustand überprüft und geändert (vorn II/3 lit. c/aa).

f) Die Rechtssicherheit
Bei den heutigen starken internationalen Verflechtungen ist es wich-
tig, daß das Strafrecht für In- und Ausländer berechenbar und deshalb
möglichst einheitlich ist. BGE 95, 1969, IV 90 hat dies auf dem wich-
tigen Gebiete des Straßenverkehrsrechts erkannt (vorn II/3 lit. a):
"Die Schweiz stünde überdies mit der vom Obergericht befürworteten Re-
gelung offensichtlich allein da, was für den internationalen Verkehr höchst
unerwünscht wäre."

IV. Ausblick

Die Rechtsvergleichung wird auch in der Zukunft einen bedeutsamen


Rang einnehmen und sogar noch an Gewicht gewinnen. Für die Recht-
sprechung ist sie Garantin von Rechtssicherheit und Rechtsfortbildung.
Ebenso öffnet und fördert Rechtsvergleichung im Dienst der Justiz den
Weg zur Rechtsangleichung52 •

G2 Dazu Jung!Schroth, Das Strafrecht als Gegenstand der Rechtsanglei-


chung in Europa, GA 1983, S. 241 ff.
HARUO NISHIHARA

Die gegenwärtige Lage der japanischen Strafrechtswissenschaft

I. Die Entwicklung in der Strafrechtsdogmatik

1. Der Aufbruch der japanischen Strafrechtswissenschaft


nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg ging die Strafrechtswissenschaft in
Japan davon aus, daß das Erbe aus der Zeit vor dem Krieg zu über-
nehmen, der Schwerpunkt aber etwas stärker auf den Rechtsschutz des
Staatsbürgers vor der staatlichen Gewalt zu legen sei. Dies kam zum
Ausdruck im Rückgang der positivistischen und im Vordringen der
klassischen Strafrechtslehre, aber auch in der Betonung der forma-
listischen Züge innerhalb der klassischen Auffassung.
Der Grund, weshalb die japanische Strafrechtswissenschaft in der
Nachkriegszeit nicht von der Gegenwirkung der Strafrechtswissen-
schaft vor dem Krieg und der extremen Kritik an ihr auszugehen
brauchte, findet sich einmal darin, daß die japanische Strafrechtswis-
senschaft vor dem Krieg im großen und ganzen nicht zu einem ver-
schärften Nationalismus tendierte wie die nationalsozialistische Straf-
rechtswissenschaft. Der Grund liegt aber auch darin, daß in Japan
keine so extrem unmenschliche Strafgesetzgebung und Strafjustiz
herrschte wie in Deutschland unter dem Nationalsozialismus. Es gab
deshalb, abgesehen von formell-rechtlichen Problemen, nicht so viele
materiell-rechtliche Aspekte, über die man reflektieren mußte.
Da aber auch wir schreckliche Erinnerungen, besonders an die Aus-
legung und Anwendung der Sicherheitsverordnungen hatten und sich
die neue japanische Verfassung von 1946 zu einer Rechtsanschauung
bekannte, in der die Garantie der Menschenrechte im Vordergrund
stand, war die Strafrechtswissenschaft verpflichtet, mit ihrer ganzen
Kraft Vorsorge zu treffen, daß die Menschenrechte durch die Straf-
justiz nicht verletzt werden. Jedoch enthielt auch die Strafrechtswis-
senschaft der Vorkriegszeit Elemente, die dieser Rechtsansicht wider-
sprachen. Der Positivismus, der damals ziemlich weit verbreitet war,
ermöglichte den Mißbrauch der Strafgewalt in der Strafjustiz: Seine
Verbrechenslehre betonte die subjektive Seite des Verbrechens, den

78 Festschrift für H.-H. Jescheck


1234 Haruo Nishihara

Willen und die Gefährlichkeit des Täters. Die Straftheorie des Positi-
vismus legte den Schwerpunkt auf die Sozialverteidigung. Tatsächlich
gingen die Vertreter des Positivismus von einem viel weiteren Bereich
der Strafbarkeit aus als die Vertreter der klassischen Auffassung. Die
Reflexion begann bei den Vertretern des Positivismus selbst und hatte
zur Folge, daß diese Lehre langsam an Bedeutung verlor.
Das Nachdenken über die vor dem Krieg geltenden Theorien blieb
nicht auf die positivistische Strafrechtslehre beschränkt. Es entwickel-
ten sich auch Meinungen, die aufgrund des klassischen Objektivismus
das Ziel verfolgten, das staatliche Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen,
indem man sowohl die subjektive Seite des Verbrechens als auch den
Unrechtsgehalt des Verstoßes gegen die staatliche Sittenordnung be-
rücksichtigte. Vereinzelt gab es auch Meinungen, die ihre Wurzeln tief
in der nationalistischen Idee aus der Zeit vor dem Krieg hatten.
Auf jeden Fall erschien die japanische Strafrechtswissenschaft in den
ersten zehn Jahren nach dem Krieg noch etwas unübersichtlich. Ein
Grund dafür bestand darin, daß die Strafrechtslehrer, die schon vor
dem Krieg eine Schule bildeten, auch noch nach dem Krieg die Diskus-
sionen anführten und die führende Rolle in der Wissenschaft spielten.
Aber die eigentliche Ursache lag darin, daß die Wissenschaft, die plötz-
lich von den Fesseln des Krieges befreit war, sich nun in der garan-
tierten Meinungsfreiheit mit den neuen und verschiedenartigen Ge-
danken und Theorien des In- und Auslandes beschäftigen mußte und
sich noch nicht in einer bestimmten Richtung festlegen konnte.

2.· Die Entwicklung und der Wandel der Tatbestandslehre

Im Durcheinander der Nachkriegszeit hat die Tatbestandslehre von


Anfang an die führende Stelle in der Strafrechtswissenschaft einge-
nommen. Diese Position wurde ihr von keiner anderen Theorie strei-
tig gemacht. Die Tatbestandslehre war schon vor dem Krieg aus der
deutschen Strafrechtswissenschaft nach Japan übernommen worden.
Die klassische japanische Strafrechtslehre aus der Vorkriegszeit, in
der die Tatbestandslehre nicht unbedingt vorherrschend war, hatte
den Nachteil, daß man in ihre Systematik das Strafgesetz als äußere
Begrenzung der Strafbarkeit nicht einordnen konnte. Die Beziehung
auf das Strafgesetz, d. h. die Subsumtion der Handlung unter das
Strafgesetz, wurde also als Voraussetzung für das Verbrechen in den
einzelnen Elementen des Verbrechensbegriffs (Handlung, Rechtswidrig-
keit und Schuld) nirgendwo eingegliedert.
Aber die Rechtsauffassung nach dem Krieg, die den Rechtsschutz des
Staatsbürgers vor der staatlichen Gewalt in den Vordergrund stellte,
Die Lage der japanischen Strafrechtswissenschaft 1235

setzte das Prinzip nulla poena sine lege durch. Die Festsetzung der
Rechtsnormen wurde ausschließlich dem Parlament als Versammlung
der Repräsentanten des Volkes vorbehalten. Darüber hinaus sollte
gewährleistet sein, daß die Auslegung dieser Rechtsnormen der Will-
kür der Mächtigen entzogen ist. Von der Strafrechtswissenschaft wurde
gefordert, daß der Verbrechensbegriff auf diesen Grundgedanken auf-
gebaut wird. Infolgedessen setzte sich die Meinung durch, daß eine
Handlung erst dann zum Verbrechen wird, wenn sie den im Straf-
gesetz enthaltenen Tatbestand erfüllt (Tatbestandslehre). Die Tatbe-
standslehre gedieh fortan in Japan, weil sie in diesem wesentlichen
Punkt der geänderten Rechtsauffassung entsprach.
Andererseits ist bekannt, daß sich innerhalb der Tatbestandslehre
unterschiedliche Meinungen gegenüberstehen. So gibt es z. B. die An-
sicht, die dem Tatbestand im Verbrechensaufbau eine andere Position
zuweist als der Rechtswidrigkeit (F. Uchida); teilweise wird der Tat-
bestand als Typus der rechtswidrigen Handlung (Unrechtstypus) ver-
standen (Takigawa, Saeki, Hirano, Fukuda, Naka, Nishihara, Naka-
yama); verschiedentlich wird der Tatbestand als Typus der rechtswid-
rig-schuldhaften Handlung aufgefaßt (Ono, Dando, Otsuka, Shoji, Kik-
kawa, Kagawa). Diese Widersprüche sind bis heute nicht aufgelöst.
Besonders über die Frage, ob man die subjektiven und normativen
Elemente zum Tatbestand zählen soll, gibt es einen fortdauernden
Streit. Es wird immer noch behauptet, daß man den Tatbestand als
wertfrei auffassen soll, weil die Anerkennung dieser Elemente will-
kürliche Entscheidungen der Richter ermögliche (Hirano, Nakayama).
Aber man muß sich doch bewußt sein, daß ein Tatbestand, dem diese
Elemente abgesprochen werden, sich so weit ausdehnt, daß man sei-
nen Bereich nicht mehr festlegen kann. Er kann dann auch den Men-
schenrechtsschutz nicht garantieren. Ein so weiter Tatbestand wider-
spricht auch dem Zweck der Tatbestandslehre, weil er seine Grund-
lage nicht im Gesetz findet.

3. Das Auf und Ab der Lehre vom strafwürdigen Unrecht

Bald tauchte ein Problem auf, das die Tatbestandslehre, die, wenn
auch mit unterschiedlichen Inhalten, zur herrschenden Auffassung in
der Strafrechtswissenschaft geworden war, zu ernsthaften überlegungen
zwang: Man erkannte, daß unter den Gesetzen des Nebenstrafrechts,
die kurz nach dem Krieg in Kraft traten, Vorschriften waren, die bei
wörtlicher Auslegung der Verfassung zu widersprechen schienen. Die-
ses Problem wurde besonders heftig diskutiert bei der Auslegung der
Arbeits- und Sicherheitsgesetze, etwa dem Gesetz über die Arbeits-
verhältnisse im öffentlichen Dienst, dem Gesetz über die Staats- und

78·
1236 Haruo Nishihara

Gemeindebeamten (die den Streik der Beamten und bestimmter An-


gestellten im öffentlichen Dienst verbieten), der sog. Gemeindever-
ordnungen über die Sicherheit des Gemeindelebens (Erlaubnisvorbe-
halt bei Demonstrationen auf der Straße) usw. Die unteren Gerichte
wandten auf diese Gesetze zunehmend die sog. verfassungskonforme
Auslegung an, so daß die Verfassungsmäßigkeit dieser Gesetze bei
einschränkender Interpretation anerkannt wurde. Später stellte sich
auch der Oberste Gerichtshof für einen gewissen Zeitraum auf diesen
Standpunkt (EOG 26. Oktober 1966, in ES. Bd.20 Ziff.8, S.901; EOG
2. April 1969, in ES. Bd.23 Ziff.5, S. 305). Diese Probleme zeigten deut-
lich, daß die Tatbestandslehre Menschenrechtsverletzungen durch ex-
treme Auslegung verhindern konnte, daß sie aber nicht fähig war, die
genannten Probleme aus sich heraus zu überwinden, weil sie eine
Wortlautinterpretation der Vorschriften verlangt.
In den 60er Jahren wurde dann die Lehre vom strafwürdigen Un-
recht entwickelt, die den Bereich der Strafwürdigkeit vom Unrechts-
gehalt her zu bestimmen versuchte (Saeki, Fujiki u. a.). Nach der Lehre
vom strafwürdigen Unrecht bedeutet die Rechtswidrigkeit im Straf-
recht eine materielle Rechtswidrigkeit in der Weise, daß eine Hand-
lung nach Qualität und Quantität der Strafe würdig sein muß. Eine
tatbestandsmäßige Handlung ist danach im materiellen Sinne nicht
mehr rechtswidrig, wenn das geschädigte Rechtsgut und die Art und
Weise der Verletzungshandlung vom sozialethischen Standpunkt her
nur gering ist. In dieser Auffassung fand die verfassungskonforme
Auslegung ihre theoretische Grundlage. Diese Meinung übte auf die
Entscheidungen vieler unterer Gerichte sehr schnell großen Einfluß aus.
Die Lehre vom strafwürdigen Unrecht herrschte jedoch nur etwa
zehn Jahre lang vor. In der Praxis verlor diese Lehre an Einfluß,
nachdem der Oberste Gerichtshof zu Beginn der 70er Jahre die ein-
schränkende Interpretation und die verfassungskonforme Auslegung
selbst revidiert hatte (EOG 25. April 1973, in ES. Bd.27 Ziff.4, S.I;
EOG 4. Mai 1977, in ES. Bd. 31 Ziff. 3, S. 182 u. a.). Eine vergleich-
bare Unstetigkeit der Meinungen findet man auf keinem anderen
Gebiet der Strafrechtswissenschaft. Wenn man aber bedenkt, daß es
bei den Fällen aus dem Arbeitsleben und aus dem Bereich der öffent-
lichen Sicherheit nicht nur auf die objektiv ausgeführte Handlung,
sondern ganz besonders auch auf die Bedeutung, den Zweck und das
Motiv der Tat und das Maß der Interessenverletzung unter Abwägung
der Interessen des Täters und des Geschädigten ankommt, dann läßt
sich die Rationalität der Lehre vom strafwürdigen Unrecht nicht ein-
fach leugnen. Auch die heutige Situation kann man als Folge der
Beruhigung der heftigen Arbeits- und Straßenkämpfe in der schwie-
rigen Wirtschaftslage nach der Ölkrise betrachten.
Die Lage der japanischen Strafrechtswissenschaft 1237

4. Handlungsunwert und Erjolgsunwert

Nachdem die Lehre vom strafwürdigen Unrecht an Bedeutung ver-


loren hatte, trat in der grundsätzlichen dogmatischen Diskussion die
Frage in den Vordergrund, ob man den Unrechtsgehalt vom Hand-
lungsunwert oder vom Erfolgsunwert her bestimmen sollte. Es war
die finale Handlungslehre, die die Diskussion zu diesem Punkt führte.
Ihr Begründer Welzel sah den Unrechtsgehalt im Handlungsunwert
und zählte den Vorsatz und die Fahrlässigkeit zu den Unrechtselemen-
ten anstatt wie bisher zu den Schuldelementen. Die sog. sozial adäquate
Handlung eliminierte er aus dem Bereich der Rechtswidrigkeit (Welzel,
Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 55 f.).
Da diese Konsequenz nicht allein aus der finalen Handlungslehre
abzuleiten war, stimmten ihr auch viele Gelehrte zu, die die finale
Handlungslehre nicht vertraten. Man zögerte, den Unrechtsgehalt als
Handlungsunwert aufzufassen, weil Welzel bei der Definition des
Handlungsunwerts so weit ging, daß er den untauglichen Versuch und
den tauglichen Versuch aufgrund der subjektiven Theorie unterschied.
Der Bereich der Rechtswidrigkeit wurde von ihm so weit ausgedehnt,
daß auch solche Handlungen rechtswidrig waren, die zwar keine Ver-
letzung oder Gefährdung eines Rechtsguts zur Folge hatten, die aber
sozialethisch nicht vertretbar waren. Diese Folgerungen Welzels wur-
den in Japan nicht anerkannt. In Japan entwickelte sich deshalb eine
Auffassung vom Handlungsunwert, die einen Kompromiß darstellte:
Beim Urteil über die Rechtswidrigkeit einer Handlung sollte nicht nur
der Erfolgsunwert, sondern auch der Handlungsunwert in Betracht
gezogen werden. Besonders als der Handlungsunwert in den 50er und
60er Jahren zur Begründung der Lehre vom strafwürdigen Unrecht
und der neuen Fahrlässigkeitslehre (siehe dazu unten) diente, erfüllte
er auch die Funktion, den Bereich der Strafbarkeit einzuschränken.
Die Lehre vom Handlungsunwert erlaubte, auch eine Rechtsgutsver-
letzung aus 'der sozialethischen Sicht zu begründen.
In den 70er Jahren erschienen neue, kontroverse Auffassungen, die
den Vorsatz und die Fahrlässigkeit von der Rechtswidrigkeit lösten
und sie wieder dem Schuldbegriff zuordneten. Die Begründungen die-
ser Tendenz sind unterschiedlich, lassen sich aber im allgemeinen auf
folgendes zurückführen: Einmal konzentrierte sich das Interesse der
Strafrechtswissenschaft auf den Umweltschutz. Damit verbunden war
die Kritik an der bisherigen Fahrlässigkeitslehre, die hauptsächlich
an den Straftaten im Zusammenhang mit Verkehrsunfällen entwickelt
worden war. Andererseits war die Arbeit an der Strafrechtsreform
fortgeschritten, und dabei hatten besonders die Entkriminalisierungs-
tendenzen aus Europa und den USA Einfluß genommen.
1238 Haruo Nishihara

Aber die Diskussion über diese thematische Stellung des Vorsatzes


und der Fahrlässigkeit im Verbrechens aufbau war nicht sehr frucht-
bar, weil man diese Elemente ohnehin bei der Rechtswidrigkeit oder
der Schuld untersuchen muß. Außerdem scheint es nur so, daß die
Prüfung des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit dadurch objektiviert
werden könnte, daß man diese Elemente aus der Rechtswidrigkeit
bzw. aus dem Tatbestand eliminiert und auf diese Weise den Men-
schenrechtsschutz sichert. In Wirklichkeit aber verliert der Tatbestand
dadurch die Beziehung zum Wortlaut und damit seine Funktion, wie
die Anerkennung einer nicht fahrlässigen Handlung als tatbestands-
mäßig zeigt.
Heute wird die Diskussion um den Handlungs- und Erfolgsunwert
nicht mehr aus diesen Gründen geführt. Es geht nur noch um die
dogmatische Auseinandersetzung bei Einzelproblemen, z. B. bei der
Erörterung um die Abgrenzungskriterien für den untauglichen Ver-
such. In diesem Zusammenhang werden jetzt wieder die Begriffe
"Rechtsgut" und "Gefährlichkeit" eingehend untersucht.

n. Die Entwicklung in der Grundlagentheorie

1. Zum heutigen Stand des Schulenstreits


Der Schulenstreit in der Strafrechtswissenschaft, der am Ende des
19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts heftig entbrannt war, wurde
nach dem Kriege - zumindest in Japan - nach dem Rückgang des
Positivismus zugunsten der neuen klassischen Lehre entschieden. Diese
Situation hat sich bis heute kaum verändert. Die Tendenz der positi-
vistischen Strafrechtslehre zur Ausdehnung der staatlichen Strafgewalt
ist dafür nicht die einzige Ursache. Es lag auch am fatalistischen Men-
schenbild des Positivismus, das die Willensfreiheit des Menschen leug-
net und alle Handlungen als Ergebnis seiner Anlagen und der Um-
welt versteht. Dieses Menschenbild war aus der Traumvorstellung des
19. Jahrhunderts entstanden, als sich die Naturwissenschaften schnell
entwickelten und man glaubte, die ganze Schöpfung einschließlich der
menschlichen Handlungen kausal erklären zu können. Dieser Traum
ließ sich nicht verwirklichen, und die betreffenden Ansichten wurden
nun kritisiert.
Aber die Strafrechtslehre kehrte auch nicht zu den klassischen
Auffassungen zurück. Die Entwicklung der Naturwissenschaften ließ
nämlich den Beweis zu, daß die Anlagen des Menschen und die Um-
welt einen bestimmenden Einfluß auf die menschliche Handlung aus-
üben. Außerdem wurde der Bereich immer größer, in dem zwar die
Ursächlichkeit dieser Faktoren auf die menschliche Handlung noch
Die Lage der japanischen Strafrechtswissenschaft 1239

nicht bewiesen werden konnte, aber doch schon eine hohe Wahrschein-
lichkeit für die Kausalität bestand. In der Strafrechtslehre, in der
man die Schuld als Vorwerfbarkeit versteht, mußte die Schuld in
diesen Fällen verneint oder zumindest geringer angesetzt werden.
Bei der Theorie, nach der die persönlichen Umstände das Maß der
Schuld bestimmen, handelt es sich um die sog. normative Schuld-
lehre, die im Gegensatz zur moralischen Schuldlehre der klassischen
Auffassung steht. Nach dem Krieg hat die Strafrechtswissenschaft in
Japan diese normative Schuldlehre übereinstimmend anerkannt, und
es gibt bisher keine andere Schuldtheorie, die sie ersetzen könnte.
In der Bundesrepublik Deutschland tritt heute eine Meinung in den
Vordergrund, die auf den traditionellen Schuldbegriff verzichtet und
den Grund und den Maßstab der Bestrafung in der "Prävention"
sucht. Diese Auffassung hat auf die japanische Meinung nur einen
sehr geringen Einfluß ausgeübt. Dies bedeutet jedoch nicht, daß der
Präventionsgedanke in der japanischen Lehre unberücksichtigt bleibt.

Bei der Lehre vom Wesen der Strafe hat sich in der japanischen
Strafrechtswissenschaft nach dem Krieg die Vergeltungstheorie durch-
gesetzt. Die Situation hat sich insoweit bis heute nicht geändert. Die
herrschende Vergeltungstheorie untersche'det sich freilich entscheidend
von der absoluten Vergeltungstheorie aus der Zeit der klassischen
Auffassung: Die Grundlage der Vergeltung ist die schon erwähnte
normative Schuld, bei der es für die Vorwerfbarkeit auf die persön-
lichen Umstände des Täters ankommt. Außerdem wird auf dieser
Grundlage eine "der Schuld angemessene Strafe" ermittelt, die die
kriminalpolitischen überlegungen wie die Besserung und Resozialisie-
rung des Täters einbezieht. Daß man dabei noch den etwas altmodi-
schen Begriff der "Vergeltung" benutzt, zeigt, daß man den zu häu-
figen Einsatz der Strafgewalt zu Präventionszwecken vermeiden
möchte.
Nimmt man den Gedanken von der "der Schuld angemessenen
Strafe" ernst, so stellt sich das Problem, daß man den Verbrecher
ohne normative Schuld nicht bestrafen kann. Das Strafrecht, das nur
die Strafe als Rechtsfolge kennt, kann den Präventionszweck nicht
erfüllen, selbst wenn bei dem schuldlos handelnden Verbrecher eine
Wiederholungsgefahr besteht. Aus diesem Grunde sind viele europä-
ische Länder zur Zweispurigkeit der strafrechtlichen Rechtsfolgen über-
gegangen, indem sie auch die Maßregeln der Sicherung und Besserung
als strafrechtliche Rechtsfolge anerkennen. Die Strafe wird bei schuld-
haftem Handeln, die Maßregel in den übrigen Fällen bei Gefährlich-
keit des Täters ausgesprochen. In Japan ist diese Problematik weder
vom Gesetz noch von der Lehre gelöst.
1240 Haruo Nishihara

2. Die Diskussion um die Willensfreiheit

Es ist allgemein bekannt, daß der Strafrechtslehre ein Menschen-


bild zugrundeliegt, bei dem die Auffassung von der Willensfreiheit
ein Hauptproblem darstellt. Es wurde bereits angedeutet, daß die herr-
schende Strafrechtslehre nicht von einem fatalistischen Menschenbild
ausgeht. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß es große Unterschiede
in der Auffassung innerhalb der neuen klassischen Lehre gibt.

Niemand leugnet allerdings, daß jeder Wille seine Ursache hat.


Anzuerkennen ist, daß der mit der Norm übereinstimmende Wille
auch von den Umweltfaktoren hervorgerufen wird. Dies ist einmal
schon das Vorhandensein einer Norm. Andererseits wird der norm-
widrige Wille auch von Anlage- und Umweltfaktoren hervorgerufen,
die den Willen gegen die Norm richten. Es kann also nicht geleugnet
werden, daß jeder Wille irgendeine Ursache hat. Streit gibt es jedoch
darüber, ob man die Möglichkeit der Bildung eines normgemäßen
Willens aus anderen Ursachen anerkennen kann, nachdem sich ein
normwidriger Wille bereits gebildet hat. Nennt man die Auffassung,
die diese Möglichkeit verneint, "Determinismus über den Willen", so
läßt sich die Auffassung, d~~ diese Möglichkeit bejaht, als "Indeter-
minismus über den Willen" bezeichnen. Die Frage nach der Willens-
freiheit ist die Frage nach der Determinierung des Willens im hier
beschriebenen Sinne.
Bisher ist man sich einig darüber, daß es psychologisch noch nicht
bewiesen werden kann, ob der Wille in diesem Sinne determiniert
ist. Den Vertretern des Indeterminismus hält man Unwissenschaft-
lichkeit vor; aber dieser Vorwurf ist nicht angebracht. Die Kritik
müßte sich gegen die Auffassung richten (soweit diese heute noch ver-
treten wird), die die Willensfreiheit als Ursachenlosigkeit bezeichnet;
denn das Gegenteil von dieser Auffassung ist psychologisch bereits
bewiesen. Gegen den Indeterminismus ist diese Kritik unberechtigt,
weil er nicht bewiesen, aber auch das Gegenteil nicht nachweisbar
geleugnet werden kann.
Obwohl in dieser Frage ein Beweis noch nicht geführt werden
kann, muß die Strafrechtslehre zu dieser Problematik Stellung neh-
men. Die Notwendigkeit dazu zeigt sich z. B. bei der Auslegung des
§ 39 japStGB, der den Schuldausschluß oder die Schuldminderung
der Handlung eines Geistesgestörten regelt. Denn man kann den
Geistesgestörten nicht als eine Ausnahme behandeln, wenn man zum
Determinismus Stellung bezieht. Bei der Anwendung dieser Vor-
schrift muß man entscheiden, ob es einen strukturellen Unterschied
bei der Willensbildung von einem Geistesgestörten und von einem
Die Lage der japanischen Strafrechtswissenschaft 1241

normalen Menschen gibt. Diese Entscheidung beinhaltet eine Stel-


lungnahme zur Indeterminiertheit des Willens.
Wenn man auf dieser Grundlage die Theorie betrachtet, so findet
man als erstes den Indeterminismus in der Form, daß der Wille den
Menschen "determiniert determiniert". Diese Theorie wird heute von
vielen unterstützt (u. a. von Ona, Dando). Wenn man aber auf der
Ebene des Seins, also der Ebene des wissenschaftlich Beweisbaren
behauptet, daß der Wille "determiniert", dann trifft die zuvor er-
wähnte Kritik zu. Wenn man dagegen seine Meinung nicht auf dieser
Ebene vertritt, dann ist die andere Grundlage deutlich zu machen.
Es gibt auch die Auffassung, die anerkennt, daß der menschliche
Wille kausal determiniert ist, die die Willensfreiheit aber auch dann
anerkennt, wenn der Wille nach Sinn und Wert determiniert wird
(Fukuda auf der Grundlage Welzels) bzw. wenn er in "der Schicht
des Sinnes oder der normativen Seele" anstatt in "der psychologi-
schen Schicht" in der Struktur des menschlichen Geistes determiniert
wird (Hirano). Diese Auffassung wird auch "weicher Determinismus"
genannt. Bei dieser Auffassung ist zunächst darauf hinzuweisen, daß
sie die kausale Determination des Willens anerkennt; aber unter der
Annahme dieser Auffassung scheint die erste Position zum Indeter-
minismus und die letzte zum harten Determinismus zu führen. Denn
was die erste Position betrifft, so wird sowohl der normwidrige Wille
als auch der norm gemäße nach irgendeinem "Sinn" determiniert. Da-
bei ist die überlegung auf der Ebene des "Wertes" entscheidend für
die Unterscheidung. Auch beim normalen Indeterminismus wird an-
erkannt, daß die Schuldfähigen zur Determination auf der Wertgrund-
lage fähig sind. Was die letztere Auffassung betrifft, so ist die Deter-
mination in der Schicht des Normativen schließlich nichts anderes als
die Determination der psychologischen Schicht, weil in jeder Schicht
unter gegebenen Bedingungen nur eine Willensentscheidung möglich
ist. Dies kann man auch vom Standpunkt des "harten Determinismus"
aus anerkennen.
Auf der Grundlage dieser Betrachtungen bleibt nur die Möglichkeit,
darauf zu verzichten, die Indeterminiertheit des Willens als ein Pro-
blem der Seinssphäre, also als ein wissenschaftlich beweisbares Pro-
blem zu betrachten; aber man muß es mit Laienverstand feststellen
und zu lösen versuchen. Diese Feststellung ist auch nach alltäglicher
Erfahrung möglich und auch sinnvoll, weil die Frage, ob jemand einer
rechtswidrigen Handlung schuldig ist und dafür bestraft werden soll,
davon abhängt, ob das Volk diese Handlung gutheißt oder nicht.
Auf dieser Grundlage läßt sich sagen, daß das Volk die Indeter-
miniertheit des Willens aus der täglichen Lebenserfahrung heraus an-
1242 Harno Nishihara

erkennt, abgesehen von Fällen, in denen ein Sachverständiger den


Nachweis erbringt, daß ein normwidriger Wille von einer Ursache
determiniert wurde - z. B. bei Geistesgestörten. Dies ist eine Rechts-
überzeugung aus dem täglichen Leben; man wird z. B. zu einer üblen
Handlung verleitet und negiert diese z. B. aus Scham oder bereut z. B.
den Fehler und nimmt die Schuld auf sich. Und aus dieser Erfahrung
erwartet man von den anderen das, was man von sich selbst verlangt,
und deshalb wirft man den anderen die Untat oder den Fehltritt vor.
Wenn man die Möglichkeit der normgemäßen Willensentscheidung an-
erkennt, so bildet sich hier der Vorwurf, und damit muß sich das
Recht beschäftigen (Naka, Nishihara). An dieser Stelle scheint der
Angelpunkt der gegenwärtigen japanischen Strafrechtslehre zu liegen.

m. Die Entwicklung in der Gesetzesauslegung

1. Spiegelungen in der Lehre vom Wesen des Unrechts


Heute wie früher hängt die Auseinandersetzung über die Aus-
legungstheorien im Strafrecht nicht nur von der Schlüssigkeit der
Theorie der Argumentation ab, sondern auch davon, wie tief die Straf-
rechtslehre in der Weltanschauung wurzelt. So führte der Schulen-
streit über die Auslegungslehre zu dem weltanschaulichen Problem-
bereich, ob man bei der Auslegung des Strafgesetzes den Schwer-
punkt auf die Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung oder auf den
Rechtsschutz des Bürgers legen soll. Heute stellt sich die Situation der
Strafrechtslehre so dar, wie ich sie oben im I. Kapitel geschildert habe.
Die Auseinandersetzung über die Gesetzesauslegung hat ihre Wurzeln
in-~tlen unterschiedlichen Auffassungen vom Wesen des Unrechts.
Grundlegend sind die Fragen nach dem Ha~dlungsunwert und dem
Erfolgsunwert.
Eine beispielhafte Diskussion dieser Art wIrd heute über den un-
tauglichen Versuch geführt. Für die Unterscheidung des tauglichen
vom untauglichen Versuch wurden bisher fünf Theorien angeboten,
nämlich die tatsächliche Untauglichkeitstheorie, die juristische Un-
tauglichkeitstheorie, die konkrete Gefährlichkeitstheorie, die abstrakte
Gefährlichkeitstheorie und die subjektive Theorie. Die Rechtsprechung
nahm im wesentlichen die tatsächliche Untauglichkeitstheorie an; die
Lehre konzentrierte sich dagegen nach dem Krieg fast nur noch auf
die konkrete und abstrakte Gefährlichkeitstheorie. Die konkrete Ge-
fährlichkeitstheorie ist bis heute herrschend. Eine Art von tatsächlicher
Untauglichkeitstheorie wird auch im Namen der objektiven Gefähr-
lichkeitstheorie vertreten; sie erfährt Unterstützung bei den jüngeren
Strafrechtslehrern (Oya, Nakayama, Yamaguchi). Es handelt sich da-
bei um eine Theorie, die die Gefährlichkeit der Rechtsgutsverletzun-
Die Lage der japanischen Strafrechtswissenschaft 1243

gen als Voraussetzung für die Annahme des Versuchs enger auffaßt
als die konkrete Gefährlichkeitstheorie. Dadurch wird der Erfolgs-
unwert stärker betont. Die objektive Gefährlichkeitstheorie kritisiert
die konkrete Gefährlichkeitstheorie, weil sie auch in den Fällen einen
Handlungsunwert anerkennt, in denen ex post betrachtet die Möglich-
keit einer Rechtsgutsverletzung nicht bestand (wenn z. B. ein Taschen-
dieb seine Hand in eine leere Tasche steckt und deswegen wegen Ver-
suchs bestraft wird). Nach der konkreten Gefährlichkeitstheorie wird
dieser Fall als versuchter Diebstahl gewertet; denn die Tatsachen, die
auch ein Durchschnittsmensch erkennen kann und insbesondere der
Täter erkennt, sind die Grundlage für das Gefährlichkeitsurteil; der
Durchschnittsmensch empfindet diese Handlung deshalb als gefährlich,
weil üblicherweise das Portemonnaie in der Tasche steckt. Dieses
Urteil kommt nicht deshalb zustande, weil die Handlung unsittlich ist,
sondern deswegen, weil sie vom Durchschnittsmenschen her betrachtet
gefährlich ist. In diesem Sinne beruht die konkrete Gefährlichkeits-
theorie auf der Grundlage des Erfolgsunwerts. Sie wollte die Bestra-
fung des Versuchs auf die Fälle des Erfolgsunwerts beschränken, wäh-
rend sie die "Gefährlichkeit der Handlung" anstatt der "Gefährlichkeit
der Situation" betont.

Es ist ein Streit um Worte, ob diese Folgerung der konkreten Ge-


fährlichkeitstheorie den Handlungsunwert anerkennt, wie dies die
objektive Gefährlichkeitstheorie behauptet. Wenn man der Ansicht ist,
daß ein Versuch nur bei Vorliegen einer rein objektiv gefaßten Ge-
fährlichkeit vorliegen kann, dann gäbe es überhaupt keinen Versuch.
Denn wenn zum Beispiel A mit der Pistole in Mordabsicht auf B
schießt und das Ziel verfehlt, dann liegt der Umstand, der die Rechts-
gutsverletzung verhindert, objektiv gesehen schon im Augenblick der
Handlung vor. Aus der Sicht der objektiven Auffassung müßte dies ein
untauglicher Versuch sein. Das geltende Strafgesetzbuch, das den Ver-
such anerkennt, folgt dieser Auffassung nicht. Daher muß der Unter-
schied zwischen einem tauglichen und einem untauglichen Versuch
jedenfalls nicht in der rein objektiven Gefährlichkeit für die Herbei-
führung des Erfolges, sondern in der Gefährlichkeit der Handlung
gesucht werden. Dann trifft jedoch die Annahme, daß die konkrete
Gefährlichkeitstheorie - im Gegensatz zur objektiven Gefährlichkeits-
theorie - den Handlungsunwert anerkennt, nicht zu. Der Streit geht
um den Begriff der Gefährlichkeit im Hinblick auf den Handlungs-
unwert bzw. Erfolgsunwert. Es geht also um die Frage, inwieweit das
Gefährlichkeitsurteil ex post gefällt werden kann. Eigentlich erkennt
die konkrete Gefährlichkeitstheorie das nachträgliche Urteil nicht an.
Denn die Gefährlichkeit der Handlung muß vom Standpunkt des
Durchschnittsmenschen aus bei der Tatbegehung beurteilt werden.
1244 Haruo Nishihara

Dagegen will die objektive Gefährlichkeitstheorie in gewisser Hinsicht


ein nachträgliches Urteil anerkennen. Wie bereits dargelegt, führt
diese Ansicht jedoch dazu, daß alle Versuche als untaugliche Versuche
zu bewerten sind, wenn man sie ex post beurteilt. über die Abgren-
zungen im einzelnen gibt es keine übereinstimmende Auffassung bei
den Vertretern der objektiven Gefährlichkeitstheorie. Teilweise wird
die rein objektive, d. h. die durch das nachträgliche naturwissenschaft-
liche Urteil feststellbare Situation der Einbeziehung der Ansicht des
Durchschnittsmenschen zur Grundlage des Gefährlichkeitsurteils ge-
macht (Oya). Nach anderer Ansicht soll der Standpunkt des sachkun-
digen Durchschnittsmenschen entscheidend sein, der die Gefährlichkeit
der Situation, die objektiv in Wirklichkeit nicht gegeben ist, auf der
Grundlage der für ihn erkennbaren Tatsachen im Augenblick der
Handlung beurteilen soll (Yamaguchi). Die letztere Auffassung nähert
sich bereits der konkreten Gefährlichkeitstheorie und wird auch "die
verbesserte objektive Gefährlichkeitstheorie" genannt. Die dogmatische
Auseinandersetzung zwischen der konkreten und der objektiven Ge-
fährlichkeitstheorie ist noch nicht so weit gediehen, als daß man die
zukünftige Entwicklung voraussagen könnte.
Außerdem gibt es ein weiteres Problem, das dem des untauglichen
Versuchs ähnlich ist: Es geht um die Frage, inwieweit man die abstrak-
ten Gefährdungsdelikte beschränken soll, welche Voraussetzungen man
dabei an das Entstehen der "einigermaßen konkreten Gefährlichkeit"
(Hirano) knüpfen will, und für welche Delikte diese Voraussetzungen
gelten sollen. Dieses Problem betrifft die Delikte der Brandstiftung,
der Aussetzung, des Meineids, die Störung hoheitlicher Tätigkeiten und
cüeZerstörung von Eisenbahnen und Schiffen. Heute besteht bei einem
Teil der Lehre die Tendenz, die "einigermaßen konkrete Gefährlich-
keit" als Voraussetzung zu bejahen (Okamoio, Yamaguchi).
In diesen Auseinandersetzungen über den untauglichen Versuch und
die Gefährdungsdelikte spiegelt sich die strafrechtswissenschaftliche
Stellungnahme über das Wesen des Unrechts wider. Durch sie wird
der Inhalt der Begriffe vom Handlungsunwert und vom Erfolgsunwert
zunehmend deutlicher.

2. Die Vertiefung der Analyse


Die Strafrechtswissenschaft in Japan, die auf eine etwa 40jährige
Entwicklung nach dem Krieg zurückblickt, hat den Diskussionsstand
aus der Vorkriegszeit in allen Bereichen des Allgemeinen und des
Besonderen Teils des Strafrechts überholt. Die Analyse der Probleme
ist sehr viel eingehender geworden. Dafür gibt es viele Ursachen;
drei sind davon besonders herauszuheben: erstens die Auseinander-
Die Lage der japanischen Strafrechtswissenschaft 1245

setzung mit der deutschen Strafrechtswissenschaft, zweitens die Arbeit


an der Strafrechtsreform und drittens die Veränderung des gesell-
schaftlichen Lebens.
Der Einfluß der deutschen Strafrechtswissenschaft auf die japanische
ist heute nicht geringer als vor dem Krieg. Es läßt sich nicht leugnen,
daß die japanische Strafrechtswissenschaft dadurch gefördert wurde.
Aus der letzten Zeit sind folgende Forschungen besonders hervorzu-
heben: die Diskussion über den schon geschilderten Gefährlichkeits-
begriff; die Lehre vom Kausalzusammenhang, die die Existenz der
conditio sine qua non nach Typen analysiert; die Lehre von den
Unterlassungsdelikten, bei der die Garantenlehre, der Inhalt der Hand-
lungspflicht, die Behandlung von Irrtümern, das Problem der straf-
rechtlichen Verantwortlichkeit beim Abschalten des Respirators und
die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen im Vordergrund
stehen.
Der Beitrag der Strafrechtsreform zur Strafrechtswissenschaft ist
sehr groß. Der Vorentwurf zu einem Strafgesetzbuch von 1961 von der
"Vorbereitenden Kommission zur Strafrechtsreform", die im Jahre
1956 mit den Beratungen begann, der Entwurf von 1971 vom "Sonder-
ausschuß für Strafrecht in der Gesetzeskommission" , die 1963 ge-
gründet wurde, und der verbesserte Entwurf der Gesetzeskommission
von 1974 sind zwar aus verschiedenen Gründen noch nicht in Kraft
getreten; aber die Diskussion über die Entwürfe hat für die Entwick-
lung der Theorie und Praxis des Strafrechts nach dem Krieg eine
große Bedeutung erlangt. Die Diskussion über die jeweils beste Aus-
übung der Strafgewalt ist sehr sinnvoll gewesen. Besonders die Be-
ratungen in den fünf Unterkommissionen des Sonderausschusses für
Strafrecht hatten ein sehr hohes Niveau; die Protokolle der Unter-
kommissionen sind von hohem wissenschaftlichen Wert. Die Arbeit
der Strafrechtsreform hat viele Probleme vertieft. Dafür gibt es fol-
gende Beispiele: die Theorie über die actio libera in causa mit den
Problemen der Anwendungsmöglichkeit und der Notwendigkeit der
Simultanexistenz von Zurechnungsfähigkeit und Ausführungshand-
lung; die Lehre von der Mittäterschaft, insbesondere der Strafgrund
und Umfang der Mittäterschaft bei deliktischer Verabredung; die
Lehre von der Strafzumessung mit dem Rückgriff auf das Verhältnis
von Schuld und Strafe; die Lehre von der Strafe mit den bekannten
Problemen der zeitlich unbestimmten Strafe, der Maßregeln der Bes-
serung und Sicherung und der Einziehung, aber auch mit den Proble-
men über Verjährungsfristen und Tilgung der Verurteilung.

Schließlich gibt es auch einen sehr großen Einfluß auf die Straf-
rechtswissenschaft durch den gesellschaftlichen Wandel. Den unmittel-
1246 Harno Nishihara

baren Zusammenhang von bei den Elementen stelle ich im nächsten


Abschnitt dar. Ein erheblicher Einfluß wurde aber auch durch die
Rechtsprechung und die theoretischen Analysen auf der Grundlage
der veränderten gesellschaftlichen Bedingungen ausgeübt. Dies gilt
z. B. für die Lehre von den Fahrlässigkeitsdelikten, bei der die Recht-
sprechung anläßlich der zahlreichen Verkehrsdelikte das Kriterium
der Fahrlässigkeit verfeinert hat. Dies betrifft auch die strafrechtliche
Verantwortlichkeit bei Fällen aus dem Arbeitsleben und der öffent-
lichen Sicherheit, bei denen es hauptsächlich um die einschränkende
Interpretation und die verfassungskonforme Auslegung ging. Beim
Tatbestandsirrtum wurden die Fälle erörtert, bei denen der Erfolg
an einem anderen als dem beabsichtigten Objekt eingetreten ist. Bei
der Konkurrenzlehre wurde hauptsächlich die Abgrenzung zwischen
Idealkonkurrenz und Gesetzeskonkurrenz vorangetrieben.

3. Die Anpassung an den Wandel der gegenwärtigen Gesellschaft

Die bisherigen Ausführungen sollten den gegenwärtigen Stand der


Strafrechtswissenschaft nach dem Krieg anhand verschiedener Einzel-
aspekte erklären. Der gegenwärtige Stand wird jedoch am deutlich-
sten, wenn man die Strafrechtswissenschaft unmittelbar in Beziehung
zum gesellschaftlichen Wandel setzt.

Das soziale Leben in Japan trat in den Jahren 1955 bis 1958 in die
Phase eines starken Wirtschaftswachstums. Bis dahin dauerte die wirt-
schaftliche Restauration an. In der ersten Phase knüpfte die Straf-
rechtswissenschaft an das Erbe aus der Zeit vor dem Krieg an, stellte
den Bezug zur neuen Verfassung her und suchte einen neuen Ent-
wicklungsweg. Als Japan in die zweite Phase eintrat, war die Rich-
tung schon vorgezeichnet.
Mit dem hohen Wirtschaftswachstum stieg die Motorisierung sehr
stark an. Die damit verbundenen vielen Verkehrsunfälle machten es
erforderlich, das Wesen der Fahrlässigkeitsschuld zu untersuchen. Aus
diesem Anlaß beschäftigte sich die Wissenschaft mit der Frage nach
dem Inhalt der Sorgfaltspflichten und entwickelte eine neue Fahrläs-
sigkeitslehre, nach der die Sorgfaltspflichtverletzung zu den Unrechts-
elementen gehört. Man erforschte die Kriterien für die Einschätzung
einer Handlung als fahrlässig anhand der Rechtsprechung zu den
Verkehrsstraftaten, und man widmete sich dem Problem der ver-
änderten Rechtsprechung als Folge der gewandelten Verkehrssituatio-
nen. Die Lehre entwickelte neue Maßstäbe für den Vertrauensgrund-
satz, der in der deutschen Rechtsprechung entstanden war. Sie diente auf
diese Weise der Einheitlichkeit der Rechtsprechung in diesem Bereich.
Die Lage der japanischen Strafrechtswissenschaft 1247

Die Einführung des Vertrauensgrundsatzes zeigt, daß die Fahrlässig-


keitslehre dahin tendierte, die Erfolgshaftung bei der Einschätzung
einer Handlung als sorgfaltswidrig zu beschränken. Die Strafrechts-
wissenschaft wurde mit einem neuen Fahrlässigkeitsproblem konfron-
tiert, als in den 60er Jahren ernsthafte gesellschaftliche Probleme auf-
traten, weil durch die Unternehnlensaktivitäten Umweltschäden ver-
ursacht wurden. Dabei ging es vor allem um das Problem der Fest-
stellung der Sorgfaltswidrigkeit, wenn bei Produktionstätigkeiten mit
neuen Stoffen und unbekannten Techniken ernsthafte Rechtsgutsver-
letzungen entstanden waren. Dabei wurde in der Lehre die Meinung
vertreten, daß die Unternehmen wegen ihrer hohen gesellschaftlichen
Verantwortlichkeit erhöhten Sorgfaltspflichten unterliegen. Diese so-
genannte Theorie der Gefährlichkeitsempfindung wird von Fujiki und
Itakura vertreten. Zu dieser Kategorie gehört auch die Lehre von der
epidemiologischen Kausalität, die für den Fall gilt, daß ein medizi-
nisch-naturwissenschaftlicher Beweis nicht gelingt.
Schon damals wurde Kritik an der Theorie der Gefährlichkeits-
empfindung geäußert, weil sie die strafrechtliche Fahrlässigkeit wie-
der in die Nähe der Erfolgshaftung rücken würde. Die Theorie setzte
sich deshalb in der Strafrechtswissenschaft nicht durch. Sie ist in der
Phase des stabilen Wirtschaftswachstums seit der zweiten Hälfte der
70er Jahre langsam zurückgegangen. Zu dieser Zeit trat das Problem
der Begrenzung der Aufsichtshaftung bei der Fahrlässigkeit auf. Bis
heute wird diskutiert, ob man dieses Problem mit dem Vertrauens-
grundsatz lösen kann. Nach wie vor ist umstritten, wer in der Hierar-
chie der Betriebsorganisation die strafrechtliche Verantwortung tra-
gen soll, wenn durch die Betriebstätigkeit Rechtsgutsverletzungen
vorkommen. Die Frage der Bestrafung von juristischen Personen wird
als gesetzgeberisches Problem diskutiert. In Japan gibt es noch kein
Gesetz, das dem deutschen Ordnungswidrigkeitengesetz vergleich-
bar ist.
Der Wandel der gesellschaftlichen Strukturen in den 50er und 60er
Jahren durch das hohe Wirtschaftswachstum übte in dieser Weise
einen großen Einfluß auf die Strafrechtswissenschaft aus. Die Ver-
änderungen lenkten die Aufmerksamkeit auch auf die verwaltungs-
rechtlichen Nebengesetze, die in großem Umfange erlassen wurden.
Die bis dahin geltenden Lehren vom Besonderen Teil des Strafrechts
begnügten sich ausschließlich mit der Erklärung der Voraussetzungen
für die Straftaten, die im Strafgesetzbuch umschrieben sind. Der Beson-
dere Teil des Strafrechts allein kann jedoch den Anforderungen der Zeit
nicht mehr entsprechen. Es werden deshalb Forschungen über die "sozio-
logisch und kriminologisch typisierten Straftaten" unternommen, die das
Verbrechen als ein soziales Phänomen auffassen und es im sozialen
1248 Haruo Nishihara

Leben phänomenologisch typisieren. Dabei wird versucht, in jeder


typisierten Gruppe die Straftaten nach dem Strafgesetzbuch und nach
den nebenstrafrechtlichen Vorschriften organisch zu verbinden und
sie auf diese Weise zu erklären. Am Anfang erschien diese Forschung
wie ein systematisches Lehrbuch, das das Ziel hat, einen allgemeinen
Überblick zu verschaffen (Fujiki, Nishihara). Sie entwickelte sich bis
heute zu einer detaillierten Untersuchung der einzelnen Strafvor-
schriften und der verwaltungsrechtlichen Nebengesetze.
Der Autor verbindet mit diesen Zeilen Erinnerungen an einen über
25 Jahre währenden wissenschaftlichen und persönlichen Kontakt mit
Herrn Professor Jescheck und mit dem Max-Planck-Institut für aus-
ländisches und internationales Strafrecht in Freiburg i. Br., das lange
unter der hervorragenden Leitung von Professor Jescheck stand. Mir
wurden dort wiederholt in freundlichster Weise die besten Möglich-
keiten zur wissenschaftlichen Arbeit und Leistung geboten. Dafür
danke ich ihm erneut und verbinde damit alle guten Wünsche für
seine weitere Gesundheit und Tätigkeit.
FRIEDRICH-CHRISTIAN SCHROEDER

Die Gliederung der Straftat


in der Sowjetunion und in der DDR

In der Rechtsvergleichung ist es seit längerem üblich, sich über das


"law in the books" zu mokieren und statt dessen dem "law in action" zu
huldigen. Vernachlässigt wurde dabei aber neben dem bloßen Gesetzes-
text auch das "law in the text-books", die Rechtsdogmatik als Gegen-
stand der Rechtsvergleichung. Hans-Heinrich Jescheck hat sich mit sei-
nem Lehrbuch des Strafrechts große Verdienste um den Vergleich der
Strafrechtsdogmatik erworben. Daher sei ihm die folgende Untersu-
chung zu seinem 70. Geburtsag gewidmet.
Eine der Grundaufgaben der Strafrechtsdogmatik ist bekanntlich die
Ordnung der verschiedenen Voraussetzungen für eine Bestrafung zu
einem System bzw. - umgekehrt - die Gliederung der Straftat1 •

I. Die Gliederung der Straftat in der Sowjetunion


Die sowjetische Strafrechtswissenschaft befolgt seit jeher folgende
Gliederung der Straftat:
Objekt der Straftat!
objektive Seite der Straftat
Subjekt der Straftat
subjektive Seite der Straftat.
Diese Gliederung der Straftat macht einen reichlich formalistischen
Eindruck. Unter der Rubrik "Subjekt der Straftat" werden beispiels-
weise so heterogene Elemente wie die Strafmündigkeit, die Schuld-
fähigkeit und die besonderen persönlichen Merkmale zusammengefaßt.

1 Die vielfach übliche Bezeichnung "Verbrechensaufbau" ist doppelt un-


glücklich, da sie in ihrem ersten Teil angesichts der Tricho- bzw. Dichotomie
der Straftaten anachronistisch wirkt und in ihrem zweiten Teil eher für
studentische übungsarbeiten gilt.
I Der russische Begriff "prestuplenie" bedeutet an sich "Verbrechen"
und wird überwiegend so übersetzt, vor allem in der DDR. Angesichts der
Tricho- bzw. Dichotomie der Straftaten im deutschen Recht muß auch er
jedoch richtigerweise mit "Straftat" übersetzt werden; vgl. Schroeder,
Grundsätze der Strafgesetzgebung, Staatsschutz- und Militärstrafrecht der
UdSSR, 1975, bes. S. 47 f.

79 Festschrift für H.-H. Jescheck


1250 Friedrich-Christian Schroeder

Die Reduzierung auf zwei Begriffspaare und ihre Reihung nach Art
eines Kreuzreims lassen eher ästhetische als dogmatische Gesichtspunkte
vermuten. Dies zeigt sich auch darin, daß hin und wieder auch die Rei-
henfolge
Objekt der Straftat
Subjekt der Straftat
objektive Seite der Straftat
subjektive Seite der Straftat
also ein "Paar-Reim", gewählt wird, und gelegentlich sogar die Reihen-
folge
Objekt der Straftat
objektive Seite der Straftat
subjektive Seite der Straftat
Subjekt der Straftat
also ein "verschränkter Reim", begegnet'.

Die Zusammenfassung dieser "Elemente'" bildet den "Straftatbe-


stand" , dessen Bedeutung im sowjetischen Recht somit von der deut-
schen übung abweicht; die Gliederung der Straftat ist nach sowjeti-
scher Diktion eine Gliederung des "Straftatbestandes" .
Diese Terminologie und Konstruktion knüpfen weitgehend an die
vorrevolutionäre russische, Strafrechtswissenschaft an5 • Auf diese ver-
blüffende und für die Auffassung von dem fundamental neuen Cha-
rakter des "sozialistischen" Rechts nicht gerade schmeichelhafte Her-
kunft wird auch in der Sowjetunion selbst hingewiesen, freilich nur
-"oii;,ketzerischen" Außenseitem8 •

3 V. D. Men'sagin - Z. A. Vysinskaja, Sovetskoe ugolovnoe pravo (So-


wjetisches Strafrecht), Moskau 1950; Vsesojuznyj juridil:eskij zaol:nyj institut
(Gesamtunionsinstitut für Fernstudium), Sovetskoe ugolovnoe pravo; Cast'
obsl:aja (Sowjetisches Strafrecht. Allg. Teil), unt. der Red. von P. I. GriSaev
und B. V. ZdravomysZov, Moskau 1972; dto., Moskau 1982. S. dazu unten im
Text.
, Die "Tatbestandselemente" werden auch als "Tatbestandsmerkmale" be-
zeichnet, während die h. L. die "Merkmale" für die Straftat reserviert (s. u.
im Text). Andere wollen die "Tatbestandsmerkmale" von den '"Tatbestands-
elementen" unterscheiden, und zwar im Sinne einer stärkeren Aufgliede-
rung und Individualisierung der "Elemente"; vgl. Universität Leningrad
(Hrsg.), Kurs Sovetskogo ugolovnogo prava (Lehrbuch des sowjetischen
Strafrechts), Band 1, 1968, S. 264 f.
5 N. S. Tagancev, Kurs russkogo ugolovnogo prava. Cast' obsl:aja, kn.l
(ucenie 0 prestuplenii) (Lehrbuch des russischen Strafrechts., Allgemeiner
Teil, Buch 1 [Lehre von der Straftat]), St. Petersburg, 1874, S.3, 5; ders.,
Russkoe ugolovnoe pravo. Cast' obScaja. T.l (Russisches Strafrecht. Allg.
Teil, Bd. 1), St.Petersburg, 1902, S.367; Kistjakovskij, Elementarnyj ucebnik
obsl:ego ugolovnogo prava (Elementarlehrbuch des allgemeinen Strafrechts),
1875.
Die Gliederung der Straftat in der Sowjetunion und in der DDR 1251

Neben den "Tatbestandselementen" kennt die sowjetische Strafrechts-


dogmatik noch "Merkmale der Straftat". Solange im sowjetischen Straf-
recht die Möglichkeit vorgesehen war, jede gesellschaftsgefährliche
Handlung unabhängig von einem konkreten gesetzlichen Verbot zu be-
strafen7 , also bis 1956, mußte sich die Eigenschaft der Straftat in der
Gesellschaftsgefährlichkeit erschöpfen. Gleichwohl wurde als "Merkmal"
der Straftat außerdem die Rechtswidrigkeit angesehen8 - eine Auf-
fassung, die erst seit 1956 berechtigt ist.

Einige sowjetische Autoren sehen als "Straftatmerkmale" neben der


Gesellschaftsgefährlichkeit und der Rechtswidrigkeit auch die Schuld
(i. S. von Vorsatz und Fahrlässigkeit) und die Strafbarkeit ano.
Nach der "Straftat" mit ihren "Merkmalen" und dem "Straftatbe-
stand" mit seinen "Elementen" werden in den sowjetischen Lehr-
büchern die "Umstände, die die Gesellschaftsgefährlichkeit ausschlie-
ßen", behandelt; sie entsprechen unseren Rechtfertigungsgründen.
Das Verhältnis zwischen den "Elementen des Straftatbestandes" und
den "Merkmalen der Straftat" ist trotz langjähriger Diskussionen noch
weitgehend ungeklärt10 • A.A. Piontkovskij, einer der führenden Straf-
rechtswissenschaftIer der Sowjetunion, sieht die Gesellschaftsgefähr-
lichkeit und die Rechtswidrigkeit gleichzeitig als allgemeine "Merk-
male der Straftat" und als Teil der "objektiven Seite der Straftat" und
damit eines "Elements des Straftatbestandes" an und konnte diese

• A. N. Trajnin, Sostav prestuplenija po sovetskomu ugolovnomu pravu


(Der Straftatbestand nach dem sowjetischen Strafrecht), 1951, S. 171 f.; ders.,
Obscee ucenie 0 sostave prestuplenija (Allgemeine Lehre vom Straftatbe-
stand), 1957, S.119; I. S. Noj, Neues in der Behandlung der strafrechtlichen
Grundbegriffe (russ.), Zschr. Sovetskoe gosudarstvo i pravo (Sowjetstaat und
-recht), 1982, Nr. 7, S. 91 ff., 98.
7 Die in der Sowjetunion und auch außerhalb übliche Bezeichnung dieser
Möglichkeit als "Analogie" ist eine Beschönigung, da zwar die Bestrafung
nach den "ähnlichsten Tatbeständen" zu erfolgen hatte, diese selbst aber
keineswegs ähnlich zu sein brauchten. Demgegenüber verlangte das national-
sozialistische Recht, daß die Tat nach dem Grundgedanken eines Strafgeset-
zes (und nach gesundem Volksempfinden) Strafe verdient (§ 2 StGB i. d. F.
vom 28.6.1935).
8 Vsesojuznyj institut juridiceskich nauk NKJu SSSR (Gesamtunions-
institut für juristische Wissenschaften des Volkskommissariats für Justiz der
UdSSR), Ugolovnoe pravo. ObScaja cast' (Strafrecht. Allg. Teil), 2. Aufl.,
1939, S. 162.
° (Anm.8), 4. Aufl. 1948, S.276; A. A. Piontkovskij, Ucenie 0 prestuplenii
po sovetskomu ugolovnomu pravu (Die Lehre von der Straftat nach sowje-
tischem Strafrecht), 1961, S. 29; I. S. Noj (Anm. 6), S. 94.
10 Zur Diskussion bis 1960 s. a. P. MenzeZ, Das Verbrechen, der Tatbestand
und die Rechtfertigungsgründe nach sowjetischem Strafrecht, Diss. München
1959, S. 30 ff.; Schroeder, Die Grundsätze der Strafgesetzgebung der UdSSR
und der Unionsrepubliken (Studien des Instituts für Ostrecht München,
Bd. 10), 1960, Art. 7, Erl. IV.

79·
1252 Friedrich-Christian Schroeder

Auffassung in zahlreiche Lehrbücher einbringenl1 • Allerdings behan-


delt auch er die "Gesellschaftsgefährlichkeitsausschließungsgründe"
erst nach der "Straftat" und dem "Straftatbestand", da für die Lösung
einer Reihe VOn Fragen des Ausschlusses der Gesellschaftsgefährlich-
keit eine vorherige Kenntnis der Grundfragen der subjektiven Seite
des Straftatbestandes erforderlich sei - praktisch eine Bankrotterklä-
rung der eigenen Systematik. Von der h. L. wird diese Auffasung denn
auch abgelehnti!. Andererseits polemisiert die h. L. mit Piontkovskij
gegen A. N. Trajnin, der - offensichtlich von der Lehre vom "Leitbild-
tatbestand" inspiriert - erklärt hatte, die Gesellschaftsgefährlichkeit
liege außerhalb der Grenzen des Straftatbestandes und gehe ihm als
Strafbarkeitsvoraussetzung voraus13 • Zwar hat Trajnin unter dem
Druck der Kritik seine Auffassung erheblich abgeschwächt. In der
Neuauflage seines Buches VOn 1951 erklärte er nur noch, daß die Ge-
seIlschaftsgefährlichkeit "außerhalb der Elemente des Straftatbestan-
des" liegei«, und in der 3. Auflage von 1957 ließ er die heikle Passage
völlig weglI. Die Gesellschaftsgefährlichkeit sei das grundlegende, be-
stimmende Wesen jedes Straftatbestandes, eine Eigenschaft. Immer
noch wird Trajnin jedoch seine Auffassung vorgeworfen, daß mit der
Erfüllung des Straftatbestandes die Gesellschaftsgefährlichkeit auto-
matisch gegeben sei und nicht eigens nachgewiesen zu werden brauchei! .
Einige Autoren sehen das Wesen des Begriffs der Straftat in der sozi-
alen, das des Straftatbestandes in der rechtlichen Charakterisierung.
Im Zusammenhang damit steht eine seit einiger Zeit aufgekommene
These, wonach der Straftatbestand als bloße Summe VOn Merkmalen,
als Abstraktion nicht die Grundlage der strafrechtlichen Verantwort-
-liehkeit sein könne. Teilweise wurde deshalb bereits zwischen dem
"faktischen" und dem "gesetzlichen" Straftatbestand unterschieden.
Die h. L. warnt indessen vor einer Entgegensetzung VOn Straftat und
Straftatbestand und einer Auseinanderreißung des sozialen, realen Ge-
halts und der normativen, rechtlichen Charakterisierung des Straftat-
bestandes. "Die rechtliche Bewertung verwandelt die reale gesell-
schaftsgefährliche Handlung in eine Straftat und die Gesamtheit der
11 (Anm.8); (Anm.9); Kurs sovetskogo ugolovnogo prava v sesti tomach.
Cast obscaja, tom 11. Prestuplenie (Lehrbuch des sowjetischen Strafrechts
in sechs Bänden. Allgemeiner Teil, Bd. 11. Die Straftat), 1970, S. 99.
12 (Anm.4), S. 315.
13 Ucenie 0 sostave prestuplenija (Lehre vom Straftatbestand), 1946, S.61.
14 Sostav prestuplenija po sovetskomu ugolovnomu pravu (Der Straftat-
bestand nach dem sowjetischen Strafrecht), 1951, S. 82.
16 Obscee ucenie 0 sostave prestuplenija (Allgemeine Lehre vom Straf-
tatbestand), 1957, S. 80.
lG Ja. M. Brajnin, Ugolovnaja otvetstvennost' i ee osnovanie v sovetskom
ugolovnom prave (Die strafrechtliche Verantwortlichkeit und ihre Begrün-
dung im sowjetischen Strafrecht), 1963, S. 150.
Die Gliederung der Straftat in der Sowjetunion und in der DDR 1253

Merkmale, die den Inhalt und die Struktur der gesellschafts gefährlichen
Handlung bilden, in den Straftatbestand"17.
Eine eigenartige Verwirrung zeigt sich auch darin, daß die "Elemente
des Straftatbestandes" auf die "Straftat" bezogen werden. Bis 1961
sprachen die sowjetischen Lehrbücher immerhin noch von der objektiven
und subjektiven Seite "des Straftatbestandes" , freilich schon von dem
Objekt und dem Subjekt "der Straftat"18. Heute wird überwiegend das
eingangs genannte Schema vertreten, gelegentlich allerdings wenig-
stens noch die "objektive Seite" auf den "Straftatbestand" bezogen lD •
Das große Lehrbuch des Instituts für Staat und Recht der Akademie
der Wissenschaften der UdSSR bietet sogar noch eine weitere Variante,
indem es die "objektive Seite des Straftatbestandes" und die "objektive
Seite der Straftat" unterscheidet, wobei es unter letzterer den Kausal-
zusammenhang versteht!o.
Keine sowjetische Darstellung berücksichtigt die Tatsache, daß das
positive Recht von der vorsätzlichen und fahrlässigen Begehung einer
gesellschaftsgefährlichen Handlung sowie ihrer Begehung im Zustand
der Zurechnungsunfähigkeit spricht und damit offensichtlich von der
objektiven Gesellschaftsgefährlichkeit ausgeht.

11. Ausbruchsversuche aus diesem System

Es hat mehrfach Versuche gegeben, aus diesem System auszubrechen.


1948 benutzte A.A. Gercenzon die Abfassung eines Lehrbuchs für die
Militär-Juristische Akademie der Streitkräfte der UdSSR (bei der er
offensichtlich nicht an die strengen Lehrpläne für die juristischen
Fakultäten gebunden war) dazu, das überkommene Schema zu kriti-
sieren, da es den Täter in den Schatten stelle und nur als "Tatbestands-
element" erscheinen lasse. Er schlug daher eine Zweiteilung
A. Die strafbare Handlung
B. DerTäter
vor l . Dieser "Ausbruch" aus dem überkommenen System entpuppt sich
bei näherem Zusehen indessen nur als die Zusammenfassung der bis-
17 N. F. Kuznecova, Prestuplenie i prestupnost' (Straftat und Kriminali-
tät), 1969, S. 112 f.; Akademia nauk SSSR - Institut gosudarstva i prava
(Akademie der Wissenschaften der UdSSR - Institut für Staat und Recht),
Ugolovnoe pravo - istorija juridiceskoj nauki (Strafrecht - Geschichte
einer juristischen Wissenschaft), 1978, S. 58.
18 Ausnahme das Lehrbuch von 1959.
IV (Anm. 16), S. 162 ff.; (Anm.4).

20 Kurs (Anm. 11), S. 131 ff.


21 Ugolovnoe pravo. Cast' oMcaja (Strafrecht. Allgemeiner Teil), S.285.
1254 Friedrich-Christian Schroeder

herigen vier Elemente zu zwei Oberbegriffen. Im übrigen führte


Gercenzon seinen Vorschlag noch nicht einmal konsequent durch, da
er im folgenden Kapitel
Die strafbare Handlung
Der Täter
Die Schuld und das Motiv der Straftat
unterschied!! .
Wesentlich bedeutsamer war der Versuch B.B. Utevskijs, die psycho-
logische Schuldauffassung durch eine normative Schuldauffassung zu
ersetzen. Der Ausbruch aus der herrschenden Gliederung der Straftat
ergab sich hierbei allerdings nur als Nebenfrucht bzw. als Notbehelf.
Utevskij wagte nämlich nicht, die psychologische Schuldauffassung
völlig aufzugeben. Er unterschied daher die Schuld als subjektive Seite
des "Straftatbestandes" und die Schuld als allgemeine Grundlage der
strafrechtlichen Verantwortlichkeif!3. Die "strafrechtliche Verantwort-
lichkeit" hat sich inzwischen als eigenständige Kategorie der sowjeti-
schen Strafrechts dogmatik herausgebildet; sie erscheint in allen Lehr-
büchern des Allgemeinen Teils und wird auch in zahlreichen Mono-
graphien behandelt. Die "strafrechtliche Verantwortlichkeit" ist die
Pflicht desj enigen, der eine Straftat begangen hat, die Strafe zu erdulden.
Wichtiger ist der Begriff der "Grundlagen der strafrechtlichen Verant-
wortlichkeit", in den schon Utevskij die Schuld einreihen wollte. Der
Auffassung Utevskijs von den "Grundlagen der strafrechtlichen Ver-
antwortlichkeit" hat sich eine Reihe sowjetischer Autoren angeschlos-
sen2' . Die h. L. sieht jedoch als "Grundlage der strafrechtlichen Verant-
wor.1:Jichkeit" allein den "Straftatbestand" an, so daß der Begriff mehr
oder weniger überflüssig wird25 •
Der schon erwähnte A. N. Trajnin lehnte die Viergliederung der
"Elemente des Straftatbestandes" ab. Er erklärte - neben der Gesell-
schaftsgefährlichkeit (s.o.) - auch den Kausalzusammenhang, die
Schuld (i. S. von Vorsatz und Fahrlässigkeit), die Strafmündigkeit und
die Schuldfähigkeit zu selbständigen Grundlagen der strafrechtlichen
Verantwortlichkeit außerhalb des Tatbestandes. Im übrigen gelangte
allerdings auch er zu einer Viergliederung in Tatbestandselemente,
die das Objekt der Straftat, die objektive Seite der Straftat, das Sub-
jekt der Straftat und die subjektive Seite der Straftat charakterisie-
ren28• Diese Auffassung löste zwar lebhafte Diskussionen aus und hob
22 (Anm. 21), S. 287 ff.
23 Vina v sovetskom ugolovnom prave (Die Schuld im sowjetischen Straf-
recht), 1950.
24 Nachw. in Lehrbuch (Anm. 4), S. 233 f.
25 Nachw. in Lehrbuch (Anm. 4), S. 231 ff.
26 (Anm. 13), S. 71; (Anm. 14), S. 170 ff.; (Anm. 15), S. 118 ff.
Die Gliederung der Straftat in der Sowjetunion und in der DDR 1255

damit die sowjetische Strafrechtsdogmatik auf ein höheres Niveau,


fand aber keine Anerkennung. Die Kritik knüpfte an Widersprüche
an27 ; im übrigen ging sie dahin, daß Trajnins Auffassung zu einer Ver-
nichtung des allgemeinen Begriffs des Straftatbestandes führe 28 •

m. Auswirkungen des Gerimtsverfassungsremts


auf die Gliederung der Straftat

Entscheidende Belastungen für die überkommene Gliederung der


Straftat in der sowjetischen Strafrechtswissenschaft sollten aber erst
durch gerichtsverfassungsrechtliche Neuerungen eintreten. Die massen-
hafte Einweisung in Arbeitslager durch eine Sonderkommission beim
NKWD während der Stalin-Zeit führte in den "Grundlagen der Straf-
prozeßgesetzgebung der UdSSR und der Unions republiken" von 1958,
dem Unionsrahmengesetz für den Strafprozeß, zu der Regelung:
"Ausübung der Rechtspflege nur durch Gericht.
Die Rechtsprechung in Strafsachen erfolgt nur durch Gericht. Niemand
kann anders als durch Urteil eines Gerichts der Begehung einer Straftat
für schuldig erklärt und einer Kriminalstrafe unterzogen werden" (Art. 7).
Die Bedeutung dieser Vorschrift wurde dadurch unterstrichen, daß
sie in ähnlicher Form - an sich sachfremd - in dem Unionsrahmen-
gesetz für das materielle Strafrecht noch einmal wiederholt wurde.
"Grundlagen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit.

Eine Kriminalstrafe wird nur durch Gerichtsurteil verhängt" (Art. 3 Abs.2).


Die Zweckmäßigkeit dieser Vorschriften zeigte sich eher und in einer
ganz anderen Richtung, als die Entstalinisierer geglaubt hatten. Von
Mitte 1957 bis Ende 1960 ergingen in den asiatischen und kaukasischen
Unionsrepubliken sowie in Lettland sog. "Parasitengesetze" , bei denen
"Parasiten" und Arbeitscheue durch die versammelte Einwohnerschaft
eines Wohnblocks oder eines Dorfes in offener Abstimmung bis zu fünf
Jahren verbannt werden konnten29 • Infolge einer überraschend massi-
ven Kritik von seiten sowjetischer Juristen, die sich auf die genannten
Vorschriften stützte, überwies schon das Parasitengesetz der weitaus
größten Einzelrepublik, nämlich der Russischen Republik, vom 4. Mai
1961 das Verfahren weitgehend den ordentlichen Gerichten, und am
20. September 1965 wurde die Verbannung durch "gesellschaftliches
Urteil" völlig abgeschafft30 •
27 (Anm. 16), S. 135; meine Rezension in: Recht in Ost und West, 1959, 174.
28 (Anm. 4), S. 262.
29 Näher Schroeder, Gesellschaftsgerichte und Administrativjustiz im vor-
revolutionären Rußland. Ein Beitrag zum Problem der Kontinuität des
russischen Rechts, Osteuropa Recht 1962, 291 ff.
1256 Friedrich-Christian Schroeder

Die genannten Vorschriften mußten jedoch auch den ebenfalls Ende


der fünfziger Jahre eingeführten Möglichkeiten zur Bewältigung der
Bagatellkriminalität in der Sowjetunion, nämlich der "Befreiung von
der strafrechtlichen Verantwortlichkeit" unter Übergabe in die Bürg-
schaft eines Kollektivs oder unter überweisung an ein "Kameraden-",
besser "Kollegengericht" , entgegenstehen. Die h. L. in der sowjetischen
Rechtswissenschaft behalf sich damit, daß sie die neuen Rechtsinstitute
nicht als "Kriminalstrafen" ansah und die Kopula "und" in Art. 7 der
Grundsätze des Strafverfahrens nicht alternativ, sondern kumulativ
verstand, so daß die "Schuldigerklärung" ohne Verhängung einer Kri-
minalstrafe durch andere Organe zulässig blieb.
Diese Auffassung war jedoch nicht mehr möglich, als die neue Ver-
fassung von 1977 nach langen Auseinandersetzungen um die Aufnahme
der Vermutung der Unschuld in die Verfassung zwar nur den Text
des Art.7 S.2 der "Grundlagen des Strafverfahrens" in ihren Text
aufnahm, dabei aber das Wort "und" durch "sowie" ersetzte:
Artikel 160: "Niemand kann anders als durch Urteil eines Gerichts und
in übereinstimmung mit dem Gesetz der Begehung einer Straftat für schul-
dig erklärt sowie einer Kriminalstrafe unterzogen werden."

Trotz dieses eindeutigen Hinweises versuchten die meisten sowje-


tischen Juristen, die bestehende Regelung der Bagatellkriminalität zu
retten, so z. B. mit der Erwägung, die Verfahrenseinstellung durch die
Verfolgungsorgane stelle keinen Schuldspruch, sondern eine bloße Mei-
nungsäußerung darBI. Immerhin machten einige sowjetische Juristen
eindeutig die Verfassungswidrigkeit dieser Bestimmungen geltend.
Nur. die wenigsten verlangten allerdings auch für die Ahndung der
Bagatellkriminalität ein Gerichtsurteil32 • Die meisten forderten für die
Bagatellkriminalität die Herabstufung zu einer Kategorie unterhalb
der "Straftat" nach Art von Ordnungswidrigkeiten und Verfehlungen,
so daß das Rechtsprechungsmonopol der Gerichte nach Art. 160 der Ver-
fassung nicht mehr eingreife83 • Mit Erlaß des Präsidiums des Obersten
Sowjets der UdSSR vom 13. August 1981, der vom Obersten Sowjet der
UdSSR am 19. November 1981 zum Gesetz erhoben wurde", wurde ver-
10 Näher Schroeder, Die Abschafiung der Gesellschaftsgerichte in der
Sowjetunion und die Periodisierung der sowjetischen Rechtsentwicklung,
Osteuropa Recht 1967,89 fi.
BI M. S. Strogovii':, Die Vermutung der Unschuld und die Einstellung von
Strafverfahren aus nichtrehabilitierenden Gründen (russ.), Zschr. Sovetskoe
gosudarstvo i pravo (Sowjetstaat und -recht), 1983, Nr. 2, S. 70 fi.
32 Nachw. bei Fincke in: Handbuch der Sowjetverfassung, red. von Fincke,
1983, Art. 160 Rdn. 18.
11 Nachw. bei Fincke (Anm. 32), Rdn. 19.
3( Vedomosti Verchovnogo Soveta SSSR (Anzeiger des Obersten Sowjets
der UdSSR), 1981, Nr. 33, Art. 965; Nr. 47, Art. 1239.
Die Gliederung der Straftat in der Sowjetunion und in der DDR 1257

sucht, das materielle Recht mit der neuen Verfassung in Einklang zu


bringen. Dabei wurde zunächst einmal die Formulierung des Art. 7 der
"Grundsätze des Strafverfahrens" und des Art. 3 Abs. 2 der "Grundsätze
der Strafgesetzgebung" (s.o.) durch den Wortlaut des Art.I60 der
neuen Verfassung ersetzt. Wichtiger erschien allerdings, daß bei der
"Befreiung von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit" nach Art. 43,
die auch durch die Strafverfolgungsorgane möglich ist, der Ausdruck
"Wer eine Straftat begangen hat" ersetzt wurde durch die Formulie-
rung "Wer eine Tat begangen hat, die die Merkmale einer Straftat
enthält".
Diese Gesetzesänderung benutzte der schon früher durch ausge-
sprochen unbequeme Publikationen3.'l aufgefallene Saratower Straf-
rechtswissenschaftler I.S. Noj dazu, erneut eine Revision der Gliede-
rung der Straftat und der strafrechtlichen Grundbegriffe zu verlan-
genas. Da die Neufassung des Art.43 der Tatsache Rechnung tragen
solle, daß nach Art. 160 der Verfassung und der Neufassung von Art. 7
der Grundlagen des Strafverfahrens (= Art. 3 Abs. 2 der Grundlagen
der Strafgesetzgebung) ein Schuldspruch nur noch durch das Gericht
möglich sei, bedeute der Begriff "Handlung, die die Merkmale einer
Straftat enthält" das Fehlen von Schuld und Strafbarkeit in der Glie-
derung der Straftat, m. a. W. eine gesellschaftsgefährliche und rechts-
widrige Handlung. Andererseits sei es selbstverständlich, daß in diesen
Fällen Vorsatz oder Fahrlässigkeit gegeben sein müßten. Daraus er-
gebe sich weiterhin, daß die Schuld nicht mit Vorsatz oder Fahrlässig-
keit identisch sei.
Von hier aus rollt Noj auch den Tatbestandsbegriff auf. Da nach Art. 5
der StPO der russischen Sowjetrepublik bei Fehlen des "Straftatbe-
standes" ein Strafverfahren nicht eingeleitet werden darf und ein ein-
geleitetes Strafverfahren eingestellt werden muß, könne der Straftat-
bestand nicht mehr umfassen als die "Handlung, die die Merkmale
einer Straftat enthält". Damit könne wiederum der "Straftatbestand"
im Gegensatz zur h. L. nicht die alleinige Grundlage der "strafrecht-
lichen Verantwortlichkeit" sein. Vielmehr müsse die Schuld hinzu-
treten.
Dem Kenner der deutschen Strafrechtsentwicklung kommen diese
Auseinandersetzungen wie ein historisches Drama vor.

85 Voprosy teorii nakazanija v sovetskom ugolovnom prave (Fragen der


Straftheorie im sowjetischen Strafrecht), 1962; Suscnost' i funkeii ugolovnogo
nakazanija v sovetskom gosudarstve (Wesen und Funktionen der Kriminal-
strafe im Sowjetstaat), 1973; Metodologiceskie problemy sovetskoj krimi-
nologii (Methodische Probleme der sowjetischen Kriminologie), 1975.
3S (Anm.6).
1258 Friedrich-Christian Schroeder

Die Thesen I.S. Nojs wurden drei Monate später in einer Veranstal-
tung an der Universität Moskau einer harten Kritik unterzogen37 • Sie
wurden als "falsch", "unwahr" und "inkonsequent" bezeichnet. Völlig
unzulässig sei das Verfahren von Noj, seine eigenen theoretischen Kon-
struktionen mit den Erlassen vom 13. August 1981 zu verbinden.
Diese Kraftausdrücke sollten indessen nur - wie meistens - die
fehlende überzeugungskraft der eigenen Argumente übertönen. Der
erste Disputant beklagte, daß Noj mit seiner Auffassung, die "Hand-
lung, die die Merkmale einer Straftat enthält", sei keine "Straftat",
bedenkliche Verletzungen der Gesetzlichkeit herbeiführe, nämlich un-
gerechtfertigte Nichteinleitungen von Strafverfahren. Ein Teilnehmer
meinte, die Neufassung sei ein mißlungener Versuch zur Realisierung
der Idee eines übertretungsgesetzbuchs, ein anderer, der Begriff
"Handlung, die die Merkmale einer Straftat enthält" sei "nicht der
gelungenste" Begriff für die Bezeichnung geringfügiger Straftaten. Ein
weiterer meinte, die Neufassung sei "nicht der gelungenste" Versuch
zur Beseitigung der Diskrepanzen zwischen Art. 160 der Verfassung
und Art. 43 der Grundlagen der Strafgesetzgebung. Bis auf einen waren
sich alle einig, daß die Begriffe "Straftat" und "Handlung, die die
Merkmale einer Straftat aufweist" identisch seien.
Gravierender war schon der Vorwurf einer unzulässigen übertra-
gung prozessualer Begriffe ins materielle Recht, verwendet doch auch
die deutsche StPO den Begriff "Schuld" in einem anderen Sinne als
das materielle Recht (§§ 153, 153 a, 260 Abs.4 S. 1, 263). Indessen ver-
wendet das sowjetische Recht sowohl im StGB als auch in der StPO
gleichlautend die Formulierung "schuldig der Begehung einer Straf-
tat", und daher ist die übereinstimmende Auslegung auch sonst durch-
aus herrschend.
Weshalb die sowjetische Strafrechtswissenschaft den Gedanken
1.S. Nojs solchen erbitterten und mit allen Zeichen moralischer Ent-
rüstung vorgetragenen Widerstand entgegensetzt, ist schwer begreif-
lich. Ideologische Schranken für die längst überfällige Bereinigung
der sowjetischen Gliederung der Straftat sind nicht ersichtlich. So
scheint es sich hier um ein Symptom der allgemeinen Stagnation der
geistigen Entwicklung in der Sowjetunion zu handeln, bei der Neue-
rungen als unnötige Unruhe angesehen und mit spießbürgerhafter Ent-
rüstung bedacht werden. Der Hinweis darauf, daß sich Noj an Grund-

37 Diskussion der neuen Strafgesetzgebung (russ.), Vestnik Moskovskogo


universiteta (Bote der Moskauer Universität), Serie 11 - Recht, 1983, Nr.4,
S. 81 ff. - Vgl. auch G. A. Kriger - N. F. Kuznecova, Die neue Strafgesetz-
gebung und ihre wissenschaftlich-praktische Bedeutung (russ.), Zschr. So-
vetskoe gosudarstvo i pravo (Sowjetstaat und -recht), 1984, Nr. 1, S. 72 ff.
Die Gliederung der Straftat in der Sowjetunion und in der DDR 1259

begriffen des sowjetischen Strafrechts vergreife, die sich in sechzig-


jähriger Entwicklung herausgebildet hätten, deutet in diese Richtung.
Die besondere Entrüstung darüber, daß Noj seine Thesen auf das po-
sitive Recht gestützt hat, ist ein makabres Zeugnis für die Argumen-
tationsweise und die geistige Verfassung der heutigen sowjetischen
Strafrechtswissenschaft.
Daß in der Diskussion mehrfach von einer "Revision der Grundbe-
griffe des sowjetischen Strafrechts" die Rede war, mag auf der großen
Bekanntheit Feuerbachs in der Sowjetunion beruhen38 • Vom Geiste
Feuerbachs war in dieser Diskussion allerdings nichts zu spüren.

IV. Die Gliederung der Straftat in der DDR

Die Strafrechtswissenschaft der DDR stand bei der von den politi-
schen Instanzen angeordneten3D Rezeption des sowjetischen Rechts vor
der wenig beneidenswerten Aufgabe, die hoch entwickelte Gliederung
der Straftat nach der überkommenen deutschen Dogmatik durch die
sowjetische zu ersetzen, die - wie dargelegt - noch aus dem letzten
Jahrhundert stammt. Diese Aufgabe übernahm ein vom Staatssekre-
tariat für Hochschulwesen eingerichtetes "Kollektiv der Strafrechtler",
dem die Vizepräsidentin des Obersten Gerichts, Hilde Benjamin, der
stellvertretende Leiter der Zentralen Richterschule, Prof. Dr. Hans
Gerats, sowie die "wissenschaftlichen Aspiranten" (auch dies ein aUf>
der Sowjetunion übernommener Grad, der dem deutschen Assistenten
entspricht) Joachim Renneberg und John Lekschas angehörten. Ihre
Ergebnisse wurden von John Lekschas in seiner Arbeit "Zum Aufbau
der Verbrechenslehre unserer demokratischen Strafrechtswissen-
schaft"40 publik gemacht.
Trotz der oktroyierten Rezeption kam es dabei zu beachtlichen Modi-
fizierungen der sowjetischen Auffassung. Wie in der Sowjetunion, je-
doch mit einer bemerkenswerten terminologischen Abweichung gegen-
über den dortigen "Merkmalen", wurden zunächst die "Eigenschaften
des Verbrechens" herausgestellt. Auch die durchgängige Verwendung
des Begriffs "Verbrechen" dürfte von dem sowjetischen Vorbild bestärkt
sein'!, ist allerdings - wie eingangs dargelegt - auch in der Literatur

38 Feuerbach war korrespondierendes Mitglied der russischen Gesetz-


gebungskommission; mehrere seiner Werke wurden ins Russische übersetzt.
3D S. z. B. Redaktion der vom Ministerium der Justiz, dem Obersten
Gericht und dem Generalstaatsanwalt der DDR herausgegebenen Zeitschrift
"Neue Justiz", 1951, S. 342.
40 Kleine Schriftenreihe des Deutschen Instituts für Rechtswissenschaft,
Heft I, o. J. (in Druck gegeben Anfang Juli 1952).
u S. o. Anm. 2.
1260 Friedrich-Christian Schroeder

der Bundesrepublik noch gelegentlich anzutreffen. Im Gegensatz zu


der damaligen sowjetischen Auffassung (s.o.) entsprach die Berücksich-
tigung der Rechtswidrigkeit als Eigenschaft des Verbrechens neben
der Gesellschaftsgefährlichkeit angesichts des Grundsatzes "nullum
crimen sine lege" im Recht der DDR dem positiven Recht. Außerdem
sah die DDR als "Eigenschaften des Verbrechens" noch die Strafbar-
keit und die "strafrechtliche Verantwortlichkeit" an. In der Integrie-
rung dieses Begriffs, der in der sowjetischen Strafrechtsdogmatik -
wie erinnerlich - unverbunden neben den "Merkmalen der Straftat"
und den "Elementen des Straftatbestandes" steht, in die "Eigenschaf-
ten" lag eine bemerkenswerte Begradigung des komplizierten sowjeti-
schen Systems.
Bei der Strafrechtswidrigkeit als Verbrechenseigenschaft knüpfte
die DDR an den überkommenen Begriff der "Tatbestandsmäßigkeit"
an. Mit der Begründung, daß die Strafrechtswidrigkeit in den Tatbe-
stand aufgenommen sei, lehnte Lekschas jedoch eine Trennung von
Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit ab. Darin lag nicht etwa
eine Übereinstimmung mit dem in der Bundesrepublik teilweise ver-
tretenen zweigliedrigen Straftatbegriff, sondern vielmehr eine Verkür-
zung der "Strafrechtswidrigkeit" auf die Erfüllung des Straftatbestan-
des i. e. S.41.
Daneben übernahm die DDR die Gliederung in vier "Elemente". Sie
bezog sie allerdings nicht wie in der Sowjetunion - ganz oder partiell
(s.o.) - auf den "Straftatbestand" , sondern sie sprach auch hier von
"Elementen des Verbrechens" und begradigte damit wiederum eine
Unstimmigkeit in der sowjetischen Dogmatik. Dies dürfte die Entwick-
lung in der Sowjetunion beeinflußt haben (s.o.). Als "Verbrechenstat-
bestand" wurden dagegen die "Eigenschaften des Verbrechens" be-
zeichnet4l •
Im übrigen bemühte sich Lekschas, das sowjetische System der vier
"Elemente" der Straftat (s.o.), das in der sowjetischen Strafrechtswissen-
schaft ohne jede Begründung bleibt, näher zu begründen. Ausgangs-
punkt sei die Aufspaltung des Verbrechens nach dem historischen Ab-
lauf, wobei - entsprechend der Perspektive des Richters - die Folge
vom Ende zum Anfang gewählt werdeu . Damit befolgte Lekschas den
in der Sowjetunion bis dahin kaum vertretenen45 "verschränkten
Reim":

42 (Anm. 40), S. 17.


43 (Anm. 40), S. 20, 23 f.
u (Anm. 40), S. 24, 27.
45 S. o. Anm. 3.
Die Gliederung der Straftat in der Sowjetunion und in der DDR 1261

Objekt des Verbrechens


objektive Seite des Verbrechens
subjektive Seite des Verbrechens
Subjekt des Verbrechens.
Kurz darauf versuchte er, das Schema aus einem dialektischen Hand-
lungsbegriff heraus zu entwickeln4G, und ging damit - wie die finale
Handlungslehre - von der Maßgeblichkeit ontologischer Strukturen
für das Recht und die Rechtsdogmatik aus47 • Um alle "Elemente der
Straftat" erfassen zu können, mußte er allerdings die Handlung zu
einem "Handlungsprozeß" erweitern48 • Die Änderung in der Reihen-
folge der Elemente der Straftat gab der Gliederung zwar eine gewisse
theoretische Grundlage, führte aber zu praktischen Schwierigkeiten,
da sich die "subjektive Seite" auf die persönlichen Merkmale beziehen
muß, die aber unter der Stufe "Subjekt" in der Gliederung erst nach-
folgenu.
Nicht unerwähnt bleiben kann an dieser Stelle, daß die Verbrechens-
elemente des Objekts und des Subjekts des Verbrechens die Einbruch-
stelle für außerhalb der Tat liegende Erwägungen, insbesondere eine
brutale Terrorbestrafung angeblicher Klassenfeinde, warenso. Diese
Mißbrauchsmöglichkeit ist indessen keine zwangsläufige Eigenschaft
dieser Gliederung der Straftat, die an sich nur eine Ordnung der ge-
setzlichen Voraussetzungen der Bestrafung enthä1t51, wie umgekehrt
auch andere Straftatsysteme den politisch intendierten Mißbrauch
vermutlich nicht hätten verhindern können.
Im Gegensatz zu seinen sowjetischen Vordenkern stellt sich Lekschas
auch dem Problem des Verhältnisses zwischen den "Eigenschaften" und
den "Elementen" des Verbrechens. Die "Eigenschaften" bedürften kei-
ner eigenen Prüfung, sondern würden mit den "Elementen" inzidenter
festgestellt. Dabei charakterisiere jedes "Verbrechenselement" jede
"Verbrechenseigenschaft"; z. B. habe das Objekt nicht nur Bedeutung
für die Gefährlichkeit der Handlung, sondern auch für die Strafbarkeit,
die Strafrechtswidrigkeit und die VerantwortlichkeitS!.
46 Die Lehre von der Handlung unter besonderer Berücksichtigung straf-
rechtlicher Probleme (Kleine Schriftenreihe des Deutschen Instituts für
Rechtswissenschaft, Heft 11), 1953.
47 Vgl. Lyon, Der Verbrechensbegriff in der Strafrechtswissenschaft der
DDR, Rechtsvergleichende Untersuchungen zur gesamten Strafrechtswissen-
schaft, n. F., Heft 23, 1960, S. 78.
48 (Anm. 46), S. 38 f.; vgl. auch (Anm. 40), S. 25 f.
4U S. Deutsches Institut für Rechtswissenschaft, Lehrbuch des Strafrechts
der Deutschen Demokratischen Republik. Allg. Teil, 1957, S. 407.
50 S. schon Lekschas (Anm. 40), S. 26.
61 A. A. Lyon (Anm. 47), S. 93.
G! (Anm. 40), S. 27 ff.
1262 Friedrich-Christian Schroeder

1955 wurde die neue Systematik in der erwähnten - offiziösen -


Zeitschrift "Neue Justiz" einer scharfen Kritik unterzogen, und zwar
nicht von einem RechtswissenschaftIer, sondern von dem Vorsitzenden
des Rechtsanwaltskollegiums von Groß-Berlin53 • Allerdings bezog sich
diese Kritik nur darauf, daß die neue Systematik die Problematik der
Teilnahme, von Versuch und Vorbereitung, die Konkurrenzen und die
Verjährung nicht erfasse, im übrigen auf die erwähnte Tendenz zur
Einbeziehung außertatbestandsmäßiger Gesichtspunkte54 •
Diese Kritik blieb aber ohne Wirkung. Im Lehrbuch des Strafrechts
von 1957, dem ersten und für fast zwanzig Jahre einzigen und damit
offiziösen Strafrechtslehrbuch, wurde die von Lekschas vorgetragene
Gliederung völlig übernommen. Eine Abweichung bestand nur darin,
daß die "Verantwortlichkeit" als "Eigenschaft" des Verbrechens, deren
Wesen schon Lekschas vor allem in der "moralisch-politischen Seite
der verbrecherischen Handlung" gesehen hatte55 , in die "moralisch-
politische Verwerflichkeit" der Handlung umbenannt wurde56 •
Im Lehrbuch von 1976 hat sich die Strafrechtswissenschaft der DDR
weiter von dem sowjetischen Vorbild emanzipiert. Die Lehre von den
vier "Elementen" des Verbrechens ist nun zur "strafrechtlichen Verant-
wortlichkeit" geworden, bei der "objektive Voraussetzungen" und
"subjektive Grundlagen" unterschieden werden. Innerhalb der erste-
ren kehren das Objekt und die objektive Seite der Straftat wieder. Die
"subjektiven Grundlagen" umfassen Vorsatz und Fahrlässigkeit und
haben aus der Lehre vom Subjekt des Verbrechens die Zurechnungs-
fähigkeit in sich aufgenommen. Der "strafrechtlichen Verantwortlich-
keit" vorgeschaltet ist "Die Lehre von der-Straftat und vom Straf-
täter"; in ihr finden sich neben den "Eigenschaften" der Straftat die
Strafmündigkeit, besondere persönliche Merkmale sowie - noch ein-
mal(!) - die Zurechnungsfähigkeit57 • '

Die Schwierigkeiten bei der Vereinbarung der Aburteilung durch die


gesellschaftlichen Gerichte mit dem Rechtsprechungsmonopol der

53 F. WolJj, Die objektive Seite des Verbrechens, NJ 1955, 552 f. - WolJj


hat auch 1979 mit einer Aufwertung der Funktion des Strafverteidigers in
der DDR Aufsehen erregt (Aufgaben und Verantwortung des Verteidigers
im Strafverfahren, NJ 1979, 400 ff. - Hierzu Schroeder, Aufwertung des
Strafverteidigers in der DDR?, Deutschland Archiv, 1980, 130 ff.).
U Hierzu ist zu bemerken, daß nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953
in der Justiz der DDR eine gewisse Liberalisierung erfolgte, die allerdings
seit Mitte 1954 wieder abbröckelte. Eingehend Schroeder, Das Strafrecht des
realen Sozialismus. Eine Einführung am Beispiel der DDR, 1983, S. 30.
55 (Anm. 40), S. 18.
5G (Anm. 49), S. 272 ff.

57 Strafrecht. Allgemeiner Teil. Lehrbuch, 1976, S. 165 ff. Ebenso 2. Aufl..


1978, S. 164 ff.
Die Gliederung der Straftat in der Sowjetunion und in der DDR 1263

staatlichen Gerichte hat die DDR durch einen verblüffenden und gut
durchdachten Kunstgriff aufgefangen. Sie hat nämlich die Verhandlung
vor einem Gesellschaftsgericht nicht - wie in der Sowjetunion - mit
einer "Befreiung von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit" verbun-
den, sondern sie als strafrechtliche Sanktion selbst ausgestaltet. Diese
kluge Konstruktion hat den weiteren Vorteil, daß sie die in der sow-
jetischen Konstruktion angelegte Sprengkraft der Konkurrenz zwischen
"Staat" und "Gesellschaft" entschärft und die Gesellschaftsgerichte in
das staatliche Rechtsprechungssystem integriert, sie sozusagen ver-
staatlicht. Schließlich entspricht die Konzeption der DDR noch der
Realität, da von den Betroffenen nicht so sehr die von den Gesellschafts-
gerichten verhängten Sanktionen als vielmehr die Verhandlung durch
das Gesellschaftsgericht selbst als das eigentliche übel empfunden wird.
Ganz geht allerdings auch die Konstruktion der DDR nicht auf, da die
übergabe an ein Gesellschaftsgericht durch die Volkspolizei oder den
Staatsanwalt erfolgt (§§ 142, 149 StPO) und damit eine strafrechtliche
Sanktion durch Organe ohne Gerichtsqualität verhängt wird. Im übri-
gen ist die DDR mit der "Verstaatlichung" der gesellschaftlichen Ge-
richte über das Ziel hinausgeschossen, indem sie die gesellschaftlichen
Gerichte in der Verfassung als mit den staatlichen Gerichten gleich-
wertige Organe der Rechtsprechung aufgeführt hat (Art. 92). Damit
verträgt es sich wiederum nicht, daß die Verhandlung vor dem Gesell-
schaftsgericht als strafrechtliche Sanktion gilt: Die gesellschaftlichen
Gerichte können nicht zugleich Sanktion und deren Urheber sein.

V. Allgemeine Ergebnisse

Die vorliegende Untersuchung hat neben einer Information über die


Strafrechtsdogmatik in der Sowjetunion und in der DDR und damit
einem großen Bereich des realen Sozialismus sowie der Herausarbei-
tung zahlreicher Zusammenhänge folgende grundsätzlichere Ergeb-
nisse gebracht:
- Die Strafrechtsdogmatik in der Sowjetunion weist eine angesichts
der russischen Begabung für systematische Zusammenhänge über-
raschende Unausgereiftheit und Widersprüchlichkeit auf. Versuche
zu einer Modernisierung werden von einem mit moralischen Krite-
rien argumentierenden Konservatismus zurückgewiesen.
- Die Strafrechtsdogmatik der DDR zeigt demgegenüber bei aller nach
außen zur Schau getragenen Rezeptionsbereitschaft und bei aller
Rezeption im Grundsätzlichen eine bisher übersehene Kreativität,
die zahlreiche Spielräume, die das sowjetische System offenläßt, aus-
nutzt und zu weitgehenden Modifikationen geführt hat.
1264 Friedrich-Christian Schroeder

- Wie sich auch schon in der Bundesrepublik Deutschland gezeigt hat,


schlagen die neuartigen Formen der Bewältigung der Bagatellkrimi-
nalität, auch wenn sie im Prozeßrecht oder im Gerichtsverfassungs-
recht angesiedelt werden, auf die Dogmatik des materiellen Straf-
rechts durch.
PETER HüNERFELD

Aspekte des Verkehrsstrafrechts


im Vergleich der Bundesrepuhlik Deutschland
und Usterreichs

Die folgende Betrachtung bezieht sich auf den Bereich des Straßen-
verkehrs, dessen effiziente Kontrolle als ein zentrales Anliegen moder-
ner Rechtsbewährung hervortritt. Zu dieser Aufgabe gehört auch der
sachgemäße Einsatz der strafrechtlichen Mittel, der als solcher nicht
fraglich ist, jedoch im Hinblick auf Reichweite, Gestaltung und An-
wendung der dafür in Betracht kommenden Bestimmungen schwierige
Fragen zur Klärung und Entscheidung stellt. Die Auseinandersetzung
der strafrechtlichen Probleme im Sachzusammenhang des Straßenver-
kehrs hat auch schon seit längerer Zeit einen gesicherten Platz in der
Strafrechtsvergleichung1 und in der zwischenstaatlichen Zusammen-
arbeit, für die hier auf die bisherigen Bemühungen im Rahmen des
Europarates hingewiesen wird!.
Der verehrte Jubilar, dem dieser Beitrag in großer Dankbarkeit
gewidmet ist, hat in seinem Werk in vielfältiger Weise dem österrei-
chischen Strafrecht Beachtung geschenkt und hierdurch das besondere
Interesse derartiger Begegnung der beiden Nachbarländer bezeugt.
1 Da sich der im Text angeführte Sachzusammenhang nicht auf die Aus-
gestaltung spezifisch straßenverkehrsstrafrechtlicher Vorschriften beschränkt,
sondern auf die Reichweite der in Betracht kommenden allgemeineren
strafrechtlichen Bestimmungen - wie etwa fahrlässige Körperverletzung
oder fahrlässige Tötung - erstreckt, sind auch die Erträge der Strafrechts-
vergleichung in einem teilweise. weiterreichenden Rahmen von Bedeutung.
Erkenntnisse dieser Art sind auch als Tagungsergebnisse der weltweit orga-
nisierten Strafrechtsvergleichung zu verzeichnen; wir verweisen etwa auf die
Erörterung der Fahrlässigkeitsdelikte, die zu den Themen des VIII. und
XII. Kongresses der AIDP gehörten (Lissabon 1961, Hamburg 1979). Im übrigen
wollen wir uns auf folgende speziellere Hinweise beschränken: vgl. zum Stand
der Verkehrsdelikte in den fünfziger Jahren GoZlek, in: Materialien zur Straf-
rechtsreform, 2. Band, 1955, S.459 (462 ff.); spätere Entwicklungen berücksich-
tigt BockeZmann, Wesentliche Unterschiede des Verkehrsstrafrechts in Europa
und Vorschläge zu seiner Vereinheitlichung, 1971; vgl. im weiteren: Les in-
fractions routieres, Sondernummer der Revue de science criminelle et de
droit penal compare, 1978; International Penal and Penitentiary Foundation,
Penal and penitentiary aspects of road traffic, 1977.
! Dazu Janiszewski, Verkehrsstrafrecht, 2. Aufl., S. 239 ff. sowie Conseil de
l'Europe, Lignes directrices concernant les infractions dans un code penal
europeen de la route, 1979.

80 Festschrift für H.-H . .Jescheck


1266 Peter Hünerfeld

Dabei handelt es sich sowohl um im Ansatz auf die Vergleichung des


deutschen und österreichischen Rechts ausgerichtete Untersuchungen'
als auch um Berücksichtigungen österreichischer Autoren im unmittel-
baren Sachzusammenhang der strafrechtlichen Lehre, deren Gestal-
tung bei Jescheck seinem Verständnis des Strafrechts als Teil eines
internationalen Kulturzusammenhangs verpflichtet ist4 • Im Hinblick
auf den engen und bewährten Austausch mit der österreichischen
Strafrechtswissenschaft5 erscheint es möglich und gewinnbringend, den
Vergleich auf das Gebiet des Verkehrsstrafrechts zu erstrecken, auch
wenn es sich hier nur um Aspekte und einige ausgewählte Fragen
handeln kann.
In dem diesem Beitrag gesteckten Rahmen geht es zunächst um eine
vergleichende Kennzeichnung der unterschiedlichen Bereiche des Ver-
kehrsstrafrechts und seiner Repräsentation im Kriminal- beziehungs-
weise Justizstrafrecht. Im weiteren sollen einige wesentliche Aspekte
des kriminalstrafrechtlich erfaßten Bereichs beleuchtet werden. Die
vergleichende Behandlung der berücksichtigten Fragen bezieht sich
zunächst auf die Erfassung von Gefährdungen und Verletzungen im
Straßenverkehr und beleuchtet abschließend strafrechtliche Gesichts-
punkte in bezug auf das Verhalten nach einem Verkehrsunfall.

1.

Im deutschen wie im österreichischen Verkehrsstrafrecht sind zwei


voneinander geschiedene Verantwortungsbereiche vorhanden, die auf
deutscher Seite der Trennung von Kriminalstrafrecht und Ordnungs-
-widrigkeitenrecht sowie auf österreichischer- Seite der Trennung von
Justizstrafrecht und Verwaltungsstrafrecht entsprechen. Unterschied-

S Wir verweisen auf Jescheck, Die Entwicklung des Verbrechensbegriffs


in Deutschland seit Beling im Vergleich mit der österreichischen Lehre, ZStW
73 (1961), S. 179; ders., Neue Entwicklungstendenzen des deutschen Strafver-
fahrensrechts im Vergleich mit dem österreichischen Recht, in: Hundert Jahre
österreichische Strafprozeßordnung, 1873 - 1973, S.39; ders., Deutsche und
österreichische Strafrechts reform, Festschrift für Richard Lange, S. 365.
4 Vg!. dazu Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 3. Aufl.,
1978, S. XI (Vorwort zur 1. Aufl. 1969). Der Austausch mit österreichischen
Autoren erlangt im Lehrbuch von Jescheck vielfältigen Ausdruck.
S Die vielfältige Repräsentanz österreichischer Autoren in deutschen
Publikationen und der lebendige Austausch auch auf vielen Fachtagungen,
zum Beispiel im Rahmen der Strafrechtslehrertagungen und der Veranstal-
tungen der deutschen Gesellschaft für Rechtsvergleichung, bedürfen keines
weiteren Belegs. Vielfache Aufmerksamkeit für die deutsche Lehre hat auch
im österreichischen Schrifttum Niederschlag gefunden. Aus gegebenem Anlaß
wollen wir uns für diese Lage, die ebenfalls keiner weiteren Dokumentation
bedarf, darauf beschränken, die wichtigen Besprechungen des Lehrbuchs von
Jescheck durch Nowakowski, JB!. 1972, 19 und Liebseher, ZfVR 11 (1970),
S. 181 anzuführen.
Aspekte des Verkehrsstrafrechts im Vergleich 1267

lichkeit besteht nicht nur in bezug auf die Wege dieser Aufgliederung,
sondern auch in bezug auf die Reichweite der dem Kriminal- bezie-
hungsweise Justizstrafrecht vorbehaltenen Materien.
Das deutsche Verkehrsstrafrecht ist gekennzeichnet durch die Ab-
stufung kriminalstrafrechtlicher Bestimmungen gegenüber dem davon
abgesetzten Bereich der Verkehrsordnungswidrigkeiten. Die 19688 zum
1.1.1969 durchgeführte Umwandlung der vormaligen Verkehrsüber-
tretungen in Ordnungswidrigkeiten war eine zu ihrer Zeit nicht un-
bestrittene? Maßnahme der Entkriminalisierung des Verkehrsstraf-
rechts. Auf der anderen Seite ist der verbliebene kriminalstrafrecht-
liche Bereich nicht auf allgemeinere Tatbestände und den überkom-
menen Rechtsgüterbestand beschränkt, da er auch bestimmte schwere
Verstöße spezifisch straßenverkehrsrechtlicher Art und die Sicherheit
des Straßenverkehrs als eigenes Rechtsgut einbezieht.
Dem österreichischen Recht ist die Kategorie der Ordnungswidrig-
keit als solche fremd geblieben, so daß ein gleichartiges Entkriminali-
sierungsprogramm nicht zu verzeichnen ist. Allerdings wird in Öster-
reich der Begriff des Kriminalstrafrechts auf den Bereich des Justiz-
strafrechts beschränkt8 und daher auch nicht auf die verwaltungsstraf-
rechtlich erledigten Fälle des Straßenverkehrs bezogen. Diesem Ver-
ständnis folgt auch eine im Jahre 1971 als Entlastung des Justizstraf-
rechts durchgeführte Entkriminalisierung des Verkehrsstrafrechts'. Die
Verteilung des Verkehrsstrafrechts auf die beiden Bereiche ist im
übrigen dadurch gekennzeichnet, daß dem verwaltungsstrafrechtlichen
Anteil die Ahndung spezifischer straßenverkehrsrechtlicher (Verwal-
• Vgl. Art.3 des Einführungsgesetzes zum Gesetz über Ordnungswidrig-
keiten (EGOWiG) vom 24. Mai 1968 (BGBL I S. 503).
7 Vgl. die grundsätzliche Kritik am Konzept der Ordnungswidrigkeiten
von Mattes, ZStW 82 (1970), S. 25 ff.
S Vgl. Nowakowski, Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, § 1 Rdn.4;
Kienapfel, Einführung in das österreichische Strafrecht, S.33 u. 38; Foreg-
gerlSerini, StGB, 3. Aufl., Einführung Ziff. B I.
9 Es handelt sich um einen wichtigen Teilaspekt des Strafrechtsänderungs-
gesetzes 1971 (Bundesgesetz vom 8. Juli 1971, BGBL Nr.273). Das österreichi-
sche Strafrecht kannte zwar auch in dem damals noch geltenden alten Straf-
gesetzbuch (von 1852 mit den seither ergangenen Reformen) kein ausschließ-
lich auf den Straßenverkehr bezogenes Strafrecht,jedoch weitreichende allge-
meine Bestimmungen. Die fahrlässige Gefährdung der körperlichen Sicher-
heit war auch als solche (und ohne eine daraus entstandene Beeinträchtigung)
unter Strafe gestellt; vgl. zur Ausgangslage im ganzen Nowakowski, in: Mez-
gerlSchönkelJescheck, Das ausländische Strafrecht der Gegenwart, Band 111.
S.476 (Textstelle aus dem Beitrag "Das österreichische Strafrecht", ebendort
S. 415 ff.) sowie Moos, JR 1977,314. Die 1971 durchgeführte Entkriminalisierung
brachte eine wesentliche Einschränkung der Erfassung bloßer Gefährdungen
sowie bedeutsame Fälle des Strafausschlusses bei der einfachen fahrlässigen
Körperverletzung. Vgl. zur Lage nach der Reform auch die diesem Stand ent-
sprechende Darstellung von Okresek, Die Ahndung der Verkehrs straftaten
in Österreich, VOR 2 (1972), 114.

SO·
1268 Peter Hünerfeld

tungs-)übertretungen entspricht10 , während der Verantwortungs fall des


Justiz- beziehungsweise Kriminalstrafrechts in allgemeinere strafrecht-
liche Bestimmungen einbezogen ist, die jedoch in ihrer praktischen Be-
deutung vorwiegend den Straßenverkehr betreffen.
Vor einer weiteren Kennzeichnung des nach dem jeweiligen Ver-
ständnis der beiden Länder im Kriminalstrafrecht repräsentierten
Verkehrsstrafrechts besteht Anlaß, die im Vergleich des deutschen
Ordnungswidrigkeitenrechts mit dem öster:reichischen Verwaltungs-
strafrecht vorhandene Unterschiedlichkeit der Wege zu bedenken, auch
wenn es sich hier um kaum mehr als den Aufweis der entsprechenden
Probleme handeln kann.
Der verehrte Jubilar hat in einer vergleichenden Untersuchung des
deutschen und österreichischen Rechts die dort fehlende übereinstim-
mung mit dem Entkriminalisierungskonzept der deutschen Ordnungs-
widrigkeiten mit dem Hinweis auf den Verbleib einer kriminalstraf-
rechtlichen Prägung des österreichischen Verwaltungsstrafrechts ver-
bundenl l • Angesichts der in Österreich vorgenommenen Beschränkung
des Kriminalstrafrechts auf den Bereich des Justizstrafrechts und sei-
ner strengen Trennung vom VerwaltungsstrafrechtlZ stellt sich die
schwierige Frage, ob es sich dabei nur um eine formale oder auch
materiell begründete Unterscheidung handelt.
Für das deutsche Ordnungswidrigkeitenrecht wird zunehmend er-
kannt, daß eine spezifische Eigenart dieses Rechtsgebiets nicht von
einer Eigenart der hier erfaßten Verfehlungen ausgehen kann, weil
zumindest eine Unterschiedlichkeit der betroffenen Unrechtsmaterien
einer derartigen Beurteilung entgegenstehti'. Angesichts dieser Er-
kenntnis ist die Möglichkeit eines arteigenen nichtkriminellen Straf-
rechts allerdings noch nicht vertan, nur muß, wie Tiedemann u bemerkt
hat, die Beantwortung dieser Frage bei der gesetzgeberischen Ent-

10 VgI. dazu die entsprechenden Bestimmungen in der österreichischen


Straßenverkehrsordnung (öStVO) von 1960 und im österreichischen Kraft-
fahrgesetz (öKFG) von 1967 i. V. m. dem Verwaltungsstrafgesetz von 1950
(jeweils mit späteren Abänderungen).
II VgI. dazu Jescheck, Deutsche und österreichische Strafrechtsreform
(Anm. 3), S. 382.
12 Auch das Verfahren bei Verwaltungsübertretungen ist ein reines Ver-
waltungsverfahren. Nach Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges
gibt es wie gegen sonstige Verwaltungsentscheidungen die Beschwerde an
den Verwaltungsgerichtshof oder den Verfassungsgerichtshof. VgI. Mattes,
Untersuchungen zur Lehre von den Ordnungswidrigkeiten, 1. Halbband, 1977,
S.237 u. 239.
13 Zum Meinungsstand in der Frage des Wesens der Ordnungswidrigkei-
ten vgI. Göhler, Ordnungswidrigkeitengesetz, 7. Auf!. Rdn. 2 ff. vor § 1 mit
weiteren Nachweisen.
14 ÖJZ 1972, 290.
Aspekte des Verkehrsstrafrechts im Vergleich 1269

scheidung über die Art der rechtlichen Behandlung ansetzen, ist von
der Artung der Rechtsfolgen auf die entsprechende Beurteilung des
betroffenen Regelungsgebietes zurückzuschließen. Auf dieser Linie hat
für das deutsche Ordnungswidrigkeitenrecht die bei dem befolgten
Entkriminalisierungsprogramm auf einen sozialethischen Tadel ver-
zichtende Geldbuße entscheidende Bedeutung.
In Österreich ist die Lage des Verwaltungsstrafrechts15 in letzter
Zeit vor allem auf zwei Juristentagen behandelt worden, wobei es
sich einmal um den Zusammenhang mit dem Thema der Gewalten-
trennung18 und später um die Reform des noch aus dem Jahre 1925
stammenden Allgemeinen Teils des Verwaltungsstrafrechts handelte17 •
Im Hinblick auf die äußerst große Bandbreite des Unrechtsgehalts und
der Schwere der Sanktionen der vom Verwaltungsstrafrecht erfaßten
Delikte wird von Schäffer 18 in der Streitfrage eines Wesensunterschie-
des zwischen Justiz- und Verwaltungsstrafrecht die Mittelmeinung zum
Ausdruck gebracht, daß dem Verwaltungsstrafrecht teils der Charakter
eines "Strafrechts minoris gradus", teils der Charakter eines bloßen
Ordnungswidrigkeitenrechts eigene. Verschiedene Versuche, den frag-
lichen "Wesensunterschied" festzustellen, werden von Walter/Mayer18
als dogmatisch ergebnislos beurteilt. Auf der anderen Seite ist - zum
Beispiel bei BurgstalZerO - das Bemühen vorhanden, eine Konzeption
der Eigenart zu vertreten, die unabhängig von der Frage der Wesens-
verschiedenheit von Justiz- und Verwaltungsstrafrecht Bestand haben
kann!l. Wollte man in Parallele zu der oben angeführten Beurteilung
in bezug auf die Ordnungswidrigkeiten bei der Rechtsfolgenseite an-
setzen und damit den Gesichtspunkt der Abwesenheit eines sozial-
ethischen Schuldvorwurfs verbinden22 , so stünde andererseits doch auch
15 Zur Entwicklung und Lage des österreichischen Verwaltungsstrafrechts
vgl. Mattes (Anm. 12), S.183 - 240. Vgl. ferner Köhler, Verwaltungsstrafgesetz,
1983 (Textausgabe nach dem Stand vom 1. April 1983 mit Kurzkommentar).
18 "Von der Gewaltentrennung im formellen und materiellen Sinn unter
Berücksichtigung der Abgrenzung von Gerichtsbarkeit und Verwaltung, ins-
besondere auf dem Gebiet des Strafrechts", eines der auf dem Vierten Öster-
reichischen Juristentag 1970 in Wien behandelten Themen.
17 "Wie soll der Allgemeine Teil des Verwaltungsstrafrechts gestaltet wer-
den?", eines der auf dem Siebten Österreichischen Juristentag 1979 in Salz-
burg behandelten Themen.
18 Verhandlungen des Siebten Österreichischen Juristentags Salzburg 1979,
Band H, S. 10l.
19 Grundriß des österreichischen Verwaltungsverfahrensrechts, 3. Aufl.,
1984, S. 232.
20 (Anm. 18), S. 155.

21 Berufung darauf, "daß es eine Fülle von kleineren Akzentverschiebun-


gen gibt, die in ihrer Summe ein ganz erhebliches Gewicht haben" (ebendort,
S.155).
22 Vgl. Stohanzl, in: Verhandlungen des Vierten österreichischen Juristen-
tags Wien 1970, Band H, S.58. Nowakowski, ZStW 92 (1980), S.292, spricht
1270 Peter Hünerfeld

zu beachten, daß im österreichischen Verwaltungsstrafrecht auch die


Möglichkeit des Ausspruchs einer Freiheitsstrafe einbezogen bleibt23 ,
so daß eine entsprechende Deutung dann wohl eher auf eine weiter-
reichende Reform im Sinne des deutschen Ordnungswidrigkeitenrechts
hinausläuft24 • Eine Ausbreitung und Gewichtung verschiedener Reform-
anliegen in bezug auf das österreichische Verwaltungsstrafrecht ist
hier freilich nicht möglich. Wir müssen uns mit dem Aufweis einer
von der Lage in Deutschland unterschiedlichen Situation begnügen,
zu der auch gehört, daß das österreichische Verwaltungsstrafrecht un-
beschadet seiner großen praktischen Bedeutungll5 noch Züge aufweist,
die seiner Eignung für ein modernes Entkriminalisierungsprogramm
im Interesse der Entlastung des Justizstrafrechts im Wege stehen28 •
Im übrigen ist für das deutsche Recht an dieser Stelle nur noch auf
die Problematik des Verständnisses der identischen Norm in der neue-
ren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 7 dStGB hinzuweisen.
Da der BGH27 bei einer Auslandstat, die aus der Sicht des deutschen
Rechts einen kriminalstrafrechtlichen Tatbestand erfüllt, nach dorti-
gem Recht aber nur als Ordnungswidrigkeit anzusehen ist, die von
§ 7 dStGB für den Tatort verlangte identische Norm verneint, stellt
sich die Frage der Beurteilung in einem entsprechenden Fall, der am
österreichischen Tatort lediglich von einem verwaltungsstrafrechtlichen

vom (im Verhältnis zum Kriminalstrafrecht) unterschiedlichen sozialen Stel-


lenwert des Verwaltungsstrafrechts; Verwaltungsstrafen "belasten die soziale
Position des Bestraften wesentlich weniger als gerichtliche Strafen, in der
Regel wohl überhaupt nicht".
23 Vgl. dazu § 11 des Verwaltungsstrafgesetzes. Für die Lage bei Verkehrs-
verstößen ist zu bemerken, daß dIe FreIheitsstrafe im Zusammenhang der
Strafbestimmungen des § 99 öStVO für den Ersttäter nur als Ersatzfreiheits-
strafe (Maximum 6 Wochen Arrest bei der schwersten Strafandrohung des
Abs. 1 der Vorschrift) in Betracht kommt. Dem Gedanken, daß übertretungen
der Straßenverkehrsvorschriften zunächst grundsätzlich nur mit Geldstrafen
bestraft werden sollen, stehen in § 100 StVO geregelte Möglichkeiten des Aus-
spruchs einer Arreststrafe (im Ausmaß der für die betreffende Tat angedroh-
ten Ersatzfreiheitsstrafe) im Wiederholungsfall gegenüber.
24 In diesem Sinn teilweise Stohanzl (Anm.22), S. 58 ff. (Beibehaltung der
Freiheitsstrafe aber noch für Ausnahmefälle, über die dann aber immer die
Gerichte zu entscheiden hätten).
25 Vgl. dazu Zahlenangaben bei Szymanski, in: Verhandlungen des Siebten
Osterreichischen Juristentags Salzburg 1979, Band H, S. 123.
28 Im Hinblick: auf eine z. T. materiellrechtlich ungünstigere Lage (auch mit
dem Hinweis, daß die Strafen oft härter ausfallen als vor Gericht) und eine
im Vergleich mit dem gerichtlichen Verfahren z. T. geringere Rechtsstellung
des Beschuldigten daher entsprechende Vorbehalte bei Nowakowski (Anm.
22), S. 292 f. Vgl. auch Driendl, ZStW 90 (1978), S. 1058.
!7 Zu entnehmen aus BGHSt.27, 5 [8 - 10] (Ausführungen im Zusammen-
hang mit einer entsprechenden Anwendung des § 7 Abs.2 Nr. 1 StGB). Die
Entscheidung ist u. a. von Vogler, DAR 1982, 73 zustimmend gewürdigt wor-
den, während Tröndle, JR 1977, 1 ff., sowie in LK, 10. Aufl., § 7 Rdn.4 a grund-
sätzliche Kritik an der Wende der BGH-Rechtsprechung geübt hat.
Aspekte des Verkehrsstrafrechts im Vergleich 1271

übertretungstatbestand erfaßt wird. Hier läßt sich auch ein Beispiel


aus dem Bereich des Verkehrsstrafrechts bilden28 , und man muß sich
im Ergebnis fragen, ob angesichts uneinheitlicher moderner Entwick-
lungen und schwieriger Abgrenzungsfragen nicht doch die frühere
Rechtsprechung des BGH vorzugswürdig erscheint29 •
Wir wollen jedoch nunmehr das nach jeweiligem deutschen und
österreichischen Verständnis nicht dem Kriminalstrafrecht angehörige
Recht beiseitelassen, um die im Sachzusammenhang des Straßenver-
kehrs und für diesen Beitrag bedeutsame Kennzeichnung der krimi-
nalstrafrechtlichen Bereiche vorzunehmen.
Das deutsche Verkehrsstrafrecht kennt auf dem kriminalstrafrecht-
lichen Sektor spezifisch straßenverkehrsrechtliche Bestimmungen, die
neben die im Verkehrsstrafrecht bedeutsamen allgemeinen Vorschrif-
ten treten. Im Hinblick auf die besonderen Bestimmungen, zu denen
im Rechtsfolgenbereich das Fahrverbot (§ 44 dStGB) und die Entzie-
hung der Fahrerlaubnis (§§ 69 ff. dStGB) gehören, sind im Strafgesetz-
buch, abgesehen von dem hier nicht weiter zu berücksichtigenden Be-
reich des § 315 b dStGB, zunächst die Trunkenheit im Verkehr (§ 316
dStGB) und die Straßenverkehrsgefährdung (§ 315 c dStGB) zu benen-
nen, ferner ist in bezug auf das Verhalten nach einem Unfall auf das
unerlaubte Entfernen vom Unfallort (§ 142 dStGB) zu verweisen. Rege-
lungen außerhalb des Strafgesetzbuchs können auf den Hinweis auf
§ 21 dStVG (Fahren ohne Führerschein) beschränkt bleiben. Von den
allgemeinen Straftatbeständen haben die fahrlässige Tötung (§ 222
dStGB) und die fahrlässige Körperverletzung (§ 230 dStGB) die größte
Bedeutung. Bei Untätigkeit nach einem Verkehrsunfall kommt unter-
lassene Hilfeleistung (§ 323 c dStGB) beziehungsweise bei gegebener
GarantensteIlung eine Verantwortlichkeit für abwendbare Beeinträchti-
gungen von Leibes- und Lebensinteressen des Unfallopfers in Betracht,
wobei die entsprechenden Begehungstatbestände oder auch der entspre-
chende Garantenfall des § 221 dStGB maßgeblich sind.
28 Zu denken ist etwa an eine von einem deutschen Staatsbürger in Öster-
reich begangene Straßenverkehrsgefährdung, die im deutschen Recht von
§ 315 c dStGB. erfaßt wird, aus der Sicht des österreichischen Tatortrechts je-
doch lediglich eine Verwaltungsübertretung darstellt, weil die Anwendung
der beiden Gefährdungstatbestände des Justiz- beziehungsweise Kriminal-
strafrechts nicht in Betracht kommt.
2tI Diese Frage muß hier offen bleiben. Im übrigen müßte die Ahndung im
Ausland begangener Verkehrszuwiderhandlungen im Sinne der sog. über-
nahmelösung beziehungsweise der Vollstreckungsübernahme in sachgemäßer
Weise sichergestellt sein. Dazu Vogler (Anm. 27), S. 76 sowie - im Zusammen-
hang des am 1. Juli 1983 in Kraft getretenen deutschen Gesetzes über die Inter-
nationale Rechtshilfe in Strafsachen und das entsprechende österreichische
Gesetz. das am 1. Juli 1980 in Kraft getreten ist - die in Heft 2 des 96. Bandes
(1984) der ZStW veröffentlichten Referate von Oehler, Linke und Vogler
(Rechtsvergleichende übersicht).
1272 Peter Hünerfeld

Die Lage im österreichischen Recht ist zunächst insofern eine grund-


sätzlich andere, als das Justizstrafrecht keine ausschließlich auf den
Straßenverkehr bezogenen Bestimmungen kennt. Im Rechtsfolgenbe-
reich fehlt sowohl das Fahrverbot als auch die Entziehung der Fahr-
erlaubnis, die als Entziehung der Lenkerberechtigung eine ausschließ-
lich der Verwaltung vorbehaltene Maßnahme ist80 • Auf tatbestand-
licher Seite fehlen Parallelen zu den §§ 316, 142 dStGB, so daß es inso-
weit wiederum bei den Vorschriften des Verwaltungsstrafrechts sein
Bewenden hat. Auch ein spezifischer Straftatbestand der Straßenver-
kehrsgefährdung ist im Justizstrafrecht nicht vorhanden, doch kom-
men in bestimmten Fällen von Gefährdungen zwei allgemeinere Straf-
tatbestände in Betracht, nämlich einmal der aufgrund hoher Anfor-
derungen nur in außergewöhnlichen Fällen zur Anwendung gelan-
gende Straftatbestand der fahrlässigen Herbeiführung einer Gemein-
gefahr (§ 177 öStGB) sowie der häufiger angewendete und auf be-
stimmte Fälle konkreter Individualgefahr abstellende § 89 öStGB. Hier
folgen als Verletzungsdelikte die fahrlässige Körperverletzung (§ 88
öStGB) und die fahrlässige Tötung (§§ 80, 81 öStGB), bei denen einfache
Grundtatbestände sowie bestimmte Qualifikationsfälle und bei der
fahrlässigen Körperverletzung auch noch bedeutsame Strafausschlie-
ßungsgrunde (§ 88 Abs.2 öStGB) zu unterscheiden sind. Im Hinblick
auf das Verhalten nach einem Verkehrsunfall sind als Unterschiede
das schon erwähnte Fehlen einer § 142 dStGB entsprechenden Vor-
schrift und das Vorhandensein einer besonderen Strafvorschrift des
Imstichlassens eines Verletzten (§ 94 öStGB) hervorzuheben, die dem
Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung (§ 95 öStGB) vorange-
stellt ist.
H.

Die vergleichende Analyse der kriminalstrafrechtlichen Erfassung


von Gefährdungen und Verletzungen im Straßenverkehr muß sich zu-
nächst einigen Grundfragen der Zuordnung und Gewichtung der in
Betracht kommenden Vorschriften zuwenden, um dadurch zugleich den
weiteren Weg zu klären, der vom tatbestandlichen Vergleich im Vor-
feld von Verletzungen zur vergleichenden Betrachtung wesentlicher
Gesichtspunkte des fahrlässigen Verletzungsdelikts führt.

1. Während im deutschen Verkehrsstrafrecht das Vorfeld von Ver-


letzungen bereits durch den abstrakten Gefährdungstatbestand der
Trunkenheit im Verkehr (§ 316 dStGB) mit einer praktisch bedeut-
samen kriminalstrafrechtlichen Regelung besetzt ist, wird der Verant-

30 Vgl. dazu § 73 des österreichischen Kraftfahrgesetzes (Bundesgesetz vom


23. Juni 1967, BGBl. 267, über das Kraftfahrwesen).
Aspekte des Verkehrsstrafrechts im Vergleich 1273

wortungsfall des österreichischen Justizstrafrechts erst in bestimmten


Fällen konkreter Gefährdungen erreicht, wobei jedoch der in erster
Linie in Betracht kommende § 89 öStGB nicht nur in seiner Beschrän-
kung auf Personengefahr, sondern auch in Struktur und Gewichtung
erhebliche Unterschiede zum deutschen Straftatbestand der Straßen-
verkehrsgefährdung (§ 315 c StGB) aufweist. Die bei § 89 öStGB als
alternative Voraussetzungen in Bezug genommenen Merkmale gestei-
gerten Handlungsunwerts in den Qualifikationsfällen fahrlässiger
Tötung - es handelt sich um die in § 81 öStGB berücksichtigten Kon-
stellationen des Minderrausches31 beziehungsweise der "besonders ge-
fährlichen Verhältnisse", die auch als entsprechende Steigerungen des
Handlungsunwerts bei der fahrlässigen Körperverletzung berücksich-
tigt sind 32 - erweisen in Fahrlässigkeitsfällen bei Verwirklichung der
entsprechenden Gefahr den im Verhältnis zu den Verletzungstatbe-
ständen unselbständigen Charakter des in § 89 öStGB erfaßten Gefähr-
dungsdeliktsSI. Demgegenüber berücksichtigt §315 c dStGB in abge-
stufter Regelung verschiedene Formen des Fehlverhaltens im Straßen-
verkehr und wahrt in Verbindung mit seiner Schutzrichtung eine auch
in Fahrlässigkeitsfällen durchgängige Eigenständigkeit gegenüber den
fahrlässigen Verletzungstatbeständen. Die in den Strafandrohungen
zum Ausdruck gelangende Unterschiedlichkeit zeigt folgendes Bild:
Während § 89 öStGB für Vorsatz- oder Fahrlässigkeitsfälle maximal
drei Monate Freiheitsstrafe vorsieht, ist bei § 315 c dStGB in Vorsatz-
fällen der Strafrahmen bis auf maximal fünf Jahre Freiheitsstrafe er-
streckt, während in den übrigen Fällen der Strafrahmen durch Frei-
heitsstrafe bis zu zwei Jahren begrenzt ist. Im Hinblick auf die Struk-
tur und Gewichtung des § 89 öStGB wird in der österreichischen Lite-
ratur zum Teil entschiedene Kritik an der Vorschrift geübt34 , doch
zeigt die praktische Anwendung eine durchaus wachsende Bedeutung
dieses Straftatbestandes35 •

31 Von Kienapfel, Grundriß des österreichischen Strafrechts, Besonderer


Teil, Band 1, Rdn.219, vorgeschlagene Kurzformel für den entsprechenden
Alkoholisierungsfall, die sich eingebürgert hat (das Gesetz spricht von einem
"die Zurechnungsfähigkeit nicht ausschließenden Rauschzustand").
32 Vgl. § 88 Abs. 3 u. Abs. 4 (2. Alternative) öStGB.

33 Da bei der Berücksichtigung der "besonders gefährlichen Verhältnisse"


in den Qualifikationsfällen der fahrlässigen Tötung (§ 81 Ziff. 1 öStGB) gefor-
dert ist, daß sich die besondere Gefährlichkeit auch im eingetretenen Erfolg
spezifisch auswirkt (dazu Burgstaller, in: Wiener Kommentar zum Strafge-
setzbuch, § 81 Rdn.35 und zuvor insbesondere Nowakowski, ZVR 1970, 172),
ist auch - nämlich in Fällen der Abwesenheit eines derartigen Zusammen-
hangs - Idealkonkurrenz zwischen fahrlässiger Tötung (§ 80 öStGB) und Ge-
fährdung der körperlichen Sicherheit (§ 89 öStGB) denkbar.
34 Zur Kritik vgl. Kienapfel, ÖRZ 1981, 120 (mit Empfehlung, der über-
greifenden Gefährlichkeit im Bereich des Straßenverkehrs durch Aktivie-
rung des Verwaltungsstrafrechts zu begegnen) sowie ders., Grundriß des
österreichischen Strafrechts, Besonderer Teil, Band 1, 2. Aufl., 1984, S. 131 f.
1274 Peter Hünerfeld

Strukturunterschiede und unterschiedliche Gewichtungen zeigen sich


auch im Vergleich der fahrlässigen Verletzungstatbestände. Das deut-
sche Strafrecht läßt es bei der fahrlässigen Tötung und fahrlässigen
Körperverletzung bei einfachen Fahrlässigkeitstatbeständen bewenden,
denen aber auf der Rechtsfolgenseite relativ weite, nämlich bis zu
Freiheitsstrafen von fünf beziehungsweise drei Jahren reichende Straf-
rahmen gegenüberstehen. Für das österreichische Recht ist demgegen-
über kennzeichnend, daß mit verhältnismäßig geringerer Strafe -
nämlich bei fahrlässiger Tötung maximal Freiheitsstrafe bis zu einem
Jahr und bei fahrlässiger Körperverletzung maximal Freiheitsstrafe
bis zu drei Monaten - bedrohten einfachen Verletzungstatbeständen,
qualifizierte Formen der fahrlässigen Tötung (§ 81 öStGB) und Körper-
verletzung (§ 88 Abs.3 und 4 öStGB) gegenüberstehen, die aber in
ihren Strafmaxima immer noch deutlich hinter den deutschen Straf-
androhungen zurückbleiben36 • Im österreichischen Schrifttum wird zum
Teil der Vorzug derartiger tatbestandlicher Aufgliederungen bestritten
und empfohlen, es bei einfachen Verletzungstatbeständen mit maßvoll
erweiterten Strafrahmen bewenden zu lassen37 • Auf einem anderen
Blatt stehen allerdings die im Zuge der Entkriminalisierung des Ver-
kehrsstrafrechts (1971) festgelegten Strafausschließungsgründe bei be-
stimmten Körperverletzungen ohne schweres Verschulden (§ 88 Abs.2
öStGB), auf die wir später zurückzukommen haben.
Unter Beachtung der verdeutlichten Ausgangslage und Zusammen-
hänge können nunmehr die im weiteren hier anstehenden Vergleiche
vorgenommen werden.
___8~_Die Kriminalstatistik weist für 1977 402, für 1978 578, für 1979 565 und
für 1980 621 Verurteilungen auf. Vgl. dazu Kienapfel,-Grundriß (Anm. 34), S.132.
38 Die Fälle qualifizierter fahrlässiger Tötung bedroht §81 öStGB mit Frei-
heitsstrafe bis zu drei Jahren. Die auf den entsprechenden gesteigerten Hand-
lungsunwert Bezug nehmenden Fälle qualifizierter fahrlässiger Körperver-
letzung (§ 88 Abs. 3 öStGB) sind mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder
mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen. Derselbe Strafrahmen gilt
für die lediglich erfolgsqualifizierte fahrlässige Körperverletzung entspre-
chend § 88 Abs.4 1. Alt. öStGB, während bei gleichzeitiger Verwirklichung
des § 81 entsprechenden Handlungsunwerts Freiheitsstrafe bis zu zwei Jah-
ren angedroht ist (§ 88 Abs.4 2. Alt. öStGB). Im Rahmen der vorliegenden
übersicht muß es bei einem Strafrahmenvergleich sein Bewenden haben.
37 Zur Forderung eines Einheitsdelikts der fahrlässigen Tötung bei An-
hebung der Strafobergrenze des § 80 öStGB auf drei Jahre Kienapfel, Grund-
riß (Anm..34), S.33 u. 63. Zipf, Würtenberger-Festschrift, S. 162 f. stellt dem
Qualifikationsfall des § 81 Ziff.2 öStGB (Minderrausch) den Vorzug einer
etwa entsprechend dem deutschen Recht gewährleisteten Erfassung trunken-
heitsbedingter (abstrakter beziehungsweise konkreter) Gefährdung gegen-
über und empfiehlt bei Verzicht auf die Qualifikation des § 81 Ziff.1 öStGB
(Fall der besonders gefährlichen Verhältnisse) eine Anhebung der Straf-
obergrenze bei dem Grundtatbestand der fahrlässigen Tötung auf zwei Jahre
Freiheitsstrafe. Zur Empfehlung der Schaffung eines einheitlichen Delikts
der fahrlässigen Körperverletzung mit einer Strafobergrenze von 2 Jahren
Kienapfel, Grundriß (Anm. 34), S. 121.
Aspekte des Verkehrsstrafrechts im Vergleich 1275

2. Im Vorfeld der Verletzungen ist § 316 dStGB, der im österreichi-


schen Justizstrafrecht keine Parallele hat, mit der in Betracht kom-
menden verwaltungsstrafrechtlichen Beurteilung zu vergleichen, wäh-
rend im Hinblick auf den Bereich konkreter Gefährdungen der auf das
Kriminalstrafrecht beschränkte Vergleich des § 315 c dStGB mit den
§§ 177, 89 öStGB aufgegeben ist.

a) Während das deutsche Recht in § 316 StGB die folgenlose Trun-


kenheitsfahrt bei Berücksichtigung des der absoluten Fahrunsicherheit
entsprechenden Alkoholgrenzwerts von 1,3 %0 38 beziehungsweise in ent-
sprechenden Fällen relativer Fahrunsicherheit mit Geldstrafe oder
Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bedroht, bleibt die folgenlose Trun-
kenheitsfahrt im österreichischen Recht eine Verwaltungsübertretung.
Die dafür maßgebliche Vorschrift ist § 99 Abs. 1 a i. V. m. § 5 Abs.l
öStV0 30 • In übereinstimmung mit der entsprechenden europäischen
Empfehlung40 , der in der Bundesrepublik Deutschland die Verkehrs-
ordnungswidrigkeit des § 24 a dStVG Rechnung trägt, wird der Bereich
sanktionierten Fehlverhaltens bei einem Blutalkoholgehalt von 0,8 %0
erreicht (Fall des im Sinne von § 5 Abs. 1 öStVO durch Alkohol beein-
trächtigten Zustandes). Die Schwelle zu einer kriminalstrafrechtlichen
Verantwortlichkeit wird aber erst mit einer konkreten Gefährdung
i. S. des § 89 öStGB überschritten. Die Unterschiedlichkeit der recht-
lichen Lage in bezug auf die Erfassung der Alkoholisierung im Straßen-
verkehr wird im übrigen auch wesentlich durch abweichende pro-
zeßrechtliche Gesichtspunkte bestimmt. Während auf deutscher Seite
das Recht zu einer unter Zwang entnommenen Blutprobe (§ 81 a dStPO)
nicht nur im Rahmen der kriminalstrafrechtlich zu ahndenden
Fälle besteht, sondern auch in den vorgelagerten Bereich der Ord-
nungswidrigkeitsfälle des § 24 a dStVG erstreckt ist41 , wird in
Österreich eine Anordnung der Duldung einer Blutprobenentnahme
überhaupt erst bei Unfällen, bei denen eine Person getötet oder er-
heblich verletzt worden ist, als zulässig angesehen42 , und selbst in der-

38 Auch nur als Alkoholkonzentration im Körper, die zu dem entsprechen-


den Blutalkoholgehalt führt, vgl. BGH 25, 246, 251. Die 1,3%o-Grenze wird als
strikte Untergrenze der absoluten Fahrunsicherheit verstanden, so daß auch
schon bei geringfügigen Abstrichen die der relativen Fahrunsicherheit ent-
sprechende Beweisführung erforderlich ist; vgl. dazu BGHSt. 31; 42.
3D Die Verwaltungsübertretung ist für den Ersttäter mit Geldstrafe von
5000 bis 30 000 ÖS, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Arrest VOn einer bis
sechs Wochen zu bestrafen. Vgl. allgemein zu den rechtlichen Folgen alkohol-
beeinträchtigten Fahrzeuglenkens in Osterreich O. Schmied, Blutalkohol 19
(1982), S. 103.
40 Vgl. dazu die am 22. März 1973 vom Ministerkomitee des Europaratsver-
abschiedete Resolution (3) 7, abgedruckt in Conseil de l'Europe (Anm. 2), S. 52.
41 § 81 a dStPO ist gemäß § 46 OWiG auch im Bußgeldverfahren anwend-
bar.
1276 Peter Hünerfeld

artigen Fällen kommt eine Anwendung von körperlichem Zwang aus


verfassungsrechtlichen Gründen nicht in Betracht43 • Auf der anderen
Seite sind Verweigerungen in bezug auf rechtlich zulässige Anordnun-
gen - überprüfung der Atemluft und ärztliche Vorführung schon in
Fällen des Verdachts einer bloßen Trunkenheitsfahrt, Duldung der
Blutprobenentnahme nur in den schon angeführten Fällen eines schwe-
reren Unfalls - mit entsprechenden Verwaltungsstrafen bedrohtu.
Nur ist dann der entsprechende Ungehorsam und nIcht ein im Un-
gewissen bleibender Alkoholisierungsgrad strafrechtlicher Anknüp-
fungspunkt. Kann also auf zulässige andere Weise der erforderliche
Beweis eines bestimmten Grades der Alkoholbeeinträchtigung nicht
geführt werden, muß dieser Gesichtspunkt als Grundlage einer ent-
sprechenden Verantwortlichkeit entfallen. Bei der gegebenen Lage des
österreichischen Rechts würde aber auch die Frage der Schaffung einer
§ 316 dStGB entsprechenden kriminalstrafrechtlichen Vorschrift mit be-
sonderen Problemen konfrontiert sein411 •

b} Der Vorschrift des § 315 c dStGB sind auf österreichischer Seite


die §§ 177, 89 öStGB gegenüberzustellen, die auch in dieser Reihen-
folge betrachtet werden sollen.
Während das deutsche Verkehrsstrafrecht in seiner Fortentwicklung
den Gesichtspunkt einer erforderlichen Gemeingefahr aufgegeben hat
und in § 315 c StGB näher umschriebene Formen des Fehlverhaltens
im Straßenverkehr mit einer dadurch herbeigeführten Individualge-
fahr verknüpft, handelt es sich bei § 177 öStGB um einen auf die fahr-
lässige Herbeiführung einer Gemeingefahr bezogenen Tatbestand, der
zum--anderen nicht an spezifische Formen des Fehlverhaltens gebunden
ist. Der mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bedrohte Grundtat-
bestand bezieht sich auf Gefährdungen von Leib oder Leben einer
größeren Zahl von Menschen oder für fremdes Eigentum im großen
Ausmaß. Die entsprechende Schwelle wird hoch angesetzt, nämlich in
bezug auf Leib und Leben bei Gefährdungen von wenigstens zehn Per-

4! Vgl. die Regelung in § 5 Abs.6 öStVO. Die Verpflichtung zur Blutab-


nahme, wenn der Betroffene - auch in Fällen einer bloßen Trunkenheits-
fahrt - eine solche verlangt oder der Blutabnahme zustimmt, ist in § 5 Abs. 7
öStVO geregelt.
43 Vgl. dazu Kammerhofer/Benes, Straßenverkehrsordnung, 7. Aufl.,
Ziff. 25 bei § 5 (Abdruck: eines Auszugs aus dem Bericht des Handelsausschus-
ses über die Regierungsvorlage betreffend die StVO 1960,240 BlbNR IX. GP).
Vgl. im übrigen näher O. Schmied (Anm.39), S. 107 f.
" Die der Trunkenheitsfahrt entsprechende Bestrafung ergibt sich aus
§ 99 Abs. 1 b) und c) i. V. m. den entsprechenden Vorschriften in § 5 öStVO.
45 Reformpläne, über die O. Schmied (Anm. 39), S. 118 ff. z. T. mit kritischen
Anmerkungen referiert, beschränken sich auf den verwaltungsstrafrecht-
lichen Rahmen.
Aspekte des Verkehrsstrafrechts im Vergleich 1277

sonen46 • In Fällen eingetretener Verletzungen kommen bestimmte Qua-


lifikationstatbestände in Betracht, doch sind auch Fälle der Idealkon-
kurrenz mit selbständigen Verletzungstatbeständen möglich47 • Die er-
örterte Vörschrift hat auch im Straßenverkehr Bedeutung, doch kann
sie im ßinblick auf die hohen Anforderungen der konkreten Auswir-
kungen des Verhaltens nur einen sehr geringen Ausschnitt von Ge-
fährdungen im Straßenverkehr abdecken~8.
Der im österreichischen Verkehrsstrafrecht häufiger zur Anwendung
gelangende Gefährdungstatbestand ist § 89 öStGB. Die Vorschrift, die
sich im Unterschied zu § 315 c dStGB nicht auch auf Fälle bloßer Sach-
gefahr (Gefährdung fremder Sachen von bedeutendem Wert) erstreckt,
verlangt eine "wenn auch nur fahrlässig"49 herbeigeführte konkrete Ge-
fährdung einer anderen Person unter der alternativen Voraussetzung
des Minderrausches beziehungsweise der "besonders gefährlichen Ver-
hältnisse". Da es sich insoweit - wie schon oben bemerkt - um entspre-
chende Qualifikationsmerkmale fahrlässiger Verletzungstatbestände
handelt, muß man sich bei den folgenden Bemerkungen darüber im kla-
ren sein, daß dort auch der Schwerpunkt der Auseinandersetzung und die
weiterreichende Bedeutung der fraglichen Merkmale liegt.
Der Fall der Gefährdung unter der Voraussetzung des Minderrau-
sches wird in den Alternativen relativer und absoluter Fahruntüchtig-
keit angenommen, wobei die Bestimmung der absoluten Fahruntüch-
tigkeit der 0,8 %o-Grenze der verwaltungs rechtlichen Festlegung folgt
und nicht wie im deutschen Recht auf einen eigenen Ansatz verwiesen
wird 50 • Im übrigen ist wiederum auf die schon angeführten Unter-

48 Vgl.Foregger!Senni (Anm.8), Ziff. I bei § 177 und Ziff.III bei § 176


öStGB.
47 Vgl. den Nachweis bei Foregger!Serini (Anm. 8), Ziff.II bei § 177 öStGB,
der sich auf die nicht nach § 177 Abs. 2 zu qualifizierenden Körperverletzun-
gen bezieht. Idealkonkurrenz besteht auch bei entsprechendem Zusammen-
treffen mit den Qualifikationsfällen des § 81, vgl. Burgstaller (Anm.33), Rdn.
46 und 111; demgegenüber nimmt Kienapfel, Grundriß (Anm.34), S.70 den
Standpunkt ein, daß beim Zusammentreffen mit § 81 Ziff. 1 öStGB grund-
sätzlich nur § 177 Abs. 2 öStGB Anwendung findet.
48 In Betracht kommen Fälle wie etwa der vom OHG.in ZVR 1980,313 ent-
schiedene Fall eines Busfahrers.
4' Das Delikt kann vorsätzlich oder fahrlässig begangen werden, doch
arbeitet die Praxis aus Beweisgründen nahezu ausschließlich mit der Fahr-
lässigkeitsvariante; vgl. Kienapfel, Grundriß (Anm. 34), S. 135.
50 Die der ständigen österreichischen Rechtsprechung und der ganz über-
wiegenden Auffassung im österreichischen Schrifttum entsprechende über-
nahme der verwaltungsstrafrechtlichen 0,8%o-Grenze als entsprechende abso-
lute Untergrenze im kriminalstrafrechtlichen Zusammenhang wird von Burg-
staller (Anm.33) Rdnr.65 zwar als keineswegs zwingende, jedoch die prak-
tische Rechtsanwendung wesentlich erleichternde und methodisch jedenfalls
vertretbare Position beurteilt. Die Problemstellung, die sich daraus ergibt,
daß im österreichischen Alkoholgrenzwert die im Tatzeitpunkt erreichte
1278 Peter Hünerfeld

schiede in bezug auf prozeßrechtliche Gesichtspunkte zu verweisen,


so daß in entsprechenden Fällen, wenn der Beweis nicht auf andere
Weise geführt werden kann, der Gesichtspunkt einer Alkoholisierung
entfällt. Im Hinblick auf die Fahrlässigkeit ist für § 81 Ziff.2 öStGB
ein spezifischer Bezug auf den Rausch bei Vorhersehbarkeit einer ge-
fährlichen Tätigkeit hervorzuheben51 • Diese sachgemäße Regelung kann
im deutschen Recht nur bei entsprechender Mitberücksichtigung der
Grundsätze der actio libera in causa ausgeglichen werden. Für den
Fall des Vollrausches ist auf § 287 öStGB zu verweisen, der in seiner
Konzeption eine wesentliche, wenn auch nicht vollständige überein-
stimmung mit § 323 a dStGB zeigt 52 •
Die zweite Alternative des § 89 öStGB betrifft den Gefährdungsfall
unter der Voraussetzung der "besonders gefährlichen Verhältnisse".
Es handelt sich insoweit um das in § 81 Ziff.l öStGB berücksichtigte
Qualifikationsmerkmal, dessen Verständnis nicht unerhebliche Schwie-
rigkeiten bereitet und in der neueren österreichischen Rechtsprechung
einen bedeutsamen Wandel erfahren hat. Für das korrekte Verständ-
nis ist zunächst die von Burgstaller53 mit großer Klarheit dargelegte
Einsicht entscheidend, daß es sich um Anforderungen der Gefährlich-
keit (und nicht der Gefährdung) handelt. Allerdings ist dann doch noch
die Frage der Reichweite des entsprechenden Erfolgssachverhalts offen.
Während die ältere Rechtsprechung Gemeingefährlichkeit in dem Sinne
verlangte, daß mit hoher Wahrscheinlichkeit eine schwere Schädigung
für zumindest eine Person aus einer im voraus nicht näher bestimmten
Vielzahl oder für eine größere Zahl bestimmter Personen zu erwarten

Blutalkoholkonzentration (und nicht schon eine entsprechende Alkoholmenge


im Körper) maßgeblich ist, hat BurgstaZler ebendort Rdn. 73 näher ausein-
andergesetzt (Befürwortung entsprechender Berücksichtigung der Alkohol-
menge im Körper unter der Sicherheitsvoraussetzung, daß der Blutalkohol-
gehalt im Unfallzeitpunkt bereits 0,5 %0 betrug). Erkenntnisse i. S. relativer
Fahruntüchtigkeit werden in der österreichischen Praxis offenbar vornehm-
lich auf Fälle beschränkt, die knapp unter der 0,8%o-Grenze liegen; kritisch
dazu BurgstaZler (Anm. 33), ebendort.
51 Zum Erfordernis des notwendigen Zusammentreffens der beiden Un-
wertfaktoren des Sich-Berauschens trotz vorhersehbarer gefährlicher Tätig-
keit einerseits und der Vornahme der eben infolge der Berauschung gesteigert
gefährlichen Tätigkeit selbst sowie zur Vorhersehbarkeit einer gefährlichen
Tätigkeit Burgstaller (Anm.33). Rdn; 55 und 80 ff.
fi2 Abgesehen von der im Vergleich mit § 323 a dStGB geringeren Straf-
drohung des § 287 öStGB hält die österreichische Vorschrift am strikten
Erfordernis eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Rausches fest,
während § 323 a dStGB auch Fälle der nicht auszuschließenden Schuldfähig-
keit erfaßt (zur erheblichen Reichweite der Öffnung der Vorschrift, deren An-
wendung beim Stand der Rechtsprechung das Verlassen des sicheren Bereichs
des § 21 dStGB nicht zur Voraussetzung hat, BGHSt. 32, 48). Der Fall der Unzu-
rechnungsfähigkeit wird in Österreich in der Regel ab einem Blutalkohol-
gehalt von 3%0 angenommen; vgl. OLG Wien ZVR 1977, 14.
53 (Anm. 33), Rdn. 13.
Aspekte des Verkehrsstrafrechts im Vergleich 1279

war54 und Burgstaller auf das Erfordernis einer Gefährdung von min-
destens zwei Personen abstellt55 , steht die neue re Rechtsprechung auf
dem Standpunkt, daß unter der Voraussetzung einer qualitativ ver-
schärften Gefahrenlage i. S. einer außergewöhnlich hohen Unfallwahr-
scheinlichkeit auch die sogeartete Gefährdung einer einzigen Person
genügt 51• Die Anforderungen in bezug auf eine außergewöhnlich hohe
Unfallwahrscheinlichkeit werden häufig im Sinne einer Mosaiktheorie
verstanden, die auf die Häufung mehrerer unfallträchtiger Faktoren
abstelUS7, doch wird unter bestimmten Voraussetzungen auch ein ein-
ziger gefahrenerhöhender Umstand als ausreichend angesehen158• In
einer den Bereich der Personengefahr betreffenden Bilanz des Vergleichs
mit dem deutschen Recht steht der mit dem übergang zur Individual-
gefahr bei § 89 öStGB vollzogenen Annäherung der Vorschriften die
erhebliche Unterschiedlichkeit der Typisierung der dem Tatbestand
entsprechenden Verhaltensformen einschließlich der nur in § 315 c
dStGB als Schuldmerkmal geforderten Rücksichtslosigkeit gegenüber·.
Die nähere Bestimmung der praktischen Auswirkungen dieser Unter-
scheidungen wäre eine im Hinblick auf die Entwicklung der neueren
österreichischen Rechtsprechung besonders interessante AufgabeftO •

3. Die vergleichende Kennzeichnung der Lage auf dem Gebiet der


fahrlässigen Verletzungsdelikte muß im Rahmen dieses Beitrags not-
gedrungen auf einige charakteristische Aspekte beschränkt werden.
Unter Bezugnahme auf die schon bei den Grundfragen in Betracht
gezogene gesetzliche Ausgangslage soll zunächst die in letzter Zeit
zustandegekommene grundsätzliche übereinstimmung der modernen
Fahrlässigkeitslehre vermerkt werden. Der spezifische Gedanke der
Erfolgsrelevanz ist fernerhin Ausgangspunkt für einige weitere ver-
gleichende Anmerkungen.
Die enge wissenschaftliche Zusammenarbeit der beiden Länder hat
in der letzten Zeit zu wesentlicher übereinstimmung der in der Bun-
54 Vgl. Burgstaller (Arun. 33), Rdn. 9.
55 Vgl. Burgstaller (Anm. 33), Rdn. 17.
51 Die entscheidende Wende brachte die Entscheidung des OHG vom 30.3.
1977, veröffentlicht in SSt 48/24.
57 Vgl. dazu Kienapfel, Grundriß (Anm.34), S.66. Vgl. als eines der mög-
lichen Beispiel aus der Rechtsprechung die Entscheidung des OLG Wien ZVR
1982,26.
58 Vgl. dazu OLG Wien ZVR 1981, 18.
59 Im Hinblick auf ein durch die Wende der neueren Rechtsprechung be-
wirktes Bestimmheitsdefizit fordert Kienapfel, Grundriß (Anm. 34), S. 65 er-
höhte Anforderungen sowohl an die objektive als auch an die subjektive Tat-
seite 1. S. einer auffallenden Sorgfaltswidrigkeit.
80 Im Hinblick auf die schon angeführte (Anm. 35) wachsende praktische
Bedeutung der Vorschrift würde es dafür auch auf österreichischer Seite nicht
an Material fehlen.
1280 Peter Hünerfeld

desrepublik Deutschland und in Österreich vertretenen modernen Fahr-


lässigkeitslehre geführt. Während Nowakowski - zum Beispiel in sei-
nem bekannten Aufsatz aus dem Jahre 1953 B1 - in dezidierter Weise
den der herkömmlichen Lehre entsprechenden Standpunkt der Fahr-
lässigkeit als bloßer Schuldform vertrat und Graßberger in seinem
Vortrag aus Anlaß der 1964 in Wien in Verbindung mit der deutschen
Gesellschaft für Rechtsvergleichung abgehaltenen Tagung schon das
Bemühen um einen der Sondernatur der Fahrlässigkeitsdelikte ent-
sprechenden Verbrechens aufbau verfolgtB!, kommt es in den siebziger
Jahren zu der entscheidenden Wende, deren weitgehend mit der
modernen deutschen Lehre übereinstimmender Stand in der im Jahre
1974 erschienenen monographischen Untersuchung von BurgstallerB3
Ausdruck erlangt. Die dogmatische Erneuerung, deren Auseinanderset-
zung speziell auch im Austausch mit der Lehre des verehrten Jubilars
vorangetrieben worden ist, wird u. a. auch durch die Arbeiten von Kien-
apfel und das von ihm reichhaltig ausgebreitete Anschauungsmaterial
aus der österreichischen Praxis belegtll4 • Die erreichte gemeinsame Platt-
form mag das wissenschaftliche Gespräch in den vielen Einzelfragen
weiter beleben. Im Rahmen dieses Vergleichs wollen wir nur noch
wenige Anmerkungen beifügen.
Die gesicherte Erkenntnis des der Fahrlässigkeit entsprechenden
Handlungsunwerts wird im Erfordernis eines dafür notwendigen
objektiven Maßstabs durch die Bestimmung der Fahrlässigkeit im
österreichischen Strafgesetzbuch bestärkt, so daß man sich in Öster-
reich für die Ablehnung des von einigen deutschen Autoren geforder-
ten Ansatzes bei der dem Täter individuell obliegenden Sorgfalt" auch
auf das positive Recht stützen kann". Der für die Begrenzung der
objektiven Sorgfaltspflichtverletzung wichtige Vertrauensgrundsatz
läßt für beide Länder im wesentlichen übereinstimmende Maßstäbe
erkennenB7 . Die Verbindung zwischen Handlung und Erfolg wird

BI JBl. 1953, 506.


S! Vgl. Graßberger, Aufbau, Schuldgehalt und Grenzen der Fahrlässig-
keit, unter besonderer Berücksichtigung des Verkehrsstrafrechts in Öster-
reich, ZfVR 5 (1964), 18, 19.
G3 Das Fahrlässigkeitsdelikt im Strafrecht, 1974. Vgl. ferner ders., Wiener
Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bearbeitung des § 6 (Fahrlässigkeit) und
- im gegebenen Zusammenhang - der §§ 80,81; sowie ders., Straßenverkehr
und Strafrecht, ZVR-Sonderheft 1978, 20.
114 Kienapfel, Die Fahrlässigkeit unter besonderer Berücksichtigung des
Straßenverkehrs, ZVR 1977, 129 u. 162; ders., (Anm.34), S. 80 tf. (im Zusam-
menhang mit § 80 öStGB) und passim.
85 Vgl. dazu Stratenwerth, Strafrecht AT, 3. Aufi. 1981, Rdn. 1099 fi.
IS Dazu Burgstaller, Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, § 6 Rdn. 25.
87 Vgl. dazu für die Lage der in der Bundesrepublik Deutschland von Wis-
senschaft und Praxis entwickelten Beurteilung Janiszewski (Anm.2), S.37
Aspekte des Verkehrsstrafrechts im Vergleich 1281

wie in der deutschen Lehre als eine normative Zurechnungsfrage ver-


standen, der in der österreichischen Lehre vor allem der Begriff des
erforderlichen Risikozusammenhangs Rechnung trägt68 • Bei der Pro-
blemstellung des rechtmäßigen Alternativverhaltens hat sich in der
österreichischen Rechtsprechung im Unterschied zur Rechtsprechung in
Deutschland68 allerdings der Standpunkt der Risikoerhöhungslehre
durchgesetzt. Die engen Beziehungen zwischen den beiden Ländern
kommen zum Ausdruck, wenn sich das OLG Wien70 dafür ausdrücklich
auf die Lehre des verehrten Jubilars beruft. Sie hat auch bei öster-
reichischen Autoren eine feste Stütze71 • Im Hinblick auf die Anforde-
rungen der Fahrlässigkeit auf der Ebene der Schuld wollen wir uns
mit dem Hinweis begnügen, daß der hier von KienapfeF2 zur Geltung
gebrachte objektiviert-subjektive Maßstab der Sorgfaltswidrigkeit wie-
derum in einem entsprechenden Standpunkt der Lehre von J escheck73
eine Parallele findet.
Wenn im folgenden die Frage der Relevanz des Erfolgsunwerts in
einigen weiteren vergleichenden Bemerkungen bedacht werden soll,
so geschieht dies im Interesse einer Beleuchtung drei spezifischer Pro-
blemkreise. In bezug auf das erfolgsgebundene fahrlässige Verlet-
zungsdelikt handelt es sich zunächst um die dogmatische Frage der
Integration des Erfolgsunwerts im Unrechtsbegriff. Eine weitere
moderne Problemstellung, die gerade auch im verkehrsstrafrechtIichen
Zusammenhang aktuelle Bedeutung hat, betrifft Fragen des Rückzugs
des Strafrechts in bestimmten Fällen fahrlässiger Erfolgsverwirk-
lichung. Schließlich stellt sich die Frage der Erfolgsrelevanz als Ge-
sichtspunkt gesetzgeberischer Gestaltung der verkehrsstrafrechtIich be-
deutsamen Tatbestände.

sowie auf österreichischer Seite die gesetzliche Formulierung in § 3 öStVO


und die weiterreichende Klärung bei BurgstalZer, Fahrlässigkeitsdelikt (Anm.
63), S. 58 ff.
88 Dazu BurgstalZer (Anm.66), Rdn. 64 ff. Dem Erfordernis ist der Ge-
sichtspunkt des Adäquanzzusammenhanges vorgestellt (ebendort Rdn. 62 f.),
dem BurgstalZer bei theoretischer Einbeziehung in den Risikozusammenhang
allerdings eine nur praktisch selbständige Funktion zuerkennt, während für
den Standpunkt der durchgängigen Trennung der beiden Gesichtspunkte auf
die Lehre von Kienapfel, ZVR 1977, 166 zu verweisen ist.
88 Rechtsprechungsnachweise bei BGHSt.30, 228. 230, wo allerdings eine
andere Fallkonstellation zur Entscheidung stand, so daß sich der BGH nicht
veranlaßt sah, sich mit seiner vermerkten Judikatur abgelehnter Erfolgs-
zurechnung und der Kritik an dieser Rechtsprechung weiter auseinanderzu-
setzen.
70 ZVR 1980, 52.

71 Vgl. BurgstalZer, Fahrlässigkeitsdelikt (Anm.63), S. 135 ff. und ders.,


(Anm.66), Rdn. 74 f. sowie Kienapfel, Grundriß (Anm.34), S.53 m. w. N.
72 Grundriß (Anm. 34), S. 56.

73 (Anm. 4), S. 481.

81 Festschrift für H.-H. Jescheck


1282 Peter Hünerfeld

Im Zusammenhang einer Weiterentwicklung der personalen Un-


rechtslehre wird von einzelnen deutschen Autoren74 der Standpunkt
vertreten, daß sich der strafrechtliche Unrechtsbegriff im jeweiligen
Handlungsunwert erschöpft und dem Erfolg nur die Bedeutung einer
objektiven Strafbarkeitsbedingung entsprechen kann. Diese Auffas-
sung sieht sich allerdings - gerade auch aus der Sicht eines wohl-
verstandenen personalen Unrechtsbegriffs - wachsender Kritik gegen-
über75 • Auch der Lage in Österreich vermag sie nicht zu entsprechen,
denn für das österreichische Recht ist es - wie Zipf' bemerkt - am
sachgerechtesten, von einer Gleichwertigkeit von Handlungs- und Er-
folgsunrecht im Deliktsaufbau auszugehen77. Die Lage in Österreich
ist gerade auch im Hinblick auf ihre neue re Entwicklung bemerkens-
wert. Im Unterschied zum deutschen Recht kannte das österreichische
Recht vor Inkrafttreten seines neuen Strafgesetzbuchs am 1. Januar
1975 keine generellen Straftatbestände der fahrlässigen Tötung und
Körperverletzung78 , so daß die Wende zum neuen Recht auch als sach-
gerechte Integration der fraglichen Erfolgsmomente Bedeutung hatte7'.
Auf einem anderen Blatt steht die Frage, ob jeder fahrlässig herbei-
geführte Verletzungserfolg auch zu einer entsprechenden strafrecht-
lichen Ahndung führen muß oder gebotene Zurückhaltung in bestimm-
ten Fällen strafrechtlichen Rückzug nahelegt. Empfehlungen des Euro-
parates auf dem Gebiet des Verkehrsstrafrechts befürworten eine
entsprechende Reduktion des Anwendungsbereichs der Strafe in Fäl-
len leichter Fahrlässigkeit sowie in Fällen erheblicher eigener oder
einen Angehörigen betreffender Verletzungen vorbehaltlich des Vor-
handenseins eines "unentschuldbaren Fehlverhaltens"8o. Reformvorstel-

74 Vgl. die Nachweise im Ausgangspunkt der Kritik dieser Lehren bei


Hirsch, ZStW 94 (1982), S. 252.
76 Vgl. nur die eingehende Kritik von Hirsch (Arun.74), S. 252 ff. (im
Unterschied zu dem von Hirsch anfangs - vgl. ders., Die Lehre von den
negativen Tatbestandsmerkmalen, 1960, S.308 Fn. 122 - vertretenen Ver-
ständnis des Erfolgs als Bedingung für die Strafwürdigkeit der Normver-
letzung).
71 JBl. 1980, 192.
77 Als Befürworter der Konzeption eines erfolgsunabhängigen Handlungs-
unrechts ist demgegenüber Seiler, Maurach-Festschrift, S. 75, 83, zu benennen.
78 Dazu - für die Entwicklung und die positive Beurteilung der mit dem
Inkrafttreten des neuen StGB erst am 1. 1.1975 vollzogenen Wende besonders
aufschlußreich - Moos (Arun.9), S.314 (mit weiteren entsprechenden Hin-
weisen auf die groBe dogmengeschichtliche Untersuchung des Autors: Moos,
Der Verbrechensbegriff in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert, 1968).
7' Bei schon vorheriger Einbeziehung der vor der Wende als objektive
Strafbarkeitsbedingungen fungierenden Verletzungsfolge in das tatbestand-
lich typisierte Fahrlässigkeitsunrecht - dafür Burgstaller, Fahrlässigkeits-
delikt (Anm. 63), S. 81 - handelt es sich vor allem um die entsprechende Inte-
gration im Schuldzusammenhang.
Aspekte des Verkehrsstrafrechts im Vergleich 1283

lungen in der Bundesrepublik laufen im Extremfall auf eine Infrage-


stellung der fahr lässigen Erfolgsdelikte als solche hinaus81 , zum Teil
wird eine Beschränkung auf Fälle der Leichtfertigkeit empfohlen82 ,
von nicht wenigen wird Straffreiheit in Fällen geringfügig fahrlässigen
Verhaltens vorgeschlagen83 • Demgegenüber läßt es das geltende Recht
neben der Berücksichtigung des Absehens von Strafe nach § 60 dStGB -
Fall des Getroffenseins durch so schwere Tatfolgen, daß die Verhän-
gung einer Strafe, soweit es sich um nicht mehr als ein Jahr Frei-
heitsstrafe handelt, offensichtlich verfehlt wäre - im wesentlichen
bei der Reichweite der Nichtverfolgung von Bagatellsachen (§ 153 dStPO)
und möglicher Einstellung der Verfolgung bei geringfügigen Vergehen
nach Erfüllung von Auflagen und Weisungen (§ 153 a dStPO) bewen-
den8'. Für das geltende österreichische Recht ist eine bedeutsame ma-
terielle Entkriminalisierung von Fällen einfacher fahrlässiger Kör-
perverletzung festzustellen. Es handelt sich bei Abwesenheit eines
schweren Verschuldens85 sowie qualifizierender Merkmale88 um die
in § 88 Abs. 2 öStGB geregelten Strafausschließungsgründe. Für
den Bereich des Verkehrsstrafrechts ist einmal die Regelung in
§ 88 Abs.2 Ziff.4 anzuführen, die sich auf Körperverletzungen be-
zieht, bei denen keine Gesundheitsbeschädigung oder Berufsun-
fähigkeit einer Person von mehr als dreitägiger Dauer erfolgt ist.
Weiter reichen die Fälle des § 88 Abs.2 Ziff.1, die sich auf Verlet-
zungen von Angehörigen beziehen, weil hier erst bei einer länger als
vierundzwanzig Tage dauernden Gesundheitsbeschädigung oder Be-
rufsunfähigkeit eine Strafausschließung nicht mehr möglich ist87 •
Burgstaller hat auf die große Bedeutung und die praktische Bewäh-

80 Vgl. dazu näher die am 18. September 1975 vom Ministerkomitee des
Europarates verabschiedete Resolution (75) 24, abgedruckt in Conseil de
l'Europe (Anm.2), S. 63 f.
81 In diesem Sinne Nickel, 14. Deutscher Verkehrsgerichtstag 1976, S. 59 ff.
(im übrigen auf die kriminalstrafrechtliche Erfassung der Straßenverkehrs-
gefährdungen abstellend).
82 Vgl. Bockelmann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze und Vorträge, 1967,
S. 194, 216 ff.
83 In diesem Sinn etwa § 16 Abs.2 des deutschen Alternativ-Entwurfs eines
Strafgesetzbuchs Allgemeiner Teil.
lUo Zur "Bedeutung und Anwendung des § 153 a Strafprozeßordnung in Ver-
kehrsstrafsachen" Bär, DAR 1984, 129. In der Praxis rangiert die prozessuale
Erledigung vor dem nur wenig angewendeten § 59 StGB (Verwarnung mit
Strafvorbehalt). Vgl. dazu Ruß, LK, 10. Aufl.., vor § 59 Rdn. 1.
85 Nach h. M. wird der Fall des schweren Verschuldens angenommen, wenn
- vgl. Kienapfel, Grundriß (Anm. 34), S. 125 - "dem Täter eine ungewöhn-
liche und auffallende Sorglosigkeit zur Last fällt und ihm der Eintritt eines
Schadens als wahrscheinlich, und nicht nur als entfernt möglich, vorausseh-
bar war". Näher und zum Stand der Rechtsprechung Kienapfel ebendort.
85 Vgl. die in § 88 Abs. 3 und 4 öStGB geregelten Fälle.

87 Vgl. zu diesem Fall § 88 Abs. 4 1. Alt. i. V. m. § 84 Abs. 1 öStGB.

81·
1284 Peter Hünerfeld

rung dieser Entkriminalisierungsmaßnahmen hingewiesen88 • Die be-


deutsamen Maßnahmen werden zwar noch durch die mögliche An-
wendung des § 42 öStGB etwas erweitert8., doch bleibt der Rückzug
des Strafrechts auf dieses materiellrechtliche Konzept und seine Tat-
folgenabhängigkeit wiederum auch beschränkt. Im Hinblick auf die
Lage bei der fahrlässigen Tötung ist allerdings anzumerken, daß die
Bestrafung von Fällen minimaler Sorgfaltspflichtverletzungen unter
Schuldgesichtspunkten entfallen kann90 • Eine prinzipielle Anhebung
der Fahrlässigkeitsschwelle wird jedoch - insoweit übereinstimmend
mit Trändle u - abgelehnt92 • Im ganzen steht eine in Österreich partiell
bedeutsam weiterreichende und materiellrechtlich fixierte Betrach-
tungsweise einer im deutschen Recht vornehmlich prozeßrechtlich ge-
formten, jedoch flexibleren Sicht gegenüberN.

Im Hinblick auf die Frage der Erfolgsrelevanz als gesetzgeberischer


Gesichtspunkt der tatbestandlichen Gestaltung der Verkehrsdelikte
zeigt das österreichische Recht eine eindeutige Linie, indem es das
verkehrsstrafrechtlich bedeutsame Justizstrafrecht auf Verletzungs-
tatbestände und konkrete Gefährdungstatbestände beschränkt. Dem-
gegenüber lassen sich auch im österreichischen Schrifttum Autoren
benennen, die das Anliegen verfolgen, den vom Zufall abhängigen
Erfolgseintritt als primäres Kriminalisierungskriterium aufzugeben
und gravierendes Fehlverhalten im Straßenverkehr als solches krimi-
nalstrafrechtlich zu erfassen84 • Abgesehen davon, daß bei der schon er-
örterten Integration des Erfolgsunwerts im Unrechtsbegriff der Erfolg
nicht als ein bloßes Ereignis des Zufalls verstanden werden kann8' ,

88 Vgl. BurgstalZer, ZStW 94 (1982), S. 743 f. Diese Beurteilung gilt auch für
die quantitativ sehr bedeutsame StraffreisteIlung der einfachen fahrlässigen
Gefährdung der körperlichen Sicherheit (vgl. zu diesen Maßnahmen der Ent-
kriminalisierung im Strafrechtsänderungsgesetz von 1971 bereits oben
Anm.9).
88 Zu Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung des § 42 öStGB im
Bereich fahrlässiger Körperverletzung Froske, ZVR 1981, 289. Abgesehen von
Fällen, in denen Alkohol eine Rolle spielt, verfährt die Praxis nicht kleinlich
in der Anwendung des § 42 öStGB in bezug auf § 89 öStGB, vgl. Kienapfel,
Grundriß (Anm. 34), S. 136.
80 Dazu Kienapfel, Grundriß (Anm. 34), S. 57 und im Ergebnis ebenso
BurgstaZZer (Anm. 66), Rdn. 102.
81 DRiZ 1976, 129.

82 Vgl. Burgstaller, Straßenverkehr (Anm. 63), S. 30.

08 Eine Fortbildung des österreichischen Rechts im Sinne der Einführung


eines dreistufigen Systems bei Bagatellfällen, das auf der ersten Stufe bei
Vergehen bis zu sechs Monaten einen übergang zum Opportunitätsprinzip
einbezieht, wird neuerdings von Moos, ZStW 95 (1983), S. 153 ff., in einer
eingehenden Analyse der mit § 42 öStGB verbundenen Probleme befürwortet.
84 Vgl. Seiler (Anm.77), S. 83 sowie Schick, ÖJZ 1971,623 ff. und ders., ZVR
1974, 353 ff.
Aspekte des Verkehrsstrafrechts im Vergleich 1285

ist insbesondere BurgstaZler98 den angeführten Vorschlägen mit wich-


tigen sozial psychologischen und die Praxis möglicher Strafverfolgung
betreffenden Argumenten entgegengetreten. Im Ergebnis des Ver-
gleichs läßt sich eine Bestärkung im prinzipiellen Festhalten an einem
verletzungs- beziehungsweise gefährdungsgebundenen (insoweit an den
Eintritt einer konkreten Gefahr gebundenen) Verkehrsstrafrecht fest-
stellen. Im Hinblick auf den Fall der folgenlosen Trunkenheitsfahrt
(§ 316 dStGB) erscheint die Lage angesichts der spezifischen Gefähr-
lichkeit des Alkohols am Steuer freilich eine andere, doch hat auch
der Vergleich der prozeßrechtlichen Lage in beiden Ländern erheb-
liche Unterschiede gezeigt, so daß es sich hier nicht nur um das Pro-
blem der Schaffung eines entsprechenden kriminalstrafrechtlichen Tat-
bestandes handelt.

III.
Die Frage strafrechtlicher Verantwortlichkeit des Urhebers eines
Verkehrsunfalls reduziert sich nicht auf die in Betracht kommenden
Gesichtspunkte in bezug auf das Unfallgeschehen, sondern erstreckt
sich im weiteren auf Aspekte des von der Rechtsordnung geforderten
Verhaltens nach einem Verkehrsunfall. Im Interessenkreis des Unfall-
opfers, auf den wir uns beschränken, ist die Wahrung von Vermögens-
interessen vom wichtigeren Schutz der Leibes- und Lebensinteressen
zu unterscheiden. Der Wahrung der Vermögensinteressen dient im
deutschen Verkehrsstrafrecht die das unerlaubte Entfernen Vom Un-
fallort betreffende Strafvorschrift des § 142 dStGB. Mit diesem kom-
plizierten Straftatbestand, der als solcher im österreichischen Justiz-
strafrecht keine Parallele hat81, wollen wir uns hier allerdings nicht
weiter befassen. Das Interesse unseres Vergleichs bezieht sich viel-
mehr auf die strafrechtliche Beurteilung des Fehlverhaltens in bezug
auf die Hilfsbedürftigkeit des Opfers und die Abwendung ihm dro-
hender Leibes- und Lebensgefahren.
Das deutsche Verkehrsstrafrecht zeigt in diesem Bezugsrahmen eine
Befolgung rechtlicher Grundsätze, die ohne Zwischenstufe einen wei-
ten Bogen spannen zwischen der Jedermannspflicht gebotener Hilfe-

85 Auch die Rückstrahlung der Tatsache, daß sich eine Sorgfaltswidrigkeit


in einem entsprechenden Erfolg niedergeschlagen hat, auf die Beurteilung
der Handlung - dazu Hirsch (Anm. 74), S.254 - entspricht der Erkenntnis,
daß Fälle folgenloser und folgenreicher Fahrlässigkeit unter Unrechtsge-
sichtspunkten nicht gleichgestellt werden können.
98 Straßenverkehr (Anm.63), S. 29. Vgl. ferner ders., in: Association Inter-
nationale de Droit Penal, XIIieme Congres International de Droit Penal 1979,
Actes du Congres, S. 122 ff.
91 Unter verwaltungsstrafrechtlichen Gesichtspunkten sind die einschlägi-
gen Regelungen in § 99 i. V. m. § 4 öStVO zu beachten.
1286 Peter Hünerfeld

leistung in Unglücksfällen (unter Strafe gestellt nach § 323 c dStGB


als echtes Unterlassungsdelikt) und einer den Unfallverursacher bei
entsprechender Garantenstellung treffenden Erfolgsabwendungspflicht,
die bis zur Anwendung der Leib und Leben schützenden vorsätzlichen
Begehungsdelikte führen kann. Das dafür maßgebliche und als solches
lange zuvor schon anerkannte Ingerenzprinzip ist im verkehrsrecht-
lichen Zusammenhang mit diesen Konsequenzen vom BGH erstmals
Mitte der fünfziger Jahre berücksichtigt wordenls. Die zunächst ins-
besondere von Welzel llt entschieden bekämpfte Ansicht des BGH hat
in der Folge zu einer weitreichenden wissenschaftlichen Auseinander-
setzung geführtlOo . Die Rechtsprechung hat ihrerseits grundsätzlich an
ihrer Linie festgehalten, diese Sicht später allerdings dahingehend
bedeutsam eingeschränkt, daß im straßenverkehrsrechtlichen Zusam-
menhang die in Frage stehende Verantwortlichkeit aus dem Ingerenz-
prinzip ein wenigstens objektiv pflichtwidriges Vorverhalten voraus-
setzt'Ol. Diese Prämisse entspricht auch der Lehre des verehrten Jubi-
lars,02, während verschiedene Autoren, abgesehen von der grundsätz-
lichen Bekämpfung des IngerenzprinzipslOs, an einem teilweise weiterrei-
chenden Haftungsmaßstab festhalten. Für Stratenwerth verdient der
Fall des erlaubten Risikos gesonderte Beachtung, so daß die dieser Lage
entsprechenden Fälle des Straßenverkehrs an das Erfordernis eines
objektiv pflichtwidrigen Vorverhaltens nicht gebunden sind, jedoch
unter Gesichtspunkten der Selbstschädigung des Opfers begrenzt wer-
denlO '. Gössel stützt seinen vom Erfordernis der rechtswidrigen Vor-
handlung freigestellten Ansatz u. a. mit dem Argument "der bisher
in der Praxis äußerst unsicheren Abgrenzung zwischen sorgfaltswid-
l'igem und sorgfaltsgemäßem Verhalten"105.

18 Vgl. BGHSt.7, 287 (versuchter Totschlag) sowie ferner die in BGH JZ


1958, S. 506, 507 angeführten Entscheidungen. Hierzu als Neuerung der Rspr.
Welzel, JZ 1958, 494.
" JZ 1958, 494.
100 Kienapfel, JBl. 1975, 80 verweist - dies sei hier bereits bemerkt - bei
Festellung der "im Nachbarland schier endlosen Diskussion über Brauchbar-
keit, Grenzen und Tragweite" des Ingerenzprinzips auf die Abwesenheit
einer entsprechenden Auseinandersetzung in Österreich (bisherige Abwesen-
heit einer grundsätzlichen Infragestellung des Ingerenzprinzips bei zugleich
weniger Angriffsflächen im Vergleich der Judikatur des österreichischen OHG
und des deutschen RG).
101 Vgl. die Entscheidung BGH 25, 218.
lot Dazu Jescheck, LK, 10. Aufl., § 13 Rdn.33.
lOS Vgl. die bei Schünemann, ZStW 96 (1984), S.309 Fn.70 gegebenen Nach-
weise.
1M Vgl. Stratenwerth (Anm. 65), Rdn. 1008 ff.
105 Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 2, 6. Aufl.,
S. 171 f. (Die auf die Sorgfaltswidrigkeit abstellende Gegenmeinung erscheint
insoweit auch kriminalpolitisch bedenklich).
Aspekte des Verkehrsstrafrechts im Vergleich 1287

Die strafrechtliche Verantwortlichkeit für pflichtwidrige Nichtab-


wendung eines Erfolgs auf der Grundlage des Ingerenzprinzips ist
auch in Österreich ein seit langer Zeit anerkannter Grundsatz lO8 , des-
sen neuere Auseinandersetzung eine Wende zur Beschränkung auf
Fälle des rechtswidrigen Vorverhaltens zeigtl07 • Ob und inwieweit
auch Fälle des Straßenverkehrs eine der angeführten Lage in Deutsch-
land entsprechende Beurteilung erfahren, ist allerdings eine eigene
Frage. Man muß sich bei einem internationalen Vergleich darüber
im klaren sein, daß der Anerkennung des Ingerenzprinzips Grenzen
gesetzt sind und daß speziell besondere Regelungen für den Bereich
des Straßenverkehrs in eine andere Richtung weisen können. Wir
begnügen uns mit einem Hinweis auf das italienische Recht, für das
eine Untersuchung von Grasso l08 erst kürzlich eine besondere gesetz-
liche Regelung auf dem Gebiet der Fälle des Straßenverkehrs für die
Nichtanknüpfbarkeit strafrechtlicher Verantwortung an das Ingerenz-
prinzip herangezogen hat. Allerdings wird in Österreich - zum Bei-
spiel in der Lehre von KienapfePOD - durchaus angenommen, daß in
bestimmten Konstellationen auch des Verhaltens nach einem Verkehrs-
unfall eine der deutschen Beurteilung entsprechende Verantwortlich-
keit aus dem Ingerenzprinzip in Betracht kommen kannuo • Abgesehen
von Extremfällen, die auch unter Vorsatzgesichtspunkten problematisch
bleiben können1U , ist jedoch für das österreichische Recht eine beson-
dere Regelung für "Normalfälle" charakteristisch, die dem "Imstich-
lassen eines Verletzten" entsprechen.
In der Tat steht im österreichischen Recht einer Frage möglicher
strafrechtlicher Verantwortung für einen abwendbaren, aber nicht ab-
gewendeten Erfolg nicht allein das Jedermannsdelikt der unterlas-
senen Hilfeleistung gegenüber. Diesem - tatbestandlich im übrigen
etwas enger als § 323 c dStGB - in § 95 öStGB geregelten Fall ist viel-

108 Vgl. Kienapfel (Anm. 100), S. 80.


107 In diesem Sinn Nowakowski, in: Wiener Kommentar zum Strafgesetz-
buch, Rdn. 27 (Ziff. ce am Ende) zu § 2. So auch schon im Anschluß an
Jescheck der Standpunkt von Kienapfel (Anm. 8), S.494.
108 11 reato omissivo improprio, 1983, S. 284 ff. (systematischer Gesichts-
punkt unter Verwertung der gesetzgeberischen Entscheidung in Art. 133
Abs. 3 des italienischen Codice della strada).
10D Vgl. OJZ 1977, 427 in bezug auf § 82 Abs.2 öStGB (Lebensgefährdung
durch Imstichlassen in einer hilflosen Lage im Verantwortungszusammen-
hang einer entsprechenden Garantenstellung). Vgl. auch ders., ORZ 1978,4,5.
uo Inwieweit Fälle des Straßenverkehrs in der österreichischen Praxis
einer entsprechenden Beurteilung unterzogen worden sind, ist eine hier nicht
beantwortbare Frage.
111 Abgesehen vom prozessualen Nachweis kann es in dogmatischer Hin-
sicht auf schwierige Grenzfragen des bedingten Vorsatzes beziehungsweise
der Klarstellung des Vorsatzinhalts als Tötungs- oder Lebensgefährdungs-
vorsatz ankommen.
1288 Peter Hünerfeld

mehr in § 94 öStGB eine spezifisch gesteigerte Verantwortlichkeit des


Verursachers einer zu Hilfsbedürftigkeit führenden Körperverletzung
vorangestellt.
Nach dieser Vorschrift ist in ihrem Grundtatbestand derjenige mit
Strafe bedroht112 , der es "unterläßt, einem anderen, dessen Verletzung
am Körper (§ 83) er, wenn auch nicht widerrechtlich verursacht hat,
die erforderliche Hilfe zu leisten". In § 94 Abs.2 öStGB sind straf-
schärfend im Fahrlässigkeitszusammenhang stehende besondere Tat-
folgen erfaßt113 • Eine in § 94 Abs.3 öStGB getroffene besondere Unzu-
mutbarkeitsregelung bringt einen gegenüber § 95 öStGB strengeren
Maßstab zur Geltung. Schließlich ist die Subsidiarität der Vorschrift
in bezug auf die Fälle festgelegt, in denen der Täter schon wegen der
Verletzung mit der gleichen oder einer strengeren Strafe bedroht ist
(§ 94 Abs. 4 öStGB).
Die sondergesetzliche Erfassung einer gesteigerten Hilfspflicht des
Verursachers einer Körperverletzung beschränkt sich nicht auf ent-
sprechende Fälle des Straßenverkehrs, doch bildet die Konstellation
des Anfahrens eines Verkehrsteilnehmers mit anschließender Ver-
kehrsunfallflucht den Hauptanwendungsfall der VorschriftlU. Dabei be-
steht im Ansatz eine Verbindung mit dem Ingerenzprinzip 115, das hier
jedoch nicht auf den Fall des pflichtwidrigen Vorverhaltens beschränkt
ist t16 , im übrigen aber auch nicht weiter durchschlägt, weil sIch die
strafrechtliche Verantwortlichkeit eines solchermaßen Sonderpflichtigen
auf die Nichtvornahme einer gebotenen Handlung reduziert117 • Es ist
leicht einzusehen, daß die angeführte Vorschrift in vielen Einzelheiten
d_QKD:latisch nicht ei~fach zu bewältigen ist. Ein~. weiterreichende Ana-

111 Es handelt sich im Grundtatbestand um Freiheitsstrafe bis zu einem


Jahr oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen; demgegenüber ist der Grund-
tatbestand des Jedermannsdelikts der unterlassenen Hilfeleistung nur mit
Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen
bedroht.
113 Im Fall schwerer Körperverletzung ist Freiheitsstrafe bis zu zwei Jah-
ren, im Fall der Todesfolge Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren angedroht.
tU Kienapfel, Grundriß (Anm. 34), S. 149.
115 Zu diesem Zusammenhang und zugleich das Hinausgreifen der Vor-
schrift über diesen Ansatz berücksichtigend Nowakowski, Perspektiven zur
Strafrechtsdogmatik, S. 299, 304 ff.
118 Allerdings erheblich einschränkend Kienapfel, OJZ 1977, 428, der das
Verständnis der die Sonderpfticht begründenden Verursachung einer Körper-
verletzung auf die Fälle der Schaffung einer rechtlich mißbilligten und im
Eintritt des Verletzungserfolgs realisierten Gefahr beschränkt. Anders aber
Nowakowski (Anm. 115) und etwa Foregger/Serini (Anm.8), Ziff. II bei § 94,
die in der Frage der notwendigen Begrenzung des der Vorschrift entspre-
chenden Verursachungsbegriffs den Standpunkt der "auslösenden" Ursache
vertreten.
117 Es handelt sich daher um ein echtes Unterlassungsdelikt.
Aspekte des Verkehrsstrafrechts im Vergleich 1289

lyse118 ist allerdings weder möglich noch notwendig, da wir den Ertrag
des hier möglichen Vergleichs auf den Hinweis beschränken können,
daß eine Vorschrift nach der Art des § 94 öStGB auf der sachgerechten
Linie einer spezifischen Verantwortlichkeit des Unfallverursachers
liegt, die sich einerseits vom Bezugsrahmen des Jedermannsdelikts
der unterlassenen Hilfeleistung löst und zum anderen zumindest zu
einer erheblichen Entlastung der weiterreichenden Perspektive des
unechten Unterlassungsdelikts führt, während die dabei zugleich er-
möglichte Preisgabe des rechtswidrigen Vorverhaltens in einem ande-
ren Lichte erscheint.

118 Dazu Kienapfel, Grundriß (Anm.34), S. 148 ff. m. w. N. nach dem der-
zeitigen Erkenntnisstand bei einer Vorschrift, deren wissenschaftliche Klä-
rung noch in vollem Gange ist.
JOACHIM HERRMANN

Aufgaben und Grenzen der Beweisverwertungsverbote


Rechtsvergleichende Vberlegungen zum deutschen
und amerikanischen Recht

I. Einleitung
Zum 46. Deutschen Juristentag, der im Jahre 1966 stattfand, hatte
Jescheck ein großes rechtsvergleichendes Gutachten über die "Be-
weisverbote im Strafprozeß" vorgelegt, in dem er sich u. a. mit der
schon damals heftig umstrittenen Frage befaßte, unter welchen Vor-
aussetzungen Beweisverbote nicht nur als Beweiserhebungsverbote,
sondern auch als Verwertungsverbote anzusehen sind1• Für die Erörte-
rung dieser Frage war damals der Vergleich mit dem amerikanischen
Recht besonders fruchtbar, da die Verwertungsverbote dort bekannt-
lich seit Beginn der sechziger Jahre große Bedeutung erlangt hatten!.
In den Jahren, die seitdem vergangen sind, ist es weder in der
Bundesrepublik Deutschland noch in den Vereinigten Staaten um die
Verwertungsverbote still geworden. Die Auseinandersetzungen im wis-
senschaftlichen Bereich bewegten sich allerdings auf unterschiedlichen
Ebenen. Von seiten der deutschen Strafprozeßwissenschaft wurde, der
kontinental-europäischen Tradition folgend, versucht, die Verwertungs-
verbote theoretisch aufzuarbeiten und in einem dogmatischen Gebäude
zu vereinigen'. In den Vereinigten Staaten dominierte dagegen, wie es
für das Common Law typisch ist, die Erörterung praktischer Probleme.
Man behandelte dort vor allem die kriminalpolitische Seite der Verwer-
tungsverbote, deren Einfluß auf die Praxis der Strafverfolgungsorgane
und die Frage, inwieweit Verwertungsverbote die wirksame Verbre-

1 Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages 1966, Bd. I, Teil 3 B, S.l.


Z Siehe MueZZer, ebd., Teil 3 A, S. 35; Honig, Beweisverbote und Grund-
rechte im amerikanischen Strafprozeß, 1967; ders., Wiederaufnahme und dis-
senting opinions im amerikanischen Strafverfahren, 1969; Erdmann, Die Aus-
dehnung der strafprozessualen Garantien der US-Bundesverfassung auf den
Strafprozeß der Einzelstaaten, 1969; Herrmann, Verfassungsrecht und Straf-
justiz in den Vereinigten Staaten, in: 200 Jahre USA, Augsburger Universi-
tätsvorträge, 1977, S. 85.
, Siehe Dencker, Verwertungsverbote im Strafprozeß, 1977; Rogall, ZStW
91 (1979). 1: Gössel, NJW 1981,649 u. 2217, jeweils m. w. N.
1292 J oachim Herrmann

chensbekämpfung behindern4 • Wegen dieser verschiedenartigen Schwer-


punkte wäre es wenig ergiebig, die in der Bundesrepublik Deutschland
und in den Vereinigten Staaten geführten wissenschaftlichen Diskussio-
nen zum Gegenstand einer vergleichenden Betrachtung zu machen.
Anders verhält es sich jedoch, wenn man den Blick auf die Bedeu-
tung der Verwertungsverbote in der Praxis der deutschen und der
amerikanischen Strafrechtspflege richtet. Schon J escheck hatte in sei-
nem Gutachten gezeigt, daß die in den beiden Ländern anerkannten
Verwertungsverbote keineswegs identisch sind5 • Inzwischen ist die Ent-
wicklung bei uns und in den Vereinigten Staaten weitergegangen.
Während im Hinblick auf die deutsche Praxis eine gewisse Konsolidie-
rung festgestellt werden kann, ist die Auseinandersetzung um die Ver-
wertungsverbote im amerikanischen Recht nicht abgerissen, ja die Idee
der Verwertungsverbote ist dort seit einiger Zeit in eine tiefgreifende
Krise geraten.
Die Verwertungsverbote erscheinen deshalb heute im deutschen und
vor allem im amerikanischen Strafverfahren nicht mehr im gleichen
Licht wie vor nahezu zwanzig Jahren, als J escheck sein Gutachten er-
stattete. Angesichts dessen erscheint es angebracht, wieder einmal
Bilanz zu ziehen, nach Aufgaben und Grenzen der Verwertungsverbote
im deutschen und im amerikanischen Strafverfahren zu fragen und da-
mit fortzusetzen, was Jescheck 1966 begonnen hat.

11. Die Aufgabe der im deutschen Strafverfahren


anerkannten Verwertungsverbote

-I~ Als gemeinsame Aufgabe der im deutschen Recht gesetzlich aner-


kannten und von der Rechtsprechung entwickelten Verwertungsverbote
kann man im wesentlichen den Schutz des Persönlichkeitsrechts und der
Privatsphäre ansehen. Zur Begründung der einzelnen Verwertungsver-
bote werden zwar bisweilen auch andere Gesichtspunkte herangezogen,
bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß dem Schutz des Per-
sönlichkeitsrechts und der Privatsphäre regelmäßig die entscheidende
Bedeutung zukommt. Die Verwertungsverbote sind insofern nichts an-
deres als prozessuale Mittel zur Durchsetzung des Schutzes materiellen
Rechts.
, InbaulReid, Criminal Interrogation and Confessions, 2. Auf!. 1967; Kaplan,
The Limits of the Exclusionary Rule, 26 Stan. L. Rev. 1027 (1974); Allen, The
Judical Quest for Penal Justice: The Warren Court and the Criminal Cases,
1975 U. In. L. F. 518; Israel, Criminal Procedure, the Burger Court and the
Legacy of the Warren Court, 75 Mich. L. Rev. 1319 (1977); Kamisar, Police
Interrogation and Confessions, 1980; Saltzburg, Foreword: The Flow and Ebb
of Constitutional Criminal Procedure in the Warren and Burger Courts, 69
Geo. L. J. 151 (1980), jeweils m. w. N.
5 Jescheck (Anm. 1), S. 31 ff.
Aufgaben und Grenzen der Beweisverwertungsverbote 1293

Da das Persönlichkeitsrecht und die Privatsphäre durch das Grund-


gesetz geschützt sind, dienen die Verwertungsverbote dem Grundrechts-
schutz. Das "Recht zur freien Selbstbestimmung der Persönlichkeit" ist
durch Art. 1 Abs.1 S. 1, Art. 2 Abs.1 GG anerkannt8• Die Privatsphäre
stellt einen Ausschnitt aus dem durch das Persönlichkeitsrecht ge-
schützten Bereich dar7 • Sie wird deshalb ebenfalls durch Art. 1 und 2
GG abgesichert, wenn nicht spezielle Grundrechte in Betracht kommen.
So wird z. B. die Privatsphäre des Ehe- und Familienlebens unmittel-
bar VOn Art. 6 GG, die des Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs von
Art. 10 GG erfaßt.
Bei der Begründung der Verwertungsverbote wird von den Gerichten
nicht streng zwischen Persönlichkeitsrecht und Privatsphäre unterschie-
den. Sie stellen vielmehr, wie der folgende überblick zeigen mag, bald
den einen, bald den anderen Aspekt in den Vordergrund.

2. Die Aufgabe der Verwertungsverbote, materielle Grundrechte zu


schützen, tritt in der Tonband-Entscheidung und der Tagebuch-Ent-
scheidung des BGH deutlich hervor, denn die Unverwertbarkeit der
Beweismittel wird hier unmittelbar auf die Menschenwürde und das
Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie auf das in Art. 8
Abs. 1 MRK enthaltene Recht auf Achtung des Privat- und Familien-
lebens gestützt8• Ein Hinweis auf den Grundsatz des rechtsstaatlichen
Verfahrens, der sich in der Tonband-Entscheidung findet, kann nicht als
zusätzliche, prozessuale Grundlage für das Verwertungsverbot gewertet
werden, denn der BGH kennzeichnet die Rechtsstaatlichkeit dadurch,
daß die Menschenwürde geachtet wird9 •
Der BGH läßt den Grundrechtsschutz jedoch zurücktreten, wenn eine
Abwägung unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes er-
gibt, daß wichtigere Güter und Interessen entgegenstehen. Er hält des-
halb ein heimlich aufgenommenes Tonband und ein intimes Tagebuch
für verwertbar, wenn dies z. B. zur Aufklärung schwerer Straftaten er-
forderlich ist, oder wenn das Tonband in einer notwehrähnlichen Lage
aufgenommen wurde10 •
Das BVerfG hat die Rechtsprechung des BGH, insbesondere die ver-
fassungs rechtliche Begründung der Verwertungsverbote, in zwei Ent-
scheidungen, einem weiteren Tonbandfall und einem Fall, in dem es die
in einer Drogenberatungsstelle beschlagnahmten Klientenakten für un-

8 BGHSt. 14, 358, 359.


7 BVerfGE 54, 148, 153 f.; Leibholz/Rinck/Hesselberger, Grundgesetz,
6. Aufl. ab 1979, Art. 2 Rdn. 3.
a BGHSt. 14, 358, 359; 19, 325, 326 fI.
s BGHSt. 14, 364.
10 BGHSt. 19, 331 fI.
1294 J oachim Herrmann

verwertbar erklärte, bestätigt und inhaltlich weitergeführt11 • Es unter-


scheidet, der von ihm in anderem Zusammenhang entwickelten Grund-
rechtsdogmatik folgendlI, einen unantastbaren Kembereich privater
Lebensgestaltung, die Intimsphäre, einen relativ geschützten Bereich
des Privatlebens und einen durch das Persönlichkeitsrecht nicht ge-
schützten Geschäftsbereich. Beweismittel, die den Geschäftsbereich be-
treffen, sind grundsätzlich verwertbarl3 • Beweismittel, die zur allgemei-
nen Privatsphäre gehören, dürfen dagegen nur verwertet werden, wenn
dies "im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit unter strikter
Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes" liegti'. Beweismittel, die
Einblick in die Intimsphäre gewähren, sind stets unverwertbar16• Ein
seltener Fall, in dem der BGH dies angenommen hat, betraf die Unter-
haltung von Eheleuten in der ehelichen Wohnungi'. Das Gericht hat die
Verwertung eines von einem "Raumgespräch" aufgenommenen Ton-
bandes untersagt. Das Raumgespräch konnte im Rahmen einer an sich
zulässigen Telefonüberwachung nur deshalb auf dem Band festgehalten
werden, weil nach Abschluß eines Telefongesprächs der Hörer nicht ord-
nungsgemäß aufgelegt worden war. Auch ein intimes, sexuelle Dinge
betreffendes Tagebuch, das der BGH im Rahmen des Verhältnismäßig-
keitsgrundsatzes für verwertbar hält, wird man dem ausnahmslos ge-
schützten Kernbereich zurechnen müssen.
Die vom BGH geschaffene Rechtskreistheorie dient, wenn man auf
den Fall abstellt, in dem sie in der Praxis tatsächlich eine Rolle gespielt
hat, dem Schutz der in Art. 6 Abs. 1 GG garantierten Privatsphäre der
Familie17, Das Verwertungsverbot entspringt somit im Ergebnis der
Rücksicht auf die Familie des Beschuldigten. Den Gewissenskonflikt,
Oenider Zeuge durch die Kollision von Wahrheitspflicht und persönli-

11 BVerfGE 34, 238; 44, 353. - RogaZl (Anm.3), S.23 u. 29 ff. meint ange-
sichts des Rückgriffs der Rechtsprechung auf die Güter- und Interessen-
abwägung sowie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, die Verwertungsverbote
seien nicht mit der Verletzung materieller Rechte, sondern mit einer "Ab-
wägungslehre" zu begründen. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß
eine Abwägung erst in Frage kommt, nachdem eine Rechtsverletzung fest-
gestellt ist.
12 BVerfGE 6, 32, 41; 27, 1, 6 f. Siehe LeibhoZzlRincklHesseZberger (Anm.7),
Art. 2 Rdn. 3.
18 Ein Beispiel hierfür ist der vom OLG Schleswig, NJW 1980, 352, ent-
schiedene Spielbankfall, in dem die heimliche Bildaufnahme von einem Revi-
sor, der beim Geldzählen im Nebenraum des Casinos Geldscheine verschwin-
den ließ, für verwertbar gehalten wurde.
14 BVerfGE 34, 238, 246.
16 Abweichend offenbar BGHSt.29, 23, 25, für den Strafverfolgungsinter-
essen ein so großes Gewicht haben können, daß sie Eingriffe in den ..Kern-
bereich" der privaten Lebensgestaltung rechtfertigen.
11 BGHSt. 31, 296.
17 BGHSt. 11, 213.
Aufgaben und Grenzen der Beweisverwertungsverbote 1295

chen Interessen ausgesetzt sein kann, läßt der BGH, wie der Vergleich
mit § 55 StPO zeigt, nicht als Grundlage für ein Verwertungsverbot gel-
ten. In einer früheren Entscheidung hatte das Gericht allerdings das in
§ 252 StPO wurzelnde Verwertungsverbot damit begründet, daß eine
"seelische Belastung" des Zeugen vermieden werden müsse18•
§ 136 aStPO, der im Jahr 1950 als Antwort auf die während der natio-
nalsozialistischen Gewaltherrschaft verübten Greuel in die Strafprozeß-
ordnung aufgenommen wurde, zielt nicht nur darauf ab, die unzulässi-
gen Vernehmungsmethoden zu umschreiben; - er tut dies auf unvoll-
ständige und z. T. ungenaue Weiseu. Die Bestimmung geht vielmehr
einen entscheidenden Schritt weiter, denn sie schützt ausdrücklich die
Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung und sie knüpft
das Verwertungsverbot an deren Verletzung. Sie dient also dem Schutz
wichtiger Bestandteile des Persönlichkeitsrechts und ist vom BGH zu
Recht als prozessuale Ausformung des Art. 1 Abs. 1 GG bezeichnet wor-
den20 •
Zur Begründung des Verwertungsverbots, das sich aus einer Nichtbe-
achtung der in § 243 Abs. 4 S. 1 StPO vorgesehenen Hinweispflicht er-
gibt, verweist der BGH auf die Grundsätze des fairen und rechtsstaat-
lichen Verfahrens!l. Damit wird jedoch im Ergebnis keine prozessuale
Rechtsgrundlage für das Verwertungsverbot geschaffen, denn die
Grundsätze werden vom BGH inhaltlich sogleich in der Weise bestimmt,
daß der Angeklagte nicht gegen sich selbst auszusagen braucht!!. Die
Aussagefreiheit aber ist als Ausfluß des Persönlichkeitsrechts anzuse-
hen. Sie wurde vom BVerfG auf die Menschenwürde und das Recht auf
freie Entfaltung der Persönlichkeit zurückgeführtZ3 •
Etwas anders verhält es sich mit dem Verwertungsverbot, zu dem ein
Verstoß gegen die in § 168 c Abs. 5 StPO aufgestellte Benachrichtigungs-
pflicht führtu. Der BGH sieht den Grund für die Unverwertbarkeit der
Ergebnisse der in Abwesenheit des Beschuldigten durchgeführten Zeu-
genvernehmung in der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Ge-
hör25 • Für das BVerfG hat dieser Anspruch zwei tieferreichende verfas-
sungsrechtliche Wurzeln. Er folgt einerseits aus dem Rechtsstaatsgedan-
18 BGHSt. 2, 99, 105.
19 Meyer, in: Löwe/Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichts-
verfassungsgesetz, 23. Auf!. 1976, § 136 a Rdn. 12 ff.; Roxin, Strafverfahrens-
recht, 18. Aufl. 1983, S. 141 f.
20 BGHSt. 5, 332, 333; 14, 358, 364.
21 BGHSt. 25, 325, 330 f.
!2 Ebd. S. 331.

23 BVerfGE 55, 144, 150 f.; 56,37,49 f. Siehe auch Rogall, Der Beschuldigte
als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S.129 ff. m. w. N.
24 BGHSt. 26, 332; 31, 140.
25 BGHSt. 26, 335.
1296 J oachim Herrmann

ken, soweit durch das Gehör die Richtigkeit einer Entscheidung gesichert
werden soll2&. Andererseits ergibt er sich aus der Würde der Person, die
gebietet, daß der Beschuldigte vor einer ihn betreffenden Entscheidung
Gelegenheit hat, zu Wort zu kommen!? Damit dient das Verwertungs-
verbot hier zwar nicht ausschließlich, aber immerhin auch dem Schutz
materiellen Verfassungsrechts.
Der im Recht des Beschuldigten, sich nicht selbst belasten zu müssen,
zum Ausdruck kommende Persönlichkeitsschutz bildet auch die Grund-
lage für das in § 393 Abs.2 AO normierte Verwertungsverbot. Der
Steuerpflichtige wird durch diese Bestimmung davor bewahrt, daß Tat-
sachen oder Beweismittel, die er in Erfüllung seiner steuerrechtlichen
Pflichten offenbart, in einem Strafverfahren, das weder eine Steuer-
straftat noch bestimmte schwere Delikte zum Gegenstand hat, gegen
ihn verwertet werden.
Dem von der Abgabenordnung vorgezeichneten Weg ist das BVerfG
im Gemeinschuldner-Beschluß gefolgtZ8 • Es hat mit Hilfe eines Verwer-
tungsverbots ausgeschlossen, daß dem Gemeinschuldner Angaben, die
er im Konkursverfahren aufgrund seiner gegenüber den Konkurs-
gläubigern bestehenden, uneingeschränkten Auskunftspflicht machen
muß, in einem Strafverfahren zur Last gelegt werden.
Daß die in §§ 3 Abs.2; 7 Abs. 3 G 10 enthaltenen sowie die von der
Rechtsprechung auf der Grundlage von § 100 a StPO entwickelten Ver-
wertungsverbote die in Art. 10 Abs. 1 GG verbrieften Grundrechte und
damit zugleich das Persönlichkeitsrecht und die Privatsphäre schützen,
liegt auf der Hand und wurde auch vom BGH hervorgehobenz9 •
. §49 Abs.l BZRG, der den Vorhalt und jede andere Art der Verwer-
tung getilgter oder tilgungsreifer Verurteilungen zum Nachteil des Be-
troffenen ausschließt, beruht auf der Resozialisierungsidee. Der Reso-
zialisierungsanspruch des Verurteilten aber ergibt sich, wie das BVerfG
ausgeführt hat, aus der Menschenwürde30 •

3. Bekanntlich führt nicht jede Verletzung des Persönlichkeitsrechts


und der Privatsphäre zur Unverwertbarkeit der dabei gewonnenen Be-
weismittel. Oben wurde schon erwähnt, daß die Güter- und Interessen-

28 BVerfGE 9, 89, 95; 39, 156, 168; 57, 250, 288. Siehe auch Rüping, Der
Grundsatz des rechtlichen Gehörs und seine Bedeutung im Strafverfahren,
1976, S. 123 f.
27 BVerfGE 9,89,95; 39, 156, 168. Siehe auch Rüping (Anm. 26), S. 124 ff.
28 BVerfGE 56, 37, 50 f.
28 BGHSt.27, 355, 357; 29, 244, 249; BGHSt.31, 304, 308 f. stützt das Ver-
wertungsverbot auf den Rechtsstaatgrundsatz, umschreibt diesen dann aber
mit dem heimlichen Eindringen in die Privatsphäre des Angeklagten.
80 BVerfGE 36, 174, 188.
Aufgaben und Grenzen der Beweisverwertungsverbote 1297

abwägung die Ablehnung eines Verwertungsverbots zur Folge haben


kann. Als Beispiel hierfür kann der Medizinalassistenten-Fall dienen, in
dem der BGH das Interesse des Beschuldigten, daß seine körperliche
Unversehrtheit nicht durch eine von einem Medizinalassistenten durch-
geführte, gewaltsame Entnahme einer Blutprobe beeinträchtigt wird,
hinter dem Interesse der Allgemeinheit an der Verfolgung von Ver-
kehrsstraftätern hat zurücktreten lassenu.
Es gibt aber auch Entscheidungen, in denen ein Verwertungsverbot
aus anderen Gründen abgelehnt wurde. Der BGH hat bei einem Ver-
stoß gegen die in §§ 136 Abs. 1 S. 2, 163 a Abs. 4 S. 2 StPO aufgestellte Be-
lehrungspflicht ein Verwertungsverbot mit dem formalen Argument ver-
neint, daß es sich bei der Bestimmung nur um eine Ordnungsvorschrift
handele32 • Auf den Schutz der Aussagefreiheit des Beschuldigten sowie
auf die Güter- und Interessenabwägung ist er nicht eingegangen. Das ist
nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil der Boden hierfür durch den
vom BGH einige Jahre zuvor entschiedenen Tagebuchfall methodisch
vorbereitet war. In einer neue ren Entscheidung hat der BGH die Ableh-
nung des Verwertungsverbots bestätigt38 • Mit der maßgeblichen Frage,
inwieweit das Recht des Beschuldigten, sich nicht selbst belasten zu müs-
sen, des Schutzes bedarf, hat er sich wiederum nicht befaßt, obwohl die
Ausführungen im Vorlagebeschluß des Oberlandesgerichts genügend An-
laß dazu gegeben hätten.
Die beiden Entscheidungen fallen in methodischer Hinsicht offensicht-
lich aus dem Argumentationsrahmen, innerhalb dessen sich die Recht-
sprechung zu den Verwertungsverboten sonst bewegt.

m. Die Aufgabe der Verwertungsverbote


im amerikanischen Strafverfahren

1. Im amerikanischen Strafverfahren sind die Verwertungsverbote


durch die Rechtsprechung, vor allem durch den Supreme Court geschaf-
fen worden. Fälle, in denen der Supreme Court Geständnisse, die durch
Drohung oder Versprechungen beeinflußt waren und die deshalb als
unglaubwürdig angesehen wurden, für unverwertbar erklärt hat, kön-
nen bis ins letzte Jahrhundert zurückverfolgt werden34 • Grundlage für
das Verwertungsverbot war zunächst das traditionelle Beweisrecht35 ,

31 BGHSt.24, 125, 130 f.


82 BGHSt.22, 170, 173 f.
33 BGHSt. 31, 395.

34 Hopt v. Utah, 110 U.S. 574 (1884); Bram v. U.S., 168 U.S. 532 (1897); Brown
v. Mississippi, 297 U.S. 278 (1936).
35 Siehe Wigmore, Evidence in Trials at Common Law, Bd.3, Revised
Edition von Chadbourn, 1970, §§ 820 d ff.

82 Festschrift für H.-H. Jescheck


1298 J oachim Herrmann

später jedoch der im 5. Amendment zur amerikanischen Bundesverfas-


sung verankerte Grundsatz, daß niemand zu einer Aussage gegen sich
selbst gezwungen werden darf, sowie die im 14. Amendment enthaltene
due process-Klausel, die mit dem Rechtsstaatsgedanken des deutschen
Rechts vergleichbar ist38 •
Im Jahre 1914 begann der Supreme Court, auch Beweismittel, die von
der Polizei bei nicht ordnungsgemäßen Durchsuchungen und Beschlag-
nahmen erlangt worden waren, von der Verwertung auszuschließen17 •
Das verfassungs rechtliche Fundament für dieses Verwertungsverbot
bildete das im 4. Amendment enthaltene Verbot willkürlicher Durch-
suchungen und Beschlagnahmen.
Schon diese knappen Bemerkungen lassen erkennen, daß die Verwer-
tungsverbote im amerikanischen Recht nicht wie im deutschen eine
materiell-rechtliche, sondern eine prozeßrechtliche Grundlage haben.
Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die Amendments zur
amerikanischen Bundesverfassung eine ganze Reihe von Bestimmungen
enthalten, die speziell auf den Schutz des Bürgers im Strafverfahren zu-
geschnitten sind.
Es gibt zwar mehrere Entscheidungen des Supreme Court, in denen
er das an unzulässige Durchsuchungen und Beschlagnahmen anknüp-
fende Verwertungsverbot mit der Schutzbedürftigkeit des right to
privacy, d. h. eines materiellen Rechts begründet hat38• Dieses mit dem
Persönlichkeitsrecht und der Privatsphäre des deutschen Rechts ver-
gleichbare right to privacy wird jedoch weitgehend nur als eine formel-
hafte Bezeichnung verwendet. Der Supreme Court hat in keiner seiner
El}!scheidungen versucht, Inhalt und Reichweite dieses Rechts näher zu
umschreiben. Es ging ihm vielmehr stets darum, mit Hilfe der Verwer-
tungsverbote die Grenzen zulässiger polizeilicher Ermittlungstätigkeit
möglichst genau abzusteckens8 • Dieser prozessuale Ansatz trat noch deut-
licher hervor, als der Supreme Court seit Ende der vierziger Jahre dazu
überging, neue Erwägungen zur Begründung der Verwertungsverbote
heranzuziehen.
Einerseits stützte er sich auf den Grundsatz der Integrität des Straf-
verfahrens40 • Dieser verbiete, zum Zweck der Verurteilung eines Rechts-
38 Siehe ebd.
37 Weeks v. U.S., 232 U.S. 383 (1914); Wolf v. Colorado, 338 U.S. 25 (1949);
Mapp v. Ohio, 367 U.S. 643 (1961).
38 Wolf v. Colorado, 338 U.S., 25, 27 ff. (1949); Elkins v. U.S., 364 U.S. 206,
213 (1960); Mapp v. Ohio, 367 U.S. 643, 655 (1961). Siehe auch schon Boyd v.
U.S., 116 U.S. 616, 630 (1886). Zur Bedeutung des right to privacy im ameri-
kanischen Recht siehe Brugger, AöR 108 (1983), 25.
38 Siehe die übersicht über die zahlreichen Entscheidungen bei Israeli
LaFave, Criminal Procedure - Constitutional Limitations, 3. Aufl. 1980,
S. 99 ff.
Aufgaben und Grenzen der Beweisverwertungsverbote 1299

brechers auf Beweismittel zurückzugreifen, die mit Hilfe von Rechts-


brüchen der Polizei erlangt worden seien; denn nichts "can destroy a
government more quickly than its failure to observe its own laws"u.
Auf der anderen Seite sah der Supreme Court im Verwertungsverbot
ein Mittel zur Disziplinierung der Polizei42 • Da andere Maßnahmen,
etwa die Einleitung eines Strafverfahrens oder die Erhebung einer
Schadensersatzklage sich als offensichtlich ungeeignet erwiesen hätten,
Polizeibeamte von rechtswidrigen Ermittlungshandlungen abzuschrek-
ken, hielt das Gericht das Verwertungsverbot für "the only effectively
available way" zur Beschränkung polizeilicher Grundrechtseingriffe'3.
Auf der Grundlage der Amendments zur amerikanischen Verfassung
sowie mit Hilfe des Disziplinierungsgedankens, der Integritätsidee und
des right to privacy entwickelte der Supreme Court während einer libe-
ralen Phase in den sechziger Jahren unter Chief Justice WaTTen zahl-
reiche neue Verwertungsverbote, die er als Mittel zu einer durchgreifen-
den Reformierung des Strafverfahrens auf Bundesebene und in den
Einzelstaaten benutzteu. Er schloß, um nur einige wichtige Entscheidun-
gen zu nennen, Geständnisse von der Verwertung aus, die in unmittel-
barem Zusammenhang mit einer nicht ordnungsgemäßen Haussuchung
oder Festnahme abgelegt worden warenu. Auch ein nach Anklageerhe-
bung abgelegtes Geständnis gegenüber einem V-Mann, der heimlich ein
Tonbandaufnahmegerät bei sich hatte, hielt das Gericht für unverwert-
bar4e • Es schied ferner die Ergebnisse von Gegenüberstellungen als Be-
weismittel aus, bei denen der Beschuldigte keine Gelegenheit hatte,
einen Verteidiger hinzuzuziehen47 • In der berühmten Miranda-Entschei-
dung entwickelte der Supreme Court umfassende Belehrungspflichten,
die von der Polizei vor der Vernehmung des Beschuldigten zu erfüllen
sind und die weit über die Belehrungspflichten des deutschen Rechts
hinausgehen48 •

40 Elkins v. U.S., 364 U.S. 206, 222 (1960); Mapp v. Ohio, 367 U.S. 643, 659
(1961). Siehe schon Justice Brandeis in einem abweichenden Votum in Olm-
stead v. U.S., 277 U.S. 438, 481 (1928).
41 Mapp v. Ohio, 367 U.S. 643, 659 (1961).
42 Wolf v. Colorado, 338 U.S. 25, 31 (1949); Elkins v. U.S., 364 U.S. 206, 217
(1960); Mapp v. Ohio, 367 U.S. 643, 656 (1961). Sorgfältig abwägend hinsicht-
lich der Disziplinierungswirkung Terry v. Ohio, 392 U.S. 1 (1968).
43 Elkins v. U.S., 364 U.S. 206, 217 (1960).
" Siehe Israel/LaFave (Anm.39), S. 1 ff., die von einer "criminal law
revolution" sprechen. Einen überblick über die Entwicklung gibt Erdmann
(Anm. 2), S. 78 ff.
45 Wong Sun v. U.S., 371 U.S. 471 (1963).

4G Massiah v. U.S., 377 U.S. 201 (1964).


47 U.S. v. Wade, 388 U.S. 218 (1967); Gilbert v. California, 388 U.S. 263 (1973).
48 384 U.S. 436 (1966).

82·
1300 J oachim Herrmann

2. In der Mitte der sechziger Jahre setzte jedoch eine neue Strömung
ein. Anlaß hierfür war zunächst nur eine rechtstechnische Frage, bald
entwickelte sich daraus jedoch ein Grundsatzproblem. Der Supreme
Court entschied 1965, daß das an unzulässige Durchsuchungen anknüp-
fende Verwertungsverbot in Verfahren vor einzelstaatlichen Gerichten
keine Fälle erfaßt, die vor Schaffung dieses Verbots im Jahr 1961 rechts-
kräftig abgeschlossen waren". In Abkehr von seiner früheren Recht-
sprechung anerkannte der Supreme Court das right to privacy in dieser
Entscheidung nicht mehr als Grundlage für ein Verwertungsverbot, da
dessen Verletzung abgeschlossen sei und durch den Ausschluß von Be-
weismitteln nicht mehr beseitigt werden könne. Auch die Integrität der
Strafjustiz lehnte das Gericht zur Begründung des Verwertungsverbots
ab, da dieser nicht gedient sei, wenn in einer unübersehbaren Zahl von
Verfahren über die Zulässigkeit weit zurückliegender Durchsuchungen
entschieden werden müsse. Damit blieb nur der Disziplinierungsge-
danke als Basis für das Verwertungsverbot bestehen. Aber auch diesen
verwarf der Supreme Court im konkreten Fall, da die Polizei nicht für
etwas zur Rechenschaft gezogen werden könne, was sie vor Schaffung
des Verwertungsverbots getan habe. Mit denselben Erwägungen lehnte
der Supreme Court die Rückwirkung von Verwertungsverboten auch in
anderen Fällen ab 50 • Schon 1966 bezeichnete er die Disziplinierung der
Polizei als "single and distinct purpose" der Verwertungsverbote 51 •
Diese auf eine Beschränkung der Verwertungsverbote hinauslaufende
Strömung verstärkte sich, als die liberale Ära des Supreme Court mit
den sechziger Jahren zu Ende ging und das Gericht unter seinem neuen
Chief Justice Burger sowie den in den folgenden Jahren von Präsident
Nixon neu ernannten Richtern eine konservauvere Linie verfolgte. Die
neue Linie zeigt sich einerseits in mehreren Entscheidungen, die die
Verwertungsverbote zwar grundsätzlich unangetastet ließen, aber deren
Reichweite einschränkten. Der Supreme Court hielt z. B. das Protokoll
einer ohne die erforderlichen Miranda-Belehrungen durchgeführten
polizeilichen Vernehmung sowie die bei einer unzulässigen Durchsu-
chung gefundenen Beweismittel in der Hauptverhandlung für verwert-
bar, wenn sie nur herangezogen werden, um eine offensichtlich unrich-
tige Aussage des Angeklagten durch Vorhalte zu erschüttern52 • Der
Disziplinierungsgedanke dürfe, so führte das Gericht aus, nicht so weit

4. Linkletter v. Walker, 381 U.S. 618 (1965).


50 Johnson v. New Jersey, 384 U.S. 719 (1966); Stovall v. Denno, 388 U.S.
293 (1967).
61 Tehan v. U.S. ex rel. Shott, 382 U.S. 406, 413 (1966).

51 Harris v. New York, 401 U.S. 222 (1971); U.S. v. Havens, 466 U.S. 620
(1980). Siehe ferner U.S. v. Calandra, 414 U.S. 338 (1974); Stone v. Powell, 428
U.S. 465 (1976).
Aufgaben und Grenzen der Beweisverwertungsverbote 1301

getrieben werden, daß dem Angeklagten ein Freibrief für Lügen ausge-
stellt werde&3.
Die neue Linie ergab sich andererseits aus der grundsätzlichen Kritik,
die verschiedene Richter des Supreme Court, allen voran Chief Justice
Burger, an den Verwertungsverboten äußerten. Ausgehend von empi-
rischen Untersuchungen, die zu dem Ergebnis gekommen waren, daß
sich eine disziplinierende Wirkung der Verwertungsverbote in der
Praxis nicht nachweisen läß~" wandten sich die Richter in ihren Urteils-
voten mehrfach gegen die nach ihrer Ansicht zu weite Ausdehnung der
Verwertungsverbote65 • Sie wiesen darauf hin, daß die Gesellschaft einen
zu hohen Preis bezahle, wenn offensichtlich Schuldige der Bestrafung
entgingen, weil man versuche, die Polizei mit Hilfe von Verwertungs-
verboten zur Ordnung zu rufen. Als Abhilfe schlugen die Richter vor,
Verwertungsverbote nur dann eingreifen zu lassen, wenn sich die Poli-
zei eine schwere Rechtsverletzung habe zuschulden kommen lassen oder
wenn sie nicht in "good faith" tätig geworden seis6 •
Diese Vorschläge, die auch von anderer Seite unterstützt wurden57 ,
sind nicht ohne Wirkung auf die Praxis geblieben. Colorado und Arizona
haben Gesetze erlassen, die Beweismittel trotz rechtswidrigen Vorge-
hens des Polizeibeamten für verwertbar erklären, wenn diesem lediglich
eine "technical violation" rechtlicher Bestimmungen unterlaufen ist
oder wenn er in "good faith" gehandelt hat58 • Ein unterhalb des Su-
preme Court tätiges Rechtsmittelgericht der amerikanischen Bundes-

58 Harris v. New York, 401 U.S. 222, 226 (1971).


SI Oaks, Studying the Exc1usionary Rule in Search and Seizure, 37 U. Chi.
L. Rev. 665 (1970); Canon, Is the Exc1usionary Rule in Failing Health? 62 Ky.
L. J. 681 (1973/74); SchZesinger, Exclusionary Injustice: The Problem of 11-
legally Obtained Evidence, 1977.
55 Chief Justice Burger in: Bivens v. Six Unknown Named Agents, 403
U.S. 388, 411 (1971); Justice PoweZZ und Justice Rehnquist in: Brown v. Illi-
nois, 422 U.S. 590, 606 (1975); Justice Rehnquist in: U.S. v. Peltier, 422 U.S.
531, 532 (1975); Chief Justice Burger und Justice White in: Stone v. Powell,
428 U.S. 465, 496 und 536 (1975); Chief Justice Burger in: Brewer v. Williams,
430 U.S. 387, 415 (1977); Justice White in: Illinois v. Gates, 33 Criminal Law
Reporter 3109, 3118 (1983).
51 Siehe ebd.
&7 The Attorney General's Task Force on Violent Crime, Final Report,
1981, S. 55; Wright, Must the Criminal Go Free if the Constable Blunders?
50 Texas L. Rev. 736 (1972); BalZ, Good Faith and the Fourth Amendment:
The "Reasonable" Exception to the Exclusionary Rule, 69 J. Crim. L. & Cri-
minology 635 (1978); WiZkey, The Exc1usionary Rule: Why Suppress Valid
Evidence? 62 Judicature 214 (1978/79). - Kritisch dagegen Kamisar, Does
(Did) (Should) the Exc1usionary Rule Rest on a "Principled Basis" Rather
Than an "Empirical Proposition"?, 16 Creighton L. Rev. 565 (1982/83); LaFave,
The Fourth Amendment in an Imperfect World: On Drawing "Bright Lines"
and "Good Faith", 43 U. Pitt. L. Rev. 307 (1982), jeweils m. w. N.
58 Colorado Revised Statutes 16-3-308 (1973); Arizona Revised Statutes
§ 13-3925 (1982).
1302 J oachim Herrmann

justiz hat sich sogar von den bindenden Präjudizien des höchsten Ge-
richts gelöst und im Hinblick auf nicht ordnungsgemäße Durchsuchungen
die good faith-Ausnahme eingeführt59 •
Im Juli 1984 ist auch der Supreme Court selbst auf die neue Linie
eingeschwenkt, denn er hat eine good faith-Ausnahme für die Fälle an-
erkannt, in denen sich Polizeibeamte darauf verlassen hatten, daß eine
richterliche Durchsuchungsanordnung ordnungsgemäß ergangen war80 •
Dies ist vermutlich nur ein erster Schritt, dem weitere folgen werden.
Wird der gute Glaube der Polizei bei richterlichen Durchsuchungsanord-
nungen berücksichtigt, dann spricht einiges dafür, ebenso zu verfahren,
wenn es um andere polizeiliche Zwangsmaßnahmen und Grundrechts-
eingriffe geht. Damit aber steht die grundsätzliche Bedeutung der Ver-
wertungsverbote auf dem Spiel.

IV. Das unterschiedliche Rechtsschutzverständnis


in den beiden Rechtsordnungen und dessen Konsequenzen

1. Der überblick hat gezeigt, daß die Verwertungsverbote im ameri-


kanischen und deutschen Recht unterschiedliche Aufgaben zu erfüllen
haben. Dienen sie hier dem Schutz materiellen Rechts, so werden sie
dort als Mittel zur Abwehr von Verfahrensrechtsverletzungen durch die
Polizei eingesetzt. Natürlich werden durch die Verwertungsverbote auch
in den Vereinigten Staaten materielle Rechte geschützt - dies ergibt
sich nicht zuletzt aus den Hinweisen auf das right to privacy - aber
dieser Schutz ist nicht als Grund, sondern lediglich als eine Folge der
y~_r~ertungsverbote anzusehen. Umgekehrt kann im deutschen Recht
die Beschränkung der polizeilichen Ermittlungstätigkeit nicht als Auf-
gabe, sondern nur als eine Konsequenz der Verwertungsverbote be-
zeichnet werden81 •
Die unterschiedliche Verankerung der Verwertungsverbote im deut-
schen und amerikanischen Recht kann als typischer Ausdruck des in den
beiden Rechtsordnungen vorherrschenden Rechtsschutzverständnisses
angesehen werden. Wird der Rechtsschutz bei uns weitgehend auf eine
materiell-rechtliche Basis gestellt, so herrscht in den Vereinigten Staa-
ten eine prozessuale Betrachtungsweise vor. Grundlage für den Rechts-

fit U.8. v. Williams, 622 F. 2d 830 (5th Cir. 1980); U.8. v. Mahoney, 712 F.
2d 956 (5th Cir. 1983).
80 U.8. v. Leon, 35 Criminal Law Reporter 3273 (1984); Massachusetts v.
8heppard, ebd. 8. 3296 (1984). - Die good faith-Ausnahme ist im übrigen auch
im deutschen Recht nicht ganz unbekannt. Im Medizinalassistenten-Fall,
BGH8t.24, 125, 131, hat der BGH angedeutet, daß ein Verwertungsverbot in
Frage kommen könne, wenn die Polizei "bewußt durch Mißachtung staat-
licher Zwangsbefugnisse" gehandelt habe.
81 .Ähnlich Dencker (Anm. 3),8.55, und Rogall (Anm. 3),8.16.
Aufgaben und Grenzen der Beweisverwertungsverbote 1303

schutz ist dort die Tatsache, daß staatliches Handeln genau festgelegten
Formerfordernissen folgen muß.
Von diesem unterschiedlichen Rechtsschutzverständnis wird das ge-
samte Recht der Verwertungsverbote in den beiden Ländern durch-
drungen. Wie sich das auswirkt, soll anhand einiger Fragenkreise gezeigt
werden.

2. Das unterschiedliche Rechtsschutzverständnis führt dazu, daß die


Fälle, in denen ein Verwertungsverbot eingreift, im deutschen und
amerikanischen Recht keineswegs identisch sind. Das hat schon der
überblick über die in den beiden Rechtsordnungen anerkannten Ver-
wertungsverbote gezeigt. Es tritt in den folgenden Fallgruppen noch
deutlicher hervor.
a) Die erste Fallgruppe betrifft Geständnisse. Amerikanische Gerichte
haben Geständnisse, die die Polizei dem Beschuldigten mit Hilfe von
vorsätzlicher Täuschung und Lügen entlockt hat, allgemein für verwert-
bar erklärt. Beispiele hierfür sind Geständnisse, die der Beschuldigte
abgelegt hat, nachdem die ,Polizei der Wahrheit zuwider behauptet
hatte, daß seine Fingerabdrücke am Tatort gefunden worden seien oder
daß das Opfer den Mordanschlag überlebt habe und den Täter identifi-
zieren könne8!.
Unverwertbar sind dagegen Geständnisse, wenn der Beschuldigte
nicht belehrt wurde, wie es in der Miranda-Entscheidung vorgesehen
ist. Sind diese Belehrungen jedoch erteilt worden, dann hat die Polizei
sozusagen freie Hand, mit Täuschung und Lüge auf ein Geständnis hin-
zuwirken.
Aus deutscher Sicht erscheint die amerikanische Lösung widersprüch-
lich. Wenn die Miranda-Belehrungen zum Schutz des Beschuldigten not-
wendig sind, dann sollte man meinen, daß vorsätzliche Täuschungen
erst recht unzulässig sein müssen. Das amerikanische Rechtsschutzge-
bäude ist jedoch anders aufgebaut. Die Belehrungspflichten werden
lediglich als Schranke für die Tätigkeit der Polizei angesehen. Wegen
dieser prozessualen Betrachtungsweise kommt es nicht dazu, daß eine
Brücke zur Täuschungsproblematik geschlagen wird.
Eine ganz andere Frage ist es, warum amerikanische Gerichte nicht
auch für die Täuschungsfälle ein Verwertungsverbot geschaffen haben.
Die Antwort kann sich hier nur auf Vermutungen stützen63 • Man kann

I: Oregon v. Mathiason, 429 U.S. 492 (1977); People v. Groleau, 358 N. E.


2d 1192 (1976). Weitere Fälle bei White, Police Trickery in Inducing Con-
fessions, 127 U. Pa. L. Rev. 581 (1979). Ratschläge für Täuschung und auch
Lüge geben Inbau/Reid (Anm.4), S. 24 fi.
83 Kritisch gegenüber der amerikanischen Praxis White (Anm.62), S. 628 f.i
Kamisar (Anm. 4), S. 87 und 96.
1304 J oachim Herrmann

etwa darauf hinweisen, daß der Beschuldigte in dem von liberalen und
individualistischen Ideen geprägten amerikanischen Strafprozeß eine
freiere und selbständigere, zugleich aber weniger stark geschützte Stel-
lung einnimmt als im deutschen84 •

b) In der zweiten Fallgruppe geht es um Beweismittel, die Privatper-


sonen auf rechtswidrige Weise erlangt haben. Nach amerikanischem
Recht sind diese Beweismittel grundsätzlich verwertbar, da die Verwer-
tungsverbote, wie der Supreme Court schon im Jahr 1921 ausgeführt
hat, nicht als "a limitation upon other than governmental agencies" an-
zusehen sind85 • Deshalb wurden z. B. Beweismittel, die Privatpersonen
bei rechtswidrigen Durchsuchungen gefunden hatten, und belastende
Angaben, die Ladendiebe ohne vorausgegangene Miranda-Belehrungen
gegenüber Hausdetektiven gemacht hatten, von amerikanischen Gerich-
ten für verwertbar gehaltenes. Ganz auf der Linie des prozessualen
Rechtsschutzverständnisses liegt es auch, wenn Privatpersonen, die im
Auftrag oder in Zusammenarbeit mit der Polizei tätig werden, densel-
ben Beschränkungen unterworfen werden wie diese 87•
Im Zivilprozeß folgen die amerikanischen Gerichte denselben Grund-
sätzen. In Scheidungsverfahren wurden sogar Beweismittel zugelassen,
die sich der verlassene Ehepartner beim anderen Ehepartner mit rigo-
rosen Methoden, z. B. durch nächtlichen Einbruch in dessen neue Woh-
nung und Fotografieren der Räumlichkeiten, beschafft hatte, um einen
Ehebruch nachzuweisen68 • Das right to privacy wurde von den Gerich-
ten in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt6t •
Deutsche Gerichte haben dagegen, nach deutschem Rechtsschutz-
vetständnis konsequent, Verwertungsverbote zur Verteidigung von
Persänlichkeitsrecht und Privatsphäre auch gegenüber Angriffen von

U Siehe Herrmann, Rev. Int. Dr. Pen 1982, 841, 846 ff.
85 Burdeau v. McDowell, 256 U.S. 465, 475 (1921).
66 Barnes v. U.S., 373 F. 2d 517 (5th Cir. 1967); U.S. V. Miller, 32 Criminal
Law Reporter 2067 (9th Cir. 1982); City of Grand Rapids V. Impens, 32 Cri-
minal Law Reporter 2308 (Mich. 1982). Weitere Fälle bei Israel/LaFave (Anm.
39), S. 243, und McCormick's Handbook on the Law of Evidence, 2. Auf!. hrsg.
V. Cleary, 1972, S. 371 ff.
87 U.S. V. Henry, 447 U.S. 264 (1980); Stapleton V. Superior Court, 447 P. 2d
967 (1968).
68 Sackler V. Sackler, 203 N. E. 2d 481 (N. Y. 1964); DeI Presto v. DeI Presto,
235 A.2d 240 (N. J. 1967). Weitere Fälle bei Baade, Illegally Obtained Evi-
dence in Criminal and Civil Cases: A Comparative Study of a Classic Mis-
match 11, 52 Texas L. Rev. 621, 686 ff. (1974).
8D Um die Privatsphäre besser gegen die modernen Methoden des Ab-
hörens von Telefongesprächen zu schützen, sind in den Vereinigten Staaten
Gesetze ergangen, die insoweit auch die von Privatpersonen beschafften Be-
weismittel von der Verwertung ausschließen. Siehe Israel/LaFave (Anm.39),
S. 187 ff.; Baade (Anm. 68), S. 653 ff.
Aufgaben und Grenzen der Beweisverwertungsverbote 1305

Privatpersonen eingesetzt. In den Tonbandfällen und im Tagebuch-


fall ging es bekanntlich jeweils um Beweismittel, die Privatpersonen
beschafft hatten. Der Ausschluß des Beweismittels wurde z. T. zwar da-
mit begründet, daß dessen Verwertung innerhalb des Strafverfahrens
die Rechte des Beschuldigten erneut verletzen würde70 , diese Akzent-
verschiebung ändert jedoch nichts daran, daß das Verwertungsverbot
hier auch die von privater Seite beschafften Beweismittel erfaßt.
In anderen Fällen haben die deutschen Strafgerichte, soweit ersicht-
lich, bislang keine durch Privatpersonen erlangten Beweismittel für
unverwertbar erklärt. Das OLG Oldenburg hat es in einer frühen Ent-
scheidung aus dem Jahr 1952 abgelehnt, die nach massiven Bedrohun-
gen durch Privatpersonen zustandegekommene Aussage eines sechsein-
halbjährigen Zeugen von der Verwertung auszuschließen71 • Einen
Verstoß gegen §§ 136 a, 69 Abs. 3 StPO schied das Gericht, der herr-
schenden Meinung folgend, aus, da diese Bestimmungen sich nur an die
Rechtspflegeorgane wenden. Ob die Zeugenaussage aus einem anderen
Grund unverwertbar war, hat das Gericht nicht geprüft. Das mag da-
mals nicht nahegelegen haben, erscheint aber aus heutiger Sicht wegen
der Verletzung des Persönlichkeitsrechts kaum noch gerechtfertigt. Das
Vorgehen des OLG Oldenburg führt zu einer Beschränkung der Ver-
wertungsverbote, die gewisse Ähnlichkeiten mit der amerikanischen
Betrachtungsweise aufweist. Das deutsche Schrifttum steht jedoch im
Einklang mit dem herrschenden Rechtsschutzverständnis, wenn es for-
dert, bei extremen Menschenrechtsverletzungen durch Privatpersonen
ein Verwertungsverbot eingreifen zu lassen7!.
Die deutschen Zivil- und Arbeitsgerichte folgen der im Strafverfahren
vorgezeichneten Linie. Sie haben in mehreren Entscheidungen den In-
halt heimlich aufgenommener oder mitgehörter Telefongespräche für
unverwertbar erklärt, wenn der Gesprächsteilnehmer von der Vertrau-
lichkeit der Unterredung ausgehen konnte 73 • In einem an amerikanische
Verhältnisse erinnernden Fall, in dem ein vom Ehemann zur Vorberei-
tung der Scheidungsklage heimlich in die Ehewohnung eingeschleuster
Spitzel die Ehefrau durch zwei in eine Wand gebohrte Löcher beobach-
tet hatte, hat der BGH ebenfalls unter Hinweis auf den Grundrechts-
schutz ein Verwertungsverbot bejaht74 •

70 BGHSt. 14, 358, 363.


71 NJW 1953, 1237.
72 Kleinknecht, NJW 1966, 1537, 1543; Pelchen in Karlsruher Kommental,
1982, vor § 48 Rdn. 52 m. w. N.
71 BGH NJW 1982, 277 und 1397; BAG NJW 1983, 1691. Siehe ferner
Baumgärtel, Die Verwertbarkeit rechtswidrig erlangter Beweismittel im
Zivilprozeß, in: Festschrift für Klug, 1983, S. 477 m. w. N.
74 NJW 1970, 1848.
1306 J oachim Herrmann

3. Verwertungsverbote werden VOn amerikanischen Gerichten im all-


gemeinen nur anerkannt, wenn durch die polizeilichen Ermittlungs-
handlungen Rechte und Interessen des Beschuldigten selbst verletzt
worden sind. Eingriffe in Rechte und Interessen Dritter genügen ge-
wöhnlich nicht für die Begründung eines Verwertungsverbots75 •
Dieses Abstellen auf die Sphäre des Beschuldigten, das in der Praxis
zu einer ganz erheblichen Einschränkung der Verwertungsverbote
führt 76 , scheint für deren materiell-rechtliche Fundierung, gewisserma-
ßen für eine amerikanische Parallele zur deutschen Rechtskreistheorie,
zu sprechen. Das prozessuale Rechtsschutzverständnis tritt jedoch hervor,
sobald man nach dem Grund für die Beschränkung der Verwertungsver-
bote fragt. Der Supreme Court hat nämlich ausgeführt, daß es für die
Disziplinierung der Polizei genüge, wenn die vom Beschuldigten selbst
erlittenen Rechtsverletzungen durch den Ausschluß der dabei erlangten
Beweismittel sanktioniert werden. Eine Ausdehnung der Verwertungs-
verbote auf weitere Fälle würde die Strafverfolgung zu stark behindern.
Dritte könnten sich abgesehen davon selbst gegen unzulässige Eingriffe
in ihre Rechte verteidigen77 •
Die für das amerikanische Recht typische prozessuale Betrachtungs-
weise zeigt sich im übrigen nicht nur im Rechtsschutzverständnis, son-
dern auch in der prozeßrechtlichen Ausgestaltung der Verwertungsver-
bote. Diese werden VOn den Gerichten nicht wie bei uns VOn Amts
wegen, sondern nur auf Antrag berücksichtigt78 • Die Rechtsverletzung,
die der Beschuldigte erlitten hat, wird schon im Rahmen seiner prozes-
sualen Antragsberechtigung geprüft. Der Beschuldigte muß "standing"
_~a_~en, d. h. ein Rechtsschutzinteresse geltend machen können, wenn er
sich auf ein Verwertungsverbot berufen will79 • Im Hinblick darauf kann
man sagen, daß die amerikanischen Gerichte einer prozessualen Rechts-
kreistheorie folgen.

75 Jones v. U.S., 362 U.S. 257, 261 (1960); Aldermann v. U.S., 394 U.S. 165,
171 ff. (1969). Siehe ferner Kuhns, The Concept of Personal Aggrievement in
Fourth Amendment Standing Cases, 65 lewa L. Rev. 493 (1980); McCormick
(Anm. 66), S. 418 ff.
78 Beispiele hierfür sind die Entscheidungen Rakas v. Illinois, 439 U.S. 128
(1978); U.S. v. Salvucci, 448 U.S. 83 (1980); Rawlings v. Kentucky, 448 U.S. 98
(1980).
77 Alderman v. U.S., 394 U.S. 165, 174 f. (1969); U.S. v. Payner, 447 U.S. 727,
734 (1980). - Auf derselben Argumentationsebene bewegt sich die Entschei-
dung People v. Martin, 290 P.2d 855, 857 (1955), die abweichend vom Supreme
Court Eingriffe in die Rechte Dritter für den Ausschluß von Beweismitteln
genügen läßt, da Polizeibeamte sonst zur Umgehung der durch die Verwer-
tungsverbote aufgerichteten Schranken veranIaßt würden.
78 Der Antrag muß zur Entlastung der Hauptverhandlung im allgemeinen
schon während des Vorverfahrens gestellt werden. Siehe z. B. Federal Rules
of Criminal Procedure, Rule 12 Abs. (b) und (f).
79 Siehe Israel/LaFave (Anm. 39), S. 310 ff.
Aufgaben und Grenzen der Beweisverwertungsverbote 1307

Für das deutsche Recht reicht dagegen wegen der materiell-rechtli-


chen Betrachtungsweise die Rechtsverletzung selbst zur Begründung
des Verwertungsverbots aus. In aller Regel werden auch bei uns Be-
weismittel nur dann ausgeschlossen, wenn ein Recht des Beschuldigten
beeinträchtigt wurde. Aus §§ 136 a, 69 Abs. 3 StPO ergibt sich jedoch,
daß auch die Verletzung von Rechten Dritter Anlaß für ein Verwer-
tungsverbot sein kann. Das ist nur folgerichtig, wenn der Schutz mate-
rieller Rechte als Aufgabe der Verwertungsverbote angesehen wird.

4. Das unterschiedliche Rechtsschutzverständnis wird schließlich auch


bestätigt, wenn man nach der Fernwirkung der Verwertungsverbote
fragt. Amerikanische Gerichte haben in zahlreichen Entscheidungen
Verwertungsverbote, die sich aus unzulässigen Festnahmen, Durchsu-
chungen, Abhörmaßnahmen, Gegenüberstellungen und Vernehmungen
ergeben, auf die "fruits of the poisonous tree" erstreckt80 • Die Fernwir-
kung wird - aus amerikanischer Sicht konsequent - als Mittel zur
Disziplinierung der Polizei angesehen, denn eine Beschränkung der Ver-
wertungsverbote auf unmittelbar erlangte Beweismittel würde die
Polizei zu Umgehungshandlungen einladen, die "inconsistent with
ethical standards and destructive of personalliberty" wären81 •
Eine Fernwirkung wurde von den amerikanischen Gerichten jedoch
im allgemeinen ausgeschlossen, wenn die Polizei auf unzulässige Weise
gewonnene "Früchte" später bei ordnungsgemäßem Vorgehen erneut
erlangt hatte, wenn sie diese im Rahmen der üblichen Ermittlungen
mit Sicherheit auf rechtmäßige Weise hätte beschaffen können oder
wenn die "Früchte" so lose mit der rechtswidrigen ErmittIungshandlung
verknüpft waren, daß deren Makel nicht auf sie abfärbte 82 • Die Gerichte
haben den Ausschluß der Fernwirkung in diesen drei Fallgruppen wie-
derum auf prozessuale Erwägungen gestützt. Sie haben hervorgehoben,
daß es einer Disziplinierung der Polizei nicht bedürfe, weil diese keinen
oder keinen nennenswerten Vorteil aus dem Rechtsbruch gezogen habe,
daß die durch eine unbegrenzte Fernwirkung entstehenden Einbußen
für die Strafverfolgung zu groß wären und daß die Integrität der Ge-
richte durch die Benutzung der mit dem rechtswidrigen Akt nur ent-
fernt zusammenhängenden Beweismittel nicht beeinträchtigt werde 83•

80 Der Ausdruck rührt von der Entscheidung Nardone v. U.S., 308 U.S.
338, 341 (1939) her. Einen Überblick über die Rechtsprechung geben Israeli
LaFave (Anm.39), S. 284 ff., und McCormick (Anm.66), S. 344 ff. und 411 ff.
81 Nardone v. U.S., 308 U.S. 338, 340 (1939).
82 Siehe Israel!LaFave (Anm.39), S. 286 ff.; McCormick (Anm.66), S. 413 ff.
- Die Beschränkung des Verwertungsverbots auf "Früchte", die bei recht-
mäßigem Vorgehen nicht hätten beschafft werden können, erinnert an einen
ähnlichen Vorschlag von GTÜnwald, JZ 1966, 489, 495 f., der sich allerdings
auf die unmittelbar erlangten Beweismittel bezieht.
1308 J oachim Herrmann

Im deutschen Recht ist die Frage der Fernwirkung umstritten. Von


der Lehre wird sie weitgehend abgelehnt 84 , die Rechtsprechung hat sich
lange Zeit kaum damit befaßt85 • Erst seit Ende der siebziger Jahre
haben das OLG Köln und der BGH im Zusammenhang mit der Über-
wachung des Fernmeldeverkehrs Fernwirkungen von Verwertungsver-
boten anerkannt 86 • Die Begründung, die der BGH im Fall Traube für die
Fernwirkung gegeben hat, liegt ganz auf der Linie des deutschen Rechts-
schutzverständnisses, denn das Gericht stellte darauf ab, daß es für den
Grundrechtsschutz des von einer Telefonüberwachung Betroffenen kei-
nen wesentlichen Unterschied mache, ob er aufgrund der unmittelbar
oder nur der mittelbar erlangten Beweismittel verfolgt werde87 •
Der BGH hat auch schon erste Schritte zur Einschränkung der Fern-
wirkung unternommen. Im Hinblick auf § 100 a StPO hat er festgestellt,
daß sich das Verwertungsverbot nicht auf solche "Früchte" erstrecke,
die "nicht unmittelbar" aufgrund der unverwertbaren Telefongespräche
erlangt worden seien oder die die Polizei im Laufe der weiteren Ermitt-
lungen wahrscheinlich ohnehin gefunden hätte68 • Damit hat der BGH
interessanterweise ähnliche Kriterien zu entwickeln begonnen, wie sie
von den amerikanischen Gerichten zur Beschränkung der Fernwirkung
verwendet werden. Sieht man jedoch von diesen Anfängen ab, so harrt
das Problem der Fernwirkung und ihrer Begrenzung im deutschen
Recht noch der Klärung.

V. Schlußbemerkung

___ !Jie im deutschen und amerikanischen Recht festgestellte unterschied-


liche Ausrichtung des Rechtsschutzes ist nicht auf die Verwertungsver-
bote beschränkt. Sie kann vielmehr als Ausdruck des allgemeinen
Rechtsverständnisses in den beiden Ländern angesehen werden.
Im Common Law wird dem Schutz des Bürgers durch die Gerichte
und durch ein bestimmten Mindestanforderungen genügendes Ver-
fahren seit langem entscheidende Bedeutung beigemessen. Schon die
Magna Charta von 1215 sicherte in ihrer wichtigsten Bestimmung einen

83 Harrison v. U.S., 392 U.S. 219, 224 (1968); U.S. v. Ceccolini, 435 U.S. 268,
279 f. (1978); Justice Powell in einem Sondervotum zu Brown v. Illinois, 422
U.S. 590, 609 (1975); People v. Fitzpatrick, 300 N. E. 2 d 139, 142 (N. Y. 1973).
84 Siehe Rogall (Anm.3), S. 38 ff. m. w. N. Für eine Fernwirkung jedoch
Roxin (Anm. 19), S. 136 m. w. N.
85 Als Ausnahme siehe OLG Stuttgart, NJW 1973, 1941.
86 OLG Köln, NJW 1979, 1216; BGHSt. 29, 244; 32, 68.
87 BGHSt. 29, 244, 251.
88 BGHSt.32, 68, 71. Ähnlich schon OLG Köln, NJW 1979, 1216, 1217, das
aber allein von der Kausalität ausgegangen ist.
Aufgaben und Grenzen der Beweisverwertungsverbote 1309

Anspruch auf ein ordnungsgemäßes Verfahren89, der noch heute in den


Vereinigten Staaten in der due process-Klausel der Verfassung fortbe-
steht90 • Die englische Bill of Rights von 1688 und die 1791 in Kraft ge-
tretenen Amendments zur amerikanischen Verfassung enthalten aus
deutscher Sicht auffallend viele verfahrensrechtliche Bestimmungen.
Unmittelbarer Anlaß hierfür waren Mißbräuche, die die englische
Krone sich im Mutterland und in den Kolonien hatte zuschulden kom-
men lassen. In der prozessualen Ausgestaltung des Rechtsschutzes
kommt jedoch die für das Common Law typische Auffassung zum Aus-
druck, daß die Freiheit des Bürgers durch die Justiz und durch ein
ordnungsgemäßes Verfahren garantiert wirdDl •
In den Vereinigten Staaten üben die Gerichte heute eine umfassende
Kontrolle über die Exekutive und die Legislative ausD2 • Die überwa-
chung der Polizei mit Hilfe von Verwertungsverboten, so kann man
sagen, stellt deshalb nichts anderes als eine besondere Ausformung des
richterlichen Prüfungsrechts darD3 •
Im deutschen Recht wird dagegen der Schutz des Bürgers in erster
Linie auf das materielle Recht gestützt. Das entspricht, wie hier nicht
weiter ausgeführt werden kann, überliefertem kontinental-europäi-
schem Rechtsdenken, es trat im Konstitutionalismus des 19. Jahrhun-
derts hervor und es zeigt sich nicht zuletzt in der Ausgestaltung der
Grundrechte des Grundgesetzes. Die materiell-rechtliche Betrachtungs-
weise hat sogar dazu geführt, daß das Bundesverfassungsgericht aus
materiellen Grundrechten einen Anspruch auf effektiven prozessualen
Rechtsschutz abgeleitet hatD4 • Auf der Basis materieller Grundrechte
wurden zahlreiche verfahrensrechtliche Sicherungen entwickelt.
In den Vereinigten Staaten ist die Entwicklung interessanterweise in
umgekehrter Richtung verlaufen. Der Supreme Court hat die due
process-Klausel, die, wie gesagt, zur prozessualen Sicherung des Bürgers

89 HoZdsworth, A History of English Law, Bd.2, 1971, S. 211 ff.; Loewen-


stein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, Bd. 1,1967, S. 5 f.
90 Berger, Government by Judiciary, 1977, S. 195 ff.; FraenkeZ, Das Ameri-
kanische Regierungssystem, 1962, S. 173.
Dl Ganz in diesem SiIme hat Justice Frankfurter im Fall McNabb v. U.S.,
318 U.S. 332, 347 (1943), festgestellt: "The history of liberty has largely been
the history of observance of procedural safeguards."
92 Siehe Choper, Judicial Review and the National Political Process, 1980;
Berger (Anm.90); Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der
Vereinigten Staaten, 1959, S. 418 ff.
93 SchrocklWeZsh, Up from Calandra: The Exclusionary Rule as a Con-
stitutional Requirement, 59 Minn. L. Rev. 251, 325 (1974); Kamisar (Anm.57),
S. 590 ff.
9'\ Siehe z. B. BVerfGE 53, 30 m. w. N. Siehe ferner Bethge, NJW 1982, 1
sowie die übersicht über die Entscheidungen des BVerfG bei Schumann, Bun-
desverfassungsgericht, Grundgesetz und Zivilprozeß, 1983, S. 116 ff.
1310 J oachim Herrmann

geschaffen worden war, seit Beginn dieses Jahrhunderts so interpre-


tiert, daß sie auch "substantive due process" erfaßt. Damit hat das Ge-
richt die due process-Klausel zu einem materiellen Beurteilungsmaß-
stab gemacht, mit Hilfe dessen es Gesetze inhaltlich überprüfen kannvs.
In diesen entgegengesetzten Marschrichtungen des Bundesverfas-
sungsgerichts und des Supreme Court spiegelt sich erneut das im Zu-
sammenhang mit den Verwertungsverboten festgestellte unterschied-
liche Rechtsschutzverständnis des deutschen und amerikanischen Rechts.

86 Siehe Berger (Anm. 90), S. 249 ff.; Loewenstein (Anm. 92), S. 512 ff.
JüRGEN MEYER

Zur V-Mann-Problematik
aus rechtsvergleichender Sicht

I.
In seinem rechtsv,ergleichenden Generalgutachten für den 46. Deut-
schen Juristentag über "Beweisverbote im Strafprozeß" hat sich Jescheck
mit einigen bereits damals hochaktuellen und umstrittenen Fragen der
Verwertung des Wissens von V-Leuten im Strafverfahren befaßt1• Die
Ausführungen bezogen sich vor allem auf die Rechtslage in FTankTeich
und den USA2 und mündeten in die den Referenten des Juristentages
vorgelegte Frage, "ob bei allen wichtigeren Strafsachen die Alternative
der Preisgabe des V-Mannes oder der Nichtverwertung der Aussage des
Polizeibeamten angenommen werden solls." Aufgrund des Generalgut-
achtens von J escheck und eines Gutachtens von PeteTs' sowie des Refe-
rats von Klug S kam der Juristentag zu seiner bekannten Empfehlung,
die Ergebnisse der Ermittlungen eines V-Mannes sollten nur durch des-
sen eigene, mündliche Zeugenaussage vor dem erkennenden Gericht in
das Hauptverfahren eingeführt werden könnens. Inwieweit die rechts-
vergleichenden Hinweise von Jescheck das Abstimmungsergebnis be-
einflußt haben, läßt sich nachträglich schwer beurteilen, weil über die
betreffende Empfehlung ohne vorherige Diskussion abgestimmt worden
ist7. Es ist gleichwohl auch aus deutscher Sicht von großem Reiz, einmal

1 Jescheck, Rechtsvergleichendes Generalgutachten für den 46. Deutschen


Juristentag, in: Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Essen 1966,
Band 1, Teil 3 B, S. 1 ff., 44 f. (zit.: Jescheck, Gutachten).
! Für die USA konnte sich Jescheck auf das von MuelZer vorgelegte Gut-
achten über "Beweisverbote im amerikanischen Strafprozeß" stützen, vgl.
(Anm. 1), Teil 3 A, S. 33 ff.
3 Jescheck, Gutachten, S.45; vgl. auch S.54, Frage 9 (mit der ergänzenden
Frage, ob im Falle der Weigerung, die Gewährsleute preiszugeben, eine Pro-
zeßstrafe oder Verzicht auf die Aussage des Ermittlungsbeamten zu empfeh-
len ist).
4 Peters, Bewelsverbote im deutschen Strafverfahren (Anm. 1), Teil 3 A,
S. 91 ff., 108 f., 138 f.
5 Klug, Verhandlungen des 46. Deutschen Juristentages, Essen 1966, Band 2
(Sitzungsberichte), Teil F, S. 30 ff., 57. f.
8 Vgl. (Anm. 5), S. 182 f.
7 Vgl. (Anm.5), S. 183; die Entscheidung, überhaupt abzustimmen, obwohl
keine Diskussion stattgefunden hatte, fiel mit der knappen Mehrheit von 32
1312 Jürgen Meyer

der Frage nachzugehen, wie die Entwicklung im Ausland in den nahezu


20 Jahren seit dem 46. Deutschen Juristentag weitergegangen ist. Mög-
licherweise lassen sich so Lösungsideen oder -modelle für ähnliche oder
identische Probleme des deutschen Strafverfahrens finden. Ein Bedarf
in dieser Hinsicht besteht auch nach dem bekannten Beschluß des Großen
Senats für Strafsachen beim BGH vom 17.10.19838 • Denn es kann nicht
zweifelhaft sein, daß die Neuorientierung der höchstrichterlichen Recht-
sprechung noch keinen Abschluß gefunden und sich bisher nur einem
kleinen Ausschnitt der komplexen V-Mann-Materie zugewandt hat9 •
Dadurch, daß die folgende Untersuchung neben den USA und Frank-
reich auch auf England, Italien, Österreich und die Schweiz erstreckt
wird, soll nicht zuletzt auch die internationale Bedeutung der V-Mann-
Problematik deutlich werden10 • Es gibt wohl keine nationale Strafrechts-
ordnung, die auf den mehr oder weniger großen Einsatz von V-Leuten
bei strafrechtlichen Ermittlungen verzichtet. Im Folgenden wird von
einem weiten V-Mann-Begriff ausgegangen, der alle Zeugen umfaßt,
die mit den Ermittlungsbehörden zusammenarbeiten und denen für ihre
Informationen ausdrücklich oder stillschweigend Vertraulichkeit zuge-
sichert istl l • Das V steht also für Vertraulichkeit aufgrund der Vertrau-
lichkeitszusage der Ermittlungsbehörde. V-Mann kann sowohl ein pri-
vater Informant oder Vigilant als auch ein verdeckt eingesetzter Polizei-
beamter (Untergrundfahnder der Polizei, "und er cover agent") sein.

11.
Im Unterschied zu der auf die Beweisverbotsproblematik zugeschnit-
t~!!enFragestellung des 46. Deutschen Juristentages soll die folgende
Untersuchung stärker ausgefächert werden und entsprechend den
Schwerpunkten der aktuellen deutschen Diskussion die folgenden Fra-
gen behandeln:
1. Gibt es (spezielle) gesetzliche Regelungen für den verdeckten Ein-
satz von Polizeibeamten (Untergrundfahndern)?
2. Wie wird das Wissen von V-Leuten im Strafverfahren verwertet?
3. Wie wird die agent provocateur-Problematik gelöst?

gegen 30 Stimmen; die Empfehlung selbst wurde anschließend mit einer Mehr-
heit von 50 Stimmen bei 10 Gegenstimmen und 15 Enthaltungen verabschiedet.
8 Vgl. BGHSt. 32, 115 = NJW 1984,247 ff.
t Dazu näher unten III.
10 Für wertvolle Hinweise danke ich auch an dieser Stelle den zuständigen
Länderreferenten des Freiburger Max-Planck-Instituts für ausländisches und
internationales Strafrecht: Frau Bosch (Italien), Herrn Dr. Dearing (Öster-
reich), Herrn Heine (Schweiz), Frau Dr. Huber (England), Frau Spaniol (Frank-
reich) und Herrn Dr. Weigend (USA).
11 Vgl. näher zum V-Mann-Begriff J. Meyer, ZStW 95 (1983), S. 835 f. m. w.N.
Zur V-Mann-Problematik aus rechtsvergleichender Sicht 1313

In einem Schluß abschnitt (lU.) wird aus rechtsvergleichender Sicht


der aktuelle Stand der deutschen V -Mann-Diskussion und -Judikatur
nach der erwähnten Entscheidung des Großen Senats analysiert.

1. Die Frage einer gesetzlichen Regelung für den verdeckten Einsatz


von Polizeibeamten hat in der deutschen Diskussion nicht zuletzt da-
durch besondere Aktualität erlangt, daß die Verweisung auf § 34 StGB
als "Generalermächtigung" für V-Leute wachsenden Bedenken ausge-
setzt ist12 • Ein von einer gemeinsamen Arbeitsgruppe des Justiz- und
des Innenministeriums des Landes Baden-Württemberg erstelltes Ar-
beitspapier, das Ende 1981 einem Ausschuß des Arbeitskreises II (Öf-
fentliche Sicherheit und Ordnung) der Innenministerkonferenz zugelei-
tet wurde, enthält einen umfangreichen Katalog für erforderlich ge-
haltener spezialgesetzlicher Regelungen und Ermächtigungen für Un-
tergrundfahnder13 • Diese sollen sich u. a. auf das technische Belauschen
von Gesprächen und das Fotografieren von Personen, auf das Betreten
und Durchsuchen von Wohnungen und die überwachung des Fern-
meldeverkehrs im präventiven Bereichl 4, auf Ausnahmen von der bis-
lang bestehenden Verpflichtung zur mindestens nachträglichen Unter-
richtung des Betroffenen15 und auf Einschränkungen des Legalitäts-
prinzips für den verdeckt ermittelnden Polizeibeamten16 erstrecken,
der vielfach Zeuge kleiner und mittlerer Straftaten wie Drogenkon-
sum, Trunkenheit im Verkehr u. ä. wird und durch die Einleitung von'
Ermittlungen möglicherweise frühzeitig enttarnt und persönlich ge-
fährdet würde.
Aus rechtsvergleichender Sicht kann sich das Problem einer Ein-
schränkung des Legalitätsprinzips von vornherein nicht in denjenigen
Ländern stellen, in denen das Opportunitätsprinzip gilt. Zu nennen sind
hier von den untersuchten Ländern England, FrankTeich, die USA und
- allerdings nur in einzelnen Kantonen - die Schweiz 17 • Aber auch in
ÖsteTTeich wird das an sich geltende Legalitätsprinzip durch eine Viel-
zahl von Ausnahmen durchbrachen, so daß der Unterschied zur Geltung
des Opportunitätsprinzips in der Praxis gering zu sein scheint 18 • Auf

12 Vgl. Seelmann, ZStW 95 (1983), S. 809 ff.; J. MeyeT, ZStW 95 (1983), S.859.
13 Vgl. die "Dokumentation" in CILIP (civil liberties and police) 1982, S.
360 ff.
14 Vgl. "Dokumentation" (Anm. 13), These 5, S. 67 f.

15 Vgl. "Dokumentation" (Anm. 13), These 6, S. 68 f.


18 Vgl. "Dokumentation" (Anm. 13), These 8, S. 70 ff.
17 Vgl. näher dazu Leibinger, in: Jescheck/LeibingeT, Funktion und Tätig-
keit der Anklagebehörde im ausländischen Recht, Rechtsvergleichende Unter-
suchungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft, hrsg. vom Max-Planck-
Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg 1. Br:,
3. Folge, Band 6, 1979, S. 699 f. m. w. N. (zur Schweiz vgl. auch DriendZ!Marly,
a. a. 0" S. 385 ff.).

83 Festschrift für H.-H. Jescheck


1314 Jürgen Meyer

der anderen Seite sind aus Italien, wo die strenge. Geltung des Legali-
tätsgrundsatzes sogar in der Verfassung (Art. 112) verankert ist, kei-
nerlei Bestrebungen bekannt, der Staatsanwaltschaft für ihre Ent-
scheidung, wann ein Verfahren einzuleiten ist, einen Ermessensspiel-
raum zu geben.
In keinem der untersuchten Länder gibt es spezielle gesetzliche Re-
geln für den verdeckten Einsatz von Polizeibeamten. Allerdings ist die
allgemeingesetzliche Ausgangslage in den einzelnen Ländern sehr un-
terschiedlich. Auf der einen Seite sind die USA und Frankreich zu nen-
nen, wo gesetzliche Regelungen für den Einsatz technischer überwa-
chungsmittel weitgehend fehlen, so daß auch der Bedarf an speziellen
Regelungen für Untergrundfahnder von vornherein gering ist. Auf der
anderen Seite muß in Italien, Österreich und der Schweiz eine ganze
Reihe gesetzlicher Voraussetzungen erfüllt sein, um technische über-
wachungsmittel legal einsetzen zu können. Hingegen scheint in Eng-
land eine Entwicklung in Richtung auf eine Verstärkung des Schutzes
der Privatsphäre gegen technische überwachung stattzufinden.
In den USA gibt es weder auf der Ebene des Bundes noch auf der
Ebene der 50 Einzelstaaten spezielle gesetzliche Regelungen über die
Voraussetzungen, unter denen eine Untergrundfahndung zulässig ist.
Allerdings gibt es für den Bund seit 1970 ein "Federal Witness Pro-
tection Program", das insbesondere sichere Unterkünfte für V-Leute
und eventuell ebenfalls gefährdete Angehörige vorsieht. Daß dieses
Programm nicht immer eine reine Wohltat für potentielle Zeugen sein
muß, zeigt ein vom zuständigen U.S. District Court of Appeals entschie-
~~!!~r Fall1D : Dort hatte die Polizei einen Restaurantbesitzer, bei dem
anläßlich einer überprüfung seines Betriebes eine geringe Menge Ko-
kain gefunden worden war, unter Hinweis auf das erwähnte Programm
und unter Androhung von Strafverfolgung wegen des Kokains zur
Kooperation als V-Mann zu drängen versucht20 •
Abgesehen von der Telefonüberwachung, die eines gerichtlichen Be-
schlusses bedarP1, gibt es in den USA keine gesetzliche Regelung für

18 Vgl. Driendl (Anm. 17), S. 248 - 316; Moos, Zur Reform des Strafprozeß-
rechts und des Sanktionenrechts für Bagatelldelikte, 1981, S. 196 ff.
18 Vgl. U.S. v. Ross, CA 2,10/13/83.
20 Das nach der Weigerung des Restaurantbesitzers gegen ihn eingeleitete
Strafverfahren wurde von der Mehrheit des Gerichts gleichwohl für zulässig
erklärt, vgl. U.S. v. Ross (Anm. 19).
21 Vgl. Titel III des Omnibus Crime Control and Safe Streets Act 1968, er-
läutert bei Carr, The Law of Electronic Surveyance, 1977, S. 64 ff. (unter den
als Bezugspunkt für den gesetzlichen Schutz maßgeblichen Begriff "Wire Com-
munication" sollen aber nicht fallen Gespräche zwischen zwei Autotelefonen
oder zwischen zwei Telefonapparaten in derselben Wohnung oder in einem
Warenhaus).
Zur V-Mann-Problematik aus rechtsvergleichender Sicht 1315

den Einsatz technischer überwachungsmittel wie Videogeräte, Richt-


mikrophone, Wanzen u. ä. Die Möglichkeit, im Einzelfall gerichtlichen
Schutz zu erwirken, hängt vor allem davon ab, ob die Anbringung oder
der Einsatz des überwachungsgerätes als Durchsuchung (Search) i. S.
des Fourth Amendment der Bundesverfassung anzusehen ist!2. Eine
neuere Entscheidung des U.S. Supreme Court aus dem Jahre 198323 ,
bei der es um die Anbringung eines Signalgebers (Peeper) in einem
Behälter mit Chloroform zwecks überwachung des Transports über
öffentliche Straßen und Feststellung des Bestimmungsortes ging, scheint
die Tendenz zu einer großzügigen Zulassung technischer überwachungs-
methoden auch ohne Gerichtsbeschluß zu belegen. Das Gericht stellt
u. a. fest, daß eine Person, die sich mit einem Kraftfahrzeug auf öffent-
lichen Straßen bewegt, vernünftigerweise keinen Schutz der privaten
Sphäre hinsichtlich der gewählten Fahrtroute erwarten könne und daß
auch nach dem Verlassen der Straße der Transport von Chemikalien,
die für die Herstellung verbotener Drogen verwandt würden, über-
wacht werden könne.
Auch in Frankreich gibt es keine spezialgesetzlichen Regelungen für
verdeckte Ermittlungen durch Polizeibeamte oder für den Einsatz tech-
nischer Überwachungsmittel. Ausgehend von der Feststellung, daß im
polizeilichen Ermittlungsverfahren und der Voruntersuchung das In-
quisitionsprinzip und im Hauptverfahren der Grundsatz der freien rich-
terlichen Beweiswürdigung gelten, wird der den Richtern auferlegten
Loyalitätspflicht (obligation de loyaute) besondere Bedeutung beige-
messen. Danach sind die Richter bei der Beweisermittlung verpflichtet,
die Menschenrechte und die Würde des Gerichts zu wahrenu. Die Be-
weiserhebung darf nicht gegen geltende Gesetze oder anerkannte mo-
ralische Grundvorstellungen verstoßen25 . In der Praxis ergeben siCh
daraus jedoch keine Einschränkungen für den polizeilichen Einsatz
technischer überwachungsmittel wie Abhörgeräte, Tonbänder, Telefon-
abhöranlagen, Radaranlagen, Fotoapparate u. ä. 2&. Allerdings folgt aus
dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung, daß die so

22 Vgl. LaFave, Search and Seizure, A Treatise on the Fourth Amendment,


Band 1, St. Paul/Minn. 1983 (mit Rechtsprechung und zahlreichen Fallbeispie-
len); zur Technik der Untergrundfahndung vgl. auch Marx, in: Kadish (Hrsg.),
Encyclopedia of Crime and Justice, Band 3, New York 1983, S. 1154 - 1159
(Undercover Tactics).
23 U.S. v. Knotts, 103 S. Ct. 1801 (1983).

24 Vgl. Nuvolone, Beweisverbote im Strafverfahren der Länder des roma-


nischen Rechtskreises (Anm. 1), Teil 3 A, S. 54 ff., 63, 69, 78 f. m. N. zur älteren
Literatur.
25 Vgl. MerlelVitu, Traite de Droit Criminel, Procedure penale, 3. Auf!.. 1979,
S. 167 ff. (Nr. 952).
24 Vgl. Stejani/Levasseur/Bouloc, Procedure penale, 12. Auf!.. 1984, Anm. 36;
MerlelVitu (Anm. 25); jeweils m. w. N.

83·
1316 Jürgen Meyer

gewonnenen Erkenntnisse nicht etwa als voller Beweis, sondern ledig-


lich als Indiz für die richterliche überzeugungsbiIdung dienen27 •
Wesentlich enger sind aufgrund einer Vielzahl spezialgesetzlicher Re-
gelungen die Voraussetzungen, unter denen in Österreich, der Schweiz
und Italien technische überwachungsmittel eingesetzt werden können,
ohne daß hier auf sämtliche Einzelheiten eingegangen werden könnte.
Allerdings gibt es auch in diesen Ländern keine gesetzliche Regelung
für die polizeiliche Untergrundfahndung.
Für Österreich ist besonders auf die seit 1974 geltende Regelung der
"überwachung eines Fermeldeverkehrs" gem. §§ 149 a, 149 b öStPO zu
verweisen28 • Die überwachung ist nur zulässig, wenn zu erwarten ist,
daß dadurch die Aufklärung einer vorsätzlich begangenen, mit mehr
als einjähriger Freiheitsstrafe bedrohten strafbaren Handlung geför-
dert werden kann. Der Inhaber der Fernmeldeanlage muß entweder
selbst dringend tatverdächtig sein, oder es müssen Gründe für die
Annahme vorliegen, daß sich eine dringend tatverdächtige Person bei
ihm aufhält oder sich mit ihm unter Benutzung der Anlage in Ver-
bindung setzen wird. Für die Anordnung ist grundsätzlich die Rats-
kammer und nur bei Gefahr im Verzuge der Untersuchungsrichter
zuständig, der anschließend aber unverzüglich die Genehmigung der
Ratskammer einzuholen hat. Nach Beendigung der überwachung ist
sowohl der Inhaber der Anlage als auch der eventuell mit ihm nicht
identische Verdächtige vom Untersuchungsrichter über die Tatsache
der überwachung zu informieren. Beide erhalten Gelegenheit zur Ein-
sichtnahme in die Aufzeichnungen, der Verdächtige allerdings nur in-
_soweit, als diese für das Strafverfahren gegen ihn von Bedeutung sein
können. Der Inhaber der Anlage hat das an eine Frist von 14 Tagen
gebundene Recht zur Beschwerde an den Gerichtshof zweiter Instanz29 •
Noch wesentlich umfassender ist die gesetzliche Regelung der tec..lJ.-
nischen überwachung in der Schweiz. Das am 1. 10. 1979 in Kraft ge-
tretene einschlägige Bundesgesetz 30 regelt für den Bereich der Bundes-

27 Vgl. z. B. Cour de Cassation (Chambre criminelle), J.C.P. (La Semaine


Juridique) 1961 11, 12, 157: "L'enregistrement par magnetophone peut consti-
tuer un indice de preuve, susceptible de s'ajouter a d'autres indices sur lesquel-
les les tribunaux repressifs peuvent fonder leur intime conviction."
28 Vgl. ÖBGBl. Nr. 423/1974, Art. I, Z. 43.
29 Vgl. wegen weiterer Einzelheiten Foregger/Senni, Die österreichische
Strafprozeßordnung, Kurzkommentar, 3. Aufl. 1982, Erläuterungen zu § 149 a
und § 149 b StPO m. w. N.; vgl. ferner Foregger/Litzka, Suchtgiftgesetz, Wien
1980, S. 21: Die längere "Observation" konkret (der Suchtgiftkriminalität) Ver-
dächtiger, um einen günstigen Augenblick des Zugriffs abzuwarten, wird für
legal gehalten.
80 Bundesgesetz über den Schutz der persönlichen Geheimsphäre, AS 1979,
1170 ff.; vgl. dazu Feter, SJZ 75 (1979), 305 ff. m. w. N.
Zur V-Mann-Problematik aus rechtsvergleichender Sicht 1317

strafrechtspflege nämlich nicht nur die überwachung des Fernmelde-


verkehrs, sondern auch die überwachung des Postverkehrs und den
Einsatz technischer Hilfsmittel wie Minispione zum Abhören und Auf-
nehmen nichtöffentlicher Gespräche, ferner den Einsatz optischer Beob-
achtungs- und Aufnahmegeräte, die allerdings in der Praxis eine ge-
ringere Rolle zu spielen scheinen31 • Wichtigste Voraussetzungen der
verschiedenen Arten der technischen überwachung sind, daß sie sich
nur gegen einen Angeschuldigten oder Verdächtigen richten dürfen
(bei Telefonanschlüssen kann es sich auch um Anschlüsse Dritter han-
deln, die vom Verdächtigen benutzt werden), der aufgrund bestimmter
Tatsachen eines Verbrechens oder Vergehens verdächtig ist, dessen
Schwere oder Eigenart den Eingriff rechtfertigt, daß andere Unter-
suchungshandlungen erfolglos waren oder voraussichtlich erfolglos
sind (Subsidiarität) und daß für Anordnungen, soweit sie (in Bundes-
strafsachen) vom Bundesanwalt oder (in kantonalen Strafsachen) vom
Polizeidirektor getroffen wurden, binnen 24 Stunden die richterliche
Genehmigung nachzusuchen ist. Eine nachträgliche Bekanntgabe der
überwachungsmaßnahme an den Betroffenen ist nicht vorgesehen32 •
Für Italien ist insbesondere 33 auf das 1974 erlassene Gesetz zum
Schutz der Privatgeheimnisse gegen Ausspähung mit unerlaubten
technischen Mitteln hinzuweisen34 , das neue Strafbestimmungen und
Strafschärfungen zum Schutz des Privatlebens enthält. Ein neuer Art.
615 bis C.p. bedroht mit Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 4 Jahren
das unbefugte Sichverschaffen (ferner das Zugänglichmachen oder öf-
fentliche Verbreiten) von Nachrichten oder Bildern mit Bild- oder Ton-
aufnahmegeräten, wenn davon das Privatleben eines anderen in einer
fremden Wohnung oder an einem anderen privaten Aufenthaltsort
betroffen ist. Eine erhöhte Strafe wurde für Amtsträger, ferner auch
für Privatdetektive angedroht. Der bereits in der Vergangenheit gel-
tende Schutz von telegrafischen Mitteilungen und Telefongesprächen

31 Vgl. Strasser, Polizeiliche Zwangsmaßnahmen, Zürich 1981, S. 198 ff.;


vgl. als Beispiel für eine kantonale Ausführungsregelung das für St. Gallen
erlassene ,,111. Nachtragsgesetz zum Gesetz über die Strafrechtspflege" vom
17.6.1982, GS 962.1; vgl. zum früheren Rechtszustand Hauser, Kurzlehrbuch
des schweizerischen Strafprozeßrechts, 1978, S. 182 ff.
32 Vgl. dazu und zu weiteren Einzelheiten Strasser (Anm. 31), S. 198 ff.,
211 ff. (vgl. aber auch § 1 der Ausführungsbestimmungen zu den §§ 71 a - 71 c
der StPO des Kantons Basel-Stadt vom 3. 1. 1984, wonach die Mitteilung an
den Betroffenen binnen 30 Tagen nach Abschluß der überwachung vorge-
sehen ist); vgl. auch Neue Zürcher Zeitung vom 29. 1. 1983 (S.32) zur Beant-
wortung einer parlamentarischen Anfrage zur Post- und Fernmeldeüber-
wachung im Kanton Zürich (86 Fälle in 21/4 Jahren); zur neueren Rechtspre-
chung vgl. Clerc, ZStvR 101 (1984), S. 92.
33 Vgl. Bosch, ZStW 88 (1976), S. 488 ff., 510 f. m. w. N. u. Literaturangaben.

34 Gesetz vom 8.4.1974 Nr.93, "Tutela della riservatezza e deUa liberta


e segretezza delle communicazioni".
1318 Jürgen Meyer

wurde durch eine wesentlich höhere Strafdrohung verstärkt. Außer-


dem wurden Vorbereitungshandlungen durch den Einbau von techni-
schen Geräten oder Apparaturen gesondert mit Strafe bedroht. Die
Voraussetzungen für eine überwachung von Telefongesprächen oder
telegrafischen Mitteilungen sind gesetzlich geregelt. Die überwachung
ist nur zur Aufklärung schwerer Straftaten oder von Beleidigungs-
delikten und nur auf Anordnung des Richters oder Staatsanwalts zu-
lässig35 .
In England findet gegenwärtig eine lebhafte Diskussion darüber
statt, daß die Gesetzgebung mit der Entwicklung immer raffinierterer
technischer überwachungsmittel nicht Schritt halten konnte, so daß
es keinen wirksamen Schutz gegen das Eindringen von Videokameras,
Nachtkameras, Richtmikrofonen u. ä. in den Privatbereich des Bürgers
gibt38 • Die allgemeine Tendenz scheint in Richtung klarer gesetzlicher
Regelungen zur Einschränkung des polizeilichen Ermessensspielraums
zu gehen87• Besonders heftige Kritik richtet sich gegen die gegenwärtige
Praxis des überwachens von Telefongesprächen auf Anordnung des
Innenministers (Home Secretary)38.
Der überblick über die Rechtslage in den untersuchten Ländern zeigt,
daß die eingangs referierten deutschen Reformüberlegungen, spezial-
gesetzliche Regelungen und Ermächtigungen für die Untergrundfahn-
dung einzuführen, aus rechtsvergleichender Sicht keine Stütze finden.
Es scheint gemeinsamer Rechtsüberzeugung zu entsprechen, daß die
allgemeinen Gesetze auch für Untergrundfahnder gelten und deren
Arbeit nicht durch Sondergesetze oder -ermächtigungen erleichtert oder
"legalisiert" werden sollte. Das gilt auch für den besonders sensiblen
Bereich der technischen überwachung des Bürgers. Hier sind in meh-
reren Ländern Entwicklungen zur Verstärkung des Schutzes der priva-
ten Sphäre festzustellen. Eine Erweiterung der gesetzlich zugelassenen
überwachungsmöglichkeiten zur Verbesserung der Effektivität der po-
lizeilichen Untergrundfahndung würde einem in mehreren Ländern
festgestellten Entwicklungstrend zuwiderlaufen. Allerdings darf die

as Vgl. im einzelnen Art. 226 bis ff. C.p.p.


38 Vgl. Manwaring-White, The Policing Revolution, 1983, S. 84 - 115 (vgl.
aus der "conclusion" auf S.115: "It's not that the police break law rather
that there just isn't sufficient legislation to protect the ordinary citizen from
this new technological invasion of his privacy").
37 Vgl. Thomas, Police Discretion, in: The Political Quarterly 1982, S. 144 ff.
38 Vgl. den Bericht der TIMES v. 22.2.1984 (Webster) über eine Debatte
des House of Lords vom Vortage aus Anlaß einer beim EGH in Straßburg
eingereichten Klage wegen Verletzung der Art. 8 (Achtung des Privatlebens)
und 13 MRK (Rechtsschutz) gegen die englische Regierung; die Lords ver-
langten entgegen dem Votum der Regierung die gesetzliche Regelung und
Kontrolle des Abhörens von Telefonen (vgl. auch TIMES v. 16.2. 1984,
Stanley: "Phone tapping: plug this gap").
Zur V-Mann-Problematik aus rechtsvergleichender Sicht 1319

unterschiedliche gesetzliche Ausgangslage in den untersuchten Ländern


nicht übersehen werden.

2. Die Frage, wie das Wissen von V-Leuten im Strafverfahren ver-


wertet wird, war unter anderem Gegenstand des Generalgutachtens von
Jescheck für den 46. Deutschen Juristentag im Jahre 196638 • Sie ist durch
den Beschluß des Großen Senats für Strafsachen aus dem Jahre 198340
von großer Aktualität. Durch die höchstrichterlichen Festlegungen, daß
eine kommissarische Vernehmung des V-Mannes nicht gegen den Wil-
len des Verteidigers in dessen Abwesenheit durchgeführt werden darf
und daß es unzulässig ist, dem Zeugen bei dieser Vernehmung (oder
der Vernehmung in der Hauptverhandlung) die Nichtangabe seiner
Personalien zu gestatten (oder ihn optisch oder akustisch abzuschir-
men), könnte es in der Praxis verstärkt zur administrativen Sperrung
des V-Mannes für das gerichtliche Erkenntnisverfahren und zum Zu-
rückgreifen auf die bekannten Surrogate in Gestalt des Zeugen vom
Hörensagen oder von polizeilichen Protokollen oder schriftlichen Er-
klärungen des V-Mannes kommen41 • Es ist deshalb von Interesse, wie
ausländische Rechtsordnungen das Spannungsverhältnis zwischen dem
Anspruch des V-Mannes und der Strafverfolgungsbehörden auf Wah-
rung von Vertraulichkeit einerseits und dem Anspruch des Gerichts
und des Angeklagten andererseits auf eine offene Aussage des Zeugen,
auf dessen Glaubwürdigkeit und ihre überprüfbarkeit es oft entschei-
dend ankommt, zu lösen versuchen.
Die Möglichkeit zur Ersetzung der Zeugenaussage des V-Mannes
durch Surrogate könnte in den USA und England aufgrund der be-
kannten Regel "hearsay is no evidence" besonders eingeschränkt sein,
während die Figur des Zeugen vom Hörensagen in den übrigen unter-
suchten Ländern durchaus anerkannt ist42 • Bei näherem Hinsehen
erweist sich die Rechtslage in den einzelnen Ländern aber als wesent-
lich komplexer.
Der vom Großen Senat festgestellten Verpflichtung zur Bekannt-
gabe der Personalien des V-Mannes scheint in den USA der vom
Supreme Court bestätigte Anspruch des Angeklagten zu entsprechen,
daß der V-Mann seinen wirklichen Namen und seine Adresse vor Ge-
richt bekannt gibt, weil andernfalls das in der Bundesverfassung (Sixth
Amendment) verbriefte Recht des Angeklagten, seinen Anklägern (Be-
lastungszeugen) gegenüberzutreten und sie ins Kreuzverhör zu neh-

39 Vgl. oben I.
40 Vgl. BGHSt. 32, 115 = NJW 1984, 247 H.
41 Vgl. näher dazu unten IH.

42 Vgl. Seebade, JZ 1980, 506, 508 ("Rechtsvergleichende Hinweise" m. N.


bes. zur älteren Literatur); vgl. auch Tiedemann, JuS 1965, 14.
1320 Jürgen Meyer

men, verkürzt würde 43 • Im Anschluß an eine concurring opinion der er-


wähnten Entscheidung44 haben jedoch die unteren Bundesgerichte in
der Folgezeit Ausnahmen für den Fall zugelassen, daß glaubwürdige
Anhaltspunkte (reasonable fear) dafür bestehen, daß Leben oder Ge-
sundheit des V-Mannes oder seiner Familie bei Preisgabe seiner Iden-
tität gefährdet wären'5. Eine weitere Einschränkung wird aus dem
Zweck der Angabe der Personalien abgeleitet, der darin gesehen wird,
die Glaubwürdigkeit des Zeugen unter Einbeziehung seines persön-
lichen Hintergrundes überprüfen zu können (to pI ace the witness in
his proper setting). Wenn dieser durch sonstige Informationen (z. B.
Berufstätigkeit, Arbeitgeber, ungefähre Wohngegend, frühere persön-
liche Begegnungen mit dem Angeklagten) bereits ausreichend aufge-
hellt erscheint, kann das Gericht Fragen nach den Personalien des
V-Mannes zurückweisen. Es handelt sich dabei um eine Ermessensent-
scheidung (a matter within the trial court's sound discretion)48.
In der Gerichtspraxis tritt der V-Mann häufig nicht selbst als Zeuge
auf, sondern ein Polizeibeamter, der die Ermittlungen geführt hat.
Dieser darf jedoch wegen des Verbots des Zeugnisses vom Hörensagen
grundsätzlich keine Informationen Dritter (z. B. des V -Mannes) in sei-
ner Aussage wiedergeben47 • Er kann den Namen des V-Mannes geheim-
halten, wenn dieser der Polizei lediglich einen Tip gegeben hatte, ohne
selbst in die Tat verstrickt zu sein. Die Wahrung der Vertraulichkeit
wird mit dem öffentlichen Interesse an einer wirksamen Strafrechts-
pflege begründet. Sie soll den Bürger durch Wahrung seiner Anonymi-
tät zur Anzeige von Straftaten ermutigen. Das Recht des aussagenden
Beamten bzw. des Dienstherrn, Angaben über die Identität des Infor-
manten (V-Mannes) zu verweigern, ist jedoch ausgeschlossen, wenn
Name und Adresse des V-Mannes für die Verteidigung von Bedeutung
sind, etwa weil der V -Mann einziger Tatzeuge oder an der Ausfüh-
rung der Tat wesentlich beteiligt warfS. Die erforderliche Abwägung

(3 Vgl. Smith v. Illinois, 390 U.S. 129, 88 S. Ct. 748 (in der Entscheidung
vom 29. 1. 1968 ging es um den Hauptbelastungszeugen in einem Rauschgift-
fall; der Zeuge behauptete, mit polizeilich markierten Geldscheinen Drogen
vom Angeklagten gekauft zu haben).
44 Vgl. 88 S. Ct. 748, 751 (Justice White, dem sich Justice MarshaZl ange-
schlossen hat).
45 Vgl. U.S. v. Contreras, 602 F. 2 d 1237 (1979); U.S. v. Mesa, 660 F. 2 d
1070 (1981).
'8 Vgl. U.S. v. Mesa, 660 F. 2 d 1075 f. (1981); U.S. v. Hughes, 658 F. 2 d 317
(1981) (es handelte sich um einen vorbestraften und zur Bewährung entlas-
senen V-Mann, der mit dem Angeklagten auf Veranlassung der Polizei als
Interessent für den Ankauf von Kokain Kontakt aufgenommen hatte).
47 Zur Unzulässigkeit von Hearsay Evidence und den von der Rechtspre-
chung entwickelten Ausnahmen vgl. Wharton's Criminal Evidence, Band 2,
13. Aufl., Stand 1983, S. 1 - 191, nebst Supplement, S. 9 - 35.
's Vgl. Roviaro v. U.S., 353 U.S. 57, 77 S. Ct. 623 (1957).
Zur V-Mann-Problematik aus rechtsvergleichender Sicht 1321

zwischen den Strafverfolgungs- und Verteidigungsinteressen wird vom


Richter anhand der Umstände des jeweiligen Einzelfalles vorgenom-
men, und zwar meist aufgrund einer Anhörung der Parteien unter Aus-
schluß der Öffentlichkeit (in camera). Wenn die Staatsanwaltschaft
einer Aufforderung des Gerichts, die Personalien des V -Mannes mit-
zuteilen, nicht entspricht, kann das Gericht die mit Informationen des
V-Mannes in Zusammenhang stehende Zeugenaussage streichen, die
Anklage zurückweisen und den die verlangte Aufklärung verweigern-
den Zeugen wegen "contempt of court" belangen49 •
Auch in England wird das Interesse der Strafverfolgung (und der
V-Leute) an der Geheimhaltung der Personalien des V-Mannes grund-
sätzlich anerkannt. Das Gericht braucht deshalb nicht über die Ein-
schaltung eines V-Mannes in das Ermittlungsverfahren informiert zu
werden, sofern es sich um einen bloßen Beobachter oder Tipgeber han-
delte. Jedoch wird betont, daß die Strafverfolgungsbehörden das Ge-
richt nicht irreführen dürfen und deshalb den V -Mann enttarnen müs-
sen, wenn dadurch der Fall in einem anderen Licht erscheinen oder
gar die Unschuld des Angeklagten sich herausstellen könnte50 • Für die
Vernehmung eines Zeugen vom Hörensagen statt des V-Mannes ist
auch in England die "Rule against Hearsay" trotz zahlreicher Ausnah-
men und vielfacher Kritik an dieser Beweisregel nach wie vor zu be-
achten51 •
Große Ähnlichkeit mit der anglo-amerikanischen Rechtslage hat die
ausdrückliche gesetzliche Regelung der hier interessierenden Proble-
matik in Italien. Nach Art. 349 Abs.6 c.p.p. darf der Richter die als
Zeugen auftretenden Beamten nicht zwingen, die Namen ihrer Aus-
kunftspersonen anzugeben. Er darf sogar bei Folge der Nichtigkeit
eines daraufhin ergehenden Urteils von den Beamten keine Auskünfte
entgegennehmen, die sie von Personen erhalten haben, deren Namen
sie nicht angeben zu dürfen glauben52 • Der Ausweg, statt des anonym
bleibenden V -Mannes einen Zeugen vom Hörensagen zu vernehmen,
ist durch Art. 450 Abs.l c.p.p. verbaut, wonach die Vernehmung eines

49 Vgl. Wharton's Criminal Evidence, Band 3, 13. Aufl., Stand 1982, S. 114-
122, nebst Supplement, S. 30 - 43.
50 Vgl. Oscapella, A study of Informers in England, in: The Criminal Law
Review, 1980, S. 136 - 146 m. w. N.; vgl. auch Section 10 des Contempt of
Court Act von 1981: "No Court may require a person to disclose, nor is any
person guilty of contempt of court for refusing to disclose, the source of
information contained in a publication for which he is responsible, unless it
be established to the satisfaction of the court that disclosure is necessary in
the interests of justice or national security or for the prevention of disorder
or crime."
51 Vgl. Phipson, The Law of Evidence, 13. Aufl. 1982, S. 329 ff.
52 Vgl. Manzini, Trattato di diritto processuale penale italiano, 6. Aufl. 1970,
Band 3, S. 295.
1322 Jürgen Meyer

mittelbaren Zeugen über Wahrnehmungen einer unbekannten Person


ausgeschlossen istS3 •
Für Österreich ist auf die bekannte Entscheidung des Obersten Ge-
richtshofes zur V-Mann-Problematik aus dem Jahre 197054 hinzuweisen,
in der u. a. festgestellt wird, daß die "Nichtpreisgabe" des unmittelbar
beobachtenden Zeugen aus "innerstaatlichen Geheimhaltungsinteres-
sen" einer "Unerreichbarkeit" i. S. v. § 252 Abs.1 Ziff. 1 öStPO "im all-
gemeinen nicht gleichgestellt werden (kann)". Das würde an sich be-
deuten, daß die Verlesung eines Protokolls über die (frühere) Verneh-
mung des gesperrten V-Mannes in der Regel ausgeschlossen ist. Auch
die Vernehmung eines Zeugen vom Hörensagen anstelle der Benut-
zung des (nach rechtlicher Bewertung) erreichbaren Originalbeweis-
mittels, also die Vernehmung von "Gewährsmännern" statt des unmit-
telbaren Zeugen wäre unzulässig55. Allerdings ist die Verletzung des
Grundsatzes der Unmittelbarkeit kein Nichtigkeitsgrund58 , und seitens
der österreichischen Strafrechtswissenschaft wird davor gewarnt, die
Tragweite der erwähnten höchstrichterlichen Entscheidung zu über-
schätzen57•
In der Schweiz hat sich trotz einzelner Gegenstimmen die Auffas-
sung durchgesetzt, daß weder ein Gericht noch ein Untersuchungsrich-
ter einen Polizeibeamten als Zeugen zwingen können, eine anonyme
Gewährsperson preiszugeben58 . Die ablehnende Entscheidung oder Wei-
sung der vorgesetzten Behörde ist gerichtlich nicht anfechtbar. Das gilt
auch für die Vorlage amtlicher Akten, aus denen sich die Personalien
des V-Mannes ergeben könnten. Die Begründung ,ist in erster Linie
pragmatisch: "Die Nachrichtenquellen würden versiegen, wenn die Ver-
trmrensleute der Polizei mit ihrer Bloßstellung im gerichtlichen Ver-
fahren rechnen müßten; sie könnten ferner für den weiteren Nachrich-
teneinsatz nicht mehr eingesetzt werden5V ." Eine Ausnahme gilt für
den Fall, daß sich der V-Mann durch eigene Tatbeteiligung oder fal-
6a Zur übertragbarkeit der italienischen Regelung auf das deutsche Recht
vgl. J. Meyer, ZStW 95 (1983), S. 857 f.; vgl. auch Seebode, JZ 1980,508 m. w. N.
54 Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 11. 2. 1970, 12 Os 177/79,
S StXLI 7.
66 Vgl. Foregger/Serini (Anm.29), Erl. I zu § 252; a. A. Bertel, Grundriß
des österreichischen Strafprozeßrechts, 1975, S. 118.
n Vgl. Foregger/Serini (Anm. 55).
17 Neben der erwähnten Gegenauffassung von Bertel (Anm.55) sei insbe-
sondere auf den Diskussionsbeitrag von Burgstaller auf der Strafrechtsleh-
rertagung 1983 hingewiesen, vgl. ZStW 95 (1983), S. 993 ff. (Tagungsbericht
von Gropp), 998 (mit Erwiderung von J. Meyer auf S. 1007).
58 Vgl. Hauser, Kriminalistik 1964,261 ff. (mit Hinweisen auf abweichende
Meinungen in den Kantonen Zürich, Basel-Stadt und Graubünden), 263;
ders., SchwZStR 82 (1966), S. 306 ff.; ders., SchwZStR 90 (1974), S. 249 f.; vgl.
auch J. Meyer, ZStW 95 (1983), S. 835, 840 f.
58 Hauser, SchwZStR 90 (1974), S. 250.
Zur V-Mann-Problematik aus rechtsvergleichender Sicht 1323

sche Verdächtigung selbst strafbar gemacht hat. Die Angaben des


V-Mannes können durch die Vernehmung eines Polizeibeamten als
Zeuge vom Hörensagen in das Strafverfahren eingeführt werden.
Allerdings wird mit Nachdruck vor einer überbewertung dieses Be-
weismittels, das ein~ gerichtliche Nachprüfung der Glaubwürdigkeit
des V-Mannes praktisch nicht zuläßt, gewarntSo.
In Frankreich wird den Polizeibeamten wegen Art.378 C.p., der die
Verletzung des Berufsgeheimnisses unter Strafe stellt, das Recht zu-
erkannt, die Namen ihrer Gewährsleute zu verschweigen, wenn sich
die Beamten dazu ausdrücklich verpflichtet hatten oder der Gewährs-
mann nur im Vertrauen auf Verschwiegenheit zu seinen Angaben be-
reit warst. Ebenso wie in der Schweiz bleibt die Vernehmung des Poli-
zeibeamten als Zeuge vom Hörensagen aber gleichwohl zulässig. Ihre
Bewertung ist der freien Beweiswürdigung überlassensz•
Der rechtsvergleichende überblick zeigt, daß der Anspruch des
V-Mannes auf Wahrung seiner Anonymität in den ausländischen
Rechtsordnungen weitgehend anerkannt wird. Die vertrauliche Be-
handlung der gelieferten Informationen scheint geradezu eine Voraus-
setzung der Untergrundfahndung zu sein. Ein "V"-Mann, der jederzeit
mit seiner Enttarnung zu rechnen hätte, wäre danach ein Widerspruch
in sich. Der Beschluß des Großen Senats für Strafsachen, wonach der
V-Mann bei seiner kommissarischen Vernehmung bzw. seiner Verneh-
mung in der Hauptverhandlung seine Personalien anzugeben hat, fin-
det also aus rechtsvergleichender Sicht keine Stütze. Es konnte auch
keine ausländische Regelung nachgewiesen werden, wonach die Ermitt-
lungsorgane vor die harte Alternative der "Preisgabe des V-Mannes
oder der Nichtverwertung der Aussage des Polizeibeamten"ea und evtl.
sogar aller sonstigen Surrogate gestellt würden. Ob der Beschluß des
Großen Senats überhaupt so verstanden werden kann, bedarf allerdings
noch näherer PrüfungS4 .

3. Die agent-provocateur-Problematik wird in allen untersuchten


Ländern diskutiert. Der V-Mann, der als angeblicher Interessent für
den Ankauf oder Verkauf von Rauschgift im Auftrag der Polizei auf-
tritt, ist offenbar eine überall bekannte Figur. Daß mit derartigen

80 Vgl. Hauser, SchwZStR 82 (1966), S. 311; Studer, Die anonyme Gewährs-


person im Strafprozeß, 1975, S. 125 ff., 135 ff.
S1 Vgl. Cass. crim. 6.7.1894, D.P. (Dalloz periodique) 1899, Teil 1, S.I71;
Haute Cour de Justice 6.12.1899, D.P. 1903, Teil 2, S. 345; vgl. ebenso Jescheck,
Gutachten, S. 44 (ständige Rechtsprechung seit 1894).
82 Vgl. auch Seebade, JZ 1980, 508, Fn.39 (mit Literaturangaben, auch
zu vereinzelter Kritik im französischen Schrifttum).
n Vgl. oben I. zu dieser Fragestellung von Jescheck, Gutachten, S.45.
U Vgl. unten III.
1324 Jürgen Meyer

Ermittlungsmethoden nicht nur Händlerringe aufgedeckt und zer-


schlagen, sondern auch bislang unbelastete und zu Unrecht verdäch-
tigte Bürger, verführt durch die Aussicht auf ein "gutes Geschäft", in
Schuld und Strafe verstrickt werden können, ist eine gängige Erfah-
rung. In diesen Fällen stellt sich nicht nur die Frage nach der Straf-
barkeit des Provozierten, sondern auch des Provokateurs.
Eine auf den ersten Blick eindeutige und konsequente Regelung die-
ser Problematik gilt in Österreich, wo es den Sicherheitsorganen gern.
§ 25 öStPO "bei strengster Ahndung" untersagt ist, "auf die Gewin-
nung von Verdachtsgründen oder auf die Überführung eines Verdäch-
tigen dadurch hinzuwirken, daß er zur Unternehmung, Fortsetzung
oder Vollendung einer strafbaren Handlung verleitet" wird. Die Rege-
lung wird aber als rein instruktionelle Vorschrift ohne materiellrecht-
liche Auswirkungen angesehen6s • In der Kommentarliteratur wird fest-
gestellt, § 25 öStPO hindere nicht die sog. verdeckte Fahndung, die
darin bestehe, daß sich ein Sicherheitsorgan oder Vertrauensmann der
Polizei an einen mutmaßlichen Delinquenten wende und vorgebe, am
Erwerb einer vom Delinquenten strafbarerweise innegehabten Sache
(z. B. Suchtgift oder Diebesgut) interessiert zu sein, um den Täter bei
der Übergabe überführen zu können88 • Die verdeckte Fahndung wird
besonders zur Bekämpfung der Suchtgiftkriminalität für erforderlich
gehalten. Bei der parlamentarischen Beratung der Suchtgiftnovelle
1980 wurde vom Ausschuß für Gesundheit und Umweltschutz und von
der Bundesregierung übereinstimmend die Auffassung vertreten, es
sei mit der österreichischen Rechtsordnung durchaus vereinbar, wenn
sich ein Organ der Sicherheitsbehörden oder ein sog. Vertrauensmann
-der-Polizei an einen "mutmaßlichen Suchtgifthändler" wende, sich als
Kaufinteressent ausgebe und "womöglich die Überlassung von Sucht-
gift sowie die Überführung des Täters" erwirke61 • Die Strafbarkeit des
V-Mannes als Bestimmungstäter eines Suchtgiftdelikts wird mit dem
Argument verneint, daß ihm der auf die materielle Deliktsvollendung
gerichtete Vorsatz fehle und er infolge seines Auftrages nicht "unbe-
rechtigt" handele". Die an sich bestehende Möglichkeit, daß der Provo-

6S Vgl. den Diskussionsbeitrag von Burgstaller auf der Strafrechtslehrer-


tagung 1983, ZStW 95 (1983), S. 993 ff. (Tagungsbericht von Gropp), 996 f.;
vgl. auch Foregger/Serini (Anm.29), Erl. 111 zu § 25 ("nicht unter Nichtig-
keitssanktion stehende Verfahrensbestimmung ohne materiellrechtliche Wir-
kung").
88 Vgl. Foregger/Senni (Anm. 29), Erl. 11 zu § 25.
61 Vgl. "Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates"
(XV. Gesetzgebungsperiode) der Republik Österreich, Wien 1980, Bd.5, Bei-
lage 420, S. 5 f.
88 Vgl. Foregger/Litzka (Anm.29), Erl. XI zu § 12 Suchtgiftgesetz; kritisch
dazu Steininger, ÖJZ 1981, 308 (mit dem Argument, daß das Verbot des § 25
öStPO auch dann gelte, wenn der Verdächtige schon strafbar geworden sei,
Zur V-Mann-Problematik aus rechtsvergleichender Sicht 1325

zierte wegen absoluter Untauglichkeit seines Versuchs einer Straftat


straflos bleibt, scheint zumindest im Bereich der Suchtgiftkriminalität
praktisch bedeutungslos zu sein, weil die Strafbarkeit hier weit vor-
verlegt ist und z. B. schon die Einfuhr oder das Bereithalten von Sucht-
mitteln Vollendungstaten sindG9 •
In den USA ist die Frage der Anstiftungsstrafbarkeit des Lockspit-
zels kein Diskussionsgegenstand, was sich wohl dadurch erklären läßt,
daß derartige Praktiken von den Staatsanwaltschaften nach dem
Opportunitätsprinzip nicht verfolgt werden70 • Die Methoden der Unter-
grundfahndung des FBI sind aber wachsender Kritik ausgesetzt, die
sich u. a. dagegen richtet, daß Absatzmärkte für Diebesgut geschaffen
und Straftaten überhaupt erst angeregt werden. Ein Untersuchungs-
ausschuß des Repräsentantenhauses hat sich 1982 in 10 Sitzungen inten-
siv und kritisch mit diesen Fahndungsmethoden befaßt71 •
Die bekannte "defense of entrapment" als Einwand gegen die Be-
strafung des Provozierten kann sich in den USA inzwischen auf eine
langjährige Rechtsprechungstradition stützen72 • Das Modellstrafgesetz-
buch von 196273 und die Strafgesetzbücher der meisten Einzelstaaten74

etwa wegen Versuchs, und zur Fortsetzung oder Vollendung der strafbaren
Handlung verleitet werde; deshalb empfehle es sich, derartige Fahndungs-
methoden zur wirksamen Bekämpfung der Suchtgiftkriminalität durch eine
ausdrückliche gesetzliche Regelung zuzulassen).
69 Vgl. §§ 12, 16 SGG; zur Problematik der Strafbarkeit des Provozier-
ten vgl. auch die Diskussionsbeiträge von Foregger und Burgstaller auf der
Strafrechtslehrertagung 1983, ZStW 95 (1983), S. 993 H. (Tagungsbericht von
Gropp), 994 f. und 998.
70 Vgl. eingehend zur Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft
in den USA Th. Weigend, in: JeschecklLeibinger (Anm. 17), S. 587 H., 610 - 638.
71 Vgl. FBI Undercover Operations, Hearings before the Subcommittee on
Civil and Constitutional Rights of the Committee on the Judiciary, House of
Representatives, 97. Congress, Serial No. 76, Washington 1983, 1029 S. (vgl.
insbes. S.1 H. zu den sog. pro-active- bzw. before-the-fact-undercovertactics);
zum Einsatz von V-Leuten zur Aufklärung von Korruption innerhalb der
Strafjustiz vgl. den Bericht vom 5.2. 1984 in 35 Cr L 2091 f.
72 Vgl. die mit Sorrels v. U.S., 53 S. Ct. 210 (1932), einsetzenden Recht-
sprechungsnachweise bei Lüderssen, in: Festschrift für Peters, 1974, S. 354 H.;
zustimmend zu der von Lüderssen aus rechtsvergleichender Sicht für das
deutsche Recht entwickelten Annahme der "Prozeßrechtswidrigkeit" des Ein-
satzes des agent provocateur bei der Verbrechensbekämpfung Jescheck, Lehr-
buch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 3. Auft. 1978, S. 560, Fn. 16.
73 Vgl. Model Penal Code, Art. 2, Section 2.13: "(1) A· public law enforce-
ment professional or a person acting in co operation with such an official
perpetrates an entrapment if for the purpose of obtaining evidence of the
commission of an oHense, he induces or encourages another person to engage
in conduct constituting such oHense ..."; gern. Abs. (2) führt der Nachweis
von "entrapment" grundsätzlich zum Freispruch des Verleiteten.
74 Vgl. z. B. für New York McKinneys Consolidated Laws of New York,
Book 39, 1975, Penal Law, § 40.05 (mit Erläuterungen und Rechtsprechungs-
nachweisen); für Illinois Criminal Law and Procedure of Illinois, 1981, Chap-
ter 38, §§ 7 - 12.
1326 Jürgen Meyer

sehen für den Angeklagten die Einrede des "entrapment" (Verleitung)


vor, wenn er durch einen V-Mann zur Straftat verleitet wurde. Die
Einrede hat Verfassungsrang, da sie als Bestandteil der due process
clause des Fifth und Fourteenth Amendment der Bundesverfassung
angesehen wird. Umstritten ist, ob sich auch ein Täter auf "entrap-
ment" berufen kann, der schon vor der Einwirkung des V -Mannes
allgemein bereit war, Straftaten der fraglichen Art zu begehen75 • Wäh-
rend eine Mindermeinung allein auf die Unangemessenheit des Ver-
haltens der Polizei abstellt, gewährt der U.S. Supreme Court den
Schutz der Einrede nur solchen Tätern, die erst durch die Einwirkung
des V -Mannes auf den Gedanken gebracht wurden, die betreffenden
Straftaten zu begehen78 •
Für England hat das Innenministerium im Jahre 1969 Richtlinien
erlassen, wonach die Verbrechensprovokation durch agents provoca-
teurs mit Disziplinarstrafen geahndet werden kann, die allerdings nur
Polizeibeamte und nicht die mit ihnen zusammenarbeitenden Infor-
manten treffen können77 • Weiterreichende Empfehlungen der Law
Commission aus dem Jahre 1977, die sogar eine strafrechtliche Ver-
folgung für Verbrechensprovokation vorsahen (offence of entrapment
for agents provocateurs)1s, wurden bislang vom Gesetzgeber nicht ver-
wirklicht. Ob derartige Neuerungen praktische Bedeutung haben wür-
den, erscheint wegen des in England geltenden Opportunitätsprinzips
zweifelhaft79 • Der Provozierte kann nach englischem Recht keine Ein-
rede des "entrapment" geltend machen. Für ihn gibt es nur die Mög-
lichkeiten der Strafmilderung oder des Ausschlusses von Beweismit-
teln, die durch einen agent provocateur gewonnen worden sind, nach
~Rchterlichem Ermessen. Bei der Ermessensentscheidung spielen die
erwähnten Richtlinien des Innenministeriums eine bedeutende Rolle.
Danach ist insbesondere festzustellen, ob der Angeklagte eine Straf-
tat von einer Art begangen hat, wie er sie ohne die Einwirkung des
75 Vgl. im einzelnen Park, in: Kadish (Hrsg.), Encyclopedia of Crime and
Justice, Bd. 2, 1983, S. 704 ff.; vgl. die ausdrückliche Regelung für Illinois (Anm.
74): "However, this Section is inapplicable if a public officer or employee, or
agent of either, merely affords to such person the opportunity or facility for
committing an offense in furtherance of a criminal purpose which such
person has originated."
78 Vgl. U.S. v. Russell, 93 S. Ct. 1637 (1973); Hampton v. U.S., 96 S. Ct. 1646
(1976). In der letztgenannten Entscheidung ging es um einen Angeklagten;
der Heroin von V-Leuten erworben und es wiederum an andere V-Leute
verkauft hatte; gleichwohl wurde eine Verletzung der due process rights
verneint und die Verurteilung bestätigt, weil es sich um einen Angeklagten
gehandelt habe, "who was predisposed to commit the crime" (dissenting
opinion von Justice Brennan).
77 Vgl. Horne Office Consolidated Circular to the Police on Crime and
Kindred Matters, 1969; Oscapella (Anm.50), S. 142 f.
78 Vgl. Report on Defences of General Applicatiön, Law Com. No. 83 (1977).

79 Vgl. Huber, in: Jescheck{Leibinger (Anm. 17), S. 556 ff.


Zur V-Mann-Problematik aus rechtsvergleichender Sicht 1327

V-Mannes (police agent) nicht begangen hätte, ob der V -Mann selbst


eine wichtige Rolle bei der Tatverwirklichung gespielt hat, ob er für
seine Beteiligung die Zustimmung von höherer polizeilicher Ebene
hatte und ob die Straftat so schwerwiegend ist, daß öffentliche Inter-
essen die Tatprovokation rechtfertigen können8o .
Auch in Frankreich gibt es keine gesetzliche Regelung der Proble-
matik der Tatprovokation. Nach der Rechtsprechung dürfen die durch
einen agent provocateur gewonnenen Beweise nur unter zwei Voraus-
setzungen in den Prozeß eingeführt werden. Erstens muß die Schwere
der aufzuklärenden Straftaten oder die besondere Gefährlichkeit des
Täters derartige Ermittlungsmethoden erforderlich machen; das an
sich unerlaubte Vorgehen der Polizei soll dann durch eine Art Not-
stand (etat de necessite) gerechtfertigt werden. Zweitens darf der
agent provocateur nicht die Straftat verursacht, sondern lediglich ihre
Aufdeckung bewirkt haben (un moyen de deceler l'infraction et non
la cause de celle-ci)81. Die Tatprovokation wird vielfach bei Bestrafung
des Provozierten als mildernder Umstand berücksichtigt; in einzelnen
Entscheidungen wurden aufgrund des Verhaltens des agent provoca-
teur Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit oder sogar die Voraussetzun-
gen des entschuldigenden Notstandes (contrainte) gern. Art. 64 C.p. zu-
gunsten des Provozierten angenommen8!. Daß Verurteilungen von
agents provocateurs nicht feststellbar sind, mag auch in Frankreich auf
die Geltung des Opportunitätsprinzips bei der Einleitung der Straf-
verfolgung zurückzuführen sein83 •
In der Schweiz gibt es keinen Streit über die Strafbarkeit des Pro-
vozierten 84 • Um so stärker gehen die Meinungen über die Strafbarkeit
des agent provocateur auseinander. Das Spektrum reicht von der An-
nahme der Straflosigkeit85 über den Vorschlag der Strafbarkeit de lege
ferenda 86 bis zur Annahme der Strafbarkeit de lege lata87 . Im Kanton
80 Vgl. R. v. Ameer and Lucas (1976), Central Criminal Court, in: Criminal
Law Review 1977, 104; R. v. Mealey and Sheridan (1974), Court of Appeal
(Criminal Division), in: Criminal Law Review 1974, 710; Oscapella (Anm.50),
S. 142 ff.; je m. w. N.
81 Vgl. Cass. crim. 2.3.1973, Gazette du Palais 1971, Jurisprudence, 324 f.
(mit Anmerkung und weiteren Rechtsprechungsnachweisen).
82 Vgl. die Rechtsprechungsnachweise bei Blondet, J.C.P. (La Semaine
Juridique) 1958, I, 1419 (unter 111).
83 Vgl. dazu Grebing, in: Jescheck!Leibinger (Anm. 17), S.43 ff.
84 Zur prozeßrechtlichen Lösung der Anwendung des Opportunitätsprin-
zips ist der Vorschlag von Krauß auf der Strafrechtslehrertagung 1983 her-
vorzuheben, ein "Junktim zwischen der Verfolgbarkeit des Provozierenden
und der des Provozierten" herzustellen, vgl. ZStW 95 (1983), S. 993 ff. (Ta-
gungsbericht von Gropp), 1004 f.
85 Vgl. insbes. Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I,
1982, S. 342 f., m. w. N.
81 Vgl. Trechsel, Der Strafgrund der Teilnahme, 1967, S. 93 H., 101 f.
1328 Jürgen Meyer

Zürich ist der Polizei das "Anreizen zu verbotenen Handlungen" aus-


drücklich durch Dienstreglement untersagt88 • In der Praxis scheint diese
Regelung aber, ähnlich wie in Österreich, nur eine stark relativierte
Bedeutung zu haben89 •
Eine zunehmend kritische Einstellung zur polizeilichen Tatprovo-
kation ist schließlich in Italien festzustellen. Während man dort früher
den Polizeiorganen ausdrücklich das Recht einräumte, sich zur Auf-
deckung von Verbrechen eines Lockspitzels zu bedienenDo , wird heute
in der Literatur mit großem Nachdruck die Auffassung vertreten, daß
sich sowohl der polizeiliche als auch (und erst recht) der private agent
provocateur strafbar machen könnenD1 • Ob daraus allerdings die For-
derung abgeleitet werden kann, von der Durchführung des Strafver-
fahrens gegen den Provozierten abzusehen, erscheint wegen der stren-
gen Geltung des Legalitätsprinzips in Italien zumindest zweifelhaft.
Der überblick über die Rechtslage in den untersuchten Ländern
zeigt, daß der Einsatz von agents provocateurs bei aller Kritik ganz
überwiegend als wichtiges Mittel der Verbrechensaufklärung ange-
sehen wird. Das gilt insbesondere für den Bereich der Betäubungs-
mittelkriminalität. Hinsichtlich der Grenzen der noch zulässigen Tat-
provokation wird vor allem einerseits nach dem Grad der Einwirkung
auf den Täter, andererseits danach unterschieden, ob der Tatentschluß
des Provozierten hervorgerufen oder lediglich aufgedeckt wird. Die
vereinzelt erhobenen Forderungen nach einer Bestrafung des agent
provocateur haben sich bislang nirgends durchgesetzt. Das ist ein wich-
tiges Argument gegen die in der deutschen Diskussion vereinzelt er-
hQ!?~!1e Forderung nach Gleichbehandlung von Provokateur und Pro-
voziertemD2 • Die dabei in erster Linie geforderte Straflosigkeit für beide
ließe offensichtlich unberücksichtigt, daß der Provozierte von der Vor-

87 Vgl. SChllltZ, Einführung in den Allgemeinen Teil des Strafrechts, Bd. 1,


3. Auf!. 1977, S. 272 f.; dabei ist allerdings zu beachten, daß SChllltz klar unter-
scheidet zwischen dem Handeln des agent provocateur, der in einem anderen
Menschen den Willen weckt, ein strafbares Verhalten auszuführen, und der
"verdeckten Fahndung", bei der jemandem, der strafbaren Verhaltens ver-
dächtigt ist, Gelegenheit geboten wird, die Tat auszuführen, ohne daß auf
seine Willensbildung eingewirkt wird.
88 Vgl. § 6 des Dienstreglements vom 8.3.1951 für das Polizeikorps des
Kantons Zürich.
89 Nach Seelmann auf der Strafrechtslehrertagung 1983, vgl. ZStW 95
(1983), S. 993 ff. (Tagungsbericht von Gropp), 1006 .
• 0 Vgl. Maggiore, Diritto penale, 1951, S.569; Manzini, Trattato di diritto
penale italiano, Bd. 2, 1961, S. 529, 530.
n Vgl. Mantovani, Diritto penale, 1979, S.473; Bettiol, Diritto penale,
Parte generale, 11. Auf!. 1982, S. 590 ff.; jeweils m. w. N.
D2 Vgl. zur Diskussion auf der Strafrechtslehrertagung 1983 den Tagungs-
bericht von Gropp, ZStW 95 (1983), S. 993 ff., 995 f. (Lüderssen), 1002 (Rieß),
1003 (Lackner), 1005 (Seelmann) und 1006 (J. Meyer).
Zur V -Mann-Problematik aus rechtsvergleichender Sicht 1329

stellung ausgeht, er habe es mit seinesgleichen bzw. einem Komplizen


zu tun. Daß der agent provocateur in Wirklichkeit ein V-Mann ist,
ändert nichts an der Schuld des Provozierten.

III.

Der rechtsvergleichende überblick über drei ausgewählte Schwer-


punkte der komplexen V-Mann-Problematik bestätigt die Annahme,
daß die gegenwärtige Neuorientierung der höchstrichterlichen Recht-
sprechung in der Bundesrepublik Deutschland noch vor einer ganzen
Reihe von - eventuell nur mit Hilfe des Gesetzgebers durchzufüh-
renden - Weichenstellungen steht, für die der Blick über die natio-
nalen Grenzen durchaus hilfreich sein kann93 • Die aktuelle Forderung
nach spezialgesetzlichen Regelungen für die polizeiliche Untergrund-
fahndungU begegnet aus rechtsvergleichender Sicht schwerwiegenden
Bedenken. Bei der Tatprovokation legt der Rechtsvergleich eine dif-
ferenzierende Behandlung der Strafbarkeit des agent provocateur und
des Provozierten nahe 95 • Zu der Frage, wie das Wissen von V-Leuten
im Strafverfahren verwertet wird, hat die rechtsvergleichende Unter-
suchung ergeben, daß der Anspruch des V-Mannes auf Wahrung seiner
Anonymität in den ausländischen Rechtsordnungen weitgehend an-
erkannt wird9u • In einer Schlußbetrachtung soll geprüft werden, ob die
bereits mehrfach erwähnte Entscheidung des Großen Senats von 198387
dem in ausreichendem Maße Rechnung trägt.
Die klare Absage an die Praxis, kommissarische Vernehmungen des
V-Mannes auch gegen den Willen des Verteidigers in dessen Abwesen-
heit durchzuführen, weil die oberste Dienstbehörde den V-Mann aus
Sorge vor dessen Enttarnung nur unter dieser Voraussetzung freigibt,
und die Feststellung, daß es unzulässig ist, dem V-Mann bei seiner
Vernehmung die Nichtangabe seiner Personalien zu gestatten, erscheinen
auf den ersten Blick als konsequente Fortführung der kritischen Hal-

va Allerdings sollte sich der Rechtsvergleich nicht auf Detailprobleme


beschränken, wie sie Herdegen, NStZ 1984, 203, im Zusammenhang mit § 224
Abs. 1 S.2 StPO formuliert (Verlesung von Protokollen über richterliche Ver-
nehmungen außerhalb der Hauptverhandlung, von denen der Verteidiger
ausgeschlossen war).
9' So zuletzt der baden-württembergische Innen- und Justizminister Ey-
Tich in einem "SPIEGEL-Gespräch", vgl. DER SPIEGEL v. 9.1.1984 (38. Jahr-
gang, Nr. 2), S. 62 ff.; rechtsvergleichend dazu oben 11 1.
95 Vgl. oben 11 3; die grundsätzliche Bejahung der Strafbarkeit des Pro-
vozierten läßt es zweckmäßig erscheinen, die Problematik staatlicher Tat-
provokation prozeßrechtlich über ein Verfahrenshindernis zu lösen, vgl.
näher J. Meyer, ZStW 95 (1983), S. 853.
86 Vgl. oben 11 2.

87 Vgl. die Wiedergabe des wesentlichen Inhalts des Beschlusses in BGHSt.


32, 115, oben 11 2 (am Anfang).

84 Festschrift für H.-H. Je3check.


1330 Jürgen Meyer

tung des BGH zum Einsatz von V-Leuten im Strafprozeß 88. Es ist des-
halb nicht verwunderlich, daß der Beschluß des Großen Senats auf
scharfe Ablehnung bei den Anhängern der bisherigen Praxis gesto-
ßen ist".
Eine andere Gruppe von Autoren, die den Beschluß des Großen
Senats als Wende der Rechtsprechung grundsätzlich begrüßt, versucht
dagegen, ihm aufgrund einer extensiven Interpretation "die Wertent-
scheidung zu entnehmen, daß der anonyme Gewährsmann künftig für
das gerichtliche Verfahren ein Nullum sein sol1'<1Oo. Das würde bedeu-
ten, daß auch die bekannten Ersatzmöglichkeiten für die richterliche
Vernehmung des V-Mannes, nämlich der Zeuge vom Hörensagen und
die Verlesung des polizeilichen Vernehmungsprotokolls sowie schrift-
licher Äußerungen des V-Mannes, künftig ausgeschlossen wären, ob-
wohl sich der Große Senat dazu nicht geäußert hat101 • Dem kann aus
zwei Gründen nicht gefolgt werden. Erstens hatten der 2. Strafsenat
in seinem Vorlagebeschluß und der Generalbundesanwalt in seiner
Stellungnahme zu der dem Großen Senat vorgelegten Rechtsfrage aus-
drücklich auf die Konsequenz der Nichtzulassung einer kommissari-
schen Vernehmung unter Ausschließung des Verteidigers hingewiesen,
die darin bestehen würde, daß an die Stelle des zuverlässigeren Be-
weismittels der richterlichen Vernehmung die schwächeren Beweis-
mittel der polizeilichen Vernehmung oder einer nur schriftlichen Äuße-
rung des V-Mannes (bei deren Herstellung es kein Anwesenheitsrecht
des Verteidigers gibt) träten102 • Hätte der Große Senat dieser in den

88 Vgl. z. B. BGHSt.31, 236 (zum Ausschluß des Verteidigers von der


"kommissarischen Vernehmung" des V-Mannes durch das erkennende Ge-
richt) = JR 1983, 474 (mit Anm. J. Meyer); BGHSt. 31, 290 (fehlerhafte Be-
gründung für partielle Sperrung eines V-Mannes) = JR 1983, 476 (mit Anm.
J. Meyer); BGHSt. 31, 304 (Beweisverbot nach Abhören und Aufnehmen eines
Telefongesprächs zwischen V-Mann und Tatverdächtigem) = NStZ 1983,466
(mit Anm. J. Meyer).
8U Vgl. z. B. Herdegen, NStZ 1984, 200; Miebach, ZRP 1984, 81; die Kritik,
daß der Große Senat in seinem Beschluß deutlich über die ihm zur Ent-
scheidung vorgelegte Frage, ob eine kommissarische Zeugenvernehmung
unter Ausschluß des Verteidigers zulässig sei, hinausgegangen ist, ist be-
rechtigt.
100 Vgl. Frenzel, NStZ 1984, 41; ähnl. Schmid, DRiZ 1983, 474 (zustimmend
Spannhorst, JA 1984, 240); vgl. auch GTÜnwald, Strafverteidiger 1984, 58
("Der Tendenz der Entscheidung des Großen Senats entspräche es darum,
an die Verweigerung der Freigabe eines Zeugen die Konsequenz zu knüpfen,
daß seine Bekundungen auf keinem Wege in das Verfahren eingeführt wer-
den dürfen"); Miebach, ZRP 1984,83, übernimmt die extensive Interpretation
von Frenzel und baut auf dieser wenig überzeugenden Grundlage (insoweit
zutreffend Herdegen, NStZ 1984, 202) seine Kritik an dem "Alles oderNichts"-
Beschluß des Großen Senats auf.
101 Das wird insbes. von GTÜnwald, Strafverteidiger 1984, 58, zutreffend
als "schwer verständlich" kritisiert.
102 VgI. BGHSt. 32, 115 (unter 11, 2 und 3).
Zur V-Mann-Problematik aus rechtsvergleichender Sicht 1331

Gründen seines Beschlusses ausdrücklich wiedergegebenen Auffassung


widersprechen wollen, so hätte dies nur expressis verbis geschehen
können. Zweitens würde die Behandlung des anonym bleibenden
V-Mannes als Nullum entweder zu einer weitreichenden Entwertung
des V-Mann-Einsatzes führen, obwohl dieser ganz allgemein für krimi-
nalpolitisch notwendig gehalten wird. Oder aber man müßte prinzi-
piell die Enttarnung der V-Leute im Strafprozeß fordern. Das aber
wäre, weil die Wahrung der Vertraulichkeit nichts anderes als die
Grundvoraussetzung und das Constitutivum des V-Mann-Einsatzes
istl03 , ein Widerspruch in sich. Eine solche Forderung findet auch aus
rechtsvergleichender Sicht keine Stütze. •
Daraus folgt, daß denjenigen Autoren zuzustimmen ist, die bei aller
Anerkennung für die im Beschluß des Großen Senats enthaltene Ten-
denz die Befürchtung äußern, daß als zwangsläufige Folge eine Ver-
schlechterung der Beweisführung durch die vermehrte Sperrung von
V-Leuten seitens der Exekutive und durch ein verstärktes Zurück-
greifen der Gerichte auf die bekannten Surrogate zu erwarten isti"'.
Der Beschluß kann also durchaus zu weniger statt zu mehr Rechts-
staatlichkeit und Prozeßfairneß führen. Die Hoffnung, daß die Recht-
sprechung künftig "das für die richterliche Zeugenvernehmung auf-
gestellte Verbot der anonymen Zeugenvernehmung auch im Bereich
der sachferneren Beweissurrogate als allgemeines Verbot der Verwer-
tung von Bekundungen anerkennt, deren Anonymität erst im Verfah-
ren entstanden ist" 105, ist aus den genannten Gründen unrealistisch.
Auch von der Ablehnung der Verwertung von Äußerungen des ge-
sperrten Zeugen unter dem Gesichtspunkt des "Rechtsmißbrauchs
wegen widersprüchlichen Verhaltens"106 ist die Rechtsprechung noch
weit entferntl07. In dieser Situation spricht viel für das Eingreifen des
Gesetzgebers, das allerdings nicht zur Wiederherstellung des Rechts-
zustandes vor der Entscheidung des Großen Senatsl08, sondern zur

103 Vgl. eingehend zur Bedeutung der "Vertraulichkeitszusage" J. Meyer,


ZStW 95 (1983), S. 834 ff., 839 ff.
104 Vgl. Brons, MDR 1984, 177, 181 ff. (die Sperrung der V-Leute durch
die Exekutive und das anschließende Ausweichen der Gerichte auf die be-
kannten Surrogate wird zutreffend als "Grundübel" bezeichnet); Tiedemannl
Sieber, NJW 1984, 753, 760 ff.; Fezer, JZ 1984, 433 ff.
105 Vgl. TiedemannlSieber, NJW 1984, 762.
100 Vgl. Brons, MDR 1984, 182 f.; grundlegend Lüderssen, Festschrift für
Peters, 1974, S. 35 ff., und Brons, Neue Wege zur Lösung des strafprozessua-
len "V-Mann-Problems", 1982, S. 65 ff.; im wesentlichen zustimmend u. a.
J. Meyer, ZStW 95 (1983), S. 850 ff.; je m. w. N.
107 Vgl. nur die wenig überzeugende Äußerung des Bundesrichters Foth,
NJW 1984, 221, sowie das Urteil des BGH v. 23.5. 1984 (1 StR 148/84).
108 Vgl. aber in diesem Sinne den Vorschlag von Miebach, ZRP 1984, 85
(zustimmend Herdegen, NStZ 1984, 201, Fn. 65).

84·
1332 Jürgen Meyer

Stärkung der Judikative gegenüber der Außensteuerung durch die


Sperrung von V-Leuten seitens der Exekutive führen solltelOU • Die VOn
Jescheck im Jahre 1966 für die Beratungen des 46. Deutschen Juristen-
tages formulierte Frage, "ob bei allen wichtigeren Strafsachen die
Alternative der Preisgabe des V-Mannes oder der Nichtverwertung
der Aussage des Polizeibeamten angenommen werden sol1"110, könnte
dann im Interesse einer differenzierenden Problemlösung, nach der die
Anonymität des V -Mannes gewahrt, aber dennoch nicht auf den Zeu-
gen vom Hörensagen zurückgegriffen würde111 , verneint werden.

lOg Vgl. zum Gesetzesvorschlag für einen neuen § 251 a StPO J. Meyer,
ZStW 95 (1983), S. 857 f. (der Grundgedanke besteht darin, daß die Entschei-
dung über die Modalitäten einer gerichtlichen Vernehmung des V-Mannes
unter Wahrung seiner Anonymität in die Hand des Gerichts statt der Exe-
kutive gelegt werden soll); zustimmend Fezer, JZ 1984, 435.
110 Vgl. oben! mit Anm. 3.
Ul Vgl. J. Meyer, ZStW 95 (1983), S. 846 ff., m. w. N.
THOMAS WEIGEND

Anmerkungen zur Diskussion um den Kronzeugen


aus der Sicht des amerikanischen Rechts

1.
Daß die Strafrechtsvergleichung "der Lieferant, aber auch der Prüf-
stein der legislativen Ideen" ist, hat der verehrte Jubilar nicht nur
formuliertt, sondern auch in unzähligen selbst verfaßten% oder betreu-
ten Arbeiten tatkräftig unter Beweis gestellt. Für den Strafrechtsver-
gleicher ergibt sich aus dieser Funktionsbestimmung eine doppelte Auf-
gabe: Er hat die im Ausland bewährten Lösungsmodelle in die deutsche
Reformdebatte einzubringen, er muß aber auch vor der vorschnellen
übernahme ausländischer Rechtsinstitute warnen, wenn diese zwar
vordergründig Patentlösungen für bestimmte Sachprobleme zu ent-
halten scheinen, wenn aber ihre praktische Anwendung schon im Aus-
land zu Schwierigkeiten führt oder ihre Funktionsfähigkeit an Grund-
strukturen gebunden ist, die allein der fremden Rechtsordnung eigen
sind.
Den Anstoß zur übernahme ausländischer Einrichtungen kann u. a.
das Auftauchen eines bisher nur im Ausland bekannten Phänomens der
Delinquenz geben: Dem Import des übels soll dann der Import des
probaten Gegenmittels folgen. Ein Beispiel hierfür ist die Debatte um
den sogenannten Kronzeugen, die sich an das Vordringen konspirativer
und organisierter Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland an-
geschlossen hat. Die Besonderheit dieser neuen Formen des Verbre-
chens, etwa im Terrorismus-, Korruptions- und Rauschgiftbereich, liegt
u.a. in der internen Abschottung der Tätergruppen und -pyramiden
sowie in dem häufigen Fehlen individueller Opfer, die der Strafverfol-
gung Informationen aus erster Hand liefern könnten. Dies erschwert
die polizeiliche Aufklärungsarbeit ebenso wie den gerichtlichen. Nach-
weis der Tatbegehung gegenüber einzelnen Beschuldigten.
Die Strafverfolgungsorgane suchen angesichts der Gefährlichkeit der
genannten Verbrechensformen intensiv nach neuen Wegen, um der
1 Jescheck, Rechtsvergleichung als Grundlage der Strafprozeßreform,
ZStW 86 (1974), S. 761, 765.
2 S. nur die in dem von VogZer herausgegebenen Band "Strafrecht im
Dienste der Gemeinschaft", 1980, S. 161 - 451, gesammelten Beiträge J eschecks.
1334 Thomas Weigend

spezifischen Ermittlungs- und Beweisschwierigkeiten Herr zu werden.


Neben der Methode der Einschleusung getarnter Polizeiagenten, die
bekanntlich einen veritablen Steinschlag rechtlicher Probleme ins
Rollen gebracht hat', richtet sich das Interesse auf die Möglichkeit,
weniger stark belastete Tatbeteiligte aus der jeweiligen "Szene" her-
auszubrechen und sich ihrer als Informanten sowie als Belastungszeu-
gen im gerichtlichen Verfahren zu bedienen. Als Anreize sollen den
Betroffenen Straffreiheit oder jedenfalls erhebliche Strafnachlässe in
Aussicht gestellt werden. Der Begriff des Kronzeugen, den man aus
dem englischen Sprachgebrauch ("to turn the King's evidence"') über-
nommen hat, bezeichnet dabei eher den Grundgedanken als die exakte
rechtliche Einordnung dieses staatlich induzierten Frontenwechsels.

II.
Die ersten Ansätze zu einer gesetzlichen Verankerung des Kronzeu-
gen-Gedankens enthalten §§ 129 Abs.6, 129 a Abs. 5 StGB für den Be-
reich krimineller Vereinigungen sowie § 31 BtMG für die Rauschgift-
kriminalität. In beiden Fällen kann das Gericht die Strafe nach § 49
Abs.2 StGB mildern oder ganz von Strafe absehen, wenn der Täter
sein Wissen über Hintermänner oder weitere Tatbeteiligte den Straf-
verfolgungsbehörden zur Verfügung gestellt hat. Bei § 129 Abs.6 StGB
handelt es sich allerdings nicht um eine eigentliche Kronzeugen-Rege-
lung, sondern eher um einen Fall tätiger Reue. Bereits das "ernsthafte
Bemühen" des Täters um die Verhinderung weiterer Straftaten der
kriminellen Vereinigung verschafft ihm die Aussicht auf Strafmilde-
rung oder -freiheit. § 31 Nr.1 BtMG verlangt dagegen einen wesent-
lichen Beitrag zur Aufdeckung der Tat über die eigene Tatbeteiligung
des Täters hinaus. Damit ist freilich nicht gemeint, daß der Täter sein
Wissen notwendig als Zeuge in einer Hauptverhandlung gegen andere
Tatbeteiligte kundtun muß'. Honoriert werden kann schon die bloß in-
, Aus dem schon fast unübersehbaren Schrifttum s. nur Brons, Neue
Wege zur Lösung des strafprozessualen "V-Mann-Problems", 1982; Seelmann,
Zur materiell-rechtlichen Problematik des V-Mannes, ZStW 95 (1983), S.797;
J. Meyer, Zur prozeßrechtlichen Problematik des V-Mannes, ZStW 95 (1983),
S.834; Tiedemann/Sieber, Die Verwertung des Wissens von V-Leuten im
Strafverfahren, NJW 1984, 753.
, In England reicht die Geschichte des Kronzeugen, der sich durch die
Denunziation (vermeintlicher) anderer Täter die Begnadigung wegen der
eigenen Delikte erkaufen konnte, bis weit in eine Zeit hinein, in der die
Staatsgewalt mangels eines wohlorganisierten Strafverfolgungsapparates
dringend auf derlei Unterstützung angewiesen war; vgl. im einzelnen Radzi-
nowicz, A History of English Criminal Law and its Administration from
1750, Bd.2, 1956, S. 33 - 56; Jung, Straffreiheit für den Kronzeugen?, 1974,
S. 28 - 31; zahlreiche Einzelfälle, auch aus späterer Zeit, bei MiddendorjJ, Der
Kronzeuge. Historisch-kriminologisches Gutachten, ZStW 85 (1973), S. 1102.
5 So zutreffend Lundt/Schiwy, Betäubungsmittelrecht, Suchtbekämpfung,
1983, Anm. zu § 31 BtMG; Körner, Betäubungsmittelgesetz, 1982, § 31 Rdn.8;
Anmerkungen zur DiskuSsion um den Kronzeugen 1335

formelle Unterstützung der Polizei, wenn diese letztlich zur überfüh-


rung weiterer Tatbeteiligter beiträgt. Damit entspricht auch der Auf-
klärungsgehilfe nach § 31 BtMG nicht dem Bild des klassischen Kronzeu-
gen, wie er aus dem anglo-amerikanischen Recht bekannt ist; denn für
diesen ist charakteristisch, daß er als Zeuge der Anklage öffentlich vor
Gericht gegen seine Komplizen aussagt. Dennoch stellt § 31 BtMG in-
sofern einen wesentlichen Schritt in Richtung auf die zuvor in mehreren
parlamentarischen Anläufen gescheiterte' Figur des Kronzeugen dar,
als die Vorschrift erstmals formell die Gewährung von Strafmilderung
oder -verzicht gezielt mit der Hilfe bei der überführung von Mittätern
verknüpft.
Die Einführung von § 31 BtMG ist in der Praxis auf eine eher zwie-
spältige Reaktion gestoßen. Im Schrifttum wurde überwiegend zu
größter Vorsicht beim Umgang mit dem neuen Instrument gemahnt7 ;
dennoch wurde es schon in den ersten 18 Monaten seiner Existenz (bis
zum 30.6. 1983) in mehr als 500 Fällen angewandt8 , wobei sich hinter
dieser Zahl noch jener Unterteil des Eisberges verbirgt, in dem erfolglos
über die Gewährung eines Strafnachlasses nach § 31 BtMG verhandelt
wurde.
Die schweren Nachteile der Vorschrift sind jedoch nicht zu übersehen.
Sollte sie, wofür gewisse Anzeichen bestehen, in Betäubungsmittel-
sachen zum gewohnheitsmäßig angewandten Instrument der Strafver-
folgungsbehörden werden, so würde dies nicht nur schwerwiegende
strukturelle Ermittlungsschwächen auf- (bzw. ver-)decken, sondern die
routinemäßige Herabsetzung der Strafe für kooperative Beschuldigte
im Verein mit der bei der Neuordnung des Betäubungsmittelrechts 1981
vorgenommenen Anhebung der gesetzlichen Strafrahmen würde zu
einer schleichenden Strafmaßerhöhung für den "normalen" Drogen-
täter führen, der nicht zur Fahndung nach anderen beitragen kann oder
will. Bedenken erweckt auch die vage Formulierung der Anwendungs-
voraussetzungen des § 31 Nr.1 BtMGD• Da die Vorschrift außerdem das
Ermessen des Gerichts zur Strafmilderung zwar eröffnet, aber in kei-

ders., Der Aufklärungsgehilfe nach § 31 BtMG, StrVert. 1984, 217, 219; OLG
Düsseldorf, StrVert. 1983, 67; anders offenbar Joachimski, Betäubungsmittel-
recht, 3. Aufl. 1982, § 31 Anm. 3.
8 Vgl. EberthlMüller, Betäubungsmittelrecht, 1982, § 31 Rdn. 2.
7 s. etwa Slotty, Das Betäubungsmittelgesetz 1982, NStZ 1981, 321, 326;
Körner, Neuordnung des Betäubungsmittelrechts, NJW 1982, 673, 676; Eberth/
Müller (Anm. 6).
s BT-Drucks. 10/843 (1983), S. 25. Die Frage, ob § 31 BtMG die Aufklärungs-
quote erhöht, wird von den einzelnen Ländern unterschiedlich beurteilt; a. a. O.
D Wann liegt ein "Beitrag" zur weiteren Aufdeckung der Tat vor? Wann
ist dieser Beitrag "wesentlich"? Wieviel Wissen muß "offenbart" werden?
S. hierzu die Rechtsprechungsnachweise bei Kärner, Der AUfklärungsgehilfe
nach § 31 BtMG, StrVert. 1984, 217, 219 f.
1336 Thomas Weigend

ner Weise reguliert oder beschränkt, kann sich der Beschuldigte nicht
darauf verlassen, daß seine Mitarbeit tatsächlich in angemessenem
Umfang entgolten wird. § 31 BtMG degeneriert somit leicht zu einem
Lockmittel in der Hand der Polizei, das viel verspricht, aber zu nichts
verpflichtet.
Aus der Sicht des Beschuldigten besonders tückisch ist die Ausgestal-
tung des § 31 BtMG als "Erfolgstatbestand": Strafmilderung kann sich
nur verdienen, wessen Angaben tatsächlich zu weiteren Ermittlungser-
folgen beitragen, die nicht bereits in den vorhandenen Erkenntnissen
der Polizei angelegt waren10• Für die Sachdienlichkeit und Verwertbar-
keit seiner Angaben trägt der Beschuldigte nach der Rechtsprechung
des BGH sogar die faktische Beweislast: § 31 BtMG soll ihm nicht zu-
gute kommen, wenn er einen zwar nicht widerlegbaren (möglicherweise
wahren), aber nicht zur überzeugung des Gerichts bewiesenen Sachver-
halt schildertl1 •
Das gesetzgeberische Motiv für diese Regelung ist zwar einfühlbar:
Das Erfolgskriterium soll vermeiden, daß der Beschuldigte durch be-
wußt falsche Angaben die Polizei in die Irre führt, Unschuldige der
Strafverfolgung aussetzt und sich gleichzeitig auch noch einen Straf-
rabatt verschafftI!. Andererseits führt die Fassung des § 31 BtMG jedoch
in dem nicht seltenen Fall zu praktischen Schwierigkeiten, daß der Be-
schuldigte erst in der Hauptverhandlung Angaben über Hintermänner
macht; ob und in welchem Umfang das Gericht im Rahmen seiner Auf-
klärungspflicht gehalten ist, solchen Hinweisen nachzugehen und zu
diesem Zweck die Hauptverhandlung zu vertagen oder gar auszusetzen,
ist zweifelhaft l3 • Schwerer als diese Unklarheit wiegt, daß der Beschul-
digte im Regelfall keinen Einfluß darauf nehmen kann, ob ihm die
freiwillige und vollständige Offenbarung seines Wissens die Vorteile
des § 31 BtMG verschafft oder nicht. Ob seine Angaben zum "Erfolg"
führen, ist nämlich von zahlreichen Unwägbarkeiten, wie dem Vor-
wissen der Polizei, der Aussagefreudigkeit anderer Tatbeteiligter und
der Ermittlungsintensität bei der überprüfung der Aussagen abhängig.
Es stößt an die Grenze des in Art.3 GG enthaltenen Willkürverbots,
derartige Zufälligkeiten über das Auslösen der bis zum völligen Straf-
verzicht reichenden Strafmilderungsmöglichkeit entscheiden zu lassen.
Zudem ist § 31 BtMG in seiner derzeitigen Fassung schwerlich mit § 46
StGB vereinbar, wonach sich die Strafzumessung an der Schuld des
10 So jetzt ausdrücklich OLG Düsseldorf, StrVert. 1984, 205 f.
11 BGH NJW 1983, 692 f.; zustimmend Körner (Anm. 9), S. 219.
1! Ausgeschlossen ist diese Konstellation durch das Gesetz freilich nicht:
Was sich dem Gericht zunächst als "Aufdeckung" der Straftat durch den Be-
schuldigten darstellt, kann sich später als raffiniert ersonnenes Lügengespinst
erweisen.
13 Vgl. hierzu BGH StrVert. 1983, 505.
Anmerkungen zur Diskussion um den Kronzeugen 1337

Täters, an den verschuldeten Auswirkungen der Tat und an dem


Bemühen um Wiedergutmachung des Schadens zu orientieren hat14 •
Einem sichtlich am vorwerfbar herbeigeführten (bzw. zurechenbar ge-
minderten) Unrecht der Tat ausgerichteten Strafzumessungsrecht
widerspricht es, wenn das Strafmaß von Ermittlungserfolgen der Po-
lizei gegenüber dritten Personen abhängig gemacht wird.
Zweifeln ist § 31 BtMG schließlich auch hinsichtlich seiner Effizienz
ausgesetzt. Bisher bestehen wenig Anzeichen dafür, daß mit dieser
Regelung tatsächlich das angestrebte Ziel, die Enttarnung der Draht-
zieher des internationalen Rauschgifthandels, erreicht werden kann.
Das Wissen der kleinen Dealer und Konsumenten, die der Polizei ins
Netz gehen und die durch § 31 BtMG zur Aufdeckung ihrer Informa-
tionen ver anlaßt werden können, reicht regelmäßig nur bis zur nächst
höheren Verteilungsstufe und eröffnet nicht einmal Zugänge zum
"mittleren Management" der Rauschgiftkriminalität15•

III.

Stimmt der erste Anlauf zur Verwirklichung des Gedankens des


Kronzeugen im deutschen Recht somit eher skeptisch, so bleibt doch
die Frage, ob sich das Modell als solches - möglicherweise in verbesser-
ter Form - zur übernahme eignet. Zu klären ist jedoch zunächst, was
unter dem "Modell Kronzeuge" verstanden werden soll. Im folgenden
ist damit eine Regelung gemeint, wonach der Staat einem Straftäter
dafür, daß er offen16 sein Wissen über die Straftaten anderer preisgibt,
Zugeständnisse im Zusammenhang mit der Verfolgung oder Bestrafung
wegen eigener Taten macht.
Innerhalb dieses Definitionsrahmens ist wiederum zwischen solchen
Regelungen zu unterscheiden, die dem Kronzeugen völlige Straffreiheit
(sei es durch Verfolgungsverzicht oder durch gerichtliches Absehen von
Strafe) gewähren, und solchen, die seine Unterstützung lediglich bei
der Strafzumessung berücksichtigen. Der erstgenannte Fall ist im
Hinblick auf die rechtsstaatlichen Grundsätze, die in der prinzipiellen
Strafverfolgungspflicht des Staates (§ 152 Abs.2 StPO) ihren Nieder-
14 Zur verfassungsrechtlichen Dimension des Schuldprinzips bei der Straf-
zumessung Bruns, Leitfaden des Strafzumessungsrechts, 1980, S. 73 f., mit
Nachweisen aus der Rechtsprechung; s. auch ders., Strafzumessungsrecht,
2. Auf!. 1974, S. 591 - 612, zum Verhältnis von Nachtatverhalten und Straf-
zumessung.
15 Vgl. die detaillierten Schilderungen der Praxis in KreuzerlGebhardt/
Maassen/Stein-Hilbers, Drogenabhängigkeit und Kontrolle, 1982, S. 208 - 218,
342 - 350; s. auch den "Drogenbericht" der Bundesregierung, BT-Drucksache
10/843 (1983), S.25; skeptisch zur Effizienz des § 31 BtMG auch LUndt!Schiwy
(Anm.5).
18 Ausgeschlossen ist damit die Figur des im Untergrund bleibenden V-
Mannes, dessen eigene Straftaten toleriert werden.
1338 Thomas Weigend

schlag gefunden haben, der wesentlich problematischere. Auf ihn haben


sich die bisherigen reformpolitischen überlegungen konzentriert17 , wäh-
rend die Gewährung von Strafnachlässen an geständige und koopera-
tive Beschuldigte offenbar schon lange vor der Einführung von § 31
BtMG zur gängigen Gerichtspraxis gehört hat.
Für beide Spielarten des Kronzeugen-Modells gibt es Vorbilder im
Recht der USA. Auf die Regelungen dieses Landes wird hier deshalb
näher eingegangen, weil man sich bei der Diskussion um den Kron-
zeugen auf das anglo-amerikanische Vorbild18 beruft und weil erst die
(angebliche) Annäherung des Ausmaßes konspirativen Verbrechens in
Deutschland an "amerikanische Verhältnisse" die Forderung nach dem
Kronzeugen hat entstehen lassen. Die Betrachtung der Erfahrungen
mit den verschiedenen Kronzeugenpraktiken in den USA kann sich
für die deutsche Diskussion vor allem dann als nützlich erweisen, wenn
sie Aussagen über die Ablösbarkeit dieser Rechtsfigur von ihrem ur-
sprünglichen rechtlichen Umfeld zuläßt.

IV.
Zunächst ist zu fragen, weshalb die Strafverfolgungsbehörden der
USA überhaupt des Kronzeugen bedürfen. Die Deliktsbereiche, in denen
hauptsächlich auf ihn zurückgegriffen wird, sind bekannt: politische
Korruption, Wirtschaftskriminalität, Rauschgifthandel sowie die vom
organisierten Verbrechen beherrschten "opferlosen" Delikte wie Wu-
cher, Glücksspiel und Prostitution. Schon für die Aufdeckung dieser Straf-
taten ist die Polizei bekanntlich weitgehend auf Informanten aus dem
entsprechenden Milieu angewiesen - eine Problematik, die hier nicht
weiter zu vertiefen ist. Nur so viel sei rechtsvergleichend zur Frage der
V-Leute angemerkt: Sofern die Staatsanwaltschaft sie nicht als echte
Zeugen vor Gericht ruft und damit enttarnt10 , sind ihre Erkenntnisse

17 VgI. neben der eingehenden Untersuchung von Jung (Anm.4) noch


J. Meyer, Brauchen wir den Kronzeugen?, ZRP 1976,25; Jahrreiß, Zum Ruf
nach dem sogenannten Kronzeugen, Festschrift für Lange, 1976, S. 765. In der
Verfahrenswirklichkeit soll die Möglichkeit des Absehens von Strafe bei § 31
BtMG nach Auskunft von Praktikern keine Rolle spielen.
18 Zu vergleichbaren Regelungen in anderen Staaten des anglo-amerika-
nischen Rechtskreises Jung (Anm. 4), S. 28 - 38.
10 Nach amerikanischem Recht muß grundsätzlich jeder Zeuge seinen rich-
tigen Namen und seine Adresse angeben, um dem Angeklagten die Möglich-
keit effektiver Verteidigung zu gewährleisten; Smith v. Illinois, 390 U.S. 129
(1968). In letzter Zeit werden jedoch von diesem Grundsatz zunehmend Ab-
striche gemacht, wenn Leben oder Gesundheit des Zeugen infolge des Be-
kanntwerdens seiner Personalien bedroht wären; so z. B. U.S. v. Contreras,
602 F. 2 d 1237 (5th Cir. 1979); U.S. v. Mesa, 660 F. 2 d 1070 (5th Cir. B 1981);
U.S. v. Hughes, 659 F. 2 d 317 (5th Cir. B 1981); weitere Nachweise bei Fried-
man, Annotation: Right to Cross-Examine Witness as to His Place of Resi-
dence, 85 ALR 3 d 541.
Anmerkungen zur Diskussion um den Kronzeugen 1339

wegen des im anglo-amerikanischen Beweisrecht geltenden Verbots des


Zeugnisses vom Hörensagen prinzipiell nicht in der Hauptverhandlung
verwertbar. Dennoch macht die amerikanische Polizei häufig von In-
formanten Gebrauch, um sich Zugang zu strafrechtlich relevanten
Transaktionen, insbesondere im Rauschgiftbereich, zu verschaffen. In
diesen Fällen braucht der in der Hauptverhandlung aussagende Polizei-
beamte im Kreuzverhör durch die Verteidigung die Identität des V-
Mannes grundsätzlich nicht zu offenbaren, es sei denn, es handelt sich
um einen Tatzeugen, dessen Verfügbarkeit für eine sachgerechte Ver-
teidigung unerläßlich ist20 •
Auf Zeugen, die bereit sind, Informationen über Tat und Täter preis-
zugeben, muß sich der Staatsanwalt im Strafrechtspflegesystem des
Bundes sowie etwa der Hälfte der amerikanischen Einzelstaaten schon
im Vorverfahren stützen. Dort wird nämlich die Anklage nicht durch
die Staatsanwaltschaft selbst, sondern von einer Gruppe von Bürgern,
der grand jUrT" erhoben. Die grand jury tagt unter Ausschluß der
Öffentlichkeit und verfügt über ähnliche Zwangsrechte wie ein Gericht.
Der Staatsanwalt muß ihr, wenn er sie zur Anklageerhebung bewegen
will, Beweismaterial vorlegen, das sie zumindest vom Bestehen eines
dringenden Tatverdachts gegen den Beschuldigten überzeugt.
In Anbetracht des konspirativen Charakters der hier interessieren-
den Deliktsformen bedarf es schon auf dieser Stufe des Verfahrens
häufig der Zeugenaussage von "Insidern". Zwar ist nach amerikani-
schem ebenso wie nach deutschem Recht grundsätzlich jedermann ver-
pflichtet, vor Gericht (und auch vor der grand jury) als Zeuge auszu-
sagen. Im Ernstfall nützt diese Regelung dem Ankläger bei tatbeteilig-
ten Zeugen jedoch wenig: Die amerikanische Bundesverfassung ent-
hält das sogenannte privilege against self-incriminationH , das ähnlich
wie § 55 StPO ein Recht zur Auskunftsverweigerung bei der Gefahr
strafrechtlich relevanter 3 Selbstbelastung gewährt. Die amerikanische
20 Diese Grundsätze wurden entwickelt in Roviaro v. U.S., 353 U.S. 53
(1957); McCray v. Illinois, 386 U.S. 300 (1967); zahlreiche weitere Nachweise
bei Wigmore, Evidence in Trials at Common Law, Bd. 8, 1961, § 2374.
!1 Vgl. hierzu mit zahlreichen Nachweisen der amerikanischen Literatur
Weigend, Funktion und Tätigkeit der Staatsanwaltschaft in den USA, in:
Jescheck/Leibinger (Hrsg.), Funktion und Tätigkeit der Anklagebehörde im
ausländischen Recht, 1979, S. 587,619 - 621.
!Z Die Regelung "No person ... shall be compelled in any criminal case
to be a witness against himself" findet sich im 5. Zusatz (amendment) zur
amerikanischen Bundesverfassung.
Z3 Die Gefahr disziplinarrechtlicher Verfolgung oder anderer Nachteile
löst nach der Rechtsprechung das Verweigerungsrecht nicht aus; Ullmann v.
U.S., 350 U.S. 422 (1956). Andererseits ist es gleichgültig, ob die strafrecht-
liche Verfolgung von Instanzen des Bundes oder eines Einzelstaates droht;
Murphy v. Waterfront Commission, 378 U.S. 52 (1964). Ob auch die Gefahr
der VerfOlgung im Ausland zur Berufung auf das privilege against self-
1340 Thomas Weigend

Version des Auskunftsverweigerungsrechts ist zwar in mancher Hin-


sicht enger als ihr deutsches Gegenstück (so greift sie nicht bei der
Belastung Verwandter ein24, der Zeuge braucht nicht über sein Recht
belehrt zu werden25 , und schon eine einzige inkriminierende Auskunft
wird als genereller Verzicht auf die Geltendmachung des Verweige-
rungsrechts interpretiert2ll), aber sie erlaubt dem Zeugen schon dann zu
schweigen, wenn auch nur das leiseste Anzeichen dafür besteht, daß
die erfragten Angaben ein Glied in einer Kette bilden könnten, die zu
seiner strafrechtlichen Verurteilung führt 27 • Der Zeuge braucht den
Verweigerungsgrund auch nicht glaubhaft zu machen: Das Gericht darf
ihn nur dann zur Aussage zwingen, wenn es nach den Umständen "voll-
kommen klar" ist, daß die verlangten Antworten in keinem Fall zu
einer strafrechtlich relevanten Selbstbelastung führen können28 • De
facta reicht also, von extremen Fällen abgesehen, die bloße Behauptung
des Zeugen, er habe strafrechtliche Verfolgung zu befürchten, aus, um
seine Aussagepflicht zunächst außer Kraft zu setzen.
Unumgänglich wird der Rückgriff auf Kronzeugen für die Staatsan-
waltschaft, wenn es zu einer Hauptverhandlung vor dem gleichfalls
ausschließlich aus Laien zusammengesetzten Geschworenengericht
(jury) kommt. Hier tritt die Schwierigkeit hinzu, daß die Verteidigung
alles daransetzt, die Glaubwürdigkeit belastender Zeugenaussagen im
Kreuzverhör in den Augen der Laienrichter zu erschüttern. Die
Schwäche eines Zeugen, der ersichtlich nur widerwillig unter dem
Druck des gesetzlichen Aussagezwanges Angaben macht, innerlich aber
auf der Seite des Beschuldigten steht, wird spätestens im Kreuzverhör
aufgedeckt; solche Zeugen stiften für die Anklage mehr Schaden als
Nutzen2D • Die adversatorische Struktur des amerikanischen Verfahrens

incrimination berechtigt, ist noch nicht endgültig geklärt; vgl. Zicarelli v.


New Jersey 8tate Commission, 406 U.8. 473 (1973); In re Grand Jury 8ub-
poena of Flanagan, 691 F. 2 d 116 (2nd Cir. 1982); Phoenix Assurance Company
of Canada v. Runck, 317 N.W. 2 d 402 (North Dakota 1982); Zimmett, The
Federal Use Immunity 8tatute since Kastigar, 1973/74 Annual 8urvey of
Ameriean Law, 1974, 8. 343, 350 - 356.
24 Wigmore (Anm.20), § 2196.
Z5 U.8. v. Mandujano, 425 U.8. 564 (1976); U.8. v. Wong, 431 U.8. 174 (1977).
28 U.8. v. Monia, 317 U.8. 424 (1943); Rogers v. U.8., 340 U.8. 367 (1951).
!7 Diese großzügige Einstellung der amerikanischen Rechtsprechung findet
sich in zahlreichen Entscheidungen; s. z. B. Blau v. U.8., 340 U.8. 159 (1950);
Hoffmann v. U.8., 341 U.8. 479, 486 (1951); Malloy v. Hogan, 378 U.8. 1, 12
(1964). Nach der Entscheidung Kastigar v. U.8., 406 U.8. 441, 445 (1972), wird
das Auskunftsverweigerungsrecht hinsichtlich aller Angaben gewährt "which
the witness reasonably believes eould be used in a eriminal proseeution or
eould lead to other evidenee that might be so used".
28 Hoffmann v. U.8., 341 U.8. 479, 488 (1951); vgl. hierzu Cleary (Hrsg.),
MeCormick's Handbook on the Law of Evidenee, 2. Aufl. 1972, 8. 294 - 296.
2D "In many eases reluetant witnesses are bad witnesses"; Kaplan, The
Proseeutorial Diseretion - A Comment, Northwestern University Law Re-
Anmerkungen zur Diskussion um den Kronzeugen 1341

bringt so für die Staatsanwaltschaft die Notwendigkeit mit sich, ihre


Prozeßbehauptungen mit kooperativen Zeugen zu belegen, die den
Geschworenen den Eindruck vermitteln, daß sie aus lauteren Motiven
die ganze Wahrheit bekunden.

V.

Wenn die Bundesverfassung Schutz davor gewährt, sich durch die


eigene Aussage strafrechtlicher Verfolgung aussetzen zu müssen, so
kann der Zeuge doch dadurch zum Reden ver anlaßt werden, daß ihm
Straffreiheit zugesichert wird. Auf diesem Gedanken beruhen die so-
genannten Immunitätsgesetze, die in den USA eine mehr als hundert-
jährige Tradition besitzen30 und die auch für die heutige Praxis von
einiger Bedeutung sind. 1857 erließ der Bundesgesetzgeber erstmals
eine Vorschrift, nach der ein Zeuge vor Ausschüssen des Kongresses
zwar zu selbstbelastenden Aussagen gezwungen, aber wegen keiner
Straftat verfolgt werden durfte, die er in seiner Aussage erwähnte
(sog. transactional immunity). Schon bald zeigte sich freilich, daß
so weit gefaßte Strafbefreiungsvorschriften zum Mißbrauch einluden:
Strafrechtlich schwer belastete Zeugen beeilten sich, in ihren Aussagen
eine möglichst große Zahl bekannter und unbekannter Straftaten
unterzubringen, um sich in dem vom Gesetzgeber zur Verfügung ge-
stellten "Immunitätsbad" reinzuwaschen. Daher ging man ab 1862 da-
zu über, nur noch sog. use immunity zu gewähren. Danach konnte
der Zeuge zwar wegen der Delikte, die seine Aussage berührte, verfolgt
werden, es bestand aber ein Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der
Aussage selbst. Damit war jedoch nach Ansicht des U.S. Supreme
Court den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügt. In einer
Entscheidung aus dem Jahre 1892 erklärte er ein use-immunity-Gesetz
für verfassungswidrig, da es dem Zeugen sein Auskunftsverweigerungs-
recht nahm, ohne ihn ausreichend davor zu schützen, daß seine erzwun-
gene Aussage indirekt zu seiner überführung in einem späteren Straf-
verfahren verwendet wird 81 •

view 60 (1965), S. 174, 183. Der Berufsrichter beschränkt sich in den USA
darauf, die Verhandlung zu leiten; er greift nur selten selbst in die Beweis-
aufnahme ein und nimmt auch nicht an der Urteilsberatung der Geschwore-
nen teil. Es besteht daher keine Möglichkeit, daß ein laienhafter Schluß vom
Aussageverhalten auf die Unglaubwürdigkeit eines Zeugen von objektiver
Seite korrigiert wird.
so Abrisse der Geschichte der Immunitätsgesetzgebung des Bundes finden
sich in Comment, The Federal Witness Immunity Acts in Theory and Practice:
Treading the Constitutional Tightrope, Yale Law Journal 72 (1963), S.1568;
Hearings before the Subcommittee on Criminal Laws and Procedures of the
Committee on the Judiciary, U.S. Senate, Measures relating to Organized
Crime, 1969, S. 293 - 296; Taylor, Witness Immunity, 1983, S. 33 - 37.
SI Counselman v. Hitchcock, 142 U.S. 547 (1892).
1342 Thomas Weigend

Unter dem Druck dieser Rechtsprechung kehrte der Gesetzgeber zu


dem ursprünglichen Modell zurück und sicherte dem Zeugen die Nicht-
verfolgung wegen offenbarter eigener Straftaten zu. Erst beim Erlaß ei-
nes umfassenden Gesetzgebungsprogramms zur Bekämpfung des or-
ganisierten Verbrechens im Jahre 1970 unternahm der Bundesgesetz-
geber einen neuen Anlauf zur effektiveren Gestaltung der Immunität:
Er schuf die Möglichkeit, den Zeugen, der sich auf das privilege against
self-incrimination beruft, zur Aussage zu verpflichten und ihm gleich-
zeitig zuzusichern, daß weder die Aussage selbst noch die auf ihrer
Grundlage gefundenen weiteren Beweismittel gegen ihn verwendet
werdens2 • Diese Regelung, die die Billigung des U.S. Supreme Court
gefunden hat33, gilt für Zeugen, die vor einem Ausschuß des Kongres-
ses oder einer Behörde, einem Gericht oder einer grand jury des Bundes
auszusagen haben. Sie schützt freilich nicht vor Strafverfolgung wegen
Meineids oder falscher AussageM •
Das Verfahren der "Immunisierung" eines Zeugen spielt sich nach
dem Bundesgesetz folgendermaßen ab: Verweigert der Zeuge vor der
grand jury oder vor dem Gericht unter Berufung auf das privilege
against self-incrimination die Antwort auf bestimmte Fragen, so wird
die Verhandlung unterbrochen. Der Staatsanwalt stellt beim Richter
den Antrag auf Gewährung von Immunität. Dieser Antrag muß durch
das Bundesjustizministerium (dem alle Bundesstaatsanwälte unter-
stehen) ausdrücklich gebilligt werden und die - nicht näher zu bele-
gende - Behauptung enthalten, daß die Aussage des Zeugen im öffent-
lichen Interesse notwendig seiss . Der Richter hört den Zeugen anso und
erläßt, wenn die formellen Voraussetzungen erfüllt sind, einen Be-
schluß, durch den der Zeuge zur Auskunft verpflichtet und zugleich die
Verwendung der Aussage oder ihrer Früchte zur Strafverfolgung des
Zeugen ausgeschlossen wird. Der Richter muß, wenn der Antrag der
Staatsanwaltschaft keine Formfehler aufweist, die Immunität gewäh-

32 Die Regelung ist jetzt in 18 U.S. Code §§ 6001- 6005 enthalten.


aa Kastigar v. U.S., 406 U.S. 441 (1972). Das Gericht betonte, daß die Straf-
verfolgungsbehörden durch das Gesetz daran gehindert seien, die geschützte
Aussage in irgendeiner Hinsicht zu verwenden; a. a. 0., S.452, 461. In einer
späteren Entscheidung wurde die Verurteilung eines Angeklagten sogar
schon deshalb aufgehoben, weil festgestellt wurde, daß der Anklagevertreter
das Wortprotokoll einer Vernehmung des späteren Angeklagten, für die ihm
use immunity zugesagt worden war, gelesen hatte; U.S. v. McDaniel, 482 F.
2 d 305 (8th Cir. 1973); vgl. hierzu Zimmett (Anm. 23), S. 356 - 359.
M 18 U.S. Code § 6002; die Verfassungsmäßigkeit dieser Ausnahme wurde
bestätigt in U.S. v. Apfelbaum, 445 U.S. 115 (1980).
35 18 U.S. Code § 6003. Der Antrag kann auch schon vor Beginn der Ver-
nehmung des Zeugen gestellt werden, wenn abzusehen ist, daß sich dieser auf
sein Auskunftsverweigerungsrecht berufen wird.
31 Ob die Anhörung rechtlich notwendig ist, ist streitig; vgl. TayloT
(Anm.30), S. 40 f.
Anmerkungen zur Diskussion um den Kronzeugen 1343

ren37 ; er kann andererseits nicht ohne Antrag der Staatsanwaltschaft


tätig werden, so daß faktisch der StaatsanwaUS8 frei darüber entschei-
det, ob ein Zeuge zur Aussage verpflichtet wird oder nicht.
Daran knüpft sich das in den USA derzeit viel diskutierte Problem,
ob auch die Verteidigung die Möglichkeit haben soll, Aussagen von
Zeugen unter Gewährung von Immunität zu erzwingen38 • Häufig wird
der Staatsanwalt nicht bereit sein, einen entsprechenden Antrag zu
stellen, wenn von dem Zeugen Aussagen zu erwarten sind, die den An-
geklagten entlasten. Einerseits kann sich die Verteidigung in einer
solchen Situation auf das Prinzip der Fairneß und der Waffengleichheit
berufen'o, andererseits wird das Absehen von Strafverfolgung traditio-
nell als eine Domäne der Exekutive angesehen, in die sich der Richter
nicht von sich aus einzumischen hat 41 • Aus jüngster Zeit liegen ver-
schiedene Entscheidungen vor, die ein Eingreifen des Gerichts jeden-
falls in Extremfällen gestatten, in denen der Prozeß der Sachverhalts-
aufklärung von der Staatsanwaltschaft bewußt dadurch verzerrt wird,
daß sie untätig bleibt, wenn wichtige Zeugen der Verteidigung das pri-
vilege against self-incrimination in Anspruch nehmen'!.
Weigert sich der Zeuge trotz der Gewährung von Immunität weiter,
die inkriminierenden Auskünfte zu geben, so wird er vom Gericht für
"in contempt of court" erklärt. Er kann dann mit Beugehaft bis zu
18 Monaten zur Erfüllung seiner Aussagepflicht angehalten und statt
dessen oder zusätzlich mit Kriminalstrafe belegt werden'3.

37 Die Rechtsprechung geht davon aus, daß der Richter in dieser Frage
über keinerlei Ermessen verfügt; s. z. B. U.S. v. Hollinger, 553 F. 2 d 535, 548
(7th Cir. 1977); weitere Nachweise bei Sugar, Federal Witness Immunity
Problems and Practices under 18 U.S.C. §§ 6002 - 6003, American Criminal
Law Review 14 (1976), S. 275, 293 Fn. 96, 98.
38 Die Zustimmung des Justizministeriums wird so gut wie immer erteilt;
vgl. die Zahlen bei Sugar (Anm. 37), S. 294 Fn. 104.
39 Vgl. zu dieser Frage Sheriff, Defense Witness Immunity: Constitutional
Demands and Statutory Change, Journal of Criminal Law and Criminology
72 (1981), S. 1026; Quinn, Defense Witness Immunity - A "Fresh" Look at
the Compulsory Process Clause, Louisiana Law Review 43 (1982), S. 239.
40 Das 6. amendment zur amerikanischen Bundesverfassung gewährt dem
Angeklagten sogar ausdrücklich das Recht "to have compulsory process for
obtaining witnesses in his favor".
41 Vgl. hierzu Duffy, Current Controversies Concerning Witness Immunity
in the Federal Courts, Villanova Law Review 27 (1981/82), S.123, 144 - 146;
Sheriff (Anm.39), S. 1047 ff.
42 U.S. v. Herman, 589 F. 2 d 1191 (3rd Cir. 1978); Government of the Virgin
Islands v. Smith, 615 F. 2 d 964 (3rd Cir. 1980); wesentlich zurückhaltender
U.S. v. Turkish, 623 F. 2 d 769 (2nd Cir. 1980).
43 18 U.S. Code § 401 (criminal contempt); 28 U.S. Code § 1826 (civil con-
tempt); Einzelheiten bei Grand Jury Defense Office of the National Lawyers
Guild, Representation of Witnesses before Federal Grand Juries (im folgen-
den: Representation), 1967, S. 447 - 473. Die Verurteilung wegen contempt of
1344 Thomas Weigend

In der amerikanischen Praxis scheint die Gewährung von use im-


munity den Zeugen weitgehend vor Strafverfolgung zu schützen44 • Da
nach der Rechtsprechung die Staatsanwaltschaft die Beweisführungs-
last dafür trägt, daß die Anklage gegen einen früher "immunisierten"
Beschuldigten auch nicht mittelbar auf dessen Aussage, sondern aus-
schließlich auf unabhängigen Beweisquellen beruht45 , wird nur selten
der Versuch unternommen, die Ahndung eines Delikts herbeizuführen,
über das der Täter unter Zusicherung von Immunität ausgesagt hat.
Trotz der in einschlägigen Handbüchern der Staatsanwaltschaft emp-
fohlenen Zurückhaltung gegenüber dem Instrument der Immunitäts-
gewährung48 machen jedenfalls die Staatsanwälte des Bundes relativ
häufig von ihm Gebrauch: Im Jahre 1981 stellten sie etwa 1600 An-
träge auf Immunisierung von insgesamt mehr als 3200 Zeugen47 , denen
fast durchweg stattgegeben wurde.
Im Rechtssystem des Bundes spielt die Immunitätsgewährung vor
allem deshalb eine große Rolle, weil die "immunitätsverdächtigen"
Deliktsgruppen, wie Korruption und überörtlicher Rauschgifthandel,
häufig von der Strafjustiz des Bundes verfolgt werden, auch wenn die
konkurrierende Zuständigkeit eines Einzelstaates besteht. In den 50
Einzelstaaten findet sich hinsichtlich der Immunität, wie bei den meisten
strafrechtlichen Materien, eine verwirrende Vielzahl unterschiedlicher
Regelungsmodelle. Dies betrifft sowohl das Verfahren bei der Gewäh-
rung von Immunität, bei dem teilweise dem Richter die Alleinentschei-
dung überlassen ist48 , als auch den Umfang der Immunität. In der Mehr-
zahl der Einzelstaaten hat sich noch das alte System der transactional
immunity erhalten, das aussagefreudigen Zeugen zu einem "Immuni-
tätsbad" verhilft4U • In einigen Staaten existieren gar keine gesetzlichen

court durch Aussageverweigerung kann in einem gesonderten Verfahren,


aber auch summarisch innerhalb des laufenden Verfahrens erfolgen; U.S. v.
Wilson, 421 U.S. 309 (1975); siehe dazu Wyld, Summary Contempt May Prop-
erly Be Applied to the Orderly Refusal of Witnesses to Testify at Trial after
Grant of Immunity - United States v. Wilson, American Criminal Law
Review 13 (1975), S. 271.
44 Representation (Anm. 43), S. 27; Sugar (Anm. 37), S. 286.
45 Grundlegend Kastigar v. U.S., 406 U.S. 441, 461 f. (1972). Ob der Beweis
"über jeden vernünftigen Zweifel hinaus" oder nur "mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit" geführt werden muß, ist noch nicht geklärt; vgl. zu die-
ser Frage Sugar (Anm. 37), S. 282 f.; Taylor (Anm. 30), S. 84 f.
48 Es handle sich um ein äußerstes Mittel, das nur in gravierenden Fällen
angewandt werden dürfe, wenn es für den Erfolg der Strafverfolgung unver-
zichtbar sei; California District Attorneys' Association, Uniform Crime
Charging Standards, 1974, S.44; ZageI, Investigative Grand Juries, in: Aron
(Hrsg.), Prosecution of the Criminal Case, 1975, S. 3 b - 17 f.
47 FlanaganlMcLeod, Sourcebook of Criminal Statistics 1982, 1983, S. 438.
48 Einzelheiten bei Taylor (Anm. 30), S. 54 f.i Cleary (Anm. 28), S. 304.

49 Sugar (Anm. 37), S. 286; Taylor (Anm.30), S. 30.


Anmerkungen zur Diskussion um den Kronzeugen 1345

Vorschriften über die Gewährung von Straffreiheit im Gegenzug zum


Verzicht des Zeugen auf das privilege against self-incrimination; ob die
Staatsanwaltschaft an entsprechende Zusagen gebunden ist, wird von
den Gerichten dieser Staaten unterschiedlich beurteilt5o •
Wer sich für die Einführung der Figur des Kronzeugen, dem für
seine Kooperation völlige Straffreiheit gewährt wird, ausspricht 5t,
der kann sich auf ein amerikanisches "Vorbild" nur mit großen Ein-
schränkungen berufen. Zunächst ist festzustellen, daß der Strafverzicht
gegenüber Kronzeugen in den USA keineswegs zum Gerichtsalltag
gehört, sondern daß auf diese Möglichkeit dort nur mit größter Reserve
zurückgegriffen wird 52 • Dies ist auch verständlich, da bei dieser Variante
der Kronzeugen-Regelung der Staat im vorhinein auf die Durchset-
zung des Strafrechts gegenüber dem aussagebereiten Tatbeteiligten
verzichtet, ohne verläßlich abschätzen zu können, welchen Wert dessen
Aussage für die überführung anderer Täter haben wird. Außerdem
sorgt das deutsche Prozeßrecht dafür, daß der Staatsanwalt hier unter
geringerem Druck steht, sich auf den zweifelhaften Handel mit einem
Tatbeteiligten einlassen zu müssen: Er ist nicht darauf angewiesen,
Zeugen "der Anklage" zu präsentieren, sondern kann sich darauf ver-
lassen, daß das Gericht auch widerwillig gemachte oder unvollständige
Aussagen angemessen zu würdigen versteht. Andererseits kann dem
amerikanischen Ankläger der Verzicht auf die Verfolgung des Kron-
zeugen leichter fallen, weil er rechtlich keiner Anklagepflicht unterliegt
und sein Erledigungsverhalten daher insgesamt stärker an Gesichts-
punkten der Effizienz im großen als an solchen der strikten Gleichbe-
handlung des Einzelfalles orientiert5s •

VI.

Nur ein kleiner Bruchteil der Tatbeteiligten, die in den USA bei der
überführung von Haupt- oder Mittätern mit der Staatsanwaltschaft
zusammenarbeiten, wird mit der offiziellen Gewährung von Immunität
belohnt. Wesentlich häufiger beschränkt sich die Staatsanwaltschaft

50 Die Verbindlichkeit wurde beispielsweise verneint in Commonwealth


v. Brown, 619 S.W. 2 d 699 (Kentucky 1981), dagegen bejaht in Surina v.
Buckalew, 629 P. 2 d 969 (Alaska 1981).
51 Strikt gegen diese Idee z. B. J. Meyer (Anm.17); eher befürwortend
Jahrreiß (Anm.17). Jung (Anm.4), S. 92, bezeichnet die Einführung des Kron-
zeugen zwar als eine "systemkonforme legislatorische Maßnahme", will sie
aber nur unter strengen Voraussetzungen bei Bestehen eines "Ermittlungs-
notstandes" zulassen.
52 S. oben Anm. 46.

53 Vgl. hierzu Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, 1978, S. 98 - 108; zur


Vereinbarkeit einer Kronzeugen-Regelung mit dem Legalitätsprinzip ein-
gehend Jung (Anm. 4), S. 43 ff.

85 Festschrift für H.-H. Jescheck


1346 Thomas Weigend

darauf, dem kooperationsbereiten Täter in informeller Weise entgegen-


zukommen. Dabei kann sie sich ihr uneingeschränktes Verfolgungser-
messen zunutze machen, das sich nicht nur auf das Ob der Anklage-
erhebung, sondern auch auf die Auswahl und rechtliche Bewertung der
Anklagepunkte erstreckt. Da das Gericht nicht wegen eines schwereren
als des angeklagten Straftatbestandes verurteilen kann, hat es der Staats-
anwalt in der Hand, den zur Verfügung stehenden Strafrahmen weit-
gehend zu determinieren. Hinzu kommt, daß viele Richter einer Emp-
fehlung des Anklagevertreters zum Strafmaß routinemäßig folgen54 •
In der Praxis verbreitet und allgemein anerkannt55 ist die folgende
Vorgehensweise: Die Staatsanwaltschaft, die an der überführung einer
konspirativen Gruppe von Tätern, etwa Rauschgifthändlern oder Wirt-
schaftsdelinquenten interessiert ist, sammelt zunächst gegen einen oder
mehrere weniger stark belastete Tatbeteiligte Beweismaterial, das zur
Verurteilung ausreicht. Dann tritt sie mit diesen Personen oder ihren
Anwälten in Verhandlungen ein, bei denen sie in Aussicht stellt, daß sie
durch entsprechende Fassung der Anklage oder durch Einwirkung auf
den Richter für eine relativ milde Strafe58 sorgen werde, wenn der Be-
troffene zuvor an der überführung und Verudeilung von Drahtziehern
oder schwerer belasteten Hintermännern mitwirkt.
Rechtlich wird diese Praxis mit dem wenig realitätsnahen Argument
verteidigt, daß die Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden
bei dem Beschuldigten auf Einsicht und Reue schließen lasse, was bei
der Strafzumessung zu seinen Gunsten zu berücksichtigen sei51 • Tat-
sächlich sind jedoch zwei wesentliche Vorteile dafür ausschlaggebend,
daß die Staatsanwaltschaft diese Vorgehensweise bevorzugt: Erstens
braucht auf eine Sanktionierung des Tatbeteiligten nicht vollständig
verzichtet werden, und zweitens ist die Staatsanwaltschaft nicht, wie
bei der Immunitätserklärung, gezwungen, die Katze im Sack zu kaufen,
sondern kann die Vorleistung des Kronzeugen abwarten, bevor sie ihm
ihrerseits verbindliche Konzessionen macht 58 • Dies ist besonders dann

~4 Einzelheiten bei Weigend, Strafzumessung durch die Parteien. Das Ver-


fahren des plea bargaining im amerikanischen Recht, ZStW 94 (1982), S. 200.
&& Vgl. etwa California District Attorneys' Association (Anm.46), S.39;
HaganjBernstein, Sentence-Bargaining in Federal District Courts, in: Mc-
Donald!Cramer (Hrsg.), Plea-Bargaining, 1980, S. 151, 156 - 158; s. auch die
Richtlinie der Bundesstaatsanwaltschaft, wiedergegeben bei CotJee, "Twist-
ing Slowly in the Wind": A Search for Constitutional Limits on Coercion of
the Criminal Defendant, Supreme Court Review 1980, 211, 224.
&8 Neben der Einflußnahme auf das Strafmaß können Staatsanwälte auch
andere "Vergünstigungen" in Aussicht stellen, etwa die Befürwortung der
Aufhebung der Untersuchungshaft oder die Nichtverfolgung von Familien-
angehörigen des Beschuldigten; vgl. CofJee (Anm. 55), S. 226 f.
&1 HaganjBernstein (Anm. 55), S. 158.

58 DutJy (Anm. 41), S. 142.


Anmerkungen zur Diskussion um den Kronzeugen 1347

wichtig, wenn der tatbeteiligte Zeuge in der Hauptverhandlung auf-


treten soll - in diesem Fall schafft das Damoklesschwert der späteren
Strafverfolgung für ihn einen Anreiz, "erfolgreich", d. h. für die Ge-
schworenen im Sinne der Anklage überzeugend auszusagen68 • Ein ge-
schic1der Staatsanwalt legt bei der Befragung des Zeugen von sich aus
offen, daß diesem ein Strafnachlaß für seine Aussage gewährt oder in
Aussicht gestellt wurdeoo , und vermeidet damit, daß die Verteidigung
diese Tatsache als überraschungscoup im Kreuzverhör herausfragtOl,
um die Glaubwürdigkeit des Zeugen in den Augen der Geschworenen
zu erschüttern. So vorteilhaft diese Form des "deal" für die Anklage-
behörde ist, so riskant ist sie für den Kronzeugen. Er gibt durch die
"freiwillige" Aussage sein privilege against self-incrimination preis
und setzt sich möglichen Repressalien der von ihm belasteten Tatbe-
teiligten aus; ob er die versprochene Gegenleistung von der Staatsan-
waltschaft tatsächlich einfordern kann, ist jedoch höchst ungewiß 62 •
Zwar neigen die Gerichte seit einiger Zeit dazu, Staatsanwälte jeden-
falls dann aus Gründen der Fairneß zur Einlösung ihrer Zusagen anzu-
halten, wenn diese beweisbar (d. h. schriftlich festgehalten) sinds3 • Da-
mit ist aber der Kronzeuge noch nicht unbedingt gegen eine spätere
Strafverfolgung durch andere Staatsanwaltschaften geschützt!!<" und er
ist insbesondere dann ohne jede rechtliche Sicherung, wenn er sich auf
mehr oder weniger feste mündliche Versprechungen des Staatsanwalts
eingelassen hat.
Druck auf einen "kleinen Fisch" zur Hilfe beim Fangen "großer
Fische" kann schließlich auch noch durch den Richter bei der Strafzu-
messung ausgeübt werden. Bekannt geworden ist etwa das Vorgehen
des Richters John Sirica im Watergate-Fall, der den im Watergate-

68 S. etwa die schriftlichen Zusagen eines Angeklagten-Zeugen, die· bei


Note, Accomplice Testimony and Credibility: "Vouching" and Prosecutorial
Abuse of Agreements to Testify Truthfully, Minnesota Law Review 65 (1981),
S. 1169, 1170 Fn. 8, wiedergegeben sind. Für unzulässig wird es allerdings
angesehen, Vergünstigungen ausdrücklich vom "Erfolg" der Aussage, d. h.
etwa von der Verurteilung eines anderen Angeklagten abhängig zu machen;
vgl. U.S. v. Waterman, Criminal Law Reporter 35 (1984), S. 2129.
60 Dies empfiehlt beispielsweise Doyle, Examination of Witnesses, in:
Aron (Hrsg.), Prosecution of the Criminal Case, 1975, S. 9 - 25; die rechtliche
Zulässigkeit dieser Praxis ist allerdings zweifelhaft; vgl. U.S. v. Arroyo-
Angulo, 580 F. 2 d 1137, 1146 (2nd Cir. 1978).
61 Vgl. Note (Anm. 59), S. 1171, insb. Fn. 11.
82 Taylor (Anm. 30), S. 55 f.
83 S. z. B. U.S. v. Carter, 454 F. 2 d 426 (4th Cir. 1974); U.S. v. Kurzer, 534
F. 2 d 511 (2nd Cir. 1976); Rowe v. Griffin, 676 F. 2 d 524 (11th Cir. 1982); zu
den Grenzen "informeller Immunität" s. aber auch U.S. v. Quatermain, 631
F. 2 d 38 (3rd Cir. 1980).
84 Vertrauensschutz über den zusagenden Staatsanwalt hinaus wird etwa
verneint in Application of Parham, 431 P. 2 d 86 (Arizona 1967); U.S. v.
Boulier, 359 F. Supp. 165 (E.D.N.Y. 1972).

8S'
1348 Thomas Weigend

Hotel festgenommenen Einbrechern hohe Freiheitsstrafen auferlegte


und ihnen gleichzeitig eine - nach Bundesrecht innerhalb von 120
Tagen nach der Straffestsetzung zulässige - Reduktion für den Fall
in Aussicht stellte, daß sie Angaben über ihre Hintermänner machen
würden8s • Der bekannte Erfolg dieser Methode im Einzelfall kann nicht
über ihre rechtliche Fragwürdigkeit hinwegtäuschen. Sie wirft u. a. das
Problem auf, ob die Berufung auf das von der Verfassung garantierte
privilege against self-incrimination etwa als schuldsteigerndes oder
resozialisierungsfeindliches Merkmal bei der Strafzumessung berücksich-
tigt werden darf66. Nach der amerikanischen Rechtsprechung kann der
Richter die Ablehnung der Kooperation mit der Polizei jedenfalls dann
strafschärfend verwerten, wenn der Angeklagte Hintermänner preis-
geben könnte, ohne sich selbst (weiter) zu belasten67 ; auch entsprechende
gesetzliche Strafzumessungsvorschriften wurden für verfassungskon-
form erklärt68 •
Die Ähnlichkeit der skizzierten amerikanischen Praxis des Aus-
tauschens von Strafnachlaß gegenüberführungshilfe mit dem in § 31
BtMG verwirklichten Kronzeugen-Modell läßt sich nicht übersehen. So
liegen auch die Probleme in beiden Fällen ähnlich: die Fragwürdigkeit
eines Strafzumessungsgrundes "Kooperationsbereitschaft" , der sich
kaum mit den herkömmlich akzeptierten Strafzielen, sondern ausschließ-
lich mit kriminalistischem Zweckdenken legitimieren läßt; der er-
hebliche psychologische Druck, der auf einen möglicherweise nur
marginal belasteten Tatbeteiligten ausgeübt wird; die schwer zu be-
seitigende Ungewißheit über die vom strafzumessenden Richter zu er-
bringende Gegenleistung; die zweifelhafte Glaubwürdigkeit des Kron-
zeugen, der seine Aussage an den (vermuteten) Erwartungen der Straf-
verfolgungsbehörden zu orientieren geneigt ist; und schließlich der
mangelhafte Schutz des aussagebereiten Zeugen vor Repressalien
seitens der "verratenen" Tatbeteiligten89 • All dies läßt auch eine

85 Vgl. hierzu CofJee (Anm. 55), S. 213 Fn. 7.


88 CofJee (Anm. 55), S. 218.
87 Roberts v. U.S., 445 U.S. 552 (1980).
88 State v. LeCompte, 406 So. 2d 1300, 1305 f. (Louisiana 1981).
69 Mit Recht kritisch zu den geringen Schutzmöglichkeiten nach deutschem
Recht Körner (Anm.9), S.220. Das amerikanische Justizministerium verfügt
seit 1970 über ein Witness Protection Program, mit dessen Hilfe Personen,
die sich gegen das organisierte Verbrechen als Zeugen zur Verfügung stellen,
samt ihren Familien an andere Wohnorte verpflanzt und mit neuen Identi-
täten ausgestattet werden können; Public Law 91 - 452, Title V, §§ 501 - 504,
abgedruckt als Note vor 18 U.S. Code § 3481. Auch diese Option wirft jedoch
nicht nur eine Reihe praktischer und rechtlicher Folgeprobleme auf, sondern
erscheint wegen des mit ihr verbundenen weitgehenden Eingriffs in die Ent-
faltungsmöglichkeiten der Betroffenen insgesamt zweifelhaft; vgl. Mass, The
Dilemma of the Intimidated Witness in Federal Organized Crime Prosecu-
tions: Choosing among the Fear of Reprisals, the Contempt Powers of the
Anmerkungen zur Diskussion um den Kronzeugen 1349

"weiche" Kronzeugenregelung, wie sie § 31 BtMG erstmals ins deutsche


Strafverfahren eingeführt hat, nur als äußerste Notlösung akzeptabel
erscheinen.
Rechtfertigen könnte man die gesetzliche Festschreibung von Straf-
rabatten für aussagefreudige Täter allenfalls als kleineres gegen-
über einem bisher regellos wuchernden übel: Wenn es richtig ist, daß
"Prozeßvergleiche" und "deals" zwischen Staatsanwaltschaft, Verteidi-
gung und Gericht schon heute zum Alltag unserer Strafgerichtsbarkeit
gehören70 , dann spräche in der Tat einiges dafür, die gängigen Markt-
preise im Rahmen des Möglichen festzulegen, anstatt die Existenz
des Marktes zu ignorieren und ihn damit dem Recht des Schlaueren zu
überlassen. Falls der Gesetzgeber zu der Erkenntnis gelangt, daß
"kooperatives" Verhalten des Beschuldigten ungeachtet gesetzlicher
Ge- oder Verbote bei der Strafmaßentscheidung honoriert, Schweigsam-
keit dagegen negativ berücksichtigt wird, dann sollte er tätig werden.
Nicht zuletzt das Interesse des Beschuldigten dar an, die Folgen seines
Verhaltens im Verfahren abschätzen zu können, würde es dann nahe-
legen, explizit der Größe nach fest umrissene Strafnachlässe für das
"ernsthafte Bemühen um vollständige Tataufklärung" im Gesetz zu
verankern.

Court, and the Witness Protection Program, Fordham Law Review 50 (1982),
S.582.
70 Vgl. hierzu Schlothauer, Die Einstellung des Verfahrens gemäß §§ 153,
153 a StPO nach Eröffnung des Hauptverfahrens, StrVert. 1982, 449; Deal,
Der strafprozessuale Vergleich, StrVert. 1982, 545; Schmidt-Hieber, Verein-
barungen im Strafverfahren, NJW 1982, 1017.
Strafrechtsanwendungsrecht,
Internationales und supranationales
Strafrecht, Völkerstrafrecht
ALBIN ESER

Die Entwicklung des Internationalen Strafrechts


im Lichte des Werkes von Hans-Heinrich J escheck

Wenn es in einer wachsenden Welt von Spezialisten glücklicherweise


auch noch einige Universalisten gibt, so gehört der verehrte Jubilar
zweifellos dazu. Neben zahlreichen dogmatischen Arbeiten, die in sei-
nem großen Lehrbuch des "Allgemeinen Teils" des Strafrechts ihre
krönende Summe gefunden haben, neben reformpolitischen Schriften,
die bereits durch seine Mitwirkung in der Großen Strafrechtskommis-
sion einen besonderen Impetus erfuhren, neben den rechtsvergleichen-
den Blicken über die nationalen Grenzen, die ihn stets vor dogmatischer
wie auch kriminalpolitischer Provinzialität bewahrten: neben diesem
ohnehin schon ungewöhnlich breiten CEuvre nehmen J eschec1cs Bei-
träge zum Internationalen Strafrecht einen nicht weniger großen Raum
ein.
Das zeigt sich schon rein quantitativ daran, daß in seinem als "Straf-
recht im Dienst der Gemeinschaft" treffend betitelten Sammelband
die internationalstrafrechtlichen Arbeiten fast ein Drittel von 628 Sei-
ten ausmachen1 , wobei seine umfangreiche Studie zu den Nürnberger

1 Jescheck, Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft. Ausgewählte Beiträge


zur Strafrechtsreform, zur Strafrechtsvergleichung und zum Internationalen
Strafrecht aus den Jahren 1953 - 1979 (hrsg. von Vogler), 1980. In dieser
nachfolgend als "Sammelband" abgekürzten Auswahl finden sich zum Teil-
bereich des "Internationalen Strafrechts" folgende Beiträge: Die Strafgewalt
übernationaler Gemeinschaften, ZStW 65 (1953), S. 496 - 518 = Sammelband
S. 455 - 471. - Die internationale Rechtshilfe in Strafsachen in Europa, ZStW
66 (1954), S. 518 - 544 = Sammelband S. 472 - 491 (ital. übers. in: Rivista italiana
di diritto penale 1955,309 - 337). - Verbrechen gegen das Völkerrecht, Deutsche
Landesreferate zum IV. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung 1955,
S. 351 - 382 (zit. Dt. Landesreferate 1954) = Sammelband S. 492 - 520 (franz.
übers. in: Revue Internationale de Droit Penal 1955, S. 503 - 554). - Zur Re-
form der Vorschriften des StGB über das internationale Strafrecht, Internatio-
nales Recht und Diplomatie (= IRuD) 1956, S. 75 - 95 = Sammelband S. 521 -
544. - Die Entwicklung des Völkerstrafrechts nach Nürnberg, SchwZStr 72
(1957), S. 217 - 248 = Sammelband S. 545 - 565. - Die Vollstreckung ausländi-
scher Straferkenntnisse in der Bundesrepublik Deutschland, in: Festschrift
für von Weber, 1963, S. 325 - 342 = Sammelband S. 566 - 580. - Gegenwärtiger
Stand und Zukunftsaussichten der Entwurfsarbeiten auf dem Gebiet des Völ-
kerstrafrechts, Erinnerungsgabe für Grünhut, 1965, S. 47 - 60 = Sammelband
S. 581 - 594 (franz. übers. in: Revue Internationale de Droit Penal 1964, S. 83 -
106; ital. übers. in: Rivista italiana di diritto e procedura penale 1964, S. 631 -
700; port. übers. in: Revista brasileiro de criminologia e direito penal 1965,
1354 AlbinEser

Prozessen! wie auch verschiedene kleinere Veröffentlichungen 3 nicht


einmal mit aufgenommen sind und neuerdings noch sein Bericht über
Stand und Zukunftsaussichten des internationalen Strafrechts hinzu-
zuzählen wäre 4 • Aber noch weitaus wichtiger ist natürlich die qualita-
tive Bedeutung dieser Beiträge. Denn nicht nur, daß sich Jescheck be-
reits zu einer Zeit, als kritische Stellungnahmen zu den Nürnberger
Prozessen von deutscher Seite international noch alles andere als will-
kommen waren, dieser Aufgabe mit rechtsstaatlich engagiertem Mut,
wenngleich auch mit weltpolitischem Realismus gestellt hat S ; auch seine
weitsichtigen Durch- und überblicke über mögliche Formen internatio-
naler Kooperation im Bereich des Strafrechts haben dieser immer wie-
der neuen Ziele gesteckt und Wege gewiesen', ganz zu schweigen von der

S. 53 - 71). - Gedanken zur Reform des deutschen Auslieferungsgesetzes,


Etudes en l'honneur de Jean Graven, 1969, S. 75 - 89 (zit. Graven-Festschrift)
= Sammelband S. 595 - 605. - Neue Formen der internationalen Rechtshilfe
in Strafsachen, Festschrift für Honig, 1970, S. 69 - 78 = Sammelband S. 606 -
614 (engl. übers. in: Law and state. Vol. 2. Tübingen 1970, S.7 - 18). - Gegen-
standund neueste Entwicklung des internationalen Strafrechts, Festschrift
für Maurach, 1972, S. 579 - 594 = Sammelband S. 615 - 628 (ita1. übers. in:
Rivista italiana di diritto e procedura penale 1971, S. 633 - 648; port. übers.
in: Revista de direito pena11972, S. 7 - 20).
! Jescheck, Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht.
Eine Studie zu den Nürnberger Prozessen, 1952.
3 Jescheck, Das Strafrecht der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft,
ZStW 65 (1953), S. 113 - 131. - Das Strafrecht nach dem Truppenvertrag, ZStW
65 (1953), S. 293 - 310. - Der strafrechtliche Schutz der internationalen humani-
tären Abkommen, ZStW 65 (1953), S. 458 - 478 (franz. übers. in: Revue Inter-
nationale de Droit Penal 1953, S. 13 - 42). - Die internationale Genocidium-
Konvention und die Lehre vom Völkerstrafrecht, ZStW 66 (1954), S. 193 - 217. -
Die an Bord von Luftfahrzeugen begangenen Straftaten und ihre Rechtsfolgen.
Dt. Beiträge zum VII. Internationalen Strafrechtskongreß in Athen 1957.Son-
derheft der ZStW 1957, S. 195 - 217 (franz. übers. in: Revue Internationale de
Droit Penal 1956, 371 - 391). Straftaten gegen das Ausland, Festschrift für
Rittler, 1957, S. 275 - 285. - "Strafrecht, internationales" in: Wörterbuch des
Völkerrechts (= WBV) (hrsg. v. Strupp/Schlochauer), 2. Auf!. 1962, III. Bd.,
S. 396 - 399, sowie "Völkerstrafrecht" , S. 781 f. - Der VIII. Internationale
Strafrechtskongreß in Lissabon, ZStW 74 (1962), S. 183 - 197. - Die internatio-
nalen Wirkungen der Strafurteile, ZStW 76 (1964), S. 172 - 176. - Lo stato
attuale deI diritto penale europeo, in: Prospettive per un diritto penale euro-
peo, 1968, S. 321 - 344. - European Criminal Law in Development, in: Fest-
schrift für Rie, 1975, hrsg. von SonnenfeZd/MinoT, S. 25 - 33.
e Jescheck, Entwicklung, gegenwärtiger Stand und Zukunftsaussichten des
internationalen Strafrechts, GA 1981, S. 49 - 70 (engl. übers. in: Revue Inter-
nationale de Droit Penall981, 337 - 363).
5 Vgl. dazu insbesondere die in Fn.2 genannte Schrift, ferner den in Fn.l
angeführten Beitrag in SchwZStr.72 (1957), S. 217 ff. = Sammelband S. 545-
565.
o Vgl. dazu von den in Fn.l und 3 genannten Arbeiten insbes. die über-
sichtsbeiträge in IRuD 1956, 75 - 95 = Sammelband S. 521 - 544; SchwZStr.72
(1957), S. 217 - 248 I = Sammelband S. 545 - 565; Grunhut-Erinnerungsgabe
1965, S. 47 - 60 = Sammelband S. 581- 594; Lo stato attuale deI diritto penale
europeo 1968, S. 321 - 344; Graven-Festschrift, S. 75 - 89 = Sammelband S. 595 -
605; Honig-Festschrift, S. 69 - 78 = Sammelband S. 606 - 614; Maurach-Fest-
Das Internationale Strafrecht im Werk von Hans-Heinrich Jescheck 1355

nicht immer publizistisch dokumentierten, aber deswegen kaum weni-


ger einflußreichen Tätigkeit in internationalen Gremien und wissen-
schaftlichen Gesellschaften, wobei hier lediglich auf Jeschecks langjäh-
rige Präsidentschaft in der Association Internationale de Droit Penal
hingewiesen sei. Nicht zuletzt aber ist sein Einfluß auf die Neugestaltung
der internationalstrafrechtlichen Bestimmungen des StGB hervorzu-
ben; denn ohne seine Vorarbeiten7 wäre dieses Reformstück sicherlich
nicht so verwirklicht worden, wie es dann - wenn auch letztlich viel-
leicht nicht ganz in seinem Sinne - in Gestalt der jetzigen §§ 3 bis 9
StGB zum Gesetz geworden ist.
Die mit einem solchen Einsatz verbundenen Hoffnungen rechtferti-
gen die Frage, inwieweit Jeschecks Vorstellungen Wirklichkeit gewor-
den sind: was davon in Erfüllung gegangen, was unerfüllt geblieben
ist, aber auch, inwieweit seine Auffassungen selbst eine Entwicklung
durchgemacht haben oder anderweitig überholt wurden. Mein ur-
sprüngliches Vorhaben, aus diesem Blickwinkel sein gesamtes inter-
nationalstrafrechtliches Werk zu würdigen, hat sich jedoch schon aus
Raumgründen als nicht realisierbar erwiesen. Bei der demzufolge not-
wendigen Beschränkung sei hier jener Bereich in den Mittelpunkt ge-
stellt, in dem Jeschecks Einfluß wohl am unmittelbarsten zur Entfaltung
kommen konnte: bei der Reform des materiellen Internationalen Straf-
rechts 8 • Daß er dies jedoch nie in isolierter Engführung gesehen hat,
ist bereits ein Spezifikum von Jeschecks Verständnis des Internationa-
len Strafrechts, weswegen damit zu beginnen ist.

I. Begriff und Aufgaben des Internationalen Strafrechts

1. Schon bei dieser Standortbestimmung tritt ein Grundzug von


Jeschecks Sichtweise hervor: ein gesunder, jedem fruchtlosen Doktri-
narismus abholder Pragmatismus. Dies erleichtert es ihm, den Begriff
des Internationalen Strafrechts einerseits "im weitesten Sinne" zu ver-
stehen9 , um mit Rücksicht auf den "Funktionszusammenhang" in einer

schrift, S. 579 - 594 = Sammelband S. 615 - 628; Rie-Festschrift, S. 25 - 33; GA


1981, S. 49 - 70.
7 Grundlegend dazu sein in der Großen Strafrechtskommission (Nieder-
schriften Bd. IV S. 11 - 18) gehaltenes Referat, das in überarbeiteter und mit
Belegen versehener Form unter dem Titel "Zur Reform der Vorschriften des
StGB über das internationale Strafrecht" zunächst nur - etwas abgelegen -
in IRuD 1956, 75 - 95 veröffentlicht war, nun aber durch Aufnahme in den
Sammelband (S. 521 - 544) leichter zugänglich ist.
S Neben der zuvor genannten Schrift ist dabei insbesondere auch seine
lexikographische Zusammenfassung des internationalen Strafrechts im WBV
(vgl. oben Fn. 3) sowie die Darstellung im Lehrbuch des Strafrechts, Allgemei-
ner Teil, 1. Aufl. 1969, S. 113 - 134, 2. Aufl. 1972, S. 125 - 148, 3. Aufl. 1978, S. 127 -
154, ferner sein Beitrag in der Maurach-Festschrift (Fn. 1) zu berücksichtigen.
• GA 1981,49.
1356 Albin Eser

- von ihm selbst so bezeichneten - "pragmatischen" Weise sowohl


"die Bestimmungen zur Abgrenzung der staatlichen Strafgewalt im
Verhältnis zum Ausland" als auch die verschiedenen Formen der inter-
nationalen Rechtshilfe (einschließlich des Auslieferungsrechts) sowie
das übernationale Strafrecht (wie vor allem im Bereich der europäi-
schen Gemeinschaften) bis hin zur Einrichtung internationaler Strafge-
richtsbarkeit einzuschließen10 und selbst das sog. Völkerstrafrecht mit-
einzubeziehenl l , somit also dem Internationalen Strafrecht "alle straf-
rechtlichen Rechtsbildungen (zuzuordnen), bei denen das Verhältnis des
Staates zum Ausland eine Rolle spielt"I!. Dies hindert ihn aber ande-
rerseits nicht, in seinem Lehrbuch den Begriff des Internationalen Straf-
rechts auf die Anwendbarkeit des materiellen Strafrechts eines Staates
auf einen bestimmten Sachverhalt mit internationalem Einschlag zu
begrenzenl3 , sich insoweit also auf ein - an anderer Stelle so bezeichne-
tes - "internationales Strafrecht im klassischen Sinne" zu beschrän-
ken u und dieses als (inner-) staatliches Recht ausdrücklich vom Völker-
recht (und damit inzidenter auch vom Völkerstrafrecht) abzusetzen15 -
wobei allenfalls überraschen mag, daß dieses auch sonst weltweit zu be-
obachtende unterschiedliche Begriffsverständnis18 in seinem Lehrbuch an
keiner Stelle ausdrücklich artikuliert, sondern dort - in auffälligem
Unterschied zu den eher ausgreifenden monographischen Schriften17 -
stillschweigend vom engeren Begriff des Internationalen Strafrechts
ausgegangen wird l8 •

10 Maurach-Festschrift, S. 579 = Sammelband S. 615.


11 GA 1981, 49 Fn. 1. Eingehend zu dieser Einbeziehung des Völkerstraf-
rechts Trifjterer, Völkerstrafrecht im Wandel? in dieser Festschrift, S. 1477 ff.
12 So an der in Fn. 10 genannten Stelle, wobei er sich für dieses weite Be-
griffsverständnis auf namhafte Vorläufer berufen kann. Auf dieser Basis
dürfte wohl auch die Auswahl in seinem Sammelband (Fn. 1) zu erklären sein.
13 Lehrbuch 3. Auft. S. 129.
14 Dt. Landesreferate 1954 S. 357 = Sammelband S. 496, ebenso Honig-
Festschrift, S. 580 = Sammelband S. 616.
15 Lehrbuch 3. Auft. S. 130; ebenso auch schon in WBV 111 (Fn.3) S.396.
18 Vgl. den überblick bei Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Auft. 1983,
S. 1 ff., wobei jedoch vor allem die im romanischen Sprachbereich zu beobach-
tenden Bemühungen, das Strafanwendungsrecht als "droit penal internatio-
nal" vom Völkerstrafrecht als "droit international penal" schon begrifflich
abzusetzen (Oehler, S. 1 Fn. 2), Beachtung verdienen.
17 Besonders extrem in diesem Sinne der Entwicklungsbericht in GA 1981,
49 ff., wo das "klassische" Internationale Strafrecht sogar völlig ausgeklam-
mert ist und es statt dessen im wesentlichen nur um Fragen des Völkerstraf-
rechts und der internationalen Rechtshilfe geht.
18 So auch in IRuD 1956,75 - 95 = Sammelband S. 521 ff. und im WBV-Bei-
trag 111 S. 396 ff., während in Maurach-Festschrift, S. 579 ff. (= Sammelband
S. 615 ff.) sowohl das materielle Internationale Strafrecht als auch die inter-
nationale Rechtshilfe behandelt werden. Auch in dem dem "Völkerstrafrecht"
gewidmeten § 14 des Lehrbuchs (3. Aufl. S. 91 ff.) findet sich keine begriffliche
Abgrenzung.
Das Internationale Strafrecht im Werk von Hans-Heinrich Jescheck 1357

Innerhalb dieses "klassischen" Internationalen Strafrechts freilich


hat sich Jescheck bereits in seiner ersten grundlegenden Arbeit, die der
Reform der einschlägigen StGB-Vorschriften gewidmet warlt und den
Beratungen der Großen Strafrechtskommission (GrStrK) als Diskus-
sionsgrundlage diente 20 , um weitere dogmatische Verfeinerungen be-
müht. Dies gilt vor allem für die grundlegende Unterscheidung zwischen
dem (materiellen) Geltungsbereich des Strafrechts und dem (prozes-
sualen) Umfang der Strafgerichtsbarkeit21 • Auch wenn diese Unter-
scheidung schon einige Zeit geläufig war2, finden sich deren Konsequen-
zen doch bei Jescheck in unmißverständlicher Weise herausgearbeitet
und gegen die damals teils noch vertretene Auffassung abgesichert,
daß die Grenze der Gesetzesherrschaft mit dem Umfang der Gerichts-
barkeit zusammenfalle!3; denn demgegenüber hat er zu Recht verschie-
dene Fälle namhaft gemacht, in denen einerseits inländische Gerichte
ausländisches Recht anzuwenden haben (wie etwa nach der bis 1940
geltenden Neubürgerregelung des § 4 Abs.3 S.2 StGB)!4 bzw. umge-
kehrt trotz Ausschlusses der eigenen Gerichtsbarkeit das materielle
Strafrecht noch anwendbar sein kann (wie vor allem im Rahmen der
Besatzungsgerichtsbarkeit)25.
über diese hierzulande inzwischen allgemein akzeptierte Grundun-
terscheidung zwischen materieller Strafrechtsgeltung und prozessua-
ler Justizhoheit!8 hinaus finden sich freilich in jener frühen Schrift noch
keine weiteren Differenzierungen. Dies gilt insbesondere für die schon
damals virulente, die materielle Seite jener Unterscheidung betref-
fende Frage, ob die internationalstrafrechtlichen StGB-Bestimmungen-
wie schon bei Binding grundgelegt!7 und dann namentlich im Anschluß
an Mezger 8 fast allgemein vertreten29 - als bloßes "Strafanwendungs-
19 IRuD 1956, 75 - 95 = Sammelband S. 521 - 544.
20 Vgl. oben zu Fn. 7.
21 IRuD 1956, 76 f. = Sammelband S. 522 f.
22 Vgl. die angeführten Vorläufer ebenda auf S.76 bzw. 522, jeweils Fn.8.
23 So Schönke, Gegenwartsfragen des internationalen Strafrechts, Mezger-
Festschrift, 1954, S. 105, 108.
24 IRuD 1956, 76 = Sammelband S.522. Auf dieses Problem der Fremd-
rechtsanwendung wird noch zurückzukommen sein: unten IH. 4.
!5 IRuD 1956, 76 f. = Sammelband S. 523.
21 Daß diese jeweilige Zuordnung zum materiellen oder formellen Recht
allerdings keine Selbstverständlichkeit ist, hat bereits Mezger, Die grund-
sätzliche Bedeutung der neuen Bestimmungen über den Geltungsbereich des
Strafrechts, DStR 1941, 18 f., hervorgehoben; vgl. ferner Schultz, Zur Rege-
lung des räumlichen Geltungsbereiches durch den E 1962, GA 1966, 193 f.
27 Vgl. Binding, Handbuch des Strafrechts, Bd. I, 1885, S. 372 f.
28 Vgl. dazu bereits Mezger, Strafrecht, 2. Auf!. 1933, S. 57 sowie DStR 1941,
18 f., während demgegenüber Lange an gleicher Stelle (DStR 1941, 6 f.) noch
vorbehaltlos von "Kollisionsnormen" spricht.
29 Vgl. für viele Jagusch, 8. Auf!. 1956, Vorbem. 2 zu §§ 3 bis 6 (S. 71).
1358 AlbinEser

recht" (im Unterschied zu reinen "Kollisionsnormen" im international-


privatrechtlichen Sinne) sowohl zutreffend als auch erschöpfend charak-
terisiert seien30 • In dieser Frage hat J eschecks Einschätzung offenbar selbst
eine gewisse Entwicklung durchgemacht: Während nach seinem WBV-
Beitrag von 1962 das Internationale Strafrecht, indem er diesem eine
kollisions rechtliche Auswahlfunktion grundsätzlichabsprichfIt, "nur
bestimmt, ob das eigene Strafrecht auf einen gegebenen Sachverhalt an-
zuwenden ist", somit also bloßes "Rechtsanwendungsrecht" sei32 , wird
in der 1. Auflage des Lehrbuchs von 1969 diese Position insofern modi-
fiziert, als es "bei den Regeln des internationalen Strafrechts nicht, wie
vielfach gelehrt wird, um den Anwendungsbereich des eigenen materiel-
len Strafrechts, sondern um das dieser Frage noch vorgelagerte Problem
des Umfangs der staatlichen Strafgewalt (gehe)"83. Diese den Anwen-
dungsgrenzen vorgelagerte Frage nach der eigenen Gesetzgebungs-
hoheit überhaupt findet sich, ohne daß aber bei Jescheck ausdrücklich
darauf Bezug genommen wäre, namentlich schon bei Schultz artikuliert,
der in einer Art von Zweistufentheorie in einem ersten Schritt den
Regeln über den räumlichen Geltungsbereich die Erklärung des jewei-
ligen nationalen Gesetzgebers entnimmt, welche Strafgesetzhoheit sich
dieser für welche Art von Handlungen zulegen will, um dann in einem
zweiten Schritt die Frage nach dem dabei anzuwendenden (in- oder
ausländischen) Recht zu beantworten8'. Bei seiner diese vorgreifliche
Strafgewaltfrage fast schon verabsolutierenden Position, die mittler-
weile Anhängerschaft gefunden hat35 , ist jedoch Jescheckseinerseits
30 Vgl. etwa die Problematisierung bei Maurach, Deutsches Strafrecht,
Allgemeiner Teil, 1. Aufl.. 1954, S. 85, während sich Schönke noch in seiner
(1~~ten) 6. Auf!. des StGB-Kommentars (1952) in Vorbem. I zu § 3 jeglicher
Charaktei"isierung des Internationalen Strafrechts enthält.
31 Und selbst soweit es eine solche ausnahmsweise (wie in der bis 1940
geltenden Neubürgerklausel des § 4 Abs.3 S.2 StGB a. F.) gibt, diese für
"sehr problematisch" erklärt: WBV 111 S. 396.
32 Ebenda.

33 Wobei sich freilich deren Bestehen auch in der Verweisung auf ein an-
deres Recht ausdrücken könne: Jescheck, Lehrbuch 1. Auf!. S. 115; ebenso in
Maurach-Festschrift S. 579 f. = Sammelband S. 615 f.
U . Schultz, GA 1966, 194. Wie wenig man freilich dabei schon von einer fest-
stehenden und unmißverständlichen Terminologie ausgehen kann, zeigt der
Beitrag von Vogler, Geltungsanspruch und Geltungsbereich der Strafgesetze,
in: Aktuelle Probleme des Internationalen Strafrechts, Grützner-Geburts-
tagsgabe, 1970, S. 149 ff., wo es bei der "Geltungs"-Frage offenbar weniger
um das allgemeine Strafgewaltproblem im Sinne von Schultz als mehr spe-
zifisch um die straftatbestandsimmanente Frage des jeweiligen Schutzum-
fangs geht: näher dazu Eser, in: SchönkelSchröder, StGB, 21. Aufl.. 1982, Vor-
bem. 13 ff. vor § 3 m. w. N. Jeschecks Standpunkt zu dieser - dem eigentlichen
Internationalen Strafrecht vorgelagerten - Frage des tatbestandlichen
Schutzbereichs findet sich eher etwas marginal im Lehrbuch 3. Auf!. S. 141 f.
Soweit er sonst dazu Stellung nimmt, geschieht dies mit eher ausweitender
Tendenz: vgl. etwa WBV UI S. 398 f.
35 Vgl. namentlich Tröndle, LK, 10. Auf!. 1978, Vorbem.2 vor § 3.
Das Internationale Strafrecht im Werk von Hans-Heinrich Jescheck 1359

nicht stehengeblieben, sondern hat in der 3. Auflage seines Lehrbuchs


von 1978 dem Internationalen Strafrecht zumindest "in zweiter Linie"
den Charakter von "Strafanwendungsrecht" eingeräumtM •
Auch wenn man die terminologischen Aspekte dieser Meinungsver-
schiedenheiten vielleicht nicht überbewerten sollte, da sich mit dem Be-
griff des "Strafanwendungsrechts" sowohl die strafgewaltbegTÜndende
wie auch die rechtsanwendungsregelnde und -begrenzende Funktion
der internationalstrafrechtlichen Bestimmungen erfassen lassen87 , er-
scheint diese Differenzierung der Sache nach nicht nur berechtigt, son-
dern auch nützlich; denn wie auchivon Jescheck schon von Anfang an
nicht völlig ausgeschlossen38 und in seiner 3. Auflage sogar ausdrücklich
eingeräumt39 , könnte das Internationale Strafrecht durchaus auch eine
kollisionslösende Funktion übernehmen40 • Dies trifft freilich für die ge-
genwärtigen deutschen Bestimmungen schon deshalb nicht zu, weil sie
- ohne Rücksicht auf etwaige Kollisionen mit ausländischen Straf-
hoheitsansprüchen - mehr auf die Ausdehnung der deutschen Straf-
gewalt ausgerichtet sind: Insofern kann im Hinblick auf die derzeitigen
§§ 3 - 9 StGB von "einseitigen Kollisionsnormen"u allenfalls in kolli-
sionsbegTÜndendem, aber kaum in kollisionsbehebendem Sinne ge-
sprochen werden4!.

2. Ähnlich wie bei den Begriffsproblemen ist Jescheck auch bei der
Frage nach den Aufgaben des Internationalen Strafrechts starrer Dok-
trinarismus fremd. Dies ermöglicht es ihm, als "Grundgedanken" des
Internationalen Strafrechts Zielsetzungen zu akzeptieren, die - ein-
gestandenermaßen - teils sogar gegenläufig sein können43 : so etwa,
wenn der "Schutz der inländischen Rechtsgüterwelt" , die "Wahrung der
innerstaatlichen öffentlichen Ordnung" oder die bis ins Ausland ver-

36J escheck, Lehrbuch 3. Aufl. S. 129.


37Vgl. Eser, in: SChönkelSchröder, Vorbem. 1 vor § 3, Zieher, Das soge-
nannte Internationale Strafrecht nach der Reform, 1977, S. 28 ff.
38 Vgl. Fn. 31, 33.
39 Lehrbuch 3. Aufl. S. 129 unter I 1 a. E.
40 In diesem Sinne wohl auch Schultz, Neue Entwicklungen im sog. inter-
nationalen Strafrecht, v. Weber-Festschrift, 1963, S. 305,307, wenn er - ob-
gleich schwerlich im Einklang mit der gegenwärtigen Rechtssituation in den
meisten Ländern - den landesrechtlichen Regeln die Zielsetzung entnimmt,
"Kollisionen mit fremden Rechten zu beheben".
41 So Lackner, StGB, 15. Aufl. 1983,Vorbem. 1 vor § 3.
42 Allgemein zu dieser Kollisionsproblematik Eser, iri: SchönkeISchröder,.
Vorbem.l, 72 vor § 3. Ähnlich der rechtsvergleichende Befund von Nuvolone,
Die Kollisionsnormen auf dem Gebiete des Strafrechts in Europa, ZStW 66
(1954), S. 545 f., 566 f.
48 Vgl. die schon im WBV 111 S.397 grundgelegte und dann bereits in der
1. Lehrbuchauflage S.117 ergänzte (und seitdem unveränderte) Zielbeschrei-
bung.
1360 AlbinEser

längertc "Bindung der eigenen Staatsangehörigen an die heimische


Rechtsordnung" einerseits mit der "internationalen Solidarität bei der
Verbrechensbekämpfung" andererseits in Konflikt geraten bzw. die
"Lückenlosigkeit der staatlichen Strafgewalt diesseits und jenseits der
Grenzen" der gleichermaßen anzustrebenden "Einzelfall gerechtigkeit"
im Wege stehen kann. Wo und wie ein Staat innerhalb dieser Ziele
Akzente setzen und Grenzen ziehen will, sieht J escheck völkerrechtlich
in dessen Ermessen gestellt, solange dieser nicht völlig selbstherrlich
vorgeht, sondern auf die Interessen anderer Staaten an der Wahrung
ihrer Rechtsordnung und am Schutz ihrer Bürger Rücksicht nimmt.
Trotz der darin liegenden Anerkennung der grundsätzlichen Kompe-
tenz-Kompetenz des innerstaatlichen Gesetzgebers steht somit Jescheck
in der Reihe derer, die jene nationale Hoheitsgewalt völkerrechtlich be-
schränkt sehen«. Doch wem selbst innerhalb ,des damit gezogenen Er-
messensrahmens jene allgemeine Zielumschreibung J eschecks - ihrem
Lehr- und Wörterbuchcharakter gemäß - vielleicht zu abgeklärt, wenn
nicht gar unentschieden erscheint45, der kann in Jeschecks monogra-
phischen Arbeiten weitaus dezidiertere, ja teils sogar kämpferische
Töne kennenlernen: So, wenn er - worauf im einzelnen noch zurück-
zukommen sein wird - sich mit aller Entschiedenheit zum Gedanken
internationaler Solidarität bekennt48 , das dem Nebeneinander souve-
räner Staaten zugrundeliegende Ordnungsprinzip betont41 und sich
dementsprechend - und zwar über das möglicherweise völkerrechtlich
Gebotene hinaus - gegen übersteigerte Souveränitätsansprüche wen-
det48 , wobei er insbesondere die "ideologische Zwangsjacke" geißelt, die
der Nationalsozialismus seinen Staatsangehörigen durch Einführung des
aktiven Personalprinzips "von der Wiege bis zUI11_Grabe überzuwerfen
gedachte"48. Im gleichen Sinne einer verstärkten internationalen Ko-
operation versteht sich sein Einsatz für Verbesserungen der Rechtshilfe
in Strafsachen durch neue Formen der Übernahme bei Verfolgung und
Vollstreckung50 sowie durch Abbau von rechtshilfebehindernden Prin-

44 Vgl. Lehrbuch 3. Aufl. S.130, ferner Eser, in: SchönkelSchröder, Vor-


bem. 3 vor § 3, jeweils m. w. N.
45 Vgl. demgegenüber etwa Schultz, v. Weber-Festschrift, S. 309 f., wonach
"einzig" der Gedanke der internationalen Solidarität eine tiefere Begründung
für das internationale Strafrecht bieten könne.
46 IRuD 1956,92 = Sammelband S. 541; v. Weber-Festschrift, S. 338 = Sam-
melband S. 576.
41 IRuD 1956, 91 = Sammelband S. 540.
48 IRuD 1956, 85 = Sammelband S. 532; v. Weber-Festschrift, S. 333 = Sam-
melband S. 573.
48 IRuD 1956, 80 = Sammelband S. 526.

60 v. Weber-Festschrift, S. 333 ff. = Sammelband S. 573 ff.; Graven-Fest-


schrift, S. 77 ff. = Sammelband S. 596 ff.; Honig-Festschrift, S. 69 ff. = Sam-
melband S. 606 ff.
Das Internationale Strafrecht im Werk von Hans-Heinrich Jescheck 1361

zipien (wie etwa des Gegenseitigkeitsprinzips)51. Nicht zuletzt liegt ihm


auch die Verbesserung der Rechtsstellung des Betroffenen am Herzen'!.
Doch bei allem Werben für internationales, notfalls auch Souveräni-
tätseinbußen hinnehmendes Vertrauen sieht er doch - und zwar bei
voranschreitendem Alter mit wachsender, wenn auch nie resignativer
Nüchternheit - die praktischen und vor allem machtpolitisch bedingten
Hürden, die einer weltumfassend kooperativen Verbrechensbekämpfung
im Wege stehen. Statt der hochgesteckten Hoffnungen auf die Errichtung
eines internationalen Gerichtshofs und eines dementsprechenden Völker-
strafrechts plädiert er daher gerade in seiner bislang letzten einschlägi-
gen Schrift für begrenztere Ziele, wie sie sich in regional, politisch und
ideologisch verbundenen Staatengruppen vielleicht noch am ehesten
verwirklichen ließen5S •
Vielleicht ist es auch dieser Realismus, der ihn bislang davon abgehal-
ten hat, sich für eine geschlossene "Theorie des internationalen Straf-
rechts", wie sie schon verschiedentlich gefordert wurde", zu erwärmen,
wenn überhaupt erkennbar zu öffnen. Denn so sehr er selbst die Be-
deutung des Internationalen Strafrechts als Indikator für die Stellung
des Einzelnen im Staat und für die Stellung des Staates in der Völker-
gemeinschaft betont" und die gegenseitige Abhängigkeit von materiel-
lem Internationalen Strafrecht und prozessualer internationaler Rechts-
hilfe hervorhebtllt , und so richtig es in der Tat erscheint, daß die Inter-
nationalisierung des Verbrechens eine internationale Kriminalpolitik
erfordert51, die im Sinne einer "Straftheorie" nicht zuletzt auch eine in
sich stimmige Ausbalancierung der verschiedenen Prinzipien und An-
51 Grundsätzlich noch für die Beibehaltung in ZStW 66 (1954), S. 527 ff. =
Sammelband S. 479 f. gegenüber Graven-Festschrift, S.77 ff. = Sammelband
S. 596 f., wo Jeseheek zwar nicht für die völlige Aufgabe, jedoch für das Zu-
rücktreten des Gegenseitigkeitsprinzips plädiert.
52 VgI. insbes. in Graven-Festschrift, S. 85 f. = Sammelband S.602 und
Honig-Festschrift, S.69 = Sammelband S. 606, wobei es ihm allerdings offen-
bar nur um Verstärkung der Anhörungs- und Verteidigungsrechte des Betrof-
fenengeht.
53 GA 1981, 69 f.

54 So in neuerer Zeit vor allem von Oehler, Theorie des Strafanwendungs-


rechts, Grützner-Geburtstagsgabe, S. 110 ff., ferner Vogler, Entwicklungsten-
denzen im internationalen Strafrecht unter Berücksichtigung der Konvention
des Europarats, Maurach-Festschrift, S. 595, 596, 601 ff., der über Oehler in-
sofern hinausgeht, als dieser im Grunde lediglich eine internationalsrrafreeht-
lieh immanente Abstimmung der Prinzipien versucht, während es Vogler-
und zwar im Ansatz durchaus zu Recht - um eine mehr srrafzwecktheoretische
Ausrichtung an den Aufgaben moderner Kriminalpolitik geht.
55 IRuD 1956, 75 = Sammelband S. 521.
56 v. Weber-Festschrift, S. 331 und 337 = Sammelband S. 571, 575; Maurach-
Festschrift, S. 582 = Sammelband S. 617.
57 So i. S. einer auszuformulierenden Theorie Vogler, Maurach-Festschrift,
S.601.

86 Festschrift für H.-H. Jescheck


1362 AlbinEser

knüpfungspunkte des Internationalen Strafrechts zu leisten hätte S8 , so


bleibt doch Frustration vorprogrammiert, solange die Einzelstaaten nicht
einmal für ihren internen Hoheitsbereich eine konsistente Kriminal-
politik zu präsentieren vermögen. Um so wichtiger ist es, für das jewei-
lige eigene Internationale Strafrecht eine Konzeption zu finden, die den
internen kriminalpolitischen Bedürfnissen Rechnung trägt, ohne dabei
den Weg zu verstärkter internationaler Solidarität und Kooperation zu
verbauen. Im Sinne einer solchen "pragmatischen Konkordanz" von
unabdingbaren Grundsätzen und realisierbar erscheinenden Zielset-
zungen dürfte auch Jescheck die AufgabensteIlung bei seinen Vorschlä-
gen für eine Reform des deutschen Internationalen Strafrechts gesehen
haben. Dieses Kernstück seiner Arbeiten zum "klassischen" Internatio-
nalen Strafrecht ist daher nun im einzelnen zu betrachten.

n. Vom aktiven Personalprinzip zum Territorialprinzip


Das Bild des Pragmatikers, als der J escheck in den zuvor erörterten
Vorfeldfragen in Erscheinung getreten ist, wandelt sich jedoch in das
eines Prinzipalisten, sobald es um den Kern der Sache geht: so bei der
Frage nach dem maßgeblichen Anknüpfungspunkt des Internationalen
Strafrechts. Zwar meinte er, den im Jahre 1940 eingeführten, am aktiven
Personalprinzip ausgerichteten Vorschriften bescheinigen zu können,
daß die damit begründete Strafbarkeit eines Deutschen für jede In-
oder Auslandstat (§ 3 Abs.1 StGB a. F.) zu keinen krassen Mißgriffen
geführt habe, zumal da materiellen übersteigerungen dieses nahezu
lückenlosen Anwendungsbereichs durch die zusätzliche Strafwürdig-
keitsprüfung (§ 3 Abs.2 StGB a. F.) bzw. durch entsprechende Hand-
habung des (durch § 153 a StPO a. F. für Auslandstaten eingeräumten)
Opportunitätsprinzips die Spitze genommen werden konntes8 • Den-
noch erklärte er es ganz entschieden für verfehlt, sich mit einer solchen
Scheinberuhigung begnügen und die Regelung des Internationalen
Strafrechts als ein bloß juristisch-technisches Problem verstehen zu
wollen; denn als Indikator für die Stellung des Einzelnen zum Staat
wie auch des Staates innerhalb der Völkergemeinschaft erfordere das
Internationale Strafrecht eine Grundentscheidung des Gesetzgebers80 •
Und zwar offensichtlich nicht nur als eine Frage rechtspolitischen Er-
messens, sondern als ein rechtsstaatliches Gebot; denn wenn Jescheck
in dem pragmatisch naheliegenden Verweis auf mögliche Einzelfallkor-

58 Vogler, ebenda S. 596: vgl. Fn. 54.


58 So bereits der Ratschlag von Mezger, DStR 1941,20, während demgegen-
über Lange (ebenda S. 18) weniger die zahlreichen überschneidungen als viel-
mehr die Lückenhaftigkeit des damaligen Rechts glaubte beklagen zu müssen.
80 Jescheck, IRuD 1956, 75 = Sammelband S. 521 f.; im gleichen Sinne in
Niederschriften IV S. 11.
Das Internationale Strafrecht im Werk von Hans-Heinrich Jescheck 1363

rekturen eines zu weit geratenen Gesetzesbereichs eine fehlerhafte


"Verschiebung der Verantwortung vom Gesetzgeber auf Rechtsanwen-
dungsorgane" erblickt'!, dann wohl deshalb, weil darin sowohl eine
Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips wie auch des Bestimmtheits-
grundsatzes zu sehen ist 6!.
In der Sache selbst setzt sich J escheck mit Verve für eine "Rückkehr
zum Territorialprinzip als Grundnorm des internationalen Strafrechts"
und damit für die grundsätzliche Beschränkung des deutschen Straf-
rechts auf Inlandstaten ein 63 • Die geschichtliche Bedeutung dieses -
schließlich erfolgreichen - Einsatzes für die Entwicklung des deutschen
Internationalen Strafrechts wird man nur dann voll ermessen können,
wenn man sich die zeitgeschichtlichen Umstände vergegenwärtigt.
Einerseits war im Jahre 1956, als sich die GrStrK erstmals mit der
künftigen Gestalt des Internationalen Strafrechts zu befassen hatte 84 ,
das aktive Personalprinzip innerhalb der neueren Tradition des deut-
schen Rechts noch ein recht junges Gewächs. Denn dem RStGB von 1871
lag bekanntlich das Territorialprinzip zugrunde, und zwar bis zur NS-
Zeit offenbar so unangefochten, daß demgegenüber das aktive Personal-
prinzip selbst in Grundsatzabhandlungen - wie beispielsweise in
R. Franks Wörterbuchartikel von 1929 - nicht einmal der Erwähnung
für wert befunden worden war65 • Andererseits gab es aber damals auch
eine ganze Reihe von Nachbarländern, die - wie vor allem Österreich,
Polen und teilweise auch Italien - das aktive Personalprinzip als
maßgeblichen Anknüpfungspunkt gewählt hatten". Insofern lag in der
Ersetzung des Territorialprinzips durch das aktive Personalprinzip auf-
grund der "Geltungsbereichsverordnung" von 1940 an sich nichts revo-
lutionär Neues, es sei denn im Hinblick auf seine Zielsetzung: Denn
nachdem die frühmittelalterliche, auf die Behandlung nach Geburts-
recht ausgerichtete "lex ossibus inhaeret"-Formel ebenso wie das
spätmittelalterliche Staatsinteresse an "bonos subditos" längst von ge-
bietshoheitsorientierten Souveränitätsprinzipien der erstarkenden Ter-

81 So Jescheck in der Veröffentlichung seines Reformvorschlags in IRuD


1956, 75 = Sammelband S. 522, während in seinem Referat vor der GrStrK
dieses rechtsstaatliche Argument noch nicht auftaucht.
82 Zu letzterem klar in IRuD 1956, 84 = Sammelband S.531, ferner in
Niederschriften IV S. 14.
63 Dementsprechend schlägt er in seinem Entwurf, der sowohl in IRuD
1956, 94 f. = Sammelband S. 543 f. wie auch als Umdruck R 64 in Niederschrif-
ten IV Anhang S. 409 - 411 abgedruckt ist, als Ausgangsnorm in § a Abs. 1 vor:
"Das deutsche Strafrecht gilt für Taten, die im Inland begangen werden".
64 Niederschriften IV S. 12 ff.

68 Frank, Strafrecht und Völkerrecht, in: Wörterbuch des Völkerrechts und


der Diplomatie (hrsg. v. StTUpp), Bd. In, 1929, S. 1087 - 1090.
" VgI. die einzelnen Nachweise - auch zu anderen Vorläufern und Ab-
stufungen - bei Mezger, DStR 1941,20 f.

86'
1364 AlbinEser

ritorialstaatsgewalten abgelöst worden waren, diente in neuerer Zeit


das aktive Personalprinzip im Grunde nur noch als Mittel stellvertre-
tender Strafrechtspflege: Wenn der eigene Staatsangehörige, der im
Ausland delinquent geworden war, schon nicht an die Justizhoheit des
Tatortes ausgeliefert werden konnte, so sollte er - "aut dedere aut pu-
nire" (Hugo Grotius) - jedenfalls in seinem Heimatstaat bestraft werden
können87. Demgegenüber war die Einführung des aktiven Personalprin-
zips durch den NS-Gesetzgeber - neben offen eingestandenen rassischen
MotivenGS - sowohl vom "realen Interesse an Wahrung des deutschen
Ansehens in der Welt" als noch mehr vom "ideellen Gedanken der Treu-
pflicht des Deutschen" bestimmt89 . Dieses betont nationale Wohlverhal-
tensinteresse war zudem auch verbrechensdogmatisch fundiert und
damit durchaus gesamtsystemkonsistent; denn nach der allgemeinen
Wendung zum "Täterstrafrecht" ging es nicht so sehr um rechtsgutbe-
zogenen Interessenschutz, als vielmehr um die Bindung des Täters an
seine nationale Treupflicht: "Auch wenn der Deutsche mit seiner Tat
im Ausland keinerlei reale Interessen der deutschen Volksgemeinschaft
berührt, keinerlei deutsche Rechtsgüter verletzt, wird die Pflichtver-
letzung um ihrer selbst willen geahndet, wird er bestraft, weil er sich
gegen eine Bindung vergangen hat"70. Doch trotz dieser zeitgeist-ideolo-
gischen Begründung hat das aktive Personalprinzip nicht nur die NS-
Zeit - einschließlich der Säuberungen durch Kontrollrat und Nach-
kriegsrechtsprechung - überlebt71 , sondern auch die Strafrechtsberei-
nigungen von 1951 und 195372 . Denn sieht man von vereinzelten Gegen-
stimmen einmal ab 73 , so hatte sich in der Zwischenzeit die herrschende

. o:__ Näher zu dieser - eingestandenermaßen sehr grob vereinfachend skiz-


zierten - Entwicklung, die (wie etwa in Frankreich) auch immer wieder durch
gegenläufige Bewegungen unterbrochen wurde, Oehler, Mezger-Festschrift,
S. 84 ff., Jescheck, IRuD 1956, 80 f. = Sammelband S. 527 f., jeweils m. w. N.
08 So Rietzsch, DJ 1940, 563.
GI Mezger, DStR 1941,20.
70 So etwa Lange, DStR 1941,6.
71 Speziell zum Kontrollrat vgl. OLG Koblenz NJW 1950, 614, im übrigen
insbes. BGH NJW 1951,769, wonach der Personalgrundsatz zwar nationalsozia-
listischen Lehren entgegengekommen sei, ihm aber nicht entstamme; vgl. fer-
ner OLG München NJW 1951, 285, OLG Karlsruhe MDR 1951, 118 m. zust. Anm.
von Herlan, OLG Hamburg JZ 1951, 305 m. zust. Anm. von v. Weber.
72 Denn sowohl das 1. StÄG vom 30.8. 1951 (BGBl. I 739) wie auch das
3. StAG vom 4.8. 1953 (BGBl. I 735) beschränkten sich auf technische Bereini-
gungen, wobei freilich immerhin durch das 3. StÄG in § 3 Abs.2 der Verweis
auf "das gesunde Empfinden des deutschen Volkes" gestrichen wurde. Auch
war dabei die Frage einer grundlegenden Reform ausdrücklich offengelassen
worden (vgl. Strauß, Niederschriften IV S.23).
73 So vor allem der von H. Mayer (Völkerrecht und Internationales Straf-
recht, JZ 1952,609) erhobene Vorwurf der Völkerrechtswidrigkeit. Dies wollte
zwar Oehler nicht gelten lassen, zog aber seinerseits die Zweckmäßigkeit und
Zeitgemäßheit des aktiven Personalprinzips in Frage (Mezger-Festschrift,
S. 83 ff., 88, 96). Wesentlich dezidierter für Einführung des Territorialprinzips
Das Internationale Strafrecht im Werk von Hans-Heinrich Jescheck 1365

Meinung mit dem gegebenen Zustand nicht nur abgefunden74 , son-


dern - wie namentlich Schönke noch im Jahre 1954 - die Beibehal-
tung des aktiven Personal prinzips sogar für die Zukunft als ein "unab-
weisbares kriminalpolitisches Bedürfnis" gefordert75 •
Trotz dieser aussichtslos erscheinenden Lage scheute J escheck nicht
davor zurück, der GrStrK die Rückkehr zum Territorialprinzip zu emp-
fehlen. Die Vielfalt und Dichte seiner Argumentation kann hier nur
stichwortartig angedeutet werden76 :
- So seine schonungslose Decouvrierung der ausschließlich ideologi-
schen, machtpolitischen und rassistischen Zielsetzungen bei Einfüh-
rung des aktiven Personalprinzips.
- Seine Ablehnung einer Treupflicht, die als Ausfluß überzogener
Machtpolitik vor allem der Unterjochung des gesamten Auslands-
deutschtums dienen sollte77 •
Seine Verwerfung eines Rechtsverständnisses, das dessen von jeder
Nation eigenständig entwickelten Kulturwert verkennt.
- Sein Eintreten dafür, sich in eine fremde Wertordung eingliedern
zu dürfen, ohne dabei den strafenden Arm des eigenen Heimatrechts
befürchten zu müssen.
Seine Respektierung der territorialen Ordnungsfunktion eines
Staates für die in seinem Hoheitsgebiet lebenden In- und Ausländer.
Seine vorsichtig den Vorwurf der Völkerrechtswidrigkeit vermei-
dende 78 , dafür aber um so mehr zu politischer Klugheit ratende Rück-
sichtnahme auf die Staatengemeinschaft.
Sein Aufweis eines alle früheren Entwürfe durchziehenden Fest-
haltens am Territorialprinzip 79.

als Grundnorm (unter Beibehaltung des Personalprinzips als bloßem Ausfluß


stellvertretender Strafrechtspflege) Kielwein, Reformfragen im Internationa-
len Strafrecht, GA 1954, 211 ff., 221. Bedenken auch bei Maurach, Allgemeiner
Teil, 1. Aufl. 1954, S. 87.
74 Vgl. neben der in Fn.71 genannten Rechtsprechung beispielsweise Ja-
gusch, LK, 7. Aufl. 1954, Vorbem. 3 vor § 3, KohlrauschlLange, StGB-Kommen-
tar, 39.140. Aufl. 1950, Vorbem. 2 II vor § 3, Welzel, Das deutsche Strafrecht,
5. Aufl. 1956, S. 24.
75 Schänke, Mezger-Festschrift, S. 111.

76 Vgl. im einzelnen Jescheck, IRuD 1956, 79 - 86 = Sammelband S. 525-


532, Niederschriften IV S. 11 - 18, ferner seine Kurzfassung in Umdruck R 64,
Niederschriften IV S. 409.
77 In diesem Sinne auch schon H. Mayer, JZ 1952, 609.
78 Insoweit sich von H. Mayer (Fn. 77) absetzend.
78 Vgl. dazu auch Eder, Die Entwicklung der Bestimmungen über das in-
ternationale Strafrecht in den deutschen Entwürfen zum Strafgesetzbuch,
Diss. Freiburg 1960, insbes. S. 66 ff.
1366 AlbinEser

Sein rechtsvergleichender Hinweis auf die weltweit rückläufige An-


erkennung des Personalprinzips80.
Seine Analyse der mit der Strafwürdigkeitsprüfung verbundenen
verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsprobleme81 .

Diese wie auch noch manche andere Einzeleinwände gegen das aktive
Personalprinzip ließen ihn für die Rückkehr zu einem Territorialprin-
zip plädieren, das freilich nicht mehr - wie)m ZeitpunktJseiner Ent-
stehung - als ein eifersüchtig gehütetes Souveränitätsprivileg zu
verstehen sei, sondern als "freiwillige Selbstbeschränkung im Interesse
einer gerechten und zweckmäßigen zwischenstaatlichen Verteilung der
Aufgaben auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung"82.

Obwohl manche dieser Argumente nicht völlig neu gewesen sein


mögen, wurden sie doch von Jescheck mit solch massiver Vehemenz und
derart geschlossener Stringenz vorgetragen, daß sich dem jedenfalls die
Sachbearbeiter des Bundesjustizministeriums nicht verschließen konnten;
denn ohne zu dieser Grundsatzfrage selbst noch weiteres hinzuzufügen,
hat sich Kielwein als Sprecher der Strafrechtsabteilung Jeschecks Ein-
wände vollinhaltlich zu eigen gemacht und nur noch zu jenen Einzel-
fragen Stellung bezogen, in denen die Abteilung von Jeschecks Entwurf
glaubte abweichen zu sollen83 • Dementsprechend meinte denn offenbar
auch Ministerialdirektor Schafheutle, ohne weitere Diskussion vom Ter-
ritorialprinzip ausgehen zu können und demzufolge nur noch über ergän-
zende Prinzipien, wie vor allem das passive Personal prinzip, sprechen
zu müssen84 . Ganz so reibungslos verlief die Debatte freilich dann doch
nicht; denn angesichts der beträchtlichen Anhängerschaft, die das aktive
Personal prinzip, wie bereits erwähnt, in der damaligen Rechtsprechung
und Lehre noch genoß, kam Jeschecks Ruf zur Umkehr offenbar doch
zu plötzlich, um diskussionslos akzeptiert zu werden.

Diese Diskussion innerhalb der GrStrK hinterIäßt für den heutigen


Betrachter allerdings einen eher diffusen Eindruck. Während die einen
- wie vor allem Baldus und GaZlas - mehr aus grundsätzlichen Erwä-
gungen am aktiven Personalprinzip festhalten wollten und dies mit

80 Dieser Feststellung scheint zwar zu widersprechen, daß nach der über-


sicht von Oehler, Internationales Strafrecht S. 443 H., das aktive Personalprin-
zip noch häufig auftritt; dies aber so gut wie nie in jener absoluten Form,
wie es durch die GeltungsbereichVO von 1940 in Deutschland eingeführt wor-
den war.
81 Daß diese sich zudem bis in Vorsatz- und Schuldprobleme hineinverlän-
gern ließen, hatte bereits Kielwein, GA 1954, 219 H. dargetan.
82 Jescheck, IRuD 1956, 85 = Sammelband S. 532, Niederschriften IV S.14.
83 Niederschriften IV S. 18.
84 Niederschriften IV S. 21.
Das Internationale Strafrecht im Werk von Hans-Heinrich J escheCk 1367

dessen Verwurzelung im allgemeinen Rechtsbewußtsein85 sowie mit der


fortbestehenden Disharmonie der Welt88 und dem durch steigenden
Massentourismus eher noch wachsenden Interesse an Disziplin der
eigenen Staatsbürger im Ausland 87 begründeten, glaubte die Mehrheit
der sich äußernden Kommissionsmitglieder, sich zumindest bei ent-
sprechender Ausweitung anderer Anknüpfungspunkte - wie vor allem
des passiven Personalprinzips - zu einer Preisgabe des aktiven Per-
sonalprinzips bereitfinden zu können88• Ähnlich sind auch auf seiten der
Befürworter einer Rückkehr zum Territorialprinzip meist mehr tak-
tische denn grundsätzliche Stellungnahmen zu registrieren: Während
es den Vertretern des Ministeriums offenbar primär darum ging, den mit
Einführung des aktiven Personalprinzips durch den NS-Gesetzgeber im
Ausland entstandenen negativen Eindruck80 nicht weiter fortleben zu
lassen9o , und sich dem europäischen Trend zum Territorialprinzip nicht
in den Weg zu stellenD! bzw. von anderen - wie vor allem von Welzel
- die Unvereinbarkeit der beim Personalprinzip erforderlichen Straf-
würdigkeitsprüfung mit dem Bestimmtheitsgrundsatz hervorgehoben
wirdO!, ist eigentlich nur bei Bockelmann ein prinzipielles Einlassen auf
Jeschecks Grundintentionenzu verspüren: Obgleich auch er das Kultur-
gefälle innerhalb der Welt nicht verleugnen und die damit verbundene
Gefahr, daß ein Deutscher auf ein nichttolerables Auslandsniveau abglei-
ten könnte, nicht verkennen will, erscheint es ihm verfehlt, durch Beibe-
haltung des aktiven Personalprinzips kundzugeben, daß man mit der
Fortdauer dieser Unterschiede rechriet93 • Dieser weltpolitische Atem,
der unter den ängstlich auf Lückenlosigkeit der deutschen Strafrechts-
hoheit bedachten Marginalien fast schon zu ersticken drohte, wird dann
im Grunde erst wieder in J eschecks knapper Zusammenfassung spür-
bar: Als ob er den Eindruck habe gewinnen müssen, daß er die Beden-
ken gegen das Personalprinzip in seinem Referat vielleicht doch mit
allzu vornehmer Zurückhaltung formuliert hatte, werden diese nun-
85 GalZas, Niederschriften IV S. 23, 30.
85 BaZdus, Niederschriften IV S. 22; GaZZas, S. 23.
87 GaZZas, Niederschriften IV S. 23.

88 Vgl. namentlich Lange, BaZdus, Eb. Schmidt, WeZzel, jeweils Nieder-


schriften IV S. 22, Voll, Fritz, S. 24, Schäfer, S. 31.
89 Vgl. insbes. Pfenninger, Der Umfang der Strafberechtigung nach Territo-
rialität oder nach Volkszugehörigkeit, SchwJZ 1946, S. 49, 55.
90 Strauß, Niederschriften IV S. 23, für den es sich offenbar ohnehin nur
um eine "Konstruktionsfrage" handelt: vgl. demgegenüber Jescheck, o. zu
Fn.60.
01 GTÜtzner und Strauß, Niederschriften IV S. 24, 30.
O! WeZzeZ, Niederschriften IV S. 31, 32; vgl. auch BockeZmann, S.21. Diese
Bedenken riefen freilich den Gegeneinwand von GalZas hervor, daß sich
gleiche Probleme auch bei anderen Prinzipien ergeben können (S. 32, 30).
Vgl. auch Lackner, S. 32.
08 BockeZmann, Niederschriften IV S. 21.
1368 AlbinEser

mehr mit dezidierter Schärfe auf den entscheidenden Punkt gebracht:


nämlich neben der Verfassungswidrigkeit der Strafwürdigkeitsprüfung
die völkerrechtliche Bedenklichkeit des Eingreifens in die Souveräni-
tät fremder Staaten8i •
Welche dieser Gründe denn auch immer letztlich den Ausschlag
gegeben haben mögen, jedenfalls fand das aktive Personal prinzip dann
nur noch bei zwei Kommissionsmitgliedern - und zwar bei Baldus und
Gallas - Unterstützung 95 • Damit war das aktive Personalprinzip als
Grundnorm des deutschen Internationalen Strafrechts gefallenDe; denn
ebenso wie in den nachfolgenden amtlichen ReformentwürfenG7 fand
die damit verbundene Rückkehr zum Territorialprinzip auch die Gefolg-
schaft des Alternativ-Entwurfs98 wie zuvor auch schon im Entwurf Bau-
mann99 • Demzufolge sah auch der Sonderausschuß für die Strafrechts-
reform keinen Anlaß zu grundsätzlichen Wiederbelebungsversuchen10o •
Damit wurde der heutige § 3 StGB zum Gesetz, wie bereits in Jeschecks
Entwurf wortwörtlich vorgeschlagentOl und heute allgemein ak-
zeptiert102 •
M Jescheck, Niederschriften IV S. 30 f. Mit ähnlicher Grundsatzfreudig-
keit hatte er auch schon zuvor davor gewarnt, an die Basisregelung des deut-
schen Internationalen Strafrechts unter dem Gesichtspunkt des Ost-West-
Gegensatzes heranzugehen (Niederschriften IV S.24). Noch deutlicher gegen
eine solche "ängstlich vindikative Haltung" in IRuD 1956, 91 = Sammelband
S.540.
D5 Niederschriften IV S. 33.

98 Und zwar aufgrund weiterer Beratungen einer Unterkommission (vgl.


Umdruck U 34, Niederschriften IV S.414) dann sogar einstimmig (Nieder-
schriften IV S. 121), was freilich Gallas nicht daran hinderte, anläßlich punk-
tueller Rückkehr zum aktiven Personalprinzip - und zwar (bei den Beratun-
gen zum Besonderen Teil) hinsichtlich der Insemination (vgl. u. zu Fn. 113) -
des-sen offenbar übereilte Abschaffung zu mohieren (Niederschriften X S. 328).
Der Beschluß der GrStrK findet sich in Umdruck K 34 § b (Niederschriften
IV S.417) bzw. in Niederschriften XII Anhang B S.571.
91 § 3 E 1960/62, wobei in der amtlichen Begründung dem aktiven Perso-
nalprinzip zwar - insoweit entgegen der Auffassung von Jescheck - die
Vereinbarkeit mit rechts staatlichen Erfordernissen bescheinigt wurde, im
übrigen aber alle wesentlichen Gegenargumente von Jescheck wiederkehren
(BT-Drs. m/2150 s. 99, Iv/650 S. 105).
98 Vgl. § 4 Abs. 1 AE (Alternativ-Entwurf eines StGB, Allg. Teil, 1. Aufl.
1966, 2. Aufl. 1969), der sich vom derzeit geltenden Recht nur insofern unter-
scheidet, als er das Flaggenprinzip (§ 4 StGB) miteinbezieht. In der Begrün-
dung wird die Rückkehr zum Territorialprinzip ausdrücklich begrüßt.
99 Vgl. § 5 Abs. I in Baumann, Entwurf eines StGB, Allg. Teil, 1963.

100 Statt dessen verlagerte sich die Diskussion auf die - nachfolgend
zu erörternde - Frage etwaiger Ergänzungen bzw. ausnahmsweiser Durch-
brechungen des Territorialprinzips: vgl. insbes. Protokolle (des Sonderaus-
schusses für die Strafrechtsreform) V S. 2348 f. bzw. S. 2352 ff.
101 Vgl. Fn.63.
102 Wobei diese Akzeptanz freilich nur selten in ausdrücklicher Zustim-
mung (wie etwa im grundsätzlichen bei TröndZe, LK, 10. Aufl. 1978, Vorbem.
19 vor § 3) als vielmehr in der meist kommentarlosen Hinnahme zum Aus-
druck kommt.
Das Internationale Strafrecht im Werk von Hans-Heinrich Jescheck 1369

III. Erwünschte Erweiterungen und


ungewollte überwucherungen des Territorialprinzips

So erfolgreich Jescheck mit der grundsätzlichen Durchsetzung des


Territorialprinzips war, so wenig kann ihm gefallen haben, wie sein
übriges Reformkonzept verunklart und verwässert wurde. Selbstver-
ständlich war auch er sich bereits bewußt, daß die Aufgaben des Inter-
nationalen Strafrechts nicht allein nach dem Territorialprinzip gelöst
werde.. können, sondern zur Erfassung bestimmter Auslandstaten auch
andere Prinzipien ergänzend mitheranzuziehen sind 103 • Bei Ausführung
dieses Vorhabens freilich ging bereits die GrStrK weit über Jeschecks
ursprüngliche Ausgangsposition hinaus. Dieses Ausufern kann freilich
nicht verwundern; denn nachdem die Mehrheit der Kommission, wie
bereits erwähnt104 , zu einer Preisgabe des aktiven Personalprinzips nur
bei entsprechenden Absicherungen durch andere Anknüpfungspunkte
bereit war, ging es ihr nunmehr offensichtlich darum, die mit Annahme
des Territorialprinzips zu befürchtenden Lücken so weit wie möglich
wieder zu schließen.

1. Das zeigt sich bereits im Hinblick auf das Real- odeT SchutzpTinzip,
das Jescheck in gleichsam "klassischem" Sinne auf den Schutz von
solchen inländischen Rechtsgütern beschränkt sehen wollte, die - wie
die eigene Staatsgewalt, die staatliche Ordnung und bestimmte Allge-
meininteressen - gegen Angriffe von außen her durch das auslän-
dische Strafrecht entweder überhaupt nicht oder nicht in ausreichen-
dem Maße geschützt werden105 • Auch war er von vornherein darauf
bedacht, dieses auf legitime Selbstverteidigung ausgerichtete und damit
auch völkerrechtlich völlig unangefochtene "Staatsschutzprinzip" klar
von dem am passiven Personalstatut anknüpfenden "Individualschutz-
prinzip" abzusetzen10ft • Deshalb nahm er in den einschlägigen § b seines
Entwurfs107 nur solche Tatbestände auf, die· - als Hoch- oder Landes-
verrat oder ähnliche staatsgefährdende Delikte - gegen Bestand oder
Funktionsfähigkeit der Bundesrepublik gerichtet sind, als Taten von
oder gegen deutsche Amtsträger bzw. als Meineid bestimmte Staats-
tätigkeiten beeinträchtigen, als Verrat von Unternehmensgeheimnissen
die gesamte Volkswirtschaft betreffen oder die - durch politische An-

103 Jescheck, Niederschriften IV S. 15, IRuD 1956, 87 = Sammelband S. 533.


104 Vgl. oben zu Fn. 88.
lOS Wie Fn. 103.
108 Diese wohl auf v. Overbeck zurückgehende Terminologie (vgl. Schultz,
Das schweizerische Auslieferungsrecht, 1953, S. 32, 37) wird von Jescheck
zwar noch nicht in seinen Reformarbeiten, wohl aber bereits in der 1. Auf!.
seines Lehrbuchs (S. 120) gebraucht.
107 Abgedruckt in IRuD 1956, 94 f. = Sammelband S. 543, Niederschriften
IV S. 410.
1370 AlbinEser

schläge gegen inländische Einwohner - zugleich den Charakter von


Verbrechen gegen die Menschlichkeit habenloB. Eine ähnliche Zurückhal-
tung hatte sich auch der AE noch auferlegt lou . Auch wenn Jescheck seine
Enumeration keineswegs als abschließend verstanden wissen wollte llO
und zudem auch fraglich sein mag, ob sich in der Strafbarkeit von
Amtsträgern nicht doch (zumindest auch) ein Restbestand des zuvor
abgelehnten aktiven Personalprinzips verbirgt lll , bleibt dieser Auslands-
katalog zumindest seinem Grundsatz treu, nur die Bedrohung von
Allgemeininteressen zu erfassen. Auch die GrStrK hatte sich zunächst
auf dieser Linie gehaltenllZ (was ihr allerdings schon deshalb leicht
fallen konnte, weil bereits die anschließend zu erörternden Ausweitun-
gen durch das passive Personalprinzip im Raum standen). Doch be-
reits bei den Beratungen zum Besonderen Teil wurde die damals
beabsichtigte Kriminalisierung der künstlichen Insemination auch auf
Auslandstaten erstreckt113 , und gleiches ist dann durch den E 1960 auch
für Abtreibungen geschehen, um auf diese Weise gesetzesumgehenden
Abtreibungstourismus zu unterbinden1U : Damit konnte das aktive Per-
sonalprinzip zumindest eine partielle Wiederkehr verbuchen116 • Durch
die damit geschlagene Bresche konnte dann auch noch die durch den
Sonderausschuß hinzugefügte Strafbarkeit von Sexualstraftaten zwi-
schen Deutschen im Ausland Eingang in den heutigen § 5 Nr.8 StGB
findent1&.

lOB Darüber hinaus auch noch allgemein den Völkermord (§ 220 a StGB)
mitzuerfassen, sah sich damals Jescheck weder hier beim Real- noch beim Uni-
versalprinzip veranlaßt (lRuD 1956, 88 = Sammelband S. 535), während er
sich später entschieden für eine Verfolgung nach dem Universalprinzip ein-
setztund dabei auch Apartheidsverbrechen und Flugzeugentführung mitein-
bezieht (GA 1981, 58 f., 66).
109 § 5 AE, allerdings unter Einbeziehung von Mord und Totschlag, wäh-
rend der Entwurf Baumann darüber hinaus u. a. auch Auslandstaten gegen
"Gesundheit, Freiheit, Eigentum oder Vermögen eines Deutschen" durch das
Schutzprinzip erfassen wollte (§ 5 Abs. 11 Nr. 10).
110 Niederschriften IV S. 15, IRuD 1956, 86 f. = Sammelband S.534.
111 So bereits Gallas (Niederschriften IV S.123) zu dieser auch von Je-
scheck mitgetragenen Ergänzung des Territorialprinzips (vgl. die Abstim-
mung in Niederschriften IV S. 122), in der er damals selbst schon eine par-
tielle Wiedereinführung des aktiven Personalprinzips sah (vgl. Niederschrif-
ten IV S. 26). So auch die Deutung von OehZer (Internationales Strafrecht
S.134), während Jescheck in seinem Lehrbuch die Amtsträgerklausel dem
"Staatsschutzprinzip" unterstellt, und zwar auch noch - entgegen der Fehl-
anzeige von OehZer (a. a. O. Fn. 41) - in der 3. Lehrbuchauflage (S. 138).
112 Vgl. § c Nrn.l - 5 des BJM-Entwurfs (Niederschriften IV S.412) bzw.
§ d Nrn.l- 5 der GrStrK-Beschlüsse (Niederschriften IV S.417).
113 Und zwar - trotz anfänglichen Widerspruchs - letztlich wohl auch
mit Jeschecks Stimme: Vgl. Niederschriften X S. 328 f. bzw. 336 f. sowie § 210
Abs. 5 E 1959 (Niederschriften XII Anhang B S.602).
114 Vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 13 E 1960 m. Begr. S. 195, 263 zu § 140.
115 So auch Jeschecks Deutung in Lehrbuch 3. Aufl. S. 138.
Das Internationale Strafrecht im Werk von Hans-Heinrich Jescheck 1371

2. Weitaus gravierender als diese eher marginalen Systemdurch-


löcherungen war jedoch die bereits in der GrStrK verlorene Ausein-
andersetzung um das passive Personalprinzip. In seiner reinsten Form
bedeutet dieser auch als "Individualschutzprinzip" bezeichnete An-
knüpfungspunkt 117 , daß das deutsche Strafrecht alle Auslandstaten
gegen einen Deutschen erfaßt, und zwar ohne Rücksicht auf das Tatort-
recht. Während den Sachbearbeitern des BJM ein derart weitgehender
Schutz vor allem im Hinblick auf Gewalttaten, die unter dem Schirm
einer ausländischen Willkürherrschaft gegen Deutsche begangen wer-
den könnten, erforderlich erschien118 , hatte Jescheck in seinem Erstent-
wurf auf eine derartige Ausweitung völlig verzichten wollen118 , und
zwar wiederum aus grundsätzlichen Erwägungen: Denn nicht nur, daß
ihm der strafrechtliche Schutz inländischer Interessen im Ausland nur
insoweit als völkerrechtsgemäß erschien, als es um "lebenswichtige
Interessen" geht 120 , diese aber bereits durch das "Staatsschutzprinzip"
(oben 1) ausreichend erfaßt seien; auch widerspräche es dem Gerechtig-
keitsgrundsatz, einen Ausländer einer Strafnorm zu unterwerfen, die
er aus dem eigenen Recht vielleicht gar nicht kennt1!1. Obgleich solche
Schuldprobleme auch schon Kielwein als Referent des BJM hatte ein-
räumen müssen1!!, sprach sich in einer ersten Abstimmung - und zwar
nicht zuletzt als Ersatz für die Preisgabe des aktiven Personalprinzips1l3
- die weit überwiegende Kommissionsmehrheit gegen Jeschecks Votum
für die uneingeschränkte (vom Tatortrecht unabhängige) Form des pas-
siven Personalprinzips aus124• Da aber dies denn doch offenbar als zu
weitgehend erschien, wurde die Diskussion erneut aufgenommen125 • Dies
verschaff1e Jescheck die Möglichkeit, eine Revision des zuvor gefaßten
Beschlusses zu erbitten und dabei eine bereits in seinem Referat vor-
geschlagene Kompromißlösung in Erinnerung zu bringen, nämlich die

111 Vgl. 2. Bericht des Sonderausschusses, BT-Drs. V/4095 S. 5. Entstehungs-


geschichtlich betrachtet war diese Strafausdehnung freilich - wie nachfol-
gend noch zu zeigen - die wohl ungewollte Frucht eines einschränkend ge-
meinten Kompromißvorschlags von J escheck.
117 Vgl. oben zu Fn. 106.
118 Vgl. Begründung zu § d Abs.1 des BJM-Entwurfes (Niederschriften IV
S. 412 f.).
118 Niederschriften IV S.17, IRuD 1956, 92 = Sammelband S. 540 f.
120 Wobei er freilich in seinem Referat nur hinsichtlich des "Staates"
von derartigen Interessen sprach (NiederschriftenIV S.27), während er in
IRuD 1956, 92 Fn. 117 (= Sammelband S. 540) auch solche der "eigenen
Staatsangehörigen" einbezieht.
1!1 Niederschriften IV S. 17.

1!2 Niederschriften IV S. 20; vgl. auch Umdruck J 32 zu § d Abs. 1 (Nieder-


schriften IV S. 413).
123 Vgl. die oben zu Fn. 88 Genannten.

m Niederschriften IV S. 27.
m Niederschriften IV S. 30 f.
1372 AlbinEser

Beschränkung auf Auslandstaten von Deutschen gegen Deutschem;


denn zumindest würde damit unter Wahrung des Schuldgrundsatzes das
gesetzesumgehende Ausweichen ins Ausland unterbunden127 • Vielleicht
hätte dieser Komprorniß eine reelle Chance gehabt, wenn nicht Gallas
als weitere Alternative vorgeschlagen hätte, die Strafbarkeit von Aus-
landstaten gegen Deutsche von einer entsprechenden Tatortnorm ab-
hängig zu machen. Denn während der Einschränkungsvorschlag von
Gallas mit dem unbeschränkten BJM-Entwurf stimmenmäßig gleich-
ziehen konnte - und zwar gerade auch mit J eschecks Stimme, der
darin wohl das kleinere übel sah -, fand sein eigener Kompromißvor-
schlag nur eine MinderheW 28• Im weiteren Verlauf hat dann die GrStrK
das passive Personalprinzip in der eingeschränkten Form von Gallas
zum Beschluß erhoben12V• Mit der praktisch wenig bedeutsamen Erwei-
terung auf den Fall, daß "der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt" (E
1960/62 § 6 Abs.1), ist er im heutigen § 7 Abs.1 StGB zum Gesetz ge-
worden. Damit aber wurden die durch Abschaffung des aktiven Per-
sonalprinzips erreichten Einschränkungen des deutschen Strafanwen-
dungsbereichs weitgehend wieder rückgängig gemacht l30 •
Desungeachtet hat freilich auch J eschec1cs Kompromißvorschlag noch
ein bis heute fortwirkendes Eigenleben entwickelt. Denn obgleich nicht
in die Beschlüsse der GrStrK aufgenommen, tauchte er im E 1960/62
(§ 5 Abs.2) zur Erfassung von Auslandstaten Deutscher gegen Deutsche
auf, um unabhängig vom Tatortrecht den unbeschränkten Schutz von
Auslandsreisenden jedenfalls gegenüber eigenen Landsleuten zu ge-
währleisten, wobei insbesondere an Ehe- und Sittlichkeitsdelikte ge-
dacht war l3l • Da jedoch die generelle Fassung dieser dem aktiven Per-

121 Jescheck-Entwurf § Cl: "Unabhängig von dem Recht des Tatorts gilt
das deutsche Recht weiter für strafbare Handlungen, die ein Deutscher, der in
Deutschland seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat, gegen einen
Deutschen begeht" (Niederschriften IV S.17, 411, IRuD 1956,95 = Sammel-
band S. 544).
127 Jescheck, Niederschriften IV S. 32.
128 Niederschriften IV S. 33, wobei freilich nicht klar ersichtlich ist, ob
J eschecks § Cl - wie wohl ursprünglich gemeint - als exklusive Alternative
zu den umfassenderen passiven Personalitätsklauseln der beiden anderen
VorSchläge gedacht war oder ob - wie die Abstimmungsformel nahelegen
könnte - Jeschecks § Cl nunmehr lediglich als "Ergänzung" zum Vorschlag
von Gallas eingebracht worden war: In solcher Kombination aber wäre der
Anwendungsbereich des passiven Personalprinzips noch weiter ausgedehnt
worden.
1211 Vgl. Niederschriften IV S. 125 und 417 (GrStrK-Beschluß § e Abs. 1).
130 Deshalb ist gerade diese Vorschrift zu Recht ins Zentrum der Kritik
geraten: vgI. namentlich Schultz, GA 1966, 200, Vogler, Maurach-Festschrift,
S.605, Zieher (Fn.37), S.77. Zu den zusätzlichen Problemen, die dieses pas-
sive Personalprinzip zwischen und gegenüber DDR-Bürgern aufwirft, vgl.
Eser, in: Schönke/Schröder, Vorbem. 64 ff. vor § 3 sowie Rdn. 5 f. zu § 7.
131 Vgl. E 1962 Begr. S. 112.
Das Internationale Strafrecht im Werk von Hans-Heinrich Jescheck 1373

sonalprinzip schon sehr nahe kommenden Straferstreckungl32 weit über


das Erforderliche hinausgehe, ja im wirtschaftlichen Bereich möglicher-
weise sogar wettbewerbshemmend sein könne l33 , wurde er auf die be-
reits erwähnte Sexualstraftatklausel des heutigen § 5 Nr.8 StGB be-
schränkt.

3. Im Vergleich zu der höchst problematischen Ausweitung des deut-


schen Strafrechts durch das passive Personalprinzip stand die Ergän-
zung des Territorialprinzips durch das Universal- oder Weltrechtsprin-
zip im Grundsatz außer Frage. Deshalb ging es insoweit nur um for-
male bzw. marginale Meinungsverschiedenheiten: Während der Ent-
wurf der BJM-Sachbearbeiter die Fälle des Universal- wie auch des
Realprinzips in eine gemeinsame Vorschrift zusammengefaßt hatte l34
und diese Einheit sich durch die GrStrKl35 bis zum E 1960/62 (§ 5 Abs. 1)
zu halten vermochte, hatte bereits Jescheck die Anwendungsfälle dieser
beiden Prinzipien in zwei selbständige Paragraphen aufgeteiIt1".In glei-
cher Weise ist dann auch der AE verfahren, wobei lediglich die von Je-
scheck noch grundsätzlich vermiedenen (und letztlich wohl auch wenig
nützlichen) Paragraphenüberschriften - nämlich für Auslandstaten ge-
gen "inländische" Rechtsgüter einerseits bzw. gegen "international ge-
schützte" Rechtsgüter andererseits - hinzukamen137 • Immerhin hat aber
auf diesem Wege die bereits von Jescheck begründete Zweiteilung
Eingang in die heutigen §§ 5 und 6 StGB gefunden188 •
Inhaltlich hingegen vermochte Jescheck mit seinen Vorstellungen
nicht gänzlich durchzudringen. Denn während er - über die traditio-
nell ohnehin unproblematischen Einzeltatbestände der Münzverbrechen,
der Drogen- und Pornographiedelikte sowie des Kinder- und Frauen-
handels hinaus - auf eine enumerative Spezifizierung der auf grund
Völkerrechts zu erfassenden Auslandstaten Wert legte und demzufolge
zunächst nur "schwere Zuwiderhandlungen gegen die Vier Genfer Rot-
kreuz-Abkommen" in seinen Katalog aufnahm189 , wollte der Entwurf der
BJM-Sachbearbeiter - wenngleich alternativ mit einem gewissen Kon-

132 Vgl. 2. Bericht des Sonderausschusses, BT-Drs. V/4095 S. 5.


133 Wobei u. a. befürchtet wurde, daß es bei Auslandsgeschäften zwischen
Deutschen diesen unmöglich gemacht sei, sich an im Ausland übliches Ge-
schäftsgebaren anzupassen: vgl. Sonderausschuß-Protokolle IV S. 2352.
134 § c des BJM-Entwurfs (Niederschriften IV S.412).
135 § d der GrStrK-Beschlüsse (Niederschriften IV S. 417).
13B §§ bund c Jescheck-Entwurf (Niederschriften IV S.410, IRuD 1956,
95 f. = Sammelband S. 543).
137 §§ 5 und 6 AE. Zur möglichen Mißverständlichkeit dieser Termino-
logie vgl. Eser, in: Schönke/Schröder, Vorbem. 14 vor § 3.
138 Vgl. 2. Bericht des Sonderausschusses, BT-Drs. V/4095 S.4.
139 Jescheck-Entwurf § c Nr.5 (Niederschriften IV S.16, 410, IRuD 1956,
95 = Sammelband S. 544).
1374 AlbinEser

kretisierungsvorbehalt - generell alle Auslandstaten, "die gegen Ge-


setze zum Schutze des Völkerrechts verstoßen", erfassen140 • Gegenüber
dieser schier uferlosen Formel hatte Jeschecks Vorschlag jedenfalls in-
soweit Erfolg, als die GrStrK die BJM-Generalklausel auf Taten be-
schränkte, "die aufgrund eines für die Bundesrepublik Deutschland
verbindlichen völkerrechtlichen Abkommens auch dann zu verfolgen
sind, wenn sie im Ausland begangen sind"141. Nachdem diese Formel
zwischenzeitlich im wesentlichen auch die Gefolgschaft des AE gefunden
hatte l42 , wurde s~e im heutigen § 6 Nr. 9 StGB zum Gesetz.
Andererseits war jedoch weder von Jescheck noch sonstwie von amt-
lichen Entwürfen eine Einschränkung bedacht worden, auf die es dem
AE entscheidend ankam: die Beschränkung des Universalprinzips auf
Fälle, in denen der Täter im Inland. betroffen und nicht ausgeliefert
wird (§ 6 Abs.2 AE), bzw. durch Ausschluß der Strafbarkeit nach dem
ErledigungspTinzip (§ 6 Abs.3 AE). Freilich, obgleich diesen Einschrän-
kungsversuchen aus ähnlichen Subsidiaritätserwägungen wie bei dem
nachfolgend zu betrachtenden Prinzip der stellvertretenden Strafrechts-
pflege143 eine gewisse Plausibilität' nicht abzusprechen ist, schreckte der
Sonderausschuß letztlich denn doch vor den damit verbundenen prak-
tischen Problemen zurück14'. Dazu sollte jedoch - nicht zuletzt mit
Rücksicht auf das Vorbild anderer Länder145 - das letzte Wort noch
nicht gesprochen sein.

4. Auch bei dem im Grundsatz unbestrittenen Prinzip der stellvertre-


tenden Strafrechtspflege, bei dem der Gedanke internationaler Solidari-
tät bei der Verbrechensbekämpfung am klarsten zum Ausdruck kommen
soßte, dürften noch nicht alle Entfaltungs- und Selbstbeschränkungs-
möglichkeiten ausgeschöpft sein. Jeschecks Entwurf, dessen Kernbe-

140 § c Nr.6 des BJM-Entwurfs (Niederschriften IV S.412 ID. Fn. 3).

141 So - auf Vorschlag der Unterkommission (Niederschriften IV S.415) -


§ d Nr. 12 der GrStrK-Beschlüsse (Niederschriften IV S. 124, 417).
142 Wobei zuvor im E 1960/62 (§ 5 Abs. 1 Nr.7) das Wort "völkerrechtlich"
durch "zwischenstaatlich" ersetzt worden war. In § 6. Abs. 1 Nr.7 AE wurde
dann lediglich noch - wenngleich ohne Begründung - die ausdrückliche
Erwähnung der "Verbindlichkeit" für die Bundesrepublik als wohl selbst-
verständlich gestrichen.
143 Vgl. AE Begr. zu § 6 (2. Auf!. S. 37), wobei freilich der Hinweis. auf
§ 83 Abs. 1 Nr.2 des österr. Entwurfs 1964, da sich auf das Prinzip der stell-
vertretenden Strafrechtspftege beziehend, für das hier in Frage stehende
Weltrechtsprinzip nicht ganz zieht. Immerhin finden sich aber auch im heu-
tigen § 64 Abs. 1 Nr.4 östStGB gewisse Parallelen, ebenso im heutigen Art. 6bl '
Abs.2 schweizStGB.
144 Vgl. Sonderausschuß-Protokolle V S. 2357 ff.

145 Vgl. oben Fn. 143 sowie Art.202 Nr.5, 240 Abs.3 und 245 Nr. 1 Abs.2
schweizStGB, wobei jedoch - insoweit über § 6 Abs.2 AE hinausgehend -
auch eine identische Tatortnorm vorausgesetzt wird.
Das Internationale Strafrecht im Werk von Hans-Heinrich Jescheck 1375

stimmung (§ d Abs. 1) sich fast wörtlich im heutigen § 7 Abs.2 StGB


wiederfindet l46 , nimmt dazu eine mittlere Position ein.
Einerseits wollte Jescheck bei Verwirklichung des Stellvertretungs-
gedankens insofern noch weitergehen, als er das sog. Erledigungsprin-
zip, das sich damals wie heute als bloße Opportunitätsklausel in der
StPO (§ 154d a. F. bzw. jetzt § 153c) findet, in das materielle Recht ein-
gestellt sehen wollte (§ d Abs. 2), und zwar als zwingende Ausschließung
der Verfolgung, um auf diese Weise den engen Sachzusammenhang
zwischen inländischer Stellvertretung und deren Wegfall aufgrund aus-
li;\ndischer Erledigung zum Ausdruck zu bringen147 • Ähnliche Vorbilder
finden sich auch schon im ausländischen Recht148 • Im gleichen Sinne
wollte der AE verfahren (§ 7 Abs.2). Doch obgleich selbst die GrStrK
eine derartige materielle Lösung zumindest als Alternativvorschlag
beschlossen hatte149 , beließ es der E 1960/62 - wie schon vom Entwurf
der BJM-Sachbearbeiter vorgeschlagen150 - bei der höchst unvollkom-
menen prozessualen Lösung. Vielleicht hatte Jescheck dazu selbst Vor-
schub geleistet, indem er den Charakter des Erledigungsprinzips als
"zweifellos prozessual" bezeichnet hatte151 - was jedoch durchaus be-
zweifelt werden könnte: Denn selbst wenn das Erledigungsprinzip als
Ausprägung von "ne bis in idem" eine prozessuale Wurzel haben mag,
dürfte es in Verbindung mit dem Stellvertretungsprinzip doch. auch
materiellen Charakter erlangen. Sobald man nämlich die inländische
Strafgewalt allein darauf gründet, daß sie subsidiär überall dort ein-
greifen soll, wo die an sich territorial zuständige ausländische Straf-
hoheit aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen an der Durchsetzung
ihres Strafanspruches gehindert ist I5%, so entfällt bei ausländischer EI.'-
ledigung der Stellvertretungs- und damit auch der materielle Strafer-
streckungsgrund1&a. Deshalb wäre Jeschecks materielles Lösungsziel auch
dogmatisch wohlbegründet und deshalb vorzugswürdig gewesen.

148 Während Jescheck in § d Abs. 1 Nr.2 seines Entwurfes (Niederschriften


IV S.411, IRuD 1956, 95 = Sammelband S.544) lediglich auf die Nichtaus-
lieferung trotz zulässiger Auslieferung abgehoben hatte,sind in § 7 Abs.2
Nr.2 StGB die Nichtauslieferungsgründe spezifiziert.
147 Jescheck, Niederschriften IV S. 17, IRuD 1956, 92 = Sammelband S.539.

148 Vgl. insbes. Art. 6 Abs.2 schweizStGB sowie § 65 Abs.4 östStGB von
1975.
148 § e Abs. 3 GrStrK-Beschlüsse (Niederschriften IV S. 125 f., 418).
150 Vgl. Kielwein, Niederschriften IV S. 21.

151 Jescheck, Niederschriften IV S. 17, IRuD 1956, 91 = Sammelband S. 539.


152 Vgl. Jescheck, Lehrbuch 3. Auf!. S. 136, Oehler, Internationales Straf-
recht S. 145.
153 In diesem Sinne wohl auch Vogler, Maurach-Festschrift, S. 604 f. Folge-
richtig erklärt daher § 65 Abs.4 östStGB nicht nur die "Verfolgung" für
ausgeschlossen, sondern läßt die "Strafbarkeit" entfallen; dementsprechend
werden die Fälle des Erledlgungsprinzips als "Strafaufhebungsgründe" ver-
1376 AlbinEser

In einem anderen Punkt hingegen, nämlich hinsichtlich der Anwen-


dung ausländischen Tatortrechts, wollte Jescheck selbst - jedenfalls
damals - noch nicht so weit gehen, wie dies schon bei der 1940 gelten-
den NeubürgerklauseP54 und teils auch in der Schweiz der Fall ist l55 ;
denn selbst für eine Berücksichtigung der lex mitior schienen ihm die
praktischen Schwierigkeiten doch zu groß, um eine willkür- und fehler-
freie Rechtsanwendung zu gewährleistenl5S • Der AE dagegen war auch
in dieser Hinsicht optimistischer, indem er das Überschreiten einer
milderen Tatortstrafdrohung untersagte (§ 7 Abs. 3) und darin auch
außerhalb des AE-Kreises Gefolgschaft fand 157 • Ob wohl Jescheck auch
heute noch bei seiner Ablehnung bleiben würde? Immerhin hat er einige
Jahre später die fremdrechtsfreundlichen Resolutionen des VIII. Inter-
nationalen Strafrechtskongresses von Lissabon (1961) als einen "Mark-
stein in der Entwicklung des Problems der Anwendung ausländischen
Strafrechts durch den nationalen Richter" gefeiert und gegen den mög-
lichen Einwand der Wirklichkeitsfremdheit als "leuchtendes Dokument
für den völkerverbindenden Geist" der AIDP verteidigt 158• Freilich, ob-
gleich von anderen gerne als Beleg zitiert1SV , hat sich - soweit ersichtlich
- Jescheck selbst ähnlich euphorisch nicht mehr verlauten lassenl60 •
Denn wenn auch immer wieder zu weitsichtigen Ermunterungen be-
reit, hat er sich doch stets den Blick für das Realisierbare bewahrt.
Gerade als Rechtsvergleicher aber weiß er nur zu gut um die Tücken

standen (Liebscher, in: Wiener Komm. zum StGB, 1980, § 65 Rdn.20). Ähn-
lich wird nach Art. 6bls Abs. 2 schweizStGB der Täter "nicht mehr bestraft".
154 Vgl. oben zu Fn.24.

. .~~ Vgl. Art.6b l' Abs. 1 schweizStGB sowie Schultz, v. Weber-Festschrift,


S. 313. Vgl. ferner § 65 Abs. 2 östStGB.
155 Jescheck, Niederschriften IV S.16, IRuD 1956, 89 = Sammelband
S. 537 f.
157 Vgl. dazu - neben den AE-Mitverfassern Schultz, GA 1956, 196, 199,
201 und Stratenwerth, Strafrecht, Allg. Teil I, 3. Auf!.. 1981, S. 53 - namentlich
Vogler, Maurach-Festschrift, S. 599 f., 605. Selbst Oehler setzt sich trotz sei-
ner grundsätzlichen Skepsis gegen Fremdrechtsanwendung für die Beach-
tung der lex mitior ein (Internationales Strafrecht S. 145 f.). Allgemein zu
dieser Problematik Staubach, Die Anwendung ausländischen Strafrechts
durch den inländischen Richter, 1964, Cornils, Die Fremdrechtsanwendung im
Strafrecht, 1978, insbes. S. 99 ff.
158 Jescheck, Der VIII. Internationale Strafrechtskongreß, ZStW 74 (1962),
S. 186 f. bzw. 188. Insoweit ist die Abfolge der einschlägigen Äußerungen
von Jescheck bei Cornils (Fn. 157), S. 109, gerade zeitverkehrt angegeben.
159 Vgl. etwa AE (2. Auf!..) Vorbem. zu den §§ 4 - 7 S.31, Schultz, GA 1966,
196.
180 So findet sich schon in Maurach-Festschrift, S.580 Fn.6 (= Sammel-
band S.616) lediglich ein Hinweis auf die Lissaboner Beschlüsse, aber ohne
Bezugnahme auf seinen eigenen Bericht (oben Fn.158) darüber. Und auch
in seinem Lehrbuch beschränkt sich Jescheck auf die lakonische Feststellung,
daß "nach geltendem deutschen Recht nur die Berücksichtigung des auslän-
dischen· Strafrahmens bei der Strafzumessung möglich" sei (3. Auf!.. S. 129).
Das Internationale Strafrecht im Werk von Hans-Heinrich Jeschec'k 1377

einer zuverlässigen Feststellung des nicht nur geschriebenen, sondern


auch praktizierten Rechts. Vielleicht war es sogar diese Zweifelhaftigkeit
der Fremdrechtsanwendung, daß er sich in neuerer Zeit um so stärker
für die eigene Obernahme der Strafverfolgung durch den Tatortrichter
einsetzttu?

IV. Schlußbemerkung

überhaupt drängt sich abschließend ganz allgemein die Frage auf,


wie Jescheck das von ihm mitreformierte deutsche Internationale
Strafrecht insgesamt wohl einschätzt. Nachdem er das Territorialprin-
zip als Grundnorm durchgesetzt hat, die gesetzestechnische Struktur
weitgehend seinen Entwurf widerspiegelt und auch sonst in Einzelpunk-
ten sein Einfluß unverkennbar ist, erscheint es nachgerade überraschend,
daß er in seinem Lehrbuch durch den schlichten Fußnotenhinweis "Zur
Reform allgemein"lI! seine grundlegende Miturheberschaft für den
Nichteingeweihten eher verhüllt als offenlegt. Ob ihm die verschie-
denen Durchbrechungen und überwucherungen seiner Grundkonzep-
tion letztlich denn doch zu viele waren, als daß er sich mit einem End-
produkt identifiziert sehen möchte, das zu Recht nicht ohne Kritik ge-
blieben istt~? Jedenfalls hat er im weiteren Verlauf sein Hauptinter-
esse - wie schon eingangs angedeutet - immer mehr auf Fragen des
transnationalen Strafrechts und der internationalen Rechtshilfe ver-
lagert. Doch auch damit ist er einer seiner großen Lebensaufgaben treu
geblieben: dem Dienst an der internationalen Gemeinschaft.

tu Vgl. insbes. Graven-Festschrift, S. 75 - 89 = Sammelband S. 595 - 605;


Honig-Festschrift, S. 69 - 78 = Sammelband S. 606 - 614; Maurach-Festschrift,
S. 579 - 594 = Sammelband S. 615 - 628; GA 1981, 49 - 70.
tU Jescheck, Lehrbuch, 3. Aufl., S. 137 Fn. 53.
t03 Vgl. insbes. Schultz, GA 1966, 195 ff. und ZieheT (Fn. 37), S. 176 f.

87 Festschrift für H.-H. Jescheck


THEO VOGLER

Zur Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile

Die Verdienste des Jubilars um die Strafrechtsreform sind wieder-


holt gewürdigt worden1 • Weniger bekannt ist dagegen, daß Jescheck
auch an Reformgesetzen auf dem Gebiet des internationalen Straf-
rechts wesentlichen Anteil hat2 • Mit seinen Schriften zum internatio-
nalen Strafrecht3 hat er die Entwicklung dieses Rechtsgebiets in den
letzten 30 Jahren wegweisend gefördert und kritisch begleitet. Nicht
von ungefähr nehmen Aufsätze zum Recht der Internationalen Rechts-
hilfe darin breiten Raum ein. Schon zu Beginn der 50er Jahre zeich-
nete sich die Notwendigkeit einer umfassenden Reform des Rechts-
hilferechts ab. Zum einen galt es, den rechtsstaatlichen Erfordernissen
des Grundgesetzes auch im Rechtshilferecht gerecht zu werden, zum
anderen aber auch die Grundsätze, die in den neuen Auslieferungs-
und Rechtshilfeverträgen, insbesondere in den beiden Europäischen
übereinkommen über die Auslieferung und die sonstige Rechtshilfe
in Strafsachen4 entwickelt worden waren, aber auch die Erfahrungen,
die sich aus dem zunehmenden Rechtshilfeverkehr in der Praxis er-
geben hatten, gesetzlich zu verankern. Hinzu kam, daß sich im inter-
nationalen Rechtshilfeverkehr mit der übernahme der Vollstreckung
ausländischer Strafurteile eine neue Form der Rechtshilfe entwickelt
hatte, die in den Europäischen übereinkommen vom 30.11. 1964 über
die überwachung bedingt verurteilter oder bedingt entlassener Per-

1 Vgl. den Beitrag von Dreher, Hans-Heinrich Jescheck in der Großen


Strafrechtskommission, in dieser Festschrift, S. 11 ff.
2 An der Ausarbeitung der strafrechtlichen Bestimmungen des EVG-Ver-
trages war Jescheck als Mitglied der deutschen Verhandlungsdelegation maß-
geblich beteiligt. Infolge des Scheiterns des EVG-Vertrages sind diese Vor-
arbeiten für ein internationales Strafrecht weitgehend in Vergessenheit ge-
raten. Ihren literarischen Niederschlag haben sie u. a. in der Bonner Antritts-
vorlesung des Jubilars "Das Strafrecht der Europäischen Verteidigungsge-
meinschaft" gefunden, ZStW 65 (1953), S. 113 ff.
a Vgl. Sammelband seiner Schriften: Strafrecht im Dienste der Gemein-
schaft, Ausgewählte Beiträge mit einem Geleitwort von Hans Schultz, hrsg.
von Theo Vogler, 1980, S. 455 ff.
, Europäisches Auslieferungsübereinkommen vom 13.12.1957, BGBL 1964
II, S. 1369; Europäisches übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen
vom 20.4. 1959, BGBL 1964 11, S. 1386, abgedr. bei GTÜtznerlPötz, Internatio-
naler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 1. Aufl., 111 1 und 2.

87·
1380 TheoVogler

sonen und über die Verfolgung von Zuwiderhandlungen gegen Stra-


ßenverkehrsvorschriften sowie dem Europäischen Übereinkommen vom
28. 5. 1970 über die internationale Geltung von Strafurteilen5 sowie zu-
letzt in dem Übereinkommen vom 21. 3.1983 über die ÜbersteIlung
verurteilter Personen8 ihren Niederschlag gefunden hat. Ein wichtiges
Reformanliegen war es deshalb von Anfang an, die innerstaatlichen
Voraussetzungen für die Ratifizierung dieser Übereinkommen zu
schaffen.
Die Reformbestrebungen zielten deshalb nicht auf eine Novellierung
des DAG, sondern von vornherein war eine Gesamtreform des Rechts-
hilferechts beabsichtigt. Das ließ schon der Referentenentwurf eines
Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen erkennen,
den der damalige Referent für internationales Strafrecht im Bundes-
justizministerium, Ministerialrat Dr. Heinrich GTÜtzner, im Jahre 1962
vorlegte. Als es darum ging, eine Kommission bestehend aus Ministe-
rialbeamten, Praktikern der Gerichte und Staatsanwaltschaften und
Wissenschaftlern zur Reform des DAG auf der Grundlage dieses Ent-
wurfs einzusetzen, waren es der Bonner Strafrechtslehrer Hellmuth von
Weber und der Jubilar, die vom Bundesjustizminister als Vertreter der
Wissenschaft zur Mitarbeit eingeladen wurden. Die Kommissionsarbeit
wurde vorbereitet durch Referate zu den Grundsatzfragen der Reform.
Aus der Feder des Jubilars stammt u. a. das Referat über "Die Voll-
streckung ausländischer Straferkenntnisse in der Bundesrepublik
Deutschland"7, die bis dahin ohne Vorbild war8 • Die Kommission hat
zwischen 1963 und 1969 auf 16 Tagungen den (unveröffentlichten) Ent-
wurf eines Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen
(IRe) erarbeitet, der den 1981 eingebrachten Gesetzentwurf der Bun-
desregierung maßgeblich bestimmt hat. Das am 1. 7.1983 in Kraft ge-
tretene Gesetz', das das seit 1929 nahezu unverändert gebliebene DAG
abgelöst hat, regelt im 4. Teil in den §§ 48 - 58 die Rechtshilfe durch Voll-
streckung ausländischer Erkenntnisse.
Die Neuregelung dieses Teils beruht zwar ebenfalls auf dem Kom-
missions entwurf, weicht in wesentlichen Punkten aber von ihm ab.
Ein kritischer Vergleich erscheint daher angebracht, der sich aus Raum-
gründen auf einige Punkte beschränken muß. In einem ersten Teil (I)

5 Abgedr. bei GTÜtznerlPötz (Anm. 4), III 3, 4 und 5.


8 European Treaty Series Nr. 112.
7 Veröffentlicht in Festschrift für von Weber, 1963, S. 325, abgedr. im Sam-
melband (Anm. 3), S. 566 ff.; im folgenden zitiert mit den Seitenzahlen des
Sammelbandes.
8 Zu den zaghaften Ansätzen im früheren Recht vgl. Jescheck (Anm.3),
S.570.
, BGBl. 1982 I, S.2071, abgedr. bei GTÜtznerlPötz (Anm.4), 2. Aufl., I A 1.
Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile 1381

wird zu Fragen des Anwendungsbereichs (1), der Grenzen der Voll-


streckungsübernahme (2) und des Exequaturverfahrens (3) Stellung ge-
nommen; der zweite Teil (11) behandelt Folgerungen, die sich aus der
Vollstreckungsübernahme für das materielle Strafrecht ergeben. Es
entspricht dem Anlaß, dabei besonderes Augenmerk auf die Vorstel-
lungen des Jubilars in seinem Grundsatzreferat und in den Kommis-
sionsberatungen zu richten10 •

I.

1. Die Begründung zum Entwurf des Gesetzes bezeichnet den Ab-


schnitt über die Vollstreckungsübernahme als "ein Kernstück der
Reform"". über das Bedürfnis für eine Vollstreckbarkeit ausländischer
Straferkenntnisse als Mittel "einer Vertiefung der internationalen Zu-
sammenarbeit auf dem Gebiet der Strafrechtspflege"12 bestand schon
in der Kommission weitgehend Einigkeit. Neben dem "schon früher
immer wieder geltend gemachten kriminal politischen Grund möglichst
rascher, wirkungsvoller und unkomplizierter Bekämpfung des inter-
nationalen Verbrechertums" hatte Jescheck bereits auf neu hinzuge-
tretene Gesichtspunkte für eine gesetzliche Regelung hingewiesen l3 :
die Zunahme von Zuwiderhandlungen gegen Straßenverkehrsvor-
schriften sowie Bagatelltaten mit Auslandsbezug infolge des grenz-
überschreitenden Reiseverkehrs vom und ins Ausland, derentwegen
eine Auslieferung, abgesehen von dem Verbot der Auslieferung eige-
ner Staatsangehöriger, wegen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
häufig nicht in Betracht kommt, sowie die Tatsache, daß infolge der Frei-
zügigkeit der Berufsausübung innerhalb der Europäischen Gemein-
schaft Millionen von Europäern heute als Gastarbeiter im Ausland
leben, deren Integration im Inland durch eine Auslieferung unterbro-
chen und erschwert würde14 •
10 Unveröffentlichte Niederschriften über die 16 Tagungen der Kommission
zur Reform des DAG, die Verf. als Protokollführer erstellt hat; insbesondere
die 10. Tagung vom 10. - 23. Mai 1966 in Freiburg hatte Fragen der Vollstrek-
kungsübernahme zum Gegenstand.
11 Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung eines Gesetzes
über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG), BT-Drucksache
9/1338 vom 10.2. 1982, S.29; im folgenden zitiert als Begr. (mit Seitenzahlen).
12 Jescheck (Anm. 3), S. 574.
13 Jescheck (Anm. 3), S. 573; die Formulierungen haben z. T. wörtlich in die
Begründung des Gesetzentwurfs Eingang gefunden, vgl. Begr. S.29; zum An-
wendungsbereich ebenfalls Wilkitzki, Der Regierungsentwurf eines Gesetzes
über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG), GA 1981, 361, 373.
14 Umgekehrt kann es für die Resozialisierung eines im Gastland verurteil-
ten Ausländers bei längerer Freiheitsstrafe und fehlender familiärer Bindung
besser sein, wenn er die Strafe in seinem Heimatland als dem gewohnten so-
zialen Umfeld verbüßen kann. Diesem Bedürfnis trägt die Regelung in § 71
IRG über ausgehende Ersuchen um Vollstreckung Rechnung.
1382 TheoVogler

Daneben tauchte schon in den Kommissionsberatungen ein anderer


Gesichtspunkt auf, der im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens immer
mehr in den Vordergrund trat und der letztlich nicht nur die gesetz-
liche Regelung inhaltlich stark beeinflußt,sondern ein im letzten Sta-
dium übereiltes Gesetzgebungsverfahren ausgelöst hat: Mit dem Hin-
weis auf die Fürsorge des Staates für seine Staatsangehörigen rückten
die Fälle in den Vordergrund, in denen Deutsche im Ausland in Ver-
fahren, die den deutschen strafprozessualen Maßstäben nicht stand-
halten, zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren, die sie dazu
noch unter besonders schwierigen Bedingungen verbüßen mußten. In
der Kommission bestand allerdings - soweit nicht der übernahme
der Strafvollstreckung aus reinen Fürsorgegesichtspunkten der Cha-
rakter der Rechtshilfe überhaupt abgesprochen und ihre Berücksich-
tigung im Gesetz daher abgelehnt wurde - noch Einmütigkeit dar-
über, daß "der Gedanke der Schutzpflicht für Deutsche im Ausland
nicht maßgebend sein dürfe", "diese Fälle nicht Leitmotiv der gesetz-
geberischen Lösung sein dürften, weil sie Grenzfälle bildeten, die allen-
falls nebenher ins Auge gefaßt werden könnten", "den Grundtatbe~
stand diejenigen Fälle bilden müßten, in denen das Ausland um Straf-
vollstreckung gegen einen Inländer ersuche, der sich in der Bundes-
republik aufhalte". Dementsprechend unterschied der Kommissions-
entwurf nicht zwischen der übernahme der Vollstreckung von auslän-
dischen Urteilen gegen eigene Staatsangehörige und Fremde.
Im Gegensatz dazu regelt das IRG in § 48 die Zulässigkeitsvoraus-
setzungen unterschiedlich, je nach dem ob die im Ausland verhängte
S~J1..ktion sich geKE:)!l_~!l!~n Ausländer oder einen Deutschen richtet.
Von den nur deutsche Staatsangehörige betreffenden "Härtefällen" ab-
gesehen, setzt die Leistung der Rechtshilfe durch Vollstreckung den
Abschluß einer vom Einzelfall unabhängigen zwei- oder mehrseitigen
völkerrechtlichen Vereinbarung voraus. Der Kommissionsentwurf sah
eine entsprechende Beschränkung nur fakultativ für den Fall einer
Verurteilung im Abwesenheitsverfahren vor, dann aber gleichermaßen
für deutsche und ausländische Verurteilte l5 • Der Ausnahmecharakter
dieser Regelung ist offensichtlich. Während Rechtshilfe grundsätzlich
auch außerhalb bestehender völkerrechtlicher Verträge geleistet wer-
den kann - bestehen solche allgemeinen Rechtshilfevereinbarungen,
gehen sie dem Gesetz nach § 1 Abs.3 IRG vor - , setzt die Vollstrek-
kungsübernahme eine völkerrechtliche Vereinbarung i. S. des § 1 Abs.3

15 § 57 Abs.2: "Ist das Erkenntnis nicht aufgrund einer in Anwesenheit


des Verurteilten geführten Verhandlung ergangen, so darf es ... nur voll-
streckt werden, wenn ein völkerrechtlicher Vertrag dies vorsieht oder wenn
ein solches Erkenntnis unter gleichartigen Umständen auch nach deutschem
Verfahrensrecht hätte ergehen können."
Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile 1383

IRG voraus, allerdings nur im Falle der übernahme eines gegen einen
Ausländer ergangenen Urteils. Zur Begründung dieser systemwidrigen
Ausnahme wird angeführtl8 , die Einhaltung der nach deutschem Ver-
fassungsrecht an die Anordnung von Freiheitsentzug zu stellenden An-
forderungen könnte, da das ausländische Erkenntnis nur beschränkt
der Nachprüfung durch den deutschen Richter unterliege, nur dann
sichergestellt und zuverlässig nachgeprüft werden, wenn völkerrecht-
liche Vereinbarungen die Gewähr hierfür böten. Eine in der Tat merk-
würdige, um nicht zu sagen befremdliche Begründung. Abgesehen
davon, daß das Gesetz keine Verpflichtung zur Leistung von Rechts-
hilf~ durch Vollstreckungsübernahme begründet - das Gesetz ermäch-
tigt nur dazu -, so daß es der Bundesregierung unbenommen bliebe,
bei Zweifeln an der Rechtsstaatlichkeit der ausländischen Anordnung
des Freiheitsentzugs die übernahme der Vollstreckung abzulehnen,
bleibt die als notwendig erachtete Sicherung durch eine völkerrecht-
liche Vereinbarung dem deutschen Verurteilten, dessen Fürsorge die
Regelung gilt, vorenthalten.
Das Gesetz verschließt die Augen vor dem möglichen Defizit an
Rechtsstaatlichkeit zugunsten humanitärer Erwägungen und glaubt sich
auf den Grundsatz "volenti non fit iniuria" zurückziehen zu können:
Ist der im Ausland Verurteilte Deutscher, dann soll die übernahme
der Vollstreckung nur zulässig sein, wenn er sich damit unwiderruflich
einverstanden erklärt hat (§ 49 Abs.2 IRG). Damit kommt ein zusätz-
licher Fremdkörper in das Rechtshilferecht, der im bisherigen deut-
schen Rechtshilferecht17 beispiellos ist l8 : Ob deutscherseits Rechtshilfe
geleistet werden darf oder nicht, hängt davon ab, ob der Betroffene
zustimmt! Die Zustimmung eines von der Rechtshilfeleistung Betrof-
fenen ist zwar auch sonst nicht bedeutungslos, aber ihre Wirkung
beschränkt sich auf Vereinfachungen des Verfahrens. So kann bei der
vereinfachten Auslieferung nach § 41 IRG nach Einverständniserklä-
rung des Verfolgten mit der Auslieferung die Durchführung des förm-
lichen Auslieferungsverfahrens entfallen. Aber auch bei der verein-
fachten Auslieferung müssen die materiellen Voraussetzungen einer
Auslieferung erfüllt sein. Die Zustimmung des Verfolgten hat nur

18 Begr. (Anm. 11), S. 68.


17 Das österr. ARHG vom 4. 12. 1979, BGBL S.529, verlangt in § 64 Abs. 1
Nr.7 allerdings ebenfalls, daß der Verurteilte der inländischen Vollstreckung
zugestimmt hat, dagegen kennt das schweiz. IRSG vom 20.3. 1981, AS 1982,
S.846, ein solches Zustimmungserfordernis nicht. Vgl. Vogler, Das neue öster-
reichische und deutsche Auslieferungsrecht im Vergleich, ZfR 1983, 190; ders.,
Das neue Recht der Internationalen Rechtshilfe in Strafsachen. Rechtsver-
gleichende übersicht, ZStW 96 (1984), S. 615.
18 Für ausgehende Ersuchen um Vollstreckungsübernahme bedarf es der
Zustimmung eines deutschen Verurteilten, wenn er sich nicht in dem ersuchten
Staat aufhält, § 71 Abs. 2 Satz 2 IRG.
1384 Theo Vogler

interne und verfahrens rechtliche Wirkungenl9 • Deshalb ließ es Jescheck


in seinem Referat auch noch bei der lapidaren Feststellung bewenden,
das Einverständnis des Verurteilten mit der Strafvollstreckung im In-
land sei natürlich nicht erforderlich20 .
Der Versuch, den Fürsorgegedanken mittels des Rechtshilferechts
zu verwirklichen, war von vornherein verfehlt, weil es sich in diesen
Fällen in Wahrheit gar nicht um Rechtshilfe für den Urteilsstaat han-
delt. Der Urteilsstaat wird im Gegenteil in der Anregung des Voll-
streckungsstaates, ein übernahmeersuchen zu stellen - auf ein solches
vom Urteilsstaat ausgehendes, dem Rechtshilfecharakter entsprechen-
des Ersuchen will auch das Gesetz nicht verzichten (§ 49 Abs.l Nr.l
IRG) -, den unausgesprochenen Vorwurf inhumaner Strafrechtspflege
erblicken21 . Schon in den Kommissionsberatungen war darauf hinge-
wiesen worden, daß es der europäischen Konzeption widerspreche, den
Fürsorgegedanken in den Vordergrund zu stellen; denn deutlicher
könne das Mißtrauen gegen die Justiz der Vertragspartner kaum aus-
gedrückt werden. Eine staatliche Hilfs- und Fürsorgepflicht könne
natürlich auch dort anerkannt werden, wo rechtsstaatswidrig verfah-
ren worden sei, aber derartige Maßnahmen seien anderer Art als
Rechtshilfe und müßten einem anderen Verfahren vorbehalten blei-
ben. "Wo man an einer Vertiefung der internationalen Zusammen-
arbeit auf dem Gebiet der Strafrechtspflege interessiert ist, findet die
Frage nach dem Bedürfnis für eine Vollstreckbarkeit ausländischer
Straferkenntnisse grundsätzlich Zustimmung"2!, ohne daß es einer Rege-
lung für besondere Härtefälle bedurft hätte. Der Fürsorgegedanke
mußte im Gegenteil notwendigerweise mit dem Rechtshilfecharakter
aer--Vollstreclö.logsUbernahme in Konflikt -geräten; einerseits fordert
er die Vollstreckungsübernahme um so mehr, je weniger die auslän-
dische Verurteilung mit rechtsstaatlichen Vorstellungen vereinbar ist,
andererseits aber kann das Gesetz die Augen vor eklatanten Verstößen
gegen den rechtsstaatlichen Mindeststandard bei ausländischen Ver-
urteilungen nicht verschließen. Dieser Widerspruch zwingt zu einer
"ständigen Gratwanderung zwischen Verfassungs gebot und Fürsorge-
pflicht"!3 .

18 Schultz, Das schweizerische Auslieferungsrecht, 1953, S. 388 Fn. 163; Vog-


lerlWalterlWilkitzki, IRG-Kommentar, § 41 Rdnr. 11, in Grützner/Pötz, Inter-
nationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 2. Auft., I A 2.
20 Jescheck (Anm. 3), S. 576.
21 Vogler, Das neue Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Straf-
sachen, NJW 1983,2114,2122.
22 Jescheck (Anm. 3), S. 574.

za Wilkitzki (Anm. 13), S. 375.


Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile 1385

2. Das Gesetz versucht, durch einen Kompromiß die in ihrer Ziel-


richtung gegenläufigen Prinzipien und Interessen zu harmonisieren,
ohne sie in ihrem "Wesensgehalt" anzutasten. Es beschränkt die An-
forderungen, die es an die rechtsstaatliche Ausgestaltung des auslän-
dischen Verfahrens stellt, auf die Mindestgarantien der Gewährung
rechtlichen Gehörs, angemessener Verteidigungsrechte und der Unab-
hängigkeit des erkennenden (bzw. bei Geldbußen des überprüfenden)
Gerichts (§ 49 Abs. 1 Nr.2 IRG).
Die Frage, ob die Grenzen der Rechtshilfe durch eine Einzelauf-
zählung oder durch eine Generalklausel gezogen werden sollen, war
in der Kommission lange umstritten. Es setzte sich schließlich die Auf-
fassung durch, es bei einer allgemeinen ordre-public-Klausel bewen-
den zu lassen24 • Der Gesetzgeber hat demgegenüber geglaubt, die drei
genannten zentralen Garantien des IX. Abschnitts des Grundgesetzes
in "Konkretisierung und teilweiser Erweiterung der ordre-public-
Klausel des § 72" (jetzt § 73 IRG) ausdrücklich aufführen zu sollen. Die
Folge ist allerdings kein Gewinn an Klarheit, sondern eine beträcht-
liche Unsicherheit. Daß die drei "zentralen Garantien" zum ordre public
der Bundesrepublik gehören, dürfte nicht zweifelhaft sein, weil sie
"wesentliche Grundsätze der deutschen Rechtsordnung" i. S. des § 73
IRG darstellen. Wieso ihre Nennung im Gesetz die ordre-public-Klau-
seI soll "erweitern" können, bleibt daher unerfindlich. Ihre Funktion
als "Konkretisierung" der ordre-public-Klausel kann sie auch nur un-
vollkommen erfüllen, weil die Aufzählung keine limitierende Wirkung
hat, denn § 73 IRG ist auch auf die Rechtshilfe durch Vollstreckungs-
übernahme anzuwenden25 , wie sich schon aus der Einstellung dieser
Vorschrift in den 7. Teil mit der überschrift "Gemeinsame Vorschrif-
ten" ergibt. Die Aufzählung einiger wesentlicher Grundsätze in § 48
Abs.l Nr.2 IRG neben der Anwendbarkeit der Generalklausel des § 73
IRG ist daher überflüssig. Die Schwierigkeiten, die mit einer General-
klausel zwangsläufig für die Rechtsanwendung verbunden sind, wer-
den durch die beispielhafte Aufzählung einiger wesentlicher Grund-
sätze, denen das dem ausländischen Vollstreckungstitel zugrundelie-
gende Verfahren genügen muß, nicht geringer28 •
Fest steht zunächst einmal nur, daß durch die Beschränkung auf den
Widerspruch zu wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsord-

24 Dafür hatte bereits Jescheck (Anm.3), S.576, in Anlehnung an § 2 Nr.1


und 3 a. F. des Gesetzes über die innerdeutsche Rechts- und Amtshilfe von
1953, BGBl. 1953 I, S.161; 1980 I, S. 1503, plädiert.
25 Vgl. Begr. (Anm. 11), S. 70.

28 Vgl. Jescheck (Anm.3), S.576, der es den Gerichten überlassen wollte,


was unter dem Erfordernis der "übereinstimmung des Verfahrens mit rechts-
staatlichen Grundsätzen" zu verstehen sei.
1386 TheoVogler

nung "nicht jedem ausländischen Verfahren, das in materiell-recht-


licher oder prozessualer Hinsicht Eigenheiten aufweist, welche von
unserem innerstaatlichen Recht abweichen, Unterstützung durch
Rechtshilfe versagt werden muß,m. Eine positive Festlegung ist damit
aber noch nicht erfolgt. Die Begründung des Gesetzentwurfs hilft bei
der im Wesen des ordre public begründeten Schwierigkeit einer
klaren Definition auch nicht weiter. Danach soll die Rechtshilfe gegen
wesentliche Grundsätze der deutschen Rechtsordnung insbesondere
dann verstoßen, "wenn das ausländische Verfahren zu elementaren
verfassungsrechtlichen oder völkerrechtlichen Geboten des Grund-
rechts- bzw. Menschenrechtsschutzes in offenbarem Widerspruch
steht" 28. Zu denken sei etwa an die durch Gewährung von Rechtshilfe
herbeigeführte oder vergrößerte Gefahr, daß jemand im Widerspruch
zu Art. 3 EMRK28 im Ausland der Folter oder grausamer, unmensch-
licher oder erniedrigender Behandlung unterworfen wird, sowie an
Verstöße gegen andere Rechtsverbürgungen dieser oder ähnlicher
übereinkommenso in dem ausländischen VerfahrenIl.
Wenn das gemeint ist, hätte der Gesetzgeber besser daran getan,
es ausdrücklich zu sagen, wie etwa das österreichische ARHG, das in
§ 19 Nr.l und 2 und § 51 Abs.l Nr.2 die Rechtshilfe für unzulässig
erklärt, "wenn zu besorgen ist, daß das Strafverfahren im ersuchen-
den Staat den Grundsätzen der Art. 3 und 6 EMRK nicht entsprechen
werde oder nicht entsprochen habe oder wenn die im ersuchenden
Staat verhängte oder zu erwartende Strafe oder vorbeugende Maß-
nahme in einer den Erfordernissen des Art. 3 EMRK nicht entsprechen-
den Weise vollstreckt werden würde"3t.
Eine Bezugnahme auf die Europäische Menschenrechtskonvention
hätte gegenüber der konturlosen ordre-public-Klausel ,auch deshalb
den Vorzug verdient, weil sie nicht dem Vorwurf ausgesetzt ist, den
eigenen Vorstellungen vom Rechtsstaat, wie sie in der Verfassung zum
Ausdruck kommen, auf dem Umweg über die Auslieferung "Allgemein-
verbindlichkeit" zu verschaffen, sondern weil sie der Natur der Aus-
lieferung als völkerrechtlichem Vertrag33 Rechnung trägt, indem sie
die Auslieferungsgrenzen nach völkerrechtlichen Maßstäben bestimmt3f •

27 Begr. (Anm. 11), S. 93.


28 Begr. (Anm. 11), S. 93.
28 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom
4.11. 1950, BGBl. 1952 11, S. 685.
30 z. B. des Internationalen Pakts vom 19. 12. 1966 über bürgerliche und poli-
tische Rechte, BGBl. 1973 11, S. 1533.
31 Vgl. dazu BGH JZ 1984,897 mit Anm. Vogler.

32 Zur Rechtslage nach dem schweiz. IRSG, das ebenfalls auf die EMRK
Bezug nimmt, vgl. Art. 2 Buchst. a; hinzu kommen besondere Regelungen zum
Schutz des Geheimbereichs in Art. 9, 82 IRSG.
Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile 1387

Mehr als ein allgemeiner Richtpunkt für die Grenzen einer Rechts-
hilfeleistung ist mit der ordre-public-Klausel allerdings nicht gegeben;
sie ermöglicht keine einfache Subsumtion, sondern bedarf einer Kon-
kretisierung für einzelne Fallgruppen, wobei auf die Umstände des
konkreten Falles abzustellen ist85 • Auch die Art der erbetenen Rechts-
hilfe ist dabei von Bedeutung. Die Begründung des Gesetzentwurfs
verweist insoweit mit Recht darauf, daß die Rechtshilfe durch Voll-
streckung ausländischer Erkenntnisse, insbesondere bei Verurteilung
zu freiheitsentziehenden Sanktionen, "in ihrer Durchführung den deut-
schen ordre public besonders stark berührt", und daß deswegen andere
als die in § 48 Abs. 1 Nr.2 ausdrücklich aufgeführten "Gesichtspunkte
des ordre public - auch verfahrensrechtlicher Art, z. B. bei Erkennt-
nissen von Sonder- und Ausnahmegerichten - berücksichtigt werden
können, und zwar teilweise in weiterem Umfang als in anderen Be-
reichen der Rechtshilfe"ae. Durch die Aufnahme der ordre-public-Klau-
seI ist sichergestellt, daß der Vorbehalt des nationalen ordre public im
vertraglosen Auslieferungsverkehr7 zu einer Voraussetzung für die
Zulässigkeit der Vollstreckungsübernahme wird, die die Gerichte im
Zulässigkeitsverfahren zu prüfen haben.

3. Das Erfordernis eines gerichtlichen Zulässigkeitsverfahrens stand


von Anfang an außer Frage. "Die Vollstreckung setzt die Umwand-
lung der ausländischen Strafentscheidung in eine deutsche voraus, so
daß die Durchführung eines Exequaturverfahrens schon von Verfas-
sungs wegen unerläßlich ist 38 ." Nach Art. 104 Abs. 2 GG darf eine Frei-
33 Zur Vertragsnatur der Auslieferung vgl. Vogler, Auslieferungsrecht und
Grundgesetz, 1970, S. 33 ff.
U VogZerlWalterlWiZkitzki (Anm. 19), § 73 Rdn.4.
35 Vgl. VogZerlWaZterlWiZkitzki (Anm. 19), § 73 Rdn. 10 f.
se Begr. (Anm. 11), S.94; ob deswegen allerdings Urteile, die auf Gewohn-
heitsrecht beruhen, nach Art. 103 Abs.2 GG von der Vollstreckung ausge-
schlossen sind, wie Jescheck (Anm.3), S.575 Fn. 29, meint, ist fraglich und im
Hinblick auf den Rechtshilfeverkehr mit den common-Iaw-Staaten auch nicht
praktikabel. Die Auslegung des Art. 103 Abs.2 GG kann keine Allgemeinver-
bindlichkeit beanspruchen, wie sich schon aus Art. 7 Abs. 1 EMRK ergibt, der
aufgrund des maßgeblichen englischen und französischen Textes Oaw, droit)
auch das Gewohnheitsrecht umfaßt; vgl. Guradze, Die Europäische Menschen-
rechtskonvention, 1968, Art. 7 Anm. 5.
37 Im vertraglichen Auslieferungsverkehr scheidet eine Berufung auf den
nationalen ordre public des § 73 IRG wegen des Vorrangs völkerrechtlicher
Vereinbarungen aus. Der nationale ordre public kann auch nicht als still-
schweigend vorbehalten gelten. Als Grenze vertraglicher Rechtshilfeverpflich-
tungen kommt nur der internationale ordre public in Betracht. Zur Unter-
scheidung von nationalem und internationalem ordre public für den Rechts-
hilfeverkehr vgl. Vogler (Anm.33), S. 202 ff., 214 ff.; VoglerlWalterlWilkitzki
(Anm. 19), § 73 Rdn. 5 ff.; Vogler, Anmerkung zu OLG Karlsruhe, JR 1984,
214,218.
88 Jescheck (Anm. 3), S. 575, der allerdings auf Art. 92 GG i. S. eines Richter-
vorbehalts, wie ihn BVerfGE 22, 49, 73 ff. daraus abgeleitet hat, abstellte. Die
1388 TheoVogler

heitsentziehung in der Bundesrepublik nur auf grund einer richter-


lichen Entscheidung vollzogen werden. "Richter" i. S. dieser Bestim-
mung ist nur der deutsche Richter. Um ein ausländisches, auf Freiheits-
entziehung lautendes Urteil in der Bundesrepublik Deutschland voll-
strecken zu können, bedarf es daher der Umwandlung der auslän-
dischen Entscheidung in eine inländische richterliche Entscheidung.
Es muß daher ein Exequaturverfahren durchgeführt werden, in dem
die ausländische Entscheidung in eine inländische Entscheidung um-
gewandelt wird38 •
Das IRG trägt dem durch eine detaillierte Regelung Rechnung. Die
Gerichte nehmen im Exequaturverfahren - wie allgemein im Rechts-
hilfeverfahren - die verfassungsmäßige Sonderstellung nach § 1 GVG,
§ 97 GG ein; sie werden in voller Unabhängigkeit tätig40 • Die im Exe-
quaturverfahren ergehende Entscheidung des deutschen Gerichts bil-
det nicht nur in allen verfassungs rechtlichen Hinsichten den maß-
gebenden BezugspunktU, sondern sie ist Gegenstand der Vollstreckung.
Davon geht wohl auch die Begründung des Gesetzentwurfs aus, wenn-
gleich die Formulierungen nicht ganz eindeutig sind42 • Während zu-
nächst die Rede davon ist, vollstreckt werde das ausländische Erkennt-
nis in der Form, die es durch eine deutsche "Exequaturentscheidung"
erhalten habe, heißt es im übernächsten Satz, international gesehen
gehe es zwar um Rechtshilfe zur Vollstreckung einer ausländischen
Entscheidung, aus innerstaatlicher Sicht dagegen um die Vollstreckung

Entscheidung betrifft jedoch nur das klassische Strafrecht mit Rücksicht auf
den ihren Akten zugrundeliegenden "ethischen Schuldvorwurf" (vgl. Herzog,
in:-MaunzIDürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 92 Rdn.47). Darum geht
es im Rechtshilfeverfahren gerade nicht. Bei der Mitwirkung des Richters
im Rechtshilfeverfahren handelt es sich um eine "übertragene Aufgabe" in Aus-
formung des Rechtsprinzips (im Gegensatz zum Verständnis der Rechtshilfe
als eines politischen Akts), das für die Prüfung ausländischer Rechtshilfe-
ersuchen an die Stelle eines Verwaltungsverfahrens ein Gerichtsverfahren
gesetzt hat.
38 GTÜtzner, Schritte auf dem Wege zu einem europäischen Strafrecht,
NJW 1961,2185,2188.
40 Etwas anderes gilt nur, soweit ihnen die Ausübung der Befugnisse der
Bundesregierung aufgrund des § 74 Abs.2 IRG übertragen worden ist. Vgl.
zur Rechtslage nach dem entsprechenden § 44 DAG, Mettgenberg/Doerner,
Deutsches Auslieferungsgesetz, Kommentar, 1953, S. 503.
41 z. B. auch - worauf Jescheck (Anm.3), S.575, schon hingewiesen hatte
- für die Verfassungsbeschwerde nach § 90 BVerfGG.
42 Insoweit bestand auch in den Kommissionsberatungen wenig Klarheit.
Zu der Frage, was eigentlich im Falle der Vollstreckungsübernahme voll-
streckt werde, wurden die unterschiedlichsten Auffassungen vertreten: Voll-
streckt werde nicht das ausländische Urteil, sondern die deutsche Vollstrek-
kungsklausel; es müsse zum Ausdruck gebracht werden, daß die fremde Strafe
vollstreckt werde; es werde das ausländische Urteil in deutscher Sprache voll-
streckt; die Exequaturentscheidung sei die Grundlage, de facto werde das
ausländische Urteil vollstreckt; Protokoll über die 11. Tagung, S. 22.
Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile 1389

der deutschen Exequaturentscheidung, d. h. einer freiheitsentziehenden


Entscheidung, für die das deutsche Gericht nach Art. 104 GG die Ver-
antwortung übernehmen müsse43 •
Mit dem Hinweis auf Art. 104 GG ist die Verfassungsmäßigkeit der
Vollstreckungsübernahme jedoch keineswegs abgesichert; Art. 104 GG
regelt grundsätzlich nur die Formalien der Freiheitsentziehungu . Ob
und unter welchen materiellen Voraussetzungen die Vollstreckungs-
übernahme zulässig ist, entscheidet sich nicht nach Art. 104 GG, son-
dern hängt entscheidend von der Rechtsnatur der zu vollstreckenden
Maßnahme ab.
Ein Strafübel darf grundsätzlich nur bei strafrechtlichem Verschul-
den des Täters verhängt werden4S • Der Schuldgrundsatz hat den Rang
eines Verfassungsrechtssatzes48 , das folgt aus dem Bekenntnis des
Grundgesetzes zur Menschenwürde (Art. 1 GG) und dem Rechtsstaats-
prinzip (Art. 20, 28 Abs. 1 Satz 1 GG). Er besagt, daß kriminelle Strafe
nur auf die Feststellung gegründet werden darf, daß dem Täter aus
der zum Tatentschluß führenden WiIlensbildung ein Vorwurf gemacht
werden kann47 • Seine prozessuale Ergänzung erfährt das Schuldprin-
zip durch den Grundsatz in dubio pro reo: Bestrafung setzt nicht nur
Schuld, sondern den Schuldnachweis voraus. Die strafrechtliche Un-
schuldsvermutung ist zwar im Grundgesetz nicht ausdrücklich statu-
iert48 , entspricht aber allgemeiner rechtsstaatlicher überzeugung'8. Mit
dem Schuldgrundsatz ist deshalb das materielle Prüfungsprinzip un-
lösbar verbunden. Das Rechtshilferecht wird dagegen - von der
systemwidrigen und überflüssigen50 Ausnahme in § 10 Abs.2 IRG ab-
gesehen - vom formellen Prüfungsprinzip beherrscht51 • Das gilt auch
für die Vollstreckungsübernahme. Aus dem Rechtshilfecharakter der
Vollstreckungsübernahme folgt, daß im Exequaturverfahren das aus-
ländische Erkenntnis grundsätzlich weder im Hinblick auf seine tat-
sächlichen Feststellungen noch auf die rechtliche Würdigung noch hin-
sichtlich der Strafzumessung überprüft wird. Eine "revision au fond",
die das Institut seines Sinns und Zwecks, eine nochmalige Hauptver-

43 Begr. (Anm. 11), S. 30.


U Dürig, in MaunzIDürig (Anm. 38), Art. 104 Rdn. 32.
45 Dürig, in MaunzIDürig (Anm. 38), Art. 1 Rdn. 32.
48 BVerfGE 20, 323, 331.
47 Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 1978, S. 328.
48 Vgl. aber Art.6 Abs.2 EMRK, der durch Transformation Bestandteil
des innerstaatlichen Rechts geworden ist.
48 BVerfGE 19,342,347.
so Vgl. VogZerlWalterlWilkitzki (Anm. 19), § 10 Rdn. 20 fI.
51 Zur Unterscheidung von formellem und materiellem Prüfungsprinzip
vgl. VogZerlWalterlWiZkitzki (Anm. 19), § 3 Rdn. 5, § 10 Rdn. 5 m. w. N.
1390 Theo Vogler

handlung zu vermeiden, berauben würde, findet also nicht statt, auch


nicht in summarischer WeiseS!. Damit liegt auf der Hand, daß die Exe-
quaturentscheidung als konstitutive Grundlage für die Anordnung von
Strafhaft ausscheidet. Die ausländische Haftanordnung genügt dem
Art. 104 GG nicht, und für die Verhängung einer deutschen freiheits-
entziehenden Sanktion mit Strafcharakter fehlen die erforderlichen
materiellen und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen.
Das scheinbar unüberwindliche verfassungsrechtliche Dilemma der
Vollstreckungsübernahme beruht auf einer den Rechtshilfecharakter
vernachlässigenden einseitigen strafrechtlichen bzw. strafprozessualen
Sichtweise.
Dazu verleitet allerdings u. a. die Kompetenzzuweisung an die Voll-
streckungskammern bei den Landgerichten (§ 50 IRG, §§ 78 a und b
GVG). Diese Kompetenzzuweisung bildet ein Novum im gesamten
Rechtshilferecht, weil in allen anderen Fällen der Rechtshilfe das OLG
zuständig ist53 • Sie wird damit begründet, daß es sich bei den dem
Landgericht zugewiesenen Geschäften "im weiteren Sinne" um Auf-
gaben im Rahmen des Strafvollstreckungsverfahrens handelt. Diese
Begründung trifft jedoch allenfalls für Entscheidungen nach § 57 Abs.3
IRG zu, keinesfalls aber für die Exequaturentscheidung als solche. Mit
der Kompetenzzuweisung an die Vollstreckungskammer hat das Gesetz
den rechtshilferechtlichen Charakter der Vollstreckungsübernahme aus
den Augen verloren5'. Wegen der sachlichen Verwandtschaft mit der
Auslieferung zur Strafvollstreckung wäre es sachgerecht gewesen, das
OLG für zuständig zu erklären. In beiden Fällen geht es sachlich
dg,t:tlm, dem ausländischen Staat bei der Vollstreckung seiner Ent-
scheidungen zu helfen, und verfahrensrechtlich um die Prüfung der
Voraussetzungen für die Gewährung der internationalen Rechtshilfe 55 •
Eine Anfechtungsmöglichkeit würde dann allerdings entfallen, was
aber der Beschleunigung des Verfahrens nur zugute kämellll • Der gegen
das Fehlen einer Anfechtungsmöglichkeit aus Art.41 des Europäischen
übereinkommens über die internationale Geltung von Strafurteilen57
abgeleitete Einwand ist nicht stichhaltig. Zwar räumt diese Vorschrift

S2 Begr. (Anm. 11), S. 31.


53 Zur Kritik an dieser Regelung vgl. Vogler, Die Ahndung im Ausland
begangener Verkehrsdelikte nach dem Entwurf eines Gesetzes über die Inter-
nationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG), DAR 1982, 73 ff., 78 f.
54 Dieser Vorwurf trifft allerdings auch den Kommissionsentwurf, der
ebenfalls in § 58 die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts vorsah.
55 Jescheck (Anm.3), S.557, der ergänzend auf die erheblichen Schwierig-
keiten der Exequaturentscheidung hingewiesen und die Zuständigkeit des
OLG auch deshalb für angemessen erachtet hatte.
GS Worauf Jescheck (Anm.3), S. 575, ebenfalls mit Recht hingewiesen hatte.

57 European Treaty Series Nr. 70, abgedr. bei Grützner/Pötz (Anm. 4), 111 5.
Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile 1391

dem Verurteilten ein Rechtsmittel gegen die übernahmeentscheidung


ein, aber es ist nicht anzunehmen, daß das übereinkommen wegen
seiner mannigfachen Unzulänglichkeiten von der Bundesrepublik
Deutschland jemals ratifiziert wird und praktische Bedeutung erlangt,
nachdem inzwischen das übereinkommen über die überstellung ver-
urteilter Personen58 unterzeichnet worden ist 51• Dieses übereinkommen
sieht vom Erfordernis einer Anfechtungsmöglichkeit für den Verurteil-
ten im ersuchten Staat ab.
Aus rechtshilferechtlicher Sicht ist die übernahme der Vollstreckung
einer ausländischen Entscheidung nicht wesensgleich mit der Voll-
streckung einer innerstaatlichen Haftstrafe. Die Freiheitsentziehung
aufgrund eines übernahmeersuchens ist nur der Form nach Strafvoll-
streckung, ihrem Wesen nach jedoch Rechtshilfe. Durch die übernahme
der Strafvollstreckung wird Rechtshilfe durch eine strafvollzugsför-
mige Freiheitsentziehung geleistet. Die §§ 48 ff. lRG bilden die nach
Art. 104 Abs. 1 GG erforderliche gesetzliche Eingriffsermächtigung. Die
Exequaturentscheidung ist kein Akt deutscher Strajgerichtsbarkeit;
deshalb braucht sie in anderen Fällen als bei Eingriffen in die Freiheit
des Verurteilten auch nicht beim Richter zu liegen. Der Gesetzgeber
hat zwar bewußt davon abgesehen80 , für den Bereich der Vollstreckung
von Sanktionen, die ausschließlich auF Geldbuße lauten, bei denen
also auch die Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe ausscheidet, eine
übertragung der Zuständigkeit für das Exequaturverfahren auf eine
Behörde vorzusehen81 ; er ist aber von Verfassungs wegen auch nicht
daran gehindert, derartige Ausnahmeregelungen in Zukunft zu treffen.
Um so mehr hätte es sich empfohlen, es im übrigen bei der Zuständig-
keit der Oberlandesgerichte zu belassen. Der Bagatellcharakter und
die große Zahl zu erwartender Ersuchen bilden jedenfalls keine stich-
haltige Begründung für eine Verlagerung der Zuständigkeit auf das
Landgericht, wenn die Masse derartiger Ersuchen auch von Verwal-
tungsbehörden erledigt werden kann.

11.
Bestehen somit aus verfassungsrechtlicher Sicht gegen die Rechts-
hilfe durch Vollstreckungsübernahme keine durchgreifenden Beden-
ken, so ergeben sich aus der rechtshilferechtlichen Betrachtungsweise

68 (Anm.6).
51 Vgl. Bartsch, Strafvollstreckung im Heimatstaat. Zu einem neuen über-
einkommen des Europarats, NJW 1984, 514.
80 Der Kommissionsentwurf (§ 58 Abs. 2) hatte die Zuständigkeit der Staats-
anwaltschaft vorgesehen, soweit es nicht um die Vollstreckung von Freiheits-
bzw. Ersatzfreiheitsstrafe ging.
81 Begr. (Anm. 11), S. 72.
1392 TheoVogler

doch neue Fragen zum materiellen Strafrecht. Nach § 258 Abs.2 StGB
ist wegen Strafvereitelung strafbar, wer absichtlich oder wissentlich
die Vollstreckung einer gegen einen anderen verhängten Strafe oder
Maßnahme ganz oder z. T. vereitelt. Unter den Schutz der Vorschrift
fällt nur die inländische Strafrechtspflege82 ; der Schutz ausländischer
Verfolgungsinteressen ist nicht Sache des deutschen Strafrechts·!. Es
stellt sich somit die Frage, ob wegen Strafvereitelung bestraft werden
kann, wer die auf ausländisches Ersuchen übernommene Vollstreckung
vereitelt, indem er z. B. den aus der Haft Entwichenen beherbergt oder
ihm hilft, weiter zu fliehen. Rechtsprechung und Literatur ist dazu
keine Stellungnahme zu entnehmen.
Im Falle von Auslieferungshaft wird die Auffassung vertreten, § 258
StGB erfasse auch Handlungen, die einen Ausländer vor dem Vollzug
der Auslieferungshaft schützen sollen; denn Verhängung und Vollzug
von Auslieferungshaft sei Teil der inländischen Strafrechtspflege64 •
Zur Begründung wird geltend gemacht, die Strafgewalt beschränke
sich nicht auf Urteilsgewalt; vielmehr unterlägen der "inländischen
Strafgewalt" auch alle die Strafsachen, mit denen die deutschen Straf-
verfolgungsbehörden im Zuge der Verbrechensaufklärung überhaupt
in Berührung kommen, so z. B. in Auslieferungssachen: Wer einen nach
Deutschland geflüchteten Ausländer, dessen Auslieferung verlangt
wird, den Nachforschungen verbirgt, helfe nach § 257 a. F. StGB, so-
fern der begünstigte Täter ein Verbrechen oder Vergehen entspre-
chend dem deutschen Recht begangen habe6s • Auch nach Schröder66
soll eine Erweiterung des Bereichs der geschützten Strafgewalt in
Betracht kommen, wo außerdeutsche Strafverfolgung durch deutsche
Staatsgewalt ausdrücklich als schutzwürdigarierkanilt worden sei. Das

62 Tröndle, LK, 10. Aufi., vor § 3 Rdn.28; zu der von den Anwendungs-
bereichsregeln der §§ 3 - 7 StGB zu trennenden Frage der Einbeziehung aus-
ländischer Rechtsgüter in den Schutzbereich der deutschen Straftatbestände
vgl. Jescheck (Anm. 47), S. 141; OehZer, Internationales Strafrecht, 2. Aufi. 1983,
Rdn. 232 ff. m. w. N.; Reschke, Der Schutz ausländischer Rechtsgüter durch
das Strafrecht, 1962.
63 Ruß, LK, 10. Aufi., § 258 Rdn. 1; Schröder, Grundlagen und Grenzen des
Personalitätsprinzips im internationalen Strafrecht, JZ 1968,241,244.
14 Ruß (Anm.63), § 258 Rdn.l unter Bezugnahme auf BGHSt.30, 152, 159;
BGH NJW 1982, 1238, 1239; beide Entscheidungen sind jedoch nicht einschlägig;
die Kommentierung ist auch insofern widersprüchlich, als für die Vollstrek-
kungsvereitelung in Rdn. 23 eine rechtskräftige Entscheidung eines Gerichts
der Bundesrepublik Deutschland, durch die eine Strafe oder Maßnahme ver-
hängt worden ist, vorausgesetzt wird. Strafen und Ausliefern sind aber ver-
schiedene Dinge. Durch Auslieferung wird man nicht bestraft, und das Aus-
lieferungsverfahren ist nicht Strafrechtspfiege; so schon von Martitz, Inter-
nationale Rechtshilfe in Strafsachen, 1888, S. 447, 450 f.
85 Maurach, Deutsches Strafrecht, Besonderer Teil, Lehrbuch, 5. Aufi. 1969,
S.729.
66 JZ 1954, 672.
Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile 1393

sei im Auslieferungsverfahren der Fall. Erkenne die deutsche Staats-


gewalt die Berechtigung und Schutzwürdigkeit ausländischer Straf-
verfolgung dadurch an, daß ein Auslieferungsverfahren eingeleitet
werde, so würde man auf halbem Wege stehen bleiben, wolle man
zwar die Auslieferung konzedieren, jedoch den Täter, der sie zu ver-
hindern trachtet, straflos lassen.
Bedenken gegen diese Auffassung lassen sich schwerlich unterdrük-
ken. Das Auslieferungsverfahren ist ein Verfahren eigener Art, auf
das zwar die Regeln der StPO - soweit das IRG keine besonderen
Verfahrensvorschriften enthält - sinngemäß anzuwenden sind (§ 77
IRG), das aber nicht der Durchsetzung eines eigenen Strafanspruchs
dient, sondern fremder Strafverfolgung zum Ziele verhelfen Will87 •
Wie die Auslieferung kein Akt der Rechtspflege, sondern ein Akt der
Rechtshilfe ist, so ist auch das Auslieferungsverfahren kein Strafver-
fahren, sondern ein Verfahren zur Unterstützung einer ausländischen
Strafverfolgung88 • Nach wie vor gilt, was von Martitz88 schon 1888 in
die klaren Worte ge faßt hat: "Kraft völkerrechtlicher Notwendigkeit
(sind) Strafen und Ausliefern zwei verschiedene Dinge. Die Begriffe
stellen zwei getrennte Tätigkeitsgebiete vollziehender Staatsfunktion
dar ... Das Verfahren ist nicht Strafrechtspflege ... Seine Bestimmung
ist nicht, vergeltende Sühne für das gebrochene Recht aufzuerlegen,
und durch Auslieferung wird man nicht bestraft, vielmehr ist es ein
Mittel, um rechtliche Interessen des Auslands zu realisieren .. , Das
Strafverfahren führt durch den Prozeß zum Urteil, das Auslieferungs-
verfahren durch diplomatische Verhandlungen zu einer Verfügung."
Der ersuchte Staat übt mit der Auslieferung kein ius puniendi aus.
Zur Straflosigkeit müssen daher zwangsläufig diejenigen kommen, die
§ 258 StGB nicht als Delikt gegen die Rechtspflege, sondern als Delikt
gegen den Staat ansehen, das den innerstaatlichen Strafanspruch
schützt. Ist nur der innerstaatliche Strafanspruch geschützt, erfaßt der
Tatbestand nicht Handlungen, durch die die Vollstreckung im Ausland
verhängter Strafen vereitelt wird, mag der Täter auch im Inland
handeln70 •
Das schweizerische Bundesgericht hat folgerichtig entschieden, daß
straflos sei, wer in der Schweiz jemanden begünstige, der im Ausland

67 BGHSt. 2,44,48; in BGH JZ 1984,897 mit Anm. Vogler, wird diese Auf-
fassung unter Bezugnahme auf Vogler, Aktuelle Probleme der Auslieferung,
ZStW 81 (1969), S. 163, 182 f., ausdrücklich bestätigt.
88 Zur Unterscheidung von Rechtspflege- und Rechtshilfetheorie vgl.
Schul tz (Anm. 19), S. 13 f.; Vogler (Anm. 33), S. 27.
88 von Martitz (Anm. 64), S. 447, 450 f.

70 Samson, SK, § 258 Rdn.2, 3; Stree, in: SchönkelSchröder, 21. Auft. 1982,
Rdn.9; Maurach/Schroeder, Strafrecht, Besonderer Teil, Teilband 2, 6. Auft.
1981, S. 323; Schröder (Anm. 63), S. 244.

88 Festschrift für H.-H. Jescheck


1394 TheoVogler

strafrechtlich verfolgt werde7l • Art. 305 schweiz. StGB bestrafe nur die
Behinderung eines von schweizerischen Behörden geführten Strafver-
fahrens und· - so die Schlußfolgerung von Schultz72 - ist daher auf
ein gewöhnliches Auslieferungsverfahren nicht anwendbar73 • Die
Schweiz hat allerdings durch BG v. 9.0kt. 1981 in Art.305 Abs.l b "
schweiz. StGB die Strafbarkeit der Begünstigung auf die Vereitelung
der im Ausland geführten Strafverfolgung oder den dort angestrebten
Sanktionsvollzug wegen bestimmter in Art. 75 bl • schweiz. StGB genann-
ter schwerster Verbrechen erweitert. Wird die in Art.305 Abs.l bl '
schweiz. StGB genannte ausländische Strafverfolgung nunmehr auch
gegen die in der Schweiz ausgeführte begünstigende Einwirkung ge-
schützt, dann ist der Schluß gerechtfertigt, daß dasselbe zu gelten
habe für die Auslieferung wegen einer solchen Tat, die das auslän-
dische Strafverfahren fördert 74 • Die mangels einer entsprechenden
Regelung im deutschen Recht bestehende Lücke durch Ausdehnung des
Tatbestands auf den Schutz eines ausländischen Strafanspruchs zu
schließen, verbietet dagegen das Analogieverbot.
Die Rechtsprechung hat allerdings in den Fällen strafbare Begün-
stigung bejaht, in denen die weitere Strafvollstreckung gegen einen
von einem Besatzungsgericht verurteilten Strafgefangenen vereitelt
wurde, wenn dieser aus einer deutschen Strafanstalt, in der er die
Strafe zu verbüßen hatte, entwichen ist und von deutschen Polizei-
beamten zur Fortsetzung der Strafvollstreckung gesucht wird75 • Die
Literatur stimmt dem im Grundsatz ZU76 • Nach Ansicht des BGH werde
der Tatbestand der Begünstigung nicht dadurch ausgeschlossen, daß
ein Besatzungsgericht die Strafe ausgesprochen habe; denn die Besat-
zungsbehörden hätten -die Strafe in einenrdeutschen Gefängnis durch
die deutsche Gefängnisverwaltung vollstrecken lassen. Die deutschen
71 BGE 104 (1978) IV 238, 240 E. 1. Zur Frage, ob Art. 305 anwendbar wäre,
wenn der im Ausland Verfolgte gestützt auf ein gültiges Auslieferungsersu-
chen in der Schweiz tatsächlich verfolgt würde und ausgeliefert werden
könnte, brauchte sich das schweizer. BG nicht zu äußern, da kein Ausliefe-
rungsersuchen gestellt war.
72 Schultz, Zur Revision des StGB vom 9.10.1981: Gewaltverbrechen,
SchwZStrR 101 (1984), S. 113, 137 f.
73 Zur Begründung. hebt Schultz (Anm. 72), S. 138, ebenfalls auf die Be-
sonderheit des Auslieferungsverfahrens ab, das zwar den Regeln des Straf-
prozesses folge, jedoch eine verwaltungsrechtliche Prozedur sei, die dem
Bund die Erfüllung seiner staatsvertraglichen Verpflichtung und die Wah-
rung anderer entsprechender Beziehungen ermögliche. Dieses Verfahren
erleichtere eine ausländische Strafverfolgung, ohne selber ein Strafverfah-
ren zu sein. Deshalb sei Art. 305 Abs. 1 auf ein gewöhnliches Auslieferungs-
verfahren nicht anwendbar.
74 Schultz (Anm. 72), S. 138.

75 BGH JZ 1954,671; KG HESt. 2, 36.


78 Ruß (Anm.63), § 258 Rdn.1; Schröder (Anm.66), S.672; Maurach (Anm.
65), S. 729.
Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile 1395

Polizeibehörden hätten sich um die Wiederergreifung des Verurteilten


bemüht. Gegen diese Bemühungen der deutschen Behörden bei der
Strafvollstreckung habe sich die Tätigkeit der Angeklagten gerichtet.
Somit hätten sie gegen § 257 a. F. StGB verstoßen. In einer Anmer-
kung zu dieser Entscheidung hat Schröder77 mit Recht darauf hinge-
wiesen, es könne nicht darauf ankommen, ob deutsche Staatsorgane
mit der Strafverfolgung oder Fahndung nach dem Geflüchteten beauf-
tragt waren, sondern darauf, "daß ein nach § 257 (a. F.) StGB geschütz-
ter Strafanspruch bestand, daß die zu realisierende Strafgewalt vom
deutschen Strafrecht anerkannt wurde". Diese Voraussetzung sei für
die im Inland geübte Strafgewalt der Besatzungsmächte erfüllt, und
zwar gleichgültig, ob sie gegen deutsche oder ausländische Staats-
angehörige geübt werde und ob sich die Besatzungsbehörden der Hilfe
deutscher Stellen bedienten oder nicht, sofern der begünstigte Täter
eine nach deutschem Recht geeignete Vortat begangen habe. Damit
sei zugleich die notwendige Sicherung dagegen eingebaut, daß die
deutsche Strafgewalt Maßnahmen gegen eine Strafverfolgung erfasse,
die von ihr nicht gebilligt werde 7s •
überzeugen kann die Argumentation gleichwohl nicht, weil sie vor-
aussetzt, was es zu beweisen gilt, daß nämlich die Anerkennung der
zu realisierenden ausländischen Strafgewalt durch das deutsche Straf-
recht dem Erfordernis eines deutschen Strafanspruchs nach § 258 StGB
gleichgesetzt werden darf. Eine solche Gleichstellung mit deutschen
Entscheidungen ließe sich für besatzungsgerichtIiche Urteile - auch
wenn das besatzungsgerichtIiche Verfahren außerhalb Deutschlands
geführt ist7U - trotz des allgemein anerkannten Grundsatzes, daß
Besatzungsgerichte nicht inländische, sondern ausländische Gerichts-
barkeit ausüben80 , mit dem Hinweis auf Art. 7 Abs.l ÜV81 rechtferti-
gen. Nach dieser Vorschrift sind die besatzungsgerichtIichen Urteile
in jeder Hinsicht von deutschen Gerichten und Behörden als nach
deutschem Recht rechtskräftig und rechtswirksam zu behandeln. Die
besondere Problematik besatzungsgerichtIicher Urteile braucht hier
jedoch nicht vertieft zu werden, da diese Fälle heute unter dem Ge-
sichtspunkt des § 258 StGB keine praktische Bedeutung mehr haben.
Dagegen können sich ähnliche Fragestellungen auf grund der für in-
ländische Streitkräfte im NATO-Truppenstatut (NTS) mit dem Bonner

77 (Anm. 66), S. 672.


78 Im Falle der Vollstreckungsübemahme wäre diese Sicherung durch
den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit (§ 49 Abs. 1 Nr. 3 IRG) gewähr-
leistet.
71 BGHSt. 21,29 mit Anm. Jescheck, JZ 1966,808.
80 Trändle (Anm. 62), vor § 3 Rdn. 84.
81 überleitungsvertrag vom 26.5.1952 i. d. F. der Bekanntmachung vom
30.3. 1955, BGBl. 11, S. 405.

8S'
1396 TheoVogler

Zusatz abkommen vom 3. 8.!9598! getroffenen Regelung ergeben83 • Eine


Gleichstellung von Urteilen der Militärgerichte ausländischer Streit-
kräfte mit deutschen Entscheidungen kommt wohl allenfalls insoweit
in Betracht, als es sich um Fälle der konkurrierenden Strafgerichts-
barkeit (Art. VII Abs.! NTS) handelt 84 , in denen die Vertragsstaaten
unter grundsätzlicher Aufrechterhaltung ihrer materiellen Strafgewalt
eine Einschränkung ihrer Strafgerichtsbarkeit vereinbart haben85 •
Auf die Übernahme der Vollstreckung eines ausländischen Urteils
läßt sich diese Erwägung aber nicht übertragen. Selbst wenn wegen
der dem Urteil zugrundeliegenden Tat (auch) ein deutscher Straf-
anspruch bestehen würde, was keinesfalls notwendig ist, beruht die
ausländische Verurteilung ausschließlich auf der Ausübung der souve-
ränen Strafgewalt des ausländischen Staates. Mit der Übernahme der
Vollstreckung erkennt der ersuchte Staat das ausländische Urteil als
einen Akt fremder Hoheitsgewalt an. Er übernimmt nicht das Urteil -
sonst hätte es der ausdrücklichen Anordnung in § 56 Abs.3 IRG, daß
der Grundsatz ne bis in idem mit Bewilligung der Rechtshilfe Anwen-
dung findet, nicht bedurft -, sondern die Vollstreckung der verhäng-
ten Sanktion. Maßnahmen, die sich gegen die Vereitelung der Voll-
streckung richten, dienen nicht der Durchsetzung eines eigenen Straf-
anspruchs und sind daher keine Verfolgungsmaßnahmen. Vielmehr
zielen sie darauf ab, die völkerrechtliche Verpflichtung zur Rechtshilfe
zu erfüllen. Daß es sich hier um Rechtshilfe durch Übernahme der
Vollstreckung und nicht durch Auslieferung handelt, rechtfertigt keine
unterschiedliche Beurteilung von Vereitelungshandlungen. In beiden
Fällen geht es sachlich um die Unterstützung fremder Strafgewalt und
Strafrechtspflege, die durch § 258 StGB nicht geschützt ist.
Kriminalpolitisch ist ein Bedürfnis für den Schutz der Vereitelung
des ausländischen Strafanspruchs durch das deutsche Strafrecht im
Falle der Vollstreckungsübernahme zweifellos anzuerkennen. Die z. Zt.
bestehende Gesetzeslücke spiegelt den unvollkommenen88 Schutz der
Interessen fremder Staaten im Inland wider87 • Der deutsche Gesetz-
82 BGBl. 1961 II, S. 1183, 1218, 1313, geändert durch Bekanntmachung vom
6.6. 1972, BGBl. II, S.687 und durch Abkommen vom 21. 10. 1971, BGBl. 1973
11, S.1022.
83 Eine ausdrückliche Erstreckung des Schutzbereichs des § 258 StGB ist
im Gegensatz zu § 120 (vgl. dazu unten Anm. 88) nicht erfolgt.
84 Weitergehend Maurach (Anm.65), S.729, von der nicht haltbaren Prä-
misse ausgehend, daß die im Inland ausgeübte Gerichtsbarkeit der verbün-
deten Truppen der NATO-Staaten generell inländische Strafgewalt sei.
85 Jescheck (Anm. 47), S. 131.
88 Jescheck (Anm. 47), S. 141; Reschke (Anm. 62), S. 175 ff.
87 Vgl. dazu den Beitrag von Lüttger, Bemerkungen zu Methodik und Dog-
matik des Strafschutzes für nichtdeutsche öffentliche Rechtsgüter, in dieser
Festschrift, S. 121 ff.
Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile 1397

geber hat es im Gegensatz zur Schweiz versäumt, den Konsequenzen,


die sich aus den neuen Formen der Rechtshilfe ergeben, im materiellen
Recht Rechnung zu tragen.
Die für die Begünstigung aufgezeigten Schwierigkeiten bestehen -
worauf abschließend hingewiesen werden soll - für die Gefangenen-
befreiung nach § 120 StGB nicht88 • Zwar ist der im Wege der Vollstrek-
kungsübernahme Verhaftete kein Gefangener i. S. von § 120 Abs.1
StGB, weil ihm nicht in Ausübung deutscher Strafgewalt zwecks Ahn-
dung einer Verfehlung die persönliche Freiheit entzogen istB8 ; aber
Abs.4 der Vorschrift dehnt den Schutzbereich auf das besondere öffent-
liche Gewaltverhältnis aus, in dem sich behördlich Verwahrte befin-
den, ohne daß es auf den Zweck der Ahndung einer Verfehlung an-
kommt. Darunter fallen alle auf gerichtliche Anordnung in einer An-
stalt verwahrten Personen, also auch Ausländer in Auslieferungshaft'o
und Verurteilte, die sich aufgrund der Übernahme der Vollstreckung
in einer strafvollzugsförmigen (Rechtshilfe-)Haft befinden.

88 Ebenso für das schweizerische Recht Schultz (Anm.72), S.138. Für die
widerrechtliche Befreiung von Gefangenen und Untergebrachten der in der
Bundesrepublik Deutschland stationierten NATO-Truppen gilt § 120 StGB
kraft gesetzlicher Erstreckung des Schutzbereichs durch Art. 7 Abs. 2 Nr. 6
des 4. StrÄndG vom 11. 6.1957, geändert durch das 8. StrÄndG vom 25.6.1968,
durch Art. 4 Nr. 1 a, ce, des 3. StrRG vom 20. 5. 1970 und zuletzt durch Art. 147
EGStGB (BGBL I 1957, S.597; 1968, S.741; 1970, S.505; 1974, S.576); Vogler,
Der Fall KappIer in international-strafrechtlicher Sicht, NJW 1977, 1866.
81 Dreher/Tröndle, 41. Auft. 1983, § 120 Rdn. 2.

10 Horn, SK, § 120 Rdn.4 a; a. A. DreherlTröndle (Anm.89), § 120 Rdn.2;


von Bubnoff, LK, § 120 Rdn. 14, die auch zur Auslieferung Inhaftierte zu den
Gefangenen i. S. des Abs. 1 zählen; das ist weder haltbar - die zitierten
Entscheidungen BGHSt.13, 97, RGSt.8, 313 geben für diese Ansicht nichts
her - noch im Hinblick auf Abs. 4 notwendig.
DIETRICH OEHLER

Fragen zum Strafrecht der Europäischen Gemeinschaft

I. Fragestellung
Das Recht der Europäischen Gemeinschaft, soweit es sich um straf-
rechtliche und ähnliche Fragen handelt, erregt bisher nur wenig Auf-
merksamkeit, obwohl es uns alle in einer Weise indirekt betrifft. wie
kaum ein anderes Rechtsgebiet. Vor allem ist es die Frage, wie die
Europäische Gemeinschaft als europäische Wirtschaftsgemeinschaft ihre
Rechtsakte gegenüber dem einzelnen mit sanktionsrechtlichem Zwang
durchsetzt. Vielleicht spielte die Frage bisher praktisch nicht eine über-
ragende Rolle, weil die Gemeinschaft über genügende Mittel verfügte,
um über gewisse Verstöße hinwegsehen zu können. Je enger die Ver-
fügbarkeit über die Mittel wird und je mehr sich die Staaten von der
Vollbeschäftigung entfernen, desto unmittelbarer wird der Ruf nach
Zwangsmitteln zur Durchsetzung der Gebote und Verbote der Rechts-
akte.
In den Jahrzehnten des Bestehens der Gemeinschaft zeigte sich, daß
die Staaten nicht entfernt von sich aus mit gleichen oder ähnlichen Stra-
fen gegen Zuwiderhandlungen vorgehen, weil die Art der bisherigen na-
tionalen Gesetzgebung dies etwa nicht erlaubt, die Umsetzung in natio-
nales Strafrecht unverhältnismäßig lange dauert oder auch einzelne
Staaten überhaupt untätig geblieben sind. So kann oft ein Betrug, der
auf unrechtmäßige Erlangung von Subventionen geht, nicht bestraft
werden, weil der nationale Tatbestand nur nationales staatliches Ver-
mögen als Rechtsgut einschließt, desgleichen müssen oft ähnliche Ver-
mögenstatbestände ausgelegt werden. Viele Staaten kommen auch
einer in dem Rechtsakt ausgesprochenen Verpflichtung zum Erlaß von
Sanktionsnormen nicht nach, weil dies auf Schwierigkeiten im Gesetz-
gebungsverfahren stößt. Ist die Lage bei herkömmlichen strafrechtli-
chen Tatbeständen schon sehr unbefriedigend, so um so mehr, wo es
sich um ganz neu formulierte Rechtsgüter der Gemeinschaft handelt,
zu deren Schutz völlig neue Straftatbestände im nationalen Recht ge-
schaffen werden müssen.
Durch die sich im Laufe der Jahrzehnte häufenden Rechtsakte der
Gemeinschaft wird das Zwangsrecht, das die Ausführung der Vor-
schriften sichern soll, immer unbefriedigender. Vor allem ist die Gleich-
1400 Dietrich Oehler

mäßigkeit der Durchführung der Rechtsakte in der Gemeinschaft nicht


mehr gegeben.
Es ergibt sich die Frage, wie die Gemeinschaft ihre eigenen Interes-
sen schützen soll, z. B. finanzielle Interessen in Gestalt einer recht-
mäßigen Vergabe von Subventionen, aber auch wie die von ihr ge-
schaffenen, dem Inhalt nach bisher nicht gekannten Gebote und
Verbote, z. B. in der Form eines künftigen Statuts einer europäischen
Aktiengesellschaft oder des brisanten Entwurfs für eine Richtlinie über
die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer (sog. Vredeling-
Initiative), strafrechtlich abgesichert werden sollen. Diese Frage kann
zu tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den Staaten
führen, ohne Rücksicht auf den einzelnen Inhalt der Normen. Es folgt
die Rechtsunsicherheit aus der Unvollkommenheit der Verträge. Hier
ist besonders scharf das Europäische Parlament auf die Kommission
gestoßen, wobei diese sehr vorsichtig in bezug auf die Beschränkung
der Souveränität der Staaten durch Erlaß von gemeinschaftsrechtlichen
Strafnormen ist, da sie jeden Entwurf eines Rechtsakts vor dem Rat
vertreten muß. Das Europäische Parlament geht dabei viel ungezwun-
genervor.
Die ganze Frage muß im grundsätzlichen anhand der Verträge gelöst
werden und darf nicht zufälligen Ansichten überlassen werden. Der
Gerichtshof wird einmal über diese Frage zu entscheiden haben, und
in Deutschland kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden,
wenn Grundrechte verletzt sind. Es muß also hinter der Lösung der
Frage eine systematische Konstruktion stehenl • Die Europäische Ge-
meinschaft hat noch keine endgültige Lösung für die Frage gefunden.

ß. Rechtslage

Zunächst einmal sind diejenigen Normen der Verträge, in denen


nationales Strafrecht auf die Verstöße gegen Gebote und Verbote der
Gemeinschaft zutreffen soll, sicher in der Anwendung. So heißt es z. B.
in Art. 27 des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofs der EWG,
daß der Meineid vor dem Gerichtshof von den nationalen Gerichten
nach nationalem Strafrecht zu bestrafen ist. Oder im Euratom-Vertrag,
Art. 194 Nr.1 findet sich eine Vorschrift, nach der die nationalen straf-
rechtlichen Vorschriften zum Schutze der Staatssicherheit oder über
die Preisgabe von Berufsgeheimnissen anzuwenden sind, wenn ein
Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates sich gegen die Sicherheitsbe-
stimmungen usw. der Euratom-Gemeinschaft vergeht.

1 In Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Auf!. 1982, S. 547 ff., konnte diese


Frage nicht ausführlich behandelt werden, weil sie für die dortige Darstel-
lung zu weitläufig ist.
Zum Strafrecht der Europäischen Gemeinschaft 1401

Es gibt auch ein übereinkommen, z. B. das übereinkommen vom


7. September 1967 zwischen Belgien, der Bundesrepublik Deutschland,
Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden über die gegen-
seitige Unterstützung ihrer Zollverwaltungen, durch das die in einem
anderen Lande im Rahmen der EWG tätigen Zollbeamten als solche
geschützt werden, aber auch den Zollbeamten des anderen Landes in
bezug auf die begangenen Delikte strafrechtlich gleichgestellt werden.
Das bedeutet etwa für Deutschland, daß die ausländischen Beamten
sowohl zu ihrem Schutz als auch in ihrer Tätigkeit den deutschen
Amtsträgern angeglichen sind. Jedoch ist dieses übereinkommen nicht
ein Teil des EWG-Vertrages und steht deshalb außerhalb von diesem.
Es ist eine gemeinsame internationale Regelung als ein völkerrecht-
licher Vertrag, deren Ausführung selbstverständlich der Entschei-
dungsgewalt des Europäischen Gerichtshofs der Gemeinschaft entzogen
ist. Der Vertrag wird von den Mitgliedstaaten nicht als Gemeinschafts-
recht vollzogen, die Verpflichtungen treffen die Staaten nicht als solche
der Gemeinschaft. Der internationalrechtliche Charakter dieses über-
einkommens ist deshalb erträglich, weil hier nicht wirkliches Gemein-
schaftsrecht geregelt ist. Die Verpflichtungen aus diesem übereinkom-
men ergeben sich nicht aus dem Gemeinschaftsrecht der Verträge, nicht
aus dem Inhalt der Verträge, sondern nur anläßlich der Anwendung
der Verträge und des Einsatzes von Hilfsmitteln zur Durchsetzung von
ihnen. Der substantielle Inhalt der vertraglichen Verpflichtung aus dem
Gemeinschaftsvertrag wird durch das übereinkommen nicht berührt.
Es ist allerdings nicht zweifelhaft, daß das übereinkommen besser in
dem EWG-Vertrag als Protokoll integriert worden wäre. Das hätte
dann aber eine Änderung oder Erweiterung der Verträge bedeutet,
was man offensichtlich zu tun scheute.
Die dritte Gruppe von eventuellen Strafrechtsnormen im Gemein-
schaftsrecht ist unsicher und außerordentlich bestritten. Es fragt sich,
ob die Rechtsakte des Rates und der Kommission mit unmittelbaren
strafrechtlichen Normen versehen werden dürfen oder ob sie nur die
Mitgliedstaaten verpflichten können, entsprechende Strafrechtsnormen
und Ordnungswidrigkeitsbestimmungen zu erlassen oder ob sie nicht
einmal dieses dürfen, sondern den Staaten die strafrechtliche Beweh-
rung der gemeinschaftlichen Gebote oder Verbote frei überlassen müs-
sen. Träfe das letzte zu, würde nur eine Änderung oder ein Zusatz zu
den Verträgen eine unmittelbare strafrechtliche Durchsetzung der Ge-
meinschaftsnorm ermöglichen.
An der Entwicklung des Vorschlags für eine Richtlinie über die Un-
terrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer von Unternehmen mit
komplexer, insbesondere transnationaler Struktur (sog. Vredeling-
Richtlinie) sieht man deutlich die verschiedenen Meinungen. In der
1402 Dietrich Oehler

ursprünglichen Vorlage der Kommission an den Rat2 fanden sich zahl-


reiche ins einzelne gehende Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, genau
bestimmte und formulierte Tatbestände zu übernehmen und mit Strafe
zu bewehren. Der Vorschlag wurde im Europäischen Parlament behan-
delt und nach langen Debatten am 14. Dezember 1982 mit zahlreichen
Änderungen angenommen, wobei die auf bestimmte Tatbestände sich
beziehende Verpflichtung zu strafrechtlicher Bewehrung gelockert
wurde und auch nur noch von Sanktionen gesprochen wurde. Daraufhin
legte die Kommission einen geänderten Vorschlag vor, der in der Ein-
leitung davon spricht, daß die Mitgliedstaaten geeignete Sanktionen
erlassen, für den Fall, daß die in dieser Richtlinie vorgesehenen Infor-
mations- und Anhörungspflichten nicht eingehalten werden, was in
Art.4 (8) ungefähr wiederholt wirds. übrigens war Vredeling inzwi-
schen als Kommissar aus der Kommission ausgeschieden.
Das deutsche Recht ging bisher folgenden Weg: Der Bundesrat ver-
trat ständig die Auffassung, daß abgesehen von den im EWG-Vertrag
ausdrücklich enthaltenen Ermächtigungen keine Zuständigkeit der Ge-
meinschaft besteht, strafrechtliche Vorschriften zu erlassen oder Mit-
gliedstaaten zu verpflichten, bestimmte Verstöße gegen gemeinschafts-
rechtliche Regelungen strafrechtlich zu ahnden4 • Die Bundesregierung
war dagegen der Ansicht, daß auch ohne ausdrückliche Ermächtigung
in den Verträgen die Staaten zum Erlaß von Sanktionsvorschriften
verpflichtet werden können, soweit diese zur Durchsetzung von Sach-
zielen, die in den Verträgen bestimmt sind, nötig sind, jedoch dürfe die
Verpflichtung nicht Einzelvorschriften enthalten5 • Sowohl nach der Mei-
nung des Bundesrates als auch der Meinung der Bundesregierung hätte
die angeführte sog. Vredeling-Richtlinie in der ersten Fassung gar
nicht von der Bundesrepublik Deutschland in den Sanktionsvorschrif-
ten angenommen und befolgt werden können, weil sie ganz detaillierte
Einzelvorschriften bezüglich der strafrechtlichen Tatbestände den Mit-
gliedstaaten auferlegte.
Da anscheinend der Europäische Gerichtshof und der Generalanwalt,
wenn auch nicht sicher, der Meinung sind, daß der Rat auch Strafvor-
schriften zur Erreichung der Sachziele des Vertrages unmittelbar set-
zen könne 6 , ist die Frage besonders prekär geworden und könnte
größere Brisanz entwickeln.

2 Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Beilage 3/80.


S Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, C 217, 12. Aug. 1983, Mit-
teilungen und Bekanntmachungen.
4 Bundesrat, Stenographischer Bericht, 499. Sitzung, S. 122 f.

5 BR-Drucksache 235, 1965.


6 Rechtssache (Internationale Handelsgesellschaft) 11/70 ECR, Sammlung
der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft (1970),
Zum Strafrecht der Europäischen Gemeinschaft 1403

Die bisherige vorsichtige Praxis der EWG geht den Weg, die Staaten
allgemein jeweils zum Erlaß von Sanktionsvorschriften zu verpflichten.
Jedoch ist die Entwicklung in Bewegung.

BI. Durchsetzung der Rechtsakte auf strafrechtlichem Wege

Die entscheidende Frage ist die, ob Verstöße gegen die Rechtsvor-


schriften der Gemeinschaft im Hinblick auf den unterschiedlichen
Rechtsschutz in den Mitgliedstaaten einheitlich und gleichmäßig be-
stimmt und geahndet werden können, indem die Rechtsakte der Ge-
meinschaft unmittelbar die entsprechenden Vorschriften erlassen
können.

1. Der Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft


für Kohle und Stahl (EGKS) gibt der Hohen Behörde ausdrücklich
Befugnisse, bestimmte Sanktionen, z. B. Geldbußen, zu verhängen (z. B.
Art. 64). Der Vertrag über die Gründung der Euratomgemeinschaft sieht
z. B. in Art. 83 Zwangsmaßnahmen vor, die unmittelbar von der Kom-
mission verhängt werden. Der EWG-Vertrag sieht vor, daß der Rat alle
zweckdienlichen Verordnungen und Richtlinien zur Verwirklichung der
in den Art.85 und Art.86 genannten Verbote usw. zu erlassen und
dabei die Beachtung der in Art. 85 Abs. 1 und Art. 86 genannten Ver-
bote durch die Einführung von Geldbußen und Zwangsgeldern zu ge-
währleisten hat. Es handelt sich materiell um die Bestimmungen über
das Verbot wettbewerbswidriger Vereinbarungen etc. und um den
Mißbrauch einer den Markt beherrschenden Stellung. An keiner sonsti-
gen Stelle des Vertrages erhält der Rat eine weitere Befugnis, Sank-
tionen zu verhängen.

2. Eine weitere Vorschrift ist Art. 172 EWG-Vertrag, in der Zwangs-


maßnahmen angesprochen werden, aber sie ist nicht besonders klar.
Es heißt darin: Die vom Rat aufgrund dieses Vertrages erlassenen Ver-
ordnungen können hinsichtlich der darin vorgesehenen Zwangsmaßnah-
men dem Gerichtshof eine Zuständigkeit übertragen, welche die Be-
fugnis zu unbeschränkter Ermessensnachprüfung und zur Änderung
oder Verhängung solcher Maßnahmen umfaßt.
Es ist m. E. nicht möglich, aus dem Art. 172 eine allgemeine Befugnis
des Rates herauszulesen, die Verstöße gegen seine Verordnungen mit
Sanktionen, also auch mit strafrechtlichen Folgen, zu versehen. Dieses
umfassende Recht könnte nicht so indirekt angesprochen sein, zumal
gerade in Art. 87 ausdrücklich Geldbußen und Zwangs geld er genannt

S. 1125 (1142) und Rechtssache (Amsterdam Bulb) 50/76 ECR, Sammlung (1977),
S. 127 (155).
1404 Dietrich Oehler

werden. Aus dem vorhergehenden EGKS-Vertrag wußte man, daß dort


die Frage der Geldbußen ausdrücklich geregelt war. Aus Art. 87 für
den Rat sogar das Recht abzuleiten, strafrechtliche Bestimmungen zu
setzen, würde allen Auslegungsregeln widersprechen, zumal die straf-
rechtliche Regelung noch Tatbestand und Rechtsfolge enthalten müßte.
Mag der Rat unter Umständen Geldbußen als Rechtsfolge der Zuwider-
handlung bestimmen können, so ist das aber für die Freiheits- und
Geldstrafe nicht möglich. Der Rat hat kein Strafgericht zur Verfügung
und zweitens keine Einrichtungen, solche Rechtsfolgen zu verwirk-
lichen.
Die Verfasser des Vertrages mußten diese Probleme sehen, da einige
Jahre vorher der dann nicht in Kraft getretene Vertrag über die
Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft abgefaßt wor-
den war7 • Die Frage der Setzung strafrechtlicher Normen durch die
Gemeinschaft war dort sehr genau geregelt worden, indem eine ge-
meinsame Gesetzgebung die Bestrafung der Straftaten der Mitglieder
der Verteidigungsgemeinschaft sicherstellen sollte unter Beachtung der
in jedem Staat geltenden Verfassungsvorschriften. Die Gesetzgebung
sollte sich auch auf die Gerichtsverfassung und das Verfahren er-
strecken. Angesichts dieser sauberen Regelung für das Strafrecht der
Verteidigungs gemeinschaft ist es ausgeschlossen anzunehmen, daß
die Verfasser des EWG-Vertrages mit der indirekten Bestimmung des
Art. 172 über die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die überprüfung
von Zwangsmaßnahmen dem Rat das Recht geben wollten, strafrecht-
liche Zwangsmaßnahmen zu bestimmen und die Rechtsakte in der Ge-
meinschaft damit zu bewehren.
Es kommt noch hinzu, daß die Gründungsstaaten der EWG alle ein
rechtsstaatliches Strafrecht haben und die Gründer wußten, daß seit
der Aufklärung das Strafrecht die besondere Garantie des nullum
crimen sine lege und nulla poena sine lege hat. Deshalb spricht der
Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft auch von not-
wendiger Gesetzgebung im Rahmen der einzelstaatlichen Verfassungs-
normen, wozu gerade jene beiden Sätze in den meisten Staaten gehö-
ren. Es ist nicht anzunehmen, daß die Verfasser des EWG-Vertrages
mit dem Satz über die Zuständigkeitsregelung des Art. 172 diese Sicher-
heiten des Strafrechts für wertlos erachteten, die Parlamente der Ein-
zelstaaten insoweit entmachten und sich souverän an deren Stelle set-
zen wollten.

3. Es könnte allerdings auch die Meinung vertreten werden, daß aus


der Verpflichtung aus dem Vertrag, einen Rechtsakt zu erlassen, zu-
gleich die Verpflichtung des Rates sich ergibt, strafrechtliche oder ord-
7 BGBl. 1954 11 343 (Justizprotokoll Art. 18, S. 393).
Zum Strafrecht der Europäischen Gemeinschaft 1405

nungswidrigkeitsartige Rechtsfolgen für Zuwiderhandlungen daran zu


knüpfen, da nach Feststellung der Aufgaben der Gemeinschaft in Art. 2
und der Tätigkeit der Gemeinschaft in Art. 3, in Art.5 die Mitglied-
staaten verpflichtet werden, alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung
der Verpflichtungen, die aus dem Vertrag oder aus Handlungen der
Organe der Gemeinschaft sich ergeben, zu treffen. Nach Art. 5 Abs.2
unterlassen die Staaten alle Maßnahmen, welche die Verwirklichung
der Ziele des Vertrages gefährden könnten.
Anscheinend neigt der Gerichtshof dieser Meinung zu, aber eine
genaue Entscheidung ist bisher nicht ergangen. Der Generalanwalt
führte aus8 , daß "die Behauptung, der Vertrag ermächtige die Gemein-
schaftsorgane nur in den ausdrücklich bestimmten Fällen dazu, Sank-
tionen vorzusehen, höchst bestreitbar" sei. Weiterhin sagte er in einer
anderen Rechtssache8 : "es scheint daher der Schluß berechtigt, daß die
einzige Grenze dafür, daß ein Mitgliedstaat Strafsanktionen einführt,
um die Einhaltung von Gemeinschaftsverordnungen zu sichern, dort
liegt, wo die betreffende Verordnung bereits bestimmte gemeinschaft-
liche Sanktionen vorsieht (wie z. B. die VO Nr.17/62 des EWG-Rates
auf dem Gebiete der Wettbewerbsregelung für Unternehmen). Ist ein
solcher Fall nicht gegeben, so verstößt der Umstand, daß ein Mitglied-
staat der Gemeinschaftsregelung zu dem genannten Sicherungszweck
Strafandrohungen hinzufügt, nicht gegen die Grundsätze des europäi-
schen Gemeinschaftsrechts" . Dabei ging dann der Gerichtshof davon
aus, daß für den einzelnen im Falle einer Zuwiderhandlung die be-
treffende Gemeinschaftsregelung keine Strafandrohung vorsehe, jedoch
daß Art.5 EWG-Vertrag den Mitgliedstaaten überlasse, welche sach-
gerechten Maßnahmen, einschließlich der Wahl der auch strafrechtli-
chen Sanktionen, sie ergreifen. Der Gerichtshof sagt dann: "Enthält
die Gemeinschaftsregelung keine Vorschrift, die für den Fall ihrer
Verletzung durch den einzelnen bestimmte Sanktionen vorsieht, so
sind die Mitgliedstaaten befugt, die Sanktionen zu wählen, die ihnen
sachgerecht erscheinen10."
8 (Anm. 6), 11/70.
8 (Anm. 6), 50/76.
10 Die in der Rechtssache Amsterdam Bulb entschiedene Frage, ob die
Mitgliedstaaten Sanktionen - auch strafrechtliche - erlassen dürfen, wenn
die Gemeinschaftsregelung keine Vorschrift enthält, die für den Fall ihrer
Verletzung durch den einzelnen bestimmte Sanktionen vorsieht, ist m. E. zu
Unrecht so beantwortet worden. Spricht der Rechtsakt keine Verpflichtung
zum Erlaß von Sanktionen aus, so hat der Mitgliedstaat nicht das Recht,
von sich aus eine Sanktion - ordnungsrechtlicher oder strafrechtlicher Art -
zu erlassen. Art.5 EWG-Vertrag spricht nur von der Erfüllung von Ver-
pflichtungen, nicht von der Vindizierung weiterer Rechte durch die Mitglied-
staaten. Die in dem Rechtsakt sich findenden Verpflichtungen für den einzel-
nen erhalten sofort einen anderen Wertrang, wenn sie ordnungsrechtlich
oder strafrechtlich mit Zwangsmaßnahmen von dem einzelnen Mitgliedstaat
1406 Dietrich Oehler

Aus den Zitaten ergibt sich nicht mit letzter Sicherheit, ob der Ge-
neralanwalt und der Gerichtshof in der Rechtssache die angesprochenen
Sanktionsbefugnisse der Gemeinschaft generell gemeint haben oder
nur auf die im Vertrag ausdrücklich vorgesehenen bezogen haben. Es
findet sich in den Ausführungen kein Hinweis auf eine diesbezügliche
Einschränkung, so daß der Gerichtshof anscheinend von einer allge-
meinen Ermächtigung zum Erlaß von Sanktionen in einem Rechtsakt
der Gemeinschaft ausgeht. Da er keine dezidierte Vorschrift des Ver-
trages anspricht, kann er nur meinen, daß eine solche Befugnis allge-
mein aus dem Vertrag folge, weil dieser durchsetzbar sein müsse.
Das ist aber m. E. sowohl für Straftaten als auch für Ordnungswid-
rigkeiten zu verneinen. Diese Unterscheidung kennen sowieso nicht alle
Länder, und selbst wenn sie diese haben, dann sind die Kriterien
kaum mit Sicherheit auszumachen. War ursprünglich Ordnungswidrig-
keit und Straftat im deutschen Recht qualitativ unterschieden - dort
Verwaltungsunrecht, hier kriminelles Unrecht -, so liegt heute der Un-
terschied oft im Quantitativen der Zuwiderhandlung. Deshalb kann
man nicht von vornherein der Gemeinschaft das Recht etwa auf die
Setzung von Ordnungswidrigkeitsvorschriften zubilligen, für Straf-
taten dagegen verneinen, sondern die Befugnis, solche Vorschriften zu
erlassen, muß einheitlich gegeben oder nicht gegeben sein.
Ist diese Befugnis - wie wir oben schqn sahen - aus einzelnen
Vorschriften des Vertrages nicht herzuleiten, so ergibt sie sich erst recht
nicht aus der allgemeinen Pflicht der Gemeinschaft, den Vertrag und
im einzelnen die Rechtsakte durchzusetzen. Es sind dafür gerade die
oben angegebenen Gründe heranzuziehen.
An erster Stelle ist wieder auf den Satz nullum crimen sine lege
und nulla poena sine lege hinzuweisen, von dessen Garantiefunktion
unser modernes Strafrecht beherrscht ist. Es ist nicht einzusehen,
warum die Gemeinschaft von der sicheren Ermächtigung durch aus-

versehen werden, obwohl der Rechtsakt hierzu nichts sagt. Die Sanktion
könnte im Interesse des Einzelstaates erlassen sein, so daß die Gemeinschafts-
regelung einen einseitigen Sinn erhalten kann. Da die Gemeinschaft allein
ein Produkt des Vertrages ist, dürfen sich die Mitgliedstaaten nicht Rechte
anmaßen, die der Vertrag nicht zuerkennt. Es muß auch in der Durchfüh-
rung von Verordnungen vermieden werden, daß eine Ungleichheit zwischen
den handelnden Personen der verschiedenen Einzelstaaten entstehen, da die
Harmonisierung der betreffenden tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse
ein Ziel der Gemeinschaft (Art. 2 EWG-Vertrag) ist. So wie gemeinschafts-
rechtliche, nicht strafrechtliche Sanktionen der betreffenden Verordnung
nicht durch strafrechtliche Sanktionen der Mitgliedstaaten überschritten
werden dürfen - das stellt das Urteil ausdrücklich fest -, darf das Fehlen
jeder gemeinschaftsrechtlichen Sanktionsvorschrift in einer Verordnung nicht
durch den Erlaß strafrechtlicher Sanktionen in dem Einzelstaat plötzlich er-
setzt werden.
Zum Strafrecht der Europäischen Gemeinschaft 1407

drückliche Vertragsnormen befreit werden soll, wenn der Staat ein


Gesetz für die Strafbestimmungen erlassen muß. Da allen Beteiligten
das Problem bekannt war - wie wir oben schon gesagt haben -,
scheidet m. E. der Geist des Vertrages als Ermächtigungsgrundlage für
die Setzung von strafrechtlichen Bestimmungen aus. Sollte der Ge-
richtshof eine unmittelbare Setzung von Strafrechtsnormen durch die
Gemeinschaft außerhalb der ausdrücklich bestimmten Fälle aus dem
Geist des Vertrages zulassen, würde das zu einer Kollision mit dem
deutschen Verfassungsrecht führen.
Das Bundesverfassungsgerichtl l nimmt für sich das Recht in An-
spruch, das Gemeinschaftsrecht nachzuprüfen, soweit es mit dem
Grundrechtskatalog des Grundgesetzes in Widerspruch steht. Als ge-
wisse Hoheitsrechte des Staates auf die Gemeinschaft damals übertra-
gen wurden, sei die Verfügung über Grundrechte nicht mit abgetreten
worden. Die Gemeinschaft habe kein gewähltes Parlament und selbst
keinen Grundrechtskatalog. Zwar könne bei einem Widerspruch eines
Rechtsaktes der Gemeinschaft mit einem Grundrecht des deutschen
Grundgesetzes das Bundesverfassungsgericht diesen nicht außer Kraft
setzen, aber entscheiden, daß die betreffende Bestimmung in Deutsch-
land nicht angewendet werden dürfe. Das bedeutet für unsere Frage
folgendes: Der Satz nullum crimen sine lege ist nach Art. 103 Abs.2 GG
ein Grundrecht des Menschen. Ist die Befugnis zur Setzung einer Straf-
rechtsnorm nicht durch einen von dem Gesetzgeber ratifizierten Ver-
trag auf die Gemeinschaftsorgane übertragen worden, eignet sich die
Gemeinschaft aber aus dem Gebiet des Vertrages diese Befugnis zu,
so würde die erlassene Strafbestimmung gegen das Grundrecht ver-
stoßen und vom Bundesverfassungsgericht für nicht anwendbar in
Deutschland erklärt werden.

IV. Befugnisse der Gemeinschaft

Es ist aus den Erörterungen die Folge zu ziehen und auch damit zu
den oben angeführten Meinungen des Bundesrats und der Bundesre-
gierung Stellung zu nehmen.
Die Gemeinschaftsorgane dürfen unmittelbar strafrechtliche Vor-
schriften nur erlassen, soweit sie ausdrücklich im Vertrag ermächtigt
sind. Deshalb dürfen sie nicht indirekt durch Verweisung auf nationale
strafrechtliche Bestimmungen - soweit es der Vertrag nicht ausdrück-
lich erlaubt - strafrechtliche Normen erlassen, etwa indem Verstöße
gegen das vertragliche Geheimnisgebot, Urkundenfälschung zum

11 BVerfGE 37, 271 ff. Dazu Gehler, Contemporary Problems in Criminal


Justice, Essays in Honour of Prof. Shigemitsu Dando, Tokyo, 1983, S. 143 f.
1408 Dietrich Oehler

Zwecke der Erlangung unrechtmäßiger Subventionen usw. so strafbar


gemacht werden, daß die jeweils einschlägigen staatlichen Strafbe-
stimmungen unmittelbar nach dem Rechtsakt der Gemeinschaft auf die
Tat angewendet werden sollen. Damit würde die Strafrechtsetzung
unerlaubt durch die Gemeinschaft erfolgen.
Genauso wenig darf sie Ordnungswidrigkeitsvorschriften direkt oder
indirekt auf diesem Wege setzen, wobei hinzukommt, daß die Gemein-
schaft diese Art von deutschem Ordnungswidrigkeitsrecht gar nicht
kennt. Zum Teil ist es anderen Staaten ganz unbekannt l2 •
Geldbußen und Zwangsgelder des Art.87 Abs.2 und auch Zwangs-
maßnahmen des Art. 172 EWG-Vertrag sind nicht wie Folgen von deut-
schen Ordnungswidrigkeiten anzusehen. Jene stehen außerhalb von
diesen. Deshalb können die Organe auch ohne unmittelbare Ermächti-
gung im Vertrag Vorschriften über Geldbußen und Zwangsmaßnahmen
durch Verordnung zur Erreichung der Vertragsziele erlassen. Art.l72
EWG-Vertrag ergibt diese Auslegung. Diese Zwangsmaßnahmen stehen
nicht unter der grundrechtlichen Garantie des Satzes nullum crimen
sine lege. Der Vertrag ist von der Durchsetzung seiner Rechtsakte mit
solchen nicht strafrechtlichen Sanktionen ausgegangen.
Die Organe der Gemeinschaft können die Mitgliedstaaten in Rechts-
akten verpflichten, ordnungsrechtliche oder strafrechtliche Maßnahmen
zur Durchsetzung der Ziele, die im Vertrag bestimmt sind und im
Rechtsakt konkretisiert werden, zu erlassen. Wenn der Bundesrat dies
den Organen sogar bestreitet, geht er zu weit. Hierfür ist nicht jedes-
mal eine gen aue Ermächtigung seitens des Vertrages nötig, wie sich
~Art. 5 EWG-Vemag allgemein ergibt. Jedoch darf mit dieser Ver-
pflichtung nicht eine Einzelvorschrift so verbunden werden, daß dem
Mitgliedstaat der Tatbestand schon unausweichlich eng und fest vorge-
schrieben wird. Das würde gerade gegen den Satz nullum crimen sine
lege wieder verstoßen. Dem Mitgliedstaat muß die Möglichkeit der Tat-
bestandsformulierung nach seiner rechtlichen überlieferung und Art
offengelassen werden. Auch, und das ist sehr wichtig, wird die Charak-
terisierung der Zuwiderhandlung allein als Straftat in dem Rechtsakt
nicht zulässig sein, sondern es muß den Mitgliedstaaten überlassen
bleiben, ob sie eine Ordnungswidrigkeit oder eine Straftat daraus for-
men. Anderenfalls würde in ihr Strafsetzungsrecht schon unbefugt ein-
gegriffen werden. Die in der Fassung des ursprünglichen Vorschlages
für eine Richtlinie über die Anhörung der Arbeitnehmer von Unter-
nehmen mit komplexer, insbesondere transnationaler Struktur (sog.
Vredeling-Richtlinie) vom 24. Oktober 1980 überall befindliche scharf
dezidierte Verpflichtung, angemessene Strafvorschriften zu erlassen,
12 Oehler (Anm. 11), S. 138.
Zum Strafrecht der Europäischen Gemeinschaft 1409

ist deshalb wohl auch in der erneuten Vorlage der Kommission vom
13. Juli 1983 (s. oben) einer Verpflichtung, angemessene Sanktionen für
den Fall der Zuwiderhandlung zu erlassen, gewichen (z. B. Art.3 [7], 4
[8], 7 [4] abgeänderter Text).

v. Gemeinschaftsschutz in bezug auf die allgemeinen Rechtsgüter

Der unvollständige Zustand des strafrechtlichen Gemeinschaftsschut-


zes zeigt sich vor allem dort, wo die eigentlichen Interessen der Ge-
meinschaft ungenügend strafrechtlich abgesichert sind. Es sind in erster
Linie die finanziellen Interessen der Gemeinschaft, die bisher nur sehr
lückenhaft durch das Strafrecht der Einzelstaaten geschützt werden.
Jene umfassen Subventionen, Abschöpfungen, Gebühren, eigene Ein·
nahmen der Gemeinschaft usw. Zum Teil kann die einzelstaatliche Ge-
setzgebung den rechtswidrigen Zugriff nicht bestrafen, weil durch die
strafrechtlichen Tatbestände nur innerstaatliche Rechtsgüter geschützt
werden. Auch die Vorlage gefälschter Urkunden oder unrichtiger An-
gaben usw. wird erst recht nicht einheitlich bestraft, da hier ebenfalls
oft der Adressat der Urkunde usw., die Gemeinschaft, nicht unter den
strafrechtlichen Tatbestand des nationalen Strafrechts fällt, das nur
inländische Rechtsgüter betrifft.
Die Fragen, die hier auftauchen, liegen etwas anders als bei den
Sanktionen, die auf die Zuwiderhandlungen gegen die Verbote und Ge-
bote der einzelnen Rechtsakte der Gemeinschaft folgen sollen. Aller-
dings gilt hier noch mehr als dort, daß die Gemeinschaft nicht eigene
strafrechtliche Tatbestände mit Rechtsfolgen entwickeln darf, da keine
vertraglichen Unterlagen diese stützen können. Die bloße Verpflichtung
der Staaten, entsprechende strafrechtliche Vorschriften zum Schutze
von Gemeinschaftsgütern zu erlassen, läßt sich nicht in einem Rechts-
akt der Gemeinschaft aussprechen, da der Vertrag keine Handhabe
dazu bietet. Bei Vertragsschluß hat man offensichtlich nur an Sanktio-
nen gedacht, welche sich aus der Nichtbeachtung von Verpflichtungen
ergeben, die aus besonderen materiellen Regelungen der Rechtsakte
entstehen, nicht aber an solche zum unmittelbaren Schutze von Ge-
meinschaftsgütern13 •

13 Der Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments für eine Europäische


Union vom 14. Februar 1984 (abgedruckt in: Europa-Archiv, 39. Jahr, 8. Folge,
25.4. 1984) sieht an keiner Stelle für "gemeinsame Aktionen" ein Gesetz-
gebungsrecht für gemeinsame strafrechtliche und sonstige ordnungswidrig-
keitliche Bestimmungen vor, vgl. Art. 11, 34, 43, 46, 55. Dieses soll offensicht-
lich den Mitgliedstaaten überlassen bleiben, vgl. Art. 34, 1. Abs. Ein gemein-
samer Rechtsraum nur zur Bekämpfung der internationalen Formen der Kri-
minalität einschließlich des Terrorismus wird für die Zusammenarbeit an-
gesprochen, vgl. Art. 46.

89 Festschrift für H.-H. Jescheck


1410 Dietrich Oehler

So bleibt nur die Möglichkeit eines zusätzlichen Gemeinschaftsvertra-


ges, der eine Änderung nach Art. 236 EWG-Vertrag und entsprechend
in den anderen Verträgen enthält. Diese Änderung müßte die Staaten
verpflichten, ihre eigenen Tatbestände bezüglich Subventions-, Ein-
nahmenhinterziehung usw. auf die entsprechenden Verkürzungen der
Gemeinschaftsgüter auszudehnen und mit Strafe zu bewehren, genau-
so wie die Deliktsbeschreibungen der Urkundenfälschung, der falschen
Versicherung an Eides Statt und ähnlicher Straftaten auf die Taten
gegen die Gemeinschaft zu erstrecken. über den Geltungsbereich der
nationalen Normen müßten ähnliche Bestimmungen getroffen werden,
wie sie sich im Protokoll über die Satzung des Gerichtshofs der Euro-
päischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1957 bezüglich der dort aufge-
führten strafrechtlichen Tatbestände und in den Protokollen zu den
anderen Gemeinschaftsverträgen befinden.
Auch hier würde kein normaler internationaler Vertrag zwischen den
Mitgliedstaaten genügen, weil es sich dann nicht um Gemeinschafts-
recht handeln würde. Die Organe der Gemeinschaft besäßen für die
Verfolgung der Taten keine Zuständigkeit.
KLAUS TIEDEMANN

Der Allgemeine Teil des europäischen supranationalen Strafrechts

1.

Das supranationale, nicht von den Einzelstaaten gesetzte und ver-


wirklichte Strafrecht hat als historisch junge und schon daher beson-
ders reizvolle Erscheinung den hochverehrten Jubilar von Beginn seines
wissenschaftlichen Wirkens an beschäftigt. Im Zusammenhang mit dem
- weit verstandenen - internationalen Strafrecht1 hat er wiederholt
das Strafrecht der Europäischen Gemeinschaften (Gemeinschaft für
Kohle und Stahl, Wirtschafts gemeinschaft, Atomgemeinschaft) behan-
delt und die eigene Sanktionskompetenz der Gemeinschaften als "das
beste Mittel zum Schutz der wirtschaftspolitischen Regelungen" bezeich-
net - mag es daneben auch das traditionelle Mittel des Schutzes von
Gemeinschaftsinteressen durch die nationalen Strafrechtsordnungen
und die Möglichkeit einer gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung der
Mitgliedsstaaten zum Erlaß von Sanktionsvorschriften geben!. Wenn
Jescheck hierin "erste Anfänge eines europäischen Strafrechts" erblickt3 ,
so trifft dies in ganz besonderem Maße auch für den Allgemeinen Teil
dieses Rechtsgebietes zu, und zwar gerade deshalb, weil das Gemein-
schaftsrecht hierzu so gut wie keine ausdrücklichen Regeln enthält: Der
Allgemeine Teil ergibt sich im Wege der Lückenschließung aus allge-
meinen Rechtsgrundsätzen, die den (meisten) Strafrechtsordnungen der
Mitgliedsstaaten gemeinsam sind'. Die Strafrechtsvergleichung findet
hier also einen höchst praktischen Anwendungsbereich! Mitunter scheut
sich der Europäische Gerichtshof allerdings auch nicht, die Lösung einer
1 Zur Begriffsbestimmung Jescheck, Maurach-Festschrift, 1972, S. 579ff. =
Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft, 1980, S. 615 ff.
! Jescheck, Maurach-Festschrift, S. 592 f. = Strafrecht im Dienste der Ge-
meinschaft, S. 626 f., und ders., in: Prospettive per un Diritto Penale Europeo,
1968, S.321, 339 ff., sowie ders., ZStW 65 (1953), S.496, 502 ff. = Strafrecht im
Dienste der Gemeinschaft, S. 455, 459 ff.
S Maurach-Festschrift, S.594 = Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft,
S. 628, und in: Prospettive per un Diritto Penale Europeo (Fn. 2), S. 324.
, Jescheck, Maurach-Festschrift, S. 593 f. = Strafrecht im Dienste der Ge-
meinschaft, S.628; ferner Bredimas, Methods of Interpretation and Com-
munity Law, 1978, S. 124 ff.; GleisslHirschjBechtoldjHootz, Kommentar zum
EWG-Kartellrecht, 3. Aufl.. 1978, Art. 15 va Nr. 17 Rdnr. 4; Grabitz/Koch, Kom-
mentar zum EWG-Vertrag, 1984 ff., Art. 15 va Nr.17 Rdnr.6; Mestmäcker,
Europäisches Wettbewerbsrecht, 1974, S. 35 ff., 535.

89'
1412 Klaus Tiedemann

einzelnen Rechtsordnung als führend anzusehen und als gemeinschafts-


rechtlich verbindlich zu bezeichnen.
Es liegt damit nahe, dem berühmten Meister des Allgemeinen Teils
und des Internationalen Strafrechts, dem großen Rechtsvergleicher
und erfahrenen Kenner ausländischer Strafrechtsordnungen einen
Beitrag zum gegenwärtigen Stand der Lehren des Allgemeinen Teils
des europäischen gemeinschaftsrechtlichen Strafrechts zu widmen.
Diesem Anliegen kommt entgegen, daß sich nach ersten Jahrzehnten
eines nahezu ausschließlichen Pragmatismus in der Spruchtätigkeit der
Europäischen Kommission und des Gerichtshofes nunmehr jedenfalls in
der Arbeit der Kommission sowie der Generalanwälte erste Anzeichen
einer inneren Konsistenz und einer Ausrichtung der Sanktionspraxis an
grundsätzlichen dogmatischen Kategorien zeigen. Zu dem schwierigsten
Problem dieses Themas: ob die Ahndung der Verstöße gegen den Ver-
trag der Montanunion schuldhaftes Handeln voraussetzt oder ob es sich
um "delits purement materiels" im Sinne der französischen und belgi-
schen Lehre handelt, hatte der Jubilar schon in seinem Vortrag auf der
Münchener Strafrechtslehrertagung 1953 den Wunsch ausgedrückt, daß
sich die modernere deutsche Auffassung in der Rechtsprechung des Ge-
richtshofes durchsetzen möge5 • Seither hat nicht nur die deutsche (und
zuvor die italienische) Stahlindustrie durch Verstöße gegen die Fest-
setzung von Mindestpreisen und Erzeugungsquoten und anschließende
"Sanktionsklagen" vor dem EuGH 6 an der Klärung solcher Rechtsfra-
gen mitgewirkt. Vielmehr ist bereits seit 1958 bzw. 1962 das Vertrags-
werk der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mit einem Sank-
tionssystem, das in mancher Hinsicht fortschrittlicher ist, hinzugetreten.
Insoweit war es vor-allem die pharmazeutische und die chemische Indu-
strie, die durch Wettbewerbsverstöße Sanktionen auf sich gezogen und
strafrechtliche Rechtsfragen vor den Gerichtshof getragen hat - zuerst
in der umfänglichen Angelegenheit des internationalen Chininkartells
im Jahre 19697 • Sehen wir also, ob sich nach einem Zeitraum von mehr
als 30 Jahren die Vorstellungen des Jubilars verwirklicht haben!
5 Jescheck, ZStW 65 (1953), S.509 = Strafrecht im Dienste der Gemein-
schaft, S. 464.
8 Urt. in Sachen Klöckner-Werke AG v. 11.3.1983 (303, 312/81), WuW/E
EWG/MUV 1983, 583 ff. und v. 14.12.1983 (263/82), RiW 1984, 135 ff.; Urt. v.
16.11. 1983 (188/82) in Sachen Thyssen AG, RIW 1984,48 ff.; vgl. ferner Urt. v.
29.2.1984 (270/82) in Sachen Estel N. V. (noch unveröffentlicht); Urt. v. 18.3.
1980 (154, 205, 206, 226 - 228, 263 u. 264/78 sowie 39, 31, 83 u. 85/79) in Sachen
SpA Ferriera Valsabbia u. a. (Eisenwerk-Gesellschaft Maximilianshütte mbH;
Korf Industrie und Handel GmbH u. Co KG), RsprGH 1980,907 ff.; zuvor Urt.
v. 16. 12. 1963 (2 - 10/63) in Sachen Societa Industriale Acciaierie San MicheIe
u.a., RsprGH 1963, 705 ff., und Urt. v. 12.7.1962 (16/61) in Sachen Acciaierie
Ferriere e Fonderie di Modena, RsprGH 1962, 580 ff.
7 urt. in Sachen ACF Chemiefarma N. V. (41/69), Buchler & Co. (44/69) und
Boehringer Mannheim GmbH (45/69), RsprGH 1970, 661 ff., 733 ff., 769 ff.;
dazu bereits Jescheck, Maurach-Festschrift, S. 593 f. = Strafrecht im Dienste
Allgemeiner Teil des europäischen supranationalen Strafrechts 1413

II.

1. Der tatbestandliche Anwendungsbereich gemeinschaftsrechtlicher


Sanktionen betrifft die Wettbewerbs- und Marktordnung der Gemein-
schaften sowie die verfahrensmäßigen Befugnisse der Kommission. Er
läßt sich unter Beachtung der zeitlichen Reihenfolge und der praktischen
Bedeutung der einschlägigen Normen wie folgt zusammenfassen8 :
Der Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle
und Stahl vom 18.4. 1951 (EGKSV) sieht in zahlreichen seiner Bestimmungen
neben reinen Zwangsmaßnahmen (astreintes) auch die Verhängung von
finanziellen Sanktionen (sanctions pecuniaires) durch die Hohe Behörde vor.
An die Stelle dieses Organs ist seit dem 1. 7. 1967 die Kommission der Euro-
päischen Gemeinschaften getreten. Gegen ihre Entscheidung gewährt der
EGKS-Vertrag (Art. 36 Abs.2) eine Sanktionsklage vor dem Gerichtshof
"mit unbeschränkter Ermessensnachprüfung" . Diese Klage ist dem recours de
pleine juridiction des französischen Verwaltungsprozesses nachgebildet.
Auf diese Weise sanktionsbewehrt sind sowohl eine Reihe von Regeln des
Vertrages selbst als auch bestimmte Entscheidungen und Einzelanordnungen
der Kommission. Besondere praktische Bedeutung erlangt haben einerseits
die Bußgeldermächtigungen in den Vertragsbestimmungen und Kommis-
sionsentscheidungen auf dem Gebiete des Wettbewerbs (vgl. Art. 65 § 5
und Art.66 § 6 EGKSV), andererseits die Entscheidungen der Kommission
zur Abwendung einer Krise, die durch über- oder Unterproduktion entstan-
den ist (vgl. Art. 58 § 4 und Art. 59 § 7 EGKSV); hierzu zählen z. B. die be-
reits erwähnten jüngeren Entscheidungen der Kommission zur Einführung
und Verlängerung eines Systems von Erzeugungsquoten für Stahl für die
Unternehmen der Stahlindustriea• Diese Entscheidungen stützen sich zugleich
auf Art. 47 Abs.3 des Vertrages, der das in Abs.1 vorgesehene Auskunfts-
und Nachprüfungsrecht der Kommission mit Sanktionsbefugnissen bewehrt.
Bußgeldbewehrt ist auch das umfassende Auskunftsrecht der Kommission
im Rahmen der ihr durch Art.66 des Vertrages eingeräumten Zusammen-
schlußkontrolle (vgI. Art. 66 § 4 i. V. m. § 6). Das Auskunfts- und Nachprü-
fungsrecht der Kommission ist weiter durch die Entscheidung Nr.14 der
Hohen Behörde vom 8.7.1964 über die Pflicht der Unternehmen zur Bereit-
haltung von Geschäftsbüchern und anderen UnterlagenlO konkretisiert; für

der Gemeinschaft, S. 627 f.; Tiedemann, Kartellrechtsverstöße und Strafrecht,


1976, S. 107 ff., sowie ders., Multinationale Unternehmen und Strafrecht, 1980,
S. 15 ff. VgI. ferner die Entscheidungen in Sachen BASF AG (49/69), RsprGH
1972, 713 ff., Bayer AG (51/69), RsprGH 1972, 745 ff., J. R. Geigy AG (52/69),
RsprGH 1972, 787 ff., Hoffmann-La Roche & Co. AG (85/76), RsprGH 1979,
461 ff., Imperial Chemical Industries Ltd. (48/69), RsprGH 1972,619 ff., Istituto
Chemoterapico Italiano und Commercial Solvents Corporation (6 u. 7/73),
RsprGH 1974, 223 ff., Sandoz AG (53/69), RsprGH 1972, 845 ff.
S VgI. auch bereits Jescheck, ZStW 65 (1953), S. 502 ff. = Strafrecht im
Dienste der Gemeinschaft, S. 459 ff.; Schroth, Economic Offences in EEC Law
with special reference to English and German Law, 1983, S. 31 ff.; Tiedemann,
Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftskriminalität, Bd. 11,1976, S. 214 ff.
a Entscheidungen Nr.2794/80/EGKS v. 31. 10. 1980, ABI. EG Nr. L 291 v.
31. 10. 1981 S.l; Nr. 1831/81/EGKS v. 24.6.1981, ABI. EG Nr. L 180 v. 1. 7.1981
S. 1; Nr. 1696/82/EGKS v. 30. 6. 1982, ABI. EG Nr. L 191 v. 1. 7.1982 S. 1.
10 ABI. EG Nr. C 120 v. 28. 7.1964 S.1967.
1414 Klaus Tiedemann

die Sanktionierung der Pflichtverletzungen verweist Art. 3 der Entscheidung


auf Art.47 Abs.3 des Vertrages. - Bußgeldbewehrt sind ferner die Ver-
tragsbestimmungen und Kommissionsentscheidungen in bezug auf Preise
(Art.64 EGKSV) sowie die ablehnende Stellungnahme der Kommission zu
Investitionsprogrammen, deren Finanzierung oder Durchführung nach ihrer
Ansicht im Widerspruch zum Vertrag steht (Art. 54 Abs. 5 u. 6). Dasselbe
gilt für Verstöße gegen Empfehlungen, welche die Kommission wegen eines
zu niedrigen Lohnniveaus an die Unternehmen richtet (vgl. Art. 68 § 6).
Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom
25.3. 1957 (EWGV) verbietet in Art. 85 Abs. 1 alle konzertierten Wettbewerbs-
beschränkungen und in Art. 86 die mißbräuchliche Ausnutzung einer markt-
beherrschenden Stellung. Art. 87 ermächtigt und verpflichtet den Rat der
EWG, die zur Verwirklichung dieser Grundsätze zweckdienlichen Verord-
nungen zu erlassen, wobei Abs.2 lit. a ausdrücklich die "Einführung von
Geldbußen und Zwangsgeldern" als Mittel der Durchsetzung der Verbote des
Art. 85 Abs. 1 und Art. 86 nennt. Auf dieser Grundlage ist zunächst die wich-
tige Verordnung Nr. 17 des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
vom 6. 2. 196211 ergangen. Sie stellt in Art. 15 Abs. 2 lit. a alle vorsätzlichen
oder fahrlässigen Verstöße gegen Art.85 Abs. 1 und Art.86 EWGV unter
Bußgelddrohung. In lit. b wird dieser Schutz ergänzt für Zuwiderhandlungen
gegen Auflagen im Zusammenhang mit der Freistellung von dem Verbot des
Art. 85 Abs. 1, und Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 17 erfaßt unrichtige oder
entstellte Angaben in einem Antrag von Unternehmen auf Erteilung eines
Negativattestes (hinsichtlich des Nichtvorliegens eines Verstoßes gegen Art. 85
Abs. 1 oder Art. 86 EWGV) sowie in dem Anmeldungsverfahren zum Zwecke
der Freistellung nach Art. 85 Abs.3 EWGV. - Weitgehend identisch hiermit
sind die Bußgeldtatbestände, welche die Verordnung Nr.l017/68 des Rates der
EWG vom 19.7.1968 "über die Anwendung von Wettbewerbsregeln auf dem
Gebiet des Eisenbahn-, Straßen- und BinnenschifIsverkehrs"12 in Art. 22
vorsieht. Erwähnenswert ist auch die bereits am 27.6.1960 erlassene Ver-
ordnung Nr.11 des Rates über die Beseitigung von Diskriminierungen auf
~I1LGebiet der Frachten und Beförderungsbedingungen gem. Art. 79 Abs. 3
EWGVI3. Art. 17 und 18 dieser Verordnung ermächtigen die Kommission zur
Festsetzung von Sanktionen gegen Verkehrsunternehmen.
Art. 173 fI. EWGV enthalten Verfahrensregeln für die Klage, die von jeder
natürlichen oder juristischen Person gegen Entscheidungen der Kommission
erhoben werden kann. Die vorgenannten EWG-Verordnungen gewähren dem
Gerichtshof - ebenso wie nach Art.36 EGKSV - ein Recht zur uneinge-
schränkten Ermessensnachprüfung 1. S. d. Art. 172 EWGV.

2. Die RechtsnatuT der im EWG- und im EGKS-Recht vorgesehenen


Sanktionen ist seit langem streitig. Dieser Streit verdient vor allem
deshalb Erwähnung, weil nach teleologischem Verständnis die Natur
der angedrohten Sanktion auf die Tatbestandsseite der Sanktionsnorm
zurückwirkt. Für das deutsche Ordnungswidrigkeitenrecht ist in diesem
Sinne bekannt und heute weithin anerkannt, daß die vom Gesetzgeber

11 ABI. EG Nr. C 13 v. 21. 2. 1962 S. 204.


12 ABl. EG Nr. L 175 v. 23. 7. 1968 S.l.
13 ABI. EG Nr. C 52 v. 16.8. 1960 S. 1121..
Allgemeiner Teil des europäischen supranationalen Strafrechts 1415

gewählte Rechtsfolge mit ihrem sittlich neutralen Zweck und Inhalt


dazu führt, daß die Vorwerfbarkeit (Schuld) im Ordnungswidrigkeiten-
recht ebenfalls keine sittliche Mißbilligung enthält. Auch das Unrecht
dieses Bereiches ist rechtlich nur in der vom Gesetzgeber gewollten
Weise, also nicht in seiner gleichsam vor-bußgeldrechtlichen Eigenart,
relevant: Nicht vom Unrecht ist auf die Rechtsfolge, sondern von der
Sanktion ist auf die Bewertung des Unrechts und der Schuld durch den
Gesetzgeber zu schließen14 • Insoweit ist nun einerseits bedeutsam, daß
nach wohl·h. M. mangels einschlägigen Souveränitätsverzichts der Mit-
gliedsstaaten den Europäischen Gemeinschaften keine Kriminalstraf-
gewalt zukommt15 • Andererseits hebt die Verordnung Nr.17 in Art. 15
Abs.4 ebenso wie die Verordnung Nr. 1017 in Art. 22 Abs. 4 und die Ver-
ordnung Nr.l1 in Art. 19 ausdrücklich hervor, daß die Geldbußen nach
diesen Verordnungen Entscheidungen "nicht strafrechtlicher Art" sind
("n'ont pas de caractere penal"). Solche Bekenntnisse von normsetzen-
den Instanzen sind zwar relativ selten, aber keineswegs einmalig, wie
die Rechtsvergleichung weiß (vgl. nur Art. 26 span. C6digo Penal). Da
es dem Gesetzgeber allgemein und insbesondere auch in dem Grenz-
bereich von Strafrecht und Verwaltungsrecht freisteht, im Rahmen sei-
nes Ermessens die Zwecksetzung und damit weitgehend auch die Rechts-
natur der von ihm vorgesehenen Maßnahmen festzulegen, ist die ge-
nannte Charakterisierung zweifelsfrei beachtlich und jedenfalls im Rah-
men der genannten EWG-Verordnungen verbindlich. Angesichts des für
das gesamte Gemeinschaftsrecht geltenden Postulates der Widerspruchs-
freiheit und des hieraus folgenden Gebotes gleicher Auslegung gleich-
lautender Vertragsbestimmungen16 liegt aber auch die Annahme nahe,
daß die "finanziellen Sanktionen" des gesamten Gemeinschaftsrechts
dieselbe Rechtsnatur aufweisen17, mögen die in Art. 16 der EWG-Ver-
ordnung Nr.17 erwähnten Zwangsgelder in anderen Bestimmungen
auch in engerem Zusammenhang mit den Sanktionen genannt werden:
Der ausschließliche Erzwingungscharakter der rein präventiven und die

14 Vgl. hierzu nur Gßhler, Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 7. Auft. 1984,


Rdnr. 6 ff. vor § 1; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht,
1969, S. 132, 339 f., 399 u. Ö., sowie öJZ 1972, 285, 290, und ders., in: Immenga/
Mestmäcker, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, 1. Auft. 1981, Rdnr.
7 ff. vor § 38, je m. w. N. übereinstimmend Paliero, Politica deI Diritto 1983,
117,119. - Grundlegend, auch zum folgenden, Jescheck, Lehrbuch des Straf-
rechts, Allgemeiner Teil, 3. Auft. 1978, S. 45 f.
15 BGHSt.25, 190, 193 f.; Mestmäcker (Fn. 4), S. 535; Oehler, Internationales
Strafrecht, 2. Auft. 1983, S.563 Rdnr.937, und ders., Dando-Festschrift, 1983,
S.129, 136; Pedrazzi, in: L'Influenza deI Diritto Europeo sul Diritto Italiano,
1982, S.611, 612 ff.; Tiedemann, Wirtschafts strafrecht II, S.216 m. w. N.
16 Vgl. Urt. v. 12.5.1964 (101/63) in der Sache Wagner, RsprGH 1964,417 ff.,
432; Bredimas (Fn.4), S. 45 ff.
17 So zutreffend Winkler, Die Rechtsnatur der Geldbuße im Wettbewerbs-
recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1971, S. 13.
1416 Klaus Tiedemann

Rechtsstellung des Betroffenen nicht beschränkenden astreintes hebt


diese inhaltlich hinreichend von den auch oder sogar vorwiegend ahn-
denden, also repressiven und zudem auch auf Generalprävention aus-
gerichteten "Sanktionen" ab t8 • Trotz der verbreiteten Kritik an der vor-
geblich rein negativen oder nur terminologisch beachtlichen Definitions-
aussage des EWG-Verordnungsgebers l9 scheint uns diese Aussage nicht
nur aus deutscher Sicht, sondern auch unter Berücksichtigung der übri-
gen Mitgliedsstaaten inhaltlich wichtig, ja ausschlaggebend zu sein. Da
nämlich in praktisch allen Mitgliedsstaaten eine Verhängung von Krimi-
nalstrafen durch Verwaltungsbehörden nicht (mehr) zugelassen wird20 ,
verbleibt aus rechtsvergleichender Sicht und damit auch für die eigen-
ständige Rechtsordnung der Gemeinschaften nur die Möglichkeit, einer
Verwaltungsbehörde neben ihrer Kompetenz zur (präventiven) Erzwin-
gung rechtmäßigen Verhaltens die Befugnis zur Verhängung von Stra-
fen im weiteren Sinne, also zwar mit repressiver Zwecksetzung, aber
ohne den sittlichen Tadel der Kriminalstrafe, zu verleihen - mag eine
solche inhaltliche Aufteilung finanzieller Sanktionen auch insbesondere
dem englischen Rechtsdenken ungewöhnlich erscheinen und als Ent-
gegensetzung von fine und regulatory ("administrative") fine sogleich
den Gedanken an die strict liability bei den regulatory offences impli-
zieren, und mag die Unterscheidung neben dem angelsächsischen auch
dem romanischen Sprachgebrauch Schwierigkeiten bereiten, weil Straf-
recht und Kriminal(straf)recht meist nicht getrennt werden. Daß diese
Schwierigkeiten sprachlicher Art, die auch in der Bezeichnung "non-
penal" zum Ausdruck kommen, der Vornahme einer inhaltlichen Auf-
teilung keineswegs entgegenstehen, zeigt beispielhaft die neuere italie-
nische Wahl eines Ql>~rl>_egriffes der_"sanzioni punitiY'~"21. Die vom

18 Vgl. dazu neben den Ausführungen des EuGH in den Chinin-Entschei-


dungen RsprGH 1970, 661, 703 (Chemiefarma), 733, 763 (Buchier) und 769, 810
(Boehringer) aus dem deutschen Schrifttum: Deringer, Wettbewerbsrecht der
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1962 ff., Art. 15 VO Nr. 17 Rdnr.2;
Mailänder, in: Gemeinschaftskommentar, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschrän-
kungen und Europäisches Kartellrecht, 3. Aufl. 1978, Art. 15 VO Nr. 17 Rdnr.
90; Mestmäcker (Fn.4), S.534; Schröter, in: von der Groebenlvon Boeck.hl
ThiesinglEhlermann, Kommentar zum EWG-Vertrag, 3. Aufl. 1983, Art. 87
Rdnr. 32; Schroth (Fn. 8), S. 122 ff., 127, 158 f., 186.
tl Zuletzt Schroth (Fn.8), S. 144 ff., 156 ff., der auch auf die Möglichkeit
einer Unterscheidung zwischen der Rechtsnatur der Bußgeldentscheidung und
der der Geldbuße selber hinweist (dazu bereits Gleiss/Hirsch/Bechtold/Hootz
(Fn. 4), Art. 15 VO Nr. 17 Rdnr. 4).
10 Vgl. Bos/de HaaslHaentjenslKeijzerlSchaffmeister, Revue Internatio-
nale de Droit Penal 1983, 453, 478; Mattes, Untersuchungen zur Lehre von
den Ordnungswidrigkeiten Bd. I, 1977, S. 341 ff.; Paliero, Rivista trimestrale
di Diritto Pubblico 1980, 1254 ff.; Pedrazzi, Revue Internationale de Droit
Penal 1983, 423, 435; Schroth (Fn.8), S. 148 ff.; Winkler (Fn. 17), S. 69 ff.
!t Dazu hier nur PedrazzilDolcini, Commentario delle "Modifiche al Siste-
ma Penale", 1982, Art. 1, Anm. 2 m. w. N.
Allgemeiner Teil des europäischen supranationalen Strafrechts 1417

Wortlaut der genannten EWG-Verordnungen vorausgesetzte und wahr-


scheinlich gewollte, jedenfalls aber ermöglichte, Zweiteilung des öffent-
lich-rechtlichen Sanktionssystems findet damit in der Zweiteilung von
Strafe und Geldbuße nach dem deutschen Ordnungswidrigkeitengesetz
ihre Entsprechung und eine Parallele in dem Dualismus von ammenda
und sanzione amministrativa pecuniaria (de pagamento di una somma
di denaro), von amende und sanction pecuniaire, von geldboete und
administratieve sanctie. Es erscheint daher zutreffend, die finanziellen
Sanktionen des Gemeinschaftsrechts in inhaltlicher Entsprechung zum
deutschen (und neueren italienischen) Ordnungswidrigkeitenrecht als
Geldbuße anzusehen und zu bezeichnen".
Die demgegenüber insbesondere von Oehler vorgeschlagene Bestim-
mung der Rechtsnatur als einer Sanktion "sui generis"23 hat zwar den
Vorteil, viele Lösungen und Möglichkeiten offen zu halten. Auch kann
angesichts der Entstehungsgeschichte der gemeinschafts rechtlichen
Sanktionsbefugnisse und im Hinblick auf den Wandel des deutschen
Ordnungswidrigkeitenrechts kaum die Rede davon sein, daß die Ge-
meinschaften die deutsche Geldbuße im technischen Sinne rezipieren
wollten. Jedoch werden mit der Annahme einer Sanktion sui generis
doch wohl auch zu viele Lösungsansätze der nationalen Rechtsordnungen
ausgeklammert: Welche Grundsätze für das Vorliegen eines ahndbaren
Verstoßes maßgebend sein sollen, wenn die Sanktion eine solche "eige-
ner Art" ist, bleibt weitestgehend offen. Die nach der Entstehungsge-
schichte und der Zweckbestimmung durch den Gerichtshof eindeutige
Einordnung als punitive Maßnahme und damit als Strafe im weiteren
Sinne legt es dagegen nahe, jedenfalls im Grundsatz strafrechtliche Leh-
ren zur Anwendung zu bringen.

:z So die ganz h. M. im deutschen Schrifttum und in der deutschen Recht-


sprechung; vgI. neben Jescheck, JZ 1959, 457, 462 bes. GleisslHirschlBechtold/
Hootz (Fn.4), Rdnr.4; Göhler (Fn. 14), Ein!. Rdnr. 17; Mestmäcker (Fn.4),
S.535; Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht 11, S.214; Winkler (Fn.17), S. 80 fI.
Aus dem umfänglichen ausländischen Schrifttum vgI. hier nur van Binsber-
gen, in: Droit Penal Europeen, 1970, 203 ff. ("caractere non-infamant de ces
sanctions"); Grasso, Rivista Italiana di Diritto e Procedura Penale 1982, 629,
632 m. N. zur italien. Literatur; Levasseur, in: Les Problemes juridiques et
economiques du Marche Commun, 1960, S.95, 111 fI. (sanctions d'un "carac-
tere quasi-penal" qui "n'impliquent pas une idee d'infamie et d'opprobre,
comme le fait la peine classique"); Lombois, Droit Penal International, 2. Auft.
1979, S.210, Nr.161; Pedrazzi (Fn.15), S.613 ("sanzioni repressive non pro-
priamenti penali"); van den Wijngaert, Revue de droit penal et de crimino-
logie 1982, 837, 845 fI., je m. N. Zur "sanction pecuniaire" des neueren franzö-
sischen Wettbewerbsstrafrechts Tiedemann, ZStW 91 (1979), S.139, 141; zur
niederländischen "administratieve sanctie" Mulder, Schets van het econo-
misch strafrecht, 3. Auft. 1975, S. 21 ff.
IS Oehler, Internationales Strafrecht, S.564 Rdnr.939, sowie ders., Dando-
Festschrift, S. 138. VgI. auch Schroth (Fn.8), S. 186, der aber unter Vernach-
lässigung des AWG, GWB usw. zu Unrecht davon ausgeht, die Geldbußen des
deutschen OWiG dienten nur der Ahndung von Bagatellverstößen.
1418 Klaus Tiedemann

Für eine moderne Auffassung darf die hier nur skizzierte Streitfrage
im übrigen nicht überbetont werden. Zu Recht hat nämlich das Bundes-
verfassungsgericht darauf hingewiesen, daß jede auch nur im weitesten
Sinne als Strafe gemeinte Sanktion - wie etwa die Ordnungsstrafe
nach § 890 ZPO (a. F.) - elementare strafrechtliche Grundsätze wie ins-
besondere das Schuldprinzip ins Spiel bringe24 • Nicht die Geltung oder
Nichtgeltung strafrechtlicher Lehren und Grundsätze, sondern das Aus-
maß ihrer Einschränkung entsprechend dem nicht-kriminellen Charak-
ter der Sanktion steht also in Frage. Wenn die eindeutige Tendenz d~r
europäischen Rechtsentwicklung in den Mitgliedsstaaten in die Richtung
einer Abschaffung oder doch drastischen Einschränkung des klassischen
Verwaltungsstrafrechts (im kompetentiellen Sinne) weist und die Vor-
züge der Entkriminalisierung sowie der Praktikabilität mit dem Einsatz
einer Sanktion verbindet, die präventive Zwecke verfolgt, aber zugleich
repressive Unrechtsfolge ist, so steht dieser Gesamtkomplex trotz seiner
historischen Entwicklung und Veränderung auch weiterhin zwischen
Strafrecht und Verwaltungsrecht. Ob er stärker dem Strafrecht oder
mehr dem Verwaltungsrecht zugerechnet wird, kann je nach dem jewei-
ligen Sachbezug möglicherweise unterschiedlich beantwortet werden.
Jedoch entspricht es der vom Bundesverfassungsgericht prototypisch
hervorgehobenen modernen rechtsstaatlichen Tendenz, eine Maßnahme,
mit der dem Betroffenen ein Rechtsverstoß vorgehalten und zum Vor-
wurf gemacht wird, jedenfalls im Grundsatz auch strafrechtlichen Fun-
damentalsicherungen zu unterwerfen.
Inwieweit gelten also die Lehren des Allgemeinen Teils für dieses
durchaus autonome Zwittergebilde des gemeinschaftsrechtlichen Buß-
ge1arechts?

III.

1. Daß nur natürliche Personen Adressaten von Strafnormen und von


Strafsanktionen sein können, ist für den kontinentalen Rechtskreis
lange eine Selbstverständlichkeit gewesen, die aber neuerdings in meh-
reren Staaten durch Einführung der (kriminellen) Strafbarkeit juri-
stischer Personen und anderer Personenvereinigungen zunehmend in
Frage gestellt wird2S • Bereits im deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht

u BVerfGE 20, 323, 331 ff.; dazu Jescheck, Allgemeiner Teil, S.l1; Tiede-
mann, Wirtschaftsstrafrecht I, S.234. Zu § 890 ZPO n. F. BVerfGE 58, 159 ff.
Ganz ähnlich übrigens vom französischen Rechtsstandpunkt aus Levasseur
(Fn. 22), S. 113.
15 Vgl. den überblick bei Constant, in: General Reports to the 10th Inter-
national Congress of Comparative Law, 1981, S. 937 ff.; Delmas-Marty, Revue
Internationale de Droit Penal 1980, 39 ff., und dies., Revue Internationale de
Droit Penal 1983, 41, 57 ff.; Screvens, Revue de droit penal et de criminologie
1980, 163 ff. Zum angloamerikanischen Rechtskreis zuletzt Fisse, Southern
Allgemeiner Teil des europäischen supranationalen Strafrechts 1419

ist nicht gesichert, ob die hier gesetzlich bisher nur als Nebenfolge ver-
ankerte Möglichkeit der Bußgeldverhängung gegen juristische Perso-
nen und Personenvereinigurigen (§ 30 OWiG) dahin zu verstehen ist, daß
die Normen des Ordnungswidrigkeitenrechts sich auch an andere als
natürliche Personen, eventuell auch an - als solche nicht rechtsfähige -
Unternehmen und Vereinigungen von Unternehmen richten28 • Dem-
gegenüber sprechen die einschlägigen Bußgeldnormen des Gemein-
schaftsrechts überwiegend ganz ausdrücklich von Sanktionen gegen
Unternehmen und Unternehmensvereinigungen und lassen daher eine
Deutung der (Quasi-)Strafbarkeit von Unternehmen nach anglo-ameri-
kanischem Muster (Sherman Act von 1890!) zu. Allerdings ist die Klage-
möglichkeit in Art. 173 Abs. 2 EWGV auf natürliche und juristische Per-
sonen beschränkt. Auch wenn für die Vollstreckung der Sanktionen in
Art. 92 Abs.2 EGKSV auf das nationale Recht und in Art. 192 Abs.2
EWGV auf die Zivilprozeßordnung verwiesen wird, so können jeden-
falls nach deutschem Recht Vollstreckungsschuldner nicht Unternehmen
und Unternehmensvereinigungen, sondern nur Personen im Rechtssinne
sein. Nach deutscher Dogmatik liegt es daher wohl näher, mit Jescheck
als Adressaten sowohl der Bußgeldnormen als auch der Sanktionen den
Inhaber von Unternehmen anzusehen!7. Inhaber kann (nur) eine natür-
liche oder eine juristische Person sein.

Die Beschränkung der Bußgeldtatbestände auf Unternehmen oder


Unternehmensinhaber bedeutet, daß die Zuwiderhandlungen gegen das
Gemeinschaftsrecht echte Sonderdelikte darstellen. Wer insoweit außer
dem Inhaber eines (Einzel-)Unternehmens als Täter in Betracht kommt,
um die Bußgeldsanktionen gegen das Unternehmen auszulösen, ergibt
sich für das Gemeinschaftsrecht anders als nach § 30 OWiG erst im Wege
der Auslegung. Dabei herrscht eine tatsächliche Betrachtungsweise vor,
die sich aber an rechtlichen Grenzkriterien ausrichtet. Ähnlich wie die
deutsche Rechtsprechung vor Einführung des § 9 OWiG nimmt der Ge-
richtshof insbesondere in dem Pioneer Electronic-Urteil an, daß alle be-
fugterweise für das Unternehmen bzw. die Unternehmensvereinigung
Handelnden "Täter" sein können (wobei die stark sachverhaltsbezogenen
Ausführungen des Gerichtshofes nach deutschem Verständnis an eine

California Law Review 56 (1983), S. 1141 ff.; für Belgien BosZy/SpreuteZs,


Revue Internationale de Droit Penal 1983, 117, 135 m. w. N. Ausführlich zum
niederländischen Recht Torringa, Strafbaarheid van rechtspersonen, 1984.
28 Vgl. BGHSt.20, 333, 337 (Saba) einerseits und Tiedemann, NJW 1979,
1849 ff., sowie ders., in: ImmengalMestmäcker (Fn.14), Rdnrn. 28 u. 29 m. w. N.
andererseits.
!7 Jescheck, ZStW 65 (1953), S.506 = Strafrecht im Dienste der Gemein-
schaft, S.462. Zur Zuordnung der das Unternehmen konstituierenden Fak-
toren zu selbständigen Rechtssubjekten auch RsprGH 1962, 653, 687 (Klöckner
und Hoesch), 717,750 (Mannesmann).
1420 Klaus Tiedemann

Art GaI1antenstellung erinnern)28. Hierzu sind nach h. M. auch Beauftragte


und Bevollmächtigte außerhalb des Unternehmens zu zählen2U • Dies ent-
spricht dem weiten Zurechnungsverständnis des "respondeat superior"
im anglo-amerikanischen Strafrecht.
Insbesondere die wettbewerblichen Zuwiderhandlungen gegen Art. 85
Abs.l und Art.86 EWGV sind zusätzlich auch deshalb Sonderdelikte,
weil und soweit sich diese Tatbestände an die Partner einer Verein-
barung (zwischen Unternehmen) oder eines Beschlusses (von Unterneh-
mensvereinigungen) und an die Inhaber einer marktbeherrschenden
Stellung wenden. Mag daher auch das Handeln anderer (natürlicher
oder juristischer) Personen die Bußgeldsanktion auslösen, so kann diese
doch stets nur die (Inhaber der) Unternehmen und Unternehmensver-
einigungen treffen, welche die genannten besonderen rechtlichen Merk-
male aufweisen. Vor allem durch dieses rechtliche Sonderdelikts-Merk-
mal, und nicht erst durch die häufig schwierige und unklare allgemeine
Grenzziehung zwischen dem Täter und dem Gehilfen einer Zuwider-
handlung, ergibt sich auch die Abgrenzung zwischen "strafbarer"
Täterschaft und strafloser Teilnahme. Die für Kartellabsprachen nicht
untypische Kontrolltätigkeit eines dritten selbständigen Unternehmens
zwecks überwachung der Einhaltung der Absprachen vermag zwar die
Bußgeldsanktion der Kartellbeteiligten zu begründen oder zu verstär-
ken, nicht aber eine eigene Bußgeldhaftung des beauftragten Unter-
nehmens oder seines Inhabers auszulösen. Wenn die Kommission im
Fall Gußglas in Italien das mit der Sammlung und übermittlung von
Informationen und Dokumenten beauftragte Dienstleistungsunterneh-
men als "effektiv" an einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung
Dereiligt ansah, weil der Vertrag mit diesem Unternehmen nur unselb-
ständiger Bestandteil der Kartellabsprache (zwischen italienischen
Unternehmen und einer in Italien ansässigen Tochtergesellschaft des
Konzerns Saint Gobain/Pont-ii.-Mousson) sei30 , so ist dies jedenfalls
unter bußgeldrechtlichen Gesichtspunkten kaum haltbar: Eine ord-
nungswidrige wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung i. S. d. Art. 85
Abs.l EWGV ist nur zwischen Unternehmen möglich, die Wettbewer-
ber, Anbieter oder Nachfrager auf dem in Frage stehenden Markt sind
oder wettbewerbsbeschränkende Nebenabreden in Austauschverträgen
treffen. Die täterschaftliche Beteiligung außenstehender Unternehmen

28 Urt. v. 7.6.1983 (100 - 103/80) Rdnrn.75, 105, WuW/E EWG/MUV 1984,


617 H.
29 Vgl. nur Gleiss/Hirsch/Bechtold/Hootz (Fn. 4), Art. 15 VO Nr. 17 Rdnr.36;
GrabitzlKoch (Fn.4), Art.15 VO Nr.17 Rdnr.41 m. w. N.; auch Schröter
(Fn. 18), Art. 87 Rdnr. 32 a.
30 KOME 80/1334/EWG Gußglas in Italien; abI. dazu Grabitz/Koch (Fn.4),
Rdnr. 46, die aber die bloße Gehilfeneigenschaft des Dienstleistungsunter-
nehmens nur auf die (zudem überholte!) animus-Theorie stützen wollen.
Allgemeiner Teil des europäischen supranationalen Strafrechts 1421

an der Durchführung derartiger Vereinbarungen würde zum einen vor-


aussetzen, daß die Verwirklichung des Vertragsplans als abgestimmtes
Verhalten selbst ordnungswidrig wäre, und darüber hinaus die Anwen-
dung des extensiven Täterbegriffes im Gemeinschaftsrecht erfordern.
Beide Annahmen sind zweifelhaft (vgl. auch unten 2 a a. E.).
Dagegen führt die Zurechnung des HandeIns bevollmächtigter
Außenstehender gegenüber dem sonderdeliktsfähigen Unternehmen(s-
inhaber) im Konzernverhältnis dazu, daß das ordnungswidrige Verhal-
ten von Tochtergesellschaften Sanktionen auch gegenüber der Mutter-
geseIlschaft begründen kann. Diesen Standpunkt vertrat der Gerichts-
hof erstmals in den Farbstoff-Urteilen gegenüber den außerhalb der
EWG ansässigen Muttergesellschaften der Pharma-Unternehmen Impe-
rial Chemical Industries (ICI), Geigy und Sandoz 31 • Er stützt sich hier-
für auf den auch im US-Recht bekannten Haftungsgesichtspunkt der
"wirtschaftlichen Einheit" von rechtlich selbständigen Unternehmen.
Dabei handelt es sich wohl weniger um eine Verhaltens- und Schuld-
zurechnung nach Art des französischen lait d'autrui als vielmehr um ein
auf Anteilsmehrheit und allgemeine Weisungserteilung gestütztes Kon-
zept, das im deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht keine unmittelbare
Entsprechung findet und Aspekte positiven Tuns, pflichtwidrigen Unter-
lassens und bloßer Aufsichtspflichtverletzung verbindet. Seine Hand-
habung ist systematisch nicht zweifelsfrei geklärt, aber insgesamt bil-
ligenswert, auch wenn in der bisherigen Praxis die Schuldfeststellun-
gen im Hinblick auf die Mutterunternehmen meist recht pauschal ge-
blieben sind32 • Immerhin verlangt der Gerichtshof insoweit - anders
als das US-Recht - eigenes Verschulden auf der Ebene des Mutter-
unternehmens.

2. Wir sind damit, insbesondere durch Einbeziehung von Täterschaft


und Teilnahme, bereits mitten in die Auslegungs- und Tatbestands-
lehre geraten, die in bezug auf die Garantie des gesetzlichen Tatbe-
standes (nullum crimen sine lege) seit der Erklärung der Menschen-
und Bürgerrechte von 1789 Gemeingut eines rechtsstaatlichen Straf-
rechtsverständnisses ist, und zwar im Hinblick auf statute law auch für
den angelsächsischen Rechtskreis. In bezug auf den Tatbestand als Un-
rechtsvertypung, also als Gegenstand und Ergebnis wissenschaftlicher
Erkenntnis, stellt diese Lehre dagegen eher ein Ergebnis deutscher und

31 RsprGH 1972, 619, 665; 787, 838; 845, 849. Vgl. zuletzt das Urteil in der
Rechtssache AEG (107/82), EuGH NJW 1984, 1281 ff. m. Bespr. Schroth, wistra
1984, 164 ff.
a2 Eingehend dazu die vor dem Abschluß stehende rechtsvergleichende
Freiburger Diss. von Rütsch: Strafrechtlicher Durchgriff bei verbundenen
Unternehmen? Zuvor Tiedemann, NJW 1979, 1852 f.
1422 Klaus Tiedemann

italienischer Strafrechtsdogmatik dar, das insbesondere im französi-


schen und englischen Sprachraum allenfalls ansatzweise eine Entspre-
chung findet.
Der erstere Bereich betrifft somit den Tatbestand im (weiteren) Sinne
der allgemeinen Rechtslehre, nämlich als Summe der - materiell-
rechtlichen - Voraussetzungen für die Verhängung der Rechtsfolge;
hierher gehört das Rückwirkungsverbot, nach neuerer Auffassung aber
auch das Analogieverbot und das Bestimmtheitsgebot, die sich eben-
falls auf sämtliche den Strafwürdigkeitsgehalt der Tat betreffende
Merkmale beziehen83 • Dieser Tatbestand im Sinne der allgemeinen
Rechtslehre ist auch Gegenstand der Auslegung. - Der Tatbestand im
engeren strafrechtsdogmatischen Sinne, also unter Ausschluß von Ge-
sichtspunkten individueller Vorwerfbarkeit, bloßer Strafbarkeitsbedin-
gungen und persönlicher Strafausschließungsgründe, ist dagegen vor
allem als Bezugspunkt des Vorsatzes (und der Fahrlässigkeit) und da-
mit für die Irrtumslehre relevant. Inwieweit die für das Wirtschafts-
recht typische Formalstruktur der gemeinschaftsrechtlichen Bußgeld-
tatbestände als Blankettgesetze, Generalklauseln und Tatbestände mit
unbestimmten (normativen) Merkmalen für den Unrechtstatbestand
und für die Irrtumslehre, also für die inhaltlichen Fragen der allge-
meinen Verbrechenslehre von Bedeutung ist, verdient angesichts des
Gewichtes und Umfanges dieser Frage Erörterung in einem eigenen
Punkt (unten V.). Vorab ist dazu nur festzuhalten, daß die terminolo-
gische und begriffliche Abgrenzung von Blankettgesetzen, General-
klauseIn und normativen Tatbestandsmerkmalen im einzelnen unein-
heitlich und national wie international umstritten ist34 • Jedoch wird die
Verweisung auf andere Normen und Akte weitgehend so gehandhabt,
als seien die in Bezug genommenen Elemente Teil des "offenen" Straf-
bzw. Bußgeldtatbestandes.
a) Das Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen ist als elementare
Ausprägung des Gesetzlichkeitsprinzips Bestandteil des rechtsstaat-
lichen Strafrechtsverständnisses in den Mitgliedsstaaten. Es gilt auch
für solche Strafen im weiteren Sinne, die von Verwaltungsinstanzen
verhängt werden86 • § 3 OWiG und Art.! Abs.! des italienischen Geset-
zes Nr.689/81 halten dies ausdrücklich fest. Das Verbot einer ex post
facto-Normgebung hat als allgemeiner Rechtsgrundsatz auch im Ge-
meinschaftsrecht Geltung, wie der Gerichtshof bereits im Bosch-Urteil
festgestellt hatS8 • Er hat insbesondere für Unternehmen in solchen

83 Jescheck, Allgemeiner Teil, S. 107, 109, je m. N.


34 Vgl. Tiedemann, Tatbestandsfunktionen (Fn. 14), S. 90 ff., 95 f. m. N.
35 Vgl. insbes. Göhler (Fn.14), § 3 Rdnr.l; Maunz/Düng/Herzog, Grund-
gesetz, Kommentar, Bd.III (Stand Sept. 1983), Art. 103 Abs.2 Rdnr. 114; Pe-
drazzi/Dolcini (Fn. 21), Anm. 9.
Allgemeiner Teil des europäischen supranationalen Strafrechts 1423

Staaten Bedeutung erlangt, die erst nachträglich Mitglied der Gemein-


schaften geworden sind. So war die zwischen dem englischen Hersteller
von Schallplattenreinigungsmitteln Cecil E. Watts Ltd. und dem nieder-
ländischen Unternehmen Tepea BV ab 1956 praktizierte mündliche
Marktaufteilung, die dem letzteren Unternehmen den Alleinvertrieb
für die Niederlande zugestand, nach Ansicht des Gerichtshofes erst seit
dem EG-Beitritt Großbritanniens am 1. Januar 1973 ordnungswidrig,
da sich die aus der Vereinbarung entstandenen Wettbewerbsbeschrän-
kungen bis zu diesem Zeitpunkt lediglich auf den Binnenhandel der
Niederlande, nicht dagegen auf den Handel zwischen den Mitglieds-
staaten der Gemeinschaften, auswirkten37• Allerdings läßt diese Aus-
sage über die spätere Eignung der Vereinbarung zur Beeinträchtigung
des Handels zwischen den Mitgliedsstaaten und zur Einschränkung des
Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes die Frage unbeant-
wortet, ob nicht der Abschluß dieser Vereinbarung deshalb nicht ord-
nungswidrig war, weil er bereits im Jahre 1956, also vor dem Vertrag
zur Gründung der EWG, vorgenommen wurde. Bekanntlich stellt
Art. 85 Abs.1 EWGV - anders als § 38 Abs. 1 Nr.1 i. V. m. § 1 GWB -
schon die wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung ordnungswidrig.
Da Art. 85 Abs. 1 selbst keine Bußgelddrohung enthält, ist der Abschluß
wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen sogar erst seit Inkrafttre-
ten von Art. 15 der Verordnung Nr.17 am 6. Februar 1962 ordnungs-
widrig geworden. Liegt aber die ordnungswidrige Tathandlung bei
Kartellverträgen mit dem Zweck der Wettbewerbsbeschränkung ein-
deutig in dem Abschluß der Vereinbarung, so stellt das spätere Prak-
tizieren derselben in der Sprache der deutschen Dogmatik die Verwirk-
lichung eines Erfolges dar, der selbst nicht mehr zum Tatbestand der
1. Alt. von Art. 85 Abs. 1 gehört. "Begangen" i. S. d. §§ 3, 6 OWiG ist die
vom Erfolgseintritt unabhängige Handlung daher im Fall Tepea-Watts
vor dem 1. Januar 1973. Art. 1 Abs.1 des italienischen Ordnungswidrig-
keitengesetzes hebt ebenfalls auf die Begehung ab, und diese auch im
Kriminalstrafrecht geltende Regel (vgl. nur § 8 S.2 deutschesStGB!)
entspricht durchaus der ratio des Rückwirkungsverbotes: dem Täter
bei Vornahme der Handlung (I) eine Voraussicht und Berechenbarkeit
ihrer Rechtsfolgen zu ermöglichen und ihn durch die Strafdrohung von
der Begehung der strafbaren Handlung abzuhalten38• Wirtschaftspoli-

38 Urt. v. 6.4.1962 (13/61) RsprGH 1962, 97 ff.; ebenso Kommission in


RsprGH 1979, 1869, 1892 in den verbundenen Rechtssachen Hugin Kassa-
register AB und Hugin Cash Registers Ltd.; zusammenfassend auch Deringer
(Fn. 18), Art. 15 Rdnrn. 10, 24; Mailänder (Fn. 18), Rdnr.93; Schroth (Fn.8),
S. 164 m. w. N.
37 Urt. v. 20.6. 1978 (28/77) RsprGH 1978, 1391, 1415 ff.
M Vgl. Jescheck, Allgemeiner Teil, S. 109; Roxin!Arzt!Tiedemann, Einfüh-
rung in das Strafrecht und Strafprozeßrecht, 1983, S. 60 f.; Eser, in: Schönke!
Schröder, 21. Auf!. 1982, § 8 ~dnr. 2 m. w. N.
1424 Klaus Tiedemann

tisch erscheint es natürlich kaum tragbar, Altkartelle nur deshalb von


Art. 85 Abs. 1 und von der Bußgelddrohung in Art. 15 Abs. 2 lit. a Ver-
ordnung Nr. 17 auszunehmen, weil sie vor dem Zeitpunkt des Inkraft-
tretens der Verbots- bzw. Sanktionsnorm abgeschlossen wurden. Als
Ausweg bietet sich mangels einer besseren Lösung des Gemeinschafts-
gesetzgebers an, die in Art.85 Abs. 1 ebenfalls für verboten erklärte
Praktizierung aufeinander abgestimmter wettbewerbsbeschränkender
Verhaltensweisen als gegeben anzusehen und damit die Verwirklichung
der vertraglichen Vereinbarungen ebenfalls für ordnungswidrig zu er-
klären. Eine solche Auffassung, welche die abgestimmte Verhaltens-
weise im Verhältnis der möglichen Tathandlungen nach Art. 85 Abs.l
EWGV entweder zum Grundtatbestand oder als (nur in der Regel
straflose) Nachtat erklärt, geht freilich sehr weit; die Teilnahme drit-
ter Unternehmen dürfte aber auch nach dieser Auffassung nur dann
ordnungswidrig werden, wenn die beteiligten Unternehmen Wettbe-
werber, Anbieter oder Nachfrager sind oder wettbewerbsbeschränkende
Nebenabreden in Austauschverträgen treffen39•

b) Damit ist bereits der inhaltliche Bereich der Auslegung und


Rechtsanwendung angesprochen. Er wird vor allem durch das Verbot
der Analogie in malam partem geprägt und durch den praktisch wich-
tigeren Grundsatz der Bestimmtheit von Straf- und Bußgeldtatbestän-
den ergänzt. Zwar richtet sich das letztgenannte Gebot primär an den
Gesetzgeber. Es ist aber auch für die Auslegung und Rechtsanwendung
von Bedeutung: Unbestimmte (und daher nach deutscher Auffassung
verfassungswidrige40) Straf- und Bußgeldgesetze können dadurch die-
sem Gebot entsprechend angewandt werden, daß sie eng ausgelegt wer-
deii. Zwar isfin den Mifg1iedsstaaten durChaus umstritten, ob im Straf-
recht allgemein ein Gebot enger Auslegung gi1t41 • Jedoch kommt es auf
diesen Streit hier bei dem Spezialproblem besonders unbestimmter
Tatbestände nicht an (so daß auch nicht näher darauf einzugehen ist,
daß insbesondere in der französischen Lehre und Rechtsprechung, die
von einem allgemeinen Grundsatz der interpretation stncte de la loi
penale ausgeht, diese Aussage stets ein bloßes Lippenbekenntnis ge-
blieben ist. Das statute law im angelsächsischen Rechtskreis wird da-
gegen in der Tat eng ausgelegt.) Die restriktive Handhabung von (zu)

3' Vgl. Lübbert, Das Verbot abgestimmten Verhaltens im deutschen und


europäischen Kartellrecht, 1975, S. 79 und - zu § 25 Abs. 1 GWB - neuestens
Brunner, Der Täterkreis bei Kartellordnungswidrigkeiten, Diss. Freiburg
1984, Kap. 2 I 3 b.
40 BVerfGE 37, 271, 283 H., nimmt für sich das Recht in Anspruch, die ge-
meinschaftsrechtlichen Vorschriften auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grund-
rechtskatalog des Grundgesetzes zu überprüfen!
41 Jescheck, Allgemeiner Teil, S.125; Tiedemann, Delitala-Gedächtnis-
schrift, 1985, je m. N.
Allgemeiner Teil des europäischen supranationalen Strafrechts 1425

weiten Tatbestandselementen, insbesondere von Generalklauseln, ist


demgegenüber vor allem bei Verweisung auf außerrechtliche Maßstäbe,
z. B. der Verkehrssitte, aus der anglo-amerikanischen und aus der
deutschen Rechtsprechung zum Strafrecht bekannt42 • Der XIII. AIDP-
Kongreß 1984 in Kairo hat eine solche enge Auslegung von Generalklau-
seln im Wirtschaftsstrafrecht zu Recht einstimmig gefordert43 • Be-
stimmtheitsgebot, Auslegung und Analogie gehören so in ein- und den-
selben Zusammenhang.
Die enge Auslegung unbestimmter Tatbestandsmerkmale und Gene-
ralklauseln ist allerdings bereits im deutschen Kriminalstrafrecht kei-
neswegs unbestritten44 • Im Ordnungswidrigkeitenrecht wird zusätzlich
geltend gemacht, daß - entsprechend der Judikatur des Bundesver-
fassungsgerichts zur Stufung der Bestimmtheitsanforderungen je nach
der Schwere der Sanktion - die weniger gravierende Wirkung der
Geldbuße gewisse Mängel der Gesetzesbestimmtheit als hinnehmbar
erscheinen lasse45 • Dieser Gesichtspunkt trifft im Gemeinschaftsrecht
freilich von vornherein nur für die bagatellhaften Bußgeldsanktionen
zur Bewehrung von Verfahrensbefugnissen der Kommission zu. Die
Bewehrung und praktische Ahndung von Verstößen gegen die mate-
riellen Verbote des Gemeinschaftsrechts erreicht dagegen Größenord-
nungen, die an den von Jescheck in diesem Zusammenhang gerügten
Etikettenschwindel denken lassen46 und erst jüngst Schroth dazu ge-
führt haben, in den gemeinschaftsrechtlichen Geldbußen wirkliche (kri-
minelle) Strafen zu sehen47 •
Als Musterbeispiel für eine Generalklausel kann Art. 86 EWGV gelten,
dessen Verbot der "mißbräuchlichen Ausnutzung einer beherrschenden
Stellung auf dem Gemeinsamen Markt oder auf einem wesentlichen
Teil desselben" in Abs.2 durch vier Fallgruppen beispielhaft erläutert
und konkretis1ert wird. Im Fall HotJmann-La Rache hat der Gerichtshof
den Einwand, Art. 86 sei zu unbestimmt, vor allem mit dem Hinweis auf

42 BGHSt.4, 24, 32, und NJW 1977, 1695 f.; GöhZer (Fn.14), Rdnr.19 (a. E.)
vor § 1; Jescheck, Allgemeiner Teil, S. 102 f.; Lenckner, JuS 1968, 304, 308 f.;
Tiedemann, Wirtschafts strafrecht I, S. 199 f., und bereits ders., Tatbestands-
funktionen (Fn. 14), 1969, S. 196 m. N. zum US-Recht.
43 Vgl. zuvor die einstimmig gefaßte Resolution des Freiburger AIDP-Kol-
loquiums, Revue Internationale de Droit Penal 1983, 78, und bei Sieb er,
ZStW 96 (1984), S. 258, 270 f.
4' Vgl. nur Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1983, S. 67 f.
45 Dazu BVerfGE 14, 245, 251; GöhZer (Fn. 14), § 3 Rdnr.5; Steindorff, La-
renz-Festschrift, 1973, S.217, 238 f.; Tiedemann, Tatbestandsfunktionen (Fn.
14), S. 197 f. m. w. N. insbes. auch zum angelsächsischen Rechtskreis. über
ähnliche Tendenzen der italien. Lehre Picotti, Giurisprudenza di Merito 1982,
1005, 1011 m. N. in Fn. 20.
48 Jescheck, JZ 1959,462.

47 Schroth (Fn. 8), S. 187 und wistra 1984, 165 Fn. 9.

90 Festschrift für H.-H. Jescheck


1426 Klaus Tiedemann

die Möglichkeit der Einholung eines Negativattestes der Kommission ge-


mäß Art. 2 va Nr. 17 zurückgewiesenes. In der Tat stellt die Möglichkeit
des Negativattestes ein geeignetes Mittel dar, Anwendungsbereich und
Reichweite des Art. 86 (und des Art. 85 Abs. 1) zu klären - zwar nicht
im strikt materiell-rechtlichen, wohl aber in einem prozeduralen Sinne.
Im Fall General Motors Continental NV verneinte der EuGH dagegen
das Vorliegen eines Mißbrauchs vor allem deshalb, weil die Betroffene
bereits vor Einleitung des Bußgeldverfahrens die Preisdiskriminierung
nach Art. 86 Abs.2 lit. a beseitigt und die erzielten Mehreinnahmen an
die benachteiligten Händler zurückerstattet hatte 49 • Die Berücksichtigung
dieses Faktums, das aus streng dogmatischer Sicht als bloßer Strafzu-
messungsfaktor erscheinen mag (vgl. § 46 Abs.2 a. E. deutsches StGB),
unter dem Allgemeingesichtspunkt der "konkreten, zeitlichen und tat-
sächlichen Umstände" deutet zumindest im Ergebnis oder der Tendenz
nach auf eine restriktive Handhabung des Art. 86 in bußgeldrechtlicher
Hinsicht hin (wobei der Sonderbereich einer - durch den EWGV nicht
ausdrücklich geregelten - Zusammenschlußkontrolle hier nicht ange-
sprochen werden sollSO). Im Falle des Preismißbrauchs manifestiert sich
diese Tendenz auch in dem Erfordernis einer evidenten, nämlich offen
zutage liegenden, Diskrepanz zwischen gefordertem Preis und erbrach-
ter Leistung51 •
Weitere Erscheinungen und Hilfsmittel einer restringierenden Norm-
handhabung ergeben sich daraus, daß es im bußgeldbewehrten Wirt-
schaftsrecht nicht selten unterschiedliche Möglichkeiten der Berechnung
einzelner Parameter wie An- oder Verkaufspreis, Erzeugungs- oder
Absatzquote usw. gibt. Ein Beispiel dafür ist der Streit um die Art der
Bereclmung der Erzeugungsquote im Fall der niederländischen Stahl-
firma Estel. Hier entspricht es dem Bestimmtheitsgrundsatz, den Buß-
geldtatbestand nur dann anzuwenden, wenn der Sachverhalt nach dem
gemeinsamen Ergebnis aller ernsthaft vertretbaren Berechnungsmetho-
den den Verstoß als feststehend erscheinen läßt. Diese Auffassung ist
inzwischen zur Berechnung der überschuldung im neuen deutschen
Konkursstrafrecht (§ 283 Abs.1 StGB) herrschend52 • Ein entsprechendes
Ergebnis wird in der Praxis mehrerer Mitgliedsstaaten mit dem rechts-
es Urt. v. 13.2. 1979 (85/76), RsprGH 1979, 461, 554; dazu Tiedemann, Multi-
nationale Unternehmen und Strafrecht, 1980, S. 24.
4D Urt. v. 13.11.1975 (26/75), RsprGH 1975, 1367, 1380; dazu Tiedemann,
Multinationale Unternehmen und Strafrecht, S. 23.
GO VgI. dazu den Entwurf einer Fusionskontrollverordnung aus dem Jahre
1982, ABI. EG Nr. C 36/1982 S.3, und Gleiss/Hirsch/Bechtold/Hootz (Fn.4).,
Art. 86 Rdnr. 99 ff.
61 Zusammenfassend Mailänder (Fn.18), EWG-Vertrag Art.86 Rdnr.64
m. N., der es aber zutreffend ablehnt, den Anwendungsbereich von Art. 86
ganz auf die in S. 2 genannten Fallgruppen zu beschränken.
52 VgI. Tiedemann, in: LK, 10. Auft. 1984, Rdnr. 145 vor § 283 m. N.
Allgemeiner Teil des europäischen supranationalen Strafrechts 1427

staatlichen Grundsatz in dubio pro reo begründet53 • Dieselbe Begrün-


dung führt BGHSt. 30, 285 (288) im Hinblick auf die Beurteilung der
Unrichtigkeit von Bilanzen an; insoweit hatte bereits das Reichsgericht
in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, daß nur offen-
sichtliche, "ins Auge springende" Unrichtigkeiten den Straftatbestand
erfüllen5'. In der Tat hat das methodische Vorgehen bei der Ausgren-
zung unklarer rechtlicher Randbereiche des Straf- oder Bußgeldtat-
bestandes Ähnlichkeit mit der Verwerfung unsicherer Feststellungen
im Tatsachenbereich. Hilfsweise ist es auch möglich und richtig, diese
Grenzbereiche und Grauzonen als Problem der Schuld(minderung) an-
zusehen, wie es der Schluß antrag des Generalanwalts Reischl in der
Rechtssache HotJmann-La Roche meinte 55 • Jedoch ist die Bestimmung
des relevanten Umfanges und Inhaltes eines Bußgeldtatbestandes sowie
der bußgeldrechtlichen Norm primär und zunächst eine objektive Frage
der Rechtsgeltung und der Rechtsauslegung. Es entspricht freilich dem
pragmatischen Denken des EuGH, daß er in der Bußgeldsache Estel nur
eine Milderung der Sanktion vornahm, um den als berechtigt anerkann-
ten Zweifeln dieses Unternehmens gegenüber der mit zeitlichen Ver-
zögerungen vorgenommenen Bekanntgabe der Berechnungsmethode
durch die Kommission Rechnung zu tragen55 •
Die Grenzen der Analogie sind im übrigen vor allem auch dort zu be-
achten, wo das Vorliegen einer Rechtssatzergänzung durch den Schein
bloßer Auslegung verdeckt wird. Wenn insbesondere nach dem Ratschlag
JeschecJcs57 die durchweg wirtschaftlichen Begriffe des EGKS-Vertrages
"nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten ausgelegt werden" sollten, so
ist dies im Prinzip zweifellos richtig, soweit nämlich die Begriffe aus
dem Wirtschaftsleben und aus den Wirtschaftswissenschaften übernom-
men sind (wie z. B. die Begriffe Markt, Wettbewerb, Erzeugung, Absatz).
Soweit die Begriffe dagegen gemeinschaftsrechtlich definiert oder auch
nur durch gemeinsame Rechtsgrundsätze der Mitgliedsstaaten verfestigt
oder zumindest vorgeformt sind (z. B. Vereinbarung, Vertragsstrafe, Be-
dingung, Genehmigung, Boykott, Zusammenschluß von Unternehmen),
verdient dies Beachtung58• Ebenso ist es beachtlich, daß der überschrei-
tung des Wortlautes von Verbotsnormen die übermäßige Beschränkung
des Inhaltes von rechtlich eingeräumten Befugnissen - in ihrem Kern-

53 Vgl. RsprGH 1979,461,471 (Hoffmann-La Roche).


$4 RGZ 120, 363, 367; Tiedemann, ZStW 94 (1982), S.299, 328, und ders.
(FN 52), § 283 Rdnr. 136 m. w. N.
65 RsprGH 1979,461, 597.

55 Urteil des Gerichtshofes vom 29. 2. 1984 (270/82), noch nicht veröffentlicht.

57 ZStW 65 (1953), S. 504 = Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft, S.461.


58 Näheres bei Tiedemann, in: Immenga/Mestmäcker (Fn. 14), Rdnr.23 vor
§ 38 m. N.; Cadus, Die faktische Betrachtungsweise (1984).

90·
1428 Klaus Tiedemann

gehalt - entspricht. Auch solche "Gegen-Analogie", z. B. im Bereich der


Genehmigungs- und Freistellungsnormen des Gemeinschaftsrechts, fällt
unter das Analogieverbot, da und soweit es sich um das Ausfüllen von
Lücken handelt, die vor allem im Fehlen einer ausdrücklichen Einschrän-
kung liegen könnensD •
Ein Problem der Auslegung des Gemeinschaftsrechts ist es auch, daß
die weite Fassung der meisten Bußgeldtatbestände des Gemeinschafts-
rechts bewußt darauf verzichtet, den Versuch gesondert zu erfassen.
(Die ausdrücklichen Ausnahmen in Art. 65 § 5 und Art. 66 § 6 EGKSV
haben sachlich nur geringe Bedeutung.) Diese Entscheidung des Gesetz-
gebers für die Beschränkung der Ordnungswidrigkeit auf vollendete
Zuwiderhandlungen darf nicht durch ausweitende Auslegung oder gar
Ergänzung der Bußgeldtatbestände und Verbotsnormen umgangen
werden - mag auch vor allem bei der Ordnungswidrigkeit abge-
stimmten Verhaltens im Wettbewerb die Grenzziehung schwierig sein,
zumal insoweit materiell-rechtliche und Beweis-Argumente in der
Praxis besonders häufig durcheinander geraten. Die bloße "Fühlung-
nahme" oder Empfehlung als möglicher Versuch einer Vereinbarung
oder Abstimmung ist nicht ordnungswidrig, da tatbestandslos, so wie
auch die Abstimmung selbst - im Gegensatz zur Vereinbarung - vor
ihrer Verwirklichung durch "Verhaltensweisen" (noch) nicht ordnungs-
widrig ist.
IV.
Der Unrechts- und Schuldausschluß trotz Tatbestandserfüllung ist im
Gemeinschaftsrecht ebenfalls nicht ausdrücklich geregelt. Seine Möglich-
keiten und Grenzen ergeben sich daher aus allgemeinen Rechtsgrund-
sätzen der Mitgliedsstaaten. Da insoweit die Kategorien von Rechts-
widrigkeit und Schuld nicht immer mit der aus der deutschen Dogmatik
und Gesetzgebung bekannten Gründlichkeit unterschieden werden und
aus dem Fehlen dieser Unterscheidung im Gemeinschaftsrecht auch
keine Konsequenzen für die Bestrafung von Teilnehmern entstehen,
sollen die etwaigen Rechtfertigungs- und mögliche Schuldausschlie-
ßungsgründe gemeinsam behandelt werden.

1. a) Das Verfahren der im Gemeinschaftsrecht mehrfach vorgesehe-


nen Anmeldung, Freistellung oder Genehmigung (vgl. nur Art. 85 Abs. 3
EWGV, Art.65 § 2 EGKSV) läßt bei erfolgreicher Durchführung die
Rechtswidrigkeit entfallenllO• Da die Freistellungserklärung aber nach

S9 Tiedemann, in: ImmengajMestmäcker (Fn. 14), Rdnr.25 vor § 38, und


ders., NJW 1980, 1557, 1558 f. m. N.
ao Vgl. Jescheck, Allgemeiner Teil, S.296; ferner Göhler (Fn.14), Anm.4
C b vor § 1; Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht I, S.152; a. A. Horn, UPR 1983,
362, 367 (Strafausschließungsgrund).
Allgemeiner Teil des europäischen supranationalen Strafrechts 1429

Art. 85 Abs. 3 EWGV allenfalls bis auf den Zeitpunkt der Anmeldung
zurückwirken kann (vgl. Art. 6 VO Nr. 17) und dieser Zeitpunkt anderer-
seits durch Art. 15 Abs.5 VO Nr. 17 als Beginn der Bußgeldfreiheit
garantiert ist, bleibt ein Verhalten vor Anmeldung grundsätzlich ord-
nungswidrig (so daß die Anmeldung vor oder bei Wirksamwerden der
Vereinbarung erfolgen sollte!). Für die Annahme einer weitergehenden
Rückwirkung der Freistellung ist nach h. M. hier wie auch sonst im Straf-
und Bußgeldrecht kein RaumsI: Die Strafbarkeit bzw. Ordnungswidrig-
keit eines Verhaltens muß grundsätzlich im Zeitpunkt seiner Vornahme
beurteilt werden können. Zwar nimmt die Kommentarliteratur teil-
weise an, das materielle Vorliegen der Freistellungskriterien sei "nega-
tive Tatbestandsvoraussetzung" oder "negative objektive Strafbarkeits-
bedingung"tI2. Dies ist schon deshalb zweifelhaft, weil die inhaltlich an
das französische Kartellstrafrecht angelehnten Freistellungsgründe des
Art.85 Abs.3 von solcher Unbestimmtheit und Weite sind, daß trotz
Anerkennung eines Rechtsanspruches auf Freistellung bei Vorliegen
dieser Voraussetzungen ein weitreichendes Beurteilungsermessen der
Behörde besteht. Materiell-rechtlich gäbe es daher nur den Ausweg,
trotz der soeben genannten Bedenken bei Anmeldewilligkeit der Betei-
ligten und Vorliegen der Freistellungsvoraussetzungen den Tatbestand
des Art. 85 Abs.1 zu verneinen, da die Vereinbarung dann jedenfalls
keine Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt. Da aber Art. 4 VO Nr.17
keine Frist für die Anmeldung setzt und in Abs. 1 S.2 bis zur erfolgten
Anmeldung von der Rechtswidrigkeit des Verhaltens ausgehte3 , kann die
mißlungene und von § 38 Abs.1 Nr. 1 GWB bewußt vermiedene Kon-
struktion des Bußgeld-Gesetzgebers im EWG-Bereich nur durch eine
entsprechende zivil rechtliche Vertragsgestaltung oder -auslegung (still-
schweigende aufschiebende Bedingung bei Anmeldewillen der Vertrags-
parteien!) oder aber verfahrensmäßig bereinigt werden, indem insbe-
sondere bei Bestehen des Anmeldewillens der Beteiligten eine nur kurze
Dauer der Ordnungswidrigkeit (zwischen Vertragsschluß und Anmel-
dung) nicht zur Verfolgung führt. - Für das Genehmigungsverfahren
nach Art.65 EGKSV ist die Rechtslage insofern klarer, als hier die

SI VgI. nur Tiedemann, Tatbestandsfunktionen (Fn.14), S.275, und ders.,


in: Immenga/Mestmäcker (Fn. 14), Rdnr.36 vor § 38; wohl auch Gleiss/Hirschl
BechtoldlHootz (Fn.4), Rdnr.31. Die abweichende Konstruktion Cramers (in:
Schönke/Schröder, 21. Aufl. 1982, Rdnr. 21 vor § 324), der in der nachträglichen
Genehmigung einen Strafaufhebungsgrund sehen will, wird von der ganz
h. M. im Strafrecht abgelehnt (vgI. nur Laufhütte/Möhrenschlager, ZStW 92
[1980], S.912, 921; Möhrenschlager, WiVerw. 1984, 47, 66 m. N.); ebenso aber
zu Art. 15 VO Nr.17 Grabitz/Koch (Fn.4), Rdnrn.26 u. 55, sowie Mailänder
(Fn. 18), Rdnr. 93.
S2 SO GrabitzlKoch (Fn. 4), Rdnrn. 27 u. 57.
63 KOME 72/403/EWG ABI. Nr. L 272/35 v. 5.12.1972 (Pittsburgh Corning);
Mailänder (Fn. 18), Rdnr.94.
1430 Klaus Tiedemann

"klassische" Genehmigung auf keinen Fall zurückwirkt 64 und auch das


materielle Vorliegen der Genehmigungsvoraussetzungen nach allgemei-
nen Grundsätzen65 keine rechtfertigende Kraft besitzt.
b) Neben diesen Anmeldungs-, Freistellungs- und Genehmigungsmög-
lichkeiten und neben den noch zu erwähnenden anerkannten Rechts-
figuren der Rechtfertigung und Entschuldigung ist für die Annahme
eines Unrechts- oder Schuldausschlusses aufgrund allgemeiner Erwä-
gungen (rule of reason) kein Raum. Die überlegungen der Literatur zur
Rechtfertigung eines ordnungswidrigen, da wettbewerbsbeschränken-
den, Verhaltens aus Gründen des Gesundheitsschutzes (Beschränkungen
der Werbung für Zigaretten oder in der Abgabe von Arzneimittel-
mustern!), der technischen Sicherheit (Normung von Doppelsteckern für
elektrische Steckdosen!) usw. sind bereits nach deutschem Wettbewerbs-
(ordnungswidrigkeiten)recht nicht haltbar, wie an anderer Stelle dar-
gelegt". Soweit diesen Gesichtspunkten daher nicht bei der Auslegung
der Bußgeldtatbestände oder durch Inanspruchnahme verfahrensmäßig
vorgesehener Freistellungen usw. Rechnung getragen werden kann,
bleibt auf der Ebene von Rechtswidrigkeit und Schuld nur der Rück-
griff auf die "klassischen" Rechtsfiguren, denen wir uns im folgenden
mit der aus Raumgründen gebotenen Kürze zuwenden.

2. Unter den allgemeinen Rechtfertigungsgründen heben das deut-


sche und das neue italienische Ordnungswidrigkeitengesetz ausdrück-
lich das Notwehrrecht hervor (§ 15 OWiG, Art.4 Abs.l italien. Gesetz
Nr. 689/1981). Dieses ist auch im Gemeinschaftsrecht anerkannt und hat
seitens des Gerichtshofes insbesondere in den Urteilen gegen die italie-
nisChe Stahlindustrie07 eine der üblichen Umschreibung entsprechende
Definition gefunden.
Allerdings besteht Einigkeit darüber, daß die Notwehr im Bußgeld-
recht nur eine geringe Rolle spielt. Insbesondere der beliebte Einwand,
Notwehr gegenüber rechtswidrig handelnden Wettbewerbern geübt zu
haben, ist vom EuGH wiederholt und zu Recht verworfen worden88 • Ein

8& Vgl. Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht I, S. 152, und ders., NJW 1979,


1853.
85 Vgl. LaufhüttelMöhrenschlager, ZStW 92 (1980), S.921; Tiedemann, Die
Neuordnung des Umweltstrafrechts, 1980, S. 39 m. N.
00 Tiedemann, NJW 1979, 1853 f., und ders., in: Immenga/Mestmäcker
(Fn. 14), Rdnrn. 40 ff. vor § 38; zweifelnd aber z. B. Oehler, Internationales
Strafrecht, S. 565 Rdnr. 941, und ders., Dando-Festschrift, S.139 m. w. N.; auch
GleisslHirschlBechtoldlHootz (Fn.4), Art. 15 VO Nr. 17 Rdnrn. 31 u. 32.
87 RsprGH 1962, 581 ff., 612 (Modena); RsprGH 1980, 911 ff., 1021 (Valsab-
bia).
08 Zuletzt Urt. v. 7.6.1983 (100 - 103/80) in Sachen Pioneer Electronic,
WuW/E EWG/MUV 1984, 617 ff.
Allgemeiner Teil des europäischen supranationalen Strafrechts 1431

wirklicher Anwendungsbereich verbleibt für die Notwehr daher wohl


nur beim sog. Abwehrboykott89 • Strafrechtliches Allgemeingut aller ent-
wickelten Rechtsordnungen ist weiter die Erkenntnis, daß gegenüber
rechtmäßigem, aber auch gegenüber rechtswidrigem, Vorgehen von Ver-
waltungsbehörden, also z. B. gegenüber einem rechtswidrigen Aus-
kunfts- oder NachpTÜjungsverlangen der Kommission, keine Notwehr
möglich ist, sondern nur der vom Gesetz eröffnete Rechtsweg offen steht.
Die Valsabbia- und Thyssen-Urteile des EuGH bestätigen dies aus-
drücklich70.
Angesichts dieser geringen praktischen Bedeutung des Notwehrrech-
tes gewinnt die Behandlung von Fällen des Notstandes und notstands-
ähnlicher Lagen Interesse. Ausgangspunkt der zunächst recht pragmati-
schen Entwicklung des Gemeinschaftsrechts ist zum einen, daß auch ein
nachhaltiges Ungleichgewicht des Marktes (bis hin zur Gefährdung der
Ziele der Gemeinschaften) keine wettbewerbsbeschränkenden Praktiken
oder andere Zuwiderhandlungen erlaubt oder entschuldigt7' . Zum ande-
ren ist - entsprechend den zurückhaltenden Common Law-Rechtsord-
nungen und dem französischen Rechtssystem - jedenfalls der Einwand
der Unmöglichkeit (defence of impossibility) bzw. der höheren Gewalt
(force majeure) beachtlich7!. Daß die rechtliche Beachtlichkeit außerhalb
des Bereichs der Bußgeldzumessung aber auf außergewöhnliche Um-
stände zu begrenzen ist, hat der Gerichtshof u. a. in den Valsabbia-
Urteilen dargelegt: Ein Fall höherer Gewalt darf "nur anerkannt wer-
den, wenn sich der Betroffene auf eine äußere Ursache berufen kann,
deren Folgen unvermeidbar und unausweichlich sind und dem Betrof-
fenen die Einhaltung seiner Verpflichtungen objektiv unmöglich
machen"73. - Ein weitergehendes Recht des (rechtfertigenden oder ent-
schuldigenden) Notstandes nimmt der Betroffene dagegen in Anspruch,
wenn er sich darauf beruft, die Fortführung seines Unternehmens sei
ernsthaft gefährdet, wenn z. B. die von der Kommission festgesetzten
Preis- oder Quotenregelungen beachtet worden wären. Während der
Gerichtshof diese Einlassung im eigentlichen Valsabbia-Urteil und spä-
ter noch einmal im Pioneer Electronic-Urteil als tatsächlich unzutreffend
zurückweisen konnte74, knüpfte er im ersten Klöckner-UrteiF' (ähnlich
8D Grundsätzlich dazu Simmler, Der wirtschaftliche Boykott als Kartell-
ordnungswidrigkeit und Straftat, Diss. Freiburg 1981.
70 RsprGH 1980, 911 ff. (Valsabbia), und Urt. v. 16. 11. 1983 (188/82) in Sachen
Thyssen, RIW 1984, 48 ff.
71 KOME 75177/EWG, ABI. Nr. L 29/26 v. 3.2.1975 (Pilzkonserven); Gleiss/
Hirsch/Bechtold/Hootz (Fn. 4), Rdnr. 33.
72 RsprGH 1980, 911, 1022 in Sachen Valsabbia u. a. und bereits RsprGH
1968,561,574 (Schwarzwaldmilch).
73 RsprGH 1980, 907, 1022. Ähnlich auch RsprGH 1979, 2435, 2478 (BMW
Belgium SA).
74 Vgl. Fn. 68.
1432 Klaus Tiedemann

wie bereits in einem der Valsabbia-Urteile im Hinblick auf die italieni-


sche Firma Antonio Stefana76 ) an die rechtliche Voraussetzung an, die
Gefahrenlage dürfe nicht von dem Betroffenen selbst verursacht worden
sein. Natürlich spielt aber in der Judikatur des EuGH auch das Argu-
ment eine Rolle, daß die Wirtschaftskrise alle Stahlunternehmen mehr
oder weniger gleichmäßig betrifft und die aufgrund des Art. 58 EGKSV
erlassenen Marktordnungsregelungen dieser Krise steuern sollen. Die
Berücksichtigung individueller Notstandslagen muß daher auf atypische
und besonders gravierende Situationen beschränkt bleiben. Dem natio-
nalen Betrachter drängt sich insoweit der Vergleich mit der deutschen
Nachkriegsjudikatur zum rechtfertigenden Notstand bei Verstößen gegen
Bewirtschaftungsbestimmungen auf 77 • Im Pioneer Electronic-Urteil fügt
der Gerichtshof das dem deutschen Recht entsprechende, aber aus-
legungsbedürftige, Erfordernis hinzu, daß die Notstandshandlung das
einzige Mittel gewesen sein muß, um das überleben des Unternehmens
zu sichern78 • Auch führt das Estel-Urteil aus, die temporäre überschrei-
tung von Produktionsquoten werde nicht dadurch entschuldigt, daß die
Häfen der (kanadischen) Abnehmer im Winter nicht eisfrei seien; dieses
Transport- und Klimarisiko falle in die Planungsverantwortung der
Unternehmen, die sich auch nicht darauf berufen könnten, daß der
Export in Drittländer den Gemeinsamen Markt nicht belaste: Das wirt-
schaftspolitische System der Wirtschaftsgemeinschaft läßt keinen Ein-
wand fehlender (konkreter) Gefährdung zu.
Damit dürfte einerseits feststehen, daß der Notstand (etat de neces-
site) auch im Gemeinschaftsrecht Geltung hat, wie er ja neuerdings auch
im italienischen Gesetz Nr.689/1981 (Art.4 Abs.1) ausdrücklich aner-
kannt ist. Andererseits dürfte seine Anwendung im Bußgeldrecht der
Gemeinschaften ebenso selten sein wie die Berufung auf ihn häufig ist -
sei es unter Gesichtspunkten der Unternehmensfortführung, sei es unter
dem Aspekt der Erhaltung von Arbeitsplätzen70 • Offen bleibt dagegen
die Frage, ob es neben dem in zahlreichen Rechtsordnungen bekannten
entschuldigenden Notstand gemeinschaftsrechtlich auch den in § 16 OWiG
geregelten rechtfertigenden Notstand gibt, der die Rechtswidrigkeit auf-
grund einer Abwägung bei Kollision von Rechtsgütern unterschiedlicher
76 Urt. v. 11. 3.1983, 303, 312/81, in Sachen Klöckner-Werke AG, WuW/E
EWG/MUV 1983, 583 ff.
76 RsprGH 1980, 907, 1026.

77 Vgl. OLG Hamm NJW 1952, 838 f.; BayObLG NJW 1953, 1603 f.; Lenck-
ner, in: Schönke/Schröder, 21. Aufl. 1982, § 34 Rdnr.9; Jescheck, Allgemeiner
Teil, S. 289.
78 Vgl. Fn. 68; vgl. dazu auch Tiedemann, NJW 1981, S. 945 ff.

79 Vgl. zum deutschen Recht insoweit BGH bei Tiedemann, Die Neuord-
nung des Umweltstrafrechts, S. 58, 60 f., und zuvor BGHSt. 5, 61, 66. Das fran-
zösische Recht kommt hier ohnehin nur zu einem Strafmilderungsgrund
(vgl. Schulz, Das französische Umweltstrafrecht, Diss. Freiburg 1984 m. N.).
Allgemeiner Teil des europäischen supranationalen Strafrechts 1433

Ranghöhe und Intensität ausschließt. Allerdings bezweifelt auch das


deutsche dogmatische Schrifttum zum OWiG, daß für die Differenzie-
rung VOn rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand im Rahmen
des Bußgeldrechts Raum ist80 • Nach dieser Literaturansicht soll die Ver-
letzung VOn Bußgeldvorschriften unter den Voraussetzungen des § 35
StGB stets oder doch regelmäßig ein Fall des rechtfertigenden Notstan-
des im Sinne des § 16 OWiG sein. Auf eine derartige Abwägung ohne die
vorgenannten zusätzlichen Restriktionen hat sich der Gerichtshof bisher
nicht eingelassen, so wie er auch zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld
kaum unterscheidet.
V.
Die Vorsatz- und Irrtumslehre des Gemeinschaftsrechts ist zweifellos
am wenigsten entwickelt und stellt daher, wie bereits einleitend hervor-
gehoben, den unsichersten Teil der gemeinschaftsrechtlichen Hand-
habung des Bußgeldrechts dar. Diese Vernachlässigung der primären
Schuldvoraussetzungen läßt sich vordergründig auf die Tatsache zurück-
führen, daß die meisten Bußgeldtatbestände des Gemeinschaftsrechts
neben vorsätzlicher auch die Ordnungswidrigkeit VOn nur fahrlässiger
Begehung vorsehen; insoweit liegt es für ein praktisch ausgerichtetes
Vorgehen nahe, zentralen und erst recht marginalen Rechtsfragen des
Vorsatzinhaltes auszuweichen und auf die (ohnehin identische) Bußgeld-
drohung für fahrlässiges Handeln zurückzugreifen. Bei näherem Zu-
sehen sind es aber eher der höchst unterschiedliche Stand der nationalen
Irrtumslehren sowie das erwähnte Fehlen einer deutlichen Unterschei-
dung von Rechtswidrigkeit und Schuld, die ein klares Konzept des Ge-
meinschaftsrechts in dieser Frage bisher verhindert und vor allem eine
zutreffende Erfassung des "Rechtsirrtums" bislang unmöglich gemacht
haben.

1. Das strafrechtliche Schuldprinzip (nulla poena sine culpa) ist bereits


im Ansatz weniger einheitlich anerkannt als der oben III 2 behan-
delte Tatbestandsgrundsatz. Das deutsche Strafrecht hat das Schuld-
prinzip bekanntlich aus dem niederländischen Strafrecht übernommen,
wo es seit dem berühmten Melk en Water-Beschluß des Hoge Raad vom
14. Februar 1916 anerkannt und umfassend verwirklicht ist. Heute gilt
das Schuldprinzip in der Bundesrepublik mit Verfassungsrang ohne Ein-
schränkung auch für das Nebenstrafrecht und für das Ordnungswidrig-
keitenrecht. Die traditionellen Formaldelikte und Schuldvermutungen
sind beseitigt8t, obwohl BVerfGE 9, 169 nicht jede Art der Schuldver-

80 Göhler (Fn. 14), § 16 Rdnr. 16 m. N.; übersicht zum ausländischen Recht


bei Jescheck, Allgemeiner Teil, S. 297.
81 Zur historischen Entwicklung rechtsvergleichend Tiedemann, Tatbe-
standsfunktionen (Fn. 14), S. 288 ff.
1434 Klaus Tiedemann

mutung im Verwaltungsstrafrecht für verfassungswidrig erklärte. Ge-


rade für das Prinzip der individuellen Vorwerfbarkeit hatte die bereits
erwähnte Entscheidung BVerfGE 20, 323 aber ausgesprochen, daß dieses
strafrechtliche Prinzip auch für nur strafähnliche Sanktionen gilt. - Für
Italien statuiert das Gesetz Nr.689/81 nunmehr in Art. 3 ebenfalls das
Erfordernis von Vorsatz oder Fahrlässigkeit, die als solche von der Ver-
waltungsbehörde als Ahndungsinstanz nachgewiesen werden müssen82 .
Für Belgien besteht vor allem nach den Novellen zum Steuerstrafrecht
aus dem Jahre 1981/82 Einigkeit darüber, daß auch das Verwaltungs-
strafrecht an den Schuldgrundsatz gebunden is~a.
Demgegenüber halten Frankreich und der angelsächsische Rechtskreis
noch weitgehend an der - früher verbreiteten - Auffassung fest, daß
im Nebenstrafrecht und im Verwaltungsstrafrecht kein Verschulden
oder jedenfalls kein (voller) Verschuldensnachweis erforderlich sei.
Allerdings unterliegt die Figur der "strict liability offences" zunehmen-
der Kritik, deren Berechtigung der AIDP-Kongreß in Kairo unterstri-
chen hat. Auch die "delits purement materiels" werden in einzelnen
Bereichen (und zeitlich schwankend) dem modernen Strafrechtsver-
ständnis angepaßt. Art. 369 a. F. Code des douanes, der es dem Richter
unter Androhung einer Schadensersatzpflicht untersagte, die von der
Zollverwaltung verhängte Geldstrafe herabzusetzen, wurde im Jahre
1977 aufgehoben. Zwei Entscheidungen der Cour de Cassation aus den
Jahren 1979 und 1981 84 bejahen das Verschuldenserfordernis, wenn
nebenstrafrechtlicher Tatbestand und Strafandrohung in ein- und dem-
selben Gesetz enthalten sind, und eine weitere Entscheidung der Cour
vom 5. Dezember 1983 stellt in einem Fall des Kreisverkehrs von Che-
mieprodukten im Hinblick auf die Straftatbestände falscher Ursprungs-
und Wertangaben im Code des douanes fest, daß die Rechtsprechung des
EuGH über den Umfang der Verpflichtung des Importeurs zur Her-
kunftsangabe ("telle qu'il la connait ou peut raisonnablement la con-
naitre") Vorrang gegenüber dem Grundsatz des französischen Zollstraf-
rechts hat, daß die Schuld des Straftäters vermutet und diese Vermutung
nur durch den Nachweis eines unüberwindlichen Irrtums widerlegt
werde (Art. 399 Abs.3 Code des douanes)85. Mit anderen Worten gesteht
82 Pedrazzi/Dolcini (Fn. 21), Art. 3 Anm.2.
8a Bosly/Spreutels (Fn.25), S. 131 f. m. N. Zu den Einschränkungen des
Schuldprinzips in den Niederlanden bei Bußgeldverhängung durch Verwal-
tungsbehörden Bos/de Haas/Haentjens/Keijzer/SchatJmeister (Fn.20), S. 473 f.
84 Urt. v. 5.6. 1979, Bulletin des Arrets de la Cour de Cassation en matiere
criminelle Nr. 191, und v. 12. 1. 1981, Bulletin des Arrets de la Cour de Cassa-
tion en matiere criminelle Nr. 14; dazu Pradel, Revue Internationale de Droit
Penal 1983, 275, 285.
85 Cour de Cassation, Rec. Dalloz Hebdomadaire 1984, Jurispr. S.217, 218
m. Anm. Cosson. Ein Beschluß der Cour vom selben Tage (Rec. Dalloz a. a. O.
S.219) erklärt in einem Fall des verschleierten Importes von bulgarischem
Allgemeiner Teil des europäischen supranationalen Strafrechts 1435

nunmehr auch das französische Verwaltungsstrafrecht jedenfalls für den


Geltungsbereich des Gemeinschaftsrechts zu, daß die Unkenntnis (z. B.
von der Herkunft der Waren) die Schuld selbst dann ausschließen kann,
wenn die Unkenntnis vermeidbar war. Dieser dem Berichterstatter
Cosson zu dankende Einfluß des Gemeinschaftsrechts auf das noch auf
Colbert zurückgehende drakonische französische Zollstrafrecht ist vor
allem deshalb bemerkenswert, weil sich bislang in der französischen
Doktrin nur vergleichsweise geringe Bemühungen gezeigt haben, dem
Schuldprinzip auch im Verwaltungsstrafrecht zur Geltung zu verhelfen.
Das Gemeinschaftsrecht geht ebenfalls vom Schuldprinzip aus8B , auch
wenn die meisten Bußgeldbestimmungen des EGKS-Vertrages keinerlei
Verschuldenserfordernis nennen. Es ist keine rechtskräftige Bußgeld-
entscheidung ersichtlich, die auf der Grundlage fehlenden Verschuldens,
insbesondere fehlender Fahrlässigkeit, verhängt worden wäre, und in
den Verfahren Thyssen und Estel haben die Generalanwälte Verloren
van Themaat und Slynn die Geltung des Schuldprinzips zutreffend be-
tontB7 • Selbst für die Bußgeldbemessung werden, soweit ersichtlich, nur
verschuldete Tatfolgen zugerechnet. Auch verfahrensmäßig müssen Vor-
satz und Fahrlässigkeit nachgewiesen werden88 • Trotz der für Vorsatz
und Fahrlässigkeit identischen Bußgeldrahmen des Gemeinschafts-
rechts sollte im übrigen für die Bußgeldzumessung entsprechend allge-
meiner Rechtsüberzeugung das Vorliegen von Fahrlässigkeit als weni-
ger schwerwiegend bewertet werdenB9 • Hiervon ist der Gerichtshof im
Fall Boehringer ausgegangen90 , auch wenn andere Urteile des Gerichts-
hofes sich mit der Annahme begnügen, daß "zumindest Fahrlässigkeit"
vorliege, ohne diesen Gesichtspunkt bei der Bußgeldbemessung inner-
halb der dort ausdrücklich genannten Faktoren noch einmal aufzugrei-
fen 9l •

Weinmost und niederländischem Kunstwein das im Text genannte Prinzip


des Vorranges des Gemeinschaftsrechts für unanwendbar, da die Waren
durch betrügerische Machenschaften in die Gemeinschaft gelangt sind bzw.
einem Einfuhrverbot unterliegen. Die Durchbrechung der strengen Irrtums-
lehre des Code des douanes gilt also nur für den Fall, daß Gemeinschafts-
recht wirklich Anwendung findet! - Gesamtübersicht zur Lehre (und Recht-
sprechung) vom delit purement materiel bei Levasseur, Doctrina Penal 1983,
241 ff. m. zahlr. N.; auch Mattes (Fn. 20), S. 314 ff.
81 Vgl. für das EWG-Recht Deringer (Fn. 18), Art. 15 VO Nr. 17 Rdnr.6;
GrabitzlKoch (Fn.4), Rdnr.29; GleisslHirschlBechtoldlHootz (Fn.4), Rdnr.35;
Schröter (Fn.18), Art.87 Rdnr.32, je m. N.; für das EGKS-Recht Jescheck,
ZStW 65 (1953), S. 508 f. = Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft, S.464;
Schroth (Fn. 8), S.174; Winkler (Fn.17), S. 87 f.
87 Urt. v. 16.11. 1983 (188/82) in Sachen Thyssen-AG, RIW 1984, 48 ff. und
Schluß antrag v. 30. 11. 1983 (270/82) in Sachen Estel, noch unveröffentlicht.
88 Grabitz/Koch (Fn. 4), Rdnr. 32 m. N.

80 Zutr. GrabitzlKoch (Fn. 4), Rdnr. 32 m. N.


90 RsprGH 1970, 769, 810.
1436 Klaus Tiedemann

2. Im einzelnen schließen praktisch alle Rechtsordnungen der Mit-


gliedsstaaten vorbehaltlich einer Bestrafung wegen Fahrlässigkeit den
Vorsatz, die Schuld oder ganz allgemein die Strafbarkeit aus, soweit ein
Tatsachenirrtum (in bezug auf die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens)
in Frage steht. Entgegen der auch insoweit einschränkenden Tendenz des
französischen Verwaltungsstrafrechts erkennt dies nunmehr Art. 3 Abs. 2
des italienischen Gesetzes von 1981 ebenfalls an: Der Tatsachenirrtum
(errore sul fatto) läßt die Verantwortung entfallen, wenn der Irrtum
nicht durch Fahrlässigkeit bedingt war. Dolcini92 interpretiert dies zu-
treffend und in Übereinstimmung mit dem italienischen Kriminalstraf-
recht (vgl. Art. 5 Codice penale) dahingehend, daß dasselbe für außer-
strafrechtliche Rechtsirrtümer gilt, soweit diese sich auf den Tatbestand
beziehen. Dies entspricht weitgehend der älteren Reichsgerichts-Recht-
sprechung zum Kriminalstrafrecht, aber auch dem heutigen § 11 Abs. 1
OWiG, sofern man diese Vorschrift - richtig - dahin versteht, daß der
Irrtum über blankettausfüllende Normen und Einzelakte ebenso wie
der Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale zu behandeln ist93 •
§ 11 OWiG geht zwar von der deutschen Unterscheidung von Tatbe-
stands- und Verbotsirrtum aus. Ob diese von dem strengen Systemden-
ken des Finalismus geförderte Zweiteilung aber in jeder Beziehung das
Richtige trifft, ist bereits für das Kriminalstrafrecht zweifelhaft. Nicht
nur durchkreuzt die deutsche Lehre und Praxis selbst dieses kategoriale
Denken, indem der Tatsachenirrtum in bezug auf die Rechtswidrigkeit
dem Tatbestandsirrtum gleichgestellt und der sog. Subsumtionsirrtum
über Tatbestandsmerkmale für unbeachtlich (oder zum bloßen Verbots-
irrtum) erklärt wird9' . Vielmehr hat hierzu allgemein Roxin darauf hin-
gewiesen, daß sich die Grundbezüge von Vorsatz und Schuld (Vorwerf-
barkeit) nicht so sehr aus Tatbestand und Rechtswidrigkeit als vielmehr
aus der diesen Kategorien zugrundeliegenden Aufteilung von intellek-
tuellem und moralischem Sachverhalt ergeben9s • Entsprechend ist auch,
wie bereits angedeutet, die italienische Doktrin zu einem erheblichen
Teil trotz oder wegen der gesetzlichen Anordnung einer Unterscheidung

91 So etwa in den verbundenen Rechtssachen United Brands Company und


United Brands Continental BV (27176), RsprGH 1978,207,310 f.
92 Pedrazzi/Dolcini (Fn.21), Art. 3 Anm.3 m. N.; vgl. auch DOlcini/Paliero,
Rivista italiana di diritto e procedura penale 1980, 1154, 1171 f. - Zum Kri-
minalstrafrecht (Art. 5 Codice Penale) Bettiol, Diritto Penale, Parte Generale,
11. Aufl. 1982, S. 512 ff. m. zahlr. N. (auch zur Geltung der Schuldtheorie im
dänischen Strafrecht).
93 So Tiedemann, Tatbestandsfunktionen (Fn.14), S. 315 H., 388 H., und für
das italien. Strafrecht Bettiol (Fn.92), S. 513 f. m. w. N. Vgl. auch Göhler
(Fn.14), § 11 Rdnr.l0 (aber auch Rdnrn.3 und 21) m. w. N.; OLG Düsseldorf
NStZ 1981,444 mit Bspr. Meyer, JuS 1983,513 ff.
94 Zusammenfassend dazu Jescheck, Allgemeiner Teil, S. 232 ff.
95 Roxin, ZStW 76 (1964), S. 582, 604.
Allgemeiner Teil des europäischen supranationalen Strafrechts 1437

von strafrechtlichem und außerstrafrechtlichem (Rechts-)Irrtum zu Er-


gebnissen gelangt, die denen der heutigen deutschen Gesetzgebung und
Praxis weitgehend entsprechen. In diesem Sinne war es zumindest ein
richtiger Ausgangspunkt des Reichsgerichts, daß Rechtskenntnis und
Rechtsbewußtsein nur in einem primitiven Kernbereich Fragen der
moralischen Wertung betreffen und in dem größeren sonstigen Bereich
des Normativen eine Anforderung der intellektuellen Leistung darstel-
len. Innerhalb der BGH-Rechtsprechung zur Vermeidbarkeit des Ver-
botsirrtums kehrt diese Dualität unter der Bezeichnung als Gewissens-
anspannung und Erkundigung wie selbstverständlich wieder, wobei es
der historischen Entwicklung geradezu Hohn spricht, wenn heute unter
der Geltung und verfassungsrechtlichen überhöhung des Schuldprin-
zips bestimmte Irrtumsarten den Vorsatz unberührt lassen, die bereits
nach der frühen Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Vorsatzaus-
schluß führten.
Im Gemeinschaftsrecht mit seiner Typik von normativen Tatbestän-
den und Blankettmerkmalen erscheint es unnötig, ja verfehlt, die Ent-
wicklung der deutschen Irrtumsdogmatik nachzuvollziehen. Hierzu be-
steht auch um so weniger Anlaß, als diese Dogmatik ihre Kategorien
anhand der Gewaltdelikte des Kernstrafrechts entwickelt hat und da-
her schwerlich für das normative Geflecht des Gemeinschaftsrechts paßt.
Eine autonome, auf der Rechtsentwicklung der Mitgliedsstaaten auf-
bauende gemeinschaftsrechtliche Irrtumskonzeption sollte vielmehr -
im Sinne der Vorsatztheorie - im Ausgangspunkt die Irrtumsarten
gleich behandeln und entscheidenden Wert darauf legen, ob der Irrtum
verschuldet ist oder nicht und welches die Verschuldensmaßstäbe sowie
-anlässe sind. Zutreffend hat J escheck im Jahre 1953 zur Behandlung
des Rechtsirrtums nach dem EGKS-Vertrag darauf hingewiesen, daß
"das Wissen vom Bestehen und von der Verbindlichkeit einer Rechts-
pflicht zu einem bestimmten Tun oder Unterlassen ... das Hauptelement
der ordnungsstrafrechtlichen Schuld" bildet9s • Die bisher überaus un-
einheitlichen Aussagen des Gerichtshofes sowie der Kommission zur
Irrtumslehre lassen für eine solche Orientierung genügend Raum, auch
wenn z. B. die Urteile Miller International 97 und BMW Belgium98 den
Anschein erwecken, daß der Gerichtshof den Vorsatz eher im Sinne
einer naturalistisch-deskriptiven Kategorie versteht und damit die
Rechtsirrtümer der Tendenz nach allgemein in den Bereich richter-
lichen (Zumessungs-)Ermessens verweist. Daß diese Tendenz aber nicht

98 ZStw 65 (1953), S.508 = Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft S.464;


zust. Mestmäcker (Fn.4), S. 540; vgl. auch GZeiss/Hirsch/BechtoZd/Hootz (Fn.4),
Rdnr.40.
97 RsprGH 1978, 131, 151.

98 RsprGH 1979, 2435, 2478 ff.


1438 Klaus Tiedemann

einheitlich oder auch nur eindeutig ist, zeigt die Entscheidung gegen
United Brands, wenn dort bei Streit um die Kenntnis der Betroffenen
von dem normativen Tatbestandsmerkmal der marktbeherrschenden
Stellung sogleich in die Annahme ausgewichen wird, es liege "zumin-
dest Fahrlässigkeit" vor99 •
Die reiche Kasuistik des Gemeinschaftsrechts100 läßt im gegenwärtigen
Zeitpunkt eindeutig nur die Aussage zu, daß - ähnlich wie auch im
französischen Zollstrafrecht - jedenfalls der "unüberwindliche", also
unverschuldete Irrtum beachtlich ist und die Schuld ausschließt, auch
soweit es sich nicht um reine Tatsachenirrtümer handelt. Diesen Stand-
punkt hat die Kommission im Fall Pergamentpapier lol und der Gerichts-
hof in dem Urteil gegen die europäische Zuckerindustrie (Suiker Unie
u. a. 102) eingenommen. Dabei geht es hier wie auch sonst vor allem um
Sachverhalte, in denen ein Rechtsirrtum durch mißverständliche Äuße-
rungen der Kommission hervorgerufen wurde, und um Zeiträume, in
denen die Rechtsregel noch neu ist oder sich noch im Stadium der Kon-
kretisierung befindet. Einzelne Rechtsordnungen (wie die belgische und
die italienische) beschränken die strafrechtliche Beachtlichkeit von
(vermeidbaren) Rechtsirrtümern auf die Konstellation behördlicher
Verursachung oder Duldung des irrtums getragenen Täterverhaltensl03 •
Jedoch ist auch über diese Sondersituation hinaus in den Mitglieds-
staaten eine deutliche Tendenz zur strafmildernden Berücksichti-
gung auch des verschuldeten Rechtsirrtums zu erkennen, und die-
ser Ausdruck eines "weit verbreiteten Rechtsgedankens" sollte als
"fortschrlttliches Element" auch für das Bußgeldrecht der Gemein-
schaften Anwendung finden 104 • Generalanwalt Reischl weist in diesem
Zusammenhang auf die auch von uns immer wieder zitierte Abhand-

99 (Fn. 91), S. 310 f.


100 übersicht und Versuch einer Ordnung bei Grabitz/Koch (Fn.4), Rdnm.
36 ff.
101 KOME 78/252/EWG ABI. Nr. L 70/54 (64) v. 13. 3. 1978 (Feldmühle AG
u. a.).
102 RsprGH 1975, 1663, 2026.
103 VgI. Bosly/Spreutels (Fn.25), S.133; BricolalMazzacuva u. a., Revue
Internationale de Droit Penal 1983, 825, 842; Pedrazzi, Revue Internationale
de Droit Penal 1983, 423, 430.
104 So zutr. Generalanwalt Reischl in der Rechtssache 85/76 (Hoffmann-
La Roche), RsprGH 1979, S.461, 596; ähnlich schon Deringer (Fn. 18), Art. 15
VO Nr.17 Rdnr. 8. Zur weiterhin zurückhaltenden Behandlung der "erreur de
droit" im französischen (Kriminal-)Strafrecht zusammenfassend Pradel, Droit
Penal, Bd. I, 3. Aufl. 1981, S. 403 ff., Nm. 387 ff., aber auch S. 407, Nr.393, mit
der Anerkennung der Relevanz auch vermeidbarer Rechtsirrtümer im Tat-
bestandsbereich, sowie StejanilLevasseur/Bouloc, Droit Penal General, 12. Aufl.
1984, S. 384 mit Hinweisen zur Rechtsprechung über die Beachtlichkeit des
außerstrafrechtlichen Rechtsirrtums. Nur den unüberwindlichen Tatsachen-
irrtum wollen dagegen Berr/Tremeau, Le Droit Douanier, 2. Aufl. 1981, S.387,
Nr.652, für den Code des douanes als beachtlich anerkennen.
Allgemeiner Teil des europäischen supranationalen Strafrechts 1439

lung J eschecks aus dem Jahre 1953 und auf das deutsche Ordnungs-
widrigkeitenrecht hin, dessen § 11 Abs. 2 OWiG in demselben Sinne
wie die ausdrückliche Regelung des § 17 S.2 StGB verstanden wird.
Damit hat der vermeidbare Verbots- oder Rechtsirrtum (z. B. über Exi-
stenz und Inhalt oder Auslegung von blankettausfüllenden Normen,
über das Verbotensein einer Handlung oder über die rechtlichen Vor-
aussetzungen des Eingreifens von Rechtfertigungsgründen105) seinen dog-
matisch legitimen Platz jedenfalls im Bereich der Bußgeldbemessung -
ein Bereich, der im übrigen dem Gerichtshof wie auch den nationalen
Gerichten häufig dazu dient, rechtliche Gesichtspunkte aufzufangen, die
nach richterlicher Ansicht oder nach dem Stand der Dogmatik (noch) kei-
nen Platz im eigentlichen Allgemeinen Teil der Lehre von der Straftat
finden. Dies enthebt freilich, wie auch die neue re Entwicklung des deut-
schen Strafzumessungsrechts gezeigt hat, nicht von der Verpflichtung,
auf längere Sicht auch diesen Bereich dogmatisch zu bearbeiten. Der
Freispruch im Verfahren des Kölner Zuckerunternehmens Pfeifer &
Langen wegen irrtümlicher Annahme der Vereinbarkeit seines Han-
deIsvertretersystems mit Art. 85 Abs. 1 EWGV ist schwerlich damit in
Einklang zu bringen, daß die letzte Stahlquoten-Entscheidung des Ge-
richtshofes es ablehnte, im Falle des niederländischen Unternehmens
Estel dessen irrige Annahme der Unverbindlichkeit einer Kommissions-
anordnung wegen einer abweichenden Vereinbarung mit Eurofer zu-
mindest im Rahmen der Bußgeldbemessung zu berücksichtigen. Hinter
dieser Ablehnung steht deutlich und vom Gerichtshof offen ausgespro-
chen die Sorge, eine Berücksichtigung des Irrtums über die Normgel-
tung könne die Geltung der Norm beeinträchtigen - eine Haltung, die
auch aus der älteren deutschen und aus der neueren französischen Pra-
xis und Lehre bekannt ist.
Der EuGH ist kein Conseil d'Etat. Er erteilt nicht dem Monarchen
Rat, sondern urteilt über das Vorliegen schuldhafter Verstöße gegen die
Regeln des Gemeinsamen Marktes. Dieses Urteil sollte sich im Sinne
eines breit angelegten Rechtsvergleiches vor allem auf die Erfahrung
stützen, welche eine entwickelte Dogmatik in einer ganzen Reihe gegen-
wärtiger und künftiger Mitgliedsstaaten dem Richter auf dem Wege zur
Rechtsfindung anbietet. Nur die weitere geistige Durchdringung und
insbesondere die schärfere Trennung von Rechtsgeltung, Rechtswidrig-
keit und Schuld vermag auch im Gemeinschaftsrecht jene - im Wirt-
schaftsleben in besonderem Maße erforderliche - Rechtssicherheit zu

105 Vgl. z. B. die verbundenen Rechtssachen 2 - 10/63 (San MicheIe u. a.), in


denen eine Betroffene geltend machte, die von der Hohen Behörde geforderte
Vorlage von Stromrechnungen sei deshalb nicht verbindlich, weil die Frist
zur Aufbewahrung der Rechnungen nach italienischem Recht bereits abge-
laufen war (RsprGH 1963, 705, 714, 742 f.).
1440 Klaus Tiedemann

gewährleisten, die der hochverehrte Jubilar zu Recht immer wieder als


Aufgabe der Strafrechtsdogmatik und als den "gemeinsamen Grundton
der europäischen Strafrechtswissenschaft" bezeichnet hat106 •

108 Vgl. nur Allgemeiner Teil, S. 156, Fn.2 m. zahlr. N.


JACQUES VERHAEGEN

La repression des crimes de guerre en droit helge


Aleas et perspectives

« Il n'est aucun acte que l'homme d'Etat ne eherehe


a justifier pour le bien supr~me de l'Etat dont il a la
garde." Ch. De Visscher, Theories et realites
en droit international public

En ratifiant les Conventions de Geneve du 12 aout 1949, la Belgique


s'est engagee comme les autres parties contractantes a prendre toute
mesure legislative necessaire pour assortir de peines adequates les
infractions graves definies par lesdites Conventions, a rechercher et
poursuivre, quelle que soit leur nationalite, les personnes ayant commis
ou donne l'ordre de commettre ces faits et a prendre les mesures
necessaires pour faire cesser les autres actes contraires auxdites Con-
ventions.
L'engagement expres, en matiere de crimes de guerre, de reprimer
aussi bien les nationaux que les ressortissants des parties adverses
contraste trop avec les mceurs existantes et les traditionnelles immuni-
tes des nationaux pour qu'on ne puisse legitimement s'interroger sur la
fa!;!on dont l'Etat beIge entend traduire cet engagement dans les faits
et emporter sur ses implications la conviction profonde des militaires
et des autorites judiciaires du pays.
Mieux qu'un autre pays, l'Etat beIge est-il pret et a-t-il accoutume
les esprits asoumettre aux sanctions de ses lois penales tout BeIge quels
que soient son rang et sa fonction, qui aurait brave un interdit du droit
humanitaire, non point dans un but interesse ni par sadisme mais au
nom et pour compte de l'Etat dans le cadre de son activite de defense
nationale?
Afin de percevoir mieux la qualite des mesures prises par la Belgique
pour mener a bien une täche aussi ingrate et aussi neuve, il peut etre
utile de commencer par se rememorer ce qui fut fait dans ce pays pour
reprimer les crimes de guerre a l'issue du second conflit mondial. Des
le!;!ons assurement pouvaient en etre tirees pour l'organisation future
d'une repression adequate.

91 Festschrift für H.-H. Jescheck


1442 Jacques Verhaegen

I. La poursuite des crimes de guerre


au Iendemain du second conftit mondiaI

1. Les cTimes commis par les agents de l'ennemi


Lorsqu'a la suite du second conflit mondial, des membres de l'armee
ou de l'administration civile allemandes et leurs collaborateurs belges
furent deferes a la justice beIge pour repondre de diverses infractions
qualific~es crimes de guerre, leur jugement se heurta des l'abord a
plusieurs obstacles, les uns relatifs a la competence materielle et
territoriale des juridictions belges, les autres aux insuffisances des
incriminations et des peines existantes, au regard d'une criminalite
depassant de loin en nombre de victimes sinon en cruaute les crimes
les plus habituellement deferes aux tribunaux nationaux.

a) Les competences limitees des juridictions nationales


D'une part, }e Code beIge de procedure penale (art. 10 du titre
preliminaire) ne permettait la poursuite en Belgique d'un etranger
pour faits commis a l'etranger que dans des cas exceptionnels, notam-
ment les crimes et deUts contre la surete de l'Etat.
D'autre part, la competence des juridictions militaires n'etant
reconnue qu'a l'endroit des seules personnes visees a l'article 21 du Code
de procedure penale militaire, la plupart des crimes juges auraient du
l'etre suivant la procedure particulierement lourde des Assises.
La loi du 20 juin 1947 relative a la competence des juridictions
militaires en matiere de crimes de guerre devait lever ces obstacles en
pennettant lapoursuite en Belgique -d'une serie de crimes commis
a l'etranger par des etrangers et en etendant la competence des
juridictions militaires aux "infractions tombant sous l'application de
la loi penale beIge commis es en violation des lois et coutumes de la
guerre entre le 9 mai 1940 et le ler juin 1945 par ceux qui lors de la
perpetration des faits etaient au service de l'ennemi ..."
Cette double condition (connue sous le nom deprincipe de la double
incrimination) mise par la loi beIge du 20 juin 1947 a la poursuite
desdits criminels de guerre devant les juridictions nationales belges
allait fatalement limiter cette repression dans deux sens tres differents.

b) Insuffisances de la Iegislation nationale


Il apparut tres vite aux interpretes de la loi de 1947 qu'en fait
plusieurs violations du droit international ne trouvaient pas d'incrimi-
nation correspondante en droit penal beIge. Tel etait le cas des con-
traventions a certaines regles explicites ou implicites du reglement
annexe a la Convention de La Haye de 1907 et de certains modes Iegaux
La repression des crimes de guerre en droit beIge 1443

de participation, teIle la participation par omission normalement exclue


de la repression en droit beIget.
La Cour militaire et la Cour de cassation de Belgique ayant ainsi
declare illegales plusieurs condamnations prononcees en contravention
des dispositions limitatives du droit penal national, une serie de crimes
de droit international devaient rester impunis2 •
D'autre part, plusieurs crimes de droit international qui rentraient
indiscutablement dans les termes des dispositions du droit penal beIge
se voyaient appliquer des peines que l'on ne manqua pas de juger
derisoires au regard de l'atteinte portee par ces faits a l'ordre public
universei plus encore qu'a l'ordre public national. Tel etait le cas des
tortures et des mauvais traitements infligees sur une grande echelle
dans le cadre d'une politique concentrationnaire de grande envergure8 •
Ici encore les limitatinns mises par loi du 20 juin 1947 a la com-
petence materielle des juridictions belges obligerent celles-ci a Umiter
la repression en s'en tenant strictement a la regle "nulla poena sine
lege".

c) Insuffisance des regles du droit international des conflits armes


11 etait par ailleurs previsible qu'en matiere de crimes de guerre,
les accuses etrangers qui ne pouvaient etre mis en jugement aux termes
de la loi du 20 juin 1947 que sur base du principe de la double incrimi-
nation ne manqueraient pas de faire valoir chaque fois que cela. leur
serait possible que les qualifications de droit beIge qu'on pretendait
leur appliquer - fussent-elles les plus universellement reconnues et
les moins specifiques de la legislation beIge - ne trouvaient aucune
correspondance en droit international conventionnel et qu'a tout le
moins ces regles n'etaient pas explicites en droit international ou s'y
trouvaient entachees d'ambiguite.
Le moyen de defense fut specialement invoque apropos de la
pratique des otages dont on sait que l'interdiction formelle et absolue
ne devait apparaitre explicitement que dans les Conventions de Geneve
d'aout 1949 ratifiees en Belgique par la loi du 3 septembre 1952, alors

t Sur cette difficulte, cf. J. Verhaegen, Les incertitudes de la repression de


l'omission en droit penal beIge, Rev. dr. pen. crim., 1983, pp. 13 et 22.
! Ainsi, la Cour de cassation refusa-t-elle l'application de l'article 118 bis
du Code penal beIge (punissant la «participation a la transformation par
l'ennemi d'institutions ou organisations legales ») aux violations des articles
43 et suivants du Reglement de La Haye annexe a la Convention de La Haye
de 1907 (Rev. dr. pen. crim., 1948 - 1949, p. 997).
a Si aucun meurtre n'etait etabli, Ies juges belges ne pouvaient plus, en
raison des regles du concours, depasser Ie double du maximum des peines
prevues par les articles 398, 399 et 400 du Code penal (Eodem Ioco, p. 998).

91·
1444 Jacques Verhaegen

qu'auparavant le recours a une teIle pratique etait prevu jusque dans


les manuels militaires de plusieurs grandes puissances de l'epoque.
La reponse que fit la Cour de cassation de Belgique a pareille
argumentation dans le Zeading case que constitue l'arret du 4 juillet
1949 rendu sur conclusions conformes de son premier avocat general
R. Hayoit de Termicourt' merite d'etre citee pour son retablissement
exemplaire des divers criteres penaux de la rt"hninalite de guerre et
pour la distinction pertinente qu'elle opere entre la reconnaissance de
la criminalite objective des faits juges et l'imputabilite subjective de
ces faits aux prevenus. Le merite de cette decision nuancee, a la fois
ferme et equitable, devait lui valoir plus d'une marque d'approbation
et de respect en Belgique comme al'etranger5 •
Concernant d'une part la criminalite objective de la pratique jugee,
la Cour ne se laisse nullement arreter par le caractere non expZicite
des interdictions du droit international ni par les hesitations et encore
moins par les tergiversations de la doctrine, pour qualifier le fait de
crimineZ des lors que cette pratique, apparait de toute fa\;on incom-
patible avec les lois de l'humanite6 • La Cour n'hesite pas davantage a
relever la presence implicite de l'interdiction de l'execution des otages
dans plusieurs dispositions formelles du droit international conven-
tionneF.
C'etait reconnaitre le caractere non exhaustif des interdictions
explicites du droit international conventionnel en meme temps que
l'autonomie du droit penaZ a l'endroit d'une reglementation, souvent
insuffisante, dont la discipline penale n'est et ne doit etre ni tributaire,
ni--simple auxiliaire. C'etait reaffirmer Ia faculte pour les juridictions
penales de degager les regles du droit international et leurs implications
necessaires sans se trouver aucunement bridees par les interpretations
restrictives des gouvernements et de la doctrine internationale.
Passant ensuite a l'imputabilite subjective des crimes de guerre aux
differents prevenus, la Cour ne manque pas de rappeler, comme le fait
la loi du 20 juin 1947, que la responsabilite personnelle des agents
d'execution reste obligatoirement subordonnee d Za conscience que,

4 Pasicrisie, 1949, I, 514.


5 Cf. notamment, Maunoir, La repression des crimes de guerre devant les
tribunaux fran!;ais et allies, Geneve, 1956, p. 225.
e Cass. 4 juillet 1949, cite, Pas., p.513. «Sanction collective, frappant
deliberement des innocents aux lieu et pI ace des auteurs de l'acte que l'on
entend reprimer ... » (Conclusions avant l'aTT~t).
7 «Si la Convention de La Haye et le Reglement y annexe ne contiennent
aucune disposition expresse relative aux otages, l'execution d'otages est
cependant implicitement consideree comme une violation des lois et cou-
tumes de la guerre par les articles 46 et 50 du reglement precite » (id., p. 515).
La repression des crimes de guerre en droit beIge 1445

compte tenu des elements de fait, ces agents ont du avoir de la crimi-
nalite de l'ordre. Au cas ou la criminalite de la mesure ne serait pas
apparue flagrante aux yeux d'un prevenu, l'erreur d'appreciation doit
suffire a disculper l'homme sans pour autant legitimer le fait 8 •

2. Les crimes commis par les Belgesluttant contre les forces ennemies
La loi du 20 juin 1947 n'etant plus a l'endroit de ces nationaux ni
competente9 ni necessaire, c'est la Iegislation beIge de droit commun
qui seule devait autoriser leur pou_rsuite devant les juridictions belges
assurement competentes pour connaitre de ces crimes commis en
Belgique ou a l'etranger. Ni la qualite de depositaire ou agent de
l'autorite agissant au nom et pour cause de l'Etat, ni le « mobile de
service »10, ne pouvait en ce qui les concerne constituer une cause
pertinente d'exoneration.
On en trouvera une application tout a fait correcte dans le jugement
de condamnation rendu le 18 mai 1966 par le Conseil de guerre de
Bruxelles a l'endroit d'un sergent beIge poursuivi pour avoir execute
au Congo en 1964 une personne civile sans defense. La condamnation
etait prononcee d la fois pour meurtre suivant les termes des Codes
penaux congolais et beIge et pour violation flagrante du droit inter-
national des conflits armes. 11 etait rappele qu'en pareil cas le crime de
guerre est indifferemment punissable comme atteinte a l'ordre public
international et a l'ordre public nationall l .
On etait en droit d'imaginer que les memes principes et les memes
regles furent appliques aux sujets belges eventuellement poursuivis
pour crimes de guerre commis sur la personne de ressortissants ennemis
au cours du dernier conflit mondial.
C'etait ne point compter avec la repugnance instinctive, et bien connue,
des autorites militaires et judiciaires et du public en general devant la
poursuite de nationaux ayant commis leurs crimes dans leurs activites
8 Cass., 4 juillet 1949, cite, p. 516.
t La loi du 20 juin 1947, comme on sait, ne visait que les etrangers et les
Belges au service de l'ennemi. Ce qui a fait ecrire a M. Grevy «I1 ne peut
etre question de considerer, si ce n'est precisement pour une raison de com-
petence, qu'un BeIge puisse commettre un crime de guerre ... » (Rev. dr. pen.
crim.., 1947/48, p.806). Affirmation quelque peu equivoque si l'on en juge
par les travaux preparatoires de la loi du 20 juin 1947: «I1 peut etre bon
qu'en prevision de nouveaux conflits, chacun sache les responsabilites qu'il
pourrait encourir si, obeissant meme a des ordres precis d'une autorite legi-
time, il meconnaissait ces prescriptions ... » (H. Carton de Wiart, Annales par-
lementaires, Chambre, 29 mai 1947).
10 J. Verhaegen, L'exces de pouvoir, la legalite de crise et le droit de
Nuremberg in « La protection penale contre les exces de pouvoir et la resis-
tance legitime a l'autorite », Bruxelles, Bruylant, 1969, pp. 369 et 370.
11 Rev. Jur. Conga, 1970, p. 236 et note J. V.
1446 Jacques Verhaegen

de guerre ou de resistance. Cette reticence allait trouver un appui


inattendu dans un arrete-loi du 20 septembre 1945 soustrayant aux
poursuites penales «les actes accomplis pendant l'occupation ennemie,
en vue de soutenir raction de la resistance» des lors que ces actes,
fussent-ils des crimes, revetaient un caractere d'acte de resistance « en
raison du mobile et du resultat poursuivi et possible »11.
Commentant ce texte hautement contestable qui aboutissaita recuser
les principes les plus eIementaires du droit national et du droit inter-
national precedemment reaffirmes, nous concluions dans une precedente
etude: «pour la premiere fois peut-etre dans le systeme juridique beIge,
une activite, meme la plus manifestement fautive au regard des normes
du droit et la plus gravement dommageab1e au regard des valeurs,
pouvait se voir accorder non l'amnistie ou l'excuse absolutoire, mais
1a justification objective13• »
Pas plus qu'a Nuremberg, ni resistants, ni militaires belges ne furent
poursuivis pour crimes commis sur la personne d'un adversaire au cours
du second conflit mondial.

ß. La repression des infractions graves aux Conventions


de Geneve de 1949 et aux Protocoles additionneIs de 1977

Voulant se conformer aussi etroitement et aussi promptement que


possib1e aux obligations contractees par sa ratification des quatre
Conventions du 12 aout 1949, la Belgique prit tout d'abord l'initiative de
suggerer aux Etats parties aux Conventions de Geneve l'adoption d'un
projet de loi-type mis au point par sa commission pour l'examen des
questions de droit penal dans les rapportsinternationauxtc •
Cette proposition n'ayant pu rencontrer la faveur des autres parties
contractantes, le gouvernement beIge confia alors a ladite commission
(presidee successivement par Monsieur L. Cornil procureur general a
la Cour de cassation, et le Chevalier A. Braas, recteur honoraire de
l'Universite de Liege) le soin de rediger un projet de loi speciale re-
primant les infractions graves aux quatre Conventions de Geneve, in-
fractions constituant des crimes de droit international autant et plus
encore que des atteintes a l'ordre public internelS.
11 Sur le commentaire de ce texte Iegislatif, cf. notre ouvrage « La pro-
teetion penale contre les exces de pouvoir ... », eite, pp. 434 et ss.
13 Eod. loco, p. 435.
14 Sur le projet de loi-type, cf. J.- Y. Dautricourt, Rev. dr. pen. crim., 1953 -
1954, p. 55. Cf. l'avis de la Commission, meme revue, fev. 1956, pp. 591 et ss.
11 «Ce que (ces crimes) atteignent, ce n'est pas s.eulement l'ordre public
interne, mais surtout l'ordre public international» (Expose des motifs du
projet, p. 2).
La repression des crimes de guerre en droit beIge 1447

Le 22 mai 1963 etait soumis a la Chambre, sous la signature du


Ministre de la Justice Monsieur PieTTe Vermeylen, le «projet de loi
n° 577» organisant la repression des neuf infractions graves definies
par les quatre Conventions de Geneve d'aout 1949.
De ce projet dont la red action fut jugee d'une valeur juridique tres
certaine, on retiendra
1. Que tenant compte du caractere de droit international des infrac-
tions visees et de la procedure «peu adaptee» des Assises, le projet
attribue pour connaitre de ces crimes competence speciale aux juridic-
tions militaires et etablit en faveur de ces juridictions une competence
universelle dans la mesure OU « peut etre poursuivi en Belgique, encore
qu'il n'y soit pas trouve, tout individu, BeIge ou etranger, qui a commis
(meme) hors du territoiredu royaume» une desdites infractions graves
(article 11);
2. En cas de demande d'extradition, les infractions ne seront pas
reputees delits politiques, ni faits connexes a semblables delits (ar-
ticle 12);
3. Plusieurs infractions graves non expressement visees comme teIles
par la loi penale beIge sont explicitement incriminees et reprimees
comme crimes sui geneTis: les traitements inhumains, le fait de causer de
grandes souffrances, les atteintes graves a la sante, etc... (article 1,
2· et 3·...);
4. Les peines sont generalement renforcees par rapport a celles du
droit penal commun;
5. Les Conventions de Geneve ayant laisse l'amenagement de la
responsabilite penale individuelle a la competence des Etats contrac-
tantslS, le projet prevoit explicitement que les infractions pourront
etre realisees par omission aussi bien que par action (article 1) et
qu'elles peuvent etre imputees aux executants d'un ordre hierarchique
si « dans les circonstances existantes, (l'agent) devait se rendre campte
du caractere criminel de l'ordre et avait la possibilite de ne pas s'y
conformer» (article 9);
6. Estimant de fa~on particulierement pertinente que l'effet preven-
tif d'une legislation visant les crimes de guerre est davantage a escomp-
ter de l'etablissement de «delits-obstacles» judicieusement choisis que
d'une repression a posterioTi forcement aleatoire, le projet n'hesite pas
a innover en incriminant in se trois categories d'actes preparatoires:

lS Cf. P. de la Pradelle, Les nouvelles Conventions de Geneve, Paris, 1951,


p.263.
1448 J acques Verhaegen

a) l'ordre, la proposition ou l'offre, meme non suivis d'effet, de com-


mettre une des infractions prevues, de meme que l'acceptation de
pareille proposition ou offre (article 4),
b) l'abstention d'agir de ceux qui, ayant connaissance d'ordres donnes
en vue de l'execution d'une des infractions prevues, ou de faits qui en
commencent l'execution, et pouvant empecher sa consommation ou y
mettre fin, n'ont pas agi dans les limites de cette possibilite d'action
(article 7),
c) la fabrication, la dHention ou le transfert d'un engin ou objet
quelconque, l'erection ou la transformation d'une construction, sachant
que l'engin, la construction... est destine a commettre une des in-
fractions prevues par lesdites Conventions (article 3).

7. La repression des infractions non definies comme graves par les


Conventions de Geneve fera l'objet d'un projet de loi separe « pour
autant que (ces infractions) ne tombent pas deja sous le coup de dis-
positions penales»17;
On notera d'ailleurs que pas plus que la loi du 20 juin 1947, le projet
n° 577 de 1963 n'exclut les poursuites devant les juridictions belges de
droit commun de tous les autres faits de guerre qu'il nevisepasexplici-
tement, des lors que ces faits tombent sous le coup de la loi penale beIge
et sous la competence legale des juridictions belges. Sont ainsi susceptib-
les de poursuites non seulement les violations du droit international
autres que les neuf infractions graves reprises par le projet, mais encore
des faits de guerre non vises par le droit international tels les homici-
des ou atteintes a l'integrite corporelle commis par imprudence, dont
en-principe ne connait pas le droit international des conflits armes l8 •
En fait, et bien qu'il ait He releve de caducite au fil des changements
de gouvernement, on peut constater que ledit projet s'est heurte et se
heurte encore a d'occultes resistances, d'ordre vraisemblablement
politique et psychologique. Plus de vingt ans apres sa publication, il n'a
toujours pas ete vote par les Chambres, en depit de rappels incessants
de milieux specialises, universitaires notamment l8 •

17 Expose des motifs du projet, p. 3.


18 Cf. J. Verhaegen, Le delit d'imprudence et la guerre, Rev. dr. pen. crim.,
1959 - 1960, pp. 419 a 491. Aussi, L'exces de pouvoir, la lt~galite de crise et le
droit de Nuremberg, cite, p. 370. Que l'application de ces incriminations ades
« faits de guerre» n'ait pu ~tre prevue par le legislateur ne constitue nulle-
ment une objection pertinente : En Belgique, l'application dite « evolutive »
des lois penales est de droit, des lors que les hypotheses nouvelles rentrent
dans les termes m~mes de la formule generale.
se Cf. J. Verhaegen, Le vote du projet de loi beIge n° 577 (1962 - 1963) : Un
enjeu international, Journal des Tribunaux, n° centenaire, 1982, pp. 227 a 230.
La repression des crimes de guerre en droit beIge 1449

Bien plus, on a pu deplorer qu'a l'occasion de la promulgation du


nouveau Reglement de discipline militaire (loi beIge du 14 janvier 1975)
dont l'artic1e 11 rapp elle l'interdiction d'executer l'ordre «qui peut
entrainer manifestement la perpetration d'un crime ou d'un delit »,
un reglement A.2 publie par l'Etat-major general n'ait pas Msite a
ajouter au texte legal et a disposer qu'en cas d'operation armee, le
superieur sera neanmoins justifie d'un tel ordre s'i! est etabli «que,
dans les circonstances dans lesquelles il s'est trouve, il ne pouvait agir
autrement pour sauvegarder un interet vital pour la nation20 .»
Par ce bi ais etait dangereusement et illegalement reintroduite l'excep-
tion de la «necessite» a l'endroit d'une reglementation de crise essen-
tiellement transactionnelle, d'une legislation humanitaire qui, ayant
deja fait la part des «necessites» de la defense nationale dans ses trans-
actions, fixe imperativement le minimum d'humanite a respecter en
toute circonstance. En Belgique meme, de nombreuses voix se sont
elevees en cette occasion pour denoncer l'illegalite de cette c1ause du
reglement de l'Etat-major general. Tel fut le sens d'une adresse con-
jointe de neuf professeurs de droit p{mal et de droit international des
universites belges, remise le 27 mars 1976 au Ministre de la Justice21 •
Signe par la Belgique le 10 juin 1977, mais non encore ratifie a ce
jour, le premier Protocole additionnel aux Conventions de Geneve de
1949 dont l'artic1e 85 definit de nouvelles infractions graves a inclure
dans la legislation nationale allait relancer, par-dela le probleme meme
de sa ratification, celui du vote de la loi penale assurant une repression
adequate des nouvelles infractions.
Probleme juridiquement et techniquement simple, sans doute, mais
contenant une charge politique particulierement elevee dans la mesure
ou, ne pouvant eviter de meIer droit de La Haye (limitation des moyens
et methodes de guerre) au droit de Geneve (protection des populations
civiles et autres victimes non combattantes) par suite de l'evolution
technologique des armes nouvelles, le Protocole risque de contrarier
gravement les vues des Etats-majors et certains politiques peu enclins,
comme on sait, a limiter les capacites de combat de l'Etat national par
des considerations humanitaires si elementaires soient-elles.

20 Cf. La sauvegarde de l'interet vital de la nation dans l'Instruction A. 2


de l'Etat-Major general, Seminaire de criminologie militaire, Louvain, 1977/3.
21 Cf. Le vote du projet de loi n° 577, article eite, p.228, note 12. Dans sa
reponse a une question parlementaire, le ministre de la defense nationale
devait en mars 1983 reconnaitre que « comme il semble qu'un interet vital de
la nation ne puisse dans tous les cas etre considere comme etant d'un interet
superieur a certaines valeurs fondamentales », il donnait des instructions
pour rendre le Reglement A. 2 «mieux en harmonie avec les prineipes du
droit humanitaire ». (Questions-Reponses, Senat, 8 mars 1983, n. 22).
1450 Jacques Verhaegen

A cet egard, l'article 51 du premier Protocole, meme s'il ne fait que


rappeIer «explicitement» l'interdiction absolue des attaques terroristes
dirigees contre les populations civiles (paragraphe 2), des attaques par
moyens ou methodes indiscriminatoires (paragraphe4,c) et des repre-
sailles contre la population civile ou des personIies civiles (paragraphe 6),
ne manque pas de creer dans certains milieux le plus vif embarras, dans
la mesure ou il souleve le probleme de sa compatibilite avec les armes
nouvelles, l'armement nucleaire en particulier. Sans doute, ne faut-il
pas chercher ailleurs la raison de l'abstention de la France ä la signature
de ce premier Protocolel l •
En Belgique, le probleme ainsi souleve par les interdictions explicites
de l'article 51 du Ier Protocole n'est certes pas de nature ä faciliter ni
la ratification dudit Protocole, ni le vote du projet 577 prealablement
adapte aux nouvelles infractions graves definies par le Protocole13 •
En mars 1983, l'absence d'initiative nouvelle de la part du Gouverne-
ment amenait les Facultes de droit des universites belges ä presenter
une adresse commune exprimant le souhait d'une ratification rapide des
Protocoles de 1977 et d'un vote non differe du projet de loi 577 prealable-
ment adapte. Dans leur reponse, les Ministres des Relations exterieures
et de la Justice devaient quelques mois plus tard assurer les Facultes
de droit que tout etait mis en reuvre pour häter les deux procedures2' .
Ce n'est pas si sur. D'autres declarations faites depuis lors ä la
Chambre par le Ministre responsable des Relations exterieures ont
temoigne du poids d'autres engagements contractes dans le cadre d'al-
liances militaires et de la tentation de faire echapper l'arme nucleaire
non..seulement a~ prohibitions expresses figur!iDJ dans le Ier Protocole
additionnel mais encore aux principes preexistants, ceux notamment
que le Protocole ne fait que preciser et expliciter2a •
U Cf. St. Nahlik, Le probleme des represailles a la lumiere des travaux de
la conferenee diplomatique sur le droit humanitaire, R.G.D.I.P., 1978, t.82 (2),
pp. 131 et 55., specialement pp. 153 et 155.
13 En Belgique, un groupe d'experts designes par le Seminaire de. droit
penal militaire et de droit de la guerre avait en 1982 etabli un texte adaptant
teehniquement le projet de loi 577 aux nouvelles obligations derivant du
premier protoeole. Approuve par rAssemblee pleniere du Seminaire, le texte
fut en novembre 1982 soumis au gouvernement avee 1'appui du Comite een-
tral directeur de la Croix-Rouge de Belgique. Cf. Rev. dr. pen. erim., 1983,
p.907.
14 Eodem loeo.
16 Cf. la deelaration du Ministre des Relations exterieures, le 9 novembre
1983 a la Chambre: c Des eontroverses ont surgi quant a la question de
savoir si le reglement de La Haye s'applique aux armes nucleaires. Le Pro-
toeole de 1977 n'a pas eteeoncu pour etre applique a l'utilisation des armes
nueleaires. Cela a ete repete lors de la signature (...). La clause (de Martens)
n'engage pas notre pays, ear la Belgique n'a pas eneore ratifie le Proto-
eole ... » (Compte rendu analytique, p. 130). En revanche, le porte-parole d'un
La repression des crimes de guerre en droit beIge 1451

L'existence de certaines armes nouvelles dont l'analyse scientifique


et teehnique peut demontrer que l'effet previsible de leur mise en reuvre
sera necessairement «indiscrimine», place ainsi le Gouvernement beIge
a la croisee des ehemins, le place peut-etre devant un ehoix fonda-
mental qui determinera le sort reserve a l'avenir aux contraintes du
droit en matiere de conflit arme et a la prevalence que leur reconnait
encore la Belgique sur les diverses «raisons d'Etat». Le probleme ne
semble plus pouvoir etre longtemps ni facHement elude.
Alleguer, comme on l'a fait en FranceH, que «les notions generales
(comme «trapper sans discrimination» ou produire «des effets traumati-
ques excessifs») ne peuvent s'interpreter qu'd travers l'accord des Etats
qui decident quelles armes doivent etre interdites en fonction de ces
donnees generales» constitue une theorie-eehappatoire pouvant peut-
etre trouver audience dans certains courants de la doctrine interna-
tionale, mais qui ne saurait en aucune fac;on lier les juridictions penales
belges.
On se souviendra de la reponse que fit la Cour de cassation de Belgi-
que apres le second conflit mondial lorsqu'il s'est agi de se prononcer
sur la legalite, pourtant controversee en doctrine internationale, de
pratiques teIles que les executions d'otages.
En l'occurrence, la Cour supreme a pu rappeIer que l'illiceite d'une
pratique, si elle resulte a l'evidence de la violation d'une disposition
expresse et precise du droit international conventionnel, peut tout aussi
bien apparaitre de sa «contradiction » avec un principe elementaire du
droit et du droit humanitaire en particulier, contradiction que la Cour
se reconnait le droit d'apprecier independamment des interpretations
personnelles des gouvernements ou des legistes qui ont decide de les
servir.
C'est des lors en vain, semble-t-il, que le Gouvernement beIge retar-
dant la ratification du ler Protocole de 1977 et le vote du projet 577,
tenterait de se retraneher derriere les reticences et les tergiversations

parti represente au Gouvernement posait le 28 fevrier 1984 a la Chambre la


question precise que voici: «(il a 'ete rappele au Senat) 1° que m@me pour
un Etat victime d'agression, Ie choix des moyens et methodes de guerre
n'etait pas illimite; 2° que l'arme nucleaire n'echappait pas a l'interdiction
frappant les bombardements de cites non defendues; 3° que l'arme nucleaire
n'echappait pas a l'interdiction frappant les represailles contre les cites non
defendues; 4° qu'a cet egard, des garanties devaient etre fournies a l'Etat
beIge par ses allies. 11 semble important de savoir si ces principes eZemen-
taires et jondamentaux du droit applicable en Belgique recueillent l'adhesion
du Gouvernement beIge dans son ensemble. ,.
t8 Preface aux Actes du colloque de Montpellier (1982) «Le droit inter-
national et les armes", Paris, 1983. Cf. J. Verhaegen, Le probleme penal de la
dissuasion nucleaire, Rev. dr. pen. crim., 1984, p. 13.
1452 Jaeques Verhaegen

de 1a doctrine internationale pour e1uder ce qui en droit pena1 des


conflits armes aussi bien qu'en droit pena1 interne se trouve, aujourd'hui
dejil, necessairement frappe d'interdiction abso1ue 27 •
Ainsi que 1e rappe1ait avec beaueoup de pertinence 1e baron von der
Heydte dans son « Rapport definitif» pour l'Institut de droit internatio-
nal (avril 1967): Si 1a guerre moderne devient indiscriminee par sa
nature, «reconnatlre que cette guerre moderne est essentiellement
illicite en serait la seule consequence juridique et logique»28.
Les implications peuvent manifestement en etre tres etendues et con-
traignantes sur 1e plan du droit pena1 de 1a justification.

27 Sans omettre la preparation et l'assistanee apportee en eonnaissanee de


eause a la mise en plaee d'un engin de guerre illicite auxquelles pourraient
s'appliquer les loispenales belges actuellement en vigueur, independamment
m@me du vote du projet de loi 577 (Eodem loeo, p. 21).
28 Annuaire de l'Institut de droit international, vol. 52, session de Niee,
sept. 1967, tome 2, p.164. Aussi, p.209: «Ces interdictions (des moyens et
methodes a effets indiseriminatoires) valent pour toute sorte de eonflits
armes quelles que soient Zes armes empZoyees. Elles s'appliquent particuliere-
ment aux armes nueleaires, ehimiques et baeteriologiques:.. Conc1usion ir-
reeusable rappelee reeemment dans une dec1aration commune datee du
ler mars 1984 par neuf professeurs de droit penal et de droit international
penal de diverses universites belges.
M. CHERIF BASSIOUNI

The Proscribing Function of


International Criminal Law in the Processes of
International Protection of Human Rights

It may appear upon initial examination that international criminal


law has !ittle to contribute to the development and protection of inter-
national human rights. Close analysis demonstrates, however, that the
international protection of human rights can be viewed as a continuum
along which criminal proscription has become the ultima ratio modality
of protection. Resort to criminal proscription is compelled when a
given right encounters an "enforcement crisis" in which other modali-
ties of protection appear inadequate. Yet, the need to find an inter-
national or transnational element in human rights violations together
with the need to rely on national courts to implement international
penal proscriptions present impediments to scrutiny of violations com-
mitted by officials of sovereign states. This paper describes how inter-
national criminal law facilitates the proscribing function and initiates
an inquiry as to its role in a comprehensive system of international
protections.

I. A Theory of Human Rights Development

The twentieth century has witnessed an unprecedented expansion


in the international protection of human rights1 • This expansion can
be attributed to an ever-increasing sharing of fundamental values and
expectations among nations. As a result, the world community now
acknowledges the need to protect the individual from a variety of
human depredations.

1 For U.N. Conventions see Human Rights: A Compilation of International


Instruments, U.N.Doc. ST/HR/l/Rev.l (1978). See also The Protection of
Human Rights in the Criminal Process under International Instruments and
National Constitutions, Nouvelles Etudes Penales, vol.4, 1981; European Con-
vention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms,
1950, U.N.T.S. 213, p.221, E.T.S. No. 5 (entered into force Sept. 3, 1953) (here-
inafter European Convention); Robertson (ed.), Human Rights in National
and International Law, 1968; on the Inter-American System, see American
Convention on Human Rights, 1969, OASOR Sero K/SVIIl.1, O.A.S. Doc.65,
Rev.l, Corr.l, 1970 (hereinafter American Convention); Dominguez/Rodley/
Wood/Falk, Enhancing Global Human Rights, 1979.
1454 M. Cherif Bassiouni

Depredations, while sometimes the result of private conduct, are


most frequently committed by persons acting in a public or quasi-
public capacity. Governmental policies are thus the primary cause of
human rights violations today. Fortunately, the claim that sovereignty
prevents scrutiny of a state's human rights practices has been at least
partially overcome2 • This development presents the opportunity to
adopt modalities of protection that can directly influence a state's
human rights practices.
The rationale for international protection of human rights is that
certain forms of depredations become matters of international concern
when committed under the aegis of state policy because of the pre-
sumed international impact of such behavior. Thus, the rationale
posits that collective effort is required to protect against policies that
may ultimately affect the entire world communityc.
Concepts upon which a comprehensive framework for development
and enforcement of human rights can be based are as yet poorly
defined5 • Indeed, international human rights are themselves inade-
quately defined8 and inconsistently enforced7 • There is no classification
of rights according to the values sought to be advanced or effective

2 Henkin, The Rights of Man Today, 1978, p. 94; van der Meersch, Does the
Convention have the force of "ordre public" in municipallaw?, in: Robertson
(ed.), Human Rights in National and International Law, 1968, p. 97, 101 - 103.
See generally Symposium on the Future of Human Rights in the World Legal
Order, Hofstra Law Review (1981), p. 337.
a See Bassiouni/Derby, An Appraisal of Torture in International Law and
Practice: The Need for an International Convention for the Protection and
Suppression of Torture, ReVUe Internationalede Droit Penal (R.I.D.P.) 48
(1977), p. 17.
, See, e.g., Vasak (ed.), The International Dimensions of Human Rights,
1982; McDougal/LassweZZ/Chen, Human Rights and World Public Order, 1980;
Lillich, Humanitarian Intervention and the United Nations, 1973; McDougal/
Feliciano, Law and Minimum World Public Order, 1961, p. 290 - 292; Oppen-
heim/Lauterpacht, International Law, 8th ed. 1955, p. 312 f.; Nanda, Self
Determination in International Law: The Tragic Tale of Two Cities - Isla-
mabad (West Pakistan) and Dacca (East Pakistan), American Journal of
International Law 66 (1972), p.321; McDougal/Reisman, Rhodesia and the
United Nations: The Lawfulness of International Concern, American Journal
of International Law 62 (1968), p. 1.
5 See Henkin (ed.) , The International Bill of Rights: The Covenant on
Civil and Political Rights, 1981; McDougal/LassweZZ/Chen (n.4); Lillich/New-
man, International Human Rights: Problems of Lawand Policy, 1979; SOhn/
Buergenthal, International Protection of Human Rights, 1973; Haas, Human
Rights and International Action, 1970.
B See McDougal/Lasswell/Chen (n. 4), p. 63 - 68.

7 Compare the enforcement of the International Covenant on Civil and


Political Rights, G.A.Res. 2200 A, U.N. GAOR Supp. 21 (no. 16), p.49, U.N.Doc.
A/6316 (1966) (hereinafter Civil Rights Covenant), and Henkin (n. 5), with
European Convention (n. 1).
International Criminal Law and Protection of Human Rights 1455

enforcement modalities8• Proceeding from this observation, natural


rights thinkers simply might conc1ude that human rights are divinely
endowed8 • Nevertheless, despite the dearth of scholarly analysis10 ,
human rights do emerge and develop as part of a coherent process.
The immediate task is to chart and differentiate the stages through
which human rights evolve. The degree to which a given right has
attained international acceptance can be assessed by considering the
following pattern of emergence and development.
Stage I-The Enunciative Stage-The emergence and shaping of
internationally perceived shared values through intellectual and social
processes.
Stage 2-The Declarative Stage-The declaration of certain identi-
fied human interests or rights in an international document or instru-
ment.
Stage 3-The Prescriptive Stage-The articulation of these human
rights in some prescriptive form in an international instrument (general
or specific) generated by an international body; or the elaboration of
specific normative prescriptions in binding international conventions.
Stage +-The Enforcement Stage-The search for, or the develop-
ment of, modalities of enforcement.
Stage 5-The Criminalization Stage-The development of interna-
tional penal proscriptions.
Rights in the dec1arative stage (Stage 2) frequently are framed in
general terms. In the prescriptive stage (Stage 3), rights are more
specifically articulated in general international instruments having
some legally binding effect. In the final stage, international crimi-
nalization, rights are always expressed in specific international con-
ventions which deal exclusively with the rights and proscribe violation
ofthem.
A particular human right may not necessarily evolve through each
of these stages in the order listed above. Nevertheless, there is suf-
ficient similarity in the pattern of development of most international
human rights to validate the categorization. Perhaps positioning a
right at a given stage is a function of the perception of the significance
of the interest protected through the articulation of the right and of
the appraisal of the degree of protection that the interest requires.
8 See n.5.
8 See Murphy, The Grotian Vision of World Order, American Journal of
International Law 71 (1982), p. 477.
10 The literature does not discuss the evolutionary pattern of human rights
and the criteria for their evolution. See n. 5.
1456 M. Cherif Bassiouni

Although it is less structured in the international context, the process


of evolutionary development can be analogized to the evolution of
social values and the development of civil prescription and penal pro-
scriptions in any organized society ll.
Throughout the evolutionary process, the enactment of international
criminal proscriptions invariably has followed an implementation cri-
sis. Nevertheless, the adoption of criminal proscriptions has not derived
from an appraisal of the significance of the right sought to be pre-
served and protected; rather, it has been caused by the inadequacy
of modalities of protection in the first four stages. Thus, the inade-
quacy of these modalities has compelled the transformation of the
protected right into a prohibited crime. Therefore, international cri-
minal proscriptions are the ultima ratio modality of enforcing inter-
nationally protected human rights.

ß. An Illustration of the Theory

Demonstrating the existence of the pattern of development described


above requires the selection of a substantive premise and a functional
starting point. This paper adopts the existing international instruments
as the substantive premise and the evolution of those protected rights
contained in such instruments as the functional starting point. On this
basis, the evolutionary development of a given human right can be
traced from the enunciative stage (Stage 1) to the criminalization stage
(Stage 5). Reversing the analysis, from the criminalization stage to the
enunciative stage, is equally valid. The outcome of the analysis should
belcientical regardless -oTmethodology.
For example, a number of declared protected human rights with
respect to physical integrity, contained in the Universal Declaration of
Human Rights12 , can be traced through succeeding international instru-
ments to their inclusion in international penal proscriptions. This
observation reveals that these declared rights which were first enun-
ciated in the Universal Declaration were then reiterated more specifi-
cally, or more emphatically, in the International Covenant on Civil
and Political Rights13• They later became the subject of specialized
conventions, and finally the subject of specialized international penal
protections (e.g., genocide and apartheid)14. With this framework estab-

11 See McDougal/Lasswell/Chen (n. 4), p. 797 - 860.


12 G.A. Res. 217, U.N. Doc. A/810 p. 71 (1948) (hereinafter Universal Declara-
tion).
13G.A. Res. 2200 A, U.N. GAOR Supp. (no. 16) p.49, U.N.Doc. A/6316 (1966).
14See, e.g., Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of
Genocide, Dec. 9, 1948, U.N.T.S. 78,277; International Convention on the Sup-
International Criminal Law and Protection of Human Rights 1457

lished, the discussion turns to more specific applications based on


existing international proscriptions.
The proscriptions which are contained in multilateral conventions
of a penal nature can be topically categorized as follows: (1) crimes
against peace; (2) war crimes; (3) crimes against humanity; (4) geno-
eide; (5) apartheid; (6) slavery and slave-related practices; (7) torture;
(8) unlawful human experimentation; (9) piracy; (10) hijacking; (11) kid-
napping of diplomats and the taking of eivilian hostages; and (12) un-
lawful use of the mails. These topical subject matters share the follow-
ing characteristics. Each is predicated on one or more international
conventions which either explieitly declare the conduct in question
to be an international crime or require the contracting parties to do
so in their nationallaws, and frequently obligate the parties to pro-
secute or extradite the offender15 • Each substantive area and its related
conventions seek to preserve and protect certain human interests which
have been enuneiated in one or more preceding human rights instru-
ments16 • Each of the enumerated international penal proscriptions is
the product of an evolutionary and progressive development through
which an international instrument, relying on its predecessor, adds a
new dimension to the definition, content, implementation or enforce-
ment of the right sought to be preserved and protected17 •
The characteristics of these crimes are such that they may be sepa-
rated into two general categories: provisions prohibiting actions by the
state, through its offieials, depriving individual human rights, and
provisions requiring states to ensure that human rights are not in-
fringed by private individuals18 • The first category of crimes consists
of crimes against peace, war crimes, crimes against humanity, geno-
eide, apartheid, slavery, torture, and unlawful human experimentation.
The second category includes piracy, slavery, hijacking, kidnapping
of diplomats and the taking of eivilian hostages, and unlawful use of
the mails.
pression and Punishment of the Crime of Apartheid, G.A.Res. 3068, U.N.
GAOR Supp. 28 (no. 30) p. 75, U.N. Doc. Af9233fAdd. 1 (1973) (hereinafter Apart-
heid Convention). See also Bassiouni, International Law and the Holocaust,
California Western International Law Journal 9 (1979), p. 20l.
15 See Bassiouni, International Criminal Law: A Draft International Crim-
inal Code, 1980. See also Bassiouni, Common Characteristics of Conventional
International Criminal Law, Case Western Reserve Journal of International
Law 15 (1983), p. 27.
18 See text accompanying notes 19 -77 (exposition of the crimes and the
rights protected by various proscriptions).
17 See n.16.
18 See Bassiouni, International Criminal Law (n. 15), pp. 40 - 44; see also
Glaser, Infractions Internationales, 1957; Plawski, Etude des principes fonda-
mentaux du droit international penal, 1972; Lombois, Droit penal internation-
al, 2nd ed. 1979.

92 Festschrift für H.-H. Jescheck:


1458 M. Cherif Bassiouni

An examination of the subjects listed above, the acts constituting


these crimes, and the instruments embodying their definition follows
below.
1. Crimes Against Peace 19
A crime against peace is committed when astate commits an act of
aggression, defined as the use of armed force by astate against the
sovereignty, territorial integrity, or political independence of another
state, or in any other manner inconsistent with the Charter of the
United Nations 20 • Such acts of aggression include invasion, attack,
military occupation, annexation of territory, blockade of ports or
coasts, and allowing a second state to use one's own territory to attack
a third stat~l. The proscription of these acts of aggression protects the
rights to life, liberty, and personal security 22, the right to property 2S,
and more indirectly, the right to be free from torture and from cruel,
inhuman, or degrading treatment or punishment24 •
10 See e.g., Convention on the Pacific Settlement of International Disputes,
July 29, 1899, 32 Stat.1779, T.S. No. 392, 26 Martens Nouveau Recueil 2d 920;
Inter-American Convention on the Pacific Settlement of International Dis-
putes, Jan.15, 1902, 1 Bevans 331; Convention on the Pacific Settlement of
International Disputes, June 14, 1907, 1 Bevans 575; Convention on the Pacific
Settlement of International Disputes, Oct. 18, 1907, 36 Stat.2199, T.S. No. 536,
3 Martens Nouveau Recueil 3d 360; Treaty of Versailles, June 28, 1919, 11
Martens Nouveau Recueil 3d 323; Pan-American Treaty to Avoid or Prevent
Conflicts between the American States (Gondra Treaty), May 3, 1923,44 Stat.
2527, T.S. No. 752, 33 L.N.T.S. 25; Inter-American Convention on Maritime
Neutrality, Feb.20, 1928, 47 Stat. 1989, T.S. No. 845, 135 L.N.T.S. 187; General
Treaty for the Renunciation of War as an Instrument of National Policy (Kel-
logg-Briand Pact) , Aug.27, 1928, 46 Stat.2343, T.S. No.796, 94 L.N.T.S. 57;
Pan-American Anti-War Treaty of Non-aggression and Conciliation (Saa-
vedra Lamas Treaty), Oct.lO, 1933, 49 Stat.3363, T.S. No.906, 163 L.N.T.S.
39~;Tnter-American Convention for the Mainferiance, Preservation, and Re-
establishment of Peace, Dec.23, 1936, 51 Stat. 15, T.S. No. 922, 188 L.N.T.S. 9;
Additional Protocol Relative to Nonintervention, Dec. 23, 1936, 51 Stat.41,
T.S. No. 923, 188 L.N.T.S. 31; Inter-American Treaty on the Prevention of
Controversies, Dec.23, 1936, 51 Stat.65, T.S. No. 924, 188 L.N.T.S. 53; Charter
of the United Nations, June 26, 1945, 59 Stat. 1031, T.S. No. 993, 3 Bevans 1153;
Definition of Agression, G.A. Res. 3314, 29 U.N. GAOR Supp. (No. 31) at 142,
U.N.Doc.A/9890 (1974); Draft Code of Offenses Against the Peace and Security
of Mankind, Report of the International Commission, 9 U.N. GAOR Supp.
(No. 9), U.N.Doc. A/2693 (1954).
zo See Definition of Aggression (n.19); Bassiouni, International Criminal
Law (n. 15), pp. 52 f.
21 Bassiouni, International Criminal Law (n.15), pp. 52 f.
22 Universal Declaration (n. 12), art.3; Civil Rights Covenant (n.7), art. 6;
EUropean Convention (n. 1), arts.2, 5; American Declaration of the Rights
and Duties of Man, O.A.S. Res. XXX, OASOR, OEA/Ser. LIV/1.4 Rev. (1965),
art. 1 (hereinafter American Declaration); American Convention (n. 1), art. 7.
23 Universal Declaration (n.12), art. 17; American Declaration (n.22), art.
23; American Convention (n. 1), art.21.
Z4 Universal Declaration (n. 12), art. 5; Civil Rights Covenant (n.7), art. 7;
European Convention (n. 1), art. 3; American Declaration (n.22), art.28; Amer-
ican Convention (n. 1), art. 5.
International Criminal Law and Proteetion of Human Rights 1459

2. War CrimeSS
A war crime is the result of the willful undertaking of conduct
defined as a grave breach under the First, Second, Third, and Fourth

11 Convention Regarding the Rights of Neutrals at Sea, July 22, 1854, 10


Stat. 1105, T.S. No. 300, 11 Bevans 1214; Declaration of Paris, Apr. 16, 1856, 15
Martens Nouveau Reeueil 791; Geneva (Red Cross) Convention for the Amel-
ioration of the Condition of the Siek and Wounded Armies in the Field, Aug.
22,1864,22 Stat. 940, T.S. No. 377,18 Martens Nouveau Reeueil 607; St. Peters-
burg Declaration, Dee. 11,1868, 18 Martens Nouveau Reeueil 474; Final Proto-
eol of the Brussels Conferenee, Aug.27, 1874,4 Martens Nouveau Reeueil 2d
226; Hague Convention on the Laws and Customs of War by Land, July 29,
1899, 32 Stat. 1803, T.S. No. 403, 26 Martens Nouveau Reeueil 2d 949; Hague
Convention for Adapting to Maritime Warfare the Prineiples of 22 August
1864 Geneva Convention, July 29, 1899,32 Stat. 1827, T.S. No. 396, 26 Martens
Nouveau Recueil 2d 979; Deelaration of the Hague on the Use of Projeetiles
Diffusing Asphyxiating Gases, July 29, 1899,26 Martens Nouveau Reeueil 2d
998; Deelaration of the Hague on Launching Projeeti1es and Explosives from
Balloon, July 29, 1899,32 Stat. 1839, T.S. No. 393,26 Martens Nouveau Recueil
2d 994; Deelaration Regarding Submarines and Poisonous Gases, Feb. 6, 1922,
3 Redmond 3116; Declaration on the Prohibition of the Use of Expanding
Bullets, July 29, 1899,26 Martens Nouveau Recueil 2d 1002; Hague Conven-
tion of Oet. 18, 1907, No. 111, Relative to the Opening of Hostilities, 36 Stat.
2259, T.S. No. 538, 3 Martens Nouveau Recueil 3d 437; Hague Convention of
Oet.18, 1907, No. IV, Respeeting the Laws and Customs of War on Land, 36
Stat. 2277, T.S. No. 539,3 Martens Nouveau Reeueil 3d 461; Hague Convention
of Oet.18, 1907, No. V, Respeeting the Rights and Duties of Neutrals in War
on Land, 36 Stat. 2310, T.S. No. 540, 3 Martens Nouveau Reeueil 3d 504; Hague
Convention of Oet. 18, 1907, No. VIII, Relative to the Laying of Automatie
Submarine Contaet Mines, 36 Stat.2332, T.S. No.541, 1 Bevans 669; Hague
Convention of Oet. 18, 1907, No. IX, Coneerning Bombardment by Naval For-
ees in Time of War, 36 Stat. 2351, T.S. No. 542,3 Martens Nouveau Recueil 3d
604; Hague Convention of Oet. 18, 1907, No. X, For Adaptation of the 1906
Geneva Convention Principles to Maritime War, 36 Stat. 2371, T.S. No. 543, 3
Martens Nouveau Recueil 3d 630; Hague Convention of Oet. 18, 1907, No. XI,
Relative to the Right of Capture in Naval War, 36 Stat.2396, T.S. No.544, 1
Bevans 711; Hague Convention of Oet.18, 1907, No. XIII, Regarding Neutral
Powers in Naval War, 36 Stat. 2415, T.S. No. 545, 1 Bevans 723; Declaration of
the Hague Prohibiting the Launching of Projeeti1es and Explosives from Bal-
loons, Oet.18, 1907, 36 Stat.2439, T.S. No. 546, 1 Bevans 739; Treaty for the
Limitation of Naval Armament (Washington Treaty), Feb. 6,1922, 43 Stat.
1655, T.S. No. 671, 25 L.N.T.S. 201; Protoeol for the Prohibition of the Use in
War of Asphyxiating Poisonous or Other Gases, and of Baeteriologieal Me-
thods of Warfare, June 17, 1925,26 U.S.T. 571, T.I.A.S. No. 8061,94 L.N.T.S. 65;
Convention Regarding Maritime Neutrality, Feb.20, 1928, 47 Stat. 1989, T.S.
No.845, 135 L.N.T.S. 187; Geneva Convention for the Amelioration of the
Condition of the Wounded and Siek Armies in the Field (Red Cross Conven-
tion), July 27, 1929,47 Stat.2074, T.S. No.847, 118 L.N.T.S. 303; Geneva Con-
vention Relative to the Treatment of Prisoners of War, July 27, 1929,47 Stat.
2021, T.S. No.846, 118 L.N.T.S. 343; London Naval Treaty, Apr.22, 1930, 46
Stat.2858, T.S. No.830, 112 L.N.T.S. 65; Inter-Ameriean Treaty for the Pro-
teetion of Artistie and Scientifie Institutions and Historie Monuments, Apr.
15, 1935, 49 Stat.3267, T.S. No. 899, 167 L.N.T.S. 289; Seeond London Naval
Treaty, Mar.25, 1936, 50 Stat. 1363, T.S. No. 919,3 Bevans 257; Protoeol Relat-
ing to the Rules of Submarine Warfare Set Forth in Part IV of the Treaty of
London of Apr. 22, 1930, entered into foree Nov.6, 1936, 173 L.N.T.S. 353; The
Nyon Arrangement, Sept. 14, 1937, 181 L.N.T.S. 135; Modifieation of the Mar.
25, 1936 Agreement Regarding the Limitation of Naval Armament, June 30,
1460 M. Cherif Bassiouni

Geneva Conventions and Protocol ps, where such conduct results in


the death, great suffering, or serious injury to any protected person,
prisoner, or civilian. The term "war crime" is broad and far-reaching,
encompassing many specific acts. Torture, including the administra-
tion of unsound medical procedures and mind-altering drugs, physical
mutilation, medical experimentation, or inhuman treatment, is the
most obvious27 • Other war crimes are, inter alia, causing a civilian to
be taken hostage 28 ; depriving a prisoner of war or a civilian of the
right to the fair and regular trial prescribed in the Third and Fourth
Conventions respectively29; appropriating or causing extensive and
unjustifiable destruction of propertySO; willfully and unjustifiably de-
laying the release and repatriation of prisoners of war after the ces-
sation of hostilities 31 ; deporting civilians3!; and discriminating against
civilians or prisoners of war on the basis of race, creed, or religionss.
These proscriptions protect the following rights: life, liberty, and
personal security 3'; freedom from torture and from cruel, inhuman, or

1938, 53 Stat. 1921, E.A.S. No. 127, 3 Bevans 523; Geneva Convention of Aug.
12, 1949, No. I, For the Amelioration of the Condition of the Wounded and
Siek in the Armed Forces of the Field, 6 U.S.T. 3114, T.I.A.S. No.3362, 75
U.N.T.S. 31; Geneva Convention of Aug.12, 1949, No. II, For the Amelioration
of the Condition of the Wounded, Siek and Shipwreeked Members of Armed
Forces at Sea, 6 U.S.T. 3217, T.I.A.S. No. 3363, 75 U.N.T.S. 85; Geneva Conven-
tion of Aug. 12, 1949, No.III, Relative to the Treatment of Prisoners of War,
6 U.S.T. 3316, T.I.A.S. No. 3364, 75 U.N.T.S. 135; Geneva Convention of Aug.
12, 1949, No. IV, Relative to the Prqtection of Civilian Persons in Time of
War, 6 U.S.T. 3516, T.I.A.S. No. 3365, 75 U.N.T.S. 287; Convention for the Pro-
teetion of Cultural Property in the Event of an Armed Conflict, May 14, 1954,
249 U.N.T.S. 2t5;Addlti(!1l~l Protocol IX tQ th{LTreaty fOl.'_ the Prohibition of
Nuc1ear Weapons in Latin America, Feb.14, 1967,22 U.S.T. 754, T.I.A.S. No.
7137; Treaty on the Nonproliferation of Nuclear Weapons, July 1, 1968, 21
U.S.T. 483, T.I.A.S. No. 6839, 729 U.N.T.S. 161; Question of Chemical and Bac-
teriological (Biologieal) Weapons, Jan. 19, 1972, G.A. Res. 2827, 26 U.N. GAOR
Supp. (No. 29) at 82, U.N.Doc. A/8574 (1971); Convention on the Prohibition of
the Development, Production, and Stoekpiling of Bacteriological (Biologieal)
and Toxin Weapons and on their Destruction, Apr.lO, 1972, 26 U.S.T. 583,
T.I.A.S. No. 8062; Convention on the Prohibition of Military or Any other
Hostile Use of Environmental Modification Techniques, May 18, 1977, 31
U.S.T. 333, T.I.A.S. No.9614; Protocols Additional to the 1949 Geneva Con-
ventions, June 10, 1977, Int'l Rev. Red Cross (Spec. Issue Aug.-Sept. 1977).
U Geneva Conventions of Aug. 12, 1949 (n.25); Protocol to Geneva Con-
ventions of Aug. 12, 1949 (n. 25).
21 Bassiouni, International Criminal Law (n. 15), pp. 56 - 60.
28 Id.
2D Id.
30 Id.
31 Id.
32 Id.
33 Id.
14 See n.22.
International Criminal Law and Protection of Human Rights 1461

degrading treatment or punishmentS5 ; freedom from slavery and forced


labor s8 ; freedom from arbitrary arrest or detention37 ; a fair criminal
trial s8 ; equal treatment39 ; freedom of movement40 , religion41 , opinion,
expressionu and association43 ; the right to a family 44; and recognition
as a person before the law 45 •

3. Crimes Against Humanit y 48


Acts constituting crimes against humanity include murder, extermi-
nation, enslavement, deportation, and other inhumane acts done against

a.o; See n.24.


38 See, e.g., Universal Declaration (n. 12), art. 4; Civil Rights Covenant
(n. 7), arts.8, 11; European Convention (n. 1), art. 4; American Convention
(n. 1), art. 6.
37 See, e.g., Universal Declaration (n. 12), art. 9; Civil Rights Covenant
(n.7), art.9; European Convention (n. 1), art. 5; American Declaration (n.22),
art. 25; American Convention (n.1), art. 7.
38 See e.g., Universal Declaration (n.12), art. 11; Civil Rights Covenant
(n.7), arts.9, 15; European Convention (n. 1), art. 6, 7; American Declaration
(n. 1), art. 26; American Convention (n. 22), art. 8, 9.
39 See, e.g., Universal Declaration (n. 12), arts. 2, 7; Civil Rights Covenant
(n.7), arts.2, 26; European Convention (n.1), art.14; American Declaration
(n. 22), art. 2; American Convention (n. 1), art. 24.
40 See, e.g., Universal Declaration (n. 12), art. 13; Civil Rights Covenant
(n. 7), art. 12; American Declaration (n.22), art. 8; American Convention (n. 1),
art. 22.
41 See, e.g., Universal Declaration (n. 12), art. 18; Civil Rights Covenant
(n. 7), art. 18; European Convention (n. 1), art. 9; American Declaration (n.22),
art.3, American Convention (n. 1), art. 12.
4! See, e.g., Universal Declaration (n. 12), art. 10; Civil Rights Covenant
(n. 7), art. 19; European Convention (n. 1), art. 10; American Declaration (n.22),
art. 4; American Convention (n. 1), art. 13.
4S See, e.g., Universal Declaration (n. 12), art. 20; Civil Rights Covenant
(n. 7), art. 22; European Convention (n. 1), art. 11; American Declaration (n. 22),
art. 21, 22; American Convention (n. 1), art. 16.
" See, e.g., Universal Declaration (n. 12), art. 16; Civil Rights Covenant
(n.7), art.23; European Convention (n. 1), arts.8, 12; American Declaration
(n. 22), art. 6; American Convention (n. 1), art. 17.
45 See, e.g., Universal Declaration (n. 12), art. 6; Civil Rights Covenant
(n.7), art.16; American Declaration (n.22), art.17; American Convention
(n. 1), art. 3.
(8 See Treaty of Versailles (n. 19); Agreement for the Prosecution and
Punishment of the Major War Criminals of the European Axis (London
Charter), Aug. 8, 1945, 59 Stat. 1544, E.A.S. 472, 82 U.N.T.S. 279, 3 Bevans 1238;
Control Council Ordinance No. 10, Dec.20, 1945, Official Gazette of the Con-
trol for Germany, No. 3, Jan.31, 1946; Charter of the International Military
Tribunal: Far East, Jan. 19, 1946, T.I.A.S. No. 1589, 4 Bevans 20; Principles of
International Law Recognized in the Charter of the Nürnberg Tribunal and
in the Judgment of the Tribunal, Report of the International Law Commis-
sion, 5 U.N. GAOR Supp. (No. 12) at 11, U.N.Doc. A/1316 (1950); Convention on
the Non-Applicability of Statutory Limitations to War Crimes and Crimes
Against Humanity, G.A. Res. 2391, 23 U.N. GAOR Supp. (No. 18) at 40,
U.N.Doc. A/7342 & Corr. I (1968); European Convention on the Non-Appli-
1462 M. Cherif Bassiouni

any civilian population, or persecution on political, racial or religious


grounds, when such acts are done or such persecutions are carried out
in execution of, or in connection with any crime against peace or any
war crime 47 •
These penal proscriptions protect the same human rights listed above
in connection with war crimes.

4. Genocide48

The crime of genocide can be committed in peacetime, as weIl as


during war, when members of anational, ethnic, racial, or religious
group are killed, seriously injured, or subjected to conditions cal-
culated to partially or completely destroy the group. AdditionaIly,
genocide is committed when the group members are prevented from
giving birth, or children of the· group are forcibly transferred to an-
other groupu. Characterizing these acts as crimes attempts to safe-
guard the same rights as mentioned above, namely, the rights to life,
liberty, personal security, freedom from torture or cruel treatment,
feedom from slavery, freedom of religion, movement, opinion, asso-
ciation, and the right to a familYSo.

5. ApartheidS1

Apartheid involves acts committed for the purpose of establishing


and maintaining systematic domination over a racial group of persons.
Physical harm, killing, torture, arbitrary arrest, imprisonment, impo-
sitiOIl-of severe living conditions, deniaLof participation in the political,
social, economic, and cultural life of the country, and physical and
legislative separation of the group from the rest of· the society are all
acts constituting apartheid 5!. Criminalizing apartheid protects the
variety of human rights listed above5a •

cability of Statutes of Limitation to Crimes Against Humanity and War


Crimes, Jan. 25,1974,13 I.L.M. 540 (1974); Definition of Aggression (n. 19).
47 Bassiouni, International Criminal Law (n. 15), p. 75.

48 See Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of


Genocide, note 14.
4t Bassiouni, International Criminal Law (n. 15), p. 72.
50 See Universal Declaration (n.12), arts.5, 7, 13, 16, 18, 20; Civil Rights
Covenant (n.7), arts.2, 6 - 12, 18, 22 - 23, 26; European Convention (n. 1), arts.
2 - 5, 9, 11, 14; American Declaration (n.22), arts. 1 - 3, 6, 8, 21 - 22, 27; Ameri-
can Convention (n. 1), arts. 6 -7,12,16 - 17, 22, 24.
51 Apartheid Convention (n. 14).
52 See Bassiouni, International Criminal Law (n. 15), p. 76.
53 See notes 34 - 45 and accompanying text.
International Criminal Law and Protection of Human Rights 1463

6. Slavery and Slave-Related Practices 54


"Slavery" is the status or the condition of a person over whom any
of the powers attaching to ownership are exercised. "Slavery-related
institutions" include the institutions or practices of debt bondage, serf-
dom, marital bondage, slave labor, and sexual bondage. The crimi-
nalization of slavery and related institutions has also protected a
variety of human rights5S •

S4 See Congress of Vienna (Dec1aration on Universal Abolition of the Slave


Trade, Feb. 8, 1815, 2 Martens Nouveau Recueil 432; Treaty of London for the
Suppression of the African Slave Trade, Dec.20, 1841, 2 Martens Nouveau
Recueil 392, 508; Treaty for the Suppression of the African Slave Trade
(Washington Treaty), Great Britain - United States, Apr. 7, 1862, 12 Stat.1225,
T.S. No. 126, 1 Malloy 674; Brussels Convention, July 2, 1890, 27 Stat.886,
T.S. No.383, 17 Martens Nouveau Recueil 2d 345; International Agreement
for the Suppression of the White Slave Traffic, Mar. 18, 1904, 35 Stat. 1979,
T.S. No.496, 1 L.N.T.S. 83; Convention Relating to the Liquor Traffic in
Africa, and Protocol (St. Germain-en-Laye Convention), Sept. 10, 1919, 49
Stat.3027, T.S. No. 779, 8 L.N.T.S. 12; International Convention for the Sup-
pression of Traffic in Wornen and Children, Mar.31, 1921, 9 L.N.T.S. 415;
International Convention for the Suppression of White Slave Traffic, May 4,
1910, 7 Martens Nouveau Recueil 3d 252; Slavery Convention, Sept. 25, 1926,
46 Stat.2183, T.S. No. 778, 60 L.N.T.S. 253; Convention (No.29) Concerning
Forced or Compulsory Labor, June 28, 1930, 39 U.N.T.S. 55; International
Convention for the Suppression of Traffic in Women of Full Age, Oct.11,
1933, 150 L.N.T.S. 431; Protocol to Amend the Convention of Mar.31, 1921,
and the Convention of Oct. 11, 1933, Nov. 12, 1947, 53 U.N.T.S. 13; Convention
for the Suppression of Traffic in Women and Children, Sept.30, 1921, as
amended by Protocol, Nov.12, 1947, 53 U.N.T.S. 39; Protocol Amending Inter-
national Agreement of May 18, 1904, and the International Convention of
May 4, 1910, May 4, 1949, 30 U.N.T.S. 23; International Agreement for the
Suppression of White Slave Traffic, May 18, 1904, as amended by Protocol,
May 4,1949,2 U.S.T. 1997, T.I.A.S. No. 2332,92 U.N.T.S. 19; International Con-
vention for the Suppression of White Slave Traffic, May 4, 1910, as amended
by Protocol, May 4, 1949, 98 U.N.T.S. 101; Convention for the Suppression of
Traffic in Persons and the Exploitation of the Prostitutions of Others, May
21, 1950, 96 U.N.T.S. 271; Final Protocol to the Convention of Mar. 21, 1950, 96
U.N.T.S. 316; Protocol Amending Slavery Convention of Sept. 25, 1926, Dec.7,
1953, 7 U.S.T. 479, T.I.A.S. No.3532, 182 U.N.T.S. 51; Slavery Convention of
Sept. 25, 1926, as amended by Protocol, opened for signature Dec. 7, 1953, 212
U.N.T.S. 17; Supplementary Convention on the Abolition of Slavery, the
Slave Trade, and Institutions and Practices Similar to Slavery, Sept. 7, 1956,
18 U.S.T. 3201, T.I.A.S. No. 6418, 266 U.N.T.S. 3; Convention (No. 105) Con-
cerning the Abolition of Forced Labour, June 25, 1957, 320 U.N.T.S. 291; Ques-
tion of Slavery and the Slave Trade in All Their Practices and Manifesta-
tions, Aug. 24,1979, U.N. Doc. E/CN. 4/Sub. 2/434.
ss Bassiouni, International Crimial Law (n. 15), p. 78 -79. See notes 34 - 35
and accompanying text (human rights protected). See also Universal Dec1ara-
tion (n. 12), art. 2, 6 - 10, 16, 20; Civil Rights Covenant (n. 7), arts. 2, 6 -10,
22 - 23, 26; European Convention (n.1), arts. 1- 2, 8, 17, 21- 22, 28; American
Convention (n. 1), art. 3,5,7,16 - 17, 24.
1464 M. Cherif Bassiouni

7. Torture 58

The crime of torture is any conduct by which severe physical or


mental pain or suffering is inflicted intentionallyon a person at the
instigation of, or under the responsibility of a public official to obtain
information or a confession, to humiliate or discredit aperson, or to
inflict illegal, cruel, inhuman, or degrading punishment57• Freedom
from torture and cruel or inhuman punishment58 , rights to life, liberty
and personal security 59, and to a fair criminal tria1 60 are the human
rights protected by this proscription.

8. Unlawjul Human Experimentation61

The crime of unlawful human experimentation consists of any non-


consensual physical and/or psychological alterations by me ans of sur-
gical operations or injections, ingestion, or inhalation of substances
inflicted by, or at the instigation of, or under the responsibility of a
public official. A person is not deemed to have consented to medical
experimentation unless he or she has the capacity to consent and does
so freely after being fully informed of the nature of the experiment
and its possible consequences82 • This proscription protects the rights
of life, liberty, personal security83, freedom from torture and cruel or
inhuman punishment M , and the right to a family 65.

9. Piracy08
The crime of piracy consists of any illegal act of violence, detention,
or any other act of deprivation, committed for private ends by the crew
or- the passengers of i pdvate ship or a privateaircraft, and directed:
(i) on the high seas, against another ship or aircraft, or against persons
or property on board such ship or aircraft; or (ii) against a ship, air-

58 The Geneva Conventions of Aug. 12, 1949 (n. 25), Draft Convention for
the Prevention and Suppression of Torture, U.N.Doc. E/CN.4/NGO.213 (1978)
(hereinafter Prevention of Torture Convention).
57 Bassiouni, International Criminal Law (n. 15), at 82. See also Bassiounil
Derby (n. 3), p. 17.
58 See n. 24.
59 See n. 22.

80 See n. 38.

11 The Geneva Conventions of Aug. 12, 1949 (n. 25).


I! Bassiouni, International Criminal Law (n. 15), p. 85.
13 See n. 22.
14 See n.35.
15 See n. 44.
ee See Convention on the High Seas, Apr.29, 1958, 13 U.S.T. 2312, T.I.A.S.
No. 5200.
International Criminal Law and Proteetion of Human Rights 1465

craft, persons, or property in a place outside the jurisdiction of any


stateG7 • Life, liberty, and personal seeurity are protected by this pro-
scriptionGs•
10. HijackingGt

It is a crime intentionally to seize an aircraft by force or threat, to


destroy it, or to endanger the safety of an aircraft by threatening the
safety of any person on board, or damaging or interfering with its
operation in flight70 • Life, liberty, and personal security are also pro-
tected by this proscription71 •

11. Kidnapping and Taking of Civilian Hostages7!


This crime is committed by behavior which harms or threatens harm
against internationally protected persons73 • Seizing or detaining a per-
son against his will is included. The same human rights are protected
by this proscription as are protected by the proscription against
hij acking74 •
12. Unlawful Use of the Mails7s

The use of mails to kill or inflict harm on anyone handling or receiv-


ing mailed materials is a crime. Explosives, dangerous substances, or

G7 Bassiouni, International Criminal Law (n. 15), p. 87.


GS See n. 22 and aceompanying text.
GD Tokyo Convention of Offenses Committed on Board Aireraft, Sept. 14,
1963, 20 U.S.T. 2941, T.I.A.S. No. 6768, 704 U.N.T.S. 219; Hague Convention for
the Suppression of Unlawful Seizure of Aireraft, Dec. 16, 1970,22 U.S.T. 1641,
T.I.A.S. No. 7192, 10 I.L.M. 133 (1971); Montreal Convention for the Suppres-
sion of Unlawful Acts Against the Safety of Civil Aviation, Sept. 23, 1971,24
U.S.T. 564, T.I.A.S. No. 7570, 10 I.L.M. 1151 (1971).
70 Bassiouni, International Criminal Law (n. 15), p. 88.

71 See n. 22 and aecompanying text.


72 O.A.S. Convention to Prevent and Punish the Aets of Terrorism Taking
the Form of Crimes Against Persons and Related Extortion that are of Inter-
national Signifieanee, Feb.2, 1971, 27 U.S.T. 3949, T.I.A.S. No.8413; Conven-
tion on the Prevention and Punishment of Crimes Against Internationally
Proteeted Persons Including Diplomatie Agents, Dee. 14, 1973, 28 U.S.T. 1975,
T.I.A.S. No.8532; International Convention Against the Taking of Hostages,
opened for signature Dee.17, 1979, G.A. Res. 34 U.N. GAOR Supp. (No. 46)
p. 245, U.N.Doe. A/34/819 (1979).
73 Bassiouni, International Criminal Law (n. 15), p. 90, 92. For a definition
of "internationally proteeted person," see Convention on the Prevention and
Punishment of Crimes Against Internationally Proteeted Persons (n. 72),
art.I.
" See n. 22.
7S Treaty on the Creation of a Universal Postal Union, Oet. 9, 1874, 1 Mar-
tens Nouveau Reeueil 2d 651; Universal Postal Union, May 26, 1906, 1 Mar-
tens Nouveau Reeueil 3d 355; Universal Postal Cönvention (Berne Conven-
tion) , July 11, 1952, 4 U.S.T. 1118, T.I.A.S. No. 2800, 169 U.N.T.S. 3 (including
final protoeol, detailed regulations, and provisions eoneerning air-mail eor-
1466 M. Cherif Bassiouni

animals are a11 barred from the mails78 • The right to life, liberty, and
personal security is protected77 •

111. Enforcement Through Criminal Proscription

1. The Need fOT an International OT Transnational Element


Though in many respects international criminal law is a continuum
of internationa11y protected human rights, there are distinguishing
characteristics attributable to each of these areas. International penal
proscriptions, whether or not established for the preservation and pro-
tection of human rights, require. that each crime have an international
or transnational element78 • This element can be found in the very
nature of the violative conduct, its target-victim, or in its impact7t • The
international element can be defined by virtue of the impact of the
conduct, in that it affects the c,?l1ective security interests of the world
community, or if by reason of the seriousness and magnitude of the
violative conduct it constitutes a threat to the peace and security of
humankind. The transnational element merely affects the interests of
more than one state and therefore is more limited in its impact on
world order than is the international element.
Hence, when internationa11y protected human rights evolve to the
stage of implementation crisis, they will find their expression in inter-
national penal proscriptions only if characterized by identifiable inter-
national or transnational elements80• Internationa11y protected human

respondence); Agreement Concerning Insured Letters and Boxes, July 11,


1952";170 U.N.T.S. 3 (irtt:1udiiig final protocoläna-,aetailed regulations).
78 Bassiouni, International Criminal Law (n. 15), p. 94.
77 See n.22 and accompanying text.
78 See Bassiouni, International Criminal Law (n. 15), p. 40 - 44.
79 Such an element is identifiable in every international crime discussed
above at text accompanying notes 19 - 75, except for torture, which does not
have an international or transnational element in its commission, target-vic-
tim, or impact, except by very broad extrapolation. See BassiounilDerby
(n. 3), p. 47 - 50. See text accompanying n. 82.
80 The transnational or international element that must be found in the
human right can be viewed as the essential characteristic conferring juris-
diction over the criminal activity. The traditionally recognized bases of juris-
diction are: "first, the territorial principle, determining jurisdiction by refer-
ence to the place where the offense is committed; second, the nationality
principle, determining jurisdiction by reference to the nationality or national
character of the person committing the offense; third, the protective prin-
ciple, determining jurisdiction by reference to the national interest injured
by the offense; fourth, the universaZity principle, determining jurisdiction by
reference to the custody of the person committing the offense; and fifth, the
passive personality principle, determining jurisdiction by reference to the
nationality or national character of the person injured by the offense," Har-
yard Research on International Law: Jurisdiction with Respect to Crime,
International Criminal Law and Proteetion of Human Rights 1467

rights dealing with minimum standards of due process appropriate in


national criminal proceedings, for example, are not likely to find their
enforcement expression in international penal proscriptions, because
there are no international or transnational elements affected by the
deprivation of these rights81 • As a concrete illustration, the prohibition
against the use of torture to secure evidence is still at a draft stage
before the United Nations Commission on Human Rights8!. The slow
progress in that area is attributable to the absence of the international
or transnational element needed to make such conduct an international
crime.
In short, the determination of whether the criminal modality of
enforcement will be applied to human rights not presently so protected
will depend more on the definition of the required international or
transnational element than on the significance ascribed to the com-
monly shared values embodied in the rights by the processes which
bring about their emergence, recognition, appraisal, and implemen-
tation.

2. The Efficacy of International Penal Proscriptions


An appraisal of the effectiveness of international criminal law in
protecting human rights requires analysis of the enforcement mechan-
isms of international criminal law. Two methods have been used in
enforcement: a "direct enforcement scheme" and an "indirect enforce-
ment scheme"83. The direct enforcement scheme contemplates the crea-
tion of an international criminal court and international machinery
for the execution of an extra-national system of justice. The indirect
enforcement scheme obligates states to prosecute or extradite violators
of international normative proscriptions in accordance with national
laws.
A direct enforcement scheme, predicated on the establishment of
an international criminal court, has been discussed and advocated by
numerous international law scholars and international organizations".

American Journal of International Law 29 (1935), p.435, 455 (emphasis ad-


ded), See also Restatement (second) of the Foreign Relations Law of the
United States § 10, 1965. The discussion of these jurisdictional bases would
be relevant to an individual state's assertion of jurisdiction over specific
activity. See generally Feller, Jurisdiction over Offenses with a Foreign
Element, in: Bassiouni/Nanda (eds.), A Treatise on International Criminal
Law, vol.2 (1973), p. 5. As far as the protection of human rights through
international criminal law is concerned, this article will not deal with the
characteristics and ramifications of the jurisdictional principles, but will dis-
cuss only the transnational or international element as described in the text.
81 See Bassiouni/Derby (n. 3), p. 47 - 50.
8! Prevention of Torture Convention (n. 56).
83 See Bassiouni, International Criminal Law (n. 15), p. 52.
1468 M. Cherif Bassiouni

It has also been envisaged in a few international conventions85 • Of the


143 international instruments on international criminal law between
1815 and 198286 , three have made specific reference to an international
criminal court. The first, the 1937 Terrorism Convention87 , provided
for the creation of an international criminal court, but it never entered
into force because of insufficient ratification. The second convention to
refer to an international criminal court was the Genocide Convention
of 194888 , which states that such a court, if established, would have

84 See Historical Survey of the Question of International Criminal Juris-


dietion, Memorandum Submitted by the Seeretary-General, reprinted in
Ferencz, An International Criminal Court, A Step Toward World Peaee - A
Doeumentary History and Analysis, vol. 1, 1980, p.399; Ferencz, An Inter-
national Criminal Court, A Step Toward World Peaee - A Doeumentary
History and Analysis, 1980; Kos-Rabcewicz-Zubkowski, The Creation of an
International Criminal Court, in: Bassiouni (ed.), International Terrorism and
Politieal Crimes, 1975, p. 519; Dautricourt, The International Criminal Court:
The Coneept of International Jurisdietion - Definition and Limitation of the
Subjeet, in: Bassiouni/Nanda (eds.), A Treatise on International Criminal
Law, vol. 1, 1973, p. 636; Nepote, The Role of an International Criminal Police
in the Context of an International Criminal Court and Police Cooperation
with Respect to International Crimes, in: Bassiouni/Nanda (eds.), A Treatise
on International Criminal Law, vol. 1, 1973, p.676; Stone/Woetzel, Toward a
Feasible International Criminal Court, 1970; Carjeu, Projet d'une jurisdietion
penale internationale, 1953; Bassiouni/Derby, Final Report on the Establish-
ment of an International Criminal Court for the Implementation of the
Apartheid Convention and Other Relevant Instruments, Hofstra Law Review
9 (1981), p.523; Kos-Rabcewicz-Zubkowski, La Creation d'une Cour Penale
Internationale et l'Administration Internationale de la Justiee, Canadian
Year Book of International Law 1977, p.253; Grebing, La Creation d'une
Cour Penale Internationale: Bilan et Perspeetives, Revue Internationale de
Droit Penal 45 (1979), p.435; La Creation d'une Jurisdietion Penale Interna-
tionale et la Cooperation Internationale en Matiere Penale, Revue Inter-
nationale de Droit Penal 45 .(1974), p. 403 - 691; Miller, Far Beyond Nurem-
berg:S1:eps Toward iiiternational Crimimil Jiiifsdiction,:Kentücky Law Jour-
nal 61 (1973), p.925; Anbion, The Organization of a Court of International
Criminal Jurisdiction, Phil. Law Journal 29 (1954), p.345; Finch, Draft Stat-
ute for an International Court, Ameriean Journal of International Law 46
(1952), p. 89; Glaser, Vers une Jurisdiction Criminelle Internationale, Schwei-
zerische Zeitschrift für Strafrecht 67 (1952), p.281; Wright, Proposal for an
International Criminal Court, Ameriean Journal of International Law 46
(1952), p. 60, Liang, The Establishment of an International Criminal Juris-
dietion: The First Phase, Ameriean Journal of International Law 46 (1952),
p.73; Advisory Opinion of the International Court of Justiee and Punish-
ment of Genoeide, I.C.J. 1951, p.15.
8S See Convention for the Prevention and Punishment of Terrorism,
League of Nations Official Journal 19 (1938), p.23; Convention on the Pre-
vention and Punishment of the Crime of Genoeide (n.14), art. 6; Apartheid
Convention (n. 14), art. 5.
se See Bassiouni, International Criminal Law (n. 15), pp. XIX - XXX.
87 Convention for the Prevention and Punishment of Terrorism (n. 85). See
also Bassiouni, International Terrorism and Politieal Crimes, 1975.
88 Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Geno-
eide (n.14), art. 6. See also Bassiouni, Slavery, Genocide, and Racial Diserimi-
nation, in: Bassiouni/Nanda (eds.), A Treatise on International Criminal Law,
vol.l,1973,p.504,522.
International Criminal Law and Protection of Human Rights 1469

jurisdiction to prosecute and punish offenders. The most recent con-


vention to refer to an international criminal court was the 1973
Apartheid Convention89 , which declares that offenders under the con-
vention may be tried by an "international penal tribunal"90. It is note-
worthy that both the genocide and apartheid convention are essen-
tia11y aimed at criminalizing human rights violations committed by
individuals acting under color of state authority. In light of the
present differences in the political and ideological attitudes of the
members of the world community, and in particular the more powerful
members, it is unlikely that a tribunal acceptable to a11 can be estab-
lished or that any direct enforcement scheme will be adopted in the
foreseeable future Dl •
The indirect enforcement scheme derives from Hugo Grotius' maxim
aut dedere aut punire92 (more appropriately aut dedere aut judicare)
which, while not specifiea11y stated in a11 international criminal law
conventions, can be inferred from the provisions of a11 such con-
ventions93 •
Under this scheme, the violator or potential violator bears the risks
of prosecution or extradition in a number of states, presumably without
the benefit of a "statute of limitations"94; the opportunities for enforce-
ment are increased, while the possibilities of escaping enforcement
(prosecution or punishment) are reduced. Furthermore, penal pro-
scriptions criminalizing human rights violations stigmatize the violators
in a manner that is likely to have some deterrent effect95 . Thus, inter-
national eriminal law remains one of the most effective enforcement
mechanisms for internationa11y protected human rights.
It must be noted, however, that, to the extent the eooperation of
national courts is required, the indirect enforcement scheme is imper-
feet. Courts in many parts of the world will not be able to or will
refuse to prosecute nation als who, acting pursuant to executive policy,

89 Apartheid Convention (n. 14).


90 Apartheid Convention (n. 14), art. 5.
91 See Report of Bassiouni to the Ad Hoc Working Group of Experts for
the Commission on Human Rights, U.N.Doc. E/CN.4/AC/22 CRP, 19/Rev.l,
1980 (hereinafter Bassiouni Report).
92 Grotius, De jure belli ac pacis, Bk. II, chap.21, § 5 (1), 1624. For a more
contemporary perspective, see Costello, International Terrorism and the
Development of the Principle of Aut Dedere Aut Judicare, International Law
and Economy 10 (1975), p. 483. See also Bassiouni, International Extradition in
U.S. Law and Practice, 1983.
93 See Bassiouni, International Criminal Law (n. 15).
9i See Convention on Non-Applicability of Statutes of Limitation to War
Crimes Against Humanity (n.46). See also Symposium, Les problemes actuels
de l'extradition, Revue Internationale de Droit Penal 39 (1968), p. 375.
95 See Bassiouni/Derby (n. 3).
1470 M. Cherif Bassiouni

violate international norms. Moreover, the prosecution of the officials


of one state by courts of another state could create political conflict
or encounter jurisdictional difficultyo8. Proponents of greater inter-
nationalprotection of human rights therefore must find solutions to
these problems.
Perhaps the most basic problem to be solved is the clarification of
the criteria that will be used in criminalizing violations of interna-
tionally protected human rights. So far little information on the rele-
vance of international criminal law to human rights has emerged from
the writings of human rights scholars.
The contemporary trend in international criminalization seems to
follow a pattern similar to the trend in national policies97 • When other
social and legal (non-penal) means of control fail, the tendency is to
resort to criminalization without much regard to underlying policies
and the effectiveness of enforcement·8• Yet, there is a higher expecta-
tion of enforceability in national systems than in the international
system. The requirement discussed above, that international crimes
must have a transnational element, limits the international criminali-
zation process. Thus, at least one limit to international criminalization
is not the product of a substantive policy choice at a11.
The dilemma remains as to the justifiable policy limits on inter-
national criminallaw, and the best use of international criminallaw to
control human rights violations. The time has come for international
criminal law and international human rights experts to focus their
attention on the interrelationship of the two disciplines and the policy
questions relating thereto. The continued resort to international crimi-
nal law as a method of enforcing internationally protected human
rights will be no more effective with respect to these types of violations
than with respect. to other international criminal violations unless
workable enforcement mechanisms are instituted. Internationally pro-
tected human rights should not develop haphazardly; the international
legislator should not be permitted to follow the easy path of criminal-
ization while avoiding the difficult task of developing alternative
modalities of enforcement.
International criminal law needs growth and development in the
enforcement area, especially in developing alternatives to the all-or-
nothing "traditional" approach of an all-encompassing international

'8 See Bassiouni (n. 92).


87 Compare Bassiouni, Substantive Criminal Law, 1978, with Bassiouni,
International Criminal Law (n. 15).
88 See, e.g., Morris/Hawkins, The Honest Politican's Guide to Crime Con-
trol,1970.
International Criminal Law and Protection of Human Rights 1471

criminal court. So far, scholars have been concerned with development


of an international criminal court as the only means to enforce inter-
national criminal proscriptions9D • A different approach would be to
create specific mechanisms to regulate specialized areas of conduct, or
to prevent and suppress certain types of conduct. For example, specific
forms of pre-trial inquiry by judicial or quasi-judicial bodies for
particular types of violations could be developed100• Similarly, fact-
finding bodies with differing scopes could permit the airing of com-
plaints101 • Fact-finding bodies generally and observers could also play
more effective rolesIO!. Specialized tribunals could be established to
deal with certain types of violationslos. These bodies could be estab-
lished not only on a world-wide basis but on a regional basis. The
experience of the European system of human rightsl04 and the Inter-
American system of human rights105 could also provide a basis on
which to build alternatives to international criminal adjudication as

" See notes 84, 91.


100 See Report, Draft Statute for an International Commission of Criminal
Inquiry, International Law Association, 95th Conf., 1982, p.402; Report,
Draft Statute for the Establishment of an International Court, International
Law Association, 95th Conf., 1982, p. 409.
101 See, e.g., Optional Protocol to the International Covenant on Civil and
Political Rights, G.A. Res. 2200 A, 21 U.N. GAOR Supp. (No. 16), p.59,
U.N.Doc. Aj6316 (1966); Henkin (n. 5), pp. 15 ff.
102 See Bar-Yaacov, The Handling of International Disputes by Means of
Inquiry, 1974; Shore, Fact-Finding in the Maintenance of International
Peace, 1970; WeissbrodtjMcCarthy, Fact-Finding by International Non-
governmental Human Rights Organizations, Virginia Journal of Internation-
al Law 22 (1981), p.1; FranckjFairley, Procedural Due Process in Human
Rights Fact-Finding by International Agencies, American Journal of Inter-
national Law 74 (1980), p.308; Norris, Observations in Loco: Practice and
Procedures of the Inter-American Commission on Human Rights, Tex Inter-
national Law Journal 15 (1980), p. 1; Rodley, Monitoring Human Rights Vio-
lations in the 80's, in: Enhancing Global Human Rights, 1979, p.119; van
Boven, Fact-Finding in the Field of Human Rights, Israel Yearbook of Human
Rights 1973, p.93; Kau/man, The Necessity for Rules of Procedure in Ad Hoc
United Nations Investigations, American University Law Review 18 (1969),
p.738; Levrdijk, Fact-Finding: Its Place in International Law and Inter-
national Politics, Netherlands Journal of International Law 1967, p.141;
Rules of Procedure of European Commission on Human Rights, in: Council
of Europe, Collected Texts of the European Convention on Human Rights,
1976, pp. 301 - 308. See also Model Rules of Procedure for United Nations
Bodies Dealing with Violations of Human Rights, U.N.Doc.EjCN.4/l021jRev.l,
1970 (providing fact-finding procedures for ad hoc bodies investigating
human rights violations); Regulations of Inter-American Commission on
Human Rights, art. 23, O.A.S. Doc. OEAjSer.L/VjII. 17 Doc.26 (1967).
101 See Bassiouni Report (n.91). .
10' European Convention (n.l); Human Rights in· National and Inter-
national Law (n. 1).
105 American Convention (n.l); Wood, Human Rights Issues in Latin
America, in: Enhancing Global Human Rights, 1979, p. 155; SohnjBuergenthal
(n. 5), p. 1356; Fournier, The Inter-American Human Rights System, DePaul
Law Review 21 (1971), p. 376.
1472 M. Cherif Bassiouni

the only method of human rights proteetion. These and other alter-
natives will be diseussed in a more systematie manner in the section
below.

IV. Alternative and Complementary Enforcement Modalities

Although the fifth stage of the evolution of internationally protected


human rights, the criminalization stage, has been described as the
ultima ratio modality, there are still alternative mechanisms through
which human rights may be protected. These alternative mechanisms
at times act in concert with international eriminal law enforcement
modalities, yet remain discrete. Because the foeus of this article is
limited to the examination of the effectiveness of international criminal
law alone as a mode of enforcement of human rights, the effectiveness
of these alternative mechanisms will not be explored in depth.
The United Nations and its various organs are illustrative of a
powerful enforeement mechanism which perhaps can be called world
public opinion. Through the processes of fact-finding, discussion, de-
bate, and censure, the fora of the U.N. have been used to police the
activities of member-states in many spheres, including that of inter-
nationally protected human rights. The Security Council deals with
threats to world peace as weIl as serious violations of human rights
affecting the peace and security of mankind. For example, the Security
Council has considered issues involving the Arab-Israeli, Congo, Cyp-
rus, Rhodesia, and Bangladesh eonflictst08 The U.N. General Assembly,
although lacking the powers of sanction vested in the Security Council
under the U.RCharter, has also dealtwith issuesspecifically related
to human rights violations and has been the vehicle for the develop-
ment of international instruments and norms relating to international
criminallaw and international protection of human rights. The United
Nations has made frequent use of U.N. relief forces and observer teams
in various international, regional, and internal conflicts in the Middle
East, Korea, Vietnam, the Conga, Cyprus, and Lebanon107 • At a dif-
ferent level, the International Court of Justice has served as an
important mechanism of conflict resolution and enforcement of inter-
national law, though the lack of compulsory jurisdiction of the Court
has reduced its effectivenessl08 •

108 See, e.g., Abi-Saab, The United Nations Operation in the Congo, 1960-
1964,1979.
107 See id.

108 See Rosenne, The Law and Practice of the International Court, 1965.
See also Advisory Opinion on the Legal Consequences for States of the Con-
tinued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa), J.C.J. 1971,
p.16.
International Criminal Law and Protection of Human Rights 1473

Some mechanisms of the United Nations are focused more narrowly


on violations of human rights. The U.N. Commission on Human Rights
and the U.N. Subcommission on the Protection of Minorities and the
Prevention of Discrimination have been used as mechanisms for the
presentation of claims and complaints of human rights violations109 •
These bodies afford non-governmental organizations an opportunity
to present reports, a useful tool in the fact-finding processes of these
two bodies. They also elaborate on policy documents and international
instruments to further the protection of human rights and the develop-
ment of international criminallaw .
.Non-governmental organizations have had an increasing role as
watchdogs, providers of information and data, and as suppliers of in-
spection and observation teams in connection with specific deprivations
of human rights or other related issues. The contributions of organiza-
tions such as Amnesty International, the International Commission of
Jurists, and the Anti-Slavery Soviety, are weIl known and established.
Others, such as the International Association of Penal Law, affect
through their scholarly work the shaping of policy and the develop-
ment of international instruments within the U.N. and its specialized
agencies, as weIl as domestically in a number of statesllO •
There are a number of other specialized agencies and organizations,
either related to the United Nations or independent thereof, that moni-
tor compliance with international criminallaw111 • Among them are the
International Narcotics Control Board, created by the 1961 Convention
on Narcotic Drugs112 ; the U.N. Commission on Narcotic Drugs, which
implements U.N. enforcement of narcotics conventions with the sup-
port of the Division on Narcotic Drugs of the U.N. Secretariat113 ; the

109 See Tardu, Human Rights: The International Petition System, 1979.
110 See Frank/Fairley (n. 102). Amnesty International publishes annual and
periodic reports of its activities and issues a regular newsletter. The Inter-
national Commission of Jurists publishes a quarterly bulletin and occasional
reports. The International Association of Penal Law publishes quarterly the
Revue Internationale de Droit Penal and the Nouvel~es Etudes penales. These
and other organizations present periodic reports and statements to U.N. spe-
cialized agencies.
111 On the role of the U.N. and non-U.N. bodies in monitoring state com-
pliance with international criminal proscriptions, see generally MuelZer/
Besharov, The Existence of International Criminal Law and Its Evolution to
the Point of Its Enforcement Crisis, in: Bassiouni/Nanda (eds.), A Treatise on
International Criminal Law, vol. 1,1973, p.5.
112 Single Convention on Narcotic Drugs, Mar.30, 1961, 520 U.N.T.S. 151.
See BassiDuni, The International Narcotics Control Scheme - AProposal, St.
John's Law Review 46 (1972), p.713. The International Narcotics Control
Board publishes an annual report.
113 The Commission on Narcotic Drugs publishes annual reports submitted
to the U.N. Economic and Social Council.

93 Festschrift für H.-H. Jescheck


1474 M. Cherif Bassiouni

International Labour Organization114 , which oversees the implementa-


tion of a number of conventions dealing with labor practices violative
not only of international protection of human rights but also of inter-
national criminal law, such as slave-related practices; the International
Committee of the Red Cross, a non-U.N. organization which supervises
the implementation of the four Geneva Conventions of August 12, 1949
and the two Protocols of 1977 in relation to the siek, wounded, ship-
wreeked, civilian population, prisoners of war and other prisoners in
conflicts of both international and non-international character115 , the
U.N. High Commissioner for Refugees, who oversees the international
protection of human rights of refugees116 ; the World Health Organiza-
tion, which deals with the international protection of human rights in
the context of medicine and science U7 ; the U.N. Crime Prevention and
Criminal Justice Branch, which supports international criminal law
development118 ; and the U.N. Division of Human Rights, which supports
the development of internationally protected human rights.
The European and Inter-American regional systems for the protec-
tion of human rights have each established a commission and a court
before which complaints and legal actions may be brought11V • Com-
plaints may be brought by individuals and are investigated by the
Commissions. The Commissions are vested with the power to attempt
the conciliation of aggrieved parties and to make recommendations as
weIl as to rule on the admissibility of such complaints120 • The Courts
consider cases brought after review by the Commissions, and give
standing only to member states to adjudicate individual claims, though

_-11'- -See Constitution of the Intemational---L-abour Organisation, in: Treaty


of Versailles, June 28, 1919, pt. 13, 11 Martens Nouveau Recueil 3d, 323; St.
Germain-en-Laye Convention (n.25), at pt. 13. The ILO publishes annual
reports.
115 The Committee also publishes annual and periodic reports as weIl as a
number of publications.
118 The U.N. High Commissioner of Refugees publishes annual and peri-
odic reports. On the function of the High Commissioner, see generaIly Nanda,
World Refugee Assistance: The Role of International Law and Institutions,
Hofstra Law Review 9 (1981), p. 449.
117 The WHO publishes periodic reports and standards dealing with medi-
cal ethics.
118 The Branch prepares international instruments and reports which are
submitted to the U.N. Congress on Crlme Prevention and the Treatment of
Offenders. It has sponsored the U.N. Standard Minimum Rules for the Treat-
ment of Prisoners. See First United Nations Congress on the Prevention of
Crime and the Treatment of Offenders, U.N.Doc. A/Conf./6/1, U.N. Sales No.
1956 IV.4 (1956), p.67. The Standard Minimum Rules were approved by the
Economic and Social Council of the U.N. in ESC Res. 663 C, 24 U.N. ESCOR
Supp. (No. 1), p. 11.
119 See European Convention (n. 1); American Convention (n. 1).
120 See Tardu (n. 109).
International Criminal Law and Protection of Human Rights 1475

there is no requirement that the states represent only their own


nationals.

V. Conclusion

Internationally proteeted human rights, based on their individual


signifieanee, have been artieulated and proteeted at varying stages of
the evolutionary proeess. The trend, however, has been towards a level
of enforeement erisis. The response to these erises, where international
or transnational elements have been present in the interests sought
to be proteeted, has been enaetment of international eriminal pro-
seriptions.
The challenge of finding justifiable limits on international eriminal
law and diseovering how best to utilize international eriminal law to
prevent .and suppress the violation of human rights remains. Scholars
have yet to formulate the eriteria that should be used in seleeting rights
to undergo the eriminalization proeess. Experts in the fields of interna-
tional eriminal law and internationally proteeted human rights should
foeus their attention on the interrelationship of the two disciplines.
Such a eollaborative effort will lead to a better understanding of the
role of international eriminal law and a eomprehensive system of inter-
national proteetions.
Despite the world eommunity's growing awareness of the need to
protect eommon values, the achievement of such protection has been
elusive. Through clarifieation of the relations between these funda-
mental values and the eriminal and alternative enforeement modalities,
the possibilities of more effeetive protection are enhaneed.

93·
OTTO TRIFFTERER

Völkerstrafrecht im Wandel?

I. Bedeutung und Einordnung des Völkerstrafrechts


bei Hans-Heinrich Jescheck

1. Der Jubilar hat mit seiner Habilitationsschrift "Die Verantwort-


lichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht"l die erste Monogra-
phie zum Völkerstrafrecht vorgelegt, in der die Gesamtproblematik
der Nürnberger Prozesse dogmatisch und kriminalpolitisch aufgearbei-
tet wird. Auch im weiteren Verlauf seiner wissenschaftlichen Tätigkeit
hat er dem Völkerstrafrecht seine besondere Aufmerksamkeit gewid-
met und sich bemüht, die vielfältigen Problemstellungen dieses neuen
Gebietes dogmatisch und kriminalpolitisch zufriedenstellend zu lösen!.
Sein Interesse an der Entwicklung dieses Faches ist bis heute un-
vermindertS .

1 Rechtsvergleichende Untersuchungen zur gesamten Strafrechtswissen-


schaft, 1952.
! Vgl. insbesondere Jescheck, Der strafrechtliche Schutz der internatio-
nalen humanitären Abkommen, ZStW 65 (1953), S. 458 ff.; ders., Die Straf-
gewalt übernationaler Gemeinschaften, ZStW65 (1953), S. 496 ff.; ders., Die
internationale Genocidium-Konvention vom 9. Dezember 1948 und die Lehre
vom Völkerstrafrecht, ZStW 66 (1954), S. 193 ff.; ders., Verbrechen gegen das
Völkerrecht, Deutsche Landesreferate zum IV. Internationalen Kongreß für
Rechtsvergleichung in Paris 1954, 1955, S. 351 ff. = Strafrecht im Dienste der
Gemeinschaft, hrsg. von Vogler, 1980, S. 492 ff.; ders., Die Entwicklung des
Völkerstrafrechts nach Nürnberg, SchwZStr. 72 (1957), S. 217 ff. = Strafrecht
im Dienste der Gemeinschaft, S. 545 ff.; ders., Die Stichworte "Genocidium",
"Kriegsverbrechen", "Nürnberger Prozesse", "Organisationsverbrechen" und
"Völkerstrafrecht" , in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts,
2. Aufl., 1 (1960), S. 658 ff. bzw. 2 (1961), S. 373 ff., 638 ff., 692 f. bzw. 3 (1962),
S. 781 f.; ders., Gegenwärtiger Stand und Zukunfts aussichten der Entwurfs-
arbeiten auf dem Gebiet des Völkerstrafrechts, Erinnerungsgabe für Grün-
hut, 1965, S. 47 ff. = Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft, S. 581 ff.; ders.,
Gegenstand und neueste Entwicklung des internationalen Strafrechts, Fest-
schrift für Maurach, 1972, S. 579 ff. = Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft,
S. 615 ff.; ders., International Criminal Law: Its Object and Recent Develop-
ments, in: Bassiouni/Nanda (Hrsg.), A Treatise on International Criminal
Law I (1973), S.49 ff.; ders., Development, Present State and Future Prospects
of International Criminal Law, Rev. int. dr. pen. 52 (1981), S. 337 ff. = Ent-
wicklung, gegenwärtiger Stand und Zukunfts aussichten des internationalen
Strafrechts, GA 1981, 49 ff.; ders., Die Stichworte "Nuremberg Trials" und
"War Crimes", in: Encyclopedia of Public International Law 4 (1982), S. 50 ff.
bzw. S. 294 ff.
1478 Otto Triffterer

Ein besonderes Verdienst des Jubilars besteht darin, daß er der


sprachlichen Bezeichnung "Völkerstrafrecht" nach dem Zweiten Welt-
krieg im deutschsprachigen Raum zum Durchbruch verholfen und die
Kriterien für eine dogmatische Abgrenzung des Völkerstrafrechts zu
anderen strafrechtlichen Bereichen mit internationalem Bezug klar her-
ausgestellt hat'. Er hat dabei stets betont, daß eine strafrechtliche
Verantwortlichkeit unmittelbar nach Völkerrecht das entscheidende
Merkmal des Völkerstrafrechts ists. Eine seiner frühen Formulierun-
gen lautet: "Das Völkerstrafrecht müßte Strafnormen enthalten, die
sich unmittelbar und ohne das Medium des staatlichen Rechts an den
Einzelnen richten mit der Wirkung, daß die Strafbarkeit des bezeich-
neten Verhaltens feststünde, ohne daß es noch eines Straftatbestandes
im staatlichen Recht bedürfte ... (Grundsatz der unmittelbaren straf-
rechtlichen Verantwortlichkeit des Einzelnen nach Völkerrecht)G." Be-
züglich des Besonderen Teils des Völkerstrafrechts konzentrierte sich
die Aufmerksamkeit auf die Tatbestände, die in den Statuten von
Nürnberg und Tokio näher umschrieben und in den dortigen Prozes-
sen zur Anwendung gekommen sind: die Verbrechen gegen den Frie-
den, die Kriegsverbrechen und die Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit7 •

2. Bis zum Jahre 1972 verwendet Jescheck nahezu ausschließlich die


Bezeichnung "Völkerstrafrecht"8. Zwar gebraucht er zunächst inhalt-
lich gleichbedeutend damit auch den Ausdruck "völkerrechtliches Straf-
recht". Er bevorzugt aber die erste Bezeichnung und bedient sich der
zweiten nur gelegentlich, um den Unterschied zum staatlichen Straf-
recht besser hervortreten zu lassenG.

3 Vgl. die jüngsten in Druck befindlichen Beiträge "Genocide" und "Inter-


national Crimes", in: Encyc10pedia of Public International Law 8 (erscheint
1985).
, Vgl. insbesondere Jescheck, Verantwortlichkeit (Anm.l), S.8 ff.; ders.,
Verbrechen (Anm.2), S. 354 ff.; ders., SchwZStr. 72 (1957), S. 217 ff.; ders.,
Griinhut-Erinnerungsgabe, S. 47 ff.; ders., in: Strupp/Schlochauer, S. 781 f.;
ders., Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 1. bis 3. Aufl., jeweils § 14
in Abgrenzung zum Geltungsbereich des nationalen Strafrechts (jeweils § 18).
I Z. B. Jescheck, Verantwortlichkeit (Anm.l), S. 206 ff. und 319 ff.; ders.,
Verbrechen (Anm.2), S. 357; ders., in: Strupp/Schlochauer, S. 781; ders., Lehr-
buch AT, 1. bis 3. Aufl., § 14 III 1.
• Jescheck, in: Strupp/Schlochauer, S. 781.
7 Z. B. Jescheck, Verantwortlichkeit (Anm.l), S. 346 ff.; ders., Verbrechen
(Anm.2), S. 363 ff.; ders., SchwZStr. 72 (1957), S. 224 ff.; ders., Maurach-Fest-
schrift, S. 588 ff.; ders., Rev. int. dr. pen. 52 (1981), S. 345 f.
8 In allen einschlägigen oben in Anm.2 angeführten Veröffentlichungen;
in späteren Beiträgen findet sich die Bezeichnung nur noch in der 3. Aufl. des
Lehrbuchs (1978).
• Der Ausdruck Völkerstrafrecht ist nach Jescheck "sprachlich befriedi-
gend, trifft den Kern der Sache und läßt vor allem den Unterschied zum
Völkerstrafrecht im Wandel? 1479

Erst seit dem Jahre 1972 werden Problemstellungen, die die un-
mittelbare strafrechtliche Verantwortlichkeit nach Völkerrecht, bzw.
die klassischen Nürnberger Tatbestände (Verbrechen gegen den Frie-
den, Kriegsverbrechen und Menschlichkeitsverbrechen) betreffen, von
Jescheck nicht mehr selbständig unter dem Begriff des Völkerstraf-
rechts, sondern gemeinsam mit mehreren gleichrangigen anderen Be-
reichen unter dem Oberbegriff des Internationalen Strafrechts be-
handelt. Unter dem Titel "Gegenstand und neueste Entwicklung des
internationalen Strafrechts" erörtert er Probleme, die die Abgrenzung
der staatlichen Strafgewalt im Verhältnis zum Ausland, die Auslie-
ferung und die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, "Strafvor-
schriften zum Schutze übernationaler Rechtsgüter" sowie "Das Straf-
recht im Bereich der Europäischen Gemeinschaften" betreffen10 ; die
klassischen Nürnberger Straftatbestände werden im Zusammenhang
mit anderen Strafvorschriften zum Schutz übernationaler Rechtsgüter
erörtert. In diesem Abschnitt behandelt J escheck aber auch die Aus-
wirkungen der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschen-
rechte und Grundfreiheiten "auf die Ausgestaltung der Rechtsnormen
der Mitgliedsstaaten" 11, also einen Bereich, bei dem es nicht um die
unmittelbare strafrechtliche Verantwortlichkeit nach Völkerrecht geht.
Ferner werden in demselben Abschnitt "andere Rechtsgüter der Völ-
kergemeinschaft" erwähnt, die "in internationalen Verträgen aner-
kannt" werden, wie der Schutz der Meere gegen Piraterie und Ver-
schmutzung, der Schutz des Geldes oder derjenige vor Verbreitung
und Vertrieb unzüchtiger Veröffentlichungen!!. Insbesondere bezüglich
des letzten Rechtsgutes geht es auch nach Ansicht von J escheck nicht
mehr um die strafrechtliche Verantwortlichkeit unmittelbar nach Völ-
kerrecht, sondern nur noch um eine Strafpflicht der Staaten; ent-
sprechende Verstöße sind deshalb auch nicht nach dem Universalitäts-
prinzip, sondern lediglich nach dem Territorialitätsprinzip zu verfol-
gen. Diese Regelung der Verfolgbarkeit beruht darauf, daß derartige
Rechtsgüter im Gegensatz zu den in den Nürnberger Tatbeständen
geschützten nicht den Bestand der Völker gemeinschaft als solche be-
treffen; es geht also bei dieser Ausweitung der Anzahl der Tatbestände
nicht mehr wie beim Völkerstrafrecht um Rechtsgüter der Völker-
gemeinschaft, denen im System des Völkerrechts selbst mit Mitteln
des Strafrechts Schutz zu gewähren ist. Vielmehr sollen in erster Linie

internationalen Strafrecht im technischen Sinne deutlich hervortreten" (Ver-


antwortlichkeit [Anm. 1], S.8). Eine Gleichsetzung der Bezeichnungen "Völ-
kerstrafrecht" und "völkerrechtliches Strafrecht" erfolgt in Verantwortlich-
keit (Arun. 1), S. 9 und Verbrechen (Anm. 2), S. 363.
10 Maurach-Festschrift, S. 579 ff.
11 (Arun. 10), S. 590 f.
12 (Anm. 10), S. 591.
1480 Otto Triffterer

staatliche Rechtsgüter mit Hilfe des Völkerrechts durch eine Koordinie-


rung staatlicher Maßnahmen und durch eine entsprechende Kooperation
der Staaten besser als bisher geschützt werden18•
Ein weiterer Beitrag von Jescheck in englischer Sprache unter dem
Titel "International Criminal Law" weist in etwa dieselbe Einteilung
auf1 4 • Auch der Vortrag, den Jescheck als Präsident der AIDP im Jahre
1980 zur Eröffnung einer Sondersitzung der AIDP im Rahmen des
VI. Kongresses der Vereinten Nationen zur Verbrechensverhütung und
zur Behandlung Straffälliger gehalten hat, orientiert sich an dieser
Unterteilung; lediglich die Probleme des Rechts zur "Abgrenzung der
staatlichen Strafgewalt im Verhältnis zum Ausland" werden nicht
behandelt15 • Gerade in dieser Veröffentlichung kommt der Wandel im
Sprachgebrauch besonders deutlich zum Ausdruck. Zwar wird für die
Nürnberger Tatbestände die strafrechtliche Verantwortlichkeit unmit-
telbar nach Völkerrecht als wesentliches Kriterium nach wie vor her-
ausgestellt. Diese Tatbestände bezeichnet Jescheck aber im Gegensatz
zu früher nicht mehr als "Völkerstrafrecht" , sondern als den "sozu-
sagen ,klassischen' Bereich" des internationalen Strafrechts16 • Die ver-
änderte Ausdrucksweise überrascht vor allem deshalb, weil J escheck
noch im Jahre 1954 die §§ 3 bis 7 StGB als "das Internationale Straf-
recht im klassischen Sinne" bezeichnet und dieses eindeutig von den
"Verbrechen gegen das Völkerrecht" abgegrenzt hat; beide Begriffe
stünden zwar in enger Beziehung zueinander, dürften "aber nicht -
wie es gelegentlich in irreführender Weise geschieht - ... identifi-
ziert werden .. .'<17.

3. Die Bezeichnung "Internationales Strafrecht" wird auch von ande-


ren Autoren als Oberbegriff für verschiedenartige Bereiche des staat-
lichen und des internationalen Rechts verwendet18 • Oehler z. B. erfaßt
darunter das "Strafanwendungsrecht" , das "materielle Internationale
Strafrecht (Völkerstrafrecht)" , das "supranationale Strafrecht" und das
"Rechtshilferecht" 19. Er lehnt die Bezeichnung und den Begriff des
Völkerstrafrechts ab; der letzte sei "weniger klar als der Begriff des

13 Näher zu den unterschiedlichen Ansätzen für einen Schutz von Rechts-


gütern durch das Völkerrecht Trif/terer, Dogmatische Untersuchungen zur
Entwicklung des materiellen Völkerstrafrechts seit Nürnberg, 1966, S. 173 fi.
14 In: BassiounijNanda (Anm.2), S.49 fi.
lS GA 1981,49 fi.
11 GA 1981, 51.
17 Jescheck, Verbrechen (Anm. 2), S. 357.

18 z. B. Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl., 1983, Rdz.2 f., 28 fi. und


995 fi.; Linke u. a. (Hrsg.), Internationales Strafrecht, 1981, S. 1 fi.; Liebseher,
Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 3. Lfg., 1980, Vorbem. §§ 62 bis 67
Rdz.l fi.
19 (Anm. 18), Rdz. 1 bis 5.
Völkerstrafrecht im Wandel? 1481

materiellen internationalen Strafrechts. Das Wort Völkerstrafrecht ist


irreführend, als es fälschlich darauf hindeutet, daß es sich bei den
darunter verstandenen Normen um einheitliches überall geltendes
Strafrecht im Rahmen des Völkerrechts handele"20. Diese Ablehnung
und vor allem ihre Begründung sind deshalb nicht ganz verständlich,
weil Oehler selbst in übereinstimmung mit Jescheck davon ausgeht,
daß sich "Tatbestände und ihre Rechtsfolgen unmittelbar aus dem
ungeschriebenen Völkerrecht ergeben" können21 • Soweit die staatlichen
Rechtsordnungen der Anwendung dieses Rechts nicht Hindernisse ent-
gegenstellen, wie z. B. Artikel 103 Abs.2 BGG, kann deshalb entgegen
Oehler wenigstens im anglo-amerikanischen Bereich, in dem das Völker-
recht insgesamt als Teil des staatlichen Rechts angesehen wird, doch vom
Völkerstrafrecht als einem einheitlich überall geltenden "Strafrecht im
Rahmen des Völkerrechts" gesprochen werden. Im übrigen erfaßt Oehler
unter dem Begriff des "materiellen Internationalen (Völker-)Strafrechts"
all jene Verträge, "bei denen der Schwerpunkt in der Schaffung solcher
materiell-internationalen Delikte liegt, die von der überwältigenden
Zahl von Staaten als gegen die Grundsätze der Menschlichkeit ver-
stoßend angesehen werden und bei denen mit der Setzung des Delikts
zugleich auch die Frage des Strafanwendungs rechts entschieden wird".
In diese Gruppe fallen bei ihm ähnlich wie bei J escheck neben den
klassischen Nürnberger Tatbeständen u. a. auch der Handel mit un-
züchtigen Veröffentlichungen, unerlaubte Sprengstoffbeförderung in
Postsachen ete. 2!.
Einen ähnlich weiten Begriff des Internationalen Strafrechts ver-
tritt auch Liebseher; er setzt ebenfalls materielles Internationales
Strafrecht und Völkerstrafrecht gleich, hält aber den zweiten Aus-
druck im Gegensatz zu Gehler nicht für verfehlt23 •
Die deutsche Sprache ist nicht die einzige, in der eine spezielle
Bezeichnung für die strafrechtliche Verantwortlichkeit unmittelbar
nach Völkerrecht vorhanden ist. Im Französischen, im Spanischen und
im Polnischen hat sich ebenfalls eine sprachliche Differenzierung zum
staatlichen Strafanwendungs recht und zu anderen strafrechtlichen Rege-
lungen mit internationalem Bezug durchgesetzt24 • In der englischen
Sprache dagegen gibt es nur die Bezeichnung "International Criminal
Law"; darunter fallen sowohl nationale strafrechtliche Regelungen mit
20 Gehler (Anm. 18), Rdz. 3.
n (Anm. 18), Rdz. 2.
22 (Anm. 18), Rdz. 28 bzw. 1004.
23 Anm.18.
U TritJterer, Untersuchungen (Anm. 13), S. 27 f.; Bassiouni, International
Criminal Law. A Draft International Criminal Code, S.27 Fn.3; Gardocki,
o pojE:ciu prawa karnego miE:dzynarodowego (Ober den Begriff des Inter-
nationalen Strafrechts), Paiistwo i Prawo 1984, 71 ff., insbes. S.78.
1482 Otto Trifftl~rer

internationalem Bezug als auch völkerrechtliche Regelungen strafrechtli-


cher Art einschließlich des (echten) Völkerstrafrechts. Trotz dieser sprach-
lichen Zusammenfassung wird allerdings auch im anglo-amerikanischen
Bereich, z. B. anhand des Kriteriums unmittelbarer strafrechtlicher Ver-
antwortlichkeit nach Völkerrecht differenziert2li •

4. Der Wechsel in der Bezeichnung bei Jescheck dürfte verschiedene


Ursachen haben.
a) Einleitend zu seinem Beitrag, in dem erstmals der Ausdruck "Völ-
kerstrafrecht" trotz Behandlung einschlägiger Materien fehlt, will
J escheck im Jahre 1972 den Begriff "Internationales Strafrecht" nicht
mehr "als Ausdruck einer juristischen Qualifikation der betreffenden
Normen, sondern in dem unspezifischen Sinne eines Funktionszusam-
menhangs verstanden" wissen. Er beruft sich dabei auf einen Beitrag
von Schwarzenberger aus dem Jahre 1950, nach dem "International
Law has not yet evolved a branch of criminal law of its own". Die
Betrachtung "unter diesem Blickwinkel" soll die Möglichkeit eröffnen,
"dem internationalen Strafrecht alle strafrechtlichen Rechtsbildungen"
zuzuordnen, "bei denen das Verhältnis des Staates zum Ausland eine
Rolle spielt"!6.
Ein Jahr später geht der Jubilar in seinem englischen Beitrag von
einem ähnlich weiten Begriff des Internationalen Strafrechts aus, stellt
aber vorher einleitend fest: "That the international community of
nations itself could possess its own criminal power, from which an
LC.L. in turn could be developed, is also an idea one cannot dispute!7."
Er begründet aber die Wahl seiner pragmatischen Vorgehensweise
crafIl1f;daß sie bestimmte Vorteile biete. "In the first place it facilitates
the objective perception of correlations among diverse legal phenomena
which have not yet been rationally c1assified. Further, this method
of proceeding makes possible a demonstration of the reciprocal inter-
dependence of the relevant criminal law matters, thereby allowing
one to draw those reasonable conc1usions which are appropriate for
an accurate treatment of the subject. Finally, such an overview of
the entire subject matter makes it possible to more easily recognize
the juridical value of a particular rule in its spheres of application28 ."

2S Vgl. dazu TrijJterer, Untersuchungen (Anrn.13), S. 65 ff. m. N.; Kunz,


The United Nations Convention on Genocide, Am. Journ. Int. L., 43 (1949),
S. 738 ff.; dieser Standpunkt wurde auch bei den Arbeiten bezüglich des Draft
Code und der Entwürfe für das Statut eines Internationalen Strafgerichts-
hofs vertreten, vgl. z. B. TrijJterer, Untersuchungen, S.79 m. w. N. Die ILC
hat bei ihren gegenwärtigen Arbeiten zur Reform des Draft Code diesen
Standpunkt beibehalten, vgl. unten 11 2 a.
28 Maurach-Festschrift, S. 579 mit Fn. 1.

27 In: BassiounilNanda (Anm. 2), S. 49.


Völkerstrafrecht im Wandel? 1483

Im Vortrag, den Jescheck als Präsident der AIDP gehalten hat, er-
klärt er die Wahl der Bezeichnungen "International Criminal Law"
und "Internationales Strafrecht" mit dem Hinweis, sie müßten in einem
"das Völkerstrafrecht einschließenden Sinne" verstanden werden2D •

b) Die von Jescheck im Jahre 1973 gegebene Begründung für den


Wechsel im Sprachgebrauch soll die von ihm seit 1972 vertretene Zu-
sammenfassung der verschiedenen rechtlichen Bereiche mit internatio-
nalem Bezug unter dem Oberbegriff des Internationalen Strafrechts
zumindest erklären. Naheliegend ist ferner, daß die bei Jescheck nach
Jahren intensiven Bemühens um die Weiterentwicklung des Völker-
strafrechts deutlich zutage tretende Resignation mit dazu beigetragen
hat, die präzise dogmatische Trennung zwischen dem Völkerstrafrecht
und dem Internationalen Strafrecht nicht mehr in dem Maße wie bis
1965 aufrecht zu erhalten. In seiner letzten Veröffentlichung zum Völ-
kerstrafrecht vor dem Wechsel im Sprachgebrauch schreibt er nämlich
im Jahre 1965 bezüglich der Bemühungen zur Kodifizierung des Völ-
kerstrafrechts und zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichts-
hofes zusammenfassend: "Beide Entwürfe erscheinen uns heute als
der Abschluß eines vielversprechenden, inzwischen aber mißlungenen
Versuchs des Aufbaus einer wirklichen internationalen Gemeinschafts-
ordnung 30 ." Auch in seinem ersten Beitrag, in dem er das Völkerstraf-
recht dem Internationalen Strafrecht zurechnet, klingt diese Resigna-
tion an. Sie bezieht sich dort allerdings nicht so sehr auf das Völker-
strafrecht selbst, als auf ein "Einheitsstrafrecht" . Jesclleck setzt nun-
mehr seine ganze Hoffnung auf einen Ausbau des Internationalen
Strafrechts, um "die Aufgabe eines den nationalen Rahmen über-
höhenden Strafrechts auf andere und bessere Weise zu erfüllen: ... Das
Internationale Strafrecht im weitesten Sinne ist heute an vorderster
Stelle dazu berufen, für das Zusammenleben der Menschen in Würde
und Frieden mehr Rechtssicherheit und mehr Gerechtigkeit zu schaf-
fen"31. Auf der gleichen Linie liegt auch der Beitrag, mit dem Jescheck
sich als Präsident der AIDP 1980 entsprechend der Tradition seiner
Vorgänger mit dem Gewicht seiner Person und seines Amtes für die
Weiterentwicklung dieses Internationalen Strafrechts im weitesten
Sinne einsetzt. Erst der jüngste Beitrag von Jescheck läßt erkennen, daß
dieser dem Völkerstrafrecht nach wie vor eine eigenständige Funktion
zuweist.

IS (Anm. 27), S. 50.


28 Rev. int. dr. pen. 52 (1981), S. 337 Fn. 1 bzw. GA 1981, 49 Fn. 1.
80 Grünhut-Erinnerungsgabe, S.47.
31 Maurach-Festschrift, S. 594.
1484 Otto Triffterer

5. Der Verzicht auf die Bezeichnung "Völkerstrafrecht" , wie ihn


J escheck seit 1972 in mehreren wissenschaftlichen Beiträgen prakti-
ziert hat, ist bedauerlich, wiegt aber an sich nicht schwer. Dies gilt vor
allem deshalb, weil J escheck in seinem Allgemeinen Teil des Straf-
rechts noch in der dritten Auflage (1978) an einer sprachlichen und an
einer klaren begrifflichen Trennung des Völkerstrafrechts und des
Internationalen Strafrechts festhält3!.
Auch die Einordnung des Völkerstrafrechts unter einen Oberbegriff
des "Internationalen Strafrechts" wäre für sich allein betrachtet un-
problematisch. Sie könnte allerdings nur dann befürwortet werden,
wenn durch diese zusammenfassende Bezeichnung keine Verwechs-
lungsgefahr entstünde und die begriffliche Unterordnung die Eigen-
heiten des Völkerstrafrechts, um deren Herausarbeitung der Jubilar
sich durch Jahrzehnte große Verdienste erworben hat, nicht verloren-
gehen ließe. Gerade diese Gefahren bestehen aber.
Die Bezeichnung Internationales Strafrecht ist mehrdeutig; sie wird
am häufigsten für die Regelungen in den §§ 3 bis 7 StGB verwendet
(die den Umfang des staatlichen Strafanspruchs festlegen und die aus-
schließlich nationales Recht sind), obwohl sie auch insoweit ganz über-
wiegend als mißglückt und irreführend angesehen wird33 • Eine Be-
zeichnung, die in einem weiteren und in einem engeren Sinne ver-
wendet wird, kann aber als Oberbegriff nicht zufriedenstellen. Sie
könnte es erst dann, wenn sich für die staatlichen Regelungen bezüg-
lich des Anwendungsbereichs des Strafrechts eine andere Bezeichnung
als Internationales Strafrecht (im engeren Sinne) durchsetzt3' .
Eine Einordnung des Völkerstrafrechts unter einen Oberbegriff ist fer-
ne~ nur dann· unproblematisch, wenn ciieKriterien, mit deren Hilfe
J escheck selbst bis 1972 stets eine Abgrenzung zu verwandten Rechts-
begriffen durchgeführt hat, beibehalten werden. Gerade das ist aber
in zunehmendem Maße fraglich, z. B. wenn Straftaten unmittelbar
nach Völkerrecht mit solchen zu einer Gruppe zusammengefaßt wer-
den, die erst mit Hilfe der staatlichen Rechtsordnungen in Tatbestän-
den genauer umschrieben werden. Das Völkerstrafrecht ist das Straf-
recht der Völkergemeinschaft, also Strafrecht im System des Völker-
rechts35 • Ein Verlust seiner scharfen Konturen könnte zu einer Sym-
3t Lehrbuch des Strafrechts AT, 3. Aufl., S. 93 ff. und 129 ff.
33 Eser, in: SchönkelSchröder, 21. Aufl. (1982), Vorbem. §§ 3 - 7 Rdn. 1 m. N.;
SamsoTr, SK, 4. Aufl., Allgemeiner Teil (1983), Vor § 3 Rdz.l; Tröndle, LK,
10. Aufl., 1. Lfg. 1978, Vor § 3 Rdn. 1.
34 Für entsprechende Bestrebungen vgl. Eser, Die Entwicklung des Inter-
nationalen Strafrechts im Lichte des Werkes von Hans-Heinrich Jescheck, in
dieser Festschrift, S. 1353 ff.
S5 Nachw. oben Anm. 4 und 5; vgl. auch Triffterer, Untersuchungen
(Anm. 13), S. 28 ff.
Völkerstrafrecht im Wandel? 1485

biose mit den Bereichen des staatlichen und des internationalen Rechts
führen, bei denen es allein um die Ausübung staatlicher Strafgewalt
und/oder um eine gewisse Koordination und Kooperation der Staaten
zur Erfüllung dieser (einer den Staaten ureigenen) Aufgabe geht.
Wenn z. B. die Pornographie und der Völkermord in einer Gruppe
zusammengefaßt werden, wird verdeckt, daß durch Pornographie-
Delikte die Erhaltung der Völkergemeinschaft in ihrer Existenz nicht
bedroht ist. Durch diese Gleichsetzung verschiedenartiger Deliktstypen
könnte aber gerade die Verwirklichung der Anliegen des Völkerstraf-
rechts gefährdet werden, für die Jescheck sich jahrzehntelang intensiv
eingesetzt hat.

6. Der Jubilar hat dem Verfasser für dessen Einstieg in die wissen-
schaftliche Laufbahn die Aufgabe übertragen, die Entwicklung des
Völkerstrafrechts für die ersten zwanzig Jahre seit Nürnberg zu
prüfen. Diese Untersuchung hat eine allgemeine Anerkennung der
von dem Jubilar befürworteten unmittelbaren strafrechtlichen Ver-
antwortlichkeit nach Völkerrecht ergeben3s • Der Wechsel im Sprach-
gebrauch und die spürbare Resignation des Jubilars haben erst da-
nach eingesetzt. Heute, nach weiteren zwanzig Jahren, soll deshalb
dem Jubilar eine erneute Prüfung gewidmet werden. In dieser kann
allerdings aus Raumgründen nicht die gesamte seitherige Entwicklung,
sondern nur der Zeitraum der letzten fünf Jahre behandelt werden.
Dabei wird sich zeigen, daß die Zukunfts aussichten des Völkerstraf-
rechts, die in den Jahren 1965 bis 1980 nicht besonders gut waren,
inzwischen wieder entscheidend verbessert worden sind. Für eine
Resignation besteht insofern kein Anlaß mehr.
Zugleich soll aber darauf hingewiesen werden, daß ein Verzicht
auf die Bezeichnung "Völkerstrafrecht" nicht wünschenswert wäre und
daß die Zusammenfassung völkerstrafrechtlicher Tatbestände in einer
Deliktsgruppe mit anderen Straftaten der Entwicklung des Völker-
strafrechts nicht dienlich ist; sie könnte sogar die jetzt möglicher-
weise in greifbare Nähe rückende Verwirklichung des Völkerstraf-
rechts gefährden.

11. Gegenwärtiger Stand

1. Seit den Prozessen von Nürnberg und Tokio werden die Verbre-
chen gegen den Frieden, die Kriegsverbrechen und die Verbrechen
gegen die Menschlichkeit als klassische Tatbestände eines Völkerstraf-
rechts angesehen. Sie gelten auch heute noch als typische Beispiele für
Straftaten, die unmittelbar nach Völkerrecht geahndet werden sollen.

3S Tritlterer, Untersuchungen (Anm. 13), insbes. S. 30 ff., 139, 167, 172.


1486 Otto Triffterer

Allerdings ist immer noch umstritten, ob entsprechende Tatbestände


geltendes Völkerstrafrecht sind. Jescheck hat gerade diese Entwicklung
regelmäßig und mit besonderer Sorgfalt beobachtet. Er kommt dabei
in übereinstimmung mit der überwiegenden Ansicht in der Literatur
zu dem Ergebnis, daß entsprechende Tatbestände nur zu einem gerin-
gen Teil geltendes Völkerstrafrecht sind37 •

a) Ob Verbrechen gegen den Frieden unmittelbar nach Völkerrecht,


d. h. ohne Zwischenschaltung eines nationalen Straftatbestandes, be-
straft werden können, ist immer noch umstritten. Die einstimmige
Bestätigung der Nürnberger Grundsätze durch die Generalversamm-
lung der Vereinten Nationen unmittelbar nach dem Zweiten Welt-
krieg wird ganz überwiegend nicht als positivrechtliche Verankerung
entsprechender Straftatbestände im Völkerrecht angesehen88 • Zwar ist
inzwischen im Rahmen der Vereinten Nationen eine Einigung über
den Begriff des Angriffs im Jahre 1974 erzielt und der Angriffskrieg
verschiedentlich als Verbrechen gegen das Völkerrecht bezeichnet wor-
den. Ein Strajtatbestand ist aber nur im Draft Code of Offences against
the Pe ace and Security of Mankind vorhanden, der z. Z. noch von der
International Law Commission der Vereinten Nationen beraten wird
(näher unten 2 a).
Auch eine gewohnheits rechtliche Festlegung der Strafbarkeit un-
mittelbar nach Völkerrecht ist nicht zu verzeichnen. Selbst wenn man
mit Jescheck die Ansicht vertritt, Völkerstrafrecht könne aus allen
Quellen des Völkerrechts, also auch durch Völkergewohnheitsrecht
entstehenS8 , läßt sich ein anwendbarer Straftatbestand für die Ver-
~en gegen den Frieden nicht feststellen. Die Verankerung in den
Statuten von Nürnberg und Tokio haben nur dort zu einer entspre-
chenden Praxis geführt. Durch die vielfältige Behandlung im Rah-
men der Vereinten Nationen fehlt es zwar nicht an einem entspre-
chenden Rechtsbewußtsein; doch ist keiner der zahlreichen Angriffs-
kriege der letzten vierzig Jahre strafrechtlich verfolgt worden; inso-
fern mangelt es an der entsprechenden übung.

31 Vgl. z. B. die jeweiligen Bestandsaufnahmen bei Jescheck: Verbrechen


(Anm. 1), S. 364 ff.; ders., SchwZStr. 72 (1957), S. 224 ff.; ders., Maurach-Fest-
schrift, S. 588 ff.; ders., GA 1981, 53 ff.; ders., International Crimes, in: En-
cyclopedia 8, Pkt. 3 (im Druck). Ferner Oehler, Internationales Strafrecht,
2. Aufl., Rdz. 1000.
38 Jescheck, Verbrechen (Anm.l), S. 366 ff.; ders., SchwZStr. 72 (1957),
S. 220 ff.; ders., Grünhut-Erinnerungsgabe, S.52 Fn.37; ders., Maurach-Fest-
schrift, S.588; ders., International Crimes, in: Encyclopedia 8, Pkt. 3 a (im
Druck); TrifJterer, Untersuchungen (Anm. 13), S. 18 f., vgl. auch S. 75 f.
38 Jescheck, zuletzt, International Crimes, in: Encyc10pedia 8, Pkt.2 a (im
Druck); ausführlich TrifJterer, Untersuchungen (Anm. 13), S. 35 ff., insb. 128
bis 140.
Völkerstrafrecht im Wandel? 1487

b) Wesentlich positiver stellt sich die Entwicklung bezüglich der


Kriegsverbrechen dar. Diesbezüglich haben die vier Genfer Konven-
tionen aus dem Jahre 1949 die unmittelbare Verantwortlichkeit nach
Völkerrecht für schwere Verletzungen des Kriegsrechts kodifiziert und
diesen Grundsatz durch das Zusatzprotokoll Nr.1 vom 12. 12. 1977 be-
stätigt40 • Die Bedeutung dieser Regelung besteht in dem Nachweis,
daß eine Kodifikation des Völkerstrafrechts auch dann zu erreichen
ist, wenn für derartige Bestimmungen die strengen dogmatischen Vor-
aussetzungen, wie sie J escheck gemeinsam mit anderen nach dem
Zweiten Weltkrieg gefordert hat, angelegt werden. Ferner zeigen
gerade diese Konventionen, daß Völkerstrafrecht sich auch durch
Gewohnheitsrecht entwickeln kann; denn sie kodifizieren nur das, was
ohnehin schon vorher an Straftatbeständen im Völkerrecht vorhan-
den war41 •
Allerdings ist es bei der heutigen Weltlage nur schwer vorstellbar,
daß eine solche universelle überzeugungsbildung und erst recht eine
entsprechende übung, wie sie im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert
für die kriegerischen Auseinandersetzungen vorhanden war, das Völ-
kerstrafrecht erneut weiterentwickeln wird. Vielmehr dürfte künftig,
wie gerade die Zusatzprotokolle zu den Genfer Konventionen zeigen,
eine solche Entwicklung wohl nur über eine positivrechtliche Regelung
zu erzielen sein. Dennoch darf diese Möglichkeit zur Verwirklichung des
Völkerstrafrechts nicht aus dem Auge verloren werden. Sie könnte
z. B. für die Strafbarkeit eines Atomwaffeneinsatzes von Bedeutung
sein (näher unten 2 a, Fn.59 und davor). Auch Jescheck läßt diesen Weg
für die Entstehung von völkerstrafrechtlichen Normen offen und for-
dert dementsprechend als erstes Kriterium für echtes Völkerstrafrecht
die unmittelbare Strafbarkeit nach dem Völkerrecht aus einem ent-
sprechenden Vertrag oder durch entsprechendes Gewohnheitsrecht42 •
c) Nicht ganz so erfreulich ist die Entwicklung bezüglich der Ver-
brechen gegen die Menschlichkeit verlaufen. Zwar wird heute all-
gemein anerkannt, daß die Verknüpfung von Kriegsverbrechen und
Menschlichkeitsverbrechen, wie sie in Nürnberg festgelegt worden ist,
aufgehoben werden soll. Positivrechtlich ist eine unmittelbare Ver-
antwortlichkeit nach Völkerrecht allerdings bisher nur für den Völ-
kermord und allenfalls für die Strafbarkeit der Apartheid geregelt
worden43 •
40 Vgl. Jescheck, Verbrechen (Anm.l), S. 371 f.; ders., SchwZStr. 72 (1957),
S. 227 f.; ders., Maurach-Festschrift, S.589; ders., GA 1981, 55 ff.; ders., Inter-
national Crimes, in: Encyclopedia 8, Pkt. 3 b (im Druck); Tritfterer, Unter-
suchungen (Anm. 13), S. 190 ff.
41 Jescheck, Verbrechen (Anm. 1), S. 508 f.; vgl. auch Tritfterer, Unter-
suchungen (Anm. 13), S. 84 ff.
42 International Crimes, in: Encyclopedia 8, Pkt. 2 a (im Druck).
1488 Otto Triffterer

d) Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß eine Bestandsauf-


nahme des geltenden Völkerstrafrechts im gegenwärtigen Zeitpunkt
noch nicht sehr ergiebig ist. Immerhin gibt es aber echtes Völkerstraf-
recht in geringem Umfang, so daß auch der Wissenschaft die Aufgabe
übertragen bleibt, sich weiterhin für die Entwicklung einzusetzen.

2. Positiver als eine Bestandsaufnahme des geltenden Völkerstraf-


rechts erscheinen die Bemühungen zur Kodifizierung dieses Gebietes.
Sie sind in den letzten fünf Jahren in einem solchen Maße intensiviert
worden, daß sie mit denjenigen im Anschluß an die Prozesse von
Nürnberg und Tokio verglichen werden können44 • Allerdings gehen die
neuen Bemühungen nicht alle in die gleiche Richtung. Die Kodifika-
tionsarbeiten im Rahmen der Vereinten Nationen tendieren zu einer
Verwirklichung des Völkerstrafrechts auf der engen Grundlage der
klassischen Tatbestände von Nürnberg und Tokio mit minimalen Er-
weiterungen (unten a); daneben gibt es Bemühungen im Rahmen der
Association Internationale de Droit Penale (AIDP) und der Interna-
tional Law Association (ILA), die beide das Völkerstrafrecht in einen
umfassenden Begriff des International Criminal Law integrieren (siehe
unten b bzw. cl.
Die Gegenüberstellung dieser verschiedenen Bestrebungen wird zei-
gen, daß die Kodifikationsversuche im Rahmen der Vereinten Nationen
in die RiChtung der ursprünglichen Konzeption des Völkerstrafrechts
von J escheck tendieren, während die anderen Bemühungen mehr da-
hin zielen, zunächst die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet
des Strafrechts soweit wie möglich auszudehnen, um durch die dabei
gesammelten Erfahrungen eine tragfähige Basis für den Aufbau eines
Völkerstrafrechts zu schaffen45 •

a) Im Rahmen der Vereinten Nationen wurden die Arbeiten zur


Kodifizierung des Völkerstrafrechts nach der Einigung über die Defini-
tion des "Angriffs" nur sehr schleppend wieder aufgenommen. Erst
Ende 1981 beschloß die Generalversammlung, die International Law

48 Vgl. Jescheck, Verbrechen (Anm.l), S. 378 f.; ders., SchwZStr. 72 (1957),


S. 230 ff.; ders., Maurach-Festschrift, S.590; ders., GA 1981, 58 f.; ders., Inter-
national Crimes, in: Encyclopedia 8, Pkt. 3 c (im Druck); TrifJterer, Unter-
suchungen (Anm. 13), S. 151 f.
44 Zu den damaligen Bemühungen ausführlich TrifJterer, Untersuchungen
(Anm. 13), insbes. S. 63 ff., 128 ff. und 165 ff.
45 Eine solche Tendenz wurde insbes. auf den verschiedenen Tagungen
bezüglich des International Criminal Law im Rahmen des Institute of Higher
Studies in Criminal Science deutlich; näher dazu unten b. Sie zeichnet sich
aber auch bei Jescheck, Maurach-Festschrift, S. 579 ff. und Vogler, General-
bericht zum Thema IV (Strukturen und Methoden der internationalen und
regionalen Zusammenarbeit in der Strafrechtspflege) des XIII. Internationa-
len Strafrechtskongresses, ZStW 96 (1984), S. 531 ff., 552 ab.
Völkerstrafrecht im. Wandel? 1489

Commission (ILC) mit der überarbeitung des Draft Code of Offences


against the Peace and Security of Mankind (Draft Code) zu beauf-
tragen4G • Nach Bildung einer Arbeitsgruppe im Jahre 1982 hat die
ILC auf deren Empfehlung noch im selben Jahr beschlossen, dem
Draft Code die notwendige Priorität innerhalb eines Fünf-Jahres-Pro-
gramms der ILC einzuräumen47 • Unter Berücksichtigung des ihr vor-
gelegten Informationsmaterials und der Stellungnahmen der Mitglieds-
staaten sowie der zwei Berichte ihrer Arbeitsgruppe48 hat die ILC
über eine Kodifizierung des Völkerstrafrechts in ihrer 35. Sitzung 1983
sowie in ihrer 36. Sitzung 1984 erneut beraten48 • Dabei sind folgende
Ergebnisse erzielt worden:
- Der Grundsatz der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Einzel-
nen unmittelbar nach Völkerrecht wird seit Nürnberg und Tokio
allgemein anerkannt und von der ILC einstimmig bestätigt50 • Er
hat im gegenwärtigen Stadium der Arbeiten Vorrang vor der
Frage, ob auch Staaten strafrechtlich unmittelbar nach Völkerrecht
zur Verantwortung gezogen werden können51 • Festgehalten wurde
dabei aber ausdrücklich, daß eine individuelle strafrechtliche Ver-
antwortlichkeit nach Völkerrecht eine solche der Staaten selbst
nicht ausschließe5!.

ce Zum Gang der verschiedenen Verfahren im Rahmen der Vereinten


Nationen bis zum 10. Juli 1984 vgl. Draft Report of The International Law
Commission, Chpt. 11, UN Doc. A/CN. 4/L. 371, par. 1 bis 19.
47 Draft Report (Anm. 46), par. 14.
48 Vgl. UN Doc. A/CN. 4/365 vom 25.3.1983; UN Doc. A/cN. 4/368 vom 13.4.
1983 (in diesem "compendium of relevant international instruments" sind
angefangen von dem Versailler Friedensvertrag vom 28.7.1919 alle ein-
schlägigen internationalen Dokumente, die sich mit den Verbrechen gegen
den Frieden, mit Kriegsverbrechen oder mit Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit befassen, sowie alle anderen internationalen Konventionen und Er-
klärungen, in denen für ein Völkerstrafrecht relevante Formulierungen ent-
halten sind, per Fotokopie im Originaltext zusammengestellt); UN Doc. A/
CN.4/369 vom 19.4. 1983; mit add. 1 und 2 (die die Stellungnahmen von
Surinam, der Tschechoslowakei und Uruguay zum Draft Code wiedergeben);
UN Doc. A/CN. 4/364 vom 29.4. 1983, First Report on the Draft Code of Of-
fences against the Peace and Security of Mankind, by Thiam; UN Doc. AI
CN. 4/368/add. 1 vom 17.6.1983 (in diesem Dokument werden zu dem oben
erwähnten Compendium weitere einschlägige internationale Dokumente
nachgereicht); UN Doc. A/CN. 4/L. 369/Chpt. B, mit den Stellungnahmen des
Sixth Committee der Vereinten Nationen; UN Doc. A/CN. 4/377 vom 1. 2.1984,
Second Report on the Draft Code of Offences against the Peace and Security
of Mankind by Thiam.
49 Report of the International Law Commission on the work of its thirty-
fifth session (3.5. bis 22.7.1983), UN Doc. GA, supplement No. 10 (A/38/10),
Chpt. 11, Draft Code of Offences against the Peace and Security of Mankind;
vgl. auch Anm. 46.
60 Report (Anm. 49), par. 51; vgl. auch Draft Report (Anm. 46), par. 23.
51 Report (Anm. 49), par. 60 f. bzw. Draft Report (Anm. 46), ebenda.
62 Draft Report (Anm. 46), par. 23; vgl. auch Report (Anm. 49), par. 60.

94 Festschrift für H.-H. .Tescheck


1490 Otto Triffterer

- In den Draft Code sollen nur solche Straftaten aufgenommen wer-


den, "which may affect the peace and security of mankind"53. Trotz
aller Verschiedenheit sei ein gemeinsames Merkmal solcher Straf-
taten die Verletzung einer völkerrechtlichen Verpflichtung, wie sie
in Artikel 19 des Entwurfs für eine internationale Verantwortlich-
keit der Staaten umschrieben worden seis4 • Obwohl als internatio-
nale Verbrechen ohnehin nur die schwersten Völkerrechtsverlet-
zungen in Betracht kämen, gebe es auch unter diesen noch eine
Reihung; nach dieser seien "offences against the peace and security
of mankind ... at the top of the hierarchy. They are in a sense the
. most serious of the most serious offences"55. Für die aufzunehmen-
den Tatbestände sei es von entscheidender Bedeutung, sie durch
allgemeine Kriterien und/oder durch Bezugnahme auf einschlägige
Konventionen und internationale Erklärungen genau zu umschrei-
bens8 •
- Die Mehrheit sprach sich trotz einiger Bedenken im wesentlichen
für die Beibehaltung der ursprünglichen Konzeption des Draft Code
aus, nach der "offences against the sovereignty and territorial integ-
rity of the State", "offences violating the law and customs of war"
und "crimes against humanity" zu unterscheiden sinds7 •
- Für eine Ergänzung des Draft Code sei die Entwicklung seit 1954
zu berücksichtigen. Eine überprüfung aller einschlägigen Delikte
habe allerdings nur wenige neue Straftaten erkennen lassen, für
die durch Aufnahme in den Draft Code eine unmittelbare Verant-
wortlichkeit nach Völkerrecht begründet werden sollte. Aufzuneh-
men seien unstreitig der Kolonialismus und die Apartheid58 • Be-
züglich des Gebrauchs von Atomwaffen erbat die ILC vor ihrer
Stellungnahme Richtlinien von den zuständigen politischen Gre-
mien59• Im Rahmen des internationalen Umweltschutzes seien allen-

53 Report (Arun. 49), par. 46.


54 Artikel 19 des "Draft on State responsibility" unterscheidet zwischen
"International crimes and international delicts". Jede Verletzung einer inter-
nationalen Verpflichtung wird als "internationally wrongful act" angesehen.
Eine Verletzung "of an international obligation so essential for the pro-
tection of fundamental interests of the international community, that its
breach is recognized as a crimeby that community as a whole constitutes
an international crime". Dabei werden insbesondere Verletzungen von Pflich-
ten "of essential importance for the maintenance of the international peace
and security, such as that prohibiting aggression" oder "for safeguarding
the right of self-determination of peoples, such as that prohibiting the
establishment or maintenance by force of colonial domination" als Beispiele
für international crimes angeführt (abgedruckt in: Report [Arun. 49], par. 53).
55 Report (Arun. 49), par. 47 f.
58 Draft Report (Arun. 46), par. 24 ff.
57 Draft Report (Arun. 46), par. 32 ff.
58 Draft Report (Arun. 46), par. 42 f.
Völkerstrafrecht im Wandel? 1491

falls bestimmte, besonders schwerwiegende Verstöße als "crimes


against humanity" in Erwägung zu ziehen60 • Auch einer Erweite-
rung der Strafbarkeit für "economic aggression" stand die ILC
zustimmend gegenüber, allerdings unter der Bedingung, daß eine
brauchbare Definition für diese Erweiterung des Artikel 2 Abs. 9
des ursprünglichen Draft Code aus dem Jahre 1954 gefunden wer-
den könne81 •
Zurückgestellt bzw. abgelehnt wurde die Aufnahme des Söldner-
turns, der Geiselnahme und der Verbrechen gegen Diplomaten und
Personen, die internationale Immunität genießen, sowie Piraterie
und Flugzeugentführungen6!. Auch bezüglich der Maximalforderung
nach Kodifizierung solcher Straftaten wie "forgery of passports,
dissemination of false or distorted news, insulting behaviour to-
wards foreign State, etc.", vertrat die Mehrheit den Standpunkt,
daß durch eine solche Erweiterung die Wirksamkeit des Draft Code
geschwächt würdes3 •
- Die Fragen, die den Allgemeinen Teil eines Völkerstrafrechts be-
treffen, blieben unerörtert. Sie können nach Ansicht der ILC erst
dann diskutiert werden, wenn die in den Draft Code aufzunehmenden
Straftatbestände feststehen; vorher seien z. B. Probleme der Recht-
fertigung, etwa im Zusammenhang mit den Befreiungsbewegungen,
sowie der Strafmilderung oder Strafschärfung nicht abschließend zu
beurteilen64 •

b) Die AIDP hat sich seit ihrer Gründung um die Entwicklung des
Völkerstrafrechts intensiv bemüht. Sie hat vor allem immer dann,
wenn es um dieses Rechtsgebiet ruhiger geworden war, neue Initiati-
ven eingeleitetlll5 • So hat sie z. B. im Jahre 1964, nachdem im Rahmen
der Vereinten Nationen alle Aktivitäten zur Kodifizierung des Völker-
strafrechts und zur Errichtung eines Völkerstrafgerichtshofes bis zur
Definition des Angriffs zurückgestellt worden waren, ein Kolloquium
über die Verwirklichung des Gedankens einer internationalen Straf-
gerichtsbarkeit abgehalten66 • Von diesen und den späteren Initiativen
sollen hier die bei den jüngsten erörtert werden.

58 Draft Report (Anm. 46), par. 44 ff.


80 Draft Report (Anm. 46), par. 48.
61 Draft Report (Anm. 46), par. 50.

II! Draft Report (Anm. 46), par. 21, 28 f., 49 f. und 52.
88 Draft Report (Anm. 46), par. 53.
UReport (Anm. 49), par. 67; Draft Report (Anm. 46), par. 28.
1115 Jescheck, GA 1981,49 ff. m. w. N •
.. Les Projets des Nations Unies pour l'Institution d'une Justice Penale
Internationale. Bilan et Perspective d'Avenir, Rev. int. dr. pen. 35 (1964), S.7
bis 354.

94·
1492 Otto Triffterer

aal Nach einer Einigung in der Generalversammlung über die Defi-


nition des Angriffs hat die AIDP im Jahre 1979 einen "Draft Inter-
national Criminal Code" vorgelegt, in dem neben einem Allgemeinen
und einem Besonderen Teil auch verschiedene Möglichkeiten zur
Durchsetzung ausformuliert sind87 .
Im Allgemeinen Teil wird festgelegt, daß "international crime" jede
Straftat sein soll, die im Besonderen Teil des Entwurfs oder in einer
internationalen Konvention definiert wird68 • Schon diese Formulierung
läßt erkennen, daß die Strafbarkeit unmittelbar nach Völkerrecht
nicht als das entscheidende Kriterium für die Aufnahme einer Straftat
in den Entwurf angesehen worden ist. Der Besondere Teil zeigt dem-
entsprechend eine weite Palette von Straftatbeständen; sie reicht von
den in Nürnberg abgeurteilten Delikten über die Rassendiskriminie-
rung und die Folter bis zur Münzfälschung und zum Handel mit porno-
graphischen VeröffentlichungenSD •
Der Verzicht auf die unmittelbare strafrechtliche Verantwortlichkeit
nach Völkerrecht als entscheidendes Kriterium für die Aufnahme eines
Tatbestandes in den Entwurf geht auch aus der vorgeschlagenen Rege-
lung zur Durchsetzung hervor. Danach soll nämlich den Staaten die
Verpflichtung auferlegt werden, "to
(a) criminalize under their national laws all crimes defined in this
Code [Special Part] ,
(b) provide in accordance with their national laws for appropriate
penalties for such crimes in proportion to the same social interest
protected in their respective laws"70 .
. Dementsprechend ist (abgesehen von-der-sllbsidiären Zuständig-
keit eines Internationalen Strafgerichtshofes) für die Ausübung der
Strafgewalt zunächst das Territorialitätsprinzip, dann das Personali-
tätsprinzip, dann die Zuständigkeit des Staates, dessen Staatsangehöri-
ger das Opfer ist, und erst an vierter Stelle eine Zuständigkeit auf-
grund stellvertretender Strafrechtspflege vorgesehen71.
Trotz der Vorbereitung dieses Entwurfs durch zwei Expertentreffen,
die im Rahmen des International Institute of Higher Studies in Crimi-
nal Science im Jahre 1978 durchgeführt worden sind, ist dieser
letztlich von Bassiouni und einigen Mitarbeitern ausgearbeitete Ent-
wurf nicht auf ungeteilte Zustimmung gestoßen. Eine Beratung des

17 Bassiouni, International Criminal Law. A Draft International Criminal


Code, 198 c; für die französische Fassung vgl. Rev. int. dr. pen. 52 (1981), S. 1 fI.
88 Bassiouni (Anm. 67), Artikel IV 1.2, S. 147.
68 Bassiouni (Anm. 67), Artikel I bis XX, S. 52 fI.
70 Bassiouni (Anm. 67), Artikel III, S. 111.
71 Bassiouni (Anm. 67), Artikel IV, S. 112.
Völkerstrafrecht im Wandel? 1493

Entwurfs in einem weiteren Expertentreffen im Rahmen des Inter-


national Institute of Higher Studies in Criminal Science im Jahre 1981
hat trotz der Anerkennung der Leistung als Ganzes im Detail zu viel-
fältiger Kritik an diesem Entwurf geführt; u. a. wurde, insbesondere
von den Vertretern aus dem europäischen Rechtskreis, der Verzicht
auf klare dogmatische Abgrenzungen sowie die zu weite Fassung des
Besonderen Teils bedauert7Z •
bb) Im Mai 1984 hatte die AIDP erneut zu einem "expert meeting"
in das International Institute of Higher Studies in Criminal Science
eingeladen. Diese Tagung stand unter dem Thema "New Horizons in
International Criminal Law"; schon die Vielzahl und die Verschieden-
artigkeit der dort behandelten Themen73 zeigen, daß es bei dieser Tagung
nicht in erster Linie um Völkerstrafrecht, sondern ganz überwiegend
um eine Bestandsaufnahme, um die neuesten Tendenzen und um die
Zukunftsaussichten für das Internationale Strafrecht im weitesten,
also im Sinne des "International Criminal Law", ging. Dementspre-
chend wurden in den meisten Vorträgen und Diskussionsbeiträgen die
von Jescheck herausgearbeiteten Kriterien für echtes Völkerstrafrecht
allenfalls am Rande erwähnt. Zwar bestand weitgehende Einigkeit
darüber, daß für die Nürnberger Tatbestände und auch für einige
andere besonders schwere Verletzungen der Rechtsgüter der Völker-
gemeinschaft eine unmittelbare strafrechtliche Verantwortlichkeit nach
Völkerrecht bestehe bzw. wünschenswert sei. Aus pragmatischen Grün-
den wurde aber im allgemeinen vorgezogen, sich mit dieser Frage nicht
zu sehr zu beschäftigen. Es sei im gegenwärtigen Stand der Entwick-
lung wahrscheinlich lohnenswerter, auch weniger schwere Verletzungen
mit in eine Kodifikation einzubeziehen. Dadurch würde die Annehm-
barkeit des Gesamtwerkes erhöht. Darüber hinaus biete eine Förde-
rung der Koordination und Kooperation im Rahmen der staatlichen
Strafrechtspflege bessere Aussichten auf Realisierung als die Bemühun-
gen zur Durchsetzung einer Strafgewalt der Völker gemeinschaft. Auf
eine klare Abgrenzung des Völkerstrafrechts gegenüber anderen Be-
reichen des "International Criminal Law" wurde dementsprechend nur
von wenigen Teilnehmern Wert gelegt7'.
12 VgI. die Beiträge in der Rev. int. dr. pen. 52 (1981), S. 337 ff.
13 Die einzelnen Themen dieser Tagung (Noto/Sizilien, 7. bis 12. Mai 1984)
lauten: The Origins, Development and Expanding Seope of International
Criminal Law; The Codifieation of International Criminal Law; Interna-
tional Criminal Law and the International Proteetion of Human Rights;
International Penal Aspeets of the International Humanitarian Law Ap-
plieable in Armed Confliets; International Penal Aspeets of the Environ-
mental Proteetion; International Penal Aspeets of Protection of National
and Archaeological Treasures; Expansion of Extraterritorial Criminal Juris-
dietion; Expanding Seope of Extradition and Judicial Assistanee and Co-
operation in Penal Matters; Enforeement Models of International Criminal
Law.
1494 Otto Triffterer

c) Auch die ILA hat sich in den letzten Jahren besonders intensiv
mit dem "International Criminal Law" befaßt. Neben einer "Model
Convention on Expatriation of accused Persons for Trial and Sentence
and Repatriation for Enforcement of Sentence" standen in den Jahren
1978 bis 1984 zwei Entwürfe für eine "International Commission of
Criminal Inquiry" bzw. für ein "Statut for an International Criminal
Court" im Vordergrund der Beratungen, von denen nur die beiden
letzten für diesen Beitrag von Bedeutung sind 75 •
aal Der Entwurf für das Statut einer "International Commission of
Criminal Inquiry" ist auf der 60. Tagung der ILA 1982 in Montreal ver-
abschiedet und an die zuständigen Gremien der Vereinten Nationen
weitergeleitet worden. Von ihm interessiert im Zusammenhang mit
der gewählten AufgabensteIlung lediglich, daß die Palette der zu
untersuchenden Straftaten neben den schweren Verletzungen der Gen-
fer Konventionen, dem Völkermord und der Piraterie auch Straftaten
wie die internationalen Münzverbrechen, Verstöße gegen Fischerei-
beschränkungen, die Verschmutzung des Meeres, die Beschädigung von
Unterseekabeln und Verstöße gegen die Allgemeine Postkonvention
vom 26. 10. 1967 umfaßt; dieser Katalog entspricht also in etwa dem
in den Entwürfen der AIDP.
Es ist begrüßenswert, daß die ILA mit dem Vorschlag zur Errich-
tung einer internationalen Untersuchungskommission eine schon zu
Beginn der siebziger Jahre erörterte Idee 78 wieder aufgegriffen und
ausformuliert hat. Zu bedauern ist aber, daß in dem Entwurf nicht
zwischen solchen Straftaten, die wie die schweren Verstöße gegen die

-'CEin Teil der auf dieser Tagung gehaltenen Referate soll in der Rev. int.
dr. pen. 56 (1985) veröffentlicht werden.
75 Vgl. International Law Association, Report of the Fifty-Eights Con-
ference, Manila 1978, 1980, S.3 f. sowie S. 473 - 501; Report of the Fifty-Ninth
Conference, Belgrad 1980, 1982, S.4 f. und S. 400 - 470; Report of the Sixtieth
Conference, Montreal 1982, 1983, S. 11 f. und S. 377 - 466; die 61. Tagung der
ILA findet Ende August 1984 in Paris statt. Von dem International Criminal
Law Committee der ILA wurde vorgeschlagen, den auf dieser Tagung zu
behandelnden Entwurf für einen Internationalen Strafgerichtshof mit kon-
kreten Strafdrohungen für die einzelnen Delikte auszustatten. Die Ergeb-
nisse der Beratungen in Paris werden in dem Report of the Sixty-First Con-
ference, Paris 1984, veröffentlicht.
78 In den Jahren 1971 und 1972 sind von der Foundation for the Estab-
lishment of an International Criminal Court zwei Tagungen durchgeführt
worden, auf denen die Fragen der Errichtung eines International Criminal
Court eingehend beraten worden sind. Dabei wurde auch erörtert, ob nicht
eine neutrale Untersuchungskommission mit bestimmten Schlichtungskom-
petenzen dem Gerichtshof vorgeschaltet werden sollte. Für eine Zusammen-
stellung aller Möglichkeiten zur Durchsetzung des International Criminal
Law einschließlich des Völkerstrafrechts vgl. Gerhard O. W. Mueller, Enforce-
ment models of international criminal law, ein Referat, das 1984 auf der
Tagung in Siracusa gehalten worden ist und voraussichtlich in der Rev. int.
dr. pen. 1985 veröffentlicht werden wird.
Völkerstrafrecht im Wandel? 1495

Genfer Konventionen und der Völkermord unmittelbar nach Völker-


recht strafbar sind, und solchen, für die wie bei den Münzdelikten
und der Pornographie überhaupt erst mit Hilfe der staatlichen Gesetz-
gebung eine Strafbarkeit entsteht, unterschieden wird. Der Gedanke
an die Kriterien für echtes Völkerstrafrecht, die von Jescheck mitauf-
gesteHt worden sind, hat also bei diesem Entwurf offensichtlich auf die
Ausgestaltung keinen Einfluß genommen.
bb) Der Entwurf eines Statuts für einen "International Criminal
Court" ist von der ILC noch nicht verabschiedet worden. Er soll auf
der Ende August 1984 in Paris stattfindenden 61. Tagung erneut be-
raten werden.
In der Fassung, die auf der 60. Tagung 1982 in Montreal vorgelegen hat
und dem Strafrechtsausschuß zur weiteren Erörterung und Ergänzung
seinerzeit zurückgegeben worden ist71 , enthält er die gleichen Straftat-
bestände wie der Entwurf für eine "International Commission of
Criminal Inquiry".
Auch aus den übrigen Regelungen des Entwurfs für einen Inter-
nationalen Strafgerichtshof ist nicht zu entnehmen, daß ein solches
Gericht sich auf die Aburteilung unmittelbar nach Völkerrecht straf-
barer Tatbestände zu beschränken hätte. Zwar heißt es in Artikel 22
des Entwurfs, das Gericht habe die Definition einer konkreten Straf-
tat seiner Beurteilung zugrundezulegen, "which is prescribed by con-
vention(s) in force in the appropriate Contracting State(s)". Damit ist
aber nicht geklärt, ob nicht auch Straftaten, deren Tatbestand durch
eine internationale Konvention zwar genau umschrieben, deren Straf-
barkeit sich aber erst aus dem staatlichen Recht ergibt, diesem Gericht
zur Aburteilung übertragen werden können.

3. Für Jescheck ist bis heute eine unmittelbare strafrechtliche Ver-


antwortlichkeit nach Völkerrecht eine der unverzichtbaren Voraus-
setzungen für ein Völkerstrafrecht. In der übrigen wissenschaftlichen
Literatur dagegen wird diese Frage in den letzten Jahren immer
weniger behandelt. In ihr hat sich der von Jescheck seit 1972 bevor-
zugte pragmatische Ansatz vor allem bei den Arbeiten aus dem anglo-
amerikanischen Rechtskreis weitgehend durchgesetzt. Dieser Ansatz
prägt darüber hinaus die Aktivitäten im staatlichen und im regionalen
Bereich.

a) Am deutlichsten tritt diese Tendenz bei Gehler zutage78 • Gehler


erkennt trotz seiner Ablehnung der Bezeichnung Völkerstrafrecht die

77 Vgl. Report, Montreal 1982 (Anm. 75), S. 12.


78 Oehler (Anm. 18), Rdz. 2 f. und 1000 ff. m. N.
1496 Otto Triffterer

mit diesem Begriff von J escheck umschriebenen Regelungen als eigen-


ständige Rubrik an, führt aber eine exakte Trennung zu anderen "inter-
nationalen Verbrechen" nicht durch (oben I 3). Der von ihm bevorzugte
weite pragmatische Ansatz mag zwar im gegenwärtigen Zeitpunkt ver-
tretbar sein; er sollte aber nicht dazu verleiten, die Abgrenzungskriterien
für echtes Völkerstrafrecht zu vernachlässigen oder bei den Kodifika-
tionsbemühungen auf eine klare dogmatische Zuordnung der einzelnen
Tatbestände zu der einen oder zu der anderen Gruppe zu verzichten.
Lambois wählt zwar ähnlich wie Jescheck den dogmatischen Ansatz,
führt aber eine Trennung der ganz verschiedenartigen Regelungen, die
sich mit international zu bekämpfenden Straftaten befassen, nur
insoweit präzise durch, als er das staatliche Strafanwendungsrecht
zu diesem Bereich abgrenzt7o •
Shupilov, der sich 1981 auf dem Expertentreffen der AIDP sehr für
den dogmatischen Ansatz ausgesprochen hat, betont, daß bestimmte
Verbrechen, an denen die Staaten selbst beteiligt sind, nicht mehr
als rein interne staatliche Angelegenheiten betrachtet werden könnten;
sie müßten vielmehr eine internationale Verantwortlichkeit begrün-
den: "these actions ce ase to be internal affairs of a state80 ." Er spielt
dabei auf den in zunehmendem Maße bedeutsamen Gedanken an, daß
im Völkerstrafrecht eine eigene Strafgewalt immer dann eingreifen
sollte, wenn die staatliche Strafgewalt nicht in ausreichendem Maße
die Gewähr für einen zufriedenstellenden Schutz bestimmter Rechts-
güter bieten kann, z. B. weil entsprechende Verletzungen nur mit
Duldung oder Billigung eines oder mehrerer Staaten erfolgen können
(näher unten III 2). Zwar teilt Shupilov die internationalen Verbre-
enenunter Bezugnahn:ie auf einen seiner sowjetischen Kollegen in
Kategorien ein, von denen keine geeignet ist, die unmittelbar nach
Völkerrecht strafbaren Taten gegenüber anderen Delikten mit der
gleichen Präzision wie bei J escheck abzugrenzen; dies darf aber nicht
dazu verleiten, ihn zu den Befürwortern einer weiten Begriffsbestim-
mung zu zählen; er hat nämlich ausdrücklich betont, daß die noch
offene Entwicklung auf diesem Gebiet jede andere Einteilung zulasse81 •
Noch stärker wird der dogmatische Ansatz von anderen Vertretern
aus dem Ostblock und von den Schülern J eschecks betont. Wal tos und
Gardocki stimmen weitgehend mit der Definition des Völkerstrafrechts,
wie sie Jescheck entworfen hat, überein. Sie gehen diesbezüglich von
einer unmittelbaren Verantwortlichkeit nach Völkerrecht aus und
70 Lambois, Droit penal international, 2. Auf!. 1978, insbes. S. 5 - 176 und
zur Abgrenzung S. 177 ff.; ders., Rev. int. dr. pen. 52 (1981), S. 531 ff.
eo General Comments on the Draft International Criminal Code, Rev. int.
dr. pen. 52 (1981), S. 379.
81 Verbrechen (Anm. 2), S. 378 und Anm. 6.
Völkerstrafrecht im Wandel? 1497

grenzen demgegenüber andere Deliktsgruppen sowie andere Bereiche


der internationalen Strafrechtspflege ab; allerdings tendieren auch sie
für die weitere Entwicklung zur Bekämpfung internationaler Verbre-
chen eher zu einem pragmatischen Ansatz~!.
Grebing und Weigend zeigen bei ihren Arbeiten zu einem inter-
nationalen Strafgerichtshof bzw. zum Allgemeinen Teil der Kodifika-
tionsbemühungen im Rahmen der AIDP, wie sehr sie durch den dog-
matischen Ansatz von J escheck geprägt worden und bereit sind, auf
dieser Linie das Völkerstrafrecht weiter zu entwickeln. Aber auch sie
sind nicht abgeneigt, im Interesse einer baldigen Verwirklichung einer
möglichst effektiven internationalen Bekämpfung den Begriff der inter-
nationalen Verbrechen weit zu fassen 83•
Einen eher neutralen Standpunkt vertritt Bassiouni. Er hat alle Ent-
wicklungen im Rahmen der AIDP als deren Generalsekretär ent-
scheidend initiiert oder doch jedenfalls mit a11 seinen Kräften gefördert.
Dabei hat er sich wiederholt zum pragmatischen Ansatz bekannt. Seine
Ansichten spiegeln sich auch in dem oben unter 2 bangeführten Draft
International Criminal Code und in der Gestaltung der Tagung über
"New Horizons in International Criminal Law" wider. Die zahlreichen
Veröffentlichungen von Bassiouni auf diesem Gebiet lassen erkennen,
daß ihm eine dogmatische Abgrenzung nicht unwillkommen wäre. Sie
ist jedoch offensichtlich im anglo-amerikanischen Bereich (anders als
für die Europäer) kein selbständiges Anliegen. In den verschiedenen
Einteilungsmodalitäten, etwa formell nach der Art der positivrecht-
lichen Regelung oder nach dem für die Durchsetzung gewählten Weg,
zeigt sich aber, daß Bassiouni eine brauchbare Abgrenzung zwischen
der Gruppe echten Völkerstrafrechts und anderen internationalen
Delikten selbst sucht8'. Ein ähnliches Bemühen ist bei seinen zahlrei-
chen Schülern zu verzeichnen, die sich in zunehmendem Maße mit
diesen Fragen befassen8s •

82 Waltos, Some Comments on the General Part of the Draft International


Criminal Code, Rev. int. dr. pen. 52 (1981), S. 513 ff.; Gardocki, Some Remarks
on the "Enforcement Part", Rev. int. dr. pen. 52 (1981), S. 455 ff.; ders.,
Zagadnienia internacjonalizacji odpowiedzialnosci karnej za przest~pstwa
popelnione za granicq, Warschau 1979 (Probleme einer Internationalisierung
der strafrechtlichen Verantwortlichkeit für im Ausland begangene Taten);
ders, Zarys prawa karnego mi~dzynarodowego (im Druck; Grundriß des
internationalen Strafrechts); ders., oben Anm. 24.
8. Grebing, Zur Frage der Schaffung eines Internationalen Strafgerichts-
hofes, Bilanz und Perspektiven, GA 1976, 97 ff.; für die französische Fassung
vgl. Rev. int. dr. pen. (1974), s. 435 ff.; Weigend, Comments on a Draft Inter-
national Criminal Code, General Part, Rev. int. dr. pen. 52 (1981), S. 497 ff.
114 VgI. z. B. Le droit penal international: son histoire, son objet, san
contenu, Rev. int. dr. pen. 52 (1981), S. 41 ff.; ders., Characteristics of Con-
ventional International Criminal Law, Case Western Reserve Journal of
International Law, 15 (1983), S. 27 ff.
1498 Otto Triffterer

Insgesamt läßt sich feststellen, daß die Literatur ähnlich wie die
letzten Veröffentlichungen von J escheck durch das Bemühen gekenn-
zeichnet ist, in erster Linie die Zusammenarbeit der Staaten auf dem
Gebiet der Strafrechtspflege in allen Bereichen zu fördern und daß
dabei die Eigenständigkeit des Völkerstrafrechts oft verloren geht.

b) Diese Tendenz zeigt sich auch bei zahlreichen Aktivitäten im


staatlichen und im regionalen Bereich. Die neuen Gesetze in den ver-
schiedenen Staaten über die Auslieferung und die internationale
Rechtshilfe in Strafsachen, von denen die letzte im vergangenen J ahr-
zehnt besonders weit ausgebaut worden ist, sind ein deutliches Zei-
chen für diese Entwicklung. Der Gedanke, etwa in Europa mit der
Verwirklichung eines regional begrenzten Völkerstrafrechts zu begin-
nen, hat jedenfalls bei den Instanzen des Europarats bisher keine
Resonanz gefunden. Statt dessen hat sich im europäischen Bereich
eine Tendenz zur "Harmonization of Criminal Law and its Interna-
tional Cooperation as Instruments of Protection" durchgesetzt. Unter
diesem Oberbegriff wurde im September 1983 in Delphi das 13. Kol-
loquium über europäisches Recht, das den Schutz der Kulturgüter zum
Gegenstand hat, abgehalten8'. Im Mai 1984 hat ferner ein durch den
Europarat organisiertes Expertentreffen im International Institute of
Higher Studies in Criminal Science in Siracusa (Sizilien) stattgefun-
den. Diese Tagung diente dem Ziel, alle europäischen Dokumente, die
das internationale Strafrecht im weitesten Sinne betreffen, zu einem
"Model Code on European inter-State Cooperation in Penal Matters"
zusammenzufassen und aufeinander abzustimmen. Im Einleitungsrefe-
rat zu dieser Tagung wurde von einem leitenden Beamten des Europa-
rates dementsprechend herausgestellt; das Ziel sei nicht so sehr eine
Bekämpfung verschiedener als international bezeichneter Verbrechen
auf einer Weltrechtsbasis oder nach dem Universalitätsprinzip. Viel-
mehr gehe es lediglich darum, mit dem schon vorhandenen europä-
ischen Instrumentarium im Rahmen der staatlichen Strafrechtspflege
die gegenwärtige Kriminalität möglichst besser als bisher zu be-
kämpfen.

111. Ausblick

Werden die Arbeiten zum Völkerstrafrecht auf dem Hintergrund


der jüngsten Entwicklungen in den letzten fünf Jahren betrachtet,

85 Vgl. insbes. Friedländer, The Foundations of International Criminal


Law: A Present-Day Inquiry, Case Western Reserve Journal of Interna-
tional Law, 15 (1983), S. 13 ff. m. N.
88 Vgl. den Bericht von de Schutter (Belgien), International Legal Pro-
teetion of Cultural Property, Documents of the Council of Europe, CJ -DEI
13(83)6, Straßburg, 5. 8. 1983.
Völkerstrafrecht im Wandel? 1499

so zeigt sich, daß die dogmatischen Ausgangspositionen des Jubilars


nach wie vor gültig sind und auch beibehalten werden sollten.

1. Der Ausdruck Völkerstrafrecht ist allen anderen sprachlichen Be-


zeichnungen für Strafvorschriften, die die strafrechtliche Verantwort-
lichkeit des Einzelnen unmittelbar nach Völkerrecht betreffen, vorzu-
ziehen. Er kennzeichnet den strafrechtlichen Gegenstand und die Zu-
ordnung zum Völkerrecht treffender als alle anderen Umschreibungen
und ist zudem gerade wegen dieser Klarheit einprägsam87• Ferner hat
er sich selbst bei denjenigen Autoren, die ihm eher skeptisch gegen-
überstehen, wie etwa Oehler, weitgehend eingebürgert. Die gegen ihn
erhobenen Einwände sind schon deshalb nicht stichhaltig, weil die
unmittelbare Anwendbarkeit zwar eine Verwirklichung im Rahmen
eines Internationalen Strafgerichtshofs oder nach dem Universalitäts-
prinzip nahelegt, aber im übrigen unabhängig davon ist, ob die Staa-
ten aufgrund interner Regelungen eine Transformation ins staatliche
Recht vornehmen müssen (unten 4).
Einem mit "Internationales Strafrecht" bezeichneten Oberbegriff
sollte das Völkerstrafrecht nur dann zugeordnet werden, wenn da-
durch keine Verwechselungsgefahr entsteht. Dies setzt voraus, daß alle
unter diesem Oberbegriff zusammen ge faßten Bereiche zufriedenstel-
Iende Einzelbezeichnungen aufweisen. Sind die Bemühungen, für die
staatlichen Regelungen bezüglich der Strafanwendung den Ausdruck
"Internationales Strafrecht im engeren Sinne" durch eine treffendere
andere Umschreibung zu ersetzen, künftig erfolgreich, so kann eine
Zusammenfassung unter dem Oberbegriff des Internationalen Straf-
rechts nützlich sein.

2. Die ursprüngliche Ausgangsposition des Jubilars, Völkerstrafrecht


setze voraus, daß sich die Strafbarkeit unmittelbar aus einem völker-
rechtlichen Vertrag oder aus Völkergewohnheitsrecht ergibt, so daß
der Einzelne nach dieser Vorschrift zur Verantwortung gezogen wer-
den kann, "ohne daß es noch einer entsprechenden Strafvorschrift im
staatlichen Recht bedürfte"SS, ist auch heute noch unverzichtbare Prä-
misse für echtes Völkerstrafrecht.
a) Um diese Ausgangsposition nicht verloren gehen zu lassen, er-
scheint es besser, der gegenwärtigen Tendenz einer umfassenden Kodi-
fikation nicht zu folgen. Formell würde eine Gesamtkodifikation aller
Straftaten, auf die sich eine internationale Zusammenarbeit bezieht,
unübersichtlich. Sie ist nur bei einer Einteilung in klare Gruppen,

87 TTijJterer, Untersuchungen (Anm. 13), S. 25 ff. m. N.


88 Jescheck, International Crimes, in: Encyclopedia 8, Pkt.2 a (im Druck).
1500 atto Triffterer

von denen eine allein dem Völkerstrafrecht vorbehalten bleiben muß,


vertretbar. Auch materiell haben diese Straftaten mit dem Völker-
strafrecht wenig gemeinsam und sollten deshalb gesondert behandelt
werden. Das Völkerstrafrecht als Strafrecht im System des Völker-
rechts hat wie jedes staatliche Strafrecht die Aufgabe, schwerwiegende
Verletzungen gerade dieser Rechtsordnung zu verhindern. Alle Rechts-
güter der Völkergemeinschaft sind aber auch für die Staaten von
besonderem Wert und verdienen daher, wie etwa der Angriffskrieg,
Schutz in beiden Rechtssystemen. Die Aufgabe des Völkerstrafrechts
besteht daher vor allem darin, dann einzugreifen, wenn die staatlichen
Rechtsordnungen den betreffenden Rechtsgütern keinen ausreichenden
Schutz gewähren können.
Diese Voraussetzung ist jedenfalls bei den klassischen Nürnberger
Tatbeständen erfüllt. Alle drei werden typischerweise von Staaten
selbst oder zumindest mit deren stillschweigender Duldung begangen.
Von dieser Prämisse geht auch der Draft Code, jedenfalls für die
überwiegende Zahl der in ihm zu kodifizierenden Straftaten, aus. Nur
wegen dieser staatlichen Beteiligung im weitesten Sinne oder wenn
Interessen des betreffenden Staates betroffen sind, bietet nämlich die
staatliche Rechtspflege keine ausreichende Gewähr mehr für eine
unparteiische und effektive Durchsetzung der entsprechenden inter-
nationalen Strafvorschriften. Insofern kann man jedenfalls für diese
Fallgruppen beim Völkerstrafrecht von einer doppelten Subsidiarität
sprechen: Völkerstrafrecht ist wie jedes Strafrecht subsidiär und sollte
deshalb nur zum Schutz der Rechtsgüter der Völkergemeinschaft ein-
gesetzt werden, wenn alle anderen nicht strafrechtlichen Durchset-
zungsmöglichkeiten nicht mehr zufriedenstelIen; das Völkerstrafrecht
ist darüber hinaus auch insofern subsidiär, als es einen strafrechtlichen
Schutz für diese Rechtsgüter nur dann allein zu übernehmen hat,
wenn der staatliche Schutz nicht mehr als ausreichend erscheintS8 •

b) Diese Beschränkung des Völkerstrafrechts und seine klare Ab-


grenzung zu verwandten Rechtsgebieten ist nicht nur aus den bereits
erwähnten dogmatischen und kriminalpolitischen Gründen notwendig.
Eine umfassende Kodifikation, bei der der Angriffskrieg, die Kriegs-
verbrechen und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit z. B. mit den
Pornographietatbeständen gemeinsam geregelt werden, dürfte zu wenig
bewußtseinsbildende Kraft hinsichtlich des echten Völkerstrafrechts
(wie die Nürnberger Tatbestände) entfalten. Gerade diese präventive
Funktion des Völkerstrafrechts darf aber nicht unterschätzt werden;
sie wird auch in zunehmendem Maße im Rahmen der Gremien der

88 Vgl. TrijJterer, in: BassiounilNanda (Anm.2), 2, S. 86 ff.; ders., Unter-


suchungen (Anm. 13), S. 168 ff., 195 ff.
Völkerstrafrecht im Wandel? 1501

Vereinten Nationen beachtet. Die Erfahrungen im europäischen Be-


reich mit den Instanzen zum Schutze der Menschenrechte, aber auch
entsprechende Erfahrungen im Bereich der Vereinten Nationen, z. B.
bezüglich der Standard Minimum Rules, haben nämlich gezeigt, daß
die einzelnen Staaten sehr wohl schon durch die bloße Festlegung von
Tatbeständen, Verboten oder Maßstäben zumindest sensibilisiert wer-
den können. Die Gefahr, bei einem Verstoß gegen international akzep-
tierte Regeln in der Völkergemeinschaft politisch isoliert zu werden
oder entsprechendes Ansehen einzubüßen, kann oft abschrecken-
der sein als die Aussicht auf eine Bestrafung, der man sich ohnehin
entziehen kann90 • Dieser "moralische Druck" kann sich aber nur dann
entfalten, wenn das Gewicht der Straftaten nicht durch eine Grup-
pierung mit im Vergleich zu ihnen erheblich leichteren Verbrechen
geschmälert wird.
c) Auch das Gewohnheitsrecht sollte im gegenwärtigen Stadium als
Quelle des Völkerstrafrechts weder aus dogmatischen noch aus krimi-
nalpolitischen Gründen ausgeschlossen werden (ob'en 11 1 cl. Allerdings
ist eine genaue Festlegung der Tatbestände und eine Präzisierung der
Strafdrohungen im Interesse der Rechtssicherheit zu fordernD1 •

3. Die Frage, ob nur Einzelpersonen oder auch Staaten für Straftat-


bestände, die eine unmittelbare Verantwortung nach Völkerrecht vor-
sehen, zur Verantwortung gezogen werden sollen, ist nach wie VOr
offen92 • In zunehmendem Maße wird aber die Ansicht vertreten, daß
gegen Staaten eigene Sanktionen mit strafrechtlichem Charakter denk-
bar sind und wirksam werden könnten. Deshalb sollte jedenfalls heute
eine strafrechtliche Verantwortlichkeit der Staaten nicht generell aus-
geschlossen, sondern entsprechend der überwiegenden Meinung in der
Literatur und in der ILC einer späteren Entscheidung vorbehalten
bleiben9s •
Ratsam ist ferner, diese Frage nicht jetzt schon mit den davon un-
abhängigen dogmatischen und kriminalpolitischen Strukturfragen des
Völkerstrafrechts zu verbinden; andernfalls könnte die Entwicklung
des Völkerstrafrechts behindert werden. Eine sofortige Beantwortung
dieser Frage ist auch nicht erforderlich; denn alle völkerstrafrecht-
lichen Tatbestände beinhalten die Verletzung einer völkerrechtlichen

90 Report (Anm.49), par. 50, insb. 54; vgl. auch Tritfterer, Die Bemühungen
der Vereinten Nationen zur völkerrechtlichen Regelung der Untersuchungs-
haft, in: Die Untersuchungshaft im deutschen, ausländischen und internatio-
nalen Recht, JeschecklKTÜmpelmann (Hrsg.), 1971, S. 885 ff.
t! Näher Tritfterer, Untersuchungen (Anm. 13), S. 35 ff. insbes. S. 128 ff.
92 Report (Anm. 49), par. 50 ff.; Draft Report (Anm. 46), par. 23.

93 Report (Anm. 49), par. 50 ff.; Draft Report (Anm. 46), par. 23.
1502 Otto Triffterer

Verpflichtung, für die die Staaten bei entsprechender Beteiligung ohne-


hin gesondert, und zwar entsprechend den Regeln über das völkerrecht-
liche Delikt, zur Verantwortung gezogen werden könnenu,.

4. J escheck sieht neuerdings die Frage der Anwendung durch eine


internationale Instanz oder nach dem Universalitätsprinzip als eine
weitere Voraussetzung für ein Völkerstrafrecht anu,. Richtig ist daran,
daß der Grundsatz der unmittelbaren strafrechtlichen Verantwortlich-
keit nach Völkerrecht eine solche Anwendung eröffnet. Aber man
sollte beide Bereiche besser trennen. Gerade die Völkermordkonven-
tion hat gezeigt, daß die Festlegung einer unmittelbaren strafrecht-
lichen Verantw9rtlichkeit auch für sich allein von Wert sein kann,
solange jedenfalls eine künftige Anwendung durch einen internatio-
nalen Strafgerichtshof nicht ausgeschlossen wird.
Es wäre schon ein erheblicher Fortschritt, wenn eine Einigung über
völkerstrafrechtliche Tatbestände erzielt werden könnte. Sie könnten
für sich allein bewußtseinsbildend und damit präventiv in dem oben
unter 2 angeführten Sinne wirken, etwa durch die Befürchtung, bei
Verstößen an Sozialprestige und/oder an politischem Gewicht im Rah-
men der Staatengemeinschaft zu verlieren.

5. Die Definition des Völkerstrafrechts sollte nicht davon abhängig


gemacht werden, daß "die große Mehrheit der Staaten" entsprechende
Tatbestände als verbindlich anerkenntU8 • Vielmehr wäre es für die
Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts dienlich, zwischen universel-
lem und regionalem Völkerstrafrecht zu unterscheiden; auch das letzte
ist . echtes Völkerstrafrecht, das StrafrechL~inerregional begrenzten
Staatengemeinschaft.
Ähnliches gilt für einen Völkerstrafgerichtshof. Es wäre schon ein
enormer Fortschritt auf dem Wege zur Verwirklichung echten Völker-
strafrechts, wenn sich z. B. im europäischen Bereich einige Staaten
zusammenfänden, die für von ihnen festgelegte Tatbestände eine un-
mittelbare strafrechtliche Verantwortlichkeit begründen und eine In-
stanz zur Anwendung dieses regionalen Völkerstrafrechts schaffen
würdenV7 • Dem Völkerstrafrecht würde aber auch für eine vorüber-
gehende Zeitspanne schon damit gedient sein, wenn es entsprechend
dem Vorschlag von Jescheck im Rahmen der staatlichen Gerichtsbar-

" TrifJterer, Untersuchungen (Anm. 13), S. 179 ff. m. N.


15 Jescheck, International Crimes, in: Encyclopedia 8, Pkt.2 a (im Druck).
88 Dafür Jescheck, International Crimes, in: Encyclopedia 8, Pkt.2 a (im
Druck).
t7 Ähnlich Oehler (Anm. 18), Rdz. 1079, wenngleich in einem weiteren
Sinne.
Völkerstrafrecht im Wandel? 1503

keit aufgrund des Universalitätsprinzips zur Anwendung käme. Dem-


entsprechend wird diese doppelte Möglichkeit auch in allen Kodifika-
tionsversuchen herausgestellt.

6. Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß sich die vom


Jubilar seit Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn eingeschlagene
Richtung zur Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts dogmatisch wie
kriminalpolitisch bewährt hat. Dies gilt vor allem deshalb, weil sich
in der ILC eine Tendenz abzeichnet, die ganz im Sinne dieser klaren
Abgrenzung die Entwicklung von Nürnberg und Tokio fortführen
möchte. Eine solche Kontinuität erscheint auf dem Hintergrund der
verschiedenen Bemühungen der letzten vierzig Jahre sinnvoll. Die
zahlreichen Konventionen und Erklärungen, die nach der Unterbre-
chung der Arbeiten an der Kodifikation eines Völkerstrafrechts und
an der Errichtung einer Völkerstrafgerichtsbarkeit erfolgt sind, haben
für den Bestand der Völkergemeinschaft, für ein friedliches Zusam-
menleben und für das Wohlergehen aller Menschen große Fortschritte
gebracht. Sie haben aber dennoch weder die Geißel der Kriege noch
die der unendlich vielen Menschenrechtsverletzungen schwerwiegendster
Art beseitigt oder wenigstens in erstrebenswertem Maße zu redu-
zieren vermocht. Es sollte deshalb kein Mittel zur Bekämpfung dieser
bedauerlichen Erscheinungen ausgelassen werden. Das Völkerstrafrecht
ist aber, solange auch im staatlichen Bereich nicht auf das Strafrecht
insgesamt verzichtet werden kann, ein wirksames Mittel, das der Staa-
tengemeinschaft im Rahmen ihrer Völkerrechtsordnung zur Verfügung
steht.
Die Ausdehnung der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Straf-
rechtspflege ist zwar ebenfalls ein Weg, bei diesem Bemühen voran-
zukommen. Die "Zweispurigkeit", bei der das Völkerstrafrecht ge-
sondert zu behandeln ist, verdient aber den Vorzug, weil dem Völker-
strafrecht auch die Funktion eines Schutzes gegen die Staaten selbst
zukommt.
Bibliographie
VERZEICHNIS DER SCHRIFTEN
VON HANS-HEINRICH JESCHECK*

Selbständig erschienene Schriften


Die juristische Ausbildung in Preußen und im Reich. Vergangenheit und Ge-
genwart. Berlin: Junker & Dünnhaupt 1939. 184 S. Zug!. Jur. Diss. Tübin-
gen 1939. (Neue deutsche Forschungen. Abt. Bürger!. Rechtspflege. Bd.2.) .
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zu den Nürnberger Prozessen. Bonn: Röhrscheid 1952. XXIV, 420 S. (Rechts-
vergleichende Untersuchungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft. N. F.
H. 6.) (Habilitationsschrift.)
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1508 Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck

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- 2., neubearb. u. erw. Aufl. 1972. XXXVI, 782 S.
- 3., vollständig neubearb. u. erw. Aufl. 1978. XLIII, 838 S.
Span. Übers.: Tratado de derecho penal. Parte general. Traducci6n y adiciones
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Bd. 1.2. Barcelona: Bosch 1981. XXXI, 1321 S.
Fälle und Lösungen zum Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, mit Auf-
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Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft. Ausgewählte Beiträge zur Straf-
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Herausgegebene Werke

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Neue Folge. Bonn: Röhrscheid 1954 - 1977. Bd. 14 - 51.
Rechtsvergleichende Untersuchungen zur -gesamten Strafrechtswissenschaft.
3. Folge. Baden-Baden: Nomos Verlagsges. 1978 H. Bd. 1 - 19.
Das ausländische Strafrecht der Gegenwart. Hrsg. zusammen mit Edmund
Mezger t und Adolf Schönke t. Berlin: Duncker & Humblot 1955 H. Bd. 1 - 6.
Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher in deutscher übersetzung. Hrsg.
zusammen mit Gerhard Kielwein. Berlin: de Gruyter 1955 ff. Nr. 67 - 101.
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. Hrsg. zusammen mit Paul
Bockelmann, Karl Engisch u. a. Berlin: de Gruyter 1955, Bd. 67 H.
Festgabe für Eduard Kern zum 70. Geburtstag, 13. Oktober 1957. In Gemein-
schaft mit Fritz Baur, Paul Bockelmann u. a. hrsg. Hamburg: R. v. Decker's
Verlag, G. Schenk (zugleich GA, Jg. 1957. S. 289 - 395.)
Deutsche Beiträge zum VII. Internationalen Strafrechtskongreß in Athen vom
26.9. - 2.10.1957. Hrsg. zusammen mit Edmund Mezger und Richard Lange.
Berlin: de Gruyter 1957. 218 S. (Sonderheft der ZStW.)
Internationales Colloquium über Kriminologie und Strafrechtsreform. Hrsg.
zusammen mit Thomas Würtenberger. Freiburg: Schulz 1958. 132 S. (Die
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. 1457 - 1957. Sonderband.)
Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck 1509

Arbeiten zur Rechtsvergleichung, Heft 2: Mannheim-Joseph-Sieverts, Die


kriminal rechtliche Behandlung von jungen Rechtsbrechern (über 18 Jahren)
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Erstes deutsch-polnisches Kolloquium über Strafrecht und Kriminologie. Hrsg.
zusammen mit Günther Kaiser. Baden-Baden: Nomos Verlagsges. 1983.
280 S.
Zweites deutsch-sowjetisches Kolloquium über Strafrecht und Kriminologie.
Hrsg. zusammen mit Günther Kaiser und Albin Eser. Baden-Baden: Nomos
Verlagsges. 1984.456 S.
Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck 1511

Die Freiheitsstrafe und ihre Surrogate im deutschen und ausländischen Recht.


Baden-Baden: Nomos Verlagsges. 1983 - 1984. 2172 S. (Rechtsvergleichende
Untersuchungen zur gesamten Strafrechtswissenschaft. 3. Folge, Bd. 16. 1 - 3.)
Gedächtnisschrift für Zong Uk Tjong. Hrsg. zusammen mit Haruo Nishihara,
Hans-Ludwig Schreiber u. a. Tokio: Seibundo 1985 (im Erscheinen).

Beiträge zu Festschriften und Gedächtnisschriften

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372.
Straftaten gegen das Ausland, in: Festschrift für Theodor Rittler zu seinem
80. Geburtstag. Hrsg. von Siegfried Hohenleitner, Ludwig Lindner, Fried-
rich Nowakowski. Aalen: Scientia 1957. S. 275 - 285.
Der Einfluß des schweizerischen Strafrechts auf das deutsche, in: Recueil
d'etudes sur le Code penal suisse ... en l'honneur de Monsieur Paul Logoz.
SchwZStr Jg. 73, 1958. S. 184 .. 201.
Vom Stil der gegenwärtigen deutschen Strafrechtspflege, in: Stellung und Auf-
gabe des Richters im modernen Strafrecht. Melanges Oscar Adolf Germann.
Bern: Stämpfli 1959. S. 56 -73 (SchwZStr Jg. 75). Teilabdr. in: DRiZ, Jg. 37,
1959. S. 356.
Der strafrechtliche Handlungsbegriff in dogmengeschichtlicher Entwicklung,
in: Festschrift für Eberhard Schmidt zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Paul
Bockelmann und Wilhelm Gallas. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
1961. S. 139 - 155.
German Criminal Law Reform. Its development and cultural-historical back-
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Ed. by Gerhard o. W. Mueller. South Hackensack, N.J.: Rothman 1961.
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Aufbau und Stellung des bedingten Vorsatzes im Verbrechensbegriff, in: Exi-
stenz und Ordnung. Festschrift für Erik Wolf zum 60. Geburtstag. Hrsg.
von Thomas Würtenberger, Werner Maihofer, Alexander Hollerbach.
Frankfurt/M.: Klostermann 1962. S. 473 - 488.
Die Vollstreckung ausländischer Straferkenntnisse in der Bundesrepublik
Deutschland, in: Festschrift für Hellmuth von Weber zum 70. Geburtstag.
Hrsg. von Hans Welzel, Hermann Conrad u. a. Bonn: Röhrscheid 1963.
S. 325 - 342.
Delito y sanci6n en la teoria y en la realidad deI marxismo-Ieninismo, in:
Estudios juridicos en homenaje al profesor Luis Jimenez de Asua. Buenos
Aires: Abeledo-Perrot 1964. S. 73 - 88.
Gegenwärtiger Stand und Zukunfts aussichten der Entwurfsarbeiten auf dem
Gebiet des Völkerstrafrechts, in: Erinnerungsgabe für Max Grunhut (1893 -
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I fondamenti filosofici deI progetto tedesco di codice penale in paragone con
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Antolisei. Vol. 2. Milano: Giuffre 1965. S. 135 - 154.
Principes et solutions de la politique criminelle dans la reforme penale alle-
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Die Behandlung des sog. illegalen Staatsgeheimnisses im neueren politischen
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Paul Bockelmann, Arthur Kaufmann, Ulrich Klug. Frankfurt/M.: Kloster-
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Gustav Radbruchs Beitrag zur Strafrechtsvergleichung, in: Gedächtnisschrift
für Gustav Radbruch. Hrsg. von Arthur Kaufmann. Göttingen: Vanden-
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Die Ausschließung des Strafverteidigers in rechtsvergleichender Sicht, in:
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Die Geldstrafe als Mittel moderner Kriminalpolitik in rechtsvergleichender
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berger zum 70. Geburtstag am 7.10.1977. Hrsg. von Rüdiger Herren, Diet-
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- Rasgos fundamentales deI movimiento internacional de reforma deI derecho
penal, in: Politica criminal y reforma deI derecho penal. Por Santiago
Mir Puig u. a. Bogota, Colombia: Temis 1982. S. 235 - 250.
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haru Hiraba, Ryuichi Hirano and others. Tokio: Yuhikaku 1983. S. 83 - 96.
Die Freiheitsstrafe bei Franz von Liszt im Lichte der modernen Kriminalpoli-
tik, in: Festschrift für Ulrich Klug zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Günter
Kohlmann. Bd. 2. Köln: Deubner 1983. S. 257 - 276 und in: 375 Jahre Rechts-
wissenschaft in Gießen. Gießen: Brühlscher Verlag 1982. S. 15 - 36. (Gieße-
ner rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 1.)
Die Stellung der Freiheitsstrafe in der Strafrechtsreform der Bundesrepublik
Deutschland und Schwedens, in: Festskrift till Hans Thornstedt. Red. von
Per-Edwin Wallen, Gillis Erenius u. a. Stockholm: Norstedt 1983. S. 353 -
375.
La pena privativa di liberta in Germania in comparazione col diritto penale
italiano, in: Studi in memoria deI Prof. Giacomo Delitala. Milano: Giuffre
1985 (im Erscheinen).
Die Beziehungen des Freiburger Max-Planck-Instituts für ausländisches und
internationales Strafrecht zu Ostasien, in: Gedächtnisschrift für Zong Uk
Tjong. Hrsg. zusammen mit Haruo Nishihara, Hans-Ludwig Schreiber u. a.
Tokio: Seibundo 1985 (im Erscheinen).
Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck 1515

Aufsätze sowie Beiträge zu Sammelwerken


Materielles Strafrecht
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- N.S. T. 4, annee 1957. S. 11.
Allemagne: Droit penal (annees 1956 - 1957), Annuaire de legislation francaise
et etrangere, N.S. T. 6, annee 1957. S. 11 - 16.
- N.S. T. 7, annee 1958. S. 3 - 7.
Allemagne: Droit penal et procedure penale, Annuaire de legislation francaise
et etrangere, N.S. T. 8, annee 1959. S. 20 - 25.
- N.S. T. 9, annee 1960. S. 24 - 30.
Allemagne: Droit penal et procedure penale. Par ... et Heinz Mattes, Annuaire
de legislation francaise et etrangere, N.S. T.11, annee 1962. S. 21 - 27.
- N.S. T. 12, annee 1963. S. 30 - 36.
Allemagne: Droit penal et procedure penale. Avec la collab. de Justus Krüm-
pelmann, Annuaire de legislation francaise et etrangere, N.S. T.13, annee
1964. S. 29 - 4I.
- N.S. T. 14, annee 1965. S. 39 - 46.
- N.S. T. 15, annee 1966. S. 22 - 26.
- N.S. T. 16, annee 1967. S. 41 - 45.
- N.S. T. 17, annee 1968. S. 16 - 3I.
- N.S. T. 18, annee 1969. S. 33 - 42.
Die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Personenverbände, ZStW, Bd.65,
1953. S. 210 - 225.
Zur Frage der Strafbarkeit von Personenverbänden, Die Öffentliche Verwal-
tung, 1953. S. 539 - 544.
Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, Bd. 1 - 5 der Amt!.
Sammlung - Entscheidungen zum Allgemeinen Teil des StGB. GA, Jg.
1954. S. 322 - 334.
- Bd. 1 - 5 der Amt!. Sammlung - Entscheidungen zum Besonderen Teil des
StGB. GA, Jg. 1955. S. 97 - 109.
- Bd. 6 und 7 der Amt!. Sammlung, GA, J g. 1956. S. 97 - 119.
- Bd. 8 und 9 der Amt!. Sammlung, GA, Jg. 1958. S. 1 - 23.
- Bd. 10 und 11 der Amt!. Sammlung, GA, J g. 1959. S. 65 - 87.
Zur Frage der Kuppelei gegenüber Verlobten, MDR, Jg.8, 1954. S. 645 - 649.
L'evolution du droit penal en Allemagne depuis 1945, Revue de droit penal
et de criminologie, annee 35, 1954/55. S. 361 - 376.
Die Behandlung der Personenverbände im Strafrecht, SchwZStr Jg.70, 1955.
S. 243 - 266.
La fonction sociale de la peine, Revue internationale de defense sociale, an-
nee 9, 1955. S. 172 - 189.
Die Konkurrenz, ZStW, Bd. 67, 1955. S. 529 - 555.
1516 Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck

Anstiftung, Gehilfenschaft und Mittäterschaft im deutschen Strafrecht, SchwZ


Str Jg. 71,1956. S. 225 - 243.
Revues specialisees de droit penal en Allemagne, Revue internationale de cri-
minologie et de police technique, 1956. S. 232 - 235.
Verhütung von Straftaten gegen das Leben und die Körperintegrität - began-
gen durch Fahrlässigkeit, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechts-
reform. Sonderheft zum IV· Congres International de Defense Sociale,
1956 in Milano, 1956. S. 38 - 50.
Franz. abers., Kurzfassung: La prevention d'infractions commises par negli-
gence contre la vie et l'integrite corporelle, Revue internationale de cri-
minologie et de police technique, 1956. S. 8 - 13.
Die Behandlung des Zweikampfs in der Strafrechtsreform, JZ, Jg.12, 1957.
S. 108 - 113.
Cinquante ans d'histoire du droit penal dans le monde: Republique Federale
d'Allemagne, in: Cinquante ans de droit penal et de criminologie. Bruxelles:
Palais de Justice o. J. (1957). S. 509 - 519. (Revue de droit penal et de crimi-
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Grondslagen van de herziening van het strafrecht in Duitsland, Tijdschrift
voor strafrecht, deel66, 1957. S. 179 - 197.
Das deutsche Wirtschafts strafrecht, JZ, Jg. 14, 1959. S. 457 - 462.
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Methoden der Strafrechtswissenschaft, Studium generale, Jg. 12, 1959. S. 107-
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sabilite penale. Travaux du colloque de philosophie penale (12 au 21 janvier
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Die Bedeutung nicht-krankhafter Bewußtseinsstörungen und seelischer Aus-
nahmeerscheinungen für die Zurechnungsfähigkeit aus der Sicht des Ju-
risten, in: Gerichtliche Psychologie. Hrsg. von Günter Blau und Elisabeth
Müller-Luckmann. Neuwied: Luchterhand 1962. S. 208 - 222.
Die neuere Entwicklung des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts in der
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Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck 1517

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L'utilisation en pratique des sanctions nouvelles du droit penal allemand, Re-
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Nishidoitsu niokeru Teroböshi no Keijirippö (Die strafrechtliche und strafpro-
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Terrorismus), Hiroshima hogaku, 1979, Vol. 2, Nr. 4. S. 53 - 61.
Das neue deutsche Strafrecht in der Bewährung, Max-Planck-Gesellschaft
Jahrbuch 1980. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1980. S. 18 - 31.
Türk. abers.: Beklenenler bakimindan yeni alman ceza hukuku, Istanbul
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Serbokroat. abers.: Novoto germansko krivicno pravo na proba, Pravna misla
(Skopje), 31, 1981, Nr. 4/6. S. 1 - 14.
Grundfragen der Dogmatik und Kriminalpolitik im Spiegel der Zeitschrift
für die gesamte Strafrechtswissenschaft, ZStW, Bd.93, 1981. S.3 - 67.
La protection penale des seerets d'Etat illegaux en Republique Federale
d'Allemagne, in: Liceite en droit positif et referenees legales aux valeurs.
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Strafrecht und Recht der Ordnungswidrigkeiten, in: Einführung in das deut-
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Droit penal, in: Introduetion au droit allemand. Hrsg. von Michel Fromont
und Alfred Rieg. Tom. 2. Paris: Ed. Cujas 1984. S. 251 - 337.
Mukäfahat al-irhäb fi l-qänün al-almänI (Die Bekämpfung des Terrorismus
im deutschen Recht), Al-amn al-'ämm (Die öffentliche Sicherheit), Jg.27.
Kairo 1984. S. 58 - 63.
Die Berücksichtigung der Täterpersönlichkeit bei der Strafzumessung nach
deutschem Recht, in: Zweites deutsch-sowjetisches Kolloquium über Straf-
recht und Kriminologie. Hrsg. zusammen mit Günther Kaiser und Albin
Eser. Baden-Baden: Nomos Verlagsges. 1984. S. 127 - 146.

Zivilprozeß, Strafprozeß, Strafvollzug


Das Verfahren in Zivilsachen vor den Gerichten der französischen Militär-
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KriminaZpoZitik und Strafrechtsreform

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Empfehlungen des Genfer Kongresses: Mindestregeln für die Behand-
lung der Gefangenen u. a., ebenda. S. 667 - 702.)
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anno 8, 1955. S. 161 - 180.
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La evoluci6n de un derecho aut6nomo de las infracciones disciplinarias en
Alemania, desde la escuela deI derecho natural en la epoca de las luces
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1520 Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck

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Kommentar till socialskyddskongress, Juristnytt, arg. 18, nr.4, 1959. S. 74, 82 -
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Criminelle), Fribourg en Brisgau, 8 - 10 novembre 1957. Avec la collabo-
ration de Helga Spieler, Revue de science criminelle et de droit penal com-
pare, N.S. Tom. 13, Annee 1958, S. 231 - 233.
Die Behandlung der Sittlichkeitsverbrechen im Entwurf des StGB von 1959,
in: Bekämpfung der Sittlichkeitsdelikte. Wiesbaden: Bundeskriminalamt
1959. S. 267 - 276.
Die Bedeutung der Öffentlichkeit für die moderne Kriminalpolitik, ZStW,
Bd. 71, 1959. S. 1 - 14.
Les principes de la re forme actuelle du droit penal allemand, Revue de science
criminelle et de droit penal compare, N.S. Tom. 14, Annee 1959. S. 67 - 82.
Der Entwurf des neuen deutschen Strafgesetzbuchs aus der Sicht der Krimi-
nalpolizei, Das Polizeiblatt für das Land Baden-Württemberg, Jg.24, 1961.
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Franz. Obers.: Le projet du nouveau code penal. Point de vue de police crimi-
nelle, Revue internationale de police criminelle, Annee 17, N° 159, 1962.
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Bericht über den zweiten Kongreß der Vereinten Nationen über Verbrechens-
verhütung und Behandlung Straffälliger vom 8. - 19. August 1960 in Lon-
don, zusammen mit Ansorge u. a., ZStW, Bd. 73, 1961. S. 139 - 157.
Grundlagen der Strafrechtsreform. Zum Entwurf des neuen Strafgesetzbuches,
Evangelische Welt 1962, Nr. 24. S. 721 - 752.
Die weltanschaulichen und politischen Grundlagen des Entwurfs eines Straf-
gesetzbuchs (E 1962), ZStW, Bd.75, 1963. S. 1 - 15 und in: Probleme der
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Die kriminalpolitische Konzeption des Alternativ-Entwurfs eines Strafge-
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Strafrecht im Wandel, ÖJZ, Jg. 26,1971. S. 1 - 9.
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Die Tätigkeit der Vereinten Nationen auf dem Gebiet des Strafrechts, Mit-
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96 Festschrift für H.-H. Jescheck


1522 Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck

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Bd. 65, 1953. S. 458 - 478.
Franz. abers.: La proteetion penale des conventions internationales humani-
taires, Revue internationale de droit penal, Annee 24, 1953. S. 13 - 42.
Die Strafgewalt übernationaler Gemeinschaften, ZStW, Bd.65, 1953. S. 496 -
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Die europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grund-
freiheiten, NJW, Jg. 7, Halbbd.l, 1954. S. 783 - 786.
Die internationale Genocidium-Konvention und die Lehre vom Völkerstraf-
recht, ZStW, Bd. 66, 1954. S. 193 - 217.
Die internationale Rechtshilfe in Strafsachen in Europa, ZStW, Bd.66, 1954.
S. 518 - 544.
Ital. abers.: La cooperazione giuridica internazionale per la repressione dei
reati nei paesi europei, Rivista italiana di diritto penale. N.S. anno 8, 1955.
S. 309 - 337.
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Wolff. Düsseldorf: Triltsch 1955. S. 351 - 382.
Franz. abers.: Crimes du droit des gens, Revue internationale de droit penal,
Annee 26, 1955. S. 503 - 554.
Zur Reform der Vorschriften des StGB über das internationale Strafrecht,
Internationales Recht und Diplomatie 1956. S. 75 - 95.
Die Entwicklung des Völkerstrafrechts nach Nürnberg, SchwZStr, Jg. 72, 1957.
S. 217 - 248.
Die an Bord von Luftfahrzeugen begangenen Straftaten und ihre Rechtsfol-
in: Deutsche Beiträge zum 7. Internationalen Strafrechtskongreß in
- --gell,
Athen vom 26.9. - 2.10.1957. Hrsg. zusammen mit Edmund Mezger und
Richard Lange. Berlin: de Gruyter 1957. S. 195 - 218 (Sonderheft der ZStW.)
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[Artikel] in: Wörterbuch des Völkerrechts. Begr. von Karl Strupp, hrsg. von
Hans-Jürgen Schlochauer. 2. Auf!. Bd. 1 - 3. Berlin: de Gruyter 1960 - 1962.
Bd. 1: Aachener Kongreß - Hussar Fall. 1960.
[1.] "Erzberger-Mörder-Fall". S. 440.
[2.] "Genocidium". S. 658 - 659.
Bd. 2: Ibero-Amerikanismus - Quirin-Fall. 1961.
[3.] "Kriegsverbrechen". S. 373 - 376.
[4.] "McLeod-Fall". S.492.
[5.] "Nürnberger Prozesse". S. 638 - 643.
[6.] "Organisationsverbrechen" . S. 692 - 693.
Bd. 3: Rapallo-Vertrag- Zypern. 1962.
[7.] "Rauter-Fall". S. 7 - 9.
[8.] "Strafrecht, Internationales". S. 396 - 399.
[9.] "Völkerstrafrecht" . S. 781 - 782.
Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck 1523

Die internationalen Wirkungen der Strafurteile, ZStW, Bd.76, 1964. S. 172-


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Le projet de eonvention internationale Bur l'impreseriptibilite des erimes de
guerre et des erimes eontre l'humanite, Revue internationale de droit penal,
Annee 37, 1966. S. 513 - 524.
Lo stato attuale deI diritto penale europeo, in: Prospettive per un diritto penale
europeo. Padova: Cedam 1968. S. 321 - 344. (Convegno di diritto penale. 4.)
Foreword in: I. A. Shearer, Extradition in international law. Manchester:
Univ. Press; Dobbs Ferry, N.Y.: Oeeana Publ. 1971.
Prefaee in: Bart de Schutter-Christian Eliaerts, Bibliography on international
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Staatsanzeiger für Württemberg-Baden, Jg. 5, 1951, Nr. 61. S. 1 - 2.
- Stellung und Aufgaben des Justiees' Clerk in der englischen Friedensge-
richtsverfassung, Staats anzeiger für Württemberg-Baden, Jg. 5, 1951,
Nr. 62. S. 1 - 2.
Bemerkungen zum englischen Jugendstrafrecht im Hinblick auf den Entwurf
eines Änderungsgesetzes zum Reichsjugendgerichtsgesetz, Mitteilungsblatt
der Fachgruppe für Strafrechtsvergleichung in der Gesellschaft für Rechts-
vergleichung, J g. 2, H. 2, 1952. S. 28 - 40.

96"
1524 Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck

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S.l1- 22.
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Die Behandlung der unechten Unterlassungsdelikte im deutschen und aus-
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Bd. 77, 1965. S. 109 - 148.
Die Verhandlungen der strafrechtlichen Abteilung des IV. Internationalen
Kongresses für Rechtsvergleichung vom 1. - 7. 8.1954 in Paris, ZStW, Bd. 67,
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Franz. Ubers.: Les travaux de la section de droit penal du IV· Congres Inter-
national de Droit Compare (Paris, l or au 7 aout 1954), Revue de science cri-
minelle et de droit penal compare, N.S., 1955. S. 157 - 159.
Die Beschlagnahme periodischer Druckschriften in rechtsvergleichender Dar-
stellung, ZStW, Bd. 68, 1956. S. 651 - 689.
Die Entwicklung des Verbrechensbegriffs in Deutschland seit Beling im Ver-
gleich mit der österreichischen Lehre, ZStW, Bd.73, 1961. S.179 - 209.
Span. Ubers.: La evoluci6n deI concepto deI delito en Alemania desde Beling,
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Der VIII. Internationale Strafrechtskongreß vom 21. - 27. September 1961 in
Lissabon. Mit übersetzung der Entschließungen, ZStW, Bd. 74,1962. S. 183-
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Der strafrechtliche Staatsschutz im Ausland, ZStW, Bd. 74, 1962. S.339 - 359.
Schweizerisches Strafrecht und deutsche Strafrechtsreform, SchwZStr, Jg.78,
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Die Todesstrafe im ausländischen Recht, in: Die Frage der Todesstrafe. 12 Ant-
worten. München: Piper 1962. S. 49 - 64.
Hai kosmotheoretikai baseis tou germanikou schediou poinikou kodikos en
synkrisei pros tas baseis tou hellenikou poinikou kodikos (Die weltanschau-
lichen Grundlagen des deutschen Entwurfs eines Strafgesetzbuchs im Ver-
gleich mit den Grundlagen des griechischen Strafgesetzbuchs), Poinika
chronika, Athen 1963. S. 257 - 270.
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Der Entwurf eines neuen Sexualstrafrechts im Lichte der Rechtsvergleichung,
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derna politica criminal, S.14 - 42. (2) La reforma deI Derecho penal aleman
en comparaci6n con el Derecho penal espafiol actual y futuro, S. 43 - 74.
(3) La nueva configuraci6n de 10 injusto en la teoria juridico-penal
alemana en comparaci6n con la doctrina actual espafiola, S. 76 - 103.

Anmerkungen zu und Mitteilungen von Entscheidungen


Anmerkung zu BGH, Urteil vom 21. 10. 1952 - 2 StR 396/52 (LG Bonn), JZ,
Jg. 8,1953. S. 148 - 150.
Anmerkung zu OLG Bremen, Urteil vom 25.2.1953 - Ss 1/53, GA, Jg.1953.
S. 88 - 89.
Anmerkung zum Urteil des Amerikanischen Gerichts der Alliierten Hohen
Kommission in Deutschland - 5. Bezirk - in München vom 20./26. 5. 1954
in der Strafsache gegen Vaclav Hrnecek, Archiv des Völkerrechts, Bd.5,
1955/1956. S. 230 - 231.
Anmerkung zu BGH, Urteil vom 14.4.1955 - 4 StR 16/55, MDR, Jg.9, 1955.
S. 562 - 563.
Anmerkung zu BGH, Urteil vom 11. 11. 1955 - 1 StR 409/55 (LG Augsburg),
JZ, Jg. 11, 1956. S. 418.
1528 Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck

Anmerkung zu BGH, Urteil vom 10.1.1956 - St E 11/55, JZ, Jg.12, 1957.


S. 29 - 31.
Anmerkung zu BGH GSSt, Beschluß vom 22.9.1956 - GSSt 1156, JZ, Jg.12,
1957. S. 386 - 388.
Anmerkung zu BGH, Urteil vom 6. 12. 1956 - 4 StR 234/56 (LG Arnsberg),
JZ, Jg. 12, 1957. S. 551- 552.
Anmerkung zu BGH, Urteil vom 4. 10. 1957 - 2 StH 330/57 (SchwG Osna-
brück), JZ, Jg. 13, 1958. S. 749 - 750.
Anmerkung zu BGH, Urteil vom 5.2.1960 - 4 StR 557/59 (LG Hagen/Westf.),
JZ, Jg. 16, 1961. S. 30 - 31.
Anmerkung zu BGH, Urteil vom 8.7.1960 - 4 StR 218/60 (LG Bochum), MDR,
Jg. 15, 1961. S. 337 - 338.
Anmerkung zu BGH, Urteil vom 2. 12. 1960 - 4 StR 453/60 (SchwG Hamburg),
JZ, Jg. 16, 1961. S. 752 - 753.
Anmerkung zu BGH, Urteil vom 30.9. 1960 - 4 StR 242/60 (SchwG Hagen),
JZ, Jg. 17, 1962. S. 30.
Anmerkung zu BGH, Beschluß vom 24.8.1962 - 2 ARs 54/62, JZ, Jg. 18, 1963.
S. 564 - 565.
Anmerkung zu BGH, Beschluß vom 14.2. 1966 - GSSt 1165 (SchwG Olden-
burg), JZ, Jg. 21,1966. S. 808 - 809.
OLG Karlsruhe, Urteil vom 25.6.1970 - 3 Ss 38/70, GA, Jg. 1970. S. 311 - 313.
OLG Karlsruhe, Urteil vom 12.3.1970 - 3 Ss 151169, GA, Jg. 1970. S. 313 - 314.
OLG Karlsruhe, Urteil vom 23.4.1970 - 3 Ss 16/70, GA, Jg. 1971. S. 59 - 60.
OLG Karlsruhe, Urteil vom 25.2.1971 - 3 Ss 98/70, GA, Jg. 1971. S. 214 - 217.
OLG Karlsruhe, Urteil vom 26.7.1973 - 3 Ss 25/73, GA, Jg. 1974. S. 85 - 87.
OLG Karlsruhe, Urteil vom 13. 5.1977, Gewerbearchiv 1977. S. 392.
OLG Karlsruhe, Beschluß vom 23.9.1977 - 3 Ss (B) 173/77, Die Justiz, Jg.27,
1978. S. 81 - 82.

Rezensionen

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S.383.
Welzel, Hans: Das deutsche Strafrecht. 3. Aufl., 1954, MDR, Jg.8, 1954. S.384.
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- 5. Aufl., 1956, MDR, Jg. 10, 1956. S. 447 - 448.
Schaffstein, Friedrich: Die europäische Strafrechtswissenschaft im Zeitalter
des Humanismus, GA, Jg. 1955. S. 64.
Brandstetter, Elmar: Kommentar zum Straffreiheitsgesetz unter besonderer
Hervorhebung der allgemeinen Grundsätze des Amnestierechts, 1954, MDR,
Jg. 9, 1955. S. 128.
Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck 1529

Wielenga, Bastiaan Eliza: Essai sur la Cassation civile aux Pays-Bas, 1952,
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Jellinek, Walter: Die zweiseitigen Staatsverträge über Anerkennung auslän-
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Laeeonia, Alfredo: Giustizia internazionale penale, 1949, ZaöRV, Bd. 16, 1955/
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Meyer, Heinrich: Die Einlieferung, 1953, ZaöRV, Bd. 16, 1955/56. S. 115 - 117.
Pompe, C. A.: Aggressive war an international erime, ZaöRV, Bd. 16, 1955/56.
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Edmund Mezger u. a., 1956, Bd.l, Lfg. 1 u. 2, JZ, Jg.12, 1957. S. 359 - 360.
Welzel, Hans: Das neue Bild des Strafrechtssystems. 3. Aufi., 1957, GA, Jg. 1958.
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Bemmann, Günter: Zur Frage der objektiven Bedingungen der Strafbarkeit,
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Drost, Pieter N.: The Crime of State. Bd. 1. Humanicide, Bd. 2. Genoeide, 1959,
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Arndt, Adolf: Landesverrat, 1966, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr.34,
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Ranieri, Silvio: Manuale di diritto penale. 4. ed., riv. ed aggiorn. Parte gene-
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Aktuelle Probleme des internationalen Strafrechts. Beiträge zur Gestaltung
des internationalen und supranationalen Strafrechts. Heinrich Grützner
zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Dietrich Oehler und Paul-Günter Pötz,
ZStW, Bd. 84, 1972. S. 834 - 838.
Aneel, Mare: La defense sociale nouvelle, 3. ed., 1981, Revue internationale de
droit penal, N.S. Annee 55, 1984. S. 417 - 419.
1530 Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck

Persönliches, Glückwünsche, Gedenkreden und Nachrufe


Le professeur Edmund Mezger, Revue internationale de criminologie et de
police technique, 1956. S. 228 - 230.
Max Waiblinger zum Gedächtnis, ZStW, Bd. 72,1960. S. 603 - 605.
Professor Karl Zeidler t, 26. September 1962, Freiburger Studenten-Zeitung,
Nr. 6, November 1962. S. 6.
Necrologie: Edmund Mezger, Revue de science criminelle et de droit penal
compare, N .S. T. 17, Annee 1962. S. 806 - 808.
Edmund Mezger t. Nachruf, JZ, Jg. 18, 1963. S. 452 - 453.
Eduard Kern zum 80. Geburtstag am 13. Oktober 1967, GA, Jg. 1967. S. 353 - 361.
Professor Mr. Willem P. J. Pompe zum Gedächtnis, ZStW, Bd. 81, 1969. S. 407-
410.
Hans Felix Pfenninger zum Gedächtnis, ZStW, Bd. 81, 1969. S. 993 - 996.
Professor Kinsaku Saito zum Gedächtnis, ZStW, Bd.82, 1970. S. 1049 - 1051.
Hellmuth von Weber zum Gedächtnis, JZ, Jg. 25,1970. S. 517 - 518.
Eberhard Schmidt zum 80. Geburtstag, ZStW, Bd.83, 1971. Vor S. 1.
Eduard Kern - Leben und Werk, GA, Jg. 1973. S. 232 - 241.
Richard Lange zum 70. Geburtstag, ZStW, Bd.88, 1976. S. 345 - 348.
Walter Strauß t, Mitteilungen der Gesellschaft für Rechtsvergleichung, Nr. 15,
Februar 1977. S. 5.
Bogdan Zlataric zum Gedächtnis, ZStW, Bd.89, 1977. S. 473 - 476.
Ansprache für die Gesellschaft für Rechtsvergleichung beim 70. Geburtstag
_YC)fi Ernst von Caemmerer, in: Ansprachen anläßlich der feierlichen über-
gabe der Festschrift für Ernst von Caemmerer zum 70. Geburtstag am
21. Januar 1978, hrsg. von Hans Georg Leser, Marburg 1978. S. 41 - 44.
Zur Erinnerung an Laszl6 Viski (1929 - 1977), ZStW, Bd.90, 1978. S. 475 - 477.
Karl Engisch zum 80. Geburtstag, ZStW, Bd. 91,1979. S. 247 - 250.
Oscar Adolf Germann t, Mitteilungen der Gesellschaft für Rechtsverglei-
chung, Nr. 17, Mai 1980. S. 5 - 6.
Franz Marcus t, Mitteilungen der Gesellschaft für Rechtsvergleichung, Nr. 17,
Mai 1980. S. 9 - 10.
Richard Honig zum Gedächtnis, ZStW, Bd.83, 1981. S. 827 - 830 und in: Mit-
teilungen der Gesellschaft für Rechtsvergleichung, Nr. 18, Mai 1981. S. 7 - 9.
Gerhardt Grebing t, JZ, Jg. 37,1982. S. 614 - 615.
Franz. Obers.: A la memoire de Gerhardt Grebing, Revue internationale de
droit penal, N.S. Annee 1983. S. 13 - 15.
Ernst Heinitz zum 80. Geburtstag, ZStW, Bd. 94, 1982. S. 1 - 4.
Wilhelm Gallas zum 80. Geburtstag, ZStW, Bd. 95, 1983. S. 281 - 286.
Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck 1531

Rede bei der Akademischen Gedenkfeier des Fachbereichs Rechtswissenschaft


der Justus-Liebig-Universität Gießen für Gerhardt Grebing am 21. Ja-
nuar 1983, in: Zum Gedenken an Professor Dr. jur. Gerhardt Grebing.
Gießen: Justus-Liebig-Universität, Fachbereich Rechtswissenschaft 1983.
S. 15 - 27.
Rede bei der Trauerfeier für Professor Zong Uk Tjong, Gedächtnisschrift für
Zong Uk Tjong, hrsg. zusammen mit Haruo Nishihara, Hans-Ludwig
Schreiber u. a. Tokio: Seibundo 1985 (im Erscheinen).

Varia
Immatrikulationsrede, 8. Mai 1965, Freiburger Universitätsblätter, Jg.4, H.9,
1965. S. 29 - 32.
Gedanken zur Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands. Freiburg i. Br.:
Schulz 1965.23 S. (Freiburger Universitätsreden. N. F. H. 40.)
Jahresbericht über das Rektoratsjahr 1965/66. Freiburg i. Br.: Schulz 1966.
34 S. (Annalen der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg i. Br. H.10.)
Gedanken zu einem Hochschulgesetz für Baden-Württemberg, Freiburger
Universitätsblätter, Jg. 5, H. 11, 1966. S. 25 - 33.
Aufgaben der Landesrektorenkonferenz, Konstanzer Universitätszeitung und
Hochschulnachrichten, Nr. 14,1967, S. 1 - 2.
Bedingungen und Methoden des Rechtsunterrichts in den Vereinigten Staa-
ten von Amerika. Karlsruhe: C. F. Müller 1970. 18 S. (Juristische Studien-
gesellschaft Karlsruhe. Schriftenreihe. H. 97.)
Neue Formen studentischen Zusammenlebens, Freiburger Universitätsblätter,
Jg. 1, H. 2.1962. S. 46 - 48.
Stellung und Aufgabe der Korporation in der modernen Universität, Freibur-
ger Universitätsblätter, Jg. 6, H. 17, 1967. S. 35 - 42.
Die Wandlung der deutschen Universität in unserer Zeit, Burschenschaftliche
Blätter 89, 1974. S. 180 - 184.
Wiederaufbau und Entwicklung der Albert-Ludwigs-Universität nach 1945,
in: Festschrift zum 100. Stiftungsfest der Freiburger Burschenschaft Fran-
conia. Freiburg 1977. S. 21 - 37.
- Die Geschichte der Burschenschaft Franconia. Teilabschnitt 1933 - 1939.
Ebenda. S. 66 - 75.
- Pauktag in Günterstal. Ebenda. S. 117 - 123.
Das Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg i. Br.,
1938 - 1963. Berlin: de Gruyter 1963. 58 S.
Das Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg i. Br.,
Freiburger Universitätsblätter, Jg. 4, H. 8, 1965. S. 27 - 37.
Rechtsvergleichung im Max-Planck-Institut für ausländisches und interna-
tionales Strafrecht in Freiburg i. Br., Mitteilungen aus der Max-Planck-
Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, 1967. S. 26 - 45 und in:
ZStW. Bd. 79, 1967. S. 128 - 144.
1532 Verzeichnis der Schriften von Hans-Heinrich Jescheck

Aufgaben, Ausstattung und Arbeitsweise eines juristischen Max-Planck-


Instituts, Die Polizei im Regierungsbezirk Südbaden, 1971. S. 84 - 86.
Bedingungen für die Ausbildung und Forschung ausländischer Stipendiaten
am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht
in Freiburg i. Br., in: Strafrecht und Strafrechtsreform, Referate und Dis-
kussionen eines Symposiums der Alexander von Humboldt-Stiftung vom
7. - 12. 10. 1973 in Ludwigsburg. Hrsg. von Kurt Madlener, Dietrich Papen-
fuss, Wolfgang Schöne. Köln: Heymanns 1974. S. 31 - 43. (Zusammenstel-
lung übersetzter und fremdsprachiger Arbeiten S. 359 - 362.)
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Frei-
burg i. Br. Hrsg. zusammen mit Günther Kaiser. Freiburg i. Br.: Rombach
1975.32 S.
- Geschichte, Aufbau und Organisation des Max-Planck-Instituts für aus-
ländisches und internationales Strafrecht in Freiburg i. Br., zusammen mit
Günther Kaiser. S. 3 - 9.
- Die wissenschaftliche Arbeit in der strafrechtlichen Forschungsgruppe des
Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht.
S.lO -16.
Franz. Ausgabe: L'Institut Max Planck de droit penal etranger et international
a Fribourg-en-Brisgau. Freiburg i. Br.: Rombach 1976.
- Historique, developpement et organisation de l'Institut Max-Planck de
droit penal etranger et international a Fribourg-en-Brisgau. S. 3 - 11.
- Contenu et methode scientifique de travail du groupe de recherche en droit
penal de I'Institut Max Planck de droit penal etranger et international.
S.12 -19.
EngZ. Ausgabe: The Max-Planck Institute for Foreign and International Cri-
minal Law in Freiburg im Breisgau. Freiburg i. Br.: Rombach 1976. 44 S.
- The History, Structure and Organization of the Max Planck Institute for
Foreign and International Criminal Law in Freiburg im Breisgau. S.3 -11.
-The Work of the Criminal Law Research Group of the Max Planck Institute
for Foreign and International Criminal Law. S. 12 - 19.
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Frei-
burg i. Br. Hrsg. von der Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft,
München. Berichte und Mitteilungen Heft 5, 1980.56 S.
- Geschichte und Entwicklung des Instituts, zusammen mit Günther Kaiser.
S.l1- 20.
- Strafrecht. Forschungsgebiete, Arbeitsweise und Tätigkeitsschwerpunkte.
S. 21- 28.
Strafrecht und Kriminologie unter einem Dach, Freiburger Universitätsblätter,
Jg. 19, H. 67, 1980. S. 39 - 43.
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Frei-
burg i. Br., Bauwelt 1980, Heft 11. S. 388 - 391.
Erinnerungen an das Centre d'etudes pour prisonniers de guerre allemands in
St. Denis 1946/47, in: Bildung und Erziehung, Jg.36, 1983. S. 69 -75.
Rückblick und Ausblick, in: Max-Planck-Institut für ausländisches und in-
ternationales Strafrecht, 4. Februar 1983. Freiburg i. Br. 1983. S.17 - 31.

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