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Festschrift für Heinz Schöch

zum 70. Geburtstag


Verbrechen – Strafe – Resozialisierung

Festschrift für
HEINZ SCHÖCH
zum 70. Geburtstag
am 20. August 2010

herausgegeben von

Dieter Dölling Bert Götting


Bernd-Dieter Meier Torsten Verrel

De Gruyter
ISBN 978-3-89949-606-2
e-ISBN 978-3-89949-607-9

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen


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http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York

Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen


∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier

Printed in Germany

www.degruyter.com
Heinz Schöch
zum 20. August 2010

HANS-JÖRG ALBRECHT HANS-LUDWIG KRÖBER


MICHAEL ALEX HANS KUDLICH
FRANK ARLOTH KRISTIAN KÜHL
DIRKBAIER KARL-LUDWIG KUNZ
BRITTA BANNENBERG KLAUS KUTZER
WERNER BEULKE FRITZLoos
AxEL BOETTICHER MANFRED MAIWALD
BERNHARD BÖHM MANFRED MARKWARDT
REINHARD BÖTTCHER BERND-DIETER MEIER
DIETER DÖLLING LUTZ MEYER-GOSSNER
FRIEDER DüNKEL CARSTEN MOMSEN
GUNNAR DUITGE HEINZ MÜLLER-DIETZ
RUDOLFEGG NORBERT NEDOPIL
WOLFGANG EISENMENGER V ASILEIOS PETROPOULOS
ALBIN ESER CHRISTIAN PFEIFFER
THOMAS FELTES HENNING RADTKE
KLAUS FOERSTER RUDOLF RENGIER
MAX FOERSTER PETERRIESS
EVGENIJ GAZOV DIETER RÖSSNER
MICHAEL GEBAUER CLAUS ROXIN
BERT GÖTTING HELMUT SATZGER
RITAHAVERKAMP HERO SCHALL
WOLFGANG HEINZ HANS JOACHIM SCHNEIDER
DIETER HERMANN HEINO SCHÖBEL
THOMAS HILLENKAMP FRANZ STRENG
T ATJANA HÖRNLE MONIKA TRAULSEN
JÖRG-MARTIN JEHLE TORSTEN VERREL
HEIKEJUNG KLAUS VOLK
JOHANNES KAspAR MICHAEL WALTER
JÖRG KINZIG THOMAS WEIGEND
CHRISTOPH KNAUER PETRA WIITIG
PETERKÖNIG ULRICH ZIEGERT
ARTHUR KREUZER
Inhalt

VORWORT
Heinz Schöch zum 70. Geburtstag XV

I. Kriminologie

MICHAEL W ALTER
Über Kriminologie als Kulturwissenschaft 3

PETRA WITTIG
Anmerkungen zu Hausers "Moral Minds"
aus kriminologischer Perspektive 19

HANS-JÖRG ALBRECHT
Gewaltkriminalität - Ursachen und Wirkungen 31

BRITTA BANNENBERG
So genannte "Amokläufe" aus kriminologischer Sicht 49

CHRISTIAN PFEIFFER / DIRK BAIER


Gewalt durch Jungen und Mädchen 69

FRANZ STRENG
Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule
Ergebnisse einer Replikationsstudie 81

FRIEDER DüNKEL
Greifswalder Forschungen zum Alkohol im Straßenverkehr 101

WOLFGANGHEINZ
Optimierungsbedarfund Optimierungsmöglichkeiten der
Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken in Deutschland 119
VIII Inhalt

HANS JOACHIM SCHNEIDER


Die kriminelle Persönlichkeit
Eigenschafts- versus Prozess-Modell 145

BERND-DIETER MEIER
"Hunde, die bellen, beißen nicht"
Einstellungen Studierender zu Kriminalität und Strafe 167

II. Jugendstrafrecht

MICHAEL GEBAUER
Jugendkriminalrecht - quo vadis? 185

JOHANNES KAsp AR
Jenseits von Erziehung: Generalprävention als
komplementärer Sanktionszweck des Jugendstrafrechts 209

TORSTEN VERREL
§ 45 JGG - Quo vadis?
Ergebnisse und kriminalpolitische Konsequenzen
der Evaluation nordrhein-westfälischer Diversionstage 227

BERT GÖTTING
Überlegungen zur Einführung eines Wamschussarrests
aus statistischer Sicht 245

MONIKA TRAULSEN
Das Schülerverfahren als kriminalpräventives
Angebot der Jugendhilfe
Dargestellt am Beispiel eines Schülerprojekts in Kehl 267

111. Strafvollzug

HEINZ MÜLLER-DIETZ
Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
zum Straf\rollzug 285

HEIKEJUNG
Die lästigen Weihnachtspakete 303
Inhalt IX

RUDOLFEGG
Sozialtherapie: gestern, heute und morgen 313

FRANK ARLOTH
Zur weiteren Entwicklung des Strafvollzugs 337

IV. Materielles Strafrecht

KARL-LUDWIG KUNZ
Zur Symbolik des Strafrechts 353

KLAUS VOLK
Bildersprache in der Strafrechtsdogmatik 369

RITA HAVERKAMP
Staatsschutzstrafrecht im Vorfeld
Probleme strafrechtlicher Prävention bei mutmaßlichen
terroristischen Einzeltätern 381

T ATJANA HÖRNLE
Der lückenhafte Schutz jugendlicher Opfer
im Sexualstrafrecht 401

KRISTIAN KÜHL
Punktuelle Ergänzungen des Persönlichkeitsschutzes
im Strafgesetzbuch 419

CHRISTOPH KNAUER
Der Arzt, die Kommunikation und das Strafrecht
- Aspekte der ärztlichen Schweigepflicht unter besonderer
Berücksichtigung von Supervision, ärztlichem Konsil
und Sachverständigentätigkeit - 439

ALBIN ESER
Rechtmäßige Tötung im Krieg:
zur Fragwürdigkeit eines Tabus 461

KLAUS KUTZER
Überlegungen zur Suizidrechtsprechung
des Bundesgerichtshofes 481
x Inhalt

ARTHUR KREUZER
Notwendigkeit der Reform des Tötungsstrafrechts
und der "AE-Leben" 495

THOMAS HILLENKAMP
Zum Mitwirkungsverweigerungsrecht beim
Schwangerschaftsabbruch 511

MANFRED MAIWALD
Die italienische Strafvorschrift gegen das Stalking
im Vergleich mit § 238 des deutschen Strafgesetzbuchs 53 1

RUDOLF RENGIER
Das Taschenmesser als gefährliches Werkzeug des Diebes 549

CARSTEN MOMSEN
Neue Akzente fur den Untreuetatbestand?
- Der Fall "Bremer Vulkan" im Lichte der Abwendung
der neueren Rechtsprechung von der "Interessentheorie" - 567

PETERKöNIG
Sind die "Trunkenheitsdelikte" reformbedürftig? 587

GUNNAR DUTTGE
Der Arzt als Unterlassungstäter 599

HEROSCHALL
Allgemein- und Sonderdelikte:
Versuch der Abgrenzung im Umweltstrafrecht 619

v. Strafrechtliche Sanktionen
DIETER RÖSSNER
Empirische Perspektiven zur Legitimation der Kriminalstrafe 637

JÖRG KINZIG
Knast fur den Diebstahl einer Milchschnitte?
Grenzen der Verhängung kurzer Freiheitsstrafen bei
Bagatelltaten wiederholt straffälliger Personen 647
Inhalt XI

HANS KUDLICH
Verschobener Reststrafenzeitpunkt und Härteausgleich
bei Unmöglichkeit nachträglicher Gesamtstrafenbildung 669

FRITZ Loos
Zur Auslegung der "rechtswidrigen Tat" in der
zweifachen Verwendung in § 63 StGB 681

HENNING RADTKE
Die Erledigungserklärung im Maßregelvollzug 695

AXEL BOETTICHER
Die Sünden der Rechtspolitik bei den Änderungen
des Rechts der Sicherungsverwahrung ohne Rücksicht
auf kriminologische Erkenntnisse 715

THOMAS FELTES / MICHAEL ALEX


Kriminalpolitische und kriminologische Probleme
der Sicherungsverwahrung 733

BERNHARD BÖHM
Ausgewählte Fragen des Maßregelrechts 755

DIETER DÖLLING
Zum Verhältnis von Strafe und Therapie 771

MANFRED MARKWARDT
Die Einrichtung einer Stiftung Opferhilfe Bayern 781

DIETER HERMANN
Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe-
ein Artefakt der Forschung? 791

VI. Strafprozessrecht

LUTZ MEYER-GOSSNER
Gefahren im strafprozessualen Denken 811

CLAUS ROXIN
Zur Beschuldigteneigenschaft im Strafprozess 823
XII Inhalt

JÖRG-MARTIN JEHLE
Entwicklungen der Untersuchungshaft aus
rechtstatsächlicher und rechtspolitischer Perspektive 839

V ASILEIOS PETROPOULOS
Das europäische "ne bis in idem" und die Aufwertung
des Opportunitätsprinzips auf Unionsebene 857

ULRICH ZIEGERT
Der Anklagesatz. Novellierung durch Rechtsprechung? 879

PETERRIESS
Die reduzierte Besetzung der großen Strafkammer
Gedanken zu einer (fast) unendlichen Geschichte 895

HELMUT SATZGER
Die Fortwirkung des Zeugnisverweigerungsrechts
bei Verfahren gegen mehrere Mitbeschuldigte nach
Verfahrenstrennung - der Anfang vom Ende? 913

REINHARD BÖTTCHER
Wie vielOpferschutz verträgt der rechtsstaatliche
Strafprozess? 929

THOMAS WEIGEND
Das Opfer als Prozesspartei?
Bemerkungen zum 2. Opferrechtsreformgesetz 2009 947

WERNER BEULKE
Schuldspruchersetzung - Berichtigung oder Benachteiligung?
Der Austausch der Straftatbestände im Urteilstenor durch das
Revisionsgericht unter Aufrechterhaltung des Strafausspruchs 963

VII. Forensische Psychiatrie und Rechtsmedizin

NORBERT NEDOPIL
Freiraum fur den menschlichen Willen
Gedanken zu einem überflüssigen und unlösbaren Disput 979
Inhalt XIII

HANS-LUDWIG KRÖBER
Schuldfähigkeit bei "Komorbidität" durch mehrere
psychische Störungen 993

KLAUS FOERSTER / MAX FOERSTER


Belehrung durch den psychiatrischen Sachverständigen? 1007

WOLFGANG EISENMENGER / EVGENIJ GAZOV


Die Feinpräparation von Kehle und Luftröhre
und ihre Bedeutung bei der Strangulationsdiagnose 1027

VII. Juristenausbildung

HEINO SCHÖBEL
Geschichte und Geschichten der juristischen
Staatsprüfungen in Bayern 1039

Verzeichnis der Schriften von Heinz Schöch 1055

Verzeichnis der von Heinz Schöch betreuten


Habilitanden und Doktoranden 1075

Autorenverzeichnis 1085
Vorwort

Am 20. August 2010 begeht Heinz Schöch seinen siebzigsten Geburtstag.


Seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hat Heinz Schöch die
deutsche Kriminologie maßgeblich mit geprägt und außerdem wesentliche
Beiträge zum Strafrecht und zum Strafprozessrecht geleistet. Heinz Schöch
wurde 1940 in Sarata/Bessarabien geboren. In Deutschland lebt er seit 1945.
Im Jahr 1959 legte er das Abitur in Stuttgart-Bad Cannstatt ab. Es folgten
ein Studium Generale am Leibniz-Kolleg in Tübingen und ein Jurastudium
in Tübingen und Hamburg. 1965 absolvierte Heinz Schöch das Erste juristi-
sche Staatsexamen, 1969 das Zweite juristische Staatsexamen. Von 1965
bis 1974 war er am Institut für Kriminologie der Universität Tübingen als
wissenschaftlicher Mitarbeiter, Assistent und Akademischer Rat tätig. 1972
erfolgte die Promotion mit einer grundlegenden Arbeit über "Strafzumes-
sungspraxis und Verkehrsdelinquenz". An die Tübinger Zeit schloss sich
die Phase als Professor in Göttingen an. Heinz Schöch war von 1974 bis
1994 ordentlicher Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Georg-
August-Universität Göttingen. 1985/86 übte er das Amt des Dekans der
Göttinger Juristischen Fakultät aus. Rufe an die Universitäten Bielefeld und
Zürich lehnte er ab. In Göttingen war Heinz Schöch auch vorübergehend als
Richter am Landgericht im zweiten Hauptamt tätig.
1994 trat Heinz Schöch die Nachfolge von Horst Schüler-Springorum auf
dem Lehrstuhl für Strafrecht, Kriminologie, Jugendrecht und Strafvollzug
an der Ludwig-Maximilians-Universität München an. Er war von 1996 bis
1998 Prodekan der Juristischen Fakultät und Mitglied des Senats der Uni-
versität und von 2001 bis 2003 Dekan der Juristischen Fakultät sowie Ge-
schäftsführender Direktor des neu errichteten Departements "Juristisches
Seminar". Seit dem 1. Oktober 2008 ist Heinz Schöch emeritiert.
Die Forschungstätigkeit von Heinz Schöch ist durch zahlreiche umfang-
reiche empirische Untersuchungen geprägt. Seine Dissertation über "Straf-
zumessungspraxis und Verkehrsdelinquenz" enthält bereits eine eingehende
empirische Untersuchung der Strafzumessungspraxis bei Trunkenheitsdelik-
ten im Straßenverkehr und der spezial- und generalpräventiven Effektivität
der strafrechtlichen Sanktionen. Außerdem hat Heinz Schöch gemeinsam
mit dem Würzburger Psychologen Hans-Peter Krüger wichtige Untersu-
chungen zur Straßenverkehrsdelinquenz durchgeführt, die sich mit der Ge-
neralprävention und dem Fahren unter Alkohol sowie dem Fahren unter
Drogeneinfluss befassen. In zahlreichen Aufsätzen hat sich Heinz Schöch
XVI Vorwort

mit dem Fahren unter dem Einfluss von Alkohol, illegalen Drogen und
Medikamenten sowie mit den Möglichkeiten der strafrechtlichen Kontrolle
dieses Verhaltens auseinandergesetzt.
Mit einer Untersuchung zur nicht registrierten Kriminalität bei Strafge-
fangenen und in der "Normalbevölkerung", die 1976 unter dem Titel "Ist
Kriminalität normal?" veröffentlicht wurde, hat Heinz Schäch einen wichti-
gen Beitrag zur deutschen Dunkelfeldforschung geleistet. Außerdem hat
Heinz Schäch die deutsche empirische Forschung über die generalpräventi-
ven Wirkungen des Strafrechts mitbegründet. Er hat ab 1980 in Göttingen
Befragungsstudien über Sanktionseinschätzungen und Delinquenz veran-
lasst, welche die empirische Generalpräventionsforschung erheblich voran-
gebracht haben.
Ein weiteres wichtiges Forschungsfeld von Heinz Schäch ist die empiri-
sche Strafverfahrensforschung. Er hat ab 1975 in Niedersachsen Feldexpe-
rimente über neue GestaItungen der Hauptverhandlung - die Zweiteilung
der Hauptverhandlung und die Hauptverhandlung am Runden Tisch - initi-
iert. Weitere Untersuchungen zur Rechtswirklichkeit des Strafverfahrens
betrafen unter anderem die polizeiliche Ermittlungstätigkeit, die Einstellung
von Strafverfahren nach dem Opportunitätsprinzip, die Rechtswirklichkeit
und Effizienz der Strafverteidigung, die Stellung des Vorsitzenden in der
Hauptverhandlung und die Kosten des Strafverfahrens. Die Rechtswirklich-
keit der Untersuchungshaft war Gegenstand mehrerer Untersuchungen von
Heinz Schäch, in der er unter anderem die Bedeutung herausgearbeitet hat,
die der frühen Bestellung eines Verteidigers zukommt.
Nachdrücklich hat sich Heinz Schäch für die Wahrung der Interessen des
Opfers im Strafverfahren eingesetzt. In diesem Zusammenhang hat er empi-
rische Untersuchungen zu Rechtswirklichkeit der Nebenklage, zur Zeugen-
betreuung in der Justiz und zu Erfahrungen mit dem Zeugenschutzgesetz,
insbesondere zum Einsatz der Videotechnik, veranlasst und wichtige Bei-
träge zur Auslegung einschlägiger Vorschriften der Strafprozessordnung
geleistet. Ein besonderes Anliegen war Heinz Schäch die Einfügung der
Wiedergutmachung für das Opfer in das Strafverfahren. Unter anderem hat
er in München das Modellprojekt AUSGLEICH initiiert, in dem Schadens-
wiedergutmachung im Strafverfahren über eine anwaltliche Schlichtungs-
stelle geleistet wird. Er hat mehrere empirische Untersuchungen veranlasst,
in denen die Implementierung dieses Modells und seine Wirkungen einge-
hend analysiert worden sind.
Ein weiteres wichtiges Forschungsfeld von Heinz Schäch sind die straf-
rechtlichen Sanktionen. Er hat sich in zahlreichen Veröffentlichungen unter
anderem mit der Verwarnung mit Strafvorbehalt, der Geldstrafe, dem Straf-
zumessungsrecht, der Bewährungshilfe und der Führungsaufsicht, der Ent-
ziehungsanstalt und der Sicherungsverwahrung befasst. Ein besonderes
Vorwort XVII

Anliegen war es ihm, die Möglichkeiten auszubauen, mit ambulanten Sank-


tionen auf Straftaten zu reagieren. Sein Gutachten fur den 59. Deutschen
Juristentag 1992 über das Thema "Empfehlen sich Änderungen und Ergän-
zungen bei den strafrechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug?" ist inso-
weit von grundlegender Bedeutung.
Auch mit dem Jugendstrafrecht hat sich Heinz Schäch eingehend befasst.
Er hat empirische Untersuchungen über die Behandlung von Heranwach-
senden im Jugendstrafverfahren, die Jugendgerichtshilfe, die so genannten
Schülergerichte in Bayern und die Prävention von Graffiti-Delikten junger
Täter durch Wiedergutmachung veranlasst. Gemeinsam mit Bernd-Dieter
Meier und Dieter Rässner hat er ein Lehrbuch zum Jugendstrafrecht ver-
fasst, das 2007 in 2. Auflage erschienen ist.
Ein wichtiges Arbeitsfeld von Heinz Schäch ist außerdem der Strafvoll-
zug. In diesem Zusammenhang ist neben einschlägigen Aufsätzen vor allem
das Lehrbuch "Strafvollzug" zu nennen, das Heinz Schäch gemeinsam mit
Günther Kaiser und Hans-Jürgen Kerner verfasst hat. Das Buch ist 2002 in
5. Auflage als Lehr- und Handbuch und 2003 in einer kürzeren Version als
Einführung in die Grundlagen des Strafvollzugs erschienen.
Auch zur Kriminalprognose hat Heinz Schäch wichtige Beiträge geleistet.
Zu nennen sind insbesondere seine Mitarbeit an den 2006 veröffentlichten
Mindestanforderungen an Prognosegutachten und sein Artikel über die
Kriminalprognose in dem 2007 erschienenen Ersten Band des Internationa-
len Handbuchs der Kriminologie.
Ein Kennzeichen des Werks von Heinz Schäch ist seine enge Zusammen-
arbeit mit der Forensischen Psychiatrie. In diesem Zusammenhang sind
insbesondere die folgenden grundlegenden Veröffentlichungen zu nennen:
seine 2007 und 2008 erschienenen Kommentierungen der die Schuldfähig-
keit betreffenden §§ 19 - 21 StGB und der sich auf die Maßregeln der Bes-
serung und Sicherung beziehenden §§ 61 - 64 und 67 StGB in der 12. Auf-
lage des Leipziger Kommentars zum StGB, der Artikel über die
Schuldfähigkeit in dem 2007 erschienenen ersten Band des Handbuchs der
Forensischen Psychiatrie, der Artikel über den Maßregelvollzug in dem
Handbuch der Psychiatrischen Begutachtung von Venzlaff/Foerster und die
Mitwirkung bei der Erstellung der 2005 erschienenen Mindestanforderun-
gen an die Schuldfähigkeitsbegutachtung. Außerdem hat Heinz Schäch
empirische Untersuchungen über die Rechtswirklichkeit der Schuldfähig-
keitsbegutachtung und ihre Auswirkungen auf die gerichtliche Entschei-
dung veranlasst und betreut.
Weitere Veröffentlichungen von Heinz Schäch betreffen die Grundlagen
der Kriminologie. Zu nennen sind hier unter anderem Beiträge über "Kri-
minologie und Sanktionsgesetzgebung", das Verhältnis von Verstehen und
XVIII Vorwort

Erklären, das Marburger ProgramlTI aus der Sicht der Kriminologie und
über den Einfluss der Kriminologie auf das Menschenbild des Strafrechts.
Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass sich das Werk von Heinz
Schäch nicht auf empirisch-kriminologische Untersuchungen beschränkt,
sondern es ihm auch um eine sachgerechte Auslegung und kriminalpoliti-
sche Weiterentwicklung des Straf- und Strafprozessrechts geht. Ein Rechts-
gebiet, mit dem sich Heinz Schöch intensiv auseinander gesetzt hat, ist das
Medizinrecht. Die Veröffentlichungen betreffen unter anderem die Sterbe-
hilfe und die Verantwortung von Ärzten und Klinikpersonal für Suizide, die
ärztliche Aufklärungspflicht, die unterlassene Hilfeleistung und die Ge-
sundheitsfürsorge im Straf- und Maßregelvollzug. Auch mit datenschutz-
rechtlichen Problemen hat sich Heinz Schäch befasst. So hat er Veröffentli-
chungen über den Datenschutz in der Sozialarbeit mit Straffälligen, die
Offenbarungspflichten von Therapeuten im Strafvollzug und im Maßregel-
vollzug und die datenschutzrechtlichen Voraussetzungen der Akteneinsicht
für kriminologische Forschungsvorhaben vorgelegt. Im Alternativkommen-
tar zur Strafprozessordnung hat er die §§ 151 bis 160,238 - 245 und 403 -
406 h StPO kommentiert.
Heinz Schöch hat sich in kriminalpolitischen Fragen nachdrücklich enga-
giert. So hat er an zahlreichen Alternativ-Entwürfen des Arbeitskreises
deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer mitge-
wirkt. Es handelt sich um die folgenden Alternativ-Entwürfe: AE Reform
der Hauptverhandlung 1985, AE Sterbehilfe 1986, AE Wiedergutmachung
2002, AE Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmefreiheit 1996,
AE Reform des Ermittlungsverfahrens 2001, AE Strafjustiz und Medien
2005, AE Sterbebegleitung 2005 und AE Leben (Reform der Tötungsdelik-
te) 2008. Außerdem hat Heinz Schöch zu zahlreichen Gesetzentwürfen als
Sachverständiger vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages
Stellung genommen. Er hat an Anhörungen des Rechtsausschusses zu fol-
genden Gesetzentwürfen teilgenommen: Opferschutzgesetz (1986), Verbre-
chensbekämpfungsgesetz, insbesondere zu § 46a StGB (1994, Rechts- und
Innenausschuss), Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen
schweren Straftaten (1997), 36. Strafrechtsänderungsgesetz - Verletzung
des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen gemäß § 201a
StGB (2003), Gesetz zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatri-
schen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt (2007), Gesetzentwurf
des Bundesrates zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts
(2009), Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts (2009) und
2. Opferrechtsreformgesetz (2009).
Heinz Schöch hat auch für die kriminologische Ausbildung Hervorragen-
des geleistet. Bei ihm sind zahlreiche Dissertationen entstanden und er hat
bisher fünf Wissenschaftler (Dieter Dölling, Bernd-Dieter Meier, Torsten
Vorwort XIX

Verrel, Bert Götting und Vasileios Petropoulos) zur Habilitation geruhrt.


Weitere Habilitanden befinden sich auf dem Weg. Für seine Schüler ist
Heinz Schöch ein verständnisvoller Lehrer, der jederzeit ansprechbar ist und
die Arbeiten seiner Schüler umsichtig und nachdrücklich fördert. Gemein-
sam mit Günther Kaiser hat er den Juristischen Studienkurs Kriminologie,
Jugendstrafrecht, Strafvollzug verfasst, der 2010 in 7. Auflage erschienen
ist und für alle Studierende des kriminalwissenschaftlichen Schwerpunktbe-
reichs eine wertvolle Hilfe darstellt.
Über den Bereich der Universität hinaus hat sich Heinz Schöch in zahlrei-
chen Organisationen engagiert. Er war von 2001 bis 2003 Präsident der
Neuen Kriminologischen Gesellschaft. 2003 hat er die Münchner Tagung
der Gesellschaft mit dem Thema "Angewandte Kriminologie zwischen
Freiheit und Sicherheit" veranstaltet. Heinz Schöch gehört zu den Mitbe-
gründern des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Er war
von 1994 bis 2006 Mitglied der Ständigen Deputation des Deutschen Juris-
tentages. Auf dem 62.,64. und 66. Deutschen Juristentag hat er den Vorsitz
der Strafrechtlichen Abteilung geruhrt. 2007 und 2010 war er Vorsitzender
von Fachabteilungen des Deutschen Verkehrsgerichtstages in Goslar. Heinz
Schöch ist seit 2008 Vorsitzender des Fachbeirats des Max-Planck-Instituts
rur ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg. Er gehört dem
Vorstand der Opferhilfevereinigung WEISSER RING e. V. an und ist Vor-
sitzender des Fachbeirats Strafrecht dieser Vereinigung. Seit 2007 war er
beim Europäischen Gerichtshof fur Menschenrechte in Straßburg im Auf-
trag der Bundesregierung tätig. Er steht in enger Verbindung zur japani-
schen Kriminologie und Strafrechtswissenschaft. 1995 wurde er zum Eh-
renmitglied der Japanischen Strafrechtsgesellschaft ernannt. 2008 wurde
Heinz Schöch vom Bundespräsidenten das Verdienstkreuz Erster Klasse des
Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen.
Heinz Schöch hat rur die Kriminalwissenschaften Hervorragendes geleis-
tet. Wir danken ihm rur seine vielfachen Verdienste und wünschen ihm,
dass ihm seine Schaffenskraft noch lange erhalten bleibt.
Im Juni 2010 Die Herausgeber
J. Kriminologie
Über Kriminologie als Kulturwissenschaft

MICHAEL W ALTER *

Das Thema "liegt in der Luft", nachdem der kulturelle Bezug der Human-
und Sozialwissenschaften wieder zunehmende Aufmerksamkeit findet. Der
Beitrag geht der Frage nach, inwieweit Kriminalität, Kriminalitätskontrolle
und Kriminalitätsentwicklung als Kultur-geprägte Erscheinungen zu begrei-
fen sind. Zur Klärung dessen erfolgt eine knappe kriminologisch-
theoretische Bestandsaufnahme. Daran anknüpfend wird erörtert, in wel-
chen Hinsichten eine kulturwissenschaftliche Perspektive der Kriminologie
neue und weiterführende Impulse zu geben vermag. Drei Gesichtspunkte
können herausgearbeitet werden: Die Vielfalt kultureller Zeugnisse ver-
mehrt die Quellen kriminologischer Forschung (1), Kriminalität liefert ei-
nen unverzichtbaren Stoff für die Lebensgestaltung (2) und Kriminalität
wird auf verschiedenen gesellschaftlichen Bühnen inszeniert (3).
Die folgenden Überlegungen sind Heinz Schöch in fachlicher und persön-
licher Verbundenheit gewidmet. Sein Werk befasst sich mit Grundfragen
der Kriminologie, I einer Wissenschaft, an deren Neubegründung in der
Nachkriegszeit er maßgeblich Anteil hatte. Ein auf die konkrete Rechts-
wirklichkeit bezogenes, methodisch durchdachtes und transparentes empiri-
sches Vorgehen ohne ideologische Scheuklappen kennzeichnen seine Ar-
beiten bis heute. 2 Zur Ehrung des Jubilars möchte ich deswegen einige
Gedanken beisteuern, die einerseits die kriminologische Theorie reflektie-
ren, andererseits auf die Breite und wachsende Komplexität der Praxis- und
Forschungsfelder hinweisen sollen.

* Für eine kritische Durchsicht des Manuskripts sowie für technische Hilfen danke ich Herrn
wiss. Mitarb. Michael Stroh.
I Einen gewissen Einblick vermitteln die Lösungshinweise in: Kaiser/Schäch Kriminologie,
Jugendstrafrecht, Strafvollzug, 6. Aufl. 2006, die eine Reihe von Schäch besonders intensiv
bearbeiteter Themen betreffen (etwa Verbrechens- und Straftheorien, Täterpersönlichkeit und
Schuld sowie kriminalrechtliehe Sanktionen, Strafzumessung und Kriminalprognose)~ exem-
plarisch seien ferner die zusammenfassende Studie zu "Empirischen Grundlagen der General-
prävention" in der Festschrift für Jescheck, Bd. II, 1985, S. 1081-1105 genannt sowie - aus
jüngerer Zeit - die Abhandlung zur Kriminalprognose in: H. 1. Schneider (Hrsg.), Internationa-
les Handbuch der Kriminologie, Bd. 1,2007, S. 359 f.
2 Schäch/Traulsen GA 2009, 19 f.
4 Michael Walter

I. Entwicklung zum "cultural turn"


1. Der programmierte oder der freie Mensch?
Die Wissenschaft vom "Crimen", dem Verbrechen, steht seit jeher in
einem Spannungsverhältnis zwischen Annahmen eines "geborenen Verbre-
chers", einer biologisch vorgegebenen "Anlage" zum Verbrechen, als dem
einen Pol und der Betonung menschlicher Handlungs- und Gestaltungsfrei-
heit als dem anderen. Die Unterstellung persönlicher Freiheit ist vor allem
für die Legitimation jedes Strafrechts nötig, da Strafe Schuld und Schuld die
freie Entscheidung fur das Unrecht voraussetzt. Soweit ein Mensch nicht
anders handeln konnte, ist kein Schuldvorwurf möglich. 3 Im Laufe der wis-
senschaftlichen Entwicklung haben sich die Akzente deutlich in die Rich-
tung der Freiheitsannahme verlagert. 4 Der andere denkbare Ausgangspunkt
blieb aber nach wie vor in unterschiedlichen Formen präsent. Jüngst haben
etwa wieder bestimmte Hirnforscher auf determinierende Momente verwie-
sen und das Strafrecht von dort aus in Frage gestellt. 5 Gleichwohl kann im
Ergebnis kein Zweifel bestehen, dass jedes menschliche Zusammenleben
auf die Annahme grundsätzlicher Verantwortlichkeit der Individuen ange-
wiesen ist, um auf diesem Fundament bauen zu können. In der Kriminolo-
gie bestehen indessen trotz aller Kontroversen starke Tendenzen, die Vor-
stellung individueller Freiheit zu relativieren. Der einzelne "Täter" wird als
zahlreichen Einflüssen ausgesetzt angesehen, als - auch - durch seine
"Umwelt" geprägt, und zwar von Geburt an.

2. Kriminalität und Kultur: ein altes Thema


Zur "Umwelt" gehört fraglos die Kultur, ohne dass fur diese Feststellung
schon eine nähere Defmition des Kulturellen erforderlich wäre. Es genügt
insoweit, die Kultur mit ihren Konkretisierungen und mannigfachen Er-
scheinungsformen zur vorfindlichen Außenwelt zu rechnen, der jeder
Mensch begegnet, in der Erziehung, in den an ihn gestellten Erwartungen,
in den beobachtbaren Verhaltensmustern und in den gesamten Bedingungen
und Regeln des Zusammenlebens. Kriminalität wird seit langem in Abhän-
gigkeit etwa von vernachlässigter Erziehung und (Aus-)B ildung gesehen.
Sie hat in diesem Sinne kulturelle "Ursachen", ist aber deshalb noch nicht

3 Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 424 f.~
Köhler Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, S,348 f.
4 Wenn auch das "kriminalbiologische Modell" nicht den Ausgangspunkt kriminalwissen-
schaftlichen Denkens bildete, s. Kaiser MschrKrim 2006, 314 f.
5 S. etwa Roth Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, 2003,
S. 553 f.~ treffend T Walter FS F.-C. Schroeder, 2006, S. 131 f.
Über Kriminologie als Kulturwissenschaft 5

selbst Teil der Kultur. Um diesen Schritt zu einer kulturellen Inkorporierung


wird es vielmehr im Folgenden gehen.
Immerhin kennen wir spätestens seit den 20er Jahren des vergangenen
Jahrhunderts kriminogene Sub-Kulturen. 6 Entsprechende Forschungen ge-
hören zur "Täter-Kriminologie", nehmen dem handelnden Subjekt indessen
einen Teil seiner Autonomie. Als soziales Wesen wird der Mensch in der
Lebensführung durch bestimmte Milieus beeinflusst, deren Wertvorstellun-
gen und Verhaltensweisen in manchen Hinsichten von der Mehrheitskultur
abweichen, selbst jedoch wiederum überindividuelle Strukturen und quasi-
verbindliche Normen ausprägen. Solche separaten Welten sind insbesondere
für Gefängnisse und Drogenmilieus beschrieben worden. Bereits in histori-
schen Untersuchungen hat man "Gegenkulturen" von "Gaunern" außerhalb
der Städte 7 gefunden sowie Räuberbanden 8 nachgespürt. Jedes Mal ließen
sich kriminelle Taten aus diesen jeweils typischen Lebensumständen erklä-
ren. Gefängnisse sind Stätten der Gewalt, 9 illegale Drogen kosten viel und
lassen sich nur auf kriminellen Wegen beschaffen. Outlaws und Räuber
können ihren Lebensunterhalt ebenfalls nur durch Straftaten bestreiten, da
ihnen legale Möglichkeiten wegen ihres "Untertauchens" zumeist abge-
schnitten sind.
In der kriminologischen Forschung ist des Weiteren die kriminogene Tat-
oder Handlungssituation betont worden. Sie trägt ihrerseits in mehrfacher
Hinsicht kulturelle Züge. Schon die Stichworte der "häuslichen Gewalt" -
verbunden mit der Schutzlosigkeit des Opfers - oder der "Gewalt in Sta-
dien" - verbunden mit besonderen sozialpsychologischen Versuchungssitu-
ationen - markieren den Zusammenhang von Lebensform und Gefähr-
dungslage. 10 Die Motorisierung unserer Gesellschaft gestaltete die gesalnte
polizeiliche Kriminalstatistik um, es entstand nicht nur eine neue Verkehrs-
kriminalität, auch die "klassische" Kriminalität, insbesondere der Diebstahl
rund um das Auto, nahm neue Formen an. Entsprechendes gilt für die Ein-
richtung von Selbstbedienungsläden und - seit neuerern - für die elektroni-

6 Zusf v. Trotha in: Kaiser/Kemer/Sack/Schellhoss (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wör-


terbuch, 3. Aufl. 1993, S. 338 f ~ Bock Kritninologie, 3. Aufl. 2007, S. 51 f
7 Vgl. Eibach Frankfurter Verhöre. Städtische Lebenswelten und Kriminalität im 18. Jahr-
hundert, 2002, S. 311 f
8 Dazu s. Radbruch in: Radbruch/Gwinner, Geschichte des Verbrechens, 1990, S. 347 f~
ferner Schubert Räuber, Henker, arme Sünder. Verbrechen und Strafe im Mittelalter, 2007,
S. 245 f, der die feste Binnenstruktur der Banden (Schwurvereinigungen, Eidgenossenschaf-
ten) betont.
9 S. Neubacher Gewalt hinter Gittern, 2008~ s. a. M Walter Gewaltkriminalität, 2. Aufl.
2008, S. 75.
10 Zur Kriminalität auf Plätzen und Märkten in der frühen Neuzeit s. Schu'erhoff in: Blau-
ert/Schwerhoff (Hrsg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur sozialen Kulturgeschichte der
Vormoderne, 2000, S. 35 f
6 Michael Walter

sche Bezahlung durch Magnetkarten. Veränderte Tatgelegenheiten "schaf-


fen Diebe", 11 können allerdings auch bisherige Vorgehensweisen unattrak-
tiv machen. Während insoweit die Technik die Lebensweise gemäß einem
Vorher-Nachher-Vergleich verändert hat, rührt bei Migrationsprozessen der
horizontale Wechsel in andere Gesellschaften zu ungewohnten Lebensla-
gen. lnter- und lntra-Kulturkonflikte können die Folge sein. Straftaten im
Zuwanderungsland erscheinen als möglich, deren Hintergrund auf die Kul-
tur des Herkunftslandes verweist 12 (etwa "Ehrenrnorde")13, ferner Delikte,
die aus einem inneren Konflikt entstehen, weil sich der Täter beispielsweise
zu einem modemen Leben hingezogen ruhlt, aber gleichzeitig die herge-
brachten patriarchalischen Normen des Vaters und dessen familiäre Vorstel-
lungen von der Wahl des künftigen Ehepartners rur verpflichtend hält. Wird
der innere Konflikt gewaltsam gelöst, können auch insoweit schwere Delik-
te die Folge sein. In all diesen Fällen bildet Kultur den externen - nicht aus
der Täterpersönlichkeit herrührenden - Kontext rur Kriminalität,14 der sich
dann auf den Täter oder die Täterin sowie vor allem sekundär auf das Opfer
verhängnisvoll auswirkt.

3. Kriminalität und Kultur: neuere Aspekte


Mit dem sogenannten Paradigmawechsel in der Kriminologie, durch den
ab den späten 60er Jahren die selektive Strafverfolgung und die Tätigkeit
der Kriminalitätskontrolleure in den Mittelpunkt kriminologischer Betrach-
tungen gerückt wurden, hat man schließlich auch die kulturellen Kompo-
nenten eben dieser Kontrollpolitik thematisiert. Am wohl bekanntesten ist
nunmehr Garlands Buch "Culture of Control".15 Als überaus aufschluss-
reich erweist sich freilich nicht erst die Analyse der gegenwärtigen Kon-
trollkultur, sondern bereits ein Blick in die Geschichte. Die Hexenverfol-
gungen machen deutlich, dass man imstande war, Verbrechen aus dem
Nichts zu kreieren. 16 Christie bezeichnet die "Handlungen, die die Möglich-
keit in sich tragen, als Verbrechen betrachtet zu werden" als eine "unbe-

11 Zurückhaltend K.-L. Kun= in: H.-J. Albrecht/Kury (Hrsg.), Kriminalität, Strafrechtsreform


und Strafvollzug in Zeiten des sozialen Umbruchs, 1999, S. 85 f., der die Bedeutung der poli-
zeilichen Erfassungsmodi und Registrierungsweisen betont.
12 Zusf. Schwind Kriminologie, 19. Aufl. 2009, S. 139 f.
13 Instruktiv Wilms Ehre, Männlichkeit und Kriminalität, 2009, S. 71 f.
14 Vgl. Eisenberg Kriminologie, 6. Aufl. 2005, S. 805 f.
15 Garland Kultur der Kontrolle. Verbrechensbekämpfung und soziale Ordnung in der Ge-
genwart, dt. 2008.
16 Eine Gebrauchsanweisung für die Inquisitoren, wie das zu nlachen sei, liefert u.a. Kra-
mers Hexenhammer, hrsg. u. eingeleitet v. Jerouschek/Behringer, 3. Aufl. 2003, dort s. S. 627
f.~ zur "Konstruktion eines Superverbrechens" Rummel/Voltmer Hexen und Hexenverfolgung
in der Frühen Neuzeit, 2008, S.18 f.
Über Kriminologie als Kulturwissenschaft 7

grenzte natürliche Ressource". 17 Sie ist im Laufe der Zeit sehr unterschied-
lich genutzt worden. Um sich die Veränderungen vor Augen zu führen,
denke man nur etwa an die Einschränkungen der Strafbarkeit bei der männ-
lichen Homosexualität infolge einer kriminalrechtlichen Abkehr vom mora-
lischen Konzept der "Unzucht". In die entgegengesetzte, straferweiternde
Richtung weisen die Ausdehnungen des Gewaltbegriffs und entsprechender
polizeilicher Registrierungen, insbesondere bei jungen Männern. 18 Im 18.
und 19. Jahrhundert dürfte die Frauenkriminalität zurückgegangen sein,
weil infolge eines neuen Familienverständnisses zunehmende patriarchali-
sche Kontrollen erfolgten. 19 So entstehen fortlaufend Kriminalitätssteige-
rungen und -verringerungen, die wenig mit den Delinquenten und ihrem
"Wesen" zu tun haben, vielmehr in erster Linie auf kulturelle Veränderun-
gen bei der Verbrechenswahmehmung und -kontrolle rückführbar sind.
Daneben spielen natürlich noch weitere Momente eine Rolle. Kulturell
bedingt ist beispielsweise ebenfalls die zunehmende gesellschaftliche Mobi-
lität, deren technische Seite wiederum - wie bereits erwähnt - die Tatgele-
genheiten steuert. Analoges gilt fur die Rechtsfolgen. Die Strafen reflektie-
ren keineswegs nur Gerechtigkeits- oder Vergeltungsvorstellungen -
obwohl auch die sich wandeln - ebenso spiegeln sie sozial-ökonomische
Veränderungen auf der staatlichen Kontrollseite, den jeweiligen Bedarf an
Arbeitskräften für die maschinelle Textilverarbeitung, den Galeerenbetrieb,
den Bergbau, den Ausbau des Eisenbahnnetzes, die Kolonialisierung u.s.f. 20
Was nun ergeben Garlands Studien? Er analysiert die Entwicklung vom
wohlfabrtsstaatlichen Strafen (penal welfarism) zu einem neuen ökono-
misch geprägten Management-Denken. 21 Das konzentriert sich auf Risiken,
die verringert oder beseitigt werden sollen. Sicherheitslücken werden aufge-
spürt und durch er\veiterte Eingriffstatbestände sowie vor allem durch Insti-
tutionen übergreifende Netzwerkarbeit behoben. Diese ersetzt nicht die
bisherigen Kontrollstrukturen, ergänzt sie vielmehr. Auch Verbrechens-
furcht ist Gegenstand gouvernementaler Maßnahlnen. Im Mittelpunkt ste-
hen nicht so sehr Schuld und Vergeltung, obwohl die Eigenverantwortlich-
keit der Straftäter betont wird, sondern neutrale Technologien. Bei denen
interessiert zuförderst die präventive Wirksamkeit, weniger die ethische
oder rechtliche Seite. Die öffentliche Bekanntmachung von Verurteilungen
oder andere Formen der Stigmatisierung, etwa Mitteilungen des Wohnsitzes
bestimmter Sexualdelinquenten, sind ebenso wenig ein Tabu wie eine maß-

17 Christie Wieviel Kriminalität braucht die Gesellschaft?, dt. 2005, S. 24.


18 Naplava/M Walter MSchrKrim 2006, 338 f.
19 Feeley in: Criminal lustice Histary, Val. 15,1994, S. 235 f.
20 Vgl. Kaiser MSchrKrim 2004,300 f.
21 Garland (Fn. 15), S. 301 f.
8 Michael Walter

los lange Inhaftierung nach wiederholten Auffälligkeiten (Three-Strikes-


Gesetze).22 Für Deutschland wäre u.a. die kontinuierliche Ausdehnung der
Sicherungsverwahrung von der vorbehaltenen über die nachträgliche Siche-
rungsverwahrung (§§ 66a, 66b StGB) bis zur Sicherungsverwahrung im
Jugendrecht (§§ 7 Abs. 2, 106 Abs. 3-7 JGG) zu nennen. Über die Krimi-
nalpolitik wird zunehmend von Medien und Öffentlichkeit entschieden, die
die "passenden" Delikte und Interpretationen liefern und zugleich einen
populistischen Politikstil, ausgerichtet an aktuellen Meinungsumfragen,
flankieren und fördern.
Entscheidend an dieser Sicht ist die umfängliche kulturelle Rahmung der
kriminalpolitischen Entwicklung. Die Kriminalpolitik steht weder isoliert
da, folgt nicht etwa aus normlogischen Entwicklungen, noch ist sie lediglich
die Funktion oder der Überbau ökonomischer Prozesse, wie ein marxisti-
sches Verständnis unterstellen würde. Thematisiert wird im Gegensatz zu
den älteren Untersuchungen nicht die sozialschädliche Kultur, deren Früch-
te Strafe hervorrufen. Es geht erklärtermaßen um die andere Seite derer, die
der Kriminalität auf der Spur sind, gleichsam um die Verfolgerkultur.
Eine zielgerichtete, engagiert-absichtsvolle Perspektive nimmt die Bewe-
gung der "cultural criminology" ein. Auch sie rahmt das gesamte Kriminali-
tätsgeschehen kulturell, wobei sie an die soziologische Subkulturtheorie und
die Chicagoer Schule anknüpft. 23 Kultur wird als ein Nährboden rur Un-
gleichheit, Ungerechtigkeit und menschliches Leid bis hin zur Folter ange-
sehen. Der ungebremste Kapitalismus des globalen Zeitalters tritt als eine
neue Form der Ausbeutung hervor, die nicht nur einfach materialistisch zu
begreifen ist ("simple materialist framework"). Der praktizierte Kapitalis-
mus fuße auf viel komplexeren und tieferen kulturellen Wurzeln, welche die
geschaffenen Ungerechtigkeiten als ordnungsgemäß erscheinen ließen.
Verschiedene Formen der Kriminalität werden solchermaßen mit einer
Sympathie für Widerstand und Subversion begleitet. Graffitis könne man
als Teil einer Widerstandskultur ansehen. Sie träten auf den Plan, wenn
öffentliche Stadtgebiete zunehmend in privatisierte Konsumentenzonen
umgewandelt würden. Während die "Schreiber" bewusst politisch handel-
ten, würden sie von den Behörden aggressiv kriminalisiert. 24 Der Wider-
stand gelte einer gegenwärtigen Strategie der Dramatisierung von Krimina-
lität und entsprechenden medialen Aufbereitungen.
Das Besondere dieses neuen Ansatzes besteht darin, dass seinem Ver-
ständnis zufolge ein sozialer Konflikt zwischen zwei ungleichen Parteien

22Garland (Fn. 15), S. 339.


23Ferrel/HaywardlYoung Cultural Criminology. An Invitation, 2008, S. 5 f.~ ferner Fer-
rel/HaywardiMorrison/Presdee Cultural Critninology Unleashed, 2004
24 Ferrel/HaywardlYoung a.a.O., S. 17 f.
Über Kriminologie als Kulturwissenschaft 9

mit letztlich kulturellen Mitteln ausgetragen wird. Kultur wird sowohl auf
Seiten derer bemüht, die mit Graffitis Straftaten begehen, als auch auf Sei-
ten derer, die solche Delikte als Verstoß gegen elementare Eigentumsrechte
betrachten. Aus der Sicht der cultural criminology leisten subkulturelle
Graffiti-Maler mit ihrer Kunst einen kulturell-politischen Beitrag zur Ver-
besserung des gesellschaftlichen Problembewusstseins, der sodann aber von
den Herrschenden als krimineller Übergriff bezeichnet und bekämpft wird.
Die Vertreter einer cultural criminology betrachten ihre Argumentation
nicht als theoretische Neuheit, betonen vielmehr -- wie erwähnt - ihre Ver-
bindungslinien zur Subkulturtheorie. Ferner verweisen sie auf den labeling
approach, der bereits zuvor die Interpretations- und Deutungsmacht der
Herrschenden herausgestellt hatte. Ergänzend könnte man auf Galtung
verweisen. Er kennt eine "cultural violence",25 welche die vermeintliche
Rechtfertigung für die Unterwerfung anderer Menschen und Völker schafft.
Ein markantes Beispiel sind rechtsextreme Auffassungen vom "Herrenmen-
schen". Die sind der Ideologie zufolge zur Dominanz und konkret etwa zur
Eroberung, Inbesitznahme und Ausbeutung von Kolonien "berufen". Im
Gegenzuge bemüht die UNO eine Kultur des Friedens. Im Kleinen wün-
schen sich Lehrer in ihrer Schule eine Konfliktkultur, die bei Schwierigkei-
ten zu Problem lösenden Gesprächen anstelle körperlicher Auseinanderset-
zungen fuhrt.

II. Kriminalität und Kriminalitätskontrolle in einem


kulturtheoretischen Rahmen
1. Kriminologie und Kulturgeschichte
Wir haben bisher eine Reihe kulturspezifischer Aspekte benannt, die sich
Erkenntnis fördernd auf das Kriminalitätsgeschehen beziehen lassen. Der
nächste Schritt müsste darin bestehen, eine klarere gedankliche Ordnung zu
finden. Den Ausgangspunkt bildet die Einsicht, dass sowohl die inhaltliche
Bestimmung des Kriminellen, die faktische Verfolgung der kriminellen
Personen als auch deren Verhaltensmuster kulturell konstituiert sind. Kultur
ist auf beiden Seiten zu finden: bei den Normbrechern wie bei den Norm-
wächtern. Kriminalität als soziales Geschehen steht stets in einem kulturel-
len Kontext - und wandelt sich entsprechend. Vor diesem Hintergrund ist
von einem dauerhaften Zusammenhang zwischen der Entwicklung der ge-
sellschaftlich konstituierten Kriminalität und der Kulturgeschichte auszuge-
hen. Es erstaunt, dass diese Verbindungslinie bislang wenig verfolgt wird.

25 Galtung Journal of Peace Research, 1990, 291 f.


10 Michael Walter

Dabei ist sie bereits von Radbruch deutlich vorgezeichnet worden. 26 In


seinem rechtsphilosophischen Konzept nimmt der Kulturbegriff im An-
schluss an den südwestdeutschen Neukantianismus eine zentrale Stellung
ein, weil die Kultur als Brücke zwischen Sein und Sollen fungiert. Die ewi-
gen rechtlichen Ideale der Gerechtigkeit, der Zweckmäßigkeit und der
Rechtssicherheit, die das Sollen beinhalten, finden in der empirisch fassba-
ren Kultur ihre zeit-örtliche Konkretisierung. 27 Wegen ihrer seinsmäßigen
Gestalt sind Kulturphänomene einerseits empirisch messbar, andererseits
dem geschichtlichen Wandel unterworfen. Verstanden werden können Phä-
nomene der Rechtskultur aber nur, soweit sie zu den genannten Rechtsideen
in Beziehung gesetzt werden. Radbruch hat sein dementsprechendes
Rechts- und Geschichtsverständnis an zahlreichen historischen Beispielen
veranschaulicht, diese Darstellung indessen nicht mehr abschließen kön-
nen. 28
Während Radbruchs Überlegungen insoweit - leider - keinen großen Wi-
derhall erfahren haben, konnte sich inzwischen eine Kulturgeschichte etab-
lieren, deren Themenfelder erhebliche "Anschlussstellen" für kriminologi-
sches Denken und Forschen aufweisen. Zu nennen sind gemäß der
komplexen Aufzählung von Tschopp/Weber 29 im Hinblick auf die dort
aufgeführten Fragen der Identitätsbildung beispielsweise Prozesse der Aus-
grenzung bestimmter Krimineller. Im Zuge der Terrorbekämpfung oder
auch im Kampf gegen "Sexualmonster" stabilisiert sich eine Gesellschaft,
die durch die Abwehr der "Feinde" zueinander findet. Bezüglich der weiter
aufgelisteten Generationenforschung ergeben sich Fragen zur Veränderung
kriminalpolitischer Strategien: von der "Behandlungseuphorie" der sozial-
pädagogisch ausgebildeten Nachkriegsgeneration bis hin zur Punitivität
neoliberaler Wohlstandsbürger. Das von Tschopp/Weber nachfolgend be-
zeichnete Themenfeld "Rasse, Klasse und Nation" weist offensichtliche
Bezüge zur "Ausländerkriminalität" oder "Migrantenkriminalität" auf, de-
ren Erkundung die Aufmerksamkeit von scheinbar "biologischen" Bedin-
gungen rasch zu kulturell konstituierten Merkmalen lenken. Das außerdem
einschlägige kollektive gesellschaftliche Gedächtnis mitsamt konkurrieren-
den Erinnerungen und Wahrnehmungen spielt im kriminologischen Bereich,
etwa bei der Verarbeitung medialer Berichte über "explodierende" Gewalt,
die es "früher" nicht gegeben haben soll, eine zunehmende Rolle. So wer-
den insbesondere totalitäre Regime (NS-Zeit, DDR-Zeit) nach wie vor we-

26 Vgl. M Waller 1Z 2009, 429 f


27 Radbruch Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1932, Nachdruck hrsg. v. Dreier/Paulson, 2. Aufl.
2003, dort S. 11 f, 86 f~ s. ferner die Einführung der Hrsg., S. 240 f
28 RadbruchJGwinner Geschichte des Verbrechens, 1951, hrsg. v. Enzensberger in: Die An-
dere Bibliothek, 1990
29 Tschopp/Weber Grundfragen der Kulturgeschichte, 2007, S. 15 f
Über Kriminologie als Kulturwissenschaft 11

gen ihrer angeblichen Sicherheit gepriesen. Parallel steigen die Anforderun-


gen an die gegenwärtige Kriminalprävention immer weiter. Fragen des
kulturellen oder zivilisatorischen Fortschritts, die ebenfalls zum Kanon
kulturgeschichtlicher Themenfelder zählen, gehören seit jeher zu den Kon-
stanten kriminologischer Bemühungen. Ideengeschichtliche 30 und divergie-
rende soziologische Ansätze 31 stehen im Mittelpunkt. Und selbst die von
Tschopp/Weber aufgeführte "Amerikanisierung"32 hat in der Kriminologie
und Kriminalpolitik schon seit ihren wissenschaftlichen Ursprüngen im 19.
Jahrhundert Tradition. Die dortigen Fragestellungen, Sichtweisen und Er-
fahrungen wurden einst durch Reiseberichte übermittelt und werden nun-
mehr - im Zeitalter der Informationstechnologie - auf noch schnelleren
Wegen nach Mitteleuropa transferiert. 33
Die vielfältigen kulturellen Verknüpfungen stehen zwar in keinem direk-
ten Widerspruch zu rational gestalteter Präventionspolitik. Dennoch sichern
sie den Einfluss zeit-örtlich bedingter Verkürzungen, Vorlieben, Empfind-
lichkeiten und Gestimmtheiten. Daraus folgt die in wissenschaftlichen und
politischen Verlautbarungen oft übersehene transrationale Komponente aller
mit dem Präventionszweck begründeten Anstrengungen. Nicht allein aus
einer vorgeblichen Ratio erklärliche Akte begegnen uns mithin wie auf der
Täter- so auch auf der Kontrollseite. Es gibt den unvernünftigen Delinquen-
ten ebenso wie die unvernünftige Strafverfolgung. 34 Emotional gesteigerte
Verbrechensfurcht, Hass gegenüber "Mördermonstern", persönliches Profi-
lierungsstreben und Perfektionismus sowie weitere "unsachliche" motivati-
onale Hintergründe im Bereich der politischen Akteure stehen einer rational
geleiteten Strafverfolgung entgegen. Will kriminologische Forschung die
reale Kriminalpolitik wirklich verstehen, muss sie derartigen Erscheinungen
nach- und auf den Grund gehen, was ohne kulturelle Rückkoppelung nicht
gelingen kann.

2. Aktuell: Verständnis der kriminellen Gewalt


Wie hilfreich ist nun das Konzept einer von Kultur geprägten Kriminalität
und Kriminalitätskontrolle? Der Ertrag soll am Beispiel der Gewaltdelikte
aufgezeigt werden, deren Entstehung und Entwicklung die Öffentlichkeit

30 Kritisch Schwerhoff in: Blauert/Schwerhoff (Fn. 10), S. 22 f.


31 Von Elias bis Foucault, s. zusf M Walter (Fn. 9), S. 32 f
32 Tschopp/Weber (Fn. 29), S. 20 f
33 Zum nordamerikanischen "Kriminologieimport" der Nachkriegszeit s. Kury u. H. 1.
Schneider in: H. 1. Schneider (Hrsg.), Internationales Handbuch der Kriminologie, Bd. 1,2007,
S. 77 f. u. 125 f sowie 863 f; ferner H 1. Schneider Kriminalpolitik an der Schwelle zum 21.
Jahrhundert, 1998, S. 7 f.
34 Unvergessen: Schüler-Springorum Kriminalpolitik für Menschen, 1991, S. 175 f
12 Michael Walter

besonders stark interessiert. 35 Die erste Frage bezieht sich auf den Gewalt-
begriff. Hier zeigt sich sogleich, dass es eine von unseren Vorstellungswel-
ten unabhängige Gewalt nicht gibt. Maßgeblich ist die - kulturelle - Sensi-
bilität für Gewalt. Gegenwärtig erleben wir in vielen Beziehungen eine
Ausdehnung der Gewalt, sie wird "entdeckt".36 Bei der häuslichen Gewalt,
bei der Gewalt am Arbeitsplatz (Mobbying), bei der Gewalt in der Schule
(Bullying) bei der aufdringlichen bis bedrohlichen "Fan"-Gewalt und beim
"Psycho-Terror" (Stalking; deutsch: Nachstellung, § 238 StGB). Zeitgleich
wird die reaktive Gewalt in einem entgegengesetzten Sinne neu "entdeckt",
nämlich ihrer negativen Rahmung entkleidet, indem die Gefangnishaft bis
hin zur Sicherungsverwahrung erweiterte Anwendungsbereiche findet.
Zugleich werden finale Todesschüsse oder gar Folter als "Rettung" disku-
tiert. 3? Der Prozess der Gewalt-"Entdeckung" ist ein gesellschaftlicher. Der
Begriff wird auf neue Sachverhalte ausgedehnt, die man früher anders in-
terpretiert hatte oder - bei der reaktiven staatlichen Gewalt - mit einem
neuen Wertzeichen versehen, das es zuvor so nicht gab. Wie aber will man
die tieferen Zusammenhänge erkennen, ohne die kulturellen Hintergründe
in den Blick zu nehmen?
In einem zweiten Schritt entstehen neue Vertypungen, die die Wirklich-
keit umgestalten und umstrukturieren. Wir sehen die Realität jetzt anders.
So kannte man vor der Diskussion um das Stalking in den Vereinigten Staa-
ten und dann auch in Europa keinen derartigen Tatbestand. Doch jetzt
"gibt" es neben dem Betrüger und dem Dieb den Stalker. Die hier gemeinte
Existenz ist grundsätzlich unabhängig von den Phänomenen der Außenwelt,
die sich nicht zu verändern brauchen.
Freilich können sie sich verändern. Und in einem dritten Schritt erfolgen
selbst derartige Verhaltensänderungen. Die Vertypungen liefern wiederum -
kulturelle - Vorlagen oder Muster, wie man vorgehen kann. Sie erweitern
das Repertoire an verfügbaren Verhaltensmodellen. Eindrucksvoll sind im
Gewaltbereich vor allem die Rituale, die bei sogenannten Amokläufen oder
bei "school-shootings" Anwendung finden. Das Kult(!)-Modell scheinen
insoweit die Täter des Massakers an der Columbine HighSChool entwickelt
zu haben, deren Texte und verquere Sichtweisen inzwischen als literarisches
Werk vorliegen. 38 Gegenwärtig etabliert sich - mit kräftiger medialer Un-
terstützung - ein neuer Deliktstyp des Amoklaufs, zu dem sogar bestimmte

35 S. Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht (gemeinsam hrsg. v. den Bundesministerien


des Innern und der Justiz), 2006, S. 59 f.
36 Näher dazu M Waller (Fn. 9), S. 26 f.
3? Zusf. zur Diskussion um die "Rettungsfolter" Beulke Strafprozessrecht, 10. Aufl. 2008,
S. 84 f. mit erfreulich klarer - ablehnender - Stellungnahme.
38 Sogar in deutscher Sprache: Gaertner Ich bin voller Hass - und das liebe ich. Dokumen-
tarischer Roman, 2009.
Über Kriminologie als Kulturwissenschaft 13

"Trachten" und Erscheinungsformen hinzugehören. Das gesamte Denken,


Fühlen (Hass) und Gebaren liegt als kulturelle Folie vor. Wie bereits er-
wähnt, sind solche neuen Delikte ohne die Massenmedien und die Internet-
Kommunikation nicht vorstellbar. Wieder stehen wir vor Geschehnissen,
deren Erhellung einen kulturellen Zugang erfordert.

111. Fortentwicklung der Kriminologie aus


kulturwissenschaftlicher Perspektive
Die exemplarischen Überlegungen zur Ge\valtkriminalität bergen ver-
schiedene Ansatzpunkte fur eine ertragreiche Fortentwicklung der Krimino-
logie. Zumindest drei Aspekte treten hervor.

1. Vielfalt kultureller Zeugnisse als Quellen


kriminologischer Forschung
Sowohl die gesellschaftlichen Sensibilisierungsprozesse, die der kriminel-
len Gewalt erst ihre konkrete Gestalt verleihen, als auch die neuen Verhal-
tensmuster auf der Täter- wie auf der Kontrollseite sind nicht isoliert erfass-
bar. Sie beruhen auf komplexen Vorstellungen und sind mit allgemeineren
Strömungen verbunden. Am Beispiel des Stalking werden etwa Fortent-
wicklungen des emanzipatorischen Kampfes gegen häusliche Unterdrü-
ckung - und ihre Fortsetzung nach der Trennung vom schlagenden Ehe-
mann sichtbar. In den Inszenierungen von schulischen Amokläufen drücken
sich extreme Inhalte aus, wie sie in bestimmten Kultfilmen oder Videos zu
sehen sind. Von daher liegt es mehr als nahe, das Spektrum der Forschung
zu erweitern, nicht mehr nur auf Interviews, Aktenanalysen oder Beobach-
tungen zu setzen.
Bereits Radbruch war wesentlich offener und hat in seinen Studien weiter
ausgeholt. Er befragte und analysierte Bilder, Plastiken und andere künstle-
rische Anordnungen bis hin zur Architektur. 39 Sie stellen sämtlich kulturelle
Leistungen dar, die über die Sicht des Verbrechers und des Verbrechens
Auskunft geben können. So entnahm er beispielsweise den Totentänzen des
Mittelalters Aussagen zum gesellschaftlichen Bild des Bauernstandes, das
wieder dazu beitrug, Aufruhr und Gesetzesverstöße, aber auch Konformität
und materiellen Verzicht der Bauern zu begreifen. 40

39 S. die Beiträge in: Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Bd. 5, Literatur- und kunsthistori-
sche Schriften, 1997.
40 Radbruch (Fn. 39), S. 35 f., 131 f.
14 Michael Walter

Wertvolle Schneisen sind schon geschlagen. Hingewiesen sei insbesonde-


re auf Arbeiten, die künstlerische Literatur in kriminologische Betrachtun-
gen einbeziehen 41 und dabei die Wahrnehmungen und Einschätzungen der
Rechtswirklichkeit durch Schriftsteller als durchaus wissenschaftlich rele-
vant erachten. In der Literatur werden wissenschaftliche Sichtweisen über-
nommen, teils aber geht die Dichtung der Forschung auch erheblich voraus.
Vor allem die Theoriebildung, die wissenschaftstheoretisch nicht geregelt
ist, verlangt nach Intuition und einem ausgeprägten Gespür für menschliche
Verhaltensweisen, kann deshalb gut durch künstlerische Texte bereichert
werden. Ein Beispiel liefert Max Frischs "andorranischer Jude", der keiner
ist, jedoch schließlich diese Identität als die seinige übernimmt. Der in "An-
dorra" geschilderte Identitätswechsel antizipiert einen wesentlichen Teil der
späteren Labeling-Theorie. 42

2. Kriminalität als unverzichtbarer Stofffür die Lebensgestaltung


An den zuvor genannten Gewaltdelikten wird ebenfalls exemplarisch
deutlich, wie sehr die betreffende Kriminalität für die Lebensgestaltung
gebraucht wird. Man kann sogar noch darüber hinausgehen und feststellen,
dass sich ohne den Mord die gesamte Weltliteratur auflösen würde. Ähnli-
ches gilt für Krimis aller Art, aber auch für Bühnenstücke und Filme. Wor-
aus folgt diese Fixierung auf das Gewaltverbrechen, die uns fortwährend
gefangen nehmen? Elementare Gewaltdelikte stellen für jeden von uns eine
Herausforderung dar, die glücklicherweise in der überwiegenden Zahl der
Fälle nur intellektueller Natur ist. Doch schnell sind wir selbst betroffen,
wenn beispielsweise aktive Sterbehilfe oder das Wegschauen in Notlagen
anderer oder wenn die Mitverant\vortung fur zweifelhafte militärische Aus-
einandersetzungen in Rede stehen. Dennoch trösten wir uns meist mit dem
Gedanken, "außen vor" zu bleiben.
Die gedanklich-unkörperliche Befassung mit hypothetischer Gewalt, ins-
besondere Tötungen, steht im Vordergrund. Sie hat ihrerseits viele Facetten,
verstandesbezogene und emotionale. Die Vorstellung, dass sich ein Mensch
über einen anderen erhebt, um ihn zu vernichten, wühlt auf, führt zu extre-
men Empfindungen und Gefühlen. Die Befassung mit entsprechenden
Handlungen lenkt auf Grenzsituationen, in denen das noch Hinnehmbare

41 Hervorzuheben sind insoweit Studien von lvfüller-Diet= Recht und Kriminalität im litera-
rischen Widerschein, 1999, u. von Lüderssen Produktive Spiegelungen. Recht in Literatur,
Theater und Film, 2. Aufl. 2002, sowie von Schmidhäuser Verbrechen und Strafe. Ein Streif-
zug durch die Weltliteratur von Sophokles bis Dürrenmatl, 2. Aufl. 1996.
42 Zur Bedeutung von Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" für die Neutralisationstheorie
s. M ~flalter in: Walter/Kania/H.-J. Albrecht (Hrsg.), Alltagsvorstellungen von Kriminalität,
2004, S. 33 f.
Über Kriminologie als Kulturwissenschaft 15

von dem schon Unerträglichen zu sondern ist. Wie weit reichen Notwehr
und Notstand? Es finden ständig Diskurse über derartige Grenzlinien statt,
wobei die Antworten etwa zur Zulässigkeit des Abschusses eines von Terro-
risten entführten Flugzeugs, das als Waffe eingesetzt werden soll, keines-
wegs einheitlich ausfallen 43 und dadurch wiederum neue Kontroversen, aber
auch Konsensbemühungen auslösen.
Kriminalität lässt sich auf konkrete und verständliche Phänomene ein-
grenzen. Mittel gegen sie kennt anscheinend jedermann. Damit können
grundsätzlich alle mitreden. Anders als bei komplizie11en globalen Wirt-
schaftsproblemen gibt es Gute und Böse und scheinen einfache Rezepte
möglich, den Verbrechern das Handwerk zu legen. Auf sie kann man die
Aggressionen lenken, über keinen kann man sich mehr empören als über
einen gewalttätigen Sexualtäter. Mit eigenen Vorschlägen zur Verbrechens-
bekämpfung bekennen Politiker "Farbe", gewinnen sie eine spezifische
Identität. Das Thema eignet sich wie kaum ein anderes zur persönlichen und
gesellschaftlichen Positionierung. Deswegen haben es Wahlkämpfer ent-
deckt, deren Eifer dann freilich mit dem Tag der Wahl rasch wieder abflaut.
Diese wenigen Hinweise müssen genügen, die kontextuelle Verwobenheit
und zentrale Stellung von Kriminalität zu kennzeichnen. Wir brauchen
Kriminalität, gleichsam auf Schritt und Tritt. 44 Doch das wird in der krimi-
nologischen Forschung bisher kaum berücksichtigt. Sie ist noch ganz vom
Kampf gegen das Verbrechen erfüllt, den es natürlich auch geben muss, der
aber nicht das gesamte gesellschaftliche Kriminalitätsgeschehen umschreibt
und erklärt. Kriminalität ist kein grundsätzlich auslöschbares Randproblem
der Gesellschaft, Kriminalität wirkt vielmehr wesentlich an der Konstitution
unserer Gesellschaft mit.

3. Inszenierung der Kriminalität aufverschiedenen Bühnen


Die behauptete zentrale Stellung der Kriminalität leuchtet nur ein, wenn
wir uns zugleich vergegenwärtigen, dass Kriminalität auf verschiedenen
gesellschaftlichen Bühnen "aufgeführt" und verarbeitet wird. Karl-Ludwig
Kunz, der diesen Aspekt mit Recht hervorgehoben hat, spricht von einem
"Nebeneinander unterschiedlicher, aber gleichrangiger Rahmungen von
Kriminalität", wobei er ausdrücklich auf die kulturspezifischen Eigenheiten
der jeweiligen Rahmen verweist. 45 So sehen sich die Menschen mit unter-
schiedlichen Erscheinungen und Eindrücken von Kriminalität konfrontiert.

43 S. etwa die umstr. Schrift von Depenheuer Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2. Aufl.
2007.
44 Zu Recht fragt daher Christie Wieviel Kriminalität braucht die Gesellschaft? - s. Fn. 17.
45 Kun= Die wissenschaftliche Zugänglichkeit von Kriminalität, 2008, S. 92 f.
16 Michael Walter

Die Genres wechseln, beispielsweise sind aus früheren Wiedergaben von


Gerichtsverhandlungen zwischenzeitlich lockere Gerichtsshows geworden,
in denen sich Angeklagte, Zeugen und Zuschauer angiften und der Richter
eine Art Moderatorenrolle übernimmt, um am Schluss als Verkünder mora-
lischer Grundsätze sowie praktischer Lebenshilfen aufzutreten.
Innerhalb der höchst unterschiedlichen Informationen sind vor allem die
Nachrichten und Aufbereitungen, die hauptsächlich von der Polizei herrüh-
ren, von den Darstellungen zu trennen, die in Massenmedien, Tageszeitun-
gen, Fernsehsendungen oder Internet-Botschaften präsentiert werden. Ein
Teil der Verwirrungen, die etwa hinsichtlich der Häufigkeit und Entwick-
lung von Delikten in der Bevölkerung bestehen, dürfte aus einer mangeln-
den Unterscheidung dieser beiden Sphären herrühren. Wenn - wie nach-
weisbar - die Entwicklung der amtlich wahrgenommenen Kriminalität
teilweise krass überschätzt wird,46 kommen einerseits die entsprechenden
polizeilichen Daten bei den "Verbrauchern" gänzlich verzerrt an. Kritisiert
wird deswegen häufig eine verzerrende Berichterstattung. 47 Andererseits
fragt sich jedoch, ob Untersuchungen, die das feststellen, nicht letztlich bei
den Konsumenten etwas anderes als die polizeilich registrierte Kriminalität
erheben, nämlich eine aus dem Inbegriff des Schauens und Lesens von TV-
Sendungen und Boulevardblättern rekonstruierte Medienkriminalität. Die
Problematik liegt darin, dass die Medien und ihre "Macher" zwar - wie
versprochen - Realitäten abbilden, die auch in den polizeilichen Angaben
enthalten sind, dass sie aber insoweit im wahrsten Sinne des Wortes sehr
wählerisch verfahren, indem sie einzelne Punkte groß und reißerisch her-
ausstellen, andere hingegen vernachlässigen. Auf diese Weise entsteht eine
selektive Realität, die insbesondere in ihren Proportionen von den polizeili-
chen Datensammlungen deutlich abweicht, insbesondere Gewaltdelikte
stark überbetont. 48 Doch darf dabei der gleichfalls selektive Charakter der
Polizeiangaben nicht verschwiegen werden!49 Dieses "Hellfeld" ist kein
objektiver Vergleichsmaßstab, wird vielmehr ebenso konstituiert, nur nach
anderen Regeln. Hier spielt vorrangig die Anzeigebereitschaft der Bevölke-
rung die entscheidende Rolle, während die Medienkriminalität des Verkaufs
wegen auf emotional aufreizende und ungewöhnlich brutale Einzeltaten
abhebt.
Die künftige kriminologische Forschung muss alle Foren, auf denen Kri-
minalität "spielt", in die Betrachtungen einbeziehen. Erneut zeigt sich, wie

46 Windzio/Simonson/Pfeiffer/Kleiman Kriminalitätswahmehmung und Punitivität in der


Bevölkerung - Welche Rolle spielen die Massenmedien?, 2007, S. 20.
47 Das Ideal wird in einer "ausgewogenen" Berichterstattung gesehen, s. etwa
Scharf/Mühlenfeld/Stockmann Kriminalistik 1999, 87 f.
48 Scharf/Mühlenfeld/Stockmann a.a.O., 92.
49 Vgl. a. Kunz (Fn. 45), S. 98.
Über Kriminologie als Kulturwissenschaft 17

sehr die verschiedenen Erscheinungsformen der Kriminalität kulturell be-


dingt sind. Denn die betreffenden Kriterien, nach denen sich die Zusam-
mensetzung und Gestalt des Kriminalitätsstoffes richten, hängen von vielen
zeit-örtlichen Momenten der Lebensgestaltung ab. Individuelle Bedro-
hungsgefiihle und praktische Schutzbedürfnisse spielen eine Rolle, aber
auch der Wunsch nach Unterhaltung, Spannung, Aufregung oder gar nach
einer - temporären - Weltuntergangsstimlnung. Alles wird durch Kriminali-
tät "bedient", freilich von verschiedenen Agenturen und nach unterschiedli-
chen Regeln. Die Kriminologie wird an diesen Zusammenhängen wenig
ändern können, sie scheint aber durchaus in der Lage und darüber hinaus
dazu aufgerufen, Aufklärung zu leisten. 50
Nach alledem könnte der "cultural turn~' durch geeignete Konkretisierun-
gen der Kriminologie neue Perspektiven eröffnen und zu deren Weiterent-
wicklung in der gedanklichen Aufgeschlossenheit des Jubilars beitragen.

50 Dazu Näheres bei M Walter in: Bundesfl1inisterium der Justiz (Hrsg.), Das Jugendkrimi-
nalrecht vor neuen Herausforderungen? Jenaer Symposium, 2009, S. 239 f.
Anmerkungen zu Hausers "Moral Minds"
aus kriminologischer Perspektive

PETRA WITTIG

I. Die evolutionspsychologische Perspektive


Im Bild des Kriminellen spiegelt sich das Menschenbild der Gesellschaft
wider. Noch viel weniger als die normativ geprägte Strafrechtswissenschaftl
darf die Kriminologie, soweit sie kriminelles Verhalten zu beschreiben und
erklären sucht, sich den Erkenntnissen der Sozial-, aber auch der Naturwis-
senschaften verweigern.
Eine solche aktuelle Herausforderung stellt die evolutionäre Psychologie
dar, welche Psyche und Verhalten des Menschen mit Erkenntnissen über die
Evolution und ihre reproduktionsmaximierenden Mechanismen erklärt,
hierbei aber auch neurobiologische Erkenntnisse integriert. 2 Für diese soll in
unserem Kontext stellvertretend die Forschung des amerikanischen Psycho-
logen, Evolutionsbiologen und Anthropologen Mare D. Hauser stehen, der
sich intensiv mit den evolutionären Grundlagen der Moral beschäftigt hat. 3
Nach Hauser wird der Mensch mit einem moralischen Vermögen ("moral
faculty"), moralischen Organ ("moral organ") oder moralischen Instinkt

1 In diesem Zusammenhang ist aus jüngster Zeit die durch die neuere Hirnforschung (z.B.
Singer, Prin=, Roth) neu entfachte Debatte in der Strafrechtswissenschaft um die Willensfrei-
heit und damit um den Schuldbegriff zu nennen. Hier gilt es, Stellung zu beziehen, sei es auch
nur, indem neurobiologische Erkenntnisse für irrelevant für eine von normativen Konstruktio-
nen lebende Strafrechtswissenschaft erklärt werden (siehe nur Roxin Strafrecht Allgemeiner
Teil, Bd. 1,4. Aufl. 2006, § 19 Rn. 39 ff. m.w.N.).
2 Siehe nur Badcock Evolutionary Psychology: A Critical Introduction, 2000~ Bar-
kow/Tooby/Cosmides (Hrsg.), The Adapted Mind: Evolutionary Psychology and the Genera-
tion of Culture, 1992~ Dunbar/Barrett Oxford Handbook of Evolutionary Psychology, 2007~
Pinker Wie das Denken im Kopf entsteht (Orig. How the Mind Works 1997), 2002.
3 Hauser Moral Minds: How Nature Designed Our Universal Sense of Right and Wrong,
2006~ hierzu z. B. Blech/v. Bredow Der Spiegel 31 (2007). Speziell zur evolutionären Entwick-
lung der Moral z. B. Alexander The Biology of the Moral System, 1987~ Joyce The Evolution
of Morality, 2006~ Kat= Evolutionary Origins of Morality, 2002~ Ridley The Origins of Virtue.
Human Instincts and the Evolution of Cooperation, 1997~ de Waal Primaten und Philosophen
(Orig. Primates and Philosophers, 2006), 2008~ Wilson The Moral Sense, 1993~ Wright Dies-
seits von Gut und Böse (Orig. The Moral Animal 1994), 1996.
20 Petra Wittig

("moral instinct") geboren. Ihm ist eine evolutionär entwickelte universelle


moralische Tiefengrammatik ("universal moral grammar") angeboren, wel-
che die Regeln der Moral vorgibt. Diese werden dann durch die Sozialisa-
tion (nur) ausgeformt. Damit wird im Grundsatz jeder Mensch rur befähigt
erklärt zu beurteilen, was moralisch richtig und falsch ist. Was diese grund-
legende Annahme über die Natur des Menschen für die Erklärung von Kri-
minalität bedeuten kann und was nicht, soll im Folgenden angedacht wer-
den.

11. "Born to Be Good"?


Der Sozialphilosoph Richard Rorty überschreibt seine (kritische) Rezen-
sion des Werkes von Hauser mit der prägnanten Formulierung "Born to Be
Good"4. Würde diese Charakterisierung zutreffen, wäre damit impliziert,
dass Hauser den Menschen bestimmte angeborene Moralvorstellungen
zuschreibt, die entsprechendes Handeln leiten, z.B. andere nicht zu töten
oder zu verletzen. Damit stellt sich rur Kriminologen die Frage, warum
manche Menschen sich nicht "gut" verhalten, wie etwa jemanden anderen
töten, um an sein Hab und Gut zu gelangen.
Hauser distanziert sich zunächst ausdrücklich von einer "nativist position
that puts precise moral rules or norms in the newborn' s head". 5 Andererseits
aber lehnt er auch die Ansicht ab, "that our moral faculty lacks content but
starts us off with a device that can acquire moral norms. ,,6
Seine Position beschreibt er als vermittelnd. Er ist der Meinung, "that we
are born with abstract mIes or principles, with nurture entering the picture
to set the parameters and guide us toward the acquisition of particular moral
systems".7 Da dem Menschen also bestimmte - wenn auch abstrakte -
moralische Prinzipien angeboren sind, charakterisiert Hauser den Menschen
als "hybrid species, the fertile offspring of Homo oeconomicus and Homo
reciprocans"8. Diese Annahme, die nahe legt, dass Rorty mit seiner Charak-
terisierung ("born to be good") jedenfalls nicht ganz daneben liegt, soll im
Folgenden näher erläutert werden.

4 Rorty The New York Times vom 27.8.2006.


5 Hauser (Fn. 3), S. 165.
6 Hauser (Fn. 3), S. 165.
7 Hauser (Fn. 3), S. 165.
8 Hauser (Fn. 3), S. 289. Deutlicher werden andere Autoren: Nach de Waat (Fn. 3, S. 28) ist
die menschliche Natur an sich sozial, Moral ist nicht - wie von der "Fassadentheorie der
Moral" behauptet - lediglich "eine dünne Kruste, unter der antisoziale, amoralische und egois-
tische Leidenschaften brodeln".
Anmerkungen zu Hausers "Moral Minds" 21

111. Die moralphilosophischen Grundlagen


Hauser holt zur Begründung seiner Theorie weit aus: Zu Beginn seines
Werkes "Moral Minds" unterscheidet er angelehnt an drei große Philoso-
phen im Hinblick auf moralisches Urteilen drei unterschiedliche Modelle
des Menschen: 9
1. "The Kantian creature": Nach Kant gründet die Moral in der Ver-
nunft. 1O Für die Moralpsychologie bedeutet dies, dass Moral auf
kognitiver Erkenntnis aufbaut. Beispielhaft ist hierfür nach Hauser
die Stufentheorie des moralischen Urteils bei Kohlberg, 11 Für diesen
ist moralisches Bewusstsein eine Funktion der durch Erfahrung sich
entwickelnden kognitiven Fähigkeiten des Menschen. Damit wird es
im Laufe der Sozialisation erst erworben, das Neugeborene besitzt es
noch nicht.
2. "The Humean creature": Nach Hume ist dagegen das moralische
Vermögen ein Faktum der menschlichen Natur, das nicht durch Ver-
nunft, sondern durch Gefühle geprägt wird. 12 Damit sind moralische
Urteile letztlich nichts anderes als Ausdruck unserer (emotionalen)
Einstellungen. Für die Entwicklungspsychologie - hier nennt Hauser
beispielhaft die Empathietheorie von Hoffman 13 - bedeutet dies, dass
nicht die Entwicklung unserer kognitiven Fähigkeiten, sondern die
von Empathie, also das Sich-Einfühlen in Andere, unser moralisches
Urteil formt.
3. "The Rawlsian creature": Nach Rawls sind die Menschen mit einem
moralischen Vermögen ausgestattet. Hier bezieht sich Hauser auf
eine Analogie, die Rawls in "Theorie der Gerechtigkeit" 14 zwischen
moralischem und sprachlichem Wissen in Erwägung gezogen hat: So
wie Menschen von Natur aus eine universelle kognitive Tiefen-

9 Hauser (Fn. 3), S. 12 ff


10 Kant Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1984 (Orig. 1785).
11 Z. B. Kohlberg Die Psychologie der Moralentwicklung, 1996.
12 Hume Ein Traktat über die menschliche Natur, Bd. 2, Buch III: Über Moral (Orig. A
Treatise ofHuman Nature, 1748/1751), 1978.
13 Hoffman Empathy and Moral Development, 2000.
14 Rawls Eine Theorie der Gerechtigkeit (Orig. A Theory of lustice, 1971),2009, S. 66 f;
hierzu z. B. Mikhail Rawls Linguistic Analogy. A Study of the 'Generative Grammar' Model
of Moral Theory Described by lohn Rawls in a 'Theory of lustice' , 2000; Nachweise bei
Mahlmann Rationalismus in der praktischen Theorie. Normentheorie und praktische Kompe-
tenz, 2. Aufl. 2009, S. 24 f Später modifiziert Rawls den Gedanken des moralischen Vermö-
gens in: Hinsch (Hrsg.), Die Idee des politischen Liberalismus, 1992, S. 80 ff, S. 93 ff
22 Petra Wittig

grammatik besitzen,15 die sie zum Erwerb der einzelnen Sprachen


befähigt, verfugen sie danach auch über eine angeborene universelle
moralische Tiefengrammatik, die ihnen den Erwerb von partikulären
Regeln moralischen Urteilens ermöglicht. Mit deren Hilfe urteilen
Menschen, ohne sich dessen bewusst zu sein, vor jeder Vernunft und
jeder Emotion, ob eine Handlung erlaubt, verpflichtend oder verbo-
ten ist. 16

Hauser geht davon aus, dass das Modell der "Rawlsian creature" zutrifft.
Er legt damit das Bild eines Menschen zugrunde, der von Natur aus über
das spezifische Vermögen verfügt, moralisch zu urteilen. Dies bedeutet
zunächst nicht, dass den Menschen eine bestimmte Moral angeboren ist,
sondern vielmehr, "dass es kognitive Strukturen gibt, die die Bedingungen
der Möglichkeit eines differenzierten Moralsystems sind, so wie das
menschliche Sprachvermögen die Bedingung der Möglichkeit von König
Lear ist" .17
Bei dieser formalen Annahme bleibt Hauser jedoch nicht stehen: "Nature
may, however, limit what is morally possible, and suggest ways in which
humans, and possibly other animals, are motivated into action". 18 Anhand
einer Vielzahl von Fallbeispielen und Experimenten versucht er, diese mo-
ralischen Vorgaben zu beschreiben. Dabei beansprucht er auch explizit, aus
der Deskription unserer moralischen Natur präskriptive Vorgaben fur das
Recht zu entwickeln. 19

IV. Moralisches Urteilen und Handeln


Zentral für Hausers Argumentationsstruktur sind bestimmte moralische
Dilemmasituationen, wie insbesondere die in der Moralphilosophie vielfach
erörterten Trolley-Fälle. 20 In den in verschiedenen Varianten diskutierten

15 Grundlegend Chomsky Aspekte der Syntax-Theorie (Orig. Aspects of the Theory of Syn-
tax, 1965), S. 13 ff., aus neuerer Zeit ders. Knowledge of Language: Its Nature, Origin and
Use, 1986, S. 3.
16 Die Idee, dass das moralische Urteilsvermögen fundamental in der menschlichen Natur
verankert ist, findet sich auch bei Chomsky Language and Problems of Knowledge, 1988,
S. 152 f.
17 Mahlmann in: Gugerli u.a. (Hrsg.), Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch fur Wissen-
schaftsgeschichte, 2008, S. 107 ff.
18 Hauser (Fn. 3), S. 4.
19 Hauser (Fn. 3), S. 4. Zu einer "mentalistisch" begründeten Theorie von Moral und Recht
siehe Mahlmann (Fn. 3).
20 Hauser (Fn. 3), S. 112 ff. Diese gehen wohl auf die Philosophin Philippa Foot zurück, die
das Problem in ihrem Aufsatz "The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect",
Anmerkungen zu Hausers ~,Moral Minds" 23

Trolley-Fällen rast ein führerloser Trolley (ein Schienenfahrzeug) auf eine


Gruppe von fünf Wanderern zu, die er zu zermalmen droht. In einer Varia-
tion kann eine zufällig anwesende Person durch Umstellen einer Weiche
den Trolley auf ein anderes Gleis umleiten, wo allerdings ein anderer Wan-
derer steht. Dadurch würden zwar die funf Wanderer gerettet, aber fur ihr
Leben der einzelne Wanderer geopfert. In einer anderen Variante dagegen
kann der Trolley nur dadurch gestoppt und die fünf Wanderer gerettet wer-
den, dass ein dicker Mann von einer Brücke auf die Gleise gestoßen und
damit getötet wird. In beiden Fällen können also fünf Personen auf Kosten
einer Person, die dabei ums Leben kommt, gerettet werden. Die klassische
moralphilosophische Fragestellung ist, ob diese Verhaltensweisen erlaubt
sind. In unserem Fall geht es aber nicht um Moralphilosophie, sondern um
Moralpsychologie, also darum, welches Verhalten Menschen warum für
moralisch richtig halten.
Um dies herauszufinden, führte Hauser u. a. Massenbefragungen im In-
ternet durch. Während in der ersten Variante die Mehrheit der Probanden es
für erlaubt hielt, die Weiche umzustellen, sah sie in der zweiten Variante
das Stoßen des dicken Mannes für nicht erlaubt an. Für diese moralischen
Urteile konnten die wenigstens Befragten ihre Beurteilungskriterien benen-
nen, dennoch bestand im Ergebnis eine erhebliche Übereinstimmung zwi-
schen den Befragten, unabhängig von ihrem Alter, ihrem Geschlecht oder
ihrer Nationalität. Daraus folgert Hauser, dass dem moralischen Urteil eine
universelle moralische Tiefengrammatik zugrunde liegt. Emotionale Reak-
tion und rationale Rechtfertigung folgen dem auf ihrer Grundlage gebilde-
ten moralischen Urteil erst nach. Hierin liegt nach Hauser eine Bestätigung
seiner Grundannahme, wonach Menschen moralisch als "Rawlsian crea-
tures" urteilen.
Wichtig in unserem Kontext ist jedoch vor allem, dass Hauser unter Be-
rufung auf Untersuchungen von Mikhai[21 aufgrund der Trolley-Fälle auch
zwei inhaltliche Prinzipien formuliert, die dem moralischen Urteil univer-
sell zugrunde liegen sollen:
1. "The principle of prohibition 01 intentional battery forbids unpermit-
ted, unprivileged bodily contact that involves physical harm.

Oxford Review 5 (1967), 5 ff. erörtert hat. Hierzu u.a. Thomson The Monist 59 (1976), 204 ff.
Zu Hauser, der Lehre von den moralischen Doppelwirkungen und den Trolley-Fällen (auch aus
deutscher strafrechtlicher Sicht) Philipps FS Hassemer, 2010, S. 201 ff.
21 Mikhail (Fn. 13)~ Mikhail/Sorrentino/Spelke Aspects of the Theory of Moral Cognition:
Investigating Intuitive Knowledge of the Prohibition of Intentional Battery, the Rescue Prin-
ciple, the First Principle of Practical Reason, and the Principle of Double Effect, unveröf-
fentlichtes Manuskript, 2002.
24 Petra Wittig

2. The principle of double efJect is a traditional moral and legal prin-


ciple ... according to which otherwise prohibited acts may be justi-
fied if the harm of the cause is not intentional and the act' s foresee-
able and intended good effects outweigh its foreseeable bad ef-
fects."22
Damit wird immerhin ein Verbot beabsichtigter und ungerechtfertigter
Tötungen und körperlicher Verletzungen anderer als Bestandteil des morali-
schen Vermögens des Menschen behauptet. Unsere biologische Ausstattung
begrenzt somit die Optionen gewaltsamen Verhaltens, sie erlaubt nur einige,
verbietet aber andere. 23
Bevor wir uns nun den möglichen Konsequenzen dieser Aussagen für die
Kriminologie zuwenden, soll noch eine Klarstellung erfolgen. Selbstver-
ständlich sind moralisches Urteilen und tatsächliches Verhalten (und darum
geht es in der Kriminologie) zwei unterschiedliche Dinge. Aber schon Hau-
sers Gewährsmann Rawls schreibt: "Ferner hat man ein gewisses Bedürfnis,
gemäß diesen [moralischen] Urteilen zu handeln, und erwartet dies auch
von anderen."24 Es ist danach offensichtlich gerade ein Bestandteil des
moralischen Vermögens, es rur richtig zu halten, sich in seinem Handeln an
seinen moralischen Urteilen zu orientieren. Menschen setzen somit in der
Regel das in die Tat um, was sie rur moralisch richtig halten.
Damit hält das moralische Vermögen auch die nach llauser in jedem
Menschen vorhandenen Aggressionen gegenüber anderen 25 in Schach und
ruhrt dazu, dass das bestehende Gewaltpotential nicht ausgelebt wird. Ge-
schieht es aber dennoch, ist dies erklärungsbedüftig.

v. Die kriminologische Fragestellung


Auf der Grundlage der traditionellen Sicht von Kriminalität als einer
Eigenschaft des Kriminellen (und nicht als Zuschreibung durch die Gesell-
schaft) lassen sich zwei Richtungen unterscheiden. Entweder man erklärt
konformes und kriminelles Verhalten als unterschiedliche Ausformungen
eines bestimmten Verhaltenstyps. Ein Beispiel hierfür ist der ökonomische
Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens: 26 Kriminelles Verhalten ist

22 Hauser (Fn. 3), S. 124.


23 Hauser (Fn. 3), S. 132.
24 Rawls (Fn. 3), S. 66.
25 Hauser (Fn. 3), S. 233.
26 Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens (Orig. The
Economic Approach to Human Behavior 1976), 1982, S. 39 ff.~ hierzu Willig Der rationale
Verbrecher, 1993~ Kun= Kriminologie: Eine Grundlegung, 4. Autl. 2004, § 24 Rn. 17 ff.
Anmerkungen zu Hausers "Moral Minds" 25

danach ebenso Ausdruck einer rationalen nutzenmaximierenden Entschei-


dung wie konformes Verhalten. Oder man sieht kriminelles Verhalten als
defizitär gegenüber konformem Verhalten an. Damit wird jedoch erklä-
rungsbedürftig, warum sich Kriminelle anders als Konforme verhalten.
Beispiele hierfür sind insbesondere biologische und psychologische, aber
auch die meisten sozialpsychologischen und soziologischen Kriminalitäts-
theorien.
Unter der Annahme, dass Menschen ein moralisches Vermögen besitzen
und in der Regel auch danach handeln, wird abweichendes Verhalten erklä-
rungsbedürftig. Wenn die universelle moralische Tiefengrammatik absicht-
liches und ungerechtfertigtes Töten verbietet, stellt sich die Frage, warum
bestimmte Menschen dieses Verbot verletzen. Hier sind verschiedene Erklä-
rungsmuster denkbar. Möglich wäre, dass z. B. Mörder kein moralisches
Vermögen, kein moralisches Organ bzw. keine moralische Tiefengramma-
tik besitzen. Eine denkbare Erklärung ist auch ein biologischer oder psychi-
scher Defekt oder sozialisationsbedingte Faktoren, die das Verletzungsver-
bot außer Geltung setzen. Schließlich ist in Erwägung zu ziehen, dass
entgegen dem moralischen Urteil gehandelt wird, was aber auch - wie ge-
sehen - erklärungsbedürftig wäre.
Im Folgenden werden die (sozialpsychologischen und biologischen) An-
sätze dargestellt und analysiert, die Hauser zur Erklärung abweichenden
bzw. kriminellen Verhaltens zur Verfügung stellt. Hierbei ist zu beachten,
dass es sich um keine ausformulierten Kriminalitätstheorien handelt, son-
dern Hauser diese Befunde letztlich heranzieht, um seine grundlegende
These von der universellen moralischen Tiefengrammatik zu belegen und
zu konkretisieren.

VI. Der sozialpsychologische Ansatz


Nach Hauser können partikuläre soziale Normen 27 dazu führen, dass dort,
wo sie gelten, gewaltsame Verhaltensweisen, ja sogar Tötungen nicht nur
als moralisch erlaubt, sondern sogar als geboten angesehen werden. Dies
illustriert Hauser unter der prägnanten Überschrift "Slay the One You
Love" vor allem am Phänomen der Ehrenmorde ("honor killings") und der
Verbrechen aus Leidenschaft ("passion crimes").28

27 Soziale Nonnen bzw. Konventionen und moralische Regeln unterscheiden sich nach Hau-
ser (Fn. 3), S. 291 ff. grundsätzlich wie folgt: Soziale Normen dienen der Koordination von
Gruppen, sie sind nur auf diese anwendbar und können verletzt werden. Moralische Regeln
dienen dem allgemeinen Wohlergehen ("welfare") und der Fairness, sie gelten universell und
sind unverletzbar.
28 Hauser (Fn. 3), S. 142 ff.
26 Petra Wittig

Soweit es um das Phänomen der Ehrenmorde geht, stellt sich die Frage
nach den Ursachen aus kriminologischer Sicht selbstverständlich nur dann,
wenn eine Rechtsordnung dieses Verhalten überhaupt als abweichend be-
trachtet, was jedoch inzwischen wohl für fast alle Länder der Welt zutrifft. 29
Eine Abweichung eines bestimmten kulturell gebilligten Verhaltens allein
von den Prinzipien der universellen moralischen Tiefengrammatik mag für
den Moralpsychologen, nicht aber für den Kriminologen von Interesse sein.
Hauser erklärt das Phänomen der Ehrenmorde damit, dass in den betrof-
fenen Kulturkreisen Frauen als Eigentum der Männer betrachtet werden, das
von diesen nach Belieben auch zerstört werden darf. Die kulturelle Norm,
die Ehrenrnorde erlaubt, unterdrücke damit bei den Männern jede Kontrolle
ihres Tötungsimpulses, während sie gleichzeitig als Kontrollmechanismus
gegenüber Frauen fungiere. 30
Eine partikuläre soziale Norm führt damit dazu, dass Ehrenrnorde als er-
laubt angesehen werden. Die universelle moralische Tiefengrammatik ver-
bietet jedoch nur unerlaubte ("unpermitted") Tötungen, so dass sie durch
die soziale Norm konkretisiert wird. Ehrenmorde gelten aufgrund des "cul-
tural climate"31 damit nicht mehr als moralisch verboten, sondern sogar als
geboten. Jedoch sieht Hauser auch die Chance, diesen Zirkel der Gewalt zu
durchbrechen, wobei er nicht nur kulturellen Gegenbewegungen, sondern
auch dem Recht eine wichtige Rolle zubilligt.32
Verbrechen aus Leidenschaft beweisen nach Hauser ebenfalls "the power
of social norms to both set the principles and the parameters of permissible
killings, and to convert them from descriptive to prescriptive principles".33
Auch sie sind auf eine Geschlechterasymmetrie zurückzuführen. Damit
wendet er sich gegen die Idee, solche Verbrechen gingen darauf zurück,
dass Emotionen die Vernunft besiegen, was sie, wenn auch nicht rechtfer-
tigt, so doch zumindest entschuldigt.
Für die Kriminalitätsforschung lässt sich aus den dargestellten Befunden
lediglich der Schluss ziehen, dass soziale Normen dazu führen können, dass
Täter ihr kriminelles Verhalten als moralisch gerechtfertigt und damit als
erlaubt ansehen. Ohne Umweg über die moralische Tiefengrammatik ließe
sich die Aussage auch dahingehend vereinfachen, dass (partikuläre) soziale
Normen dazu fuhren, dass ein an diesen orientiertes Verhalten gewählt

29 Hauser zitiert hier den ehemaligen pakistanischen Präsidenten Musharraf, der im Jahre
2000 Ehrenmorde als unislamisch und ungesetzlich verurteilte. Dennoch stieg die Zahl der
Ehrenmorde nachfolgend an (Hauser [Fn. 3], S. 144). Auch verbreitet sich dieses Verhalten
aufgrund der weltweiten Migrationsbewegungen.
30 Hauser (Fn. 3), S. 145.
31 Hauser (Fn. 3), S. 155.
32 Hauser (Fn. 3), S. 142.
33 Hauser (Fn. 3), S. 154.
Anmerkungen zu Hausers "Moral Minds" 27

wird, auch wenn es universellen Moralvorstellungen widerspricht. Gewisse


Parallelen zur Subkulturtheorie 34 drängen sich zunächst auf, wenn es z.B.
um Ehrenrnorde in europäischen Staaten geht. Der Vergleich hinkt aber
dort, wo die Norm, die Ehrenrnorde erlaubt, in der jeweiligen Rechtsord-
nung dominant ist (so wohl noch in einigen islamischen Staaten).

VII. Der (neuro-) biologische Ansatz


Eine weitere Erklärung für kriminelles Verhalten, die Hauser anbietet,
greift auf neuere (neuro-) biologische Theorien abweichenden Verhaltens
zurück. 35 Danach führen Hirnschädigungen etwa durch Unfall oder Krank-
heit dazu, dass moralische Regeln und soziale Konventionen ihre Verbind-
lichkeit verlieren. 36 Viel zitiertes Beispiel hierfür sind die schweren Schädi-
gungen des vorderen zentralen Teils des linken Stirnhirnlappens, die der
Eisenbahnarbeiter Phineas Gage 1848 dadurch erlitt, dass sich eine schwere
Eisenstange durch seinen Kopf bohrte. Gage überlebte, aber seine Persön-
lichkeit war verändert, er wurde launisch, respektlos und ungeduldig, er
wandelte sich vom moralischen Vorbild zum moralischen Abweichler. 37
Experimente des Neurowissenschaftlers Damasio 38 sprechen dafür, dass
derartige Himschädigungen nicht zu intellektuellen Defiziten führen.
Außerdem scheinen sie zunächst zu belegen, dass das moralische Urteils-
vermögen nicht beeinträchtigt ist, wohl aber aufgrund eines emotionalen
Kontrollverlustes die Fähigkeit, sich in seinem Handeln von diesem morali-
schen Urteil leiten zu lassen. Für Hauser spricht dagegen viel dafür, dass
darüber hinaus auch das moralische Urteilsvermögen beeinträchtigt ist, das
letztlich auf spezialisierten Gehirnregionen beruht. Dies versucht er u.a.
zusammen mit Damasio anhand der Trolley-Fälle und weiterer moralischer
Dilemmasituationen experimentell zu belegen. 39 Anders als die meisten
gesunden hielten es hirngeschädigte Probanden z. B. für moralisch richtig,

34 Hierzu z. B. Kun= (Fn. 26), § 12 Rn. 26 ff.


35 Hauser (Fn. 3), S. 225, unter Berufung insbesondere auf Damasio Descartes' Irrtum -
Fühlen, Denken und das menschliche Gehinl (Orig. Descartes' Error: Emotion, Reason and the
Human Brain 1994), München 1994. Ein Überblick findet sich bei Lamnek Neue Theorien
abweichenden Verhaltens 11: Moderne Ansätze, 2008, S. 189 ff.
36 Damasio (Fn. 35), S. 30.
37 Hauser (Fn. 3), S. 229. Welche Schädigungen Gage in welchen Teilen des Gehirns erlit-
ten hatte, wurde mit Hilfe des Neuroimaging, also der Erforschung des Gehirns mit Hilfe
bildgebender Verfahren, von Damasio (Fn. 35) rekonstruiert. Ein weiteres gut erforschtes
Beispiel eines moralischen Abweichlers aufgrund einer Hirnschädigung (diesmal eines Tu-
mors) ist ein Patient Damasios, den dieser Elliot nennt.
38 Damasio (Fn. 35).
39 Koenigs/Young/Adolphs/Tranel/Cushman/Hauer/Damasio Nature 446 (2007), 908 ff.
28 Petra Wittig

den dicken Mann von der Brücke zu stoßen, um die fünf Wanderer zu ret-
ten, weil sie den Zweck eines Verhaltens, nicht aber das Verhalten selbst als
ausschlaggebend ansahen.
Für die Erklärung von Kriminalität bleibt als Fazit, dass bestimmte Hirn-
schädigungen zu abweichendem Verhalten fuhren können, sei es, dass das
moralische Urteilsvermögen beeinträchtigt ist, sei es, dass das moralisch als
richtig Erkannte nicht in die Tat umgesetzt werden kann. Damit könnte
jedoch allenfalls ein kleiner Teil der Kriminalität erklärt werden, insbeson-
dere, da nur manche Hirngeschädigte sich nicht nur sozial abweichend,
sondern auch kriminell verhalten.

VIII. Der biologische persönlichkeitstheoretische Ansatz


(insb. "psychopathy")
Im unmittelbaren Anschluss an das Kapitel über die Effekte von Hirn-
schädigungen auf moralisches Urteilen und Handeln ("Brain-damaged Utili-
tarians") finden sich unter der Überschrift "Guilt-free Killing"40 Ausfiihrun-
gen zur "psychopathy" und ihre Auswirkungen auf das Verhalten. 41 Nach
Hauser verhalten sich Psychopathen oft gewalttätig und kriminell. Er be-
schreibt dann die Fälle zweier psychopathischer Serienmörder, stellt dem
aber voraus, dass die meisten Psychopathen keine Kriminellen seien. Er
thematisiert schwerpunktmäßig, ob die bei Psychopathen beobachteten
Auffälligkeiten auf ein emotionales, moralisches oder kognitives Defizit
zurückzuführen sind, ob also die Erscheinungsform der Psychopathie sein
Menschenbild ("Rawlsian creature") stützt oder in Frage stellt. Nach über-
wiegender Ansicht ist Psychopathie nicht auf kognitive Defizite, sondern
auf ein biologisch bedingtes Defizit der Emotionsverarbeitung im Gehirn
zurückzuführen. 42 Dem zweiten Teil dieser Aussage stimmt Hauser nur
bedingt zu, sie erklärt für ihn nicht, warum Psychopathen moralisch
"schlecht" funktionieren. Hier bietet Hauser jedoch ebenfalls keine über-

40 Hauser (Fn. 3), S. 232 ff.


41 Zum amerikanischen (klinischen) Konzept der "psychopathy" grundlegend Cleckley The
Mask of Sanity: An Attempt to Clarify Some Issues about the so Called Psychopathic Person-
ality, 5. Autl. 1976 (1. Autl. 1941)~ Weiterentwicklung durch Hare 1980, der das sog. PCL-R
(Psychopathy Check List) zur Erfassung von "psychopaths" entwickelte (Hare The Hare
Psychopathy Checklist-Revised [PCL-R], 1991), hierzu z. B. Göppinger Kriminologie, 6. Autl.
2008, § 14 Rn. 16 ff~ Nedopil Forensische Psychiatrie, 3. Autl. 2007, S. 182 ff. Zum von
Hauser ebenfalls angesprochenen, aber nicht weiter thetnatisierten Konzept der "antisozialen"
oder "dissozialen" Persönlichkeit vgl. Kun:= (Fn. 26), § 19 Rn. 16 ff.
42 Hauser (Fn. 3), S. 236 f. m.w.N.
Anmerkungen zu Hausers "Moral Minds" 29

zeugende und klare Erklärung, er hält jedenfalls bei Psychopathen die mora-
lische Kompetenz grundsätzlich fur gegeben.
Für unsere Fragestellung ergibt sich aus den knappen Ausführungen Hau-
sers, dass es offensichtlich Menschen gibt, die aufgrund einer Erkrankung,
trotz vorhandener kognitiver Fähigkeiten und moralischer Urteilskompe-
tenz, kriminell werden.

IX. Fazit
Eine Theorie, die die evolutionäre und damit letztlich biologisch determi-
nierte Verankerung moralischen Urteilens und entsprechenden HandeIns
behauptet, kann von den Sozial- und Rechtswissenschaften nicht ignoriert
werden. Der folgende dem Jubilar in Verbundenheit gewidmete Beitrag
versuchte anhand der Untersuchung von Hausers "Moral Minds" zu thema-
tisieren, inwieweit ein solcher Ansatz fur die Erklärung kriminellen Verhal-
tens von Bedeutung sein könnte.
Es hat sich gezeigt, dass keine grundsätzlich neuen Erkenntnisse zu er-
warten sind: Die Ausführungen zur prägenden Kraft sozialer Normen be-
schränken sich auf die Themen Ehrenmorde und Verbrechen aus Leiden-
schaft. Entsprechend der (neuro-) biologischen Ausrichtung dieser aktuellen
Forschungsrichtung und entsprechend der Annahme, dass das moralische
Vermögen auf spezialisierten Gehimsystemen beruht, wird abweichendes
und kriminelles Verhalten im Wesentlichen als Folge einer anormalen Ver-
änderung bestimmter Gehimregionen angesehen. Diese biologischen Ab-
weichungen führen dazu, dass entweder das im Gehirn verankerte angebo-
rene moralische Vermögen (das moralische Organ) oder die Fähigkeit, nach
dem moralisch als richtig Erkannten zu handeln, beeinträchtigt wird. Ob die
evolutionäre Moralpsychologie hinsichtlich der Erklärung kriminellen Ver-
haltens letztlich über diesen Erkenntnisstand hinaus kommen wird, darf
bezweifelt werden.
Gewaltkriminalität - Ursachen und Wirkungen

HANS-]ÖRG ALBRECHT

J. Einführung
Gewalt tritt in sehr unterschiedlichen Formen auf, betrifft alle Gesell-
schaften und wird seit langer Zeit in Statistiken zusammengefasst, die ver-
schiedenen Zwecken dienen. 1 So zählt der (erste) Bericht der UNESCO
über das weltweite Ausmaß und Strukturen der Gewalt für das Jahr 2000
etwa 1,6 Millionen durch Gewalt verursachte Todesfälle. Davon geht die
Hälfte auf Suizid zurück, ein knappes Drittel betrifft Tötungsdelikte und
etwa ein Fünftel resultiert aus bewaffneten Konflikten. 2 Die regionale Ver-
teilung ist ebenso eindeutig wie die Verteilung der Gewalt entlang des Al-
ters, nach dem Geschlecht und dem ökonomischen Entwicklungsstand. 3 Es
sind vor allem die armen Länder, die unter der Gewalt leiden, 4 wobei als
Ausnahme die USA hervorzuheben sind. Werden in Ländern mit hohem
Einkommen etwa 14 Todesfälle durch Gewalt pro 100.000 gezählt, so sind
es in armen Ländern 32. 5 Männer repräsentieren 80% der Opfer von vor-
sätzlichen Tötungsdelikten; ein besonders hohes Risiko tödlicher Gewalt
wird für jüngere Altersgruppen vermerkt. 6 In entwickelten Regionen lassen
sich vergleichbare Verteilungen, wenn auch auf deutlich niedrigerem
Niveau, entlang sozio-ökonomisch unterschiedlich ausgestatteten Stadttei-
len nachweisen. 7

1 Von Trotha (Hrsg.) Soziologie der Gewalt. Sonderheft 37/1997 der Kölner Zeitschrift für
Soziologie und Sozialpsychologie.
2 KruglDahlberglMercy/ZwilLozano World report on violence and health, 2002, S. 10.
3 Ministry of Social Affairs and Health of Finland Fourth annual European meeting of vio-
lence and injury prevention national focal persons ofthe Ministries ofHealth, 2009, S. 5.
4 Allerdings überschneiden sich Armut und verschiedene Aspekte politischer Entwicklung
und Verfassung, vgl. hierzu beispw. Lafree/Tseloni The ANNALS of the American Academy
of Political and Social Science 2006, 605-625.
5 Krug u. a. (Fn. 2), S. 10.
6 Vgl. hierzu auch KershawlNicholaslWalker Crime in England and Wales 2007/08. Find-
ings from the British Crime Survey and police recorded crime, 2008, S. 6.
7 NieuwbeertalMcCalllElfferslWittebrood Homicide Studies 12 (2008), 90-116.
32 Hans-Jörg Albrecht

Aus einer historischen Perspektive wird dann deutlich, dass sich jeden-
falls in den europäischen Ländern die tödliche Gewalt deutlich reduziert
hat. 8 Der Rückgang liegt vor allem vor dem Beginn des 20. Jahrhunderts.
Seitdem sind die Tötungsdelikte relativ stabil. Das Ansteigen der Tötungs-
delikte in europäischen Ländern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
beruht offensichtlich auf kurzfristigen und nicht leicht erklärbaren Entwick-
lungen. 9 In Deutschland - wie in anderen europäischen Ländern - sinkt die
Rate vollendeter Tötungsdelikte seit Mitte der 1990er Jahre wieder, und
zwar bis auf 0,9/100.000 im Jahr 2008 und damit auf den Stand der 1950er
und 1960er Jahre. 10
Mit der langfristigen Abnahme ist in Europa vor allem eine Veränderung
in der Struktur der Tötungsdelikte verbunden, die heute ganz überwiegend
als soziale Nahraumsdelikte auftreten. Täter und Opfer kennen sich und
sind häufig miteinander verwandt. Die Tötung zwischen Fremden wird
dagegen zu einer Randerscheinung. 11

11. Phänomene und Folgen der Gewalt


Gewalt tritt in vielen Formen auf. Sie reicht von den völkermörderischen
Aktionen in Ruanda, denen 1994 in einem Zeitraum von etwa drei Monaten
fast eine Million Menschen zum Opfer fiel, über den Selbstmordterror in
der Londoner Untergrundgrundbahn, Massakern in Schulen und Fußball-
randalen, der mit Drogenhandel und anderen illegalen Märkten verbunde-
nen Gewalt bis hin zu der alltäglichen Gewalt im öffentlichen Raum und auf
der Straße, der Hassgewalt gegen Minderheiten und Fremde sowie der Ge-
walt in der Familie oder im sozialen Nahraum. Manche Gewaltphänomene,
vor allem die großflächige und kollektive Gewalt, sind in Europa nach dem
Zweiten Weltkrieg verschwunden. Jedoch zeigen die Bürgerkriege an den
Rändern der Europäischen Union, ob in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens
der 1990er Jahre, in der Türkei oder Nordafrika, dass kollektive und organi-
sierte Gewalt (und ihre Auswirkungen) näher rücken kann und dass ihre
Auswirkungen in Form von Flüchtlingsströmen den Kern Europas errei-
chen.

8 Eisner British Journal ofCriminology 41 (2001),618-638.


9 Eisner Das Ende der zivilisierten Stadt. Die Auswirkungen von Modernisierung und urba-
ner Krise auf Gewaltdelinquenz, 1997.
10 Bundeskriminalamt Polizeiliche Kriminalstatistik 2008, S. 57~ auch für England und
Wales wird seit der Mitte der 1990er Jahre von einem starken Rückgang der Gewaltkriminali-
tät, insbesondere der schwersten Gewalt, berichtet, vgl. hierzu Kershaw u. a. (Fn. 6), S. 5,25.
11 Vgl. beispw. Zoder/Maurer Tötungsdelikte. Fokus häusliche Gewalt. Polizeilich regis-
trierte Fälle 2000-2004, 2006, S. 23 ff.
Gewaltkriminalität - Ursachen und Wirkungen 33

Das Interesse an der Erforschung von Gewalt hat sich in Deutschland


(und in den europäischen Nachbarländern) in den letzten Jahrzehnten auf
unterschiedliche Formen individueller Gewalt konzentriert. Dies zeigt auch,
dass die Bedeutung von Gewalt über die Zeit Veränderungen ausgesetzt
ist. 12 Die Gewalt gegen Frauen oder Kinder hat noch in jüngerer Zeit keine
besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das im Jahr 2000 eingeführte
Gewaltverbot in der Erziehung (§ 1631 Abs. 2 BGB), das Gewaltschutzge-
setz aus dem Jahr 2001 und weitere staatlich und privat organisierte An-
strengungen zur Gewaltprävention haben dann einen Wandel vollzogen, der
einem langfristig wirksamen Rechtfertigungssystem der Gewalt ein Ende
setzte. 13
Mit Gewalt eng verbunden ist die Drohung mit Gewalt. 14 Dies lenkt die
Aufmerksamkeit auf Unsicherheitsgefühle und Angst sowie darauf, dass
sehr viel mehr Menschen unter der Angst vor Gewalt leiden als von der
Gewalt direkt betroffen sind. Die Angst vor Gewalt geht letztlich darauf
zurück, dass Menschen über ihre Verletzungsoffenheit wissen. Sie wissen
auch, dass es gegen Gewalt keinen sicheren Schutz gibt.
So vielfältig die Formen der Gewalt sind, so vielfältig sind auch ihre
(Aus-)Wirkungen. Die Wirkungen lassen sich in Kreisläufen der Gewalt,
die ausgelöst werden von vergeltender Gewalt, ebenso beobachten wie in
der Traumatisierung der Opfer, in dauerhafter Angst, Unsicherheitsgefühlen
und dem Verlust an Vertrauen. I5 Gewalt hat in Gesellschaften allerdings
noch andere Wirkungen. Sie löst neben Angst weitere Emotionen und Ge-
fühle aus. Anstatt die andere Backe hinzuhalten, so wie es das Neue Testa-
ment rät, wollen Opfer von Gewalt Vergeltung. Vergeltung wird gewollt,
auch wenn dies mit erheblichen Kosten und Nachteilen verbunden ist. Die
Frage, warum Menschen so viel an Vergeltung liegt, ist seit einiger Zeit
Gegenstand intensiver ökonomischer, psychologischer und neurologischer
Forschung. 16 Zurückgeführt wird das Interesse an Vergeltung auf eine lang-
fristig wirksame Entwicklung eines Gefühls für Ungerechtigkeit, das in der
Wahrnehmung einer unfairen Unter\verfung unter eine Macht besteht, ge-
gen die man sich nicht wehren konnte. 17 Ungerechtigkeit erzeugt dann ein
Gefühl des Ungleichgewichts, das nach einem wirksamen Ausgleich drängt.
Der Wunsch nach Vergeltung ermutigt, zurück zu blicken, an vergangenes

12 FerrelllHayward/Young Cultural Criminology, 2008, S. 8.


13 BussmannlErthallSchroth RdJ 56 (2008), 404-422.
14 Naylor Crime, Law & Social Change 52 (2009), 231-242.
15 Garcia/TaylorlLawton lustice Quarterly 24 (2007), 679-704.
16 JaffelYinon European Journal 01' Social Psychology 9 (1979), 177-186~ Orth Aggressive
Behavior 30 (2004), 62-70~ Dugan/Apel Criminology 43 (2005), 697-730~ Sigmund TRENDS
in Ecology and Evolution 22 (2007), 593-600.
17 JacobslWright Street Justice. Retaliation in the Criminal Underworld, 2006, S. 1.
34 Hans-Jörg Albrecht

Unrecht zu erinnern und die Zukunft selbst zurückzustellen zu Gunsten des


Ausgleichs rur erlittenes Unrecht. Gewalt, so kann fortgesetzt werden, gräbt
sich in das Gedächtnis ein; erlittene Gewalt wird über Generationen erinnert
und weitergegeben, sie wird dokumentiert und bleibt sowohl als Erinnerung
wie auch als Handlungsrechtfertigung verrugbar. 18 In vorstaatlichen Gestal-
ten wird die vergeltende Gewalt zu einer durch soziale Normen ausgeform-
ten Pflicht. 19
Der Wunsch nach sofortiger und gewalttätiger Vergeltung wird dort, wo
eine unangefochtene, legitime und akzeptierte Zentralgewalt existiert, wirk-
sam kontrolliert (sodass es jedenfalls nicht in großem Ausmaß zu privater
vergeltender Gewalt kommt). Die Geruhle werden kanalisiert und mit der
polizeilichen und justiziellen Antwort auf ein Gewaltverbrechen, jedenfalls
zeitweise, zufrieden gestellt. Die Opfer, ihre Angehörigen und die Zuschau-
er werden distanziert und finden sich in den Rollen des Strafverfahrens-
rechts und in den Berichten der Meinungsbefragungsunternehmen wieder.
Schwere Gewalt ist ein Ereignis, anlässlich dessen sofort die kleinen und
großen Missstände in Gesellschaften diskutiert werden und die Frage auf-
geworfen wird, wie Besserung und Beseitigung der Missstände erreicht
werden können. Gewalt schafft, wirksamer als andere Formen der Krimina-
lität, offensichtlich eine Kommunikationsplattform, auf der große Fragen
aufgeworfen und wenn nicht beantwortet, so doch diskutiert werden kön-
nen. Fälle wie der Angriff auf einen alten Mann in der Münchner U-Bahn
im Dezember 2007, der Tod des kleinen Kevin in Bremen oder der Amok-
lauf von Winnenden enden nicht mit der Feststellung der unmittelbar Ver-
antwortlichen und Schuldigen. Sie ruhren dazu, dass weitere Fragen gestellt
werden. Dazu gehören insbesondere die Fragen: Hätte dies verhindert wer-
den können? Und: Wer hätte dies verhindern müssen? Daran schließt sich
die Frage an: Was muss getan werden, dass dies in der Zukunft verhindert
werden kann?20
In einer Zeit digitaler Medien ist es verständlich, dass die Gewalt und ihre
Folgen immer stärker über Bilder vermittelt werden. Die Misshandlungen
von Abu Ghraib, der Einschlag der Flugzeuge in die Türme in New York
zirkulieren ebenso als Bilder in digitalen Netzen wie die kleinen Videofet-
zen, auf denen die Gewalt der Strasse dargestellt ist. Bumfight-Videos sind
nicht erst seit gestern im Angebot der Märkte. Dass Gewalt heute auch
durch Videofunktionen von Mobiltelefonen (oder digitale Kameras) fest-

18 Booth Social research 75 (2008), 237-262.


19 Von Trotha Koloniale Herrschaft, 1994, S. 38.
20 Neben übergreifenden Gewalt-Komtnissionsberichten finden sich immer häufiger fallbe-
zogene Untersuchungsberichte, vgl. beispw. Creut=feld. u. a. Bericht der Kommission Guten-
berg-Gymnasium, 2004.
Gewaltkriminalität - Ursachen und Wirkungen 35

gehalten wird (und zunehmend festgehalten wird) und über verschiedene


Internet-Adressen jedermann zugänglich ist, kann selbstverständlich skan-
dalisiert werden. Skandalisierung führt allerdings zu nicht mehr als einer
Thematisierung von Gefühlen, Gefühlen des Ekels, des Mitleids und der
Wut, die viele Betrachter angesichts solcher Bilder erfasst. Für manchen ist
es freilich auch Faszination, die sich bemerkbar macht. Mitunter machen
sich Gesetzgeber, ermutigt durch Gefühle, daran, strafrechtliche Verbote
einzusetzen. 21 Was sagt aber die zunehmende Dokumentation der Gewalt
aus, die offensichtliche Bereitschaft und auch Lust an der Dokumentation
der selbst ausgeübten Gewalt?
Über die Einsicht hinaus, dass für solche Bilder der Gewalt ein Markt und
Nachfrage vorhanden sind, eröffnen die Bilder den Blick darauf, dass Ge-
walt sowohl physische und psychische als auch symbolische Konsequenzen
hat. Denn die Gewalt, die in Bildern eingefroren ist, verlängert die Degra-
dierung und die Machtlosigkeit der Opfer; sie macht die Unterlegenheit und
die Hilflosigkeit der Opfer weithin und dauerhaft sichtbar und kommuni-
ziert gewollt oder ungewollt (wenn es sich um Bilder von Überwachungs-
kameras handelt), dass mit Gewalt Macht über andere Menschen verbunden
ist. Die in der Gewalt sich äußernde Aktionsmacht, also die in der Gewalt-
handlung liegende Macht, die eigentlich nur im Augenblick der Gewalt
vorhanden war, wird durch die Bilder und durch die Augen der Betrachter
verlängert und verstärkt. Hierin liegt sicher ein wesentlicher Grund dafür,
dass Täter die Gewalt durch Videokameras dokumentieren und offensicht-
lich wenig Gedanken daran verschwenden, dass Videoaufnahmen und Bil-
der als Beweismittel Verwendung finden können.

111. Wie kommt Wissen über Gewalt zustande und was wissen
wir über Entwicklung und Struktur der Gewalt?
Die Gewaltforschung zeigt zwei Linien auf. Forschungen über Gewalt,
die an dichten Beschreibungen und dem Verstehen von Gewaltphänomenen
selbst interessiert sind,22 entwickeln sich neben auf quantitative Ausprägun-
gen ausgerichteten Untersuchungen, die sich - bei einer besonderen Fokus-
sierung auf die Schule - seit etwa 20 Jahren auf junge Menschen konzent-
rieren. Die kriminologische Forschung hat sich allerdings in der
Untersuchung individualisierter Gewalt fast ausschließlich auf quantitative
Methoden gestützt.

21 Vgl. dazu Art. 222 - 33-3 des französischen Strafgesetzbuchs, wo für Aufnahmen von
Gewaltdelikten und ihre Verbreitung Kriminalstrafe angedroht wird.
22 Sofsky Traktat über die Gewalt, 2005 ~ zusammenfassend v. Trotha (Fn. 1).
36 Hans-Jörg Albrecht

Zur Beobachtung der Entwicklung und der Struktur von Gewalt stehen
verschiedene Instrumente zur Verfügung. Neben den Kriminal- und Ge-
sundheitsstatistiken geben seit etwa 50 Jahren so genannte Selbstberichts-
und Opferuntersuchungen Auskunft über individuelle Gewaltkriminalität.
Sowohl die Polizeilichen Kriminalstatistiken als auch Gesundheitsstatisti-
ken, die über Todesursachen Auskunft geben, zeigen, dass die schwerste
Gewalt, insbesondere Tötungsdelikte langfristig zurückgeht und jedenfalls
in den letzten Jahrzehnten stabil bleibt. Im Kern handelt es sich dabei in
europäischen Ländern um Gewalt, die im sozialen Nahraum auftritt. Tötun-
gen zwischen Fremden werden zu einem Randphänomen.
Die Polizeiliche Kriminalstatistik bietet in Deutschland (sowie in anderen
Ländern) die einzige Datenquelle, an Hand derer die Entwicklungen be-
stimmter Gewaltdelikte langfristig beobachtet werden können. Dabei stehen
zwei Delikte im Mittelpunkt, die in der jährlichen Präsentation der Polizei-
statistiken und in der öffentlichen Diskussion besondere Aufmerksamkeit
finden. Eine starke Zunahme zeigen Körperverletzungsdelikte und der
Raub. Bei beiden Gewaltdelikten sind es Taten im öffentlichen Raum und
auf der Straße, die zunehmend registriert werden. Keine signifikanten Ver-
änderungen ergeben sich für sexuelle Gewaltdelikte. Der Sexualrnord
nimmt im Übrigen zwischen 1987 und 2008 deutlich ab. Raubdelikte stei-
gen langfristig bis Ende der 1990er Jahre. Ein besonders starkes Ansteigen
ist dann in den 1990er Jahren festzustellen. Dies geht teilweise auf jugendli-
che Straftäter zurück, die gerade im Zusammenhang mit Straßenraub häufig
auffallen. Schwere Formen des Raubs (z. B. Bankraub) verändern sich da-
gegen kaum. Der Zuwachs an polizeilich registrierten Raubdelikten wird
wohl zum größeren Teil mit der Zunahme des Straßenraubs und der Zu-
nahme von Raubstraftaten mit relativ geringen Schäden erklärt werden
können. 23
Eine langfristige und deutliche Zunahme ist auch bei Körperverletzungs-
delikten zu erkennen. Körperverletzungsdelikte gehen, anders als dies bei
Raub der Fall ist, seit Anfang des neuen Jahrtausends nicht zurück, sondern
steigen weiter an. Auch hier ist es die Gewalt im öffentlichen Raum, auf der
Straße, die besonders stark zunimmt.
Die starke Zunahme von Raub- und Körperverletzungsdelikten hat eine
Diskussion über deren Ursachen ausgelöst. Die Diskussion geht zurück auf
ein bekanntes Problem der Polizeilichen Kriminalstatistik und eine damit
zusammenhängende Unsicherheit in der Bewertung von Veränderungen in
der Zahl erfasster Straftaten. 24 Die Polizeiliche Kriminalstatistik registriert
angezeigte Straftaten. Sie ist also abhängig von der Anzeigebereitschaft der

23 PfeifferlWetzels The structure and development ofjuvenile violence in Germany, 1999.


24 Robert/Zauberman/Nevanen/Didier Deviance et Societe 32 (2008), 435-472.
Gewaltkriminalität - Ursachen und Wirkungen 37

Opfer. Eine Zunahme von polizeilich registrierten Straftaten kann demnach


zwei Erklärungen haben. Die Zunahme kann eine Zunahme der Gewalt
widerspiegeln; die Zunahme kann allerdings auch durch eine größere An-
zeigebereitschaft bedingt sein. In Deutschland wurden bis heute - im Ge-
gensatz zu Ländern wie den USA, Niederlanden oder England - keine nati-
onal repräsentativen Opferbefragungen durchgeführt und in Abständen
wiederholt, die Aufschluss über die Frage geben könnten, ob die Anzeige-
bereitschaft zunimmt oder die Gewalt selbst. Zwar kommt es seit den
1980er Jahren immer wieder (und immer häufiger) zu Befragungen, die sich
auf erlebte Opfersituationen oder selbst begangene Gewalt (und andere
Straftaten) beziehen. Doch bleiben diese Untersuchungen (zum Dunkelfeld)
regional beschränkt oder auf bestimmte Gruppen wie Jugendliche be-
grenzt. 25
Aus den Befragungen können verschiedene Schlussfolgerungen gezogen
werden, die zunächst davon ausgehen lassen, dass die Anzeigeneigung vor
allem bei Körperverletzungen in den letzten 10 bis zwanzig Jahren auch bei
jungen Menschen zunimmt. 26 Da die Anzeigeneigung deutlich größer ist,
wenn Täter und Opfer unterschiedlichen Ethnien angehören,27 kann dann
begründet angenommen werden, dass eine zunehmende ethnische Hetero-
genität in Gesellschaften mit entsprechend zunehmenden Anzeigeraten bei
Gewaltdelikten verbunden ist. Gleichwohl wird ein erheblicher Teil (mehr
als die Hälfte) der von Jugendlichen mitgeteilten Gewalt nicht angezeigt,
die Gewaltkriminalität bleibt zu erheblichen Teilen im Dunkelfeld. 28 Der
Anstieg der Körperverletzungen ist in Dunkelfeldbefragungen, soweit diese
über längere Zeiträume in den letzten zwanzig Jahren wiederholt durchge-
ruhrt worden sind, weitaus schwächer als aus den Polizeilichen Kriminalsta-
tistiken ersichtlich. 29 Neuere Schülerbefragungen belegen rur die Zeiträume
Ende der 1990er Jahre und 2007/2008 einen teilweise deutlichen Rückgang
der erlebten und in Befragungen mitgeteilten Gewalt. 30

25 Albrecht H.-J MschKrim 81 (1998),381-398.


26 Baier, D. u. a. Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt, 2009, S. 98 f.
27 Köllisch MschKrim 92 (2009), 28-53, 45; der allgemeine Rückgang von Gewaltkriminali-
tät in den letzten 15 Jahren wird vor allem durch den British Crime Survey belegt, vgl. hierzu
Kershaw u. a. (Fn. 6), S. 5,25.
28 Baier u. a. (Fn. 26).
29 OberwittlerlKöllisch Neue Kriminalpolitik 16 (2004), 81-120.
30 Baier u. a. (Fn. 26).
38 Hans-Jörg Albrecht

IV. Ursachen der Gewalt


In der auf quantitativen Zugängen beruhenden Erklärung von Gewalt wer-
den verschiedene Ansätze verfolgt, die selbstverständlich auch Auswirkun-
gen haben auf die Frage, welche präventiven Ansätze zur Reduzierung von
Gewalt empfohlen werden. 31 In der Einleitung wurde auf Gewaltereignisse
als Kommunikationsplattform verwiesen, die solche sozialen Sachverhalte
problematisieren lässt, die als korrekturbedürftig empfunden werden. Nach
spektakulären Gewaltdelikten kommt es zu Debatten darüber, was die Ge-
walt ausgelöst hat und was getan werden muss, um solche Gewalt zu ver-
hindern. Nach dem Schulmassaker von Winnenden hat sich die Wochen-
zeitschrift "Die Zeit" an dieser Debatte beteiligt; in einem Artikel mit dem
Titel "Was geht in den Köpfen von Amokläufern vor" wurde Folgendes
ausgeruhrt:
"Nicht nur Computerspiele stehen im Dienst des Amoks, auch die Be-
richterstattung tut es. Die globale Informationsmaschinerie dürfte der
Grund sein, warum der Amoklauf an Schulen erst 1974 aufkam und seit
Littleton 1999 grassiert. Die wachsende Zahl der Medien verbreiten das
Übel wie die Pest. "32
Der Text lässt nicht erkennen, ob auch "Die Zeit" als Teil der Seuche be-
trachtet wird, verweist aber auf das Unbehagen an Medien und Vi-
deo-/Computerspielen, die als Auslöser oder jedenfalls als mitverantwort-
lich für extreme Gewalttätigkeit empfunden werden. Die Thematisierung
einer Mitverantwortung der Medien fällt vor allem dort leicht, wo, wie bei
terroristischer Gewalt, die Propaganda durch die Tat im Vordergrund steht
und Propagandavehikel benötigt werden. 33 Hervorzuheben ist allerdings,
dass Gewalt als ansteckend gesehen wird und dass Ansteckungswege durch
(laufende) Bilder sowie Ansteckungsrisiken für besonders gefährdete Grup-
pen (Junge und Dumme) vermutet werden, wie schon ein Aufsatz aus der
Zeitschrift The Scientific Monthly und dem Jahr 1921 belegt. 34 Es gibt
sodann eine ganze Reihe weiterer Kandidaten in der öffentlichen Debatte
über Ursachen der Gewalt, zu denen neben dem Alkohol und anderen Dro-
gen, Zugang zu Waffen, die Verrohung durch Krieg, Traumatisierung durch
Armut, Bildungsferne, zur Erziehung unfähige Familien, verloren gegange-
ne Grundwerte und schließlich die Gewalt selbst zählen.

31 Hardiman u. a. Youth and exclusion in disadvantaged urban areas: addressing the causes
of violence, 2004.
32 DIE ZEIT, 19.03.2009, Nr. 13.
33 Albrecht, H.-i. Schweizerische Zeitschrift für Kriminologie 1 (2002),5-17.
34 Poffenberger The Scientific Monthly 12 (1921), 336-339.
Gewaltkriminalität - Ursachen und Wirkungen 39

Geht man diese Kandidaten der Reihe nach durch, wird man durchaus
empirische Belege für Zusammenhänge mit Gewaltkriminalität finden. Es
ist bekannt, dass ein großer Anteil von Gewalttätern bei der Tatbegehung
alkoholisiert war. Dasselbe gilt allerdings für die Opfer von schwerer Ge-
walt. 35 Wir wissen auch, dass ein erheblicher Teil vor allem jugendlicher
Gewalttäter häufig mit gewalttätigen Computerspielen und dem Betrachten
von Gewaltfilmen beschäftigt ist. Nach einer intensiven Berichterstattung
über spektakuläre Gewalt nehmen teils entsprechende Gewalttaten zu, wie
nach den fremdenfeindlichen Anschlägen von Lichtenhagen zu beobachten
war,36 teils werden vermehrt Drohungen registriert, wie regelmäßig bei
Amokläufen festzustellen ist. Vermutet werden in diesem Zusammenhang
Nachahmungs- und Mobilisierungseffekte, die wohl darauf zurückzuführen
sind, dass eine bereits vorhandene Bereitschaft zur Gewalt gestützt und
ermutigt wird. 37 Im Übrigen ergeben sich Hinweise für andere Formen der
"Ansteckung" durch Gewalt. Forschungen zu erlebter Gewalt im Stadtteil
(die unabhängig ist von der Gewalt in intimen Beziehungen) belegen, dass
junge Menschen, die schwere Gewalt auf der Strasse erleben, mit höherer
Wahrscheinlichkeit selbst Gewaltstraftaten begehen werden. 38
Mit der Feststellung eines (empirischen) Zusammenhangs ist allerdings
noch nichts über einen Ursachenzusammenhang ausgesagt. Denn die Aus-
sagen können auch umgekehrt werden in der Feststellung, dass die meisten
Uungen) Menschen, die häufig Gewaltcomputerspiele spielen oder Gewalt-
filme betrachten, nicht gewalttätig werden. 39 Zwar belegen neuere Meta-
Analysen Zusammenhänge zwischen Aggression/Gewalt und Betrachten
(bzw. "Konsum") von Gewaltfilmen 40 sowie dem Engagement in Video-
spielen. 41 Auch sind die möglichen theoretischen Erklärungen für kurz- und
langfristige Folgen gewalttätiger Medien ausgearbeitet. 42 Doch bleibt es im
Wesentlichen bei Laborexperimenten sowie Untersuchungsansätzen, in
denen die angenommenen theoretischen Hypothesen nicht getestet werden
und der Feststellung von Korrelationen, die bislang jedenfalls nicht dazu
ausgereicht haben, amerikanische Richter von der Rechtfertigung eines
Eingriffs in den Zusatzartikel zur Verfassung durch Zugangsbeschränkun-

35 Vgl. beispw. Kerner in: Egg/Geisler (Hrsg.), Alkohol, Strafrecht und Kriminalität, 2000,
S. 11-26.
36 Lüdemann Soziale Probleme 3 (1992), 137-153.
37 Vgl. hierzu auch Surette Crime & Delinquency 48 (2002), 46-68.
38 BingenheimerlBrennan/Earls Science 308 (2005), 1323-1326.
39 Olson Academic Psychiatry 28 (2004), 144-150.
40 Paik/Comstock Commun Res 21 (1994), 516-546.
41 AndersonlBushman Psychological Science 12 (2001), 353-359~ AndersonlBushman
Science 295 (2002), 2377-2379.
42 Huesmann The Journal of Adolescent Health 41 (2007),6-13.
40 Hans-Jörg Albrecht

gen und -verbote bei gewaltgesättigten Videospielen zu überzeugen. 43 Das


Überwiegen von Korrelationsforschung gilt ebenso für den Alkohol- oder
Drogenkonsum, die in der Kindheit erlebte Gewalt oder schulischen Misser-
folg. Es handelt sich um Wahrscheinlichkeitszusammenhänge, die zu einern
größeren Teil wenig spezifisch für Gewalt sind (weil sie auch anderes wie
allgemeine Kriminalität und Devianz oder psychiatrische Auffälligkeiten
erklären). Zum Ausdruck kommt hier die von Popitz betonte Einsicht, dass
Menschen nie gewaltsam handeln müssen, aber immer gewaltsam handeln
können. 44 Die Korrelationen, die empirisch festgestellt werden können und
die sofort plausibel erscheinen, sagen noch nichts darüber aus, ob das Eine
die Ursache des Anderen ist. Die Plausibilität der Annahmen wird zunächst
vor allem dadurch gestützt, dass tendenziell davon ausgegangen wird, dass
"Böses auch Böses zeugt".45 Eine solche Forschungsperspektive kann auch
als "Defizitvorstellung" von Gewalt bezeichnet werden: soziale Pathologien
verursachen Gewalt.46
Die in empirischen Untersuchungen festgestellten Zusammenhänge sind
dann mehr oder weniger stark ausgeprägt und können ferner auch dadurch
erklärt werden, dass andere Merkmale der Situation oder aus der Vorge-
schichte beides erklären, den schulischen Misserfolg und die Gewalttätig-
keit, exzessiven Alkoholkonsum und Gewalt. 47 Frühe Verhaltensauffällig-
keiten von Kindern sagen beides voraus: ein höheres Risiko von Gewalt-
tätigkeit und ein höheres Risiko von schulischem Versagen und Alkohol-
und Drogenkonsum. Bekannt ist beispielsweise, dass die Auswirkungen des
Alkohols sehr stark durch die jeweilige Umgebung, in der Alkohol getrun-
ken wird, moderiert sind. Kulturell angepasste und stark kontrollierte Trink-
situationen sind mit einern sehr viel geringeren Risiko von Gewalt auch
dann verbunden, wenn erhebliche Mengen Alkohol konsumiert werden.
Die Ursachen von Gewalt werden in Besonderheiten des Täters und sei-
ner Entwicklung, in sozialen Strukturen, in seiner Umwelt und den hier
wirkenden Kräften sowie in der Situation selbst vermutet. Allerdings zeigt
die bereits vorgestellte Bandbreite der Gewaltphänomene, dass sich einheit-
liche Erklärungen nur schwer vorstellen lassen.

43 Lesenswert die Entscheidung United States Court 0/ Appeals/or the Seventh Circuit, No.
00-3643, American Amusement Machine Association et al. v. Teri Kendrick et al., in der die
Handschrift William Posners zu erkennen ist.
44 Popit= Phänomene der Macht, 1992, S. 50.
45 1mbusch Journal für Konflikt- und Gewaltforschung 7 (2005), 99-122.
46 Von Trotha (Fn. 1), S. 9-58,18.
47 SweetenlBushwaylPaternoster Criminology 47 (2009),47-92. Der starke Zusammenhang
zwischen Schulabbruch und Kriminalität \vird fast ausschließlich durch früher liegende Prob-
leme (frühe Verhaltensauffälligkeiten, lang andauernde Schulprobleme, polizeilich registriertes
kriminelles Verhalten) erklärt (S. 77).
Gewaltkriminalität - Ursachen und Wirkungen 41

Es gilt als ausgemacht, dass aus Gewalt Gewalt folgt. Volksweisheiten


überliefern nachdrücklich diese Überzeugung und nicht umsonst ist im
Gewaltmonopol des modemen Staates vor allem das Verbot der vergelten-
den Gewalt angelegt und nicht von ungefähr generieren alle Kulturen Me-
chanismen, mit denen die in der Gewalt liegenden Potentiale der (eskalie-
renden) Vergeltung eingefangen werden sollen. Insoweit überrascht die
Vermutung nicht, die an Kindern verübte Gewalt lasse die Opfer später
selbst zu Gewalttätern werden. Eine überwältigende Mehrheit der europäi-
schen Bevölkerung nimmt jedenfalls an, dass die als Kind erfahrene Gewalt
Ursache späterer Gewalttätigkeit sei. 48 Im Jahre 1989 hat Cathy Spatz
Widom in der Zeitschrift Science einen Text veröffentlicht, dem sie den
Titel "Der Kreislauf der Gewalt" (The Cycle of Violence) gegeben hat. 49
Sie hat in diesem Text das Problem der Übertragung von Gewalt entlang der
Generationen aufgegriffen und damit auch eine Fragestellung aufgeworfen,
die wenig später im gewalttätigen Zerfall des ehemaligen Jugoslawien und
im Genozid in Ruanda aus einer etwas anderen Perspektive Bedeutung
bekommen sollte. Denn die Organisatoren der Gewalt im ehemaligen Jugos-
lawien und in Ruanda haben sich in Anstiftung und Durchführung des Mas-
senmords nicht zuletzt auf eine geteilte Leidens- und Opfergeschichte beru-
fen und damit einen wirksamen Mechanismus zur Auslösung kollektiver
Gewalt betätigt. 50
In einer der ersten großen Längsschnittstudien zu den Auswirkungen von ·
Kindesmisshandlung wurden misshandelte Kinder mit einer Gruppe nicht
misshandelter Geschwister verglichen. Während Jugendkriminalität in der
misshandelten Gruppe bei 160/0 auftrat, betrug diese Rate in der Gruppe der
nicht misshandelten Geschwister etwa 80/0. 51 Die eingangs erwähnte Cathy
Spatz Widom hat die bis heute wohl am breitesten angelegte und einfluss-
reichste Längsschnittstudie zur Überprüfung von Zusammenhängen zwi-
schen familiärer Gewalt und späterer Kriminalität der kindlichen Opfer
durchgeführt. Einbezogen wurden in diese Studie jugendamtlich registrierte
und eindeutig diagnostizierte Fälle von Kindesmisshandlung, -vernach-
lässigung und sexuellem Missbrauch aus den Jahren 1967 - 1971, wenn die
Opfer 11 Jahre oder jünger waren. 52 Eine Kontrollgruppe enthielt solche

48 Eurobarometer 51.0: Europeans and Violence Against Children. Report by INRA (Eur-
ope), 4. Juni 1999, S. 57: etwa drei Viertel der Befragten gehen davon aus, dass in der als Kind
erfahrenen Gewalt eine Ursache der Gewalt liege.
49 Spatz Widom Science 244 (1989), 160-166.
50 Weher Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, 2005; Blass Ho-
locaust and Genocide Studies 7 (1993), 30-50.
51 BoltonlReichlGutierres Victimology 2 (1977), 349-357.
52 Spatz WidomlMaxfield An Update on the "Cycle of Violence". Results of a longitudinal
study, 2001.
42 Hans-Jörg Albrecht

Fälle ohne festgestellte Misshandlung, die entlang Alter, Geschlecht, Ethnie


und sozio-ökonomischem Status parallelisiert waren. Für beide Gruppen
wurden über knapp 30 Jahre hinweg relevante Daten aus amtlichen Statisti-
ken erhoben. Die Resultate sind nicht spektakulär; die Korrelation zwischen
Misshandlung und späteren Belastungen ist eher schwach, sie entspricht
aber den Vermutungen. Misshandelte oder vernachlässigte Kinder werden
als Jugendliche und als Erwachsene häufiger straffällig als die Angehörigen
der Kontrollgruppe. Sie werden früher auffällig als Nichtmisshandelte und
begehen mehr und auch schwerere Straftaten; insbesondere ist die Quote der
chronischen Straftäter und der Gewaltstraftäter erhöht. 53
Diese Zusammenhänge reihen sich ein in eine Kette anderer Risikofakto-
ren aus den frühen Lebensjahren, die jeweils eine geringe Erklärungskraft
für späteres Verhalten haben. 54 Der Befund eines nur schwachen Zusam-
menhangs deckt sich mit den Ergebnissen einer neueren Metaanalyse, in der
die Brauchbarkeit verschiedener im Kindheitsalter gemessener Variablen
für die Vorhersage von schwerer Jugendkriminalität und Jugendgewalt
untersucht wurde. Die Effektstärke von Kindesmisshandlung ist danach
eher gering; sie fällt in dieser Metaanalyse hinter diejenige anderer Variab-
len zurück. 55 Alle Studien, die den Gewaltkreislauf (oder Problemkreislaut)
beschreiben und Zusammenhänge belegen, verweisen zudem darauf, dass
die meisten misshandelten, vernachlässigten oder missbrauchten Kinder
später nicht wegen schwerer Straftaten, insbesondere wegen Gewaltkrimi-
nalität, auffallen.
Lange Zeit herrschten in der Erklärung von Gewalt psychiatrische und
psychologische Ansätze vor, teilweise wurden genetische Defekte oder
Störungen von Gehirnfunktionen vermutet, die dem Film "Clockwork
Orange" zur Vorlage dienten. Vorstellungen darüber, dass bestimmte For-
men der Geisteskrankheit oder genetischer Abweichungen mit einer erhöh-
ten Auffälligkeit mit Gewalt oder sexueller Gewalt zusammenhängen, ha-
ben sich als nicht zutreffend erwiesen. 56 Andererseits lassen sich Zusam-
menhänge zwischen genetischen Ausprägungen und Gewalt beobachten,
ferner Interaktionen zwischen Kontrollvariablen und genetischen Bedin-
gungen, die allerdings bislang theoretisch nicht erklärt werden können. 57

53 Spat= WidomiMaxfield (Fn. 52), S. 3.


54 Farrington Predictors, Causes, and Correlates of Male Youth Violence. Crime and Jus-
tice. An Annual Review of Research. Bd. 24, 1998, S. 440~ Fergusson/Boden Child Abuse &
Neglect 30 (2006), 89-1 08~ Eisner/RibeaudlJünger/Meidert Frühprävention von Gewalt.
Ergebnisse des Zürcher Interventions- und Präventionsprojektes an Schulen, 2008, S. 33.
55 Lipsey/Derzon in: Loeber/Farrington (Hrsg.), Serious and Violent Juvenile Offenders.
Risk Factors and Successful Interventions, 1998, S. 86-105.
56 Elbogen/Johnson Archives of General Psychiatry 66 (2009), 152-161.
57 Guo/Roeuger/Cai The American Sociological Review 73 (2008), 543-568.
Gewaltkriminalität - Ursachen und Wirkungen 43

Die Gehirnforschung gibt ferner Hinweise dafür, dass bestimmte neuronale


Systeme für das Auftreten von Gewalt wirksam werden, vermag aber nicht
zu sagen, wie genau und warum sich Veränderungen in solchen Systemen
auf Gewalt auswirken. 58 Sieht man davon ab, dass frühe Verhaltensauffal-
ligkeiten bei Kindern einen relativ guten Prädiktor für Gewalt (allerdings
auch für anderes Problemverhalten) darstellen,59 dann bleibt im Wesentli-
chen die Gewissheit, dass die Situation und der soziale Kontext eine min-
destens ebenso bedeutsame Rolle für die Erklärung von Gewalt spielen wie
individuelle Besonderheiten. Dies wird nicht zuletzt durch das Milgram-
Experiment demonstriert, das vor einiger Zeit mit denselben Ergebnissen
wie in den 1960er Jahren wiederholt worden ist. 60
Die Forschung hat sich in den letzten Jahrzehnten in der Suche nach Ge-
waltursachen vor allem auf soziale Strukturen und grundlegende gesell-
schaftliche Veränderungen konzentriert. So wird nachlassender gesell-
schaftlicher Integration in der Erklärung von Gewalt große Aufmerksamkeit
gewidmet. Europäische Gesellschaften werden heterogener, wozu eine
zunehmende Immigration beiträgt. Dies geht Hand in Hand mit einem Pro-
zess, der als Individualisierung bezeichnet wird, und einer Veränderung der
Ökonomie und der Arbeitsmärkte. Individualisierung meint, dass die Bin-
dungskraft gesellschaftlicher Institutionen schwindet, dass die Zugehörig-
keit zu fest etablierten sozialen Gruppen und Organisationen (Vereine, Par-
teien, Gewerkschaften, Kirchen etc.) nicht mehr selbstverständlich ist und
dass die Orientierung an Normen schwächer wird. 61 Damit erhöht sich of-
fensichtlich für bestimmte Gruppen das Problem, soziale Anerkennung zu
finden, sozial aufzusteigen und an gesellschaftlichen Entwicklungen erfolg-
reich teilzuhaben. 62 Das Verschwinden einfacher Arbeit trägt zur Verstär-
kung der Probleme bei. Mit einer geringeren Orientierung an Normen ge-
winnt das Kosten-Nutzen-Kalkül an Bedeutung. 63 In solche Prozesse der
Desintegration lässt sich die Gewalt, auch und vor allem, wenn sie kollektiv
auftritt, einordnen. 64 Jedoch werden mit der Stellung in der Sozialstruktur
und individuellen Belastungen Risikokonstellationen sichtbar, die durch den

58 King u. a. NeuroImage 30 (2006), 1069-1076.


59 White/Mojfitt/Earls/Robins/Silva Criminology 28 (1990), 507-533.
60 Mi/gram Journal of Abnormal and Social Psychology 67 (1963), 371-378~ Burger Ameri-
can Psychologist 64 (2009), 1-11.
61 Blinkert Soziale Welt 39 (1988), 397-412.
62 Heitmeyer/Anhut in: Heitmeyer/Legge (Hrsg.), Youth, Violence, and Social Disintegra-
tion. New Directions for Youth Development, 2008, S. 25-37~ vgl. auch die Entwicklungen in
Ländern, die durch plötzlichen und schnellen sozialen Wandel erfasst waren, Pride-
more/Chamlin/Cochran Justice Quarterly 24 (2007), 271-290.
63 Blinkert (Fn. 61).
64 Waddington/King The Howard Journal 48 (2009), 245-256.
44 Hans-Jörg Albrecht

jeweiligen sozialen Kontext wiederum moderiert werden. Offensichtlich


folgt daraus, dass sozialstrukturell benachteiligte und individuell belastete
Personen sich in bestimmten Räumen konzentrieren und dass durch eine
solche Konzentration erst Bedingungen geschaffen werden, die zu einem
höheren Ausmaß an Gewalt führen. Dies zeigt sich daran, dass junge Men-
schen mit wenigen Risikofaktoren dann höher mit Gewalt belastet sind,
wenn die soziale Umgebung durch erhebliche Risiken gekennzeichnet ist.
Andererseits wirkt sich ein Gewalt entmutigender Kontext (starke informel-
le Kontrolle, hohe Konzentration von Personen mit wenig Risikofaktoren)
offensichtlich so aus, dass auch hoch belastete Personen wenig Gewaltdelik-
te begehen. 65 Eine eng verwandte Fragestellung ergibt sich auf kollektiver
Ebene und mit Bezug auf die Ausübung wirksamer (informeller) sozialer
Kontrolle. 66
Die Bedeutung von Gangs und anderen Gruppen für das Ausmaß an Ge-
walt wird in europäischen Ländern (eingeschlossen Deutschland) erst in
neuerer Zeit thematisiert. Mitglieder von Straßengangs sind, erwartungsge-
mäß, höher mit Gewalt belastet als junge Menschen, die keiner Gang ange-
hören. 67 Gewalt, die aus Gruppenzusammenhängen oder Kollektiven heraus
erfolgt, sollte auch aus der Perspektive von Neutralisierung und Rechtferti-
gung betrachtet werden. 68 Gewalt wird begleitet von Rechtfertigungen, die
dem Täter die Verantwortung nehmen und Handlungen begründen lassen.
Gerade bei jungen Männern spielen dabei männliche Ehre, Ehrverletzungen
und die Solidarität mit den peers eine erhebliche Rolle. 69 Denn die Gewalt
junger Männer ist wesentlich bestimmt durch die Motive "männliche Ehre",
Solidarität mit Freunden und "Lust auf Gewalt". 70 Eingebettet sind diese
Motive in Gruppenloyalität und Statussuche und -erhalt. Ob sich insoweit
aber eine besondere ethnisch geformte Kultur der Ehre, Achtung und des
Ansehens 71 abbilden lässt, die zudem Mehrwert im Hinblick auf die Erklä-
rung der Gewalt junger Männer mit sich bringt, mag bezweifelt werden.
Jedenfalls existieren bislang keine Hinweise darauf, dass sich junge männli-
che Immigranten von sozial ähnlich platzierten autochthonen Gruppen im

65 Nunner-WinklerlNikelelWohlrab Journal für Kontlikt- und Gewaltforschung 7 (2005),


123-146.
66 SampsonlRaudenbush/Earls Science 277 (1997), 918-924.
67 KleinlWeermanlThornberry European Journal of Criminology 3 (2006), 425 f.
68 SykeslMatza American Sociological Review 22 (1957), 664-670.
69 Miller in: Sack/König (Hrsg.), Kriminalsoziologie. 3. unveränd. Aufl. 1979, S. 339-359~
GrahamlWells British Journal of Criminology 43 (2003), 546-566~ Wilms Ehre, Männlichkeit
und Kriminalität, 2009.
70 Graham/Wells (Fn. 69), 560~ TrevorlBrookman International Review of Law, Computers
& Technology 22 (2008), 171-180.
71 Gesemann Junge Zuwanderer und Kriminalität in Berlin. Bestandsaufnahme - Ursachen-
analyse - Präventionsmaßnahmen, 2004, S. 67.
Gewaltkriminalität - Ursachen und Wirkungen 45

Hinblick auf diese Handlungsmotive (und Auslöser von Gewalt) unter-


scheiden. Dafür sprechen auch Untersuchungen zu Männlichkeitsnormen
und Gewaltkriminalität, die davon ausgehen, dass es sich bei gewaltlegiti-
mierenden Männlichkeitsnormen "weniger um einen ethnisch spezifischen
kulturellen Faktor handelt", sondern um normative Orientierungen, die in
Situationen sozialer Benachteiligung und Ausgrenzung entstehen72 und auch
auf kollektive Reaktionsbildung und politische Akteure verweisen. 73
Die Erklärung von Gewalt tendiert dazu, außer Acht zu lassen, dass viele
Gewalttäter auch Opfer von Gewalt sind. 74 Täter- und Opferrollen überlap-
pen sich, wobei das Ausmaß der Überlappung nach den Befunden der For-
schung beträchtlich ist, jedoch Gruppen nicht ausschließt, in denen jeweils
Täterschaft oder Viktimisierung überwiegen. 75 Die strikte Trennung zwi-
schen Gewalttäter und Gewaltopfer wird auch sichtbar in Präventions- und
Unterstützungsprogrammen, die sich entweder auf Opfer oder auf Täter
konzentrieren und davon ausgehen, dass Täter und Opfer jeweils distinkte
Gruppen bilden. 76
Werden Gewalttäter Opfer von Gewalt, dann handelt es sich häufig um
vergeltende Gewalt oder Rache. Die Bedeutung von vergeltender Gewalt
wurde bislang kaum aufgegriffen,77 obwohl bekannt ist, dass diese vor al-
lem dort, wo Opfer nicht anzeigen können, die einzige Möglichkeit ist, auf
Übergriffe wie Raub oder Diebstahl zu reagieren. In Subkulturen wird zu-
dem von der Anzeige und der Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden
auch deshalb kein Gebrauch gemacht, weil generell wenig Vertrauen in
staatliche Institutionen vorhanden ist. 78 Erst in jüngerer Zeit wird die Stra-
ßengewalt auch unter der Perspektive vergeltender Gewalt untersucht. Da-
bei wurde deutlich, dass vordergründig nichtige Anlässe den Ausgangs-
punkt für schwere (vergeltende) Gewalt darstellen können. Denn mit
vergeltender Gewalt wird nicht nur ein Ausgleich für wahrgenommene
Verletzungen verbunden. Vielmehr soll die Gewalt auch dafür sorgen, dass
Angriffe in der Zukunft unterbleiben. Damit ist eine prekäre Situation er-
öffnet. Vergeltende Gewalt wird von dem Opfer in aller Regel als exzessiv
betrachtet79 und trägt deshalb ein besonderes Risiko von Gewaltspiralen in

72 En=mann/Brettfeld/Wet=els in: Oberwittler/Karstedt (Hrsg.), Soziologie der Kriminalität,


2004, S. 264-287.
73 Jobard The Howard Journal 48 (2009), 235-244.
74 Killias/Rabasa British Journal of Criminology 37 (1997), 446-457; Schreck/Stew-
art/Osgood Criminology 46 (2008),871-905; für Deutschland vgl. Baier u. a. (Fn. 26), S. 47.
75 Schreck u. a. (Fn. 74), 894.
76 Hierzu Stevens u. a. European Journal of Criminology 4 (2007), 385-408.
77 Felson/Steadman Criminology 21 (1983),59-74.
78 Misse Deviance et Societe 32 (2008), 495-506.
79 Sukhwinder/Bays/Frith/Wolpert Science 301 (2003), 187.
46 Hans-Jörg Albrecht

sich. Aus Schülerbefragungen (in denen allerdings auf diese Fragestellung


bislang nicht vertiefend eingegangen wurde) ist bekannt, dass Selbstjustiz
und Vergeltung (anstelle einer informellen Einigung oder Anzeige) eine
eher untergeordnete Rolle spielen. Jedoch ist die Selbstjustiz bei heteroeth-
nischen Täter-Opfer-Beziehungen und bei der Zugehörigkeit des Opfers zu
einer delinquenten Clique deutlicher ausgeprägt. Im Übrigen steigt der
Anteil mit dem Alter des Opfers; die Unterschiede zwischen männlichen
und weiblichen Jugendlichen sind beträchtlich. 80
Als besonders gewaltgeneigt gelten illegale Märkte, in denen der Zugang
zu staatlicher Streitentscheidung verschlossen ist. 81 So werden extreme
Entwicklungen in der Tötungskriminalität in den USA der 1980er Jahre
teilweise darauf zurückgeführt, dass sich illegale Drogenmärkte ausweiten,
in denen Konkurrenzkämpfe um Marktanteile gewalttätig ausgetragen wer-
den. Der Handel mit Crackkokain steht dabei im Mittelpunkt. 82 Der extreme
Anstieg der Tötungskriminalität in den letzten Jahren in Mexiko wird dem
Drogenmarkt und dort ausgetragenen Konkurrenzkämpfen zugerechnet. 83
Femer haben Gewaltmärkte und Konfliktressourcen seit den 1990er Jahren
im Zusammenhang mit Bürgerkriegen die Aufmerksamkeit auf sich gezo-
gen. 84 Allerdings ist zur Rolle der Gewalt in illegalen Märkten über allge-
meine und plausible Annahmen hinaus immer noch wenig bekannt. Quer-
schnitts- und Längsschnittanalysen verweisen darauf, dass sich Drogen-
märkte und andere illegale Märkte im Auftreten von Gewalt erheblich un-
terscheiden können. Dies wird einerseits mit Eigenheiten von illegalen
Märkten zusammenhängen, wenn es um die Konsolidierung und Neuord-
nung von Märkten nach erfolgreichen Eingriffen der Strafverfolgungsbe-
hörden geht. 85 Andererseits wird bereits seit langer Zeit darauf hingewiesen,
dass Cannabismärkte im Vergleich zu Märkten harter Drogen vergleichs-
weise friedlich sind. Teilweise dürften Entwicklungen eine Rolle spielen,
die das Ausmaß der Beteiligung von Polizisten oder Militärs an illegalen
Transaktionen, das Aufgreifen einer politischen Agenda durch kriminelle
Organisationen (wie für die durch das Medellin Kartell in den 1980er Jah-

80 Köllisch (Fn. 27), 44 f.


81 Snyder/Duran-Martine= Crime, Law & Social Change 52 (2009),253-273.
82 Bowling British Journal of Criminology 39 (1999), 531-554~ Ousey/Lee Justice Quarterly
24 (2007), 48-79.
83 Reuter Crime, Law & Social Change 52 (2009), 275-284.
84 Elwert u. a. (Hrsg.) Dynamics of Violence. Processes of Escalation and De-Escalation in
Violent Group Conflicts, 1999~ Cilliers/Dietrich (Hrsg.) Angola's War Economy. The role of
oil and diamonds, 2000~ vgl. auch Resolution 1625/2005 des Sicherheitsrats der Vereinten
Nationen, in der die Bedeutung von natürlichen Ressourcen für die Entstehung und die Fort-
führung "neuer" Kriege und hiermit zusanlmenhängender Verbrechen gegen die Menschlich-
keit anerkannt wird.
85 Friman Crime, Law & Social Change 52 (2009), 285-295.
Gewaltkriminalität - Ursachen und Wirkungen 47

ren in Kolumbien ausgelöste Gewaltwelle angenommen) oder umgekehrt


den Einstieg politischer Gewaltakteure in illegale Märkte betreffen. 86 Auch
für Zusammenhänge zwischen illegalen Märkten und Gewalt dürfte schließ-
lich eine Rolle spielen, dass sie sich als soziale Kommunikationsplattform
für weitergehende politische Agenden eignen und deshalb immer kritisch
hinterfragt werden sollten. 87

v. Zusammenfassung
Das Aufgreifen von Gewalt durch die Kriminologie ist selektiv und wohl
sehr stark bedingt durch eine soziale Sensibilisierung fur Gewalt, die trotz
einer langfristigen Abnahme von Gewalt vor allem auf die individuelle
Gewalt junger Menschen ausgerichtet ist. Sichere Gewaltursachen, die über
Wahrscheinlichkeitszusammenhänge hinausgehen, lassen sich nicht identi-
fizieren; dies ist angesichts der Vielfältigkeit von Gewaltphänomenen er-
wartungsgemäß. Gewalt konzentriert sich in bestimmten Gruppen (und
Regionen), sie ist sehr stark von sozialen Kontexten und Situationen abhän-
gig, zu denen auch das Strafrecht gehört. Phänomene vergeltender Gewalt,
von Gewaltmärkten und instrumenteller Gewalt verweisen auf die Bedeu-
tung der Akteure, die bislang in den quantitativen Analysen der Gewalt nur
ganz undeutlich zu erkennen sind. Gewalt ist schließlich immer mit (Akti-
ons-)macht verbunden. Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf Rechtfertigungs-
systerne der Gewalt. Gewalt wird vor allem dort zu einem besonderen Prob-
lem, wo schützende Faktoren in der Umgebung und in der Person fehlen.

86 Silke Studies in Conflict & Terrorism 21 (1998), 331-361 ~ Schbley Studies in Conflict &
Terrorism 23 (2000), 175-196~ Friman (Fn. 85), 207.
87 Naylor (Fn. 14),238 ff.
So genannte "Amokläufe" aus
kriminologischer Sicht

BRITTA BANNENBERG

I. Einleitung
Die empirische Erforschung von Tötungsdelikten, die Amokläufe genannt
werden, ist mit methodischen Schwierigkeiten verbunden. Der Begriff
"Amok" ist unpassend, womit sich die Frage stellt, welche Phänomene zu
untersuchen sind. Die auf malaiische Ursprünge zurückgeführte Definition
einer Tat mit tödlichen Folgen, die unvermutet, spontan, nicht geplant und
willkürlich geschieht, gefolgt von Amnesie, Erschöpfung oder Suizid, ist
nur historisch interessant. L2 Diese Merkmale treffen auf die hier interessie-
renden (versuchten und vollendeten) Tötungsdelikte nicht zu. Weder han-
delt es sich um spontane, unvermutete Taten, noch ist nach der Tat eine
Amnesie festzustellen. Fälle, die das Etikett "Amok" (meistens durch die
Medien) angehängt bekommen, sind im schulischen Bereich lange geplante
Gewalttaten mit übersteigerten Hass- und Rachephantasien, die meistens im
ebenfalls geplanten Suizid enden. Das Motiv erschließt sich nicht (in man-
chen Fällen nie), und gerade deshalb geschehen diese Taten für Außenste-
hende völlig unerwartet. Im Falle der Schulen werden Tötungsdelikte an als
sicher geglaubten Orten begangen und tragen damit zu einer erheblichen
gesellschaftlichen Verunsicherung bei. Und es gibt Nachahmungseffekte,
die die Besonderheit dieser Tötungsdelikte kennzeichnen. Täter kalkulieren
bewusst die Wirkung ihrer Tat in den Medien, auch wenn sie den Suizid
mitplanen und durchführen. Sie weichen in ihrem Risikoprofil deutlich von
Intensivgewalttätem ab und zeigen deshalb im Vorfeld keine oder nur ge-
ringfügige aggressive Verhaltensauffalligkeiten. In der Analyse fiel das

I Für die historische und kulturelle Betrachtung sind die Beiträge von Knecht Kriminalistik
1998, 681-684~ Weilbach Kriminalistik 2007, 119-127~ Adler Amok. Eine Studie, 2000 und
Adler in: Wolfersdorf/Wedler (Hrsg.), Terroristen - Suizide und Amok. 2002, S. 60-72 jeweils
m. w. N. interessant.
2 Dilling/Freyberger Taschenführer zur ICD-l 0 Klassifikation psychischer Störungen 2008,
Stichwort Amok; der Begriff wird in Lexika skizziert, entspricht aber keinem Merkmal in
psychiatrischen Diagnosesystemen.
50 Britta Bannenberg

bruchstückhafte Wissen Einzelner von bedrohlichen Anzeichen auf, die


aber nirgends zu einem Gesamtbild zusammen gefugt wurden. Die disku-
tierte Begrenzung des Phänomens auf "school shootings"3 scheint nicht
sinnvoll, da es Fälle gibt, in denen Lehrer/innen erstochen, Tatplanungen
mit Schusswaffen mangels Verfiigbarkeit aufgegeben und die Taten mit
Messern und Sprengmirteln verübt wurden. In einem Fall wurde eine "Er-
satzhandlung" der Tötung mit Messern an einem Ehepaar verübt, obwohl zu
einem früheren Zeitpunkt Überfälle der Schule mit Schusswaffen geplant
waren. Die Konstellationen scheinen klar vergleichbar. In einigen Fällen
hängt es von der Verfiigbarkeit von Schusswaffen ab, ob und in welcher
Weise eine Tat ausgeführt wird. Teilweise werden bei der Analyse von
"school shootings" Fälle ausgenommen, in denen (nur) einzelne Personen
(häufig Lehrer) getötet werden, scheinbar gezielt in einer Art Racheakt. 4
Auch hier ist die Ausnahme fraglich, weil das Motiv der Rache an Einzel-
nen zu hinterfragen ist und es teilweise vom Zufall des Geschehens abhängt,
ob es zu weiteren Attacken kommt. Die Erforschung der Einzelfälle ist
mühsam und gleicht einem Puzzlespiel, das am Ende ein erstaunliches Bild
eines Täters ergibt, der große Probleme hatte, die aber von der Umwelt
nicht bemerkt wurden. Auch stoßen empirische Recherchen an Grenzen.
Die meisten Täter sind tot und wurden deshalb nicht tatzeitnah begutachtet.
Die Tätereltern schweigen in der Regel und entbinden frühere Therapeuten
nicht von der Schweigepflicht. Zusammenfassend zeigt sich ein sehr kom-
plexes Zusammenspiel von Ursachen mit der problematischen Persönlich-
keitsentwicklung von Jungen mit Rückzugsverhalten und Selbstwertprob-
lemen.

11. Methoden und Untersuchungsgegenstand


Untersucht wurden Strafakten von 15 vollendeten und versuchten Mord-
fällen aus den Jahren 1994 bis 2009 (ein Fall stammt aus 1978) mit Mehr-
fachtötungen aus unklarem Motiv. In der Regel handelten die männlichen
Täter im Alter von 14 bis 24 Jahren allein und begingen anschließend Sui-
zid. Es gab auch Fälle, in denen zwei und drei Täter handelten. Neben der
Strafaktenanalyse wurden Gespräche mit Hinterbliebenen, Opfer- und Tä-
terfamilien, Zeugen sowie noch lebenden (im Strafvollzug befindlichen)

3 Robert::: School Shootings. Über die Relevanz der Phantasie für die Begehung von Mehr-
fachtötungen durch Jugendliche, 2004, S. 19 f. unter Berufung auf amerikanische Studien. Der
präferierte Begriff wird inhaltlich nicht näher erläutert und soll zudem - widersprüchlich -
"Tötungen oder Tötungsversuche durch Jugendliche an Schulen, die mit einem direkten und
zielgerichteten Bezug zu der jeweiligen Schule begangen werden", umfassen, a.a.O. S. 21.
4 Newman/Fox/Harding/Mehta/Roth Rampage. The Social Roots of Schoal Shoatings, 2004.
So genannte "Amokläufe" aus kriminologischer Sicht 51

Tätern geführt. Die Taten fanden an Schulen und Ausbildungsstätten statt,


zum Teil aber auch an anderen Orten, wobei sich mindestens eine frühere
Tatplanung auf die Schule bezog. Da die jungen Täter gegenüber erwachse-
nen Tötungsdelinquenten Besonderheiten aufweisen, sind sie gesondert zu
betrachten. 5
Auch von Erwachsenen werden Tötungen verübt, die als Amoktaten be-
zeichnet werden: Tötungen durch Männer im familiären Kontext ("Famili-
enauslöschungen") mit sich anschließendem Bilanzsuizid. Die Täter ent-
sprechen nicht dem Bild typischer Gewalttäter mit sozialen Risikofaktoren,
sie sind unauffälliger und im Vorfeld der Tat nicht durch Gewalt gegen ihre
Partnerin und die Kinder polizeibekannt geworden. Sie begehen ihre Taten
für Außenstehende oft überraschend und öfter mit verfügbaren Schusswaf-
fen. 6 Auch Tötungsdelikte durch Männer, die eher wahllos auf andere Men-
schen losgehen und versuchen, diese mit Schuss- oder Hieb- und Stichwaf-
fen zu töten, nennt man zuweilen Amok. Häufig liegt ein psychotischer
Hintergrund vor, d.h. diese Täter sind psychisch krank, fühlen sich verfolgt,
wollen einem vermeintlichen Angriff durch Tötung zuvorkommen oder sich
an der Gesellschaft rächen.
Man kann alle diese Taten besser als versuchte oder vollendete Mehrfach-
tötungen mit (zunächst) unklarem Motiv bezeichnen. Ein Motiv gibt es
immer, manchmal ist es aber nur dem Täter einsichtig. Die "klassischen"
Tatmotive für ein derart schweres Verbrechen (etwa Eifersucht, Raub und
Habgier) drängen sich in diesen Fällen jedoch nicht auf, vielmehr erschei-
nen die Taten zunächst motivlos und schwer erklärbar.
Die Forschung hat dabei einige spezifische Probleme zu bewältigen. Die-
se Tötungsdelikte sind äußerst selten. Es kann daher aus wissenschaftlicher
Sicht nur eine Annäherung an diese Art Tötungsdelikte geben, wenn Einzel-
fälle von vollendeten und verhinderten Taten sowie ernsthaften Drohungen
analysiert werden. 7 Der Versuch der posthumen Persönlichkeitsbeurteilung
ist als "psychologische Autopsie" bekannt, 8 stößt hier aber auch wegen des
äußerst schwierigen Zugangs zu den Familien der Täter an Grenzen, wobei

5 Ausführlich Bannenberg Amok. Ursachen erkennen, Warnsignale verstehen, Katastrophen


verhindern, 2010.
6 Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht European Homicide-
Suicide Study (noch laufend), (http://ehss.mpicc.dc)~ Killias Crimiscope 33 (2006).
7 MoorelPetrielBraga/McLaughlin Deadly Lessons. Understanding LethaI School Violence.
Case Studies of School Violence Committee. National Research Council and Institute of
Medicine (Hrsg.), 2003, ausführlich zur Methode~ Newman et al. (Fn. 4), die eine hervorragen-
de und intensive Analyse über drei junge Täter vorgenommen haben~ Bannenberg (Fn. 5)~ dies.
forum kriminalprävention 2/2009, 2 f.
8 Vgl. etwa den Überblicksartikel von PouliotlDe Leo Suicide and Life-Threatening Behav-
ior 36 (2006), 491-510 m. w. N. sowie SniderlHanelBerman Suicide and Life-Threatening
Behavior 36 (2006), 511-519.
52 Britta Bannenberg

Schuldgefühle, Abschottung der Familiengeschichte und Verdrängung si-


cher eine große Rolle spielen. Gespräche und Testverfahren mit der Person
selbst entfallen zwangsläufig. Die weiteren Informationen des sozialen
Umfelds, Akteninformationen, Berichte von Menschen, die den Täter erlebt
haben (beispielsweise Lehrer und Mitschüler) und insbesondere Aufzeich-
nungen des Täters selbst sind geeignet, sich ein Bild über die Person zu
machen. Die Akteninhalte in den länger zurückliegenden Fällen sind weni-
ger ausführlich und lassen viele Fragen offen. Zuweilen gelingen aber doch
ausführliche Gespräche mit Eltern, Geschwistern, Zeugen oder den überle-
benden Tätern selbst. Besonders informativ sind vorhandene psychiatrische
Begutachtungen oder Analysen der Aussagen überlebender Täter. Die EI-
tern-Kind-Beziehung ist wichtig. Eltern können Auskunft über das Verhal-
ten und die Beziehung zu ihrem Kind geben.
Aus kriminologischer Sicht sind alle Informationen untereinander und mit
internationalen Forschungsergebnissen zu vergleichen. Mittlerweile liegen
neben Originaldokumenten einige ausführliche Studien vor, wenn auch der
Forschungsbedarf noch erheblich ist. 9 Danach lassen die Einzelfallanalysen
bisheriger vollendeter Tötungsdelikte sowie vieler Drohungsfälle wichtige
Parallelen erkennen, die für die Prävention im weiteren Sinne nutzbar ge-
macht werden können.

111. Ergebnisse
1. Charakteristika und Auffälligkeiten der Täter sowie typische
Konstellationen
Anders als der Begriff Amok mit malaiischem Ursprung vermuten lässt,
sind die in Frage stehenden Mehrfachtötungen weder spontan und unvor-
hersehbar noch in "Raserei" begangen worden, auch lag bei noch lebenden
Tätern keine Amnesie vor. Die Taten waren in der Regel lange geplant. Aus
der Einzelfallanalyse bisheriger Taten 10 fallen Parallelen bei den jungen -

9 Gaertner Ich bin voller Hass - und das liebe ich. Dokumentarischer Roman. Aus den Ori-
ginal-Dokumenten zum Attentat an der Columbine Highschool, 2009. Die Original Colum-
bine-Dokumente mit 10.937 Seiten aus den polizeilichen Ermittlungsakten des Jefferson
County Sheriffs Office sowie 946 Originalseiten aus den Hinterlassenschaften der Täter
wurden im Internet veröffentlicht. Zum Fall an der Virginia High Tech im April 2007 haben
die Familien der Opfer eine große Zahl der 14.000 Seiten Originaldokumente auf der Seite
"Collegiate Times" veröffentlicht. Langman Amok im Kopf. Warum Schüler töten, 2009, der
über Begutachtungen potenzieller Amokläufer berichtet. Ein eher auf Prävention gerichteter
Praxisbericht eines Pädagogen zum Fall Woodham (Mississippi 1997) und den Folgen wurde
2009 publiziert: Dodson If Only I Had Known, 2009.
10 Ausführlich Bannenberg (Fn. 5).
So genannte "Amokläufe" aus kriminologischer Sicht 53

hier ausschließlich männlichen - Tätern, ihren Persönlichkeitsstörungen,


Familien und verstärkenden Risikofaktoren auf: Es geht um ein Zusammen-
spiel verschiedener Ursachen, bei dem sich als hervorstechende Besonder-
heit die Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung mit Selbst- und Fremdag-
gression herauskristallisiert. Problematisch für die exakte Beurteilung ist die
weitgehend fehlende oder fragwürdige psychiatrische Diagnostik. Die meis-
ten Täter sind bei der Tat durch einen Suizid ums Leben gekommen, wes-
halb eine tatzeitnahe Begutachtung unterblieb. Im engeren Zusammenhang
mit der sich anbahnenden Tat sind nur selten psychiatrische Einschätzungen
vorhanden, etwa wenn der Täter selbst Hilfe gesucht hat oder eine zeitlang
untergebracht war. Verfügbare Begutachtungen und psychiatrische Ein-
schätzungen sind zudem unter dem Aspekt des jungen Lebensalters und der
sich möglicherweise erst im Anfangsstadium befindlichen Persönlichkeits-
störungen zu sehen. Die Täter, die einen Suizid nicht planten oder das Vor-
haben aufgaben, führten die Tat häufiger mit Messern, nicht mit Schusswaf-
fen aus.
Die späteren Amokläufer zeigten nicht die typische Anhäufung von Risi-
komerkmalen, wie sie bei gewaltauffälligen, aggressiven Jungen vorhanden
sind,11 d.h. sie waren in der Schule und unter Gleichaltrigen nicht mit Stö-
rungen des Sozialverhaltens, Gewalt oder Aggressionen auffällig. Sie galten
vielmehr als still, scheu, ängstlich und zogen sich zurück. Soziale Kontakte
fielen ihnen schwer. In der Schule bemerkten Lehrer diesen Rückzug selten,
die Leistungsdefizite und "stillen" Verhaltensauffälligkeiten wurden viele
Jahre übersehen. Sie galten in der Schule als unauffällig, womit auch gera-
dezu unzugänglich und verschlossen gemeint war. In der Pubertät verstärkte
sich dieser Rückzug. Problematisches Sozialverhalten ist auch künftig nicht
leicht von sonstigen pubertären Phasen der Suche nach Eigenständigkeit zu
unterscheiden. Rückzug von Erwachsenen, eine eigene und eigenwillige
Musikvorliebe, provokante Verhaltensweisen und Äußerungen, exzentri-
sche Kleidungsstile und "Moden" aller Art kennzeichnen die schwierige
Zeit des Übergangs zum Erwachsenwerden ohnehin. Trotzdem fielen bei
genauerer Betrachtung ein stark ausgeprägter Rückzug und das übermäßige
Interesse an Attentaten, Amokläufen und Massentötungen auf. Depressio-
nen sowie Andeutungen über Suizid und/oder Amok wurden gegenüber
Mitschülern und Geschwistern deutlich, auch die Eltern bemerkten, dass mit
"dem Jungen etwas nicht stimmt". Daneben fanden sich Äußerungen von
überschießenden Rachebedürfnissen und Hass z.B. in Tagebüchern und

11 Lösel/Runkel in: Schneider/Margraf (Hrsg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Bd. 3: Stö-


rungen im Kindes- und Jugendalter, 2009, S. 453-480; Bannenberg in: Landeskommission
Berlin gegen Gewalt (Hrsg.), Berliner Forum Gewaltprävention: Kinder- und Jugenddelin-
quenz, Nr. 36, 2009, S. 22-46.
54 Britta Bannenberg

Aufzeichnungen, die gänzlich überzogen und nicht nachvollziehbar erschie-


nen. Die ausgeprägte Affinität zu Waffen und militärischen Symbolen fiel
deutlich auf und schlug sich teilweise auch im Kleidungsstil nieder. Die
späteren Täter fiihlten sich unverstanden, gedemütigt und gemobbt, was
einer realistischen Betrachtung nicht standhielt. Man gewinnt eher den
Eindruck, die Täter zogen sich selbst von anderen zurück, werteten diese ab,
wiesen Kontaktangebote zurück, waren unfreundlich und unzugänglich und
ohne jede Empathie fur andere.
Als verstärkende Risikofaktoren für die spätere Tatausfiihrung zeigten
sich gedankliche Einengungen auf Hass und Rache sowie die langfristige
Planung der konkreten Tatausfiihrung. Die Verfügbarkeit von Schusswaffen
und intensive Befassung mit gewalthaitigen, regelmäßig erst ab 18 Jahren
freigegebenen Filmen und Computerspielen sowie entsprechender Musik
und Musikvideos als virtuelle Gewaltverstärker stellen Risikofaktoren dar.
Die Ausstattung der Zimmer mit Postern, Vorlieben fiir militärische Symbo-
le, Waffennachbildungen, Rächerfiguren und schwarze Symbolik zeigte die
Dominanz von Hass und Gewalt in der Gedankenwelt der Täter deutlich an.
Die Schule wurde zum Ort der Ablehnung und zum Symbol des Hasses; die
Schulleistungen waren schwach, Äußerungen von Mitschülern und Lehrern
wurden als extrem demütigend begriffen und mündeten in Hassphantasien.

2. Familie und Elternhaus


Die Elternhäuser der Täter wiesen keine Risikofaktoren wie bei typischen
Gewaltentwicklungen auf. Für Außenstehende waren diese Familien nor-
mal, unauffällig, es gab keine Gewalt, keine Vernachlässigung, keine Alko-
hol- und Drogenprobleme. In keiner Weise handelte es sich um "broken
homes", sondern um kleinbürgerliche Elternhäuser oder Mittelschichtfami-
lien, in denen ein gemeinsames Familienleben mit geregelten Mahlzeiten
und Sorge um das Wohlergehen der Kinder festzustellen war. Dieses Bild
zeigte Risse, wenn man den viel "normaleren" Umgang mit den Geschwis-
tern betrachtete. Hier wurde altersgerecht erzogen, gestritten, aber auch viel
gemeinsam unternommen. Zum späteren Täter konnte die übrige Familie oft
wenig Auskünfte geben: Er sei still gewesen, zurückgezogen, habe nicht
viel geredet, sei oft auf sein Zimmer gegangen, vor allem wenn Besuch
kam, habe viel mit dem Computer gespielt, sei oft zu Hause gewesen, habe
keine oder wenige Freunde und wenig Freizeitinteressen gehabt, sei schu-
lisch meistens wenig erfolgreich und etwas faul gewesen und habe keine
Freundin gehabt. Dabei schien er zufrieden. Eine enge emotionale Bezie-
hung zwischen Eltern und Kind lag nicht vor. Eher entstand der Eindruck
der Hilflosigkeit im Umgang mit diesem Jungen, den man gewähren ließ
(im Gegensatz zu den Geschwistern), es wurden keine Konflikte über das
So genannte "Amokläufe" aus kriminologischer Sicht 55

als problematisch erkannte Verhalten ausgetragen, man lebte nebeneinander


her und hoffte, es werde sich alles von selbst regeln. Die Beziehung der
Väter zu ihren Söhnen schien vorrangig durch den Umgang mit den
Schusswaffen bestimmt.

3. Leistungsprobleme und/ehlende soziale Anerkennung


in der Schule
Die Amoktäter waren fast alle leistungsschwache Schüler, die ungern zur
Schule gingen. Das Scheitern offenbarte sich deutlich etwa nach der 7. oder
8. Klasse. Fast immer wurde eine Diskrepanz zwischen Fähigkeiten und
Leistungen beschrieben, man traute ihnen seit der Grundschulzeit mehr zu,
als sie leisteten. Lehrer ermöglichten die Versetzung, weil die Jungen so
ruhig und nett waren und nicht gestört haben. Mitschüler beschrieben das
Verhalten im Unterricht als völlig abwesend, in sich versunken, unbeein-
druckt von Fragen, Ermahnungen der Lehrer und Äußerungen anderer
Schüler. Dies deutet auf sehr frühe Auffälligkeiten hin, die heute im Kon-
text der Aufmerksamkeitsdefizitstörungen gesehen werden können. Nicht
hyperaktiv, laut und störend, sondern unkonzentriert, in sich selbst zurück-
gezogen, träumten oder starrten sie vor sich hin, wurden nahezu unsichtbar.
In einigen Fällen gab es pädagogisch problematische Durchsetzungen von
Nichtversetzungen und Schulverweisen. Die Schüler wurden mit der Nach-
richt vom Schulausschluss schlicht nach Hause geschickt.
Die Täter fiihlten sich oft gemobbt und von Mitschülern und Lehrern ge-
demütigt. Einer objektiveren Nachprüfung hielt diese Sicht nicht Stand.
Unter Mobbing oder Bullying versteht man die vorsätzliche und wiederhol-
te Schädigung unterlegener Schüler durch körperliche und/oder psychische
Gewalt, bei der sich nicht nur aggressive Haupttäter hervortun, sondern der
Rest der Klasse meist als Mitläufer auf der Seite des Täters steht und das
Opfer nicht unterstützt. 12 Lehrer und Mitschüler greifen in der Regel nicht
ein, um die Gewalt zu unterbinden und Geschädigte zu stärken.
Wird ein Schüler nicht tatsächlich attackiert, fühlt sich aber ständig ange-
griffen, zeigt dieses Empfinden die überzogene Kränkbarkeit und Ichbezo-
genheit deutlich an. Es fehlte an Konfliktfahigkeit und der Fähigkeit zu
adäquater Kommunikation. Eine vereinfachte Schuld- und Ursachenzu-
schreibung nach dem Motto: "Das Opfer wurde zum Täter" wäre verfehlt.

12 Olweus in: Holtappels/Heitmeyer/Melzer/Tillmann (Hrsg.), Forschung über Gewalt an


Schulen. Erscheinungsformen und Ursachen, Konzepte und Prävention, 4. Aufl. 2006, S. 281-
297; Spröber/Schlottke/Haut=inger Bullying in der Schule. Das Präventions- und Interventi-
onsprogranlm ProACT+E, 2008; Bannenberg/Rössner Erfolgreich gegen Gewalt in Kindergär-
ten und Schulen, 2006.
56 Britta Bannenberg

Für das Verständnis der problematischen Persönlichkeitsentwicklung ist


diese Beobachtung relevant. Grundsätzlich sollte auf ein positives Schul-
klima geachtet werden und jede Form von Mobbing unterbunden werden.
Um negative Entwicklungen zu vermeiden, ist ein Vertrauensverhältnis
zwischen Lehrern und Schülern wichtig, weil Schüler ihren Lehrern auch
nur dann von besorgniserregendem Verhalten von Mitschülern berichten
werden.
Die Täter waren in der Regel Einzelgänger und Außenseiter. Die Gleich-
altrigen akzeptierten den Jungen nicht. An gemeinsamen Aktivitäten, die
Jugendliche interessant finden, hatte dieser Junge kein Interesse. Diese
Distanz musste nicht drastische Ablehnung und Beleidigung bedeuten, eher
ein Nebeneinander, man hatte sich nichts zu sagen. Selbst bei den bei männ-
lichen Jugendlichen durchaus beliebten Computer- und Softair-Spielen fiel
die Andersartigkeit unangenehm auf: Der spätere Täter war nicht nur ein
überaus versierter Spieler, er wollte auch unbedingt der beste sein und die
meisten Kopfschüsse erzielen oder weidete sich an bestimmten Gewaltsze-
narien. Das Verhältnis zu Mädchen war problematisch. Die Täter waren
interessiert, aber zu schüchtern und trauten sich nicht, Mädchen anzuspre-
chen. Sie nahmen gut aussehenden und sportlichen Jungen in ihrer Klasse
ihren "Erfolg" bei den Mädchen sehr übel und schrieben hasserfüllte Be-
merkungen auf. Für die Mädchen kam der Täter regelmäßig nicht als mögli-
cher Freund in Frage.

4. Affinität zu Waffen und militärischen Symbolen


Durchgängig fand sich eine enorme Faszination rur Waffen aller Art. Die
späteren Täter kannten sich mit Schusswaffen, Kalibern und Hieb- und
Stichwaffen bestens aus. Der Umgang mit den Waffen war den Jungen
vertraut. Trotz Verschärfungen des Waffenrechts und der Pflicht rur Waf-
fenbesitzer, ihre Schusswaffen und getrennt davon die Munition im Privat-
haushalt sicher verschlossen zu verwahren, waren die Jungen in den Besitz
von Schusswaffen und Munition gelangt und benutzten sie bei der Tataus-
ruhrung. Auch die Treffsicherheit war verblüffend, durften doch nicht alle
offiziell im Schützenverein schießen oder hätten angeblich noch nie ge-
schossen. Hier ließ sich nicht in jedem Fall die Wahrheit ermitteln, wenn
sich Väter wegen fahrlässiger Tötung und ungeeigneter Aufbewahrung der
Waffen rechtlich zu verantworten hatten. Die Söhne schossen häufig mit
Luftgewehren oder Airsoftwaffen. Die Treffsicherheit oder die bevorzugten
Zielregionen (Kopf, Oberkörper) dürfte sich bei einigen durch intensives
Spielen mit Ego-Shootern erhöht haben.
So genannte "Amokläufe" aus kriminologischer Sicht 57

Das negative Vorbild der Tat an der Columbine High School am


20.4.1999 13 bezieht sich auch auf die Schusswaffen. Das Bild des "school
shootings", die tödliche Macht der Schusswaffe, hat sich eingeprägt und
wurde zum Bestandteil der Tatplanung. Regelmäßig wurde eine Attacke mit
Schusswaffen geplant, bei der zynischerweise die Zahl der Opfer möglichst
noch gesteigert werden sollte.
Die jungen Täter zeigten auch eine ausgeprägte Affinität zu militärischen
Themen und Uniformen, im Zimmer vorhandene Bücher enthalten Kriegs-
berichte sowie Waffen- und Panzerdarstellungen. Andere Tatmittel
(Sprengmittel, Rauchbomben, Macheten, Samurai-Schwerter, Messer etc.)
und Anleitungen zum Bombenbau waren von hoher Faszination. Hier zeigte
sich eine interessante Ambivalenz: Berufswunsch war nicht selten Soldat
oder Polizist, viele nahmen von diesen Gedanken im Hinblick auf Nacht-
märsche und körperliche Auseinandersetzungen aber wieder Abstand.

5. Angst vor körperlichen Auseinandersetzungen


In fast allen Lebensgeschichten der Täter fiel die Angst vor Gleichaltri-
gen, insbesondere Angst vor körperlichen Auseinandersetzungen, auf. Die
Eltern berichten, ihr Kind sei schon immer ängstlich gewesen, habe nicht in
den Kindergarten, in die Grundschule gehen wollen und habe Angst vor
anderen Kindern gehabt. Scheu, schüchtern, sensibel, zurückhaltend - so
lassen sich die Beschreibungen der Kinder zusammenfassen. In Aufzeich-
nungen der späteren Täter finden sich breit Schilderungen von Situationen,
in denen sie Angst vor Gleichaltrigen, Mitschülern, Jungengruppen auf der
Straße, auf dem Nachhauseweg hatten. Bei älteren Jugendlichen kommt
auch die Angst vor Versagen allgemein hinzu. Angst, sich zu blamieren,
weil in der Schule die Antwort nicht gewusst wurde, oder Angst, ein Mäd-
chen anzusprechen und abzublitzen. In einem engen Zusammenhang mit
dieser Angst stehen die immer wieder geschilderten Empfindungen, ge-
mobbt und geschnitten zu werden.

6. Die Farbe schwarz


Die Täter trugen zur Tatzeit meistens schwarze Kleidung oder Unifor-
men. Manche bevorzugten generell seit langem schwarze Kleidung. Beson-
ders auffällig war ein Täter, der über zwei Jahre neben ausschließlich
schwarzer Kleidung einen schwarzen Mantel und schwarze Handschuhe
ohne Finger trug (Kopie Columbine). Bevorzugt wurden auch schwarze
Zimmerwände oder düstere Poster. Die Farbe schwarz symbolisiert nicht

13 Columbine Documents, Jefferson County Sheriff's Office (Fn. 9).


58 Britta Bannenberg

zufällig den Tod. Die Jungen befassten sich lange Zeit Init den Themen
Tod, auch Suizid, hatten depressive Gedanken, aber auch Gewalt- und Ra-
chephantasien. Immer wieder ging es um Rächerfiguren (Neo aus Matrix,
The Crow, Final Fantasy, auch Jason und andere Figuren). Die in den Fil-
men auffälligen schwarzen Mäntel deuten auf Aspekte der Nachahmung
von oder Identifikation mit fiktiven Helden und Rächern, aber auch auf
andere Amokläufe (Trenchcoat-Mafia, Columbine) hin, insbesondere die
Inszenierung der Täter in selbst gedrehten Videos und mit Bildern im Inter-
net mit schwarzem martialischen Outfit und Waffen weist auf den Wunsch
nach Darstellung der eigenen Macht und Großartigkeit hin. Schließlich ist
der von Zimbardo 14 deutlich gemachte Aspekt der Maskierung zu beachten:
Unter der Maske des Helden und in der vermeintlichen Anonymität steigert
sich die Aggression und können Tötungsdelikte leichter begangen werden.
Das Thema "schwarz" spiegelt hier also die Beschäftigung der Jungen mit
Gewalt und Tod wider und zeigt die Vermischung virtueller Welten, Tö-
tungsphantasien und fortgeschrittene Phasen der Tatplanung an. Es handelt
sich nicht um Kleidung, die die Zugehörigkeit zu einer Subkultur (etwa
Gothic, Blackmetal, Satanisten) verdeutlicht. Die späteren Täter waren
Einzelgänger, die gerade keiner Jugendgruppe oder Subkultur zugeneigt
waren, sondern sich im Gegenteil einzigartig und großartig fühlten.

7. Nachahmung und Bezugnahme aufAmoktaten


Es fielen häufig Andeutungen über Amoktaten (auch als "Leaking" be-
zeichnet), diese wurden aber nicht ernst genommen. Meistens wussten die
späteren Täter erstaunlich gut über Amokläufe, Massenmörder oder Se-
rienmörder Bescheid. Scheinbar beiläufig fielen Bemerkungen gegenüber
Gleichaltrigen, zuweilen wurden auch in Suizidforen oder Chats im Internet
vorsichtig die Reaktionen auf eine Andeutung von "Amok" getestet oder es
kam zu Äußerungen wie: (Nach einer Tat) "Da hatte endlich mal einer den
Mut, es allen an dieser Sch ... schule zu zeigen. Das wäre hier auch mal
nötig!". Oder es wird am Jahrestag der Tat von Columbine (20.4.1999) eine
Andeutung in Richtung des Gutheißens der Tat getätigt: "HaITis und Kle-
bold (die Täter, meistens werden Abkürzungen benutzt, die den Insider
auszeichnen sollen) haben es damals genau richtig gemacht. Man müsste es
allen hier mal so richtig zeigen".
Problematisch sind zahlreiche Internetseiten, auf die Tatgeneigte stoßen.
Unter dem Deckmantel der Anonymität werden hier recht unverhohlen
Geburtstage der Täter gefeiert, Amokgedanken insbesondere im Zusam-
menhang mit Schulen positiv dargestellt und die Täter als eine Art Held

14 Zimbardo in: Miller (Hrsg.), The SociaI Psychology ofGood and EviI, 2004, 21-50.
So genannte "Amokläufe" aus kriminologischer Sicht 59

verehrt. In den zugehörigen Foren werden absurde Vorstellungen zu geplan-


ten Taten ausgetauscht und Rechtfertigungsstrategien eingeübt. Die kruden
Gedanken früherer Täter werden hier als gerechtfertigte Gegengewalt disku-
tiert. Wie auch in Suizidforen die Wahl des besten Mittels wird hier über
Vorgehensweisen und Waffen, Zugang zu Waffen und konkreten Suchen
nach Mittätern debattiert. Für Tatgeneigte ist der Austausch ein Schritt in
Richtung Tatausführung.

8. Hass und Gewalt in Computerspielen, Videos und Medien,


Rolle des Internet
Zu beobachten war eine fatale Dynamik: Verletztes Selbstwertgefühl, feh-
lende Akzeptanz, unterdrückte Wut und Hass und selektive Befassung mit
Gewalt.
Typisch war die intensive Beschäftigung mit gewalthaltigen Medien und
Computerspielen. Dabei waren Ego-Shooter, Kriegsszenarien, Science-
Fiction und Horror besonders beliebt. Alle spielten Spiele und sahen Filme,
die erst ab 18 Jahren zugelassen waren, bereits im Alter von 13, 14 Jahren.
Dies ist nicht nur für spätere Täter typisch. Unter Kindern und Jugendlichen
gilt natürlich das Verbotene als besonders interessant. Hinzu kommt eine
gravierende Unkenntnis der Erwachsenen von den Inhalten dieser Medien.
Sie kennen zum Teil Bezeichnungen von Spielen, Titel von Filmen, haben
aber keine Ahnung, was sich tatsächlich dahinter verbirgt und gehen von
geringem Schädigungspotential aus.
Bei den späteren Tätern griffen die Eltern kaum ein. Wenn sie den Me-
dienkonsum als störend wahrnahmen, dann häufig im Alter von 16 bis 18
Jahren, wenn das stundenlange Gedröhne des Spiels aus dem Zimmer drang
und die Reduktion des sozialen Umgangs, der sowieso schon spärlich war,
auf ein absolutes Minimum sank. In diesen späten Phasen hatten die Eltern
bereits jeden Zugang zu ihrem Sohn verloren und konnten das Spielen nicht
unterbinden. Sie berichteten auch von besonders ruppigem und unfreundli-
chem Verhalten des kritisierten Sohnes.
Gewalt in den Medien ruft nicht monokausal Gewalt hervor. Es handelt
sich um einen Risikofaktor, der als Verstärker wirkt. Neben den nicht al-
tersgerechten Inhalten haben diese Jungen kein adäquates Sozialleben und
keine Bindungen an Gleichaltrige. Sie verbringen über Jahre viele Stunden
täglich vor Fernseher, Video-IDVD-Rekorder und Computer. In ihrem
Selbstwert schwache, sich von der Umwelt gedemütigt fühlende und nicht
anerkannte Individuen mit Misserfolgs- und Frustrationserlebnissen (etwa
schlechten Schulnoten, ständigen Versetzungsängsten, Versagensängsten in
der Schule und fehlender Anerkennung bei Gleichaltrigen) sind die Risiko-
gruppe, die eine Menge unterdrückter Wut ansammelt, aber nicht zeigt.
60 Britta Bannenberg

Diese Personen greifen gezielt zu Gewaltfilmen, Ego-Shootem und Waffen


bzw. echt aussehenden Softairwaffen, um ihr SelbstwertgefUhl zu stärken.
Bei entsprechend intensiver Beschäftigung ist eine deutliche Einengung auf
die Themen Gewalt und Tod festzustellen. In der Phantasie wird der schwa-
che Junge ohne soziale Anerkennung zum starken männlichen Helden, vor
dem andere Angst bekommen. I5 Die Identifikation, meistens auch nur mit
einschlägigen Teilen von Filmen, einzelnen Spielen und dem Vorbild frühe-
rer Täter, ist die eigentliche Risikokonstellation, die zur Tat fUhrt.

9. Suizid und Fremdaggression -


Die Täter merken, dass etwas nicht stimmt
Die meisten Täter töteten sich am Ende selbst oder planten dieses. Für die
Risikobeurteilung ist dies relevant. Bei dem Verdacht, ein Täter plane eine
Amoktat, muss von einer hohen Entschlossenheit und einer Zuspitzung des
Denkens und HandeIns auf das Töten ausgegangen werden. Der zu allem
entschlossene Täter, der aus seiner Sicht mit Beginn der Tatausfuhrung das
Ende seines Lebens vor Augen hat, lässt sich in der Regel nicht aufhalten.
Mitleid, Empathie, Erschrecken über das eigene Handeln sind nicht vorhan-
den. Verhandeln, wie etwa mit einem Forderungen stellenden Geiselneh-
mer, der Gewalt als Mittel zum Ziel einsetzt, gibt es nicht. Wie Selbstmord-
attentäter wollen Amokläufer nur noch eine möglichst grandiose Tat mit
vielen Opfern produzieren, und dieses soll der Welt über die Medien be-
kannt gegeben werden. 16
Suizid wird typischerweise mit Depression, nicht aber mit Aggression ge-
gen andere Menschen assoziiert. I7 Für die Erklärung von Amokläufen eig-
net sich am besten die Beschreibung der jungen Täter als narzisstisch ge-
stört, mit einem starken GefUhl fur Kränkungen und Verletzungen, die sich
objektiv betrachtet als relativ geringfUgige Verletzungen und Beeinträchti-
gungen darstellen, vom Täter aber als tief kränkend und demütigend emp-
funden werden. Narzissmus paart sich mit einem Perfektionismus und der
Unfähigkeit, mit Versagen und Fehlern umzugehen. Aus dieser Kränkung
entwickeln sich Wut und Hass. In den depressiven Phasen wird dem späte-
ren Amokläufer wohl sein Unvermögen deutlich, sein Leben in den Griff zu

15 Lempp Nebenrealitäten. Jugendgewalt aus Zukunftsangst, 2009, zur Bedeutung der Ge-
waltphantasien ängstlicher Individuen.
16 Vgl. zu Selbstmordattentätern Stern Terror in the Name ofGod, 2004.
17 Allgemein SchallerlSchmidtke in: Röhrle/Caspar/Schlottke (Hrsg.), Lehrbuch der kli-
nisch-psychologischen Diagnostik, 2008, S. 495-512.
So genannte "Amokläufe" aus kriminologischer Sicht 61

bekommen. Die Entwicklung der malignen narzisstischen Persönlichkeits-


störung ist eine offene Forschungsfrage. 18
Auffällig ist das Interesse der Täter für psychiatrische Literatur, weil sie
etwas "Gestörtes", etwas "Anderes" an sich wahrnehmen. Nicht nur einer
recherchierte im Internet, welches psychiatrische Störungsbild möglicher-
weise auf ihn zutreffen könnte. Sie erkannten an sich Zwangsstörungen,
hielten sich für manisch-depressiv, nahmen ein Faltblatt der Kinder- und
Jugendpsychiatrie mit, ließen sich von der Mutter Termine bei einem Psy-
chotherapeuten oder in der Psychiatrie vereinbaren. Im Internet wurden
Suizidforen besucht und zuweilen auch gerade hier Andeutungen über einen
Amoklauf oder entsprechende Sympathien geäußert. Zu bestimmten Zeit-
punkten schienen die späteren Täter bereit, sich selbst in Behandlung zu
begeben, zu anderen Zeitpunkten lehnten sie dies ab.

10. Verhaltensauffälligkeiten und Persönlichkeitsstörungen /


Psychopathologie
Die Täter waren keine typischen Gewalttäter mit einem Syndrom sozialer
Bindungslosigkeit, sondern schüchterne, stille Einzelgänger mit hoher
Kränkbarkeit. Dies deutet nach bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen
auf das Störungsbild der narzisstischen Persönlichkeitsstörung hin. Die
geplante Tat ist in den der Tat unmittelbar vorausgehenden Ankündigungen
dann "Massaker" und "Rache an allen, die mich ständig gedemütigt haben".
Nur in einzelnen Episoden zeigten die Täter bereits eine gewisse Gewalt-
bereitschaft, Dominanz und Überheblichkeit, die im Zusammenhang mit
dieser narzisstischen Problematik stehen dürfte. Zum Beispiel hielt sich ein
späterer Täter am Abend im Dunkeln auf einem Spielplatz auf und er-
schreckte Liebespaare mit seinem Outfit im schwarzen Mantel und merk-
würdigen Äußerungen. Ein anderer bedrohte Kinder mit einer Gaspistole.
Einer bemühte sich um die Durchführung der Schulaufsicht und prompt
kam es zu Beschwerden junger Schüler über unfreundliche Behandlung. Es
fanden sich häufiger für andere unverständliche und unangenehme Verhal-
tensweisen wie überhebliche und abwertende Sprüche ohne jeden Grund
und teilweise (ein so wahrgenommenes) überlegenes Grinsen in völlig un-
passenden Situationen.
Bei einigen wurden Tierquälereien, Verstümmelungen und Tötungen von
Tieren bekannt, ein Anzeichen für deviante Entwicklungen und Gewalt-
phantasien.

18 Vgl. eine Fallschilderung bei Saimeh in: dies. (Hrsg.), Zukunftswerkstatt Maßregelvoll-
zug. 23. Eickelborner Fachtagung, 2008, S. 299-313.
62 Britta Bannenberg

Gewaltphantasien sexueller Art weisen auf Kontaktprobleme mit Mäd-


chen, unerfullte sexuelle Wünsche und große Schüchternheit hin, über die
sich die Jungen ungeheuer ärgern. Die sich entwickelnde sexuelle Devianz
scheint fur den Entschluss zur TatausfUhrung eine Rolle zu spielen, einige
meinten, das Leben habe keinen Sinn, wenn sie nie eine Frau fanden. Neben
gewalttätigen Fesselungsbildern und ambivalenten Äußerungen über Mäd-
chen in Tagebüchern fanden sich in einem Fall tagebuchartige Aufzeich-
nungen mit Zeichnungen gefesselter Mädchen, mit denen sich der Täter Sex
vorstellte. Er hatte wegen seiner Schüchternheit, aber auch wegen bei sich
selbst wahrgenommenen GefUhlsproblemen bei den wenigen zarten Annä-
herungen (Angst, Wut über sich selbst und Kälte - ein Kuss war nicht so,
wie er es sich vorgestellt hatte, löste in ihm keine GefUhle aus) große Prob-
leme im Umgang mit Mädchen. Ein von ihm verehrtes Mädchen erfuhr dies
nie. In den Aufzeichnungen über einen Zeitraum von etwa zweieinhalb
Jahren waren zunächst "normale" pubertäre Wünsche und positive sexuali-
sierte Bezeichnungen aufgeschrieben worden. Mit der Zeit kam es aber zu
ambivalenten Schilderungen, massiven verbalen Abwertungen der Mädchen
und zu Vergewaltigungs- und Fesselungsphantasien. Dann vertraute er
seinem Tagebuch an, er habe schon seinen Rucksack mit Messer, Kabelbin-
der und Klebeband bestückt gehabt und sei am Gartentor des Mädchens
gewesen. In letzter Minute habe er kehrt gemacht und seine Wünsche durch
Masturbation befriedigt. Weiter waren Vergewaltigungsphantasien im Zu-
sammenhang mit einem geplanten Überfall auf die Klasse aufgeschrieben
worden. Die Fesselungsphantasien drückten die Objektwünsche aus. Das
Mädchen sollte keine eigenständigen Vorstellungen haben, sondern ganz
denen des Täters gehorchen. Schließlich fanden sich Zerstückelungsphanta-
sien, bei denen das Mädchen gezwungen wurde, der Tötung zuzusehen und
Teile der Leiche zu essen. Bei der Tat wurde eine weibliche Geisel ge-
zwungen, die Tötung teilweise anzuschauen.
Das Problem der sexuell devianten Phantasien besteht in der Verborgen-
heit. Regelmäßig werden diese Gedanken anderen nicht im Ansatz bekannt.
"Eine Persönlichkeitsstörung liegt gemäß der psychiatrischen Klassifika-
tionssysteme ICD-IO und DSM-IV vor, wenn Persönlichkeitszüge starr und
wenig angepasst sind und zu persönlichem Leiden und/oder gestörter sozia-
ler Funktionsfahigkeit fUhren. Die Persönlichkeitsstörung beginnt in der
Kindheit und Jugend, zeigt eine hohe zeitliche Stabilität und ist situations-
übergreifend. Sie manifestiert sich in mehreren Funktionsbereichen wie
Affektivität, Antrieb, Impulskontrolle, Wahrnehmen und Denken sowie in
den Beziehungen zu anderen. Das Zustandsbild einer Persönlichkeitsstörung
darf weder auf andere psychiatrische Störungen zurückzuführen noch Folge
einer organischen Schädigung sein. Menschen, fUr die der Begriff "Persön-
lichkeitsstörung" zutrifft, sind im eigentlichen Sinne nicht psychiatrisch
So genannte "Amokläufe" aus kriminologischer Sicht 63

krank, vielmehr sind für sie Normvarianten einzelner Persönlichkeitsmerk-


male in einem extremen Ausprägungsgrad kennzeichnend."19

11. Narzisstische Persönlichkeitsstörung


Narzisstische Persönlichkeitsstörungen entwickeln sich mit einer entspre-
chenden Disposition im Zusammenspiel mit der sozialen Umwelt. 20 Über
die Entstehungsbedingungen ist noch zu wenig bekannt. Als ein Faktor bei
der Entstehung dieses Störungsbildes gilt eine problematische Eltern-Kind-
Beziehung, die einerseits idealisierend und verwöhnend ist, andererseits
aber hohe Ansprüche stellt oder das Kind emotional vernachlässigt, wenn es
den Verhaltenserwartungen nicht entspricht.
Von den diagnostischen Kriterien nach DSM-IV müssen mindestens fünf
Symptome zur DiagnosesteIlung vorliegen:
1. Hat ein grandioses Gefühl der eigenen Wichtigkeit (übertreibt die eige-
nen Leistungen und Talente, erwartet, als überlegen anerkannt zu werden),
2. ist stark eingenommen von Phantasien grenzenlosen Erfolgs, Macht,
Glanz, Schönheit oder idealer Liebe,
3. glaubt von sich, besonders und einzigartig zu sein und nur von solchen
anderen besonderen Personen verstanden zu werden oder mit diesen verkeh-
ren zu können,
4. verlangt nach übermäßiger Bewunderung,
5. legt ein besonderes Anspruchsdenken an den Tag, d.h. übertriebene Er-
wartungen an besonders bevorzugte Behandlung, automatisches Eingehen
auf die eigenen Erwartungen,
6. in zwischenmenschlichen Beziehungen ausbeuterisch,
7. Mangel an Empathie, erkennt Bedürfnisse und Gefühle anderer nicht an,
8. ist häufig neidisch oder glaubt, dass andere auf ihn neidisch seien,
9. zeigt arrogante, überhebliche Verhaltensweisen oder Haltungen.
In der ICD-1 0 wird die narzisstische Persönlichkeitsstörung unter "sons-
tige spezifische Persönlichkeitsstörungen" mit ähnlichen Kriterien nach F.
60.8 klassifiziert. 21
Narzisstisch gestörte Personen haben ein erhöhtes Geltungsbedürfnis und
erheben Anspruch auf bedingungslose Bestätigung, ohne imstande zu sein,
dafür eine entsprechende Sonderleistung liefern zu können, schreibt Sai-

19 Herpert=/Herpert=-Dahlmann in: Retllschmidt (Hrsg.), Kinder- und Jugendpsychiatrie.


Eine praktische Einführung, 5. Aufl. 2008, S. 287.
20 Fiedler Persönlichkeitsstörungen, 5. Aufl. 2001, S. 281 ff.
21 Einzelheiten: www.leitlinien.net.
64 Britta Bannenberg

meh. 22 Dieses Muster fand sich bei den Tätern recht deutlich. Sie verachte-
ten die Mitschüler, Lehrer, schließlich die Gesellschaft in arroganter, gänz-
lich überzogener Weise. Einige betonten ihre eigene Intelligenz, die es er-
mögliche, ohne Mühen die Versetzungen zu erreichen. Lehrer wurden zu
Feindbildern, da sie nicht in der Lage seien, diese Intelligenz und Beson-
derheit des Schülers zu erkennen, sondern grundsätzlich bei schlechter Be-
notung blieben. Vor Gericht waren es die Richter und Gutachter, die es
nicht wert seien, eine Aussage über die wahren Befindlichkeiten und Ein-
zelheiten des Tatablaufs zu hören, weil für sie das Urteil und die Höhe der
Strafe doch von vornherein festgestanden habe. "Was geht die das dann
überhaupt an, wie ich denke?" Im Vollzug werden die Psychotherapeuten
und Psychologen als die letzten betrachtet, denen eigene Gedanken offen-
bart würden. Sei seien ohnehin nicht in der Lage zu verstehen. Es ginge nur
darum, schnell wieder entlassen zu werden, da reiche oberflächliche Anpas-
sung aus.
Die Lebensvorstellungen, soweit sie sich rekonstruieren lassen, gehen mit
der Verweigerung des normalen Lebens einher, der Abwertung von Lebens-
entwürfen der Eltern und anderer "normaler" Menschen. Die Schule zu
bewältigen, zu arbeiten und einen strukturierten Tagesablauf zu haben,
dabei auch anerkennen zu müssen, dass andere Macht ausüben, ist geradezu
unerträglich und wird abgelehnt. 23 Statt eines spießigen Lebens nach dem
Motto "SAART" (Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod) wurde in kruder
Weise auf völlige Freiheit ohne gesellschaftliche Zwänge gepocht. 24 Diese
Freiheit ist allerdings vollkommen unrealistisch (was wohl auch in Ansät-
zen gesehen wird) und dabei werden Verletzung und Tötung anderer nicht
nur hingenommen, sondern zum eigentlichen Zweck, es der verhassten
Gesellschaft zu zeigen. Selbstbilder als "Natural Selector"25, Bewunderun-
gen der menschenfeindlichen Aussagen der Columbine-Attentäter und Äu-
ßerungen wie die folgende zeigen die destruktive Variante dieses Störungs-
bildes sehr deutlich (wörtlich): " ... Und ferner projiziere ich meinen Hass
auf die Regierung, und zu guter Letzt selbst auf die gesamte Menschheit.
Konsumgeile Mitläufer, die sich durchs Leben kaufen und nur in der Menge
stark fühlen .... ICH HASSE DIE MENSCHEN - DIE MENSCHEN SOL-
LEN STERBEN!"

22 Saimeh (Fn. 18), S. 309


23 Siehe ähnlich Saimeh, die diese Vorstellungen unter Berufung auf 1. Fest als Verweige-
rung eines "Lebens in geordneter Freiheit" beschreibt (Fn. 18), S. 309.
24 Diese Formel tauchte bei einem Täter in seinem Abschiedsvideo, das er selbst im Internet
verbreitete, auf und wurde bei späteren Taten aufgegriffen. Es existieren Internetseiten mit
befürwortender Bezugnahme auf entsprechende Tötungsdelikte.
25 Ministry of Justice, Finland, 2009, Jokela.
So genannte "Amokläufe" aus kriminologischer Sicht 65

Cannabiskonsum spielte in manchen Fällen eine Rolle, allerdings blieben


die Zusammenhänge ungeklärt. Es ist bekannt, dass Cannabis insbesondere
Psychosen auslösen, aber auch enthemmend bei der Tatausführung wirken
kann. Andere Drogen und Alkohol waren bei der Tatausführung nicht von
Bedeutung.
Jüngst geschehene Fälle müssen zur Vorsicht mahnen. Es gab teilweise
psychiatrische Begutachtungen. Die Diagnosen wiesen eher auf Ratlosig-
keit. Eine sichere Einschätzung des Gefahrdungspotentials gelang trotz
dramatischer Anzeichen nicht immer. In einigen Bedrohungsfallen ergab
sich umgekehrt eine Beruhigung der Situation durch mehrmonatige psychi-
atrische Behandlungen, Begutachtungen im Rahmen von Strafverfahren und
auch strafrechtlich veranlasste Unterbringungen gemäß § 63 StGB. Es muss
in einigen Fällen auch nach Jahren der psychiatrischen Behandlung und
zwischenzeitlicher Entlassung mit einer Tatausführung gerechnet werden.

12. Rache- und Hassphantasien und Tatplanung


Meistens wurden die ausgeprägten Hassphantasien erst nach der Tat be-
kannt, wenn Aufzeichnungen der Täter im Zimmer gefunden werden. Im
Falle der Drohungen sind aber gleichartige Schriftstücke gefunden worden.
Angesichts des stillen und schüchternen Eindrucks, den die Jungen vermit-
teln, überraschen die Rache- und Hassphantasien in ihrer drastischen Form.
Mehrfach wurden Aufsätze verfasst, deren Inhalt für Lehrer verstörend und
unheimlich war. Darauf angesprochen, wurde geantwortet, es sei doch nur
Phantasie, eine erfundene Geschichte.
Regelmäßig lag eine lange zurückreichende Tatplanung vor, die Phasen
durchlief. Aus Phantasien der Wut und Rache wurden Äußerungen, die
Gedanken kreisten immer öfter um gewalthaltige Themen. Mit einer geziel-
ten Suche nach Medien begann die virtuelle Beschäftigung mit Gewalt und
Tod. Andere Themen verloren zunehmend an Bedeutung. In Tagebüchern
und privaten Aufzeichnungen klangen diese destruktiven Phantasien schon
sehr drastisch, die Beschäftigung mit Taten mündet in die eigene Tatpla-
nung. Je näher die Verwirklichung rückte, umso mehr wurde die Umwelt
getäuscht. Geplant wurde auch nicht selten die Verbreitung kruder Ab-
schlussvideos und Briefe direkt vor der Ausführung der Tat (wörtlich):
"Wenn du diesen Brief liest, habe ich mich wahrscheinlich schon erschos-
sen. Doch sei sicher, vor mir sind Feinde gestorben! Der Suizid als ewiger
Friede, die toten Menschen als Zeichen meiner unermesslichen Wut! ... Wo
ich grad beim Thema bin, schalt den Fernseher an, kommt bestimmt was
über meinen Krieg!"
Im Nachhinein lassen sich Phasen erkennen, in denen sich die Tat an-
bahnte. Es ist aber von außen schwierig zu erkennen, in welcher Phase sich
66 Britta Bannenberg

ein Täter befindet, der durch sonderbares Verhalten oder Andeutungen


auffällt. Selbst Drohungen geben keine klare Orientierung, weil zunächst
geklärt werden muss, ob diese Drohung einen realen Hintergrund hat. Die
mögliche Gefährdung ergibt sich erst aus einer Zusammenschau vieler Fak-
toren, bei der über Probleme, Wut und Ärger beim Täter der Plan gereift ist,
"Rache" zu üben, die Gewalt zu rechtfertigen, sich gedanklich intensiv mit
diesem Vorhaben zu befassen, sich vorzubereiten und sich der Tatausfüh-
rung zu nähern. Nicht immer dringen genügend Anzeichen nach außen und
können zusammenfassend bewertet werden. Bei dem Versuch, sich ein Bild
zu machen, wenn Verhalten oder Äußerungen Anlass zur Sorge geben,
sollten deshalb so viele Bereiche wie möglich überprüft werden. Mit bloßen
Äußerungen sollte man sich nicht zufrieden geben.

IV. Forschungsbedarf und präventive Ansätze


Empirische Erkenntnisse über Amokläufe sind rar. Methodisch bleibt zur
Ursachenerklärung nur die Einzelfallanalyse mit der Problematik einge-
schränkter Verallgemeinerbarkeit. 26 Qualitative Methoden des Verstehens
der destruktiven Dynamik der Tatplanung und Persönlichkeitsentwicklung
sowie der interdisziplinäre Austausch über die Fallgestaltungen sind ein
sinnvoller Weg, diese Taten einordnen und möglicherweise verhindern zu
können. 27 Die bisherige Unklarheit bezüglich der psychischen Auffälligkei-
ten zeigt weiteren Forschungsbedarf an. Langman28 berichtet über verschie-
dene psychiatrische Störungsbilder: Psychopathy, psychotische (schizotype
und schizophrene) und traumatisierte Täter. Er untersuchte potentielle Täter
und es mag sein, dass in den zahlreicheren amerikanischen Fällen eine grö-
ßere Vielfalt an Störungsbildern aufgetaucht ist. Bei den in Deutschland
bisher bekannt gewordenen Taten trifft das so nicht zu (oder lässt sich nicht
nachweisen). Es mag auch eine Frage sein, welche Fälle man einbezieht.
Würde die Palette der deutschen jungen Tötungsdelinquenten komplett
untersucht, würden also junge Männer einbezogen, die ihre Eltern, andere
Erwachsene und in anderen Kontexten töten, erweiterte sich das psychiatri-
sche Spektrum sofort. Unsere ersten Ergebnisse aus einem laufenden Pro-
jekt der Analyse von Amokdrohungen lässt ebenfalls ein breiteres Spektrum
an psychischen Störungen, darunter Psychosen und multiple Störungsbilder
wie dissoziale Entwicklungen mit Zwangsstörungen und Suchtproblemen

26 Moore et al. (Fn. 7).


27 Bannenberg (Fn. 5)~ Newman et al. (Fn. 4)~ Langman (Fn. 9)~ Dodson (Fn. 9)~ Ro-
bert=IWickenhäuser Der Riss in der Tafel. Amoklauf und schwere Gewalt in der Schule, 2007.
28 S. Fn. 9.
So genannte "Amokläufe'~ aus kriminologischer Sicht 67

erkennen. Deshalb ist der Wissensstand in Bezug auf die Störungsbilder


nach wie vor gering. Problematisch ist auch die Erkennbarkeit von sich
entwickelnden Persönlichkeitsstörungen bei Kindern und Jugendlichen.
Zudem könnte eine Entwicklung eintreten, bei der eher dissoziale Jugendli-
che - angeregt durch die mediale Aufmerksamkeit - den Gedanken an einen
Amoklauf aufnehmen.
Die Forschung muss sich insbesondere auf die Beurteilung der Drohun-
gen mit einem Amoklauf bzw. des bedrohlichen Verhaltens vor Attentaten
richten, um ernsthafte Gefahren besser identifizieren zu können. Hierzu
liegen bereits praktikable Kriterien vor, die aber immer die Schwierigkeit
einer Einzelfallbeurteilung in sich tragen und deshalb Aufmerksamkeit für
Verhaltensauffälligkeiten der sozial zurückgezogenen Kinder und Jugendli-
chen verlangen. 29 Eine "Checklist", die bei Vorliegen einer bestimmten
Anzahl von Indizien sicher die Vorhersage einer Tat ermöglicht, wird es nie
geben. Seit dem Amoklauf in Winnenden vom 11. März 2009 ist die Zahl
der Drohungen an Schulen in Deutschland rapide angestiegen, andere Län-
der dürften ebenso betroffen sein, wie auch ein aktueller Bericht aus der
Schweiz nahe legt30 . Aufmerksamkeit ist auch den Folgen zu widmen: We-
der können alle Gefahrenbeurteilungen allein der Polizei überlassen werden,
noch sind die pädagogischen Konsequenzen klar. Eine zero-tolerance-
Strategie im Sinne von harscher Reaktion wie Schulverweisen nach jeder
Art von Drohung (oder üblem Scherz) hat sich in den USA bereits als kont-
raproduktiv erwiesen und spiegelt nur den Wunsch nach einfachen Lösun-
gen wider. Präventionskonzepte müssen entwickelt werden, können aber
nicht nur auf das akute Bedrohungsmanagement31 beschränkt werden. Auch
wenn nicht von Amokprävention gesprochen werden kann, wenn auf Ver-
haltensauffal1igkeiten von Kindern reagiert werden soll, so deutet sich be-

29 Fein/Vossekuil/Pollack/Borum/Mod=eleski/Reddy Bedrohungsanalyse an Schulen: Ein


Handbuch zum Management von Bedrohungssituationen sowie zur Schaffung eines sicheren
Schulklimas. United States Secret Service und United States Department of Education (Hrsg.)
2002~ Vossekuil/Fein/Reddy/Borum/Mod=eleski Abschlussbericht und Ergebnisse der Initiative
für Sicherheit an Schulen (Safe School Initiative): Auswirkungen auf die Prävention von
Gewalttaten an Schulen in den USA, 2002; Weisbrot 1. Am. Acad. Child Adolesc. Psychiatry
47 (2008), 847-852 (wwwJAACP.com); Landesregierung Baden-Württemberg (Hrsg.), Exper-
tenkreis Amok: Konsequenzen aus dem Amoklauf in Winnenden und Wendlingen am 11.
März 2009. Gemeinsam handeln, Risiken erkennen und minimieren. Prävention, Intervention,
Rehabilitation, Medienberichte, 2009. Internetquelle:
www.schule-bw.de/unterricht/paedagogik/ge\valtpraeventi on/kbuerolamok/index_html.
30 NZZ Magazin 3/2010, 22-30.
31 Dazu auch ausführlich Bannenberg (Fn. 5), S. 163 ff.; Cornell Guidelines for Responding
to Student Threats of Violence. Abstract Persistently Safe Schools 2005: The National Confer-
ence of the Hamilton Fish Institute on School and Community Violence, S. 15-27~ Cornell in:
Gerler (Hrsg.), Handbook of School Violence, 2004, S. 115-135.
68 Britta Bannenberg

reits an, dass Frühprävention bei aufmerksamkeitsgestörten und sozial zu-


rückgezogenen Kindern und Jugendlichen positive Nebeneffekte haben
könnte. 32 Das Ziel wird nicht primär darin liegen, künftige Amoktaten und
Tötungsdelikte sowie Suizide zu verhindern, sondern eher darin, Kinder zu
sozialen Kontakten und angemessener Kommunikation zu befähigen, UlTI
eine ungestörte Entwicklung zu ermöglichen. Dem in inhaltlicher und zeitli-
cher Hinsicht problematischen Medienkonsum von Kindern und Jugendli-
chen müssen Erziehungsanstrengungen entgegen gesetzt werden. 33 Eine
vertrauensvolles Schulklima und eine Unterbindung jeder Art von Bully-
ing,34 eine Schulung von Lehrern zur Amokproblematik und eine bessere
Vernetzung zwischen Schulen, Schulpsychologen, Psychotherapeuten und
der Kinder- und Jugendpsychiatrie scheinen sinnvoll. 35 Eltern sollten früh-
zeitig professionelle Unterstützung durch die Kinder- und Jugendpsychiatrie
und Psychotherapie suchen und Verhaltensauffälligkeiten ihrer Kinder nicht
verdrängen. Speziell im Feld der Kinder- und Jugendpsychiatrie verspricht
der interdisziplinäre Austausch über diese gefährlichen Persönlichkeitsent-
wicklungen guten Erfolg insbesondere bei Gefährlichkeitsbegutachtungen
und Forensik.

32 SchlottkelStrehllLauth in: Schneider/Margraf (Fn. 11), S. 411-428.


33 KoglinlWitthöftlPetermann Psychologische Rundschau 60 (2009), 163-172~ Frö-
lichlLehmkuhllDöpjner Zeitschrift für Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 37 (2009), 393-
404; Messner in: Schneider/Margraf (Fn. 11), S. 95-110; GrossmanlDeGaetano Stop Teaching
our Kids to Kill. A Call to Action against TV, Movie & Video Game Violence, 1999.
34 Spröber u.a. ~ BannenberglRössner~ Olweus (alle Fn. 12)~ EisnerlRibeaud/Locher Präven-
tion von Jugendgewalt. Expertenbericht zuhanden des Bundesamtes für Sozialversicherung,
2008; GottfredsonlWilsonlNajaka in: Sherman/Farrington/WelshlLayton McKenzie (Hrsg.),
Evidence-Based Crime Prevention, 2002, S. 56-164.
35 Umfassend Expertenkommission Amok Baden-Württemberg (Fn. 20).
Gewalt durch Jungen und Mädchen

CHRISTIAN PFEIFFER / DIRK BAIER

I. Ausgangsüberlegungen
Der Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik zeigt, dass jugendliche
Mädchen deutlich seltener zu körperlicher Gewalt greifen als Jungen. So
wurden im Jahr 2008 in Deutschland 7.328 Mädchen als Tatverdächtige der
Gewaltkriminalität registriert gegenüber 36.246 Jungen. Pressemeldungen
erwecken allerdings den Eindruck, als ob die Gewalt unter Mädchen deut-
lich zugenommen hat und dass es zu einer Angleichung männlicher und
weiblicher Verhaltensmuster gekommen ist. "Mädchen schlagen zu" titelte
der Tagesspiegel am 7.2.2007. "Schülerinnen verabreden Schlägerei" war
im Hamburger Abendblatt vom 29.1.2009 zu lesen. Die Autoren dieser und
anderer Artikel waren sich in einem Punkt einig: Die Mädchengewalt wird
offenbar immer bedrohlicher.
Wissenschaftliche Studien vermitteln zu dieser Frage allerdings kein ein-
heitliches Bild. So konstatieren Bruns und Wittmann 1, dass es zwar einen
Anstieg weiblicher Gewaltdelinquenz gibt; ob dies aber auch zu einer Ver-
ringerung der Geschlechtsunterschiede im Gewaltverhalten führt, sei frag-
lich: "Neben Hinweisen auf stabile oder sinkende Tendenzen gibt es auch
Anzeichen für zunehmende Unterschiede" (S. 51). Für die USA berichten
Steffensmeier et al. 2 anhand von Hell- und Dunkelfelddaten, dass es weder
einen Anstieg der Mädchengewalt gegeben hat, noch dass es zu einer Annä-
herung zwischen Jungen und Mädchen im Gewaltverhalten gekommen ist.
Stattdessen konstatieren sie, dass Mädchengewalt häufiger durch Polizei
und Gerichte kriminalisiert wird und dass insgesamt die Toleranz gegenüber
der Mädchengewalt gesunken ist. Diese Entwicklungen haben zur Folge,
dass mehr Mädchengewalt ins polizeiliche Hellfeld gelangt und dass sich
damit der Geschlechterunterschied nur in den Hellfeldstatistiken verringert.
Wir möchten nachfolgend überprüfen, welche Entwicklung sich für
Deutschland zeigt, wenn entsprechende Analysen durchgeführt werden.

1 BruhnslWittmann in: Raithel/Mansel (Hrsg.), Kriminalität und Gewalt im Jugendalter,


2003, S. 41-63.
2 StejfensmeierlSchwart=IZhonglAckerman Criminology 43 (2005), 355-406.
70 Christian Pfeiffer / Dirk Baier

Zunächst soll deshalb untersucht werden, was sich zur Gewaltkriminalität


von Jungen und Mädchen ergibt, wenn man Hellfelddaten (Kriminalstatis-
tik, Strafverfolgungsstatistik) zugrunde legt. In einem zweiten Schritt ziehen
wir dann Dunkelfelddaten aus verschiedenen Schülerbefragungen heran, die
das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) seit dem Jahr
1998 durchgeruhrt hat.

11. Entwicklung der Jungen- und Mädchengewalt


im polizeilichen Hellfeld
Ausgangspunkt der Hellfeldanalyse ist das Jahr 2008. In der nachfolgen-
den Abbildung 1 wird auf der linken Seite im Hinblick auf verschiedene
Gewaltdelikte einschließlich der einfachen Körperverletzung dargestellt, in
welchem Ausmaß die Tatverdächtigenbelastungszahl (Tatverdächtige pro
100.000 der Altersgruppe, TVBZ) der Jungen die der Mädchen übersteigt.

Abbildung 1: Verhältnis Tatverdächtigenbelastungszahl Jungen zu Tatver-


dächtigenbelastungszahl Mädchen für ausgewählte Delikte in der Bundes-
republik Deutschland im Jahr 2008

12,0
9,4 9,6
10,0

8,0

6,0

4,0

2,0

0,0

Gewaltdelikte Eigentumsdelikte

Auf der rechten Seite der Abbildung 1 ist dieselbe Information rur Eigen-
tumsdelikte aufgeführt. Bei beiden Delikttypen ergibt sich eine zentrale
Folgerung: Je schwerer eine Straftat ist, umso deutlicher dominieren die
Jungen die Tatverdächtigenbelastungszahlen. Bei Mord übersteigt die
TVBZ der Jungen die der Mädchen um das 9,4fache, zum Raub zeigt sich
Gewalt durch Jungen und Mädchen 71

eine 8,2fache Dominanz. Beim Totschlag liegt die TVBZ der Jungen um
das 7,1 fache über der TVBZ der Mädchen. Bei der gefährlichen/schweren
und bei der einfachen Körperverletzung reduziert sie sich die Jungendomi-
nanz auf das 4,3- bzw. 3,1 fache. Im Hinblick auf die Eigentumsdelikte fällt
die Diskrepanz zwischen schweren und leichten Delikten noch stärker aus.
Einer im Vergleich zu den Mädchen 9,6-fachen TVBZ der Jungen beim
schweren Diebstahl steht beim Ladendiebstahl ein Gleichstand der Ge-
schlechter gegenüber.
Zu ausgewählten Delikten soll anhand der Daten der Polizeilichen Krimi-
nalstatistik ferner in der nachfolgenden Tabelle 1 eine Längsschnittanalyse
präsentiert werden, bei der wir uns aus Platzgründen auf die Jahre 1993,
2000 und 2008 beschränken.

Tabelle 1: Tatverdächtige und Tatverdächtigenbelastungszahl (TVBZ) für


ausgewählte Delikte nach Geschlecht in der Bundesrepublik Deutschland
1993, 2000 und 2008

1993
..................• ••• • ••••
75 u
8 4,4 0,5 - ..

2000 84
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. , •
10·• •••••• • H
4,5 "
0,6 .

2008 69 7 3,8 0,4


."
1993 18105 ·
2429 1061,9
hU H
151,2 n ..

2000 33359
...............................................................................u
5191 H
1780,9 292,7 .

2008 36246 7328 2013,7 428,5


1993 12470 2310
2000
............................. .
22747 5230 ~
1214,4 294,9 4,1 .
2008 28296 8557 1572,0 500,4 3,1
schwerer Diebstahl 1993
.............................. ;
37550 2415 2202,3 150,3 14,7 .
2000
...................... u.~... •
32278 ~ •••••••• h ••• ,..
2948
u •••••• •••••• •
1723,2 " ••• u
166,2 u
10,4 .,•••••••••••••

2008 25758 2554 1431,0 149,4 9,6


adendiebstahl 1993 47476 24662 2784,5
..............................,.
1534,9 ·..n.··
1,8".. ~ .
2000 46691 37008 2492,6 2086,5 1,2
..................................................................................................................,
2008 30913 29553 1717,4 1728,2 1,0

Auch im Hinblick auf die Längsschnittdaten zeichnet sich ein klarer Be-
fund ab. Beim schwersten Delikt, dem Mord, ist die Dominanz der Jungen
gegenüber den Mädchen im Vergleich von 1993 und 2008 geringfügig
angestiegen (von einer 8,8fachen auf eine 9,4fache TVBZ). Bei der insge-
samt registrierten Gewaltkriminalität ist sie im Verlauf der 15 Jahre um
etwa ein Drittel gesunken (von einer 7,Ofachen auf eine 4,7fache TVBZ).
Ein entsprechendes Bild zeigt sich zum schweren Diebstahl. Die 14,7fache
72 Christian Pfeiffer / Dirk Baier

Dominanz der Jungen aus dem Jahr 1993 reduziert sich auf das 9,6fache im
Jahr 2008. Bei der einfachen Körperverletzung ist der Annäherungsprozess
der Geschlechter noch ausgeprägter (vorn 5,1 fachen auf das 3, 1fache). Zum
Ladendiebstahl zeigt sich schließlich der relativ betrachtet stärkste Anglei-
chungsprozess der Mädchendelinquenz zu der der Jungen. Der 1,8fachen
TVBZ des Jahres 1993 steht 2008 gegenüber, dass die Mädchen erstmals
geringfügig dominieren (TVBZ: 1728,2 zu 1717,4).3 Ingesamt betrachtet
zeigt sich damit, dass es im Verlauf der letzten 15 Jahre bei der registrierten
Jugendgewalt durchaus einen Annäherungsprozess der Tatverdächtigenbe-
lastungsziffem gegeben hat. Entsprechendes wird auch zu den Diebstahls-
delikten erkennbar. Diese Angleichung fällt allerdings bei den leichten
Delikten jeweils erheblich stärker aus als bei den schweren Delikten und ist
beim Mord im Vergleich von 1993 zu 2008 nicht eingetreten.
Zur insgesamt registrierten Gewaltdelinquenz von Jungen und Mädchen
soll diese Längsschnittentwicklung in der nachfolgenden Abbildung 2 für
den gesamten Zeitraum von 1993 bis 2008 dargestellt werden.
Die Verlaufsformen für die beiden Geschlechter demonstrieren, dass es
sowohl bei den Jungen als auch bei den Mädchen zu einem deutlichen An-
stieg der TVBZ gekommen ist. Er fällt bei den Mädchen mit einer Zunahme
um das 2,8fache allerdings höher aus als bei den Jungen (Zunahme um das
1,9fache). Auf der anderen Seite zeigt sich, dass im Verhältnis von Jungen
und Mädchen der Abstand der Gewaltbelastung im Laufe der 15 Jahre grö-
ßer geworden ist: 1993 überstieg die TVBZ der Jungen die der Mädchen um
911, im Jahr 2008 dagegen um 1585. Der in der Abbildung relativ starke
Anstieg der polizeilich registrierten Mädchengewalt beruht also auch auf
dem sehr niedrigen Ausgangsniveau, das sich für die weiblichen Jugendli-
chen im Jahr 1993 ergeben hat.

3 Besondere Beachtung verdient bei dieser Längsschnittbetrachtung, dass sich im Hinblick


auf den schweren Diebstahl und den Ladendiebstahl unterschiedliche Längsschnitttrends zu
Jungen und Mädchen ergeben. Während sich zu den Jungen im Verlauf der 15 Jahre ein klares
Sinken der polizeilich registrierten Diebstahlskriminalität abzeichnet (schwerer Diebstahl
minus 35 %, Ladendiebstahl minus 38,3 0/0) bleibt die TVBZ der Mädchen beim schweren
Diebstahl im Vergleich von 1993 und 2008 auf demselben Niveau und erreicht beim Laden-
diebstahl sogar ein leichtes Plus von 12,6 0/0.
Gewalt durch Jungen und Mädchen 73

Abbildung 2: Entwicklung der Tatverdächtigenbelastungszahlen für Ge-


waltkriminalität nach Geschlecht in der Bundesrepublik Deutschland seit
1993

Die bisherige Analyse der Hellfelddaten stützt die Annahme, dass die
Gewaltdelinquenz von Jungen insgesamt betrachtet eine größere Tatschwe-
re aufweist als die der Mädchen. Davon ausgehend leitet sich die Annahme
ab, dass sich zu männlichen Tatverdächtigen der Gewaltdelikte eine höhere
Anklage- und Verurteiltenquote ergeben müsste als zu weiblichen. Wir
haben daher zusätzlich eine Auswertung der Strafverfolgungsstatistik
durchgeführt. In Abbildung 3 ist dargestellt, wie die Verurteiltenzahl der
Jungen die der Mädchen im Bereich der Raubtaten bzw. Erpressungen so-
wie der gefahrlichen Körperverletzungen in den Jahren 2000 bis 2008 über-
steigt. Die Verurteiltenzahl gibt an, wie viel Personen pro 100.000 der AI-
tersgruppe wegen eines bestimmten Delikts verurteilt worden sind.
In Abbildung 3 ist erstens erkennbar, dass im Vergleich zum Verhältnis
der Tatverdächtigenbelastungszahlen die Verhältnisse bei den Verurteilten-
zahlen noch einmal stärker zuungunsten der Jungen ausfallen: Überstieg die
TVBZ der Jungen bei der gefahrlichen/schweren Körperverletzung im Jahr
2008 die der Mädchen um das 4,3 fache, findet sich bei der Verurteiltenzahl,
dass die der Jungen die der Mädchen um das 5,8fache übersteigt; gleiches
gilt für den Raub/die Erpressung. 4 Zweitens sind auch in der Strafverfol-

4 Zu beachten ist, dass die Kategorien der Kriminalstatistik und die Kategorien der Strafver-
folgungsstatistik nicht deckungsgleich sind. Der PKS-Schlüssel für die gefährlichen/schweren
Körperverletzung ist 222000 und für Raub 21 OOOO~ aus der Strafverfolgungsstatistik wurden
die nach § 224 Abs. 1 (gefährliche Körperverletzung) und nach § 249-256 sowie § 316a
(Raub/Erpressung) verurteilten Jugendlichen für die Auswertungen herangezogen.
74 Christian Pfeiffer I Dirk Baier

gungsstatistik bei schweren Taten (Raub/Erpressung) Jungen noch stärker


überrepräsentiert als bei weniger schweren Taten (gefährliche Körperverlet-
zung). Drittens nähern sich die Mädchen über die Jahre hinweg weniger den
Jungen an, als es bei den Auswertungen der Kriminalstatistik der Fall ist.
Bei gefährlichen Körperverletzungen ist das Verhältnis von verurteilten
Jungen zu verurteilten Mädchen vom 7,2fachen auf das 5,8fache gesunken;
allerdings hat sich die Veränderung im Wesentlichen bis 2003 zugetragen,
danach ist das Verhältnis weitestgehend konstant. Bei Raublbei der Erpres-
sung findet sich ebenfalls eine Annäherung zwischen 2002 und 2006, da-
nach gehen die Zahlen aber wieder auseinander, d.h. Jungen werden im
Vergleich zu Mädchen noch einmal häufiger verurteilt als die Jahre davor.
Ein möglicher Schluss aus diesen Auswertungen ist, dass die Justiz eine
korrektive Funktion übernimmt: Es werden zwar mehr Mädchen als früher
polizeilich wegen eines Gewaltdelikts registriert. Dabei handelt es sich aber
um weniger schwere Taten, die nicht notwendigerweise auch zu einer ent-
sprechenden Verurteilung führen.

Abbildung 3: Entwicklung des Verhältnisses der Verurteiltenzahl Jungen


zur Verurteiltenzahl Mädchen für ausgewählte Delikte seit 2000 (bis ein-
schließlich 2006: altes Bundesgebiet inkl. Berlin; seit 2007: gesamte Bun-
desrepublik Deutschland, gekennzeichnet durch *)

14,0
12,1 12,0
12,0

10,0

8,0 7,2

6,0

4,0

2,0
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007* 2008*

Die Strafverfolgungsstatistik ermöglicht darüber hinaus einen Vergleich


dazu, zu welchem Anteil es sich bei den wegen dieser Gewaltdelikte ange-
klagten 14- bis unter 18-Jährigen um Personen handelt, die bereits frühere
Verurteilungen aufweisen. Bei den Jungen liegt diese Quote jeweils deutlich
Gewalt durch Jungen und Mädchen 75

höher als bei den Mädchen: Bei Raubdelikten hatten 35,2 % der Jungen,
aber nur 22,3 % der Mädchen bereits eine Verurteilung erlebt, bei den ge-
fährlichen Körperverletzungen betragen die Quoten 24,2 und 13,4 %.5 Die
Jungen dominieren bei der Gruppe derjenigen, die drei und mehr frühere
Verurteilungen aufweisen, die also in kriminelle Karrieren hineingewachsen
sind (Raubdelikte 9,7 zu 5,3 %, gefährliche Körperverletzungen 5,3 zu
2,0 %). Bei den Mädchen wirkt sich offenkundig die Erfahrung, wegen
einer Gewalttat angeklagt und verurteilt zu werden, stärker als bei den Jun-
gen als eine Art "Stopp-Signal" aus. Es mangelt allerdings an wissenschaft-
lichen Untersuchungen dazu, worin ihre geringere Rückfalltendenz begrün-
det ist.
Die Auswertungen der Hellfelddaten belegen zusammengefasst erstens,
dass es in den letzten Jahren zu einer Angleichung der Belastungszahlen
von Jungen und Mädchen in verschiedenen Deliktsbereichen, d.h. auch im
Bereich der Gewaltdelikte, gekommen ist. Bei schweren Straftaten, insbe-
sondere beim Mord ist eine solche Entwicklung allerdings nicht sichtbar;
zudem hat die Entwicklung auch nur in einem Deliktsbereich, dem Laden-
diebstahl, dazu geführt, dass Jungen und Mädchen mittlerweile gleich häu-
fig als Täter polizeilich registriert werden. Bei den anderen betrachteten
Straftaten dominieren weiterhin, z. T. sehr deutlich, die männlichen Täter.
Zweitens wird die Angleichung der Tatverdächtigenbelastungszahlen nicht
im selben Ausmaß in den Verurteiltenzahlen sichtbar. Eine mögliche Erklä-
rung für die Diskrepanz könnte sein, dass heute häufiger minderschwere
Mädchengewalt zur Anzeige gelangt, die keine Verurteilung zur Folge hat.

111. Befunde zur Entwicklung des Dunkelfelds der Jungen- und


Mädchengewalt aus repräsentativen Schülerbefragungen
Im Jahr 1998 wurden durch das Kriminologische Forschungsinstitut Nie-
dersachsen erstmalig in verschiedenen Städten repräsentative Befragungen
von Schülerinnen und Schülern der neunten Jahrgangsstufe durchgefuhrt. 6
In den Jahren 2005 bis 2008 erfolgten in einigen Städten Wiederholungsbe-
fragungen, die es ermöglichen, Erkenntnisse zur Entwicklung der Jugend-
gewalt im Dunkelfeld zu erarbeiten. 7 Teilweise konnten die Befragungen

5 Diese Auswertungen erfolgten anhand der Einzeldatensätze der Strafverfolgungsstatistik


der alten Bundesländer (inkl. Berlin) für die Jahre 2004 bis 2006.
6 Vgl. Wetzels/Enzmann/Mecklenburg/Pjeifjer Jugend und Gewalt. Eine repräsentative Dun-
keifeldanalyse in München und acht anderen deutschen Städten, 2001.
7 Vgl. Baier Entwicklung der Jugenddelinquenz und ausgewählter Bedingungsfaktoren seit
1998 in den Städten Hannover, München, Stuttgart und Schwäbisch GmÜnd. KFN-For-
76 Christian Pfeiffer / Dirk Baier

allerdings nur anhand reduzierter Stichproben bzw. mittels veränderter


Messinstrumente realisiert werden, weshalb darauf aufbauende Analysen
mit Unsicherheiten behaftet sind. Bei den nachfolgenden Auswertungen
konzentrieren wir uns deshalb auf vier Städte, für die diese Einschränkun-
gen nicht gelten. Hierbei handelt es sich um Hannover (Wiederholungsbe-
fragung 2006), München, Stuttgart und Schwäbisch Gmünd (Wiederho-
lungsbefragung jeweils 2005).
Für diese vier Städte kann festgestellt werden, dass der Anteil an Gewalt-
tätern über die Jahre hinweg zurückgegangen ist (Abbildung 4). Während
im Jahr 1998 noch 20,1 % der Befragten angaben, mindestens eine Gewalt-
tat 8 begangen zu haben, waren es sieben bzw. acht Jahre später nur noch
17,2 %. In den einzelnen Städten fällt der Rückgang der Gewalttäterrate
dabei durchaus unterschiedlich stark aus, einen signifikanten Anstieg hat es
aber in keiner Stadt gegeben.

Abbildung 4: Anteil befragter Jugendlicher, die Gewalttat begangen haben,


nach Geschlecht im Zeitvergleich (in %; gewichtete Daten; Befragung
München, Stuttgart, Hannover und Schwäbisch Gmünd)

40,0

30,0
3,6

• • • • •
2,8 2,8 2,7

O\~
C'l
2,8
.. ..
3,3 4,0

20,0

10,0

0,0

Raub Körperverletzung mind. eine Gewaltat mind. funf Gewalttaten

, _ _ Gesarnt ',::,,::1 Jungen ~f4_i-_._J,jI_M_ä_dc_he_n Ve_rh_äl_tn_is_Ju_ng~enl_M


. _._ _ __ äd_ch_en---,1

Über alle Städte hinweg ergibt sich auch fur einzelne Gewaltformen ein
Rückgang: Der Anteil an Raubtätern ist ebenso gesunken wir der Anteil an
Schülern, die Körperverletzungen begangen haben. Mehrfachgewalttäter,

schungsbericht Nr. 104, 2008; BaierlPfeifferlSimonsonlRabold Jugendliche in Deutschland als


Opfer und Täter von Gewalt. KFN-Forschungsbericht Nr. 107,2009.
8 Als Gewalttaten wurden der Raub, die Körperverletzung, die Erpressung und die Bedro-
hung mit Waffen erfragt.
Gewalt durch Jungen und Mädchen 77

d.h. Schüler, die fünf und mehr Gewalttaten begangen haben, gibt es heute
ebenfalls weniger als noch 1998 (5,9 zu 4,5 %).
Damit widersprechen die Befunde der Dunkelfeldforschung zum einen
den Entwicklungen, die auf Basis der Polizeilichen Kriminalstatistiken
berichtet wurden, die zumindest im Bereich der Körperverletzungen einen
deutlichen Anstieg der Gewaltbereitschaft ausweisen. Zum anderen zeigt
Abbildung 4 auch im Hinblick auf die Gewaltraten von Jungen und Mäd-
chen einen anderen Trend als er sich in der Polizeilichen Kriminalstatistik
ergibt: Im Dunkelfeld ist eine Angleichung der Gewaltbereitschaft der Ge-
schlechter nicht feststellbar. Das "Gender Gap" ist 2005/06 etwa genauso
groß wie 1998. Im Bereich der Raubtaten und der Mehrfachtäter nimmt der
Geschlechterunterschied sogar weiter zu, d.h. der Rückgang der Gewaltbe-
reitschaft fällt bei den Mädchen noch stärker aus als bei den Jungen.
Die überwiegend positiven Trends zur Entwicklung der selbstberichteten
Jugendgewalt finden ihre Entsprechung im Anstieg präventiv wirkender
Faktoren und im Sinken gewaltfördernder Lebensbedingungen der Jugend-
lichen. Für drei Faktoren ergeben sich nachweislich positive Trends - für
Jungen ebenso wie für Mädchen: 9 Erstens ist der Anteil an Jugendlichen
gesunken, die Gewaltopfererfahrungen machen mussten; der Kreislauf der
Gewalt wird also häufiger durchbrochen. Parallel dazu steigt zweitens der
Anteil an Jugendlichen, die innerhalb der letzten zwölf Monate in der Fami-
lie völlig gewaltfrei erzogen worden sind, d.h. die auch keine leichte Gewalt
in Form von bspw. Ohrfeigen oder Stößen erleben mussten. Drittens geht
der Anteil an Schülern zurück, die eine Hauptschule besuchen und damit
eine Schulform, die sich aufgrund der dort hohen Konzentration von famili-
är und sozial stark belasteten Jugendlichen bei multivariaten Analysen zur
Erklärung von Mehrfachgewalttäterschaft als Risikofaktor erwiesen hat. 10
Eine Erklärung dafür, warum sich Hellfeld- und Dunkelfeldstatistiken in
unterschiedlicher Weise entwickeln, kann gefunden werden, wenn wir die
Veränderungen in der Anzeigequote betrachten. In Abbildung 5 ist am Bei-
spiel der Anzeigequote bei Körperverletzungen aufgeführt, wie sich diese
über die Jahre hinweg verändert hat. ll Demnach wurden im Jahr 1998 nur
16,1 % der Körperverletzungen zur Anzeige gebracht, 2005/2006 hingegen
bereits 20,2 %, also ein Viertel mehr. Aus einem gleichbleibenden bzw.
rückläufigen Dunkelfeld gelangen also überproportional mehr Taten zur
Anzeige; im Hellfeld nimmt in der Konsequenz die Jugendkriminalität zu.
Dabei sind männliche wie weibliche Opfer heute häufiger bereit, die erlebte
Körperverletzung zur Anzeige zu bringen. Bei weiblichen Opfern steigt die

9 Vgl. für eine ausführlichere Darstellung BaierlPfeifferlRabold Kriminalistik 2009, 323-


333.
10 Vgl. BaierlPfeiffer Aus Politik und Zeitgeschichte 2007, 17-26.
11 Grundlage der Berechnung der Anzeigequote sind die Angaben der Opfer von Körperver-
letzungen mit und ohne Waffen zur zuletzt erlebten Tat.
78 Christian Pfeiffer / Dirk Baier

Anzeigquote von 17,9 auf 21,8 %, bei männlichen Opfern von 15,3 auf
19,3 %.

Abbildung 5: Anzeigequote für Körperverletzungen nach Geschlecht des


Opfers und Geschlecht des Täters im Zeitvergleich (in %; gewichtete Daten;
Befragung München, Stuttgart, Hannover und Schwäbisch Gmünd; n.a. =
nicht abgebildet, da N < 20)

30,0

25,0

20,0

]5,0

10,0

5,0

0,0
1998 2005/06

Anzeige:

Betrachten wir die Entwicklung der Anzeigequote getrennt nach dem Ge-
schlecht des Angreifers, so erhalten wir zusätzlich eine Begründung dafür,
dass trotz weitgehender Konstanz des Geschlechterverhältnisses im Dunkel-
feld, im Hellfeld eine Annäherung der Geschlechter zu beobachten ist: Das
Risiko, nach einer Tat bei der Polizei angezeigt zu werden, ist für weibliche
Täter weit stärker angestiegen als fur männliche Täter. Vor allem dann,
wenn weibliche Opfer von weiblichen Tätern angegriffen werden, ist die
Anzeigebereitschaft mittlerweile besonders hoch. Dies spricht dafür, dass
sich die Sensibilität gegenüber der Mädchengewalt überproportional erhöht
hat, die Toleranz gegenüber der Mädchengewalt ist gesunken.
Die Dunkelfelddaten relativieren damit den in der Polizeilichen Kriminal-
statistik aufscheinenden Trend der Angleichung des Gewaltverhaltens von
Jungen und Mädchen. Gewaltbereite Mädchen werden nicht häufiger, son-
dern sichtbarer. Es bleibt abzuwarten, ob sich möglicherweise in den nächs-
ten Jahren das "Gender Gap" im Hellfeld wieder vergrößern wird. Wie
Abbildung 5 zeigt, haben männliche Gewalttäter zumindest in den vier
untersuchten Städten ein deutlich geringeres Risiko, angezeigt zu werden.
Auch in unserer deutschlandweiten Schülerbefragung 2007/2008 konnten
wir zumindest bei leichten Körperverletzungen zeigen, dass weibliche Täter
Gewalt durch Jungen und Mädchen 79

häufiger als männliche Täter angezeigt werden. 12 Wenn nun eine Entwick-
lung einsetzt, die männliche Gewalttäter vergleichbar häufig wie weibliche
Gewalttäter ins Hellfeld bringt, dann würde dies zur Folge haben, dass die
Belastungszahlen der Jungen und der Mädchen nicht weiter konvergieren,
sondern auseinander gehen.

IV. Schluss
Mittels der vorgestellten Auswertungen sollte der Frage nachgegangen
werden, ob sich die Gewaltbereitschaft jugendlicher Mädchen anders bzw.
in stärkerem Maße verändert hat als die jugendlicher Jungen. Unseres Er-
achtens gibt es hierrur keine belastbaren empirischen Belege. Stattdessen
ist, wie dies Steffensmeier et al. rur die USA konstatieren, auch in Deutsch-
land davon auszugehen, dass Mädchen nicht reihenweise gewalttätiger
werden, sondern dass sie etwas seltener als früher als Gewalttäter in Er-
scheinung treten. Dieser Rückgang wird aber überkompensiert durch einen
deutlichen Anstieg des Registrierungsrisikos weiblicher Gewalttäter. Frei-
lich ist damit nicht ausgeschlossen, dass es Städte in Deutschland gibt, in
denen ein realer Anstieg der Gewaltbereitschaft von Mädchen existiert. Die
vorhandenen Schülerbefragungsdaten decken nur vier Städte ab; eine
deutschlandweite Repräsentativbefragung rur Jugendliche wurde erstmals
2007/2008 durchgeruhrt, eine Wiederholung steht bislang noch aus. Zudem
gelten für die vorhandenen Befragungsdaten die bekannten Einschränkun-
gen: Über Heranwachsende, ebenfalls eine Personengruppe mit überdurch-
schnittlicher Gewaltbereitschaft, lassen sich bislang keine Aussagen treffen
ebenso wenig wie für hochbelastete Personengruppen, die über Schülerbe-
fragungen nicht erreicht werden können (z.B. Schulabbrecher, Intensiv-
schwänzer).
Die vorliegende, deutschlandweit repräsentative Schülerbefragung
2007/2008 haben wir aber bereits dazu genutzt, die Frage zu untersuchen,
ob es rür Mädchen und Jungen verschiedene Ursachenfaktoren des Gewalt-
verhaltens gibt. 13 Zu dieser Frage liegen weit mehr Studien vor als zur Frage
der Entwicklung der Gewaltbereitschaft. Der Großteil der Studien kommt
dabei zu dem Ergebnis, dass die gleichen Erklärungsfaktoren rür Jungen
wie Mädchen gelten. 14 Dieses Ergebnis konnten wir mit unserer Stichprobe
bestätigen, wobei wir 14 Faktoren in die Analyse einbezogen haben. Der
Kontakt mit gewalttätigen Freunden, eigene Gewaltopfererfahrungen, ge-

12 Vgl. Baier u. a. (Fn. 7), S. 46 f.


13 Baier u. a. (Fn. 9), 328 ff.
14 Vgl. u.a. Johansson/Kempf-Leonard Crime and Delinquency 55 (2009),216-240; Junger-
Tas/Ribeaud/CruyffEuropean Journal of Criminology 3 (2004), 333-375.
80 Christian Pfeiffer I Dirk Baier

ringe Selbstkontrollfähigkeiten und bestimmte Verhaltensauffälligkeiten


wie das Schulschwänzen oder ein häufiger Alkoholkonsum erweisen sich
bei Jungen wie bei Mädchen als wichtige Prädiktoren der Gewalttäterschaft.
Generell gilt also: Wenn ein Faktor geeignet ist, bei Jungen die Gewaltent-
stehung vorherzusagen, dann wirkt er bei Mädchen in die gleiche Richtung.
Gegenläufige Effekte derart, dass ein Faktor bei Mädchen das Risiko der
Gewalttäterschaft erhöht, bei Jungen hingegen senkt (oder vice versa), sind
nicht zu beobachten. Insofern sind die Wege in die Gewalt bei beiden Ge-
schlechtern sehr ähnlich.
Zwei Befunde dieser Analyse verdienen aber besondere Beachtung: Ers-
tens hat sich gezeigt, dass einige Faktoren für die Gewaltbereitschaft von
Mädchen wichtiger sind als für die Gewaltbereitschaft von Jungen. So stei-
gern der Kontakt mit Gewaltmedien, das Erleben elterlicher Gewalt, die
geringe Selbstkontrolle und der Besuch einer Hauptschule das Gewaltrisiko
bei Mädchen in stärkerem Maße als bei Jungen; bei Jungen hingegen wirkt
sich das Schulschwänzen stärker auf das Gewaltverhalten aus. Hieraus kann
abgeleitet werden, dass Präventionsmaßnahmen zumindest teilweise ge-
schlechtsspezifisch auszugestalten sind. Ein zweiter Befund ist, dass trotz
Berücksichtigung von 14 Erklärungsfaktoren Jungen noch immer ein dop-
pelt so hohes Gewaltrisiko aufweisen als Mädchen; d.h. die häufigere Be-
kanntschaft mit delinquenten Freunden, der häufigere Alkoholkonsum usw.
der Jungen erklärt ihre häufigere Gewaltanwendung nicht vollständig. Inso-
fern erscheinen weitere Studien notwendig, die die Ursachen der Gewaltbe-
reitschaft von Jungen und Mädchen ebenso untersuchen wie die Entwick-
lung der Gewaltbereitschaft der beiden Geschlechter über die Zeit hinweg.
Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule
Ergebnisse einer Replikationsstudie

FRANZ STRENG

I. Einleitung
Parallel zu einer zunehmenden Besorgnis über Jugendkriminalität hat
auch die Beschäftigung mit Gewalt in der Schule an Interesse gewonnen.
Dies zunächst schon deshalb, weil aggressives Schulverhalten auch als Prä-
diktor für weitere Kriminalität gelten kann. 1 Eine stärkere Konzentration auf
das Phänomen der Schulgewalt als solche und auf den pädagogischen Um-
gang damit ist vor allem mit dem Namen Dan Olweus und der Begriffsbil-
dung des "Bullying" verbunden. 2 Freilich soll im vorliegenden Beitrag nicht
versucht werden, diese Entwicklung und die entsprechenden Studien akri-
bisch nachzuzeichnen. Das Anliegen ist ein bescheideneres. Ausgehend von
einer im Jahre 1995 durchgeführten Befragung an Schulen einer bayeri-
schen Mittelstadt soll anhand der Daten einer 2008 durchgeführten Replika-
tionsstudie untersucht werden, inwieweit sich in den einbezogenen Schulen
Änderungen der Aggressionsbelastung ergeben haben. Dabei geht es nicht
nur um zahlenmäßige Veränderungen, sondern auch darum, inwieweit sich
in den Bedingungsfaktoren von aggressivem Schülerverhalten Veränderun-
gen nachweisen lassen. Nachgegangen werden soll auch der Frage nach der
Bedeutung des Merkmals "Migranten(kind)" für die fraglichen schulischen

1 Dazu Göppinger Der Täter in seinen sozialen Bezügen, 1983, S. 63 ff; Schöch Stichwort
"Schule" in: Kaiser/KernerlSacklSchellhoss (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch,
3. Aufl. 1993, S. 457 ff; Farrington in: Hawkins (Hrsg.), Delinquency and Crime - Current
Theories, 1996, S. 68,98 ff; GöppingerlBock Kriminologie, 6. Aufl. 2008, § 13 Rn. 18 f, § 22
Rn. 8 ff (sozioscolares Syndrom); ferner SampsonlLaub Crime in the Making - Pathways and
Turning Points Through Life, 1993, S. 128 f; FarringtonlCoidlWest MschrKrim 92 (2009),
160,166 ff.
2 Vgl. Olweus Aggression in the Schools - Bullies and Whipping Boys, 1978; ders. Bully-
ing at School, 1993; ders. Gewalt in der Schule - Was Lehrer und Eltern wissen sollten - und
tun können, 2. Aufl. 1996; dazu etwa LösellBliesener Aggression und Delinquenz unter Ju-
gendlichen - Untersuchungen von kognitiven und sozialen Bedingungen, 2003, S. 25 ff; Ban-
nenberglRössnerlKempjer ZJJ 2004, 159 ff
82 Franz Streng

Verhaltensauffalligkeiten. Zudem ermöglicht die nun größere Anzahl Be-


fragter eine statistisch besser absicherbare Untersuchung der Frage nach den
Hintergründen fremden feindlicher Haltungen.

11. Die Datenbasis


1. Erste Befragung
Die erste Befragung erfolgte - wie auch die zweite - im Rahmen eines
vom Verfasser betreuten kriminologischen Dissertationsvorhabens. Der ge-
nutzte standardisierte Fragebogen sollte alle möglichen Erscheinungsformen
der Gewalt an Schulen abfragen, wobei die Schüler als Täter, als Opfer und
als Informanten über beobachtete Gewaltakte anzusprechen waren. Zudem
sollten alle denkbaren - nämlich die nach den bisherigen Forschungsergeb-
nissen relevanten und die nach Alltagstheorien naheliegenden - gewaltrele-
vanten Fakten erhoben werden. Hierfür herangezogen wurden im Sinne ei-
nes explorativen Vorgehens Faktoren aus dem engeren und weiteren
familiären Bereich, aus dem sonstigen sozialen und sozioökonomischen
Umfeld der Befragten, aus dem schulischen Umfeld sowie Persönlichkeits-
dimensionen, die sich in Form von Einstellungen (Attitüden) erfragen lie-
ßen. Der Fragebogen für Schüler der Klassen 7 bis einschließlich 11 um-
fasste derart 96 Fragen, wobei für die Antworten multiple choice-Vorgaben
oder rating-Skalen enthalten waren.
Die Befragung fand im Juli 1995 in einem Schulzentrum statt, in wel-
chem Hauptschule, Realschule und Gymnasium angesiedelt sind. Es wurden
in diesen Schultypen 376 Schüler der Klassenstufen 7, 9 und (im Gymnasi-
um) 11 befragt.
Die Befragungssituation war soweit irgend möglich standardisiert, so dass
fragebogenfremde Einflussfaktoren, die zu einer methodenbedingten Vari-
anz in den Antworten hätten führen können, weitestgehend ausgeschlossen
waren. Die Präsentation des Befragungsprojekts erfolgte im Rahmen der zu
nutzenden Unterrichtsstunde stets durch dieselbe Person, die sich in der
immer gleichen Art und Weise den Schülern vorstellte und die Durchfüh-
rung der Befragung erläuterte. Großer Wert wurde hierbei auf die Versiche-
rung einer völligen Anonymität der Befragung gelegt. Im Anschluss an die
Vorstellung erhielten die Schüler die Fragebögen ausgeteilt und hatten für
die Bearbeitung 45 Minuten Zeit. Nach dem Zeitablauf sammelte der Be-
fragungsleiter die einzelnen Fragebögen ein. Hierbei war gewährleistet, dass
für die anwesenden Lehrer keinerlei Möglichkeit des Einblicks in die ausge-
füllten Bögen bestand.
Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule 83

Die Rücklaufquote ausgefüllter Fragebögen betrug 100 0/0. Jedoch muss-


ten 2 der 376 Fragebögen wegen offensichtlicher Falschbeantwortungen
aussortiert werden, so dass aus dem Schulzentrum 374 Fragebögen für die
Auswertung zur Verfügung standen. Dies entspricht einer Rücklaufquote
von netto 99,5 %.
Im November 1995 wurden in einer weiteren Schule derselben Stadt mit-
tels des gleichen Fragebogens und in gleicher Weise Befragungen durchge-
führt. Dort waren weitere 81 Schüler der 7. und 9. Klassenstufe der Haupt-
schule beteiligt; die Rücklaufquote betrug netto 100 0/0.
Insgesamt wurden so 455 Schüler durch die Befragung erfasst, nämlich
180 Hauptschüler, 119 Realschüler und 156 Gymnasiasten. 3

2. Zweite Befragung
Der Fragebogen für die Zweitbefragung war in Anlehnung an den in der
Erststudie genutzten erstellt worden, wobei auf die weitgehend wörtliche
Übernahme speziell der Fragen zur Erhebung des Themas "Gewalt" und der
hierfür als relevant hervorgetretenen Erklärungsfaktoren Wert gelegt wurde,
um Veränderungen in der Gewaltbelastung und in deren Hintergründen
messen zu können. Daneben ist das Thema "Gewalt auf dem Schulweg" neu
in die Befragung aufgenommen worden und es brachte der Untersuchungs-
leiter zusätzliche Forschungsfragen ein. 4 So umfasste das Befragungsin-
strument 107 Items.
Im März bzw. Juli (Gymnasium) 2008 wurden insgesamt 351 Schüler der
7., 9. und 11. Klassenstufe im schon für die Erstbefragung genutzten Schul-
zentrum mittels des beschriebenen Befragungsinstruments interviewt. Es
entfielen dabei 87 Befragte auf die Hauptschule, 114 auf die Realschule und
150 auf das Gymnasium. Weitere 76 Hauptschüler wurden in der auch in
der Erstbefragung schon erfassten weiteren Hauptschule interviewt, was ei-
ne Untersuchungspopulation von insgesamt 427 Schülern ergab. Eine in-
haltlich parallel dazu bereits im Jahre 2007 durchgeführte Befragung von
177 Schülern einer Gesamtschule in Thüringen bleibt für die vorliegende
Auswertung unberücksichtigt. Die Befragungen erfolgten schriftlich per
weitestgehend standardisiertem Fragebogen als Einzelbefragung im Klas-
senverband. Ebenso wie in der Erststudie wurden die Befragungen alle vom
Untersuchungsleiter persönlich und in der entsprechenden Art durchgeführt.

3 Ausführlich Pöll Gewalt in der Schule - Ergebnisse einer Befragung von Schülern und
Lehrern, Jur. Diss. Erlangen, 1998, S. 35 ff.
4 Ausführlich Hacker Gewalt in der Schule - Analyse einer Schülerbefragung, 2010,
S. 28 ff.
84 Franz Streng

Hinsichtlich der Verteilung von Alter, Geschlecht und Schulzugehörigkeit


der Befragten gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen der zweiten
und der ersten Befragung. Erheblich größer als 1995 aber war 2008 der An-
teil der befragten Schüler mit Migrationshintergrund, nämlich 20,6 % ge-
genüber noch 11,4 % in der Erstbefragung. 5
Größere Probleme als bei der Erststudie hatten sich bei der Einholung der
rur die Durchruhrung der Befragung erforderlichen Genehmigung des Baye-
rischen Staatsministeriums rur Unterricht und Kultus ergeben. Die vom Mi-
nisterium nun geforderten schriftlichen Zustimmungserklärungen der El-
tern, auf der Basis einer vorherigen Zusendung des Fragebogens, stießen
beim Verfasser auf größte Bedenken. Im Wege eines Kompromisses wurde
dieses formelle Zustimmungsverfahren daher nur bzw. immerhin testweise
in einer Hauptschulklasse durchgeftihrt. Dies ftihrte letztlich zu einem To-
talausfall dieser Klasse: Lediglich eine Schülerin hatte die schriftliche Er-
laubnis der zuständigen Erziehungsperson erhalten. In den anderen Klassen
waren in beiden Studien die Eltern vor der Befragung über den Inhalt des
Fragebogens in einem Schreiben überschlägig informiert worden. Es war
ihnen freigestellt, bei etwaigen Bedenken ihren Kindern die Teilnahme an
der Befragung zu verbieten. Dieses Verfahren führte zu keinen Ausfällen.

111. Ergebnisse
1. Die Entwicklung aggressiven Schülerverhaltens
Ausgehend vom Zeitpunkt der Erstbefragung, nämlich 1995, weist die
Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundes eine stetig angestiegene Zahl spe-
ziell leichter Körperverletzungsdelikte aus. Anhand der Häufigkeitsziffer
(HZ) der qualifizierten Körperverletzungsdelikte lässt sich für Bayern ein
Anstieg von HZ 93 im Jahr 1995 auf HZ 136 im Jahr 2008 (HZ 140 im Jahr
2007) nachweisen und rur die vorsätzliche leichte Körperverletzung ein An-
stieg von HZ 259 auf HZ 420. 6 Auch eine Sonderauszählung für junge
Menschen durch das Bayerische Landeskriminalamt belegt den erheblichen
Anstieg der Auffälligkeit im Körperverletzungsbereich bei den 14- bis 17-
jährigen (hier nur Deutsche). So stieg die Belastung dieser Altersgruppe mit
qualifizierten Körperverletzungstaten von TVBZ 404 im Jahr 1998 auf 551
im Jahr 2008; bei leichten Körperverletzungen stieg die TVBZ von 472 so-

5 Jahr (1995/2008) x Migrant (nein/ja). r = .13, P = .000. - Zur Definition des Migranten-
Status vgl. unten in III.3.
6 Vgl. BKA (Hrsg.), Polizeiliche Kriminalstatistik 2000 - Bundesrepublik Deutschland,
S. 154 ff.; BKA (Hrsg.), Polizeiliche Kritninalstatistik 2008 - Bundesrepublik Deutschland,
S. 148 ff.
Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule 85

gar auf 759 an. 7 Speziell am Schulstandort hat sich in der Tendenz ähnlich,
wenngleich mit größeren Schwankungen, ein Anstieg bei den vorsätzlichen
Körperverletzungsdelikten ergeben, wobei auch die Anzahl der kindlichen
und jugendlichen Tatverdächtigen zunahm (Schaubild 1).8 Ganz entspre-
chend provoziert die Medienbeachtung, die die Schulgewalt gerade in den
letzten Jahren gefunden hat, die Erwartung eines hier generell angestiege-
nen Problempotentials. Man denke nur an die aufsehenerregende Berichter-
stattung über die Berliner Rütli-Schule.

Schaubild 1

Körperverletzungskriminalität in der Gemeinde

Fälle insgesamt I kindl. u. jugendliche Tatverdächtige


Gefährliche
80 KörpeMrietzung
Einfache
KörpeMrietzung

u. Jugendliche
CI)

...
.~60
s:::.
U
:(0

...
"C
CI)
~
~ 400
~
N
.Q
J!
:;
LI..
20

1995 1998 2001 2003 2005 2007 2008


Jahr

Die Befunde aus den beiden hier herangezogenen Schülerbefragungen


stützen die Wahrnehmung aus den Polizeistatistiken freilich nicht. Es ergibt
sich vielmehr das Bild einer gänzlich undramatischen Entwicklung an den
untersuchten Schulen. Anhand der Fragen zu Beteiligung an ernsthafter

7 Vgl. Bayerisches LKA (Hrsg.), Junge Menschen als Tatverdächtige und Opfer von Strafta-
ten - Berichtsjahr 2008, S. 23.
8 Der Leitung der örtlichen Polizeiinspektion danke ich für die freundliche Kooperation und
das Zur-Verfügung-Stellen der fraglichen Daten.
86 Franz Streng

Rauferei (schon oft, gelegentlich, selten, ganz selten, nie), zu ernsthaftem


Schlagen eines Mitschülers (Antwortalternativen wie vorstehend) und zu
körperlichem Angriff auf einen Lehrer (mehr als einmal, einmal, noch nie)
lässt sich feststellen, dass auch bei einem Signifikanzniveau von lediglich
p :::; .05 sich kein signifikanter Zusammenhang zwischen Befragungsjahr
und Gewalthäufigkeit ergibt; es ist noch nicht einmal eine Tendenz im Sin-
ne zunehmender Gewaltbereitschaft zu erkennen. Dies gilt auch für eine
Zusammenfassung der drei Gewaltvariablen in einem Gewaltindex. 9 Im
Jahre 1995 gaben 47,6 % der Befragten an, keinen einzigen der drei ange-
sprochenen aggressiven Akte jemals begangen zu haben, im Jahre 2008 wa-
ren es sogar 51,9 %. Auch eine nach Schularten getrennte Auswertung er-
brachte einen ganz entsprechenden Befund für alle drei Schularten. Für
keine der Schularten ergab sich eine signifikante Veränderung bezüglich
Gewalthandlungen in den Angaben der Schüler. 10
Bestätigt werden diese Befunde durch die Befragung zu Viktimisierungs-
erlebnissen. Etwa im Jahre 1995 hatten 74,2 % der Befragten angegeben, in
der Schule noch nie ernsthaft geschlagen worden zu sein, im Jahre 2008 wa-
ren es gleich viele, nämlich 74,3 %. Auch in einem umfassenderen Opferin-
dex ergaben sich keine signifikanten Veränderungen in der Häufigkeit be-
richteter Viktimisierungen, wobei in dem Index neben Geschlagenwerden
auch Bestohlenwerden und Mobbingerlebnisse erfasst sind. II Diese Nega-
tivbefunde zu Veränderungen auf der Ebene von Viktimisierungen gelten
für alle drei Schularten gleichermaßen, d.h. mit statistisch irrelevanten Un-
terschieden.
Für die Interpretation dieser durchaus entdramatisierenden Befunde ist al-
lerdings zu berücksichtigen, dass Einzelstudien dieser Art immer nur für die
jeweils untersuchten Schulen gelten können. Erst eine Zusammenschau
einer Mehrzahl solcher Befragungen kann ein verallgemeinerbares Bild er-
geben. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass in Münster und
Duisburg in den Jahren 2000 bis 2003 und 2002 bis 2005 durchgeführte
Schülerbefragungen rur diese - gegenüber der hier vorliegenden Studie
kürzeren - Zeiträume gleichermaßen keinen Delinquenzanstieg verzeichne-
ten. I2 Entsprechendes ergibt die wohl bislang größte Schülerbefragung, die
vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen in acht Städten in
den Jahren 1998/99 und 2005 bis 2008 durchgeruhrt wurde; 13 die in dieser

9 Befragung (1995/2008) x Gewaltindex (niedrig ... hoch): Pearson's r = -.01, P = .69.


10 Die Korrelationskoeffizienten liegen zwischen r = .00 und r = -.06.
11 Befragung (1995/2008) x Opferindex (niedrig ... hoch): r = -.03, p = .39.
12 Vgl. Boers/Walburg/Reinecke MschrKrim 89 (2006), 63, 70 ff.
13 Vgl. Baier/Pfeiffer forum kriminalprävention 2/2009, 5, 11 ~ für vier Städte im Detail
nachgewiesen bei Baier Entwicklung der Jugenddelinquenz und ausgewählter Bedingungsfak-
Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule 87

Studie auch speziell für Gewalt in der Schule erhobenen Daten belegen,
dass kein Anstieg zu verzeichnen iSt. 14 Gleichartige Ergebnisse zur Schul-
gewalt erzielte eine 1994, 1999 und 2004 in Bayern durchgeführte Befra-
gung einer schülerrepräsentativen Stichprobe. 15 Bestätigt werden diese Be-
funde schließlich durch die rückläufige Entwicklung bezüglich der den
Unfallversicherern aus den Schulen gemeldeten Raufunfalle. 16
Da die neueren Schülerbefragungen die in der Polizeilichen Kriminalsta-
tistik dargestellte ständig steigende Gewaltdelinquenz nicht reproduzieren,
ergibt sich naheliegender Weise die Frage nach den Ursachen dieser Dis-
krepanz. Für die Entwicklung in der Polizeilichen Kriminalstatistik disku-
tiert man den Einfluss veränderten Anzeigeverhaltens, etwa infolge größerer
Sensibilität gegenüber Gewalt. Und tatsächlich haben Dunkelfeldstudien für
die letzten Jahre eine angestiegene Anzeigebereitschaft und insgesamt eine
Zurückdrängung des Dunkelfelds bei Gewaltdelikten aufgezeigt. 17 Da in Tä-
ter- und Opferbefragungen dieser potentielle Verzerrungseffekt sich nicht
oder kaum auswirkt, kann man die derart zur Prävalenzentwicklung gewon-
nenen Daten mit guten Gründen für aussagekräftiger halten als die in der
Polizeilichen Kriminalstatistik sich abzeichnende Verlaufskurve.

2. Veränderungen bei den Gewaltursachen


a. Ergebnisse aus der Befragung 1995
Auf der Basis der Daten der Erstbefragung war mittels schrittweiser mul-
tipler Regressionsanalyse ein optimales Erklärungsmodell für einen "Ge-
waltindex" bezüglich selbst begangener Gewaltakte als abhängige Variable
errechnet worden. Die hierin eingegangenen drei Fragen erfassten: - Betei-
ligung an ernsthaften Raufereien ("Rauferei ... keine Rangelei aus Spaß"); -
eigene körperliche Attacken gegen Mitschüler ("ernsthaft geschlagen"); -
körperliche Angriffe gegen Lehrer ("angegriffen oder geschlagen"). Eine

toren seit 1998 in den Städten Hannover, München, Stuttgart und Schwäbisch Gmünd, 2008
(KFN-Forschungsbericht Nr. 104), S. 25 ff.
14 Vgl. Baier (Fn. 13), S. 29 ff.~ vgl. ferner BM!, BM} (Hrsg.), Zweiter Periodischer Sicher-
heitsbericht, 2006, S. 391 ff. - Für eine noch andersartige Tendenz in einer Studie zur Ent-
wicklung von 1973 bis 1995 vgl. LösellBliesenerlAverbeck DVJJ-Journal 1998, 115, 118 ff.
15 Vgl. FuchslLamneklLuedtkelBaur Gewalt an Schulen. 1994 - 1999 - 2004,2. Aufl. 2009,
S. 89 ff.
16 Vgl. bei Baier (Fn. 13), S. 12.
17 Vgl. Schwind/FetchenhauerlAhlbornlWei}3 Kriminalitätsphänomene im Langzeitvergleich
am Beispiel einer Großstadt - Bochum 1975 - 1986 - 1998, 2001, S. 140 ff.~ Oberwitt-
lerlKöllisch Neue Kriminalpolitik 2004, 144, 146~ NaplavalM Walter MschrKrim 89 (2006),
338, 341 ff.~ Hein= Kriminalistik 2007, 301, 306 f.~ Baier (Fn. 13), S. 20~ Neubacher ZRP
2008, 192, 193 f.~ BaierlPfeiffer (Fn. 13),5, 11.
88 Franz Streng

oder mehrere Raufereien haben angegeben 44,8 % der Befragten, ein- oder
mehrmaliges ernsthaftes Schlagen 31,6 %, einen körperlichen Angriff gegen
Lehrer jedoch nur 2,4 %.18 Übergreifend berechnet haben 51,9 % der Be-
fragten mindestens einen dieser aggressiven Akte eingeräumt. 19

Tabelle 1

Gewalthandlungen in der Schule


Abhängige Variable: Gewaltindex (eigene Taten: keine .... viele)
Modell-
Signi- Erklärungskraft
ß-Wert Signifi-
fikanz (Korrig. R2x IOO)
kanz
Unabhängige Variablen: .000 51,0%
Gewaltbeobachtungen in der Schule
.27 .000
(wenige ... viele)
Geschlecht (weiblich/männlich) .19 .000
Viktimisierungen (keine .... mehrere) .16 .000
Waffen mitgebracht (nein/ja) .16 .001
Macho-Haltung (niedrig ... hoch) .15 .001
Verhältnis zu Lehrern (gut ... schlecht) .13 .002
Gewalt als Konfliktlöser (nein ... ja) .13 .003
Hauptschüler (nein/ja) .13 .01
Gewalteindruck von der Schule
.12 .02
(niedrig ... hoch)

Das erklärungskräftigste Modell findet sich in Tabelle 1 wiedergegeben;


es besagt, dass mit Gewaltakten besonders belastet ist: - wer angibt, in der
Schule viele Gewaltakte beobachtet zu haben; - die männlichen Jugendli-
chen; - wer in der Schule Gewaltopfer geworden ist; - wer gelegentlich
Waffen mit in die Schule bringt; - die Befragten mit ausgeprägter Macho-
Haltung (sich von anderen nichts sagen lassen wollen; sich nichts gefallen
lassen; nicht nachgeben bei Konflikten); - die Befragten mit einem schlech-
ten Verhältnis zu ihren Lehrern; - wer Konfliktlösung durch Gewalt bejaht;
- die Hauptschüler; - wer das Schulklima als durch Gewalt geprägt sieht.

b. Ergebnisse aus der Befragung 2008


Auch für die Zweitbefragung des Jahres 2008 wurde ein optimales Erklä-
rungsmodell mittels multipler Regressionsanalyse errechnet. Die in den

Ausführliche Darstellung der Daten bei Päll (Fn. 3), S. 146 ff.
18
Vgl. auch Streng/Päll in: Gruter/Rehbinder (Hrsg.), Gewalt in der Kleingruppe und das
19
Recht, 1997, S. 133, 140 ff.
Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule 89

"Gewaltindex" bezüglich selbst begangener Gewaltakte eingegangenen drei


Variablen weisen folgende Datenstruktur auf: Eine oder mehrere Raufereien
haben angegeben 39,8 % der Befragten, ein- oder mehrmaliges ernsthaftes
Schlagen 30,3 0A>, einen körperlichen Angriff gegen Lehrer jedoch lediglich
2,1 0/0. 20 Übergreifend berechnet haben 48,1 % der Befragten mindestens
einen dieser aggressiven Akte eingeräumt.

Tabelle 2

Gewalthandlungen in der Schule

Abhängige Variable: Gewaltindex (eigene Taten: keine .... viele)


Modell-
Signi- Erklärungskraft
ß-Wert Signifi-
fikanz (Korrig. R2x l00)
kanz
Unabhängige Variablen: .000 54,6%
Gewaltbeobachtungen in der Schule
.22 .000
(wenige ... viele)
Viktimisierungen (keine .... mehrere) .20 .000
Konsum von Amateur-Gewaltvideos
.19 .000
(nie ... oft)
Unterricht-Schwänzen (nie ... oft) .17 .000
Selbstkritik (niedrig ... stark) -.17 .000
Geschlecht (weiblich/männlich) .16 .000
Sportaktivitäten (keine ... viele) .11 .01
Macho-Haltung (niedrig ... hoch) .11 .01
Hauptschüler (nein/ja) .10 .04
Gewalteindruck von der Schule
.10 .05
(friedlich ... unfriedlich)

Das in Tabelle 2 wiedergegebene optimale Erklärungsmodell für den Ge-


waltindex besagt, dass mit Gewaltakten besonders belastet ist: - wer angibt,
in der Schule viele Gewaltakte beobachtet zu haben; - wer in der Schule
Gewaltopfer geworden ist; - wer Amateur-Gewaltvideos von tatsächlich be-
gangenen Gewalthandlungen (öfter) angesehen hat (z.B. "happy slapping");
- wer (öfter) die Schule schwänzt; - wer seinen Handlungen wenig selbstkri-
tisch gegenüber steht; - die männlichen Befragten; - die sportlich Aktiven;21
- die Befragten mit ausgeprägter Macho-Haltung (sich von anderen nichts
sagen lassen wollen; sich nichts gefallen lassen; nicht nachgeben bei Kon-

20 Ausführliche Darstellung der Daten aller Befragungen (einschl. Thüringen) bei Hacker
(Fn. 4) im Tabellenanhang.
21 Anderes Ergebnis bei Lösel/Bliesener (Fn. 2), S. 74. Auch in der hier referierten Studie ist
der Zusammenhang bei bivariater Berechnung nur schwach ausgeprägt: Sportaktivitäten (keine
... viele) x Gewaltindex (eigene Taten: keine .... viele): r = .08, p = .10.
90 Franz Streng

flikten); - die Hauptschüler; - wer das Schulklima als durch Gewalt geprägt
sieht. 22

c. Vergleich der Befunde


Für die Interpretation der Unterschiede in den beiden Erklärungsmodellen
ist im Auge zu behalten, dass trotz aller auf Verallgemeinerbarkeit der Er-
gebnisse zielender Signifikanzberechnungen bei derartigen Berechnungen
Überanpassungen an die jeweilige Stichprobe auftreten. So mag es sein,
dass in der einen Befragung noch ein signifikanter Zusammenhang für einen
potentiellen Erklärungsfaktor erkennbar ist, in der anderen Befragung aber
kein Signifikanzniveau erreicht wird. Deshalb ist von vorneherein nur be-
züglich statistisch starker, d.h. besonders gut gegen Zufallseinflüsse abgesi-
cherter Zusammenhänge ein mit einer Berechnung anhand einer anderen
Stichprobe übereinstimmendes Erklärungsmodell erwartbar.
Trotz der also einzukalkulierenden Unterschiede fallen zunächst die Über-
einstimmungen in den Erklärungsmodellen in Tabelle 1 und Tabelle 2 be-
sonders auf. Es erweist sich auch in dem auf der Basis der neuen Daten er-
stellten Erklärungsmodell die Gewaltwahrnehmung im schulischen Umfeld
(Gewaltbeobachtungen; Gewalteindruck) als besonders wichtiger Erklä-
rungsfaktor für das Schülerverhalten. Zudem weisen die erlittenen Gewalt-
viktimisierungen,23 das Geschlecht der Befragten,24 eine Macho-Einstellung
der Befragten und die jeweilige Schulart ähnliche Effekte auf wie in der
Erstbefragung. Neu hinzugekommen sind die Faktoren Unterricht-Schwän-
zen,25 geringe Selbstkritik, sportliche Aktivität sowie das Interesse an realen
Gewaltdarstellungen. Letzterer Befund wurde durch den um diese Frage-
stellung erweiterten Fragebogen möglich gemacht.
Der hervorstechende Befund zu den Gewaltbeobachtungen und zum Ge-
walteindruck ist nicht leicht zu interpretieren. Denn die Schüler der einzel-
nen Schularten sind ja in dieselbe Schule mit dem dort für alle Schüler
grundsätzlich gleichen Gewaltniveau gegangen - was unterschiedliche
Wahrnehmungen zunächst auszuschließen scheint. Anders ist das nur bei
den zwei in mancherlei Hinsicht unterschiedlichen Hauptschulen, zwischen
denen sich jedoch kein signifikanter Unterschied hinsichtlich der Gewalt-

22 Nicht als unabhängige Variable (Erklärungsvariable) berücksichtigt wurde deliktisches


Verhalten im Eigentums- und Vermögensbereich. Denn derart würde ein abweichendes Ver-
halten durch ein anderes abweichendes Verhalten erklärt, was in gewisser Weise zirkelschlüs-
sig anmutet. Anders hier Hacker (Fn. 4), S. 120 (Abb. 73).
23 Dazu näher FuchslLamnekiLuedtkelBaur (Fn. 15), S. 114 ff.
24 Zu einer insoweit beobachtbaren Angleichungstendenz vgl. Baier (Fn. 13), S. 69 f.
25 Dazu näher FuchslLamnekiLuedtkelBaur (Fn. 15), S. 307 ff.
Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule 91

wahrnehmung abzeichnet. 26 Wenn also neben der Variable Schulform die


Gewaltwahrnehmung eigene Effekte erzielt, scheint eine versubjektivieren-
de Interpretation der Angaben als eine Art Projektion eigener Interessen na-
hezuliegen. 27 Freilich ist im Auge zu behalten, dass auch in verschiedenen
Klassenverbänden derselben Schule ein unterschiedliches Gewaltklima
herrschen kann, was dafür spricht, den Angaben zur Gewaltwahrnehmung
einen Bezug zur Schulrealität nicht einfach abzusprechen.
Hervorhebenswert ist schließlich ein Negativergebnis: In beiden Erklä-
rungsmodellen ist die Mediennutzung nicht als relevanter Erklärungsfaktor
vertreten, obwohl jeweils akribisch erhoben. Zwar ließen sich auf bivariater
Ebene deutliche Zusammenhänge zwischen auffallender Mediennutzung
und Verhaltensauffälligkeiten errechnen. Jedoch treten diese Zusammen-
hänge bei Einstellen der Medienvariablen in eine multiple Regressionsana-
lyse in Konkurrenz zu anderen Erklärungsfaktoren von Jugendgewalt nahe-
zu ganz zurück. 28 Es spricht folglich viel dafür, dass auffällige Mediennut-
zung im Regelfall eher ein Symptom für Probleme als eine eigenständige
Gewaltursache darstellt.

3. Die Gewaltbelastung von Migranten(kindern)


Besondere Aufmerksamkeit hat in den letzten Jahrzehnten die Frage der
Delinquenzbelastung von Ausländern bzw. Migranten gefunden. Der Aus-
länderbegriff ist in diesem Zusammenhang schon deshalb inzwischen prob-
lematisch geworden, weil ein erheblicher Anteil der in Deutschland leben-
den ausländisch-stämmigen Wohnbevölkerung die deutsche Staatsbürger-
schaft angenommen hat. In der Zweitbefragung, in welcher der Migran-
tenstatus differenziert abgefragt wurde, zeigten sich bezüglich der Familien-
herkunft immer wieder Unsicherheiten. Letztlich wurde für die weiteren
Berechnungen als Migrant(enkind) berücksichtigt, wer sich nach dem im
Fragebogen hervorgehobenen Hinweis "Nur ausländische Schüler" zum

26 Hauptschule (112) x konreter Gewalteindruck (friedlich ... unfriedlich): r = .09, P = .12. -


Bemerkenswert ist freilich, dass sich seit der Erstbefragung unter den beiden Hauptschulen je-
weils eine konträre Entwicklung in der Gewaltbelastung und entsprechend der Gewaltwahr-
nehmung unter den Schülern ergeben hat. Die 1995 eher unbelastete Schule wird nun ihrem
schon damals bestehenden Ruf "Brennpunktschule" zu sein, eher gerecht als damals.
27 Für Erklärungsmodelle zu unterschiedlicher Gewaltwahrnehmung vgl. StrenglPöll
(Fn. 19), S. 147 ff~ Hacker (Fn. 4), S. 139 f
28 Vgl. auch MößlelKleimannlRehbeinlPfeiffer ZJJ 2006, 295, 304 ff; Streng ZJJ 2007, 198,
199 f (das dort anhand der auch hier genutzten Befragungsdaten errechnete Erklärungsmodell
lässt die 11. Klassenstufe unberücksichtigt und ist daher mit dem obigen Ergebnis in Tabelle 1
nicht identisch); FuchslLamneklLuedtkelBaur (Fn. 15), S. 206 f; Hacker (Fn. 4), S. 143 ff; in
der multivariaten Analyse stärkere Zusammenhänge zeigen sich bei LösellBliesener (Fn. 2),
S. 75 f, 80 ff
92 Franz Streng

eigenen Verhältnis zu den "deutschen Schülern" geäußert hatte; dieses Vor-


gehen gewährleistet auch eine Vergleichbarkeit der Befunde von Erstbefra-
gung und Zweitbefragung.
Eine Reihe von Studien belegt auf der Basis von Hellfeldzahlen eine hö-
here Delinquenzanfalligkeit der männlichen Migranten. Dabei sind insbe-
sondere Gewalt- und Sexualdelikte zu nennen. 29 Freilich ist dieser Befund
nicht unumstritten. In einer in Münster und Duisburg durchgeführten Schü-
lerbefragung etwa zeigte sich für den Bereich genuiner Gewaltkriminalität
keine deliktische Höherbelastungen der Migrantengruppe. 3o
In der hier referierten Befragung von 1995 ergibt sich auf der deskriptiven
Ebene ein Bild, das eher der konventionellen kriminologischen Betrachtung
entspricht. Während 56,8 % der Nicht-Migranten (Nmax = 404) angaben, in
der Schule noch nie ernsthaft gerauft zu haben und 70,3 % angaben, noch
nie einen Mitschüler ernsthaft geschlagen zu haben, liegt die Gewaltfrei-
heitsrate bei den Migranten(kindern) mit 40,4 % und 53,8 % (Nmax = 52)
deutlich niedriger, mithin die Gewaltrate höher. Die Unterschiede zwischen
den beiden Gruppen bezüglich der fraglichen aggressiven Verhaltensweisen
sind (teils) signifikant. 31 In der Befragung von 2008 ergibt sich teils noch
stärker ein Bild, das der konventionellen kriminologischen Betrachtung ent-
spricht. Während 65,2 % der Nicht-Migranten (Nmax = 339) angaben, in der
Schule noch nie ernsthaft gerauft zu haben und 72,8 % antworteten, noch
nie einen Mitschüler ernsthaft geschlagen zu haben, liegen die Angaben der
Migranten(kinder) mit 40,2 % und 57,1 % (Nmax = 88) deutlich niedriger,
mithin die Gewaltrate höher. Die Unterschiede bezüglich der beiden aggres-
siven Verhaltensweisen sind jeweils hochsignifikant. 32
Allerdings bedarf dieser Befund der näheren Betrachtung, welche hier für
die Befragung von 2008 geleistet werden soll, obwohl für die ältere Befra-
gung ganz Ähnliches gilt. Setzt man den Migrantenstatus in das oben in Ta-

29 Vgl. KargerlSutterer MschrKrim 73 (1990), 369, 373 f.~ SchöchlGebauer Ausländerkri-


minalität in der Bundesrepublik Deutschland, 1991, S. 51 ff.~ BaierlPfeiffer (Fn. 13), 5, 7 f.~
speziell zur Schulgewalt FuchslLamneklLuedtkelBaur (Fn. 15), S. 213 ff.~ vgl. ferner Lö-
sellBliesener (Fn. 2), S. 59, 91 ~ BKA 2008 (Fn. 6), S. 108.
30 Vgl. BoerslWalburglReinecke MschrKrim 89 (2006), 63, 79 ff. - Vgl. zur widersprüchli-
chen Forschungslage auch LösellBliesener (Fn. 2), S. 58 ff.~ BMJ, BMJ (Hrsg.), Zweiter Perio-
discher Sicherheitsbericht, 2006, S. 372 f.
31 Rauferei (nie ... oft) x Migration (nein/ja): r = .08, p = .08~ Schlagen (nie ... oft) x Migra-
tion (nein/ja): r = .13, P = .005. - Bei Dichotomisierung der Variable zur Beteiligung an einer
Rauferei ist der Zusammenhang mit der Migrationsvariable signifikant (r = .11, p = .0 16)~ die-
ser Unterschied zur Nutzung der Ursprungsvariable beruht darauf, dass unter der Gruppe der
Befragten mit irgend einer Rauferfahrung die Migranten nur wenig stärker mit Mehrfachtäter-
schaft belastet sind.
32 Rauferei (nie ... oft) x Migration (nein/ja): r = .21, P = .OOO~ Schlagen (nie ... oft) x Migra-
tion (nein/ja): r = .20, p = .000.
Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule 93

belle 2 dargestellte beste Erklärungsmodell für Gewaltneigung (= Gewaltin-


dex) als zusätzliche unabhängige Variable - d.h. als Erklärungsfaktor - ein,
dann trägt diese Variable nicht zu einer relevanten Steigerung des Erklä-
rungsgehalts des Modells bei; es zeigt sich ein nicht einmal annähernd sig-
nifikanter Zusammenhang. 33 Und dies gilt auch dann, wenn man nach Ge-
schlecht differenziert und allein die Daten der befragten männlichen Schüler
zugrunde legt. Die Unterschiede im Gewalthandeln zwischen Einheimi-
schen und Migranten werden mithin besser durch sonstige Merkmale als
durch den Migrantenstatus als solchen erklärt. Bei näherer Betrachtung er-
weist sich, dass im Rahmen einer multiplen Regressionsanalyse unter Ein-
beziehung allein schon der sozio-demographischen Variablen Geschlechts-
zugehörigkeit und Schulart die Migrationsvariable so sehr an Erklärungs-
kraft verliert, dass sie nur noch einen schwachen, hier schon nicht mehr
signifikanten Zusammenhang mit der abhängigen Variable aufweist. 34 Dies
ist in Tabelle 3 nachgewiesen.

Tabelle 3

Gewalthandlungen in der Schule

Abhängige Variable: Gewaltindex (eigene Taten: keine .... viele)


Signifi- Modell- Erklärungskraft
ß-Wert
kanz Signifikanz (Korrig. R2 x l00)
Unabhängige Variablen: .000 18,4 0/0
Geschlecht (weiblich/männlich) .28 .000
Hauptschüler (nein/ja) .26 .000
Migration (nein/ja) .10 .06

Dieser Befund bringt freilich nicht schon eine Entdramatisierung der Un-
terschiede in der Gewaltneigung zwischen Einheimischen und Migranten
mit sich. Da überproportional viele Migranten(kinder) die Hauptschule be-
suchen und nicht auf weiterführende Schulen überwechseln,35 stellt sich die
- jedenfalls anband der vorliegenden Daten - nicht beantwortbare Frage, ob
dieses Bildungsdefizit (auch) Folge der in dieser Gruppe bereits von vorne-
herein häufiger vorhandenen Verhaltensauffalligkeiten ist oder ob umge-
kehrt erst die Entmutigung durch geringe gesellschaftliche Aufstiegschan-

33 In der Befragung 2008 weist im Erklärungsmodell (Tabelle 2) die Variable "Migrant"


einen Pfadkoeffizienten von nahe Null auf (ß = .01, P = .89).
34 Bei der Berechnung anhand beider Befragungen ist der Erklärungsgehalt der Migrations-
variable (mit ß = .08) noch schwächer, wenngleich der Zusammenhang mit der Gewaltindex-
Variable hier infolge größerer Stichprobe signifikant (p = .01) ausfällt. - Vgl. auch BaierlPfeif-
ferlSimonsonlRabold ZJJ 2008, 112, 116.
35 Vgl. BaierlPfeifferlSimonsonlRabold a.a.O., 112, 116 f.
94 Franz Streng

cen die Gewaltbereitschaft fördert 36 - oder ob beide Erklärungsansätze


gleichzeitig realistisch sind.

4. Befunde zu den Hintergründen fremdenfeindlicher Einstellungen


Die Daten der Erstbefragung hatten die Möglichkeit eröffnet, einen zent-
ralen Erklärungsansatz zu den Hintergründen von Fremdenfeindlichkeit37 zu
untersuchen, nämlich die "Projektionstheorie". Dieser an die psychoana-
lytische "Sündenbocktheorie" anknüpfende Ansatz besagt, dass Unterprivi-
legierte, Randständige oder sonst Problembehaftete dazu neigen, ihre Prob-
leme Fremden anzulasten. Nicht eingestandene eigene Unzulänglichkeit und
sonstige nicht eindeutig zuordenbare Ursachen von Verunsicherung werden
auf andere, insbesondere Fremde, projiziert; an diesen wird erlittene Frust-
ration abreagiert und scheinbar das Übel bekämpft. 38 Diese Theorie enthält
zwei zentrale Hypothesen. Zum einen wird davon ausgegangen, dass indi-
viduelle Fremdenfeindlichkeit auf objektiver Randständigkeit oder subjekti-
ven Defizitempfindungen beruht. Zum anderen postuliert sie die Nutzung
des Projektionsmechanismus, was eine individuelle Bereitschaft zu entspre-
chender Bearbeitung der angesprochenen Problemempfmdungen voraus-
setzt.
Bemerkenswert erscheint, dass sich nur für die erste Hypothese Belegma-
terial anfuhren lässt, nämlich insoweit, als überproportional häufig Unter-
privilegierte, Ausgegrenzte oder sozial Verunsicherte mit fremdenfeindli-
chen Haltungen und Aktionen auffallen. 39 Hingegen erscheint die empiri-
sche Stützung der psychologisch ansetzenden zweiten Hypothese, nämlich
von einem Wirksamwerden des Projektionsmechanismus, bislang defizitär.
Die Daten der Erstbefragung haben den Zusammenhang von Randstän-
digkeit (im Sinne von Ausgrenzungs- oder Deklassierungserfahrungen) und
Ablehnung von Ausländern bzw. Migranten belegen können. Angesichts
des - eigentlich erfreulich - kleinen Anteils expliziter Fremdenfeindlichkeit
in der nicht sehr großen Stichprobe blieb die statistische Absicherung aber

36 Vgl. zu Letzterem etwa SchöchlGebauer (Fn. 29), S. 57; Streng JZ 1993,109, 117 f
37 Vgl. auf der Basis anderer Ansätze dazu DeckerlBrähler Vom Rand zur Mitte - Rechts-
extreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland, 2006.
38 Vgl. statt Vieler A. Mitscherlich Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur So-
zialpsychologie, 1963, S. 144 f; Memmi Rassismus, 1992, S. 67 ff, 205 f; Streng Jura 1995,
182, 190; für weitere Nachweise vgl. bei Streng FS Rolinski, 2002, S. 487 ff.
39 Vgl. dazu etwa Kalinowsky Rechtsextremismus und Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1990
(hrsg. vom BMJ), S. 106, 202 f; HeitmeyerlMüller Fremdenfeindliche Gewalt junger Men-
schen, 1995 (hrsg. vom BMJ), S. 43 ff, 127 ff.; Kunkat in: Dünkel/Geng (Hrsg.), Rechtsextre-
mismus und Fremdenfeindlichkeit. Bestandsaufnahme und Interventionsstrategien, 1999,
S.209, 224 ff.; MarneroslSteillGalvao MschrKrim 86 (2003), 364, 367 f; DeckerlBrähler
(Fn. 37), S. 88 ff.; für weitere Nachweise vgl. bei Streng FS Rolinski, 2002, S. 487,488.
Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule 95

4o
auf eher niedrigem Niveau. Die Vergrößerung des Datenpools durch die
Zweitbefragung von 2008 lässt es erfolgversprechend erscheinen, der For-
schungsfrage noch einmal nachzugehen.
In Tabelle 4 ist die Verteilung der Antworten in der abhängigen Variable
"Einstellung zu Migranten" für beide Befragungen zusammengefasst41
nachgewiesen.

Tabelle 4

Mit ausländischen Schülern komme ich genauso zu-


recht, wie mit deutschen, rur mich ist da kein Unter- 580 83,5 %
schied

Ich toleriere die ausländischen Schüler hier, pflege aber


78 11,2 %
kaum Kontakt mit ihnen

Ich sähe es gerne, wenn an der Schule keine ausländi-


21 3,0%
schen Schüler wären, aber ich lasse sie in Ruhe

Ich möchte die ausländischen Schüler hier weghaben


16 2,3 %
und ich wehre mich gegen sie

N= 695 100%

Auf dieser Grundlage ergibt sich, dass zwischen dem Erleben von Druck
durch Drohungen oder Gewaltandrohungen seitens von Mitschülern (ge-
genwärtig, früher, nie) und der geäußerten Fremdenfeindlichkeit (s. Tabel-
le 4) ein hochsignifikanter Zusammenhang in der Richtung ,Je mehr Druck
um so fremdenfeindlicher" nachweisbar ist. 42 Dieser Zusammenhang ist am
stärksten bei Realschülem,43 schwächer bei Hauptschülem 44 und nicht signi-
fikant bei Gymnasiasten45 ausgeprägt. 46
Bezüglich der zweiten Komponente der "Projektionstheorie" zur Auslän-
derfeindlichkeit bedarf es des Messens der Projektionsneigung. Dies ge-
schah in den Befragungen mittels der Stellungnahme der Befragten zu dem
Statement "Wenn etwas schief geht, haben meist die anderen Schuld"

40 Vgl. dazu Streng FS Rolinski, 2002, S. 487,490 ff.


41 Die Unterschiede zwischen den Befragungen sind nicht signifikant: r = .06, P = .10.
42 Druckerlebnis (derzeit/früher/nie) x Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark): r = -.20, P =
.000.
43 r = -.36, P = .000.
44 r = - .13, P = .04.
45 r = -.07, P = .23.
46 Wegen schiefer Verteilung der Daten in der abhängigen Variable "Fremdenfeindlichkeit"
sind Ungenauigkeiten in den Korrelations- und Signifikanzberechnungen einzukalkulieren~ vgl.
auch Streng FS Rolinski, 2002, S. 487, 491 f.
96 Franz Streng

(stimmt genau, stimmt eher nicht, stimmt überhaupt nicht). Bei bivariater
Berechnung des Zusammenhangs mit Fremdenfeindlichkeit ergibt sich ein
schwacher, wenngleich sehr signifikanter Zusammenhang der erwarteten
Richtung, dass nämlich Projektionsbereite tendenziell stärker fremdenfeind-
lichen Haltungen zuneigen. 47 Dieser Zusammenhang ist bei Haupt- und Re-
alschülern deutlich,48 bei Gymnasiasten hingegen nicht gegeben. 49
Untersucht man den Zusammenhang zwischen Projektionsneigung und
Fremdenfeindlichkeit getrennt danach, ob und in welcher Form die Befrag-
ten Druck durch Mitschüler erlebten, ergeben sich besonders aussagekräfti-
ge Befunde: Die nie unter Druck gesetzte Gruppe weist keinen Zusammen-
hang zwischen Projektionsneigung und Fremdenfeindlichkeit auf. 50 Bei den
früher bereits einmal unter Druck Gewesenen ist der fragliche Zusammen-
hang eindeutig nachweisbar 51 und bei den aktuell unter Druck Befindlichen
weist der Zusammenhang eine beachtliche Stärke auf. 52
Deutlich wird der mit Ausgrenzungserlebnissen verzahnte Effekt der Pro-
jektionsneigung auch dann, wenn man Befragte mit starker und Befragte
mit geringer oder keiner Projektionsbereitschaft insofern vergleicht, wie sie
auf Druck durch Mitschüler reagieren. Bei den gar nicht oder wenig Projek-
tionsgeneigten ist ein Druckerlebnis der benannten Art nur relativ schwach
mit Fremdenfeindlichkeit korreliert. 53 Hingegen liegt bei den eindeutig Pro-
jektionsgeneigten der Zusammenhang zwischen Druckerlebnissen und
Fremdenfeindlichkeit schon im Bereich mittlerer Stärke.54
Speziell für die Gruppe der Haupt- und Realschüler zeigt eine multiple
Regressionsberechnung, dass die Projektionsbereitschaft und das Drucker-
leben auch nebeneinander Auswirkungen auf eine fremdenfeindliche Hal-
tung aufweisen. Die entsprechende multiple Regressionsanalyse ist in Ta-
belle 5 nachgewiesen.

47 Projektionsneigung (stark ... gar nicht) x Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark): r =
-.10, p = .01.
48 Haupt- und Realschüler zusammen: r = -.15, p = .004.
49 r = -.01, P = .85.
50 Projektionsneigung (stark ... gar nicht) x Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark): r =
-.01, P = .84.
51 r = -.27, p = .002.
52 r = -.51, p = .016.
53 Druck (gegenwärtig ... nie) x Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark): r = -.14, p = .000.
54 r = -.43, p = .000.
Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule 97

Tabelle 5

Fremdenfeindlichkeit (Haupt- und Realschüler)

Abhängige Variable: Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark)


Signifi- Modell- Erklärungskraft
ß-Wert
kanz Signifikanz (Korrig. R2x100)
Unabhängige Variablen: .000 6,5 0/0
Druckerlebnis (jetzt ... nie) -.22 .000
Projektionsneigung (stark ... ohne) -.12 .023

Speziell und nur fur die Gruppe der Hauptschüler tritt gegenüber dem Er-
lebnis des Unterdrücktseins durch Mitschüler eine andersartige Deklassie-
rungswahrnehmung in den Vordergrund, nämlich das Nichterreichen von
familiären Erfolgsstandards. Wer aus einer Oberschichts- bzw. oberen Mit-
telschichtsfamilie stammend 55 sich in der Hauptschule wiederfindet, tendiert
überdurchschnittlich oft zu Fremdenfeindlichkeit, 56 während die Befragten
aus den beiden anderen Schulformen keinerlei derartigen Zusammenhang
zwischen Bildungsschicht und Fremdenfeindlichkeit erkennen lassen. 57
Setzt man fur die Hauptschülergruppe neben der elterlichen Bildungsschicht
als weiteren Erklärungsfaktor die Projektionsneigung in eine multiple Reg-
ressionsanalyse ein (Tabelle 6), dann zeigen sich insgesamt signifikante Zu-
sammenhänge im Sinne der Projektionstheorie zur Ausländerfeindlichkeit.
Die anhand der zusammengefassten Daten der Befragungen 1995 und
2008 errechneten, in Tabelle 6 wiedergegebenen Befunde erweisen sich bei
einer nach Befragungsjahr getrennten Auswertung jedoch als zeitgebunden.
Während die Projektionsneigung ihre Bedeutung immer in vergleichbarer
Deutlichkeit behält, erweist sich die elterliche Bildungsschicht bei den 2008
befragten Hauptschülern als nicht aussagekräftig für Fremdenfeindlich-
keit. 58

55 Der Schichtindex wurde aus den Angaben zum schulischen Ausbildungsstatus der Eltern
errechnet~ infolge fehlender Angaben ergab sich dabei ein Schwund von 11 % der Fälle. Wenn
man etwa den väterlichen Beruf als weiteren Schichtindikator hinzunimmt, ergeben sich Aus-
fälle von sogar rund 30 %. Daher wurde hier auf die direkte Berücksichtigung des Berufsstatus
der Eltern verzichtet.
56 Nur Hauptschüler: Bildungsschicht (niedrig ... hoch) x Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ...
stark): r = .14, P = .08~ vgl. schon Streng FS Rolinski, 2002, S. 487, 492 f., 494.
57 Bildungsschicht (niedrig ... hoch) x Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark): r = -.03, p =
.51.
58 Bei bivariater Berechnung anhand der befragten Hauptschüler: Bildungsschicht (niedrig
... hoch) x Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark): r = -.04, P = .73.
98 Franz Streng

Tabelle 6

Fremdenfeindlichkeit (Hauptschüler)

Abhängige Variable: Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark)


Modell- Erklärungskraft
ß-Wert Signifikanz
Signifikanz (Korrig. R2 X 100)
Unabhängige Variablen: .000 6,8 0/0
Projektionsneigung
-.25 .002
(stark/wenig-ohne)
Bildungsschicht
.17 .033
(niedrig ... hoch)

Die hingegen in der Befragung 1995 in beachtlicher Stärke relevant auf-


getretenen Zusammenhänge sind in Tabelle 7 nachgewiesen. 59 Die Frage,
ob der Unterschied zwischen den Befragungen tatsächlich durch eine Ent-
spannung im Sinne nachlassender Deklassierungserfahrungen bei Haupt-
schülern aus Familien des gehobenen Bildungsspektrums zu erklären ist
oder etwa zu wesentlichen Teilen einem Stichprobeneffekt zu verdanken ist,
lässt sich anband der vorliegenden Daten nicht klären.

Tabelle 7
Fremdenfeindlichkeit (Hauptschüler 1995)

Abhängige Variable: Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark)


Modell- Erklärungskraft
ß-Wert Signifikanz
Signifikanz (Korrig. R2 X 100)
Unabhängige Variablen: .000 15,3 %
Projektionsneigung
-.28 .005
(stark/wenig-ohne)
Bildungsschicht
.32 .002
I (niedrig ... hoch)

IV. Resümee
Die in vergleichbarer Weise und in denselben Schulen einer bayerischen
mittelgroßen Stadt nach 13 Jahren erneut durchgeführte Schülerbefragung
zeigt eine ganz undramatische Entwicklung auf. Es ließ sich nicht nur kein

59 Die geringfügigen Unterschiede zu den in einer früheren Publikation (Streng, FS Ro-


linski, 2002, S. 487, 492 f., 497) vorgestellten Berechnungen auf der Basis derselben Daten er-
geben sich aus der Nutzung hier der Variable "Bildungsschicht" (vgl. auch oben Fn. 55) sowie
einer Recodierung der Projektionsneigungs-Variable.
Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule 99

signifikanter Anstieg der Schulgewalt feststellen, sondern sogar eine ganz


leicht sinkende Tendenz. Dies steht zur in der Polizeilichen Kriminalstatis-
tik ausgewiesenen Entwicklung bei den Körperverletzungsdelikten in deut-
lichem Gegensatz. Freilich bestätigen andere deutsche Schülerbefragungen
und zusätzlich die Entwicklung bei schulischen Versicherungsfällen den
hier vorgestellten Befund.
Eine Gegenüberstellung der mittels multipler Regressionsanalyse errech-
neten optimalen Erklärungsmodelle für Gewaltneigung ergab erwartungs-
gemäß im Detail Unterschiede. Allerdings blieben die schon anhand der
Erstbefragung nachgewiesenen Erklärungsfaktoren der Gewaltwahmeh-
mung in der Schule, das Ausmaß an selbst erlittenen Viktimisierungen, die
Geschlechtsvariable, die Macho-Haltung des Befragten sowie die Schulart
auch in der Zweitbefragung statistisch gesichert.
Bezüglich der Gewalthandlungen durch Migranten(kinder) ließ sich be-
reits in der Erstbefragung eine Höherbelastung festhalten. In der Zweitbe-
fragung hat sich das bestätigt. Freilich tritt in Konkurrenz zu anderen aussa-
gekräftigen Erklärungsvariablen der Faktor Migration zurück. Allein schon
das Einführen der Variablen Geschlecht und Hauptschule (nein/ja) als inter-
venierende Variablen führt zu drastischer Reduzierung der Erklärungspo-
tentiale des Migrationsstatus für aggressives Schülerverhalten - ohne dass
damit bereits eine schlüssige Erklärung dieses Effekts geliefert wäre.
Die abschließende Untersuchung zu Hintergründen fremdenfeindlicher
Haltung diente der Überprüfung der Projektionstheorie. Tatsächlich ergab
sich hierbei ein der Theorie entsprechender Befund: Wer dazu neigt, für ei-
gene Probleme die Verantwortung anderen zuzuweisen, tendiert zu Frem-
denfeindlichkeit. In bemerkenswert deutlicher Form tritt dieser Zusammen-
hang bei erlittenen Ausgrenzungs- oder Deklassierungserfahrungen auf.
Greifswalder Forschungen zum Alkohol im
Straßenverkehr

FRIEDER DüNKEL

I. Einleitung
Einer der zahlreichen Forschungsschwerpunkte des Jubilars betrifft die
Problematik des Alkohols im Straßenverkehr. 1 Er gehörte neben Günther
Kaiser 2 zu den wenigen juristischen Kriminologen, die sich intensiv mit der
Problematik der Generalprävention wie überhaupt einem vernünftigen kri-
minalpolitischen Umgang in diesem Delinquenzbereich auf erfahrungswis-
senschaftlicher Grundlage auseinandersetzten.
Seit 1997 ergeben sich damit parallele Forschungsinteressen mit der in-
terdisziplinären Greifswalder Forschergruppe, über deren Ergebnisse nach-
folgend berichtet werden soll.
Die Greifswalder Forschergruppe entstand aus einer fakultätsübergreifen-
den Kooperation im Rahmen des von Medizinern geführten Forschungsver-
bunds "Community Medicine", der seinerzeit größten bundesdeutschen
epidemiologischen Gesundheitsstudie. Aus kriminologischer Perspektive
wurde das Teilprojekt "Alkoholkonsum und Straßenverkehrsdelinquenz"
entwickelt, eine Kooperation der Lehrstühle für Kriminologie, für Sozial-
psychologie, Arbeits- und Organisationspsychologie (Prof. Dr. Manfred
Bornewasser) und dem Institut fur Rechtsmedizin (Prof. Dr. Eberhard
Liegnitz, Dr. Klaus Philipp). Bei der Einrichtung dieses interdisziplinären
Forschungsschwerpunkts im Jahr 1997 ging es zunächst um umfassende
epidemiologische, medizinische und sozialökologische Fragestellungen zum

I Vgl. z.B. Schäch NStZ 1991, 11 ff.~ ders. Generalprävention und Fahren unter Alkohol, in:
Krüger (Hrsg.), Fahren unter Alkohol in Deutschland, 1998, S. 161 ff.~ ders. Spezial- und
generalpräventive Aspekte bei der Bekämpfung der Alkoholdelinquenz im Straßenverkehr, in:
Egg/Geisler (Hrsg.), Alkohol, Strafrecht und Kriminalität, 2000, S. 111 ff~ ders. Neue Krimi-
nalpolitik 112001, 30 ff.
2 Vgl. Kaiser, Verkehrsdelinquenz und Generalprävention, 1970.
102 Frieder Dünkel

Alkoholkonsum in der Region Vorpommem (aus kriminologischer Sicht


u. a. das Trink- und Fahrverhalten, s. u. 11.).3

11. Ausgangslage der Greifswalder Forschungen


zu Alkohol im Straßenverkehr
Das erste teilweise grundlagen-, teilweise praxisorientierte Teilprojekt im
Forschungsschwerpunkt "Community Medicine" der Universität Greifswald
betraf die Problematik von Alkoholkonsum und Straßenverkehrsdelinquenz
in der Region Vorpommem. Ausgangspunkt unserer Studie war die Beo-
bachtung, dass Mecklenburg-Vorpommem seit Anfang der 1990er Jahre
den höchsten Anteil von Alkoholunfällen im Straßenverkehr im Vergleich
aller alten und neuen Bundesländer aufwies. Der Anteil von Alkoholunfäl-
len an allen Verkehrsunfällen mit Personenschaden lag 1993 mit 20°A> mehr
als doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern (9%) und auch deutlich
über dem ostdeutschen Durchschnitt von 16%.4 Hinzu kam, dass der Anteil
der dabei Getöteten mit 25-30% extrem hoch war. Die Zahl der Verletzten
im Straßenverkehr hat sich unmittelbar nach der Wiedervereinigung in
Mecklenburg-Vorpommem nahezu verdreifacht, die Zahl der Getöteten
mehr als verdoppelt. Mit der verbesserten Motorisierung (sicherere Autos
etc.) ist die Zahl von Unfalltoten seit 1993 zwar entsprechend dem bundes-
weiten Trend rückläufig, jedoch wies und weist das Bundesland Mecklen-
burg-Vorpommem nach wie vor die höchsten Belastungszahlen alkoholbe-
dingter Verkehrsdelinquenz auf.
Dies war Anlass genug, um das o. g. Forschungsprojekt zu initiieren. In
einem ersten Schritt wurden 214 im Zeitraum Oktober 1998 bis Mai 1999
polizeilich auffällig gewordenen Verkehrsdelinquenten, bei denen eine
Blutalkoholkontrolle angeordnet worden war, mit einer repräsentativen
Bevölkerungsstichprobe (nur Autofahrer) der epidemiologischen Untersu-
chungsgruppe der sog. regionalen Basisstudie verglichen. Wie zu erwarten
stellte die Gruppe der alkoholauffälligen Autofahrer eine in mehrfacher
Hinsicht spezifische Population dar (untere soziale Milieus, Dominanz
männlicher Fahrer, vermehrt risikoorientierte Einstellungen und Verhal-
tensdispositionen etc.). 5 Erwartbar unterschiedlich war der durchschnittliche
Alkoholkonsum: Die Verkehrsauffälligen gaben 59g/Tag an, in der Ver-

3 Vgl. Glitsch/Bornewasser/Dünkel in: Egg/Geisler (Fn. 1), S. 127 ff; Dünkel u. a. Neue
Kriminalpalitik 2001, Heft 1,32 ff.; Dünkel in: Radi (Hrsg.), Recht und Wirkung. Greifswal-
der Beiträge zur Rechtswirkungsfarschung, 2002, S. 109 ff., 136 ff.
4 Schöch (Fn. 1) 2001, S. 29; Dünkel u. a. (Fn. 3),32 f.
5 Dünkel u. a. (Fn. 3), 32 f.
Greifswalder Forschungen zum Alkohol im Straßenverkehr 103

gleichsgruppe waren es "nur" 32g/Tag. Dies entspricht einem lahreskonsum


von knapp 27 Litern reinen Alkohols vs. knapp 15 Litern in der Vergleichs-
gruppe. 6 Damit stellte die Gruppe der alkoholauffälligen Verkehrsteilneh-
mer eine Extremgruppe selbst im Hinblick auf den in Ostdeutschland gene-
rell erhöhten Alkoholkonsum dar. Auf der Ebene von Persönlichkeits-
merkmalen zeigten sich ebenfalls deutliche Unterschiede, die man mit dem
Konzept der "Low-self-control"-Persönlichkeit (i. S. von Gottfredson und
Hirschi) beschreiben kann. 7 Die Unterschiede betrafen vor allem eine nied-
rigere Verhaltenskontrolle und Normbindung, während die Furcht vor Stra-
fe nicht unterschiedlich ausgeprägt war. 8 Der auch von Schöch berichtete
Befund, dass die Verwerflichkeit alkoholisierten Fahrens in Ostdeutschland
sogar tendenziell ausgeprägter war als in den alten Bundesländern (hier:
Unterfranken im Vergleich zu Thüringen, 1992-94) entspricht unseren Er-
gebnissen einer erhöhten Diskrepanz von Einstellung und Verhalten in den
ostdeutschen Bundesländern, was z. T. mit der seinerzeit geringeren Kon-
trolldichte, aber auch der spezifischen Problemgruppe sog. fahrender Trin-
ker bzw. unter 24-jähriger junger Männer mit ausgeprägtem Trink- und
Risikoverhalten zusammenhing. 9
In der Greifswalder Studie konnten anhand biologischer Blutmarkerana-
lysen sowie Alkoholscreening-Tests unterschiedliche Alkoholfahrergruppen
identifiziert werden. Ca. 40% waren der Gruppe der harten (organisch ge-
schädigten) Trinker ("fahrende Trinker") zuzuordnen und weitere 30% der
Gruppe der "Alkoholmissbräuchler" oder robusten Trinker. Nur 30% der
polizeilich registrierten Trunkenheitsfahrer wiesen keine akuten Besonder-
heiten bei den alkoholbezogenen Messungen auf. Zusätzlich zu dem schäd-
lichen Umgang mit Alkohol wiesen die Trunkenheitsfahrer eine deutlich

6 Kraus/Bauernfeind Repräsentativerhebung zum Gebrauch psychotroper Substanzen bei


Erwachsenen in Deutschland, 1997, ermittelten für diesen Zeitraum für die alten Bundesländer
einen Durchschnitt von ca. 9 Litern, für die neuen Bundesländer von ca. 16 Litern reinen
Alkohols.
7 Gottfredson/Hirschi A general theory of crime, 1990; zu den persönlichkeitsbezogenen
Ausprägungen in der Greifswalder Studie vgl. Dünkel u. a. (Fn. 3), 33 f; mit Blick auf die
Gesamtgruppe von 276 alkoholauffälligen Fahrern vs. 330 Teilnehmern der epidemiologischen
Basisstudie vgl. Glitsch Alkoholkonsum und Straßenverkehrsdelinquenz, 2003, S. 111 ff
8 Vgl. Dünkel u. a. (Fn. 3), 34; letzteres Ergebnis mag datnit zu erklären sein, dass die
Norm, nicht alkoholisiert zu fahren, allgemein sehr hohe Akzeptanz erfährt, vgl. hierzu bereits
Karstedt Normbindung und Sanktionsandrohung. Eine Untersuchung zur Wirksamkeit von
Gesetzen am Beispiel der Alkoholdelinquenz im Verkehr, 1993; ferner zusammenfassend
Schäch 1998 (Fn. 1), S. 179; ders. 2000 (Fn. 1), S. 117 f, 124, und die "abschreckende" Wir-
kung vor allem vom Führerscheinentzug ausgeht, während der regelmäßig verhängten Geld-
strafe kein zusätzliches Abschreckungspotential zukommt, vgl. hierzu auch Glitsch/Borne-
wasser/Dünkel (Fn. 3), S. 148 ff, 158~ Schäch 2000 (Fn. 1), S. 113 ff
9 Vgl Schäch 2000 (Fn. 1), S. 117 ff.; Dünkel u. a. (Fn. 3),32 m.w.N.
104 Frieder Dünkel

erhöhte Belastung durch aktuelle kritische Lebensereignisse (Tod einer


Bezugsperson, anderweitiger Partnerverlust, Krankheiten u. ä.) auf.

111. Motivationslagen und Entscheidungsprozesse bzgl.


Alkoholfahrten im Straßenverkehr
Die Frage, wie man Alkoholfahrten verhindern kann, lässt sich beantwor-
ten, wenn man die Motivationslagen kennt, die in einer konkreten Entschei-
dungssituation relevant sind. Bereits unsere ersten Erhebungen hatten ge-
zeigt, dass Alkoholfahrer sich von den untersuchten Vergleichsgruppen
deutlich unterscheiden (s. o. 11.). U. a. wurden in von uns simulierten Ent-
scheidungssituationen deutlich weniger alternative, d. h. normkonforme
Handlungsmöglichkeiten kognitiv repräsentiert. 10 Auf der Grundlage der
kriminologisch relevanten Theorie des geplanten Verhaltens (TOPB) von
Ajzen und Fishbein ll wurde die Tunkenheitsfahrt als intendierter Akt ver-
standen, der durch Überzeugungen und Annahmen ("beliefs") hinsichtlich
der Wichtigkeit und des erwarteten positiven oder negativen Ausgangs der
Handlung (z.B. "Auf dem kurzen Weg passiert schon nichts"), durch soziale
Normen (z.B. "Ich bekomme Ärger mit meiner Familie, wenn ich erwischt
werde!") und durch situative Bedingungen (z.B. "Ich habe meiner Freundin
versprochen, dass ich fahre") determiniert wird. Darüber hinaus sind die
Lernerfahrungen bzgl. vorangegangener Trunkenheitsfahrten (z.B. "Hier
auf dem Land gibt es nie Kontrollen") und eine fundamentale Bereitschaft,
ein solches Delikt überhaupt zu begehen (Grad der Normbindung), von
Einfluss auf die Entscheidung in einer konkreten Situation. Die herausra-
gende Bedeutung der Normbindung einerseits und der Existenz strafrechtli-
cher Konsequenzen wurde bestätigt. Ebenso wie in anderen (oben erwähn-
ten) Studien zeigte sich, dass die nicht belastete Vergleichsgruppe keinerlei
und selbst unter Notlagensituationen (Fahrt einer schwerkranken Person ins
Krankenhaus) kaum Neigungen zu Alkoholfahrten zeigt, während die AI-
koholmissbräuchler je nach Situation und eingeschätztem Entdeckungsrisi-
ko "verftihrbar" bzw. "abschreckbar" sind. Dabei spielt hinsichtlich der

10 Vgl. Glitsch/Bornewasser/Dünkel (Fn. 3), S. 143~ vgl. auch Stephan in: Egg/Geissler
(Fn. 1), S. 161 ff., der auf die weitgehenden Fehlvorstellungen in der Bevölkerung hinsichtlich
konsumierter Alkoholmengen und den damit erreichten BAK-Werten verweist. Alkohol-
missbräuchler unterschätzen, normkonforme Normalbürger überschätzen in Trinksituationen
die Trinkmengen, was im einen Fall bahnend, im anderen hemmend auf die Entscheidung zur
Trunkenheitsfahrt wirkt.
11 Vgl. Aijzen in: Kuhl/Beckmann (Hrsg.), Action-coi1trol: from cognition to behavior, 1985,
S. 61 ff.~ Ajzen/Fishbein Psychological Bulletin 1977, 888 ff.~ dies. European Review ofSocial
Psychology 2000, 1 ff.
Greifswalder Forschungen zum Alkohol im Straßenverkehr 105

strafrechtlichen Sanktionen der erwartete Führerscheinentzug die herausra-


gende Rolle, während die Geldstrafe an sich von untergeordneter Bedeutung
ist. 12 Man könnte kriminalpolitisch gedacht sogar auf die Geldstrafe ver-
zichten, ohne dass es zu einer Einbuße an generalpräventiver Effizienz
kommen dürfte, zumal die finanziellen Belastungen bzgl. Nachschulungen
und der Wiedererlangung des Führerscheins häufig weit über derjenigen
durch die Geldstrafe liegen.
In diesem Forschungskontext ist die Dissertation von Glitsch, der eine
empirische Überprüfung der Theorie des geplanten Verhaltens (Aj-
zen/Fishbein, s.o.) vornahm, entstanden. 13 Im Vergleich von rechtsmedizi-
nisch auffälligen Alkoholfahrern mit der repräsentativen Bevölkerungs-
gruppe aus der Gesundheitsstudie in Mecklenburg-Vorpommern konnte
Glitsch die Theorie gut bestätigen: Grundlegende Unterschiede werden in
den "beliefs", d. h. grundlegenden Einstellungen zur Trunkenheitsfahrt
("Normbindung~') einerseits sowie der Verarbeitung von situativen Faktoren
und Anreizbedingungen in der konkreten Entscheidungssituation, moderiert
durch den vorgestellten Intoxikationsgrad und das eingeschätzte Entde-
ckungsrisiko, deutlich. In der Tat gelang es Glitsch, mit der Analyse hand-
lungsleitender Kognitionen die Häufigkeit von Alkoholfahrten vorherzusa-
gen. "Bequemlichkeit und Schwierigkeiten der Situation, als potentiell
bahnende Motive und Zurückhaltung/Selbstkontrolle und Angst vor" (sozia-
len ebenso wie strafrechtlichen) "Konsequenzen als potentiell hemmende
Motive sind bedeutsame Prädiktoren", wenngleich die Einbeziehung weite-
rer Persönlichkeitsvariablen und Ausprägungen sozialer Milieus mit den
entsprechenden Lebensstilen und Einstellungen das Vorhersagemodell noch
weiter optimieren könnte. 14 Einschränkend ist allerdings festzuhalten, dass
die von den Befragten mitgeteilten "Einschätzungen im Entscheidungspro-
zess retrospektive Zuschreibungen im Sinne der Attribuierungstheorie"
sind. "Ob der Prozess des Abwägens und der Entscheidungsfindung tatsäch-
lich vor einer Trunkenheitsfahrt stattfindet, muss offen bleiben." 15 Man wird
annehmen dürfen, dass mit zunehmendem Alkoholisierungsgrad die Ent-
scheidungsprozesse reduziert und von Gewohnheiten sowie mangelnden
normkonformen Alternativen dominiert werden. Jedoch stellt dies die Be-
deutung der gewonnenen Ergebnisse keineswegs in Frage. Im Gegenteil
folgt aus der im nüchternen Zustand der Befragungssituation ermittelten
differenzierten Abwägung, dass solche Prozesse trainiert und damit auch in

12 Vgl. Glitsch/Bornewasser/Dünkel (Fn. 3), S. 155 f.


13 Vgl. Glitsch Alkoholkonsum und Straßenverkehrsdelinquenz. Eine Anwendung der Theo-
rie des geplanten Verhaltens auf das Problem des Fahrens unter Alkohol unter besonderer
Berücksichtigung des Einflusses von verminderter Selbstkontrolle, 2003.
14 Vgl. Glitsch (Fn. 13), S. 156.
15 Vgl. Glitsch (Fn. 13), S. 157.
106 Frieder Dünkel

kritischen Situationen repräsentierbar gemacht werden können. Darauf


bauen zahlreiche kognitiv-behaviourale Behandlungsprogramme für Straftä-
ter auf. 16

IV. Der Greifswalder Interventionsansatz frühzeitiger Beratung


und "Coaching gegen Prämie"
In der Folge wurden auf der Basis des ermittelten außerordentlich prob-
lematischen Trink- und Fahrverhaltens in Mecklenburg-Vorpommem spezi-
fische Interventionsstrategien entwickelt und durch die Forschung begleitet,
die einerseits das problematische Trinkverhalten zu reduzieren und anderer-
seits eine frühzeitige Rehabilitation und Wiedererlangung der Fahreignung
zu ermöglichen anstrebten. Sanktionspolitisch handelt es sich um das Aus-
loten von Gestaltungsmöglichkeiten der Sanktionierung im Kontext von
positivem Nachtatverhalten (u. a. Nachschulungskurse; Abkürzung der
Sperrfrist i. S. v. § 69 Abs. 7 StGB). Forschungsleitender Ausgangspunkt
war dabei die Beobachtung, dass nach einer Trunkenheitsfahrt bis zur Ver-
urteilung (motivationspsychologisch) wertvolle Zeit vergeht, ohne dass sich
der Trunkenheitstäter mit rehabilitativen Maßnahmen auseinandersetzt. Die
Mehrzahl von Trunkenheitsfahrern findet (wenn überhaupt) erst nach einer
strafrechtlichen Sanktionierung zu Rehabilitationsmaßnahmen. Das in
Greifswald entwickelte Interventionsmodell strebte daher die unmittelbare
Kontaktnahme mit den auffalligen Trunkenheitsfahrern an, um sie im Rah-
men eines von einem Mitarbeiter angebotenen "Coaching" frühzeitig der
geeigneten Maßnahme zuzuführen. 17 Rechtzeitige Rehabilitationsmaßnah-
men (z. B. Nachschulungskurse) sollten im Idealfall schon bei der Strafzu-
messung, zumindest aber im Hinblick auf eine Sperrfristverkürzung nutzbar
gemacht werden. Verstärkt wurde der frühzeitige Interventionsansatz durch
eine Prämie für straffreies Verhalten, indem die Coaching-Gebühren nach
dreijährigem straffreien Verhalten zurückerstattet werden. 18 Damit sollte ein
spezifischer Anreiz zu normtreuem Verhalten gesetzt werden, indem der
Betroffene die gesamte sog. Coaching-Prämie wieder zurückerhält.
Das Projekt wurde im Zeitraum November 2002 bis Mai 2005 von der
DFG unter dem Titel "Aktives Gesundheitsmanagement im Kontext von

16 Aus dem Bereich des Jugendstrafrechts beispielsweise das Projekt "Denkzeit" für mehr-
fachauffällige (Gewalt-)Täter, vgl. hierzu Körner/Friedmann Denkzeit für delinquente Jugend-
liche, 2005. Zur Evaluation bestehender Therapie- und Rehabilitationsmaßnahmen für auffälli-
ge Kraftfahrer im internationalen Vergleich siehe Klipp/Bornewasser/Glitsch/Dünkel in:
Bundesanstalt für Straßenwesen (BAST), Mensch und Sicherheit, Heft M 196, S. 77 ff.
17 Vgl. Dünkel u. a. (Fn. 3),35 f.; Dünkel (Fn. 3), S. 140 ff.
18 Vgl. i. e. Dünkel (Fn. 3), S. 136 ff.
Greifswalder Forschungen zum Alkohol im Straßenverkehr 107

Straftaten unter Alkoholeinfluss am Beispiel Trunkenheit im Straßenver-


kehr" gefördert. 19
Das Forschungsdesign sah ein ausgeklügeltes und differenziertes System
der Motivierung von alkoholauffalligen Verkehrsteilnehmern vor. Bei der
Erprobung des Greifswalder Modells erwies sich eine pro-aktive Informati-
onsstrategie als wirksam zur signifikanten Erhöhung der Teilnehmerzah-
len. 20
Das pro-aktive Vorgehen wurde auf drei Ebenen gewählt und hat sich
empirisch als effektiv erwiesen:
1. Treatment "ln/oblau"

Die frühzeitige Information der Trunkenheitsfahrer führte zu einer signi-


fikanten Erhöhung der Inanspruchnahme von Beratungsleistungen
[Che(l, N=434) = 10,05; p<.OOI]. Während in der Experimentalgruppe
124 Personen (56,9%) eine Beratungsmaßnahme in Anspruch genommen
hatten, im Gegensatz zu 94 Personen (43,1 %) die keine Beratung bean-
spruchten, waren es in der Kontrollgruppe nur 90 Trunkenheitsfahrer
(41,7%), die an einer Maßnahme teilnahmen, und 126 Nicht-Teilnehmer
(58,3%).

2. Treatment "Aktivierung"

Eine persönliche Einladung zu einern kostenlosen Beratungsgespräch mit


einern konkreten Terminvorschlag im Sinne des "when-how-where"-
Plans des Health Action Process Approach21 (Schwarzer) hat sich darüber
hinausgehend als hoch signifikant zur Erhöhung der Partizipationsraten
erwiesen [Che(l, N=199) = 27,42; p<.OOI]. Das sozial-kognitive Pro-
zessmodell gesundheitlichen HandeIns besagt, dass bei der Ausführung
eines Gesundheitsverhaltens zwei Prozesse eine Rolle spielen. Einerseits
gibt es den motivationalen Prozess, der zu einer Intentionsbildung führt.
Verantwortlich für die Umsetzung der Intention in ein Verhalten sind au-
ßerdem volitionale Prozesse, unter anderem auch die Planung einer kon-
kreten Handlung zu einern bestimmten Zeitpunkt. Im Projekt wurde dies

19 Unter der Fördernummer DU/195/6-1. Die nachfolgenden Ausführungen in diesem Ab-


schnitt basieren im Wesentlichen auf dem bislang unveröffentlichten Abschlussbericht an die
DFG (Dünkel/Bornewasser/Glitsch/Klipp) vom 12. September 2006.
20 Vgl. Glitsch/Klipp/Bornewasser/Dünkel Blutalkohol 2004, 401 ff.~ Klipp/Glitsch/Borne-
wasser/Dünkel Blutalkohol 2005, 285 ff.~ dies. Sucht 2005, 167 ff.
21 Vgl. Schwarzer Psychologie des Gesundheitsverhaltens, 2. Aufl. 1996~ vgl. hierzu die
projektbezogenen Teilergebnisse bei Glitsch/Klipp/Bornewasser/Dünkel Blutalkohol 2005, 329
ff.~ Klipp/Glitsch/Bornewasser in: Bundesanstalt für Straßenwesen (BAST), Mensch und
Sicherheit, Heft 171,2005, S. 286 ff.
108 Frieder Dünkel

durch ein persönliches Anschreiben, das einen Teil der Trunkenheitsfah-


rer zu einem kostenlosen Beratungsgespräch an einem konkreten Termin
einlud, umgesetzt. Diese zusätzliche Aktivierung erwies sich als hoch ef-
fektiv.

3. Treatment "B+ (j

Von 115 Trunkenheitsfahrern, die das Angebot einer kostenlosen Bera-


tung in Anspruch nahmen, entschlossen sich 87 Fahrer auch zur Teilnah-
me am weiterfUhrenden Gesundheitscoaching des Projekts. Das entspricht
einem Prozentsatz von 76,3%. Darüber hinaus konnten weitere 7 Bera-
tungsteilnehmer erfolgreich in Maßnahmen anderer Anbieter oder Bera-
tungsstellen in der näheren Umgebung der Betroffenen vermittelt werden.
Somit ergab sich ein Gesamtprozentsatz von 82,50/0 der Trunkenheitsfah-
rer, die nach einer Beratung den Weg in eine langfristige Maßnahme bzw.
in die bestehenden Angebote des Gesundheitssystems gefunden haben. 22
Für viele Teilnehmer des Gesundheitscoachings ergaben sich erhebliche
Vorteile im Strafverfahren. Insgesamt wurden für 29 Trunkenheitsfahrer
Anträge auf Aufhebung bzw. Verkürzung der Sperrfrist gern. § 69a Abs. 7
StGB gestellt. Nur tUnf dieser Anträge wurden abgelehnt. In elf Fällen wur-
de die Sperrfrist, die bei Ersttätern so bemessen wird, dass mit Einberech-
nung der Zeit des vorläufigen Entzugs für den Delinquenten ein Zeitraum
von zwölf Monaten ohne Fahrererlaubnis entsteht, verkürzt. In dreizehn
Fällen wurde sie sogar vollständig aufgehoben. Dabei betrug der Umfang
der Verkürzung der Sperrfrist zwischen einem Monat und sechs Monaten.
Die durchschnittliche Verkürzung betrug 3,25 Monate (SD=0,7).
Die Fragebogenerhebung anband des konstruierten Check-Ups, welches
in der Beratung der Trunkenheitsfahrer zusätzlich als Interview durchge-
fUhrt wurde, hat sich als ein einfach anwendbares und ökonomisches In-
strument zur Initiierung einer Veränderungsmotivation erwiesen. Anband
des Check-Ups konnten die Fahrer mit Widersprüchen zwischen den sub-
jektiven Angaben und den objektiven Tatsachen konfrontiert werden.
Die Ergebnisse der Auswertung des Check-Ups bestätigten die Vermu-
tung, dass nahezu drei Viertel der Trunkenheitsfahrer (73,70/0) dem Stadium
der fehlenden Beschäftigung mit dem Problem (präkontemplativ) zuzuord-
nen sind. Die Häufigkeitsverteilungen über die einzelnen Items des Check-
Ups verdeutlichten insbesondere, dass sehr viele Fahrer nur mangelhafte
Kenntnisse über den Alkoholauf- bzw. -abbau haben. Ebenso deutlich wur-
de allerdings auch die für das präkontemplative Stadium charakteristische

22 Vgl. hierzu Klipp/Glitsch/Bornewasser (Fn. 21), S. 281 ff.


Greifswalder Forschungen zum Alkohol im Straßenverkehr 109

Bagatellisierung bzw. Verleugnung der Alkoholproblematik, während bei


den meisten Fahrern durchaus die Anerkennung der Norm bzw. Vorschrift
"Trennung von Trinken und Fahren" vorlag.
Der geringste Prozentsatz (6,6%) der Trunkenheitsfahrer ließ sich dem
Stadium der beginnenden Auseinandersetzung mit dem Problem (kontem-
plativ) zuordnen. Die meisten Fahrer in diesem Stadium hatten sich bereits
intensiv mit den Ursachen und Hintergründen des Delikts auseinanderge-
setzt und räumten die hohe Alkoholverträglichkeit ein, während sich nur
wenige bereits mit den persönlichen Trinkmotiven auseinandergesetzt hat-
ten. Versuche der Veränderung des Alkoholgebrauchs hatten aber auch sie
noch nicht unternommen.
Nur etwa ein Fünftel (19,70/0) der alkoholauffälligen Fahrer waren bereits
im Stadium der Vorbereitung (präparativ). Sie verfugten in der Regel über
ein ausgeprägtes Problembewusstsein und hatten bereits erste Handlungs-
schritte vorbereitet. Diese Fahrer nahmen das Alkoholdelikt zum Anlass,
Veränderungen der Lebensweise und des Trinkverhaltens vorzunehmen
oder sich zumindest intensiver mit möglichen Lösungsstrategien auseinan-
derzusetzen bzw. weitere Informationen über Handlungsalternativen einzu-
holen.
Die weitere Analyse der Daten der Teilnehmer aus der Region Vorpom-
mern, die das kostenlose Beratungsangebot wahrnahmen (N=115), zeigte,
dass Personen mit ausgeprägtem Problembewusstsein häufiger die Beratung
in Anspruch nahmen. Allerdings war das Erreichen des Stadiums der Vor-
bereitung, welches mit einem hohen Problembewusstsein gleichzusetzen ist,
keine zwingende Notwendigkeit fur eine Beratungsteilnahme. 76,90/0 der
Trunkenheitsfahrer mit einem hohen Problembewusstsein nahmen an dem
Beratungsgespräch teil. Im Gegensatz dazu entschieden sich nur 41,7% der
Auffälligen mit niedrigem bzw. 33,9% ohne Problembewusstsein für eine
Teilnahme. Als Motive fur die Inanspruchnahme des Beratungsangebots
gaben 59,50/0 den Wunsch nach umfassender Information an. 20,9% der
Fahrer äußerten ganz allgemein, sie hätten gern ihren Führerschein zurück,
und 8,7% erwähnten als Motiv "MPU-Vorbereitung". 7% kamen in Anbe-
tracht der subjektiven Einsicht in den problematischen Alkoholkonsum und
3,9% erhofften sich Vorteile im Strafverfahren bzw. kamen auf Empfehlung
des Anwalts.
Betrachtet man die Gruppe derer, die eigeninitiativ bereits durch das In-
formationsblatt das Projekt kontaktierten und sich zur Beratung anmeldeten,
genauer, zeigt sich, dass sich diese Personen in 64,4% der Fälle durch ein
hohes Problembewusstsein (präparatives Stadium) auszeichneten. Nur 5,6%
dieser Trunkenheitsfahrer waren dem kontemplativen Stadium und 29,6%
dem präkontemplativen Stadium zuzuordnen.
110 Frieder Dünkel

Ein entgegengesetztes Ergebnis zeigt sich für die Personen, die sich erst
nach einer persönlichen Einladung entschlossen, an der Beratung teilzu-
nehmen. 74,1% waren im präkontemplativen Stadium, 1,9% im kontempla-
tiven Stadium und nur 14,1% im präparativen Stadium. Darüber hinaus
wurde ebenfalls deutlich, dass der Prozentsatz der Teilnehmer, die nach der
Beratung eine längerfristige Maßnahme in Anspruch nehmen, umso höher
wird, je weiter die Personen laut Stadienmodell in der Änderungsbereit-
schaft vorangeschritten sind. Allerdings lässt sich ebenfalls feststellen, dass
ein ausgeprägtes Problembewusstsein weder eine notwendige noch eine
hinreichende Voraussetzung fur die Partizipation an einer dauerhaften Maß-
nahme zur Förderung der Fahreignung ist. Offensichtlich spielen extrinsi-
sche Motive gerade bei der Thematik der Trunkenheitsfahrer (i.d.R. die
schnellstmögliche Wiedererlangung der Fahrerlaubnis) eine wesentliche
Rolle bei der Teilnahme an einer rehabilitativen Maßnahme.
Durch eine Diskriminanzanalyse (N=177) wurden die Variablen identifi-
ziert, die Teilnehmer von Nicht-Teilnehmern unterscheiden. Neben der
Handlungsplanung (r=.65, p<.OOl) war das reduzierte subjektive Empfinden
situativer Barrieren (r=.65, p<.OOl) eine entscheidende Variable, die die
Vorhersage der Inanspruchnahme einer Beratung zuließ. Darüber hinaus
erwiesen sich auch die Intention (r=.58, p<.Ol), Kompetenzerwartung
(r=.49, p<.Ol), sozialer Rückhalt (r=.47, p<.05) und die Ergebniserwartung
(r=.43, p<.05) als signifikante Prädiktoren der Teilnahme. Weniger Einfluss
hatten die subjektiv erlebte Bedrohung, gemessen durch den erlebten
Schweregrad der Symptome (r=.34), und die subjektive Vulnerabilität
(r=.09). Die Ergebnisse der Diskriminanzanalyse bestätigen die Annahmen
des sozial-kognitiven Prozessmodells. 23 80,8% aller Fälle konnten richtig
klassifiziert werden.
Mithilfe eines linearen Strukturgleichungsmodells wurden die empirisch
gewonnenen Daten an die theoretisch behaupteten Variablenzusammenhän-
ge aus dem Prozessmodell gesundheitlichen Handelns 24 angepasst. Die
Modellanpassung gelang im Vergleich zur Theorie des geplanten Verhal-
tens 25 und dem Health Belief ModeFG außerordentlich gut, was mit der
guten konzeptuellen Spezifizierung der Konstrukte sowie ihrer Zusammen-
hänge und mit der Betonung volitionaler Prozesse begründet werden kann.
Im Rahmen der Modellanpassung konnten 66% der Varianz der Verhaltens-

23 Health Action Process Approach, vgl. Schwarzer (Fn. 21).


24 Schwarzer (Fn. 21).
25 Ajzen Organizational Behavior and Human Decision Processes 1991, S. 179 ff. und
Fn.l1.
26 Vgl. Becker The health belief model and personal health behavior, 1974.
Greifswalder Forschungen zum Alkohol im Straßenverkehr 111

intention und 38% der Varianz der Zielvariable "Beratungsteilnahme" durch


die in das Modell aufgenommenen Variablen aufgeklärt werden.
Bei den Probanden, die angaben, an keiner Beratung oder Maßnahme zur
Förderung der Fahreignung teilgenommen zu haben, wurden zusätzlich die
Gründe erfragt (N=162). Auch diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass es
den Delinquenten möglicherweise an Problembewusstsein mangelt, denn
die Antwort" ... weil ich die Strafe entgegengenommen habe und das Thema
damit erledigt war" erreichte den höchsten Durchschnittswert von 2,43
(SD=1,68) (Skala von O="trifft nicht zu" bis 4="trifft voll zu"). Wichtige
Gründe waren auch fehlende Informationen (M = 2,19, SD = 1,71), was
wiederum das oben beschriebene Ergebnis der Erhöhung der Partizipations-
raten durch gezielte Informationen stützt.
Eine Analyse der Häufigkeiten der jeweiligen Skalenwerte offenbarte die
Antworttendenz zu Extremwerten, d.h. entweder Ablehnung oder Zustim-
mung der aufgeführten Gründe der Nicht-Inanspruchnahme. Die Korrelati-
onskoeffizienten bewegten sich allerdings nur zwischen r=.18 und r=.45,
sodass keine offensichtlichen Antwortcluster zu finden waren. Eine Fakto-
renanalyse identifizierte jedoch zwei Faktoren, die 49,9% der Gesamtvari-
anz aufklärten. Auch diese bestätigten erneut die Annahmen des sozial-
kognitiven Prozessmodells. 27 Der erste Faktor (29% Varianzaufklärung)
beschreibt Aspekte des volitionalen Prozesses, der den Übergang von der
Intention zum tatsächlichen Verhalten beschreibt. Diese betreffen zum ei-
nen die persönlichen Ressourcen der Fahrer, wie Angst vor der Aufnahme
einer Beratung (.74) und mangelnde finanzielle Ressourcen (.65). Zum
anderen stellen sie situative Umstände oder Barrieren, wie fehlende Infor-
mation über Maßnahmen (.57) und räumliche Distanz zum Anbieter (.57),
dar. Der zweite Faktor, der 20,9% der Varianz aufklärte, scheint in erster
Linie motivationale Aspekte, wie mangelndes Problembewusstsein (.76),
Sinnlosigkeit (.75) und fehlender Nutzen (.75), die bei der Intentionsbildung
eine ausschlaggebende Rolle spielen, widerzuspiegeln.
Aus den vorliegenden Untersuchungsergebnissen ergeben sich aus dem
Greifswalder Modell folgende Charakteristika für eine optimale Strategie
zur Erhöhung der Teilnahmeraten im Bereich von frühzeitig einsetzenden
Rehabilitationsmaßnahmen für Trunkenheitsfahrer:
1) Eine pro-aktive Kontaktierung der alkoholauffalligen Fahrer, um eine
frühzeitige Aktivierung der Personengruppe zu erreichen. Hierzu gehört
die Nutzung aller Informationskanäle, um eine frühzeitige Informations-
bereitstellung für alle Trunkenheitsfahrer zu gewährleisten.

27 Schwar=er (Fo. 21).


112 Frieder Dünkel

2) Ein frühzeitiges Beratungsangebot, dass zur Inanspruchnahme anregt.


Förderlich für die Inanspruchnahme wirkt sich der Abbau situativer Bar-
rieren aus. Optimal wäre ein kostenneutrales Angebot in der näheren
Umgebung des Delinquenten.
3) Eine konkrete und verbindliche Einladung zu einern Beratungsgespräch
gewährleistet eine hohe Teilnahmequote.
4) Das Setzen von Anreizen rur eine langfristige Teilnahme. Die Vorteile
der Aufnahme einer Intervention oder Schulungsmaßnahme sollten dem
Delinquenten stets transparent gemacht werden. Dazu gehören einerseits
extrinsische Motive, wie der frühe Rückerhalt der Fahrerlaubnis durch
die Möglichkeiten des § 69a Abs. 7 StGB oder die Vorbereitung auf eine
anstehende Begutachtung. Auch die Vorteile für die Gesundheit durch
die Reduktion des Konsums sollten als intrinsische Motive stets erwähnt
werden.
5) Eine valide und ökonomische Diagnostik innerhalb des Beratungsge-
sprächs, um den optimalen Rehabilitationsverlauf zu planen. Auf der
Basis der Diagnose kann die individuell angemessene Intervention für
den Betroffenen ausgewählt werden.
6) Die Zuführung zum Gesundheitssystem sollte den persönlichen Res-
sourcen des Fahrers entsprechen. Nicht nur die Schwere der Alkohol-
problematik sollte hier Beachtung finden. Notwendig ist es auch, die fi-
nanziellen Möglichkeiten des Täters mit einzubeziehen. Bestenfalls wird
der Kontakt zur Interventionsstelle noch in der Beratung hergestellt.
Andernfalls ist die konkrete Planung der nächsten Handlungsschritte mit
dem Delinquenten unbedingt erforderlich.

v. Konsequenzen aus dem Greifswalder Modell


1. Information über Beratungsangebote
Die vorliegenden Ergebnisse zeigen, dass ein wesentlicher Hinderungs-
grund beim Einstieg in das Rehabilitationssystem in Deutschland offen-
sichtlich fehlende bzw. unvollständige Informationen über Beratungsanbie-
ter und Vorteile von Beratungen sind, die den Delinquenten meist auch viel
zu spät erreichen. In der Regel erhält der Täter erste Informationen zur
Rehabilitation mit den Hinweisen zur Neuerteilung der Fahrerlaubnis durch
die Führerscheinstelle, d. h. zwischen 5 und 9 Monaten nach der Tat. In
vielen Fällen werden die Informationen erst auf Nachfrage bereitgestellt, in
einigen Fällen noch nicht einmal dann. 28 Ein optimaler Rehabilitationsver-
lauf sollte durch eine frühzeitige Beratung aller alkoholauffälligen Kraftfah-

28 Vgl. hierzu Glitsch/Klipp/Bornewasser/Dünkel Blutalkohol 2005 (Fn. 20).


Greifswalder Forschungen zum Alkohol im Straßenverkehr 113

rer pro-aktiv eingeleitet werden, denn über 800/0 der Beratungsteilnehmer


nehmen auch an einer langfristigen Rehabilitationsmaßnahme teil. Möchte
man mehr Personen im Hinblick auf eine frühzeitige Aufnahme von Bera-
tungen erreichen, sollte eine umfassende, gezielte Information erfolgen.
Bereits der Erstkontakt sollte pro-aktiv gestaltet werden.
Dieser Aspekt wird verstärkt auch international diskutiert. Marques und
Voas schlugen ebenfalls bereits 2005 eine Verbesserung der Strukturen und
Verbindungen zwischen den Strafverfolgungs- bzw. Vollstreckungsbehör-
den und den öffentlichen Behandlungseinrichtungen bzw. Anbietern von
Schulungsmaßnahmen vor, um dauerhafte Verhaltensänderungen durch
Interventionen bei den Tätern zu fördern. 29 Dementsprechend wurde auf der
Basis einer Schnittstellenanalyse ermittelt, welcher Schriftverkehr und wel-
che potenziellen Informationsverläufe zwischen Straßenverkehrsdelinquen-
ten und den beteiligten Institutionen in Deutschland existieren:
1) Der erste Kontakt findet bereits zwei bis vier Wochen nach der Alkohol-
fahrt statt und kann als potenzieller Informationskanal dienen. Die Poli-
zei, d. h. Kriminalkommissariat/Ermittlungsdienst kontaktiert den Täter
durch die Versendung des Schreibens zur Anhörung bzw. bei der münd-
lichen Anhörung gern. §§ 163, 163a StPO. Bereits hier sollte eine In-
formation des Täters erfolgen.
2) Nach zwei bis sechs Monaten erfolgt ein Kontakt durch das Gericht
bzw. die Staatsanwaltschaft mit der Übersendung des Urteils, regelmä-
ßig in Form eines Strafbefehls. Auch hier können mit geringem Mehr-
aufwand Informationen über Beratungsanbieter und auch Möglichkeiten
der Sperrfristverkürzung bereitgestellt werden.
3) Ca. fünf bis neun Monate nach der Tat informiert die FührerscheinsteIle
über Hinweise zur Neuerteilung der Fahrerlaubnis. Ohne großen Auf-
wand wäre es möglich, erneut dem Täter Informationen über Beratungs-
angebote mitzuteilen und auf eine eventuell anstehende Begutachtung
hinzuweisen.
4) Ein meist persönlicher Kontakt zwischen Delinquent und Führerschein-
steIle besteht spätestens bei der AntragsteIlung der Neuerteilung der
Fahrerlaubnis nach neun bis zwölf Monaten. Spätestens zu diesem Zeit-
punkt wäre die umfassende Information zu Beratungsangeboten unbe-
dingt sicherzustellen.

29 Marques/Voas Interlock BAC tests, alcohol biomarkers, and motivational interviewing:


Methods for detecting and changing high-risk offenders. Alcohol Ignition Interlock Devices,
Vol. 11: Research, Policy, and Program Status, 2005, S. 25 ff.
114 Frieder Dünkel

2. Gestaltung des Rehabilitationsprozesses


Perspektivisch könnte das Greifswalder Modell auf andere Regionen in
Deutschland übertragen werden. Gleichzeitig ist es als Ergänzung des der-
zeit bestehenden Systems der Fahreignungsbegutachtung zu sehen.
Die Ergebnisse der Untersuchung des Greifswalder Modells machen deut-
lich, dass einem Großteil der Trunkenheitsfahrer ein angemessenes Prob-
lembewusstsein fehlt. Nur wenige der alkoholauffälligen Fahrer initiieren
von sich aus eine Änderung des Trinkverhaltens. Die Alkoholauffälligkeit
wird in den meisten Fällen nicht als Symptom für den eigenen missbräuch-
lichen Umgang mit Alkohol erkannt und das bedeutet in der Regel die Auf-
rechterhaltung der Konsumgewohnheiten. Das mangelhafte Wissen über das
Problemverhalten sowie die Bagatellisierung des Trinkverhaltens könnten
Ursachen rur die hohen Rückfallraten bestimmter Gruppen der Trunken-
heitsfahrer sein, da die Höhe des wöchentlichen Alkoholkonsums als stärks-
ter Prädiktor rur eine alkoholisierte Verkehrsteilnahme gilt. 30 In vielen Fäl-
len erfolgt erst nach negativ verlaufener Begutachtung der Fahreignung eine
Auseinandersetzung mit dem Konsumverhalten, wobei das negative Ergeb-
nis der Begutachtung häufig zunächst auf Unverständnis bei den Betroffe-
nen stößt. Dieses Unverständnis verstärkt sich nicht zuletzt auch deswegen,
weil bis zu einer erneuten Begutachtung mindestens sechs Monate vergehen
müssen, damit die Änderung des Trinkverhaltens als stabil nachvollzogen
werden kann. So vergehen oft Jahre, bis der Delinquent seine Mobilität
wiedererlangt. Darüber hinaus sind damit hohe Kosten verbunden. Gleich-
zeitig kann dies zu einer Verschärfung individueller Problemlagen ruhren.
Schlimmstenfalls mündet es in vermehrtem Alkoholkonsum oder einer
erhöhten Wahrscheinlichkeit rur sekundäre Delinquenz (z. B. Fahren ohne
Fahrerlaubnis).
Ein kostenloses Beratungsangebot empfiehlt sich bei Straftaten unter AI-
koholeinfluss im Straßenverkehr. Innerhalb des Beratungsgesprächs könnte
eine Kurzdiagnostik durchgeführt werden. International haben sich sowohl
in allgemeinärztlichen Praxen 31 als auch speziell bei Alkoholfahrern 32 als

30 Vgl. Clapp/Shillington/Voas/Lange Accident Analysis & Prevention, 2003, 161 ff.~


Glitsch (Fn. 13).
31 Vgl. Willenbring The 2005 NIAAA Clinicians Guide: Development & implementation in
a continuum of care. Vortrag auf der 2nd Conference of INEBRIA, Münster, 2005,
http://www.inebria.net/DuI4/html/en/dir1338/ddl 0592/mark_ willenbring.pdf~ Babor A1cohol
screening, brief intervention and referral to treatment (SBIRT): Translational research par
excellence or poetry that is lost in translation? Vortrag auf der 2nd Conference of INEBRIA,
Münster, 2005, verfügbar unter: http://www.inebria.net/Du14/html/ en/dir1338/ddI0592/
thomas_babor.pdf~Rist Conjoint screening and intervention for alcohol misuse and smoking in
primary health care. Vortrag auf der 2nd Conference of INEBRIA, Münster, 2005.
Greifswalder Forschungen zum Alkohol im Straßenverkehr 115

standardisierte Screening-Verfahren der AUDIT 33 (Alcohol Use Identifica-


tion Test) und der CAGE-Fragebogen 34 bewährt. Das AUDIT wurde von
der WHO entwickelt, um möglichst schnell und einfach ein schädliches
Konsumverhalten aufzudecken und die DiagnosesteIlung zu vereinfachen.
Noch einfacher und ökonomischer in der Anwendung ist der CAGE. Beide
Instrumente haben sich als reliabel und valide zur Identifikation des Alko-
holmissbrauchs erwiesen. 35 Die schnelle Auswertung vereinfacht die Dia-
gnostik und verkürzt die Beratungszeit.
Eine direkte Konfrontation des Delinquenten mit objektiven Daten (Höhe
des BAK, Ergebnisse der Screening-Diagnostik, Leberwerte, wenn bereits
vorhanden) im Sinne des Motivational Interviewing!6 könnte durch die
Anwendung des Check-Ups des Greifswalder Modells unterstützt werden.
Neben der Diagnostik steht die gezielte Beratung im Vordergrund. Das
Check-Up hat sich im Greifswalder Modell als gutes Hilfsmittel zur Initiie-
rung einer Änderungsmotivation bewährt.
Am Ende der Beratung sollte die Auswahl einer individuell angemesse-
nen Intervention bzw. die Vermittlung an entsprechende Maßnahmeträger,
Beratungsstellen oder andere klinische Einrichtungen getroffen werden. Die
Kommunikation möglicher Vorteile einer Maßnahme (strafrechtlich, ge-
sundheitlich, mobilitätsfördemd) stärkt die Motivation zur Fortsetzung der
empfohlenen Intervention des Betroffenen.
Mobilität und Gesundheit sind für die soziale Integration von Menschen
in modemen Industriegesellschaften von besonderer Bedeutung. Mobilitäts-
verlust und gesundheitliche Beeinträchtigungen z. B. infolge riskanten
Suchtmittelgebrauchs haben rür viele Personen den Verlust des Arbeitsplat-
zes, eine Verschärfung individueller Problemlagen und eine zunehmende
Ausgrenzung aus den gesellschaftlichen Stütz- und Haltesystemen zur Fol-
ge. Gut die Hälfte einer für die Trunkenheitsfahrer in Vorpommem reprä-
sentativen Stichprobe hat infolge ihres Führerscheinverlustes auch ihren
Arbeitsplatz verloren. 37 Dies ist ein Hinweis darauf, dass der Führer-

32 Vgl. Marques/Voas (Fn. 29)~ Bjerre Primary and secondary prevention of drinking and
driving by the use of alcolock device and program: The Swedish experience. Alcohol Ignition
Interlock Devices, Vol. 11: Research, Policy, and Program Status, 2005, S. 11 ff.
33 Vgl. Saunders u. a. Development of the Alcohol Use Disorders Identification Test (AU-
DIT): WHO Collaborative Project on Early Detection of Persons with Hannful Alcohol Con-
sumption 11. Addiction 1993, 791 ff.~ Bohn/Babor/Kranzler Journal of Studies on Alcohol
1995,423 ff.
34 Vgl. MayjieldlMcLeodiHall American Journal ofPsychiatry 1974, 1121 ff.
35 Vgl. Hays/Merz/Nicholas Response burden, reliability, and validity of the CAGE, Short
MAST, and AUDIT alcohol screening measures. Behavior Research Methods Instruments
Computers, 1995, 277 ff.
36 Miller/Rollnick Motivational Interviewing: Preparing People for Change, 2. Aufl. 2002.
37 Vgl. Dünkel u. a. 2001 (Fn. 3)~ Glitsch (Fn. 13).
116 Frieder Dünkel

scheinverlust durch den öffentlichen Personennahverkehr in einem Flächen-


land wie Mecklenburg-Vorpommern kaum kompensiert werden kann.
Dem entgegenwirkend könnten als innovative Strategie und zur Unter-
stützung des Rehabilitationsverlaufs die Möglichkeit eines zusätzlichen
Alkohol-Interlock-Programms mit dem Delinquenten erörtert und die Vor-
aussetzungen zur Teilnahme überprüft werden. Durch solch ein Programm
würde die Mobilität von Straßenverkehrsdelinquenten früher wiederherge-
stellt. Damit würden die sozial desintegrativen Wirkungen der Maßregel des
§ 69 StGB reduziert. Ferner könnte durch die Verbindung von Beratungs-
und Rehabilitationsmaßnahmen mit technischen Kontrollen wie dem Inter-
lock der spezialpräventive Aspekt der Maßregel der Besserung und Siche-
rung gestärkt werden. Ein solches spezifisches Maßnahmenbündel könnte
u. U. Problemfalle erreichen, die einer intensiven Rehabilitation (Besse-
rungsfunktion) und zugleich einer hohen Kontrolle (Sicherungsfunktion)
bedürfen. Allerdings sind hierfür die rechtlichen Voraussetzungen in
Deutschland noch nicht gegeben und es bestehen offenbar auch weit ver-
breitete Vorbehalte gegen Alkohol-Interlock-Programme.

VI. Weitere Forschungen am Greifswalder Lehrstuhl


für Kriminologie und Ausblick
Die Forschungen zum Alkohol im Straßenverkehr wurden auch nach Ab-
schluss des DFG-Projekts fortgesetzt. Zum einen ging es um Nachuntersu-
chungen des unter IV. beschriebenen Projekts, insbesondere die Evaluation
des in Greifswald entwickelten Gesundheitscoachings. Die Rückzahlung der
Coachingprämien hat 2007 begonnen und ist noch nicht abgeschlossen, da
sich zahlreiche Beratungsteilnehmer noch nicht gemeldet haben. Somit
liegen nur erste Daten zur Legalbewährung der Coachingteilnehmer vor, die
natürlich eine positive Auswahl, nämlich die erfolgreichen Teilnehmer
betreffen. Wir planen für 2010 die Erhebung einer Rückfallstatistik der
Coachingteilnehmer im Vergleich zu Nicht-Teilnehmern und Teilnehmern
anderer Maßnahmen anhand der Verkehrszentralregisterauszüge.
Ein weiteres Folgeprojekt hatte das Ziel, internationale Konzepte der
Kraftfahrerrehabilitation zu vergleichen. 38 Auf die vielfaltigen Ergebnisse
kann aus Raumgründen an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden,
jedoch wurden die rechtlichen Voraussetzungen, die Praxisentwicklung und
- soweit vorhanden - die Evaluationsergebnisse bzgl. Rehabilitationsmaß-

38 Der Bericht wurde federführend von Simone Klipp erarbeitet und von der Bundesanstalt
für Straßenwesen (BAST) veröffentlicht, vgl. Klipp/Bornewasser/Glitsch/Dünkel in: Bundes-
anstalt für Straßenwesen (BAST), Mensch und Sicherheit, Heft 196,2008, S. 77 ff.
Greifswalder Forschungen zum Alkohol im Straßenverkehr 117

nahmen für alkoholauffällige Verkehrsteilnehmer in Belgien, Eng-


land/Wales, Finnland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Österreich,
Polen, Portugal, der Schweiz, Slowenien, Tschechien und Ungarn zusam-
mengestellt. Auch Erfahrungen in Australien, Kanada und in den USA
wurden synoptisch dargestellt. Ein Schwerpunkt des Berichts lag ferner auf
der Darstellung und Evaluation technischer Maßnahmen zur Erhöhung der
Verkehrssicherheit (Interlock). Die Praktikabilität und Effizienz derartiger
Maßnahmen, insbesondere wenn sie mit rehabilitativen Programmelemen-
ten (Beratung, therapeutische Kurzinterventionen etc.) verbunden werden,
konnte eindeutig belegt werden. 39 Die Ergebnisse der Untersuchung des
"Greifswalder Modells" wurden in den Projektbericht integriert, sodass
Vorschläge zur Optimierung des deutschen Systems gemacht werden konn-
ten. 40
Der Einsatz neuer Technologien wie atemalkoholgesteuerten Wegfahr-
sperren (Interlock) hat starkes Interesse unserer Mitarbeiter/innen gefun-
den41 und daher wäre es wünschenswert, wenn auch in Deutschland die
Entwicklung von Modellprojekten ermöglicht würde, die bei der Rehabilita-
tion von Trunkenheitsfahrern in Betracht gezogen und evaluiert werden.
Sobald hierfür die rechtlichen Voraussetzungen geklärt sind, können ent-
sprechende Praxismodelle und Evaluationsstudien geplant werden. Eine in
den letzten Jahren in diesem Kontext besonders profilierte Mitarbeiterin
(Simone Klipp) fand den Weg zur BASt und kann nunmehr die Forschungs-
entwicklung von dort aus aktiv mitgestalten. 42 2009 hat sie mit einer kumu-
lativen Dissertationsschrift über "Individuelle und strukturelle Interventio-
nen zur Sekundärprävention bei Alkoholdelinquenz im Straßenverkehr" an
der Philosophischen Fakultät der Universität Greifswald (Institut für Psy-
chologie) promoviert. Mit den Kollegen Man/red Bornewasser und Edzard
Glitsch am selben Institut besteht nach wie vor eine enge Zusammenarbeit,
sodass einer Fortsetzung der Greifswalder Forschungstradition zur Alko-
holdelinquenz im Straßenverkehr nichts im Wege steht.

39 Vgl. Klipp/Bornewasser/Glitsch/Dünkel (Fn. 38), S. 95 ff.


40 Vgl. Klipp/Bornewasser/Glitsch/Dünkel (Fn. 38), S. 103 ff., 110 ff.
41 Vgl. Klipp Blutalkohol 2009, 190 ff.
42 Vgl. z. B. ihre Beteiligung an dem EU-Projekt DRUID (Drunken driving under the in-
fluence of Drugs, Alcohol and Medicines), hierzu Klipp/Bukasa Zeitschrift für Verkehrssicher-
heit 2009, 59 ff.
Optimierungsbedarf und
Optimierungsmäglichkeiten der Kriminal- und
Strafrechtspflegestatistiken in Deutschland

WOLFGANG HEINZ

I. Vorbemerkung
Vor mehr als zehn Jahren, 1999, wurde vom Bundesministerium für Bil-
dung und Forschung (BMBF) die "Kommission zur Verbesserung der in-
formationellen Infrastruktur zwischen Wissenschaft und Statistik" (KVI)
einberufen. 1 Ein Ergebnis des 2001 veröffentlichten Gutachtens der Kom-
mission "Wege zu einer besseren informationellen Infrastruktur" war u.a.
die Einsetzung eines Gründungsausschusses für den "Rat rur Sozial- und
Wirtschaftsdaten" (RatSWD).2 Dieser Ausschuss schuf nicht nur den 2004
erstmals vom BMBF berufenen RatSWD3, sondern initiierte u.a. auch die
Einrichtung der Forschungsdatenzentren des Statistischen Bundesamtes und
der Statistischen Landesämter. 4
Im Bereich der Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken ging es dem
RatSWD vor allem darum, zunächst die Datenbestände und die Analyse-
möglichkeiten zu sichten sowie die Zugangsmöglichkeiten zu vorhandenen
Daten und den weiteren Datenbedarf zu ermitteln. Dem diente der im Okto-
ber 2006 veranstaltete Workshop "Datenprobleme in den Kriminal- und
Strafrechtspflegestatistiken" .5 In dem vom Verf. entworfenen, von den Teil-
nehmern verabschiedeten Memorandum "Optimierung der Kriminal- und

1 Vorausgegangen war im selben Jahr ein Symposium zum Thema "Kooperation zwischen
Wissenschaft und amtlicher Statistik - Praxis und Perspektiven". In dem dort verabschiedeten
Thesenpapier wurde die Einrichtung einer Kommission vorgeschlagen, die Lösungsvorschläge
für eine Verbesserung der bislang eher defizitären Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und
amtlicher Statistik erarbeiten sollte.
2 Zur Arbeit des Gründungsausschusses vgl. So/ga/Wagner Die Arbeit des Rates für Sozial-
und Wirtschaftsdaten (RatSWD) in seiner ersten Berufungsperiode (2004-2006)
<http://www.ratswd.de/download/publikationen_rat/bericht_zusammenfassung.pdf>
3 Zum RatSWD und seinen Aufgaben vgl. <http://www.ratswd.de/rat/aufgaben.php>
4 <\vww.forschungsdatenzentrunl.de>
5 <http://ratswd.de/ver/kriminaIWS.php>
120 Wolfgang Heinz

Strafrechtspflegestatistiken in Deutschland"6 wurde der RatSWD gebeten,


eine Arbeitsgruppe einzusetzen. Der RatSWD griff diese Empfehlung auf
und setzte im März 2007 unter der Leitung des Verf. eine elfköpfige Ar-
beitsgruppe mit dem Auftrag ein, binnen Jahresfrist kurz-, mittel- und lang-
fristig umzusetzende Empfehlungen zur "umfassenden Optimierung der
bestehenden kriminalstatistischen Systeme" zu erarbeiten. Die konstituie-
rende Sitzung dieser Arbeitsgruppe fand im Juli 2007 statt, drei weitere
Sitzungen folgten. Der vom Verfasser erarbeitete erste Entwurf des Ab-
schlussberichts wurde auf der 3. Sitzung beraten und auf der 4. Sitzung im
Juli 2008 verabschiedet. Die textliche Überarbeitung wurde im Umlaufver-
fahren beschlossen. Der RatSWD machte sich die Empfehlungen der Ar-
beitsgruppe auf seiner 17. Sitzung am 10. Oktober 2008 zu Eigen. Der 2009
veröffentlichte Bericht7 wurde der Bundesministerin der Justiz, der Bun-
desministerin rur Bildung und Forschung sowie dem Bundesminister des
Innern übergeben und "um eine möglichst zügige Umsetzung der Empfeh-
lungen gebeten".8
Nachdem nicht nur Zwischenberichte 9 , sondern auch der Abschlussbe-
richt der Arbeitsgruppe lO sowie eine prägnante Kurzfassung der Arbeit der
AG sowie deren Empfehlungen 11 vorliegen, ist eine nochmalige Darstellung
der Empfehlungen im Detail entbehrlich. Stattdessen soll es in diesem, dem
Jubilar in kollegialer Verbundenheit gewidmeten Beitrag darum gehen,
sowohl die in den letzten Jahren erfolgten Verbesserungen zu skizzieren als
auch anhand aktueller Beispiele auf den Optimierungsbedarf hinzuweisen.
Denn evidenzbasierte Kriminalpolitik benötigt aussagekräftigere und vali-
dere Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken 12 als sie derzeit verrugbar
sind.

6 <http://ratswd.de/download/veranstaltungenlMemorandulll_KrinlinaIWS.pdf>
7 Ratfür So=ial- und Wirtschaftsfragen (Hrsg.), Optimierung des bestehenden kriminalstatis-
tischen Systems in Deutschland, 2009.
8 Fn. 7, S. 6.
9 Vgl. Hein= FS Tiedemann, 2008, S. 1547 ff.~ ders. in: Dessecker/Egg (Hrsg.), Kriminalsta-
tistiken im Lichte internationaler Erfahrungen, 2009, S. 17 ff.
10 Fn. 7.
11 Brings in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Leistungsdaten für die Kriminaljustiz:
die neue Wiederverurteilungsstatistik - and more, 2009, S. 25 ff.
12 Unter Kriminalstatistik wird üblicherweise die Polizeiliche Krinlinalstatistik verstanden.
Sowohl die Personenstatistiken der Strafrechtsptlege (Strafverfolgungsstatistik - StVerfStat,
Bewährungshilfestatistik - BewHiStat, Strafvollzugsstatistik - StVollzStat, Maßregelvollzugs-
statistik - MaßrVollzStat) als auch die Justizgeschäftsstatistiken (Statistik über Straf- und
Bußgeldverfahren - StP/OWi-Statistik - Justizgeschäftsstatistik, Staatsanwaltschaftsstatistik -
StA-Statistik) werden dagegen unter dem Oberbegriff Strafrechtsptlegestatistiken zusammen-
gefasst.
Optimierung der deutschen Kriminalstatistiken 121

11. Änderungen im Bereich der Kriminal- und


Strafrechtspflegestatistiken im letzten Jahrzehnt
1. A'nderungen hinsichtlich der Datenverfügbarkeit
Die bisherige Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) wird derzeit neu gestal-
tet. Neben der Einzeldatensatzanlieferung an das Bundeskriminalamt
(BKA)13 (von einigen Ländern ab 2007, ab 2008 von allen Ländern) wird
vor allem der Straftatenschlüssel erheblich erweitert. 14 Es sollen weitere
Folgekataloge eingeführt werden, die eine differenziertere Erfassung von
einzelnen Erhebungseinheiten bzw. -merkmalen ermöglichen werden. 15
Seit dem Berichtsjahr 2004 verfUgt das Statistische Bundesamt über (ano-
nymisierte) Einzeldaten der Länder zu den Justizgeschäftsstatistiken.
Seit dem Berichtsjahr 2004 wird das Verfahrensaufkommen bei den
Staatsanwaltschaften und den Strafgerichten nach einem Sachgebietskatalog
der verletzten Strafvorschriften differenziert, der derzeit 30 Positionen um-
fasst. 16
In der StVerfStat, der BewHiStat und der StVollzStat wurden zum Be-
richtsjahr 2007 die bis dahin statistikspezifischen Schlüsselverzeichnisse
durch eine einheitliche Straftatenleitdatei abgelöst. Künftig werden deshalb
die Ergebnisse dieser drei Statistiken zumindest hinsichtlich der nachgewie-
senen schwersten Straftaten vollständig miteinander vergleichbar sein.
Seit 2007 wird die StVerfStat auch in Sachsen-Anhalt und damit erstmals
flächendeckend in ganz Deutschland durchgeführt.
In der StVerfStat und in der StVollzStat wird ab 2009 die Staatsange-
hörigkeit der Abgeurteilten, der Gefangenen und Verwahrten nach dem
vollständigen Gebiets- und Staatsangehörigkeitsschlüssel der amtlichen
Bevölkerungsstatistik erfasst werden. 17

13 Seit 1.1.2007 können pseudonymisierte Einzeldatensätze an das BKA geliefert werden.


Da zu diesem Zeitpunkt nicht alle Länder dazu in der Lage waren, wurde ein Übergangszeit-
raum vorgesehen, in dem im Parallelbetrieb sowohl die Einzeldatensätze als auch die aggre-
gierten Tabellen an das BKA geliefert werden. Ab dem Berichtsjahr 2009 soll die PKS vom
BKA gänzlich auf der Basis der Einzeldatensätze erstellt werden.
14 Statt der gegenwärtigen 421 vierstelligen Straftatenschlüssel wird es künftig ca. 1.500
sechsstellige Straftatenschlüssel geben.
15 Vgl. Mischkowit= Von PKS-alt zu PKS-neu: Zeitrahmen, Erweiterung und Forschungs-
potentiale <http://www.ratswd.de/ver/kriminalWS.php>
16 In der veröffentlichten StA-Statistik wird die Erledigungsstruktur allerdings nur für fol-
gende Sachgebiete detailliert ausgewiesen: Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung,
vorsätzliche Körperverletzungen, Diebstahl und Unterschlagung, Betrug und Untreue, Strafta-
ten im Straßenverkehr, Wirtschafts- und Steuerstrafverfahren, Geldwäschedelikte, Straftaten
nach dem Betäubungsmittelgesetz.
17 In der BewHiStat wird es weiterhin bei der Unterscheidung deutsch/nicht-deutsch blei-
ben.
122 Wolfgang Heinz

Ab 2009 wird für die StVerfStat die Dauer der verhängten Freiheits-
strafen sowie die Höhe der verhängten Geldstrafen unklassiert gemeldet.

2. Ä'nderungen hinsichtlich des Datenzugangs


Zeitreihen der PKS ab 1987 sowie die Jahresberichte der PKS werden seit
1997 im Internet als pdf-Dateien veröffentlicht; 18 interessierten Nutzern
werden diese Daten auch als Excel-Dateien zur Verfügung gestellt.
Nach einigen Jahre der Parallelveröffentlichung von Print- und elektroni-
schen Medien sind die Reihen 2 bis 4 der Fachserie "Rechtspflege" seit
2004 - seit 2008 nunmehr auch Reihe 1 "Ausgewählte Zahlen für die
Rechtspflege" - ausschließlich als elektronische Publikationen (als Excel-
oder pdf-Dateien) verfügbar,19 darunter auch zwei teilweise bis 1970 zu-
rückgehende "Lange Reihen zur Strafverfolgungsstatistik" zu Verurteilten
nach Straftaten sowie verurteilten Deutschen und Ausländern.
Seit Herbst 2005 stehen der Wissenschaft über das Forschungsdatenzent-
rum der Statistischen Landesämter die Mikrodaten zur StVerfStat, zur
StVollzStat und seit Sommer 2006 auch die der BewHiStat zur Verfügung,
und zwar für die Berichtsjahrgänge seit 1995. 20
Seit einigen Jahren gibt es ferner mehrere statistikübergreifende Veröf-
fentHchungen:
1999 wurden Ergebnisse der verschiedenen Strafrechtspflegestatisti-
ken vom Statistischen Bundesamt in der Veröffentlichung "Justiz im
Spiegel der Rechtspflegestatistik" zusammengefasst. In die 2008 er-
schienenen Broschüre "Justiz auf einen Blick"21 wurden auch einzelne
Ergebnisse aus Datenquellen aufgenommen, die außerhalb der statisti-
schen Ämter geführt werden.

Die Bundesregierung hat zwei Periodische Sicherheitsberichte er-


stellt,22 mit denen versucht wurde, "ein möglichst umfassendes Bild
der Kriminalitätslage zu erstellen, das Erkenntnisse aus den vorhande-

18 http://www.bka.de/~ Berichte und Statistiken ~ Kriminalstatistik. Die Landeskrirninal-


ämter sind in den letzten Jahren ebenfalls dazu übergegangen, ihre Jahresberichte auch oder
nur im Internet zu veröffentlichen, allerdings ebenfalls nur als pdf-Dateien.
19 <https://www-ec.destatis.de>
20 <http://www.forschungsdatenzentrum.de/datenangebot.asp#p_recht>
21 <http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Publikati-
onen/Broschueren/JustizBlick,property=file.pdf>
22 Bundesministerium des Innern; Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Erster Periodischer
Sicherheitsbericht, 2001 (im Folgenden: 1. PSB); Bundesministerium des Innern; Bundesmi-
nisterium der Justiz (Hrsg.), Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, 2006 (im Folgenden: 2.
PSB).
Optimierung der deutschen Kriminalstatistiken 123

nen amtlichen Datensammlungen ... in einem Bericht zusammenfasst


und zugleich mit Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchungen zu
Erscheinungsformen und Ursachen von Kriminalität verknüpft".23

111. Weiterhin bestehender Optimierungsbedarf im Bereich der


Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken
1. Datenbedarfvon evidenzbasierter Kriminalpolitik
Durch die Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken sollen Informationen
sowohl für eine evidenzbasierte Kriminalpolitik als auch für die Verwal-
tung 24 zur Verfügung gestellt werden. Evidenzbasierte Kriminalpolitik, die
Wissen sowohl über die zu regelnden Sachverhalte als auch über die Zieler-
reichung wie Zielverfehlung von Regelungen voraussetzt, benötigt Daten zu
Umfang, Struktur und Entwicklung der Kriminalität,
Tätigkeit und Entscheidungen der Instanzen der Rechtspflege,
Zahl und Art der verhängten strafrechtlichen Rechtsfolgen,
Vollstreckung und Vollzug der Rechtsfolgen,
Rückfall nach strafrechtlichen Rechtsfolgen.25
Im Hinblick hierauf weisen die deutschen Kriminal- und Strafrechtspfle-
gestatistiken deutliche Defizite auf. Sie sind - zumindest in Teilen - weder
hinreichend aussagekräftig noch valide genug, um einer evidenzbasierten
Kriminalpolitik als Entscheidungsgrundlage zu dienen. Sie bleiben teilweise
auch deutlich hinter dem Stand zurück, den die kriminalstatistischen Syste-
me einiger europäischer Staaten inzwischen erreicht haben.

2.Rechtlich-organisatorische Defizite der derzeitigen Kriminal- und


Strafrechtspflegestatistiken
a) Fehlende Rechtsgrundlage der Strafrechtspflegestatistiken und
darauf beruhende Lücken in regionaler Hinsicht
Im Unterschied zur PKS beruhen die Strafrechtspflegestatistiken auf kei-
ner gesetzlichen Grundlage. Sie werden also sog. koordinierte Länder-
statistiken geführt, d.h. sie werden durch übereinstimmende Erlasse der
Innenministerien bzw. Landesjustizverwaltungen eingeführt. Mangels ge-

23 1. PSB (Fn. 22), S. XIX.


24 Im Folgenden kann auf den insoweit bestehenden Optimierungsbedarf der Kriminal- und
Strafrechtsptlegestatistiken nicht eingegangen werden.
25 Eingehender Heinz 2009 (Fn. 9), S. 18 ff.
124 Wolfgang Heinz

setzlicher Grundlage kann demnach die Umsetzung auf Länderebene unter-


bleiben bzw. ausgesetzt werden. Die StVerfStat wurde z.B. erst ab dem
Berichtsjahr 2007 in Sachsen-Anhalt eingeführt, die BewHiStat wird noch
nicht in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen geführt, die MaßrVollzStat
weder in diesen Ländern noch in Brandenburg. Selbst wenn die Führung
einer Statistik aufgenommen worden ist, bedeutet dies nicht, dass ihre Auf-
bereitung nicht irgendwann ausgesetzt wird. Dies war z.B. hinsichtlich der
StA-Statistik in Hamburg 1998 sowie in den lahren 1998 bis 2003 ein-
schließlich in Schleswig-Holstein der Fall. Die Führung der BewHiStat ist
in Hamburg seit 1992 ausgesetzt; in Schleswig-Holstein war ihre Aufberei-
tung 2002 bis 2006 26 ausgesetzt.
Mangels gesetzlicher Verpflichtung erhält das Statistische Bundesamt nur
Aggregatdaten der Ländertabellen, aber keine Mikrodaten (Einzeldatensät-
ze) der Personenstatistiken der Strafrechtspflege. Flexible Sonderauswer-
tungen sind ihm deshalb nicht möglich.

b) Festlegung von Datensammlungen und -aufbereitung ohne


Einbeziehung wesentlicher Datennutzerkreise
Welche Daten in welchen Statistiken erhoben, wie sie aufbereitet und
veröffentlicht werden, wird in Ausschüssen der Länder und des Bundes
(Kommission "Polizeiliche Kriminalstatistik", "Ausschuss für die Statisti-
ken der Rechtspflege", "Ausschuss für lustizstatistik") vereinbart. Wissen-
schaft und Legislative sind nicht vertreten. 27 Dies führt dazu, dass zahlrei-
che Informationen, die evidenzbasierte Kriminalpolitik (des Bundes)
benötigt, nicht zur Erhebung vorgesehen sind und dass die Erhebungs-
merkmale sowie die Aufbereitungsregeln teilweise uneinheitlich sind.

c) Begrenzte Vergleichbarkeit der Teilstatistiken


Die derzeitigen Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken sind weder in-
haltlich noch erhebungsmethodisch aufeinander abgestimmt. Erhebungsein-
heiten und Erhebungsmerkmale der einzelnen Statistiken sind nur teilweise
kompatibel. Die Statistiken werden nach je eigenen Zähl- und Aufberei-
tungsregeln erstellt.

26 Seit 2006 werden die Jahresergebnisse in Schleswig-Holstein sukzessive aufbereitet. Im


Jahresbericht 2006 wurden deshalb die Ergebnisse aus Schleswig-Holstein für 2003 eingestellt.
27 Diese Ausschüsse setzen sich zusammen aus Statistikfachleuten der 16 Landeskriminal-
ämter und des Bundeskriminalamtes (BKA) (so für die PKS) bzw. Vertretern der Statistischen
Ämter (Länder und Bund), der Justizministerien der Länder und des Bundesministeriums der
Justiz (BMJ) oder des Bundesamts für Justiz (BfJ) (so für die Rechtspflegestatistiken).
Optimierung der deutschen Kriminalstatistiken 125

Erhebungseinheiten sind teils Fälle (nur PKS), teils Personen (PKS und
Personenstatistiken der Strafrechtspflege), teils Verfahren (Justizge-
schäftsstatistiken).28
Erhebungskonzepte sind teils Stichtagserhebungen (StVollzStat, Maßr-
VollzStat), teils jährliche Massen (so in den anderen Statistiken).2 9
Während in der PKS seit 1983 die sog. echte Personenzählung einge-
führt ist, wird in den Strafrechtspflegestatistiken jede Person so oft ge-
zählt, wie gegen sie Verfahren abgeschlossen werden. 30 Diese unter-
schiedlichen Zählregeln führen z.B. dazu, dass 2008 in der PKS
2.255.693 ermittelte Tatverdächtige ausgewiesen werden, in der StA-
Statistik (ebenfalls ohne Vergehen im Straßenverkehr) aber mehr als die
doppelte Zahl von Beschuldigten, nämlich 4.889.969. 31 Ebenfalls wegen
Mehrfachzählung derselben Person überhöht sind die Daten der
StVerfStat. Wie die Sonderauswertung der für die Rückfallstatistik er-
hobenen BZR-Daten ergeben hat, waren ca. 12% der Täter nlit 2 oder
mehr Entscheidungen im Berichtsjahr 1994 eingetragen. In diesem Um-
fang ist demnach mit einer Überhöhung der in der StVerfStat ausgewie-
senen Zahl der Verurteilten zu rechnen. 32

d) Beschränkte Qualitätskontrollen, insbesondere ohne


Datentriangulation
Eine Qualitätskontrolle i.S. von formal und inhaltlich richtiger Erfassung
erfolgt auf Länderebene ("Erfassungsebene") durch Plausibilitäts- und Kon-
sistenzprüfungen. Eine Datentriangulation mit Daten aus anderen Statistiken
bzw. Registern findet jedoch nicht statt. Wiederholt wurden in den ver-
schiedensten Statistiken sowohl Unter- als auch Übererfassungen festge-
stellt. 33 Leicht nachprüfbar ist dies, wenn dasselbe Datum in verschiedenen
Statistiken erhoben wird. Alljährlich zeigt sich z.B. eine erhebliche Nicht-
übereinstimmung von Daten zu §§ 45 Abs. 3, 47 JGG. 2008 wurden in der
StA-Statistik 10.119 Beschuldigte ausgewiesen, bei denen - als schwerste

28 Einzelheiten bei Hein:: 2009 (Fn. 9), S. 60.


29 Hein:: 2009 (Fn. 9), S. 48, 50.
30 Hein:: 2009 (Fn. 9), S. 60.
31 2008 waren 5.823.863 Beschuldigte von Ermittlungsverfahren betroffen, darunter
933.894 von Verfahren der Sachgebiete 35 (Verkehrsstraftaten mit fahrlässiger Tötung sowie
gemeingefahrliche Straftaten) und 36 (Sonstige Verkehrsstraftaten). Die Überhöhung um das
2,2fache reduziert sich zwar auf das 1,7fache, wenn berücksichtigt wird, dass 2008 nur 78%
aller erledigten Ermittlungsverfahren durch die Polizei eingeleitet wurden (wobei unklar ist, ob
und inwieweit z.B. die zunächst durch die StA eingeleiteten Verfahren [18,60/0] nicht doch
Eingang in die PKS gefunden haben).
32 Vgl. Sutterer in: Heinz/Jehle (Hrsg.), Rückfallforschung, 2004, S. 199.
33 Vgl. die Nachweise im Einzelnen in RatSWD (Fn. 7), S. 87.
126 Wolfgang Heinz

Entscheidung - das Verfahren gern. § 45 Abs. 3 JGG eingestellt worden ist;


in der StVerStat wurden aber nur 7.216 (71 %) Abgeurteilte mit solchen
Entscheidungen registriert. In einigen (wenigen) Ländern kommen sich die
Zahlen relativ nahe, in anderen gibt es dagegen mehr oder minder große
Unterschiede. 34 Vergleichbar große Unterschiede bestehen hinsichtlich
§ 47 JGG. In der Justizgeschäftsstatistik wurden 2008 62.628 Personen
ausgewiesen, in der StVerfStat dagegen nur 47.121 (750/0). Ein anderes
Beispiel bilden extreme Abweichungen. So fällt z.B. auf, dass in Mecklen-
burg-Vorpommern seit Jahren extrem wenig Verurteilte ausgewiesen wer-
den, bei denen auf verminderte Schuldfähigkeit erkannt wurde;35 wenn
ausgewiesen wird, dann immer nur im Zusammenhang mit der Anordnung
einer Unterbringung gern. §§ 63, 64 StGB. Im Schnitt aller anderen Länder
beträgt aber der Anteil einer Unterbringung bei § 21 StGB nur 50/0.

3. Defizite hinsichtlich der Datenverfügbarkeit


a) Fehlende Statistiken

- Keine bundesweit repräsentative, kontinuierliche statistikbegleitende


Dunkelfeldforschung -
Die im letzten Jahrzehnt vom Bundesrat vorgelegten Entwürfe zur Ände-
rung des Jugendgerichtsgesetzes gehen alle davon aus, Jugendkriminalität,
insbesondere jugendliche Gewaltkriminalität, sei deutlich angestiegen. 36 Ob
sie tatsächlich angestiegen ist oder ob es sich lediglich um ein auf veränder-
tem Anzeigeverhalten beruhendes statistisches Artefakt handelt, ist indes
unbekannt. In ihrem 1. PSB hat die Bundesregierung zutreffend ausgeführt:
"Die Annahme, die ,Kriminalitätswirklichkeit' habe sich ebenso oder zu-
mindest ähnlich wie die ,registrierte' Kriminalität entwickelt, ist eine
Schlussfolgerung, die auf der (stillschweigenden, aber zumeist unzutreffen-

34 In Bremen wurden z.B. 2008 in der StA-Statistik 228 Personen erfasst, in der StVerfStat
dagegen O.
35 Im Schnitt aller Länder - ohne MV - wurde 2008 bei 2,50/0 aller Verurteilten verminderte
Schuldfahigkeit angenommen; in MV waren es nur 0,05%. Ein Erfassungsfehler beim Einlesen
der gemeldeten Daten liegt nicht vor.
36 "Seit Beginn der neunziger Jahre ist ein stetiger Anstieg der Jugendkriminalität - insbe-
sondere der Gewaltkriminalität - in der Bundesrepublik Deutschland zu verzeichnen" ("Ent-
wurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung der Jugenddelinquenz", BR-Drs.
16/1027 vom 23.03.2006, S. 1; ebenso der "Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der
Bekämpfung der Jugenddelinquenz", BR-Drs. 312/03 vom 08.05.2003, S. 1). Ähnliche Aussa-
gen finden sich auch im "Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Jugendstrafrechts und zur
Verbesserung der Beschleunigung des Jugendstrafverfahrens", BR-Drs. 238/04 vom 25.03.04,
S. 1, sowie in der "Entschließung des Bundesrates zur Bekämpfung der Jugendkriminalität",
BR-Drs. 77/08B vom 15.02.08, Anlage, S. 1.
Optimierung der deutschen Kriminalstatistiken 127

den) Annahme beruht, sämtliche neben der Kriminalitätsentwicklung maß-


gebenden Einflussgrößen auf ,registrierte' Kriminalität seien im Ver-
gleichszeitraum konstant geblieben. "37 Ohne Zusatzinformationen aus Dun-
keifeldforschungen bleibt deshalb ungewiss, ob die kriminalstatistischen
Zahlen die Entwicklung der "Kriminalitätswirklichkeit" wiedergeben. Die
Beschränkung auf das Hellfeld führt ferner zu einer systematischen Verzer-
rung der registrierten Kriminalität zu den schwereren Deliktsformen hin,
weil diese weitaus häufiger angezeigt werden als leichtere.
Die Bundesregierung, die im 1. PSB "Dunkelfelduntersuchungen ... als
notwendiges Instrument zur Messung der Kriminalitätsentwicklung in dafür
geeigneten Deliktsbereichen" bewertete, wollte deshalb "baldmöglichst eine
Konzeption für die regelmäßige Durchführung" solcher Untersuchungen zur
Verfügung stellen. 38 Die 2002 vom BMI und vom BMJ eingerichtete Ar-
beitsgruppe hat noch im selben Jahr eine Konzeption für eine periodisch
durchzuführende "Bevölkerungsumfrage zu Kriminalitätserfahrungen und
Sicherheitsempfinden" erarbeitet. 39 Vor allem aus Kostengründen wurden
diese Vorschläge noch nicht umgesetzt.
Derzeit gibt es in Deutschland noch keine bundesweit repräsentative, kon-
tinuierliche statistikbegleitende Dunkelfeldforschung. 40 Die verfügbaren,
regional und zumeist auf Schülerinnen und Schüler der 9. Jahrgangsstufe
begrenzten Untersuchungen zeigen (im Schnitt) einen Anstieg der Anzeige-
raten, insbesondere bei Körperverletzungsdelikten, sowie - im Gegensatz
zur PKS - einen Rückgang oder zumindest eine Konstanz sowohl der von
Jugendlichen zugegebenen Gewaltdelikte als auch der von den Jugendlichen
berichteten erfahrenen Gewalt (Viktimisierungserlebnisse).41 Die von der
Innenministerkonferenz eingesetzte Bund-Länder-AG "Entwicklung der
Gewaltkriminalität junger Menschen mit einem Schwerpunkt auf städti-
schen Ballungsräumen" hat dementsprechend in ihrem Abschlussbericht
festgehalten: "Dem Aussagegehalt der Polizeilichen Kriminalstatistik stehen
die Erkenntnisse aus kriminologischen Forschungen, insbesondere Dunkel-
feldforschungen entgegen. Sie erkennen zwar die steigenden Fall- und Tat-
verdächtigenzahlen im Hellfeld an. Aufgrund der Daten zu selbst berichteter
Delinquenz und Opferwerdung kommen sie aber zu dem Schluss, es sei
kein tatsächlicher Anstieg der Gewaltkriminalität junger Menschen, sondern

37 1. PSB (Fn. 22), S. 1, 12~ ebenso 2. PSB (Fn. 22), S. 393.


38 1. PSB (Fn. 22), S. 600.
39 Hein= Abschlussbericht der Arbeitsgruppe des Bundesministeriums des Innern und des
Bundesministeriums der Justiz "Regelmäßige Durchführung von Opferbefragungen" (unveröff.
Mskr. für das BMI und das BMJ, Sept. 2002).
40 Vgl. zum Stand der Dunkelfeldforschung Hein= FS Kury, 2006, S. 241 ff.
41 Vgl. die zusammenfassenden Nachweise bei Hein= Wenn junge Gewalttäter Schlagzeilen
machen (http://www.uni-konstanz.de/rtf/kik/HeinzJungeGewalttaeter2008.pd±), 6. These.
128 Wolfgang Heinz

eine vorrangig aufgrund steigender Anzeigebereitschaft zunehmende Auf-


hellung des Dunkelfeldes Ursache dieser Zahlen."42 Unklar ist freilich, ob
und inwieweit die auf die Altersgruppe der 15-Jährigen beschränkten Daten
auf alle Jugendlichen und auch auf Heranwachsende übertragbar sind, un-
abhängig davon, ob sie regional begrenzt oder bundesweit repräsentativ
sind. Solange dies nicht bekannt ist, bleibt es bei "Kriminalpolitik im Blind-
flug".43

- Lückenhafte statistische Erfassung der bekannt gewordenen


"Kriminalität"
Lediglich in der PKS sind auch Straftaten ("Fälle") Erhebungseinheit. Er-
fasst wird allerdings nur, was von der (Kriminal-) Polizei (einschließlich der
vom Zoll bearbeiteten Rauschgiftdelikte) abschließend bearbeitet wird.
Unklar ist hierbei, ob und inwieweit die von anderen Behörden eingeleiteten
Verfahren ihren Niederschlag in der PKS finden. 44 Infolge der 1963 erfolg-
ten Herausnahme der Straßenverkehrsdelikte wird ferner ein nicht unerheb-
licher Teil der von der Polizei bearbeiteten Fälle, gemessen an Daten der
StVerfStat ca. ein Viertel 45 der gesamten polizeilich registrierten Kriminali-
tät, nicht in der PKS ausgewiesen. 46 Im Unterschied hierzu werden immer-
hin Eckdaten hinsichtlich der 1959 aus der PKS herausgenommenen Staats-
schutzdelikte mitgeteilt.47
In der Reichskriminalstatistik, dem Vorläufer der heutigen StVerfStat,
waren in den Jahren 1882 bis 1917 Erhebungseinheiten sowohl Straftaten
als auch Personen. Seitdem ist in sämtlichen Personenstatistiken der Straf-
rechtspflege die Straftat nur Erhebungsmerkmal der Erhebungseinheit Per-
son. Da die Person aber nur bei der jeweils (abstrakt) schwersten Straftat
ausgewiesen wird, sind minder schwere Straftaten systematisch unter-
schätzt. Nach einer Sonderauswertung der für die Rückfallstatistik 1994
erhobenen BZR-Daten traten z.B. 13% der BtM-Delikte in Kombination mit
einem Delikt nach StGB auf. Entsprechend den Aufbereitungsprinzipien der

42 Bund-Länder-AG "Entwicklung der Gewaltkriminalität junger Menschen mit einem


Schwerpunkt auf städtischen Ballungsräumen": Abschlussbericht zur IMK-Frühjahrssitzung
2008 (Berichtsstand 26. März 2008), S. 54 <http://www.berlin.de/imperialmd/contentlseninn
/imk2007/beschIuesse/imk_186_bericht_top_04. pdfAbschlussbericht>
43 Heinz FS H. J. Schneider, 1998, S. 779 ff.
44 2008 wurden von der StA 4.903.552 Verfahren gegen bekannte Tatverdächtige erledigt,
davon waren waren 1.074.441 (21,9%) durch andere Behörden als die Polizei eingeleitet
worden.
45 2008 wurden insgesamt 874.691 Personen verurteilt, davon 204.942 (=23,4%) wegen
Vergehen im Straßenverkehr.
46 Vgl. hierzu die kritischen Äußerungen im 2. PSB (Fn. 22), S. 321, 336.
47 Vgl. hierzu 1. PSB (Fn. 22), S. 263 ff.~ 2. PSB (Fn. 22), S. 134 ff.
Optimierung der deutschen Kriminalstatistiken 129

StVerfStat bedeutet dies, dass dieser Anteil durch die StGB-Delikte ver-
drängt wird. 48

- Fehlende Beschuldigtenstatistik der StA -


Die seit 1976 sukzessive eingeführt StA-Statistik ist eine Verfahrenssta-
tistik. Als Erhebungsmerkmale werden seit 1992 auch die Zahl der von
Ermittlungsverfahren betroffenen Beschuldigten sowie für diese auch die
Erledigungstatbestände erfasst; Beschuldigtenmerkmale selbst - Alter,
Geschlecht - werden dagegen nicht erhoben.
Zwischen 1981 und 2008, also dem Zeitraum für den Daten der StA-
Statistik vorliegen, stieg - in den alten Ländern, aber ohne Berlin, Hessen
und Schleswig-Holstein49 - die Zahl der von der StA selbst und abschlie-
ßend erledigten Ermittlungsverfahren 50 von rd. 1,7 Millionen auf 2,3 Milli-
onen, also um 38%.51 Dieser Anstieg des Geschäftsanfalls wurde zu zwei
Dritteln (66%) durch Opportunitätseinstellungen aufgefangen, weitere 40%
durch vermehrte Einstellungen mangels hinreichenden Tatverdachts (§ 170
Abs. 2 StPO). Die Zahl der an das Gericht durch Anklagen oder Anträge auf
Erlass eines Strafbefehls weitergegebenen Verfahren war hingegen rückläu-
fig (1981: 821.689; 2008: 783.223, -6%), und dies trotz des gestiegenen
Geschäftsanfalls. Der Anstieg polizeilich registrierter Kriminalität wurde
also von der StA (mehr als) vollständig verfahrensrechtlich entkriminalisiert
(vgl. Tabelle 1). Die deshalb kriminalpolitisch notwendigen Informationen
darüber, wie sich diese Erledigungstatbestände auf Tat- und Tätergruppen
verteilen, werden nicht erhoben.

48 Sutterer/Spiess in: Heinz/Jehle (Hrsg.), Rückfallforschung, 2004, S. 221.


49 Die StA-Statistik wird seit 1981 veröffentlicht, allerdings nicht für alle Länder. In Berlin,
Hessen und Schleswig-Holstein wurde die StA-Statistik erst Mitte bzw. Ende der 1980er Jahre
eingeführt. Bei einem Vergleich der absoluten Zahlen müssen deshalb diese Länder ausge-
klammert bleiben.
50 Erledigungen gern. §§ 170 Abs. 2 StPO, §§ 153, 153a, 153b StPO, § 45 JGG, §§ 31 a, 37
BtMG, Anklage i.w.S. oder Antrag auf Erlass eines Strafbefehls.
51 Vgl. Heinz Der schöne Schein des Strafrechts
<http://www.uni-konstanz.de/FuF/Jura/heinz/Heinz_Schoener_Schein_StratR.pdf>, Schaub. 4.
130 Wolfgang Heinz

Tabelle 1: Erledigung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren


gegen bekannte Tatverdächtige 1981-2008, Früheres Bundesgebiet (ohne
Berlin, Hessen, Schleswig-Holstein)

Änderungen 2008
1981 2008 - 1981
Durch Einstellungen, Anklage +
Strafbefehl erledigte Verfahren 1.682.253 2.320.746 638.493 100
Einstellungen mangels hinreichenden
Tatverdachts 635.188 892.073 256.885 40,2

Anklagefähige Verfahren Le.S. 1.047.065 1.428.673 381.608 59,8


Opportunitätseinstellungen ohne Auf-
lagen (§§ 153, 153b StPO, § 45 I, II
JGG, § 31a BtMG) 106.401 490.068 383.667 60,1
Opportunitätseinstellungen mit Aufla-
gen (§ 153a StPO, § 45 III, 47 JGG,
§ 37 BtMG) 118.975 155.382 36.407 5,7
Anklage i.w.S. + Strafbefehl 821.689 783.223 -38.466 -6,0
Strafbefehl 344.193 389.780 45.587 7,1
Anklage i.w.S. 477.496 393.443 -84.053 -13,2
Anteile, bezogen auf anklagefähige Ermittlungsverfahren Le.S.

OpportunitätsE. ohne Auflagen 10,2 34,3 24,1

OpportunitätsE. mit Auflagen 11,4 10,9 -0,5


Anklage i.w.S. + Strafbefehl 78,5 54,8 -23,7

Strafbefehlsantrag 32,9 27,3 -5,6

Anklage i.w.S. 45,6 27,5 -18,1


Strafbefehlsrate (% Strafbefehl an
Ankl.+Strafbef.) 41,9 49,8 7,9
Sanktionskompetenz StA pro 100
Anklagen 119,3 263,1 143,8

Datenquellen: Staatsanwaltschaftsstatistik 1981, 2008.

Die nähere Auswertung der StA-Statistik (vgl. Tabelle 2) zeigt u.a., und
zwar auch bei Kontrolle von Sachgebieten:
Zwischen den Ländern bestehen große Unterschiede im Anteil sowohl
der mangels hinreichenden Tatverdachts als auch der aus Opportunitäts-
gründen eingestellten Ermittlungsverfahren. Die Spannweite der deshalb
eingestellten Verfahren (pro 100 Anklagen/Strafbefehle reicht - bei er-
ledigten Verfahren insgesamt - von 172 (Sachsen) bis 304 (Schleswig-
Optimierung der deutschen Kriminalstatistiken 131

Holstein), bei Verfahren wegen vorsätzlicher Körperverletzungsdelikte


von 151 (Brandenburg) bis 352 (Schleswig-Holstein).
- Zwischen den Ländern bestehen ferner erhebliche Unterschiede hin-
sichtlich des Anteils der aus Opportunitätsgründen mit bzw. ohne Auf-
lagen eingestellten Ermittlungsverfahren.
Mangels Informationen zu den Beschuldigtenmerkmalen sind die von den
Erledigungssachverhalten regional unterschiedlich stark betroffenen Tat-
und Tätergruppen nicht erkennbar.
Tabelle 2: Erledigung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren
gegen bekannte Tatverdächtige, insgesamt und Sachgebiet Körperverlet-
zung 2008

insgesamt Vorsätzliche Körperverletzung


Auf 100 Ankla- Auf 100 Ankla-
Beschul- gen/Strafbef.kommen Beschul- gen/Strafbef. kommen
digte digte
§ 170 11 Opp.Einst. § 170 11 Opp.Einst.

BW 420.525 116,5 74,5 44.785 172,2 46,3


BY 481.775 122,2 56,7 51.717 177,6 25,2
BE 248.975 163,2 53,6 28.091 230,0 22,5
BB 148.940 163,0 62,6 10.889 117,4 34,0
HB 46.240 97,9 78,5 5.388 145,4 83,9
HH 130.175 165,9 111,3 16.472 206,6 69,6
HE 311.212 155,2 116,9 25.898 137,0 75,5
MV 100.051 144,0 74,7 10.348 127,8 46,0
NI 414.914 153,3 88,8 47.894 173,9 73,4
NW 1.038.947 150,9 97,6 108.084 185,3 76,1
RP 204.662 166,7 95,2 24.510 246,8 85,3
SL 52.896 149,6 74,6 6.972 203,8 45,7
SN 184.502 110,4 61,2 14.569 100,8 25,9
ST 132.352 189,8 95,8 13.595 181,1 64,9
SH 145.384 177,8 125,8 19.931 248,5 103,7
TH 98.783 116,2 80,7 10.158 123,4 41,4

AL 3.495.705 144,5 85,6 379.742 186,9 60,9


NL 664.628 140,4 72,1 59.559 126,6 40,4
BRD 4.160.333 143,8 83,4 439.301 176,7 57,4
132 Wolfgang Heinz

Legende:
Vorsätzliche Körperverletzung: Sachgebiet 21 (soweit nicht Kapitalverbrechen im
Sinne von § 74 GVG oder Verbrechen gern. § 12 StGB)
Beschuldigte: Beschuldigte, deren Verfahren erledigt worden ist durch Anklage
i.w.S., Antrag auf Erlass eines Strafbefehls, Opportunitätseinstellung i.e.S., Einstel-
lungen gern. § 170 Abs. 2 StPO
Anklage Lw.S.: Anklagen, Antrag auf Eröffnung eines Sicherungsverfahrens, An-
trag auf Durchführung eines objektiven Verfahrens, Antrag auf Entscheidung im
beschleunigten Verfahren - § 417 StPO, Antrag auf vereinfachtes Jugendverfahren -
§ 76 JGG.
Strafbefehl: Anträge auf Erlass eines Strafbefehls.
§ 170 11: Einstellungen mangels hinreichenden Tatverdachts (§ 170 Abs. 2 StPO)
oder wegen Schuldfähigkeit (§ 20 StGB).
Opp.Einst (=Opp.Einst. Le.S.): Einstellungen durch die StA gern. §§ 153, 153a,
153b StPO, § 45 JGG, §§ 31,37 BtMG.
Datenq uelle: Staatsanwaltschaftsstatistik 2008

- Lückenhafte Erfassung der Strafvollstreckung -


Informationen zur Strafvollstreckung werden für die amtliche Statistik
nicht erhoben, ausgenommen bei Unterstellungen unter einen hauptamtli-
chen Bewährungshelfer. Es fehlen also Basisinformationen z.B.
zum Widerruf bzw. zur Bewährung bei Strafaussetzung zur Bewährung
(ohne Unterstellung unter einen Bewährungshelfer),
zur Geldstrafenvollstreckung (einschließlich Ersatzfreiheitsstrafe 52 bzw.
deren Abwendung durch gemeinnützigen Arbeit53 ),
zu den ambulanten Sanktionen im JGG, insbesondere zur Verhängung
und Vollstreckung eines Ungehorsamsarrestes. 54

- Fehlende kontinuierliche Rückfallstatistik -


Eine periodische Rückfallstatistik fehlt. 55 Als wissenschaftliche Studie
wurde für das Bezugsjahr 1994 erstmalig eine alle Sanktionen umfassende
Rückfallstudie durchgeführt,56 die derzeit wiederholt wird.

52 Die in der StVollzStat erfolgte Erfassung der Zugänge wegen Ersatzfreiheitsstrafe wurde
ab dem Berichtsjahr 2003 eingestellt.
53 In der StA-Statistik wird zwar die Zahl der Personen nachgewiesen, die ganz oder teilwei-
se durch unentgeltliche gemeinnützige Tätigkeit die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe
abgewendet haben. Ohne Bezugsgröße - Ersatzfreiheitsstrafe - sind diese Daten aber nicht
aussagekräftig.
54 Vgl. hierzu aber Fn. 67.
55 Zu den bisherigen Konzepten und Rückfallstatistiken vgl. Hein= in: Heinz/Jehle (Fn. 48),
S. 11 ff.
Optimierung der deutschen Kriminalstatistiken 133

b) Lücken bei den zu erfassenden Erhebungsmerkmalen

- Fehlende Schwerebeurteilung der registrierten Kriminalität -


Seit vielen Jahren berichten vor allem Polizeibeamte, die Intensität der
Gewaltkriminalität habe zugenommen, gleichsam eine "neue Qualität"
erfahren. Bekräftigt wird dies durch dramatische, in den Medien berichtete
Einzelfälle. Statistisch lässt sich diese These weder bestätigen noch wider-
legen. Denn die Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken enthalten rur die
Gewaltkriminalität keine Indikatoren für deren Schwere; Erfassung und
Aufbereitung der Daten beschränken sich auf numerische Häufigkeitszäh-
lung. Bekanntlich kann sich aber gewogen ein anderes Bild ergeben als
gezählt. Auch kann aus dem Anstieg der Zahlen der polizeilich registrierten
"gefährlichen/schweren Körperverletzung" nichts hinsichtlich deren Schwe-
re abgeleitet werden, weil nicht entscheidbar ist, ob deren schwere oder
deren leichte Formen zugenommen haben.

- Fehlende Erfassung hinsichtlich informeller Sanktionen -


Verurteilungen, also formelle Sanktionen, sind zunehmend durch "infor-
melle Sanktionen" ersetzt worden; seit 1994 sind informelle Sanktionen
sogar häufiger als formelle Sanktionen. Die Diversionsrate, d.h. der Anteil
der Opportunitätsentscheidungen i.e.S. an allen Verurteilten und "informell"
- gern. §§ 153, 153a, 153b StPO, §§ 45, 47 JGG, §§ 31a, 37 BtMG - Sank-
tionierten stieg in dem statistisch überblickbaren Zeitraum, also ab 1981,
von 360/0 auf 580/0 an (vgl. Tabelle 3). Innerhalb der informell Sanktionier-
ten ging der Anteil der mit Auflagen Sanktionierten von 61 % (1981) auf
29% (2008) zurück, aber immer noch werden von allen Sanktionierten 17%
informell mit Auflagen sanktioniert.

56 Jehle/Heinz/Sutterer Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen - Eine kommen-


tierte Rückfallstatistik, 2003 <http://www.bmj.de/media/archive/443.pdf>. Zur vorangegange-
nen Machbarkeitsstudie vgl. Jehle/Brings, Wirtschaft und Statistik 1999, S. 498 ff.
134 Wolfgang Heinz

Tabelle 3: Entwicklung der informellen und formellen Sanktionierungspra-


xis im allgemeinen Strafrecht und im Jugendstrafrecht, 1981 - 2008. Frühe-
res Bundesgebiet mit Westberlin, seit 1995 * mit Gesamtberlin, seit 2007
Deutschland

Informell Sanktionierte
Sanktio-
nierte insgesamt mit Auflagen ohne Auflagen
insgesamt
%von % von 0/0 von 0/0 von % von
N
(1) (1) (2) (1) (2)
(1) (2) (3) (4) (5) (6) (7)
1981 1.178.338 427.378 36,3 22,0 60,6 14,3 39,4
1985 1.247.966 522.967 41,9 21,9 52,2 20,0 47,8
1990 1.344.747 647.060 48,1 22,0 45,8 26,1 54,2
1995 1.586.442 820.544 51,7 19,5 37,6 32,2 62,4
2000 1.663.818 924.175 55,5 19,1 34,4 36,4 65,6
2005 1.812.046 1.021.854 56,4 17,9 31,8 38,5 68,2
2006 1.772.981 1.012.453 57,1 17,7 31,0 39,4 69,0
2007 2.131.337 1.222.707 57,4 17,5 30,5 39,9 69,5
2008 2.116.785 1.231.095 58,2 16,8 28,8 41,4 71,2

Legende:
Sanktionierte: Formell (nach allgemeinem oder nach Jugendstrafrecht) Verurteilte,
einschließlich Personen mit Entscheidungen gern. §§ 59,60 StGB, § 27 JGG.
Informell Sanktionierte: Personen mit Einstellungen gern. §§ ] 53, 153a, 153b
StPO, §§ 45, 47 JGG, §§ 31a, 37 BtMG.
Informell Sanktionierte mit Auflagen: Einstellungen gern. §§ 153a StPO, §§ 45
Abs. 3,47 JGG, § 37 BtMG.
Informell Sanktionierte ohne Auflagen: Einstellungen gern. §§ 153, 153b StPO,
§ 45 Abs. 1 und 2 JGG, § 31 aBtMG.
Datenquellen: Staatsanwaltschaftsstatistik 1981 .. 2008 (seit 1993 mit Gesamt-
berlin);
Justizgeschäftsstatistik in Strafsachen 1981 .. 2008 (seit 1991 mit Gesamtberlin);
Strafverfolgungsstatistik 1981 .. 2008 (seit 1995 mit Gesamtberlin).

Bekanntlich hat das BVerfG in seiner Cannabis-Entscheidung als Zuläs-


sigkeitsvoraussetzung der verfahrensrechtlichen Entkriminalisierung eine
"ün Wesentlichen einheitliche Einstellungspraxis"57 gefordert. Ob diese

57 VerfGE 90, 145 (190).


Optimierung der deutschen Kriminalstatistiken 135

gegeben ist, lässt sich statistisch letztlich nicht prüfen, weil die StA-Statistik
keine Angaben zur Tat- und Täterstruktur enthält. 58 Eine Auswertung von
Bundeszentralregisterdaten, die eine Differenzierung sowohl der Vorbelas-
tung als auch eine Kontrolle von Alter, Geschlecht, Nationalität und De-
liktsart ermöglichen, ergab für das Jahr 1994, dass es nur noch geringfügige
regionale Unterschiede bei Ersttätern leichter Eigentumsdelikte (§§ 242,
247, 248a StGB als einziges Delikt) mit deutscher Nationalität gab, dass
aber bei der Reaktion auf die dritte oder weitere erfasste Straffälligkeit eines
Jugendlichen die Spannweite der Diversionsentscheidungen bei 67 Prozent-
punkten lag (Hamburg: 96%; Bayern: 29%).59 Insbesondere bei wiederholt
Auffälligen sind danach die Risiken einer förmlichen Verurteilung in den
Ländern - selbst innerhalb derselben Deliktsgruppe - höchst unterschied-
lich. Ob und inwieweit auch gegenwärtig noch derart große Unterschiede
bestehen - oder sich gar vergrößert haben - lässt sich wegen fehlender Da-
ten nicht klären.
Aus den Strafrechtspflegestatistiken lässt sich zwar entnehmen, dass bei
Einstellungen unter Auflagen auch weiterhin die Geldauflage mit durch-
schnittlich 81 % dominiert. Im Unterschied zu den Geldstrafen ist aber un-
bekannt, wie hoch die Höhe der Geldauflagen ist.

- Unvollständige Erfassung der formellen Sanktionen -


Die Höhe bzw. Inhalte der nach allgemeinem Strafrecht verhängten Sank-
tionen werden nur bei freiheitsentziehenden Strafen relativ differenziert
erfasst; die Vollständigkeit und Differenziertheit der Erfassung nimmt je-
doch deutlich ab, je eingriffsschwächer die Sanktion ist.
Die Höhe der Geldstrafe bzw. die Dauer der Freiheitsstrafe wurde bis
2009 nur in geschlossenen Kategorien erhoben. Dies hat zur Folge, dass

58 Soweit die auf Länderebene bestehenden Richtlinien zu den Opportunitätseinstellung zu-


gänglich sind, kommen einschlägige Auswertungen zum Ergebnis, dass sie sowohl im allge-
meinen Strafrecht als auch im Betäubungsmittelstrafrecht (bei harten Drogen) uneinheitlich
sind. Vgl. Aulinger Rechtsgleichheit und Rechtswirklichkeit bei der Strafverfolgung von
Drogenkonsumenten, 1997, S. 133. In ihrem Abschlussbericht aus dem Jahr 2000 stellte die
vom Bundesministerium der Justiz eingesetzte "Kommission zur Reform des strafrechtlichen
Sanktionensystems" fest, dass z.B., den Länderrichtlinien zufolge, 1998 die Wertobergrenze
für eine folgenlose Einstellung gern. § 153 Abs. 1 StPO bei Ersttätern - sofern eine solche
Grenze in den einzelnen Richtlinien überhaupt angegeben wird - teils bei 10 DM (Baden-
Württemberg), teils bei 100 DM (Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-
Westfalen, Saarland, Schleswig-Holstein) lag (vgl. Kommission zur Reform des strafrechtli-
chen Sanktionensystems: Abschlussbericht, März 2000, S. 155 f.
<http://www.bmj.bund.de/media/archiveI137.pdf>).
59 Vgl. Hein= Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in
Deutschland 1882 - 2006, Schaubild 43 <http://www.uni.konstanz.de/rtf/kis/sanks06.htm>
136 Wolfgang Heinz

weder die Entwicklung der durchschnittlichen Strafhöhe feststellbar ist noch


die Ausschöpfung der Strafrahmenobergrenze. 6o
Bewährungsauflagen und/oder -weisungen werden z.B. nur hinsichtlich
des "Ob" (ab 1975), nicht aber hinsichtlich der Art der Auflagen/Weisungen
erhoben.
Bei den Zuchtmitteln des JGG wird nur deren Art nachgewiesen, bei den
Erziehungsmaßregeln noch nicht einmal dies. 61 Ob und inwieweit die sog.
neuen ambulanten Maßnahmen (Betreuungsweisung, sozialer Trainings-
kurs, Arbeitsweisung) nach JGG, die 1990 durch das 1. JGGÄndG gesetz-
lich verankert worden sind, von der Praxis angenommen und umgesetzt
worden sind, ist aufgrund der amtlichen Statistik nicht ermittelbar.
Ob und welche Strafen in arbeitsökonomischen Verfahren (z.B. Strafbe-
fehl) verhängt werden, wird bundesweit nicht erfasst. Werden die lediglich
aus Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen vorliegenden Sonderer-
hebungen verallgemeinert, dann hieße dies, dass 2008 knapp zwei Drittel
(65%) aller Verurteilungen nach allgemeinem Strafrecht durch Strafbefehl
ohne Einspruch erfolgten. Der Grundsatz, dass eine Kriminalstrafe nur
aufgrund mündlicher Verhandlung verhängt werden darf, würde danach im
allgemeinen Strafrecht faktisch nur noch für die Freiheitsstrafe gelten, denn
80% der Geldstrafe wurden durch Strafbefehl verhängt. 62
Dass und wie sehr inzwischen die Hauptverhandlung marginalisiert wor-
den ist, zeigt schließlich die Zusammenschau von informeller Sanktionie-
rung und formeller, durch Strafbefehl erfolgender Verurteilung. In Baden-
Württemberg und in Nordrhein-Westfalen wurden 2008 von allen nach
allgemeinem Strafrecht (informell oder formell) Sanktionierten weniger als
20% aufgrund einer Hauptverhandlung verurteilt. 63 Bundesweite Informati-
onen sind nicht verfügbar.
Durch keinerlei amtliche Statistik gesichert sind Informationen zur "Ver-
ständigung in Strafverfahren". Schätzungen gehen dahin, dass inzwischen

60 Die Forderung nach Anhebung der Jugendhöchststrafe wird u.a. damit begründet, die
Obergrenze von derzeit 10 Jahren reiche nicht aus. Da nur die Kategorie "mehr als 5 bis unter
10 Jahren" erfasst wird, lässt sich nicht feststellen, wie häufig Jugendstrafen von genau 10
Jahren verhängt werden. Eine Auswertung von BZR-Daten zeigte aber, dass in den zehn Jahren
zwischen 1987 und 1996 bundesweit lediglich gegen 74 Verurteilte die Höchststrafe von 10
Jahren Jugendstrafe verhängt wurde, bei 8% aller wegen Mordes/Totschlags (einschließlich
Versuchs) nach JGG Verurteilten (vgl. Schub Die Höchststrafe im Jugendstrafrecht (10 Jahre)
- eine Analyse der Urteile von 1987 - 1996, 2000, S. 99, Tab. 4).
61 Wie defizitär der Stand ist, geht aus der Antwort der Bundesregierung auf die Große An-
frage "Jugendstrafrecht im 21. Jahrhundert" vom 13.2.2008 (BT-Drs. 16/8146) hervor. Zu
zahlreichen Fragen wurde - zutreffend - mitgeteilt, dass keine statistischen Daten vorliegen
bzw. der Bundesregierung keine Erkenntnisse vorliegen.
62 Auswertungen zu diesen beiden Ländern bei Hein= (Fn. 51), Schaubild 8 und 9.
63 Vgl. Heinz (Fn. 51), Schaubild 10.
Optimierung der deutschen Kriminalstatistiken 137

mehr als 500/0 aller Strafverfahren mit einem abgesprochenen Ergebnis


erledigt werden;64 fur den Bereich der Organisierten Kriminalität wurde von
der niedersächsischen lustizministerin sogar eine Absprachenquote von
über 800/0 angegeben. 65

- Unvollständige Erfassung von Zahl und Merkmalen


der Gefangenen, Verwahrten und Untergebrachten-
StVollzStat und MaßrVollzStat sind ergänzungsbedürftig:
Die StVollzStat weist Zahl und Merkmale der Gefangenen und Ver-
wahrten zu einem Stichtag aus. Dies führt zu systematischen Verzerrun-
gen, weil Stichtagsdaten zu einer Unterschätzung der Zahl bzw. Merk-
male der kurzstrafigen und zu einer Überschätzung der langstrafigen
Gefangenen führen. Die Strukturdaten, wie z.B. Altersgruppe, Art der
Straftat, Zahl der Vorstrafen, dürften bei kurzzeitig Inhaftierten anders
sein als bei den langstrafigen Gefangenen.
Zum Vollzugsablauf und den vollzuglichen Maßnahmen werden keine
Informationen erhoben.
- Daten zur Sicherungsverwahrung beschränken sich auf Delikt, Alter,
Geschlecht. Derzeit wird noch nicht nach §§ 66, 66a, 66b StGB diffe-
renziert. Auch hier werden keine vollzuglichen Maßnahmen erhoben.
Zur Verhinderung eines reinen Verwahrvollzug fur als gefährlich prog-
nostizierte Straftäter hatte das BVerfG 2004 eine regelmäßige, nachvoll-
ziehbare Überprüfung gefordert, dass die in Sicherungsverwahrung Un-
tergebrachten "auch tatsächlich eine konkrete und realisierbare Chance
haben, die Freiheit wieder zu erlangen. Das schließt Erhebungen darüber
ein, ob den Sicherungsverwahrten hinreichende Resozialisierungsange-
bote, insbesondere Behandlungs-, Therapie- oder Arbeitsmöglichkeiten,
angeboten werden."66 Dieses Gebot muss zwar nicht durch umfassende
statistische Erhebungen errullt werden, aber Eckpunkte zu den voll-
zuglichen Maßnahmen sind notwendig. Denn nur dann lassen sich ver-
tiefte, in Abständen gewonnene Daten einordnen und bewerten.

64 Schünemann/Hauer AnwBI 2006,439 f1'.; weitere Angaben bei Altenhain u. a. Die Praxis
der Absprachen in Wirtschaftsstrafverfahren, 2007, S. 331 ff.; lvfüller, lvI Probleme um eine
gesetzliche Regelung der Absprachen im Strafverfahren, 2008, S. 35 ff.
65 Heister-Neumann ZRP 2006, 137 ff.
66 BVerfGE 109, 133 (155 f.).
138 Wolfgang Heinz

Die zum Vollzug der §§ 63, 64 StGB erhobenen Informationen sind


noch undifferenzierter als jene zu § 66 StGB. Erhoben werden nur AI-
tersgruppen, Geschlecht und Familienstand.
Eine Jugendarrestvollzugsstatistik wird nicht geführt. 67

- Unvollständige Erfassung von Zahl und Merkmalen


der Untersuchungsgefangenen -
Das bestehende kriminalstatistische System weist hinsichtlich des Nach-
weises der U-Haft erhebliche Defizite auf.
Die StA-Statistik enthält derzeit keinerlei Angaben zu Anträgen auf Er-
lass eines Untersuchungshaftbefehls oder zur Aussetzung von dessen Voll-
streckung.
Über die Anordnung von Untersuchungshaft informiert die StVerfStat nur
im Fall einer rechtskräftigen Aburteilung;68 nachgewiesen werden die Haft-
gründe und die Dauer der vollzogenen U-Haft (in Kategorien). Angaben zur
Aussetzung des Vollzugs der U-Haft fehlen.
Die StVollzStat weist lediglich die Zahl der Untersuchungsgefangenen
dreimal jährlich zum Stichtag aus. Wegen der Untererfassung der kurzzeiti-
ge Inhaftierte ist die zum Stichtag erhobene Zahl der inhaftierten Unter-
suchungsgefangenen wesentlich niedriger als die Zahl der insgesamt in
einem Jahr inhaftierten Untersuchungsgefangenen.
Aufgrund der verfügbaren Daten ist deshalb derzeit weder bekannt, gegen
wie viele Personen bei welchen Delikten Untersuchungshaft angeordnet
wird, wie häufig Untersuchungshaft vollstreckt oder gegen welche Maß-
nahmen ausgesetzt wird, Einsatz und Gebrauch von V-Haft vermeidenden
Maßnahmen usw., noch ist bekannt, wie lange die Untersuchungshaft im
Durchschnitt dauert.

67 Aufgrund von Meldungen der Jugendarrestanstalten verfügen die Justizministerien der


Länder sowie das Bundesamt für Justiz über Daten hinsichtlich der Belegung der Jugendarrest-
anstalten und Freizeitarresträume. Diese Daten informieren über die Zahl der jährlichen Zu-
gänge nach Art (Dauer-, Kurz- und Freizeitarrest) des Arrestes, nach Geschlecht, nach Alters-
gruppen sowie danach, ob der Verurteilte bereits früher zu Jugendarrest oder zu einer Freiheits-
oder Jugendstrafe verurteilt worden war. Zwischen Urteils- und Ungehorsamsarrest wird nicht
unterschieden.
68 I-Iierbei handelt es sich nur um einen, vermutlich aber den größeren Teil der Untersu-
chungsgefangenen. In den Zahlen sind z.B. nicht erfasst jene Untersuchungsgefangene, die
überhaupt nicht angeklagt wurden, d.h., es fehlen Nachweise über Untersuchungsgefangene,
bei denen das Verfahren z.B. gern. §§ 170 Abs. 2 StPO (z.B. wegen Todes) vor Eröffnung des
Hauptverfahrens eingestellt wurde. Nicht erfasst sind ferner Haftanordnungen, die nach
Rechtskraft der das Verfahren abschließenden Entscheidung ergehen, also insbesondere Fälle
des Sicherungshaftbefehls nach § 453c StPO. Nur zum Teil erfasst sind jene Personen, bei
denen der Vollzug der Untersuchungshaft sofort ausgesetzt wurde.
Optimierung der deutschen Kriminalstatistiken 139

4. Fehlende personenbezogene Verknüpjbarkeit der Mikrodaten


Das Strafverfahren ist sowohl ein Prozess der Ausfilterung als auch - je-
denfalls bei schweren Delikten - der Umbewertung. Der Ausfilterungspro-
zess kann für die Gesamtmenge registrierter Kriminalität der Größenord-
nung nach bestimmt werden, delikts- bzw. deliktsgruppenspezifisch
dagegen nicht mehr. Gänzlich unmöglich ist dagegen die Abbildung von
Umbewertungsprozessen, weil ein Identifikator fehlt, der die Verknüpfung
der Erhebungseinheiten verschiedenen Statistiken ermöglichen würde.
Die Gegenüberstellung von Tatverdächtigen, Abgeurteilten und Verurteil-
ten zeigt zwar, dass nur eine Minderheit wegen der schweren Delikte, die
ihnen bei Abschluss der polizeilichen Ermittlungen zur Last gelegt werden,
auch verurteilt wird (vgl. Tabelle 4). Unklar ist aber, ob sie wegen anderer,
minder schwerer Delikte verurteilt werden. Durch die bei Tötungsdelikten
durchgeführten Aktenanalysen konnte dies nur fur einen kleinen Teil bestä-
tigt werden. 69

Tabelle 4: Tatverdächtige, Abgeurteilte, Verurteilte Deutschland 2008

Strafmün- Abgeurteilte Verurteilte Relation


dige Tatver- Verurteilte:
dächtige 100 Tatver-
dächtige
Straftaten insgesamt, 2.154.304 856.534 669.749 31
ohne Vergehen im
Straßenverkehr
Vorsätzliche Tötungs- 2.817 848 648 23
delikte (§§ 211, 212,
213,216 StGB)
Gefährliche/schwere Körperverletzung (§§ 224, 226, 231 StGB)
Jugendliche 35.384 13.991 9.373 26
Heranwachsende 30.154 11.116 7.439 25
Erwachsene 96.020 28.249 17.116 18

Datenquellen: Polizeiliche Kriminalstatistik 2008; Strafverfolgungsstatistik 2008.

Aus denselben Gründen - keine personenbezogene Verknüpfung der Er-


hebungseinheiten aus verschiedenen Statistiken - ist es nicht möglich, Straf-
vollstreckungsverläufe (z.B. Geldstrafenvollstreckung, Androhung von
Ersatzfreiheitsstrafe, Abwendung durch gemeinnützige Arbeit, (Teil-)Ver-

69 Vgl. z.B. Steit= Probleme der Verlaufsstatistik - Verdeutlichung anhand einer Erhebung
zu Tötungsdelikten, Jur. Diss. 1993, S. 111, Tab. 3a.
140 Wolfgang Heinz

büßung von Ersatzfreiheitsstrafe) abzubilden. Ebenso wenig ist es möglich,


eine Untersuchungshaftstatistik zu erstellen, die über eine reine Stichtags-
zählung hinausgeht und sowohl die Dauer der vollstreckten U-Haft als auch
die Außervollzugsetzung des Haftbefehls erfasst.

5. Defizite hinsichtlich des Datenzugangs


Wissenschaftliche Forschung ist sowohl für Zwecke der Forschung als
auch für kriminalpolitischen Zwecke dann besonders ertragreich, wenn ihr
statt aggregierter Daten die Einzeldatensätze für statistische Zwecke ver-
fügbar und zugänglich sind. Derzeit stehen nur die Einzeldatensätze der
Personenstatistiken der Strafrechtspflege über die Forschungsdatenzentren
(FDZ) zur Verfügung. Die Einzeldatensätze der PKS sind bei den FDZ
nicht verfügbar. Personenbezogene Einzeldatensätze des staatsanwaltschaft-
lichen Ermittlungsverfahrens sind (noch) nicht vorhanden.

IV. Optimierungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten


1. Aufder Grundlage des bisherigen Systems getrennter
Teilstatistiken
Die derzeit bestehenden Lücken der Datenverfügbarkeit können teilweise
geschlossen werden durch ergänzende Datenerhebungen. Notwendig sind
- periodische, statistikbegleitende Dunkelfelduntersuchungen (crime and
victim survey) mit dem Ziel, Opfer von Straftaten und Opfersituationen
zu erkennen, das Anzeigeverhalten sowie die Gründe für Anzeige und
Nichtanzeige zu bestimmen, die subjektive Wahrnehmung von Krimina-
lität sowie die Einstellungen zu Strafe und Strafrecht zu messen,
- Einführung einer Personenstatistik über Beschuldigte in staatsanwalt-
schaftlichen Ermittlungsverfahren, 70
- Ergänzung der stichtagsbezogenen Strafvollzugsstatistik um eine Zu-
und Abgangsstatistik.
- Einführung einer periodischen Rückfallstatistik auf der Grundlage von
BZR-Daten.

70 Grundlage hierfür könnten die Daten des Zentralen Staatsanwaltschaftlichen Verfahrens-


registers (ZStV) sein, vorausgesetzt § 492 StPO würde entsprechend geändert.
Optimierung der deutschen Kriminalstatistiken 141

Notwendig ist ferner


die Sicherung der flächendeckenden Datenerhebung und -aufbereitung
der Personenstatistiken der Strafrechtspflege durch eine gesetzliche
Grundlage,
- die Verbesserung der Kompatibilität der jetzigen Personenstatistiken der
Strafrechtspflegestatistiken untereinander sowie mit der PKS mit dem
Ziel, ein System von besser aufeinander abgestimmter Teilstatistiken zu
schaffen,
- die Ergänzung der bisherigen Straftatenschlüssel durch Gewichtungsin-
dizes,
- die Erstreckung des Datenangebots der FDZ auf alle Personenstatistiken
der Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken,
die FortfUhrung der begonnenen Praxis der Periodischen Sicherheitsbe-
richte.

2. Schaffung eines statistischen Datenbanksystem mit


pseudonymisierten Personendaten
Mit den zuvor genannten Verbesserungen der DatenverfUgbarkeit und des
Datenzugangs werden freilich die Grundprobleme des gegenwärtigen kri-
minalstatistischen Systems nicht gelöst. Hierzu ist - im Anschluss an bereits
bewährte Lösungen in benachbarten Ländern - eine Ablösung des bisheri-
gen Systems isoliert erhobener und aufbereiteter Kriminal- und Strafrechts-
pflegestatistiken erforderlich zugunsten eines statistischen Datenbank-
systems, in das alle kriminologisch relevanten justiziellen Entscheidungen
mit pseudonymisierten Personendaten eingetragen und anschließend mit-
einander verknüpft werden.
Die bisherigen Einzelstatistiken auf Bundesebene können entweder wie
bisher oder auf Basis dieses Datenbanksystems erstellt werden.
Auf der Grundlage des Datenbanksystems könnten neue regelmäßige
Bundesstatistiken über die bisher defizitären Datenbereiche hinaus geführt
werden. Dies bietet sich nicht nur dort an, wo (abschließende) Entscheidun-
gen zu erfassen sind, wie in der neu einzuführenden Beschuldigtenstatistik
der StA oder in der Rückfallstatistik, sondern vor allem dort, wo es um die
Abbildung von Prozesshandeln geht, also etwa bei Untersuchungshaft,
Strafvollstreckung und Strafvollzug.
Nicht zuletzt wäre damit eine ebenso einfache wie wirksame Möglichkeit
der Sicherung der Datenqualität durch Datentriangulation gegeben. Denn
der Verurteilte, dessen Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde, darf
ohne Widerruf nicht in der StVollzStat erfasst sein, sondern muss zunächst
in der (neuen) Strafvollstreckungsstatistik erscheinen usw.
142 Wolfgang Heinz

Zusätzliche Datenerhebungen sind nicht erforderlich, vorausgesetzt die


für andere Zwecke erhobenen und in der Regel bereits elektronisch verfüg-
baren Daten werden zusätzlich einer statistischen Auswertung zugänglich
gemacht, so dass weitgehend parallele Datenlieferungen an Register (z.B.
Zentrales Staatsanwaltschaftliches Verfahrensregister - ZStV) wie an die
amtliche Statistik erfolgen können.
Voraussetzung für die Realisierung dieses Modells sind
- Vorhandensein von Identifikatoren/Verknüpfungsmöglichkeiten, die
über pseudonymisierte Verschlüsselungsverfahren eine personen-
bezogene Zuordnung erlauben,
- Pseudonymisierung der Einzeldatensätze, Plausibilisierung auf Länder-
ebene und Anlieferung der pseudonymisierten Einzeldatensätze durch
die statistikführenden Stellen bis auf Bundesebene,
- Speicherung der pseudonymisierten Einzeldatensätze in einer besonders
geschützten Datenbank auf Bundesebene und personenbezogene Ver-
knüpfung der Daten.
- Unabhängigkeit der datenverarbeitenden Stelle.
Die Umsetzung dieser Grundvoraussetzungen setzt wiederum die Schaf-
fung einer bundesgesetzlichen Grundlage voraus
- für die Lieferung, Verarbeitung, Verknüpfung und Speicherung pseudo-
nymisierter Einzeldaten zur Strafrechtspflege in einer Datenbank,
- in der auch der Zugang der Wissenschaft zu den Einzeldaten und ihre
institutionalisierte Einbindung bei der Weiterentwicklung der Erhebun-
gen geregelt werden sollte,
für die regelmäßige Erstellung der (erweiterten) Strafrechtspflegestatis-
tiken auf dieser Datengrundlage.

v. Die deutschen Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken


im Vergleich einiger europäischer Staaten
Die derzeitigen deutschen Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken blei-
ben insbesondere hinsichtlich
- der Einbindung von "crime and victim surveys",
der Absicherung durch eine gesetzliche Grundlage,
- der statistisch abgedeckten Bereiche,
- der personenbezogenen Verknüpfung von Daten der verschiedenen
Berichtsstellen sowie
Optimierung der deutschen Kriminalstatistiken 143

der Anlieferung von Individualdaten an eine zentrale statistische Behör-


de
hinter dem Stand zurück, den einige benachbarte europäische Staaten auf-
weisen.
Bei Umsetzung der Empfehlungen der Arbeitsgruppe würde Deutschland
wieder Anschluss gewinnen an die in den letzten Jahrzehnten erfolgte Wei-
terentwicklung der kriminalstatistischen Systeme im benachbarten Ausland,
insbesondere in der Schweiz, in Schweden, England und den Niederlan-
den. 71

VI. Umsetzungschancen für eine Verbesserung der derzeitigen


Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken
In ihrem 1. PSB hat die damalige Bundesregierung den grundsätzlichen
Reformbedarf anerkannt und konkrete Teilziele benannt, um die Kriminal-
statistiken zu optimieren. Diese reichen von der regelmäßigen Durchfüh-
rung von Dunkelfelduntersuchungen, der Schaffung einer bundesgesetzli-
chen Grundlage der Strafrechtspflegestatistiken und der Verbesserung der
Vergleichbarkeit der Statistiken untereinander, über die Öffnung des ZStV
für statistische Zwecke bis zur Prüfung des Vorschlags, "mittelfristig eine
anonymisierte Datenbank aus Polizei- und Justizdaten aufzubauen, die als
Grundlage für eine wissenschaftliche Analyse des Verlaufs krimineller
Karrieren und des Strafverfahrens herangezogen werden kann".72 Konkret
umgesetzt wurde davon bis jetzt nichts. Im Koalitionsvertrag der jetzigen
Bundesregierung findet sich auch nichts, im Unterschied z.B. zum Regie-
rungsprogramm der österreichischen Bundesregierung,73 was zur Verbes-
serung der kriminalstatistischen Situation beitragen könnte, insbesondere
nichts zu einer etwaigen periodischen Bevölkerungsumfrage, zu einer Ver-

71 Vgl. zu den dortigen kriminalstatistischen Systemen die Berichte in Dessecker/Egg


(Hrsg.), Kriminalstatistiken im Lichte internationaler Erfahrungen, 2009, von Lewis Statistics
on crime and critninal justice in England and Wales, 2009, S. 73 ff.~ Lennerö The Swedish
system of crime statistics, 2009, S. 103 ff.~ Fink die Verknüpfung von Polizei- und lustizdaten
in der Schweiz, 2009, S. 127 ff. Über die durchgeführten und geplanten Reformen in Öster-
reich wird berichtet in: Bundesministerium der lustiz~ Institut für Rechts- und Kriminalsozio-
logie (Hrsg.), Leistungsdaten für die Kriminaljustiz: die neue Wiederverurteilungsstatistik -
and more, 2009.
72 1. PSB (Fn. 22), S. 601 f.
73 Vgl. das Regierungsprogramm für die 23. Gesetzgebungsperiode, Abschnitt "Strafrecht
und Strafvollzugsrecht <http://www.sbg.ac.at/aggaller/EKJregierungsprogramm_090I2007.
pdf>~ Regierungsprogramm 2008-2013 für die 24. Gesetzgebungsperiode, Abschnitte A.I.3,
EI2 <http://www.spoe.at/bilder/d268/Regierungsprogramm.pdf>
144 Wolfgang Heinz

besserung des kriminalstatistischen Systems oder zu einem Periodischen


Sicherheitsbericht.
Im Hinblick auf europäische Entwicklungen bestehen jedoch Hoffnungen.
Denn das Haager Programm von 2004 und der EU-Aktionsplan 2006-2010
"Entwicklung einer umfassenden und kohärenten EU-Strategie zur Messung
von Kriminalität und Strafverfolgung" zielen darauf ab, dass die Mitglied-
staaten künftig Daten werden zuliefern müssen. Derzeit ermittelt eine Ex-
pertengruppe den Bedarf der Politik an Kriminalitäts- und Strafverfol-
gungsdaten (Nutzersicht), eine weitere Arbeitsgruppe "Statistics on Crime
and Criminal lustice", in der die Datenproduzenten vertreten sind, arbeitet
dieser Expertengruppe zu. Geplant ist ferner eine europaweite Bevölke-
rungsumfrage zu Kriminalität und Sicherheitsempfinden. 74

74 Vgl. zu dieser EU-Dimension Hein:: 2009 (Fn. 9), S. 64 ff.


Die kriminelle Persönlichkeit
Eigenschafts- versus Prozess-Modell

HANS JOACHIM SCHNEIDER

I. Die kriminologische Relevanz der Persönlichkeit


Der Begriff Persönlichkeit kommt aus dem Lateinischen: personare
hindurchtönen und persona = Rolle, Maske. Mit diesen Bezeichnungen wird
dem Terminus bereits Inhalt gegeben. Bei der Persönlichkeit geht es Ulll
Merkmale des Menschen, die seine konsistenten und inkonsistenten Muster
des Fühlens, Denkens und Verhaltens charakterisieren. 1 Die Kriminologie
interessiert sich vor allem für zwei Probleme:
Gibt es eine kriminelle Persönlichkeit? Unterscheiden sich Kriminelle
und Nichtkriminelle in ihrer Persönlichkeit?2
- Ist die kriminelle Persönlichkeit ein konsistenter oder inkonsistenter
Kausalfaktor fur die Kriminalitätsentstehung?3
Die erste Frage kann man auf dreierlei Weise beantworten:
- Es gibt eine kriminelle Persönlichkeit, die sich generell von der Persön-
lichkeit der Nichtkriminellen unterscheidet.
Die Gruppe der Straftäter kann man in kriminelle und nichtkriminelle
Persönlichkeiten unterteilen.
Eine prosoziale Persönlichkeit kann sich in eine kriminelle verändern
und wieder in eine prosoziale zurückverwandeln.
Auch die zweite Frage kann in vierfacher Weise unterschiedlich beurteilt
werden. Gerade die Lebenslaufkriminologie versucht, Kontinuität und Dis-
kontinuität im kriminellen Verhalten während der Trajektorien, während der
Entwicklungsbahnen krimineller Menschen zu erklären. 4

1 Pervin/Cervone/John Persönlichkeitstheorien, 5. Aufl. 2005, S. 31.


2 Schuessler/Cressey American Journal of Sociology 55 (1950), 476-484.
3 Met/essel/Lovell Psychological Bulletin 39 (1942), 133-164.
4 Lilly/Cullen/Ball Criminological Theory, 4. Aufl. 2007, S. 316.
146 Hans Joachim Schneider

Für eine Kontinuität kriminellen Verhaltens sprechen sich Michael R.


Gottfredson und Travis Hirschi5 aus.
Kontinuität oder Diskontinuität befürwortet Terrie E. Moffitt6 .
Kontinuität und Diskontinuität halten John H. Laub und Robert J
Sampson 7 für richtig.
Für Diskontinuität allein tritt Shadd Maruna 8 ein.

11. Die kriminelle Persönlichkeit im


kriminologisch-historischen Verlauf
Die deutsche Kriminalpsychologie des 18. und 19. Jahrhunderts beschrieb
die Persönlichkeit des Rechtsbrechers nach beständigen negativen Merkma-
len: 9 Er war faul, leichtsinnig, unbeständig, eitel, sorglos, rachsüchtig, grau-
sam, brutal, genusssüchtig, gewissenlos, verlogen, verschlagen und hinter-
listig. Diese Deskription ging davon aus, dass die Kriminellen eine vom
Normalmenschen unterschiedliche Eigengruppe mit konstanten Persönlich-
keitszügen bilden. So sah es auch Cesare Lombroso lO , der seinen geborenen
Verbrecher mit folgenden Persönlichkeitszügen charakterisierte: herabge-
setzte Berührungs- und Schmerzempfindung, Gleichgültigkeit gegen Ver-
letzungen, Geftihlsabstumpfung, Frühzeitigkeit sexueller Regungen, Faul-
heit, Fehlen von Gewissensvorwürfen, Haltlosigkeit, große Eitelkeit,
Spielleidenschaft, Neigung zum Alkoholismus, Gewalttätigkeit, Flüchtig-
keit von Leidenschaften, Aberglaube und außergewöhnliche Empfindlich-
keit mit Bezug auf seine eigene Person. Diese statische Sichtweise wurde
bereits im Jahre 1915 von William Healyll in Frage gestellt, der die Persön-
lichkeit dynamisch als "das Produkt der Bedingungen und Kräfte" betrach-
tete, "die sie vom frühesten Augenblick des einzelligen Lebens aktiv ge-
formt haben". Unter dem Einfluss der Tiefenpsychologie sahen William
Healy und Augusta F. Bronner 12 die Persönlichkeit als Prozess innerpsychi-
scher Konflikte, als Reaktionsprozess auf instinktive Triebe. Ihre kriminelle
Persönlichkeit ist gekennzeichnet durch Gefühlsstörungen, z.B. durch Ge-
fühle des Zurückgewiesenseins, der Minderwertigkeit und durch unbewuss-

5 GottfredsonlHirschi A General Theory of Crinle, 1990.


6 Moffitt in: Cullen/Agnew (Hrsg.), Criminological Theory, 3. Aufl. 2006~ S. 502-521.
7 LaublSampson in: Cullen/Agnew (Fn. 6), S. 522-528.
8 Maruna Making Good: How Ex-Convicts Reform and Rebuild their Lives, 2001.
9 Vgl. die Zusammenfassung bei H 1. Schneider in: Sieverts/H. 1. Schneider (Hrsg.), Hand-
wörterbuch der Kriminologie 2. Bd., 2. Aufl. 1977, S. 415-458.
10 Lombroso Die Ursachen und die Bekämpfung des Verbrechens, 1902, S. 326,327.
11 Healy The Individual Delinquent (1915), Nachdruck 1969, S. 25.
12 HealylBronner New Light on Delinquency and its Treatment, 1936, S. 128-136.
Die kriminelle Persönlichkeit 147

te Schuldgeflihle. An Prozesse der Über- und Untersozialisation knüpfte


Edwin Megargee 13 an, der seine kriminelle Persönlichkeit als unter- oder
überkontrolliert charakterisierte.

111. Das Eigenschaftsmodell


1. Die Psychologie des Eigenschaftsmodells
Nach dem Eigenschaftsmodell ist die Persönlichkeit eine einzigartige
Struktur von Eigenschaften, die Wahrnehmungs-, Geflihls-, Denk- und
Reaktions-Prädispositionen bilden. 14 Gordon WAllport (1897-1967)15 hielt
Persönlichkeitszüge für die Quelle der Individualität. Im Jahre 1936 fanden
er und sein Mitarbeiter 16 18.000 Adjek1:ive, die individuelle Persönlichkeits-
unterschiede beschreiben. Diese Liste von Adjektiven nahm Raymond B.
Cattell (1905-1998)17 zum Ausgangspunkt, um eine kleinere Menge von
Persönlichkeitsdimensionen zu finden. Er machte einen Unterschied zwi-
schen Oberflächen-Eigenschaften (Surface Traits) und Grundeigenschaften
(Source Traits) und befürwortete 16 Grundeigenschaften. 18 Nur noch drei
Persönlichkeitsdimensionen fand Hans J Eysenck (1916-1997)19 mit seiner
Faktorenanalyse heraus: Extraversion (nach innen oder nach außen orien-
tiert), Neurotizismus (emotional stabil oder instabil) und Psychotizismus
(freundlich und rücksichtsvoll oder aggressiv und asozial). Schließlich ei-
nigte man sich auf ein Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit. 20
Gegen das Eigenschaftsmodell wurden Einwände erhoben. Besonders
Walter Mischel21 machte geltend, dass das Verhalten von Menschen nicht
immer konsistent ist, sondern von Situation zu Situation variiert. Die Per-
sönlichkeits-Dimensionen ändern sich zudem im Lebenslauf, in den ver-
schiedenen Lebensabschnitten. Schließlich sind Eigenschaften lediglich
Merkmale, in denen sich Persönlichkeit ausdrückt. Das Eigenschaftsmodell
erklärt nicht, woher Persönlichkeitszüge kommen. Ist die Konsistenz, die
Langzeitstabilität von Eigenschaften genetisch, anlagemäßig bedingt? Aus
der Sicht der kognitiv-sozialen Lemtheoretiker zeigt der Mensch nicht nur

13 Megargee Psychological Monographs 80 (1966), 15-27.


14 Guilford Persönlichkeit, 1964, S. 6.
15 Allport Personality: A Psychological Interpretation, 1937; ders. Pattern and Growth in
Personality, 1961 ~ ders. American Psychologist 21 (1966), 1-10.
16 Allport/Odbert Psychological Monographs 47 (1936), Nr. 211.
17 Cattell Personality and Learning Theory, 1979.
18 Vgl. Pervin u. a. (Fn. 1), S. 309.
19 Eysenck Dimensions ofPersonality, 1961.
20 Zimbardo/Gerrig Psychologie, 18. Aufl. 2008, S. 509.
21 Mischel Personality and Assessment, 1968.
148 Hans Joachim Schneider

konsistentes Verhalten, sondern er ist in seinem Verhalten in bedeutsamer


Weise variabel.

2. Einige kriminologische Eigenschaftsmodelle


a) Das psychopathologische Modell
Das psychopathologische Persönlichkeitsmodell ist ein typisches Beispiel
für ein statisches Eigenschaftsmodell. Aufgrund klinischer Beobachtungen
ist es von dem Psychiater Kurt Schneider 22 als einem der ersten entwickelt
worden. Er verstand unter Psychopathen "solche abnorme Persönlichkeiten,
die an ihrer Abnormität leiden oder unter deren Abnormität die Gesellschaft
leidet". "Psychopathen sind abnorme Persönlichkeiten, die infolge ihrer
Persönlichkeitsabnormität mehr oder weniger in jeder Lebenssituation,
unter allen Verhältnissen zu inneren oder äußeren Konflikten kommen müs-
sen. "23 Er unterschied zehn Psychopathen-Typen, die er mit einer hervor-
stechenden Eigenschaft zu kennzeichnen suchte: u.a. selbstunsichere, stim-
mungslabile, explosible, gemütlose, willenlose Psychopathen. Eine
Kompilation von 16 Eigenschaften des Psychopathen stellte der US-
amerikanische Psychiater Hervey M Cleckley (1941)24 auf. Nachdem das
klinische Konstrukt der Psychopathie in den 1930er und 1940er Jahren und
in der Nachkriegszeit in Deutschland eine unrühmliche Rolle gespielt hatte,
hielt der kanadische Psychologe Robert D. Hare im Jahre 1996 25 seine Zeit
gleichwohl erneut für gekommen. Er versteht unter einem Psychopathen
eine ichbezogene Person, die kein Gewissen (keinen Sinn für Recht und
Unrecht) besitzt, die kein Einilihlungsvermögen für andere hat und die zur
Reue und Schuld unfähig ist, die sie anderen zugefügt hat. Hare sagt den
Psychopathen innere emotionale Leere, eine Unfähigkeit, aus Erfahrung zu
lernen, und einen Mangel an zwischenmenschlicher Wärme nach. Psycho-
pathen gelten für ihn als nicht resozialisierbar, weil sie lemunfähig sein
sollen. Das Psychopathie-Konstrukt ist als Theorie unzulänglich. 26 Es ist
tautologisch, weil es die Phänomene zu erklären sucht, die es als Definition
bereits vorwegnimmt,27 und es ist nicht evaluiert.

22 K. Schneider Die psychopathischen Persönlichkeiten (1923), 9. Aufl. 1950~ ders. Klini-


sche Psychopathologie, 14. Aufl. 1992.
23 K. Schneider 1950 (Fn. 22), S. 5.
24 Cleckley The Mask of Sanity, 2. Aufl. 1950.
25 Hare Criminal Justice and Behavior 23 (1996), 25-54.
26 AndrewslBonta The Psychology of Criminal Conduct, 2006, S. 82.
27 AkerslSellers Criminological Theories, 5. Aufl. 2009, S. 78; Walters International Journal
ofOffender Therapy and Comparative Criminology 48 (2004), 133-148.
Die kriminelle Persönlichkeit 149

Ein ähnliches Abnormitäts-Konstrukt - ebenfalls aufgrund klinischer


Fallstudien - haben Samuel Yochelson und Stanton E. Samenow 28 entwor-
fen. Bei ihren Kriminellen identifizierten sie 52 kriminelle Denkfehler,
abnorme Denkmuster, die zu Entscheidungen führten, Straftaten zu bege-
hen. Kriminelle sind bösartige Menschen, die überheblich sind, die erwar-
ten, für ihr kriminelles Verhalten nicht zur Verantwortung gezogen zu wer-
den, und die ein übersteigertes Selbstbewusstsein besitzen. Der Kriminelle
wird mit Denkfehlern geboren. Zu solchen Denkfehlern gehören beispiels-
weise Impulsivität, Selbstzentriertheit, chronische Verlogenheit, Interesse-
losigkeit an Erziehung und Schule, sexuelle Aktivität in früher Kindheit und
Jugend, extremer Optimismus rur die Zukunft, Risikobereitschaft in gefähr-
lichen Situationen, große Freude an rücksichtslosem und kriminellem Ver-
halten, Manipulationsfähigkeit, übertriebene Furchtsamkeit vor Schmerzen
und Verletzungen sowie Selbstüberheblichkeit. Kriminelle werden sehr
schnell extrem ärgerlich; sie nehmen an, dass das Eigentum anderer auch
ihrem Zugriff offen steht.
Die Persönlichkeits-Abnonnitäts-Modelle gehen davon aus, dass Krimi-
nelle eine Eigengruppe bilden, deren Kriminalität weitgehend anlagemäßig
bestimmt ist. Beide Annahmen haben sich durch die Dunkelfeldforschung
als falsch erwiesen; sie fuhren nur zu einem Labeling- und Stigmatisie-
rungsprozess des Kriminellen, der seine Kriminalität noch verstärkt.

b) Das psychodiagnostische Modell


Aufgrund von psychodiagnostischen Tests hat man versucht, Unterschie-
de in den Persönlichkeiten von Kriminellen und Nichtkriminellen zu kon-
struieren und ein Modell konsistenter krimineller Eigenschaften empirisch
zu bestätigen. Man hat insbesondere zwei Persönlichkeitstests herangezo-
gen: das "Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI)"29 und das
"California Psychological Inventory (CPI)" .30 Die folgenden beiden Bei-
spiele sind in der Kriminologie besonders be~chtet worden. 31
Mit dem Rorschach-Test haben Sheldon und Eleanor Glueck32 eine Grup-
pe delinquenter, institutionalisierter Jungen und eine Kontrollgruppe von

28 Yochelson/Samenow Criminal Personality, 2 Bände, 1976, 1977.


29 Hathaway/Monachesi Adolescent Personality and Behavior, 1963; Ergebnis: Wil-
son/Herrnstein Crime and Human Nature, 1985, S. 186-190.
30 Megargee The California Psychological Inventory Handbook, 1972; Ergebnis: Wil-
son/Herrnstein (Fn. 29), S. 190-194.
31 Barkan Criminology, 2009, S. 154-156; Cassel/Bernstein Criminal Behavior, 2. Aufl.
2007, S. 78.
32 S. u. E. Glueck Unraveling Juvenile Delinquency, 1950, S. 215-243; dies. Delinquents
and Nondelinquents in Perspective, 1968.
150 Hans Joachim Schneider

Jungen untersuchen lassen, die nicht delinquent auffällig geworden waren.


Die Persönlichkeitszüge ihrer delinquenten Jungen fassen sie - wie folgt -
zusammen: 33 Sie waren trotziger, ambivalenter, übelnehmerischer und un-
gehorsamer als die nichtdelinquenten Jungen. Sie charakterisieren ihre de-
linquenten Jungen als feindselig, misstrauisch und destruktiv. Sie waren
parasitär, destruktiv-sadistisch, impulsiv und wenig selbstkontrolliert. Sie
betrachteten sie als weit weniger kooperativ und deutlich weniger konventi-
onell in ihren Ideen, Gefühlen und in ihrem Verhalten als ihre nichtdelin-
quenten Jungen.
Die Methode des Selbstbericht-Delinquenz-Fragebogens wendeten Av-
shalom Caspi, Terrie E. Moffitt, Phi/ A. Si/va, Magda Stouthamer-Loeber,
Robert F. Krueger und Pamela S. Schlnutte (2006)34 auf drei Stichproben
männlicher und weiblicher Delinquenter (mit Kontrollgruppen) in Neusee-
land und in den USA an. Sie stellten die Persönlichkeitszüge ihrer Proban-
den mit dem "Multidimensional Personality Questionaire" fest und fanden
drei Persönlichkeitsdimensionen heraus: mangelnde Selbstbeherrschung,
negative und positive Emotionalität. Die Super-Persönlichkeits-Züge der
mangelnden Selbstbeherrschung und der negativen Emotionalität korrelier-
ten mit Kriminalität. Beide Eigenschaften sind - nach ihrer Ansicht - durch
biologische und Umwelt-Faktoren beeinflusst. Einige Individuen haben den
Hang, die Neigung zu Verbrechen. Aufgrund hoher negativer Emotionalität
und niedriger Selbstbeherrschung sind sie geneigt, Ereignisse als bedrohlich
zu empfinden und impulsiv zu reagieren. Ihre männlichen und weiblichen
Delinquenten waren durch folgende konvergente Persönlichkeitsprofile
gekennzeichnet: Impulsivität, Gefahrstreben, Ablehnung konventioneller
Werte, aggressive Einstellungen, Verfremdungsgeftihle, feindliche zwi-
schenmenschliche Einstellungen, Aufsässigkeit gegenüber Konventionalität
und Ausnutzung anderer.
Die Studien nach dem psychodiagnostischen Modell sind allein dann be-
deutsam, wenn die angewandten projektiven Tests reliabel (zuverlässig) und
valide (gültig) sind. Das ist beim Rorschach-Test z.B. nicht der Fall. Ferner
müssen die Studien evaluiert worden sein. Freilich sind die Studien vom
theoretischen Ansatz her auch grundlegenden Einwänden ausgesetzt. Die
Testzeit-Persönlichkeit gilt nur fiir den Augenblick der Testanwendung. Sie
stimmt nicht unbedingt mit der Tatzeit-Persönlichkeit überein. Durch die
Tat, durch die Kriminalität kann sich die Persönlichkeit geändert haben. Die

33 S. u. E. Glueck (Fn. 32),1968, S. 26.


34 Caspi/Mojfitt/Silva/Stouthamer-Loeber/Krueger/Schmutte in: Cullen/Agnew (Fn. 6),
S. 76-84; dies. auch in: Scarpitti/Nielsen/Miller (Hrsg.), Crime and Criminals, 2. Autl. 2009,
S.203-210.
Die kriminelle Persönlichkeit 151

festgestellten Persönlichkeitszüge können Konsequenzen der Kriminalität


und nicht ihre Ursachen sein.

c) Das Super-Eigenschafts- oder das


Persänlichkeits-Dimensians-Mode11
Mit einer Super-Eigenschaft oder mit drei Persönlichkeitsdimensionen
charakterisieren einige Kriminologen ihre kriminelle Persönlichkeit.
Michael R. Gottfredson und Travis Hirschp5 stellen es auf die Super-
Eigenschaft der Selbstkontrolle ab. Menschen, denen es an Selbstkontrolle
mangelt, sind impulsiv, unempfindlich, körperlich, nicht geistig orientiert,
risikobereit, kurzsichtig und nichtverbal. Sie haben einen Hang zur Krimi-
nalität und zu analogen Handlungen, weil sie die negativen Folgerungen
ihres kriminellen Verhaltens nicht voraussehen. Mangelnde Selbstkontrolle
wird als stabiles Konstrukt angesehen, das sich von früher Kindheit über
den gesamten Lebenszyklus erstreckt. Gottfredson und Hirschi betrachten
das Wesen der Kriminalität in unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung und
nicht in anhaltendem Nutzen. Niedrige Selbstkontrolle gilt rur sie für alle
Typen von Verbrechern, von Jugenddelinquenten bis zu Weiße-Kragen-
Kriminellen.
Hans J Eysenck36 und Hans J Eysenck/Gisli H. Gudjonsson 37 nehmen
zur Kennzeichnung ihrer kriminellen Persönlichkeit drei Persönlichkeits-
Dimensionen an: Extraversion, Neurotizismus und Psychotizismus. Extro-
vertierte geraten schnell in Jähzorn, werden rascher aggressiv und sind
unzuverlässig. Neurotiker, Menschen mit hoher Emotionalität, lassen sich
leichter zu kriminellen Handlungen hinreißen als Personen mit niedriger
Emotionalität. Der neurotische Extrovertierte ist der Persönlichkeitstyp, der
am höchsten mit kriminellem Verhalten belastet ist. Psychotizismus ist ge-
kennzeichnet durch kalte Grausamkeit, soziale Unempfindlichkeit, Ge-
ruhlskälte, Missachtung der Gefahr, lästiges Verhalten, Widerwille anderen
gegenüber und Anziehungskraft für das Ungewöhnliche. Psychotizismus
findet sich speziell bei hartgesottenen Gewohnheitsverbrechern, die wegen
Gewaltdelikten verurteilt worden sind. Klassisches Konditionieren hat -
nach Eysenck und Gudjonsson - eine stärkere Wirkung auf viele Menschen
als instrumentelles Lernen. Die meisten Menschen verhalten sich sozialkon-
form, weil sie während ihrer Kindheit nach den allgemeingültigen Regeln
konditioniert (sozialisiert) worden sind. Vor, während und nach einer sozial
missbilligten Handlung macht uns unser Gewissen, ein bedingter Reflex,

35 Fn. 5.
36 EysenckCrime and Personality, 1964; ders. Kriminalität und Persönlichkeit, 1977.
37 Eysenck/Gudjonsson The Causes and Cures ofCriminality, 1989.
152 Hans Joachim Schneider

unbehaglich und ungemütlich. Extrovertierte sind - im Gegensatz zu In-


trovertierten - wegen der unzulänglichen Erregbarkeit ihres zentralen Ner-
vensystems so schwer konditionierbar; deshalb sind sie für Kriminalität
besonders anfällig. Der Konditionierungsprozess ist eine mächtige Kraft bei
der Sozialisation der Kinder, speziell bei der Unterdrückung unerwünschten
Verhaltens.

d) Das meta-analytische Modell


Mit der meta-analytischen Methode haben einige Kriminologen versucht,
die These der kriminellen Persönlichkeit zu falsifizieren:
Karl F. Schuessler und Donald R. Cressey38 haben 113 Studien untersucht
und bei 42 Prozent der Untersuchungen Unterschiede in der Persönlichkeit
der Kriminellen und der Nichtkriminellen gefunden. Sie sahen diese Diffe-
renz nicht als ausreichend an. Denn fast alle Studien berücksichtigten die
Persönlichkeit von Strafgefangenen, die sich durch die Strafanstalts-
Situation geändert haben konnte. Außerdem konnten sie nicht ermitteln, ob
kriminelle Persönlichkeitszüge die Ursache oder die Folge der Kriminalität
waren.
Zu demselben Ergebnis karnen Gordon P. Waldo und Simon Dinitz39 , die
94 Studien überprüften und signifikante Unterschiede in den Persönlichkei-
ten ihrer kriminellen und nichtkriminellen Gruppen in 81 Prozent der Fälle
feststellten. Auch sie konnten nicht ermitteln, ob kriminelle Persönlichkeits-
züge die Ursache oder die Konsequenz der Kriminalität waren.
44 Studien, die zwischen 1966 und 1975 veröffentlicht worden waren,
überprüfte David J Tennenbaum. 40 In den 44 Studien wurde zu 80 Prozent
eine Persönlichkeits-Kriminalitäts-Verbindung gefunden. Aber auch Tan-
nenbaum konnte sich nicht zur Bestätigung einer kriminellen Persönlichkeit
als Ursache für Verbrechen durchringen.
Zuletzt haben Joshua D. Miller und Donald Lynam 41 mit der meta-
analytischen Technik 50 Studien untersucht. Sie beschreiben die Persön-
lichkeitszüge ihrer Kriminellen folgendermaßen: Sie waren feindlich ge-
sinnt, selbstzentriert, gehässig, eifersüchtig und gleichgültig gegenüber
anderen. Ihnen mangelte es an Ehrgeiz, Motivation und Ausdauer; sie hatten
Schwierigkeiten, ihre Impulse zu kontrollieren, und vertraten nichttraditio-
nelle und nichtkonventionelle Werte und Normen. Gleichwohl sehen Miller

38 Schuessler/Cressey American Journal of Sociology 55 (1950),476-484.


39 Waldo/Dinit= Journal ofResearch in Crime and Delinquency 4 (1967), 185-202.
40 Tennenbaum Journal ofCriminal Justice 5 (1977),225-235.
41 Miller/Lynam Criminology 39 (2001),765-798.
Die kriminelle Persönlichkeit 153

und Lynam diese negativen Persönlichkeitszüge lediglich als Deskription


der kriminellen Persönlichkeit und nicht als Verbrechensursachen an.

3. Kritik des Eigenschaftsmodells


Die kriminologische Persönlichkeitsforschung hat mit dem Eigenschafts-
modell keine erheblichen Fortschritte gegenüber den Ergebnissen der Kri-
minalpsychologie des 18. und 19. Jahrhunderts erzielt. Es sind mannigfalti-
ge Kompilationen negativer Persönlichkeitsmerkmale zusammengestellt
worden, die in sich sehr unterschiedlich sind und das Problem der Verbre-
chensverursachung durch kriminogene Persönlichkeitszüge nicht lösen. Die
Schwachstellen des Eigenschaftsmodells der kriminellen Persönlichkeit
können - wie folgt - zusammengefasst werden:
- Es geht von der Kontinuität und Konsistenz (Beständigkeit) der krimi-
nellen Persönlichkeit aus. Persönlichkeiten sind aber variabel und ent-
wicklungsfähig. Sie können sich zum Besseren oder Schlechteren wäh-
rend der verschiedenen Abschnitte in ihren Lebensbahnen verändern.
Kriminelle sind lern- und resozialisierungsfähig.
- Es betrachtet die kriminelle Population als relativ homogen. Sie bildet
eine relativ gleichartige Eigengruppe, deren Persönlichkeitsmerkmale
weitgehend anlagemäßig bestimmt sind. Es trägt der Heterogenität und
Dynamik der Persönlichkeiten der kriminellen Population indessen zu
wenig Rechnung. Es hat einen Labeling-Effekt und löst einen Stigmati-
sierungsprozess bei den Straftätern aus.

IV. Das Prozessmodell


1. Psychologie des Prozessmodells
Das Prozessmodell der Persönlichkeit wird von den kognitiv-sozialen
Lemtheoretikern Albert Bandura42 und Walter Mischel43 vertreten. Sie ge-
hen von dem Forschungsergebnis aus, dass dasselbe Individuum in ver-
schiedenen Situationen substanzielle Variationen seines Verhaltens offen-
bart. Breite situationsfreie Eigenschafsbeschreibungen mit Adjektiven
werden nun zu situationsqualifizierenden Charakterisierungen der Person.
Der Mensch schafft sich seine Lebenswelt, die ihn umgekehrt wieder beein-

42 Bandura Sozial-kognitive Lerntheorie, 1979~ ders. Social Foundations of Thought and


Action, 1986.
43 Mischel Introduction to Personality, 5. Aufl. 1993~ ders. Annual Review of Psychology
55 (2004), 1-22.
154 Hans Joachim Schneider

flusst. Menschen nehmen aktiv an der kognitiven Organisation ihrer Inter-


aktionen mit ihrer Lebenswelt teil. Bei diesem reziproken Determinismus
interagieren das Individuum, sein Verhalten und seine Lebenswelt so mit-
einander, dass sie einander wechselseitig beeinflussen und verändern. Per-
sönlichkeit ist der kognitiv-soziale und affektive Prozess, der charakteristi-
sche Verläufe von Gedanken, Gefühlen und Verhalten entstehen lässt. Das
Wesen der Persönlichkeit besteht in der unterschiedlichen Art und Weise,
wie einmalige Personen Situationen wahrnehmen, Erwartungen über künfti-
ge Umstände entwickeln und infolge dieser unterschiedlichen Wahrneh-
mungen und Erwartungen Verhaltensmuster zeigen. In unterschiedlichen
sozialen Situationen kommen unterschiedliche Persönlichkeitsstrukturen ins
Spiel. Verhaltens-Prädispositionen oder Persönlichkeitszüge verändern sich
von Situation zu Situation. Individuen werden charakterisiert durch stabile,
unverwechselbare und hoch bedeutsame Variabilitätsmuster ihres Verhal-
tens, ihrer Gedanken und ihrer Gefühle über verschiedene Situationstypen
hinweg. Die Persönlichkeit eines Individuums wird durch ihre Verhaltens-
signatur (Walter Mische!), durch die intraindividuelle Stabilität im Muster
und in der Organisation ihres Verhaltens, in der Besonderheit und Stabilität
erkennbar, die die kognitiv-sozialen und emotionalen Prozesse eines Indivi-
duums kennzeichnen.
Durch kognitiv-soziale und emotionale Lernprozesse erwirbt das Indivi-
duum folgende Persönlichkeitsmerkmale:
Kognitive Kompetenzen und Fertigkeiten bei der Lösung von Konflik-
ten und bei der Bewältigung von Lebensproblemen (Coping-
Mechanismen) eignet sich das Individuum durch soziale Interaktion und
Beobachtungslernen an.
Bewertungsmaßstäbe und Erwartungen sowie Einschätzungen der eige-
nen Person werden internalisiert und beeinflussen Denken, Emotionen
und Verhalten.
Menschen erwerben durch Lernprozesse die Fähigkeit der Selbstregula-
tion. Sie bewerten ihr eigenes Verhalten und reagieren danach in einer
emotional befriedigten oder unzufriedenen Art und Weise. Sie entwi-
ckeln die Fähigkeit, sich selbst zu motivieren, sich persönliche Ziele zu
setzen, Strategien zu lernen, diese Ziele zu erreichen, und ihr fortlaufen-
des Verhalten zu bewerten und zu modifizieren.
Die Persönlichkeitsprozessdynamik besteht - nach Walter Mischel 44 - aus
solchen stabilen, unverwechselbaren Verläufen von Gedanken, Gefühlen
und Verhalten, die durch Situationstypen aktiviert werden.

44 Mischel/Shoda/Smith Introduction to Personality, 7. Aufl. 2004, S. 283.


Die kriminelle Persönlichkeit 155

2. Bisherige kriminologische Prozessmodelle


a) Das psychoanalytische Modell
Nach dem psychoanalytischen Modell bestimmen psychodynamische
Kräfte die Gedanken, Geftihle und das Verhalten der Person. 45 Die Persön-
lichkeit besteht aus drei Instanzen: dem Es, dem Ich und dem Überich, die
sich von früher Kindheit an im Sozialisationsprozess herausbilden und die
intrapsychisch miteinander interagieren. Das Es ist der unbewusste Teil der
Persönlichkeit, der primitive Impulse und unbewusste Triebe und Instinke
enthält und der dem Lustprinzip folgt. Das Ich ist die Kontroll- und Re-
gulationsinstanz der Persönlichkeit, der Mediator, der Vermittler zwischen
Es und Überich. Es gehorcht dem Realitätsprinzip. Die Wünsche und Forde-
rungen des Es müssen in sozial angemessener Weise befriedigt werden, um
negative Konsequenzen zu vermeiden. Das Überich, die Gewissens-Instanz,
entwickelt sich, wenn Individuen die Regeln, Verbote und Werte ihrer El-
tern und ihrer Kultur internalisieren. Kriminalität entsteht in einem inner-
psychischen Konfliktprozess zwischen Es, Ich und Überich. Sie ist das
Ergebnis eines unterentwickelten Ich oder Überich und eines unangepassten
Es. Die Urtriebe des Es, der Persönlichkeitsinstanz des Trieblebens, durch-
brechen das Ich, die Kontroll- und Regulationsinstanz. Die Konflikte zwi-
schen dem Ich und gefährlichen Triebregungen aus dem Es sind zum größ-
ten Teil unbewusst. Kriminalität wird innerhalb der Persönlichkeit, durch
intrapsychische Konflikte verursacht, die nur durch Introspektion (Selbstbe-
obachtung) erkannt werden können. Deshalb entzieht sich dieser Verursa-
chungsprozess der empirischen Bestätigung. Denn irrationale und unbe-
wusste Motivationen können empirisch nicht getestet werden. Da das
psychoanalytische Modell die Kriminalitätsentstehung aus innerpsychischen
und nicht aus interpersonellen Prozessen erklärt, ist es als kognitiv-soziales
und emotionales Prozessmodell ungeeignet.

b) Das Modell der autoritären Persönlichkeit


Diesem Modell gemäß entwickelt sich die autoritäre Persönlichkeit in
einem bestimmten Sozialisations-Prozess. Sie verwickelt sich in Kriminali-
tät allerdings nur unter extremen gesellschaftlichen Machtbedingungen, z.B.
unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. 46 Die autoritäre Persön-
lichkeit glaubt an die Überlegenheit der eigenen Gruppe und verachtet

45 Cassel/Bernstein Criminal Behavior, 2. Aufl. 2007, S. 80, 81; Walsh/Ellis Criminology,


2007, S. 175, 176; Glick/Miller Criminology, 2. Aufl. 2008, S. 124, 125.
46 H. 1. Schneider in: ders. (Hrsg.), Internationales Handbuch der Kriminologie. Bd. 1,2007,
S.773-776.
156 Hans Joachim Schneider

fremde Gruppen. Sie befolgt Vorschriften rituell und ist extrem machtorien-
tiert. Die völlige Übereinstimmung mit den Mächtigen ist das Hauptcharak-
teristikum der autoritären Persönlichkeit. 47 Die Erziehung zur autoritären
Persönlichkeit ist von ihrer frühen Kindheit an streng und starr. Jede Oppo-
sition, Kritik und jeder Mangel an Disziplin werden unbarmherzig von den
Eltern und Lehrern unterdrückt. Den Eltern muss das Kind blind gehorchen.
Diese Art der Sozialisation bezweckt die unbedingte Unterwerfung des
Kindes unter den Willen seiner Eltern und Erzieher, ihre tiefe Bewunderung
und Verehrung durch das Kind und die Unterdrückung aller feindlichen und
aggressiven Gefühle des Kindes ihnen gegenüber. Die Aggressionen der
autoritären Persönlichkeit richten sich dann gegen die Außengruppe und
diejenigen, die den Eltern und Erziehern in ihrer Persönlichkeit nicht glei-
chen. Eine klar umrissene Dichotomie bildet sich heraus: Eltern, Erzieher
und alle, die zur autoritären Innengruppe gehören, sind gut und anständig.
Die "Außenseiter", die Fremden, die verschieden von der Innengruppe sind,
die zur Außengruppe gehören und zudem noch machtlos sind, werden als
schlecht abgelehnt und gebrandmarkt.

c) Das Modell der aggressiven Persönlichkeit


Nach diesem Mode1l 48 ist die aggressive Abfolge in der Wahrnehmung
und Interpretation von Situations-Signalen mit gewaltsamem Aufforde-
rungscharakter fur die aggressive Persönlichkeit charakteristisch. Gewalt-
orientierte Persönlichkeiten sind mehr geneigt, Situationssignale aggressiv
wahrzunehmen und aggressiv zu interpretieren. Drei Gründe sind fur diese
Gewaltneigung verantwortlich:
- Gewaltorientierte Persönlichkeiten sind klassisch konditioniert, gewalt-
sam zu reagieren, weil sie ein solches Reaktionsmuster in ähnlichen Si-
tuationen gelernt haben.
Aggressive Persönlichkeiten haben nicht gelernt, mit zwischenmenschli-
chen Konflikten friedlich und mit Worten umzugehen. Es fehlen ihnen
verbale und soziale Fähigkeiten. Ihr Verhaltensrepertoire ist begrenzt.
Sie sind unfähig, alltägliche Infragestellungen ihres Selbstwertgefuhls
ohne Gewaltanwendung hinzunehmen.
Die gewaltgeneigte Persönlichkeit bewertet ihr Gewaltverhalten als
annehmbare Verhaltensforrn, als legitime Reaktion auf eine feindliche

Adorno/Frenkel-Brunswik/Levinson/Sanjord The Authoritarian Personality, 1950.


47
Toch Violent Men. An Inquiry into the Psychology ofViolence, 1969,2. Autl. 1993~ Ber-
48
kowitz Aggression. Its Causes, Consequences and Contro1, 1993 ~ Hollin in: Maguire/Mor-
gan/Reiner (Hrsg.), The Oxford Handbook ofCriminology, 2007, S. 60, 61.
Die kriminelle Persönlichkeit 157

Welt. Sie hat sich diese Bewertung während ihrer Lebensbahn ange-
eignet.

d) Das sozialpsychologische Modell


Es ist anhand von Fallstudien nach der Lebensgeschichte-Methode entwi-
ckelt worden. 49 Nach dieser Methode analysiert man den Prozess der Per-
sönlichkeitsbildung und der Entwicklung ihrer kriminellen Rolle. Die Le-
bensgeschichte gibt Aufschlüsse über die Ereignis-Abläufe im Leben des
Delinquenten und über die Art und Weise, in der diese Abläufe zur Ent-
wicklung eines delinquenten Verhaltenstrends beigetragen haben. Die
grundlegenden Einstellungen und typischen Reaktionen auf die verschiede-
nen Situationen werden erkennbar, die rur die Beurteilung der delinquenten
Persönlichkeit von entscheidender Bedeutung sind. Der Lebenslauf des
Delinquenten ist ein negativ sich ständig verstärkender Sozialprozess des
Einübens und des Sich-Gewöhnens an Delinquenz. Die delinquente Persön-
lichkeit ist das Ergebnis ihrer Interaktion mit ihrem sozialen Umfeld. Delin-
quentes Verhalten ist kein isolierter Akt, sondern ein dynamischer Aspekt
des Lebensprozesses. Es ist das Produkt des Prozesses der sozialen Konditi-
onierung, des Prozesses, in dem die delinquente Karriere ihren Ursprung hat
und ihre Entwicklung nimmt. Delinquente Gewohnheiten und Einstellungen
werden gelernt; der Delinquente identifiziert sich mit den Normen und
Erwarungen der delinquenten Szene.

3. Stellungnahme zu den bisherigen Prozess-Modellen


Die bisherigen Prozess-Modelle sind Vorläufer des modemen kriminolo-
gischen Persönlichkeits-Prozess-Modells. Sie enthalten allerdings nicht alle
Gesichtspunkte, die für das modeme kriminologische Persönlichkeits-
Prozess-Modell von Bedeutung sind:
- Das psychoanalytische Modell ist insofern problematisch, weil es ein
intrapsychisches Prozess-Modell ist, das sich deshalb der empirischen
Überprüfung entzieht.
Das Modell der autoritären Persönlichkeit gilt nur für bestimmte Krimi-
nalitätsformen in bestimmten gesellschaftlichen Situationen. Seine Be-
deutung ist deshalb begrenzt. Allerdings ist aus ihm die Situati-
onsbezogenheit der kriminellen Persönlichkeit bereits gut erkennbar.

49 Shaw The lack-Roller. A Delinquent Boys own Story (1930), Nachdruck 1966~ ders. The
Natural History of aDelinquent Career (1931), Nachdruck 1966~ ders. Brothers in Crime
(1938), Nachdruck 1966~ vgl. auch Snodgrass The lack-Roller at Seventy, 1982~ Gadd/Jejfer-
son Psychosocial Criminology, 2007, S. 124-145.
158 Hans Joachim Schneider

Das Modell der aggressiven Persönlichkeit und das sozialpsychologi-


sche Modell betonen diese Situationsbezogenheit mit Recht. Sie machen
auch richtig darauf aufmerksam, dass den Straftätern psychosoziale Fä-
higkeiten fehlen und dass sie delinquente Werte und Normen angenom-
men haben. Für beide Modelle ist delinquentes Verhalten erlernt.
Alle bisherigen Prozess-Modelle vertreten richtige Gesichtspunkte, die
allerdings näherer Ausarbeitung und Ergänzung bedürfen.

4. Das neue kriminologische Prozess-Modell


a) Der kognitiv-soziale und emotionale Lem- und Interaktions-
Prozess
Kriminelle Verhaltens-Situations-Reaktionsmuster unterscheiden Krimi-
nelle von Nichtkriminellen. 50 Diese Verhaltens-Situations-Beständigkeit
wird im folgenden kognitiv-sozialen und emotionalen Lern- und Inter-
aktionsprozess erworben:
Prosoziales und antisoziales Verhalten werden am Verhaltenserfolg,
durch Verhaltensbeobachtung und durch Verhaltens-Selbstregulierung
erlernt. 51
Prosoziales Verhalten wird am besten realisiert, wenn starke Bindungen
zu prosozialen Institutionen und Menschen bestehen. Ist dies nicht der
Fall, kann prosoziales Verhalten nicht gelernt, vielmehr kann anti-
soziales Verhalten in antisozialen Kontakten erworben werden. 52
Prosoziales wie antisoziales Verhalten eignet man sich durch Reaktion
auf Verhalten und durch die Reaktion auf die Reaktion (durch Interakti-
on) an. In diesem Interaktionsprozess ist wesentlich, welche Bedeutung
die Interaktionspartner ihrem Verhalten, der Reaktion auf ihr Verhalten
und ihrer Person geben. 53
In der Lebensbahn führen anfänglich schwache soziale Bindungen zu
hoher delinquenter Verwicklung, und diese Verwicklung schwächt ih-
rerseits wieder die konventionellen Bindungen. 54
Aus der zunehmenden Verwicklung in die Folgen antisozialen Verhal-
tens ergibt sich ein eingeschränktes Verhaltensrepertoire. Der Delin-

50 Horney Criminology 44 (2006), 1-16~ AndrewslBonta The Psychology of Criminal Con-


duct, 2006, S. 245.
51 Bandura Sozial-kognitive Lerntheorie, 1979~ ders. Social Foundations of Thought and
Action, 1986.
52 Hirschi in: Cullen/Agnew (Fn. 6), S. 219-227.
53 Becker Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens, 1973, S. 22-35.
54 Thornberry in: Cullen/Agnew (Fn. 6), S. 551-562.
Die kriminelle Persönlichkeit 159

quente wird in wachsendem Maße unfähig, sich konventionelle, proso-


ziale Alternativen zu seinem kriminellen Benehmen anzueignen. 55
- Der Lern-Entwicklungs-Prozess erstreckt sich über den gesamten Le-
bensweg in unterschiedlichen pro- und antisozialen Pfadwegen und Le-
bensbahnen. 56

b) Die kriminelle Persönlichkeit und ihre dynamischen,


psychosozialen, kriminogenen Merkmale
Die handelnde Persönlichkeit, ihr Verhalten und ihr sozialstruktureller
Kontext, in dem sie agiert, ändern sich im interaktiven Prozess, der während
der gesamten Lebensspanne abläuft. Persönlichkeit ist deshalb das verän-
derbare, vorübergehende Augenblicks-Ergebnis eines lebenslangen Lern-
und Interaktionsprozesses. Die kriminelle Persönlichkeit erwirbt in ihrer
Lebens-Entwicklungs-Bahn folgende Merkmale, die für kriminelles Verhal-
ten ursächlich sein können und die man in prosoziales Verhalten verändern
kann:
- Kriminelle Verhaltensabläufe (Skripte, Reaktionsmuster) sind im Ge-
dächtnis als Leitvorstellungen fur Verhalten und für Problemlösung ge-
speichert und werden durch kriminogene Situationen aktiviert.
- Kriminelle Einstellungen und Wertvorstellungen sind Kognitionen über
die Angemessenheit kriminellen Verhaltens, über die kriminelle Ein-
schätzung von Umweltsignalen und über die Zuschreibung krimineller
Absichten an Interaktionspartner.
- Neutralisationen (Vorabrechtfertigungen kriminellen Verhaltens), kogni-
tive Verzerrungen sind gelernte Denkfehler, mit denen der Kriminelle
seine Verantwortlichkeit leugnen kann und die ihm die Begehung krimi-
nellen Verhaltens erleichtern, ohne seine Schuldgefiihle zu aktivieren.
Sie sind von Delikt zu Delikt und von Straftäter zu Straftäter verschie-
den. 57
Kriminelle Fähigkeiten und Fertigkeiten, z.B. Verbrechenstechniken,
kriminelle Orientierungen, Motive, werden in der Lebensbahn gelernt.
Mängel an prosozialen Fähigkeiten und Fertigkeiten werden ebenfalls in
der Entwicklungsbahn erworben. Kriminellen fehlt z.B. prosoziale
Kompetenz, prosoziale Reaktionsfähigkeit und prosoziale Konflikt-
Lösungs-Fähigkeit (Coping-Mechanismen). Sie verfügen über geringe

Moffitt in: Cullenl Agnew (Fn. 6), S. 502-521.


55
Patterson/DeBaryshe/Ramsey in: Cullenl Agnew (Fn. 6), S. 495-501.
56
57 Sykes/Matza in: Cullen/Agnew (Fn. 6), S. 126-133; Maruna/Copes in: Tonry (Hrsg.),
Crime and ]ustice, Bd. 32,2005, S. 221-320.
160 Hans Joachim Schneider

Emotionen, z.B. über schwaches Einfühlungsvermögen in ihre Opfer,


niedrige prosoziale Beziehungsfahigkeit.
- Gelernte kriminelle Selbstregulation, z.B. Freude an Straftaten, Genug-
tuung und Selbstbestätigung durch Straftaten, Dominationsstreben, steu-
ert kriminelles Verhalten. 58 Selbstregulations-Mechanismen und -Kom-
petenzen sind zentral für das Verständnis menschlichen Verhaltens und
selbstbestimmten Wandels ebenso wie fiir den Zusammenhalt und die
Stabilität -der Persönlichkeit. 59

c) Die kriminelle Persänlichkeits- und Verhaltenssignatur


Die kriminelle Persönlichkeit mit beständigen negativen Eigenschaften
gibt es nicht. Dafür ist die kriminelle Population zu heterogen und der ein-
zelne Rechtsbrecher zu einmalig und veränderbar. Eine einheitliche Persön-
lichkeit von Straftätern bestimmter Kriminalitätsformen, z.B. von Wirt-
schafts- und Sexualkriminellen, muss ebenfalls ausgeschlossen werden.
Denn "kriminelle Spezialisten" sind eine verschwindend kleine Minderheit.
Zumeist begehen Straftäter mehrere Kriminalitätsformen hinter- und neben-
einander; sie sind "kriminelle Generalisten". Die Intensität, die Eigenart und
Veränderbarkeit (Prozessdynamik) der kriminellen Persönlichkeit sind
vielmehr nur individuell durch die unterschiedliche Stabilität ihrer krimi-
nellen Situations-Reaktions-Muster, durch die Abfolge in der kriminellen
Wahrnehmung und Interpretation von Situations-Signalen feststellbar. Sol-
che kriminellen Verläufe von Gedanken, Gefühlen, und Verhalten über
Situationen hinweg beschreiben kriminogene, dynamische Persönlichkeits-
züge, die durch Vorbeugung und Behandlung veränderbar sind.
Die kriminelle Persönlichkeit ist gekennzeichnet durch stabile, unter-
scheidbare und hoch bedeutsame kriminelle Variabilitätsmuster in ihren
Gefühlen, Gedanken und ihrem Verhalten über verschiedene Typen von
Situationen hinweg. 6o Die kriminelle Persönlichkeits- und Verhaltenssigna-
tur (Waller Mische!) besteht in der charakteristischen sozial-kognitiven und
affektiven Prozessdynamik, die kennzeichnende Muster von Verhalten,
Gedanken und Gefiihlen hervorbringt und die in unterscheidbaren Situati-
onstypen erkennbar ist. Persönlichkeitszüge, die für die individuelle
Verbrechensverursachung von Bedeutung sind, beschreiben die kriminellen
Reaktionsmuster auf kriminogene Situationen. 61 Aus solchen Verhaltens-

58 SteffensmeierlUlmer Confessions of a Dying Thief, 2005; Kat= in: Tonry (Hrsg.), Crime
and Justice, Bd. 14, 1991, S. 277-306.
59 Mischel Annual Review ofPsychology 55 (2004), 17.
60 Mischel (Fn. 59), 8, 14.
61 Vgl. im Grundsatz: AndrewslBonta (Fn. 26), S. 241.
Die kriminelle Persönlichkeit 161

Situations-Regelmäßigkeiten kann die Grundstruktur der kriminellen Per-


sönlichkeit ermittelt werden. Intensität, Eigenart und Veränderbarkeit der
mehr oder weniger kriminellen Persönlichkeit kann in Persönlichkeits-
Prozess- und in Tat-Prozess-Analysen beurteilt werden. Mit der Tat-
Prozess-Analyse versucht man, die Straftat in ihrem psycho- und soziody-
namischen Kontext auszuleuchten, in dem sie verübt worden ist. Die psy-
chosoziale Entwicklungs-Geschichte des Straftäters gibt Auskunft über
seine Entwicklungsvorläufer und Risikofaktoren während seiner Lebens-
bahn. Es ist das Ziel dieser Persönlichkeits-Prozess-Analyse, die relativ
stabilen kriminellen Situations-Reaktions-Muster des Strafäters, den Ver-
lauf seiner Wahrnehmung und Interpretation von kriminogenen Situations-
Signalen herauszufinden. Bei der psychosozialen Beurteilung von Straftä-
tern ist es nicht nur notwendig, die Testzeit-Persönlichkeit zu erforschen. Es
ist vielmehr geboten, die Tatzeitpersönlichkeit zu erkennen und sie in einen
Lebenslauf-Persönlichkeits-Prozess einzuordnen. Zur Beurteilung der Si-
cherheits-Risiken und Behandlungs-Möglichkeiten des Straftäters ist es
unumgänglich, seine kriminogenen, dynamischen Persönlichkeitszüge,
seinen kriminellen Pfadweg und seine psychische Ansprechbarkeit diagnos-
tisch und prognostisch zu erkunden.

v. Empirische Unterstützung des Prozess-Modells


1. Der kognitiv-soziale und emotionale Lern- und
Interaktionsprozess
Dieser Prozess ist durch zahlreiche quantitative und qualitative Untersu-
chungen 62 empirisch bestätigt worden. Eine quantitative und eine qualitative
Studie neueren Datums dienen als Beispiele.
In der quantitativen empirischen Studie 63 stellte man zwei Hauptpfadwe-
ge (Entwicklungsbahnen) fest: den prosozialen und den antisozialen. Die
Lern- und Interaktionstheorie fand ebenfalls in ihren Daten empirische
Bestätigung. Schwache soziale Bindungen verursachen Delinquenz, die
wiederum schwache soziale Bindungen zur Folge hat. Im Lebenslauf, im
Entwicklungsprozess wird delinquentes Verhalten gelernt.
In der qualitativen Studie 64 ist ein Einbrecher und Hehler zwanzig Jahre
lang beobachtet und interviewt worden. Seine Netzwerkkomplizen sind

62 Vgl. zu den Begriffen quantitative und qualitative Untersuchungen: H. 1. Schneider in:


ders. (Fn. 46), S. 209-254.
63 LoeberlFarringtonlStouthamer-LoeberlWhite Violence and Serious Theft. Development
and Prediction from Childhood to Adulthood, 2008.
64 SteffensmeierlUlmer Confessions of a Dying Thief, 2005.
162 Hans Joachim Schneider

befragt worden. Man hat auf diese Weise die Dynamik der kriminellen
Karriere ermittelt. Der Karriere-Kriminelle hat aus seiner kriminellen Akti-
vität materielle, kognitive und emotionale Belohnungen gezogen. Er hat
Freude am Verbrechen empfunden; er hat aus seinen kriminellen Identitäten
und Rollen Selbstbestätigung erhalten. Die empirische Studie erbrachte
folgende kriminologische Erkenntnisse: In einem Prozess der sozialen In-
teraktion werden Verbrechen gelernt. Es werden gelernt: Techniken der
Verbrechensbegehung, kriminelle Orientierungen (Motive, Rationalisierun-
gen) und kriminelle Haltungen, die die Gesetzesverletzung begünstigen.
Individuen lernen und internalisieren prokriminelle Normen, Werte, Bedeu-
tungen, Fähigkeiten und Definitionen durch Sozialisation und soziale Lern-
prozesse innerhalb prokrimineller Gruppen.

2. Kriminologische Prognoseforschung
Sie unterstützt in ihren neuesten Entwicklungen 65 das Persönlichkeits-
Prozess-Modell. Kriminogene, dynamische Persönlichkeitszüge, die krimi-
nelle Verläufe von Gedanken, Gefühlen und Verhalten über Situationen
hinweg beschreiben, sind für die Rückfall-Risiko-Einschätzung von höchs-
ter Bedeutung. Die aktuarische Rückfallprognose ist der klinischen überle-
gen. Für die Bewertung der kriminellen Bedrohung muss das Risiko-
Einschätzungs-Instrument allerdings neben statischen auch dynamische
Prädiktoren aufweisen. Dynamische Risiko-Prädiktoren sind "kriminogene
Bedürfnisse",66 die veränderbar und deshalb nicht nur für die Rückfall-
Einschätzung, sondern auch fur die Behandlungsprognose von entscheiden-
der Bedeutung sind. Dynamische Prädiktoren sind die stärksten Prädiktoren
rur die Einschätzung des Rückfalls und der Behandlungsart und -dauer.
Eine dynamische Rückfall-Risiko- und Behandlungs-Einschätzung nach
dem dynamischen Persönlichkeitsmodell berücksichtigt die persönliche
Entwicklung (Lern- und Interaktions-Erfahrung) ebenso wie die Sozialbe-
zogenheit der Persönlichkeit.

3. Verbrechens-Vorbeugungs-Forschung
Die Entwicklungsvorbeugung ist derzeit die effektivste Verbrechens-
Verhütungs-Form. 67 Sie hat ihre Grundlage in den Entwicklungs- und Le-
benslauftheorien ("Developmental and Life-Course Theorien"), die mit dem

65 Vgl. H. 1. Schneider in: ders. (Hrsg.), Internationales Handbuch der Kriminologie, Bd. 2,
2009, S. 909-946.
66 AndrewslBonta The Psychology ofCriminal Conduct, 4. Aufl. 2006, S. 48.
67 Vgl. Farrington in: H. 1. Schneider (Fn. 46), S. 183-207.
Die kriminelle Persönlichkeit 163

Persönlichkeits-Prozess-Modell unschwer vereinbar sind. Nach den Ent-


wicklungs- und Lebenslauftheorien entfalten sich Delinquenz und Krimina-
lität im interaktiven Prozess, der während des gesamten Lebenszyklus ab-
läuft. 68 Kognitiv-behavioristische Vorbeugungs-Programme sind entworfen
worden, um den Probanden zu helfen, sich über ihre gedanklichen und emo-
tiven Prozesse klar zu werden, die sie zu delinquenten und kriminellen
Reaktionen verleitet haben, und um solche Prozesse in einer positiven Wei-
se zu ändern. Den Tätern mangelt es an persönlichen Problemlösungs-
Fähigkeiten, an kritisch-logischen Denkfähigkeiten und an Planungsfähig-
keiten. Kognitiv-behavioristische Ansätze werden im sozialen Fähigkeits-
training, im Training sozialen Problemlösens, in der rational-emotiven In-
tervention, im kognitiven Fähigkeitsprogramm und im Rückfall-
Verhütungs-Modell angewandt. Die Meta-Analysen der kognitiv-
behavioristischen Prävention haben gezeigt, dass kognitiv-behavioristische
Programme die Delinquenz und Kriminalität in signifikantem Umfang ver-
mindern können.
Aufgrund prospektiver Verlaufsstudien aus Nordamerika, Großbritannien,
Australien, Neuseeland und den skandinavischen Ländern hat man folgende
Vorbeugungsmethoden befürwortet,69 deren Grundlage das Persönlichkeits-
Prozess-Modell sein kann:
Das interpersonelle kognitive Verhaltenstraining der Kinder in ihrem
Kindergarten- und Grundschulalter zielt darauf ab, sie prosoziale Me-
thoden der Problemlösung zu lehren und hierdurch ihre Selbstkontrolle
zu verbessern. Man entwickelt ihre Fähigkeiten, Konflikte mit Eltern
und Gleichaltrigen angemessen und friedlich zu lösen.
- Beim Eltern-Erziehungs-Training lernen die Eltern, wünschbares Ver-
halten ihrer Kinder positiv zu verstärken, nicht-punitive Disziplin-
Praktiken beständig anzuwenden und Familien-Krisen und -konflikte zu
bewältigen. Eltern-Erziehungs-Training ist effektiv. Es vermindert das
antisoziale und delinquente Verhalten der Kinder in 200/0 der Fälle.
- Den Lehrern wird im Lehrer-Verhaltens-Training beigebracht, klare
Instruktionen und Erwartungen an ihre Schülerinnen und Schüler aufzu-
stellen, sie rür wünschbares Verhalten zu belohnen und mit prosozialen
Methoden der Problemlösung vertraut zu machen.

68 Vgl. H. 1. Schneider in: ders. (Fn. 46), S. 872, 873.


69 Farrington/Welsh Saving Children from a Life of Crime, 2007.
164 Hans Joachim Schneider

4. Die kriminologische Behandlungsforschung


Die Anwendung einer Behandlungs-Methode ist immer auch gleichzeitig
ein Experiment, das dazu dient, die Validität einer Verbrechens-Verur-
sachungs-Theorie zu testen. 70 Die kognitiv-soziale Lern- und Interaktions-
theorie und das Persönlichkeits-Prozess-Modell erhalten den klarsten und
überzeugendsten empirischen Beweis durch die Behandlungsforschung.
Kognitiv-behavioristische Behandlungsprogramme erzielen höhere Rück-
fallverminderungen als jedes andere Behandlungsprogramm. Sie umfassen
die folgenden Module:
Auslöschen devianter und Verstärken prosozialer Verhaltens-Abläufe
(Skripte),
Veränderung devianter Einstellungen, Wertvorstellungen und Verbre-
chensrationalisierungen (kognitive Umstrukturierung),
- Einübung prosozialer Fähigkeiten, z.B. Konfliktlösungsfähigkeiten und
prosozialen Verhaltens, Isolation des Straftäters von prokriminellen As-
soziationen.
Der Umstand, dass kognitiv-behavioristische Behandlungsprogramme in
zahlreichen Meta-Analysen und über viele Länder hinweg beständig Rück-
fallverminderungen erzielt haben, ist der beredte Beweis dafür, dass der
kognitiv-soziale Lern- und Interaktions-Prozess ein integraler Bestandteil
für das Verständnis der Verbrechens-Verursachung ist. 71 Die Behandlung ist
auf dynamische kriminogene Bedürfnisse der kriminellen Persönlichkeit,
auf dynamische Persönlichkeitszüge konzentriert, die unmittelbar mit kri-
minellem Verhalten verbunden sind und die durch Behandlung geändert
werden können. Kriminogene Bedürfnisse sind Mängel in sozialen Kogniti-
onen, z.B. im Verständnis für andere und für soziale Interaktionen, und in
Problemlösungs-Fähigkeiten. In dem kognitiven Verhaltenstraining ver-
sucht man, durch Wandlungen in Einstellungen, Glaubenssätzen und Denk-
prozessen dysfunktionales Verhalten zu ändern. Den Probanden werden
schlecht angepasste Denkprozesse bewusst gemacht, und sie werden ermu-
tigt, diese Prozesse umzugestalten und zu berichtigen. Ihr impulsives, ego-
zentrisches, unlogisches und rigides Denken wird korrigiert. Sie lernen, die
Konsequenzen des eigenen devianten Verhaltens zu bedenken und die Per-
spektive ihrer Interaktionspartner einzunehmen. Kognitives Verhaltens-
Training ist effektiv; es vermindert den Rückfall.

70 Cullen/Wright/Gendreau/Andrews in: Akers/Jensen (Hrsg.), Social Learning Theory and


the Explanation of Crime. Advances in Criminological Theory, Bd. 11, 2003, S. 339-364.
71 MacKenzie What Works in Corrections, 2006.
Die kriminelle Persönlichkeit 165

VI. Täter-Opfer-Persönlichkeiten: reziproke Prozesse


Täter-Werden und Opfer-Werden entstehen in sozial-kognitiven und emo-
tionalen Lern- und Interaktions-Prozessen. Die Opfer-Persönlichkeit ist
ebenso wie die Täter-Persönlichkeit ein Prozess, der dem Opfer vom Täter
allerdings aufgezwungen wird. Die Viktimisierung kann in einer Opferkar-
riere enden,72 in der Opfer-Situations-Reaktions-Muster (Skripte) und Op-
fer-Neutralisationen - unter Täter-Druck - gelernt werden können, die in
einem Opfer-Behandlungs-Prozess wieder verlernt werden müssen.

72 Vgl. hierzu H. 1. Schneider in: ders. (Fn. 46), S. 400.


"Hunde, die bellen, beißen nicht"
Einstellungen Studierender zu Kriminalität und Strafe

BERND-DIETER MEIER

I. Einleitung
Das strafrechtliche Kontrollsystem befindet sich kontinuierlich im Wan-
del. Mal werden die Strafnormen ausdifferenziert oder umgeschrieben, mal
werden Verfahrensabläufe verändert oder neue Eingriffsgrundlagen ge-
schaffen, mal werden im Sanktionssystem Neuerungen eingefuhrt. Der
kontinuierliche Wandel wird zwar gelegentlich beklagt, aber er ist unver-
meidlich, denn das Strafrecht muss sich immer wieder neu an die sich ver-
ändernden gesellschaftlichen Verhältnisse und die damit einhergehenden
neuen Herausforderungen rur den Rechtsgüterschutz anpassen. Besonders
auffällig sind die Veränderungen, die seit den 1990er Jahren im Sanktions-
system stattgefunden haben. Im Vergleich zu dem Rechtsfolgensystem, das
aus der großen Strafrechtsreform der 1960er Jahre hervorgegangen war,
werden vergeltende, ausgrenzende, das Sicherheitsbedürfnis der Allgemein-
heit betonende Sanktionen heute deutlich stärker in den Vordergrund ge-
stellt als vor 40 Jahren; auf Resozialisierung oder ausgleichende Regulie-
rung setzende Reaktionen werden eher zurückhaltend angewandt. Zurück-
zuführen ist die Akzentverschiebung auf einen Wandel in den StrafeinsteI-
lungen, der die gesamte Gesellschaft durchzieht; die Gesellschaft erwartet
heute in der Breite einen härteren ("konsequenteren") Umgang mit Straftä-
tern als in den 1960er und 70er Jahren. Mit der Neuausrichtung des Sankti-
onssystems wird dieser gesellschaftliche Wandel nachvollzogen, denn wie
der hochverehrte Jubilar auf dem Jenaer Symposium zum Jugendkriminal-
recht zutreffend bemerkt hat, "Kriminalpolitik gegen deutliche Mehrheits-
meinungen in der Bevölkerung ist in einer demokratischen Gesellschaft auf
Dauer nicht möglich."l

1 Schöch in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Das Jugendkriminalrecht vor neuen Her-
ausforderungen?, 2009, S. 19.
168 Bernd-Dieter Meier

Über den Wandel in den Einstellungen zu Kriminalität und Strafe ist in


den letzten Jahren viel publiziert worden. Die Mehrzahl der Beiträge ist
eher allgemein gehalten und beschäftigt sich mit Befunden aus Bevölke-
rungsumfragen, mit der Rolle der Medien oder mit den zahlreichen Geset-
zesänderungen, die das Sanktionssystem beginnend mit dem Gesetz zur
Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom
26.1.1998 2 umgestaltet haben. Über die Strafeinstellungen der Akteure in
Politik und Justiz, die für die Umgestaltung des Sanktionssystems die Ver-
antwortung tragen, ist demgegenüber nur wenig bekannt geworden. Anzu-
nehmen ist zwar, dass die Einstellungen der Akteure an dem allgemeinen
gesellschaftlichen Einstellungswandel teilhaben, dass also auch in den fach-
lich einschlägigen Kreisen eine Zunahme der Punitivität zu verzeichnen ist.
Anzunehmen ist auf der anderen Seite aber auch, dass spezifische Bedürf-
nisse der Justiz (Ressourcenknappheit, beschränkte Haftplatzkapazitäten)
von den Justizangehörigen anders wahrgenommen werden als von der brei-
ten Öffentlichkeit und dass auf der justizpraktischen Ebene im Rahmen der
allgemeinen Gesetze nach differenzierenden Lösungen gesucht wird. Schon
vergleichsweise früh haben Kury u. a. auf die "paradoxen" Signale hinge-
wiesen, die die Justiz aussende; zwar werde das Strafmaß in weiten Berei-
chen erhöht, aber gleichzeitig steige auch die Aussetzungsquote. 3
Fragt man vor diesem Hintergrund, welche Forschungsbefunde zu den
Strafeinstellungen der Justizangehörigen vorliegen, zeigt sich, dass sich die
eher schmale Forschung auf zwei Akteursgruppen konzentriert: auf die
Justizangehörigen als die Entscheidungsträger auf der einen und auf Jura-
studierende als die künftigen Entscheidungsträger in der Justiz auf der ande-
ren Seite. Der erste Ansatzpunkt lässt sich dabei noch weiter ausdifferenzie-
ren in Untersuchungen zur individuellen und zur justiziellen Punitivität. Mit
ersterer ist die namentlich von Streng begründete Forschung zu den persön-
lichen Annahmen, Einstellungen, Werten und Konzepten der Justizangehö-
rigen gemeint,4 mit letzterer die Forschung zu den sich in konkretem justi-
ziellern Handeln ausdrückenden Strafmentalitäten. 5 Der zweite Ansatzpunkt
wurde und wird an etlichen Universitäten praktiziert, namentlich ebenfalls
von Streng6 , aber etwa auch von Kreuzer 7 oder Kinzig. 8 Die wiederholt

2 BGBI. I, S. 160~ dazu genauer Schäch NJW 1998, 1257 ff.


3 Kury/Kania/Obergfell-Fuchs KrimJ 8. Beiheft 2004, 74 f.
4 Streng Strafzumessung und relative Gerechtigkeit, 1984~ aus jüngerer Zeit Schott u.a. Der
Anstieg der Belegung im Justizvollzug Niedersachsens und Schleswig-Holsteins, 2004,
S. 297 ff.
5 Vgl. hierzu etwa die Analysen von Kury/Kania/Obergfell-Fuchs (Fn. 3), 66 ff.~ Ku-
ry/Obergfell-Fuchs FS Schwind, 2006, S. 1033 tf.~ Meier StV 2008, 263 ff.~ ders. FS Rüping,
2008, S. 73 ff.~ Heinz FS Strätz, 2009, S. 233 ff.
6 Zuletzt Streng FS Kreuzer, 2. Auf]. 2009, S. 852 ff.
"Hunde, die bellen, beißen nicht" 169

durchgeführten Studierendenbefragungen zeigen dabei, dass Jurastudieren-


de liberalen kriminalpolitischen Positionen heute deutlich distanzierter
gegenüberstehen als in der Vergangenheit. Zunehmend werden härtere
Sanktionen bis hin zur Todesstrafe befürwortet, und selbst menschen-
rechtswidrige Maßnahmen wie der Einsatz staatlicher Folter werden von
einern relevanten Anteil der Studierenden gutgeheißen.
Die bisherigen Forschungen leiden darunter, dass sie die individuellen
Strafeinstellungen als eine statische Größe erfassen. Unabhängig davon,
welche Items für die Punitivitätsmessung verwendet werden, reduzieren
sich die Feststellungen immer auf die Erhebung eines bestimmten Quan-
tums an Punitivität, das zwar zu anderen Quanten in Beziehung gesetzt
werden kann, das aber für sich genommen nicht veränderlich ist. Auch
wenn mit dieser Vorgehensweise hochinteressante Informationen gewonnen
werden können - etwa bei dem wiederholten Blick auf die Strafeinstellun-
gen Studierender -, bleibt doch das Problem, dass die intra-individuellen
Veränderungen der Punitivität auf diese Weise nicht erfasst werden. Die
methodisch bedingte Beschränkung der bisherigen Untersuchungen ver-
sperrt den Blick darur, dass sich die StrafeinsteIlungen der Probanden über
die Zeit hinweg verändern können, dass sie - möglicherweise - keine kon-
stante Größe sind, sondern unter dem Einfluss individueller Erfahrungen,
sich verändernder gesellschaftlicher Verhältnisse oder auch unter dem vari-
ablen Druck berufspraktischer Notwendigkeiten dem Wandel unterliegen
können. Adäquat erfasst werden können diese intra-individuellen Verände-
rungen nicht mit Querschnittsuntersuchungen, wie sie den bisherigen For-
schungen zugrunde liegen, sondern nur mit Längsschnittstudien mit Panel-
design, bei denen die Punitivität in derselben Stichprobe zu unter-
schiedlichen Zeitpunkten gemessen wird.
Die skizzierten Überlegungen bildeten den Ausgangspunkt für die Kon-
zeptionierung der "Hannover Längsschnittstudie zur Entwicklung von
Strafeinstellungen Studierender", über die im Folgenden berichtet wird. Um
für das bessere Verständnis der Entwicklungen im strafrechtlichen Sankti-
onssystem eine empirische Grundlage zu schaffen, wurde an der Universität
Hannover eine Längsschnittstudie begonnen, in der die Entwicklung der
Punitivität über einen Zeitraum von 10 Jahren beobachtet werden soll. Als
Ausgangspunkt rur die Kohortenbildung wurde der Beginn des Jurastudi-
ums gewählt, da anzunehmen ist, dass sich die spezifischen Aspekte in den
Strafeinstellungen der Justizangehörigen ab diesem Zeitpunkt zu entwickeln
beginnen. Untersucht werden soll in der hier vorgestellten Studie einerseits,
welchen Einfluss das Studium, andererseits, welchen Einfluss die Konfron-

7 Zuletzt Kreuzer FS Raiser, 2005, S. 539 ff.


8 Kinzig FS Kreuzer (Fn. 6), S. 383 ff.
170 Bernd-Dieter Meier

tation mit der Berufspraxis auf die Entwicklung der Strafeinstellungen hat.
Die Studie geht von der Hypothese aus, dass die Punitivität über den Zeit-
raum von 10 Jahren hinweg einen U-kurvenförmigen Verlauf nimmt. Zu
Beginn des Studiums, so wird angenommen, ist die Punitivität vergleichs-
weise hoch. Die Studierenden beginnen das Studium mit denselben Einstel-
lungen, die sich auch in anderen Kreisen der Bevölkerung finden lassen: Sie
beurteilen die Tätigkeit der Strafjustiz kritisch ("zu lasch") und gehen davon
aus, dass mit einem härteren Durchgreifen gegen Straftäter bessere Erfolge
erzielen ließen. Im Verlauf des Studiums - so die Annahme - sinkt die
Punitivität ab, weil die Studierenden im Studium mit immer differenzierte-
ren Informationen über Kriminalität und Strafe konfrontiert werden; die
strafjustizielle Tätigkeit erscheint ihnen nicht mehr so einfach wie zu Be-
ginn des Studiums. Die Annahme der sinkenden Punitivität stützt sich auf
die Untersuchungen von Greve u. a., die gezeigt haben, dass das Punitivi-
tätsniveau in Befragungen dann signifikant geringer wird, wenn die Ant-
worten nicht intuitiv-spontan, sondern reflektiert-rational gegeben werden. 9
Sobald die Studierenden im Referendariat oder beim Berufseinstieg mit der
Praxis konfrontiert werden, wird hingegen mit einem erneuten Anstieg der
Punitivität gerechnet. Anzunehmen ist, dass sich die Probanden ab diesem
Zeitpunkt wieder an die in der breiteren Öffentlichkeit vorherrschenden
Einstellungen erinnern und sich insoweit um eine Anpassung bemühen. 10
Nicht ausgeschlossen erscheint aber auch, dass sich mit der praktischen
Erfahrung im Strafjustizsystem und der Beobachtung der Wirkungen, die
von einzelnen Strafmaßen (nicht) ausgehen, das Strafschwereempfinden
verändert; Justizpraktiker empfinden bestimmte Strafformen möglicherwei-
se als weniger schwer als dies Studierende tun und zeigen deshalb eine
größere Bereitschaft zur Verhängung härterer Sanktionen. 11

II. Methode
Leitgedanke der Studie ist die Annahme, dass die Einstellungen zu Kri-
minalität und Strafe keine statische, unveränderliche Größe sind, sondern
dem Wandel unterliegen und durch Erfahrungen, berufspraktische Notwen-
digkeiten ("Handlungszwänge") und die Einstellungen Dritter (Freunde,
Kollegen, Medien) geprägt werden. Als "Einstellungen" werden dabei die

9 Löbmann/Suhling/Greve soFid Kriminalsoziologie + Rechtssoziologie 2007, 14.


10 Vgl. Streng Strafmentalität und juristische Ausbildung, 1979, S. 23 ff., 77 ff.
11 Suhling/Löbmann/Greve Zeitschrift für Sozialpsychologie 2005, 210; vgl. in diesem Zu-
sammenhang auch die Überlegungen von Sessar Wiedergutmachen oder Strafen. Einstellungen
in der Bevölkerung und der Justiz, 1992, S. 225 ff.
"Hunde, die bellen, beißen nicht" 171

Grundhaltungen zu dem Thema "Kriminalität und Strafe" bezeichnet, die


Bewertungen enthalten, also Zustimmung oder Ablehnung ausdrücken, und
die, auch wenn es sich insoweit nicht um unveränderliche Merkmale han-
delt, doch über einen längeren Zeitraum stabil bleiben. Wie auch Einstel-
lungen zu anderen Themen haben die Einstellungen zu Kriminalität und
Strafe eine affektive (gefuhlsgetragene), eine kognitive (begründungsgetra-
gene) und eine behaviorale (Handlungsbereitschaft signalisierende) Kom-
ponente, die sich über entsprechende Äußerungen oder auch über konkretes
Entscheidungshandeln vermitteln und mit den entsprechenden Instrumenten
erhoben werden können. 12 "Punitivität" erfasst einen Ausschnitt aus den
Einstellungen zu Kriminalität und Strafe und bezeichnet die Zustimmung zu
harten, an Vergeltung, Ausgrenzung und Sicherheit für die Allgemeinheit
orientierten Sanktionen.
Die Untersuchung ist als Längsschnittstudie mit Vergleichsgruppendesign
angelegt. Mit der Anlage als Längsschnittstudie ist die wiederholte Messung
der Strafeinstellungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten und damit die
Überprüfung der skizzierten Hypothese möglich, dass die Punitivität der
Jura-Studierenden einen U-kurvenförmigen Verlauf nimmt. Mit dem Ver-
gleichsgruppendesign soll überprüft werden, ob die "U-Hypothese" ein
Spezifikum der juristischen Fachausbildung ist oder ob es sich insoweit um
ein allgemeines, auch in anderen Studiengängen zu beobachtendes Phäno-
men handelt und damit eine vom konkreten Fach unabhängige, fur Studie-
rende generell gültige Entwicklung der StrafeinsteIlungen kennzeichnet. Als
Vergleichsgruppe wurden Medizinstudierende ausgewählt, da das Medizin-
studium ebenfalls anthropozentrisch ausgerichtet ist und die medizinische
Fachausbildung mit ihrer langen Berufseinstiegsphase auch von ihrem äuße-
ren Ablauf her ähnlich strukturiert ist wie die juristische Fachausbildung.
Der Vorteil einer Längsschnittstudie, die mit wiederholten Uährlichen)
Erhebungen arbeitet, besteht darin, dass die Erhebungsinstrumente in ge-
wissem Rahmen variiert werden können, um den Gegenstand aus unter-
schiedlichen Perspektiven zu erfassen. 13 Das Grundmodul der "Hannover
Längsschnittstudie" bildet die Erhebung der Strafeinstellungen der Studie-
renden mittels eines standardisierten, quantitativ auswertbaren Fragebogens.
Der Fragebogen enthält sowohl global formulierte Items, zu denen die Stu-
dierenden ihre Zustimmung oder Ablehnung äußern können, als auch zwei
Fallgeschichten, bei denen sie die Rolle des Richters einnehmen und die
Rechtsfolgen festlegen sollen. Die Itemabfrage erfasst je nach Formulierung
stärker die affektiven oder die kognitiven Aspekte der Strafhärteeinstellun-
gen, während mit der Bitte um die Festlegung der Rechtsfolgen eher die

12 Suhling/Löbmann/Greve a.a.O., 204 f.~ Simonson ZJJ 2009, 32 f.


13 Für die Entwicklung der Erhebungsinstrumente danke ich Frau Ulrike Häßler.
172 Bernd-Dieter Meier

behaviorale Seite angesprochen wird. 14 Zusätzlich werden im Zusammen-


hang mit den Vignetten weitere Fragen gestellt, mit denen auf die Erfassung
der Schwere der geschilderten Tat, die Schwere der verhängten Strafe und
die Relevanz einzelner Strafzwecküberlegungen abgezielt wird. Die letzte-
ren Erhebungen in den Zusammenhang mit den Vignetten zu stellen, ist
deshalb sinnvoll, weil sich in früheren Untersuchungen gezeigt hat, dass die
von Befragten gegebenen Antworten maßgeblich von dem Kontext abhän-
gig sind, in dem die Fragen gestellt werden; wird dieser Kontext nicht mit-
erfasst, verlieren die Daten an Aussagekraft. 15 Der in Hannover eingesetzte
Fragebogen schließt mit einem Teil zur Todesstrafe ab, was wegen der
Vergleichbarkeit mit anderen Untersuchungen notwendig ist. Auch hier
erschöpft sich der Fragebogen allerdings nicht in der Standardfrage, sondern
versucht - zumindest in der ersten Erhebungswelle - genauer aufzuklären,
welche Einstellungen die Studierenden zu bestimmten Pro- und Contra-
Argumenten aus der rechtspolitischen Diskussion über die Todesstrafe
haben und (mittels einer offenen Frage) aus welchen Quellen sie ihr Wissen
zu dieser Thematik beziehen.
Dieses "Grundgerüst" kann in vielfältiger Weise angereichert werden. In
der zweiten Erhebungswelle ist es mit einer Befragung zur bisherigen eige-
nen Delinquenz der Studierenden kombinie11 worden; in späteren Erhebun-
gen sind Kombinationen mit einer Opferbefragung oder auch mit einer
Einschätzung zum Stellenwert des Studiums fur die Einstellungsbildung
denkbar. Ebenfalls möglich ist die Kombination nicht-standardisierten,
leitfadengestützten face-to- face Interviews, die qualitativ ausgewertet wer-
den, ein Ansatz, der in der Punitivitätsforschung bislang erst selten beschrit-
ten worden ist. 16 In der ersten Erhebung wurde der Fragebogen in der her-
kömmlichen Form des vervielfältigten, mehrblättrigen Papierfragebogens
eingesetzt, der in der Strafrechtsvorlesung ausgegeben und von dem aus die
Daten später rur die statistische Auswertung eingelesen wurden. Für die
zweite Erhebung wurde das Verfahren wegen des übermäßig hohen Auf-
wands auf eine internet-basierte online-Befragung umgestellt. Aus methodi-
scher Sicht ist diese Umstellung nicht unproblematisch, da bei der online-
Befragung mit einem veränderten Antwortverhalten gerechnet werden
muss. Die hierdurch bedingten Veränderungen dürften sich jedoch in Gren-
zen halten. Aus der Punitivitätsforschung ist zwar bekannt, dass schriftliche
Befragungen zu anderen Ergebnissen fuhren als mündliche, face-to- face
Befragungen. Bei schriftlichen Befragungen antworten die Probanden we-

14 Suhling/Löbmann/Greve (Fn. 11), 205 ff.


15 Kury u. a. (Fn. 3), 57 ff.; Kury/Obergfell-Fuchs FS G. Albrecht, 2008, S. 233 ff.
16 Kania Kriminalitätsvorstellungen in der Bevölkerung, Diss. phi!., 2004; Kury u. a.
(Fn. 3), 75 ff., 83.
"Hunde, die bellen, beißen nicht" 173

niger LS. der sozialen Erwünschtheit; schriftlich äußern sie sich unver-
fälschter, ehrlicher und offener. I7 Diese Divergenz wirkt sich aber bei der
Umstellung auf die online-Befragung nicht aus.
Die Untersuchungsgruppe bilden diejenigen Studierenden, die im Winter-
semester 2008/9 an der Universität Hannover mit dem Jurastudium begon-
nen haben. Von den insgesamt 315 Studierenden haben sich an der ersten
Erhebung, die im Zusammenhang mit der Strafrechtsvorlesung bereits in
der ersten Veranstaltungswoche, also noch vor der ersten Konfrontation mit
strafrechtlichen Inhalten, stattgefunden hat, 202 Personen (64,1 %) beteiligt.
Die Vergleichsgruppe bilden die Studierenden, die im Wintersemester
2008/9 an der Medizinischen Hochschule Hannover mit dem Studium im
Fach Humanmedizin begonnen haben. Insgesamt handelte es sich hierbei
um 270 Studierende. Anders als an der Juristischen Fakultät konnten die
Studierenden hier nicht im Rahmen einer Vorlesung, sondern erst im An-
schluss an eine Vorlesung befragt werden, was auf die Teilnahmebereit-
schaft erheblichen Einfluss hatte. Insgesamt beteiligten sich hier an der
ersten Erhebung 46 Studierende (17,0 % des Studiengangs Humanmedizin),
bei denen es sich weit überwiegend um Erstsemester handelte (ein Student
war bereits im 3. Semester). In beiden Gruppen nahmen überproportional
viele Frauen an den Befragungen teil (Frauenanteil Jura 68,1 0/0; Medizin
71,7 %). Das Längsschnittdesign der Untersuchung ermöglicht es in späte-
ren Jahren, nicht nur die Entwicklung der Jura- und der Medizinstudieren-
den gegenüberzustellen, sondern auch innerhalb der Juristengruppe weitere
Binnendifferenzierungen vorzunehmen. So erlaubt es das Untersuchungsde-
sign etwa, die Entwicklung der StrafeinsteIlungen von Justizangehörigen
(Richtern und Staatsanwälten) mit denen von Rechtsanwälten zu kontrastie-
ren oder der Frage nachzugehen, ob es Unterschiede zwischen denjenigen
gibt, die sich für eine Karriere im strafrechtlichen Bereich entscheiden, und
denjenigen, die sich für das Zivilrecht oder das Öffentliche Recht entschei-
den oder die juristische Fachausbildung ganz aufgeben.

111. Ergebnisse
Aus der Fülle des Materials, das die erste und die im Wintersemester
2009/10 durchgeführte zweite Erhebungswelle erbracht haben, kann hier
aus Raumgründen nur auf einen kleinen Ausschnitt näher eingegangen
werden. Dabei werden hier - nicht zuletzt wegen des hohen Interesses des
Jubilars an dieser Thematik - Fragen der Strafzumessung in den Mittel-
punkt gestellt.

17 Kury MschrKrim 77 (1994), 22 ff.~ ders. FS Kreuzer (Fn. 6),472 f.


174 Bernd-Dieter Meier

1. Bewertung der gegenwärtigen Strajzumessungspraxis


a) Eine Möglichkeit, die Einstellung der Studierenden zur derzeitigen
Strafzumessungspraxis zu erfassen, besteht in der Durchführung eines
Ist/Soll-Vergleichs. 18 Die Studierenden werden zunächst danach gefragt,
wie hoch sie, ausgehend von 100 im Erhebungsjahr wegen Raubdelikten
bzw. Vergewaltigung und sexueller Nötigung Verurteilten den Anteil derje-
nigen schätzen, die eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung erhalten. Anschlie-
ßend werden sie gefragt: "Wenn Sie sich diese Delikte unabhängig vom
Einzelfall vorstellen, bei wie vielen von den 100 Verurteilten sollte Gefäng-
nisstrafe ohne Bewährung vollstreckt werden?"
Bei der Frage nach den Raubdelikten wurden von den Erstsemestern im
Durchschnitt 37 tatsächlich vollstreckte Freiheitsstrafen geschätzt. Die
Befragten unterschätzten damit die Sanktionspraxis der Gerichte nicht uner-
heblich, da die Verurteilungsquote zu Freiheitsstrafe ohne Bewährung bei
den Raubdelikten im Jahr 2008 im Erwachsenenbereich tatsächlich bei
50,5 % lag. 19 Auf die Frage, wie viele Verurteilte Freiheitsstrafe ohne Be-
währung erhalten sollten, ergab sich ein Durchschnittswert von 56, also ein
Betrag, der 19 Prozentpunkte oberhalb des vermuteten Ist-Zustands lag. Die
Differenz, die sich mit geringen, wenngleich signifikanten Unterschieden
sowohl bei den Jura- als auch bei den Medizinstudierenden zeigte, lässt sich
als Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen richterlichen Sanktionspraxis
und Wunsch nach mehr vollstreckter Freiheitsstrafe deuten.
Noch deutlicher waren die Unterschiede im Ist/Soll-Vergleich bei den Se-
xualdelikten. Die Studierenden schätzten, dass im Durchschnitt 41 von 100
Personen eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung erhalten, wobei diese Schät-
zung überraschend exakt ist, da im Jahr 2008 auch nach der Strafverfol-
gungsstatistik 41,0 % der wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung
Verurteilten mit Freiheitsstrafe ohne Bewährung belegt wurden. Der Mit-
telwert der Angaben auf die Frage, bei wie vielen von 100 Verurteilten
Gefängnisstrafe vollstreckt werden sollte, lag demgegenüber bei 86 Perso-
nen. Die Studierenden wünschten sich also einen mehr als doppelt so hohen
Anteil von vollstreckten Freiheitsstrafe, was im Bereich der Sexualdelikte
eine deutlich größere Unzufriedenheit mit der richterlichen Sanktionspraxis
signalisiert als bei den Raubdelikten. Zwischen den beiden Studiengängen
gab es insoweit keine signifikanten Unterschiede, wohl aber - erwartungs-
gemäß - zwischen den Geschlechtern: Die weiblichen Befragten sahen mit
einer Differenz von 48 Prozentpunkten eine signifikant größere Diskrepanz
zwischen den Gefängnisstrafen, die verhängt werden sollten, und den tat-

18 Ansatz übernommen aus der schottischen Studie "Public attitudes towards sentencing and
alternatives to imprisonment", 2002.
19 Statistisches Bundesamt, Strafverfolgung 2008, Tab. 3.1.
"Hunde, die bellen, beißen nicht" 175

sächlich verhängten Strafen als die männlichen Befragten, bei denen die
Differenz im Durchschnitt bei 40 Prozentpunkten lag.
b) Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass man die Befragten um die
Beurteilung der gegenwärtigen richterlichen Strafzumessungspraxis bittet.
In der "Hannover Längsschnittstudie" wird dabei in der Weise vorgegan-
gen, dass die Studierenden gebeten werden, die Strafzumessungspraxis auf
°
einer 7-stufigen Skala von -3 ("viel zu gering") über ("angemessen") bis
+3 ("viel zu hoch") zu bewerten. Die Befragten werden zunächst um eine
Gesamteinschätzung der Strafzumessungspraxis gebeten, im Anschluss
werden die Fragen auf einzelne Deliktsbereiche fokussiert. Bei jedem Item
besteht zusätzlich die Möglichkeit, die Kategorie "weiß nicht" anzukreuzen.
Auch bei diesem Ansatz zeigte sich eine deutliche, wenngleich delikts-
spezifisch unterschiedliche Unzufriedenheit der Studierenden. Die General-
frage nach den "Strafen im Allgemeinen" ergab einen Durchschnittswert
von -1,2. Ausgehend von dem Wert 0, bei dem die Sanktionspraxis als "an-
gemessen" eingestuft wird, macht der Wert von -1,2 deutlich, dass die rich-
terliche Strafzumessung über alle Delikte hinweg im Durchschnitt rur zu
gering gehalten wird. Die deliktsspezifische Aufschlüsselung dieser Ein-
schätzung zeigt, dass sich der Durchschnittswert bei manchen Delikten dem
Nullpunkt annähert, die Unzufriedenheit also weniger stark ausgeprägt ist.
Diese Annäherung an den Nullpunkt wurde deutlich bei den Delikten
"Diebstähle und Einbrüche" (Mittelwert -0,3), "Rauschgifthandel und Dro-
genkriminalität" (-0,6) sowie "Bestechung und Korruption" (-1,1). Umge-
kehrt wurde bei den Gewalt- und Sexualdelikten eine deutlich stärkere Un-
zufriedenheit mit der richterlichen Strafzumessungspraxis erkennbar. Eine
die Gesamteinschätzung übersteigende Entfernung vom Nullpunkt zeigte
sich bei den Delikten "Körperverletzungen" (-1,3), "Mord und Totschlag"
(-1,6) sowie "Vergewaltigung und sexuelle Nötigung" (-2,3). Zwischen der
beiden Gruppen (Jura und Medizin) bestehen keine signifikanten Unter-
schiede, wenngleich sich die Mittelwerte der Medizinstudierenden eher in
Richtung Nullpunkt nähern als die der Jurastudierenden; letztere schätzen
die Schwere der verhängten Strafen also in der Tendenz noch etwas gerin-
ger ein.
c) Fazit beider Auswertungsansätze ist, dass die Studienanfänger mit der
gegenwärtigen richterlichen Strafzumessungspraxis nicht zufrieden sind.
Sowohl was die Häufigkeit der Verhängung vollstreckter Freiheitsstrafen
als auch was die nicht an eine konkrete Sanktionsart gekoppelte Schwere
der verhängten Strafen betrifft, zeichnet die Befragung ein deutliches Bild:
Die Erstsemester wünschen sich von der Justiz ein härteres, rigideres Vor-
gehen. Dabei lassen beide Auswertungsansätze erkennen, dass die Bewer-
tung mit den angesprochenen Delikten variiert: Bei den Eigentumsdelikten
("Raubdelikte" im Ist/Soll-Vergleich, "Diebstähle und Einbrüche" bei der
176 Bernd-Dieter Meier

Strafmaßbeurteilung) ist die Unzufriedenheit der Studierenden geringer als


bei den gegen die höchstpersönlichen Rechtsgüter gerichteten Delikten
("Körperverletzungen", "Mord und Totschlag" sowie "Vergewaltigung und
sexuelle Nötigung"). Konsistent wird in beiden Auswertungsansätzen deut-
lich, dass die Sexualdelikte eine Sonderstellung einzunehmen scheinen;
sowohl der Ist/Soll-Vergleich als auch die Strafmaßbeurteilung zeigen, dass
die derzeitige richterliche Strafzumessungspraxis, die überraschend exakt
eingeschätzt wird, weit von den Vorstellungen der Studienanfanger von der
"eigentlich" für richtig gehaltenen Strafe entfernt ist. Zwischen den beiden
untersuchten Gruppen lassen sich insoweit kaum Unterschiede erkennen;
Jura- und Medizinstudierende liegen in ihren Bewertungen nahe beieinan-
der.

2. Eigene Strafmaßentscheidungen
a) Wie im Zusammenhang mit den methodischen Ausführungen bereits
gesagt wurde, wird in der "Hannover Längsschnittstudie" auch mit Vignet-
ten gearbeitet. Konkret geht es um zwei Fallschilderungen, einen Einbruch
und eine Vergewaltigung. Zur Verdeutlichung seien die Fallschilderungen
wiedergegeben. Fall 1 lautet: "Ein 19-jähriger Lehrling bricht nachts in ein
Einfamilienhaus ein und entwendet einen tragbaren DVD-Player im Wert
von 500 Euro. Bislang stand der Betroffene vor keinem Gericht. Ein Sozial-
arbeiter, der vom Gericht beauftragt wurde, empfiehlt dem Schüler, das
Diebesgut zurückzugeben. Kurz bevor der Gerichtstermin stattfindet, gibt
der Lehrling den DVD-Player zurück, leistet Schadensersatz für den Ein-
bruch und entschuldigt sich für seine Tat. "20 Fall 2 ist folgendermaßen for-
muliert: "Ein 28-jähriger lediger Elektriker vergewaltigt eine nachts an der
Bushaltestelle wartende, ihm unbekannte 17-jährige Frau. Die Hilferufe des
Opfers erstickt der Täter dadurch, dass er ihr den Hals zudrückt, bis sie
besinnungslos ist. Vor der Tat hat der Täter in einer Diskothek vergeblich
versucht, eine ehemalige Freundin zum Geschlechtsverkehr zu überreden.
Verärgert über seinen Misserfolg und mit etwa 1,4%0 Blutalkohol trifft er
dann sein Opfer an einer abgelegenen Bushaltestelle; als auch hier seine
Annäherungsversuche scheitern, kommt es zur Tat. Der Täter ist zweimal
wegen vorsätzlicher Körperverletzung vorbestraft; die Bewährungszeit der
letzten Strafe (6 Monate Freiheitsstrafe) ist einen Monat vor der Tat abge-
laufen. "21 Im ihrem Unrechts- und Schuldgehalt sind beide Fälle deutlich
unterschiedlich. Aus strafzumessungsrechtlicher Sicht werden eine Vielzahl
von Strafzumessungsfaktoren angesprochen, die bei Fall 1 eher in eine für

20 In leicht abgewandelter Form übernommen von GabriellGreve FS Barth, 1996, S. 195.


21 Übernommen von Streng (Fn. 4), S. 99.
"Hunde, die bellen, beißen nicht" 177

den Täter günstige, in Fall 2 eher in eine belastende Richtung drängen. In


beiden Fällen wurden die Studierenden gebeten sich vorzustellen, sie müss-
ten in dem jeweiligen Fall eine Entscheidung treffen. Für die Entscheidung
wurden ihnen 7 Kategorien vorgegeben: "Einstellung des Verfahrens",
"Einstellung gegen Geldauflage", "Soziale Dienste (Täter-Opfer-Ausgleich,
Sozialstunden ... )", "Geldstrafe", "Freiheitsstrafe auf Bewährung", "Frei-
heitsstrafe ohne Bewährung", "Lebenslang"; bei der Einstellung gegen
Geldauflage und der Geldstrafe sollten zusätzlich Eurobeträge, bei der Frei-
heitsstrafe mit und ohne Bewährung die Anzahl der Jahre bzw. Monate
angegeben werden. 22
In Fall 1 entschied sich die Mehrheit der Befragten (71,6 %) für die Sank-
tion der Sozialen Dienste (Kategorie 3). Immerhin 12,3 % wählten eine
härtere Sanktion (Freiheitsstrafe mit Bewährung [10,7 0/0] oder ohne Be-
währung [1,6 %]). 4,1 % der Befragten entschieden sich für eine folgenlose
Einstellung. Zwischen den Studiengängen zeigten sich signifikante Unter-
schiede. Der Mittelwert der in der Härte der Strafen ansteigenden Skala (1 =
folgenlose Einstellung bis 7= Lebenslang) lag bei den Erstsemestern Jura
höher (m= 3,4; s= 0,9) als bei den Erstsemestern Medizin (m=2,9; s=0,9).
Zwischen den Geschlechtern gab es keine signifikanten Unterschiede.
In Fall 2 wurden erwartungsgemäß sehr viel härtere Strafen angegeben als
im ersten Fall. Dabei unterschieden sich die Strafmaßentscheidungen zwi-
schen den beiden Studiengängen nicht signifikant voneinander. Die häufigs-
te Sanktion war die unbedingte Freiheitsstrafe (Jura: 74,2 %; Medizin:
67,4 %), gefolgt von der lebenslangen Freiheitsstrafe (Jura: 21,7 %; Medi-
zin: 30,4 %). 4 % der Jurastudenten wählten die Freiheitsstrafe auf Bewäh-
rung (keiner bei den Medizinern). Einzelne Nennungen erfolgten bei sozia-
len Diensten (ein Medizinstudent). Auf der siebenstufigen Skala lag der
gemeinsame Mittelwert bei 6,2 (s= 0,5). Hinsichtlich der verhängten Sank-
tionen ergaben sich zwischen den Geschlechtern keine signifikanten Unter-
schiede. Anders als in Fall 1 war es in Fall 2 allerdings sinnvoll, weiter nach
der Höhe der von den Befragten vorgesehenen Freiheitsstrafe zu fragen.
Insoweit wurden im Durchschnitt etwa 6 Jahre angegeben (m= 72,5 Mona-
te; s= 2,9 Monate); der Median lag bei 60 Monaten (5 Jahre). Als geringste
Strafe wurden 6 Monate und als höchste Strafe 156 Monate (13 Jahre) an-
gegeben. Die Höhe der Freiheitsstrafen unterschied sich in den beiden Stu-
dierendengruppen nicht. Statistisch verschieden waren jedoch die Haftzeit-
angaben zwischen den Geschlechtern: Die weiblichen Befragten gaben im
Durchschnitt fast 13 Monate weniger Haftzeit an als die männlichen Befrag-
ten.

22 Zur Problematik dieser Vorgehensweise Suhling/Löbmann/Greve (Fn. 11),208 ff.


178 Bernd-Dieter Meier

b) Was bedeuten diese Verteilungen für das hier diskutierte Problem der
Punitivität? Für sich genommen machen die dargestellten Verteilungen
lediglich deutlich, dass die in den Vignetten mitgeteilten Strafzumessungs-
faktoren von den Studierenden aufgegriffen und in konkrete Strafmaßent-
scheidungen umgesetzt werden. Dabei ist es durchaus interessant zu sehen,
dass sich die einzelnen Gruppen kaum voneinander unterscheiden. Zwar
lassen die Jurastudierenden in Fall 1 eine signifikant höhere Bereitschaft zur
Verhängung härterer Sanktionen erkennen; in Fall 2 imponiert jedoch die
Häufigkeit, mit der die Medizinstudierenden die lebenslange Freiheitsstrafe
verhängen wollen. Zudem überrascht in Fall 2 die signifikant geringere
Strafschwere, die die weiblichen Studierenden rur richtig halten. Über die
Punitivität der Befragten ist mit alledem jedoch noch nichts gesagt; allein
aus den Strafmaßangaben lässt sich nicht ersehen, für wie hart die Studie-
renden ihre Urteile halten. Offen ist, ob die Befragten mit ihren Urteilen das
aus ihrer Sicht angemessene Strafmaß treffen oder ob sie "nach oben" oder
"unten" abweichen und eine besondere Härte oder Milde walten lassen.
Um aus den Strafmaßentscheidungen Erkenntnisse über die Punitivität
der Befragten zu gewinnen, wird in der "Hannover Längsschnittstudie" ein
Tat-/Strafschwerevergleich durchgeführt. Grundgedanke des Ansatzes ist
es, sowohl die Schwere der in den Vignetten dargestellten Taten als auch
die Schwere der von den Befragten ausgesprochenen Strafen auf zwei mit-
einander vergleichbaren Skalen zu erfassen und die Skalierungen hierbei im
Fragebogen nicht vorzugeben, sondern - entsprechend den Empfehlungen
von Suhling, Löbmann und Greve 23 - innerhalb eines gesetzten Rahmens
von den Befragten selbst vornehmen zu lassen. Auf diese Weise ist es mög-
lich, die Schwere der von den Befragten ausgesprochenen Strafen auf die
von ihnen empfundene Schwere der Taten zu beziehen und zu ermitteln, ob
die jeweils für richtig gehaltene Strafschwere der Tatschwere entspricht
oder ob sie darüber oder darunter liegt. Entsprechend diesem Ansatz werden
die Studierenden bei beiden Vignetten einmal gefragt: "Wie schätzen Sie
die Schwere des Verhaltens des Lehrlings/Elektrikers ein? Ordnen Sie dem
Verhalten bitte eine Zahl zu (Setzen Sie zum Vergleich Mord = 100)"24, und
wenig später werden sie gefragt: "Wie hart empfinden Sie die von Ihnen
verhängte Strafe? (im Vergleich zu Lebenslang = 100)". Beide Skalen sind
im geltenden Recht fest verankert, in dem es kein schwereres Delikt als den
Mord und keine härtere Strafe als die lebenslange Freiheitsstrafe gibt.
Vor diesem Hintergrund wurde die Tatschwere von den Studierenden in
Fall 1 (Wohnungseinbruchsdiebstahl; freiwillige Schadenswiedergutma-

23 Suhling/Löbmann/Greve (Fn. 11), 210 f.


24 Übernommen aus Endres Sanktionszweckeinstellungen im Rechtsbewußtsein von Laien,
1992, S. 331.
"Hunde, die bellen, beißen nicht" 179

chung) im Durchschnitt bei 19,6 eingeordnet (s= 15,8; med= 15); die nied-
rigste Zahl betrug 1, das Maximum 100. Statistisch unterschied sich die
Gruppe der Jurastudierenden nicht von der der Medizinstudierenden. Der
Vergleich der Mittelwerte zeigt jedoch, dass die Juristen das Verhalten als
weniger schwer empfanden (m= 19,2; s= 1,0) als die Mediziner (m=21,3; s=
2,8).
Die Härte der verhängten Strafe lag im Mittel über beide Gruppen hinweg
bei 16,4 (s= 16,7). Im Minimum wurde hier 0 (Sanktionsentscheidung:
folgenlose Einstellung [n= 8] oder soziale Dienste [n= 6]) und als Höchst-
zahl 80 fur bedingte oder unbedingte Freiheitsstrafen (n= 3) vergeben. Der
Median betrug 10. Die Erstsemester der unterschiedlichen Studienrichtun-
gen gaben dabei identische subjektive Strafhärtewerte an, obwohl die Juris-
ten, wie beschrieben, "objektiv" signifikant härtere Strafen verhängten.

I I
o I 50 100
Strafhärte
I
Schwere des Verhaltens

Der Vergleich der Mittelwerte zeigt, dass die Werte rur die Schwere des
Verhaltens (m=19,6) und die Strafhärte (m=16,4) nah beieinander liegen.
Die Strafe, die bei der Mehrheit der Befragten Soziale Dienste bedeutete,
wird als geringrugig weniger schwer empfunden als es dem Verhalten des
Lehrlings entspricht.
In Fall 2 (Vergewaltigung; Vorstrafenbelastung) lag der Mittelwert der
Schwereinschätzung des Verhaltens über beide Gruppen hinweg bei 82,9
(s= 12; med= 85) mit einem Minimum von 35 und einem Maximum von
100. Wie im ersten Fall unterschied sich das Antwortverhalten der Medizi-
ner nicht von dem der Juristen; der Mittelwert der Mediziner war jedoch
leicht höher (85,6) als der der Juristen (82,3).
Die Strafhärte betrug im Mittel 62,0 (s= 28,4). Dabei nahm die niedrigste
Strafhärte den Wert 0 (Sanktionsentscheidung: Freiheitsstrafe ohne Bewäh-
rung [n=6] und lebenslänglich [n=2]) und die höchste Nennung den Wert
100 (lebenslänglich [n= 27]) an. Bei der Unterscheidung nach Gruppen ist
zu sehen, dass die Mediziner ihre verhängten Strafen härter empfinden (m=
68,8; s= 23,8) als die Juristen, wobei die Antworten bei den Jura- Erstse-
mester stärker streuen (m= 60,4; s= 29,2); die Unterschiede sind jedoch
nicht signifikant.
180 Bernd-Dieter Meier

o 50 100
Strafhärte Schwere des
Verhaltens

Der Vergleich der Mittelwerte zeigt für Fall 2, dass die Angaben für die
Schwere des Verhaltens (m= 82,9) und die Strafhärte (m= 62,2) anders als
in Fall 1 erheblich divergieren. Das Verhalten des Elektrikers wird als deut-
lich schwerer eingeschätzt als es der verhängten Strafe entspricht, wobei
diese in der großen Mehrzahl der Fälle unbedingte Freiheitsstrafe (zeitig
oder lebenslang) bedeutete. Die Divergenz der Mittelwerte überrascht inso-
fern, als den Studierenden im Fragebogen für die zeitige Freiheitsstrafe
keine Vorgaben gemacht wurden (z.B. "höchstens 180 Monate"); die Stu-
dierenden waren völlig frei und haben sich, sofern eine zeitige Freiheitsstra-
fe gewählt wurde, ohne jede Einengung für eine Durchschnittsdauer von
lediglich 72,5 Monaten (s= 2,9 Monate) entschieden.
c) Ausgangspunkt des Tat-/Strafschwerevergleichs ist die Frage nach der
Punitivität der Studierenden. Der Vergleich macht deutlich, dass die Studie-
renden mit ihren Strafmaßentscheidungen sehr moderat sind: In keinem der
beiden Beispielsfälle verhängen sie Strafen, die sie im Verhältnis zu der
empfundenen Tatschwere als unangemessen hart ansehen; in beiden Fällen
weisen die Strafmaße eher in Richtung Milde. Dies trifft vor allem im zwei-
ten Fall zu, in dem die Mittelwerte für die Tat- und die Strafschwere beson-
ders weit auseinanderfallen, obwohl sich in den Mittelwerten des zweiten
Falls auch Extremwerte widerspiegeln, bei denen die empfundene Strafhärte
mit Null kodiert wurde, während als Sanktion eine unbedingte zeitige oder
sogar lebenslängliche Freiheitsstrafe für richtig gehalten wurde. Im Übrigen
zeigt sich, dass sich die Punitivität der Jurastudierenden nicht wesentlich
von der der Medizinstudierenden unterscheidet. Feststellen lässt sich ledig-
lich, dass die Juristen in Fall 1 "objektiv" härtere Strafen verhängten als die
Mediziner, die sie aber "subjektiv" nicht als härter einstuften; dies mag als
Hinweis auf eine abweichende, weniger "feinfühlige" Wahrnehmung der
Jurastudierenden zu werten sein.

IV. Diskussion
Angesichts des knappen zur Verfügung stehenden Raums muss Vieles of-
fen bleiben. Wenn man aus den Untersuchungsergebnissen ein vorsichtiges
Fazit ziehen will, dann fällt der Blick zwangsläufig auf die erstaunliche
Divergenz, die sich zwischen den beiden hier vorgestellten Untersuchungs-
teilen zeigt: Während in dem ersten Untersuchungsteil, in dem die Studie-
"Hunde, die bellen, beißen nicht" 181

renden die gegenwärtige Strafzumessungspraxis bewerten sollten, eine


erhebliche Unzufriedenheit erkennbar wurde und die Studierenden deutlich
ihren Wunsch nach härteren Strafen artikulierten, wurde in dem zweiten
Untersuchungsteil, in dem die Studierenden eigene Entscheidungen zum
Strafmaß treffen sollten, ein ganz anderes Bild deutlich: Die Befragten
urteilten hier im Mittel eher moderat und blieben mit den von ihnen ver-
hängten Sanktionen hinter der Schwere des rechtswidrigen Verhaltens zu-
rück. In besonders auffälliger Weise trat diese Divergenz bei den Sexualde-
likten zutage.
Was bedeutet dieser Befund? Vordergründig kann man ihn gewiss ver-
niedlichen, indem man ihn mit Sinnsprüchen wie "Also alles halb so
schlimm" oder "Hunde, die bellen, beißen nicht" verallgemeinert. Bei ge-
nauerer Betrachtung kommt man jedoch nicht umhin, in der Divergenz der
Ergebnisse einen Hinweis auf die Anfälligkeit der Einstellungsmessungen
für die Methodik der Untersuchung und die Konstruktion der Erhebungsin-
strumente zu sehen. Dass sich die Befragten im ersten Untersuchungsteil
anders äußern würden als im zweiten, war nach den aus anderen Punitivi-
tätsstudien bekannten Ergebnissen 25 zu erwarten; dass die Divergenz so
deutlich ausfallen würde, überrascht hingegen doch etwas. In methodischer
Hinsicht ist darauf hinzuweisen, dass mit der Einstellungsbefragung im
ersten Teil vermutlich eher die affektive Komponente der Strafeinstellungen
angesprochen wurde; die Befragten antworteten vermutlich eher lustlos und
unreflektiert und gelangten damit über die Reproduktion von Vorurteilen
gegenüber der Justiz ("zu laseh") nicht hinaus. Im zweiten Teil war diese
Möglichkeit des Antwortverhaltens nicht mehr gegeben; schon die ausführ-
liche Fallschilderung verbunden mit der differenzierten Zuordnung von
Sanktionskategorien nach Art und Höhe stellte erhebliche kognitive Anfor-
derungen und führte dementsprechend wahrscheinlich zu einem reflektierte-
ren Antwortverhalten. Damit ist nicht gesagt, dass die Antworten im zwei-
ten Teil zu valideren Ergebnissen fuhren, indem sie die "wahren"
Einstellungen der Studierenden zutreffender wiedergeben. Die bei den Stu-
dierenden vorhandenen Einstellungen werden schlicht auf eine andere Wei-
se angesprochen; auch die unreflektierten Vorstellungen sind in gewisser
Weise "wahr". Eine rechtspolitische Dimension erlangen die Ergebnisse
damit insofern, als sie deutlich machen, wie problematisch es ist, rechtspoli-
tische Schlussfolgerungen auf Umfrageergebnisse zu stützen, die die Straf-
einstellungen der Befragten nur ausschnittweise erfassen. Gerade wenn nur
die affektiven Seiten angesprochen werden, kann ein Eindruck entstehen,
der rechtspolitische Schlussfolgerungen leicht auf ein falsches Gleis gelei-

25 Applegate u.a. Crime & Delinquency 42 (1996), 517 ff.~ weitere Nachw. bei Suhling/
Löbmann/Greve (Fn. 11), 206.
182 Bernd-Dieter Meier

ten kann. Der eingangs zitierte Satz des Jubilars, dass eine Kriminalpolitik
gegen deutliche Mehrheitsmeinungen in der Bevölkerung auf Dauer nicht
möglich sei, ist nach alledem zwar unbezweifelbar richtig. Immer muss
jedoch sorgfältig geprüft werden, wie diese Mehrheitsmeinungen zustande
gekommen sind und inwieweit sie auch bei anderen Erhebungsmethoden
bestehen bleiben.
11. Jugendstrafrecht
Jugendkriminalrecht - qua vadis?

MICHAEL GEBAUER*

I. Ein Blick zum Anfang


Die Kriminalstatistik weist "nicht nur dauernd eine recht erhebliche Be-
teiligung Jugendlicher an strafrechtlichen Verfehlungen" aus; sie lässt zu-
dem unter diesen als besondere und "ständig" wachsende Problemgruppe
diej enigen erkennen, die trotz bereits erfahrener strafrechtlicher Verurtei-
lung erneut straffällig werden. Ganz allgemein ist von einem "beängstigen-
den Anschwellen der Jugendkriminalität" in den vergangenen Jahren die
Rede. - Die genannten Zitate stammen nicht aus aktuellen Medienberichten
oder sonstigen jüngeren Veröffentlichungen. Vielmehr finden sie sich in der
auch - und vielleicht gerade - heute noch lesenswerten Einleitung des ers-
ten Kommentars zum Jugendgerichtsgesetz, der 1923 von dem Ministerial-
rat im Reichsjustizministerium Dr. Wilhelm Kiesow verfasst wurde. 1
Der Hinweis erscheint angezeigt. Denn ein Ansteigen der Jugendkrimina-
lität bzw. deren Besorgnis erregend hohes Niveau finden sich auch immer
wieder in der Begründung von Gesetzesinitiativen der jüngeren Zeit. 2 Sieht
man auf die aktuellen Diskussionen, aber auch die Gesetzesinitiativen und
die tatsächliche Gesetzgebung der letzten Jahre, dann erheben sich starke
Zweifel daran, dass die Kriminalpolitik heute bei einer entsprechenden
rechtlichen Ausgangslage wie damals 3 auf einen so ausgemachten legislati-
ven Handlungsbedarf in ähnlicher Weise reagieren würde wie der Gesetz-
geber von 1923.

* Der Verfasser ist Ministerialrat im Bundesministerium der Justiz. Der Beitrag gibt aus-
schließlich seine eigene Meinung wieder.
1 Kiesow Jugendgerichtsgesetz vom 16. Februar 1923, 1923, S. X, XXVI.
2 Vgl. etwa BT-Drs. 16/1027, S. 1,7; 15/3422, S. 1, 12; 14/6539, S. 1 f, 3; BR-Drs. 459/98,
S. 1,5.
3 Kein besonderes Jugendstrafrecht, sondern in den §§ 55-57 RStGB lediglich die Festle-
gung der absoluten Strafmündigkeitsgrenze auf das Alter von 12 Jahren und der relativen
Strafmündigkeit von 12- bis 18-Jährigen, die freizusprechen sind, wenn ihnen bei der Tat die
notwendige Einsichtsfähigkeit fehlt, und bei denen sonst lediglich eine obligatorische Strafmil-
derung gilt. Vgl. dazu Kraft Tendenzen in der Entwicklung des Jugendstrafrechts seit der
Jugendgerichtsbewegung, 2004, S. 27 ff; Günzel Die geschichtliche Entwicklung des Jugend-
strafrechts und des Erziehungsgedankens, 2001, S. 23 ff
186 Michael Gebauer

Dessen Antwort auf "Besorgnis erregende" Entwicklungen der Jugend-


kriminalität war nicht etwa fokussiert auf eine Rücknahme von Milderun-
gen, Strafverschärfungen und die Suche nach eher repressiven Mitteln einer
strafrechtlichen Disziplinierung. Stattdessen wurde das Strafmündigkeitsal-
ter auf 14 Jahre angehoben (wobei in den vorangegangenen kriminalpoliti-
schen Diskussionen vereinzelt sogar eine Grenze von 16 Jahren gefordert
worden war) und mit dem Jugendgerichtsgesetz ein eigenes, vom Erzie-
hungsgedanken geleitetes Jugendstrafrecht geschaffen. Der Vergeltungsge-
danke sollte aus dem Jugendstrafrecht herausgelassen werden. 4 Um den
Erziehungsgedanken umzusetzen, wurde ein Katalog von Erziehungsrnaß-
regeln vorgesehen (§ 7 JGG 1923), die bei Erforderlichkeit vom Gericht
anzuordnen waren (§ 5). Wurden diese als ausreichend erachtet, musste von
Strafe abgesehen werden (§ 6). Für zu verhängende Gefängnisstrafen wurde
generell die Möglichkeit der Aussetzung zur Bewährung geschaffen (§ 10).
Als Höchstmaß einer Strafe hielt der Gesetzgeber zehn Jahre Gefängnis rur
angemessen, und zwar selbst bei Straftaten, bei denen einem Erwachsenen
lebenslanges Zuchthaus oder die Todesstrafe drohte (§ 9). Damit der Erzie-
hungsgedanke und die Zweckorientierung des Jugendstrafrechts in der Pra-
xis sachgerecht zur Wirkung gebracht werden konnten, wurde die Zustän-
digkeit besonderer Jugend(schöffen)gerichte nunmehr gesetzlich festgelegt
(§ 17), und die Bearbeitung von Jugendsachen sollte auch auf bestimmte
Staatsanwälte konzentriert werden (§ 21 ). Wegen der Notwendigkeit einer
erzieherischen Beratung des Gericht und im Hinblick auf die Umsetzung
von Erziehungsrnaßregeln wurde außerdem als Aufgabe der Jugendämter
im Benehmen mit den Vereinigungen der Jugendfürsorge die Jugendge-
richtshilfe gesetzlich etabliert, die in allen Stadien des Verfahrens "zur
Mitarbeit herangezogen werden" sollte (§§ 22, 31 Abs.3, § 42)5. Damit
waren bereits wesentliche Eckpunkte unseres heutigen Jugendkriminal-
rechts gesetzt.
Wie aber war es möglich, dass trotz steigender Jugendkriminalität und
hoher Rückfallquoten ein derart "liberales"6 und fortschrittliches Jugend-

4 So der damalige Reichsjustizminister Radbruch in einer Reichstagsrede am 27. Januar


1923. Zurückhaltender aber etwa die Kommentierung von Kiesow (Fn. 1), S. XXXI f, der auch
den Gedanken der positiven Generalprävention anführt ("auch auf die Wirkung nach außen
Rücksicht nehmen", "so wie das Volk nun einmal denkt") und auf einen gewissen erzieheri-
schen Wert des immanenten Vergeltungscharakters einer Strafe hinweist, welcher die sittliche
Notwendigkeit einer gerechten Sühne verdeutliche.
5 Schon zuvor war die Jugendgerichtshilfe als Aufgabe des Jugendamts in § 3 des Reichsge-
setzes für Jugendwohlfahrt vom 9. Juli 1922 (RGBI. 1., S. 633) festgeschrieben worden.
6 Anfang der 1930er Jahre betonte Radbruch allerdings in Auseinandersetzung mit den auf-
kommenden nationalsozialistischen Strafrechtsvorstellungen, dass bei den Strafrechtsreformen
nicht der Gedanke der Humanisierung, sondern der der Rationalisierung im Vordergrund
Jugendkriminalrecht - qua vadis? 187

strafrecht politisch durchgesetzt werden konnte? Hier lassen sich eine ganze
Reihe von Bedingungen benennen. Von grundlegender Bedeutung waren
sicher die seit Ende des 19. Jahrhunderts 7 auf den Plan getretenen neuen
Wissenschaften, insbesondere die Kriminalwissenschaften als Vorläufer der
modernen Kriminologie und die Erziehungswissenschaft. Deren herausra-
gende Vertreter, vor allem Franz von Liszt, vertraten ihre Erkenntnisse und
Reformvorstellungen mit hohem Engagement und Überzeugungskraft, von
Liszt zeitweise auch als Reichstagsabgeordneter, verstärkt durch den Zu-
sammenschluss und die Arbeit in der Internationalen Kriminalistischen
Vereinigung. 8 Die Auswertung der neu geschaffenen Kriminalstatistik und
Rückfalluntersuchungen hatten gezeigt, dass das herkömmliche strafrechtli-
che Instrumentarium einschließlich des herkömmlichen Strafvollzugs nicht
geeignet war, um auf junge Rechtsbrecher einen bessernden Einfluss auszu-
üben. Die Konsequenz konnte daher nicht sein "mehr von dem Gleichen",
sondern mündete in die Forderung nach einer jugendspezifischen Gestal-
tung des Strafverfahrens und nach Reaktionsmöglichkeiten, die den beson-
deren Bedürfnissen und den Bedingungen für eine positive Entwicklung
junger Menschen Rechnung trugen. Forderungen, die vor dem Hintergrund
schon länger bestehender Diskussionen um die Notwendigkeit einer allge-
meinen Reform des Strafrechts auf einen vorbereiteten rechtspolitischen
Raum trafen.
Mit parallelen Vorstellungen traten an die Seite der Wissenschaftler und
Juristen als wesentlicher zweiter Motor Vereinigungen der freien Jugend-
fiirsorge, die zusätzliches Gewicht durch die Verbindung in der Deutschen
Zentrale für Jugendfürsorge (zunächst unter dem Namen "Deutscher Zent-
ralverein fiir Jugendfiirsorge") erhielten. 9 Durch das motivierte Zusammen-
wirken von engagierten Einzelpersonen und Vereinigungen aus dem Be-

gestanden habe, vgl. Neumann Gustav Radbruchs Beitrag zur Strafrechtsreform, in: Gustav
Radbruch als Reichsjustizminister, 2004, S. 50.
7 Ausführlich zur geschichtlichen Entwicklung: Kraft Tendenzen in der Entwicklung des
Jugendstrafrechts seit der Jugendgerichtsbewegung, 2004; Günzel Die geschichtliche Entwick-
lung des Jugendstrafrechts und des Erziehungsgedankens, 2001.
8 Vgl. Kiesow (Fn. 1), S. X ff.
9 Vgl. Kiesow (Fn. 1), S. XV. Bemerkenswert ist das von Kiesow referierte Selbstverständ-
nis dieser Vereinigungen: "Vielerorts bildeten sich Vereinigungen, die es sich zur Aufgabe
machten, nach amerikanischem Vorbild dem Vormundschaftsrichter und dem Strafrichter, der
sich mit Jugendlichen zu befassen hatte, hilfreiche Hand zu leisten, um die Lebensverhältnisse
des Jugendlichen zu erforschen." Interessant ist im Hinblick auf heutige Diskussionen zum
Selbstverständnis der Jugendhilfe im Jugendstrafverfahren, dass z.B. auf dem 5. Dt. Jugendge-
richtstag 1920 in Jena von Seiten der Jugendgerichtshilfe beklagt wurde, dass der Begriff
"Jugendgerichtshilfe" in dem damals vorliegenden Gesetzentwurf überhaupt nicht verwandt
wurde (vgl. Sonderheft zur Geschichte der Jugendgerichtsbewegung, DVJJ-Journal 2001,
S.231).
188 Michael Gebauer

reich der öffentlichen und freien Jugendhilfe bzw. damals Jugendfürsorge


mit von den Reformideen und dem Erziehungsgedanken nicht nur getrage-
nen, sondern teilweise selbst auch an der Fortentwicklung der fachlichen
und politischen Diskussion beteiligten Richtern und Staatsanwälten fand
etwas statt, was in den 1980er Jahren ähnlich, wenn auch weniger grundle-
gend, als "Jugendstrafrechtsreform durch die Praxis"l0 geschah: die Jugend-
gerichtsbewegung. Im Jahr 1908 wurden - noch ohne gesetzliche Grundlage
- im Wege der Geschäftsverteilung in Frankfurt am Main, Köln, Berlin und
Breslau und bald folgend in vielen anderen Städten besondere Jugendge-
richte eingerichtet. 1909 fand in Berlin-Charlottenburg der erste Deutsche
Jugendgerichtstag statt und danach in kurzen Abständen mehrere weitere,
auf denen die Reformvorstellungen vorgetragen und weiterentwickelt wur-
den. Welches Gewicht dabei neben den Juristen der Jugendrursorge zukam,
wird z. B. dadurch belegt, dass der 4. Jugendgerichtstag 1917, auf dem sich
als Vorläufer der heutigen DVJJ der "Ausschuss für Jugendgerichte und
Jugendgerichtshilfen" bildete, als "Kriegstagung der deutschen Jugendge-
richtshilfen" bezeichnet wurde.
Dem geballten interdisziplinären Druck aus Wissenschaft und Praxis
konnte sich die Rechtspolitik kaum entziehen, und die gemeinsam vorgetra-
genen Überzeugungen dürften auch die Öffentlichkeit beeindruckt haben.
Förderlich dürfte sich bei der Konkretisierung der Entwurfsarbeiten und
schließlich der Verabschiedung des Gesetzes auch ausgewirkt haben, dass
nach den Kriegserfahrungen und dem Zusammenbruch eines autoritären
Regimes die Öffentlichkeit in besonderem Maße offen wa~ rur Reformen,11
die auch im Strafrecht und gerade bei jungen Menschen vor allem auf eine
konstruktive Wiedereingliederung setzten und weniger auf Repression. Der
Umstand, dass Reformer selbst im Reichstag vertreten waren und dass wäh-
rend der Entwurfsberatungen im Reichstag bis hin zur Verabschiedung des
Jugendgerichtsgesetzes der reformorientierte große Rechtsdenker Gustav
Radbruch das Amt des Reichsjustizministers innehatte (der übrigens bei
Franz v. Liszt promoviert hatte), mag dann noch die abschließende Förde-
rung bedeutet haben.

10 s. nur Heinz Jugendstrafrechtsreform durch die Praxis, in der gleichnamigen vom Bun-
desministerium der Justiz herausgegebenen Dokumentation des Konstanzer Symposiums,
Bonn 1989, S. 13 ff.
11 Vgl. Neumann (Fn. 6), S. 50.
Jugendkriminalrecht - qua vadis? 189

II. Entwicklung von Jugendkriminalrecht und


Jugendkriminalpolitik bis heute
1. Das Jugendstrafrecht im Nationalsozialismus
Bis zu den Änderungen während der Zeit des Nationalsozialismus blieb
das Jugendstrafrecht nach dem Inkrafttreten des Jugendgerichtsgesetzes im
Wesentlichen unverändert. Der Wandel nach 1933 vollzog sich zunächst
trotz frühzeitig ausgemachten Reformbedarfs nur allmählich durch eine
zunehmende Orientierung an nationalsozialistischen Erziehungs- und Straf-
vorstellungen, später durch verschiedene Verordnungen und Allgemeine
Verrugungen des Reichsjustizministers, insbesondere 1939 die Verordnung
zum Schutz gegen jugendliche Schwerverbrecher l2 und die Verordnung zur
Ergänzung des Jugendstrafrechts vom 4. Oktober 1940 13 , mit welcher erst-
malig der Jugendarrest eingeführt wurde. Gesetzliche Änderungen wurden
erst 1943 mit der Ablösung des JGG 1923 durch das Reichsjugendgerichts-
gesetz 14 vorgenommen. "Reform"bedarf hatte man nicht nur zur Anpassung
an die nationalsozialistischen Vorstellungen zur Jugenderziehung und zur
Verbrechens- oder treffender Verbrecherbekämpfung gesehen. Man ging
auch fachlich davon aus, dass sich die Erwartungen an das JGG 1923 nicht
erfiillt hatten. 15 Erziehungsrnaßregeln spielten in der tatsächlichen Entwick-

12 RGBl. I, S. 2000. Mit ihr wurde ab einem Alter von 16 Jahren bei entsprechender Reife
die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht möglich (was auf der Grundlage dieser va sogar
die Todesstrafe ermöglichte; äußerer Anlass für die va war ein Einzelfall, in dem das Jugend-
strafrecht nicht für ausreichend und die Todesstrafe für angezeigt gehalten wurde).
13 RGBl. I, S. 1336. Der Jugendarrest war als Besinnungssanktion mit einer gewissen
Schockwirkung für Jugendliche mit Straftaten aus dem oberen einfachen bis mittleren, nicht
aber dem schweren Bereich gedacht, die noch als beeindruckbar angesehen wurden, "nament-
lieh bei noch nicht vorbestraften Jugendlichen, bei den noch nicht Verdorbenen und den Ver-
führten", bei denen Gefängnisstrafe nicht geboten war (Ministerialdirektor Schäfer Jugendar-
rest und Strafe, in: Zur Einführung des Jugendarrests - Abgekürzter Bericht über die
Festsitzung der Akademie für Deutsches Recht am 6. November 1940 und die Jugendrichterta-
gung im Reichsjustizministerium am 7. November 1940, 1940, S. 56; vgl. ebda. Reichsminister
Gürtner, S. 33, sowie die AV des Reichsjustizministers vom 6.11.1940, Dt. Justiz S. 1243,
bericht. Dt. Justiz S.1269)
14 RJGG vom 6. November 1943, RGBl. I, S. 637, insbes.: Einführung der "Zuchtmittel"
(einschl. des Jugendarrests), der Jugendgefängnisstrafe wegen "schädlicher Neigungen" sowie
"wenn das Bedürfnis der Volksgemeinschaft nach Schutz und Sühne wegen der Größe der
Schuld" sie erforderte (gesetzliches Höchstmaß weiterhin 10 Jahre); keine Aussetzung zur
Bewährung; "Jugendschutzlager" der Polizei; Strafmündigkeit ab 12 Jahren zum Schutz des
Volkes bei schweren Verfehlungen; Anwendung des allgemeinen Strafrechts auf Jugendliche
wegen des "gesunden Volksempfindens" bei ausreichender Reifeentwicklung, auch ohne diese
zum Schutz des Volkes bei "charakterlich abartigen Schwerverbrechern"; nennenswert auch
die Einführung des vereinfachten Jugendverfahrens zur beschleunigten Aburteilung junger
Rechtsbrecher.
15 Vgl. Kümmerlein Reichsjugendgerichtsgesetz, 1944, S. 3 f.
190 Michael Gebauer

lung der Rechtspraxis nur eine untergeordnete Rolle. Sie wurden aus ver-
schiedenen Gründen als unzureichend betrachtet (neben erzieherischer Inef-
fektivität eine mangelnde Kontrollierbarkeit, zum Teil auch fehlende Kos-
tenträgerschaft). Deshalb habe die Praxis letztlich überwiegend doch auf
Gefängnisstrafen zurückgegriffen, vielfach zu als im Wesentlichen wir-
kungslos betrachteten Bewährungsstrafen oder zu kurzen Gefängnisstrafen,
bei deren geringer Dauer keine sinnvolle erzieherische Arbeit möglich war
und die für die betroffene Klientel wegen ihrer entsozialisierenden und
stigmatisierenden Wirkungen und der Kontakte zu schwerer belasteten
Mitgefangenen als eher schädlich angesehen wurden. Damit wurde maßgeb-
lich die Einführung des Jugendarrests und der anderen Zuchtmittel begrün-
det.
Man darf davon ausgehen, dass die Öffentlichkeit schon aufgrund der
Kriegsereignisse nur mäßigen Anteil an den Arbeiten zur Änderung des
Jugendgerichtsgesetzes und an deren Umsetzung nahm, zumal die eigentli-
che Gesetzgebung zu großen Teilen in der Sache nur die schon erlassenen
Verordnungen etc. nachvollzog. Es war hier auch kaum mit nennenswerter
Kritik zu rechnen. Gerade die schlimmsten ideologischen Änderungen wur-
den mit dem "Schutz des Volkes", den "Bedürfnissen der Volksgemein-
schaft" oder dem "gesunden Volksempfinden" begründet und waren wahr-
scheinlich aufgrund der verbreiteten Ideologie bei einem nicht geringen Teil
der Bevölkerung durchaus nicht unpopulär. Die eigentliche Schwierigkeit
wird daher nicht die - zu jener Zeit ohnehin nicht sehr bedeutsame - Ak-
zeptanz in der öffentlichen Meinung betroffen, sondern darin gelegen ha-
ben, die fachlichen Vorstellungen der Jugendkriminalrechtler und der Ideo-
logen in einen unter den damaligen Bedingungen für beide Seiten
vertretbaren Einklang oder Kompromiss zu bringen. 16 Denn auch die Natio-
nalsozialisten waren bestrebt, den Erziehungsgedanken und gewisse Leitge-
danken der Jugendgerichtsbewegung wenigstens formal beizubehalten und
das Jugendstrafrecht in seinem breiten Anwendungsfeld von den Strafvor-
stellungen des allgemeinen Strafrechts zu trennen. 17

16 Auch die DVJJ, deren offene Arbeit, insbesondere die Veran~taltung von Jugendge-
richtstagen, während der nationalsozialistischen Zeit gehindert war, nahm über ihren Ge-
schäftsführenden Ausschuss und Kontakte zu Referenten des Reichsjustizministeriums Ein-
fluss auf die Gesetzgebungsarbeiten (so der damalige Vorsitzende R. Sieverts auf dem
9. Jugendgerichtstag 1953 in München, DVJJ-Joumal 2001 [Fn.9], S.241). Dabei wurde
offenbar auch von ihrer Seite der Jugendarrest damals als Fortschritt gegenüber dem bisherigen
Recht betrachtet.
17 Oberster Zweck war zwar der "Schutz der Volksgemeinschaft"~ dieser sollte jedoch "bei
einem Jugendlichen am zweckmäßigsten durch seine Erziehung zu einem ordentlichen Volks-
genossen verwirklicht" werden, vgl. Kümmerlein (Fn. 15), S. 11 (zum sonstigen Wirken des
JGG-Kommentators Kümmerlein im Reichsjustizministerium aufschlussreich: Kramer Der
Beitrag der Juristen zum Massenmord an Strafgefangenen und die strafrechtliche Ahnung nach
Jugendkriminalrecht - qua vadis? 191

2. Die Neufassung des JGG von 1953


So wurden und werden denn auch nach 1945 eine Reihe von Neuerungen
durch das RJGG 1943 auch als Weiterentwicklung im Sinne der ursprüngli-
chen Ziele gesehen. 18 Der Anfang 1952 eingebrachte ursprüngliche Regie-
rungsentwurf sah nur zurückhaltende Änderungen des RJGG vor, die ledig-
lich einige als dringend erforderlich betrachtete, aber in ihrer Bedeutung
beschränkte Reformmaßnahmen zum Gegenstand hatten und vor allem die
Bereinigung von nationalsozialistischem Gedankengut - eine Selbstver-
ständlichkeit in der jungen Bundesrepublik, die keiner größeren Rechtferti-
gung in der Öffentlichkeit bedurfte und auch im Bundestag "auf eine über-
aus günstige Atmosphäre stieß".19 In den Ausschussberatungen wurde dann
jedoch aufgrund von Stellungnahmen der Landesjustizverwaltungen, des
Bundesrates sowie der Jugendwohlfahrtsbehörden und der freien Vereini-
gungen fur Jugendhilfe 20 sowie von Bewertungen und Forderungen aus der
Wissenschaft eine weitaus umfassendere Reform als geboten erachtet. Die
schließlich vom Bundestag am 18. Juni 1953 (!) beschlossene Neufassung
des JGG behielt zwar die Dreigliederung der Rechtsfolgen mit den Zucht-
mitteln als Kategorie zwischen den Erziehungsrnaßregeln und der Jugend-
strafe bei. Sie beinhaltete aber eine deutliche Neustrukturierung des Geset-
zes und eine Reihe wesentlicher Neuregelungen, insbesondere die
erstmalige Einbeziehung der Heranwachsenden nach Maßgabe des § 105. 21

1945, KritJ 2010, 98 ff.). Dabei wurden freilich auch die ahndenden Zuchtmittel und das
Jugendgefängnis durchaus als Mittel der Erziehung betrachtet. Erziehungsziel war nicht die
Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfahigen Persönlichkeit (vgl.
zum heutigen Verständnis Wiesner SGB VIII, 3. Aufl. 2006, § 1 Rn. 10 ff., § 9 Rn. 7 f.~ Wink-
ler in: Bundesministerium der Justiz [Hrsg.], Das Jugendkriminalrecht vor neuen Herausforde-
rungen, 2009, S. 135 ff.~ zur Entwicklung: Pieplow in: M. Walter [Hrsg.], Beiträge zur Erzie-
hung im Jugendkriminalrecht, 1989, S. 5 ff.~ Grunewald Die De-Individualisierung des
Erziehungsgedankens im Jugendstrafrecht, 2003), sondern die Eingliederung in die nationalso-
zialistische Volksgemeinschaft. Bemerkenswert erscheint, dass trotz der punitiven Durchbre-
chung der Altersgrenzen ernsthaft auch eine Einbeziehung der 18- bis 21-Jährigen in das
Jugendstrafrecht erwogen wurde, die dann aber im Hinblick auf deren überwiegende Wehr-
machtszugehörigkeit unterblieb, vgl. Kümmerlein (Fn. 15), S. 8. Die Forderung zur Einbezie-
hung der Heranwachsenden entsprechend ihrem Reifestand war schon früher erhoben worden,
z. B. bereits vom 6. Dt. Jugendgerichtstag 1924 in Heidelberg, s. die Dokumentation in DVJJ-
Journal 2001 (Fn. 9), S. 234.
18 Vgl. DallingerlLackner JGG, 1955, Einf. Rn. 16~ Sieverts in: DVJJ-Journa12001 (Fn. 9),
S. 241 f.~ SchaffsteinlBeulke Jugendstrafrecht, 14. Aufl. 2002, S.39~ LaubenthallBaier Jugend-
strafrecht, 2006, Rn. 33.
19 Dallinger/Lackner (Fn. 18), Einf. Rn. 44 f.
20 Die DVJJ konstituierte sich erst in den Jahren 1952/1953 neu, vgl. DVJJ-Journal 2001
(Fn. 9), S. 240
21 JGG vom 4. August 1953 (BGBL I, S. 751). Als bedeutsame Neuerungen sind neben der
Heranwachsendenregelung vor allem zu nennen die Erhöhung des Mindestmaßes der Jugend-
192 Michael Gebauer

Vornehmlich Letzteres bedurfte wohl besonderer Überzeugungsanstrengun-


gen gegenüber der Öffentlichkeit und im politischen Meinungskampf. Denn
teilweise war sogar die Beibehaltung der Durchbrechung der Altersgrenzen
zur Anwendung des allgemeinen Strafrechts auf Jugendliche bei Schwer-
verbrechen verlangt worden. 22 Angesichts der schon lange aus kriminologi-
schen, entwicklungspsychologischen und pädagogischen Gründen geforder-
ten Einbeziehung der 18- bis 21-Jährigen, von einigen sogar ihrer - vom
Gesetzgeber durchaus erwogenen - generellen Einbeziehung, dürfte die
Hervorhebung der besonderen Belastung der Entwicklung der in den 1950er
Jahren Heranwachsenden durch die Kriegserfahrungen wesentlich als Mittel
zur Förderung der allgemeinen Akzeptanz gedient haben. 23

3. Der Weg bis zum 1. JGG-A'nderungsgesetz von 1990


Der anfanglieh große Optimismus angesichts der Neuregelungen des JGG
1953 wich noch in den folgenden Jahren, weil diese durch die justizielle
Praxis nicht ausreichend mit Leben erfüllt wurden und sich eine ähnliche
Entwicklung wie nach dem JGG 1923 abzeichnete. 24 Gründe wurden in der
ungenügenden Aus- und Fortbildung der in der Jugendstrafrechtspflege
Tätigen sowie in Problemen der Kostentragung bzw. Finanzierung von nicht
durch die Justiz selbst durchgeführten Maßnahmen und in Problemen der
Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen professionellen Hand-
lungsträgern gesehen, aber auch in einer ungenügenden Lösung der Jugend-
kriminalrechtspflege vom strafrechtlichen Denken. 25 Dies führte in den
1960er und 70er Jahren, begünstigt durch das allgemein reformorientierte
Klima der großen Strafrechtsreform und eine ebenfalls geplante Reform des
Jugendwohlfahrtsrechts, zu Forderungen nach einer grundlegenden Reform
auch des Jugendkriminalrechts bis hin zur Zusammenfassung des Jugend-
strafrechts und des Jugendwohlfahrtsrechts in einem erweiterten Jugendhil-
ferecht oder zu einem die Heranwachsenden bzw. junge Volljährige ein-

strafe auf sechs Monate, die (Wieder-)Einführung der Jugendstrafe auf Bewährung, unter
Ausgleich der Schwächen der Aussetzung auf Probe des JGG 1923, sowie der Aussetzung der
Verhängung der Jugendstrafe und die Neugestaltung der Jugendgerichtsverfassung, unter
Wiedereinbeziehung der Jugendschöffen.
22 Vgl.Dallinger/Lackner (Fn. 18), Einf. Rn. 34.
23 Vgl. auch M Walter ZJJ 2007, 402 f. sowie die Bundesregierung in Beantwortung einer
Kleinen Anfrage zur Behandlung von Heranwachsenden, BT-Drs. 15/2102, S. 2 (s. auch die
Fortsetzung in BT-Drs. 15/3850).
24 Vgl. den Überblick von Kraft (Fn. 3), S. 150 ff.
25 Vgl. Sieverts MschrKrim 1961, 223~ Schüler-Springorum MschrKrim 1964, 1~ ders.
MschrKrim 1969, 13 f.~ Pfeiffer Kriminalprävention im Jugendgerichtsverfahren, 1983, S. 50
Fn. 54~ Kraft (Fn. 3), S. 152, 190 f. Der 11. Dt. Jugendgerichtstag stand 1959 unter dem Motto:
"Die Jugendkriminalrechtspflege als Personenfrage und als Aufgabe der Zusammenarbeit".
Jugendkriminalrecht - qua vadis? 193

schließenden Jungtäterrecht. 26 Wesentlichen Anteil an diesen Diskussionen


hatten die DVJJ, die von ihr eingesetzten Gremien und die Jugendge-
richtstage sowie in bedeutendem Maße auch Repräsentanten und Fachleute
der Jugendhilfe. Auch wenn sich die beiden auf Bundesebene hauptsächlich
betroffenen Ministerien (Justiz und Familie und Jugend) durchaus an den
Diskussionen beteiligten, erwiesen sich die großen "reformeuphorischen"
Ansätze für Politik und Gesellschaft offenbar als zu weitgehend. Eine Um-
setzung in rörmlichen Gesetzgebungsinitiativen unterblieb, wobei auch eine
Beunruhigung über Anstiege der Jugendkriminalität die Offenheit rür die
Reformvorstellungen der Fachäffentlichkeit begrenzt haben dürfte. Mit
Bewältigung der allgemeinen Strafrechtsreform, auf die sich wesentliche
Energien konzentriert hatten, war zudem der Reformeifer der Kriminalpoli-
tik deutlich ermüdet. 27
Neuen Schub brachten die 1979 von der Arbeitsgemeinschaft sozialde-
mokratischer Juristen erarbeiteten Änderungsvorschläge zum JGG und die
Übernahme der daraus entwickelten Reformthesen 28 in das kriminalpoliti-
sche Programm der SPD, die damals den größeren Koalitionspartner in der
Bundesregierung und den Bundesjustizminister stellte. Ein im Bundesminis-
terium der Justiz (BMJ) erstellter Arbeitsentwurf zur Änderung des JGG
wurde im August 1982 an die Landesjustizverwaltungen versandt, wenig
mehr als einen Monat vor dem konstruktiven Misstrauensvotum, das zum
Wechsel der Bundesregierung führte. Auch unter der neuen
CDU/CSU/FDP-Regierung und dem nunmehrigen der FDP angehörenden
Bundesjustizminister wurde das Vorhaben, das eine erhebliche Stütze in der
Haltung der Fachwissenschaften und -praxis hatte, auch wenn die vorgese-
henen Änderungen vielen nicht ausreichend erschienen, fortgeführt und
nach Überarbeitung im November 1983 ein Referentenentwurf an die Lan-
desjustizverwaltungen und Verbände versandt. Ihm folgten ein neuer, insbe-
sondere um kostenträchtige Teile gekürzter, an anderen Stellen aber erwei-
terter Referentenentwurf bald nach Beginn der 11. Legislaturperiode im Juli
1987, der daraus erwachsene Regierungsentwurf vom Herbst 1989 und
schließlich das 1. JGG-Änderungsgesetz vom 30. August 1990. 29 Der Deut-
sche Bundestag nahm das Gesetz in seiner Sitzung am 20. Juni 1990 mit
großer Mehrheit an: mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der

26 Vgl. insbesondere Schüler-Springorum 1964 (Fn. 25)~ Arbeitenvohlfahrt Bundesverband


Vorschläge für ein erweitertes Jugendhilferecht, 3. abschl. Ausgabe, 1970~ Bundesministerium
für Jugend, Familie und Gesundheit Diskussionsentwurf eines Jugendhilfegesetzes, 1973~
D VJJ Denkschrift über die kriminalrechtliehe Behandlung junger Volljähriger, 1977.
27 Vgl. Thiesmeyer (damals Jugendstrafrechtsreferent im BMJ) RdJB 1970, 33.
28 Abgedruckt in ZBlJugR 1982, 60 ff.
29 BGBL I, S. 1853; Regierungsentwurf: BR-Drs. 464/89; mit Stellungnahme des Bundesra-
tes und Gegenäußerung der Bundesregierung: BT-Drs. 11/5829.
194 Michael Gebauer

SPD-Fraktion. Lediglich die Fraktion Die Grünen stimmte dagegen, aller-


dings nicht, weil sie die geschaffenen Verbesserungen ablehnte, sondern
weil der Entwurf weit hinter dem aus fachlichen Gründen tatsächlich beste-
henden Reformbedarf zurückbleibe. 3o
Ziele des 1. JGGÄndG waren die Stärkung der informellen Erledigung
von Jugendstrafverfahren (Diversion), die - jedenfalls fur den Bereich
leichter bis mittlerer Straftaten - eine kostengünstigere, schnellere, humane-
re und im Hinblick auf Prävention und Rückfallvermeidung effizientere
Bewältigung von Jugenddelinquenz ermögliche, sowie wegen der erkannten
schädlichen Nebenwirkungen eine Zurückdrängung des Freiheitsentzugs,
insbesondere im Bereich des Jugendarrests 31 und der Untersuchungshaft.
Von wesentlicher Bedeutung war auch die gesetzliche Verankerung der
sogenannten "neuen ambulanten Maßnahmen" einschließlich des Täter-
Opfer-Ausgleichs. Ausdrücklich nahm der Entwurf Bezug auf die Erkennt-
nisse der kriminologischen Forschung und die vorliegenden Erfahrungen
der Praxis.
Welches waren nun die Bedingungen, die eine solche, wenn auch be-
schränkte Reform begünstigten und ermöglichten? Mehrere Umstände erin-
nern stark an die Vorgeschichte des JGG 1923: die vorausgehende langjäh-
rige Postulierung eines entsprechenden Reformbedarfs durch Wissenschaft
und Praxis mit Einsetzung von Gremien und Erarbeitung von Regelungs-
vorschlägen, begleitet und gefördert durch Jugendgerichtstage etc. (insbe-
sondere auch durch vorn BMJ gemeinsam mit Universitäten veranstaltete
Symposien 32); der zusätzliche Anschub durch die parallelen Diskussionen
um eine als dringend notwendig erachtete Reform des Jugendwohlfahrts-

30 Vgl. die Rede der Abg. Nickels BT-Plenarprot. 11/216, S. 17089 f, gegenüber den loben-
den Beiträgen der Abg. Sessing, de With, Funke und des Bundesministers Engelhard, a.a.O.
S. 17085 f In ähnlicher Hinsicht kritisch wie die Grünen hatten sich aus kriminologischen und
empirischen Gründen während der Entwurfsarbeiten und des Gesetzgebungsverfahrens auch
viele Fachleute des Jugendkriminalrechts geäußert, vgl. Kraft (Fn. 3), S. 232 f, auch z.B. der
damalige Vorsitzende der DVJJ C. Pfeiffer - allerdings ausdrücklich unter dem Tenor ,ja -
aber" in seiner schriftlichen Stellungnahme zur Vorbereitung der Anhörung im Rechtsaus-
schuss des Bundestages am 16. Februar 1990, Anlage zum Stenogr. Bericht Nr. 70 des 6.
Ausschusses/ll. WP; ebda. Stellungnahme Hein= u.a.
31 Der damals noch so bezeichnete "Einstiegsarrest" neben einer zur Bewährung ausgesetz-
ten Jugendstrafe, der in dem Arbeitsentwurf 1982 und dem Referentenentwurf 1983 noch
enthalten war, übrigens mit im Wesentlichen gleichlautenden Regelungen wie die Entwürfe der
letzten Jahre zum "Warnschussarrest", fand sich aufgrund nachdrücklicher Kritik aus Wissen-
schaft und Praxis bereits nicht mehr in dem Referentenentwurf 1987 und konsequenterweise
auch nicht in dem Regierungsentwurf von 1989.
32 Vgl. die vom BMJ in der Reihe "recht" herausgegebenen Dokumentationen zum Biele-
felder Symposium von 1984 ("Neue ambulante Maßnahmen nach dem Jugendgerichtsgesetz",
4. Aufl. 1992) und zum Konstanzer Symposium von 1988 ("Jugendstrafrechtsreform durch die
Praxis", 4. Aufl. 1992).
Jugendkriminalrecht - qua vadis? 195

rechts 33 und, von besonderer Bedeutung, die vorangegangene "Jugendkri-


minalrechtsreform durch die Praxis". Sie lässt an die von Vereinen der
Jugendfürsorge unterstützte Einrichtung der ersten Jugendgerichte und ihre
an den neuen Erkenntnissen und Ideen orientierte Tätigkeit weit vor Inkraft-
treten des Gesetzes denken, deren positive Erfahrungen damals wie jetzt
eine wichtige argumentative Stütze für die legislative Reformarbeit bilde-
ten.
Kern der "Reform von unten" waren die verstärkte Anwendung der Di-
version, die keine negativen Entwicklungen der Jugendkriminalität zur
Folge hatte, und die zunehmende Nutzung der neuen ambulanten Maßnah-
men. Letztere waren von engagierten freien und öffentlichen Trägern der
Jugendhilfe (im Fall des Täter-Opfer-Ausgleichs auch von anderen freien
Trägem) entwickelt und als effektivere und jugendgemäßere Alternativen
insbesondere zu den eher repressiven Sanktionen aus dem eigenen Reper-
toire der Justiz an die Jugendgerichtsbarkeit herangetragen worden. Diese
war, geprägt durch die Reformdiskussionen und aufgrund eigener Erfahrun-
gen mit der Unzulänglichkeit des bisherigen Instrumentariums, durchaus
aufnahmebereit daflir. 34 Zum Teil brauchte der Gesetzgeber also diese Ent-
wicklungen durch die Verankerung im JGG nur noch nachzuvollziehen.
Von besonderer Bedeutung für das Gelingen des Reformprojekts war
sicher auch, dass alle maßgeblichen Parteien wenigstens grundsätzlich in
dem Ziel übereinstimmten, das Jugendstrafrecht auf einer kriminologisch
und empirisch begründeten Linie zu verbessern. Die SPD als größte Oppo-
sitionspartei hatte noch als Regierungspartei das Reformvorhaben selbst in
Gang gesetzt, die neue CDU/CSU/FDP-Regierung hatte sich das Anliegen

33 Vgl. das kurz vor dem 1. JGGÄndG verkündete Kinder- und Jugendhilfegesetz vom 16.
Juni 1990 (BGBL I, S. 1163), das im Sozialgesetzbuch VIII ein neues und modernes Jugendhil-
ferecht etablierte. Im Hinblick auf das Verhältnis von Jugendhilfe und Jugendgerichtsbarkeit
und ihre sich nicht deckenden Aufgaben und Ziele gab es allerdings auch deutliche Reibungs-
punkte, wie etwa die Gesetzgebungsgeschichte des § 12 JGG zeigt (s. dazu Ostendorj JGG,
8. Aufl. 2009, § 12 Rn. 8, § 38 Rn. 19a~ Art. 3 des 1. ÄndG zum SGB VIII vom 16.2.1993,
BGBL I, S.239).
34 Auf diesen geschichtlichen Hintergrund muss auch im Zusammenhang mit heutigen Di-
vergenzen über die Kostentragung für die Durchführung von ambulanten Maßnahmen immer
wieder hingewiesen werden. Dabei wird mitunter zur Begründung einer Kostenpflichtigkeit der
Justiz der Eindruck vermittelt, die Jugendhilfe setze hier Sanktionen des Jugendgerichts - quasi
als Vollstreckungsorgan - um. Tatsächlich handelt es sich jedoch um originäre Leistungen der
Jugendhilfe, auf die die Justiz zurückgreift, indem sie den Jugendlichen zu ihrer Inanspruch-
nahme verpflichtet, nicht aber den - eigenverantwortlich über die Leistungsvoraussetzungen
entscheidenden (vgl. § 36a SGB VIII) - Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Diese Sichtweise
ist auch von der Justizministerkonferenz wiederholt vertreten worden, vgl. Beschlüsse vom
22./23.11.1994 zu TOP 8, vom 10.-12.6.2002 zu TOP 11.7 und vom 28./29. Juni 2007 zu TOP
II.2~ s. dazu auch Trenczek in: Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 6. Aufl. 2009, § 52 Rn.
49, 55 f. sowie mit and. Auffassung Ostendorf(Fn. 33).
196 Michael Gebauer

unter Federführung des BMJ zu eigen gemacht und die Grünen waren oh-
nehin auch im strafrechtlichen Bereich reformorientiert. Unterschiedliche
Auffassungen wurden nicht zur politischen Profilierung oder für Wahl-
kämpfe genutzt; vielmehr gelang es nach den vorangegangenen Arbeiten
und Diskussionen, das Vorhaben vom Anfang bis zum Ende der 11. Legis-
laturperiode zum Abschluss zu bringen. Dabei fand schon im Vorfeld des
Regierungsentwurfs eine gründliche und eingehende Abstimmung zwischen
dem BMJ und den Landesjustizverwaltungen statt, die sich nicht auf die
Übersendung des Referentenentwurfs und die Einholung von Stellungnah-
men beschränkte, sondern auch die anstrengende, aber konstruktive Diskus-
sion unterschiedlicher Vorstellungen beinhaltete. Dementsprechend war
später auch die Stellungnahme des Bundesrates in erster Linie sachorien-
tiert, und viele seiner Änderungsvorschläge wurden in der Gegenäußerung
der Bundesregierung akzeptiert. 35 Während es so niemanden gab, der eine
Meinungsführerschaft übernommen hätte, um Medien oder Öffentlichkeit
gegen die Reform zu mobilisieren, richtete sich deren Hauptaugenmerk in
der betroffenen Zeit ohnehin vor allem auf das weltpolitische Geschehen,
den Umbruch in der ehemaligen DDR und die deutsche Wiedervereinigung;
die statistische Entwicklung der Jugendkriminalität erschien eher beruhi-
gend.
Auch wenn das 1. JGGÄndG noch nicht den "großen Wurf' bedeutete,
versprachen diese recht optimalen Bedingungen seines Zustandekommens
doch eine längerfristige kriminalpolitische Stabilität des lange Bewährten
und des neu Erreichten und ließen sie tatsächlich eine Fortführung der Re-
formarbeiten zu weiteren Regelungsgegenständen in dem begonnenen Sinne
erwarten, wie sie der Deutsche Bundestag gemeinsam mit der Verabschie-
dung des Gesetzes in einer - insoweit sogar einstimmigen - Entschließung
von der Bundesregierung verlangt hatte. 36 Es kam anders.

4. Der Klimawandel in den 1990er Jahren


a) Rahmenbedingungen
In der Folgezeit wurden im BMJ zwar Überlegungen zur Regelung der
noch anstehenden Reformgegenstände angestellt, jedoch noch nicht
sogleich konkrete Entwurfsarbeiten aufgenommen. 37 Dann kam es sehr bald
zu Ereignissen und Entwicklungen, die es nicht angezeigt erscheinen ließen,

35 BT-Drs. 11/5829, S. 40 ff., 47 f.


36 BT-Plenarprot. 11/216, S. 17091 LV.m. BT-Drs. 11/7421, S. 3, 19.
37 Der Bundestag hatte zwar eine Frist zur Vorlage eines Entwurfs im Jahr 1992 gesetzt
(Fn. 36). Mit Beginn der neuen (12.) Legislaturperiode betrachtete man diese Aufforderung im
Sinne der Diskontinuität aber nicht mehr als streng verbindlich.
Jugendkriminalrecht - qua vadis? 197

zu dieser Zeit das Jugendstrafrecht durch die Einbringung eines Entwurfs in


das Gesetzgebungsverfahren für grundlegende Änderungen zu öffnen. An-
dernfalls hätte eine nicht geringe Wahrscheinlichkeit bestanden, dass es als
Ergebnis der parlamentarischen Auseinandersetzungen statt der Fortführung
der Reform auf kriminologischer und empirischer Grundlage - zumindest
auch - zu auf verbreitete Meinungen und Überzeugungen gestützten, krimi-
nologisch aber eher als kontraproduktiv zu bewertenden Verschärfungen
gekommen wäre.
Wesentliche Schlüsselereignisse waren die Entsetzen auslösenden gewalt-
tätigen und teilweise krawallhaften Ausschreitungen, Brandanschläge und
Mordtaten gegen Wohnheime von Asylbewerbern und "Vertragsarbeitern"
und gegen Wohnhäuser türkischstämmiger Mitmenschen: Hoyerswerda im
September 1991, Rostock-Lichtenhagen über mehrere Tage im August
1992, Mölln im November 1992 und Solingen Ende Mai 1993 38 und andere
fremdenfeindliche Taten. Als Täter agierten zum großen Teil Heranwach-
sende und Jugendliche; die juristische Aufarbeitung, sprich Bestrafung,
erschien Öffentlichkeit und vielen Medien als ungenügend und zu nachsich-
tig und teilweise wegen ihres sehr späten Einsetzens oder Abschlusses als
fast nicht existent. 39 In differenzierteren Betrachtungen wurde zwar auch
eine Mitverantwortung von Erwachsenen diskutiert (der neben dem Tatge-
schehen applaudierenden oder stillschweigend billigenden oder derjenigen
aus dem fremdenfeindlichen Einstellungen und Aktivitäten nicht entgegen-
tretenden familiären und sozialen Umfeld). Als wesentliches Problem
machte die breite Meinung aber ein mutmaßlich zu mildes Jugendstrafrecht
aus. Zunehmend verstärkt wurde diese Überzeugung durch Berichte über
die Entwicklung der Kriminalstatistik, nach denen die Kriminalität junger
Menschen (in der öffentlichen Wahrnehmung wahrscheinlich vielfach
gleichgesetzt mit der regelmäßig gleichzeitig herausgehobenen Gewaltkri-
minalität) seit Anfang der 1990er Jahre beständig, besonders drastisch in
der zweiten Hälfte des Jahrzehnts, anstieg. Eine nahezu kontinuierliche
Medienpräsenz dieser "bedrohlichen Entwicklung" ergab sich aus den halb-

38 Überblicke über die Taten und auch Informationen zu den Tätern und zur juristischen
Aufarbeitung finden sich im schnellen Zugriff im Internet auf den Webseiten der Stadt Hoy-
erswerda, im Übrigen bei Wikipedia mit eigenen Artikeln zu den jeweiligen Anschlägen.
39 Nach den pogromhaften Krawallen in Rostock erhielt die Masse der ermittelten Beteilig-
ten 1993/1994 relativ geringfügige Sanktionen nach dem Jugendstrafrecht, Verfahren mit
schweren Vorwürfen kamen teilweise erst rund zehn Jahre nach dem Geschehen zur Aburtei-
lung. Wegen Mölln und Solingen wurde zwar mehrfach auch die Höchstjugendstrafe von zehn
Jahren verhängt, auch dies erschien angesichts der zu Tode gekommenen Menschen vielen
aber nicht als ausreichend. Zusätzliche Aufregung ergab sich daraus, dass wegen des Möllner
Verbrechens der jungerwachsene Mittäter eine lebenslange Freiheitsstrafe erhielt, der heran-
wachsende Haupttäter aber nur zehn Jahre Jugendstrafe.
198 Michael Gebauer

jährlichen und jährlichen Verlautbarungen, nicht nur des Bundes-, sondern


auch der Länderinnenminister. Das Jugendstrafrecht wurde nicht nur als zu
milde betrachtet, weil es bei schweren Verbrechen vorgeblich keine ausrei-
chend harte Bestrafung ermögliche, sondern weil es generell - sowohl spe-
zialpräventiv als auch generalpräventiv40 - keine genügende Abschre-
ckungswirkung besitze.
N ach der Jahrtausendwende setzten sich die Anstiege der allgemeinen
Tatverdächtigenzahlen für die jungen Altersgruppen zwar nicht fort, viel-
mehr waren teilweise sogar Rückgänge zu verzeichnen (sehr deutlich vor
allem bei den Kindern 41 ). Dies wurde aber von Teilen der Politik und vor
allem in der Öffentlichkeit über längere Zeit kaum wahrgenommen. Infra-
gestellungen der statistischen Anstiege durch die Wissenschaft (im Hinblick
auf eine sich in der Statistik zum Teil lediglich abbildende Aufhellung des
Dunkelfeldes, Sensibilisierung und veränderte Anzeigebereitschaft gegen-
über Straftaten, insbesondere Gewalttaten etc.) werden nicht selten als Ba-
gatellisierung und Schönfärberei durch ideologisch beeinflusste "Gutmen-
schen" und "Kuschelpädagogen"' betrachtet, zumal man die Wirklichkeit
aus eigener Beobachtung der Jugend, aus Medienberichten und Äußerungen
von Politikern, erfahrenen Justizpraktikern und Polizisten zu kennen glaubt.

40 Der fachliche Einwand, dass die Verfolgung generalpräventiver Zwecke jedenfalls bei der
Anwendung des Jugendstrafrechts nach herrschender Meinung Getzt auch im Gesetz verankert
durch den neuen § 2 Abs. 1 JGG, vgl. ausdrücklich die Begründung des Regierungsentwurfs,
BT-Drs. 16/6239, S. 10) nicht zulässig ist, würde in der Öffentlichkeit und zum Teil auch in
der politischen Auseinandersetzung wahrscheinlich als lächerlich empfunden und eher größere
Verärgerung hervorrufen. Die verbleibende Vermittlung der Einsicht, dass aufgrund differen-
zierter empirischer Erkenntnisse generelle Abschreckungswirkungen höherer Strafen eher zu
verneinen sind, stellt gegenüber traditionell verbreiteten Überzeugungen freilich ein schwieri-
ges Unterfangen dar. Auch wenn möglicherweise - am ehesten - an eine "Abschreckungswir-
kung" im unteren Delinquenzbereich zu denken ist (vgl. aus jüngerer Zeit die Sekundäranalyse
von Dölling et al. Is Deterrence Effective? EurJCrimPolicyRes 2009, 201 tf.), dürfte es dabei
im Jugendstrafrecht nicht um "Strafe" im engeren Sinn gehen, sondern um eine konsequente
"Sanktionierung" von Fehlverhalten, die mit dem vorhandenen rechtlichen Instrumentarium
ohne weiteres möglich ist und auch in der Verpflichtung zur Inanspruchnahme von Jugendhil-
feleistungen liegen kann. Andererseits ist aufgrund der empirischen Erkenntnisse auch für den
politischen Diskurs davor zu warnen~ dass eine beharrliche Darstellung des Jugendstrafrechts
als zu mild in generalpräventiver Hinsicht gerade kontraproduktive Auswirkungen haben kann.
Denn maßgeblich für einen Abschreckungseffekt ist vornehmlich die eigene Vorstellung der
Normadressaten von der Spürbarkeit oder Härte der Sanktion (nicht die tatsächlich angedrohte
oder verhängte), die im breiten Feld wesentlich von der allgemeinen Vorstellung geprägt wird.
41 Auch deshalb dürfte das geltende Strafmündigkeitsalter, das vor allem in den 1990er Jah-
ren häufig in Frage gestellt wurde, derzeit weitgehend sicher vor ernsthaften Anfechtungen
sein. In einem - einstimmigen - Beschluss vom Juni 2006 hat sich auch die Justizministerkon-
ferenz der Länder angesichts der ausreichenden Möglichkeiten des Jugendhilfe- und Familien-
rechts zur Intervention bei Kinderdelinquenz für die Beibehaltung der Altersgrenze von 14
Jahren ausgesprochen.
Jugendkriminalrecht - qua vadis? 199

Dabei fokussiert sich das Augenmerk inzwischen zunehmend auf konkrete


Problembereiche, die Jugendgewaltkriminalität (die weiterhin statistische
Anstiege aufweist und bei der eine negative Entwicklung auch der Qualität
angenommen wird), Intensiv- und Mehrfachtäter, junge Täter mit Migrati-
onshintergrund und hochgefährliche junge Täter, wobei sich die Problembe-
reiche vielfach überschneiden. Außerdem gaben wiederholt einzelne
schwerwiegende Verbrechen junger Menschen Anlass, das geltende Ju-
gendstrafrecht oder einzelne Regelungsbereiche in Frage zu stellen. 42

b) Legislative Initiativen und Reformforderungen


Es wäre erstaunlich, wenn die Politik die Anfang der 1990er Jahre ent-
flammten Diskussionen zum Jugendstrafrecht nicht aufgegriffen hätte.
Konkrete Regelungsvorschläge, die zum Teil in den Folgejahren immer
wieder erhobene Verschärfungsforderungen beinhalteten, wurden erstmalig
im Vorwahljahr 1993 im Zusammenhang mit dem "Sicherheitspaket '94"
diskutiert. Maßgebliche Kontrahenten waren dabei der damalige Bundesmi-
nister des Innern, dessen Vorschläge von mehreren Bundesländern unter-
stützt wurden, und die Bundesministerin der Justiz, die vor allem die Fach-
öffentlichkeit auf ihrer Seite hatte und sich nachdrücklich vor das "über
Jahrzehnte bewährte"43 Jugendstrafrecht stellte. Nach langen Verhandlun-
gen konnte das Jugendstrafrecht im Ergebnis aus dem Sicherheitspaket und
dem später daraus resultierenden "Verbrechensbekämpfungsgesetz"44
herausgehalten werden. Es folgten in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre
mit kurzen Abständen mehrere Gesetzesanträge Bayerns, die jeweils schon
keine Mehrheit im Bundesrat fanden, ab 1996/1997 zur nur ausnahmswei-
sen Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende bei Reifeverzö-
gerungen, 1998 zusätzlich "Einstiegsarrest", Höchstmaß der Jugendstrafe
rur Heranwachsende von 15 Jahren und Vorführung im vereinfachten Ju-

42 Z.B. Sexualrnord an einem Neunjährigen Februar 2005 in München (wesentlicher Anstoß


für die Einführung der Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht), "Betonkübelmord" August
2007 in Kernen bei Stuttgart (Heranwachsendenregelung~ s. auch Website der "Initiative Yvan
Schneider")~ Überfall auf einen Rentner in der Münchener U-Bahn Dezember 2007 (Auslöser
für Verschärfungsforderungen im hessischen Landtagswahlkampf im Januar 2008)~ "S-Bahn-
Mord" September 2009 in München-Solln.
43 Vgl. Leutheusser-Schnarrenberger Pressemitteilung des BMJ 20/93 vom 21.6.1993. Das
geltende Jugendstrafrecht reiche auch zur Ahndung rechtsextremer Gewalttaten~ notwendig
seien seine konsequente Anwendung, noch bessere Ressourcenausstattung von Polizei und
Justiz und bessere organisatorische Bedingungen sowie letztlich ein jugendpolitisches Sofort-
programm.
44 Vom 28. Oktober 1994, BGBl. I, S. 3186. Zum JGG enthielt es lediglich eine für die He-
ranwachsenden sogar vorteilhafte Regelung.
200 Michael Gebauer

gendverfahren, 1999 zusätzlich Meldepflicht als Weisung, Fahrverbot als


allgemeines Zuchtmittel.45
Eine 1998 von 54 Strafrechtsprofessoren unterzeichnete Erklärung "Ge-
genreform im Jugendstrafrecht? - Wider die repressive Hilflosigkeit!", ein
bis dahin nicht erlebter Vorgang, die sich gegen die nicht nur in Gesetzes-
initiativen inzwischen nahezu standardmäßig erhobenen Verschärfungsfor-
derungen wandte, blieb ebenso wirkungslos wie entsprechende Stellung-
nahmen und Erklärungen von Jugendgerichtstagen (insbesondere Marburg
2001 und Leipzig 2004), des 64. Deutschen Juristentags 2002, des 12. Deut-
schen Präventionstags 2007, der DVJJ, der Arbeitsgemeinschaft fur Ju-
gendhilfe und anderer Fachverbände und Gremien und die Ablehnung in
zahlreichen wissenschaftlichen und fachlichen Veröffentlichungen. Nicht zu
unterschätzen ist diese klare und nahezu einhellige Haltung der Wissen-
schaft und des größten Teils der Fachpraxis aber als Stütze in der politi-
schen Auseinandersetzung zur Abwendung eher kontraproduktiver Verän-
derungen des JGG.
Nachdem für ein Jahr noch in Bonn und dann in Berlin eine andere Koali-
tion im Bund regierte, brachte im Jahr 2000 die CDU/CSU-Fraktion einen
Gesetzentwurf ein,46 der im jugendstrafrechtlichen Teil dem bayerischen
Antrag im Bundesrat aus dem VOljahr mit dem Katalog der bekannten Än-
derungsforderungen entsprach. Nach einer Anhörung von Sachverständigen
im Rechtsausschuss wurde er in 2. Lesung vom Bundestag abgelehnt. Es
folgte eine Flut weiterer Gesetzesinitiativen und Entschließungsanträge,47

45 "Verbesserung des Opferschutzes" BR-Drs. 741/96~ "Änderung des JGG" BR-Drs


562/97~ "Änderung des JGG" BR-Drs. 459/98 (vom 14.5.1998). Mit einem Erfolg der Initiati-
ve in der noch laufenden Legislaturperiode war ernsthaft nicht zu rechnen. Die Bundestags-
wahl stand für den September 1998 an. Sie führte dann zur Ablösung der bisherigen
CDU/CSU/FDP-Koalition durch eine Koalition von SPD und Bündnis90/DIE GRÜNEN)~
"Änderung des StGB, des JGG u.a." BR-Drs. 449/99.
46 "Verbesserung der gesetzlichen Maßnahmen gegenüber Kinder- und Jugenddelinquenz",
BT-Drs. 14/3189 mit abI. Stellungnahme der Bundesregierung.
47 2000: "Änderung des JGG" BT-Drs. 14/5014 (Bundesrat, urspr. Thüringen, BR-Drs.
549/00: beschleunigtes Verfahren auch gegen Jugendliche)~ "Nachhaltige Bekämpfung von
Extremismus, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit" BT-Drs. 14/4067 (CDU/CSU Entschlie-
ßungsantrag)~ "Wirksamere Bekämpfung von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit"
BR-Drs. 564/00 (Beschluss), (Bundesrat Entschließung auf Antrag Baden-Württembergs)~
"Erweiterung des strafrechtlichen Sanktionensystems" BR-Drs.637/00 (Bayern)~ "Verbesse-
rung des strafrechtlichen Schutzes der Menschenwürde" BR-Drs. 759/00 (Mecklenburg-
Vorp.)~ 2001: "Kriminalität wirksamer bekämpfen - Innere Sicherheit gewährleisten" BT-Drs.
14/6539 (CDU/CSU Antrag für Absichtserklärung des BT); 2002: "Änderung des JGG" BT-
Drs. 14/8788 (CDU/CSU: Nebenklage auch gegen Jugendliche, Adhäsionsverfahren gegen
Heranwachsende auch bei Jugendstrafrecht); ,,2. G zur Änderung des SGB VIII" BR-Drs.
146/02 (Bayern/Saarland: Jugendstrafrecht [Heranwachsende] mittelbar betroffen durch weit-
gehende Herausnahme der jungen Volljährigen aus dem Kreis der Leistungsempfänger nach
Jugendkriminalrecht - qua vadis? 201

die immer wieder einzelne oder mehrere der gängigen Forderungen, teilwei-
se auch andere Änderungen und nur vereinzelt zusätzlich auch Änderungs-
vorstellungen aus der Fachwelt aufgriffen; soweit Gesetzentwürfe als Län-
derinitiativen nicht bereits im Bundesrat abgelehnt wurden oder zum Ruhen
kamen, fanden sie wie auch entsprechende Initiativen aus dem Bundestag
dort keine Mehrheit oder verfielen der Diskontinuität. 48 In Stellungnahmen
der Bundesregierung(en) wurden entsprechende Entwürfe durchgängig
abgelehnt oder für nicht unterstützungsfähig erklärt. Etwas Ruhe hinsicht-
lich der Standardforderungen trat während der Regierung der Großen Koali-
tion ein. Das Jugendstrafrecht und die besagten Forderungen waren Gegen-
stand der Koalitionsverhandlungen gewesen und man hatte sich darauf
geeinigt, im Jugendstrafrecht allein die Einführung der nachträglichen Si-
cherungsverwahrung vorzusehen. Hierauf zog sich die Bundesregierung
auch im Rahmen der Beantwortung einer Großen Anfrage von Bünd-
nis90/DIE GRüNEN mehrfach bei Fragen zum Reformbedarf und ihrer
Haltung zu bestimmten Änderungsforderungen neben dem Hinweis auf die

dem SGB VIII)~ "Verbesserung der Bekämpfung der Jugendkriminalität" BR-Drs. 634/02
(Brandenburg: auch ähnl. Vorschläge wie DVJJ-Kommission [Fn. 51], schon im BR aber
Änderungsanträge mit bekannten Verschärfungen)~ "Schutz der Bevölkerung vor schweren
Straftaten" BR-Drs. 850/02 (Bayern: neben den bekannten Regelungen zu Heranwachsenden
und 15 Jahren auch die Gleichbehandlung von Heranwachsenden mit Erwachsenen hinsichtlich
der Sicherungsverwahrung)~ 2003: "Verbesserung der Bekämpfung der Jugenddelinquenz"
BT-Drs.15/1472 (Bundesrat, urspr. Baden-Württemberg, BR-Drs. 312/03)~ 2004: "Stärkung
des Jugendstrafrechts und ... Verbesserung und Beschleunigung des Jugendstrafverfahrens"
BT-Drs. 15/3422 (Bundesrat, urspr. Sachsen/Bayern/Hessen/Niedersachsen/Thüringen, BR-
Drs. 238/04: neben den bekannten Verschärfungen mit grds. weiterführenden Reformvorschlä-
gen~ aufgrund von Vorarbeiten einer Arbeitsgruppe des Strafrechtsausschusses der Justizminis-
terkonferenz, die umfassenderen Reformbedarf konstatiert hatte)~ 2005: "Vermeidung von
Rückfalltaten gefährlicher junger Gewalttäter" BT-Drs. 15/5909 (Bundesrat, urspr. Bay-
ern/Thüringen, BR-Drs. 276/05: neben den bekannten Regelungen zu Heranwachsenden und
15 Jahren insbes. nachträgliche Sicherungsverwahrung bei schweren Straftaten und Jugendstra-
fe von mindestens fünf Jahren, bzgl. nach allg. Strafrecht abgeurteilten Heranwachsenden
Gleichstellung mit Erwachsenen)~ "Schutz vor schweren Wiederholungstaten durch Anordnung
der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung bei sogenannten Ersttätem" BR-Drs. 876/05
(Mecklenburg-Vorp.)~ 2006: "Wiedereinbringung von BR-Drs. 312/03" BT-Drs. 16/1027
(Bundesrat, BR-Drs. 44/06)~ "Erweiterung des Anwendungsbereichs der Sicherungsverwah-
rung bei gefährlichen jungen Gewalttätern" BR-Drs. 181/06 (Bayern)~ " .. StrafrechtsÄndG -
Stärkung der Sicherungsverwahrung" BT-Drs. 16/1992 (Bundesrat, urspr. Bayern, BR-Drs.
139/06).
48 Unabhängig von der Möglichkeit einer angemessenen Sachbehandlung bis zum Ende der
betroffenen Legislaturperiode bedeutete die Diskontinuität, insbesondere wenn auch eine
parlamentarische Erörterung nicht stattfand, dass - als vielleicht willkommener Nebeneffekt -
eine Konfrontation der öffentlichen Meinung mit einer möglicherweise unpopulären Ableh-
nungshaltung nicht notwendig wurde und auch nicht eine untunliche Darlegung eventueller
politischer Meinungsunterschiede - oder gar politisch untunlicher fachlicher Übereinstimmun-
gen - innerhalb der betroffenen Bundesregierung.
202 Michael Gebauer

beschränkten aktuellen Erfolgsaussichten einer umfassenden Reform zu-


rück. 49
Zu einer bundesweiten Thematisierung und teilweise Dramatisierung der
Jugendkriminalität und eines zu milden Jugendstrafrechts kam es allerdings
Anfang 2008 im Kontext des hessischen Landtagswahlkampfs. Öffentlich-
keit und Medien reagierten jedoch nicht so wie erwartet. Rasch verbreitete
sich die Auffassung, dass es bei der Skandalisierung des Jugendstrafrechts
nur um ein wahltaktisches Manöver gehe. Nicht nur die "intellektuellen"
Medien räumten Kriminologen und anderen Wissenschaftlern und Fachleu-
ten breiten Raum ein, die die Kontraproduktivität von Verschärfungen dar-
legten und die eigentlichen Defizite nicht in der Gesetzgebung ausmachten,
sondern bei der personellen und sachlichen Ressourcenausstattung von
Jugendgerichtsbarkeit, Jugendhilfe und Polizei, bei der notwendigen fachli-
chen Qualifikation der dortigen Handlungsträger für den Umgang mit de-
linquenten jungen Menschen, bei verbesserungsfähigen Verfahrensabläufen
und bei der Kommunikation und Kooperation zwischen den unterschiedli-
chen Handlungsträgern. Außerdem wurde immer wieder die beschränkte
Beeinflussbarkeit von Jugenddelinquenz durch das Jugendstrafrecht und die
Notwendigkeit einer Verstärkung effektiver Präventionsanstrengungen
hervorgehoben. Große Beachtung fand auch eine durch den Konstanzer
Kriminologen Wolfgang Heinz angestoßene eingehend fachlich begründete
Resolution gegen die Verschärfungsforderungen, die nach Verbreitung über
das Internet und E-Mail-Verteiler innerhalb von wenig mehr als 24 Stunden
fast 1000 (989) Unterstützer aus Wissenschaft und Praxis des Jugendkrimi-
nalrechts fand. 50 Das hessische Wahlergebnis konnte denn auch keineswegs
belegen, dass jugendstrafrechtliche Verschärfungsforderungen Wahlsiege
fördern, auch wenn dabei noch andere Faktoren wie die Schulpolitik eine
wesentliche Rolle gespielt haben mochten. Diese Erfahrungen lassen grund-

49 Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage "Jugendstrafrecht im 21. Jahrhun-
dert" BT-Drs. 16/13142 (hier z.B. S. 4 f, 20, 83). - Politisch Kundige werden auch nicht
erwartet haben, dass die "großen Koalitionäre" angesichts seit Jahren bekanntermaßen unter-
schiedlicher Auffassungen zum Jugendstrafrecht und angesichts der von der GGO vorgesehe-
nen Abstimmungsnotwendigkeit mit den betroffenen Ressorts (hier außer BMJ, vielfach BMI
und BMFSFJ, aber auch andere Bundesministerien) zur Formulierung jeder Antwort sowie
angesichts der abschließenden Zustimmungsfahigkeit für alle Kabinettmitglieder nun ohne
konkrete legislative Notwendigkeit aufgrund der Anfrage einer Oppositionsfraktion die betrof-
fenen Punkte streitig austragen oder gar zu einer gemeinsamen großen Reformvorstellung
kommen würden. Vielmehr dürften die Verschärfungsgegner es schon als Gewinn betrachten,
dass entsprechende Änderungsabsichten in der gemeinsamen Beantwortung verneint wurden.
Vgl. im Übrigen die nicht unkritischen Besprechungen der Antwort durch B. -R. Sonnen und
andere Autoren in ZJJ 2009, S. 346 ff
50 Heinz Stellungnahme zur aktuellen Diskussion um eine Verschärfung des Jugendstraf-
rechts, ZJJ 2008, 87 ff (mit Abdruck der vollständigen Unterstützerliste).
Jugendkriminalrecht - quo vadis? 203

sätzlich rur die nächste Zeit auf mehr Fachlichkeit in der jugendkriminalpo-
litischen Diskussion hoffen.
Zwischenzeitlich sah es um die Jahrtausendwende sogar rur einige Zeit so
aus, als bestünden Aussichten rur eine weitere Reform im Sinne des
1. JGGÄndG. Die damalige Bundesministerin der Justiz hatte ihre grund-
sätzliche Sympathie rur entsprechende Überlegungen erkennen lassen, und
so setzte im Dialog mit dem BMJ und mit dessen wesentlicher finanzieller
Unterstützung Anfang 2001 die DVJJ ihre 2. Jugendstrafrechtsreform-
Kommission ein. Sie legte im August 2002 ein umfassendes Reformkonzept
vor. 51 Auch der 64. Deutsche Juristentag befasste sich im Jahr 2002 seit
Jahrzehnten erstmalig wieder eingehend mit dem Jugendstrafrecht 52 und
legte - unter Ablehnung der gängigen Verschärfungsforderungen und Aner-
kennung der grundsätzlichen Bewährung des geltenden JGG - eine Vielzahl
von Änderungsvorschlägen vor. Auch die zahlreichen Veröffentlichungen
zur Frage "Ist das deutsche Jugendstrafrecht noch zeitgemäß?"53 im Vorfeld
des Juristentags und in der Nachbereitung von dessen Thesen und den Vor-
schlägen der DVJJ-Kommission förderten - jedenfalls in der Fachwelt - ein
reformfreudiges Klima als konstruktiv verstandenes Gegengewicht zu den
überkommenen Verschärfungsdiskussionen. Im BMJ wurden auf der
Grundlage der vorliegenden Vorschläge und eigener Überlegungen erste
Eckpunkte einer Reform erarbeitet. Nach dem Wechsel der Hausleitung
nach der Bundestagswahl im Herbst 2002 traf die neue Bundesministerin
der Justiz, weil auch die Mehrheit der Berurworter eine Reform nicht rur
zwingend geboten, sondern Verbesserungen lediglich angezeigt halte, ange-
sichts der Risiken einer legislativen Öffnung des JGG die Entscheidung,
weitere grundlegende Reformarbeiten auf absehbare Zeit ruhen zu lassen.

c) Gesetzgebung
Nachdem die Fortführung der Reform nach 1990 nicht angegangen wor-
den war, beschränkte sich die seitdem erfolgte Gesetzgebung (durchweg
aufgrund von Gesetzentwürfen der Bundesregierung) auf einzelne abge-

51 Abgedruckt in DVJJ-JoumaI2002, S. 227 ff.


52 Die Idee, die Befassung mit dem Jugendkriminalrecht an den Juristentag heranzutragen,
entstand in einer längeren Pausen-Gesprächsrunde am Rande des Symposiums zum 80. Ge-
burtstag von Dr. Rudolf Brunner (Dölling [Hrsg], Das Jugendstrafrecht an der Wende zum
21. Jahrhundert, 2001) am 17. Juni 2000, an der u.a. Heinz Schöch, damaliger Vorsitzender der
strafrechtlichen Abteilung des Juristentags, und der für das Jugendstrafrecht zuständige Refe-
ratsleiter des BMJ teilnahmen.
53 Zu einem Überblick über die Reformdiskussion sowie die Verhandlungen und Ergebnisse
der strafrechtlichen Abteilung des Juristentags vgl. Schöch Ist das deutsche Jugendstrafrecht
noch zeitgemäß? RdJB 2003, 299 ff.
204 Michael Gebauer

grenzte Regelungen, neben eher unbedeutenden Änderungen vor allem


folgende 54 : 1998 stärkere Betonung des Sicherheitsinteresses der Allge-
meinheit bei der Aussetzung des Restes einer Jugendstrafe zur Bewährung;
2003 Einfiihrung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung fiir nach allge-
meinem Strafrecht abgeurteilte Heranwachsende; 2004 fiir die Vorgenann-
ten Einführung auch der nachträglichen Sicherungsverwahrung; 2006 neben
der aufgrund einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 55 erforder-
lich gewordenen Neuregelung des Elternausschlusses von der Hauptver-
handlung die Ermöglichung der Vorfiihrung im vereinfachten Jugendver-
fahren, die Zulassung der Nebenklage gegen Jugendliche 56 und des
Adhäsionsverfahrens gegen Heranwachsende auch bei Anwendung mate-
riellen Jugendstrafrechts; 2007 ausdrückliche gesetzliche Klarstellung des
vorrangigen Ziels des Jugendstrafrechts in dem neuen § 2 Abs. 1 JGG sowie
Regelungen zum gerichtlichen Rechtsschutz im Vollzug; 2008 Einfiihrung
der nachträglichen Sicherungsverwahrung auch bei Verurteilungen nach
Jugendstrafrecht. Insgesamt gesehen kann, abgesehen von dem neuen § 2
Abs. 157 nicht einmal von einer schrittweisen oder partikulären Fortsetzung
der Reform von 1990 die Rede sein. Die Entwicklung zeigt eher in die ent-
gegengesetzte Richtung: Zu einem großen Teil handelt es sich um als not-
wendig betrachtete Verschärfungen, wiederholt im Kontext von Verschär-
fungen des allgemeinen Strafrechts.

111. Reformaussichten
Eine Reform in Fortführung des 1. JGGÄndG wurde im Deutschen Bun-
destag erstmalig wieder mit der Großen Anfrage im Jahr 2008 angemahnt. 58
Angesichts der dargelegten Entwicklungen seit 1990 fragt sich, unter wel-
chen Bedingungen ein solches Reformvorhaben ernsthafte Erfolgsaussich-

54 G zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten BGBL I


(1998), S. 160~ G zur Änderung der Vorschriften über die sexuelle Selbstbestimmung u.a.
BGBL I (2003), S. 3007~ G zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung BGBL I
(2004), S. 1838~ 2. Justizmodernisierungsgesetz BGBL I (2006), S. 3416~ 2. JGGÄndG BGBL
I (2007), S. 2894~ G zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurtei-
lungen nach Jugendstrafrecht BGBL I (2008), S. 1212.
55 BGBL 1(2003) S. 178~ BVerfGE 107, S. 104 ff
56 Der Regierungsentwurf sah allerdings noch eine andere Lösung vor (vgl. BT-Drs.
16/3038, S. 37 f, 149 ff): Einräumung nur der Informations- und Schutzrechte der Nebenkla-
gebefugten, aber für einen größeren Begünstigtenkreis als nach der Gesetz gewordenen Lö-
sung. Die Änderung kam erst als Ergebnis der Ausschussberatungen, nicht zuletzt aufgrund
von Forderungen von Opferschutzvereinigungen zustande.
57 Zu dessen Implikationen BT-Drs. 16/6293, S. 9 f~ Goerdeler ZJJ 2008, 137 ff
58 BT-Drs.16/8146~ vgl. auch bei und in Fn. 49.
Jugendkriminalrecht - qua vadis? 205

ten haben könnte. Offensichtlich ist, dass, solange Verschärfungsforderun-


gen die öffentliche kriminalpolitische Diskussion beherrschen, keine Chan-
ce darur besteht. Allerdings verstehen auch die Berurworter von Verschär-
fungen diese durchaus als Verbesserungen, wenngleich nicht vornehmlich
im Sinne einer ihrem Entwicklungsstand entsprechenden strafrechtlichen
Behandlung junger Straftäter und einer unterstützenden Förderung ihrer
Wiedereingliederung,59 sondern geleitet von dem Ziel einer wirksameren
Bekämpfung von Jugendkriminalität zum Schutz der Allgemeinheit.
Wirkliche oder zumindest statistische Anstiege der Jugendkriminalität
oder deren hohes Niveau müssen, wie die Vorgeschichte des JGG 1923
zeigt, keinen Hinderungsgrund rur eine nicht vornehmlich repressiv gepräg'·
te Reform darstellen. Entscheidender dürfte sein, wie die Bevölkerung die
Kriminalitätsentwicklung wahrnimmt und welche Lösungskonzepte die
Politik ihr bietet. Und hier unterscheidet sich die heutige Situation wesent-
lich von allen früheren Phasen größerer Änderungen des Jugendstrafrechts.
Zum einen befördert heute der vielfach beschriebene Verstärkerkreislauf
zwischen allpräsenten Massenmedien, öffentlicher Meinung und Erwar-
tungshaltungen antizipierender Kriminalpolitik eine verzerrte Wahrneh-
mung des wirklichen Kriminalitätsgeschehens, Kriminalitätsfurcht und als
deren Folge eine erhöhte Punitivität oder zumindest den Wunsch nach här-
teren Sanktionen zur vermeintlichen Verbesserung der Sicherheit. 60 Wenn
wie nach der Jahrtausendwende ein allgemeiner Anstieg nicht mehr und
teilweise sogar Rückgänge zu verzeichnen sind, wird dies zunächst von
einigen gar nicht wahrgenommen, oder die Aufmerksamkeit fokussiert sich
zur Begründung von - zumindest zum Teil gleich bleibenden - Verschär-
fungsforderungen auf spezifische Problemfelder. ZUIll anderen wurden die
Einführung des JGG und die größeren Änderungen stets von wissenschaftli-
chen und anderen fachlichen Erkenntnissen getragen (während der 1940er
Jahre allerdings nur soweit neben den krassen ideologisch begründeten
Verschärfungen die herrschende Doktrin Spielraum dafür ließ). Noch die
Entwurfsbegründung zum 1. JGGÄndG stützte sich ausdrücklich auf krimi-
nologische und empirische Erkenntnisse. Heute jedoch setzen sich relevante
Teile der Jugendkriminalpolitik (immerhin keine der bisherigen Bundesre-
gierungen) in erstaunlichem Maße über die Stellungnahmen der Fachwelt

59 Wie sie auch den internationalen Standards (z.B. den Mindestgrundsätzen bzw. Richtli-
nien der Vereinten Nationen von Beijing und Riyadh und den Empfehlungen des Europarats
sowie der Kinderrechtskonvention~ s. dazu Neubacher in: BMJ [Fn. 17], S. 275 ff.) sowie den
vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Notwendigkeit einer gesetzlichen
Grundlage des Jugendstrafvollzugs aufgestellten Grundsätzen entsprechen würde.
60 Vgl. hier nur Schöch Neue Punitivität in der Kriminalpolitik? In: BMJ (Fn. 17), S. 13 ff.~
Waller in: BMJ (Fn. 17), S. 239 ff.
206 Michael Gebauer

hinweg. 61 Trotz von Anfang an nahezu einhelliger fachlich begründeter


Ablehnung der gängigen Verschärfungsforderungen wurden diese immer
wieder von neuem geltend gemacht, ohne kriminologische oder empirische
Fundierung und ohne Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Kri-
tik. 62
Ein weiteres Reformhindernis liegt darin, dass die Beftirworter von Ver-
schärfungen das "Heft des Handeins" in der Hand haben und damit verbrei-
teten Handlungserwartungen an die Politik entsprechen, während die Ver-
schärfungsgegner vielfach als Blockierer vermeintlich sinnvoller
Maßnahmen wahrgenommen werden. Eine reformorientierte "Jugendge-
richtsbewegung", die offensiv und überzeugend Verbesserungsvorschläge
zum Jugendkriminalrecht in Bevölkerung und Medien 63 tragen würde, exis-
tiert nicht. Die Reformdiskussionen nach 1990 fanden und finden im We-
sentlichen in Fachkreisen, -tagungen und -veröffentlichungen statt und
erreichen die Öffentlichkeit kaum. Die DVJJ, Motor und Begleiter bisheri-
ger Reformen, sieht sich - zumindest nach Wahrnehmung des Verfassers -
mit einer Akzeptanzkrise in Teilen der Justiz und der Landesjustizverwal-
tungen konfrontiert. Hinzu kommt, dass zwar kriminologische und empiri-
sche Erkenntnisse vorliegen, die es erlauben, bestimmte Verschärfungen
begründet als kontraproduktiv abzulehnen. Die Forschungssituation hin-
sichtlich Evaluationen und vergleichender Wirkungsforschung in Deutsch-
land stellt sich dagegen als unerfreulich defizitär dar. Deshalb fällt es
schwer, generell valide Aussagen z. B. über "best" practices zu treffen und
Verbesserungen durch ein Reformkonzept offensiv auch mit "harten" Daten
zu begründen.

61 Eher desillusionierend wirkt es, wenn die fachliche Kritik kurz in einer mutmaßlich ideo-
logischen Schublade platziert wird. 1. Gehb, damals rechtspolitischer Sprecher der CDU/CSU-
Fraktion, in einer aktuellen Stunde zur Jugendkriminalität am 16. Januar 2008: "Hier wird
dauernd von der Fachwelt gesprochen. Welche Fachwelt? Sind das die Pfeiffers, sind das die
Sonnens, ist das die alternative Richtervereinigung?" (BT-Plenarprot. 16/135, S. 14252), dies
kurz nach der Resolution (Fn. 50) mit fast 1000, zum Teil sehr namhaften Unterstützern.
62 Stattdessen wird z.B. in der Diskussion um den "Warnschussarrest" auf die "Erfahrungen
von Praktikern" verwiesen, obwohl diese sich zum einen nur auf die heutige Klientel des
Jugendarrests beziehen können (also gerade nicht auf diejenigen, bei denen wegen erheblicher
Fehlentwicklungen eine - wenn auch zur Bewährung ausgesetzte - Jugendstrafe erforderlich
ist) und sie zum anderen nur auf relativ kurzfristiger Beobachtung beruhen und die längerfristi-
ge Betrachtung durch die bundesweite Legalbewährungsstudie (Jehle/Hein=/Sutterer Legalbe-
währung nach strafrechtlichen Sanktionen, hrsg. vom BMJ, 2003) sie widerlegt.
63 Dabei müssen die Medien, wie sich im Kontext des hessischen Landtagswahlkampfs An-
fang 2008 gezeigt hat, keineswegs nur in der Rolle des "Scharfmachers" gesehen werden.
Vielmehr können sie mit in ihre Sprache übersetzten Informationen und an ihren Funktions-
weisen orientierter· Darstellung von Zielsetzungen, Wirkungen etc. auch durchaus eine kon-
struktive Rolle in der jugendkriminalpolitischen Diskussion spielen.
Jugendkriminalrecht - qua vadis? 207

Wesentlichen Antrieb erhielten frühere Reformen durch das - trotz Di-


vergenzen zu Einzelheiten - gemeinsame Agieren von Seiten der Justiz und
der Jugendfürsorge/Jugendhilfe. 64 Auch heute besteht zwar Gemeinsamkeit
der Fachleute aus Jugendhilfe und Jugendkriminalrecht in der Ablehnung
von Verschärfungen. Nicht erst seit der Reform des Jugendhilferechts von
1990 entwickelt sich aber - zu Recht - ein zunehmendes Selbstbewusstsein
der Jugendhilfe, das allerdings in Teilen der Jugendhilfe mit der Betonung
der eigenen Aufgaben und Zielsetzungen (nach dem SGB VIII) zu einer
Entfernung von den Anliegen der Jugendgerichtsbarkeit und einer Vernach-
lässigung des "Hilfebedarfs des Jugendgerichts" (nach dem JGG) und des
Jugendkriminalrechts führt. Eine zusätzliche Gefährdung des Jugendkrimi-
nalrechts und zugleich ein Hindernis für überzeugende Reformen liegt in
der Finanznot der Kommunen als Träger der öffentlichen Jugendhilfe und in
zumindest regionalen Streitigkeiten über die Kostentragung oder gar Durch-
ruhrung von ambulanten Maßnahmen nach dem JGG. Führt dies zu einem
gewissen Leerlaufen der helfenden und eine positive Entwicklung fördern-
den Rechtsfolgen des JGG, so wird die Justiz Defiziten nicht durch die
Schaffung eigener sozialer Jugenddienste abhelfen, sondern verstärkt auf
eher repressive Sanktionen zurückgreifen (müssen). Gleichzeitig würden
auch repressive Tendenzen in der Gesetzgebung gefördert. Die Einführung
der Zuchtmittel wegen des Versagens der Erziehungsrnaßregeln mag als
Beispiel dienen. Die Wirksamkeit der ambulanten Maßnahmen des JGG,
die von hoher Bedeutung auch rur die jugendkriminalpolitische Situation
sein kann, hängt wesentlich von einer funktionierenden und guten Kommu-
nikation und Kooperation von Jugendhilfe und Justiz ab. Sie hängt aber
auch ab von der Ressourcenausstattung und der spezifischen Qualifikation
der professionellen Handlungsträger für den Umgang mit straffälligen jun-
gen Menschen. Tendenzen zur Entspezialisierung der Jugendgerichtshilfe
sind daher ebenso mit Bedenken zu sehen wie die unzureichende Beachtung
des § 37 JGG in der Praxis der Gerichtspräsidien und offenbar in noch grö-
ßerem Maße bei vielen Staatsanwaltschaften. 65

64 In einer Besprechung zum neuen JGG (BlumenthaI Ot. Juristen-Zeitung 1923,274 Fn. 1)
wird sogar als "eigentlicher Schöpfer des Jugendgerichtsgesetzes" der zuletzt Ministerialrat im
Wohlfahrtsministerium gewesene Dr. Friedberg bezeichnet.
65 Im Grunde genommen müssten angesichts der Wirkungsorientierung des Jugendkriminal-
rechts ähnliche Anforderungen wie die des § 37 JGG, rnehr als Grundkenntnisse in Kriminolo-
gie und den einschlägigen Bezugswissenschaften, auch an die für das Jugendstrafrecht Zustän-
digen in den Justizministerien des Bundes und der Länder gestellt werden (zumal die Länder in
weitaus höherem Maße als früher mit eigenen Gesetzgebungsinitiativen auf dem in Bundes-
kompetenz liegenden Feld des Jugendkriminalrechts aktiv werden). Das unter dem Leitbild des
"Einheitsjuristen" und der Flexibilität verbreitete Rotationsprinzip kann sich bei der Verant-
wortlichkeit für das Jugendstrafrecht~ die weniger rechtsdogmatische als spezifische außerjuris-
tische Fachkenntnisse erfordert, als problematisch erweisen.
208 Michael Gebauer

Insgesamt gesehen erscheint als wesentliche Bedingung für den Erfolg


eines Reformvorhabens die Vermittlung der Sinnhaftigkeit der mit ihm
angestrebten Neuregelungen, und zwar nicht nur gegenüber der etablierten
Kriminalpolitik, sondern auch - unter Einbeziehung der Medien - gegen-
über der öffentlichen Meinung. Denn letztere erweist sich in vielen Berei-
chen als maßgeblicher für die Kriminalpolitik als fachliche Erkenntnisse
und Bewertungen, sei es hinsichtlich der Antizipierung von Verschärfungs-
forderungen, sei es hinsichtlich einer Scheu davor, zu deutlich unpopuläre
Gegenpositionen zu beziehen. Wichtig dürfte es sein, als ein wesentliches
Ziel die bestmögliche Vermeidung von (erneuten) Straftaten junger Men-
schen herauszustellen. Denn dies entspricht dem mutmaßlichen Hauptinte-
resse der Öffentlichkeit. Ist das Ziel akzeptiert, öffnet sich zwangsläufig
auch der Raum für kriminologische und empirische Argumente, deren for-
schungsbezogene Grundlage allerdings teilweise der Verbesserung bedarf.
Die Überzeugungskraft geht allerdings verloren, wenn in der Praxis erhebli-
che Defizite bestehen, die schon die effiziente Anwendung des geltenden
Rechts beeinträchtigen. Für andere Ziele neben dem Sicherheitsinteresse
wie den Ausgleich von Rechtsnachteilen im Verfahren oder jugendgemäße
Gestaltungen und die Förderung der Entwicklung junger Menschen im
Sinne des Grundgesetzes und der Kinderrechtskonvention muss durch wei-
tere Aufklärung geworben werden. Weitere Handlungsansätze ergeben sich
aus den vorstehenden Darlegungen.
Schon im Vorfeld einer Reform werden also erhebliche, vielfältige und
vielseitige Anstrengungen erforderlich. Sie erscheinen letztlich aber schon
zur Abwendung eines künftigen schrittweisen Abbaus des grundsätzlich
bewährten geltenden Jugendkriminalrechts unumgänglich.
Jenseits von Erziehung: Generalprävention als
komplementärer Sanktionszweck des
Jugendstrafrechts

JOHANNES KASPAR

I. Einführung
Zu dem breiten Spektrum der Rechtsgebiete, die der verehrte Jubilar mit
der ihm eigenen Tatkraft und Leidenschaft bearbeitet und prägt, zählt auch
das Jugendstrafrecht. Heinz Schäch hat sich stets für ein humanes und maß-
volles, an empirischen Erkenntnissen der Kriminologie orientiertes Straf-
recht eingesetzt. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass sein
Engagement auch dem Erhalt eines eigenständigen, vorrangig am Erzie-
hungsgedanken orientierten Jugendstrafrechts gilt. Erziehung als Leitprinzip
des Jugendstrafrechts ist allerdings umstritten. l Die strafrechtliche Abtei-
lung des 64. Deutschen Juristentags hat sich im Jahre 2002 unter dem Vor-
sitz von Heinz Schäch nach fast IOO-jähriger Zäsur wieder mit dem Jugend-
strafrecht beschäftigt und dabei im Ergebnis am Erziehungsgedanken
festgehalten. 2
Die nach wie vor andauernde, äußerst vielschichtige Kontroverse um In-
halt und Grenzen des Erziehungsgedankens soll hier nicht im Vordergrund
stehen. Der Beitrag versucht vielmehr, einen Schritt weiter zu gehen und die
anderen denkbaren Sanktionszwecke des Jugendstrafrechts auszuloten, die
im Schatten des Erziehungsgedankens stehen. Die Diskussion wird schon
länger geführt, hat aber durch die erstmalige ausdrückliche Fixierung des
"Ziels des Jugendstrafrechts" in der am 1.1.2008 in Kraft getretenen Vor-
schrift des § 2 Abs. 1 JGG n. F. neue Impulse bekommen.
Eine solche Klärung ist nicht nur von theoretischem Interesse, sondern
auch für die Anwendung des Rechts relevant. So soll der Jugendrichter
gern. § 5 Abs. 2 JGG zu Zuchtmitteln und Jugendstrafe greifen, wenn Er-

1 Zur Kritik s. nur Albrecht Gutachten D zum 64. Deutschen Juristentag, 2002, D 97 ff. Eine
völlige Abschaffung eines eigenständigen Jugendstrafrechts fordert Kusch NStZ 2006, 65 ff.
2 Beschlüsse der Strafrechtlichen Abteilung des 64. DJT (NJW 2002, 3077 ff.)~ s. auch den
Bericht von Schöch RdJB 2003, 299.
210 Johannes Kaspar

ziehungsmaßregeln "nicht ausreichen". Die entscheidende Frage, die sich


aufdrängt, vom Gesetzgeber an dieser Stelle aber offen gelassen wurde,
lautet: "Ausreichen wozu?". Die Zweckfrage stellt sich darüber hinaus auch
aus verfassungsrechtlichen Erwägungen. Denn aufgrund des Grundsatzes
der Verhältnismäßigkeit muss der Rechtsanwender unter anderem darauf
achten, dass er die jeweils mildeste, zur Erreichung der verfolgten Zwecke
geeignete Sanktion verhängt. 3 Wie sollte man aber die "Geeignetheit" einer
Maßnahme oder die "gleiche Geeignetheit" verschiedener Maßnahmen im
Rahmen der Prüfung der Erforderlichkeit bestimmen, ohne den oder die
verfolgten Zwecke vorher definiert zu haben?4

11. Der Erziehungsgedanke als Leitprinzip


Die nach wie vor zentrale Bedeutung des Erziehungsgedankens als Leit-
prinzip des Jugendstrafrechts im Hinblick auf alle Sanktionskategorien wird
durch den 2008 in Kraft getretenen § 2 Abs. 1 JGG n. F. unterstrichen.
Allerdings wird dort unter der amtlichen Überschrift "Ziel des Jugendstraf-
rechts" in S. 1 festgehalten, dass die Anwendung des Jugendstrafrechts "vor
allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entge-
genwirken" soll. Es geht mit anderen Worten um Prävention. Erst in S. 2 ist
von Erziehung die Rede, wo festgehalten wird, dass bei der Verfolgung
dieses Ziels die Rechtsfolgen "vorrangig am Erziehungsgedanken" auszu-
richten sind. Damit soll klargestellt werden, dass Erziehung "nicht selbst
Ziel oder Anliegen des Jugendstrafrechts ist"5, sondern nur in Bezug auf
den Präventionszweck relevant wird.
Bemerkenswert ist der hier zugleich enthaltene Hinweis des Gesetzgebers
auf weitere mögliche Sanktionszwecke des Jugendstrafrechts. Denn mit der
Formulierung "vor allem" wird eine Art Öffnungsklausel im Hinblick auf
Zielsetzungen eingeführt, die über die Verhinderung von Straftaten von
Jugendlichen hinausgehen. Wenn es nicht um Prävention geht, liegt eine
Hinwendung zu den "absoluten Strafzwecken" nahe. Und tatsächlich soll es
nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzesgebers um "Belange des
Schuldausgleichs" als legitimer Zielsetzung vor allem der Jugendstrafe
gehen. 6 Richtigerweise verbietet sich aber in einem modemen säkularen
Staat, der Eingriffe seinen Bürgern gegenüber auch aus verfassungsrechtli-

3 Vgl. nur BVerfGE 19,342,347 ff. Zu dessen Bedeutung im Jugendstrafrecht s. Rössner in:
Meier/Rössner/Schöch, Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2007, § 1 Rn. 17; § 6 Rn. 5 ff.
4 So auch - in Bezug auf das allgemeine Strafrecht - Weigend FS Hirsch, 1999, S. 927.
5 BT-Drs. 16/6293, S. 9. Vgl. Schöch Wie soll die Justiz auf Jugendkriminalität reagieren,
in: Dölling, Das Jugendkriminalrecht an der Wende zum 21. Jahrhundert, 2001, S. 128.
6 BT-Drs. 16/6293, S. 9.
Generalprävention als Sanktionszweck des Jugendstrafrechts 211

ehen Gründen rational begründen können muss, ein Rückgriff auf metaphy-
sisches Vergeltungsdenken. 7 Ein legitimierender eigenständiger Sanktions-
zweck kann Vergeltung daher (bei Jugendlichen wie Erwachsenen) nicht
sein. Gleiches gilt auch rur den Schuldausgleich, der sich insoweit nicht
vom Vergeltungszweck unterscheidet.
Letztlich bleibt daher rur eine sinnvolle Interpretation der Öffnungsklau-
sel nur Raum, wenn man in gewissem Umfang auch Aspekte der General-
prävention anerkennt. 8 Das gilt auch rur § 2 Abs. 1 S. 2 JGG, nach dem bei
der Verfolgung des Präventionsziels die Rechtsfolgen lediglich"vorrangig"
am Erziehungsgedanken auszurichten sind. § 2 Abs. 1 JGG eröffnet also
dort, wo sich die jugendstrafrechtlichen Rechtsfolgen ihrer Art und Höhe
nach nicht allein mit erzieherischen Erwägungen begründen lassen, einen
Spielraum für die Suche nach komplementären Sanktionszwecken9 ,jenseits
von Erziehung". Dass es Bedarf für solche ergänzenden Überlegungen zur
Legitimation des Jugendstrafrechts gibt, wird im Folgenden dargelegt.

111. Die Legitimationslücken eines rein erzieherischen


Verständnisses des Jugendstrafrechts
Als Ausgangspunkt rur die Frage komplementärer Sanktionszwecke ist
festzuhalten, dass das Jugendstrafrecht allein auf der Grundlage des Erzie-
hungsgedankens weder vollständig erklärbar noch legitimierbar erscheint.
Zur Begründung dieser These sei auf folgende Punkte verwiesen:
In historischer Hinsicht ist daran zu erinnern, dass sich der Gesetzgeber
nicht fur ein monistisches, rein jugendhilferechtliches System entscheiden
konnte, sondern mit dem 1922 eingeruhrten Jugendwohlfahrtsgesetz sowie
dem 1923 in Kraft getretenen JGG bewusst ein dualistisches Modell ge-
schaffen hat. 10 Ginge es nur um Erziehung, wäre es viel nahe liegender
gewesen, straffälligen Jugendlichen rein rursorgerechtliche Maßnahmen
zukommen zu lassen, anstatt ein eigenständiges Jugendstrafrecht zu schaf-
fen. Der Name ist Programm: Es geht eben nicht um Jugendhilfe-, sondern
um Jugendstrafrecht. Bei aller Rücksichtnahme auf das Wohl des Jugendli-
chen ist damit ein deutlicher Bezug zum besonderen staatlichen Reaktions-
mittel "Strafe" hergestellt mit seinem typischen Wesenselement einer

7 Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2006, § 3 Rn. 8 ff.~ für das Jugendstrafrecht s.
OstendorjJugendstrafrecht, 5. Aufl. 2009, Rn. 213.
8 S. dazu unten IV. und V.
9 Vgl. Jäger GA 2003,475.
10 Rössner (Fn. 3), § 2 Rn. 7 f.
212 Johannes Kaspar

"Übelzufügung", auf das nach dem Willen des Gesetzgebers offenbar nicht
in beliebiger Weise verzichtet werden kann. 11
Hinzu kommen die Erkenntnisse über die tatsächlichen Wirkungen der
Sanktionierung, die für die Legitimation der jugendstrafrechtlichen Sankti-
onen ausschlaggebend sein müssen 12 und die zur Zurückhaltung mahnen: 13
Nicht in allen Fällen wird man eine positive erzieherische Wirkung der
jugendstrafrechtlichen Sanktionen behaupten können. Es liegt nahe, auf die
hohen Rückfallquoten jugendlicher Straftäter hinzuweisen, insbesondere auf
die Tatsache, dass gerade die eingriffsintensiven stationären Sanktionen wie
Arrest und vollstreckte Jugendstrafe mit 70 % bzw. fast 80 % die ungüns-
tigsten Rückfallquoten erzielen. 14 Aus diesem Befund zu schließen, die
mildere Sanktionierung oder gar ein völliger Sanktionsverzicht seien spezi-
alpräventiv wirksamer, ist nicht zulässig, da die betroffenen Personengrup-
pen im Vergleich zu den milder Sanktionierten deutliche Unterschiede im
Hinblick auf rückfallrelevante Merkmale aufweisen, insbesondere eine
erhöhte Vorstrafenbelastung. 15 Es gibt aber zumindest im Bereich der leich-
ten bis mittelschweren Delinquenz deutliche Anzeichen dafür, dass infor-
melle Erledigungen im Hinblick auf die Rückfalligkeit zumindest nicht
schlechter wirken als formelle Sanktionen. 16
Zugleich zeigt die Dunkelfeldforschung bekanntlich, dass der überwie-
gende Teil der Jugenddelinquenz "normal" in dem Sinne ist, dass sich ir-
gendwelche strafbaren Handlungen im leichten bis mittleren Schwerebe-
reich bei fast allen Jugendlichen nachweisen lassen. 17 Aus strafrechtlicher
Auffalligkeit darf somit nicht vorschnell auf erzieherische Mängel im Ver-
gleich zu anderen, bislang nicht in Erscheinung getretenen Jugendlichen
geschlossen werden. 18 Jugenddelinquenz ist zugleich "episodenhaft", d. h.
die Begehung von Straftaten lässt im Laufe des Erwachsenwerdens regel-
mäßig stark nach, und zwar ganz unabhängig vom (eher seltenen) Ereignis
der Entdeckung und Sanktionierung durch die Strafverfolgungsbehörden. 19
Natürlich stellt sich (auch aus der Sicht des jugendlichen Täters) nur bei
Taten, die zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden gelangen, zwingend
die Frage der Sanktionierung. Bleibt eine solche aus oder fallt sie verharm-

11 Vgl. Streng Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2008, § 1 Rn. 16.


12 So auch der Gesetzgeber, s. BT-Drs. 16/6293, S. 10.
13 Zum "Effizienz-Defizit" in dieser Hinsicht s. nur Streng (Fn. 11), § 1 Rn. 20.
14 Jehle/Heinz/Sutterer Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen, 2003, S. 57.
15 Vgl. Albrecht (Fn. 1), D 48; OstendorfHRRS 2008, 162.
16 Rössner (Fn. 3), § 1 Rn. 39; Schöch in: Kaiser/Schöch, Juristischer Studienkurs Krimino-
logie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, 6. Aufl. 2006, Fall 12 Rn. 74.
17 Meier in: Meier/Rössner/Schöch (Fn. 3), § 3 Rn. 3 f.
18 Vgl. Albrecht (Fn. 1), D 99.
19 Meier (Fn. 17), § 3 Rn. 6 f.; Albrecht (Fn. 1), D 112.
Generalprävention als Sanktionszweck des Jugendstrafrechts 213

losend gering aus und wird dem Jugendlichen auch nicht auf andere Weise
(etwa durch informelle Reaktionen aus dem persönlichen Umfeld)20 das
Unrecht der Tat vor Augen geführt, kann der erzieherisch schädliche Ein-
druck entstehen, die Tat selbst sei harmlos und eine Wiederholung unbe-
denklich. 21 Dennoch darf man die Bedeutung der strafrechtlichen Sanktion
auch nicht überschätzen. So hat die Entwicklungskriminologie bislang keine
Hinweise dafür finden können, dass gerade der strafrechtlichen Sanktion
(oder gar ihrer Höhe) eine Zäsurwirkung im Hinblick auf den Abbruch einer
zuvor eingeschlagenen kriminellen "Karriere" zukommt. 22
Alles in allem sprechen die Befunde jedenfalls gegen eine besondere er-
zieherische Wirkung der eingriffsintensiven formellen Sanktionierung von
Jugendlichen im Vergleich zu milderen Alternativen. Ginge es um erziehe-
rische Bedürfnisse im Sinne der bestmöglichen Förderung des Wohls von
jugendlichen Delinquenten, müsste vor diesem Hintergrund noch in weitaus
größerem Maß von milderen, zur "Erziehung" in diesem Sinn genauso oder
besser geeigneten Mitteln im Vergleich zur formellen (vor allem: stationä-
ren) Sanktionierung Gebrauch gemacht werden, als dies seitens der jugend-
strafrechtlichen Praxis ohnehin schon der Fall ist. Vor allem müsste noch
viel mehr und unabhängig von der Art und Schwere der jeweiligen Tat auf
die "Erziehungsbedürftigkeit" des Jugendlichen abgestellt werden - mit der
Konsequenz, dass bei Jugendlichen ohne feststellbare Erziehungsbedürfnis-
se an sich überhaupt keine Sanktionierung erfolgen dürfte.
Eine solche umfassende Bedeutung der "Erziehungsbedürftigkeit" als ent-
scheidende Weiche bei der Sanktionierung lässt sich dem JGG aber nicht
entnehmen. Dafür spricht schon, dass die Strafverfolgung ganz unabhängig
von der Erziehungsbedürftigkeit an die in § 1 Abs. 2 JGG als "Verfehlung"
bezeichnete Straftat des Jugendlichen anknüpft. 23 Sehr deutlich wird dies
auch bei der Sanktionierung von Erwachsenen, die zum Zeitpunkt der Tat
noch jugendlich oder heranwachsend waren. Da das Gesetz in § 1 Abs. 2
JGG wie auch in § 105 Abs. 1 JGG auf das Alter zum Zeitpunkt der Tat
abstellt, kann es durchaus erst viele Jahre nach der Tat zu einer Verhand-
1ung und Aburteilung vor dem Jugendgericht kommen. Da bei Erwachsenen
aber keine Erziehungsbedürftigkeit angenommen werden kann (bzw. deren

20 Bottke Generalprävention und Jugendstrafrecht aus kriminologischer und dogmatischer


Sicht, 1984, S. 19 f.
21 Vgl. Streng (Fn. 11), § 1 Rn. 22 sowie § 12 Rn. 448; Brunner/Dölling JGG, 11. Aufl.
2002, § 17 Rn. 15a~ s. auch Hackstock Generalpräventive Aspekte im deutschen und österrei-
chischen Jugendstrafrecht, 2002, S. 294.
22 Albrecht (Fn. 1), D 34 sowie D 53.
23 Bottke (Fn. 20), S. 7.
214 Johannes Kaspar

Erziehung verfassungsrechtlich nicht zulässig wäre)24, rnuss hier offensicht-


lich mit anderen Zielsetzungen argumentiert werden. 25
Besonders groß ist die Begründungs- und Legitimationslücke bei den
langjährigen Jugendstrafen. Die vom Gesetzgeber selbst anerkannten denk-
baren "schädlichen Wirkungen" des Freiheitsentzuges 26 sind hier offensicht-
lich besonders stark zu gewichten. 27 Natürlich muss man bei einem Frei-
heitsentzug von gewisser Dauer auch vielfältige denkbare positive Einflüsse
in Rechnung stellen: das Herausholen aus einem kriminogenen persönlichen
Umfeld etwa oder die Möglichkeit, eine schulische oder berufliche Ausbil-
dung zu absolvieren sowie therapeutische Angebote in Anspruch zu neh-
men. Eine möglichst sinnvolle erzieherische Ausgestaltung des Vollzugs
bleibt unverzichtbar. 28 Allein: Ab einer bestimmten Dauer der Haft sind
diese positiven Effekte quasi "verbraucht", während die denkbaren negati-
ven Folgen wie Abstumpfung, Resignation und "Prisonisierung" (im Sinne
einer Anpassung an die Subkultur der Haftanstalt)29 den erzieherischen
Erfolg zu konterkarieren drohen. Dementsprechend wird überwiegend da-
von ausgegangen, dass eine Jugendstrafe von mehr als fünf Jahren nicht
mehr mit positiven erzieherischen Wirkungen begründet werden kann. 3o
Eine Jugendstrafe von zehn Jahren, wie sie gern. § 18 Abs. 1 S. 2 JGG bei
schwersten Straftaten ausdrücklich vom Gesetzgeber vorgesehen ist, wäre
also entweder schon nicht geeignet zur Erziehung des Jugendlichen oder
jedenfalls nicht besser geeignet als das (fur den Jugendlichen ersichtlich
mildere) Mittel einer deutlich kürzeren Jugendstrafe. Sie würde daher gegen
den oben erwähnten verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismä-
ßigkeit verstoßen.

24 Laubenthal/Baier Jugendstrafrecht, 2006, Rn. 697.


25 Für den Fall der NS-Täter s. Jäger GA 2003, 480~ Streng (Fn. 11), § 1 Rn. 16.
26 Vgl. nur Art. 5 Abs. 2 BayStVollzG.
27 Vgl. Landau ZJJ 2008, 220.
28 Schöch in: Meier/Rössner/Schöch (Fn. 3), § 11 Rn. 34 f. So auch BVerfGE 116,69,85 ff.
29 Diemer/Schoreit/Sonnen, JGG, 5. Aufl. 2008, § 18 Rn. 19~ vgl. allgemein Kaiser/Schäch
StrafVollzug, 5. Aufl. 2002, § 13 Rn. 15 ff.
30 Schöch (Fn. 28), § 11 Rn. 16 sowie Rn. 32 m.w.N. S. auch BGH StV 1998, 344; dies
wurde auch bei der Neufassung des § 2 Abs. 1 JGG zugrunde gelegt, s. BT-Drs. 16/6293, S. 9.
Relativierend BGH NStZ 1996, 496, allerdings mit dem nicht überzeugenden Argument der
entgegenstehenden Auffassung des Gesetzgebers - dessen Annahnlen kommt schon aus verfas-
sungsrechtlichen Gründen gegenüber klar entgegenstehenden empirischen Erkenntnissen kein
Vorrang zu, vgl. BVerfGE 110, 141, 158 sowie - unmittelbar auf den JugendstrafVollzug
bezogen - BVerfGE 116, 69, 91.
Generalprävention als Sanktionszweck des Jugendstrafrechts 215

IV. Lückenfüllung durch Generalprävention?


Denkbar wäre nun, zur ergänzenden Legitimation der jugendstrafrechtli-
chen Sanktionen auf generalpräventive Erwägungen zurückzugreifen. Dabei
ist von zwei Formen der Generalprävention auszugehen: Während es bei der
negativen Generalprävention um die Abschreckungswirkung der Sanktion
gegenüber der Allgemeinheit geht, stellt die Theorie der positiven General-
prävention eher auf die Wiederherstellung des durch die Straftat gestörten
Rechtsfriedens mittels einer als angemessen und gerecht empfundenen
Reaktion ab. 31
In der Rechtsprechung sowie einem Teil der Literatur wird allerdings eine
(auch) generalpräventive Zielsetzung des Jugendstrafrechts abgelehnt. We-
der bei der Begründung der Sanktion als solcher, noch bei der konkreten
Bemessung sollen generalpräventive Erwägungen eine Rolle spielen;32 man
geht nicht zu weit, wenn man die Generalprävention als "Tabu" des Jugend-
strafrechts bezeichnet. Als Argument wird oft darauf verwiesen, dass die
Generalprävention keinen Eingang in den l'ext des JGG gefunden habe,
auch nicht unter der Bezeichnung der "Verteidigung der Rechtsordnung",
die in einigen Normen des allgemeinen Strafrechts enthalten ist. 33 Zudem
wird wohl befürchtet, dass die Akzeptanz generalpräventiver Erwägungen
automatisch die Gefahr (erzieherisch kontraproduktiver) Strafschärfungen
mit sich bringt. Schließlich wird auch bestritten, dass das Jugendstrafrecht
eine generalpräventive Wirkung entfaltet. Diese Einwände lassen sich aber
entkräften.
Der Begriff der "Verteidigung der Rechtsordnung" taucht im allgemeinen
Strafrecht nur punktuell auf, unter anderem bei der Entscheidung zwischen
Geldstrafe und kurzer Freiheitsstrafe (§ 47 Abs. 1 StGB). In allen Fällen
geht es um die Fixierung eines "generalpräventiven Minimums", das nicht
von einer als zu milde empfundenen Sanktion unterlaufen werden soll.
Diese Spezialregelungen bedeuten aber nicht, dass Generalprävention dar-
über hinaus kein legitimer Strafzweck sein soll; sie werden so im allgemei-
nen Strafrecht auch nicht verstanden. Das Fehlen von entsprechenden Rege-
lungen im JGG weist daher lediglich darauf hin, dass vergleichbare
generalpräventive Untergrenzen bei den Sanktionsentscheidungen des Rich-
ters im Jugendstrafrecht selten auf diese Weise fixiert werden. Damit sind

31 Vgl. nur Roxin (Fn. 7), § 3 Rn. 21 ff.


32 BGHSt 15,224,226; Eisenberg JGG, 13. f\ufl. 2009, § 17 Rn. 5; Albrecht (Fn. 1),097.
Demgegenüber spielen generalpräventive Überlegungen in der Praxis durchaus eine gewisse
Rolle, vgl. die Ergebnisse der Untersuchung von Buckolt Die Zumessung der Jugendstrafe,
2009, S. 310 ff.
33 OstendorfJGG, 8. Aufl. 2009, Grdlg. z. §§ 17-18, Rn. 3.
216 Johannes Kaspar

mehr Spielräume für einen möglichst schonenden Umgang mit dem jugend-
lichen Delinquenten eröffnet. 34
Das bedeutet aber nicht, dass es diese Untergrenzen nicht gäbe. Das be-
ginnt schon auf der Ebene der Diversion, wo § 45 Abs. 1 JGG für die Frage
der informellen Erledigung durch den Staatsanwalt (wie auch die für den
Richter geltende Parallelnorm des § 47 Abs. 1 Nr. 1 JGG) auf die Voraus-
setzungen des § 153 StPO verweist. Eine Einstellung darf nur erfolgen,
wenn kein "öffentliches Interesse" entgegensteht. Man wird zwar eine ge-
wisse Harmonisierung erzielen können, indem man diesen Begriff jugend-
spezifisch auslegt und von einem regelmäßig zu bejahenden öffentlichen
Interesse an der erzieherisch sinnvollsten Reaktion ausgeht;35 dennoch wird
über die Verweisung auf § 153 Abs. 1 StPO ein generalpräventiver Aspekt
in die Norm inkorporiert, der offensichtlich nicht unmittelbar auf die Erzie-
hung des Jugendlichen abzielt. 36 Geht man weiter zu den formellen Sankti-
onen, wird man sich in vielen Fällen angenehmere und für den Jugendlichen
erzieherisch positiver wirkende Maßnahmen vorstellen können - der zum
Teil in polemischer Absicht vorgetragene (hier ausdrücklich nicht so ge-
meinte) Hinweis auf die mehrwöchige Erlebnisreise mag hier genügen.
Auch unabhängig von fiskalischen Grenzen sind solche Maßnahmen ab
einer gewissen Schwere des Schuldvorwurfs vom Gesetzgeber nicht vorge-
sehen, wie es jedenfalls die Jugendstrafe gern. § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG deut-
lich macht. 37 Aber auch andere Vorschriften, wie z. B. § 13 Abs. 1 JGG, der
einen ahndenden Charakter der Zuchtmittel vorgibt, oder § 15 Abs. 1 JGG,
der einen abschließenden Katalog möglicher Auflagen enthält, sind vom
Gedanken der Sicherstellung einer gewissen "Spürbarkeit" der Sanktion
getragen, der über reine Erziehung im Sinne von Hilfe und Förderung hi-
nausgeht.
Dazu kommt, dass kraft der Verweisung in § 2 Abs. 2 JGG die strafbe-
wehrten Verhaltensnormen des allgemeinen Strafrechts ausdrücklich auch
für Jugendliche und Heranwachsende gelten. Damit ist zumindest die so
genannte Androhungsgeneralprävention als Zielsetzung des Jugendstraf-
rechts nicht von der Hand zu weisen. 38 Die in Bezug genommenen Verbots-
normen enthalten auch gegenüber Jugendlichen einen Appell, auf Straftaten
zu verzichten und zugleich die Drohung, dass bei Zuwiderhandlungen mit
einer (wenn auch in erster Linie erzieherisch ausgerichteten) Sanktion rea-
giert wird. Die Sanktionsandrohung beinhaltet stets auch die Anerkennung

34 Vgl. Bottke (Fn. 20), S. 40 f.


35 Schöch (Fn. 16), Fall 12 Rn. 65.
36 Vgl. auch Hackstock (Fn. 21), S. 220 f. Die von Albrecht (Fn. 1),041 erwähnte "Tatori-
entierung" der jugendstrafrechtlichen Diversionspraxis dürfte damit in Verbindung stehen.
37 Vgl. Brunner/Dölling (Fn. 21), Einf. II Rn. 15. Dazu näher unter V.
38 Vgl. Bottke (Fn. 20), S. 7 f.
Generalprävention als Sanktionszweck des Jugendstrafrechts 217

der Notwendigkeit einer "Androhungsrealisierung" - andernfalls verlöre


das Recht seine Autorität und seine Orientierungsfunktion. 39 Die zum Teil
artikulierten Bedenken gegenüber einer "verniedlichenden Jugendstrafe"40
gehen in diese Richtung. Aufgrund des eben aufgezeigten Zusammenhangs
von Strafandrohung und Androhungsrealisierung wäre es aber nicht ein-
leuchtend, das Problem des "verniedlichenden Eindrucks" oder der "Norm-
verdeutlichung" nur auf den konkret Sanktionierten zu beschränken. 41
Die Anerkennung einer generalpräventiven Komponente der jugendstraf-
rechtlichen Sanktionen führt entgegen einer weit verbreiteten Annahme
nicht automatisch zur Gefahr einer uferlosen Ausweitung der Bestrafung
des Täters. Denn nur im Rahmen der vom Täter schuldhaft verwirklichten
Tat und der durch sie ausgelösten generalpräventiven Bedürfnisse darf
überhaupt mittels der Sanktion reagiert werden. Das sichert ein nötiges Maß
an "Tatproportionalität"42 der staatlichen Reaktion, die damit nicht nur vom
Täter4 3, sondern auch von der Allgemeinheit prinzipiell als gerechte und
(auch im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes) "angemessene" Reak-
tion verstanden werden kann. 44 Der Gefahr maßloser Strafen oder eines
Verstoßes gegen die Menschenwürde ist damit vorgebeugt. Zugleich zeigt
sich, dass eine sowohl erzieherische als auch generalpräventive Ausrichtung
der Sanktionierung keinen prinzipiellen Widerspruch darstellt. 45 Antino-
mien müssen schon anhand der Vorgabe des Gesetzgebers in § 2 Abs. 1
JGG regelmäßig zugunsten des spezialpräventiven Erziehungszwecks auf-
gelöst werden. Im Ergebnis lässt sich auch das Jugendstrafrecht (unter Bei-
behaltung seiner aus dem Erziehungsgedanken folgenden Besonderheiten)
auf der Grundlage der von Roxin vertretenen präventiven Vereinigungstheo-
rie 46 rekonstruieren: Sanktionszweck ist die Verhinderung von Straftaten
durch in erster Linie spezialpräventiv (hier: erzieherisch) orientierte Sankti-
onen. Der Generalprävention kommt die Aufgabe eines komplementären
Zwecks zu, der die Untergrenze eines Mindestmaßes der Sanktionierung

39 Ähnlich Rössner (Fn. 3), § 1 Rn. 12 a. E.


40 Vgl. Schöch (Fn. 28), § 11 Rn. 31.
41 Vgl. Streng (Fn. 11), § 1 Rn. 22. Auch der Gesetzgeber erwähnt "Normverdeutlichung"
als Aspekt der Generalprävention, s. BT-Drs. 16/2693, S. 10.
42 Dazu Albrecht (Fn. 1), D 110 ff.~ vgl. auch Schöch (Fn. 16), Fall 12 Rn. 3.
43 Zu diesem Aspekt vgl. Brunner/Dölling (Fn. 21), Einf. 11 Rn. 16.
44 Auf diese Weise ist auch - vermittelt über den Strafzweck der positiven Generalpräven-
tion - ein Anknüpfungspunkt für die Einbeziehung der Perspektive des Opfers vorhanden, vgl.
dazu Kaspar Wiedergutmachung und Mediation im Strafrecht, 2004, S. 63 ff. Diese darf auch
im Jugendstrafrecht nicht völlig ausgeblendet werden, zumal die Behauptung einer pauschalen
"Erziehungsfeindlichkeit" der Konfrontation mit dem Opfer nicht überzeugen kann, vgl. Röss-
ner in: Dölling (Fn. 5), S. 165.
45 Landau (Fn. 27), 219~ vgl. auch Bruns StV 1982,594 m.w.N.
46 Roxin (Fn. 7), § 3 Rn. 37 ff.
218 Johannes Kaspar

unabhängig vom konkreten Erziehungsbedarf begründet. 47 Dabei kann bei


Straftaten von Jugendlichen, die sich regelmäßig noch in einem nicht abge-
schlossenen Entwicklungsprozess des Norm- und Verantwortungslernens
befinden48 und die andererseits besonders "strafempfindlich" sind 49 , von
einem deutlich reduzierten Reaktionsbedürfnis ausgegangen werden. Das
eröffnet Spielräume für vielfältige Milderungen. 50
Zu klären bleibt die Frage der tatsächlichen generalpräventiven Wirkung
des Strafrechts. Empirische Untersuchungen im Bereich des allgemeinen
Strafrechts haben ergeben, dass man durchaus von einer solchen Wirkung
ausgehen kann. Die Höhe der angedrohten und verhängten Sanktionen hatte
keinen messbaren Einfluss auf die Deliktsbegehung, sehr wohl aber die
Frage der Entdeckungs- und damit der Sanktionswahrscheinlichkeit. 51 Einen
klaren Beleg für die Wirkung des Strafrechts im Sinne der positiven Gene-
ralprävention gibt es bislang nicht. Dennoch kann zumindest als plausible
Annahme gelten, dass das Ausbleiben einer als gerecht empfundenen Reak-
tion auf Straftaten auf lange Sicht geeignet ist, das Vertrauen in die Rechts-
ordnung und damit auch die eigene Rechtstreue zu untergraben. 52
Im Hinblick auf eine spezifische generalpräventive Wirkung des Straf-
rechts bei Jugendlichen gibt es noch weniger empirische Befunde. Das liegt
sicher auch an dem oben angesprochenen "Tabu-Charakter" der General-
prävention in diesem Bereich. Dass Jugenddelinquenz eher spontanen und
unüberlegten Charakter hat, ist als Ausgangspunkt zutreffend 53 , spricht
jedoch nicht gegen ein generelles Bewusstsein auch bereits bei Jugendli-
chen, dass bestimmte Handlungsweisen bei Strafe verboten und daher zu
unterlassen sind. Zugleich ist nicht zu sehen, warum die Bestrafung anderer
Jugendlicher für bestimmte Taten, die durch persönliche Erfahrungen im
Freundeskreis oder vermittelt über die Medien erlebt wird, nicht das Den-
ken und Handeln von Jugendlichen mitbestimmen sollte. Ein völliges Aus-

47 Vgl. die Konzeption von Meyer-OdeH'ald Die Verhängung und Zumessung der Jugend-
strafe, 1993, S. 86 f; S. 180 ff
48 S. Rössner (Fn. 3), § 1 Rn. 1 ff; BVerfGE 116, 69, 85.
49 Das gilt insbesondere für den Freiheitsentzug, vgl. Brunner/Dölling (Fn. 21), § 18 Rn. 19~
BVerfGE 116,69,87.
50 Vgl. Schöch (Fn. 16), Fall 12 Rn. 16; Streng (Fn. 11), § 1 Rn. 17.
51 Vgl. Schöch Empirische Grundlagen der Generalprävention, in: FS Jescheck, 1985,
S. 1090; Dölling ZStW 1990, 1 ff Zu vergleichbaren neueren Befunden einer aktuellen Meta-
analyse s. Dölling u. a. European Journal ofCriminal Policy Research 2009,201.
52 Vgl. Bottke (Fn. 20), S. 7 m.w.N.
53 Vgl. OstendorfHRRS 2008, 162.
Generalprävention als Sanktionszweck des Jugendstrafrechts 219

bleiben solcher generalpräventiver Effekte erscheint daher nicht überzeu-


gend. 54
Dennoch wird die "Abschreckung anderer potenzieller Täter" bei der kon-
kreten Anwendung des Jugendstrafrechts im Einzelfall vom Gesetzgeber als
unzulässig bezeichnet. 55 Rein negativ generalpräventiv motivierte Abschre-
ckungsstrafen sind nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers aus-
geschlossen. Zugleich wird aber zumindest von möglichen generalpräventi-
ven Nebeneffekten einer konsequenten Anwendung des Jugendstrafrechts
im Sinne der "Normverdeutlichung" gesprochen. 56 Die Theorie der Gene-
ralprävention in ihrer positiven Variante bleibt damit denkbare Zielsetzung
und Legitimationsgrundlage des Jugendstrafrechts. Dass der Wortlaut des
§ 2 Abs. 1 S. 1 JGG eine Beschränkung auf Spezialprävention nahe legt,
kann man kaum behaupten: 57 Die Verhinderung von Straftaten "eines"
Jugendlichen muss nicht bedeuten, dass es dabei nur um die Straftaten des
konkret Sanktionierten geht.
Die Theorie der positiven Generalprävention richtet sich allerdings aus-
drücklich nicht nur an tatgeneigte Personen einer bestimmten Altersgruppe,
sondern definitionsgemäß an die gesamte Bevölkerung. Deren Vertrauen in
die Rechtsordnung und damit letztlich auch deren Rechtstreue, sollen durch
die Sanktionierung gestärkt werden. 58 Dass dieser positiv generalpräventive
Effekt aber nur sehr mittelbar zur Verhinderung von Straftaten beiträgt und
über sein Ausmaß nur spekuliert werden kann, ist offensichtlich. Auch
deswegen darf er nicht überstrapaziert werden. Die positiv generalpräventi-
ve Wirkung der Strafe kann in den meisten Fällen im Sinne einer "Kon-
gruenzthese" durch die erzieherisch orientierte Sanktion als mit abgedeckt
gelten. 59 Die Anerkennung dieses Strafzwecks wirkt sich daher in diesem
Bereich nicht im Sinne einer Modifikation oder Verschärfung der Sanktio-
nen aus. 60 Sie steht deshalb auch mit dem Anliegen des Gesetzgebers in
Einklang, den Vorrang des Erziehungsgedankens zu betonen und Straf-

54 So tendenziell aber Albrecht (Fn. 1), D 56 f.~ wie hier z. B. Bottke (Fn. 20), S. 8 ff. Das
gilt auch dann, wenn man den von Streng GA 1984, 153 Fn. 20 erhobenen Einwand der Nicht-
öffentlichkeit des Verfahrens gern. § 48 JGG berücksichtigt.
55 BT-Drs. 16/6293, S. 10.
56 BT-Drs. 16/6293, S. 10.
57 So aber die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/6293, S. 10.
58 Die "Öffnungsklausel" in § 2 Abs. 1 S. 1 JGG lässt sich also auf diesen Sanktionszweck
beziehen, da es hier nicht um die Verhinderung von Straftaten von Jugendlichen geht. Gleich-
zeitig erfasst sie die oben erwähnten Fälle von jugendstrafrechtlichen Sanktionen gegen er-
wachsene Täter.
59 Ähnlich bereits Bottke (Fn. 20), S. 41.
60 Auch die Untersuchung von Buckolt (Fn. 32), S. 326 erbrachte keinen klaren Zusammen-
hang von generalpräventiven Einstellungen der Richter einerseits und einem erhöhten Sank-
tionsniveau andererseits.
220 Johannes Kaspar

schärfungen im Einzelfall auszuschließen. Wie zu zeigen versucht wurde,


kann sie aber helfen, das Sanktionssystem des JGG besser und wider-
spruchsfreier zu erklären. Die "Kongruenzthese" (die man noch genauer
empirisch untersuchen müsste) stößt nur bei schweren Delikten, vor allem
Kapitaldelikten, offensichtlich an Grenzen. 61 Damit ist man bei der Frage
der Jugendstrafe wegen "Schwere der Schuld" und ihrer spezifischen Ziel-
setzung angelangt, die abschließend noch gesondert betrachtet werden soll.

v. Generalprävention und Jugendstrafe wegen


"Schwere der Schuld"
Der geradezu klassische Streit um die Bedeutung der Jugendstrafe wegen
"Schwere der Schuld" gern. § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG 62 betrifft das hier ange-
sprochene Thema des Zwecks der Jugendstrafe ,jenseits von Erziehung".
Denn die Gegenüberstellung mit der Alternative der Jugendstrafe "wegen
schädlicher Neigungen" in Alt. 1 legt nahe, dass es hier nicht um die erzie-
herische Einwirkung auf einen rückfallgefährdeten Jugendlichen geht.
In gewissem Widerspruch dazu fordert allerdings § 18 Abs. 2 JGG, dass
auch die Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld so zu bemessen ist,
dass "die erforderliche erzieherische Einwirkung" möglich ist. Die Recht-
sprechung hat diesen Widerspruch früher aufzulösen versucht, indem sie
postulierte, dass auch die Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld nur ver-
hängt werden dürfe, soweit es zur erzieherischen Einwirkung erforderlich
sei;63 zumindest müsse dem Erziehungsgedanken auch hier der Vorrang
zukommen. 64 Die herrschende Ansicht in der Literatur hat dies zu Recht
kritisiert, vor allem mit dem Argument, dass in diesem Fall der Wortlaut
von § 17 Abs. 2 JGG mit seiner deutlichen Trennung zwischen beiden Al-
ternativen unverständlich bliebe. 65 Eine Harmonisierung in der Weise, dass
Taten, die von einer besonderen Schwere der Schuld geprägt sind, regelmä-
ßig auch besondere Erziehungsmängel offenbaren, erscheint zwar im An-
satz möglich. 66 Sie kann aber nicht in allen Fällen zur Auflösung des Prob-
lems führen, denn in bestimmten Konstellationen sind auch schwerste
Delikte von an sich normal entwickelten Jugendlichen ohne gravierende

61 So im Ergebnis auch Schäch (Fn. 28), § 11 Rn. 32.


62 Auf § 17 Abs. 2 Alt. 1 JGG wird hier nicht vertieft eingegangen, da eine vorrangig spezi-
alpräventive Ausrichtung nicht zu bestreiten ist.
63 BGHSt 16,261,263.
64 BGHSt 15,224; BGH NStZ-RR 2006,27.
65 Vgl. nur BrunnerlDälling (Fn. 21), § 17 Rn. 14a; SchaffsteinlBeulke Jugendstrafrecht, 14.
Autl. 2002, § 22 11 2.
66 Vgl. Bruns (Fn. 45), 594; BGH NStZ 2007,523.
Generalprävention als Sanktionszweck des Jugendstrafrechts 221

Erziehungsmängel denkbar. 67 Hinzu kommen die bereits oben formulierten


Bedenken im Hinblick auf die Eignung eines langjährigen Freiheitsentzugs
zur Erziehung des Jugendlichen. 68
Dementsprechend lässt sich auch in der neueren Rechtsprechung eine ge-
wisse Kehrtwende feststellen: Dort wird zumindest bei Kapitaldelikten von
einer "eigenständigen Bedeutung" der Schuldschwere gesprochen. 69 Der
Wortlaut des § 18 Abs. 2 JGG steht einer solchen Interpretation nicht ent-
gegen, da man ihn auch so interpretieren kann, dass selbst bei Verhängung
der "schuldorientierten" Jugendstrafe natürlich nach Kräften versucht wer-
den soll, positiv auf den Jugendlichen einzuwirken 70 bzw. zumindest schäd-
liche Auswirkungen möglichst zu vermeiden. 71 Das gilt erst recht, wenn
man den neu geschaffenen § 2 Abs. 1 S. 2 JGG zusätzlich zur Interpretation
des § 18 Abs. 2 JGG heranzieht, denn wie oben dargestellt wurde soll nach
dieser Norm die "Anwendung des Jugendstrafrechts", damit auch die Ver-
hängung der Jugendstrafe, nur "vorrangig" am Erziehungsgedanken ausge-
richtet sein. Schlagwortartig formuliert: Man sperrt jedenfalls in diesen
Fällen nicht ein, um zu erziehen, aber wenn man schon einsperren muss,
soll man dies (soweit erforderlich) zur Erziehung des Betroffenen nutzen. 72
Das aber führt zur Ausgangsfrage zurück: Warum "muss" man in den Fäl-
len des § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG einsperren? Sucht man nach Erklärungsver-
suchen für den Zweck der "wegen der Schwere der Schuld" verhängten
Jugendstrafe, findet man oft eher knapp gehaltene Hinweise auf
"Schuldausgleich"73 oder "Vergeltung"74. Auf die Bedenken gegen die
Anerkennung solcher absoluter Strafzwecke wurde bereits hingewiesen.
Sind diese schon im allgemeinen Strafrecht umstritten, so ist erst recht nicht
einsichtig, warum sie bei Jugendlichen eine gravierende und anerkannter-
maßen (bei längerer Dauer) eher mit Gefahren für die persönliche Entwick-
lung verbundene Sanktion rechtfertigen sollen75.
Denkbar wäre, den spezialpräventiven Effekt der Sicherung durch die In-
haftierung heranzuziehen. 76 Aber eine solche Argumentation ist jedenfalls
in Bezug auf § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG mit Schwierigkeiten verbunden. Fak-

67 Albrecht (Fn. 1), D 112. Vgl. den Beispielsfall bei Schäch (Fn. 16), Fall 13 Rn. 24 ff.
68 Bruns (Fn. 45), 594.
69 BGH StV 1982, 121~ OLG Hamm NStZ-RR 2005, 58~ BGH NStZ 2007,522 f.
70 Das folgt schon aus den Strafvollzugsgesetzen der Länder, wo (ohne Unterscheidung
nach dem Anlass der Verhängung der Jugendstrafe) die erzieherische Einwirkung als Ziel des
Jugendstrafvollzugs genannt wird, vgl. nur Art. 121 BayStVollzG.
71 Schäch (Fn. 16), Fall 13 Rn. 28.
72 Ostendorf(Fn. 33), § 17 Rn. 11.
73 Bruns (Fn. 45), 592.
74 S. P.A. Albrecht Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2000, § 30 I.
75 Vgl. TenckhojfJR 1977,486.
76 Vgl. Streng (Fn. 11), § 12 Rn. 452 m.w.N.
222 Johannes Kaspar

tisch wird die Sicherungswirkung (von den bedauerlichen Straftaten inner-


halb der Jugendstrafvollzugsanstalten abgesehen) durch den Strafvollzug
erzielt. Gleichzeitig hat der Sicherungszweck auch Eingang in die gesetzli-
chen Regelungen der Länder zum Jugendstrafvollzug gefunden. 77 Aller-
dings wird die Jugendstrafe gern. § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG (anders als bei der
Variante der "schädlichen Neigungen") nicht nur gegen als gefährlich ein-
gestufte Jugendliche verhängt; der Leitgedanke ist hier allein die "Schwere
der Schuld", die auch bei Tätern vorliegen kann, von denen in Zukunft
keinerlei Straftaten mehr zu erwarten sind. Anders als bei § 17 Abs. 2 Alt. 1
JGG spricht die Auslegung des Gesetzes daher gegen eine unmittelbare 78
Berücksichtigung des Sicherungszwecks. Weiterhin ist noch auf die vor
allem bei jugendlichen Straftätern äußerst schwere Aufgabe einer ausrei-
chend sicheren Gefährlichkeitsprognose hinzuweisen: 79 Auch bei Mehrfach-
und Intensivtätern ist der Abbruch der kriminellen Karriere häufiger als
deren Fortführung,80 und selbst in neueren aufwändigen Längsschnittstudien
ist es nicht gelungen, die Hochrisikogruppe der (auch in Zukunft mit schwe-
ren Straftaten auffälligen) "chronic offenders" hinreichend sicher zu identi-
fizi eren. 81
Nach allem kommt also eine Rechtfertigung der allein auf die Schwere
der Schuld gestützten Jugendstrafe nur anhand von generalpräventiven
Aspekten in Betracht. 82 Da die Abschreckungswirkung im Sinne der negati-
ven Generalprävention nach den erwähnten empirischen Forschungsergeb-
nissen nicht von einer besonders harten Sallktionierung abhängt, wird man
dabei die negative Generalprävention nicht heranziehen können, sondern
allein im Sinne der positiven Generalprävention auf das durch besonders
schwere Straftaten ausgelöste Bedürfnis nach Wiederherstellung des
Rechtsfriedens abstellen dürfen. Dafür spricht auch die oft zitierte Definiti-
on der "Schwere der Schuld": Diese soll dann gegeben sein, wenn ein Ver-
zicht auf Jugendstrafe zugunsten von milderer Sanktionierung "in unerträg-
lichem Widerspruch zum allgemeinen Gerechtigkeitsgefühl" stünde. 83 Der
Zusammenhang zur positiven Generalprävention, deren Anliegen oft auch

77 Vgl. nur Art. 121 S. 1 BayStVollzG.


78 Zur mittelbaren Berücksichtigung im Rahmen der positiv-generalpräventiven Bestim-
mung der "angemessenen" Sanktion s. unten.
79 Bottke (Fn. 20), S. 23.
80 Meier (Fn. 17), Rn. 7 m. w. N.
81 Albrecht (Fn. 1), D 33; Bock Kriminologie, 3. Autl. 2007, § 6 Rn. 238.
82 Vgl. Tenckhoff(Fn. 75),485 ff.; Bottke (Fn. 20), S. 41; Streng (Fn. 11), § 12 Rn. 436;
Ostendorf (Fn. 7), Rn. 213. Auch Schöch (Fn. 28), § 11 Rn. 14 spricht von der "generellen
Legitimation" der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld durch positiv-generalpräventive
Überlegungen.
83 SchaffsteinlBeulke (Fn. 65), § 22 II 2 c.; ähnlich Ostendorf(Fn. 7), Rn. 7.
Generalprävention als Sanktionszweck des Jugendstrafrechts 223

mit der Wiederherstellung des Vertrauens in die Rechtsordnung umschrie-


ben wird 84 , liegt auf der Hand. 85 Damit ist auch das Argument, wonach
Generalprävention als Zweck der Jugendstrafe ausscheiden müsse, weil sie
in § 17 Abs. 2 JGG nicht genannt werde,86 weitgehend entkräftet. Dennoch
sollte man zur Klarstellung eine "rationale Umformulierung"87 von § 17
Abs. 2 Alt. 2 JGG vornehmen, wobei sich der aus dem allgemeinen Straf-
recht bekannte Begriff der"Verteidigung der Rechtsordnung" anbietet. 88
Auch die Autoren, die eine generalpräventive Komponente der Jugend-
strafe wegen Schwere der Schuld anerkennen, lehnen überwiegend eine
Berücksichtigung dieses Strafzwecks bei der konkreten Strafzumessung
ab. 89 Das dürfte überwiegend die negative Variante und die mit ihr verbun-
dene Gefahr einer unreflektierten Verschärfung von Jugendstrafen betref-
fen. 9o Man kommt jedenfalls nach hier vertretener Ansicht nicht umhin, bei
der Anerkennung der positiven Generalprävention als tragender Zielsetzung
der Jugendstrafe gern. § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG diesen Zweck auch bei deren
Bemessung heranzuziehen. Denn ganz allgemein wird die Relevanz von
Strafzumessungstatsachen notwendigerweise vom verfolgten Zweck präju-
diziert. 91 Die Einzelheiten einer jugendspezifischen, an positiv-
generalpräventiven Kriterien orientierten Strafzumessungslehre für diese
Konstellation können hier nicht erörtert werden. Man wird jedenfalls den
objektiven Unrechtsgehalt der Tat einschließlich ihrer Folgen als Grundlage
nicht nur der persönlichen Vorwerfbarkeit, sondern auch des Ausmaßes der
Erschütterung des Rechtsfriedens stärker gewichten müssen. 92 Die von der
Rechtsprechung befürwortete Fokussierung allein auf die (wenig klar kontu-
rierte) "innere Tatseite"93 würde demgegenüber an Bedeutung verlieren.
Der Vorwurf, dass es sich bei der positiven Generalprävention in der hier
skizzierten Weise nur um einen "verkappten Vergeltungszweck" handelt,
liegt nahe. 94 Der Unterschied besteht aber darin, dass man mit dem Ver-

84 Vgl. Roxin (Fn. 7), § 3 Rn. 27.


85 Zutreffend Ostendorj (Fn. 7), Rn. 213 a. E.
86 So Bruns (Fn. 45), 593.
87 Ostendorf(Fn. 7), Rn. 213.
88 Ähnlich Hinz JR 2001, 55 f., der aber keine Ersetzung von § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG, son-
dern eine entsprechende "Ergänzung" vorschlägt.
89 Schöch (Fn. 28), § 11 Rn. 13; Meyer-Odewald (Fn. 47), S. 189; offen gelassen bei Streng
(Fn. 11), § 12 Rn. 451.
90 Besonders deutlich bei Schöch (Fn. 16), Fall 13 Rn. 29 a. E.
91 Bruns (Fn. 45), 592.
92 Vgl. Tenckhojf(Fn. 75),486.
93 BGHSt 15, 224, 226; zutreffende Kritik bei Streng (Fn. 11), § 12 Fn. 432.
94 Einen Zusammenhang beider Aspekte stellen einige Autoren fest, vgl. nur Streng
(Fn. 11), Rn. 451; LaubenthallBaier (Fn. 24), Rn. 712; s. auch Hassemer Warum Strafe sein
muss, 2009, S. 50 sowie S. 96 ff.
224 Johannes Kaspar

ständnis der Strafe als der notwendigen Reaktion zur Wiederherstellung des
Rechtsfriedens einen zumindest im Kern empirischen Ansatzpunkt rur den
Sinn und Zweck der Strafe finden kann. Natürlich stellt sich das Problem,
inwiefern die "Demoskopie", also die empirische Ermittlung von "Reakti-
onsbedürfnissen", ausschlaggebend für die Sanktionierung sein darf. 95 Man
wird hier ohne normative Korrektur nicht auskommen, die in der Anerken-
nung der Maßfigur eines "verständigen objektiven Beobachters" liegen
könnte. Es erscheint jedoch ehrlicher, den neben der erzieherisch motivier-
ten Einwirkung auf den Jugendlichen verfolgten Strafzweck mit seinen
Problemen auf diese Weise offen zu legen und damit diskutierbar zu ma-
chen, als ganz idealistisch, damit aber auch ohne genaueren Rechtferti-
gungszwang, auf "Schuldausgleich" oder "Vergeltung" zu setzen. 96
Das von der positiven Generalprävention thematisierte "Reaktionsbedürf-
nis" der Bevölkerung dürfte sich zudem nicht ganz unabhängig von den
sonstigen denkbaren Strafzwecken entfalten. Man kann im Gegenteil ver-
muten, dass dieses Bedürfnis auch auf der Annahme der Wirksamkeit der
Bestrafung in erzieherischer wie auch in sichernder Hinsicht beruht. 97 Da
beide Sanktionszwecke wie gezeigt im Rahmen von § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG
mit spezifischen Problemen behaftet sind, liegt die Beschränkung einer rein
generalpräventiv begründeten Jugendstrafe auf besonders schwere Strafta-
ten nahe, wie dies in der neueren Rechtsprechung zu Bedeutung von § 17
Abs. 2 Alt. 2 JGG anklingt. 98 Um Rechtssicherheit zu schaffen, wäre hier
eine gesetzliche Klarstellung durch die Schaffung eines Deliktskatalogs
oder einen ausdrücklichen Ausschluss von Vergehen oder zumindest von
Fahrlässigkeitstaten 99 zu erwägen.

VI. Fazit
Entgegen der nach wie vor herrschenden Ansicht in Rechtsprechung und
Literatur spielen generalpräventive Aspekte im geltenden Jugendstrafrecht
durchaus eine Rolle. Sie durchziehen das Jugendstrafrecht wie ein Netz, das
ein bestimmtes für den Jugendlichen spürbares und nur dadurch ein auch in
generalpräventiver Hinsicht Erfolg versprechendes Minimalniveau sicher-

95 Vgl. nur Kunz ZStW 98 (1986), 823, 832.


96 Bottke (Fn. 20), S. 42 f Zur von den Gerichten bei schweren Straftaten "verdeckt" prakti-
zierten Generalprävention s. die Untersuchung von Neubacher MSchKrim 1999, 12 f
97 Vgl. (in Bezug auf § 17 Abs. 2 Alt. 1 100) Streng OA 1984, 156 ff
98 OLO Hamm NStZ-RR 2005, 58; OLO Hamm Zll 2005, 447 f; BOH NStZ 2007, 522 f
99 Ob letztere eine "Schwere der Schuld" begründen können, ist umstritten; ablehnend
Ostendorf (Fn. 7), Rn. 214; nach Schöch (Fn. 28), § 11 Rn. 19 ist dies in Ausnahmefällen zu
bejahen.
Generalprävention als Sanktionszweck des Jugendstrafrechts 225

stellt. Dabei existieren aber, um im Bild zu bleiben, weite Maschen, die


Spielräume und Milderungsmöglichkeiten eröffnen. Insbesondere lässt sich
anhand der §§ 45 und 47 JGG zeigen, dass der Gesetzgeber dieses Mini-
malniveau als zum Teil auf null reduziert bzw. als durch außerstrafrechtli-
che erzieherische Maßnahmen erfullt ansieht. 100 Im Sinne einer Kongruenz-
these ist davon auszugehen, dass die erzieherisch orientierte Sanktion im
Rahmen der Vorgaben des JGG sowie der verfassungsrechtlichen Grenzen
auch das positiv generalpräventive Reaktionsbedürfnis abdeckt. Die Aner-
kennung der Generalprävention sorgt fur mehr Klarheit, indem sie einerseits
das Jugendstrafrecht von der "Lebenslüge" 101 befreit, es sei stets (oder gar,
wie man bei unbefangenem Verständnis aus § 5 Abs. 2 JGG entnehmen
könnte, mit steigender Eingriffsintensität umso mehr) erzieherisch wirksam.
Sie bewirkt andererseits, dass das Aus\\reichen auf den zweifelhaften Straf-
zweck der reinen Schuldvergeltung als einzige Legitimation vor allern der
wegen "Schwere der Schuld" verhängten Jugendstrafe vermieden wird.
Auch fur die Bewertung konkreter kriminalpolitischer Reformvorhaben
lassen sich durch diese KlarsteIlung Anhaltspunkte gewinnen. So ist die
Anhebung des Höchstmaßes der Jugendstrafe fur Kapitaldelikte von zehn
auf funfzehn Jahre 102 jedenfalls aus erzieherischer Sicht nicht begründbar,
während sie als zwingendes Gebot des Schuldausgleichs natürlich ohne
weiteres behauptet, aber nicht rational diskutiert werden kann. Unter dem
Aspekt der Generalprävention ist eine solche Diskussion dagegen im Ansatz
möglich. Hier wird man nur schwer sachliche Argumente fur eine Erhöhung
der Höchststrafen finden. Reine Strafschärfungen versprechen keinerlei
erhöhte Abschreckungswirkung. Es bliebe der faktisch erzielte (zusätzliche)
Sicherungseffekt, dessen Anerkennung aber mit den Problemen einer sehr
langfristigen Prognose sowie der Abgrenzung zur nunmehr gern. § 7 Abs. 2
JGG auch gegenüber Jugendlichen möglichen nachträglichen Sicherungs-
verwahrung behaftet ist. Dazu kommt, dass man ein praktisches Bedürfnis
nach einer solchen Reform bezweifeln kann: Selbst die bisherige Höchst-
strafe von 10 Jahren Jugendstrafe wird nur in seltenen Fällen verhängt. 103
Ein entsprechend informierter verständiger Beobachter würde unter diesen
Vorzeichen weder den zwingenden Bedarf einer Anhebung der Strafrahmen
noch einer darauf gestützten härteren Sanktionspraxis bejahen. Im Zweifel

100 Vgl. P. A. Albrecht (Fn. 74), S. 79 f.


101 Streng FS Androulakis, 2003, S. 1235.
So das im Koalitionsvertrag auf S. 64 fixierte Vorhaben der neuen Bundesregierung.
102
Zwischen 1987 und 1996 wurde nur in 74 Fällen die Höchststrafe verhängt, vgl. Schul:::.
103
MSchKrim 200 1~ 310 ff.
226 Johannes Kaspar

muss dann aber auf die Verschärfung nach dem Grundsatz "in dubio pro
libertate" 104 verzichtet werden.
Werden die im Jugendstrafrecht identifizierbaren positiv generalpräventi-
ven Aspekte im hier vorgeschlagenen Sinne nicht unabhängig von den sons-
tigen sinnvollen Zielsetzungen der Sanktion und deren tatsächlicher Errei-
chung gesehen, wird man sich nach allem auch weiterhin um eine maßvolle
Sanktionierung von Jugendlichen sowie um eine noch stärkere Einbindung
kriminologischer Erkenntnisse bemühen müssen, ganz im Sinne von Heinz
Schöch, dem dieser Beitrag in Dankbarkeit gewidmet ist.

104 Dessen Geltung im Strafrecht ist allerdings umstritten, ablehnend z. B. Wolter NStZ
1993, 5; bejahend z. B. Sternberg-Lieben Die objektiven Schranken der Einwilligung im
Strafrecht, 1997, S. 458 ff.
§ 45 JGG - Qua vadis?
Ergebnisse und kriminalpolitische Konsequenzen der
Evaluation nordrhein-westfälischer Diversionstage

TORSTEN VERREL

I. Die bekannte Ausgangslage


Die Bedeutung der staatsanwaltlichen Diversion als mittlerweile häufigste
Erledigungsart im Jugendstrafverfahren, 1 aber auch als weites Experimen-
tierfeid für neue Reaktionsformen auf Jugendkriminalität 2 ist geradezu pa-
radigmatisch fur die Spannungen und Gratwanderungen, die mit dem Ein-
satz von Strafrecht gegenüber jungen Tätern verbunden sind. Man muss
beileibe kein Verfechter des Etikettierungsansatzes sein, um die formlose
Einstellung möglichst schon des Ermittlungsverfahrens als grundsätzlich
angemessenen Umgang mit typischerweise bagatell- und episodenhafter
Jugendkriminalität anzusehen. Dies gilt umso mehr, als der drastische An-
stieg der Tatverdächtigenbelastungszahlen bei gleichzeitig allenfalls mode-
ratem Anstieg der Verurteiltenziffern und sogar stagnierenden bis rückläu-
figen Häufigkeitszahlen zumindest auch als Ausdruck einer zunehmenden
Tendenz interpretiert werden kann, schon auf geringfügige Delikte Jugend-
licher und Heranwachsender mit strafrechtlicher Sozialkontrolle zu reagie-
ren. 3 Hier treffen sich denn auch in seltener Eintracht justizökonomische
Erwägungen der Strafverfolgungspraxis mit der strafrechtskritischen bis
-ablehnenden Einstellung mancher Kriminal(isierungs)theoretiker.
Jenseits dieses Minimalkonsenses über die Notwendigkeit und Nützlich-
keit der Diversion als solcher zeigt sich aber die ganze Janusköpfigkeit der
Entformalisierung jugendstrafrechtlicher Sanktionen. Auch wenn die Diver-
sionsraten der Bundesländer heute nicht mehr ganz so extrem differieren

1 Hein= ernlittelte für 2006' einen Anteil der Einstellungen nach § 45 Abs. 1 und 2 JGG an
allen informellen und formellen Sanktionen von 53 0/0
(http://ww\v.uni-konstanz.de/rtf/kis/sanks06.htm -> Schaubild 41, aufgerufen anl 4.3.2010),
2 Einen Überblick gibt u.a. Streng Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2003, Rn. 182.
3 j\1eier Kriminologie, 3. Aufl. 2008, § 5 Rn. 50.
228 Torsten Yerrel

wie noch in den 1980er Jahren,4 sind die regionalen Unterschiede nach wie
vor so groß, dass von einer Art. 3 Abs. 1 GG genügenden Anwendungspra-
xis schwerlich die Rede sein kann. Nun wird man trefflich darüber streiten
können, ob jeweils ein "Zuviel" oder ein "Zuwenig" an Diversion zu bekla-
gen ist. Fest steht, dass § 45 JGG in seiner derzeitigen Fassung sowohl
besonders permissiven als auch besonders einstellungsfreundlichen Sankti-
onsstilen Raum gibt. Zwiespältig fällt insbesondere die Bewertung von § 45
Abs. 2 JGG aus. So kann einerseits das Innovationspotential dieser Vor-
schrift5 gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, bildet sie doch die recht-
liche Basis fur die Erprobung neuer Reaktionsformen, die dann nicht selten
Eingang in das jugendstrafrechtliehe, aber auch in das Sanktionsinstrumen-
tarium des StGB finden. § 45 Abs. 2 JGG ist damit gleichsam eine gesetzli-
che Absicherung der Schrittmacherfunktion des Jugendstrafrechts. Auf der
anderen Seite steht die Sorge vor einem gerade durch solche Diversionspro-
jekte ausgelösten qualitativen Net-widening-Effekt~ der sich sowohl in einer
Zurückdrängung folgenloser Einstellungen nach § 45 Abs. 1 JGG als auch
in einer höheren Eingriffsintensität informeller gegenüber formellen Sankti-
onen äußern kann. 6 Eng damit verbunden sind die grundsätzlichen Beden-
ken der Wissenschaft - die Praxis scheint insoweit keinerlei Schmerzemp-
finden zu haben - gegenüber der nicht systemkonformen faktischen
Sanktionskompetenz der Staatsanwaltschaft fur weite Bereiche der Jugend-
kriminalität. 7 Ist der Fall des "prügelnden Staatsanwalts", der einen jugend-
lichen Missetäter im Einverständnis aller Beteiligten und zumeist in der
elterlichen Wohnung Schläge auf das nackte Gesäß versetzte, 8 gewiss eine
extreme Ausnahme, dürfen die Erosionswirkungen nicht unterschätzt wer-
den, die von der weitgehenden Zulassung "nur" informeller Prozeduren für
die Rechtsstaatlichkeit eines Strafverfahrens ausgehen können. Denn die in
das JGG eingebundene Diversion ist und bleibt ungeachtet ihrer konkreten
Eingriffsintensität Anwendung von Strafrecht und unterliegt daher auch
dessen Begrenzungen, die im Übrigen preisgibt, wer sich die Abschaffung
des (Jugend-)Strafrechts auf die Fahnen schreibt.
Mit dieser Ambivalenz und Gemengelage der Diversion hat sich auch
mein verehrter, nunmehr 70 Jahre jung gebliebener akademischer Lehrer
Heinz Schöch vielfach auseinandergesetzt 9 und selbst innovative Diversi-

4 Hein= (Fn. 1), Schaubild 44.


5 Vgl. Walter DVJJ-J 2001,358,362.
6 Ostendo1jJugendgerichtsgesetz, 8. Autl. 2009, Grdl. Z. §§ 45 u. 47, Rn. 5.
7 S. nur Brunner/Dölling Jugendgerichtsgesetz, 11. Autl. 2002, § 45 Rn. 9.
8 BGHSt 32, 357~ s. dazu auch Schäch in: Kaiser/Schöch, Kriminologie, Jugendstrafrecht,
Strafvollzug, 6. Aufl. 2006, Fall 12, Rn. 77.
9 S. vorerst nur Schäch Empfehlen sich Änderungen oder Ergänzungen bei den strafrechtli-
chen Sanktionen ohne Freiheitsentzug? Gutachten C für den 59. Deutschen Juristentag, 1992,
§ 45 JGG - Qua vadis? 229

onsprojekte lO betreut. Auch dieser Teil seiner Forschungsarbeit ist durch die
ihm eigene Verbindung von kritischer wissenschaftlicher Distanz und Pra-
xisverbundenheit gekennzeichnet, die ihn insbesondere im Jugendstrafrecht
das ein oder andere rvral dazu geführt hat, "Reformen von unten'~ auch ge-
gen den Strom der Literatur positiv zu würdigen. 11 Mit der nun folgenden
Darstellung einer Evaluationsstudie, die das Kriminologische Selninar der
Universität Bonn im Auftrag des Justizministeriums Nordrhein-Westfalen
über ein neuartiges Diversionsmodell erstellt hat,12 versucht der Schüler in
diese Fußstapfen seines Lehrers zu treten, ohne sich sicher zu sein, dass die
aus der Evaluation gezogenen rechtspolitischen Schlussfolgerungen seine
Zustimmung finden.

11. Der Versuch einer besseren Diversion:


Der "Termin Gelbe Karte" in Nordhein-Westfalen
Die zum ersten Mal in Remscheid 13 und mittlerweile in 14 nordrhein-
westfälischen Städten 14 praktizierten Temline "Gelbe Karte", die bis vor
kurzem noch die sachlich treffendere - und daher hier beibehaltene --, aber
als weniger griffig empfundene Bezeichnung "Diversionstage" trugen, 15
sollen Ausdruck einer rationalen Kriminalpolitik sein, die auf eine Steige-
rung der Effizienz der herkömmlichen, von der Staatsanwaltschaft weitge-
hend aktenmäßig abgewickelten Diversion abzielt und die Entstehung kri-
mineller Karrieren frühzeitig verhindern soll. 16 Dazu werden Beschuldigte
und ihre Eltern zu einem Termin vorgeladen, an dem zumeist in den Räu-
men der Polizei sowohl die polizeiliche Vernehmung als auch Gespräche
mit der Jugendgerichtshilfe und - insoweit bestehen standortspezifische
lJnterschiede 17 - mit dem Jugendstaatsanwalt stattfinden, der das Verfahren
sodann noch im Termin regelmäßig nach § 45 Abs. 2 JGG (vorläufig) ein-

S. 34 f.; Diversion in der Bundesrepublik Deutschland, in: Perspektiven der Diversion in


Österreich. Schriftenreihe des Bundesministeriums rur Justiz, Bd. 70, 1995, S. 103 ff.
10 U.a. Sabaß Schülergremien in der Jugendstrafrechtspflege - EHl neuerDiversionsansatz,
2004; Häffler Graffiti - Prävention durch Wiedergutmachung, 2008; Eng/mann Kriminalpäda-
gogische Schülerprojekte in Bayern, 2009.
11 Schäch in: Dölling (Hrsg.), Das Jugendstrafrecht an der Wende zum 21. Jahrhundert,
2001, S. 125 ff.
12 Linke Diversionstage in Nordrhein-Westfalen - Ergebnisse der Evaluation eines neuen
Diversionsmodells im Jugendstrafrecht, 2010 (inl Druck).
13 Achenbach DVJJ-J 2000,384 ff.; Diett TlJ 2003, 375 ff.
14 Vgl. Linke (Fn. 12), S. 1.
15 Müller-Piepenkätter/Kubink ZRP 2007, 63.
16 Müller-Piepenkätter/Kubink a.a.O.
17 Näher dazu Linke (Fn. 12), S. 83 ff.
230 Torsten Verrel

stellt. Durch das konzentrierte, unmittelbar aufeinander abgestimmte Auf-


treten der im Ermittlungsverfahren tätigen Behörden und die persönliche
Ansprache unter Einbeziehung der Erziehungsberechtigten soll eine beson-
dere Eindruckswirkung erzielt, das Verfahren beschleunigt und über den
Diversionstag hinaus eine bessere Vemetzung der Behörden erreicht wer-
den. Damit greift das Projekt "Gelbe Karte" einerseits Befürchtungen auf,
dass sich eine massenhaft betriebene routinemäßige Diversion mit der bloß
schriftlichen Mitteilung der (vorläufigen) Verfahrenseinstellung sowohl
spezial- als auch generalpräventiv nachteilig auswirken könnte. 18 Außerdem
trägt das Ziel einer Verfahrensbeschleunigung der allgemein konsentierten,
freilich erstaunlich wenig evidenzbasierten 19 Forderung Rechnung, dass die
Strafe/erzieherische Maßnahme der Tat auf dem Fuße folgen müsse. Ande-
rerseits läuft diese gleichsam prozedural qualifizierte Diversion in besonde-
rer Weise Gefahr, zu einem Net-widening zu führen und zumindest an die
Grenzen dessen zu stoßen, was nach der Systematik von § 45 Abs. 2 und 3
JGG noch in die Kompetenz des Jugendstaatsanwalts fällt. 20

111. Aufbau der Begleitforschung


In der Zeit von Januar 2007 bis Mitte 2009 ,vurden Diversionstage an
insgesamt sieben Standorten21 in Nordrhein-Westfalen evaluiert, die dort
teilweise schon seit mehreren Jahren praktiziert werden. Neben der im Mit-
telpunkt einer wissenschaftlichen Überprüfung stehenden Ergebnisevaluati-
on mit den beiden abhängigen Variablen Rückfall und Verfahrensdauer
wurde eine Prozessevaluation durch Befragung der am Diversionstag betei-
ligten Personen durchgeführt. Aufschlussreich war auch schon die einlei-
tende Erhebung der "Diversionstagslandschaft" durch Experteninterviews
und teilnehmende Beobachtungen, die deutliche Varianten sowohl hinsicht-
lich der Fallauswahl (Vorauffälligkeit/Deliktsschwere) als auch der Verfah-
rensgestaltung (Rolle der Staatsanwaltschaft) ergaben und zu einer idealty-
pischen Klassifizierung von zwei Diversionstagsmodellen22 führten.
Die methodisch aufwändigste Untersuchung der Legalbewährung basierte
auf dem Vergleich von Datensätzen aus der justizintemenMESTA-
Datenbank über Verfahren mit herkömmlicher Diversion einerseits und

18 Insoweit kritisch zu den hohen Diversionsraten in Hamburg und Berlin Schöch (Fn. 11),
S.129.
19 Vgl. Mertens/Murges-Kemper ZJJ 2008,356,357.
20 Kritisch aus jugendrichterlicher Sicht Riehe in: DVJJ (Hrsg.), Fördern Fordern Fallenlas-
sen,2008, S. 502,506.
21 Zur Auswahl Linke (Fn. 12), S. 77.
22 Näher dazu Linke (Fn. 12), S. 97 ff. und sogleich unten IV. 3.
§ 45 JGG - Qua vadis? 231

Diversionstagsteilnehmern andererseits. Um die bei Rückfalluntersuchun-


gen vielfach nicht gewährleistete Vergleichbarkeit von Untersuchungs- und
Kontrollgruppe zu erreichen, wurden fiinf Standorte mit längerer Diversi-
onstagserfahrung im Wege eines quasi-experimentellen retrospektiven De-
signs mit je 247 gematchten Fällen 23 evaluiert und darüber hinaus drei
Standorte einer prospektiven zufallsgesteuerten (gerades/ungerades Ge-
burtsdatum des Beschuldigten) Untersuchung mit bislang 171 bzw. 104
Fällen unterzogen. In die Prozessevaluation gingen Befragungen von 255
Jugendlichen, 200 Erziehungsberechtigten, und 88 Praktikern (Polizei, JGH,
StA) ein; die vergleichsweise hohen Beteiligungsquoten lagen zwischen
66,4 (Erziehungsberechtigte) und 81,8 % (Polizei).

IV. Zentrale Untersuchungsergebnisse


1. Diversionstagefuhren nicht zu einer Verringerung
der Rückfälligkeit
Die Resultate der Ergebnisevaluation waren in diesem fur die Bewertung
der Diversionstage zentralen Punkt überraschend eindeutig. Das retrospek-
tive Matching-Verfahren hat an keinem der untersuchten Standorte signifi-
kant bessere Rückfallquoten für die Diversionstagsteilnehmer ergeben. Bei
dem insoweit "besten" Standort lag die Rückfallquote bei einem einjährigen
Rückfallzeitraum um 5,3 %-Punkte, bei einem zweijährigen dann aber nur
noch um 1,4 %-Punkte über der der Vergleichsgruppe mit herkömmlicher
Diversion. An drei Standorten fiel sie sogar tendenziell schlechter (bis zu
10,8 %-Punkte), an einem gleich hoch aus. Insgesamt war die Rückfällig-
keit bei einem einjährigen Kontrollzeitraum mit 25,1 % (Diversionstage)
und 25,5 % (herkömmliche Diversion) und an den drei Standorten, fur die
ein zweijähriger Rückfallzeitraum untersucht werden konnte, mit 35,1 %
bzw. 36,6 % in beiden Gruppen nahezu identisch. Eine weitere Differenzie-
rung nach der Anzahl, Schwere und Geschwindigkeit der Rückfälle erbrach-
te ebenfalls keine nennenswerten Unterschiede wie auch die bisher vorlie-
genden Resultate der noch nicht abgeschlossenen experimentellen Rück-
falluntersuchung keinen Anlass zu der Annahme einer spezialpräventiven
Überlegenheit der Diversionstage geben.
Gänzlich überraschend ist dieses Ergebnis nicht, wenn man bedenkt, dass
sich zwar fast 80 % der befragten Praktiker vom Diversionstag einen größe-
ren normverdeutlichenden Effekt versprachen, jedoch nur knapp die Hälfte

23 Die Paarbildung erfolgte anhand der Merkmale Verfahrensabschluss, Delikt, Geschlecht,


Nationalität und Vorbelastung.
232 Torsten Yerrel

eine Verringerung der Rückfallquote erwa11ete. Dass die Wirkungen, die


von der persönlichen Ansprache des Beschuldigten auf dem Diversionstag
ausgehen, nicht überschätzt werden dürfen, zeigt auch die Verteilung der
Antworten der Beschuldigten auf die Frage, was sie am meisten zum Nach-
denken gebracht hat. Mit Abstand an erster Stelle steht das "Erwischt-
werden" (46,7 % der Jugendlichen), gefolgt von der polizeilichen Verneh-
mung (35,3 0/0) und der Reaktion der Eltern (22,0 0/0). Die Gespräche mit
der Jugendgerichtshilfe und der Staatsanwaltschaft stehen erst auf Platz vier
und fünf (21,6 bzw. 19,2 %); relativ am wenigsten Eindruck machten die
vom Staatsan\valt ausgesprochenen erzieherischen Maßnahmen (17,3 %),
die ganz überwiegend in der Ableistung von Sozialstunden oder (Ver-
kehrs-)Erziehungskursen bestanden. Ein anderes Bild ergibt sich freilich
dann, wenn nur die Standorte berücksichtigt werden, an denen es auf dem
Diversionstag überhaupt zu einem Gespräch des Beschuldigten mit dem
Staatsanwalt kommt. Dort rangiert dieser Kontakt nach dem "Erwischt-
werden" (49,0 %) an zweiter Stelle (39,4 %) und noch vor dem Gespräch
mit der Jugendgerichtshilfe (30,8 %). Da jedoch auch an diesen Standorten
keine (signifikant) besseren Rückfallquoten ermittelt werden konnten,
scheint der Effekt dieses Gespräch jedenfalls nicht sonderlich nachhaltig
gewesen zu sein.

2. Diversionstage können verfahrensbeschleunigend wirken


Etwas günstiger fällt der allerdings mit methodischen Problemen 24 be-
lastete Vergleich der Verfahrensdauer aus. Insoweit konnten immerhin an
zwei Stando11en deutlich kürzere, allerdings an drei Standorten im Wesent-
lichen identische und an zwei Standorten sogar längere Erledigungszeiten
gemessen werden. Die Unterschiede hängen vermutlich damit zusammen,
wie eingespielt und optimiert die - für die Verfahrensdauer ganz maßgebli-
chen 25 - Akten- und Informationsübermittlungswege zwischen Polizei und
Staatsanwaltschaft sind, aber auch, mit welcher Frequenz Diversionstage
stattfinden. Dass Diversionstage und die damit einhergehende Koordination
der beteiligten Behörden jedenfalls das Potential zur Verkürzung und Ver-
einfachung der Fallerledigung haben, bestätigen auch die. Einschätzungen
der befragten Praktiker, die allerdings mehrheitlich auch davon ausgehen,
dass der Zeitaufwand für die Erledigung eines Falls am Diversionstag selbst

24 Für die retrospektiv untersuchten Fälle ging aus den MESTA-Datensätzen nicht hervor,
ob sich das eingetragene Erledigungsdatum auf die Abschlussverfügung oder die Ableistung
der angeregten erzieherischen Maßnahme bezieht~ zuverlässiger war die Auswertung der
prospektiv untersuchten Fälle, bei denen zusätzliche Dokumentationen erfolgten~ näher dazu
Linke (Fn. 12), S. 199 ff.
25 Vgl. Dielt (Fn. 13), 376.
§ 45 JGG Quo vadis? 233

(erheblich) größer ist als bei der herkömmlichen Diversion. Dies ist insbe-
sondere für die Staatsanwälte plausibel, die nicht nur Zeit fur die Vorberei-
tung und Organisation der Diversionstage benötigen, sondern auch durch
ihre Präsenz am Diversionstag in ähnlicher Weise wie beim Sitzungsdienst
abgebunden sind.

3. Es bestehen in Nordrhein-Westfalen regional


extrem unterschiedliche Diversionsstile
Die Besichtigung der einzelnen Diversionstage ergab sehr schnell, dass
bei den Verantwortlichen abweichende Vorstellungen über die Zielgruppe
herrschen, was sich auch bei einer näheren Betrachtung der Delikts- und
Beschuldigtenmerkmale der an den Standorten erledigten Fälle bestätigte.
An drei Standorten wird der Diversionstag ganz bewusst zur Erledigung von
Bagatellkriminalität26 und gegen Ersttäter eingesetzt ("Modell 1"), während
an den übrigen vier Standorten eher gewichtigere, noch diversionsgeeignete
Kriminalität bzw. an einem dieser Standorte explizit kriminell gefährdete
Beschuldigte im Fokus stehen ("Modell 2"). Weist dieser Befund zunächst
"nur" auf die Gefahr hin, dass an manchen Standorten mit dem Diversions-
tag auf "Spatzen geschossen" wird, offenbarte die Auswertung von insge-
samt 50.490 MESTA-Datensätzen, die für die retrospektive Rückfallanalyse
zur Verfugung standen und alle Verfahrenserledigungen in 2005-2007 an
den untersuchten Standorten enthielten, das ganze Ausmaß der regionalen
Anwendungsdivergenzen. Einheitlich war allein die äußerst seltene Prakti-
zierung des formlosen jugendrichterlichen Erziehungsverfahrens nach § 45
Abs. 3 JGG, das an sechs Standorten zwischen 0 und 0,9 % und nur an
einem 2 % aller Diversionsentscheidungen nach § 45 JGG ausmachte. Da-
gegen reicht die Spannweite der Anteile folgenloser Einstellungen nach
Abs. 1 von 9,3 % bis 83,5 % bzw. derjenigen mit erzieherischen Maßnah-
men nach Abs. 2 von 90,4 % bis 16,3 0/0. Die Verteilung der Quoten ent-
spricht den zuvor ermittelten Modellunterschieden bei den Diversionstagen.
So wurden an den Standorten des Modells 1 nur 9,3 bis 16,5 0;0 aller Diver-
sionsfälle nach § 45 Abs. 1 JGG eingestellt, an den nach Modell 2 verfah-
renden Standorten dagegen 58,4 bis 83,5 0/0. Das Verhältnis der Entschei-
dungen nach § 45 Abs. 1 und 2 JGG schwankte damit unter den Standorten
zwischen 11,9 und 421,5!

26 Vgl. Achenbach (Fn. 13), 385~ Dielt (Fn. 13),377.


234 Torsten Verrel

v. Konsequenzen
1. Notwendigkeit einer präzisen Zielgruppenbestimmung
Das ernüchternde Resultat der Rückfalluntersuchung sollte kein Grund
zur Häme und kriminologischen Besserwisserei gegenüber den Müttern und
Vätern der Diversionstage sein, die teilweise mit viel Engagement und
Herzblut nach einem Weg gesucht haben, vorhandene Ressourcen wir-
kungsvoller einzusetzen. Es ist aller Ehren wert und in der Tat Ausdruck
einer rationalen Kriminalpolitik, 27 dass die Diversionstage überhaupt einer
strengen wissenschaftlichen 28 Kontrolle unterzogen wurden. Der ausgeblie-
bene spezialpräventive Erfolg, der ja keineswegs vorauszusehen war, zeigt
jedoch, welche Schwierigkeiten die richtige "Platzierung" neuartiger Diver-
sionsverfahren in der Breite des von § 45 JGG erfassten Fallspektrums
bereitet. So ist ungeachtet der sogleich noch zu thematisierenden rechtlichen
Grenzen, die sich aus dem Stufenverhältnis der drei Diversionsvarianten
ergeben, zu bedenken, dass in der Mehrzahl der Fälle normaler Jugendkri-
minalität schon das herkömmliche Verfahren ausreichende Eindruckskraft
durch das "Erwischt-werden", die elterliche Reaktion, die polizeiliche Ver-
nehmung und die staatsanwaltliche Diversionsentscheidung mit ggf. weite-
ren erzieherischen Maßnahmen erzeugt bzw. diese Effekte offenbar nicht
mehr (nennenswert) durch eine persönliche Ansprache gesteigert werden
können. Das dürfte insbesondere rur solche Standorte gelten, die ohnehin
auf ein breites Angebot erzieherischer Maßnahmen durch freie Träger wie
etwa die "Brücke e.V." zurückgreifen können und wo es demzufolge auch
schon entsprechende Vemetzungen mit den am Strafverfahren beteiligten
Behörden gibt. Ist der Diversionstag demnach bei dieser Tätergruppe ein
"Zuviel" an informeller Reaktion, könnte es umgekehrt bei der kleineren
Zahl derjenigen jungen Täter, deren Taten und Lebensumstände erste Indi-
katoren rur eine kriminelle Gefahrdung sind, ein "Zuwenig" an Intervention
sein, es hier also nachhaltigerer, über die einmalige Ansprache am Diversi-
onstag hinausgehender, nicht notwendig formeller Reaktionen bedürfen.
Das A und 0 jeglicher Diversionsprojekte ist und bleibt demnach eine
sC?rgfaltige Bestimmung und Auswahl der Täter bzw. des Spektrums der
Jugendkriminalität, bei dem Handlungsbedarf gesehen wird und bei dem
man sich spezifische Wirkungen von den neuen Diversionsmaßnahmen
verspricht. Dies ist bei den Diversionstagen, deren Fallspektrum von Baga-

27 Zutreffend weisen Müller-PiepenkötterlKubink (Fn. 15), 62, darauf hin, dass Rationalität
auch "die Überprüfung der Programme" umfasst.
28 Es darf bezweifelt werden, ob zuvor durchgeführte örtliche Auswertungen von Diversi-
onstagen, die angeblich Rückfallquoten zwischen 5 % und 7 % ergeben haben - vgl. Müller-
PiepenkötterlKubink (Fn. 15), 63~ Diett (Fn. 13), 378 - den methodischen Standards von
Legalbewährungsuntersuchungen genügt haben.
§ 45 lGG - Qua vadis? 235

tellkriminalität bis hin zu als gefährdet eingestuften Tätern reicht, nicht in


ausreichendem Maß geschehen. Außerdem wurde die präventive Wirkung
überschätzt, die das konzentrierte Behördenauftreten am Diversionstag als
solches hat. Insofern ist auch die mit der veränderten Namensgebung der
Diversionstage verbundene Vorstellung problematisch, jungen Kriminali-
tätseinsteigern müsse die "gelbe Karte" gezeigt werden, um sie davor zu
bewahren, auf die schiefe Bahn zu geraten. 29 Diese Gefahr besteht bei den
vielen Fällen jugendlicher "Normalkriminalität", die in die Diversionstage
gekommen sind, von vornherein nicht, während die "rote Karte" einer wo-
möglich zu einer stationären Sanktion führenden Anklageerhebung vermut-
lich durch die Abhaltung eines Diversionstags allein nicht verhindert wer-
den kann.
Die Empfehlung der Begleitforschung, die hier nicht in ihren Einzelheiten
dargestellt werden kann, lautete daher, den Diversionstag strikt auf ge-
wichtigere Fälle zu beschränken, die sich im Grenzbereich zwischen Di-
version und Anklageerhebung bewegen und ein Gefährdungspotential
beim Beschuldigten erkennen lassen. Diversionstage sollten dann inhalt-
lich als Initialmaßnahme für eine sich daran anschließende Beobachtung
und Betreuung konzipiert werden, für die regelmäßige Fallkonferenzen
den organisatorischen Rahmen bilden könnten. Insoweit würde das Kon-
zept von Intensivtäterprojekten als Vorbild dienen, den Jugendlichen so-
wohl Hilfestellungen anzubieten als auch deutlich zu machen, dass sie
nunmehr unter besonderer Beobachtung stehen und wegen der Vernet-
zung von Polizei, Jugendhilfe und Staatsanwaltschaft mit raschen Reakti-
onen auf etwaiges Fehlverhalten rechnen müssen. Diversionstage würden
somit als Vorfeldmaßnahme von Intensivtäterprogrammen für solche Ju-
gendliche fungieren, bei denen sich vermehrt Risikofaktoren für eine ne-
gative Legalentwicklung zeigen, die sich aber noch nicht zu jugendlichen
Intensiv- oder Mehrfachtätern entwickelt haben und daher die richtigen
Adressaten für die "gelbe Karte" einer qualifizierten Diversion sind. Mit
dieser Konzeption wäre zweifellos eine Intensivierung der sozialen Kon-
trolle verbunden, die aber zu einer Erweiterung des Spektrums diversi-
onsgeeigneter Fälle und damit zu einer noch stärkeren Konzentration des
förmlichen Verfahrens auf qualitativ oder quantitativ besonders proble-
matische Jugendstraftaten fUhren würde.

29 Müller-Piepenkötter, Pressestatement vom 25.7.2006, abrufbar unter http://www.nrw.de -


> Startseite -> Presse -> Juli -> 25.07.2006 (letzter Zugriff am 3.3.2010).
236 Torsten Yerrel

2. Verfassungswidrigkeit von § 45 JGG


Weisen schon die unterschiedlichen Diversionstagsmodelle auf die Exis-
tenz regional sehr unterschiedlicher Einstellungspraktiken hin, hat die ei-
gentlich nur ergänzend untersuchte Häufigkeit, mit der an den einzelnen
Standorten insgesamt von den einzelnen Absätzen des § 45 JGG Gebrauch
gemacht wurde, eine schlichtweg nicht mehr hinnehmbare Anwendungsdi-
vergenz offenbart. Sie besteht darin, dass mancherorts § 45 Abs. 1 JGG,
andernorts dagegen Abs. 2 der Regeleinstellungsfall ist, was sogar so weit
geht, dass an zwei Standorten mit exakt der gleichen Quote von 83,5 %
jeweils folgenlos bzw. mit erzieherischen Maßnahmen eingestellt wurde.
Derartige Diskrepanzen wird man nicht ernsthaft mit einem entsprechend
abweichenden Delikts- und Täterspektrum erklären können,30 zumal die
untersuchten Diversionstagsfalle keine Anhaltspunkte für derart gravierende
Strukturunterschiede zwischen den Stando11en ergeben haben. Daher drängt
sich die Erklärung auf, dass die Unterschiede durch individuelle Sanktions-
präferenzen 31 zustande kommen, aber auch mit dem jeweiligen Fallauf-
kommen 32 zusammenhängen. In einer Großstadt mit einer Vielzahl von
Fällen mag ein größerer Druck zur Einstellung nach § 45 Abs. 1 JGG beste-
hen als in weniger belasteten Regionen, in denen der Wunsch und die Ka-
pazitäten vorhanden sind, auch auf geringfügigere Jugenddelinquenz "spür-
barer" zu reagieren. Indes kann dies kein rechtlich zulässiges Differen-
zierungskriterium sein 33 und muss es schlichtweg als eine Umgehung des
§ 45 JGG zugrunde liegenden Subsidiaritätsprinzips angesehen werden,
wenn an einern Standort in drei Jahren nur knapp 9 % der Diversionsfälle
nach Abs. 1 eingestellt wurden.
Nun ist zwar schon seit längerem bekannt, dass die Raten von § 45 JGG
sowohl insgesamt als auch im Hinblick auf die Verteilung der Einstellungs-
varianten nicht nur im Ländervergleich,34 sondern auch und in besonderer
Weise zwischen LG-Bezirken, ja sogar innerhalb derselben Staatsanwalt-
schaft differieren. 35 In der hier ermittelten Größenordnung ist die Rechtszer-
splitterung 36 jedoch extrem und bekommt vor dem Hintergrund des unter-

30 Brunner/Dölling (Fn. 7), Rn. 7a~ Hein:: DVJJ-J 1998, 245, 253.
31 Hein:: a.a.O., 255.
32 Vgl. Grote Diversion im Jugendstrafrecht, 2006, S. 63.
33 Vgl. Diemer/Schoreit/Sonnen Jugendgerichtsgesetz, 5. Aufl. 2008, § 45 Rn 31.
34 Ausweislich der Staatsanwaltsstatistik 2008, Tabelle 2.2.1, schwankt der Anteil der Ein-
stellungen nach Abs. 1 an allen Einstellungen nach § 45 JGG derzeit zwischen 19,5 % in
Bayern und 71,9 % in Berlin bzw. der von Abs. 2 zwischen 22,0 % (Bremen) und 63,4 %
(Rheinland-Pfalz).
35 Nachweise bei Hein:: (Fn. 30), 253 ff. und ZJJ 2005, 166, 174~ vgl. ferner Grote (Fn. 32),
S. 62 ff., 339 f.
36 OstendorfFS Böhm, 1999, S. 642.
§ 45 JGG -- Qua vadis? 237

suchten Diversionsmodells zusätzliches Gewicht. Stellt doch die prozedura-


le Aufladung der Diversionstage, die auf ähnliche Wirkungen abzielt wie
das jugendrichterliche Verfahren nach § 45 Abs. 3 JGG und damit zwischen
Abs. 2 und 3 steht, zweifellos eine erhebliche Steigerung der Eingriffsinten-
sität dar, die an einem Standort schon den Ersttäter eines geringfügigen
Ladendiebstahls trifft, gegen den andernorts nach Abs. 1 verfahren wird.
Da sich die festgestellte eklatante regionale Rechtsungleichheit in die Be-
funde früherer Studien zu lokalen Diversionspraktiken einreiht und insbe-
sondere Erkenntnisse über die uneinheitliche Rechtsanwendung in Nord-
rhein-Westfalen 37 bestätigt, wird man nicht länger davon sprechen können,
dass sich die seit vielen Jahren diskrepanten Diversionsraten der Bundes-
länder "noch im Rahmen der bei Ermessensentscheidungen erreichbaren
Gleichbehandlung halten".38 Es handelt sich vielmehr um eine nicht mehr
akzeptable Ausprägung einzelner "Land- und Stadtrechte", die den Vorga-
ben, die das BVerfG in seinem Cannabis-Beschluss gemacht hat, nicht
entsprechen. Dies führt zu dem Schluss, dass § 45 JGG aufgrund seiner
Unbestimmtheit,39 die durch die Diversionsrichtlinien der Länder offen-
sichtlich nicht kompensiert wurde, keine ausreichende Steuerungswirkung
entfaltet hat und daher nicht (mehr) verfassungskonform ist.
Das BVerfG hatte die Länder seinerzeit mit Blick auf § 31a BtMG in die
Pflicht genommen, durch Verwaltungsvorschriften für "eine im wesentli-
chen einheitliche Einstellungspraxis der Staatsanwaltschaften zu sorgen",
dem Gesetzgeber aber zugestanden, dass er zunächst abwarten darf, ob sich
eine einheitliche Rechtsanwendung einstellt oder "ob weitere gesetzliche
Konkretisierungen der Einstellungsvoraussetzungen erforderlich sind. "40
Diese Wartezeit dürfte jetzt, nämlich 16 Jahre nach Erlass des Cannabis-
Beschlusses, mehr als abgelaufen sein. Zwar gibt es in fast allen Bundes-
ländern zusätzlich zu den vereinbarten bundeseinheitlichen Richtlinien zu
§ 45 JGG Diversionsrichtlinien, doch haben diese weder bundes- noch lan-
desweit zu der vom BVerfG geforderten Einheitlichkeit geführt, was auch
nicht verwunderlich ist, da zwischen den Richtlinien ganz erhebliche Unter-
schiede sowohl im Hinblick auf die Regelungs~iefe als auch die konkreten
Regelungsinhalte bestehen. 41 Man kann also vermuten, dass es nicht etwa

37 Ludwig-Mayerhofer und Libuda-Köster, beide in: Albrecht (Hrsg.), Inforrnalisierung des


Rechts, 1990, S. 213 bzw. 308.
38 Schöch (Fn. 11), S. 130.
39 Ostendorf(Fn. 36), S. 642~ vgl. auch Nix-Rzepka, Kurzkornlnentar zum JGG, 1994, § 45
Rn. 32.
40 BVerfGE 90, 145, 191.
41 Eine aktuelle Analyse der Divergenzen liefert Linke NStZ 2010 (voraussichtlich Heft 8)~
zuvor bereits Heinz DVJJ-J 1999,261 ff. So werden beispielsweise in Rheinland-Pfalz contra
legern nur Vergehen für grundsätzlich einstellungsfahig gehalten, in Baden- Württemberg,
238 Torsten Verrel

trotz, sondern gerade wegen der Diversionsrichtlinien der Länder zu einer


abweichenden Einstellungspraxis gekommen ist, die divergierenden Einstel-
lungsraten also die Folge divergierender Richtlinien sind. 42 Diese Erklärung
bietet sich insbesondere für die in der vorliegenden Untersuchung aufge-
deckten regionalen Schwankungen bei der Anwendung der ersten beiden
Einstellungsvarianten von § 45 JGG an, gehört Nordrhein-Westfalen doch
zu den Bundesländern, deren Richtlinien im Unterschied zu anderen Län-
dern keinerlei Vorgaben für die Abgrenzung zwischen Abs. 1 und 2 ma-
chen43 und somit Raum für die Entstehung lokaler Diversionskulturen ge-
ben.
Die uneinheitliche Diversionspraxis im Jugendstrafrecht liegt auch nicht
etwa auf einer anderen Ebene als die vom BVerfG seinerzeit beanstandeten
Unterschiede bei der betäubungsnlirtelrechtlichen Einstellung. Zwar ging es
in dem Cannabis-Beschluss primär um die Verfassungsmäßigkeit der Straf-
barkeit des Erwerbs und Besitzes kleiner Mengen zum gelegentlichen
Eigenverbrauch44 und um den Spielraum des Gesetzgebers, zwischen einer
materiellen und prozessualen Lösung 45 wählen zu dürfen. Doch abgesehen
davon, dass auch die Strafwürdigkeit etwa eines ersten Ladendiebstahls
oder einer Schwarzfahrt keineswegs auf der Hand liegt, gelten die Ausfüh-
rungen des BVerfG zur gleichmäßigen Rechtsanwendung für jede Form der
staatsanwaltlichen Diversion. 46 So nimmt das BVerfG nicht nur auf die § 45
JGG strukturell verwandten §§ 153 ff. StPO Bezug,47 sondern begründet die
Vereinheitlichungspflicht ganz allgemein mit der Eingriffsqualität straf-
rechtlicher Maßnahmen. Es handele sich bei Einstellungsentscheidungen
"um das den Einzelnen besonders belastende Gebiet der Strafverfolgung".48
Insoweit ist zu bedenken, dass ja nicht nur die Opportunitätsentscheidung
als solche unterschiedlich tief in die Rechtssphäre des Beschuldigten ein-

Hamburg und Thüringen vorsätzliche Körperverletzungsdelikte generell ausgeschlossen, was


ebenso eine unzulässige untergesetzliche Reichweitenbeschränkung des § 45 JGG darstellt. Die
Wertgrenzen für die Diversionseignung von Diebstahlstaten schwanken zwischen 25 und
150 €, wobei nur teilweise eine weitere Abschichtung nach den einzelnen Varianten von § 45
JGG erfolgt. Abweichungen zeigen sich außerdem bei der Behandlung von Wiederholungstä-
tern.
42 Beck/Spieß MschKrim 1994, 91 kamen für Baden- Württemberg sogar zu dem Ergebnis,
dass sich die Spannweite der Diversionsraten nach der Einführung von Diversionsrichtlinien
noch vergrößert hat.
43 Näher dazu Linke (Fn. 41).
44 BVerfGE 90, 145, 187 f.
45 BVerfGE 90, 191~ zum breiten Spektrum der Entkriminalisierungstechniken Schöch FS
Schüler-Springorum, S. 247 ff.
46 Ebenso Grate (Fn. 32), S. 64~ Hein::: (Fn. 30),245.
47 BVerfGE 90,190.
48 BVerfGE 90, 191.
§ 45 JGG - Qua vadis? 239

dringt, sondern der Unterschied zwischen folgenloser und Einstellung mit


erzieherischen Maßnahmen auch präjudizielle Wirkungen fiir das künftige
Entscheidungsverhalten der Staatsanwaltschaft hat. Die Sanktionsspirale
dreht sich mit anderer Geschwindigkeit, je nachdem, ob schon einmal nach
§ 45 Abs. 1 oder 2 JGG eingestellt wurde.

3. Reformperspektiven: Stärkung, Begrenzung und Vereinheitlichung


staatsanwaltlicher Diversionsmacht
a) Verantwortung des Gesetzgebers
Da nicht damit gerechnet werden kann, dass sich die Bundesländer mit
ihren seit Jahren gepflegten Diversionsphilosophien demnächst auf glei-
chermaßen einheitliche wie differenzierte Richtlinien verständigen wer-
den,49 ist der vom BVerfG angedeutete Bedarf fur "gesetzliche Konkretisie-
rungen der Einstellungsvoraussetzungen" unabweisbar. Die Sch\vierigkeit
einer solchen Neuregelung 50 besteht nun augenscheinlich darin, der Praxis
einen Diversionsrahmen zu geben, der einerseits genügend flexibel ist, um
auf Besonderheiten des Einzelfalls, das Kriminalitätsaufkommen und das
jeweilige Angebot an erzieherischen Maßnahmen Rücksicht nehmen zu
können, und der auch fur die Erprobung neuer Diversionsprojekte offen
bleibt, aber andererseits für eine gleichmäßigere Rechtsanwendung sorgt
und die faktische staatsanwaltliche Sanktionsmacht insgesamt auf ein soli-
deres gesetzliches Fundament stellt. Hier kann daher kein ins Einzelne ge-
hender Reformvorschlag unterbreitet werden, der u.a. eine gründliche ver-
gleichende Auswertung der Länderrichtlinien und ihrer tatsächlichen
Steuerungseffekte für die Einstellungspraxis sowie der Forschungslage zu
bisherigen Diversionsprojekten voraussetzen würde. 51 Vielmehr sollen nur
erste Überlegungen zu den möglichen Grundzügen einer Reform des § 45
JGG angestellt werden, die auf den bei der Erforschung der Diversionstage
gewonnenen Praxiseinsichten fußen.

b) Akzeptanz staatsanwaltlicher Diversionskompetenz


Anders als es die bisher eher kritische Bestandsaufnahme dieses Diversi-
onsmodells vermuten lässt, bestehen die Reformüberlegungen nicht darin,
ein Weniger, sondern ein kontrolliertes Mehr an staatsanwaltlicher Ent-

49 Dies fordert Feigen ZJJ 2008, 349, 355.


50 Diesen Schritt überspringt Hein:: (Fn. 41), 265, der im Fall des Scheiterns einer Richtli-
nienvereinheitlichung die Ersetzung der verfahrensrechtlichen Entkriminalisierung durch eine
materiellrechtliche Lösung für zwingend hält.
51 Vgl. Dölling in: BMJ (Hrsg.), Jugendstrafrechtsreform durch die Praxis, 1989, S. 247.
240 Torsten Verrel

scheidungskompetenz vorzusehen. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass


die Staatsanwaltschaft zu der dominierenden Erledigungsinstanz für weite
Teile der Jugendkriminalität geworden ist und ihre Sanktionskompetenz zu
Lasten der Diversion unter Beteiligung des Jugendrichters ausgebaut hat. 52
Selbst wenn man es wollte, könnte man diese Entwicklung solange nicht
rückgängig machen, wie einerseits der Trend zur Ausweitung der formellen
Verbrechenskontrolle anhält und es andererseits bei der bisherigen Perso-
nalausstattung der Justiz bleibt. Ungeachtet dieser faktischen Zwänge muss
es aber auch nicht per se Argwohn und Misstrauen hervorrufen, wenn
Staatsanwälte eine besondere Kompetenz im Umgang mit Jugendkriminali-
tät reklamieren. Vielerorts ist es - auch ohne Diversionstag - zu einer be-
achtlichen Vernetzung und kommunalen Einbindung der in das Ermitt-
lungsverfahren involvierten Behörden und freien Träger gekommen. Es
besteht daher eine Reaktions infrastruktur, die im gerichtlichen Verfahren
nicht (mehr) in gleicher Weise dienstbar gemacht werden kann.
Die in § 45 Abs. 3 JGG geregelte qualifizierte Diversion durch jugend-
richterliche Beteiligung findet in der Praxis offensichtlich nur wenig An-
klang, ja ist mancherorts 53 geradezu totes Recht. Dafür dürften nicht nur der
Abstimmungsaufwand und die mit der Richterbeteiligung verbundene (er-
hebliche) Verzögerung der Verfahrenserledigung verantwortlich sein.
Vielmehr darf bezweifelt werden, dass der "Auftritt" eines Richters im
Ermittlungsverfahren tatsächlich einen besonderen erzieherischen Effekt
hat, den die anderen Träger der sozialen Kontrolle in diesem Verfahrensab-
schnitt nicht erzielen können. Hinzu kommt, dass die von der Staatsanwalt-
schaft angeregten Maßnahmen ohnehin fast immer von den Jugendrichtern
übernommen werden. 54 Von daher ist zu fragen, ob überhaupt noch ein
Bedürfnis dafür besteht, den Jugendrichter in die staatsanwaltliche Diversi-
on einzubinden oder die Diversion im Ermittlungsverfahren nicht aus-
schließlich dem Staatsanwalt überlassen werden sollte. Vermutlich wird
auch schon jetzt Anklage erhoben, wenn der Staatsanwalt bei einem ansons-
ten diversionsgeeigneten Fall ausnahmsweise den Einsatz richterlicher
Autorität für erforderlich hält, zumal es in erster Linie die Förmlichkeiten
der Hauptverhandlung sein dürften, die bei Jugendlichen Eindruck machen.
Es bleibt freilich das berechtigte Anliegen, besonders eingriffsintensive
Erziehungsrnaßnahmen dem Richter vorzubehalten sowie grundsätzlich das
Problem einer "strafenden" Staatsanwaltschaft.

52 Heinz (Fn. 30), 250.


53 So gut wie keine Bedeutung hat § 45 Abs. 3 u.a. in Berlin (0,1 % aller Einstellungen nach
§ 45 JGG, berechnet nach Tab. 2.2.1 der Staatsanwaltsstatistik 2008), Rheinland-Pfalz (0,2 0/0),
Sachsen (0,4 %), Sachsen-Anhalt und Niedersachsen Ue 0,9 %) sowie in Thüringen (l %)~
Höchstwerte werden dagegen in Bayern (21,5 %) und Schleswig-Holstein (16, 6 %) erreicht.
54 Schäch (Fn. 8), Rn. 68.
§ 45 JGG - Qua vadis? 241

c) Konkretisierung der erzieherischen Maßnahmen und


Belehrungspflichten
Der folglich notwendige Kompromiss könnte so aussehen, dass der
Staatsanwaltschaft einerseits im Gesetz ausdrücklich das Recht zugestanden
wird, erzieherische Maßnahmen unter Einschluss der in § 45 Abs. 3 lGG
genannten Interventionen selbst anzuregen. Dies entspricht ohnehin der
gängigen Praxis und der wohl herrschenden Literaturansicht. 55 Es ist weder
praktikabep6 noch trägt es dem § 45 lGG zugrunde liegenden Subsidiari-
tätsgrundsatz Rechnung, wenn der Staatsanwalt beispielsweise nicht die
Möglichkeit hätte, die Erbringung von Arbeitsleistungen oder die Teilnah-
me an einem Verkehrsunterricht vorzuschlagen. Dies gilt erst recht, wenn
man - wie hier angedacht - das formlose jugendrichterliche Erziehungsver-
fahren abschaffen würde.
Die andererseits erforderliche Beschränkung staatsanwaltlicher Diversi-
onsmacht könnte zum einen dadurch erfolgen, dass für besonders eingriffs-
intensive Erziehungsrnaßnahmen wie etwa Arbeitsleistungen oder Geldzah-
lungen (enge) Obergrenzen festgelegt werden. 57 Da die Einführung solcher
Obergrenzen auch sonst geboten ist, ergäbe sich die Möglichkeit, staatsan-
waltliche Erziehungsrnaßnahmen, richterliche Diversion nach § 47 lGG und
förmliche richterliche Weisungen nach § 10 Abs. 1 lGG durch gestaffelte
Obergrenzen voneinander abzuschichten. Eine weitere Abstufung zwischen
den intervenierenden Maßnahmen wäre dadurch möglich, dass zwischen der
Einstellungsvoraussetzung "Geständnis" und der in Nr.3 der Richtlinie zu
§ 45 lGG verwendeten Formulierung "nicht ernsthaft bestreitet" differen-
ziert wird. 58
Auch wenn dies am Entscheidungsdilemma des Beschuldigten nichts än-
dert und ohnehin gute Praxis sein sollte, empfiehlt sich zum anderen eine
explizite Pflicht zur Belehrung über die Freiwilligkeit der angeregten Leis-
tungen und darüber, dass das Gericht im Falle einer Anklage nicht nur über
den Tatvorwurf, sondern ggf. auch über die Sanktionierung ohne Bindung
an die im Ermittlungsverfahren vorgeschlagenen erzieherischen Maßnah-
men entscheidet. 59 Dass eine solche Belehrung ohne jegliche Suggestion zu
erfolgen hat, sollte ebenso selbstverständlich wie in allen anderen Beleh-
rungsfallen sein. Schließlich sollte auch auf das Recht der Erziehungsbe-
rechtigten hingewiesen werden, die vorgeschlagenen Maßnahmen bzw.

55 Brunner/Dölling (Fn. 7), Rn. 26~ Streng (Fn. 2), Rn. 180~ a.A. Schöch (Fn. 8), Rn. 67.
56 Dölling(Fn. 51), S. 250.
57 Vgl. Grote (Fn. 32), S. 71 für Arbeitsstunden und Heinz (Fn. 41), 265.
58 Vgl. zum Streit über das Geständniserfordernis bei § 45 Abs. 2 JGG Schöch (Fn. 8),
Rn. 72.
59 Ähnlich Döl!ing (Fn. 51), S. 253.
242 Torsten Yerrel

deren (weitere) Erfüllung abzulehnen, aber freilich auch darauf, welche


Konsequenzen sich daraus ergeben können. Eine ausdrückliche Zustim-
mung erscheint dagegen nicht erforderlich. 60 Da sich der Beschuldigte und
die Erziehungsberechtigten jederzeit der intervenierenden staatsanwaltli-
chen Diversion entziehen können, besteht außerdem kein Bedürfnis für ein
besonders Rechtsbehelfsverfahren 61 wie auch die obligatorische Hinzuzie-
hung eines Verteidigers 62 letztlich zu einer problematischen Verfahrensre-
formalisierung 63 fuhren würde. Selbstverständlich darf aber die Einschal-
tung eines Verteidigers durch den Beschuldigten kein Grund sein, ihm den
Zugang zu Diversionsprojekten zu versagen.

d) Verdeutlichung des Stufenverhältnisses der Einstellungsvarianten


Um den regionalen Unterschieden bei der Anwendung von § 45 Abs. 1
und 2 JGG, aber auch der bei den Diversionstagen sichtbar gewordenen
Gefahr eines qualitativen Net-widening bei neuartigen Diversionsverfah-
ren 64 entgegenzuwirken, muss der Vorrang der folgenlosen Einstellung im
Gesetz deutlicher als bisher zum Ausdruck kommen und müssen wenigstens
die schon bisher in der Richtlinie Nr. 2 zu § 45 JGG genannten Kriterien
gesetzlich verankert werden. 65 Man wird vermutlich gar nicht darum herum
kommen, einen neuen § 45 JGG mit mehr oder weniger detaillierten Täter-
und Tatkatalogen 66 zu versehen und dabei klarzustellen, dass die jugend-
strafrechtliche Diversion im Unterschied zu § 153a StPO nicht auf Verge-
hen beschränkt ist. Die mit einer solchen Konkretisierung der Einstellungs-
voraussetzungen verbundene Einschränkung staatsanwaltschaftlicher Ein-
zelfallbeurteilung67 ist der unvermeidbare Preis fur die Erzielung von mehr
Rechtsgleichheit und dürfte angesichts dessen, dass die Praxis schon jetzt
nach bestimmten - freilich individuell abweichenden - Rastern verfährt,68
nicht allzu hoch sein. Die nötige Flexibilität kann im Übrigen durch Öff-
nungsklauseln hergestellt werden,69 deren Anwendung allerdings entspre-
chende Begründungspflichten auslösen muss.

60 Brunner/Dölling (Fn. 7), Rn 25; Ostendolj(Fn. 36), S. 644.


61 Dafür u.a. van den Woldenberg Diversion im Spannungsfeld zwischen "Betreuungsjustiz"
und Rechtsstaatlichkeit, 1993, S. 175 ff.; Breymann DRiZ 1997, 83.
62 Van den Woldenberg a.a.O.; s. auch Viehmann in: BMJ (Hrsg.), Verteidigung 10 Strafsa-
chen, 1987, S. 108, 110.
63 Vgl. dazu Ostendorf(Fn. 36), 640, 645.
64 Zu dieser Problematik Sabaß (Fn. 10), S. 117.
65 Ähnlich der Vorschlag von Ostendorf(Fn. 36), S. 643.
66 Vgl. Ostendorf(Fn. 6), § 45 Rn. 10, anders aber noch Ostendorf(Fn. 36), S. 643.
67 Breymann ZJJ 2003, 289.
68 Darauf weist zu Recht Linke (Fn. 41) hin.
69 Im Ergebnis ebenso Ostendorf(Fn. 36), S. 643.
§ 45 JGG - Qua vadis? 243

Empfehlen könnte sich außerdem der ausdrückliche Hinweis, dass die Er-
probung neuer Diversionsmodelle und erzieherischer Maßnahmen den Vor-
rang der folgenlosen Einstellung nicht unterlaufen darf und daher für diese
Projekte transparente und überprütbare Auswahlkriterien benannt werden
müssen. In engem Zusammenhang damit steht die Forderung, dass die Fall-
auswahl insbesondere bei von der Staatsanwaltschaft angeregten erzieheri-
schen Maßnahmen keinesfalls der Polizei überlassen werden darf, sondern
in den Händen der Staatsanwaltschaft liegen muss. Dies bedeutet nicht, dass
die Polizei, die ja zunächst den unmittelbarsten Einblick in das Tatgesche-
hen und die Person des Tatverdächtigen hat, nicht mehr am Auswahlprozess
beteiligt sein soll und vor allem bei neuen Diversionsprojekten keine Vor-
auswahl treffen darf. Es muss jedoch sichergestellt werden, dass die Staats-
anwaltschaft ihre Verfahrensherrschaft nicht nur formal ausübt und ledig-
lich "absegnet", was seitens der Polizei vorgeschlagen wurde, sondern die
Falleignung jeweils eigenständig überprüft. 70

VI. Schluss
Die angedachten Änderungen von § 45 JGG sind weder sonderlich origi-
nell noch systemverändernd. Sie laufen im Wesentlichen auf die gesetzliche
Absicherung und Einhegung einer schon jetzt üblichen "aktiven'; staatsan-
waltlichen Einstellungspraxis und die Normierung dessen hinaus, was man
bisher in Richtlinien zu regeln glaubte oder ohnehin "good practice" einer
rechtsstaatlichen Strafverfolgung sein sollte. Der begrenzte Spielraum für
Modifizierungen des Diversionsrechts ergibt sich daraus, dass sich das
Spannungsverhältnis zwischen den unbestrittenen Vorteilen einer informel-
len Verfahrenserledigung und den gerade aus der Vorverlagerung von Sank-
tionskompetenzen in das Ermittlungsverfahren resultierenden Gefahren für
ein justizförmiges Strafverfahren nicht auflösen, sondern nur abmildern
lässt. 71 Erträglich sind diese Spannungen freilich nur dann, wenn sich
Staatsanwälte und Staatsanwältinnen stets der besonderen Verantwortung
bewusst sind,72 die ihnen mit der Zubilligung von Sanktionskompetenzen
übertragen wurde. Trotz aller Unzulänglichkeiten der derzeitigen Praxis,
deren Überprüfung nicht nur fortwährende Aufgabe der Forschung, sondern
auch des zur Beobachtung der Einstellungspraxis verpflichteten Gesetzge-
bers ist, "bleibt - aufs Ganze gesehen - die Empfehlung richtig, in konse-

70 Wie ein solches Verfahren praktisch aussehen kann, beschreiben Sabaß (Fn. 10), S. 91
und HöjJler (Fn. 10), 92 f.
71 Vgl. Streng (Fn. 2), Rn. 179.
72 Zur notwendigen Überzeugungsbildung Hein= (Fn. 41), 266.
244 Torsten Yerrel

quenter Anwendung des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips


auf die Straftat eines Jugendlichen im Zweifel eher mit informellen Erledi-
gungsarten zu reagieren. "73

73 Schöch (Fn. 8), Rn. 75.


Überlegungen zur Einführung eines
Warnschussarrests aus statistischer Sicht

BERT GÖTTING*

I. Einleitung
Heinz Schäch hat sich seit vielen Jahren der Weiterentwicklung des straf-
rechtlichen Sanktionensystems gewidmet. Vom Gutachten C zum
59. Deutschen Juristentag 1992 in Hannover l bis hin zu seinem Beitrag zu
dem vom Bundesministerium der Justiz veranstalteten Jenaer Symposium
zum Jugendkriminalrecht 2 ging es ihm stets um eine Fortentwicklung mit
Augenmaß und kriminalpolitischem Verantwortungsbewusstsein, gegründet
auf stabile wissenschaftliche Erkenntnisse. Ihm ist dieser Beitrag über empi-
rische Erkenntnisse zum Jugendarrest gewidmet.
Der Jugendarrest ist im Sanktionensystem des Jugendstrafrechts eine feste
Größe. Als Zuchtmittel für diejenigen Jugendlichen gedacht, die zwar eines
"scharfen Ordnungsrufes" bedürfen, bei denen aber eine länger dauernde
Gesamterziehung und damit die Verhängung einer Jugendstrafe nicht erfor-
derlich ist. Insoweit - dies machen die Normierung der Aussetzung der
Verhängung einer Jugendstrafe gern. § 27 JGG und das Mindestmaß der
Jugendstrafe von sechs Monaten deutlich - ist der Arrest klar von der Ju-
gendstrafe abgegrenzt. Es handelt sich nach dem Willen des Gesetzgebers
gerade nicht um eine quasi kurze Jugendstrafe. Auch deshalb lässt es das
Gesetz nicht zu, diese beiden freiheitsentziehenden Sanktionen miteinander
zu kombinieren.
Dieser Umstand wird in der politischen Diskussion immer wieder als
Manko empfunden. Viele Jugendliche empfanden eine zur Bewährung
ausgesetzte Freiheitsstrafe nicht als Strafe, sondern als Schwäche des Staa-
tes. Sie würden diese Sanktion nicht als angemessene Reaktion auf ihre

* Der Verfasser ist Regierungsdirektor im Bundesamt für Justiz. Der Beitrag gibt ausschließ-
lich seine eigene Meinung wieder.
1 Titel: "Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen
ohne Freiheitsentzug?"
2 Neue Punitivität in der Kriminalpolitik? in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Das Ju-
gendkriminalrecht vor neuen Herausforderungen?, 2009, S. 13 ff.
246 Bert Götting

Straftat und als "Einladung" zu weiteren Delikten empfinden, "da ja eh


nichts passiert". Zudem würden Jugendliche es auch als ungerecht empfin-
den, wenn beispielsweise von zwei Mittätern einer einen Jugendarrest be-
käme und damit seine Strafe absitzen müsste, während der andere mit einer
Jugendstrafe zur Bewährung "frei davonkomme".
Um all diesen Schwächen des Gesetzes wirksam zu begegnen, sei es er-
forderlich, dass neben einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe auch
ein Arrest als sogenannter Warnschussarrest verhängt werden könne. Da-
durch werde den Jugendlichen nachdrücklich das begangene Unrecht vor
Augen geführt und er sehe, was künftig noch auf ihn zukomme, wenn er
erneut Straftaten begeht. Mit dieser Argumentation haben verschiedene
Antragsteller seit der 14. Legislaturperiode immer wieder entsprechende
Gesetzentwürfe zur Reformierung des Jugendstrafrechts eingebracht. 3
Die Diskussion dieses Themas ist ebenso alt, wie sie aktuell ist. Nachdem
damit die wesentlichen kriminologischen und kriminalpolitischen Argumen-
te weitgehend bekannt sind, soll in diesem Beitrag auf eine Wiederholung
verzichtet werden. 4 Vielmehr wird an dieser Stelle untersucht, in welchem
Umfang eine solche gesetzliche Regelung überhaupt rein faktisch die ihr
zugedachte Wirkung eines Warnschusses entfalten kann und ob sich neben
den bekannten kriminologischen und kriminalpolitischen Argumenten nicht
bereits aus der aktuellen Praxis statistische Anhaltspunkte für oder gegen
die Annahme der Warnschusswirkung finden lassen.
Dazu werden zum einen die Ergebnisse einer vom Statistischen Bundes-
amt durchgeführten Zusatzaufbereitung der Strafverfolgungsstatistik aus-
gewertet, die für die Jahre 2005 und 2006 für alle nach Jugendstrafrecht
verurteilten Personen aufschlüsselt, welche Sanktion als schwerste Vorver-
urteilung eingetragen ist, differenziert nach der (schwersten) aktuellen
Sanktionierung. Da lediglich die schwerste Sanktionierung eingetragen ist,
erlaubt diese Auswertung bei einer wiederholten Vorverurteilung keine
vollständigen Angaben darüber, welche Sanktionen früher bereits verhängt
worden sind. Daten zur Anzahl früherer Sanktionierungen liegen ebenfalls
nicht vor. Sofern eine Jugend- oder Freiheitsstrafe als schwerste Vorverur-
teilung eingetragen ist, kann deshalb auch bereits einmal ein Jugendarrest
verhängt worden sein. So weisen immerhin 4,3 % aller 2005 und 2006 zu
Jugendarrest verurteilten Personen eine Jugend- oder Freiheitsstrafe als
schwerste Vorverurteilung auf. Für den umgekehrten Regelfall, dass ein

3 BT-Drs. 14/3189, S. 4, 6~ 15/1472, S. 5, 7 f.~ 15/3422, S. 7, 13~ 16/1027, S. 5, 7. Auch der


Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP zur 17. Legislaturperiode greift auf Seite 72
dieses Vorhaben wieder auf.
4 Vgl. Schöch Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, 5. Auf!. 2001, S. 203 ff.~ ders.
in: Meier/Rössner/Schöch, Jugendstrafrecht, 2. Auf!. 2007, S. 216 f.~ Brunner/Dölling Jugend-
gerichtsgesetz (Kommentar), 11. Auf!. 2002, § 27 Rn. 13 ff.
Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht 247

Jugendarrest im Vorfeld einer Jugend-/Freiheitsstrafe verhängt wird, liegt


der Prozentsatz allerdings erwartungsgemäß deutlich höher.
Zum anderen werden die Erkenntnisse der im Auftrag des Bundesministe-
riums der Justiz durchgeführten Legalbewährungsstudie ausgewertet. Dieser
Studie liegt ein Beobachtungszeitraum von vier Jahren zugrunde. Die
Legalbewährung wurde für alle Personen untersucht, die im Jahr 1994 ent-
weder zu einer nicht freiheitsentziehenden Sanktion verurteilt wurden oder
die in diesem Jahr aus dem Vollzug einer Jugend- oder Freiheitsstrafe ent-
lassen wurden.

11. Ergebnisse einer Zusatzaufbereitung der


Strafverfolgungsstatistik
Im Hinblick auf die Argumentation, dass Jugendliche, die zu einer ausge-
setzten Jugendstrafe verurteilt werden, eines "short sharp shock" bedürften,
damit sie diese Sanktion nicht als Freispruch interpretierten und damit sie
sehen, was sie bei weiteren Straftaten erwartet, stellt sich die Frage, wie
viele dieser Jugendlichen möglicherweise bereits über Hafterfahrung verfü-
gen. In diesen Fällen könnte nicht nur die Wirkung eines "Warnschusses"
nicht mehr erzielt werden, es hätte sich vielmehr sogar bestätigt, dass der
Warnschuss nicht gewirkt hat.
Die notwendigen Basisdaten hierfür liefert die vom Statistischen Bundes-
amt herausgegebene Strafverfolgungsstatistik durch eine Sonderauswertung
für die Jahre 2005 und 2006. Einerseits bedeutet dies, dass sich die Daten
lediglich auf das Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik einschließlich
Gesamt-Berlin beziehen, andererseits zeigt die Strafverfolgungsstatistik für
das Jahr 2007, in dem sie Deutschland erstmals flächendeckend erfasst hat,
nicht den zu erwartenden Anstieg der Zahlen auf; dieser findet sich erst
2008. Eine Erklärung hierfür gibt es nicht, insbesondere sind keine Erfas-
sungsfehler bekannt. Gleichwohl wäre den aktuellen Daten mit einer gewis-
sen Skepsis zu begegnen, so dass der Verzicht auf maximale Aktualität
sinnvoll war.
Die Ergebnisse für eine aktuelle Verurteilung zu einer Jugendstrafe mit
Strafaussetzung zur Bewährung, sind in der folgenden Tabelle 1 dargestellt.
Danach weisen 24,9 % (2005) bzw. 24,4 % (2006) einen Jugendarrest als
Vorverurteilung auf. Weitere 10,3 % (2005) bzw. 9,1 % (2006) verfügen
sogar bereits über weitergehende Hafterfahrung durch eine nicht zur Be-
währung ausgesetzte Jugend- oder Freiheitsstrafe. Noch einmal 14,1 %
(2005) bzw. 14,4 % (2006) sind bereits früher einmal zu einer Jugend- oder
Freiheitsstrafe mit Strafaussetzung verurteilt worden. In wie vielen dieser
Fälle durch einen Widerruf der Bewährung oder durch einen vorangegange-
248 Bert Götting

nen Jugendarrest ebenfalls Hafterfahrung vorliegt, lässt sich nicht ermitteln.


Insgesamt weisen damit fast die Hälfte der Verurteilten (49,3 % im Jahr
2005 bzw. 47,9 % in 2006) Vorverurteilung(en) auf, die einen Jugendarrest
einschließen oder einschließen können, darunter mit 35,2 % (2005) bzw.
33,6 % (2006) mehr als ein Drittel, die nachweislich über Hafterfahrung
verfügen.
25,4 % (2005) bzw. 25,8 % (2006) der zu einer ausgesetzten Jugendstrafe
verurteilten Personen weisen keine Vorverurteilung auf, das heißt keine
frühere formelle Sanktionierung. Verfahren, die durch Diversionsmaßnah-
men gemäß §§ 45, 47 JGG beendet worden sind, werden durch die Strafver-
folgungsstatistik nicht erfasst.

Tabelle 1: Vorverurteilungen bei Jugendstrafe mit Bewährung 5

2005 2006 Gesamt


absolut I 0/0 absolut I 0/0 absolut I 0/0

Jugendstrafe mit Bewährung 8.919 100 9.268 100 18.187 100


- darunter ohne Vorverurteilung 2.267 25,4 2.390 25,8 4.657 25,6
- darunter mit Vorverurteilung 6.652 74,6 6.878 74,2 13.530 74,4
- Freiheitsstrafe 47 0,5 29 0,3 76 0,4
- Jugendstrafe ohne Strafaussetzung 889 10,0 833 9,0 1.722 9,5
- Jugendstrafe mit Strafaussetzung 1.238 13,9 1.320 14,2 2.558 14,1
- Jugendarrest 2.219 24,9 2.258 24,4 4.477 24,6
- sonstige Vorverurteilung 6 2.259 25,3 2.438 26,3 4.697 25,8

Betrachtet man die Vorverurteilungen bei einer aktuellen Verurteilung zu


einem Jugendarrest in der nachfolgenden Tabelle 2, dann zeigt sich, dass
bereits gegen 15,3 % (2005) bzw. sogar 16,0 % (2006) früher einmal ein
Jugendarrest verhängt worden ist, während mit 43,5 % (2005) bzw. 42,6 %
(2006) der größte Anteil auf diejenigen Verurteilten entfällt, die vorher
noch nicht formell sanktioniert wurden. Der Anteil früherer Verurteilungen
zu Jugend- oder Freiheitsstrafe lag in beiden Jahren unter 5 0/0.
Grafisch werden die Vorverurteilungen durch das nachfolgende Dia-
gramm 1 veranschaulicht, in dem durch Pfeile der Anteil derj enigen Vor-
strafen markiert ist, die (möglicherweise) mit Hafterfahrung verbunden
sind.

5 Erfasst sind die Verurteilten in dieser und den folgenden Tabellen nur insoweit, wie Anga-
ben zu Vorstrafen ermittelt wurden. 2005 wurde insgesamt in 1.763 Fällen (6,7 %) und 2006 in
1.615 Fällen (6,0 %) eine mögliche Vorstrafe nicht ermittelt.
6 Strafarrest, Geldstrafe, Erziehungsmaßregeln, Auflagen, Verwarnung.
Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht 249

Tabelle 2: Vorverurteilungen bei Jugendarrest

2005 2006 Gesamt


absolut I 0/0 absolut I 0/0 absolut I 0/0

Jugendarrest 19.129 100 19.707 100 38.836 100


- darunter ohne Vorverurteilung 8.317 43,5 8.405 42,6 16.722 43,1
- darunter mit Vorverurteilung 10.812 56,5 11.302 57,4 22.114 56,9
- Freiheitsstrafe 23 0,1 14 0,1 37 0,1
- Jugendstrafe ohne Strafaussetzung 498 2,6 440 2,2 938 2,4
- Jugendstrafe mit Strafaussetzung 401 2,1 393 2,0 794 2,0
- Jugendarrest 2.923 15,3 3.159 16,0 6.082 15,7
- sonstige Vorverurteilung 6.967 36,4 7.296 37,0 14.263 36,7

Diagramm 1: Vorverurteilungen bei Jugendstrafe und Jugendarrest

Jugendstrafe mit Bewährung Jugendarrest

80%

60%

40%
20%
f111F1111=l I
I
I
I

0%
2005 2006 2005 2006

Die in Tabelle 3 und Diagramm 2 dargestellten Vorverurteilungsquoten


bei den 2005 und 2006 verhängten jugendstrafrechtlichen Sanktionen ma-
chen - wenig überraschend - entsprechend den Angaben der Tabellen 1 und
2 auch fiir die sonstigen Zuchtmittel und die Erziehungsmaßregeln deutlich,
dass schwerere Sanktionen in der Regel erst verhängt werden, wenn weni-
ger eingriffsintensive Maßnahmen keinen Erfolg gezeigt haben.
250 Bert Götting

Tabelle 3: Vorverurteilungsquoten 2005 und 2006

2005 2006 Gesamt


Aktuelle Verurteilung
absolut I 0/0 absolut I 0/0 absolut I 0/0

Erziehun~smaßre~eln 23.458 24.125 47.583


ohne Vorverurteilung 13.696 58,4 13.915 57,7 27.611 58,0
mit Vorverurteilung 9.762 41,6 10.210 42,3 19.972 42,0
Zuchtmittel (ohne Ju~endarrest) 122.212 125.228 247.440
ohne Vorverurteilung 79.216 64,8 80.966 64,7 160.182 64,7
mit Vorverurteilung 42.996 35,2 44.262 35,3 87.258 35,3
Jugendarrest 19.129 19.707 38.836
ohne Vorverurteilung 8.317 43,5 8.405 42,6 16.722 43,1
mit Vorverurteilung 10.812 56,5 11.302 57,4 22.114 56,9
Ju~endstrafe mit Bewährun2 8.919 9.268 18.187
ohne Vorverurteilung 2.267 25,4 2.390 25,8 4.657 25,6
mit Vorverurteilung 6.652 74,6 6.878 74,2 13.530 74,4
J u~endstrafe ohne Bewährun~ 6.791 6.898 13.689
ohne Vorverurteilung 920 13,5 864 12,5 1.784 13,0
mit Vorverurteilung 5.871 86,5 6.034 87,5 11.905 87,0

Diagramm 2: Vorverurteilungsquote nach aktueller Verurteilung


2005/2006

100, ° I'_~·'_"~"ffl'~u__m".._,,_,,_., ••,n~__,,_,_n_ _nn~,,_ _,_,, ",n",_n'n,#~._n_ _'n_n#_,n_n_n'_·'''#_·''__#",,_,__mn'n_n.,_n ,_#••nnn,_nn~

90,0 ' " ' " f - ' - - . - - - - - - - - - . - - - - - - - - - - - - - - - - - . - - -...- - - - - - - j

80,0 -;----------..- --.--------------.----.-----.----.---1


70,0 - t - - -......- - - - - . - -..---..- -....- - - - - . - - - -..- - - - - I

60,0 -;----------.-.--------.---.----------1

50, ° +---.------.---.---------.---.--

40,0
30,0
20,0
10,0
0,0 -t------L-,...--.-~.:..:..:...L___,.---J:.&.&oIIIL.oI~_..,_---J.ii.ii.ii.ii.iii~:::.cL-__.__-J----J-___...q
Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht 251

Damit zeigt sich nicht nur, dass bei mehr als einem Viertel bis zur Hälfte
der potenziellen Adressaten eines Wamschussarrestes dieser Schuss bereits
ungehört verhallt ist. Sondern es wird auch noch deutlich, dass bei der Ver-
hängung jugendstrafrechtlicher Sanktionen insgesamt betrachtet der gesetz-
geberische Wille abgestufter Sanktionsintensität Widerhall findet. Mit der
Intensität der verhängten Sanktion steigt sowohl der Anteil vorverurteilter
Personen als auch die Sanktionshärte früherer Verurteilungen und somit der
Prozentsatz vorangegangener freiheitsentziehender Sanktionen.
Interessant in diesem Zusammenhang ist schließlich auch die umgekehrte
Betrachtungsweise nach der Art der erneuten Sanktionierung in Abhängig-
keit von der schwersten Vorverurteilung, die sich für den Jugendarrest und
die Jugendstrafe aus den unten stehenden Tabellen 5 bis 7 ergibt. Dies er-
möglicht zwar keine Aussage über die Legalbewährung oder die Rückfall-
quote nach einer Sanktionierung, lässt aber zumindest gewisse Rückschlüs-
se darauf zu, wie gravierend ein Rückfall durch das erkennende Gericht
eingeschätzt wurde.
Wenngleich, wie erwähnt, die Daten nicht im Sinne einer Rückfallstudie
verstanden werden können, fällt doch auf, dass in Relation zu den in den
Jahren 2005 und 2006 verhängten Sanktionen der Jugendarrest mehr als drei
mal häufiger als die Jugendstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung als
Vorverurteilung registriert ist. Dies verdeutlicht die Gegenüberstellung in
Tabelle 4, die auch zeigt, dass dieser Unterschied auch dann bestehen bleibt,
wenn man in Rechnung stellt, dass der Jugendarrest aktuell doppelt so häu-
fig verhängt wurde wie eine zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe. Eine
Erklärung hierfür ist sicherlich in dem Umstand zu sehen, dass Jugendstra-
fen in der Regel später verhängt werden und ein gewisser Anteil der so
Verurteilten deshalb erst mit einer Freiheits- oder Geldstrafe nach allgemei-
nem Strafrecht wieder registriert wird, die im Rahmen dieser Sonderauswer-
tung als aktuelle Verurteilung nicht erfasst ist. Es darf jedoch bezweifelt
werden, dass dies die erhebliche Differenz in vollem Umfang zu erklären
vermag. In jedem Fall zeigt jedoch bereits diese Gegenüberstellung, dass
der Jugendarrest - jedenfalls bei der Verhinderung von Rückfällen - nicht
überlegen scheint.
252 Bert Götting

Tabelle 4: Verurteilte und Vorverurteilte nach Sanktion

Aktuelle Verur- ... als Vorver- Gesamt


teilung urteilung (2005 + 2006)
2005 I 2006 2005 I 2006 vu I Vorstr.

Erziehungsmaßregeln 23.458 24.125 17.959 19.261 47.583 37.220


Zuchtmittel
(ohne J u~endarrest) 122.212 125.228 27.655 28.389 247.440 56.044
Jugendarrest 19.129 19.707 16.906 17.543 38.836 34.449
Jugendstrafe mit Bew. 8.919 9.268 4.318 4.811 18.187 9.129
J u~endstrafe ohne Bew. 6.791 6.898 5.994 5.554 13.689 11.548
Gesamt 180.509 185.226 72.832 75.558 365.735 148.390

Eine genauere Aufschlüsselung der Folgesanktionen nach den eingetrage-


nen Vorsanktionen wird in den folgenden Tabellen 5 bis 7 dargestellt, die
allerdings lediglich diejenigen Personen erfasst, bei denen die Legalbewäh-
rung gescheitert ist. Für den Jugendarrest (Tabelle 5) lässt sich feststellen,
dass mit insgesamt 49,9 % (2005; 48,4 % in 2006) der größte Teil der Ver-
urteilungen auf Sanktionen unterhalb des Jugendarrestes entfällt (Weisun-
gen, Auflagen, Verwarnungen). Allerdings liegt der Anteil einer erneuten
Sanktionierung mit einer freiheitsentziehenden Maßnahme (Freiheitsstrafen
nach allgemeinem Strafrecht wurden in der Sonderauswertung dabei nicht
abgefragt) mit 36,1 % (2005; 36,5 % in 2006) auch deutlich über einem
Drittel der erneuten Verurteilungen.

Tabelle 5: Vorverurteilung Jugendarrest und Folgesanktionen

2005 2006 Gesamt


absolut %
absolut %
absolut %

Jugendarrest als Vorstrafe 16.906 100 17.543 100 34.449 100


Aktuelle Sanktion
Weisungen 2.189 12,9 2.243 12,8 4.432 12,9
JugendalTest 2.923 17,3 3.159 18,0 6.082 17,7
Auflagen 4.290 25,4 4.435 25,3 8.725 25,3
Verwarnung 1.963 11,6 1.813 10,3 3.776 11,0
Jugendstrafe mit Bewährung 2.219 13,1 2.258 12,9 4.477 13,0
Jugendstrafe ohne Bewährung 959 5,7 989 5,6 1.948 5,7

mit Freiheitsentzug insgesamt 3.882 23,0 4.148 23,6 8.030 23,3


ohne Freiheitsentzug insgesamt 13.024 77,0 13.395 76,4 26.419 76,7
ohne Jugendarrest oder -strafe 10.805 63,9 11.137 63,5 21.942 63,7
Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht 253

Für diejenigen Verurteilten, bei denen eine zur Bewährung ausgesetzte


Jugendstrafe als schwerste Vorverurteilung eingetragen ist, zeigt Tabelle 6,
dass der Anteil der Weisungen, Auflagen und Verwarnungen an den aktuel-
len Sanktionen mit 21,5 % (2005; 21,7 % in 2006) deutlich geringer aus-
fällt. Die erneute Verhängung von Jugendstrafen mit und ohne Strafausset-
zung bildet mit 62,9 % (2005 und 2006) den absoluten Schwerpunkt.

Tabelle 6: Vorverurteilung Jugendstrafe mit Bewährung und Folge-


sanktionen

2005 2006 Gesamt


absolut 0/0 absolut 0/0 absolut 0/0

Jugendstrafe mit Bew. als Vorstrafe 4.318 100 4.811 100 9.129 100
Aktuelle Sanktion
Weisungen 264 6,1 308 6,4 572 6,3
Jugendarrest 401 9,3 393 8,2 794 8,7
Auflagen 467 10,8 539 11,2 1.006 11,0
Verwarnung 199 4,6 195 4,1 394 4,3
Jugendstrafe mit Bewährung 1.238 28,7 1.320 27,4 2.558 28,0
Jugendstrafe ohne Bewährung 1.480 34,3 1.707 35,5 3.187 34,9

mit Freiheitsentzug insgesamt 1.881 43,6 2.100 43,6 3.981 43,6


ohne Freiheitsentzug insgesamt 2.437 56,4 2.711 56,4 5.148 56,4
ohne Jugendarrest oder -strafe 1.199 27,8 1.391 28,9 2.590 28,4

Bei den Verurteilten, für die eine vollstreckte Jugendstrafe als schwerste
Vorsanktion eingetragen ist (Tabelle 7), ist der Anteil erneut verhängter
Jugendstrafen mit 55,6 % (2005) bzw. 58,0 % (2006) zwar deutlich gerin-
ger, jedoch liegt der Anteil erneuter zu vollstreckender Jugendstrafen mit
mehr als 40 % ebenso deutlich höher. Der Anteil der Auflagen, Weisungen
und Verwarnungen beträgt mehr als ein Viertel der erneuten Sanktionen
(2005: 27,8 %; 2006: 26,1 0/0).
Erkennbar wird an diesen Daten einmal mehr, dass die Gerichte offen-
sichtlich die vom Gesetzgeber gewollte Differenzierung zwischen dem
Jugendarrest und der Jugendstrafe nachzeichnen oder zumindest die An-
nahme der Notwendigkeit einer länger dauernden Gesamterziehung jeden-
falls eine gewisse Konsistenz aufweist.
254 Bert Götting

Tabelle 7: Vorverurteilung Jugendstrafe ohne Bewährung und Folge-


sanktionen

2005 2006 Gesamt


absolut 0/0 absolut 0/0 absolut 0/0

Jugendstrafe ohne Bew. als Vorstr. 5.994 100 5.554 100 11.548 100
Aktuelle Sanktion
Weisungen 381 6,4 341 6,1 722 6,3
Jugendarrest 498 8,3 440 7,9 938 8,1
Auflagen 886 14,8 774 13,9 1.660 14,4
Verwarnung 397 6,6 337 6,1 734 6,4
Jugendstrafe mit Bewährung 889 14,8 833 15,0 1.722 14,9
Jugendstrafe ohne Bewährung 2.442 40,7 2.387 43,0 4.829 41,8

mit Freiheitsentzu2 ins2esamt 2.940 49,0 2.827 50,9 5.767 49,9


ohne Freiheitsentzu2 ins2esamt 3.054 51,0 2.727 49,1 5.781 50,1
ohne J ueendarrest oder -strafe 2.165 36,1 1.894 34,1 4.059 35,1

Aus dem geringeren Anteil freiheitsentziehender Sanktionen nach einem


Jugendarrest lässt sich daher nicht notwendig ableiten, dass hier eine Warn-
schusswirkung der Begehung weiterer gravierender Straftaten entgegenge-
wirkt habe; so wie sich aus dem höheren Anteil freiheitsentziehender Sank-
tionen bei ausgesetzten Jugendstrafen nicht das Fehlen einer short-sharp-
shock-Wirkung als Ursache folgern lässt. Zumindest ebenso plausibel ist die
Annahme, dass die Gerichte bei der Auswahl der Sanktionen eben die
schwereren Sanktionen auch für die "schwereren Fälle" verhängt haben.

111. Ergebnisse der Legalbewährungsstudie


Genauere Angaben zur Rückfalligkeit nach einer Uugend-)strafrechtlichen
Sanktionierung sind mittels der Daten der eingangs genannten, vom Bun-
desjustizministerium in Auftrag gegebenen Legalbewährungsstudie mög-
lich.
In einem ersten Überblick lassen sich die in Tabelle 8 wiedergegebenen
folgende Daten festhalten, die Tabelle 4.3 der Studie zu entnehmen sind.
Danach liegt die Rückfallquote nach einem verbüßten Jugendarrest mit
70,0 % gegenüber 59,6 % nach einer zur Bewährung ausgesetzten Jugend-
strafe deutlich höher. Hinzu kommt, dass nach einem Jugendarrest auch der
Anteil der Verurteilungen zu einer Jugend- oder Freiheitsstrafe mit 38,5 0/0
signifikant größer ist als nach einer ausgesetzten Jugendstrafe (33,8 0/0).
Selbst der Anteil des Jugendarrestes als erneute Sanktion liegt nach voran-
Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht 255

gegangenem Arrest bei 7,1 % gegenüber 2,3 % nach einer ausgesetzten


Jugendstrafe.

Tabelle 8: Rückfallquoten und Sanktionen nach Bezugsentscheidung

Jugendstrafe
ohne mit Jugendarrest
Sanktionierung des Rückfalls
Bewährung Bewährung
absolut I 0/0 absolut I 0/0 absolut I 0/0

Fälle insgesamt 3.265 8.675 9.608


Keine Folgeentscheidung 724 22,2 3.502 40,4 2.883 30,0
Mit Foleeentscheidung 2.541 77,8 5.173 59,6 6.725 70,0
Art der Folgeentscheidung
Freiheitsstrafe insgesamt 1.879 57,5 2.548 29,4 1.561 16,3
- ohne Bewährung 1.350 41,4 1.362 15,7 664 6,9
- mit Bewährun~ 529 16,2 1.186 13,7 897 9,3
Jugendstrafe insgesamt 169 5,2 335 3,9 2.135 22,2
- ohne BewährunK 121 3,7 141 1,6 1.032 10,7
- mit BewährunK 48 1,5 194 2,2 1.103 11,5
Geldstrafe 460 14,1 1.726 19,9 1.226 12,8
Jugendarrest 13 0,40 202 2,3 682 7,1
Sonstige Entscheidungen n. JGG 17 0,52 355 4,1 1.118 11,6
MaßregelnINebenstrafen n. StGB 506 15,5 1.014 11,7 1.067 11,2
Jueend-lFreiheitsstrafe inseesamt 2.048 62,7 2.883 33,2 3.696 38,5
- darunter ohne BewährunK 1.471 45,1 1.503 17,3 1.696 17,7
Freiheitsentziehende Sanktionen
(Jugendarrest und Jugend-/ Frei-
heitsstrafe ohne Bewährung) 1.484 45,5 1.705 19,7 2.378 24,8

Insgesamt wurden nach einem Jugendarrest 24,8 % und nach einer zur
Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe 19,7 % zu einer unmittelbar freiheits-
entziehenden Sanktion (Jugendarrest oder Jugend-/Freiheitsstrafe ohne
Strafaussetzung) verurteilt.
Darüber hinausgehend wurden aus den Daten der Legalbewährungsstudie
die statistischen Zusammenhänge zwischen der Bezugsentscheidung, einge-
tragenen Vorsanktionen und Folgeentscheidungen ermittelt. Das bedeutet,
dass ausgewiesen wird, wie viele Personen~ die im Jahr 1994 verurteilt oder
aus einem Freiheitsentzug entlassen und rückfallig geworden sind und mit
welcher Sanktion dieser Rückfall belegt worden ist. Diese Rückfallquoten
wiederum werden danach aufgeschlüsselt, ob vor der "aktuellen" Verurtei-
lung eine frühere Sanktionierung eingetragen ist und welche das war.
Durchgefuhrt wurde diese Sonderauswertung vom Institut für Kriminalwis-
senschaften der Georg-August-Universität Göttingen im Auftrag des Bun-
256 Bert Götting

desamtes für Justiz. Sie erlaubt eine wesentliche differenziertere Betrach-


tung als die Daten der Strafverfolgungsstatistik.
Mit Blick auf den Warnschussarrest stellt sich auch hier die Frage, in wie
vielen Fällen einer Verurteilung zu einer Jugendstrafe mit Strafaussetzung
zur Bewährung bereits ein vollstreckter Jugendarrest vorausging? Da aller-
dings eine mögliche Warnschusswirkung davon abhängt, dass Arresterfah-
rung vorliegt, ist darauf zu achten, dass nur solche Vorsanktionierungen mit
Jugendarrest berücksichtigt werden, bei denen der Arrest auch tatsächlich
vollstreckt worden ist. Dies kann nicht angenommen werden, wenn der
Jugendarrest in eine spätere Entscheidung mit einbezogen wurde. Aus die-
sem Grunde wurden sämtliche einbezogenen Vorsanktionierungen in den
entsprechenden Tabellen im Folgenden nicht berücksichtigt. Dabei ist zu
beachten, dass auf die schwerste eingetragene Vorsanktion abgestellt wird,
so dass bei einer ausgesetzten Jugendstrafe als Vorverurteilung (Tabelle 15)
auch hier die Möglichkeit besteht, dass im Falle weiterer Vorsanktionen
auch ein Jugendarrest darunter ist.

Tabelle 9: Verteilung der Vorsanktionierungen

Jugendstrafe
ohne
Bewährun2
I mit
Bewährun2
Jugendarrest

Fälle insgesamt (absolute Zahlen) 2.967 8.089 9.545


Art der Vorsanktionierung (%)
- Keine Vorsanktion 17,5 33,3 40,8
- Einstellung nach JGG 14,4 19,0 21,7
- Zuchtmittel/Maßregel
18,2 19,0 22,8
(ohne Jugendarrest)
- Jugendarrest 35,2 17,5 10,9
- Geldstrafe 3,3 5,8 1,2
- Jugendstrafe mit Strafaussetzung 4,0 2,9 2,1
- Jugendstrafe ohne Strafaussetzung 7,4 2,5 0,5

Wie Tabelle 9 zeigt, ist bei einer Verurteilung zu einer Jugendstrafe mit
Strafaussetzung zur Bewährung in 33,3 % der Fälle noch keine Sanktion
eingetragen, was allerdings auch auf entsprechende Tilgungsfristen bzw.
-modalitäten (z. B. im Fall des § 27 JGG) zurückzuführen sein kann. Dem-
gegenüber verfügen 20,0 % bereits über Hafterfahrung, in 17,5 % der Fälle
durch einen Jugendarrest und in weiteren 2,5 % durch eine Jugendstrafe
ohne Bewährung.
Bei Verhängung eines Jugendarrestes weisen sogar 40,8 % der Jugendli-
chen keine Vorsanktionierung auf, während 11,4 % schon über eine Hafter-
Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht 257

fahrung verfügen, 10,9 % durch einen Jugendarrest und weitere 0,5 % durch
eine zu vollstreckende Jugendstrafe.
Insgesamt zeigt Tabelle 9, dass die Belastung mit Vorsanktionen und das
Gewicht dieser Sanktionierungen bei Verhängung von Jugendarrest gerin-
ger sind als bei einer Jugendstrafe mit und ohne Strafaussetzung zur Bewäh-
rung. Dieses erwartete Ergebnis verdeutlicht auch Diagramm 3 und es be-
stätigt die Sonderauswertung der Strafverfolgungsstatistik.
Für den möglichen Anwendungsbereich eines Warnschussarrests neben
einer Jugendstrafe mit Strafaussetzung ergibt sich aus Tabelle 9 damit, dass
bei 20,0 % der Jugendlichen, die zu einer Jugendstrafe mit Bewährung
verurteilt werden, bereits eindeutig Hafterfahrung vorliegt. Bei weiteren
8,7 0;0 ist dies nicht auszuschließen, da die schwerste eingetragene Vorsank-
tion über dem Jugendarrest liegt (2,9 % Jugendstrafe mit Bewährung und
5,8 % Geldstrafe). Eine mögliche Warnschussfunktion ließe sich damit nach
den Daten der Legalbewährungsstudie noch bei mindestens 71,3 % und
höchstens bei 80,0 % erreichen.

Diagramm 3: Verteilung der Vorsanktionierungen

100%

600/0

400/0

20%

0% -+---I.o- ..&...-..,.---I.o- ..&...-..,.---I.o- ..a--...,

Jugendstrafe mit Jugendstrafe ohne Jugendarrest


Bewährung Bewährung

o Keine Vorsanktion o Einstellung nach JGG


(] Zuchtmittel/Maßregel sonst ca Jugendarrest
Im Geldstrafe • Jugendstrafe gesamt

An dieses Ergebnis, das für einen möglichen Warnschuss noch einen


deutlich breiteren Raum erwarten lässt als die Ergebnisse aus der Strafver-
258 Bert Götting

folgungsstatistik, schließt sich eine weitere und ebenso bedeutsame Frage


an, die ausschließlich aus den Ergebnissen der Legalbewährungsuntersu-
chung beantwortet werden kann. Stellt sich die Verhängung eines Jugendar-
rests gegenüber einer Jugendstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung im
Hinblick auf die Legalbewährung als überlegen dar? Wirkt der Jugendarrest
vielleicht besonders rückfallverhindemd oder verhindert er zumindest künf-
tige Jugendstrafen?
Als erstes auffälliges Ergebnis, das auch bereits weiter oben genannt wur-
de, zeigt sich jedoch (Tabelle 18), dass die Rückfallquote nach einem Ju-
gendarrest mit 69,9 % insgesamt deutlich über der nach einer zur Bewäh-
rung ausgesetzten Jugendstrafe (59,4 %) liegt, obwohl die Verurteilten
ausweislich Tabelle 9 geringer vorbelastet sind. Die Differenzen zu den
Ergebnissen der Tabelle 8 erklären sich daraus, dass - aus den genannten
Gründen - einbezogene Vorverurteilungen herausgerechnet worden sind.
Vergleicht man die Rückfallquoten unter Berücksichtigung der eingetra-
genen Vorsanktionen, die einen gewichtigen Strafzumessungsfaktor bilden
können, bestätigt sich dieses Bild (Tabellen 10 bis 16). Die Rückfallquote
liegt für den Jugendarrest auch bei Berücksichtigung der eingetragenen
schwersten Vorsanktion durchgängig deutlich über der rur die ausgesetzte
Jugendstrafe. Erst rur den Fall, dass eine nicht zur Bewährung ausgesetzte
Jugendstrafe als Vorverurteilung eingetragen ist, liegt die Rückfallquote bei
der Jugendstrafe mit Strafaussetzung ähnlich der beim Jugendarrest über
80%.

Tabelle 10: Rückfall bei Verurteilten nach Schwere der Vorsanktionie-


rung

Jugendstrafe
Rückfallquote (und absolute Zahl
der Verurteilten) bei Verurteilten ... ohne
Bewährung
I
mit
Bewährung
Jugendarrest

- Ohne Vorsanktionierung 67,4 519 43,0 2.697 56,6 3.896


- Einstellung nach JGG 76,3 426 58,6 1.537 75,1 2.069
- Zuchtmittel / Erziehungsmaßregel
80,9 540 70,7 1.535 79,4 2.180
(ohne Jugendarrest)
- Jugendarrest 82,5 1.044 72,1 1.415 84,3 1.041
- Geldstrafe 67,7 99 66,3 472 80,9 115
- Jugendstrafe mit Strafaussetzung 80,5 118 69,4 232 86,4 199
- Jugendstrafe ohne Strafaussetzung 82,4 221 81,1 201 84,4 45
Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht 259

Betrachtet man zusätzlich die Schwere der verhängten Sanktionen im Fal-


le eines Rückfalls (Tabellen 11 bis 17 und Diagramm 4 am Ende), gilt Fol-
gendes:
Im Falle eines Rückfalls werden nach einem Jugendarrest auch schwerere
Sanktionen verhängt, solange als Vorsanktion nicht bereits eine Jugendstra-
fe mit oder ohne Bewährung eingetragen ist (Tabellen 11 bis 15). Lag be-
reits eine Jugendstrafe als Vorsanktion vor (Tabellen 16 und 17), dann wird
nach einer ausgesetzten Jugendstrafe bei einem Rückfall häufiger eine wei-
tere Jugendstrafe verhängt als nach einem Jugendarrest. Dieses Ergebnis ist
allerdings auch nicht erwartungs\vidrig, da zwei verhängte Jugendstrafen als
Vorsanktionen deutlich schwerer wiegen als eine Jugendstrafe und ein Ju-
gendarrest. Erstaunlich ist eher, dass in diesem Fall die Differenz nicht
deutlicher ausfällt.
Zu beachten ist dabei, dass die Tabellen 11 bis 18 den prozentualen Anteil
der Folgesanktionen in zweifacher Hinsicht ausweisen. Zum einen in Rela-
tion zu allen erfassten Personen (Zeile und Spalte (1)) und zum anderen nur
relativ zu denjenigen Personen mit einer Folgesanktionierung (Zeile und
Spalte (2)). Die erste Angabe macht Differenzen dadurch deutlicher, dass
sich eine höhere Rückfallquote entsprechend verstärkend auswirkt. Es zeigt
sich, dass von den Jugendlichen, die eine ausgesetzte Jugendstrafe als Vor-
sanktion hatten und die erneut zu einer Jugendstrafe mit Strafaussetzung
verurteilt wurden, insgesamt 43,1 % infolge eines Rückfalls erneut mit einer
Jugend-IFreiheitsstrafe sanktioniert wurden (26,3 % ohne Bewährung). Bei
denj enigen, die mit einem Jugendarrest sanktioniert wurden, lag der Anteil
der später zu einer Jugend-IFreiheitsstrafe verurteilten Jugendlichen bei
51,8 % (22,1 % ohne Bewährung). Dies wird auch deutlich erkennbar in
Diagramm 4. Eine insgesamt schwerere Folgesanktionierung nach einer
ausgesetzten Jugendstrafe ergibt sich damit nur noch für die Fälle, in denen
als Vorsanktionierung eine vollstreckte Jugendstrafe vorlag.
Durchgängig über alle Voreintragungen wird allerdings nach einem Ju-
gendarrest mehr als doppelt so häufig (erneut) ein Jugendarrest verhängt.
Insgesamt werden deshalb nach einem Jugendarrest häufiger erneut frei-
heitsentziehende Sanktionen verhängt als nach einer ausgesetzten Jugend-
strafe (Tabelle 18).
Betrachtet man die Ergebnisse der Legalbewährungsstudie und der Son-
derauswertung der Strafverfolgungsstatistik in einer Zusammenschau, dann
ergibt sich daraus zum einen, dass mehr als ein Viertel der zu einer Jugend-
strafe mit Bewährung verurteilten Personen nachweisbar über Hafterfah-
rung durch Arrest oder Jugend-IFreiheitsstrafe verfügt und bei weiteren
mehr als 10 % dieses nicht ausgeschlossen werden kann.
Zum anderen zeigt sich, dass nach einem Jugendarrest oder einer Jugend-
strafe ohne Aussetzung zur Bewährung nicht nur die Rückfallquote höher
260 Bert Götting

liegt, sondern auch mehr freiheitsentziehende Sanktionen verhängt werden


als nach einer ausgesetzten Jugendstrafe. Das ist umso auffälliger, als der
Anteil erstmals Verurteilter bei der Verhängung von Jugendarrest nach der
Zusatzautbereitung der Strafverfolgungsstatistik deutlich höher ist.

IV. Ergebnis
Betrachtet man die Ergebnisse dieser Sonderauswertungen der Strafver-
folgungsstatistik und der Legalbewährungsstudie, zeigt sich deutlich, dass
die Warnschusswirkung eines Jugendarrestes und die präventive Wirksam-
keit einer solchen Sanktionsmöglichkeit mit den vorliegenden statistischen
Daten jedenfalls nicht zu begründen ist.
Vielmehr liegen nach einer Sanktionierung mit Jugendarrest die Rück-
fallquoten und die Sanktionsschwere fur diese Rückfälle - insbesondere der
Anteil erneuten Freiheitsentzuges - deutlich über den ausgesetzten Frei-
heitsstrafen.
Selbst wenn der Sanktionierung eine entsprechende Selektion durch das
Gericht zugrunde liegt, wird diese durch die dargestellten Zahlen jedenfalls
insgesamt in der Weise bestätigt, dass die Verhängung einer ausgesetzten
Jugendstrafe bei den Jugendlichen, gegen die sie verhängt wird, zu keinem
höheren Rückfallrisiko fuhrt als die Verhängung eines Jugendarrests. Dass
sich durch einen Warnschussarrest die Rückfallquote nach Jugendstrafen
mit Strafaussetzung zur Bewährung senken lassen könnte, ist schon auf-
grund der höheren Rückfallquote nach Arrestverhängung nicht plausibel.
Das gilt umso mehr, weil die höhere Rückfallquote auch bei vergleichbarer
Vorsanktion und sogar bei Personen ohne eingetragene Vorsanktion gege-
ben ist. Die gleichzeitige Verhängung eines Jugendarrestes neben einer zur
Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe dürfte nach den vorliegenden Er-
kenntnissen damit im Ergebnis die Rückfallquote der ausgesetzten Jugend-
strafe nicht verbessern können; eher ist mit einem Anstieg zu rechnen.
Diese Ergebnisse sprechen demnach unter spezial- und auch generalprä-
ventiven Erwägungen deutlich gegen die Verhängung eines Warnschussar-
restes.
Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht 261

Tabelle 11: Rückfall bei Verurteilten ohne Vorsanktionierung

Jugendstrafe
Sanktionierung des Rückfalls ohne
Bewährung
I mit
Bewährung
Jugendarrest

Fälle insgesamt
519 2.697 3.896
(absolute Zahlen) (1)
- davon mit Rückfall
350 (67,4) 1.161 (43,0) 2.207 (56,6)
(Absolut u. Anteil in 0/0) (2)
Sanktionen im Falle eines Rückfalls von von von von von von
(%-Anteil) (1) (2) (1) (2) (1) (2)
- Jugend-/Freiheitsstrafe 50,5 74,9 18,7 43,4 25,6 45,2
- darunter ohne Bewährung 32,6 48,3 8,1 18,8 11,7 20,7
- Jugendarrest 0,4 0,6 2,3 5,4 7,3 12,9
Anteil aller unmittelbar freiheitsentzie-
henden Sanktionen an den Folgeent- 32,9 48,9 10,4 24,2 19,0 33,6
scheidungen

Tabelle 12: Rückfall bei Verurteilten mit Einstellung nach JGG als
schwerster Vorsanktionierung

Jugendstrafe
Sanktionierung des Rückfalls ohne
Bewährun2
I mit
Bewährun2
Jugendarrest

Fälle insgesamt
426 1.537 2.069
(absolute Zahlen) (1)
- davon mit Rückfall
325 (76,3) 900 (58,6) 1.554 (75,1)
(Absolut u. Anteil in %) (2)
Sanktionen im Falle eines Rück- von von von von von von
falls (%-Anteil) (1) (2) (1) (2) (1) (2)
- Jugend-/Freiheitsstrafe 60,1 78,8 29,7 50,8 38,4 51,1
- darunter ohne Bewährung 43,4 56,9 13,7 23,3 17,5 23,4
- Jugendarrest 0,7 0,9 2,9 5,0 8,1 10,8
Anteil aller unmittelbar freiheitsent-
ziehenden Sanktionen an den Folge- 44,1 57,8 16,6 28,3 25,7 34,2
entscheidungen
262 Bert Götting

Tabelle 13: Rückfall bei Verurteilten mit Zuchtmittel/Erziehungs-


maßregel (ohne Jugendarrest) als schwerster Vorsanktionierung

Jugendstrafe
Sanktionierung des Rückfalls ohne
Bewährung
I mit
Bewährung
Jugendarrest

Fälle insgesamt
540 1.535 2.180
(absolute Zahlen) (1)
- davon mit Rückfall
437 (80,9) 1.085 (70,7) 1.732 (79,4)
(Absolut u. Anteil in %) (2)
Sanktionen im Falle eines Rück- von von von von von von
falls (%-Anteil) (1) (2) (1) (2) (1) (2)
- Jugend-/Freiheitsstrafe 60,7 75,1 40,2 56,9 47,5 59,8
- darunter ohne Bewährung 41,9 51,7 19,1 27,0 19,9 25,1
- Jugendarrest 0,4 0,5 2,9 4,1 7,5 9,4
Anteil aller unmittelbar freiheitsent-
ziehenden Sanktionen an den Folge- 42,2 52~2 22,0 31,2 27,4 34,5
entscheidungen

Tabelle 14: Rückfall bei Verurteilten mit Jugendarrest als schwerster


Vorsanktionierung

Jugendstrafe
Sanktionierung des Rückfalls ohne
Bewährun2
I mit
Bewähru n2
Jugendarrest

Fälle insgesamt
1.044 1.415 1.041
(absolute Zahlen) (1)
- davon mit Rückfall
861 (82,5) 1.020 (72,1) 878 (84,3)
(Absolut u. Anteil in %) (2)
Sanktionen im Falle eines Rück- von von von von von von
falls (%-Anteil) (1) (2) (1) (2) (1) (2)
- Jugend-/Freiheitsstrafe 67,4 81,8 44,0 61,1 60,1 71,3
- darunter ohne Bewährung 49,3 59,8 25,2 34,9 30,7 36,4
- Jugendarrest 0,6 0,7 2,5 3,4 5,0 5,9
Anteil aller unmittelbar freiheitsent-
ziehenden Sanktionen an den Folge- 49,9 60,5 27,6 38,3 35,7 42,4
entscheidungen
Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht 263

Tabelle 15: Rückfall bei Verurteilten mit Geldstrafe als schwerster


Vorsanktionierung

Jugendstrafe
Sanktionierung des Rückfalls ohne
Bewährun~
mit I
Bewährun2
Jugendarrest

Fälle insgesamt
99 472 115
(absolute Zahlen) (1)
- davon mit Rückfall
67 (67,7) 313 (66,3) 93 (80,9)
(Absolut u. Anteil in %) (2)
Sanktionen im Falle eines Rück- von von von von von von
falls (%-Anteil) (1) (2) (1) (2) (1) (2)
- lugend-IFreiheitsstrafe 56,6 83,6 40,5 61,0 61,7 76,3
- darunter ohne Bewährung 37,4 55,2 23,1 34,8 31,3 38,7
- 1ugendarrest 0,0 0,0 0,4 0,6 0,9 1, 1
Anteil aller unmittelbar freiheitsent-
ziehenden Sanktionen an den Folge- 37,4 55,2 23,5 35,5 32,2 39,8
entscheidungen

Tabelle 16: Rückfall bei Verurteilten mit Jugendstrafe mit Strafausset-


zung zur Bewährung als schwerster Vorsanktionierung

Jugendstrafe
Sanktionierung des Rückfalls ohne mit
Bewährun~ Bewährun2
I
Jugendarrest

Fälle insgesamt
118 232 199
(absolute Zahlen) (1)
- davon mit Rückfall
95 (80,5) 161 (69,4) 172 (86,4)
(Absolut u. Anteil in 0/0) (2)
Sanktionen im Falle eines Rück- von von von von von von
falls (%-Anteil) (1) (2) (1) (2) (1) (2)
- lugend-/Freiheitsstrafe 71,2 88,4 43,1 62,1 51,8 59,9
- darunter ohne Bewährung 55,9 69,5 26,3 37,9 22,1 25,6
- 1ugendarrest 0,0 0,0 2,6 3,7 5,5 6,4
Anteil aller unmittelbar freiheitsent-
ziehenden Sanktionen an den Folge- 55,9 69,5 28,9 41,6 27,6 32,0
entscheidungen
264 Bert Götting

Tabelle 17: Rückfall bei Verurteilten mit Jugendstrafe ohne Strafaus-


setzung zur Bewährung als schwerster Vorsanktionierung

Jugendstrafe
Sanktionierung des Rückfalls ohne
Bewährun2
I mit
Bewährun2
Jugendarrest

Fälle insgesamt
(absolute Zahlen)
221 201 45
(1)
- davon mit Rückfall
182 (82,4) 163 (81,1) 38 (84,4)
(Absolut u. Anteil in %) (2)
Sanktionen im Falle eines Rück- von von von von von von
falls (%-Anteil) (1) (2) (1) (2) (1) (2)
- 1ugend-IFreiheitsstrafe 74,7 90,7 67,2 82,8 60,0 71,1
- darunter ohne Bewährung 57,5 69,8 46,8 57,7 44,4 52,6
- 1ugendarrest 0,0 0,0 2,5 3,1 4,4 5,3
Anteil aller unmittelbar freiheitsent-
ziehenden Sanktionen an den Folge- 57,5 69,8 49,3 60,7 48,9 57,9
entscheidungen

Tabelle 18: Rückfall bei allen Verurteilten unabhängig von einer Vor-
sanktionierung (Tabellen 11 bis 17)

Jugendstrafe
Sanktionierung des Rückfalls ohne
Bewährun2
I mit
Bewährun2
Jugendarrest

Fälle insgesamt (absolut) (1) 2.967 8.089 9.545


- davon mit Rückfall
2.317 (78,1) 4.803 (59,4) 6.674 (69,9)
(Absolut u. Anteil in %) (2)
Sanktionen im Falle eines Rück- von von von von von von
falls (%-Anteil) (1) (2) (1) (2) (1) (2)
- lugend-IFreiheitsstrafe 62,5 80,1 32,5 54,7 38,3 54,8
- darunter ohne Bewährung 44,7 57,2 16,6 27,9 17,5 25,1
- 1ugendarrest 0,4 0,6 2,5 4,2 7,1 10,2
Anteil unmittelbar freiheitsentzie-
45,1 57,7 19,1 32,1 24,7 35,3
hender Sanktionen an Folgeentsch.
Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht 265

Diagramm 4: Aufschlüsselung der Rückfallentscheidungen nach


Schwere der Vor- und Rückfallsanktion 7
100,0

90,0
80,0 +----------+---~---------+----~--+_---___t

70,0 -+-----------}-----I-

60,0 -1------------------+--------1-

50,0

40,0

30,0

20,0

10,0

0,0
JmB JA JmB JA JmB JA JmB JA JmB JA JmB JA JmB JA

• Jugend-/Freiheitsstrafe ohne Bew . D Jugend-/Freiheitsstrafe mit Bew .


~ Jugendarrest [J Sonstige Entscheidungen

7 VS - Vorsanktion ErzM Erziehungsmaßregel Bew. - Bewährung


JA - Jugendarrest JmB - Jugendstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung
Das Schülerverfahren als kriminalpräventives
Angebot der Jugendhilfe
Dargestellt am Beispiel eines Schülerprojekts in Kehl

MONIKA TRAULSEN

I. Einleitung
1. Schülerverfahren in der Jugendstrafrechtspflege
Auf der Strafrechtslehrertagung 1979 in Bonn wies Heinz Schöch auf die
Bedeutung der Ethik für die Strafrechtspflege hin. Als Grundlage der straf-
rechtlichen Ethik bezeichnete er "die Hoffnung auf die Entfaltung sozialer
Verantwortung bei jedem Menschen".l Diese Hoffnung besteht besonders
für junge Menschen, die noch dabei sind, in die soziale Verantwortung
hineinzuwachsen, auf diesem Weg aber mit dem Gesetz in Konflikt ge-
kommen sind. In seinem vielfältigen Bemühen, der Strafrechtspflege neue
Impulse zu geben, entwickelte Heinz Schöch fiir diese Tätergruppe zusam-
men mit Reinhard Böttcher und der Strafrechtsabteilung des Bayerischen
Staatsministeriums der Justiz die Idee, das in den USA praktizierte Modell
der Teen Courts auf deutsche Verhältnisse zu übertragen. In dem von ihm
"Kriminalpädagogisches Schülerprojekt" genannten Verfahren soll dem
jungen Täter die Gelegenheit gegeben werden, mit einem dafür ausgebilde-
ten Gremium ungefähr gleichaltriger Schüler ein ausführliches Gespräch
über seine Tat und ihre Hintergründe zu führen. In der Regel soll auch eine
Maßnahme vereinbart werden, die möglichst einen Bezug zur Tat hat. 2
Schon vor über 20 Jahren bezeichnete Heinz Schöch "eine positive soziale
Leistung des Täters mit dem Ziel des Ausgleichs der durch die Tat gestörten
Rechtsordnung" als strafrechtliche Wiedergutmachung. Als Beispiele nann-
te er eine Entschuldigung, gemeinnützige Leistungen oder Geschenke an
den Verletzten, 3 wie sie nun in den Schülerverfahren vereinbart werden.

1 Schäch ZStW 1980, 143, 184.


2 Schäch/Traulsen FS Böttcher, 2007, S. 379-382.
3 Schäch Strafrecht zwischen Freien und Gleichen im demokratischen Rechtsstaat, FS Mai-
hafer, 1988, S. 461, 468 f.
268 Monika Traulsen

Im Jahr 2000 wurde das erste Schülerverfahren bei der Staatsanwaltschaft


Aschaffenburg eingerichtet. Es wurde ebenso wie die in Ingolstadt, Ans-
bach, Memmingen und Augsburg nachfolgenden Projekte unter der Leitung
von Heinz Schöch wissenschaftlich begleitet und evaluiert. 4 Zwei Legalbe-
währungsstudien ergaben, dass die ehemaligen Teilnehmer sich im Durch-
schnitt günstiger als vergleichbare jugendliche Täter entwickelt haben.
Dabei weist insbesondere die Tatsache, dass sie seltener mit einem gleichar-
tigen Delikt rückfällig wurden, auf einen präventiven Einfluss des Schüler-
verfahrens hin. 5 Andere Bundesländer haben diese neue Form der Diversion
übernommen. 6 In der Literatur findet eine lebhafte Diskussion über ihre
Bedeutung statt. Je nach Sichtweise, Kenntnis der einschlägigen Publikatio-
nen und Sachlichkeit der Kritik fallen die Stellungnahmen sehr unterschied-
lich aus. 7

2. Das Kehler Schülerprojekt


Inzwischen wurde der Ansatz, Gesetzesverstöße von Minderjährigen
durch ein Schülergremium aufarbeiten zu lassen, auch in der baden-
württembergischen Stadt Kehl verwirklicht. Ende 2005 richtete der DRK-
Kreisverband ein Schülerverfahren im Rahmen der kommunalen Kriminal-
prävention ein. Das Projekt wurde zunächst unter dem Namen "Kehrtwen-
de" auf drei Jahre durch Drittmittel finanziert. Anschließend wurde es als
"Rückenwind" mit geringfügigen Änderungen um weitere drei Jahre ver-
längert. Zielgruppe sind strafunmündige Kinder, die eine Straftat begangen
haben, straffällige Jugendliche, deren Verfahren eingestellt wurde und Kin-
der und Jugendliche mit sonstigem abweichendem Verhalten. Ein Schüler-
gremium soll sie mit ihrem Fehlverhalten konfrontieren, über die möglichen
Folgen aufklären, gemeinsam mit ihnen nach Lösungen und einer Möglich-
keit der Wiedergutmachung suchen und ihnen helfen, weiteres Fehlverhal-
ten zu vermeiden. 8 Somit verfolgt dieses Projekt die gleichen Ziele wie die
kriminalpädagogischen Schülerprojekte in der Jugendstrafrechtspflege.

4 Schöch/Traulsen DVJJ-Journal 2002, 54-60~ dies. (Fn. 2)~ Sabaß Schülergremien in der
Jugendstrafrechtsptlege - Ein neuer Diversionsansatz. Kriminalwissenschaftliche Schriften
Band 2, 2004~ Englmann Kriminalpädagogische Schülerprojekte in Bayern - Rechtliche Prob-
leme und spezialpräventive Wirksamkeit eines neuen Diversionsansatzes im Jugendstrafverfah-
ren, 2009. Zum Schülerprojekt in Ingolstadt siehe auch Löffelmann ZJJ 2004, 171-177.
5 Schöch/Traulsen Legalbewährung nach Schülerverfahren. Die strafrechtliche Entwicklung
von Jugendlichen, die am "Kriminalpädagogischen Schülerprojekt Aschaffenburg" teilgenom-
men haben, GA 2009, S. 19-44~ Englmann (Fn. 4)~ ders. ZJJ 2009, 216-226.
6 Hessen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt~ Englmann (Fn. 5), S. 217.
7 Siehe z.B. Block/Kolberg ZJJ 2007, 8-18~ Breymann ZJJ 2007, 4-8~ Plewig ZJJ 2008, 237-
245. Eingehend und m.w.N. Englmann (Fn. 4), S. 218-222.
8 Konzeption unter http://www.kv-kehl.drk.de.
Das Schülerverfahren in der Jugendhilfe 269

Obwohl es diesen auch nach dem Verfahrensablauf weitgehend gleicht, ist


es rechtlich gesehen nicht wie diese ein Diversionsverfahren. Es handelt
sich vielmehr um einen aus einem sozialpädagogischen Bedürfnis heraus
entstandenen neuen Weg der Jugendhilfe. 9 Heinz Schöch billigt die lTber-
tragung seines Modells in die Jugendhilfe mit den Worten, er halte es "rur
gut vertretbar, das Schülerverfahren im Einvernehmen mit den Erziehungs-
berechtigten als kriminalpädagogisches Angebot im Gesamtspektrum der
Jugendhilfe anzuerkennen, durchaus auch unter dem Aspekt der kommuna-
len Kriminalprävention".IO Trotz mancher Unterschiede stimmen Jugend-
strafrechtspflege und Jugendhilfe in dem Erziehungsziel überein, junge
Menschen von - ggf. weiteren - Straftaten abzuhalten. 11 Die Entscheidung
des DRK Kehl, dafür ein Schülerverfahren einzurichten, ist durch den Spiel-
raum, den das SGB VIII den freien Trägem der Jugendhilfe rur die Gestal-
tung ihrer Maßnahmen gibt,12 gedeckt.

3. Fragestellung
Zunächst soll geklärt werden, unter welchen Voraussetzungen die Ju-
gendhilfe Maßnahmen rur delinquente Minderjährige durchfuhren kann und
welche Konsequenzen dies für ein Schülerverfahren in diesem Bereich hat.
Es folgt eine Analyse der bisher in Kehl durchgeführten Verfahren.

11. Kriminalpräventive Reaktionen auf Straftaten


Minderjähriger
1. JugendstrafVerfahren
Wegen Gesetzesverstößen werden Jugendliche ab 14 Jahren nach dem
JGG zur Verantwortung gezogen. Kinder unter 14 Jahren sind strafunmün-
dig und erfahren daher keine Reaktion nach dem JGG. Auch für Jugendli-
che sieht das JGG regelmäßig dann keine erzieherischen Maßnahmen vor,
wenn sie lediglich ein geringfügiges Vergehen begangen haben. In solchen
Fällen kann die Staatsanwaltschaft nach § 45 I unter gewissen Vorausset-

9 Laut Breymann (Fn. 7), 4, 8 gibt es weder dieses Bedürfnis noch ein Projekt, das von der
Jugendhilfe eingerichtet wurde.
lü UnverötIentlichte Stellungnahme vom 1.6.2006.
11 Goerdeler ZJJ 2006, 4, 5; ders. ZJJ 2008, 137, 140. Siehe auch Schäch Neue Punitivität
in der Jugendkriminalpolitik? In: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Das Jugendkriminal-
recht vor neuen Herausforderungen? 2009, S. 13,27.
12 Goerdeler 2006 (Fn. 11), 7~ Wiesner SGB VIII ,Kinder- und Jugendhilfe~ 3. Autl. 2006,
§ 27 Rn. 29.
270 Monika Traulsen

zungen von der Strafverfolgung absehen. Laut einer Umfrage unter Staats-
anwälten geschieht dies in Baden-Württemberg z.B. bei Ladendiebstählen
von Ersttätern, wenn der Sachwert weniger als ungefähr 30 Euro beträgt. 13

2. ~Jugendhilfe

Das Kehler Schülerverfahren wurde in der Annahme konzipiert, dass


straffällige Kinder und Jugendliche ohne Jugendstrafverfahren keine zur
Vermeidung weiterer Straftaten notwendige Konsequenz auf ihr Fehlverhal-
ten erfahren. Daher soll besonders diesen Minderjährigen ein präventives
Angebot der Jugendhilfe gemacht werden. 14 Ein derartiges Angebot richtet
sich nach dem Jugendhilferecht. 15 Dieses sieht kriminalpräventive Maß-
nahmen der Jugendhilfe nur für solche Minderjährige vor, deren soziale
Entwicklung gefährdet erscheint (§ 1 Abs. 3 Ziffer 1 SGB VIII). Nach kri-
minologischer Erkenntnis ist das Risiko, dass ein Täter weitere Straftaten
begehen wird, bei wiederholter bzw. schwerer Straffälligkeit, insbesondere
bei Gewaltdelikten, oder bei zusätzlichen Auffälligkeiten im Sozialverhal-
ten erhöht. 16
Die Polizeiliche Dienstvorschrift 382, die sich mit der Bearbeitung von
Jugendsachen befasst,17 trägt dieser Erkenntnis Rechnung, indem sie eine
Unterrichtung des Jugendamts nur bei einer Gefährdung des Minderjährigen
vorsieht. 18 Eine Gefährdung hält sie dann für gegeben, wenn er verdächtig
ist, wiederholt oder in Gruppen Straftaten begangen zu haben, wenn er
streunt oder wiederholt die Schule schwänzt oder wenn sein Wohl durch
soziale Auffälligkeiten der Erziehungsberechtigten beeinträchtigt ist. 19
Nach allgemeiner Ansicht kann allein aus dem Begehen einer Straftat,
zumindest eines Bagatelldelikts, weder auf Defizite in der Erziehung noch
auf eine gestörte oder gefährdete Entwicklung des jungen Menschen ge-
schlossen werden. 20

13 Dieser Wert wurde auch im Bundesdurchschnitt ermittelt. Feigen ZJJ 2008, 349, 353,
355. Zu den Unterschieden zwischen den Bundesländern siehe Tabellen 2 und 3, S. 355.
14 Konzeption unter http://www.kv-kehl.drk.de.
15 Walter ZJJ 2008, 224, 227.
16 Dölling in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Grundfragen des Jugendkriminalrechts
und seiner Neuregelung, 1992, S. 38, 55 f.~ Dölling/Hartmann/Traulsen MschrKrim 2002, 185,
190~ Hein= in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der
Bundesrepublik Deutschland, 1993, S. 3, 51.
17 Abgedruckt in DVJJ-JoumaI1997, 5-24.
18 Allgemeine Verfahrensgrundsätze 3.2.7.
19 Im Einzelnen 2.2 Gefährdung Minderjähriger.
20 Albrecht in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Grundfragen des Jugendkriminalrechts
und seiner Neuregelung, 2. Aufl. 1995, S. 254, 255~ Bindel-Kögel u.a. Kinderdelinquenz
zwischen Polizei und Jugendamt, 2004, S. 31 ~ Philipp ZJJ 2009, 141 ~ Sonnen ZJJ 2009, 4, 6~
Das Schülerverfahren in der Jugendhilfe 271

Für den Begriff der Bagatelldelinquenz gibt es keine einheitliche Defini-


tion. Vielmehr hängt es von der individuell aufgewendeten Energie und
dem angerichteten Schaden ab, ob es sich um eine Bagatelltat handelt. 21
Eine Tat, die sich gegen ein persönliches Opfer richtet, wiegt schwerer als
ein Diebstahl in einem anonymen Kaufhaus. Ein Beutezug durch mehrere
Kaufhäuser oder der Diebstahl hochwertiger Gegenstände sind anders zu
beurteilen als das Einstecken einer geringwertigen Sache, zumal wenn dies
aus einer günstigen Gelegenheit heraus oder lediglich als Mutprobe ge-
schieht. In der Regel können Taten, die von der Staatsanwaltschaft nach
§ 45 Abs. 1 JGG folgenlos eingestellt werden, als Bagatellen betrachtet
werden.

3. Sonstige Reaktionen
Die Entscheidung des Gesetzgebers, für Strafunmündige und im Baga-
teIlbereich auch für Jugendliche kein Jugendstrafverfahren durchzuführen,
bedeutet andererseits nicht, wie das DRK Kehl befürchtet, dass die Taten in
kriminalpräventiver Hinsicht ganz folgenlos bleiben. Junge Straftäter be-
richten, dass die Erfahrung erwischt zu werden - bei Ladendiebstählen folgt
dem Zugriff des Ladendetektivs im Allgemeinen auch noch ein Hausverbot
.- und die Vernehmung auf der Polizeidienststelle einen starken Eindruck
bei ihnen hinterlassen haben, mindestens ebenso wie die Bestrafung durch
die Eltern, z.B. mit Hausarrest und Taschengeldentzug, und die Enttäu-
schung, die sie ihren Eltern bereitet haben. 22 Dies kommt im Besinnungs-
aufsatz einer Aschaffenburger Projektteilnehmerin deutlich. zum Ausdruck.
Sie schrieb: "Ich möchte nie mehr zur Polizei und mich durchsuchen lassen,
mir Fragen stellen lassen! Nie mehr soll meine Mutter mich mit weinenden
Augen von der Polizei abholen! Auch kein Hausarrest möchte ich mehr
bekommen wegen klauen!"
Unter solchen Umständen werden darüber hinausgehende Maßnahmen
der Jugendhilfe als überzogen, unverhältnismäßig und pädagogisch nicht
vertretbar abgelehnt. 23

Stephan Justitia in Jugendhand? Beispiele von Schülergerichten - eine kritische Betrachtung


aus sozialpädagogischer Sicht, 2009, S. 39 f. m.w.N.~ Streng ZJJ 2008, 148, 150 m.w.N.~
Walter in: Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3. Aufl. 1993, S. 191,193.
21 Rössner in: Kleines Kriminologisches \Värterbuch (Fn. 20), S. 48, 49.
22 Bindel-I<'ögel u.a. (Fn. 20), S. 125, 259~ Sabaß (Fn. 4), S. 147, 176~ Schöch/Traulsen
(Fn. 4), 59~ Stephan (Fn. 20), Anhang, S. 10.
23 Bindel-Kögel u.a. (Fn. 20), S. 125~ Walter (Fn. 20), S. 193. Siehe auch ders. (Fn. 15),
226.
272 Monika Traulsen

4. Schülerverfahren
Nach Auffassung von Heinz Schöch wird der Sinn des kriminalpädagogi-
schen Schülerverfahrens bei "ansonsten unauffalligen Ersttätern mit ubiqui-
tärer Delinquenz" verfehlt. 24 Für ein Schülerverfahren der Jugendhilfe kann
- auch im Sinn des Jugendhilferechts - nichts Anderes gelten. Es kommt
folglich nur dann in Betracht, wenn die Legalbewährung eines jungen Tä-
ters gefahrdet erscheint. Bei delinquenten Jugendlichen wird in solchen
Fällen in der Regel ein Jugendstrafverfahren durchgeführt. Dies schließt ein
- zusätzliches - Schülerverfahren der Jugendhilfe aus. Als präventive Maß-
nahme ist es vor allem für solche Jugendliche sinnvoll, die in ihrem sonsti-
gen Sozialverhalten unangepasst sind.
Häufiger als bei Jugendlichen ist bei delinquenten Kindern eine kriminal-
pädagogische Lücke denkbar. Der Verzicht des Gesetzgebers auf ein Straf-
verfahren rur Strafunmündige kann es erforderlich machen, ihnen den Ge-
setzesverstoß und seine Folgen durch altersgerechte Erziehungsrnaßnahmen
anderer Institutionen zu verdeutlichen. In den meisten Fällen genügen darur
die Reaktionen der Polizei, der Eltern und des weiteren Umfelds. Wenn sich
aber eine ungünstige Entwicklung des Kindes abzeichnet, kann auch die
Teilnahme an einem Schülerverfahren einen Beitrag zur Erziehung leisten.
Dabei muss jedoch der Eindruck vermieden werden, dass eine Art Kinder-
strafverfahren durchgeführt wird, nicht nur im Hinblick auf die Strafun-
mündigkeit des Beschuldigten, sondern auch weil Angebote der Jugendhilfe
grundsätzlich keinen "Strafcharakter" haben. 25 Dies betrifft sowohl die
Namensgebung als auch die Ausgestaltung des Verfahrens und der Maß-
nahmen. Für das Diversionsverfahren hat Heinz Schöch bewusst den Aus-
druck "kriminalpädagogisches Schülerprojekt" gewählt, um eine Assoziati-
on zum Strafverfahren zu vermeiden. 26 Die von einzelnen Autoren und
Projekten verwendete Bezeichnung "Schülerrichter"27 ist daher für jede Art
Schülerverfahren als irreführend abzulehnen. Außerdem muss darauf geach-
tet werden, dass das Gespräch nicht an eine Vernehmung und die Maßnah-
men nicht an Sanktionen oder gar Strafen für die Tat erinnern. Ausschließli-
che Aufgabe des Schülerverfahrens ist es, einen Beitrag zur Erziehung zu
leisten.

24 Schöch/Traulsen (Fn. 2), S. 401.


25 Bindel-Kögel u.a. (Fn. 20), S. 64.
26 Schöch/Traulsen (Fn. 4), 54.
27 Breymann (Fn. 7); Englmann (Fn. 4 und 5) nlit Anführungszeichen; Stephan (Fn. 20),
S. 24 ff. für Leipzig und Bautzen, S. 28 ff. für Kehl. In Kehl bezeichnen sich die Gremiums-
schüler inzwischen als "Konfliktmanager" .
Das Schülerverfahren in der Jugendhilfe 273

Anders als bei Diversionsverfahren ist es in der Jugendhilfe möglich, dass


außer Polizei und Staatsanwaltschaft auch weitere Einrichtungen, bei-
spielsweise die Schule, auffallige Kinder und Jugendliche melden. 28

111. Das Kehler Schülerprojekt


I. Material
Innerhalb von vier Jahren seit der Einführung des Schülerprojekts wurden
110 Fälle an das Gremium herangetragen. Jedes Verfahren wird von den
Schülern ausführlich dokumentiert. Für die Evaluierung fertigten die Pro-
jektleiterinnen bzw. -leiter anonymisierte Protokolle und detaillierte Berich-
te über das Verfahren an. Diese Informationen wurden durch ein Gespräch
mit einer Sozialpädagogin und einer Schülerin ergänzt.

2. Vermittlung der Fälle


Das Projekt entstand in Zusammenarbeit mit der Polizei, von der seither
die überwiegende Zahl der Fälle vermittelt wird. Lediglich 13 Kinder und
Jugendliche wurden von Schulen vorgeschlagen, teils vom Schulleiter teils
vom Schulsozialarbeiter. Einmal wandte sich die Staatsanwaltschaft an die
Projektleitung. 29

3. Projektteilnehmer
a) Akzeptanz
Das Schülerverfahren ist grundsätzlich als ein Angebot zu verstehen, des-
sen Wahrnehmung den jungen Tätern und ihren Erziehungsberechtigten frei
steht. Bei der Konzipierung des ersten Projekts in Aschaffenburg war es
daher völlig offen, wie es in der Praxis angenommen werden würde. Es
zeigte sich, dass lediglich knapp 5 % der von der Polizei vorgeschlagenen
Jugendlichen zur Teilnahme nicht bereit waren. 30 In Ingolstadt, wo die
Staatsanwaltschaft die Beschuldigten aussucht, lehnen ebenfalls weniger als
5 % ab. 31 Die Jugendlichen, die dem Schülerverfahren zugestimmt haben,
erscheinen dann in der Regel auch zum vereinbarten Gesprächstermin. 32

28 Im Einzelnen Bindel-Kögel u.a. (Fn. 20), S. 63.


29 Ein Jugendlicher und ein Kind hatten gemeinsam eine Körperverletzung begangen.
30 Sabaß (Fn. 4), S. 102.
31 Englmann (Fn. 4), S. 117.
32 Löffelmann (Fn. 4), 174~ Sabaß (Fn. 4), S. 152~ Schöch/Traulsen (Fn. 5), S. 37.
274 Monika Traulsen

Auch in Kehl kommt das Gespräch mit den Kindern und Jugendlichen, die
von der Polizei vorgeschlagen werden, meist zustande. Nur sechs von 88
verweigerten sich. Dagegen scheint die Bereitschaft geringer zu sein, wenn
der Vorschlag von der Schule oder Staatsanwaltschaft ausgeht. Von diesen
15 Beschuldigten erschienen sieben nicht zum Gespräch. Darunter ist auch
ein Junge, der zwar den ersten Gesprächstermin wahrnahm, dem zweiten
aber fern blieb.
Die hohe Teilnahmequote der polizeilich Vorgeschlagenen bedeutet nicht,
dass die Teilnahme immer ganz freiwillig war. Bei eineIn Verfahren der
Jugendhilfe besteht zwar nicht der Druck, dass die Akte im Fall des Schei-
terns an die Staatsanwaltschaft zurückgeht. 33 Es kOlnmt aber vor, dass sich
der Jugendsachbearbeiter noch einmal einschaltet, wenn der Beschuldigte
den Gesprächstermin nicht einhält. Manche Beschuldigte stimmen lediglich
auf Drängen der Eltern zu. Nach der Erfahrung der Schüler kann sich dies
ungünstig auf das Gremiumsgespräch auswirken.

b) Merkmale
Für die Evaluierung standen 90 abgeschlossene Verfahren zur Verfügung.
Sie betrafen 43 Kinder und 47 Jugendliche. Die Hälfte der Kinder (21 von
43) und ein Drittel der Jugendlichen (15 von 47) waren Jungen. Jeweils
ungefähr ein Drittel hatte einen Migrationshintergrund 34 (17 Kinder und 15
Jugendliche). Die meisten Probanden besuchten zur Tatzeit noch die Schu-
le. Bei den Kindern überwogen die Hauptschüler, bei den Jugendlichen die
höheren Schüler. 35 Dies bedeutet, dass die aus kriminologischer Sicht weni-
ger gefährdeten Mädchen .und höheren Schüler36 bei den Jugendlichen häu-
figer als bei den Kindern vertreten sind.
Die Beschuldigten waren im Zeitpunkt ihrer Delinquenz überwiegend 12
bis 15 Jahre alt. Der Schwerpunkt liegt auf den 13- und 14-Jährigen. 37

c) Delinquenz
Obwohl Heinz Schöch das Schülerverfahren rur ein breites Deliktsspekt-
rum vorgesehen hat, neigt die Polizei erfahrungsgemäß dazu, vor allem

33 Bzgl. der Diversionsverfahren siehe Schöch/Traulsen (Pn. 2), S. 396. Näher dazu Engl-
mann (Pn. 4), S. 116 ff.
34 Der Proband bzw. mindestens ein Elternteil ist Ausländer oder Aussiedler.
35 Bei den Kindern 19 Hauptschüler und 14 höhere Schüler, bei den Jugendlichen 11 Haupt-
schüler und 26 höhere Schüler.
36 Näher dazu Schöch/Traulsen (Pn. 2), S. 388 ff.; Schöch/Traulsen (Pn. 5), S. 24 f.
37 11 mal 9 bis 11 Jahre, 11 mal 12 Jahre, 211nal 13 Jahre, 28 mal 14 Jahre, 14 mal 15 Jah-
re, 5 mal 16 Jahre.
Das Schülerverfahren in der Jugendhilfe 275

Ladendiebstähle, und darunter oft solche mit einem geringen Sachwert,


vorzuschlagen. 38 Dies betrifft auch die 47 jugendlichen Teilnehmer des
Kehler Projekts. 29 von ihnen hatten einen Ladendiebstahl mit einem
Sachwert von weniger als 30 Euro begangen, der in Anlehnung an die Um-
frage von Feigen 39 als geringwertig betrachtet werden kann. Neunmal ging
es sogar nur um einen bis fünf Euro. Lediglich achtmal lag der Wert der
gestohlenen Sache über 30 Euro. Den Rekord hielten zwei 14-jährige Mäd-
chen, die bei einer Tour durch fünf Kaufhäuser Waren zum Preis von 240
Euro gestohlen hatten.
Bei den Kindern ist der Anteil der geringwertigen Ladendiebstähle kleiner
als bei den Jugendlichen (17 von 43 Fällen). Dabei ging es in neun Fällen
um fünf Euro oder weniger. Fünf Kinder hatten für mehr als 30 Euro ge-
stohlen.
Andere Delikte kamen lediglich bei zehn Jugendlichen, aber immerhin
bei 22 Kindern vor. Sechsmal handelte es sich um Diebstähle in der Schule.
Sieben Verfahren wurden wegen einer Körperverletzung durchgeführt. Die
restlichen Verfahren betrafen Preisetikettentausch, Fahrraddiebstahl, Besitz
eines Schlagrings, chronisches Schulschwänzen, aggressives Verhalten
bzw. Vandalismus in der Schule, Fälschen einer Zeugnisnote, Bedrohung
und Beleidigung im Internet und Erpressung. Zwei lI-jährige Jungen hatten
von einer Brücke aus Eier auf fahrende Autos geworfen. Ein 13-Jähriger
hatte mit dem Auto seiner Mutter eine Spritztour unternommen.

d) Erziehungsbedarf
Wie bereits erwähnt, erfüllt das Schülerverfahren nur dann seinen Sinn,
wenn ein kriminalpräventiver Erziehungsbedarf besteht. 40 Bei den Kehler
Probanden ist je nach Tat oder sonstigem Verhalten ein unterschiedlicher
Erziehungsbedarf zu erkennen. Dies soll jeweils mit einem Beispiel ver-
deutlicht werden.
12 Kinder und 20 Jugendliche fielen ausschließlich, d.h. ohne weitere
Auffälligkeit, mit einem Ladendiebstahl im Wert von weniger als 30 Euro
auf. Darunter war ein 14-jähriger Gymnasiast, der in einer Imbissbude für
sich und seinen Freund zwei Kaugummis zum Preis von zusammen 2 Euro
weggenommen hatte. Sein Vater hatte ihn bereits zu einem Entschuldi-
gungsgespräch mit dem Inhaber begleitet und ihn mit Computerverbot be-
straft. Im Schülergespräch zeigte sich der Junge "aufgeschlossen und ko-

38 Näher dazu Schöch/Traulsen (Fn. 5), S. 21 ff.


39 Siehe oben II.I mit Fn. 13.
40 Oben II.2 und 4.
276 Monika Traulsen

operativ" und äußerte das Bedürfnis, die Tat wiedergutzumachen. Unter


diesen Umständen bedeutet das Schülerverfahren eine Überreaktion.
In den übrigen Fällen verdient die Tat als solche Aufmerksamkeit, z. B.
weil die Beschuldigten höherwertige Gegenstände gestohlen hatten, sich
- etwa durch Körperverletzung, Erpressung, Bedrohung oder Vandalis-
mus - aggressiv verhalten oder andere Personen gefährdet hatten. Dazu
gehören die erwähnten lI-jährigen Hauptschüler, die von einer Brücke aus
Eier auf fahrende Autos geworfen hatten und denen die Schüler das Gefähr-
liche daran klar tnachten.
Jeweils 12 Kinder und Jugendliche erschienen unabhängig vom Gewicht
ihrer Tat gefährdet, weil sie entweder schon einmal einen Gesetzesverstoß
begangen hatten oder in ihrem weiteren Verhalten auffällig waren. Dies traf
beispielsweise auf einen 13-jährigen Hauptschüler zu, der in einem Super-
markt eine Minisalami für 2 Euro gestohlen hatte. Er war dem Jugendsach-
bearbeiter der Polizei dadurch bekannt, dass er in seiner Freizeit mit Ju-
gendlichen "herumhing", die bereits mit der Polizei zu tun hatten. Itn
Gremiumsgespräch gab er zu, schon öfter gestohlen zu haben, ohne ent-
deckt worden zu sein.

4. Schülergremium
a) Zusammensetzung
In allen Schülerverfahren bestehen die Gremien aus drei Jugendlichen, in
der Regel aus Schülern. Der Grundgedanke bei der Entwicklung des Mo-
dells war, die junge Generation in die Verantwortung für ihre· Altersgenos-
sen einzubinden, auffälligen jungen Menschen ein ausführliches Gespräch
auf Augenhöhe zu ermöglichen und sie an den Überlegungen zur Wieder-
gutmachung zu beteiligen. 41 Aus sozialpädagogischer Sicht setzt die wirk-
same Beeinflussung durch Gleichaltrige voraus, dass sie als "Peers" emp-
funden werden. 42 Die Leiter der bayerischen Projekte bemühen sich, die
Schülergruppen soweit möglich nach Geschlecht, Alter und Schultyp dem
Beschuldigten entsprechend auszuwählen. 43 Die Kehler Schüler machen
dies unter sich aus. Dennoch sind die Schüler von ihrem Freizeitverhalten
und ihrer Einstellung her oft keine "Peers" im eigentlichen Sinn. 44 Die meis-
ten Kehler Schüler besuchen die Oberstufe des Gymnasiums, sie sind über-
wiegend weiblich und sozial engagiert. Dies hat häufig zur Folge, dass sie

41 Zu den Zielen siehe Schäch/Traulsen (Fn. 5), S. 21.


42 Z.B. Plewig (Fn. 7), 240 ff.~ Stephan (Fn. 20), S. 56 ff., 65 f. Näher dazu Englmann
(Fn. 4), S. 153 ff. m.w.N.~ Sabaß (Fn. 4), S. 63 ff.
43 Englmann (Fn. 4), S. 23; Schäch/Traulsen (Fn. 2), S. 391 f.
44 Englmann (Pn. 4), S. 155.
Das Schülerverfahren in der Jugendhilfe 277

älter als die Beschuldigten sind, besonders wenn es sich bei diesen um straf-
unmündige Kinder handelt, und dass sie ihnen nach ihrer intellektuellen und
sozialen Kompetenz, zudem als Dreiergruppe, überlegen sind. 45

b) Gespräch
Erfahrungsgemäß beeinträchtigen solche Unterschiede die eigentlichen
Anliegen des Schülerverfahrens nicht. Die Sozialpädagogen aller untersuch-
ten Proj ekte betonen, wie vorteilhaft es sich auf die Gespräche auswirkt,
dass Gremiumsschüler und Beschuldigte einer Generation angehören. Sie
berichten, dass beide Seiten auf einer Ebene kommunizieren, dass sie in
jugendtypischer Direktheit die gleiche Sprache sprechen, dass sich in den
meisten Fällen Zugang, Akzeptanz und Vertrauen rasch einstellen. 46
Die Kehler Schüler machen sich im Anschluss an das Gespräch Gedanken
über seinen "Erfolg". Sie beurteilen ihn danach, ob sich die Beschuldigten
kooperativ verhalten und Unrechtseinsicht gezeigt haben. Überwiegend
verliefen die Gespräche in diesem Sinn effektiv. In einem Protokoll ist
einschränkend vermerkt, dass es nicht eigentlich als Erfolg zu werten ist,
wenn der Beschuldigte das Unrecht seiner Tat bereits vor dem Gespräch
eingesehen hat. Fünfmal hatten die Schüler den Eindruck, dass der Beschul-
digte uneinsichtig war, dreimal wurden sie erkennbar angelogen. Ein Junge
war frech und lachte nur, mit einem anderen konnte wegen Verhaltensauf-
falligkeiten kein konsequentes Gespräch geführt werden.
Hilfreich ist das Gespräch auch für solche junge Menschen, die sonst kei-
ne Möglichkeit zu einer Aussprache haben. Mehrmals kam es vor, dass
Kinder und Jugendliche offen von ihren häuslichen Problemen, bis hin zu
Misshandlung durch Eltern oder Stiefeltern, berichteten. Die Schüler hören
ihnen dann zu, versuchen, ihnen persönlichen Rat zu geben und nennen
ihnen Einrichtungen, bei denen sie sich Rat und Hilfe holen können.

c) Maßnahmen
Wie bei den Diversionsprojekten ist auch in Kehl die Vereinbarung von
Maßnahmen vorgesehen. Doch spielen sie hier eine geringere Rolle. Wäh-
rend die Mitglieder der bayerischen Gremien nur ausnahmsweise auf Maß-
nahmen verzichten, kommt dies in Kehl bei fast einem Viertel der Fälle vor
(21 von 90). Anders als in Bayern wird in der Regel nur eine einzige Maß-
nahme je Proband verhängt. Die Art der Maßnahmen ist weniger vielfaltig,

45 Siehe Stephan (Fn. 20), S. 65.


46 Sabaß (Fn. 4), S. 145; Stephan (Fn. 20), S. 15,21,25,33,35 f.
278 Monika Traulsen

die Zahl der Arbeitsstunden deutlich geringer. 47 Im Einzelnen ergibt sich


folgendes Bild:
Die Kehler Schüler verzichten insbesondere dann auf eine Maßnahme,
wenn sie die Tat als "einmaligen Ausrutscher" oder als Folge familiärer
Schwierigkeiten betrachten, wenn die Eltern bereits strenge Strafen ver-
hängt haben oder wenn der Beschuldigte den Schaden von sich aus ersetzt
hat.
Bei Ladendiebstählen lassen die Schüler den Beschuldigten meist einen
Entschuldigungsbrief schreiben, der in Begleitung eines Schülers dem Ge-
schäftsführer übergeben wird. Für Delikte mit einem persönlichen Opfer
wie Körperverletzung, Erpressung, Schuldiebstahl oder Fahrraddiebstahl ist
eine persönliche Entschuldigung vorgesehen. Ungefähr ein Viertel der Kin-
der und Jugendlichen erbrachte Arbeitsleistungen in der Kleiderkammer des
DRK oder im Haus der Jugend. 48 Die Zahl der Arbeitsstunden geht nur in
Ausnahmefällen über vier hinaus. 49 Kinder und Jugendliche, die mit ihrer
Freizeit nichts anzufangen wissen, wollen die Schüler zu einer sinnvollen
Beschäftigung anregen. Manche sollten ein paar Stunden im Jugendhaus
verbringen, um dessen Angebote kennenzulernen. Andere sollten sich an
einem Kurs, z.B. einem Box- oder Kochkurs, beteiligen. Zwei Probanden
wurde die Mitarbeit in einem Oldtimerprojekt bzw. beim Bau eines Jugend-
zentrums ermöglicht.
Die geschilderten Maßnahmen zeigen, dass den Schülern daran gelegen
ist, auszugleichen und zu helfen statt zu strafen. Dies kommt auch in ihren
Gesprächsprotokollen zum Ausdruck, in denen sie von Ratschlägen für die
Lösung von Problemen berichten. Auch in der schriftlichen Befragung, die
von den Sozialpädagogen jeweils am Ende des Schuljahres durchgeführt
wird, betonen sie, dass es ihnen wichtig ist, straffälligen Kindern und Ju-
gendlichen zu helfen.

d) Fachliche Begleitung
In der öffentlichen Jugendhilfe ist nach § 73 SGB VIII für ehrenamtlich
tätige Personen Anleitung und Beratung vorgesehen. Als "Anleitung" wird
die zu Beginn und während der Dauer der Tätigkeit sich als notwendig
erweisende Schulung und als "Beratung" die Hilfestellung bei Problemen

47 Zu den Maßnahmen der bayerischen Projekte siehe Eng/mann (Fn. 4), S. 61 ff. (Ingol-
stadt), S. 358 ff. (Memmingen), S. 385 ff. (Ansbach), S. 401 f. (Augsburg)~ Schöch/Traulsen
(Fn. 2), S. 394-396 (Aschaffenburg, Ansbach, Ingolstadt).
48 Andere Einrichtungen sind aus Haftungsgründen nicht vorgesehen.
49 Diese Begrenzung erfolgte in Absprache mit dem Jugendgericht.
Das Schülerverfahren in der Jugendhilfe 279

im Einzelfall betrachtet.50 Auch in den von freien Trägem der Jugendhilfe


betreuten Schülerverfahren werden die Jugendlichen durch sozialpädago-
gisch ausgebildete Fachkräfte geschult und begleitet. Je nach Projekt neh-
men die Sozialpädagogen diese Aufgaben unterschiedlich wahr. In den
Diversionsprojekten werden die Terminvereinbarung, das Vorgespräch, die
Auswahl der Schüler für die jeweilige Sitzung und die Überwachung der
pädagogischen Maßnahmen teils von den Sozialpädagogen teils von den
Schülern wahrgenommen. 51 Während des Gremiumsgesprächs sind die
Sozialpädagogen durchweg an\vesend. 52
Die Kehler Projektleiter überlassen das Verfahren in stärkerenl Umfang
den Schülern und sind auch während der Sitzung lediglich über Mobiltele-
fon erreichbar. Eine derartige Selbstständigkeit der Schüler entspricht auf
den ersten Blick dem Grundgedanken des Schülerverfahrens. 53 Trotzdem ist
zu fragen, ob sie hier nicht zu \veit geht. Als Hilfestellung für die Schüler
mag es in der Regel genügen, wenn sie während der Sitzung telefonischen
Rat holen und anschließend ihre Unsicherheiten und Probleme vortragen
können. Jedoch sind die Projektleiter auch dafür verantwortlich, dass die
Beschuldigten ein pädagogisch vertretbares Gespräch und angelnessene
Maßnahmen erfahren. Wie bei den anderen Projekten54 kam es auch in Kehl
gelegentlich vor, dass die Schüler mit schwierigen Beschuldigten überfor-
dert oder die Beschuldigten bis hin zu Tränen verschüchtert waren. Ob die
Schüler ihren Aufgaben gewachsen sind,55 können die Sozialpädagogen nur
beurteilen, wenn sie an der Sitzung teilnehmen. Und nur so können sie
gewährleisten, dass der Täter ein faires Verfahren bekommt.56

IV. Zusammenfassung und Bewertung


Das Modell des kriminalpädagogischen Schülerverfahrens, an dessen
Entwicklung und Initiierung Heinz Schäch maßgeblich beteiligt war, wurde

50 lvfünder/Wiesner (Hrsg.), Kinder- und Jugendhilferecht. Handbuch, 2007, Kapitel 4


Rn.27.
51 Siehe Stephan (Fn. 20), Anhang, S. 38 für Aschaffenburg, S. 25 f. für Bautzen, S. 31 f. für
Ingolstadt, S. 8 ff., 12 für Leipzig.
52 Eng/mann (Fn. 4), S. 144.
53 Stephan (Fn. 20), S. 77.
54 Sabaß (Fn. 4), S. 139 ff., 164 ff.~ Schäch/Trau/sen (Fn. 2), S. 393, 396~ Stephan (Fn. 20),
Anhang, S. 12, 25 f.
55 Vgl. Breymann (Fn. 7), 7: "V"/er hilft einem vor dem Schülergericht?" Zweifelnd auch
Stephan (Fn. 20), S. 78.
56 Laut Läffe/mann (Fn. 4), 174 ermöglicht die Anwesenheit der Sozialpädagogen "eine
fachlich geleitete Selbstkontrolle der Gremienarbeit". Für die Anwesenheit auch Eng/mann
(Fn. 4), S. 144, 153 und Sabaß (Fn. 4), S. 199.
280 Monika Traulsen

mehrfach als Diversionsprojekt der Jugendstrafrechtspflege in die Praxis


umgesetzt. Vor vier Jahren wurde es erstmals vom DRK Kehl als Projekt
kriminalpräventiver Jugendhilfe eingerichtet. Aus rechtlicher Sicht bestehen
dagegen keine Bedenken.
Das Kehler Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, mit Kindern und Jugendli-
chen, die eine Straftat begangen haben oder anderweitig aufgefallen sind,
das Fehlverhalten aufzuarbeiten und nach einer Möglichkeit der Wieder-
gutmachung zu suchen. Auch als freiwilliges Hilfsangebot ist es an die
Voraussetzungen der Jugendhilfe gebunden. Dies bedeutet, dass es nur dann
in Frage kommt, wenn die Entwicklung des jungen Menschen gefährdet
erscheint, insbesondere weil er durch nicht ganz leichte Taten, wiederholt
oder auch in seinem sonstigen Sozialverhalten aufgefallen ist. Allerdings
wird unter diesen Umständen tUr Jugendliche in der Regel ein Strafverfah-
ren durchgetUhrt. Sie scheiden dann für ein Schülerverfahren aus. Daher
dürfte der Bedarf bei strafunmündigen Kindern größer als bei Jugendlichen
sein.
Diese Annahme wird durch die Analyse des Kehler Projekts bestätigt.
Von den 43 Kindern und 47 Jugendlichen, die am Verfahren teilnahmen,
erfüllen mehr Kinder als Jugendliche die Voraussetzungen für erzieherische
Maßnahmen der Jugendhilfe. Unter den Jugendlichen sind besonders viele
Mädchen, Gymnasiasten und Ladendiebe, die geringwertige Sachen gestoh-
len haben. Diese haben nach kriminologischer Erkenntnis nur ein geringes
Rückfallrisiko. Dagegen sind unter den strafunmündigen Projektteilneh-
mern gleich viele Jungen wie Mädchen und mehr Hauptschüler als Gymna-
siasten. Außerdem ist ihr Deliktsspektrum breiter als bei den Jugendlichen.
Obwohl die Gremiumsschüler aus sozialpädagogischer Sicht die Kriterien
von "Peers" oft nicht erfüllen, berichten die in diesem Fach ausgebildeten
Projektleiter von den Vorteilen, die ein Gespräch unter Altersgenossen
bietet. In den meisten Fällen brachten die Schüler das Verfahren nach eige-
ner Meinung erfolgreich zu Ende. Ungeachtet dessen erfordert die Verant-
wortung für eine angemessene Behandlung der Beschuldigten, dass eine
Fachkraft das ganze Verfahren begleitet. Im Gegensatz zu den Diversions-
projekten sind in Kehl die Sozialpädagogen beim Gremiumsgespräch je-
doch nicht anwesend.
Mit etwa drei Vierteln der Beschuldigten wurden Maßnahmen vereinbart.
Sie sind durchweg maßvoll und lassen das Bedürfnis der Schüler zu helfen
erkennen.
Das Kehler Projekt zeigt, dass das Schülerverfahren auch in der Jugend-
hilfe dazu dienen kann, mit Kindern und Jugendlichen eine Straftat oder
sonstige soziale Auffälligkeiten aufzuarbeiten. Es erfüllt die ihm von Heinz
Schöch zugedachte Aufgabe jedoch nur, wenn es dazu beiträgt, dass ein
gefährdeter junger Mensch in seine soziale Verantwortung hineinwächst.
Das Schülerverfahren in der Jugendhilfe 281

Für sozial integrierte Ersttäter jugendtypischer Bagatelldelinquenz ist es


nicht sinnvoll. Im Einzelfall kann es sogar eine unnötige Belastung bedeu-
ten.
111. Strafvollzug
Die neuere Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts zum Strafvollzug

HEINZ MÜLLER-DIETZ

I. Zum strafvollzugswissenschaftlichen Werk von Heinz Schöch


Der überaus geschätzte Kollege Heinz Schöch, dem diese Skizze zum 70.
Geburtstag gewidmet ist, hat sich im Rahmen seines ebenso umfangreichen
wie vielseitigen wissenschaftlichen Werks nicht zuletzt um die Analyse und
Weiterentwicklung des Strafvollzugs verdient gemacht. So hat er sich im-
mer wieder sowohl mit empirischen als auch normativen Fragen dieses
Fachgebiets beschäftigt. Erhebliche Teile der zusammen mit Günther Kai-
ser verfassten systematischen Darstellung des Strafvollzugs - die zuletzt in
5. Auflage 2002 erschienen ist - stammen aus seiner Feder. Das gilt für
verschiedene grundlegende Themen 1 wie fur eine ganze Reihe speziellerer
Fragestellungen, 2 in denen sich empirische wie normative Aspekte mitein-
ander verschränken.
Besondere Bedeutung kommt in dieser Darstellung naturgemäß der Erör-
terung der allgemeinen Rechtsstellung des Gefangenen und - in diesem
Kontext - der Behandlung der menschen- und verfassungsrechtlichen
Grundlagen zu. Denn hier legt Schöch gleichsam den normativen Grund-
stein für die Entfaltung und Konkretisierung der Rechte und Pflichten des
Gefangenen im Einzelnen. Es bedarf keiner Hervorhebung, dass der Jubilar
allein schon bis zur Fertigstellung der fünften Auflage jenes Werkes eine
Fülle mehr oder minder spezieller Studien zu einzelnen Themen des Straf-
und Maßregelvollzugs sowie zur Untersuchungshaft vorgelegt hat, die denn
auch im Literaturverzeichnis des Werkes ausgewiesen sind. 3 Auch später

1 Schöch § 5 Allgemeine Grundlagen des Vollzugs; § 6 Ziele und Gestaltungsgrundsätze des


Vollzugs.
2 Schöch § 7 Spezielle Rechte und Pflichten im Vollzug; § 8 Sicherheit und Ordnung; § 9
Verfahrensrecht; § 11 Personelle Organisation des Vollzugs; § 12 Anstalts insassen; § 13
Vollzugsablauf.
3 Kaiser/Schöch Strafvollzug, 5. Aufl. 2002, S. 538 f.
286 Heinz Müller-Dietz

hat er sich bis in die jüngste Zeit hinein namentlich mit aktuellen Themen
des Straf- und Maßregelvollzugs auseinandergesetzt. 4
Namentlich in seiner Darstellung der menschen- und verfassungsrechtli-
chen Grundlagen des Vollzugs rekurriert Schäch natürlich in besonderem
Maße auf die Rechtsprechung des BVerfG zum Strafvollzug. Er hat aber
auch in anderem Zusammenhang, etwa in seiner Erörterung der "Ziele und
Gestaltungsgrundsätze des Strafvollzugs", darauf zurückgegriffen. Im men-
schen- und verfassungsrechtlichen Kapitel hat er insbesondere auf die "so-
zialstaatliche Verankerung der Resozialisierung durch das BVerfG im Le-
bach-Fall"5 und die Bekräftigung dieser verfassungsrechtlichen Position
durch die" Arbeitsentgeltentscheidung "6 hingewiesen. Besonders eingehend
hat er sich mit der Rechtsprechung des BVerfG bei der Behandlung der von
der fachgerichtlichen Judikatur und der Literatur kontrovers gesehenen
Frage auseinandergesetzt, welche Schlussfolgerungen aus der Feststellung
des Gerichts zu ziehen sind, dass andere Strafzwecke als die Resozialisie-
rung bei der Entscheidung über die bedingte Entlassung zu lebenslanger
Freiheitsstrafe Verurteilter in Betracht kommen könnten. 7 Schäch hat dazu
zu Recht angemerkt, dass aus dieser Rspr. keine zwingende Verpflichtung
zur Berücksichtigung allgemeiner Strafzwecke abgeleitet werden könne. 8
Deutlich wird an der eingehenden Beschäftigung des Jubilars einmal mehr,
welche grundlegende Bedeutung der Rechtsprechung des BVerfG für die
Zielsetzungen und Ausgestaltung des Straf-, Maßregel- und Untersuchungs-
haftvollzugs zukommt. Das wird letztlich auch in Claus Roxins kürzlicher
Würdigung der "Strafe und Strafzwecke in der Rechtsprechung des Bun-
desverfassungsgerichts" deutlich. 9

4 Vgl. z.B. Schäch Psychisch kranke Gefangene im Strafvollzug, WsFPP 2008, 5-18; ders.
Ärztliche Schweigepflicht und Akteneinsichtsrecht des Patienten im Maßregelvollzug, FS
Kreuzer, 2008, S. 669-684. Beide Themen sind von großer praktischer Relevanz. Zur Proble-
matik psychisch kranker Gefangener im Strafvollzug ferner K. FoersterlM Foerster FS Wid-
maier, 2008, S. 897 ff; von Schän/eld WsFPP 2008, 35 ff; Quendler/Konrad Forum Strafvoll-
zug 2009, 33 ff
5 BVerfGE 35, 202, 235; vgl. Schäch (Fn. 3), § 5 Rn. 46.
6 BVerfGE 98, 169; vgl. Schäch (Fn. 3), § 5 Rn. 47.
7 BVerfGE 64,261,264 ff
8 Schäch (Fn. 3), § 6 Rn. 41; vgl. ferner Rn. 43-45.
9 Roxin FS Volk, 2009, S. 601 ff, der "die verfassungsrechtliche Notwendigkeit des Resozi-
alisierungsstrafvollzuges" unter Bezugnahme auf die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung
ausdrücklich hervorhebt (S. 608 ff).
Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum Strafvollzug 287

11. Die neuere Rechtsprechung des BVerfGs zum Straf-,


Maßregel- und Untersuchungshaftvollzug
1. Zum Diskurs über die einschlägige Rechtsprechung
Daran kann und soll dieser Beitrag anknüpfen. Es kann hier freilich kei-
neswegs darum gehen, einen Überblick über die einschlägige verfassungs-
gerichtliche Rechtsprechung im Ganzen zu geben, die ja im Grunde eine
monografische Darstellung erfordern würde. 10 Vielmehr soll der Beitrag an
Hand einer Auswahl neuerer Entscheidungen Schwerpunkte und Fragestel-
lungen der Judikatur zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die
inhaltliche Ausgestaltung der verschiedenen Formen des Freiheitsentzugs
thematisieren.
Inzwischen ist ja die einschlägige Rechtsprechung des BVerfG bereits
Gegenstand einer ganzen Reihe von Studien. 11 An diesem Diskurs haben
sich vor allem auch Richter des BVerfG selbst beteiligt - nicht zuletzt um
auf diese Weise die Positionen des Gerichts zu verdeutlichen und auf eine
den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechende Vollzugs- und
Gerichtspraxis hinzuwirken. 12 Dabei wird namentlich dem gerichtlichen
Rechtsschutz in Strafvollzugssachen besonderes Gewicht beigelegt, weil ja
dessen Handhabung vor allem fur die Behandlung von Verfassungsbe-
schwerden von entscheidender Bedeutung ist. 13
Da der letzte einschlägige Beitrag von Lübbe-Wolff/Lindemann den Zeit-
raum bis Ende 2006 einschließt,14 bietet es sich an, im Rahmen dieser Skiz-
ze den Akzent auf die seitherige Rechtsprechung zu legen. Dass als einzige
Ausnahme auch das Urteil des BVerfG vom 31.5.2006 zur gesetzlichen
Regelung des Jugendstrafvollzugs in die Betrachtung mit einbezogen wird,
hat ganz einfach seinen Grund darin, dass dieses Judikat über die spezielle
Fragestellung hinaus - soweit ersichtlich erstmals in dieser Form - grundle-
gende Ausfiihrungen namentlich zur Berücksichtigung internationaler Ver-

10 Einen aktuellen Gesamtüberblick präsentiert das umfassende Werk von Rensen/Brink


(Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Erörtert von den wissen-
schaftlichen Mitarbeitern, 2009.
11 Vgl. z.B. Urban FS Mahrenholz, 1994, S. 807 ff.~ Müller-Diet= FS Lüke, 1997, S. 503 ff.~
Preusker ZfStrVo 2005, 195 ff.
12 Vgl. namentlich Benda FS Faller, 1984, S. 307 ff.~ Niebler FS Zeidler, 1987, S. 1567 ff.~
Kruis/Cassardt NStZ 1995, 521 ff., 574 ff. (dazu Rotthaus ZfStrVo 1996, 3 ff.)~ Lübbe-
Wolff/Geisler NStZ 2004, 478 ff.~ Lübbe-Wolff/Lindemann NStZ 2007,450 ff.
13 Zur "Bindungswirkung von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen" Lepsius Reali-
tätsprägung durch Verfassungsrecht. Kolloquium für Lerche, 2008, S. 103 ff. Krit. zur Umset-
zung gerichtlicher Entscheidungen in der Vollzugspraxis Feest/Lesting/Selling Totale Instituti-
on und Rechtsschutz: eine Untersuchung zum Rechtsschutz im Strafvollzug, 1997~
Feest/Lesting FS Eisenberg, 2009, S. 675 ff.
14 Lübbe-Wolff/Lindemann (Fn. 12),450.
288 Heinz Müller-Dietz

pflichtungen und empirischer Studien enthält. 15 Insgesamt kann und will die
Darstellung aber auch selbst fur den ins Auge gefassten Zeitraum natürlich
keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben.

2. Überblick über die einschlägige Rechtsprechung des BVerfG


seit 2007 (2006)
Der Themenbereich der einschlägigen Rspr. ist ebenso umfassend wie de-
tailliert. Er schließt sämtliche Formen des Freiheitsentzugs - insbesondere
aber den Vollzug der Freiheitsstrafe und der Jugendstrafe, den Vollzug
freiheitsentziehender Maßregeln der Besserung und Sicherung sowie den
Vollzug der Untersuchungshaft - ein. Dabei handelt es sich überwiegend
um sog. Kammer-Entscheidungen, die an die Judikate des Zweiten, für den
Strafvollzug zuständigen Senats anknüpfen. In der weitaus überwiegenden
Zahl der Fälle ist das BVerfG auf Grund einer Verfassungsbeschwerde tätig
geworden. In einem Fall hat es die Voraussetzungen fur eine Vorlage durch
das Gericht nach Art. 100 Abs. 1 GG verneint und diese dementsprechend
für unzulässig erklärt. 16 Es hat sich um eine Vorlageentscheidung des OLG
Oldenburg darüber gehandelt, ob die §§ 146 Abs. 3, 134 Abs. 1 Nr. 1 des
NJ VollzG mit dem GG unvereinbar sind, "soweit danach auch nach Erhe-
bung der Anklage bei einem anderen Gericht das Gericht am Sitz der Voll-
zugsbehörde für die Überwachung des Schriftwechsels von Untersuchungs-
gefangenen zuständig ist". 17
Die verfassungsrechtlichen Verpflichtungen, die dem Gesetzgeber hin-
sichtlich der Regelung, Zielsetzung und inhaltlichen Ausgestaltung des
Jugendstrafvollzugs obliegen, hat das BVerfG in dem bereits erwähnten
Urteil vom 31.5.2006 dargelegt. 18 Zum Strafvollzug selbst sind im Untersu-
chungszeitraum in chronologischer Abfolge insbesondere die folgenden
Entscheidungen ergangen: zum Antrag eines Gefangenen auf Verpflichtung
der JVA zur Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt; 19 zur Entschei-
dung über den Strafantritt im offenen oder geschlossenen Vollzug;20 zu
Beweisproblemen hinsichtlich des Zugangs von Anträgen Strafgefangener
bei der Vollzugsbehörde;21 zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach
Verfristung infolge "höherer Gewalt";22 zur Rechtsstellung des Strafgefan-

15 BVerfGE 116,69 = NJW 2006,2093 = ZJJ 2006, 193.


16 StV 2008, 426 (LS).
17 StV 2008, 195.
18 BVerfGE 116,69.
19 StV 2008,88.
20 Bei Roth NStZ 2008, 679.
21 Bei Roth a.a.O., 683.
22 NJW 2008, 429.
Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum Strafvollzug 289

genen in einem sog. Unternehmerbetrieb;23 zur ÜbersteIlung eines Strafge-


fangenen zu Besuchszwecken in eine andere IVA;24 zum Verbot der Un-
gleichbehandlung von Männem und Frauen im Strafvollzug;25 zur Sachver-
haltsermittlung im Falle der Rückverlegung in den geschlossenen Vollzug;26
zur Erhebung des Haftkostenbeitrags bei Gefährdung der Resozialisie-
rung. 27
Natürlich gibt es auch Entscheidungen des BVerfG, die nicht unmittelbar
den Strafvollzug betreffen, aber mittelbar für ihn relevant sind. Beispielhaft
dafiir ist etwa der vom BVerfG schon früher 28 thematisierte Zusammenhang
zwischen Vollzugslockerungen und bedingter Entlassung im Falle der le-
benslangen Freiheitsstrafe. 29 In jenem Sinne einschlägig ist auch der Kam-
mer-Beschluss vom 25.1.2007 - 2 BvR 26/07 -, der sich zwar mit dem
strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrecht des Seelsorgers befasste, in
diesem Rahmen aber zu Inhalt und Grenzen der Berufsausübungsfreiheit
eines katholischen Gefängnisseelsorgers Stellung nahm. 30 Darüber hinaus
können namentlich andere Rechtsbereiche betreffende Entscheidungen, in
deren Mittelpunkt effektiver Rechtsschutz steht, auch Bedeutung für den
Strafvollzug gewinnen. Das trifft z.B. auf den Kammer-Beschluss des
BVerfG vom 11.5.2009 - 1 BvR 1517/08 - zu, der die Versagung von Bera-
tungshilfe nach dem BerHG zum Gegenstand hatte. 31
Relativ breiten Raum nimmt seit einiger Zeit auch der Maßregelvollzug in
der Rechtsprechung des BVerfG ein. Auch hier hat sich eine ganze Reihe
von Entscheidungen mit dem Thema des effektiven Rechtsschutzes beschäf-
tigt. Einschlägig sind etwa Beschlüsse, die sich mit der (Un-)Zulässigkeit
eingreifender Behandlungsmaßnahmen, mit einem persönlichkeitsrechtsver-
letzenden Klinikaushang, dem Rechtsschutzinteresse im Falle der Versa-
gung von Vollzugslockerungen 32 sowie vvirksamem Rechtsschutz gegen
Disziplinarmaßnahmen33 auseinandersetzen. Wie schon in früheren Ent-
scheidungen zum Strafvollzug34 hatte das BVerfG Anlass, sich auch mit der

23 Bei Roth (Fn. 20), 680.


24 StV 2008, 424.
25 NJW 2009,661 = StV 2009,597.
26 NStZ-RR 2009,218.
27 StV 2009, 41.
28 Calliess/Müller-Diet::: StVollzG, 11. Aufl. 2008, § 11 Rn. 17.
29 BVerfG NJW 2009, 1941.
30 NJW 2007, 1865, 1866 ff.; vgl. de Wall NJW 2007, 1856 ff.
31 JZ 2009 2
32 R&P 2007~ 211 (LS).
33 R&P 2008, 46.
34 Vgl. z.B. NJW 2006, 1580 = StV 2006,708 m. Anm. OstendorflNolte = ZfStrVo 2006,
183 m. Anm. Ga:::eas; NStZ-RR 2004,59; StV 1993,487. Vgl. auch Kähne StV 2009,215 ff.;
Kretschmer NJW 2009,2406 ff.
290 Heinz Müller-Dietz

menschenwürdigen Unterbringung im Maßregelvollzug zu befassen. 35


Gleichfalls war das vom BVerfG hinsichtlich des Straf- und Untersu-
chungshaftvollzugs eingehend thematisierte Besuchsrecht naher Familien-
angehöriger36 auch in Bezug auf den Maßregelvollzug Gegenstand seiner
Rechtsprechung. 37 Zum Problem des Rechtsschutzes avancierte auch die
Frage der Zwangsbehandlung eines Maßregelpatienten. 38
Auch die Untersuchungshaft ist unbeschadet der neuen Rechtslage, die
durch die Übertragung der Gesetzgebungskompetenz auf die Länder und
einschlägige Vollzugsgesetze der Länder 39 entstanden ist, natürlich auf der
Tagesordnung der verfassungsgerichtlichen Rechtprechung geblieben. Da-
bei bildet in denjenigen Bundesländern, in denen noch keine spezielle ge-
setzliche Regelung erfolgt ist, nach wie vor die bundesrechtliche Bestim-
mung des § 119 StPO die Rechtsgrundlage. Namentlich zu folgenden
Problemen des Untersuchungshaftvollzugs hat das BVerfG im Untersu-
chungszeitraum Stellung genommen: zur Zulässigkeit der Urinkontrolle
eines Untersuchungsgefangenen;40 zur (Un-)Zulässigkeit einer generellen
nächtlichen Stromsperre;41 zur Zulässigkeit einer allgemeinen Anordnung,
welche die Durchsuchung von Gefangenen unter Entkleidung bei der Auf-
nahme in die Anstalt vorsieht. 42

3. Verfassungsrechtliche und internationalrechtliche Verpflichtungen


Aus dieser Rechtsprechung - die hier nicht in allen Details referiert und
gewürdigt werden kann - sollen im Folgenden diejenigen Aspekte heraus-
gegriffen werden, die besonders erwähnenswert und markant für die norma-
tive und empirische Ausgestaltung des Strafvollzugs erscheinen. Auf we-
sentliche Gesichtspunkte allgemeiner Natur haben bereits Lübbe-
Wolff/Lindemann 2007 in ihrer Darstellung der neueren Judikatur des
BVerfG hingewiesen. 43 Sie haben namentlich der Zunahme und dem Ge-

35 R&P 2008, 67.


36 CalliesslMüller-Dietz (Fn. 28), § 23 Rn. 2.
37 NStZ-RR 2008, 261 (LS) = R&P 2008, 216.
38 NJW 2009, 2804.
39 Vgl. z.B. Koop Forum Strafvollzug 2007, 88 ff.; BrunelS. Müller ZRP 2009, 143 ff.;
Harms Forum Strafvollzug 2009, 13 ff.; KirschkelBrune Forum Strafvollzug 2009, 18 ff.;
FeestlPollähne Forum Strafvollzug 2009, 30 ff. Zur niedersächsischen Regelung der Untersu-
chungshaft WinzerlHupka DRiZ 2008, 146 ff.~ Paeffgen StV 2009, 46 ff.; Oppen-
born/Schäjersküpper Forum Strafvollzug 2009, 21 ff.; Barkemeyer Forum Strafvollzug 2009,
27 ff. Zum bayerischen Gesetzentwurf R. Schneider Forum Strafvollzug 2009, 24 ff.
40 NStZ 2008, 292.
41 StV 2008, 259 = StV 2009, 255.
42 StV 2009, 253 = EuGRZ 2009, 159.
43 Lübbe-Wolff/Lindemann NStZ 2007,450.
Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum Strafvollzug 291

genstand von Verfassungsbeschwerden problematische Entwicklungen in


der Vollzugspraxis entnommen und diese einmal mehr mit den Maßstäben
konfrontiert, die das Gericht hinsichtlich gesetzlicher Regelung und prakti-
scher Ausgestaltung des Vollzugs aus dem GG gewonnen hat.
Danach haben die Beschwerden zum einen "in den betreffenden Anstalten
zuvor nicht oder nicht im selben Ausmaß bestehende Einschränkungen und
Belastungen", zum anderen "die in den zurückliegenden Jahren bekanntlich
stark zurückgegangene Bereitschaft zur Gewährung von Vollzugslockerun-
gen und zur Unterbringung im offenen Vollzug" widergespiegelt. "Dies
deutet darauf hin, dass der Anstieg des Beschwerdeaufkommens mindestens
zu einem erheblichen Teil die Folge restriktiver Veränderungen der Voll-
zugspraxis ist." 44
Dem steht die bereits im Lebach-Urteil45 ausgesprochene Verpflichtung
von Gesetzgeber und Vollzugspraxis gegenüber, den Vollzug am Ziel der
sozialen Integration des Straftäters auszurichten. Das BVerfG hat sie aus
der im Mittelpunkt der Wertordnung des GG stehenden Menschenwürde
(Art. 1 Abs. 1 GG) in Verbindung mit dem Freiheitsgrundrecht (Art. 2
Abs. 1 GG) abgeleitet. Darüber hinaus hat es denn auch einen direkten
Zusammenhang zwischen dem Resozialisierungsziel und dem "Schutz der
Gemeinschaft" hergestellt: "diese hat ein unmittelbares eigenes Interesse
daran, daß der Täter nicht wieder rücktallig wird und erneut seine Mitbürger
oder die Gemeinschaft schädigt". 46 Die damals entwickelten Grundsätze
sind zur Grundlage für die ganze weitere Rechtsprechung des BVerfG - in
prinzipieller Hinsicht wie im Detail - geworden und haben sie geprägt.
Namentlich in grundlegenden Urteilen wie etwa der Entscheidung zur ge-
setzlichen Regelung des Jugendstrafvollzugs hat das BVerfG einmal mehr
auf sie zurückgegriffen. Dort hat das BVerfG erneut ausgeführt, dass die
"die Notwendigkeit, den Strafvollzug am Ziel der Resozialisierung auszu-
richten, auch aus der staatlichen Schutzpflicht für die Sicherheit aller Bür-
ger" folge. Es hat ausdrücklich betont, dass "zwischen dem Integrationsziel
des Vollzugs und dem Anliegen, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten
zu schützen", "insoweit kein Gegensatz" bestehe. 47
Dem verfassungsrechtlich fundierten Integrationsziel entnimmt das
BVerfG die legislatorische Verpflichtung, "ein wirksames Resozialisie-

44 Lübbe-Wolff!Lindemann a.a.O., 451. Inzwischen sind Bartsch/Kreuzer (StV 2009, 53 ff.)


zufolge freilich auch "Auswirkungen stetiger Verschärfungen der Sicherungsverwahrungsvor-
schriften auf den Straf- und Maßregelvollzug" zu verzeichnen.
45 BVerfGE 35, 202.
46 BVerfGE 35, 236.
47 NJW 2006,2095.
292 Heinz Müller-Dietz

rungskonzept zu entwickeln und den Strafvollzug darauf aufzubauen".48 Ihr


hat das BVerfG etwa im Urteil zur gesetzlichen Regelung des Arbeitsent-
gelts 49 und des Jugendstrafvollzugs 50 weiter Ausdruck gegeben. Das gilt
auch für die in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung stets wieder-
kehrende Feststellung, dass dem Gesetzgeber für die Ausgestaltung dieses
Konzepts ein weiter Spielraum zur Verfügung steht.
Vor allem im Urteil zur gesetzlichen Regelung des Jugendstrafvollzugs
hat das BVerfG die verfassungsrechtlichen Verpflichtungen, die dem Ge-
setzgeber obliegen, weiter konkretisiert. 51 Dies ist namentlich in zweierlei
Richtung geschehen. Zum einen müssen die normativen Vorgaben für die
Ausgestaltung des Vollzugs "auf sorgfältig ermittelten Annahmen und
Prognosen über die Wirksamkeit unterschiedlicher Vollzugsgestaltungen
und Behandlungsmaßnahmen beruhen".52 Dies hat zur Folge, dass vorhan-
dene Erkenntnisquellen - zu denen insbesondere "das in der Vollzugspraxis
verfügbare Erfahrungswissen" und einschlägige wissenschaftliche Erkennt-
nisse gehören - auszuschöpfen sind.53 Die gebotene Orientierung an mög-
lichst realitätsgerechten Annahmen und Prognosen erfordert hiernach die
laufende Beobachtung der Entwicklung und - gegebenenfalls - Korrektu-
ren, die neuen Erfahrungen und Erkenntnissen Rechnung tragen. 54
Zum anderen gilt es "völkerrechtliche Vorgaben oder internationale Stan-
dards mit Menschenrechtsbezug, wie sie in den im Rahmen der Vereinten
Nationen oder von Organen des Europarats beschlossenen einschlägigen
Richtlinien und Empfehlungen enthalten sind", einzuhalten. Werden sie
nicht beachtet oder unterschritten, dann kann dies auf "nicht genügende
Berücksichtigung vorhandener Erkenntnisse oder auf eine den grundrechtli-
chen Anforderungen nicht entsprechende Gewichtung der Belange der In-
haftierten" hindeuten.55
Rechtliche und praktische Bedeutung kommt dem Resozialisierungsziel
bekanntlich in einer Vielzahl unterschiedlich gelagerter Einzelfälle des

48 Lübbe-WoljflLindemann (Fn. 43),453. Ein kritisches Bild von der Realisierung des Voll-
zugsziels in der Praxis zeichnet freilich Fricke KrimJ 2009, 220 ff.
49 BVerfGE 98,169 = NJW 2002,2023 = NStZ 2003,109 = ZfStrVo 2002,369.
50 BVerfGe 116,69.
51 Vgl. Lübbe-Wolff/Lindemann (Fn. 43),454; Müller-Dietz in: Dünkel/DrenkhahnJMorgen-
stern (Hrsg.), Humanisierung des Strafvollzugs - Konzepte und Praxismodelle, 2008, S. 11 ff.,
14,17.
52 Allgemein zur "Begründung der gesetzgeberischen Einschätzungsspielräume" auf Grund
der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Hwang KritV 2009, 31 ff.
53 Vgl. etwa zur Wirksamkeitsforschung im Strafvollzug Obergfell-FuchslWulf Forum
Strafvollzug 2008, 231 ff.; Suhling Forum Strafvollzug 2009, 91 ff.
54 BVerfG NJW 2006,2097.
55 NJW 2006, 2097. Vgl. Pollähne StV 2007, 553 ff.; Morgenstern in: Dünkel/Drenk-
hahnJMorgenstern (Fn. 51), S. 35 ff.
Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum Strafvollzug 293

Vollzugsalltags zu. So kann es dem BVerfG zufolge bei der Entscheidung


über den Strafantritt im offenen oder geschlossenen Vollzug relevant wer-
den. In einem solchen Falle ist es geboten, das Resozialisierungsinteresse
des auf freiem Fuß befindlichen Verurteilten, das auch die Erhaltung eines
bestehenden Arbeitsverhältnisses umfasst, zu berücksichtigen. Das gilt
unabhängig von der Frage, ob der Vollstreckungsplan eines Landes Rege-
lungen darüber enthält, wonach derartige Verurteilte unter bestimmten Vor-
aussetzungen in eine Anstalt des offenen Vollzugs zu laden sind. 56
Ein weiteres Beispiel aus der Rechtsprechung des BVerfG bilden z.B. die
Konsequenzen, die aus der Regelung des § 50 Abs. 1 S. 5 StVollzG zur
Erhebung von Haftkosten im Falle einer grundsätzlich bestehenden Leis-
tungspflicht zu ziehen sind. Die Vorschrift schließt ja eine Geltendmachung
des Anspruchs für den Fall aus, dass "dies notwendig ist, um die Wieder-
eingliederung des Gefangenen in der Gemeinschaft nicht zu gefahrden". Im
konkreten Fall hat das BVerfG gerügt, dass sich die Fachgerichte nicht
(hinreichend) mit dem "gänzlichen Mangel an Feststellungen, die geeignet
wären, die Annahme fehlender Gefahrdung der Wiedereingliederung" im
Haftkostenbescheid zu tragen, auseinandergesetzt haben. 57
Diese Rüge fußte auf der Rechtsprechung des Gerichts, wonach der fach-
gerichtliche Spielraum in der Auslegung und Anwendung einfachen Geset-
zesrechts überschritten ist, wenn die angefochtene Entscheidung "in offen-
sichtlich nicht zu rechtfertigender Weise den vom Gesetzgeber gewollten
und im Gesetzestext ausgedrückten Sinn des Gesetzes verfehlt" hat. "Wird
eine einfachgesetzliche Bestimmung, die sich als konkretisierende Ausprä-
gung der verfassungsrechtlichen Pflicht zur Ausrichtung des Strafvollzuges
auf das Ziel der Resozialisierung [... ] darstellt, in nicht nachvollziehbarer
Weise - insbesondere ohne Berücksichtigung des Resozialisierungszieles,
dem sie dienen soll - ausgelegt und angewendet, so ist der Betroffene in
seinem grundrechtlichen Anspruch auf einen am Resozialisierungsziel ori-
entierten Strafvollzug verletzt". 58

4. Haushaltsengpässe und verfassungsrechtliche Verpflichtungen


Der weitere, für die Praxis besonders prekäre Aspekt - der natürlich unter
den Bedingungen wachsender Haushaltsengpässe zunehmende Bedeutung
erlangt hat hat die aus alledem resultierende Verpflichtung zum Gegen-
stand, durch konkretisierende Regelungen dafür zu sorgen, "dass für allge-
mein als erfolgsnotwendig anerkannte Vollzugsbedingungen und Maßnah-

56 BVerfG bei Roth NStZ 2008, 679.


57 StV 2009,421,422.
58 StV 2009, 422.
294 Heinz Müller-Dietz

men die erforderliche Ausstattung mit den personellen und finanziellen


Mitteln gesichert ist". "Dies betrifft insbesondere die Bereitstellung ausrei-
chender Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten, Formen der Unterbrin-
gung und Betreuung, die soziales Lernen in Gemeinschaft, aber auch den
Schutz der Inhaftierten vor wechselseitiger Gewalt ermöglichen, ausrei-
chende pädagogische und therapeutische Betreuung sowie eine mit ange-
messenen Hilfen für die Phase nach der Entlassung verzahnte Entlassungs-
vorbereitung. "59
Diese Problematik hat das BVerfG bis in die jüngste Zeit hinein immer
wieder beschäftigt. Ursprünglich hat sie ihren Ausgang namentlich beim
Untersuchungshaftvollzug genommen. 60 Dort wirkt sie denn auch bis heute
in besonderem l\tlaße nach, zumal ein Untersuchungsgefangener - was das
BVerfG stets hervorhebt -- "noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und des-
halb allein den unvermeidlichen Beschränkungen unterworfen werden
darf'.61 Doch ist sie natürlich von allgemeiner Natur, da sie im Grunde jede
Form von Freiheitsentzug, also auch den Straf- und Maßregelvollzug, be-
trifft. 62
Zum Untersuchungshaftvollzug hat das BVerfG in ständiger Rechtspre-
chung ausgeführt, es sei "Sache des Staates, im Rahmen des Zumutbaren
alle Maßnahmen zu treffen, die geeignet und nötig sind, um Verkürzungen
der Rechte von Untersuchungsgefangenen zu vermeiden; die dafür erforder-
lichen sächlichen und personellen Mittel hat er aufzubringen, bereitzustellen
und einzusetzen".63 Aus diesem Gebot folgt nach dem Gericht im Blickwin-
kel des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, dass Beschränkungen zur Gefah-
renabwehr im Sinne des § 119 Abs. 3 StPO grundsätzlich eine Prüfung und
Abwägung aller Umstände des konlaeten Einzelfalls erfordern und nur dann
auf der Grundlage genereller Anordnungen zulässig sind, "wenn eine reale
Gefährdung der in § 119 Abs. 3 StPO bezeichneten öffentlichen Interessen
nicht jeweils durch einzelne Maßnahmen abgewehrt werden kann".64 Dass
Rechtsbeschränkungen zum Schutz öffentlicher Interessen konkrete An-
haltspunkte für eine Gefahrenlage erfordern, entspricht ständiger Rechtspre-
chung des BVerfGs. 65
Freilich fällt nach dem BVerfG auch ins Gewicht, "wie hoch unter den in
der Anstalt gegebenen Verhältnissen der Überwachungs- und sonstige Auf-
wand ist, der getrieben werden müsste, um eine solche Gefährdung auszu-

59 Lübbe-Wolff/Lindemann (Fn. 43),453 f.


60 BVerfGE 15, 288, 296.
61 Vgl. z.B. StV 2008, 259, 260. Vgl. auch StV 2009, 255, 257.
62 Vgl. etwa StV 2008, 424 = StV 2009,196,197.
63 StV 2008, 259, 260.
64 StV 2008, 260.
65 Vgl. z.B. NStZ 2008, 292.
Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum Strafvollzug 295

schließen. Auch Untersuchungsgefangene können nicht verlangen, dass


unbegrenzt personelle und sonstige Mittel aufgewendet werden, um zu
vermeiden, dass wegen anderenfalls drohender Gefährdung der Schutzgüter
des § 119 Abs. 3 StPO eine Beschränkung ihrer grundrechtlichen Freiheiten
erforderlich ist".66 Als Kriterium bietet sich danach die Gegenüberstellung
und Abwägung des Aufwandes, den der Staat zum Schutz der öffentlichen
Güter auf der einen Seite, und des Aufwandes an, den der Gefangene auf
der anderen Seite zur Erreichung seines Zieles treiben müsste. 67 Nach die-
sen Grundsätzen dürfen Vollzugsanstalten denn auch nicht generell in den
Nachtstunden den Strom abschalten, ohne die technischen Möglichkeiten
und die "Zumutbarkeit des Mitteleinsatzes rur technische Veränderungen"
in der gebotenen Weise gründlich geprüft zu haben. 68 Es liegt auf der Hand,
dass solche Anforderungen gerade im technischen Zeitalter Justizvollzugs-
anstalten ein erhöhtes Maß an Prüfung und Abwägung abverlangen.
Dieselben Grundsätze gelten dem BVerfG im Wesentlichen auch für die
personelle und sächliche Ausstattung des Strafvollzugs selbst. Praktische
Bedeutung haben sie nicht zuletzt rur die Gewährung und Gestaltung von
Kontakten zu Familienangehörigen erlangt. Namentlich der rur die Kom-
munikation mit der Außenwelt, die Aufrechterhaltung und Stärkung sozialer
Bindungen und damit für die Wiedereingliederung so bedeutsame Besuchs-
verkehr69 läuft immer wieder Gefahr, aus Gründen unzureichender personel-
ler und räumlicher Ausstattung von Anstalten restriktiv, wenn nicht Grund-
rechte (Art. 5 Abs. 1,6 Abs. 1 GG) verkürzend, gehandhabt zu werden.
Das BVerfG sieht hierzu auf der einen Seite für die Festlegung zulässiger
Beschränkungen "auch die räumliche und personelle Ausstattung der jewei-
ligen JVA und die sich daraus ergebenden Grenzen für die Möglichkeit der
Durchführung von Besuchen" als relevant an. Auf der anderen Seite hält es
in ständiger Rechtsprechung an dem Grundsatz fest, dass der Staat ver-
pflichtet ist, "Vollzugsanstalten in der zur Wahrung der Grundrechte erfor-
derlichen Weise auszustatten". "Der Staat kann grundrechtliche und ein-
fachgesetzlich begründete Ansprüche Gefangener nicht nach Belieben
dadurch verkürzen, dass er die Vollzugsanstalten nicht so ausstattet, wie es
zur Wahrung ihrer Rechte erforderlich wäre."70 Das zwingt denn auch zur
sorgfältigen Prüfung und Abwägung der Möglichkeiten, die im Falle des
Antrags eines Gefangenen auf Überstellung in die JVA eines anderen Bun-
deslandes zu Besuchszwecken bestehen. 71

66 StV 2008, 260.


67 StV 2008, 260 f.
68 StV 2008, 261.
69 Calliess/Müller-Diet:: (Fn.28), § 23 Rn. 2.
70 StV2009, 196, 197.
71 StV 2009, 197 f.
296 Heinz Müller-Dietz

Auch im Maßregelvollzug gelten die Grundsätze, die sich aus dem verfas-
sungsrechtlich verbürgten Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG)
rur das Besuchsrecht von Angehörigen ergeben. Hier ist gleichfalls die
Bedeutung der Familienbeziehungen rur die Vermeidung schädlicher Fol-
gen des Freiheitsentzugs und die Wiedereingliederung des Maßregelvoll-
zugspatienten zu berücksichtigen. Daraus folgt, dass Einschränkungen des
Besuchsrechts von Angehörigen - wie im Strafvollzug - einer Verhältnis-
mäßigkeitskontrolle unterliegen. Dementsprechend dürfen Besuche von
Angehörigen dem BVerfG zufolge nicht ohne weiteres von therapeutischen
Erstgesprächen mit den Angehörigen abhängig genlacht werden. Eine sol-
che Maßnahme, die den Schutz von Sicherheit und Ordnung der Anstalt
bezweckt, setzt demnach konkrete Anhaltspunkte für eine bereits bestehen-
de Gefährdung voraus. 72

5. Rechtsbeschränkungen im Untersuchungshajtvollzug
Den Grundsatz, dass Rechtsbeschränkungen, namentlich Eingriffe in
Grundrechte, zum Schutz der in § 119 Abs. 3 StPO geregelten öffentlichen
Interessen im Vollzug der Untersuchungshaft nur bei Vorliegen konkreter
Anhaltspunkte für eine Gefahrenlage zulässig sind, hat das BVerfG in stän-
diger Rechtsprechung bekräftigt. Für solche Eingriffe reicht die bloße Mög-
lichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener seine Rechte missbraucht, nicht
aus. Generelle Beschränkungen - etwa in Form allgemeiner Anordnungen-
sind danach, wie bereits angedeutet, nur dann statthaft, wenn durch eine
Einzelmaßnahme eine reale Gefährdung der Schutzgüter des § 119 Abs. 3
StPO nicht hinreichend abgewehrt werden kann. An diesen Maßstäben hat
das BVerfG denn auch sowohl die Urinkontrolle eines Untersuchungsge-
fangenen 73 als auch eine allgemeine Anordnung der Durchsuchung von
Gefangenen unter Entkleidung bei Aufnahme in die Anstalt 74 gemessen.
Danach begegnet die Anordnung der Urinkontrolle eines Untersuchungs-
gefangenen beim Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für einen Betäu-
bungsmittelkonsum keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Das BVerfG
hat dabei allerdings offen gelassen, ob durch eine solche Maßnahme das aus
Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitete Verbot eines Selbstbe-
zichtigungszwangs berührt würde. Doch selbst wenn das der Fall wäre,
würde daraus nicht die Unzulässigkeit der Anordnung, sondern nur der
Verwertung der gewonnenen Probe folgen; ,~denn die Anordnung erfolgte

72 StV 2009, 148 = R&P 2008, 223 = NStZ 2008, 261 (LS).
73 NStZ 2008, 292.
74 StV 2009,253 = EuGRZ 2009, 159.
Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum Strafvollzug 297

hier nicht, um den Untersuchungsgefangenen einer Straftat zu überfuhren,


sondern zur Abwehr von Gefahren für Dritte". 75
Allgemeine Anordnungen, welche die Durchsuchung Untersuchungsge-
fangener unter Entkleidung bei Aufnahme in die Anstalt vorschreiben, sind
- wie bereits dargelegt - dem BVerfG zufolge nur zulässig, wenn durch
einzelne Maßnahmen einer realen Gefährdung der in § 119 Abs. 3 StPO
bezeichneten öffentlichen Interessen nicht wirksam begegnet werden kann.
In solchen Fällen muss darüber hinaus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
dadurch Rechnung getragen werden, "dass im Einzelfall Ausnahmen zuge-
lassen werden, soweit dies ohne konkrete Gefährdung der in § 119 Abs. 3
StPO genannten Interessen möglich ist".76 Das BVerfG hat zwar einge-
räumt, "dass das Einbringen von Drogen und anderen verbotenen Gegens-
tänden in Justizvollzugsanstalten eine schwerwiegende Gefahr für die Si-
cherheit und Ordnung der jeweiligen Anstalt darstellt, die grundsätzlich
geeignet ist, grundrechtseingreifende Maßnahmen - auch solche von erheb-
lichem Gewicht - zur Abwehr dieser Gefahr" zu rechtfertigen. 77 Es hat aber
auf der anderen Seite darauf hingewiesen, dass "Eingriffe, die den Intimbe-
reich und das Schamgefühl des Inhaftierten berühren", besonderes Gewicht
haben und daher entsprechende Rücksichtnahme erfordern. 78 Fehlt es bei
einem Untersuchungsgefangenen an jedem Anhaltspunkt für irgendeinen
Missbrauch, dann erschiene eine solche gleichwohl getroffene Maßnahme
unverhältnismäßig. 79

6. Grundrechte und Maßregelvollzug


Ebenso wie dem Resozialisierungsziel kommt der Respektierung der
Menschenwürde grundlegende Bedeutung im Freiheitsentzug zu. Auch
insoweit erscheint eine Vielzahl von Sachlagen denkbar, die jenes "Mutter-
grundrecht" gefährden oder verletzen können. Besonderes Gewicht hat
diese Problematik namentlich unter dem Vorzeichen der Überbelegung von
Vollzugsanstalten erlangt, die verschiedenenorts die Frage einer menschen-
würdigen Unterbringung Gefangener aufgeworfen hat. Das BVerfG hatte
sich damit auf Grund einer Verfassungsbeschwerde gegen eine Entschei-
dung des BGH zu befassen, der zwar in einem konkreten Fall eine Verlet-
zung von Art. 1 Abs. 1 GG durch die Art der Unterbringung des Klägers
festgestellt, aber gleichwohl einen darauf gegründeten Anspruch auf Ent-

75 NStZ 2008, 293.


76 StV 2009, 254.
77 StV 2009, 254.
78 StV 2009, 255.
79 StV 2009, 256.
298 Heinz Müller-Dietz

schädigung in Geld nach § 839 BGB LV.m. Art. 34 GG verneint hat. 80 Es


hat in seinem - von unterschiedlichen Positionen aus kritisierten 81 - Kam-
mer-Beschluss in Art. 34 GG gleichfalls keine verfassungsrechtlich zwin-
gende Grundlage fur einen Schadensausgleich in Geld gesehen, sondern
vielmehr andere Formen der Reaktion - von der Naturalrestitution über eine
sonstige Folgenbeseitigung bis hin zur bloßen gerichtlichen Feststellung der
Rechtswidrigkeit der Unterbringung - für zulässig erachtet. 82
Relevant ist die Problematik menschenwürdiger Unterbringung auch im
Maßregelvollzug geworden. So hat das BVerfG zwar eine gemeinsame
Unterbringung bis zu drei Personen im psychiatrischen Krankenhaus noch
als verfassungsmäßig angesehen, sie aber an die Einhaltung von Mindestan-
forderungen hinsichtlich der räumlichen Verhältnisse und an die Berück-
sichtigung der "Wechselwirkung von besonderen Sicherheitsvorkehrungen
und sonstigen Haftbedingungen" geknüpft. Kann diesen Grundsätzen über
eine menschenwürdige Unterbringung in einem bestimmten Krankenhaus
nicht entsprochen werden, dann muss der Maßregelvollzugspatient in ein
anderes Krankenhaus verlegt werden. 83
Noch offen geblieben ist die kontrovers beurteilte und in der Rechtspre-
chung noch nicht abschließend geklärte Frage, unter welchen materiell- und
verfahrensrechtlichen Voraussetzungen ein Maßregelvollzugspatient einer
allein der Entlassungsfahigkeit dienenden Zwangsbehandlung mit Neuro-
leptika unterzogen werden darf. Das BVerfG hat im Hinblick auf die
Schwere eines solchen Eingriffs in die Grundrechte des Betroffenen im
Eilverfahren eine einstweilige Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG erlas-
sen, die dem Eingriff jedenfalls bis zur Klärung im Hauptsacheverfahren
entgegensteht. 84

7. Verfassungs-, kriminal- und vollzugsrechtliche Interdependenzen


Verfassungs-, kriminal- und vollzugsrechtlichen Interdependenzen und
Verschränkungen kommt in der Rechtsprechung des BVerfG namentlich in
zweierlei Hinsicht besonderes Gewicht zu, weil insoweit jeweils der Frei-
heitsanspruch des Verurteilten in mehr oder weniger vitaler Weise betroffen
ist. Das gilt zum einen für die Bedeutung, den die Gewährung oder Versa-
gung von Vollzugslockerungen für die bedingte Entlassung im Straf- und

80 BGHZ 161,33 = NJW 2005,58.


8 I Vgl. nur Ostendorf/Nolte StV 2006, 709~ Ga=eas ZfStrVo 2006, 185 ~ Calliess/Müller-
Dietz (Fn. 28), § 18 Rn. 2~ vgl. auch Fn. 34.
82 BVerfG NJW 2006, 1580.
83 R&P 2008,67.
84 NJW 2009, 2804.
Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum Strafvollzug 299

Maßregelvollzug ganz allgemein hat. 85 Und das trifft zum anderen auf die
Dauer der Vollstreckung einer (lebens-)langen Freiheitsstrafe oder der Un-
terbringung in der Sicherungsverwahrung oder im psychiatrischen Kran-
kenhaus zu. Kann doch in solchen Fällen der Freiheitsentzug im Extremfall
bis zum Tode des Inhaftierten dauern.
Veranschaulicht worden sind jene Zusammenhänge vor allem durch Ent-
scheidungen des BVerfG, die sich mit der Ablehnung einer Strafrestausset-
zung zu befassen hatten, weil sie - jedenfalls auch - auf die fehlende Erpro-
bung des Gefangenen in Vollzugslockerungen gestützt war. Die Grundsätze,
die diese Rechtsprechung entwickelt hat, sind indessen nicht nur für die
Anfordenlngen bedeutsam, die an das vollstreckungsgerichtliche Ausset-
zungsverfahren gerichtet sind, sondern verweisen vielmehr auch auf den
inneren Zusammenhang zwischen der Gestaltung des Vollzugs und den
etwaigen Chancen des Verurteilten bedingt entlassen zu werden. Das bringt
namentlich eine neuere Entscheidung des BVerfG zum Ausdruck, die sich
mit der Problematik der Strafrestaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe
nach Verbüßung der Mindestdauer von 15 Jahren auseinanderzusetzen hat-
te. 86
Der neue Kammer-Beschluss zeichnet mit seinem subtilen Gedankengang
in exemplarischer Weise den Weg von den verfassungsrechtlichen Vorga-
ben zu den rechtspraktischen Konsequenzen für die Ausgestaltung des Aus-
setzungsverfahrens und die Auswirkungen für die Vollzugsgestaltung nach.
Zur Sprache kommt - wie schon bisher -, welche Bedeutung der Gewäh-
rung von Vollzugslockerungen in diesem Zusammenhang zukommt. "Gera-
de das Verhalten eines Gefangenen anlässlich solcher Belastungserprobun-
gen stellt einen geeigneten Indikator für die künftige Legalbewährung
dar".87 Der Beschluss zieht damit zugleich die Summe aus der einschlägigen
verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Das kann hier nun nicht mit der
gebotenen Ausführlichkeit, sondern nur stichwortartig und fragmentarisch
wiedergegeben werden.
Danach müssen vor allem auf Grund des verfassungsrechtlichen Über-
maßverbots das Aussetzungsverfahren und die dann zu treffende Entschei-
dung "das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des Verur-
teilten und derrl Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit" "zu einem
gerechten und vertretbaren Ausgleich" gebracht werden. 88 Die entsprechen-
den Anforderungen wachsen mit der Dauer des Freiheitsentzugs. Sie haben
namentlich Bedeutung für die Prognoseentscheidung sowie für Gewinnung

85 Vgl.
namentlich Dünkel Forum Strafvollzug 2009, 192 tf.
86 NJW 2009, 1941.
87 NJW 2009, 1942~ vgl. auch BVerfGE 117,71, 108 = NJW 2007, 1933.
88 NJW 2009, 1933.
300 Heinz Müller-Dietz

und Umfang der Tatsachengrundlage, auf der die Entscheidung beruht. Das
zeigt sich vor allem im Falle der lebenslangen Freiheitsstrafe.
Gerade bei langen Haftzeiten ergibt sich "typischerweise in besonderem
Maße die Notwendigkeit, in sorgfältig gestuftem Vorgehen durch Locke-
rungen die Resozialisierungsfähigkeit des Gefangenen zu testen und ihn
schrittweise auf die Freiheit vorzubereiten". 89 Das Vollstreckungsgericht ist
deshalb im Aussetzungsverfahren von Verfassungs wegen gehalten zu
überprüfen, ob eine etwaige Versagung von Vollzugslockerungen durch die
Vollzugsbehörde auf einer zutreffenden Auslegung und Anwendung des
§ 11 Abs. 2 StVollzG sowie der dafür erforderlichen hinreichenden Tatsa-
chengrundlage beruht. Ergibt diese Prüfung, dass die Vollzugsbehörde ihrer
Verpflichtung nicht oder nicht in vollem Umfange nachgekommen ist, muss
das Gericht "unter Ausschöpfung seiner prozessualen Möglichkeiten" der
Behörde deutlich machen, "dass Vollzugslockerungen geboten sind". 90 Dies
muss in einer effektiven Weise geschehen, die dem Freiheitsgrundrecht des
Verurteilten gerecht wird, ohne dadurch freilich etwaige untragbare Krimi-
nalitätsrisiken auf die Allgemeinheit abzuwälzen. Für ein solches Verfahren
kommt dem BVerfG zufolge gegebenenfalls die Möglichkeit einer Anord-
nung der Reststrafenaussetzung nach § 454a Abs. 1 StPO in Betracht. Hat
sie doch einerseits nicht die sofortige Entlassung des Verurteilten zur Folge,
gibt aber andererseits der Vollzugsbehörde in zeitlicher Hinsicht die Gele-
genheit, ihn in Vollzugslockerungen zu erproben. 91

111. Zum Verhältnis des BVerfG zu den sog. Fachgerichten


und den europäischen Gerichten
Das läuft offensichtlich auf Konkretisierungen verfassungsrechtlicher
Verpflichtungen der Vollstreckungsgerichte und der Vollzugspraxis hinaus,
die nicht zuletzt das Verhältnis von Verfassungs- zur Fachgerichtsbarkeit
berühren. Diese Problematik kann hier nicht in aller Ausführlichkeit behan-
delt, sondern nur angedeutet werden. Sie ist kürzlich einmal mehr vom
Präsidenten des BVerfG, Hans-Jürgen Papier, namentlich im Blick auf
Verfassungsbeschwerden, erörtert worden. Der Autor hat im Ergebnis die
"Zielrichtung" des Kontrollumfangs, den das BVerfG hinsichtlich der
Überprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen für sich in Anspruch nimmt,

89 NJW 2009, 1944; vgl. auch Fn. 87. Insgesamt zur Beachtung der Menschenrechte im
Langstrafenvollzug Snackenlvan Zyl Smit NK 2009, 58 ff.; Drenkhahn NK 2009, 8 ff.; Dün-
kellDrenkhahnlDudek/Morgenstern/Zolondek Forum Strafvollzug 2009, 264 ff.
90 NJW 2009, 1941.
91 NJW 2009,1945.
Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum Strafvollzug 301

unter Rekurs auf die sog. Heck'sche Formel - an der das Gericht, von Nu-
ancierungen abgesehen, jedenfalls Papier zufolge in ständiger Rechtspre-
chung festgehalten hat - wie folgt bestimmt: 92
Danach sind Auslegung des einfachen Rechts und dessen Anwendung auf
den einzelnen Fall "allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte
und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen". "Spe-
zifisches Verfassungsrecht ist [... ] nicht schon dann verletzt, wenn eine
Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der
Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen [... ]
Allgemein wird sich sagen lassen, dass die normalen Subsumtionsvorgänge
innerhalb des einfachen Rechts solange der Nachprüfung des Bundesverfas-
sungsgerichts entzogen sind, als nicht Auslegungsfehler sichtbar werden,
die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung
eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beru-
hen und auch in ihrer materiellen Bedeutung fur den konkreten Rechtsfall
von einigem Gewicht sind."93
Nach dieser Formel ist demnach auch die verfassungsgerichtliche Kon-
trolle der vollstreckungsgerichtlichen Rechtsprechung zu beurteilen, die den
gerichtlichen Rechtsschutz nach den §§ 109 ff. StVollzG sowie die Straf-
restaussetzung nach den §§ 453 und 462a StPO zum Gegenstand haben. Es
liegt freilich auf der Hand, dass sie ihrerseits interpretationsbedürftig ist und
dementsprechend Spielräume für Umfang und Inhalt der verfassungsge-
richtlichen Kontrolle eröffnet. Einen nachgerade "klassischen" Anwen-
dungsfall dieser Art bildet die Verflechtung verfassungs-, straf- und voll-
zugsrechtlicher Entscheidungen, wie sie sich in dem vom BVerfG
dargelegten Zusammenhang zwischen der Gewährung oder Versagung von
Vollzugslockerungen und der bedingten Entlassung manifestiert.94
Das BVerfG hat indessen nicht nur eine verfassungsrechtliche lJberprü-
fung der Gerichts- und Vollzugspraxis anhand des GG vorzunehmen, son-
dern vielmehr auch die Gewährleistungen der EMRK sowie die Rechtspre-
chung des EGMR und des EuGH zu berücksichtigen. 95 Nicht zuletzt der
EGMR hat ja in letzter Zeit eine ganze Reihe von Entscheidungen getroffe-
ne, die natürlich auch für die Ausgestaltung des deutschen Straf- und Unter-
suchungshaftvollzugs bedeutsam erscheinen. Urteile dieser Provenienz
haben etwa zum Gegenstand: die Dauer und Grenzen strenger Einzelhaft für
einen internationalen Terroristen;96 die Zulässigkeit einer Trennscheibe im

92 Papier DVBI. 2009,473 ff., 479.


93 BVerfGE 18, 85, 92 f.
94 Vgl. oben 11. 7.
95 Papier (Fn. 92), 479 ff.
96 EuGRZ 2007, 141 ff.
302 Heinz Müller-Dietz

Hinblick auf die durch Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierte Vertraulichkeit des
Gesprächs zwischen Rechtsanwalt und seinem inhaftierten Mandanten;97
das durch Art. 5 Abs. 4 EMRK gewährleistete Recht des Verteidigers auf
Akteneinsicht im Falle der Untersuchungshaft;98 die möglicherweise gegen
Art. 8 Abs. 1 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens)
verstoßende Verweigerung der künstlichen Befruchtung einer Ehefrau im
Falle der Verbüßung einer lebenslangen Freiheitsstrafe durch den Ehe-
mann. 99
Die Konsequenzen, die sich aus dem Verhältnis zwischen BVerfG und
den europäischen Gerichten fur Reichweite und Inhalt der verfassungsge-
richtlichen Rechtsprechung ergeben, bilden ein eigenes Thema. Sie können
hier daher wiederum nur in Form eines Merkpostens erwähnt, aber nicht
weiter vertieft werden. Auch insoweit kann nur auf einige wenige Aspekte
hingewiesen werden, die namentlich im jüngsten Diskurs über die Bezie-
hung zwischen BVerfG und EGMR virulent geworden sind. Nach Art. 46
EMRK sind die Urteile des EGMR fur die Vertragsstaaten verbindlich; sie
haben die endgültigen Entscheidungen des Gerichtshofs auszuführen. Dem
BVerfG zufolge kann die mangelnde Auseinandersetzung mit Judikaten des
EGMR gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip
verstoßen. IOO Nach wohl überwiegender Meinung gelten die Urteile des
EGMR, die auf eine Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK ergehen, im
Grundsatz lediglich inter partes; jedoch erkennt sie ihnen gleichwohl All-
gemeinverbindlichkeit ZU. 101
Wolfgang Hoffmann-Riem hat hierzu die Formel eines Kooperationsver-
hältnisses, das zwischen nationalen und europäischen Gerichten besteht
"oder doch möglichst entwickelt werden sollte", in den Diskurs einge-
führt. 102 Auch da ist also noch manches im Fluss - und daher weiter diskus-
sionsbedürftig. Diese Problematik führt indessen ebenfalls über das ver-
gleichsweise spezielle Thema der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung
zum Strafvollzug hinaus.

97 NJW 2007,3409.
98 StV 2008,475.
99 NJW 2009, 971.
100 BVerfGE 111,307 = NJW 2004,3407; NJW 2005, 1765.
101 Vgl. z.B. Czerner ArchVR 2008,345 ff., 353, 359 ff. Vgl. auch Gusy Jahrb. der Juristi-
schen Zeitgeschichte 8 (2006/2007), S. 102 ff., 124 ff.; ders. JA 2009,406 ff., 409 f.; Ress FS
Bieber, 2007, S. 231 ff.
102 Hoffmann-Riem NJW 2009, 20 ff., 21.
Die lästigen Weihnachtspakete

HEIKEJUNG

I. Einführung
Mit Heinz Schöch verbinden mich viele Jahre des gemeinsamen wissen-
schaftlichen Engagements für kriminalpolitische Veränderungen - ich den-
ke nur an unser beider Mitgliedschaft im AE-Arbeitskreis -, aus dem auch
eine enge Freundschaft erwachsen ist. Heinz Schöch ist ein "Mann des Fort-
schritts mit Augenmaß", der viele Reformen der letzten Jahre an vorderster
Front mitinitiiert und begleitet hat. Er wartet stets mit fundierten Vorschlä-
gen auf, was auch damit zu tun hat, dass er den konzeptionellen Verbund
von Strafrecht und Kriminologie wie kaum ein anderer gepflegt und weiter-
entwickelt hat.
Die Auswahl meines literarischen Geburtstagsgrußes für Heinz Schöch
bedarf der Begründung. Denn natürlich gibt es in unseren Tagen viele "gro-
ße" kriminalpolitische Fragestellungen, die für den Anlass auf den ersten
Blick irgendwie passender erscheinen als gerade die Frage der Paket-
Regelungen im Jugendstrafvollzug. Warum, wird man vielleicht sagen, hält
sich Heike Jung mit solchen Kleinigkeiten auf? Ich antworte mit Clifford
Geertz: "Small things speak to large issues". 1 Damit meine ich, dass die
restriktive Einstellung der Jugendstrafvollzugsgesetze der Länder in der
"Paket-Frage" einen bezeichnenden Blick auf die heutige Administrierung
des Resozialisierungskonzepts und auf die Bedeutung der Verwaltungs-
zwänge, von denen es erdrückt zu werden droht, eröffnet.
Ich halte Pakete für einen Teil der zwischenmenschlichen Kommunikati-
on, der auch im Zeitalter des Internets seinen Platz behalten hat. Ich selbst
bekomme gerne Pakete und Vielen in meinem Umfeld geht es nicht anders;
meine Tochter würde wohl nicht mehr mit uns reden, wenn sie zu Weih-
nachten kein Paket bekäme. Insofern habe ich anlässlich der Anhörung im
Landtag des Saarlandes zum Entwurf des Saarländischen Jugendstrafvoll-
zugsgesetzes am 23. August 2007 mit meiner Kritik am Verbot für die ju-
gendlichen Gefangenen, Pakete mit Nahrungs- und Genussmitteln empfan-
gen zu dürfen, nicht hinter dem Berg gehalten. Dass ich damit nicht

1 Geertz The Interpretation of Cultures, 1973, S. 23.


304 Heike Jung

durchgedrungen bin, hat mich "gewurmt". Die Frage hat weiter in mir gear-
beitet. Verschiedene unterdessen ergangene verfassungsgerichtliche Ent-
scheidungen zum Paketempfang haben mich darin bestärkt, die Problematik
weiter zu verfolgen. Heinz Schöch wird meine Beharrlichkeit verstehen.

II. Der Vollzug und die Pakete - eine unendliche Geschichte


Im Rückblick zeigt sich, dass die Regelung über den Paketverkehr seit je-
her zu den Indikatoren für die "Strafvollzugskultur", näherhin für die Inten-
sität der Umsetzung des "Angleichungsgrundsatzes" zählt. Für Nr. 62 der
DVollzO galt der Empfang von Paketen als Maßnahme zur Förderung und
Betreuung. Sie waren von Beginn des Vollzuges an zugelassen vorbehalt-
lich der Tatsache, dass der Umfang der Maßnahmen durch die besonderen
räumlichen, personellen und organisatorischen Verhältnisse in der Anstalt
bestimmt war; in der Praxis lief dies wohl auf ein Weihnachtspaket hinaus.
Der Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes war konkreter und we-
sentlich großzügiger. Der Insasse sollte nach § 117 AE-StVollzG monatlich
ein Paket empfangen dürfen. Man sah die Dinge grundsätzlich. 2 Mit dem
Monatsrhythmus wollte man den Belastungen rur die Anstaltsbeamten und
dem Gedanken der Vermeidung unerwünschter Präferenzstellungen Rech-
nung tragen. Die Vorschläge des Fachausschusses I Strafrecht und Straf-
vollzug des Bundeszusammenschlusses für Straffalligenhilfe hielten einen
monatlichen Paketempfang für zu weitgehend und wollten es - wie § 33
RE-Strafvollzugsgesetz - bei drei Paketen pro Jahr belassen. Immerhin
betonte der Fachausschuss den ideellen Wert von Paketen. 3 § 33 StVollzG
sah und sieht drei Regel-Pakte pro Jahr vor. Die Amtliche Begründung zum
Strafvollzugsgesetz spricht die personelle und organisatorische Mehrbelas-
tung der Anstalt und damit den Punkt an, der bis heute die Sicht der Voll-
zugspraxis prägt. 4 Ob man dort den Appell von Calliess/Müller-Dietz, wo-
nach die Vollzugsbehörde angesichts der Bedeutung des Paketempfangs für
die Aufrechterhaltung und Stärkung sozialer Bindungen des Gefangenen
von der Ermächtigung, aus Gründen der Behandlung oder Eingliederung
weitere Pakete zuzulassen, gerne liest, gar umsetzt, wage ich deswegen zu
bez\veifeln. 5

2 Baumann u.a. Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes, 1973, S. 181.


3 Jung/AJüller-Dletz (Hrsg.), Vorschläge zum Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes, 2. Aufl.
1974, S. 51.
4 BT-Drs. 7/918, S. 62. Außerdem wird darauf verwiesen, dass die Begrenzung zur Gleich-
behandlung der Gefangenen beitrage~ vgl. etwa Böhm Strafvollzug, 3. Aufl. 2003, S. 119~
Schäch in: Kaiser/Schöch, Strafvollzug, 5. Aufl. 2002, S. 298.
5 Calliess/Müller-Diet= StVollzG, 11. Aufl. 2008, § 33 Rn. 3.
Die lästigen Weihnachtspakete 305

Nach der verfehlten 6 Verlagerung der Gesetzgebungskompetenz für den


Strafvollzug auf die Bundesländer haben diese die anstehende umfassende
gesetzliche Regelung des Jugendstrafvollzuges in die Hand genommen. Es
ist hier nicht der Ort, um in eine nähere Würdigung der gesetzlichen Neure-
gelungen einzutreten, 7 noch um über die Frage zu sinnieren, ob eine bun-
desgesetzliche Regelung wesentlich anders ausgefallen wäre. Halten wir fur
unseren Zusammenhang zunächst nur fest, dass alle Länder eine gegenüber
§ 33 StVollzG restriktivere Paket-Regelung getroffen haben, sei es, dass sie
so die Regelung der zehn Länder der sog. Gesetzgebungsgruppe - den
Empfang von Paketen mit Nahrungs- und Genussmitteln, sei es, dass sie
den Empfang von Paketen generell ausgeschlossen haben.
Das Saarland gehört bekanntlich der sog. Gesetzgebungsgruppe an und
hat deren Vorgaben über den Ausschluss des Empfangs von Paketen mit
Nahrungs- und Genussmitteln umgesetzt. Die Amtliche Begründung zum
Gesetzentwurf der Regierung des Saarlandes macht eine gegenüber der
Regelung des StVollzG veränderte Sachlage geltend. 8 Damals sei es um
eine Erleichterung der Lebensführung gegangen, ein Motiv, das mit der
Ausweitung der Einkaufsmöglichkeiten entfallen sei. Auch die intendierte
Festigung der Außenbeziehungen sei vielfach nicht realisiert worden; viel-
mehr sei es zu Abhängigkeiten unter den Gefangenen gekommen, wenn
diese das nicht ausgeschöpfte Kontingent intern an andere Gefangene "ab-
getreten" hätten. Schließlich sei zu bedenken, dass das zunehmende Oro-
genproblem durch die Veränderung der Gefangenenpopulation zu einem
höheren Sicherheitsrisiko fuhre. Der erhöhte Kontrollaufwand für die Be-
diensteten bewirke, dass diese an anderer Stelle, etwa bei der Erziehung der
Gefangenen fehlten. Es werden also vier Gründe genannt: Die Bedarfslage,
die (gelegentliche?) Verfehlung der intendierten Festigung der Beziehun-
gen, die Förderung von Abhängigkeiten und die Sicherheitsproblematik.
Der Abänderungsvorschlag des Ausschusses fur Justiz, Verfassungs- und
Rechtsfragen sowie Wahlprüfung hat sich darauf beschränkt, unter dem
Rubrum "Erziehungsziel" als alleiniges Ziel des Vollzuges die Resozialisie-
rung hervorzukehren und eine Regelung zugunsten des offenen Vollzuges
vorzusehen. 9 Im Rahmen eines umfassenderen Abänderungsantrages sprach
sich die Landtagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen für den "grundsätzlich"
unbegrenzten Paketempfang aus. 10 Reglementierende Einschränkungen
sollten sich danach allein auf den möglichen Ausschluss von "sicherheitsre-

6 Zur Kritik daran z.B. Müller-Diet= ZRP 2005, 156; ders. ZfStrVo 2005, 38.
7 Vgl. im Überblick Streng Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2008, S. 243 ff.
8 Landtag des Saarlandes Drs. 13/1390, S. 83.
9 Landtag des Saarlandes Drs. 13/1612.
10 Landtag des Saarlandes Drs. 13/1626.
306 Heike Jung

levanten" Gegenständen beziehen. Dieser Abänderungsantrag fand zwar


keine Mehrheit; 11 er deutet jedoch an, dass die Paket-Regelung des § 56 des
Saarländischen Jugendstrafvollzugsgesetzes auch im parlamentarischen
Raum nicht unumstritten gewesen ist.
Den bisherigen Schlusspunkt in der Debatte haben die Gerichte gesetzt.
Während das Bundesverfassungsgericht eine Beschwerde gegen die ein-
schlägige Regelung des Bayerischen Strafvollzugsgesetzes wegen fehlender
unmittelbarer Betroffenheit nicht zur Entscheidung angenommen hat,12 hat
der Bayerische Verfassungsgerichtshof auf eine unter anderem gegen die
Paket-Regelung gerichtete Popularklage hin entschieden,13 dass der Gesetz-
geber bei der Abwägung der betroffenen Belange - hier Resozialisierung,
da Gefährdung der Sicherheit - den ihm zustehenden weiten Ermessens-
spielraum nicht überschritten habe. Es liege auch keine unverhältnismäßige
Betonung des Sicherheitsaspektes vor, da die Möglichkeiten des Sonderein-
kaufs eine gewisse Kompensation böten.

111. Von der begrenzten verfassungsrechtlichen


Durchschlagskraft des Resozialisierungsprinzips
Wer sich gegen eine gesetzliche Regelung wendet, wird vorzugsweise mit
dem Argument operieren, sie verstoße gegen höherrangiges Recht. In der
Tat liegt es nahe, die Vorschrift des § 56 Saarländisches Jugendstrafvoll-
zugsgesetz an den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Resozialisie-
rungsgrundsatzes zu messen.
Die Förderung sozialer Beziehungen lässt sich zwanglos mit dem Resozi-
alisierungsprinzip in Verbindung bringen. Bei näherem Hinsehen liegen die
Dinge jedoch verwickelter. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht, zuletzt
in seiner Entscheidung zur Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung des
Jugendstrafvollzuges, 14 die Bedeutung und den verfassungsrechtlichen Rang
des Resozialisierungsgedankens mit Nachdruck betont. Auch sonst hat sich
das Bundesverfassungsgericht, z.T. an eher versteckter Stelle, bei seinen
Entscheidungen auf den Resozialisierungsgrun~satzgestützt, u.a. im Zu-
sammenhang mit dem Antrag eines Gefangenen auf Verlegung in ein Ge-
fängnis in der Nähe. seiner Familienangehörigen. 15 In unserem Fall gilt es
jedoch eine gesetzliche Regelung auf ihre Vereinbarkeit mit dem Resoziali-

11 Vgl. Protokolle Landtag des Saarlandes ]3. Wahlperiode, 46. Sitzung am 30./31. Oktober
2007, S. 2665.
12 BVerfG Beschluss vom 22. Januar 2008 - 2 BvR 66/08.
13 Entscheidung vom 12. Mai 2009 - Vf. 4-VII-08.
14 BVerfGE 116,69 = NJW 2006,2098.
15 BVerfG Beschluss vom 19. April 2006 - 2 BvR 818/05.
Die lästigen Weihnachtspakete 307

sierungsgrundsatz zu prüfen. Das Resozialisierungskonzept ist nun aber


nicht so klar durchkomponiert wie das Rechtsstaatsprinzip. Wie viel sozial-
staatlicher Input in den Strafvollzug mindestens vonnöten ist, um dem Re-
sozialisierungskonzept unter verfassungsrechtlichen Aspekten Genüge zu
tun, ist nicht klar definiert. Dies gilt umso mehr, als wir für diese Bewertung
in eine Art Gesamtschau verschiedener Regelungen und Angebote eintreten
müssen. Schon dieser Gesichtspunkt eröffnet gesetzgeberische Beurtei-
lungsspielräume. Sicher muss der Vollzug Lebensbedingungen und Voraus-
setzungen schaffen, die die Chancen sozialer (Wieder)Eingliederung erhö-
hen und zur Bekämpfung eines Rückfalls geeignet erscheinen. 16 Diese
gebräuchlichen Formeln sind jedoch nur schwer operationalisierbar. Das
liegt nicht an den Formeln, sondern an dem Gegenstand, den sie beschrei-
ben. Die Rede von einem "Anspruch auf Resozialisierung" ändert an der
gewissen inhaltlichen Diffusität nichts. Auch das Bundesverfassungsgericht
geht davon aus, dass es dem Ermessen des Staates überlassen bleibe, wie er
seiner Verpflichtung nachkomme. 17
Daran ändert sich nichts, wenn man den allgemeinen Grundrechtsstatus
des Gefangenen in den Blick nimmt. Der Bayerische Verfassungsgerichts-
hof hat die Frage unter dem Rubrum der allgemeinen Handlungsfreiheit
(Art. 101 Bayerische Verfassung) diskutiert. Hier kommt der Aspekt der
Vollzugssicherheit ins Spiel, dem das Bundesverfassungsgericht als not-
wendigem Element eines funktionsfahigen Strafvollzuges verfassungsrecht-
liches Gewicht beimisst. 18 Wir treten also in eine Abwägung ein, bei der -
jenseits der allgemeinen Abwägung im Rahmen des Grundrechts der Hand-
lungsfreiheit - auch der Resozialisierungsaspekt berücksichtigt werden
muss, um den zumutbaren Kontrollaufwand zu ermitteln. Dabei handelt es
sich aber, wie gesagt, um einen eher "weichen" Abwägungsfaktor, mit dem
man den Sicherheitsüberlegungen nicht mit der notwendigen verfassungs-
rechtlichen Eindeutigkeit Paroli bieten kann. D.h. also verfassungsrechtlich
kommt man an unser Problem nicht heran, wenn man einmal davon absieht,
dass ein absolutes Verbot des Paketempfangs, sich als Kandidat für eine
Verhältnismäßigkeitsprüfung aufdrängt. Doch auch dieser Grundsatz führt
bekanntlich in einen "Abwägungskreislauf" . Wir müssen die Debatte also
wohl unter dem "offeneren" Rubrum der Kriminal- und Vollzugspolitik
weiterfuhren.

16 Näher zur sozialstaatlichen Ausgestaltung des Vollzuges Calliess/Müller-Diet= (Fn. 5),


Einl. Vor § 1 Rn. 33.
17 Vgl. etwa BVerfGE 98, 169, 201. Weigend in: Radtke u.a. (Hrsg.), Muss Strafe sein?,
2004, S. 181, 190 f. bezweifelt, dass man aus dem Sozialstaatsprinzip und dem Grundsatz der
Menschenwürde eine Rechtspflicht auf aktive Hilfe zur Wiedereingliederung herleiten könne.
Er macht hierfür den Gedanken der Folgenbeseitigung fruchtbar.
18 Vgl. zuletzt BVerfG Beschluss vom 7. November 2008 - 2 BvR 1870/07 Nr. 24.
308 Heike Jung

IV Das Paket: Störfaktor oder Beziehungsanker?


Ohler hat in seiner luziden Analyse des postmodernen Strafvollzuges
nichts und doch sehr viel über den Umgang mit dem Paketempfang im
Strafvollzug der Postmoderne gesagt. Er spricht nämlich von der Relativie-
rung des Ziels der Resozialisierung, die nur noch als "Chance ohne Risiko"
akzeptiert werde, als Richtschnur nur dort, wo es Erfolg verspricht, wo der
Aufwand nicht zum vergitterten Fenster hinausgeworfen werde. 19 Das
postmoderne Konzept setze auf das Machbare, die praktische Vernunft, das
Funktionieren der Mechanismen des Vollzugsalltags. 20 Das klingt ganz so,
als müssten wir uns auf Dauer mit der Liefersperre für Pakete mit Nah-
rungs- und Genussmitteln abfinden. Ich weigere mich zu resignieren und
möchte die Debatte zumindest "am Kochen" halten. Ich ordne sie nach drei
sich überlagernden Kategorienpaaren:

1. Schematisierung versus Individualisierung


Der Strafvollzug als Institution ist recht spät entdeckt worden. 21 Die insti-
tutionellen Zwänge und Rahmenbedingungen werden in ihrem Wechsel-
spiel zu der Rechtsstellung des Gefangenen auch heute noch eher halbherzig
diskutiert. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht noch unlängst kons-
tatiert, dass der Vollzug sich nicht an dem tatsächlich vorhandenen Angebot
orientieren dürfe. 22
Die Regelung des § 56 Saarländisches Jugendstrafvollzugsgesetz stellt
nun unbestreitbar eine Verbeugung des Gesetzgebers vor den Bedürfnissen
der Institution dar. Die Kontrolle von Paketen ist sicher mühsam. 23 Und
weil dies ein allgemeines Problem einer Institution mit einer insgesamt
notleidenden Personalausstattung ist, wird der Bezug von Paketen mit Nah-
rungs- und Genussmitteln kurzerhand ausnahmslos verboten. Der prakti-
sche, vielleicht gar verfassungsrechtliche Vorzug des "Totalverbots" liegt
auf der Hand. Man kann sich mit einer allgemeinen Abwägung begnügen
und muss sich nicht mit der Stimmigkeit von Ausnahmeregelungen, nehmen
wir an für nahe Angehörige oder die Kirchen oder gemeinnützige Vereine,
herumplagen. Verkannt wird dabei freilich, dass das Resozialisierungskon-
zept, zumal im Jugendstrafvollzug, auf Individualisierung angelegt ist, de-

19 Ohler FS Jung, 2007, S. 699,705.


20 Ohler a.a.O., S. 710.
21 Vgl. etwa Calliess Strafvollzug - Institution im Wandel, 1970~ Ohler Die Strafvollzugsan-

stalt als soziales System, 1977~ Wagner, Strafvollzug - Das absurde System, 1984.
22 Vgl. BVerfG Beschluss vom 7. November 2008 - 2 BvR 1870/07 Nr. 22. Zu dieser Prob-

lematik schon Jung ZfStrVo 1985,38, 42.


23 Dazu Böhm (Fn. 4), S. 222.
Die lästigenWeihnachtspakete 309

ren rechtliche Umsetzung, wenn nicht nach einer allgemeinen Erlaubnis


zum Paketbezug, so doch zumindest nach einem bestimmten Deputat oder
einer im Einzelfall konkretisierungsbedürftigen Ermessensregelung ver-
langt.

2. Zuwendung versus Sicherheitsmanagement


Der Bezug von Nahrungs- und Genussmitteln wird sicher vor wie nach
der Kompensation von Mangellagen der jugendlichen Gefangenen dienen.
Das ist jedoch nicht der entscheidende Punkt. Pakete von Privaten sind
viehnehr imrrler auch, vielleicht gar zuvörderst ein Akt der persönlichen
Zuwendung. Ob dies allseits so gesehen wird, ist eine andere Frage. 24 Mir
erscheint es freilich verfehlt, bei der Klientel des heutigen Jugendstrafvoll-
zuges generell ausschließen zu wollen, dass sie den gezielten Aufwand, der
mit einer Paketsendung betrieben werden muss, nicht doch als eine Geste
empfindet, die allemal über den materiellen Wert hinausreicht. Insofern
haben Pakete teil an der Kommunikation mit der Außenwelt, die im Interes-
se der Resozialisierung nicht abreißen darf, ja gefördert werden muss. 25
Sicher stellt der Paketbezug fur den Erziehungsprozess im Jugendstrafvoll-
zug eher eine atmosphärische Randfrage dar. Dennoch liegt die Amtliche
Begründung des Saarländischen Jugendstrafvollzugsgesetzes schief mit der
Feststellung, dass der personelle Kontrollaufwand an anderer Stelle, näm-
lich bei der Erziehung, fehle, weil die Möglichkeit des Bezugs von Paketen
eben auch Teil des Resozialisierungsprozesses ist. Auch der Hinweis dar-
auf, dass dieser Resozialisierungseffekt im allgemeinen Strafvollzug bei
jenen, die ihr "Regel-Paket" als "vollzugsinterne Tauschware" verwenden,
von vornherein verfehlt worden sei, vermag nicht zu rechtfertigen, die mit
dem Paketbezug verbundene hilfreiche persönliche Note gänzlich wegzura-
tionalisieren.
Es ist eben wie es ist: Pakete stören den stromlinienförmigen Ablauf.
Besser man überlässt die Zuwendung dem allgemeinen Zahlungsverkehr.
Nur ist sie dann noch dieselbe Zuwendung? So hat das Paketverbot über den
eigentlichen Anlass hinaus Symbolcharakter dafür, dass heute das Sicher-
heitsmanagement die "operational philosophy" der Institution bestimmt. Die
resozialisierungsfreundlichen 70er und 80er Jahre des vergangenen Jahr-
hunderts erscheinen im Rückblick wie ein Zwischenspiel.

24 Vgl. dazu schon Müller-Dietz NStZ 1988,477,.478.


25 Ebenso BVerfGE 116,69,88 für familiäre Besuche.
310 Heike Jung

3. "Öffnung" oder "Schließung" des Vollzuges


Der Vollzug ist natürlich auf Sicherung angelegt. Der Grundsatz der Re-
sozialisierung verlangt freilich zugleich nach "Öffnung des Vollzuges".26
Im Spannungsfeld von Schließung und Öffnung haben sich die Akzente
heute verschoben; "Durchlässigkeit" ist nicht mehr gefragt. Vielen war die
Regelung des § 10 StVollzG, wonach der offene Vollzug der Regelvollzug
für geeignete Gefangene ist, ohnehin ein Dom im Auge. Die Jugendstraf-
vollzugsreform bot die Gelegenheit, hier "Remedur" zu schaffen. Das Saar-
ländische Jugendstrafvollzugsgesetz nennt nun den geschlossenen und den
offenen Vollzug nebeneinander. Abweichend vom Regierungsentwurf sieht
das Gesetz in § 13 Abs. 2 immerhin eine Regelung zugunsten des offenen
Vollzuges für geeignete Gefangene vor. Trotzdem ist nicht zu verkennen,
dass der Vollzug wieder mehr Abschließungscharakter hat. Natürlich wird
dies gerne damit begründet, die Gefangenen böten eben heute ein größeres
Sicherheitsproblem. Für Einzelne mag dies ja zutreffen. Es war jedoch
schon immer falsch, die gesamte Institution an diesen Einzelnen auszurich-
ten. 27 Zudem will mir scheinen, dass die verstärkte Abschließung und damit
auch Ausschließung weniger mit der Klientel als mit der allgemeinen puni-
tiven Stimmungslage zu tun haben. 28
Dass die Gewährleistung der Außenkontakte keine einfache Aufgabe für
den Vollzug ist, liegt auf der Hand. Es erscheint jedoch verfehlt, Sicherheit
absolut zu setzen und ihr alle anderen Bedürfnisse unterzuordnen. Dies
bringt den Strafvollzug als Institution, mit der wir auch Hoffnung auf Ver-
änderung verbinden, in eine Schieflage. Insofern ordnet sich das Verbot des
Paketempfangs in die Reihe jener teils kleinen, teils großen Rückschnitte an
dem Resozialisierungskonzept ein - oder weniger Vollzugsmodell-orientiert
formuliert - ein kleines Stück Menschlichkeit geht verloren. Dabei spricht
Vieles für Georg Wagners These, wonach eine strengere Vollzugsgestal-
tung nicht nur nicht erfolgversprechend, sondern riskant ist. 29 Der allgemei-
ne Sicherheitsdiskurs 30 hat uns gelehrt, dass (absolute) Sicherheit ein letzt-

26 Dazu Jung ZfStrVo 1977,86.


27 Zur Problematik der "Übersicherung" schon Miiller-Diet= Strafvollzug und Gesellschaft,
1970.
28 Dazu nur - mit Blick auf die Jugendkriminalpolitik - Schöch Neue Punitivität in der Ju-
gendkriminalpolitik, in: Das Jugendkriminalrecht vor neuen Herausforderungen? Jenaer Sym-
posium 9.-11. September 2008 veranstaltet vom Bundesministerium der Justiz gemeinsam mit
der Friedrich-Schiller-Universität Jena Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie, 2009, S. 13.
29 Wagner Festgabe für Kar! Peter Rotthaus, 1995, S. 183,189.
30 Statt vieler Zedner International Journal of Sociology 31 (2003), 1~ dies. Legal Studies
2003, 1~ dies. Canadian Journal ofCriminology and Criminal Justice 2006,101.
Die lästigen V\Teihnachtspakete 311

lieh unerfüllbares Programm darstellt, weil es immer neue Sicherheitsforde-


rungen generiert. Dies gilt fur draußen wie drinnen. 31

v. Schlussbetrachtung
Mancher wird sagen: Der greift wirklich weit in den Raum wegen so ein
paar Paketen. Dazu stehe ich. Denn die Programmatik des Strafvollzuges
muss sich gerade auch in den kleinen Dingen bewähren. Wie gesagt: "Small
things speak to large issues".

31 Zur Sicherheitsproblematik im Strafvollzug auch Waller Festgabe für Rotthaus (Fn. 29),
S. 191.
Sozialtherapie: gestern, heute und morgen

RUDOLFEGG

I. Anfänge der Sozialtherapie im Justizvollzug in Deutschland


Die "Geburtsstunde" der Sozialtherapeutischen Anstalten im deutschen
Justizvollzug, die das Kernstück der Strafrechtsreform 1 sein sollte, schlug
im Jahre 1969. 2 Damals wurden nämlich in Hamburg-BergedorfS und auf
dem Gelände der ehemaligen Festung Hohenasperg4 zwei erste sozialthera-
peutische Modelleinrichtungen eröffnet. Außerdem beschloss der Deutsche
Bundestag im Mai 1969 mit den Stimmen aller (!) Fraktionen5 eine neue
Vorschrift, die die gerichtlich angeordnete Unterbringung von schwierigen,
rückfallgefahrdeten Straftätern in einer Sozialtherapeutischen Anstalt er-
möglichen sollte (§ 65 StGB). Diese so genannte Maßregellösung der Sozi-
altherapie war als eine neue, dritte Form der therapeutischen Maßregelun-
terbringung vorgesehen - neben psychiatrischer Klinik und Entziehungs-
anstalt (§§ 63, 64 StGB). Sie sollte für vier verschiedene Fall- oder Täter-
gruppen gelten:
Rückfalltäter (mindestens zwei vorherige Freiheitsstrafen) mit schweren
Persönlichkeitsstörungen,
Sexualstraftäter mit ungünstiger Prognose,

1 Schöch ZStW 92 (1980), 143-184~ With, H de Sozialdetnokratischer Pressedienst 36


(1981),5.
2 1969 war auch das Jahr der ersten Mondlandung (20./21.07.) und des legendären Wood-
stock-Festivals (15.-18.08.) und gilt manchen deshalb als ein Jahr des Aufbruchs und innovati-
ver Veränderungen.
3 Ackermann MschKrim 54 (1971), 367-371.
4 Mauch G.lMauch, R. Sozialtherapie und die Sozialtherapeutische Anstalt. Erfahrungen in
der Behandlung Chronisch-Krimineller: Voraussetzungen, Durchfiihrung und Möglichkeiten,
1971.
5 In Bonn regierte damals (1966-1969) eine große Koalition aus CDU und SPD. Die Opposi-
tionspartei FDP stimmte dafiir, weil sie den Vorschlag "Sozialtherapeutische Anstalt" in das
Gesetzgebungsverfahren eingebracht hatte.
314 RudolfEgg

jungerwachsene Hangtäter,6
schuldunfähige oder vermindert schuldfähige Täter, wenn die Unter-
bringung in einer Sozialtherapeutischen Anstalt eine günstigere Maß-
nahme zur Resozialisierung darstellt als die Behandlung in einern psy-
chiatrischen Krankenhaus.
Diese Vorschrift trat zwar nie in Kraft und wurde 1984 nach einer ent-
sprechenden Empfehlung der Justizministerkonferenz vorn Herbst 1982
wieder abgeschafft, 7 sie löste aber zahlreiche Entwicklungen und Verände-
rungen im Strafvollzug aus. Freilich galt auch hier der bekannte Satz, dass
aller Anfang schwer ist. So gab es einerseits einen großen, teils übergroßen
Optimismus bezüglich der Beeinflussung rückfallgefährdeter Straftäter
durch therapeutische Maßnahmen innerhalb des Strafvollzuges, gleichzeitig
lagen aber noch kaum empirische Belege für die Wirksamkeit konkreter
Maßnahmen vor. Als Beispiel seien hier zwei Aufsätze erwähnt, die sich
zwar nicht unmittelbar auf sozialttherapeutische Einrichtungen beziehen,
aber die genannten Schwierigkeiten dieser "Pioniertage" gut veranschauli-
chen:
In den Jahren 1971 bis 1973 untersuchten wissenschaftliche Mitarbeiter
des Psychologischen Instituts der Universität Harnburg Anwendbarkeit
und Wirkung sog. Klientenzentrierter Gespräche, 8 die mit Insassen eines
Gefängnisses über Telefon geführt wurden. 9 Im Rahmen eines mehrstufi-
gen Versuchsplans wurden dabei 62 Insassen einer Hamburger JVA in
zwei Gruppen aufgeteilt, wobei die Mitglieder der Versuchsgruppe die
Möglichkeit zu jeweils vier bis sechs halbstündigen Telefonaten mit Psy-
chologen erhielten, während die andere Gruppe lediglich an Vor- und
Nachtestungen teilnahm. Die Befragung der Probanden zeigte tatsächlich
einige positive Gesprächseffekte für die Versuchsgruppe, z.B. wurden die
Telefonate überwiegend als "hilfreich" angesehen, die Forscher unter-
suchten aber auch (ca. zwei Jahre nach Beginn der Gespräche) die Rück-
fallquote der inzwischen entlassenen Gefangenen, wobei sich - kaum
verwunderlich - kein Effekt in Richtung verminderter Rückfälligkeit

6 Straftat vor Vollendung des 27. Lebensjahres, zwei vorherige stationäre Sanktionen, Hang-
täterprognose.
7 Schöch ZRP 15 (1982),207-212, hatte sich nach dieser Konferenz, gemeinsanl mit weite-
ren Mitgliedern des Arbeitskreises deutscher und schweizerischer Strafrechtslehrer (Alternativ-
Professoren), noch einmal deutlich für den Erhalt der Sozialtherapeutischen Anstalt als Maßre-
gel der Besserung und Sicherung eingesetzt, doch blieben diese mahnenden Worte ohne Wir-
kung.
8 Tausch, R./Tausch, A. -M. Gesprächspsychotherapie, 1990.
9 Doll/Feindt/Kühne/Langer/Sternberg/Tausch, A. -M. Zeitschrift für Klinische Psychologie
3 (1974), 39-56.
Sozialtherapie: gestern, heute und morgen 315

zeigte. 10 Aus heutiger Sicht mag es erstaunen, dass man angesichts einer
derart geringfügigen Maßnahme (insgesamt zwei bis drei Stunden Tele-
fongespräche) überhaupt auf die Idee kommen konnte, einen Zusammen-
hang mit der späteren Legalbewährung zu vermuten, der später gelegent-
lich auch als Behandlungseuphorie bezeichnete Optimismus dieser frühen
Therapieversuche schien jedoch dies zumindest für möglich zu halten.

Das zweite Beispiel 11 verdeutlicht organisatorisch-technische Probleme


bei frühen Therapieversuchen im Strafvollzug. In dem Erfahrungsbericht
"Zum Versuch der empirischen Überprüfung psychologischer Behand-
lungsmethoden im Strafvollzug" beschreibt Steiler ein Projekt, dessen
Ziel es war, "die generelle Möglichkeit (Durchführbarkeit) und Effizienz
von Psychotherapie mit Strafgefangenen wissenschaftlich zu erproben". 12
Im Rahmen eines relativ aufwändigen Versuchsplanes war vorgesehen,
zunächst bei einer mit Hilfe eines Vortests aus einer Gesamtgruppe gebil-
deten Therapiegruppe mehrere gruppentherapeutische Gespräche (eben-
falls klientenzentriert gemäß Tausch/Tausch 13 ) durchzuführen, danach
sollte nach einem Zwischentest die bisherige zweite Hälfte der Gesamt-
gruppe, die so genannte Wartegruppe, zur Therapiegruppe werden; außer-
dem war ein Abschlusstest für beide Teilgruppen geplant. Allerdings
kam es nicht so weit. Zwar blieb die Therapiegruppe wie geplant zehn
Gruppensitzungen zusammen, eine Therapie mit der Wartegruppe konnte
allerdings nicht mehr durchgeführt werden, da alle dafür vorgesehenen
Gefangenen wegen nicht angekündigter Verlegungen und vorzeitigen
Entlassungen zum geplanten Zeitpunkt nicht mehr zur Verfügung stan-
den. 14 Eine Evaluation der Wirksamkeit der durchgeführten therapeuti-
schen Maßnahmen war deshalb im Rahmen dieser Studie nicht möglich.
Freilich hatten andere Forscher bald mehr Erfolg (siehe unten). Dennoch
ist es nicht übertrieben, wenn man die Anfangssituation der Sozialtherapie
in Deutschland wie folgt charakterisiert. Es gab damals einerseits:
kein differenziertes, erprobtes Konzept zur Behandlung von Straftä-
tem,15

10 ,,3 der 22 entlassenen Pb der Gesprächsgruppe und 2 der 20 Pb der Kontrollgruppe waren
erneut straffällig geworden." - a.a.O., S. 48.
11 SteUer MschKrim 55 (1972),357-365.
12 SteUer (Fn. 11), 357.
13 Tausch/Tausch (Fn. 8).
14 A.a.O.
15 Selbstverständlich gab es Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre schon verschiedene
praktische Ansätze, insbesondere das tiefenpsychologische Konzept von Mauch (MschKrim 57
[1964], 108-124; Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 82 [1966],401-413; Zeitschrift für
316 RudolfEgg

keine speziellen Programme fur die in § 65 StGB genannten Tätergrup-


pen,
keine (oder kaum) einschlägige(n) Vorerfahrungen,
keine empirischen Ergebnisse zur Wirksamkeit und auch
kein spezialisiertes Personal im Strafvollzug,
keine Angebote fur entsprechende Fortbildungsmaßnahmen.
Aber es gab:
an vielen Orten ein hohes Engagement fur die Umsetzung der Idee der
Resozialisierung und der Straftäterbehandlung, 16
viel Optimismus bezüglich der Wirksamkeit der Sozialtherapie, zudem
eine breite Unterstützung bei verschiedenen Medien und auch in Teilen
der Öffentlichkeit.

11. Modellanstalten und Begleitforschung


Vor diesem Hintergrund entstanden - konzeptionell mehr oder minder na-
turwüchsig - zwischen 1970 und 1981 weitere Modell- oder Erprobungsan-
stalten (siehe Übersicht Tab. 1), ursprünglich in der Absicht, das Inkrafttre-
ten des Reformgesetzes vorzubereiten, obwohl sich sehr bald zeigte, dass
die für den Strafvollzug verantwortlichen Länder nicht bereit waren, die
Kosten fur den Bau neuer und großer Sozialtherapeutischer Anstalten auf-
zubringen. 17
Die praktische Arbeit dieser Modelleinrichtungen wurde an mehreren Or-
ten durch empirische Studien wissenschaftlich begleitet. Dabei ging es
primär um die Frage der Wirkung der sozialtherapeutischen Behandlung im

Psychotherapie und medizinische Psychologie 20 [1970], 66-75), und auch bereits Diskussio-
nen über die Anwendbarkeit der noch jungen Verhaltenstherapie als Behandlungsmethode im
Strafvollzug (Schmitt MschKrim 54 [1971], 9-30), dennoch konnte damals von einem umfas-
senden sozialtherapeutischen Konzept noch keine Rede sein.
16 Dies bedeutet freilich nicht, dass der sozialtherapeutische Ansatz, also die Behandlung
von Strafgefangenen innerhalb geschlossener Einrichtungen, nicht auch kritisch betrachtet
wurde. So diskutierte Schöch in: Kury (Hrsg.), Möglichkeiten und Grenzen der Behandlung
Straffälliger in Freiheit, 1984, S. 29-54, sehr anschaulich die "Möglichkeiten und Grenzen der
Behandlung Straffälliger in Freiheit".
17 Das Inkrafttreten von § 65 StGB war ursprünglich für den 01.10.1973 vorgesehen, wurde
aber zunächst auf den 01.01.1978, dann auf den 01.01.1985 verschoben, bevor schließlich -
Ende 1984 - diese Vorschrift wieder aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wurde, ohne jemals
in Kraft gewesen zu sein (vgl. Rasch Bewährungshilfe 1985, 319-329~ Schöch et al. [Fn. 7]).
Sozialtherapie: gestern, heute und morgen 317

Vergleich zu herkömmlichen vollzuglichen Maßnahmen, namentlich auf die


Legalbewährung, also auf die spätere Rückfälligkeit der Gefangenen.

Tabelle 1: Die sozialtherapeutischen Modellanstalten (1969-1981)


Jahr Ort Bundesland
1969 Hamburg-Bergedorf Hamburg
1969 Hohensaperg Baden-Württemberg
1970 Berlin-Tegel Berlin
1971 Düren Nordrhein-Westfalen
1972 Erlangen Bayern
1972 München Bayern
1972 Ludwigshafen Rheinland-Pfalz
1973 Bad Gandersheim Niedersachsen
1974 Gelsenkirchen Nordrhein-Westfalen

1974 Lübeck (Frauen) Schleswig-Holstein

1981 Kassel Hessen


1981 Lübeck (Männer) Schleswig-Holstein

Zu erwähnen sind hier die Arbeiten von Dolde fur Baden-Württemberg, 18


Dünkel fur Berlin-Tegel, 19 Egg für Erlangen,20 Rehn rur Hamburg 21 sowie
von Rasch & Kühl für Düren 22 . Ein besonders unglückliches Schicksal hatte
dabei die letztgenannte Dürener Studie. In der Folge einer einseitigen und
verfälschenden Berichterstattung der Boulevardpresse ("Dürens fideles
Gefängnis") und einen dadurch inszenierten angeblichen "Justizskandal"
geriet nämlich das "Dürener Modell" in die öffentliche Kritik und wurde

18 Dolde in: Göppinge/Bresser (Hrsg.), Sozialtherapie. Grenzfragen bei der Beurteilung psy-
chischer Auffäl1igkeiten im Strafrecht, 1982, S. 47-64.
19 Dünkel Legalbewährung nach sozialtherapeutischer Behandlung. Eine empirische ver-
gleichende Untersuchung anhand der Strafregisterauszüge von 1503 in den Jahren 1971 - 74
entlassenen Strafgefangenen in Berlin-Tegel, 1980.
20 Egg Sozialtherapie und Strafvol1zug. Eine empirische Vergleichsstudie zur Evaluation
sozialtherapeutischer Maßnahmen, 1979.
21 Rehn Behandlung im Strafvol1zug. Ergebnisse einer vergleichenden Untersuchung der
Rückfallquote bei entlassenen Strafgefangenen, 1979; ders. MschKrim 62 (1979), 357-365.
22 Rasch/Kühl Bewährungshilfe 1978,44-57.
318 RudolfEgg

schließlich gestoppt, so dass die von Rasch bereits begonnene Begleitfor-


schung nicht zu dem vorgesehenen Abschluss gebracht werden konnte. 23
Die bis Mitte der 1980er Jahre vorliegenden empirischen Befunde zur
Wirksamkeit der Sozialtherapie im Justizvollzug wurden schließlich 1987
von Lösel und Mitarbeitern im Rahmen einer Meta-Evaluation analysiert
und bewertet. Die Forscher stellten zusammenfassend fest, dass die vorlie-
genden Ergebnisse bezüglich der Frage der Wirksamkeit der Sozialtherapie
"zwar erwartungsgemäß nicht einheitlich, aber doch bemerkenswert kon-
sistent" sind. 24 Es wurde ein moderater Haupteffekt der Sozialtherapie fest-
gestellt, der "bei den Probanden aus sozialtherapeutischen Anstalten im
Durchschnitt um 8 - 14 % häufiger positive Veränderungen (z.B. kein
Rückfall)" erwarten lässt als bei den Probanden des Normalvollzuges. 25
Spätere Studien, die auch längere Bewährungszeiträume nach der Entlas-
sung aus der JVA berücksichtigen konnten, bestätigten diesen Befund. Die
Integration der zwischen 1987 und 1994 vorgelegten Studien in den Daten-
pool der Meta-Evaluation von Lösel führte zu einer kaum veränderten Ge-
samteffekt-Schätzung von r = 0,11. 26 Dieser Wert bedeutet, dass die in der
Sozialtherapie behandelten Straftäter im Durchschnitt um etwa 11 % güns-
tigere Werte (insbesondere geringere Rückfälligkeit) erreichten als Ver-
gleichspersonen im Regelvollzug.
Auch eine im Rahmen des US-amerikanischen CDATE-Programms 27 er-
stellte Meta-Evaluation von acht deutschsprachigen Studien zur Sozialthe-
rapie unter Einschluss einer methodisch sehr aufwändigen Arbeit des MPI
Freiburg ergab eine Effektstärke von r = 0,123, d.h. die Versuchsgruppen
der Sozialtherapie waren im Durchschnitt um 12,3 % erfolgreicher als die
Kontrollgruppen. 28
Eine zweite Gruppe von Forschungsvorhaben zielte nicht auf die Erfas-
sung der mit Hilfe der Sozialtherapie erreichten Behandlungseffekte, son-
dern analysierte die Implementation und konkreten Bedingungen der Mo-

23 Einzelheiten dazu siehe bei Leppert in: Rasch (Hrsg.), Forensische Sozialtherapie. Erfah-
rungen in Düren, 1977, S. 183-201.
24 Lösel/Köjerl/Weber Meta-Evaluation der Sozialtherapie. Qualitative und quantitative
Analysen zur Behandlungsforschung in sozialtherapeutischen Anstalten des Justizvollzuges,
1987, S. 263.
25 A.a.O.
26 Lösel in: StellerlDahlelBasque (Hrsg.), Straftäterbehandlung, 1994, S. 15-20.
27 CDATE = Correctional Drug Abuse Treatment Effectiveness. Dabei handelt es sich um
eine Fortschreibung bzw. Aktualisierung der bekannten Meta-Evaluation von Straftäterbehand-
lungsprogrammen von Lipton, Martinson & Wilks (The effectiveness of correctional treatment:
A survey of treatment evaluation studies, 1975)~ siehe dazu Lipton Journal of Offender Rehabi-
litation 22 (1995), 1-20.
28 Vgl. Egg/Pearson/Cleland/Lipton in: Rehn/WischkaiWalter (Hrsg.), Behandlung "gefähr-
licher Straftäter". Grundlagen, Konzepte, Ergebnisse, 2001, S. 321-347.
Sozialtherapie: gestern, heute und morgen 319

delleinrichtungen, um daraus Empfehlungen für deren weitere Entwicklung


abzuleiten. Dies trifft vor allem für die in den Jahren 1972 bis 1977 durch-
geführte Begleitforschung in Bad Gandersheim 29 zu sowie für die von 1980
bis 1982 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität
Bielefeld eingerichtete Proj ektgruppe 3o .
Die Gruppe in Bad Gandersheim prägte dabei den Begriff der "Integrati-
ven Sozialtherapie", der die Sozialtherapie im Justizvollzug von einer bloß
additiven Ergänzung im Sinne einer "Therapie im Strafvollzug" durch ein
Konzept abheben sollte, das durch folgende Grundprinzipien gekennzeich-
net ist:
1. Berücksichtigung und Einbeziehung des gesamten Lebensumfeldes
innerhalb und außerhalb der sozialtherapeutischen Einrichtung bis zur
Entlassung,
2. Gestaltung der Handlungsmäglichkeiten und Beziehungsformen inner-
halb der sozialtherapeutischen Einrichtungen im Sinne einer therapeuti-
schen Gemeinschaft,
3. Modifizierung und Verknüpfung psychotherapeutischer, pädagogischer
und arbeitstherapeutischer Vorgehensweisen.
Dieser Ansatz gilt bis heute - mit gewissen Modifikationen und Verfeine-
rungen - gewissermaßen als der "State of the Art" der sozialtherapeutischen
Straftäterbehandlung.
Die Bielefelder Gruppe hatte den Auftrag, ein Modell einer Sozialthera-
peutischen Anstalt zu entwickeln und Empfehlungen fiir den Justizvollzug
vorzulegen. 31 Vorausgegangen waren dieser Gruppe seit 1976 mehrere sog.
Arbeitsgemeinschaften am ZiF, an denen Vertreter aller damaligen sozial-
therapeutischen Einrichtungen teilnahmen. 32
Die umfangreichen Vorschläge der ZiF-Gruppe 33 erfolgten vor dem Hin-
tergrund der durch Besuche, Gespräche, Workshops und Literaturstudium
erarbeiteten Analyse der Erfahrungen aller damaligen deutschen sozialthe-

29 Baulitz/Driebold/Eger/Flöttmann/Kober/Kollwig/Lohse/Specht Integrative Sozialtherapie.


Innovation im Justizvollzug, 1980.
30 Driebold/Egg/Nellessen/Quensel/Schmitt Die sozialtherapeutische Anstalt. Modell und
Empfehlungen für den Justizvollzug, 1984.
31 Leider kam dieser "Auftrag" nicht von den Justizverwaltungen der Länder oder vom Bun-
desministerium der Justiz, sondern lediglich von den Initiatoren der Projektgruppe, Prof.
Schüler-Springorum, München, und Prof. Specht, Göttingen. Die von der Gruppe vorgelegten
Ergebnisse hatten darum auch nur eine geringe unmittelbare Auswirkung auf die weitere
Gestaltung der Sozialtherapie in Deutschland.
32 Siehe Rehn MschKrim 59 (1976),148-153.
33 Driebold u. a. (Fn. 30)~ Egg Straffalligkeit und Sozialtherapie: Konzepte, Erfahrungen,
Entwicklungsmöglichkeiten, 1984.
320 RudolfEgg

rapeutischen Modelleinrichtungen und einiger vergleichbarer ausländischer


Institutionen (in Dänemark, Holland, Österreich und der Schweiz). Sie
betrafen die folgenden Bereiche:
- Organisation (Größe, Aufteilung in Zentraleinheiten und Tochterinstitu-
tionen, Einbeziehung der Gemeinde, Vernetzung im Gesamtsystem, Lei-
tung, E.ntscheidungssystem, Kommunikation, Supervision und Beratung,
bauliche Gegebenheiten, Zusammenarbeit mit der Oberbehörde),
Klienten/Insassen (Merkmale, Diagnostik, Aufnahme, Programmpla-
nung),
- Programme (Therapie, Ausbildung, Arbeit, Freizeit, soziale Hilfen),
Lebensverhältnisse, Alltag in der Institution,
- Krisenintervention, Sanktionen,
- Mitarbeiter/Personal (Aufgabenve11eilung, Kooperation, Ausstattung,
Auswahl, Fortbildung, Zeitplan),
Implementation des Modells.

111. Das Ende der Maßregellösung - Sozialtherapie als


Kann-Bestimmung des StVollzG
Obwohl spätestens Mitte der 1980er Jahre hinreichend empirische Belege
für die Wirksamkeit des sozialtherapeutischen Ansatzes vorlagen und auch
tragfähige und zukunftsweisende inhaltliche Konzepte entwickelt worden
waren, scheiterte, wie bereits erwähnt, die Maßregellösung der Sozialthera-
pie durch ~as Streichen des § 65 StGB Ende 1984.
Hintergrund dieser Entwicklung war freilich nicht die Sturköpfigkeit der
Länder oder einzelner Politiker, sondern sie dürfte im Wesentlichen durch
zwei Faktoren bestimmt worden sein:
1. Zum einen folgte der Hochkonjunktur der 1960er Jahren eine Phase der
ökonomischen Rezession, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.
Maßgeblich dafür war vor allem die so genannte "erste Ölkrise" im
Herbst 1973. 34 Dadurch verteuerte sich nicht nur der Benzinpreis, auch
die Haushalte der Länder mussten unter der ungünstigen wirtschaftli-
chen Situation leiden.

34 Der Rohölpreis stieg damals innerhalb weniger Tage und Wochen von ursprünglich rund
drei Dollar pro Barrel auf über fünf Dollar (entsprechend ca. 70 0/0), im Verlauf des nächsten
Jahres sogar auf mehr als 12 Dollar.
Sozialtherapie: gestern, heute und morgen 321

2. Im Bereich der Inneren Sicherheit wurde Deutschland zum ersten Mal in


seiner Geschichte mit Problemen des Terrorismus durch die so genannte
"Rote Armee Fraktion" belastet, dessen Höhepunkt die Entführung des
Lufthansa-Flugzeugs Landshut im Oktober 1977 war. Dies führte zu
vielfältigen Diskussionen und neuen Sicherheitsgesetzen, wodurch Fra-
gen der Resozialisierung und der Therapie gefährlicher Straftäter weit in
den Hintergrund gedrängt wurden.
Der Verzicht auf die Maßregellösung der Sozialtherapie erfolgte freilich
nicht ersatzlos. Das 1977 in Kraft getretene Strafvollzugsgesetz (StVollzG)
regelte in § 9 die so genannte Vollzugslösung der Sozialtherapie im Justiz-
vollzug. Danach sollte ein Gefangener in eine sozialtherapeutische Einrich-
tung verlegt werden können, "wenn die besonderen therapeutischen Mittel
und sozialen Hilfen einer solchen Anstalt zu seiner Resozialisierung ange-
zeigt sind". Diese Kann-Bestimmung ermöglichte behandlungsgeeigneten
Gefangenen freilich keinen Anspruch auf eine sozialtherapeutische Behand-
lung, sondern bot lediglich eine Option. 35 Für die Länder gab es darum auch
keinen zwingenden Grund fur einen weiteren Ausbau entsprechender Ein-
richtungen. In der Praxis kam es deshalb zu einem jahrelangen Stillstand in
der Entwicklung Sozialtherapeutischer Anstalten. Immerhin gab es aber
auch keine Schließungen36 und keinen Rückbau37 .

IV. Sozialtherapie für Sexualstraftäter - Neuanfang 1998


Neue Impulse für die Weiterentwicklung der Sozialtherapie zeigten sich
erst wieder Ende der 1990er Jahre. In der Folge einiger zwar weniger, aber
besonders spektakulärer Sexualrnorde an Kindern wurde am 26. Januar
1998 das "Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefähr-
lichen Straftaten" beschlossen. 38 Darin wurde - neben anderen gesetzlichen
Veränderungen - die bisherige freiwillige Vollzugslösung der Sozialthera-
pie durch eine verpflichtende Vollzugslösung gemäß § 9 Abs. 1 StVollzG
ergänzt: Bei Sexualstraftätern mit Verurteilungen zu mehr als zwei Jahren

35 Der Gesetzgeber folgte insoweit nicht den Empfehlungen von Kaiser et al. ZRP 1982,
198-207, für eine "angereicherte" Vollzugslösung.
36 Wenn man davon absieht, dass die JVA Düren 1996 als selbständige Sozialtherapeutische
Anstalt geschlossen und durch zwei sozialtherapeutische Abteilungen in den Jutizvoll-
zugsanstalten Aachen und Euskirchen ersetzt wurde.
37 Vgl. dazu Egg (Hrsg.), Sozialtherapie in den 90er Jahren. Gegenwärtiger Stand und aktu-
elle Entwicklungen im Justizvollzug. Berichte, Materialien, Arbeitspapiere aus der Kriminolo-
gischen Zentralstelle, Heft 7, 1993~ ders. in: StellerlDahle/Basque (Fn. 26), S. 186-200~ ders.
ZStrVo 1996, 276-281.
38 BGBl. I, S. 160~ dazu Schöch NJW 1998,1257-1262.
322 RudolfEgg

Freiheitsstrafe wurde nunmehr eine zwingende Verlegung in sozialthera-


peutische Einrichtungen gesetzlich geregelt. Die Bestimmung trat zwar erst
am 1. Januar 2003 in Kraft, hatte aber unmittelbar zur Folge, dass es in den
sozialtherapeutischen Einrichtungen zu weit reichenden Veränderungen
kam:
Ausbau der Plätze in den vorhandenen Einrichtungen und Schaffung
neuer Einrichtungen (Abteilungen),
Implementation und Erprobung spezifischer Behandlungsprogramme für
Sexualstraftäter,
Fortentwicklung des sozialtherapeutischen Konzepts,
- Durchführung mehrerer neuer Evaluationsstudien.
Eine nicht geringe Unterstützung für diese Fortentwicklung bot und bietet
der 1983 von Prof. Specht, Göttingen, gegründete und 1993 in einen einge-
tragenen Verein umgewandelte Arbeitskreis "Sozialtherapeutische Anstal-
ten im Justizvollzug".39 Dieser maßgeblich von Praktikern der sozialthera-
peutischen Einrichtungen getragene Arbeitskreis versteht sich - in
Fortsetzung der früher am ZiF der Universität Bielefeld durchgeführten
Veranstaltungen (siehe oben) - als eine Art Bindeglied zwischen den ein-
zelnen Institutionen und fördert die Weiterentwicklung der Sozialtherapie
durch verschiedene Aktivitäten. Dazu zählen die Organisation jährlicher
Arbeitstagungen aller Leiterinnen und Leiter sozialtherapeutischer Einrich-
tungen sowie die Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung
überregionaler Fachtagungen zur Sozialtherapie, die seit 1986 im zweijähri-
gen Rhythmus von jeweils einem Bundesland ausgerichtet werden. 40
Eine weitere Aktivität des Arbeitskreises besteht in der Formulierung und
Fortschreibung verschiedener Mindestanforderungen für sozialtherapeuti-
sche Einrichtungen. Diese Anforderungen beziehen sich zum einen auf
grundsätzliche Aspekte wie Zielsetzung, Aufnahme, Personal, Methoden
und allgemeine Gestaltung,41 zum anderen wurden vom Arbeitskreis Min-
destkriterien bezüglich Organisationsform, räumlicher und personeller Aus-
stattung sowie Dokumentation und Evaluation formuliert. 42 Danach sollen

Zur Satzung und zu weiteren Informationen siehe: www.arbeitskreissozialtherapie.de


39
40Bisher fanden in folgenden Ländern überregionale Fachtagungen statt: Baden-
Württemberg (1995, 2005), Bayern (1999), Berlin (1991), Hamburg (1988), Hessen (1993),
Niedersachsen (1986, 2003), Nordrhein-Westfalen (2001), Rheinland-Pfalz (2009), Sachsen
(1997) und Sachsen-Anhalt (2007).
41 Eger/Erdmann/Fistera/Hen=e/Rehn/Specht MschKrim 71 (1988), 334-335.
42 Specht ZStrVo 2001, 40-41~ Egg Forum Strafvollzug 2007, 100-103~ Wischka/Specht in:
Rehn u. a. (Fn. 28), S. 249-263.
Sozialtherapie: gestern, heute und morgen 323

u.a. folgende Grundsätze beachtet werden: sozialtherapeutische Einrichtun-


gen sollen als kleine Einheiten von nicht weniger als 20 und nicht mehr als
60 Plätzen - möglichst als selbständige Anstalten - angelegt werden. Die im
StVollzG genannte Höchstgrenze von 200 Plätzen (§ 143 Abs. 3) ist nach
den Erfahrungen des Arbeitskreises zu hoch angesetzt. Als Grundeinheiten
sollen in sozialtherapeutischen Einrichtungen Wohngruppen für jeweils acht
bis zwölf Gefangene vorgesehen werden. Sozialtherapeutische Abteilungen
sollen außerdem organisatorisch, räumlich und personell unabhängige Ein-
heiten mit eigenen Finanzmitteln sein. Für die Behandlung der Gefangenen
muss stets ausreichend Personal zur Verfügung stehen. Dabei sollte rür
PersonalsteIlen des Allgemeinen Vollzugsdienstes grundsätzlich eine Stelle
auf zwei Gefangene vorhanden sein. Für PersonalsteIlen der Fachdienste
wird folgende Relation empfohlen: jeweils eine Stelle des höheren Dienstes
(in der Regel Psychologen) für zehn Gefangene und eine Stelle des gehobe-
nen Dienstes (in der Regel Diplom-Sozialpädagogen) für zehn Gefangene,
wobei die Stelle des Leiters nicht anzurechnen ist. Bei den Psychologen
sollen vorzugsweise solche mit Approbation für Psychologische Psychothe-
rapie eingestellt werden. Für Psychologen, die diese Approbation anstreben,
soll die sozialtherapeutische Einrichtung die Anerkennung als Prakti-
kumsstätte gern. § 2 Abs. 2, Nr. 2 der Ausbildungs- und Prüfungsverord-
nung für Psychologische Psychotherapeuten (PsychTh-AprV) erlangen.
Um die Entwicklung der sozialtherapeutischen Einrichtungen fachlich zu
begleiten, empfahl der Arbeitskreis außerdem die Durchführung einer re-
gelmäßigen Stichtagserhebung zu Insassen, Personal und einigen Basisdaten
dieser Institutionen. Diese Erhebung erfolgt seit 1997 durch die Kriminolo-
gische Zentralstelle in Wiesbaden. 43

v. Stichtagserhebung zur Entwicklung der Sozialtherapie


im Justizvollzug
Die jeweils am 31. März des Jahres erhobenen Daten der KrimZ-
Stichtagserhebung demonstrieren sehr anschaulich eine deutliche Zunahme
und Vergrößerung sozialtherapeutischer Einrichtungen seit 1997, also seit
der Reform der "Vollzugslösung". So wuchs die Zahl der Einrichtungen
von ursprünglich 20 auf 52 im Jahre 2009. Im gleichen Zeitraum stieg die
Zahl der in der Sozialtherapie verfügbaren Haftplätze von zunächst 888
Plätzen im Jahre 1997 auf zuletzt (2009) 2.043 Plätze, d.h. um 130 0/0; von
diesen Plätzen waren zum Stichtag rund 90 % auch tatsächlich belegt. Die

43 Zuletzt: Egg/Ellrich Sozialtherapie im Strafvollzug. Ergebnisübersicht zur Stichtagserhe-


bung zum 31.3.2009, 2009 (auch als Download unter ww\v.krimz.de).
324 RudolfEgg

Mehrzahl der zusätzlichen Plätze (über 1.000 oder rd. 57 %) steht erwar-
tungsgemäß Sexualstraftätern zur Verfügung; das Angebot für diese Täter-
gruppe ist heute mehr als fünfmal so groß wie vor der Gesetzesreform. Dies
ist einerseits erfreulich, da die vom Gesetzgeber gewünschte erhebliche
Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten für diese schwierige Täter-
gruppe offenbar erreicht wurde; bedenklich erscheint jedoch, dass diese
Erhöhung des Anteils von sozialtherapeutisch behandelten Sexualstraftätem
(57,2 % statt 23,3 % aller Insassen) zugleich einen Rückgang an Verurteil-
ten nach anderen Delikten bedeutet. So reduzierte sich zwischen 1997 und
2009 die Zahl der (oft gewaltsamen) Eigentums- und Vermögenstäter in
sozialtherapeutischen Einrichtungen von 367 auf 238, d.h. um rd. 35 0/0. 44
Bereits bei der Verabschiedung des Gesetzes geäußerte Bedenken bezüglich
einer Reduzierung der ohnehin wenigen Therapieplätze für behandlungsbe-
dürftige, rückfallgefahrdete Verurteilte mit anderen Delikten45 wurden
durch die bisherige Praxis somit leider bestätigt.
Eine gewisse Ausnahme bildet dabei Bayern. Dort gibt es für die Behand-
lung von Sexualstraftätern seit 1972 eine sozialtherapeutische Abteilung der
JVA München mit ursprünglich 12, gegenwärtig 24 Haftplätzen. Im Zuge
der Umsetzung von § 9 Abs. 1 StVollzG wurden von 1998 bis 2007 sieben
weitere Abteilungen für Sexualstraftäter mit insgesamt 144 Plätzen einge-
richtet. 46 Daraus resultiert eine erhebliche Erweiterung des Behandlungsan-
gebotes für Sexualstraftäter im bayerischen Justizvollzug (von 12 auf 168
Plätze). Für die Behandlung anderer Verurteilter stand bislang lediglich die
ebenfalls 1972 eröffnete Sozialtherapeutische Anstalt Erlangen (41 Haft-
plätze) zur Verfügung. Allerdings ist geplant, in den nächsten Jahren in
weiteren bayerischen Justizvollzugsanstalten neue sozialtherapeutische
Abteilungen für Gewaltstraftäter mit insgesamt 152 Haftplätzen zu errich-
ten. 47 Auch im Jugendstrafvollzug sollen neben den bestehenden Plätzen in
der JVA Neuburg-Herrenwörth weitere sozialtherapeutische Abteilungen
für Gewaltstraftäter (mit jeweils 16 Haftplätzen) in den Jugendanstalten
Laufen-Lebenau und Ebrach eröffnet werden. 48
Parallel zu dieser Zunahme an Haftplätzen in sozialtherapeutischen Ein-
richtungen stieg selbstverständlich auch die Zahl der verfügbaren Personal-
steIlen, wenngleich diese Entwicklung nicht ganz so deutlich ausfiel. So

44 Egg/Ellrich a.a.O., S. 16.


45 Vgl. Egg in: Schwind/BöhmlJehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetz - Bund und Länder.
Kommentar. 5. Aufl. 2009, § 9 Rn. 2.
46 In den Justizvollzugsanstalten Amberg, Bayreuth, Kaisheim, Landsberg, Neuburg-
Herrenwörth, Straubing und Würzburg.
47 In den Justizvollzugsanstalten Aichach (für Frauen), Amberg, Bernau, Kaisheim, Mün-
chen, Niederschönenfeld, Nümberg und Straubing.
48 Quelle: wwwjustizvollzug-bayern.de
Sozialtherapie: gestern, heute und morgen 325

wuchs die Zahl der Stellen von ursprünglich (1997) 667 auf zuletzt (2009)
1.151 Personalstellen; dies bedeutet einen Zuwachs von rd. 73 %, während
die Zahl der Haftplätze im gleichen Zeitraum wie erwähnt um 130 % an-
stieg. Da es sich bei den neuen Einrichtungen aber überwiegend um Abtei-
lungen in größeren Justizvollzugsanstalten handelt, muss dieser geringere
Anstieg im Personalbereich nicht zwingend eine schlechtere Versorgung
bedeuten, da Abteilungen üblicherweise bestimmte Dienste der großen
Anstalten mit übernehmen können (insbesondere Außenbewachung, Kon-
troll- und Versorgungsdienste), ohne dass dies zu ihrem Personalbestand
gezählt würde. Dennoch ergibt sich aus den weiteren Daten der Stichtagser-
hebung ein gewisses Defizit fur diesen Bereich.
Seit 2001 umfasst die jährliche Erhebung der KrimZ auch Fragen zu den
oben genannten Mindestanforderungen für sozialtherapeutische Einrichtun-
gen, und zwar unterteilt nach den vier Bereichen (1) Organisationsfornl, (2)
räumliche und (3) personelle Ausstattung sowie (4) Dokumentation und
Evaluation. 49 Vergleicht man diese vier Inhaltsbereiche miteinander (siehe
Tabelle 2), so sind die organisatorischen und strukturellen Mindestanforde-
rungen mit 60,3 % am deutlichsten erfullt. Als Nächstes folgen die Min-
destanforderungen für Dokumentation und Evaluation (58,7 0A» sowie die
räumlichen Mindestanforderungen (51,9 %); erst an vierter Stelle stehen die
personellen Mindestanforderungen (33,8 0/0). Dies lässt sich auch näher
aufschlüsseln: Die Relation der Stellenzahl für Fachdienste zu den verfug-
baren Haftplätzen pendelt seit Jahren um den Wert 1:7, während die Min-
deststandards diesbezüglich eine Relation von 1:5 vorsehen; dies ist nur bei
rund 10 % aller Einrichtungen der Fall. i\uch die Forderungen, dass die
beschäftigten Psycholog(inn)en eine Approbation als Psychotherapeuten
haben und dass die jeweilige Einrichtung eine Anerkennul)g als Prakti-
kumsstätte besitzt, werden bislang nur in geringem Maße realisiert (23 %
bzw. 25 %).. Dagegen stehen Mittel fur eine externe Supervision von Mitar-
beitern weit überwiegend zur Verfügung (2009: 83 %). Die Forderung, dass
für zwei bzw. drei Gefangene eine Stelle des AVD vorgesehen sein soll,
erfüllt etwa die Hälfte aller Einrichtungen (52 %, mittlere Relation: 1:2,7).

49 Zu Einzelheiten siehe Egg/Ellrich (Fn. 43), S. 28-31.


326 RudolfEgg

Tabelle 2: Überblick über die Erfüllung der Mindestanforderungen des


Arbeitskreises "Sozialtherapeutische Anstalten im Justizvollzug"
(Angaben in %, Stand: 31.03.2009)

Teilweise
Kriterium Erfüllt Nicht erfüllt
erfüllt

Organisatorische
und Strukturelle
60,3 25,7 14,0
M indestanforde-
rungen

Räumliche Min-
destanforderun- 51,9 35,3 12,8
gen

Personelle Min-
destanforderun- 33,8 25,0 41,2
gen

Mindestanforde-
rungen an Do-
58,7 25,0 16,3
kumentation und
Evaluation

VI. Weitere Aspekte der aktuellen Situation der Sozialtherapie


im Justizvollzug
Obwohl sich aus den jährlichen Stichtagserhebungen einige Mängel bzw.
Änderungsnotwendigkeiten ablesen lassen, ist es unverkennbar, dass sich
die Situation in den Einrichtungen in den letzten 10 Jahren spürbar verbes-
sert hat. Dazu zählen nicht nur die oben beschriebenen quantitativen Aspek-
te, also der Ausbau und die Zunahme der sozialtherapeutischen Institutio-
nen, vielmehr lassen sich auch weitere positive Aspekte festhalten, die fur
die Zukunft einen grundsätzlich günstigen Verlauf der weiteren Entwick-
lung erwarten lassen:
Sozialtherapie: gestern, heute und morgen 327

1. Höhere Qualität der therapeutischen Arbeit


Anders als in den "Gründerjahren" der Sozialtherapie kommen heute in
der Regel sehr spezifische, im und für die Arbeit im Strafvollzug entwickel-
te Instrumente und Methoden zum Einsatz. Dies gilt zum Beispiel im Be-
reich der psychologischen Diagnostik. Nach einer Umfrage der KrimZ 50
werden für Vollzugsplanung und Prognose (bei Lockerung und/oder Entlas-
sung) heute verstärkt evidenzbasierte Beurteilungsinstrumente eingesetzt.
Dazu zählen vor allem Prognoseinstrumente aus dem angloamerikanischen
Bereich, aber auch einige neuere deutschsprachige Prognoseverfahren. So
wird etwa der für die Prognosestellung von Personen mit sexuellen Gewalt-
delikten ent\vickelte SVR-20 51 in 33 von 39 erfassten sozialtherapeutischen
Einrichtungen verwendet. Häufig zum Einsatz kommen auch die bekannte
Psychopathy-Checklist von H are (PCL-R)52 sowie der für Gewalttäter vor-
gesehene HCR-20 53 ; seltener der sog. Static-99 54 . Bei den deutschsprachi-
gen Verfahren dominieren die Kriterienliste von Dittmann 55 und das Ver-
fahren "Rückfallrisiko bei Sexualstraftätem" (RRS) von Rehder56 ; daneben
werden auch, wenngleich deutlich seltener, die ~,Integrierte Liste der Risi-
kovariablen" (ILRV) von Nedopil57 und das "Forensische Operationalisierte
Therapie-Risiko-Evaluations-System" (FOTRES) von Urbanio12 8 einge-
setzt.
Eine ähnliche Entwicklung ist für den Einsatz von Behandlungsprogram-
men, insbesondere für Sexualstraftäter feststellbar. Hier wird neben dem aus
England und Wales stammenden "Sex Offender Treatment Programme"
(SOTP)59 vor allem ein in Niedersachsen entwickeltes "Behandlungspro-
gramm für Sexualstraftäter" (BPS)60 angewandt. In beiden Fällen handelt es

50 Vgl. Dessecker/Spöhr Praxis der Rechtspsychologie 2007, 305-322.


51 Boer/Hart/Kropp/Webster Manual for the Sexual Violence Risk - 20, 1997.
52 Hare The Revised Psychopathy Checklist~ 1991.
53 Webster/Douglas/Eaves/Hart HCR-20. Assessing Risk for Violence. Version 2, 1997.
54 HansonlThornton Static 99: Improving Actuarial Risk Assessments für Sex Offenders,
1999. Verfügbar unter: www.publicsafety.gc.ca.
55 Dittmann in: BauhoferlBolle/Dittmann (Hrsg.), "Gemeingefährliche" Straftäter, 2000,
S. 67-95.
56 Rehder RRS - Rückfallrisiko bei Sexualstraftätern: Verfahren zur Bestimmung von Rück-
fall gefahr und Behandlungsnotwendigkeit, 2001.
57 Nedopil Prognosen in der Forensischen Psychiatrie - Ein Handbuch für die Praxis, 2005."
58 Urbaniok FOTRES: Forensisches Operationalisiertes Therapie-Risiko-Evaluations-
System, 2004.
59 Siehe Berner/Becker in: Rehn u. a (Fn. 28), S. 206-217; Mann in: Höfling/Drewes/Epple-
Waigel (Hrsg.), Auftrag Prävention. Offensive gegen sexuellen Kindesmißbrauch, 1999,
S. 346-351.
60 Wischka Kriminalpädagogische Praxis 29 (2001), 27-34; Wischka/Foppe/Griepen-
burg/Nuhn-Naber/Rehder in: Rehn u. a. (Fn. 28), S. 193-217.
328 RudolfEgg

sich um strukturierte, kognitiv-verhaltenstherapeutische Gruppenprogram-


me, die in Form eines Curriculums für zahlreiche deliktrelevante Fragestel-
lungen vorgegebene Module für Gruppensitzungen vorsehen. Das BPS
unterscheidet dabei einen deliktunspezifischen und einen delikt-spezifischen
Teil mit insgesamt 80 Sitzungen. Bei der Entwicklung wurden die Ergeb-
nisse der Wirksamkeitsforschung und internationale Erfahrungen mit ähnli-
chen Verfahren berücksichtigt. Ein wesentlicher Vorteil des BPS und ver-
gleichbarer Programme (z.B. Training zur Förderung sozialer Kompetenz
von Pfaffl) liegt in der ökonomischen Durchführung als Gruppenmaßnah-
file, in der Einbeziehung des Allgemeinen Vollzugsdienstes (AVD) und in
der Konzentration auf zentrale Aspekte der Rückfallgefahrdung.

2. Mehr Professionalität/höhere Qualifizierung des Personals


Während in der Anfangszeit in den sozialtherapeutischen Einrichtungen
Psychologen, Psychotherapeuten, Pädagogen, Sozialarbeiter, Bewährungs-
helfer etc. mit sehr unterschiedlichen Vorkenntnissen in der Behandlungs-
arbeit mit Straftätern eingesetzt wurden, wird heute der Einsatz von zertifi-
zierten psychologischen Psychotherapeutinnen und -therapeuten in der
Regel zumindest verlangt bzw. angestrebt. Auch regelmäßige Fortbildun-
gen, Arbeitstagungen (auf Länderebene und bundesweit) und Seminare
belegen eine deutliche Verbesserung gegenüber der Vergangenheit. Nie-
mand würde heute etwa, wie dies am Anfang noch möglich war, frisch
diplomierte Psychologinnen und Psychologen unmittelbar nach dem Exa-
men mit nur kurzer Einarbeitung in ein sozialtherapeutisches Behandlungs-
team aufnehmen. Darüber hinaus ist Supervision der Therapeuten jetzt
ebenfalls ein Standard, der am Anfang noch heftig umstritten war. 62

3. Mehr und neue Begleitforschung


Ähnlich wie bei der Verabschiedung von § 65 StGB wurde auch dem Se-
xualdeliktsbekämpfungsgesetz von 1998 kein umfassendes, bundesweites
Begleitforschungsprogramm zur Seite gestellt, obwohl dies auf Initiative
Bayerns durch eine Entschließung des Bundesrates 63 gefordert worden war.
Allerdings wurden und werden an mehreren Orten Einzelprojekte durchge-
führt, die auf unterschiedliche Weise Vorgehen und Wirksamkeit der sozial-

61 Pfaffin: Rehn u. a. (Fn. 28), S. 170-192.


62 Vgl. zum Ganzen Spöhr Sozialtherapie und Sexualstraftätern im Justizvollzug: Praxis und
Evaluation, 2009 (erschienen in der Reihe "Recht", hrsg. vom Bundesministerium der Justiz,
auch als kostenloser pdf-Download unter www.bmj.bund.de 2009,58-61).
63 BR-Drs. 851/02.
Sozialtherapie: gestern, heute und morgen 329

therapeutischen Behandlungsmethoden wissenschaftlich begleiten sollen.


Ablauf und (vorläufige) Ergebnisse dieser Projekte 64 wurden von 2004 bis
2008 durch ein Begleitprojekt der KrimZ im Auftrag des Bundesministeri-
um der Justiz dokumentiert und wissenschaftlich analysiert. 65 Im Vorder-
grund der erfassten Evaluationsproj ekte steht übrigens nicht mehr - wie in
der Anfangszeit - die grundsätzliche Frage, ob durch Sozialtherapie über-
haupt Erfolge erzielt werden können, vielmehr geht es um spezifische Fra-
gestellungen, d.h. wem durch was und mit welchen Methoden am besten
geholfen werden kann.
Für die Wirksamkeit der Therapie von Sexualstraftätern hatte Schmu-
cker66 eine Meta-Evaluationsstudie vorgelegt, in die auch mehrere deutsche
Programme einbezogen wurden. Analysiert wurden dabei 69 Untersuchun-
gen mit 80 Vergleichen (insgesamt 22.181 Sexualstraftäter, davon 9.512
Behandelte, 12.669 Kontrollgruppe), die den Behandlungserfolg anhand
von Rückfalldaten überprüften. Dabei handelt es sich ausschließlich um
kontrollierte Designs ohne Einbeziehung von Behandlungsabbrechern, um
ein Mindestmaß an methodischer Güte zu gewährleisten. Als Effektstärke-
rnaß wurden sog. Odds Ratios 67 berechnet; in Bezug auf den einschlägigen
sexuellen Rückfall ergab sich dabei ein hochsignifikanter mittlerer Effekt
von 0,59 (d = 0,29), das entspricht einer Reduzierung der Rückfallquote um
30 % bei einem mittleren Katamnesezeitraum von rd. fünf Jahren. Ein
vergleichbarer positiver Effekt der Behandlung zeigte sich hinsichtlich der
allgemeinen Rückfälligkeit (d = 0,28; 22 % vs. 33 % Rückfall). Auf der
anderen Seite zeigten 28 % der Vergleiche keine oder gar eine negative
Behandlungswirkung, d.h. die behandelten Straftäter wiesen sogar höhere
Rückfallraten auf als die Täter der Kontrollgruppe. Nicht alle Therapiepro-
gramme für Sexualstraftäter sind also wirksam. Als besonders erfolgreich
erwiesen sich Behandlungsprogramme mit behavioraler und kognitiv-
behavioraler Ausrichtung, während einsichtsorientierte Programme oder
unspezifische Maßnahmen einer "therapeutischen Gemeinschaft" teilweise
keine oder sogar negative Effekte aufwiesen. Es verwundert daher nicht,
dass auch in den sozialtherapeutischen Einrichtungen heute zunehmend

64 Die Projekte beziehen sich auf rund 70 % (30) aller sozialtherapeutischen Einrichtungen
aus neun Bundesländern (Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersach-
sen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt).
65 Spöhr (Fn. 62).
66 Schmucker Kann Therapie Rückfalle verhindern? Metaanalytische Befunde zur Wirk-
samkeit der Sexualstraftäterbehandlung, 2004.
67 "Odds Ratios" bilden den Unterschied zweier Maßnahmen oder Chancen durch einen
Quotienten ab. Dabei bedeutet 1, dass es keinen Unterschied in den Odds gibt, bei Werten> 1
sind die Odds der ersten Gruppe größer, bei Werten <1 die der zweiten.
330 RudolfEgg

Programme der kognitiven Verhaltenstherapie angewandt werden, während


tiefenpsychologisch orientierte Maßnahmen seltener eingesetzt werden. 68

4. Problematische Punkte
Neben diesen verschiedenen positiven Aspekten sind fur die Beurteilung
der aktuellen Lage sowie der zukünftigen Entwicklung der Sozialtherapie in
Deutschland auch einige problematische Punkte zu berücksichtigen, die sich
nachteilig auswirken oder auswirken können:

a) Sicherheitsdenken dominiert Kriminalpolitik


Wie in vielen anderen Ländern auch hat sich in den letzten 10 bis 15 Jah-
ren in der allgemeinen kriminalpolitischen Diskussion in Deutschland ein
Trend zu einer starken Fokussierung auf Sicherheitsfragen und auf das
Schließen so genannter Sicherheitslücken gezeigt. Dies wurde besonders
deutlich im Jahre 2001, als der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder
in einem Zeitungsinterview 69 forderte, dass man Kindesmissbraucher am
besten fiir immer wegschließen müsse, da er sie für behandlungsunfahig
hielt. Dies war ein Schlag ins Gesicht für all diejenigen, die sich um eine
Behandlung rückfallgefahrdeter Personen iImerhalb und außerhalb sozial-
therapeutischer Einrichtungen benlühen.
Freilich war diese These nicht offizieller Teil des damaligen Regierungs-
programms, sie passte aber zum Zeitgeist und fand viel Applaus. Tatsäch-
lich wurden in den letzten Jahren immer wieder neue, strengere Bestim-
mungen im Straf- und Strafprozessrecht eingefiihrt. So gab es seit der
vollständigen Abschaffung der Strafbarkeit homosexueller Handlungen
(§ 175 StGB) im Jahre 1994 im Bereich der Sexualdelikte ausschließlich
Änderungen, die als Verschärfungen (neue, erweiterte Straftatbestände,
härtere Sanktionen, größere Hürden fiir vorzeitige Entlassung etc.) anzuse-
hen sind. 70
Auch in der Rechtspraxis lässt sich ein Trend nach mehr, nach längeren,
nach härteren Strafen aufzeigen. Als Beispiel sei hier die Anwendung der
lebenslangen Freiheitsstrafe bei Mordfallen genannt. Während vor rd. 25

68 Siehe Spöhr (Fn. 62), S. 95.


69 Gerhard Schröder in Bild am Sonntag vom 8. Juli 2001: "Was die Behandlung von Sexu-
alstraftätern betrifft, komme ich mehr und mehr zu der Auffassung, .dass erwachsene Männer,
die sich an kleinen Mädchen vergehen, nicht therapierbar sind. Deswegen kann es da' nur eine
Lösung geben: Wegschließen - und zwar für inlmer". .
70 Vgl. auch Rengier in: Justizministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), Schutz vor Sexual-
straftaten als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Bericht über das 23. Triberger Symposium des
Justizministeriums Baden-Württemberg atll 28. und 29. November 2002, 2003, S. 9-38.
Sozialtherapie: gestern, heute und morgen 331

Jahren (1983) diese Höchststrafe des deutschen Strafrechts nur in rd. einem
Drittel aller Fälle verhängt wurde, betraf dies zehn Jahre später schon die
Hälfte und zuletzt (2008) rd. 78 % (109 von 140 Fällen) der Urteile. 71
Angesichts solcher Trends befindet sich ein behandlungsorientierter Straf-
vollzug, namentlich die besonders zeit-, kosten und personalintensive Sozi-
altherapie im Justizvollzug, stets in einer Art Verteidigungsposition. Der
hohe Aufwand muss immer wieder neu begründet werden, während auf die
notwendige Unterstützung von außen, etwa im Rahmen von Nachbetreuung
oder durch ehrenamtliche Helfer, kaum noch gehofft werden kann. Es ist
auch daran zu erinnern, dass der Neubeginn der Sozialtherapie (seit 1998)
keine Renaissance der Behandlungsidee der 1960er Jahre bedeutet, sondern
das Ergebnis einer kriminalpolitischen Diskussion in der Folge spektakulä-
rer Sexualmorde an Kindern darstellt. Der Mainstream der Kriminalpolitik
verlangt heute nach mehr Sicherheit und mehr Opferschutz. Zwar räumt die
verstärkte Opferorientierung in der Kriminalpolitik auch der Täterbehand-
lung eine Chance ein, aber gewissermaßen nur eine letzte Chance.

b) Überbetonung der Gefährdung durch Sexualdelikte


Das Sexualdeliktsbekämpfungsgesetz von 1998 beschränkte die zwangs-
weise Verlegung in sozialtherapeutische Einrichtungen auf Sexualstraftäter.
Dies lässt sich aus den Vorfällen, die Anlass dieser Gesetzesnovellierung
waren, begründen, reflektiert aber auch die allgemeine und steigende Sorge
vor der scheinbar immer größer werdenden Zahl von Sexualdelikten bzw.
gefährlichen Sexualstraftätern in Deutschland. Die Kriminalstatistik belegt
diese Sorge zwar nicht, vielmehr zeigt sich, etwa beim sexuellen Miss-
brauch von Kindern oder auch bei dem schwersten aller Sexualdelikte, dem
Sexualmord, eine im langfristigen Vergleich eher abnehmende Tendenz,72
gleichwohl ist jede schwere Sexualstraftat Anlass für ausgiebige Berichter-
stattungen in den Medien und regelmäßig auch für Forderungen nach der
Schließung weiterer "Sicherheitslücken".
Für die Sozialtherapie im Justizvollzug bedeutet die (gesetzlich gewollte)
Konzentration auf Sexualstraftäter in der Regel, wie oben ausgeführt, einen
faktischen Abbau an entsprechenden Plätzen für andere gefährliche Straftä-
ter. Betroffen davon sind namentlich solche Gefangene, die gewaltsame
Eigentumsdelikte verübt haben. Diese Entwicklung war zwar angesichts der
nach wie vor und wohl noch längere Zeit bestehenden Finanzknappheit der

71 Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Fachserie 10 Reihe 3 Strafverfolgung 2008,


2009 (verfügbar unter www.destatis.de).
72 Egg in: YolbertiSteller (Hrsg.), Handbuch der Rechtspsychologie, 2008, S. 40 f.
332 RudolfEgg

Länder zu erwarten, sie ist aber dennoch kriminalpolitisch bedenklich, da


sie neue Risiken schafft. 73

c) Nachträgliche Sicherungsverwahrung erschwert Sozialtherapie


Markantestes Beispiel des oben genannten Sicherheitsdenkens ist die Ein-
führung der so genannten nachträglichen Sicherungsverwahrung gemäß
§ 66 b StGB (am 23.07.2004), wonach bei Vorliegen neuer Tatsachen, die
sich erst während eines Strafvollzuges zeigen, diese schwere, unbefristete
Sanktion auch nachträglich angeordnet werden kann. Dies betrifft zwar
sicher nur einige wenige, besonders problematische Fälle, rührte aber zu
vielfaltigen Verunsicherungen irn Strafvollzug, auch und gerade in sozial-
therapeutischen Einrichtungen. Gemeint sind hier nicht nur die Insassen, für
die durch diese Vorschrift der Grundsatz "ne bis in idem" in Frage gestellt
wird,74 sondern auch das Personal, das sich neben der Wahrnehmung thera-
peutischer, diagnostischer, helfender Aufgaben nun auch verstärkt mit Fra-
gen der Gefahrlichkeitseinschätzung und der möglichen Anwendung für
eine solche nachträgliche Sanktion befassen muss. So fragen sich Vollzugs-
psychologen etwa, ob Erkenntnisse, die ihnen im Rahmen ihrer Arbeit mit
Gefangenen bekannt werden, nun nicht bloß zur Vollzugplanung und zur
Einleitung von Behandlungsmaßnahmen dienen sollen, sondern gleichzeitig
auch Anlass für die Einleitung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung
sein können oder müssen. 75

d) Föderalismusreform
Das am 01.09.2006 in Kraft getretene Förderalismusreformgesetz76 über-
trug nicht nur (wie schon bisher) die administrative, sondern auch die legis-
lative Kompetenz im Bereich des Strafvollzugs - und damit auch für die

73 Umso erfreulicher ist es, dass das neue Niedersächsische Justizvollzugsgesetz die (obliga-
torische) Verlegung in eine Sozialtherapeutische Anstalt auch für solche Gefangene vorsieht,
die "wegen eines Verbrechens gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die per-
sönliche Freiheit" etc. verurteilt worden sind (§ 104 NJVollzG)~ das Bayerische Strafvollzugs-
gesetz regelt demgegenüber die Verlegung von Gefangenen, "von denen schwerwiegende
Straftaten gegen Leib oder Leben ... " zu erwarten sind, als Soll-Vorschrift (Art. 11, Abs. 2
BayStVollzG).
74 Horstkotte in: Egg (Hrsg.), "Gefährliche Straftäter". Eine Problemgruppe der Kriminalpo-
litik? Kriminologie und Praxis Bd. 47, 2005, S. 15-25.
75 So wurde gegen einen Verurteilten nachträglich Sicherungsverwahrung genläß § 66 b
Abs. 1 StGB angewandt, bei dem erst im Rahmen seines 'Aufenthaltes in einer Sozialtherapeu-
tischen Anstalt festgestellt wurde, dass eine "gefestigte und genuine Pädophilie" vorliegt
(BGH, Urteil vom.21.12.2006~ StV 2007,238-240).
76 BGBL I, S. 2034.
Sozialtherapie: gestern, heute und morgen 333

Sozialtherapie - vom Bund auf die 16 Bundesländer. Dadurch ist nun jedes
Bundesland befugt, ein eigenes Strafvollzugsgesetz zu verabschieden, was
teilweise in Vorbereitung bzw. bereits erfolgt ist. 77 Diese Reform, die von
einer großen Mehrheit von Kriminologen und Strafvollzugsexperten abge-
lehnt 78 wurde und wird 79 , muss zwar nicht zwangsläufig zu einem von man-
chen befürchteten "Wettbewerb der Schäbigkeit"80 und zu einem drasti-
schen Rückgang an Behandlungsangeboten im Strafvollzug fuhren, sie
bedeutet aber wohl das Ende bundeseinheitlicher gesetzlicher Regelungen
der sozialtherapeutischen Straftäterbehandlung sowie der entsprechenden
Programme. Als einzigen kleinen "Vorteil" dieser Zerstückelung der Ge-
setzgebung und der Vollzugspraxis könnte man allenfalls argumentieren,
dass jetzt eine größere Notwendigkeit bezüglich eines Dialogs und Erfah-
rungsaustauschs zwischen den sozialtherapeutischen Einrichtungen aus
verschiedenen Bundesländern besteht, wenn man an einer Fortentwicklung
gemeinsamer Konzepte interessiert ist. Gleichwohl wird eine Verständigung
schon wegen der unterschiedlichen Gesetzestexte und Paragraphen er-
schwert sein.

VII. Fazit und Ausblick


Nach den obigen Ausführungen und nach den Erfahrungen des Autors ist
zunächst festzuhalten, dass sich die Sozialtherapie im Justizvollzug in den
inzwischen 40 Jahren ihres Bestehens grundsätzlich bewährt hat und als
fester Bestandteil des deutschen Justizvollzuges anzusehen ist, dessen Exis-
tenz und Fortbestand derzeit - auch angesichts der oben skizzierten primär
auf Sicherheit und Opferschutz ausgerichteten kriminalpolitischen Trends -
wohl niemand ernsthaft in Frage stellen dürfte. Dennoch ist die weitere
Entwicklung der Sozialtherapie kein "Selbstläufer", sondern bedarf erhöhter
Aufmerksamkeit, Unterstützung und Begleitung durch Praktiker und Wis-
senschaftler. Zudem muss sich die Sozialtherapie in nächster Zeit verschie-
denen konkreten Aufgaben und Herausforderungen stellen. Dazu zählen
unter anderem die folgenden Punkte:

77 Bis Ende 2009 hatten bereits die Länder Bayern, Hamburg und Niedersachsen eigene
Strafvollzugsgesetze verabschiedet.
78 Auch Schöch unterzeichnete 2005 einen Appell von Strafrechtsexperten zur Beibehaltung
der Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug beim Bund (siehe Cornel Neue Kriminalpo-
litik 2005, 2-3).
79 Zum Ganzen siehe Böhm/Jehle in: Schwind u. a. (Fn. 45), § 1 Rn. 2; Callies/Müller-Dietz
Strafvollzugsgesetz, 11. Aufl. 2008, Einl. Rn. 52 m. w. N.
80 Janisch Das Parlament, Nr. 26 (http://www.das-parlament.de/2006/26/Kulissen/001.html
- abgerufen am 5.1.2010).
334 RudolfEgg

J. Übergangsmanagement und Nachsorge


Während sich die Arbeit innerhalb der sozialtherapeutischen Einrichtun-
gen in der Vergangenheit offenbar gut entwickelt hat, konnte die Frage der
Nachsorge entlassener Gefangener bislang nur an wenigen Orten optimal
gelöst werden. 81 Dies ist deshalb bedauerlich, weil sich eine effektive Straf-
täterbehandlung, insbesondere die Therapie schwieriger Gefangener, wie sie
in den sozialtherapeutischen Einrichtungen zu finden sind, nicht nur auf
intramurale Maßnahmen beschränken darf, weil sonst die Gefahr besteht,
dass die in der stationären Therapie erzielten Behandlungsfortschritte keine
dauerhafte Wirkung entfalten. 82 Es bedarf daher stets einer sorgfältig vorbe-
reiteten und schrittweisen Überleitung in die Freiheit, einschließlich einer
ggf. auch mehrjährigen nachsorgenden Betreuung. Diese wichtige Aufgabe
der Sozialtherapie sollte zweckmäßigerweise vor allem durch das Personal
der Einrichtung selbst erfolgen, wenn möglich sollten dafür sogar eigene
Räumlichkeiten zur Verfligung stehen. Die "klassische" Bewährungshilfe
oder eine unabhängige Beratungsstelle außerhalb des Vollzuges dürften
damit jedenfalls bei diesem schwierigen Personenkreis in der Regel über-
fordert sein, zumindest benötigen sie die tatkräftige Unterstützung durch die
sozialtherapeutische Einrichtung im Sinne eines Netzwerkes.

2. Erweiterung der Angebote für Jugendstrafgefangene und Frauen


In der Vergangenheit spielten sozialtherapeutische Einrichtungen im Ju-
gendstrafvollzug eine nur geringe Rolle; so gab es 1997 diesbezüglich bun-
desweit lediglich 86 Haftplätze. Diese Zahl hat sich in den letzten Jahren
deutlich verändert (2009: 350 Plätze) und wird in nächster Zeit vermutlich
weiter steigen. Ein wesentlicher Grund dafür ist die Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichts vom 31.05.2006. 83 Damit wurde der Gesetzgeber
nämlich nicht nur dazu verpflichtet, den Jugendstrafvollzug gesetzlich zu
regeln, vielmehr gilt, dass im Jugendstrafvollzug Regelungen zu schaffen
sind, die dem Ziel der Befähigung zu einem straffreien Leben in Freiheit in
besonders hohem Maße entsprechen. Dazu zählen namentlich Maßnahmen
der Förderung sozialen Lernens sowie die Ausbildung von Fähigkeiten und
Kenntnissen; dies sind auch und vor allem sozialtherapeutische Maßnah-
men. Die Länder sind inzwischen diesem Auftrag gefolgt und haben bis

81 Vgl. Egg (Hrsg.), Ambulante Nachsorge nach Straf- und Maßregelvollzug. Konzepte und
Erfahrungen. Kriminologie und Praxis Bd. 44,2004.
82 Egg ~1schKrim 73 (1990), 358-368~ Goderbauer ZStrVo 2005, 338-344~ ders. Bewäh-
rungshilfe 2008, 115-133~ ders. Forum Strafvollzug - ZStrVo 2008, 22-26.
83 2 BvR 1673/04~ im Internet: http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20060531_2bvr
167304.html- abgerufen am 04.01.2010.
Sozialtherapie: gestern, heute und morgen 335

spätestens Anfang 2008 entsprechende Jugendstrafvollzugsgesetze geschaf-


fen, die sämtlich auch Regelungen zur Verlegung in sozialtherapeutische
Einrichtungen enthalten. Wenngleich diese Vorschriften nicht einheitlich
sind, so ergibt sich daraus doch die Notwendigkeit, entsprechende Voll-
zugsabteilungen einzurichten. Dies ist, wie die jährliche Stichtagserhebung
der KrimZ zeigt,84 in einigen Ländern bereits erfolgt, in anderen gibt es
zumindest Planungen bzw. konkrete ·Vorbereitungen.
Deutlich unterrepräsentiert, prozentual betrachtet sogar rückläufig, sind
sozialtherapeutische Haftplätze für weibliche Gefangene; am 31.03.2009
gab es bundesweit 38 Plätze (1,9 % aller Plätze in der Sozialtherapie), wäh-
rend im Regelvollzug weibliche Gefangene mit einem mehr als doppelt so
hohen Anteil vertreten sind (2008: 5,3 %)85. Immerhin wurde Ende 2009 in
der JVA Aichach (Bayern) eine weitere sozialtherapeutische Abteilung (mit
16 Haftplätzen) im Frauenvollzug eröffnet, dennoch besteht hier ein deutli-
ches Defizit, das hoffentlich in den nächsten Jahren beendet werden wird.

3. Grenzen der Behandlung


Sozialtherapie im Justizvollzug versteht sich als ein auf die jeweils indi-
viduellen Bedürfnisse und Möglichkeiten eines Verurteilten abgestinlmtes
Paket von Maßnahmen zur Förderung eines straffreien, sozial verantwortli-
ehen Lebens nach der Entlassung. Allerdings ist diese Behandlung nicht
beliebig anwendbar, sondern an bestimmte Voraussetzungen, auch und
gerade auf Seiten der Gefangenen, gebunden. So betonten bereits Andrews
et al. 86 vor dem Hintergrund einer umfangreichen Meta-Analyse die Beach-
tung der jeweiligen Bedürfnisse (needs) sowie der Ansprechbarkeit (respon-
sitivity) der behandelten Gefangenen, empfohlen \vurde aber auch eine
angemessene Dosierung der Behandlungsintensität entsprechend dem je\vei-
ligen Risikograd der zu behandelnden Zielgruppe. 87 Einzelne spektakuläre
Rückfalltaten der jüngsten Vergangenheit, die während des Vollzuges oder
nach der Entlassung aus der Sozialtherapie erfolgten, verdeutlichten auf
schmerzhafte Weise die Grenzen der Behandlungsmöglichkeiten ,im Rah-
men sozialtherapeutischer Einrichtungen. Sie zwingen zu Überlegungen,
diese Grenzen durch eine Verbesserung der Diagnostik und Prognose mög-
lichst frühzeitig zu erkennen. Gleichzeitig sollte aber durch eine Fortent-
wicklung therapeutischer Konzepte versucht werden, zukünftig auch jene

84 Egg/Ellrich (Fn. 43).


85 Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Fachserie 10 Reihe 4.1 Strafvollzug 2008,2009
(verfügbar unter: www.destatis.de).
86 Andrews/Zinger/Hoge/Bonta/Gendreau/Cullen Criminology 28 (1990),369-404.
87 Vgl. auch Egg/Kälberer/Specht/Wischka ZStrVo 1998, 348-351.
336 RudolfEgg

Gefangenen therapeutisch zu erreichen, für die bislang keine effektiven


Behandlungschancen bestehen.

4. Haftentlassenendateien (z.B. HEADS) und die Folgen


für die Sozialtherapie
Seit einigen Jahren gibt es Bestrebungen, die einzelfallbezogene Überwa-
chung entlassener Straftäter, namentlich solcher, die Sexualstraftaten be-
gangen haben, auf der Grundlage eines Registers zu verbessern, das Justiz
und Polizei zur Verfügung steht. Den Anfang machte die im Oktober 2006
beim Polizeipräsidium München eingerichtete Datei HEADS (Haft-
Entlassen-Auskunfts-Datei-Sexualstraftäter); diesem Beispiel folgten inzwi-
schen - mit gewissen Modifikationen - mehrere andere Bundesländer. 88 Um
eine zuverlässige Risikobeurteilung zu ermöglichen, müssen in den jeweili-
gen Datenbestand dieser Auskunftsdateien geeignete Informationen einge-
geben werden, auch und vor allem aus dem Strafvollzug. Damit ergeben
sich auch Auswirkungen für die Arbeit der Sozialtherapie, weil hier ähnlich
wie bei der Beurteilung einer evtl. nachträglich angeordneten Sicherungs-
verwahrung (siehe oben) Informationen zu sammeln und weiterzugeben
sind, die nicht mehr bloß der Vollzugs- und Behandlungsplanung dienen,
sondern dem Risikomanagement von Polizei und Staatsanwaltschaft. Die
damit verbundenen rechtlichen und praktischen Probleme sind womöglich
nicht unlösbar, bedürfen aber der baldigen Klärung, damit das sozialthera-
peutische Konzept nicht einseitig belastet wird.
Selbstverständlich wird darüber hinaus auch weitere Forschung nötig
sein, um Konzepte, Programme, Diagnose-Instrumente und -methoden etc.
sinnvoll weiterzuentwickeln. Langfristig sollte nach Meinung des Autors
aber gelegentlich auch über andere gesetzliche Regelungen der sozialthera-
peutischen Straftäterbehandlung nachgedacht werden. Die zwar schon vor
25 Jahren gescheiterte Maßregellösung der Sozialtherapie hatte den Vorteil
einer richterlichen Anordnung und Überprüfung und war nicht beschränkt
auf die Gruppe der Sexualstraftäter. Auch wenn im politischen Raum der-
zeit niemand ersichtlich ist, der sich mit dieser Frage ernsthaft befassen
möchte, sollte dieses im Kern richtige Konzept dennoch zu gegebener Zeit
noch einmal erwogen werden.

88 Kritisch dazu Popp Die Haftentlassenenauskunftsdatei Sexualstraftäter (HEADS) der


bayerischen Polizei - eine zulässige Ergänzung der Führungsaufsicht?, Master-Arbeit Univer-
sität Bochum, 2009~ Tondorf in: Pollähne/Rode (Hrsg.), Probleme unbefristeter Freiheitsent-
ziehungen, 2009, S. 7-13.
Zur weiteren Entwicklung des Strafvollzugs l

FRANK ARLOTH

I. Einleitung
Die Frage, wie es mit der Entwicklung des Strafvollzugs weiter geht,
stellt sich zu allen Zeiten neu. In den 90er Jahren standen sich hier zwei
Extrempositionen gegenüber: Zum einen wurde nach dem Vorbild der USA
eine riesige Ausweitung und Ausbreitung des Strafvollzugs vorhergesagt,2
zum anderen wurde aufgrund neuartiger Überwachungsmethoden das Ende
des klassischen Strafvollzugs prophezeit. 3 Erstere Prognose leitete sich aus
dem stetigen Anwachsen der Gefangenenzahlen ab und der gesellschaftli-
chen UnHihigkeit oder Unwilligkeit, dieser Entwicklung kritisch gegenüber-
zutreten; letztere Prognose stand auf dem Fundament einer Abschaffung der
Gefängnisse und Umwandlung in alternative Sanktionsformen. 4 Eine gewis-
sermaßen vermittelnde Position nahm Scheerer 5 ein, der heide eingangs
genannten Phänomene der neuartigen Kontrollmechanismen und der Aus-
weitung des Vollzuges miteinander verknüpfte und meinte, dass die alterna-
tiven Vollzugsformen sozial integrierten Bürgern westlicher Leistungsge-
sellschaften vorbehalten bleiben, während die Expansion des Gefängnis-
und Lagerwesens einem "Vierten Stand" von Asylbewerbern, Bürgerkriegs-
und Wirtschaftflüchtlingen gelte. 2001 schien mir allenfalls die zuletzt
genannte Prognose zumindest dann nicht realitätsfern, wenn sie auf die
Rahmenbedingungen des deutschen Strafvollzugs übertragen wird. Die
These vom Vorbehalt alternativer Haftformen für besser gestellte Straftäter
ließe sich an der Diskussion um die Einsatzmöglichkeiten des elektronisch
überwachten Hausarrestes verifizieren, denn dieser wird eher rur wohlha-
bende Straftäter in Betracht kommen. Auch müsste der "Vierte Stand" wei-
ter und anders definiert werden: Hierzu zählen dann auch Straftäter aus dem

1 Fortsetzung der Überlegungen aus GA 2001, 307 ff.


2 Christie Kriminalitätskontrolle als Industrie, 1995, S. 156 ff. (deutsch)~ Crime Control as
Industry, 3. Aufl. 2000 (englisch)~ Besprechung von Bammann ZfStrVo 2001, 127.
3 Deleuze Neue Rundschau 1990, 5 ff.~ ders. KrimJ 24 (1992), 181 ff. Grundlegend bereits
Foucault Überwachen und Strafen, 1977.
4 Dazu Müller-Dietz FS Schneider, 1998, S. 995-1011.
5 Scheerer, FS Sack, 1996, S. 321, 332 ff.~ dazu auch Müller-Dietz (Fn. 4), S. 1010 ff.
338 Frank Arloth

Bereich der organisierten Kriminalität, des Bandenwesens und der Drogen-


kriminalität. Demgegenüber kommen sozial oft integrierte Wirtschaftsstraf-
täter eher in den Genuss von vollzuglichen Lockerungen. Mit dieser Prog-
nose war indes auch die Hoffnung verbunden, sie möge nicht eintreten, da
ein solcher "Zwei-Klassen-Strafvollzug" nicht erstrebenswert sei. Seitdem
ist viel geschehen: Nicht nur auf dem Gebiete der Gesetzgebung ("Födera-
lismusreform") sondern auch in der Vollzugswirklichkeit.

11. Aktueller Befund


Wer der Haftsituation in den Vereinigten Staaten von Amerika eine Pilot-
funktion für die Entwicklung in Europa zuschreibt, musste Schlimmes be-
fürchten. Dort sind derzeit 2,3 Millionen Menschen in Haft. Die als Ver-
gleichsmaßstab heranzuziehende Gefangenenrate beträgt ca. 760 pro
100.000 Einwohner. 6 1988 betrug sie noch 350; in den letzten zehn Jahren
hat sich die Rate somit mehr als verdoppelt, wie im übrigen schon in den
zehn Jahren zuvor. 7 Eine ähnliche Situation gibt es in Europa allenfalls in
Russland (626 pro 100.000 Einwohner), nicht aber in Westeuropa. Dort
schwanken die Zahlen von 147 (England und Wales) bis 3 (San Marino).8
Innerhalb Europas lassen sich im Wesentlichen drei Bereiche unterscheiden:
Lässt man die kleinen und auch nicht einmal ansatzweise repräsentativen
Staaten (Island, San Marino, Liechtenstein) außer Betracht, weisen die
skandinavischen Staaten, wie Dänemark (66), Finnland (69), Norwegen
(70) und Schweden (75) die niedrigsten Raten auf. Ein weitaus größeres
Gefälle und wesentlich höhere Schwankungen weisen die großen westeuro-
päischen Ländern auf, wie Italien (78), Frankreich (99), Deutschland (94),
Spanien (126) und England/Wales (147). In den osteuropäischen Ländern
ist die Lage sehr unterschiedlich, was möglicherweise immer noch an der
fehlenden Zuverlässigkeit der übermittelten Zahlen liegen mag. Eine Son-
derstellung nehmen die baltischen Staaten ein, wo die Gefangenenrate wie-
derum deutlich höher ist.
Die vom Council of Europe veröffentlichten Zahlen belegen, dass die Ge-
fangenenraten in den letzten 15 Jahren (ab 1985) in vielen europäischen
Staaten angestiegen sind. Besonders starke Zuwachsraten finden sich in

6 Zahlen aus 2008. Nachweis: ICPS World Prison brief


http://www.kcl.ac. uk/depsta/law/research/icps/worldbrief/wpb_country. php?country= 190
Aufruf 8.11.2009.
7 Kaiser/Kerner/Schöch Strafvollzug, 4. Autl 1992, § 2 Rn. 124~ Kury ZfStrVo 2000, 323
Abb. 4 und 5.
8 Zahlen aus 2007. Vgl. Council of Europe, Space I, 2007, S. 21, auch zu den folgenden
Zahlen.
Zur weiteren Entwicklung des Strafvollzugs 339

Spanien (von 50 auf 126) oder in den Niederlanden (von 32 auf 113). Aller-
dings ist das Ausgangs- und Endniveau kaum mit dem der USA zu verglei-
chen. Im Übrigen gibt es für das starke Ansteigen länderspezifische Erklä-
rungen. In Spanien trug die auslaufende "good time-Regelung" (Haft-
zeitverkürzung durch Anrechnung von Arbeit) zu der höheren Gefangenen-
rate bei. 9 Die Ursache des Anstiegs in den Niederlanden liegt zum einen in
einer geänderten Kriminalpolitik begründet - z.B. durch vermehrte Andro-
hung und Verhängung von Freiheitsstrafen 10 - zum anderen auch in der
Tatsache, dass die Niederlande zwischenzeitlich ihre Haftraumkapazität
deutlich erhöht haben und damit mehr Gefangene aufnehmen können, wäh-
rend es vorher Wartelisten gab. 11 Zwischenzeitlich wollen die Niederlande
ihre Haftplatzkapazität von 14.000 auf 12.000 Plätze wieder verringern;
Belgien hat aufgrund der dortigen Überbelegung bereits einen Vertrag über
die "Anmietung" von Haftplätzen in den Niederlanden abgeschlossen. 12
Dies verdeutlicht, dass die Statistik bisweilen nur wenig über die tatsächli-
che Situation aussagt. Ferner ist die Statistik abhängig von der Verweildau-
er, da die Zahlen nur einmal jährlich zu einem bestimmten Stichtag erhoben
werden. Wenn aber die durchschnittliche Verweildauer ,vesentlich unter
einem Jahr liegt - wie beispielsweise in Schweden, wo viele kurze Frei-
heitsstrafen vollstreckt werden -, sind wesentlich mehr Menschen inhaftiert,
als es die stichtagsbezogene Gefangenenrate ausdrückt. 13 Nicht zuletzt unter
diesem Gesichtspunkt müssen auch die besonders stabilen Gefangenenraten
in den skandinavischen Ländern gesehen werden.
Die deutsche Situation des Strafvollzugs unterscheidet sich nicht wesent-
lich von der anderer vergleichbarer westeuropäischer Staaten. Der letzte
Anstieg der Gefangenenzahlen, verbunden mit einem erheblichen Anstieg
der Untersuchungshaft, setzt in Deutschland erst 1992 ein und ist signifikant
mit der Grenzöffnung nach Osten verbunden. So wurde nach einem konti-
nuierlichen Anstieg 1984 ein vorläufiger Höchststand von 81 Gefangenen
pro 100.000 Einwohner erreicht,14 1992 betrug der Stand 70, um dann stetig
auf 98 im Jahr 2000 anzusteigen. Derzeit ist die Gefangenenrate leicht ge-
fallen auf 94 (Stand: 2007).15 Amerikanische Verhältnisse drohen uns also
in absehbarer Zeit in Deutschland und wohl auch in Westeuropa nicht.

9 Dünkel in: Koop/Kappenberg (Hrsg.), Wohin fährt der Justizvoll-Zug?, 2009, S. 32-41.
10 Dünkel (Fn. 9), S.41.
11 Arloth ZfStrVo 2002, 3.
12 Die Welt vom 13.11.2009.
13 Vgl. dazu Walter Strafvollzug, 2. Aufl. 1999, Rn. 75~ Kaiser/Kerner/Schöch (Fn. 7), § 2
Rn. 11 7, 119 ~ § 3 Rn. 67.
14 Zur Entwicklung bis 1989 vgl. Kaiser/Kerner/Schöch (Fn. 7), § 2 Rn. 121 Tabelle 3.
15 Vgl. Fn. 8.
340 Frank Arloth

Wie steht es aber mit der Ablösung des Strafvollzugs durch alternative
Haftformen oder ambulante Maßnahmen? Zu denken ist hier insbesondere
an eine Überwachung durch Electronic Monitoring ("Elektronischer Haus-
arrest" oder "Elektronische Fußfessel"). Diese Maßnahme findet sich in
europäischen Ländern mit traditionell niedrigen Gefangenenraten (z.B.
Schweden) ebenso wie in Ländern mit hohen Raten (z.B. England, Nieder-
lande).16 Einigkeit besteht darüber, dass der elektronisch überwachte Haus-
arrest nicht als weitere Hauptstrafe Eingang in das StGB tinden SOIl.17 Seit
einiger Zeit wird aber in Deutschland die Maßnahme in Hessen im Rahmen
der Vermeidung der Untersuchungshaft und der Strafaussetzung zur Bewäh-
rung eingesetzt. Geplant ist in Hessen auch der Einsatz im Rahmen der
Entlassungsfreistellung im Erwachsenen- und Jugendstrafvollzug; die recht-
liche Grundlage hierfür bietet § 16 Abs. 3 HessJStVollzG (bzw. künftig
auch § 16 Abs. 3 HessStVollzG). Der Einsatz ist insbesondere dann geplant,
wenn ansonsten eine negative Prognose durch bessere Kontrolle und
Betreuung vermieden werden kann. 18 Damit ließe sich in der Tat ein sog.
net-widening-Effekt verhindern. Allerdings sind die Voraussetzungen (z.B.
Unterkunft und Arbeit/Ausbildung müssen zur Verfügung stehen; wohl
auch grundsätzliche Eignung für vollzugsöffnende Maßnahmen) doch recht
hoch, so dass in diesen Fällen eher selten keine günstige Prognose gestellt
werden kann bzw. nur der Einsatz der Fußfessel zu einer positiven Prognose
fUhren würde. In Baden-Württemberg ist der Einsatz geplant im Rahmen
des Freigangs und der Ersatzfreiheitsstrafe. Bei letzteren dürfte die Anwen-
dung indes wieder an den hohen. Anforderungen scheitern. Damit bleibt ein
Anwendungsbereich vor allem bei vollzugsöffnenden Maßnahmen (z.B.
Außenbeschäftigung~ Freigang, offener Vollzug).19 Hier stellt sich aber das
Problem, dass eben Flucht- oder Missbrauchsgefahr nicht vorliegen darf. Es
erscheint wiederum sehr fraglich, ob eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr
gerade durch den Einsatz von Electronic Monitoring entscheidend verrin-
gert werden kann. Jedenfalls werden info1ge des doch sehr eingeschränkten
Anwendungsbereichs in diesen Ländern die Regelungen nicht zu einer
spürbaren Entlastung des Justizvollzugs und damit zu einer deutlichen Re-
duzierung der Gefangenenrate beitragen.

16 Vgl. dazu den Sammelband von Mayer/Haverkamp/Levy Will Electronic Monitoring


Have a Future in Europe?, 2003. Ferner Kaiser in: Kaiser/Schöch Strafvollzug, 5. Aufl. 2002,
§ 4 Rn. 26 ff.
17 KrahlNStZ 1997,457-461; Heghmanns ZRP 1999,297-301; Walter ZfStrVo 1999,287-
293; bereits ablehnend Schöch Gutachten 59.DJT, C 101, 'und nahezu einhellig 59. DJT,
Sitzungsberichte, 0 178; eher befürwortend aber Roxin GS Zipf, 1999, S. 135-146.
18 Vgl. Fünfsinn FS Eisenberg, 2009, S. 691,702 f.
19 Zusammenfassend LaubenthaI Strafvollzug, 5. Aufl. 2008, Rn. 6-8.
Zur weiteren Entwicklung des Strafvollzugs 341

Im Übrigen kommt auch die Reform des Sanktionenrechts nicht voran.


Nach den Anfängen in den 90er Jahren20 ist es um entsprechende Reform-
bemühungen sehr still geworden. In absehbarer Zeit sind hier Änderungen,
die sich auf die Belegung im Strafvollzug auswirken könnten, nicht in
Sicht. 21

111. Aktuelle Prognosen


1. Belegung
Wie bereits aufgezeigt, beruhen die unterschiedlichen Gefangenenraten in
Europa auf zahlreichen verschiedenen Faktoren. Eine grobe Einteilung lässt
sich wie folgt vornehmen: Zum einen beeinflussen Faktoren die Gefange-
nenraten, die im wesentlichen ihre Ursachen in allgemein politischen Um-
ständen haben: Die Höhe des Ausländeranteils und der Anteil von Migran-
ten im Zusammenhang mit deren Integration, die allgemeine wirtschaftliche
Entwicklung, die demografische Struktur der Bevölkerung. Zum anderen
besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Gefangenenrate und
der rechtspolitischen Entwicklung: Die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen,
die Verfolgung neuer Erscheinungsformen von Kriminalität, sei es durch
die Schaffung neuer Straftatbestände, sei es durch die intensivere Verfol-
gung bestehender Straftatbestände. Hierzu zählt auch der Einfluss der Mas-
senmedien, etwa auf die Strafzumessungspraxis der Gerichte. Der Schluss
liegt daher nahe, dass zwischen veränderten Kriminalitätsraten und Gefan-
genenraten kein konsistenter Zusammenhang besteht.22 Fraglich ist auch,
inwieweit sich verschlechternde ökonomische Bedingungen, insbesondere
Arbeitslosigkeit und Armut, direkt auf die Gefangenenrate auswirken. 23
Im Wesentlichen stehen sich hier zwei Hauptströmungen gegenüber.
Während einerseits eine Steigerung der Gefangenenrate dann prognostiziert
wird, wenn sich verschlechternde ökonomische Rahmenbedingungen auf
einen hohen Anteil von Ausländern und ethnischen Minderheiten treffen,24
halten andere den demografischen Faktor für ausschlaggebend. 25 Beide
Prognosen sind aber mit erheblichen Unsicherheiten verbunden: So kommt
es maßgeblich darauf an, inwieweit der Sozialstaat die Folgen wirtschaftli-
cher Beeinträchtigungen auffängt. Ein konkreter Zusammenhang zwischen

20 Hierzu Schäch Gutachten zum 59. DJT, 1992, unter C.


21 Der Koalitionsvertrag der Regierungsfraktionen enthält hierzu keine Vereinbarungen.
22 Dünkel (Fn. 9), S. 39.
23 Dünkel (Fn. 9), S. 40.
24 Dünkel (Fn. 9), S. 40.
25 Simonson (Fn. 9), S. 128 ff.
342 Frank Arloth

Arbeitslosigkeit und Straffälligkeit kann jedenfalls unter den Bedingungen


des deutschen Wohlfahrtsstaates nicht nachgewiesen werden. Diesbezüglich
richtig ist daher allenfalls, dass sich die Verbindung von strafrechtlich mo-
derater Sanktionierung und wohlfahrtsstaatlicher Orientierung stabilisierend
auf die Gefangenenrate auswirkt. 26
Demgegenüber liegt es auf den ersten Blick noch näher, dass die Krimi-
nalität vom demografischen Wandlungsprozess beeinflusst wird. Ältere
Bevölkerungsgruppen weisen vergleichsweise geringe Kriminalitätsraten
auf, jüngere dagegen deutlich höhere. Eine ganz andere Frage ist es aller-
dings, ob sich dies auch auf die Belegungszahlen in den Justizvollzugsan-
stalten auswirkt. Erste Forschungsergebnisse scheinen diese Skepsis zu
bestätigen. Danach hat sich die demografische Entwicklung bezogen auf
den Zeitraum von 1996 bis 2006 \veniger deutlich auf die Belegungszahlen
im Vollzug ausgewirkt, als möglicherweise zu vermuten gewesen wäre. 27
Allerdings gab es in diesem Zeitraum auch keine so deutliche Veränderung
in der demografischen Entwicklung, wie dies bis 2050 erwartet wird. Und
nicht geklärt ist auch, ob nicht andere Faktoren den Einfluss der demografi-
schen Entwicklung auf die Belegungszahlen im Justizvollzug gewisserma-
ßen kompensiert haben. Aber gerade Letzteres zeigt in aller Deutlichkeit,
welche Fülle von Faktoren Einfluss auf die weitere Entwicklung haben:
Autklärungsquote, Anzeigeverhalten, gesetzliche Strafverschärfungen,
Tendenzen zur Verhängung härterer Strafen, Änderungen bei vorzeitiger
Entlassung, wirtschaftliche Situation und Arbeitsmarkt, grenzüberschreiten-
de Kriminalität, neue Deliktsfelder wie Internet etc. 28 Angesichts dieses
Befundes möchte man daher eher Dünkel insoweit beipflichten, der der
demografischen Entwicklung einen eher untergeordneten Einfluss auf die
Gefangenenraten zumisst.

2. Unterbringung und Behandlung


Der Rückgang der Gefangenenzahlen beruht jedenfalls in Bayern im We-
sentlichen auf einem Rückgang der Untersuchungshaft- und Abschiebege-
fangenen, während die Belegung im Erwachsenenstrafvollzug und dabei vor
allem im sog. Regelvollzug (Gefangene, die bereits einmal lnindestens drei
Monate stationär untergebracht \varen) konstant hoch bleibt. Zugenommen
haben dabei vor allem die Gruppen der Gewalt- und Sexualstraftäter. Ferner
ist auch eine Zunahme der - wenn auch relativ kleinen Gruppe der - Siche-
rungsverwahrten zu beobachten. Dies spricht dafür, dass sich der Strafvoll-

26 Dünkel (Fn. 9), S. 43.


27 Simonson (Fn. 9), S. 135.
28 Dies wird auch von Simonson (Fn. 9), S. 136 ff. eingeräumt.
Zur weiteren Entwicklung des Strafvollzugs 343

zug noch weiter zunehmend auf die Behandlung von schwierigen Gefange-
nen, d.h. von Gefangenen mit langen Freiheitsstrafen und von Gefangenen
mit erheblichen Persönlichkeitsstörungen einzustellen hat. Gefangene, die
ein erhebliches Gewaltpotenzial mitbringen, sind zunächst entsprechend
unterzubringen. Dies bedeutet, dass Gefangene grundsätzlich einzeln unter-
zubringen sind, weil die gemeinschaftliche Unterbringung von Gefangenen
während der Ruhezeit die Gefahr von Konflikten und Übergriffen birgt und
resozialisierungsfeindlich wirken kann. Deshalb ist der Abbau von Gemein-
schaftshaft - auch durch die Schaffung neuer Haftplätze - ein vordringli-
ches Ziel des Strafvollzugs.
Kein Ziel des Strafvollzugs kann es sein, Gefangene auf Dauer einfach
wegzusperren und so die Sicherheit der Allgemeinheit zu gewährleisten.
Alleiniges Ziel des Vollzugs kann nur die Resozialisierung der Gefangenen
sein; damit wird Rückfall verhindert und die Allgemeinheit vor weiteren
Straftaten nach der Entlassung geschützt. Dies stellt aber natürlich auch eine
Aufgabe des Strafvollzugs dar, wie sich aus der Überschrift zu § 2 StVollzG
ergibt. Daneben besteht die weitere Aufgabe, die Allgemeinheit vor weite-
ren Straftaten während des Vollzugs zu schützen. Hierbei handelt es sich
somit um negative Spezialprävention und nicht etwa um Generalpräven-
tion. 29 Es ist das Verdienst von Schöch, dies mit aller Klarheit herausgear-
beitet zu haben. 30 Hieran hat sich auch durch die Neuregelungen der Länder
nichts Wesentliches geändert. 31 Streit besteht heute lediglich darüber, wie
das Spannungsverhältnis zwischen Resozialisierung auf der einen Seite und
Sicherheit auf der anderen Seite zu lösen ist, wenn beide Aufgaben in einen
Zielkonflikt geraten. Schöch plädiert auch hier rur den Von ang des Voll- 4

zugsziels. 32 Demgegenüber vertritt der Verfasser die Meinung, dass es sich


grundsätzlich um gleichrangige Aufgaben handelt, deren Spannungsver-
hältnis nur aufgrund einer Einzelfallbetrachtung aufzulösen ist. 33 So wird
einerseits in zahlreichen Bestimmungen des StVollzG das Vollzugsziel als
entscheidendes Regulativ erwähnt (z.B. §§ 4 Abs. 1, 31 Abs. 1 Nr. 1, 68
Abs. 2 S. 2, 70 Abs. 2 Nr. 2). Andererseits dürfen etwa Behandlungsmaß-
nahmen wie Vollzugslockerungen und Urlaub aus der Haft nicht angeordnet
werden, wenn Flucht- oder Missbrauchsgefahr vorliegt (§§ 11 Abs. 2, 13
Abs. 1 S. 2 StVollzG). Straftaten können aber auch bei anderen Behand-
lungsmaßnahmen drohen und sind nicht notwendig mit Flucht- oder Miss-

29 Arloth StVollzG, 2. Aufl. 2008, § 2 Rn. 10.


30 Fn. 16, § 6 Rn. 21 ff.
31 Arloth GA 2008, 129 ff.~ ders. (Fn. 29), Er!. zu Art. 2 BayStVollzG und § 5 NJVollzG.
32 Fn. 16, § 6 Rn. 10 f.
33 Arloth (Fn. 29), § 2 Rn. 10.
344 Frank Arloth

brauchsgefahr verbunden (z.B. bei Besuchen §§ 23-27 StVollzG, bei Besitz


von Gegenständen §§ 67-70 StVollzG).
Dies ändert aber nichts daran, dass der gesamte Strafvollzug sich am Ziel
der Resozialisierung auszurichten hat. Deshalb kommt einer erfolgreichen
Behandlung von Straftätern maßgebende Bedeutung zu. Es ist daher in
Zukunft besonders wichtig, die Behandlungsforschung zu intensivieren.
Dabei geht heute nicht mehr so sehr um die Frage der generellen Wirksam-
keit von Behandlungsmaßnahmen; davon ist nunmehr auszugehen. 34 Künf-
tig muss Schwerpunkt der Forschung sein, bei welchen Gefangenen eine
Maßnahme wirkt und/oder unter welchen vollzuglichen oder maßnahmebe-
zogenen Bedingungen sie wirksameer) ist. 35 Dabei kommt auch dem weite-
ren Ausbau der Sozialtherapie eine wichtige Rolle zu.
Auch wenn die demografische Entwicklung keinen entscheidenden Ein-
fluss auf die Belegungszahlen haben wird, ist doch davon auszugehen, dass
sich zunehmend ältere Gefangene im Strafvollzug befinden werden. Dies ist
schon jetzt absehbar. So stieg der Anteil der über 60-jährigen Gefangenen
von 1,51 % im Jahre 1992 auf nunmehr 3,41 % im Jahre 2008. 36 Dies mag
nicht zuletzt auch daran liegen, dass sich vermehrt Gefangene mit (wieder-
holt) langen Freiheitsstrafen im Vollzug befinden. Hierauf muss auch der
Vollzug reagieren: Auch wenn es sich bei älteren Strafgefangenen um eine
heterogene Gruppe handelt, müssen doch alterspezifische Behandlungsan-
gebote vorgehalten werden. Da über 65-jährige Gefangene nicht mehr der
Arbeitspflicht unterliegen, erlangt rur sie der Freizeitbereich größere Bedeu-
tung. Hier sind alterspezifische Freizeitmöglichkeiten vorzusehen. 37 Auch
gewinnt der Verkehr mit der Außenwelt noch stärkeres Ge\\-'icht, da schon
in Freiheit ältere Menschen vermehrt in Einsamkeit geraten. Deshalb
kommt dem Besuch, dem Schriftverkehr und auch den Vollzugslockerun-
gen gesteigerte Bedeutung zu. Femer ist die Entlassungsvorbereitung weni-
ger auf die (Re-)Integration in den Arbeitsmarkt als auf die Förderung und
Erhaltung der Selbständigkeit auszurichten. 38 Und schließlich stellt auch die
Gesundheitsrursorge fur ältere Gefangene eine besondere Herausforderung
dar, gilt es doch, vermehrt auf pflegebedürftige Gefangene Rücksicht zu
nehmen. Umstritten ist allerdings, ob den besonderen Behandlungs- und
Betreuungsbedürfnissen älterer Gefangener durch die Einrichtung gesonder-
ter Abteilungen bzw. eigener Justizvollzugseinrichtungen Rechnung getra-

34 Ar!oth (Fn. 29), § 9 Rn. 7 m.w.N.


35 Suhling (Fn. 9), S. 111-123.
36 Statistisches Bundesamt Strafvollzug, Fachserie 10 Reihe 4.1 Tabelle 2; Laubentha! FS
Seebode, 2008, S.499-500.
37 Weitere Einzelheiten Laubentha! (Fn. 36), S. 508~ Görgen/Greve BewHi 2005, 116 ff.~
Scho!bach/Krüger Forum Strafvollzug 2009, 130-134 f.
38 Scho!bach/Krüger (Fn. 37), 130-134.
Zur weiteren Entwicklung des Strafvollzugs 345

gen werden soll oder ob sie weiterhin in den "normalen" Vollzug integriert
werden sollen. 39 Für die gesonderte Unterbringung spricht, dass gerade
ältere Gefangene subkulturellen Einflüssen und Gewalttätigkeiten aufgrund
ihrer natürlichen Opferrolle verstärkt ausgesetzt sind. 40 Dieses Argument ist
ernst zunehmen, gilt aber grundsätzlich auch rur viele andere Gefangene,
bei denen - aus welchen Gründen auch immer - das ViktiInisierungsrisiko
erhöht ist. Hinzu kommt, dass die Anforderungen an Betreuung, bauliche
Einrichtung und medizinische Versorgung weniger vom Alter als vielmehr
vom individuellen Gesundheitszustand des Inhaftierten abhängen. Insoweit
ist nämlich die Gruppe der älteren Gefangenen in der Tat zu inhomogen.
Schon die Definition ist nicht eindeutig zu treffen. So ist bereits fraglich, ab
wie viel Jahren überhaupt von älteren Gefangenen gesprochen werden
kann. 41 Deshalb erscheint es auch unter dem allgemeinen Gesichtspunkt des
"Abschiebens" älterer Menschen in Altenheime wichtig, hier durch die
Einbindung in den Normalvollzug einer Ausgrenzung entgegenzuwirken.
Auch nach den Empfehlungen des Europarats vom 8.4. 1998 R (98)7 über
ethische und organisatorische Aspekte der gesundheitlichen Versorgung in
Vollzugsanstalten sollen Gefangene im fortgeschrittenen Alter so unterge-
bracht werden, dass sie ein normales Leben rühren können, und sollen sie
von den allgemeinen Gefangenen nicht abgesondert werden (Abschnitt C
Nr. 50). Ferner kann es durchaus wichtig sein, allgemeine Arbeitsplätze für
Gefangene bis 65 Jahre, aber auch wenn nicht mehr der Arbeitspflicht
unterliegend - auch darüber hinaus für Gefangene über 65 Jahre vorzuhal-
ten. Dies ist aber nur in einer größeren Justizvollzugsanstalt möglich. Des-
halb greift auch nicht das Argument, eine gesonderte Unterbringung sei
aufgrund der besonderen Bedürfnisse älterer Gefangener erforderlich. 42
Denn selbstverständlich hat eine entsprechend ausgestattete Anstalt auch die
Möglichkeiten, hierrur entsprechende Behandlungs- und Betreuungsangebo-
te vorzusehen. Und sch"ließlich spricht gerade der Umstand verlnehrter Au-
ßenkontakte, insbesondere des Besuchs, zumindest in einem Flächenstaat
gegen eine allzu starke Zentralisierung der Unterbringung.

39 So etwa in Baden-Württemberg die Außenstelle Singen der JVA Konstanz oder in Hessen
die besondere Abteilung der JVA Sch\valmstadt bzw. in Sachsen in der JVA Waldheim. Siehe
auch die Länderübersicht bei Scholbach/Krüger (Fn. 37), 130-134. Zur Fachdiskussion vgl.
Forum Strafvollzug Heft 3, 2009 und KrinlPädPraxis 45, 2007. Ausführlich Legat Ältere
Menschen und Sterbenskranke im Strafvollzug, 2009, S. 70 ff.
40 LaubenthaI (Fn. 19), Rn. 71; ders. (Fn. 36), S. 509 ff.
41 Vgl. Scholbach/Krüger (Fn. 37), .130-131.
42 So aber Kaiser (Fn. 16), § 10 Rn. 103.
346 Frank Arloth

3. Ausbau des Übergangsmanagements und des Risikomanagements


Das Übergangsmanagement dient dazu, die Basis für einen bestmöglichen
Übergang der Inhaftierten von der straff geregelten Situation des Vollzugs
zu der komplexen Lebenssituation nach der Entlassung zu schaffen und
damit eine optimale soziale Reintegration der Gefangenen zu erreichen
("Brücke in die Freiheit").43 Denn es ist inzwischen eine Binsenweisheit,
dass die Rückfallgefahr statistisch in den ersten Wochen bis zu sechs Mona-
ten am höchsten ist.44
Behandlungsuntersuchung, Erstellung und Fortentwicklung des Voll-
zugsplans sowie das Übergangsmanagement sind integrale Bestandteile
eines Gesamtprozesses, in dessen Mittelpunkt die Durchführung von voll-
zuglichen Behandlungsmaßnahmen steht. Positive Behandlungseffekte (z.B.
nach Zuweisung von sinnvoller Arbeit, schulischelberufliche Aus- und
Fortbildungsmaßnahmen, Hinführung zur sinnvollen Freizeitgestaltung)
bzw. Erfolge nach Durchführung einer Sozialtherapie oder einer Anti-
Gewalt-Trainingsmaßnahme sind oftmals gefahrdet, wenn das stützende
Korsett des Vollzuges mit der Entlassung von einem Tag auf den anderen
wegbricht. Deshalb ist ein effektives Übergangsmanagement, bei dem alle
maßgeblichen Stellen frühzeitig eng zusammenarbeiten, unverzichtbar.
Ein Beispiel für den gesetzlichen Rahmen eines solchen Übergangsmana-
gements findet sich u.a. im BayStVollzG. Danach ist den Gefangenen ins-
besondere zu helfen, Arbeit, Unterkunft und persönlichen Beistand für die
Zeit nach der Entlassung zu finden (Art. 79 BayStVollzG). Die Anstalten
sollen mit Behörden, Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege, Vereinen und
Personen, deren Einfluss die Eingliederung fördern kann, eng zusammenar-
beiten (Art. 175 Abs.2 BayStVollzG). Art. 175 Abs.4 BayStVollzG ver-
pflichtet die Anstalten, soweit erforderlich, zur Entlassungsvorbereitung
insbesondere mit der Bewährungshilfe, den Führungsaufsichtsstellen und
den Einrichtungen der Strafentlassenenhilfe frühzeitig Kontakt aufzuneh-
men. Ist zu erwarten, dass eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung
erfolgt und ein Bewährungshelfer beigeordnet wird, nimmt die Anstalt
frühzeitig mit der zuständigen Bewährungshilfe Kontakt auf, um die
Betreuungsmaßnahmen für die Gefangenen abzustimmen. Die Bewäh-
rungshilfe arbeitet mit der Anstalt im Rahmen der Entlassungsvorbereitung
schon während des Vollzuges zusammen, um einen bestmöglichen Über-
gang der Betreuung zu gewährleisten. 45
Auch für die Zeit nach der Entlassung wurden Regelungen geschaffen,
wonach der Vollzug den Entlassenen in Krisensituationen helfen kann.

43 Vgl. dazu die Beiträge in Forum Strafvollzug2009, Heft 2.


44 Eisenberg Kriminologie, 5. Aufl. 2000, § 37 Rn. 32,42 f. m.w.N.
45 Nr. 2 Abs. 2 und 4 Bayerische Venvaltungsvorschriften zu Art. 175 BayStVollzG.
Zur weiteren Entwicklung des Strafvollzugs 347

Nach Art. 81 BayStVollzG kann die j\nstalt auf Antrag der Gefangenen
nach der Entlassung vorübergehend Hilfestellung im Einzelfall gewähren,
soweit diese nicht anderweitig durchgeführt werden kann und der Erfolg der
Behandlung der Gefangenen gefährdet ist (punktuelle Fortführung der
Betreuung, insbesondere Entschärfung akuter Krisensituationen). Nach
Art. 119 BayStVollzG sollen die sozialtherapeutischen Einrichtungen nach
Entlassung der Gefangenen die im Vollzug begonnene Betreuung vorüber-
gehend fortführen, soweit diese nicht anderweitig durchgeführt werden
kann. Nach Art. 120 BayStVollzG können frühere Gefangene unter be-
stimmten Voraussetzungen vorübergehend wieder in die sozialtherapeuti-
sche Einrichtung aufgenommen werden. Für junge Gefangene sieht Art. 137
Abs.2 BayStVollzG einen so genannten "Notanker" vor. Insbesondere
können junge Gefangene unter bestimmten Umständen auch vorübergehend
über den Entlassungszeitpunkt hinaus in einer Abteilung des offenen Voll-
zugs verbleiben oder in einer solchen nach ihrer Entlassung wieder aufge-
nommen werden.
Allerdings hängt der "Erfolg" eines solchen -Übergangsmanagements we-
sentlich davon ab, dass das Gesetz in der Vollzugspraxis auch durch ent-
sprechende personelle und sachliche Ausstattung umgesetzt wird.

4. Privatisierung auf'dem Prüfstand


Modeme Justizvollzugsanstalten, ein ausreichender Personalschlüssel, die
Intensivierung von Behandlungsmaßnahmen und ein gutes Übergangsma-
nagement kosten viel Geld. Es verwundert daher nicht, dass - insoweit nach
Vorbildern in den USA und England - "private Haftanstalten" auch in
Deutschland entstehen. Insoweit ist allerdings zu unterscheiden z\\;jschen
dem Bau und dem Betrieb einer Anstalt. Der Bau einer Anstalt im Wege
einer sog. public private partnership ist eine rein finanzpolitische Frage, die
allerdings zunehmend skeptischer beurteilt wird. 46
Beim Betrieb einer Anstalt besteht insoweit Einigkeit, als eine vollständi-
ge Privatisierung des Betriebs nicht in Betracht kommt. 47 Verfassungsrecht-
lich zulässig dürfte indes die Teilprivatisierung dort sein, wo es nicht um
die Ausübung "hoheitlicher Befugnisse" i. S. v. AI1. 33 Abs. 4 GG geht. 48
Damit können von vorneherein weder die Anwendung unmittelbaren
Zwangs (§§ 94 ff. StVollzG) noch die Verhängung von Disziplinarmaß-

46 So erwies sich in Bayern der Bau einer Anstalt in Gablingen im Wege eines ppp-Projekts
als teurer.
47 Arloth (Fn. 29), § 155 Rn. 2; Calliess/Müller-Diet:: StVollzG, 11. Autl. 2008, Einl. Rn. 45
und § 155 Rn. 7; Schöch (Fn. 16), § 5 Rn. 76; LaubenthaI (Fn. 19), Rn. 44 ff.
48 Arloth (Fn. 29), § 155 Rn. 2; Calliess/Müller-Diet:: (Fn. 47), § 155 Rn. 3; Schöch
(Fn. 16), § 5 Rn. 76; LaubenthaI (Fn. 19), Rn. 45; ders. GS Blomeyer, 2004, 416-421 m.w.N.
348 Frank Arloth

nahmen (§§ 102 ff. StVollzG) Privaten übertragen werden; dies gilt aber
auch für die grundlegenden Entscheidungen über den Ablauf der Behand-
lung (§§ 5-16, 23 ff. StVollzG).49 Denn auch der Behandlungsauftrag ist
verfassungsrechtlich fundiert und legitimiert und lässt sich ohnehin nur
schwerlich von dem Bereich der Freiheitsbeschränkungen trennen. So sind
Vollzugslockerungen oder Hafturlaub als Behandlungsmaßnahmen un-
trennbar mit einer Lockerung des Freiheitsentzuges verbunden. Deshalb
können beispielsweise "private" Psychologen zwar zur Behandlung von
Gefangenen eingesetzt werden, die Entscheidung über konkrete Behand-
lungsmaßnahmen verbleibt aber bei den zuständigen Vollzugsbediensteten;
in einer etwaigen Konferenz (vgl. § 159 StVollzG) wären die Privaten allen-
falls "Gast". Verfassungsrechtliche Grenzen setzt des weiteren Art. 12 111
GG, der zwar die Pflichtarbeit zulässt, jedoch nur unter der Verantwortung,
d. h. Überwachung und Aufsicht, der Vollzugsbehörde. 50
Einfach-rechtliche Beschränkungen ergeben sich schließlich aus § 155
Abs. 1 StVollzG, wonach die Aufgaben von Vollzugsbeamten wahrge-
nommen werden und die Aufgaben nur aus besonderen Gründen auf ver-
traglich verpflichtete Personen übertragen werden dürfen, sowie aus § 156
Abs. 2 S. 2 StVollzG, wonach die Gesamtverantwortung der Anstaltsleiter
trägt. Besondere Gründe i. S. von § 155 Abs. 1 S. 2 StVollzG liegen vor,
wenn die Anstalt aus Gründen der Behandlung auf die Mitarbeit von beson-
deren Fachkräften außerhalb des Vollzugs zurückgreifen muss. 51 Private
Sicherheitskräfte, die die Gefangenen beaufsichtigen sollen, stellen aber
keine solchen besonderen Fachkräfte dar. Auch Personalengpässe bei der
Behandlung von Gefangenen können allenfalls bei einer nicht vorhersehba-
ren und kurzfristigen Notlage zur Behebung dieser vorübergehenden Notla-
ge den Einsatz Privater rechtfertigen, nicht jedoch auf Dauer. 52 Demgegen-
über erlaubt § 178 Satz 1 NJVollzG eine Aufgabenwahrnehmung durch sog.
Verwaltungshelfer. Danach ist zwar die Ausübung hoheitsrechtlicher Be-
fugnisse als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen
Dienstes zu übertragen. Eine Beauftragung im Bereich der reinen Leis-
tungsverwaltung ist nach der Formulierung jedoch ohne weitere Einschrän-
kung zulässig. Die ständige Übertragung von Vollzugsaufgaben der Be-
handlung der Gefangenen und der Gewährleistung der Sicherheit der

49 Arloth (Fn. 29), § 155 Rn. 2.


50 BVerfGE 98, 169 = NJW 1998, 3337; dazu auch LaubenthaI (Fn. 19), Rn. 50; Gusy/
Lührmann StV 2001, 46,51 f.
51 RegE, BT-Drs. 7/918, S. 96; Calliess/Müller-Diet= (Fn. 47), § 155 Rn. 6.
52 Calliess/Müller-Dietz (Fn. 47), § 155 Rn. 10; LaubenthaI (Fn. 19), Rn. 46; Arloth ZfStrVo
2002,3-5.
Zur weiteren Entwicklung des Strafvollzugs 349

Allgemeinheit (§ 2 StVollzG) auf sog. beliehene Unternehmer ist aber nach


dem StVollzG und auch nach § 178 Satz 2 NJVollzG nicht möglich. 53
De lege ferenda befürwortet Schöch eine wenn auch vorsichtige Übertra-
gung von Teilaufgaben. 54 Allerdings ist die Übertragung etwa auf beliehene
Unternehmer unter der Prämisse des Funktionsvorbehalts in Art. 33 Abs. 4
GG auf jene Fälle beschränkt, in denen die Wahrnehmung hoheitsrechtli-
cher Befugnisse durch Private nach dem Gesamtbild der Tätigkeit nur eine
untergeordnete Rolle spielt. Zudem muss ein sachlicher Grund für die Auf-
gabenübertragung vorliegen. Allerdings können rein fiskalische Erwägun-
gen nach überwiegender Auffassung gerade keine Übertragung rechtferti-
gen. 55 Damit beschränkt sich der Einsatz privater Anbieter nach der
derzeitigen Rechtslage im Wesentlichen auf Dienst- und Serviceleistungen
(z.B. in Bereichen der Reinigung, Küche, Wäscherei und des Einkaufs) oder
auf Überwachungsaufgaben ohne Eingriffscharakter im Wege der Verwal-
tungshilfe (z.B. bei der Überwachung von Monitoren oder anderen Siche-
rungseinrichtungen). 56 Im letzteren Fall müssen aber Vollzugsbedienstete
ständig in der Anstalt präsent und erreichbar sein. 57
Im Übrigen steht der Beweis dafür, dass eine Teilprivatisierung kosten-
günstiger ist, noch aus. Bayern hat bislang von einer Privatisierung abgese-
hen und hat immer noch die niedrigsten Haftkosten unter den Ländern.
Zwar kommt jedenfalls eine Mehrzahl der zahlreichen Studien aus den USA
zu Kosteneinsparungen in Höhe von 10-15 %.58 Doch gibt es gerade auch
aus jüngster Zeit zwei amerikanische Untersuchungen, die unabhängig
voneinander zu dem Ergebnis kommen, dass die bisher vorhandenen Stu-
dien zu Kosten, Qualität und Nutzen aufgrund ihres angreifbaren methodi-
schen Ansatzes keine oder allenfalls eingeschränkte Aussagen über eine

53 Arloth (Fn. 29), § 155 Rn. 3 und Erl. zu § 178 NJYollzG.


54 Schöch (Fn. 16), § 5 Rn. 76 f.
55 Zutreffend Gusy/Lührmann StY 2001, 46-51 m.w.N.~ a. A. Bonk JZ 2000, 435-439~ wei-
tere erhebliche Bedenken bei Calliess/Müller-Diet= (Fn.47), § 155 Rn. 3-5~ Laubenthai
(Fn. 19), Rn. 47-50, ders. (Fn. 48), S. 423 ff.
56 Arloth ZfStrVo 2002, 3-5~ noch enger Calliess/Müller-Dietz (Fn. 47), § 155 Rn. 11 ~ im
Einzelnen ist hier die zu übertragende Tätigkeit genau zu analysieren~ dazu näher Böhm Straf-
vollzug, 3. Aufl. 2003, Rn. 85 ff.~ Gusy/Lührmann (Fn. 55), 46, 52 ff.~ Wagner ZRP 2000, 169,
171 f.
57 Gramm YerwArch 1999, 329 340, 342~ Gusy/Lührmann (Fn. 55), 46-54~ a.A. Lange
DÖV 2001, 898-904. Weitere Differenzierungen können sich im offenen Vollzug ergeben, wo
die Aufsicht ohnehin gelockert ist (vgl. §§ 10, 141 II StVollzG)~ vgl. Schöch (Fn. 16), § 5
Rn. 76.
58 Ausführlich dazu Nibbeling Die Privatisierung des Haftvollzugs, 2001, S. 151 ff. m.w.N.
mit Bespr. Arloth GA 2001, 457.
350 Frank Arloth

tatsächliche Effizienzsteigerung durch Privatisierung ermöglichen. 59 Der


Nachweis einer Kostenersparnis dürfte daher bisher nicht erbracht sein.
Daneben bleibt bei diesem Streit über die Kostenersparnis unberücksichtigt,
ob das Ziel des Strafvollzugs - und dies kann nur das Vollzugsziel der Re-
sozialisierung sein (§ 2 Satz 1 StVollzG) -- von einem "Privatisierungsmo-
dell" besser erreicht werden kann. Angesichts aber bislang kaum brauchba-
rer amerikanischer Rückfalluntersuchungen (im Wesentlichen eine Studie
mit je 198 Probanden mit einer Wiederinhaftierungsquote von 10 % bei
Gefangenen aus der privaten Anstalt und von 14 % bei Gefangenen aus der
öffentlich-rechtlichen Anstalt) ist auch dieser Nachweis keineswegs als
erbracht anzusehen. 60

IV. Ausblick
Und auch 2010 gilt: Das Ende des klassischen Strafvollzugs ist nicht in
Sicht, wesentliche Änderungen durch neuartige Sanktionen oder neue Maß-
nahmen nicht zu erwarten. Allerdings ist mit einer leichten Entspannung bei
der Belegung zu rechnen. Die Gefangenenpopulation dürfte indes eher
schwieriger werden. Es bleibt daher nur übrig, am Reformkonzept, eingelei-
tet durch das StVollzG, und am Vollzugsziel der Resozialisierung festzuhal-
ten. Dazu gibt es keine sinnvolle Alternative. 61 Die bisher vorliegenden
Ländergesetze in Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg, Hessen und Nie-
dersachsen haben diesen Weg entgegen manchen Unkenrufen nicht verlas-
sen. Ohnehin gilt für den Gesetzesvollzug, dass die hierfür notwendigen
Mittel bereitgestellt werden müssen; erst unter diesen Bedingungen kann
der Erfolg des Behandlungsvollzugs im Sinne einer Erfolgskontrolle beur-
teilt werden. Aufgabe der Vollzugspolitik ist es auch, das Bewusstsein der
Bevölkerung dahingehend zu schärfen, dass die Verhinderung von Rückfall
durch eine erfolgreiche Resozialisierung der beste Schutz der Gesellschaft
vor weiteren Straftaten ist. Resozialisierung ist aber nicht zum Nulltarif zu
haben. Deshalb wird es entscheidend davon abhängen, wie viel Geld die
Gesellschaft bereit ist, in einen Behandlungsvollzug zu investieren. Daran
ist auch der Stand der Zivilisation zu messen. 62

59 Dazu Basch/Reichert ZStW 113 (2001),207,230 ff. m.w.N.; i. Erg. auch Walter (Fn. 13),
Rn. 149; krit. ferner Mühlenkamp DÖV 2008, 525-534.
60 Zu Recht krit. zu dieser Studie Rasch/Reichert (Fn. 59), 241 ff.
61 Schöch (Fn. 16), § 5 Rn. 18 aE.
62 Vgl. das Zitat in GA 2001,307-324.
IV. Materielles Strafrecht
Zur Symbolik des Strafrechts

KARL-LUDWIG KUNZ

«Ainsi, la vie sociale, sous tous ses aspects et a tous les mo-
ments de son histoire, n' est possible que gräce a un vaste
symbolisme.» 1
«Es ist eine unbefriedigende Ansicht, welche in solchen
Symbolen biose leere Erfindung zum Behuf der gerichtlichen
Form und Feierlichkeit erblickt. Im Gegentheil hat jedes der-
selben gewisz eine dunkle, heilige und historische Bedeutung;
mangelte diese, so würde der allgemeine Glaube daran und
seine herkömmliche Verständlichkeit fehlen.»2

I.
Die aktuelle Diskussion über symbolisches Strafrecht bezieht sich auf das
(spät)modeme Strafrecht3 und entwickelt in der Auseinandersetzung mit
diesem den Vorwurf einer Täuschung vermittels Symbolik im Sinne einer
"gleißnerische(n) Vorspiegelung gesetzlicher Effektivität und Instrumentali-
tät"4. Die Kritik konzentriert sich auf die heutige Strafgesetzgebung, die
ihre Anwendungsfelder beliebigen Regulierungsbedürfnissen folgend ins
Uferlose weitet und dabei die traditionelle Dignität und die begrifflich-
systematische Formstrenge des Strafrechts einbüßt. Vorgetragen wird eine
Differenz von Wirklichkeit und Schein, von manifesten und latenten Funk-
tionen der Gesetze, wobei die Kluft zwischen normativ in Anspruch ge-
nommenen und effektiv ausgeübten Wirkungen gemeint ist5 und dies mit
der Erosion des traditionellen Strafrechts in der Risikogesellschaft6 in Zu-
sammenhang gebracht wird. Während die wirkliche, objektive Potenz der

1 Durkheim Les formes elementaires de la vie religieuse, 1912, S. 331.


2 Grimm Von der Poesie im Recht, 1957, S. 74 f.
3 Dazu Kunz Kriminologie. Eine Grundlegung, 2008, S. 318 ff.
4 So etwa Hassemer NStZ 1990, 553, 556. Daneben Amelung ZStW 92 (1980), 19 ff., 54 ff.~
Hegenbarth ZRP 1981, 201 ff.~ Voss Symbolische Gesetzgebung: Fragen zur Rationalität von
Strafgesetzgebungsakten, 1989.
5 Hassemer (Fn. 4), 553, 555.
6 Seelmann KritV 1992, 452, 1004 ff., 1017.
354 Karl-Ludwig Kunz

neuen Strafgesetzgebung zum Rechtsgüterschutz als gering eingeschätzt


wird, gaukeln die symbolischen Gesetze eine hohe Bewirkungspotenz vor
und erzielen damit einen Prestigegewinn für die am Gesetzgebungsprozess
Beteiligten. 7 Gegen dieses Verständnis eines Problemlösungskompetenz nur
vortäuschenden symbolischen Strafrechts wird eingewandt, dass Recht, und
erst recht Strafrecht, grundsätzlich Symbolcharakter besitzt und die bloß
scheinbar kritische 8 Abgrenzung eines solchen "schlechten" symbolischen
Strafrechts von einem theoretisch wie empirisch inexistenten "guten", rein
instrumentell auf Rechtsgüterschutz bezogenen, Strafrecht in Wahrheit zu
einer Verklärung des Strafrechts beitrage. 9
Im Folgenden will ich mich nicht mit der Thematik des "schlechten"
symbolischen (spät)modernen Strafrechts befassen, sondern das bislang
eher vernachlässigte analytische Interesse an der Symbolik des Strafrechts
schlechthin aufgreifen. Dabei gilt es, das Thema über den Schrebergarten
des Strafrechts hinausblickend an die kultur- und sozialwissenschaftliche
Diskursanalyse heranzuführen. Im Verweis auf kollektiv geteilte Sinnwel-
ten, die der Integration der Gruppenmitglieder dienen und ein Medium ihrer
Abgrenzung bilden, ist die Setzung und Durchsetzung von Strafrecht not-
wendigerweise symbolisch. lO Wo der Verweis stark verdichtend erfolgt, wo
Sachprobleme durch suggestive Emotionalisierung verzerrt werden und wo
eine real nicht zu erwartende Wirkungspotenz manipulativ beschworen
wird, gerät die wesenseigene Symbolik des Strafrechts zur expressiv täu-
schenden. Obgleich das Umkippen von der wesenseigenen in eine schlechte
Symbolik nur durch eine Steigerung der symbolimmanenten Eigenschaften
erfolgt, sind beide Begriffe des Symbolischen artverschieden und zu unter-
scheiden. 11

7 Hassemer FS Roxin, 2001, S. 1001.


8 So aber Voss Symbolische Gesetzgebung. Fragen zur Rationalität von Strafgesetzgebungs-
akten, 1989, S. 2 f., 25 ff.~ ferner Hassemer a.a.O., S. 1010 f.
9 Müller Kriminologisches Journal 25 (1993), 82~ Lehne KrimJ 26 (1994), 210~ Sack in:
Dollinger/Schmidt-Semisch (Hrsg.), Handbuch Jugendkriminalität. Kriminologie und (So-
zial-)Pädagogik im Dialog, 2009.
10 So bereits Noll ZSR 1981,347,9 ff. für die Gesetzgebung.
11 Hassemer (Fn. 7), S. 1012 schlägt für die systemimmanente Symbolik des Strafrechts den
Begriff "kommunikatives Strafrecht" vor. Demgegenüber wird im Folgenden gezeigt, dass das
Strafrecht, anders als die "gewöhnliche" Kommunikation, vorwiegend Verdichtungssymbole
verwendet und deshalb die Symbolik des Strafrechts nicht einfach mit Kommunikativität
gleichzusetzen ist.
Zur Symbolik des Strafrechts 355

11.
Unter "Symbol" versteht man einen sinnbildhaften Bedeutungsträger,
dessen Ausdruckskraft eine über seine förmliche Gestalt hinausweisende
Bedeutung besitzt. Ein Symbol verweist stellvertretend auf etwas nicht in
ihm direkt Enthaltenes, sondern damit assoziativ Gemeintes. 12 Während in
Symbolsystemen, die der praktischen Verständigung im Alltag (etwa: Ver-
kehrszeichen) dienen, Verweisungssymbole benutzt werden, die allgemein
verständlich und eindeutig auf ein damit Bezeichnetes verweisen, verwen-
den Symbolsysteme der Religion, Kunst, Kultur und Gesellschaft vorwie-
gend Verdichtungssymbole, die eine Vielzahl von Geschehnissen unter
emotionalen Vorzeichen in einem einzigen symbolischen Ausdruck bün-
deln.
Verdichtungssymbole enthalten einen Bedeutungsüberschuss, der auf
Sinnzusammenhänge verweist, welche im kollektiven Bewusstsein
schlummern und durch den Einsatz von Symbolen aktiviert werden. Ver-
dichtungssymbole sind einer dauernden Überprüfung an der erfahrbaren
Wirklichkeit wie überhaupt einer Beeinflussung durch den Einzelnen entzo-
gen. Das Repertoire solcher "tiefgründig" verdichtender Symbolsysteme
bezeichnet man als Symbolik.
Die Symbolik gesellschaftlichen HandeIns wurde zu einem Thema der
sozialwissenschaftlichen Forschung, seitdem diese sich postpositivistisch
dem interpretativen Paradigma zuwandte und ihr Interesse an der sprach-
vermittelten Wahrnehmung und Konstruktion sozialer Wirklichkeit 13 fand.
Unter dem Einfluss von Michel Foucaults Studien über die Zusammenhän-
ge von diskursiven Praktiken, übersubjektiven Wissensordnungen und
Macht 14 wurde der soziale Gebrauch von Sprache speziell bei der Analyse
sozialer Kontrolle und Kontrollsysteme zum zentralen und unausweichli-
chen Thema der wissenschaftlichen Betrachtung. Bestimmend dafür war der
Umstand, dass soziale Kontrolle in spätmodernen Gesellschaften weitge-
hend diskursiv, also über Kommunikation und symbolische Praktiken, aus-
geübt wird. 15

12 Vgl. zusammenfassend etwa Duden Deutsches Universalwörterbuch, 2007: Symbol;


Wahrig Deutsches Wörterbuch, 2002: Symbol. Vgl. auch White Philosophy of Science 7
(1940), 451 , 453: "The meaning, or value, of a symbol is in no instance derived from or de-
termined by properties intrinsic in its physical form".
13 Für die Kriminologie dazu Kunz Die wissenschaftliche Zugänglichkeit von Kriminalität.
Ein Beitrag zur Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaften, 2008, S. 77 ff.
14 Foucault Archäologie des Wissens, 2007, orig. 1981; Foucault Die Ordnung des
Diskurses, 2007, orig. 1974.
15 Garland Kultur der Kontrolle. Verbrechensbekämpfung und soziale Ordnung in der
Gegenwart, 2008, S. 262 f.
356 Karl-Ludwig Kunz

Die Symbolik öffentlicher Diskurse ist durch Rituale geprägt. Rituale sind
kulturelle Handlungsformen (<<cultural perjormances») 16 unter Verwendung
von Symbolen. Sie bestehen in grundsätzlich beliebigen, jedoch institutio-
nell festgelegten, mit einer gewissen Feierlichkeit in den Alltag eingebette-
ten Handlungen, denen Symbolcharakter zuerkannt wird und die dadurch
die soziale Ordnung stützen. Ihre Aufführung bietet einer Institution Gele-
genheit, sich selbst zu präsentieren, indem das, was für sie Verbindlichkeit
hat, vergegenwärtigt wird. Die wiederholte Inszenierung eines Rituals er-
zeugt einen Zugewinn an Wertfundierung des Referenzereignisses und
unterstreicht die Stabilität und Kontinuität der inszenierenden Institution.
Über das sinnlich wahrnehmbare Geschehen hinaus erzeugen Rituale hand-
lungsorientierende Vorstellungsbilder des Guten und Gesollten. Sie überhö-
hen den soziokulturellen Alltag pathetisch, indem sie ihn mit einem Wert-
bezug auszeichnen und damit die Disposition zu entsprechend legitimierten
Anschlusshandlungen schaffen. Rituale schaffen Erinnerungsspeicher, die
bewährte Muster für künftiges Handeln enthalten, routinisiertes Verhalten
ohne Situationsanalyse stützen und Modelle fur legitimierte Normalität
bereitstellen. 17
Der Zusammenhang zwischen öffentlichen Ritualen und Machtausübung
wird bei dem zum semantischen Feld des Rituals gehörenden Begriff des
Zeremoniells deutlich. Als solches gilt eine Handlung, die als Macht- und
Herrschaftsinstrument zur Selbstrepräsentation von Instanzen eingesetzt
wird. Das Zeremoniell demonstriert nicht nur Macht, sondern zelebriert die
bestehende Ordnung in einer diese überhöhenden Feierlichkeit. 18
Mit der Analyse der symbolischen Funktion staatlicher Institutionen und
politischen HandeIns hat Murray Edelman die politologisch-sozialwis-
senschaftliche Symbolforschung begründet. 19 Eine Grunderkenntnis der
Anwendung des symbolischen Interaktionismus auf die Produktion gesell-
schaftlich bedeutsamer Entscheide lautet, dass diese zwei Realitätsebenen
aufweist: Strategische Rationalität und symbolische Mystifikation. Erstere
bestimmt die Oberflächenstruktur der manifest angegebenen "objektiven"
Handlungsziele, letztere die Tiefenstruktur der damit intendierten latenten,
subjektiv deutenden Kategorisierungen der Welt. Eine Polizeibehörde, wel-
che die Fahndung nach einer bestimmten Kategorie von Straftätern intensi-
viert, verändert damit einerseits das Tätigkeitsfeld des Fahndungsapparates
und erzeugt andererseits Vorstellungen über die Gefährlichkeit dieser Täter,
ohne dass jene zweite Funktion als explizite Zielbestimmung des Vorgehens

16 Singer Traditional India: Structure and change, 1959.


17 Zusammenfassend Dücker Rituale. Formen, Funktionen, Geschichte. Eine Einführung in
die Ritualwissenschaft, 2007, S. 14 ff., 28 ff., 32 ff.
18 Vec Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen
Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentationen, 1998.
19 Edelman Politik als Ritual, 2005.
Zur Symbolik des Strafrechts 357

benannt würde. Die verschwiegene Dramaturgie dieser mit impliziten Hin-


weisen erzielten "Realitätsdoppelung" wird durch zwei strukturelle Bedin-
gungen entwickelter Massendemokratien gefördert: Das hohe, beständig
neu erzeugte Ausmaß an Beängstigung, Bedrohungsempfinden und Verun-
sicherung, welches den gesellschaftlichen Bedarf an simplen, harmonisie-
renden und entlastenden Symbolen und Ritualen anschwellen lässt; zwei-
tens die strukturellen, mit der gesellschaftlichen Differenzierung
zusammenhängenden Komplexitätssteigerungen, die gesellschaftlich be-
deutsame Ereignisse und Entscheidungen dem Nahbereich des sinnlich
Kontrollierbaren entrücken und deshalb einen Realitätsverlust bewirken, der
es nahezu unmöglich macht, die angebotenen Deutungen zu überprüfen.2°
Die Symbolik des Politischen bedient sich bevorzugt Verdichtungssym-
bolen. Politik drückt sich heute in einer Flut von medial übermittelten Bil-
dern aus, welche ein bewegtes Panoptikum aus einer Welt schaffen, zu der
die Massen keinen Zutritt haben, die sie aber von den Zuschauerrängen aus
leidenschaftlich schmähen oder bejubeln können. 21 Für die Masse der Bür-
ger sind gesellschaftlich bedeutsame Ereignisse weder direkt beobachtbar
noch Deutungen über sie an der Realität kontrollierbar. Je verwirrender das
politische Panoptikum empfunden wird, umso mehr bedarf es der Struktu-
rierung und Sinngebung. Menschen, die "nicht mehr durchblicken", bren-
nen nach simplen Erklärungen rur die Bedrohungen, die sie fürchten, und
nach der Gewissheit, dass den Bedrohungen begegnet wird. 22 Da in den
Medien Meldungen nur noch in symbolischer Verdichtung vermittelt wer-
den, wird das Symbol zur einzigen noch erfassbaren, also "realen", Refe-
renz auf einen komplexen Sachzusammenhang. Die Wirklichkeit wird ma-
nipulierbar und verschwindet im Nebel der Deutungen. 23
Die Politik nimmt subjektiv erfahrene Ängste und Ambivalenzen der Be-
völkerung auf und reagiert auf sie mit plakathaften Signalen, welche entwe-
der Bedrohung oder Beschwichtigung ausdrücken. Diese grundlegende
Dichotomie 24 der Symbolik des Politischen färbt das explizit Gesagte hin-
tergründig ein und löst beim Publikum entweder asthenische oder stheni-
sche Affekte aus. Politische Symbole haben damit eine realitätsvermeidende
kathartische Funktion: Sie "heilen" von unbewältigten diffusen,· nicht
eigentlich situations- und objektgebundenen Ängsten, indem sie entweder
entspannend die beruhigende Illusion einer gewissen Sicherheit in diesen

20 C. Offe Vorwort zur Erstausgabe 1976 von Ibid.


21 Ibid., S. 4.
22 Ibid., S. 146. Damit ist nicht gesagt, dass das Publikum stets nur rezipierend "verdummt"
wird~ vielmehr gestaltet dieses mit seinem Bedürfnis nach leicht verdaulichem «Infotainment»
in der Regel die rituelle Präsentation des Politischen mit.
23 Meyer Die Inszenierung des Scheins. Voraussetzungen und Folgen symbolischer Politik,
1992,S. 11.
24 Edelman (Fn. 19), S. 11.
358 Karl-Ludwig Kunz

unsicheren Zeiten vermitteln, oder indem sie die Ängste spannungsableitend


auf angeblich dafür verantwortliche Ereignisse oder Personen lenken und
dadurch skandalisierend Aggressionen aufladen.
Die Sprache der Politik verwendet Metaphern, um gewisse Wahrnehmun-
gen zu verstärken und andere zu verhindern. In einer komplizierten und
verwirrenden Welt werden so bestimmte Wahrnehmungen generalisiert und
zu einer Sinnstruktur organisiert, die mit den affektiven Bedürfnissen der
Bürger nach Gewissheiten und Daseinssicherheiten in Einklang steht. Die
Metapher ist ein Mittel zur Formung der Prämissen, unter denen Entschei-
dungen gefällt werden, und der Bildung von situationsunabhängigen Über-
zeugungen. Politisch besonders wirksam sind Metaphern, die Aspekte eines
realen Geschehens aufgreifen und ihnen durch eigenwillige Interpretation
eine Deutung geben, in denen die Problemlösung simpel ist und eigennützi-
ge Interessen die höheren Weihen erhalten. 25
Im Zusammenhang mit der Analyse von Diskursen, die das gesellschaftli-
che Handeln organisieren, hat Jürgen Link den Begriff der Kollektivsymbo-
lik 26 eingeführt. Als Kollektivsymbole gelten kulturelle Stereotypen, die
gemeinschaftlich tradiert und benutzt werden und die zur Grundorientierung
und Weltsicht einer Gesellschaft gehören. Die Verwendung solcher Symbo-
le erfolgt zumeist in Metaphern, indem ein rudimentäres, zumindest poten-
tiell ikonisch darstellbares Bild einem Sinn bzw. Sinnzusammenhang zuge-
ordnet wird. 27 Die Verwendung erfolgt typischerweise in Form eines
Rituals, welches die Aufmerksamkeit auf die gemeinsame Verbundenheit
lenkt und Befriedigung und Freude über Konformismus erzeugt. So können
Identitäten gestiftet, Gefühle wachgerufen und Gefolgschaft begründet
werden. 28 Kollektivsymbole sind mit kollektiven Affekten gekoppelt, wel-
che zur Identitätsbildung des "Wir" beitragen. Bei den Kollektivsymbolen
ist zwischen der "starken" abgrenzend körpernahen Symbolik des fanatische
Militanz schürenden politischen Extremismus (Migranten als "Ratten" oder
"Krähen") und der "leichten" Symbolik des unaufgeregt funktionierenden
politischen Alltags zu unterscheiden. Letztere erfüllt vor allem die Funktion

25 Ibid., S. 149, 153. Edelman verwendet als Beispiel eine Rede von Präsident Nixon aus
dem Jahre 1969, in welcher der Ruf nach "lawand order" wie folgt begründet wurde: "All
jenen im Lande, die sich an der Romantik einer gewaltsamen Revolution berauschen, mag die
kontinuierliche Revolution der Demokratie reizlos erscheinen."
26 Link Die Struktur des Symbols in der Sprache des Journalismus. Zum Verhältnis literari-
scher und pragmatischer Symbole, 1978~ Becker/Gerhard/Link in: Int. Archiv für Sozialge-
schichte der dt. Literatur, 1997, S. 70.
27 Link in: Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd. 1: Theorien und Metho-
den, 2006, S. 407,413.
28 Edelman (Fn. 19), S. 10.
Zur Symbolik des Strafrechts 359

der Komplexitätsreduzierung von Wissen und damit der Orientierung des


Publikums an Normalitätsvorstellungen. 29

111.
Jenseits der in der Strafrechtsdogmatik zum Ausdruck kommenden ratio-
nalen Oberfläche besitzt das Strafrecht eine nonrationale Tiefenstruktur, die
es mit elementaren Gefühlswelten des sozialen Lebens verbindet. Emile
Durkheim hat in seinen Forschungen zur Soziologie kollektiver Geruhle
sich mit dem Strafrecht als Indikator rur den Zustand der «conscience co1-
lective» befasst. 30 Für ihn ist Recht, und speziell Strafrecht, zugleich ele-
mentare Struktur des sozialen Lebens und Symbol der gesellschaftlichen
Solidarität. Seiner Analyse der Elementarformen des religiösen Lebens 31
entsprechend, geht es in seiner Kulturanalyse des Rechts um die Erklärung
der normativen Bindungskraft rechtlicher Akte. Das Strafrecht praktiziert
nach Durkheim einen Kult der Gemeinschaft. In ihm sind kollektive Lei-
denschaften codiert, welche, dem sakral-religiösen Ursprung der Strafe
entsprechend, dem Schutz der rur die Gesellschaft "heiligen" Dinge dienen.
Wie bei der Eucharistie geht es bei Ritualen der Strafgerechtigkeit um eine
"Kommunion" im Sinne der gemeinschaftsstiftenden Verarbeitung von
Vergangenem. Aus dieser religionssoziologischen Perspektive besteht die
Funktion der staatlich organisierten Strafe in mehr als manifester utilitaristi-
scher Prävention: Staatliche Strafe ist eine leidenschaftliche Reaktion gegen
die verbrecherische Auflehnung gegenüber der kollektiven Ordnung. Die
Strafe bewahrt und belebt in ihrer Leidenschaftlichkeit Gemeinschaftsge-
ruhle, sie dient latent der Austarierung des durch das Verbrechen gestörten
Gleichgewichts in der emotiven Beschaffenheit einer Gesellschaft. 32
Die emotive Verwurzelung des Strafrechts in der Verletzung kollektiver
Gefuhle, die im Verbrechen entfesselt werden, ist rur Durkheim kein Hin-
dernis, sondern gerade das Kennzeichen eines säkularisierten "modemen"
Strafrechts, welches kollektive Strafbedürfnisse aufgreift und einer förmlich
juristisch-dogmatischen Argumentation zu Grunde legt. Die Zivilisierung
der Strafe durch Strafrecht, ihre Bindung an förlnliche Voraussetzungen,
ihre Aushandlung unter Bedingungen der Verfahrensfairness, ihre Humani-

29 Link Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 1996.
30 Seine entsprechenden Überlegungen sind über das Werk verstreut und finden sich etwa in
Durkheim Die elementaren Formen des religiösen Lebens, 1981 ~ ders. Annee sociologique, IV
(1899-1900), S. 65 ~ ders. Über die Teilung der sozialen Arbeit, 1977 und ders. Erziehung,
Moral und Gesellschaft, 1973 ~ das Manuskript einer zentralen, 1894 in Bordeaux gehaltenen
Vorlesung ist verschollen.
31 Durkheim Regeln der soziologischen Methode, 1976.
32 Gephart Strafe und Verbrechen: die Theorie Emile Durkheitns, 1990, S. 122, 128.
360 Karl-Ludwig Kunz

sierung und Individualisierung sind notwendige Konsequenzen der Anpas-


sung des Strafrechts an die Gesellschaftsstruktur der Modeme. Diese An-
passung bleibt für Durkheim freilich oberflächlich. Sie erschöpft sich in
einer nachträglichen Einkleidung atavistischer Emotionen kollektiver Em-
pörung und Wut in formal rechtsstaatliche begrifflich-systematische Erklä-
rungsmuster.33
Die Kluft zwischen der die staatliche Strafe begründenden triebhaften Re-
aktion auf die Verletzung kollektiver Gefühle und der Rationalisierung
dessen in förmlich juristisch-dogmatischer Begründung wird durch kultisch-
rituelle Praktiken des Strafrechts überbrückt. Die rituelle Inszenierung der
Strafjustiz, welche diese von der Profanität des Alltags abzusondern sucht
und den Geltungsanspruch des Rechts symbolisch überhöht, findet in Feier-
lichkeiten der Prozeduren,34 im expressiven Vollzug von Sanktionen,35 in
Formen der Gerichtsarchitektur,36 in Richterkleidern, Richterbildem 37 und
in dem von Honore Daumier unübertrefflich gezeichneten schwungvollen
Wurf des Talars (<<Effet de manche») Ausdruck. Sprechakte mit Bindungs-
kraft wie Eidesformeln und Richterspruch verleihen dem Geschehen vor
Gericht eine quasi-sakrale Bedeutung. 38 Die Gefängnisarchitektur symboli-
siert in ihrer versteinerten "Totalität,,39 von Außen Sicherheit vor denen, die
drinnen sind, von Innen je nach Vollzugskultur panoptische Überwachung
und totales Ausgeliefertsein 40 oder Abschirmung gegenüber dem Volkszorn
mit der Chance einer sozialisierenden Sinngebung. Insgesamt akkumuliert
sich die vielfältige Symbolik der Instanzen strafrechtlicher Kontrolle zu
einem sinnlichen Arrangement, in welchem sich Strafgerechtigkeit theatra-
lisch präsentiert. Jenes Arrangement bildet nach Pierre Bourdieu ein
«champs juridique», in welchem die Akteure sich mit der «noblesse de la
justice» in dem ihnen eigenen «Habitus» bewegen und die «force symboli-
que du droit» produzieren. 41

33 Dazu ausfuhrlich Ibid., S. 133 ff.


34 Van Dü!men Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Stratrituale in der frühen Neu-
zeit, 1995.
35 Evens Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte 1532-1987,
2001.
36 Gephart Recht als Kultur. Zur kultursoziologischen Analyse des Rechts, 2006, S. 237 ff.
37 Jung Richterbilder, 2005.
38 Vgl. dazu Habermas Theorie des kommunikativen HandeIns, Bd. I, 1981, S. 376 ff.
39 Zur totalen Institution Goffman Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patien-
ten und anderer Insassen, 1973.
40 Dazu Foucault Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 1976, S. 279 ff.
41 Bourdieu Actes de la recherche en sciences sociales 64 (1986), 3.
Zur Symbolik des Strafrechts 361

IV.
Die Symbolik des Strafrechts wird typischerweise mit zusätzlichen Zuta-
ten "gewürzt", die sich aus der jeweiligen gesellschaftspolitischen Einschät-
zung des Strafrechts als Instrument zur Bewältigung sozialer Probleme
ergeben. Dies betrifft sowohl den politischen Diskurs über Strafrecht wie, in
minderem aber doch nicht zu vernachlässigendem Maße, die den politischen
Einflüssen ausgesetzte und darauf reagierende Anwendungspraxis des Straf-
rechts. Diskurse über die "richtige" Anwendung des geltenden Strafrechts
und seine "gebotene" gesetzliche Veränderung richten die Aufmerksamkeit
des Publikums auf Ereignisse, die als soziale Brennpunkte und als Schlüssel
zu deren Lösung dargestellt werden. Kriminalität und Strafrecht sind Ver-
dichtungssymbole, an denen sich ein Spektrum von Vorstellungen über die
Schlechtigkeit der Welt und die Notwendigkeit ihrer Veränderung zu etwas
Besserem festmachen lässt.
Die plakative Intensität der Symbolik des Strafrechts und der dieses ges-
taltenden Politik weist eine beträchtliche Variationsbreite auf. In der Straf-
rechtspolitik findet eine binär entgegengesetzte, ambivalent wertende Sym-
bolik ("Wir" und die "Anderen") Anwendung. Wo es um die Ebnung von
Wegen für populistische Verschärfungen des Strafrechts geht, ist eine "star-
ke" Symbolik gefragt, die Feindbilder des Kriminellen entwirft und eine
fanatische Militanz dagegen schürt. Der Strafrechtspolitik scheint im Spekt-
rum der Politikfelder eine Vorreiterfunktion zuzukommen, insofern harsche
Forderungen nach mehr Punitivität etwa gegenüber "diesen Bestien" von
Gewalttätern (deren persönliche Merkmale in kollektiven Vorurteilen fest-
gelegt sind und nicht eigens angesprochen werden müssen) als ein Früh-
warnsystem vor dem drohenden Überkochen aggressiver Emotionen und
eine Kanalisierung dieser Emotionen in rechtspolitische Forderungen ver-
standen werden können. Die ministerielle Ausformulierung und die parla-
mentarische Beratung von Gesetzentwürfen vermitteln hingegen die symbo-
lische Botschaft, mit einer von politisch-moralischen Grundüberzeugungen
getragenen Sachlichkeit mehreren Herrschaften getreulich zu dienen (dem
vermeintlichen Volkswillen, den verfassungsmäßigen Vorgaben und der
begrifflich-systematischen Stringenz) und zwischen ihnen ehrlich zu ma-
keln. Bei der Strafrechtsanwendung heben sich die mit eher grobem Gerät
des sYlnbolischen Ausdrucksvermögens bestückten Werkstätten der Straf-
verfolgung und der Hauptverhandlung von der begrifflich ziselierenden,
sich argumentativ allseitig absichernden Symbolik der Urteilsbegründung
ab. In der Urteilsbegründung findet eine abschließende ("absegnende")
legitimatorische Würdigung des Prozessgeschehens statt, bei der die ver-
schiedenen Diskursstränge vernetzt, Zusammenhänge hergestellt, Wider-
sprüche überbrückt und Plausibilitäten erzeugt werden.
Das klassische Strafrecht des ausgehenden 19. Jahrhunderts verdankte
seine expressive Symbolik der kristallinen Klarheit seiner dogmatischen
362 Karl-Ludwig Kunz

Struktur, den holzschnittartig simplen Zurechnungskriterien, der Konzentra-


tion auf elementare Rechtsgüter (Leben, Leib, Eigentum) und vorsätzliche
Erfolgsdelikte sowie der Beschränkung auf Strafbarkeitsbereiche, die realis-
tischerweise im Wesentlichen mit den verfügbaren Mitteln aufklärbar und
aburteilbar erschienen. Inzwischen hat das Strafrecht diese Merkmale, aus
denen es seine besondere Dignität als letztes und schneidigstes Instrument
staatlicher Unrechtsabwehr bezog, verloren. Dementsprechend ist auch
seine Symbolkraft verblasst: Je spezieller, technischer und bürgerferner die
Materie, desto "leichter" gerät die Symbolik des Strafrechts.
Das neue, auf breitgefächerte Risikoprävention angelegte Strafrecht ist
bemüht, diesen Verlust an Symbolkraft zu kompensieren, indem es verbrei-
tete Ängste aufgreift und Signale der Beruhigung sendet. Es lenkt deshalb
die mediale Aufmerksamkeit auf alle Bürger als potenzielle Opfer berüh-
rende, in groben Übergriffen bestehende Kriminalitätsformen (Straßenge-
walt, Überfälle, Einbrüche), stellt Reaktionsmuster des harten Durchgrei-
fens gegen diese Kriminalität (spektakuläre Verhaftungen, Durchsuchun-
gen, Beschlagnahmungen) ins Schaufenster und öffnet sich bei den Sankti-
onen, insbesondere der Verwahrung, gegenüber populistischen Parolen des
Wegsperrens solcher Täter. So werden Szenarien der Bedrohung und Be-
drohungsbekämpfung geschaffen, welche die Bürger ansprechen und die
gesellschaftliche Wertschätzung der strafrechtlichen Kontrollinstanzen
stützen. Suggeriert wird eine gesunde Naivität des Wissens um Objekte und
Mittel der strafrechtlichen Kriminalitätsbekärnpfung und eine ihrer morali-
schen Überlegenheit gewisse Selbsteinschätzung. Zugleich werden fur die
Abweichungen der Angepassten42 Umwege um die strafrechtliche Haftung
beschritten (Einstellungen unter Auflagen, verfahrensbeendigende Abspra-
chen) oder zumindest diskrete Wege (Strafbefehl) eröffnet. Die Praxis des
neuen Strafrechts gabelt sich so in schonende Reaktionen auf die alltägli-
chen, möglicherweise auch von uns praktizierten Rechtsbrüche und in harte,
im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stehende und dabei noch als
zu milde geltende Sanktionen gegen die Kriminalität, welche uns allenfalls
als Opfer betrifft.

v.
Fokussiert man sich statt auf die breite Symbolik des Strafrechts insge-
samt spezifisch auf die Symbolik der staatlichen Strafe und betrachtet diese
idealtypisch, also unabhängig von ihrem jeweiligen Gebrauch, so ist die

42 Frehsee KrimJ 1991, 25 ff.


Zur Symbolik des Strafrechts 363

Strafe ein Mittel, um "etwas über etwas"43 auszusagen. Das Tatstrafrecht


bestimmt die Straftat als Referenz der Strafe. Diese besteht nicht nur in
einer materiellen Schadenszufügung, sondern vor allem in der Beanstan-
dung der Frivolität des Rechtsbruchs, der die Normgeltung leugnet, indivi-
duelle Opfer erniedrigt und das Rechtsvertrauen der Allgemeinheit demü-
tigt. Dem in der Straftat zum Ausdruck kommenden "Weltentwurf" tritt die
Strafe mit der "Gegenrede" entgegen, dass der Täter mit seiner Tat Unmaß-
gebliches behauptet hat.44 Die tatbezogene Strafe meint deshalb etwas durch
die mit ihr verbundene Übelzufügung. Sie besitzt eine Transzendenz, die
sich über die mit ihr unmittelbar zugefugte Pein auf die Demonstration der
Peinlichkeit der Straftat und des Sieges der irdischen Gerechtigkeit über
diese bezieht. Man mag die strafende Übelzufugung aus Gründen der Ab-
schreckung oder Besserung als (begrenzt) notwendig und nützlich erachten:
Mit den physischen Erscheinungsformen der Strafe und deren gemutmaßten
Wirkungen ist die Charakteristik stattlichen Strafens unzulänglich bestimmt.
Strafe birgt über den mechanischen Akt ihres Vollzugs hinaus eine Intenti-
on, eine Geste, sie ist expressiv und kommunikativ, indem sie das Strafubel
als vom Bestraften verdient ausweist. 45 Insofern die staatliche Strafe sich als
Antwort auf eine Tat versteht, die über die Unrechtmäßigkeit hinaus einen
zu missbilligenden "ideellen Schaden"46 anrichtet, verbindet sich mit Strafe
neben der faktischen Übelzufügung die Funktion des "ideellen" Schadens-
ausgleichs. Tatbezogene Strafe ist manifest oberflächlich harte Behandlung,
latent im Kern hingegen harsche, der Tat widersprechende Ansprache. 47 Die
Oberfläche kann weitgehend "abgeschält" oder modifiziert werden; der
Kern hingegen kann nicht entfernt werden, ohne die Strafe zu etwas ande-
rem zu machen. Strafende Praktiken der Schmerzzufügung und des Res-
sourcenentzuges beziehen sich tadelnd auf ein Verhalten, das damit als
vorwerfbares, nicht zu tolerierendes Unrecht ausgewiesen wird. Diese Sym-
bolik der Strafe bringt Georg W.F. Hegel klar zum Ausdruck: Strafe ist fur
ihn die Manifestation der Nichtigkeit der mit der Tat verübten Rechtsverlet-
zung ebenso wie die in die Existenz tretende Vernichtung jener Verlet-
zung. 48 Jenseits einer oberflächlichen Bestimmung der Strafe nach ihrer
Wirkung als Übel oder nach ihrem Zweck als Gutes dient die Strafe dem
Aufheben des Verbrechens, das sonst gelten würde, und ist die Wiederher-

43 Vgl. Geert= in: Belliger/Krieger (Hrsg.), Ritualtheorien. Ein einmhrendes Handbuch,


2008, S. 97 , unter Verweis auf Aristoteles Organon 11: Über die Interpretation, S. 1844 ff.
44 Jakobs Das Schuldprinzip, 1993, S. 27.
45 DuffPunishment, Communication, and Community, 2001; Feinberg Doing and Deserv-
ing: Essays in the Philosophy of Responsibility, 1970, S. 98 f.
46 lvfüller-Diet= GA 1983, 481 ff.
47 Kaiser Widerspruch und harte Behandlung. Zur Rechtfertigung von Strafe, 1999.
48 Hegel Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im
Grundrisse, 2008, § 97.
364 Karl-Ludwig Kunz

stellung des Rechts. Strafe hat so wesensmäßig die Funktion, die damit
geahndete Tat als Negation des Rechts zu missbilligen und damit eine Ne-
gation der Negation des Rechts zu statuieren, welche den Rechtszustand
bestätigt. 49
Die Funktion der Strafe besteht, anders als Hegel vermeinte, nicht in einer
"absoluten" Zweckfreiheit, sondern in der Normverdeutlichung durch sozia-
le Orientierung. Die staatliche Strafe wendet sich mit differenzierten Bot-
schaften an die Allgemeinheit, den Täter und das Opfer. Indem die Tat als
Rechtsbruch klassifiziert und mit einem allgemein gültigen Makel versehen
wird, werden gegenüber der Allgemeinheit deren Richtigkeitsverständnisse
bekräftigt, wonach solches Verhalten verpönt ist. Dem Publikum wird damit
die Übereinstimmung der staatlichen Machtausübung mit verbreiteten Ge-
rechtigkeitsvorstellungen demonstriert. Es wird signalisiert, dass Unrecht
keine Chance hat, sich Geltung zu verschaffen, und jeder im Guten \vie im
Schlechten bekommt, was er verdient. Zudem ist die Symbolik der Strafe
bestrebt, bei der Allgemeinheit Systemvertrauen zu bestärken, indem ver-
kündet wird, dass ihre Repräsentanten Unrecht nicht hinnehmen, sondern
im Namen aller zurückweisen. Schließlich wird damit dem Publikum be-
deutet, dass das verübte Unrecht alleine dem Bestraften zuzurechnen sei
und die Gemeinschaft keine Mitverantwortung darur trage. 50 Dem Täter
wird durch die Strafe ein Tadel ausgesprochen. Indem ihm bedeutet wird, er
habe die verhängte Strafe verdient, wird ausgedrückt, dass er nicht als ein
zu konditionierendes Wesen eingestuft, sondern als Teilnehmer der sozialen
Beziehungen und zu moralischer Verantwortung befähigte Person angese-
hen werde. 51 Gegenüber dem Opfer enthält Strafe die verbindliche Erklä-
rung, dass ihm kein Unglück, sondern ein vom Täter individuell zu verant-
wortendes Unrecht geschehen sei, das rechtlich nicht geduldet werde. Diese
einzelnen Botschaften lassen die nicht direkt angesprochenen Adressaten
stets teilnehmend "mithören" und verstärken sich so gegenseitig. Indem die
Allgemeinheit etwa die Botschaften an den Täter und das Opfer vernimmt,
wird damit das Richtigkeitsverständnis und das Systemvertrauen des Publi-
kums noch mehr bekräftigt. Eine anzunehmende intersubjektiv teilbare
mitfühlende Einstellung bewirkt, dass die Allgemeinheit stellvertretend für
die verallgemeinerbaren Eigenschaften des Opfers empfindet und reagiert. 52
Die Symbolik der Strafe ist systemstützend. Durch Markierung der "Ge-
genwelt" des Illegalen wird ein sozialer Konsens beschworen, welcher sich
unmittelbar auf die Unmaßgeblichkeit des Normbruchs bezieht und damit

49 Ibid., § 99.
50 Feinberg (Fn. 45), S. 98 ff.
51 Von Hirsch/Jareborg Strafmaß und Strafgerechtigkeit. Die deutsche Strafzumessungsleh-
re und das Prinzip der Tatproportionalität, 1991, S. 11 ff.; von Hirsch Faimess~ Verbrechen und
Strafe: Strafrechtstheoretische Abhandlungen, 2005.
52 Ähnlich etwa Günther FS Lüderssen, 2002, S. 205, 216 ff.
Zur Symbolik des Strafrechts 365

mittelbar ein einheitliches moralisches Weltbild erzeugt, welches von sozia-


len Differenzen und der Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse abstra-
hiert. Die Symbolik der Strafe verweist normativ auf das Gesollte einer
unbestimmt "guten Ordnung", die nur durch Abgrenzung von der Straftat
und dem Täter Gestalt gewinnt, in ihrer Offenheit von allen konsentierbar
ist und dadurch Allgemeinverbindlichkeit gewinnt. Mit der Feierlichkeit
von Ritualen des Rechts wird so eine zusammengeschmolzene, von Diffe-
renzen gereinigte Vorstellung von "Normalität" erzeugt. 53 Durch das Zeleb-
rieren von Gemeinschaftlichkeit gewinnt die staatliche Strafe eine Ästhetik,
die sie über die Profanität des Alltags erhebt. Wie ein Werk der schönen
Kunst ist sie, wie sie ist, kann also nur noch interpretiert, nicht aber grund-
sätzlich in Frage gestellt werden. Die staatliche Strafe wird so zu einer insti-
tutionell abgesicherten, auf Dauer gestellten Institution, welche jeder ein-
zelnen förmlichen Verurteilung und jedem Strafvollzug einen Zugewinn an
Wertfundierung verschafft. Ritualisierte Verfahrenspraktiken ermöglichen
homogene und erwartungssichere Entscheidungsschritte, die mit einem nur
geringen Aufwand an physischer Machtausübung vollzogen werden kön-
nen.

VI.
Die Symbolik des Strafrechts taugt zu einer Strafrechtskritik, die sich da-
gegen richtet, dass die Strafrechtspraxis nicht dem entspricht, was das Straf-
recht normativ zu sein beansprucht und in seiner Symbolik zum Ausdruck
bringt. Diese Kritik ist auf zweierlei Weise möglich: Als strafrechtsimma-
nente konstruktive Kritik, die auf sektorielle Defizite und grundsätzlich
behebbare Mängel hinweist, und als prinzipielle Strafrechtskritik, welche
die in seiner Symbolik ausgedrückte Funktionalität des Strafrechts für eine
"gute Ordnung" bezweifelt. Kritik im erstgenannten Sinne kommt im Vor-
wurf einer vorgetäuschten Effektivität des (spät)modemen Strafrechts zum
Ausdruck, welcher sich mit der Vorstellung verbindet, dass durch instru-
mentell wirksamere Normen zumindest begrenzt Abhilfe möglich sei.
Kritik im zweiten grundsätzlichen Sinn bezieht sich auf die Kluft zwi-
schen dem symbolisch verheißenen Beitrag des Strafrechts für eine aner-
kennungswürdige "gute Ordnung" und der begrenzten oder gar fehlenden
Tauglichkeit der Instrumente des Strafrechts hierfür. Die strafrechtlichen
Gestaltungsmöglichkeiten des Sozialen sind ungewöhnlich begrenzt. An-
ders als sonstige Formen staatlicher Regulation und gesellschaftlicher Prob-
lembearbeitung betreibt das Strafrecht in retrospektiver Ausrichtung auf ein
von komplexen Handlungskontexten entkleidetes Tatgeschehen eine negati-

53 Vgl. GarlandPunishment and Modern Society: A Study in Social Theory, 1990, S. 295.
366 Karl-Ludwig Kunz

ve Verhaltenssteuerung durch individuelle Verantwortungszuschreibung


und Sanktionierung. Dabei wird in geradezu biblischer Vereinfachung sozi-
ales Geschehen auf das Raster eines juristischen "Falles" projiziert. Betei-
ligte werden in prozessuale Rollen eingewiesen und Handlungsoptionen auf
förmlich zulässiges Prozessverhalten begrenzt. Mit der Betonung der indi-
viduellen Verantwortung wird einer Solidarisierung mit dem Beschuldigten
entgegengewirkt. Die Techniken strafrechtlicher Problembearbeitung redu-
zieren soziale Komplexität und verschaffen sich Anerkennung durch rechts-
förmliches, politischen Konfliktstoff absorbierendes Vorgehen. Indem die
durch Strafrecht zu verwirklichende gesollte Ordnung in der zeremoniellen
Feierlichkeit des Strafverfahrens einen vagen und deshalb von allen konsen-
tierbaren Ausdruck findet, erscheint die Überprüfung der in der strafrechts-
immanenten Symbolik verheißenen Erfüllung von Gerechtigkeitserwartun-
gen entbehrlich. Die Forderung einer Übereinstimmung der Strafrechts-
praxis mit verbreiteten Richtigkeitsverständnissen gerät zur petitio principii,
insofern die systemimmanente Symbolik des Strafrechts an sich bereits eine
solche Übereinstimmung suggeriert. Indem die Symbolik des Strafrechts
Richtigkeitsverständnisse in abstrakter Weise bekräftigt, bestätigt sie, dass
sich Strafrecht darauf bezieht und entzieht diesen Bezug zugleich einer
substantiellen Prüfung. Dadurch wird erzeugt, was Niklas Luhmann als
Legitimation durch Verfahren 54 bestimmt.
Zweifel an der Gerechtigkeitsausrichtung des Strafrechts wurden von
Vertretern der "kritischen" Kriminologie ebenso zahlreich wie praktisch
folgenlos vorgebracht. 55 Im Ergebnis weit erfolgreicher als diese akademi-
sche Kritik haben sich Beanstandungen der Diskrepanz zwischen Straf-
rechtspraxis und verbreiteten Richtigkeitsverständnissen erwiesen, die mit
rechtspolitischen Forderungen nach mehr Strafhärte verbunden sind. Frei-
lich ist die öffentliche Richtigkeitseinschätzung der Strafrechtspraxis kein
unbedingt normativ zu akzeptierender Maßstab, weil diese Einschätzung
durch die von Edelman beschriebenen 56 politischen Rituale beeinflusst wird,
die manipulativ zu einer "Stimmungsmache" eingesetzt werden können. In
diskursiven Praktiken über Kriminalität und Strafrecht findet nicht unbe-
dingt die Vernunft, sondern eher das Gefühl Gehör. Insofern diese Praktiken
auf einen kollektive Leidenschaften betreffenden "Kult der Gemeinschaft"
(Durkheim) Bezug nehmen, sind in ihnen Dispositionen zu einem hinter-
gründigen Ansprechen und Verstärken dieser Leidenschaften durch Ver-
dichtungen des Diskurses und Realitätsdoppelungen enthalten. Typischer-
weise geht es in strafrechtspolitischen Diskursen deshalb um Recht-
fertigungen für die weitere Intensivierung der strafrechtlichen Kontrolle,
indem die Akzeptanz für mehr Strafhärte geweckt, die Straflust verstärkt

54 Luhmann Legitimation durch Verfahren, 1983.


55 Vgl. etwa Baratta ZStW 92 (1980), 107, 122~ Lehne (Fn. 9),210.
56 Edelman (Fn. 19), S. 4.
Zur Symbolik des Strafrechts 367

und suggeriert wird, dass dadurch ein Mehr an öffentlicher Sicherheit zu


erzielen sei.
Die Notwendigkeit der öffentlichen Auseinandersetzung mit anerken-
nungswürdigen Richtigkeitsvorstellungen über Strafrecht wird durch Ver-
weise auf die autopoietische 57 Erzeugung von Legitimität durch Verfahrens-
rituale und die Fragwürdigkeit der Strafrechtseinschätzung der Öffent-
lichkeit nicht entbehrlich. Die Befassung mit der wesenseigenen Symbolik
des Strafrechts zeigt das darin enthaltene durchaus problematische Potential
zu einer verschleiernden Beschwörung eines tatsächlich nicht vorhandenen
sozialen Konsenses über die jeweilige Strafrechtspraxis. Gewiss wird eine
konkrete Strafrechtspraxis ihrer symbolisch ausgedrückten Erwartung,
Richtigkeitsverständnisse zu bekräftigen und dadurch zur sozialen Kohäsion
beizutragen, kaum je vollständig genügen. Während kleinere Diskrepanzen
zwischen der Praxis und der öffentlichen Richtigkeitseinschätzung hin-
nehmbar sind, verliert eine Strafrechtspraxis, die sich im Vertrauen auf die
legitimierende Kraft von Verfahrensritualen über anerkennungswürdige
Richtigkeitseinschätzungen hinwegsetzt, ihre systemstützende Wirkung.
Insofern wird die Diskussion über konsensfahige Richtigkeitsmaßstäbe der
Strafrechtspraxis durch die Auseinandersetzung mit der wesenseigenen
Symbolik des Strafrechts nicht überflüssig, sondern erst recht beflügelt.

57 Vgl. dazu Kunz/Mona Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie. Eine Einfüh-


rung in die theoretischen Grundlagen der Rechtswissenschaft, 2006, S. 209 ff.
Bildersprache in der Strafrechtsdogmatik

KLAUS VOLK

Was man schon immer einmal sagen wollte, sich zu schreiben aber nicht
getraut hat, darf man in einer Festschrift erst recht nicht anbringen. Solche
Regeln müssen bei Gelegenheit durch eine Ausnahme bestätigt werden.
Heinz Schäch, der Freund aus langen gemeinsamen Jahren, einer, der selbst
viele Regeln bestätigt und geschaffen hat, wird es tolerieren, dass ich zu
seinen Ehren eine Glosse schreibe.
Eine Glosse ist in der juristischen Tradition bekanntlich eine ehrenwerte
Veranstaltung. Die Glossa ordinaria fasste 1250 die Bemerkungen zum
Corpus Iuris Civilis zusammen; die Postglossatoren kommentierten den
Regelungsgehalt der Vorschriften. Ursprünglich war eine Glosse nur die
Erklärung der Bedeutung eines Wortes durch ein anderes Wort. 1 Das
kommt dem hier Intendierten nahe. Welche Bilder, Formeln, Chiffren fin-
den sich in unserer Strafrechtsdogmatik, und welche Probleme sollen sie
erläutern? Was leisten sie? Bildkräftige Ausdrücke haben mit Bildern ge-
mein, dass sie mehr sagen als tausend Worte. Aber sagen sie vielleicht auch
etwas anderes?2 "Jetzt geht's los" ist so eine bildhafte Formel, die ich ver-
wenden könnte, um zu signalisieren, dass die Vorrede hier ein Ende hat,
wenn nicht noch ein zweiter Aspekt zu erwähnen wäre. "Im modemen
Journalismus bezeichnet man als Glosse einen kurzen, pointierten Mei-
nungsbeitrag, der sich vom Kommentar ... durch seinen polemischen, satiri-
schen oder feuilletonistischen Charakter unterscheidet". 3 Und auf die Stil-
mittel der Ironie und Übertreibung möchte ich nicht verzichten. 4
Jetzt also geht es los. Die angekündigte Analyse dogmatischer "Glossen"
bildet den Hauptteil des Beitrags. Den Anfang aber macht ein (einziges)

1 Jsidor von Sevilla Etymologiarum sive originum libri XX, um 623, 1.30: "cum unius verbi
rem uno verbo manifestiamus".
2 Das Problem der Visualisierung des Rechts mächte ich hier nicht angehen, obwohl mich
seit langem interessiert, was der "iconic turn" der Gesellschaft für das Recht bedeutet~ mein
Mitarbeiter Florian Holzer schreibt seine Dissertation darüber.
3 Wikipedia, "Glosse".
4 Weitgehend verzichten mächte ich auf Fußnoten, denn, um dafür wenigstens eine schwa-
che Entschuldigung zu liefern, eine Glosse im juristischen Sinne ist ja auch nichts anderes als
eine an den Rand oder zwischen die Zeilen geschriebene Fußnote.
370 Klaus Volk

Beispiel für die Art und Weise, wie die Justiz ihre Entscheidungen für die
Öffentlichkeit glossiert.
Das ist, prinzipiell gesehen, ein legitimes Anliegen. Man muss den armen
Leuten, die nicht durch ein Jurastudium bereichert sind, möglichst einfach
klar machen, was Sache ist. Wer "draußen im Lande" versteht schon die
Abfolge der Argumente in einer schwierigen Entscheidung. Also zeichnet
man in einer "biblia pauperum" bunte Bilder. Manchmal geht das schief. 5
Bei einer Umfrage, was denn der BGH im Mannesmann-Verfahren gesagt
hat, würden die meisten (unter denen wohl auch viele Juristen wären) sich
nur daran erinnern, dass er gewettert hat, die angeklagten Mitglieder des
Aufsichtsrates seien nicht Gutsherren, sondern Gutsverwalter gewesen.
Publizistisch (und populistisch) sehr effektvoll, frei nach dem Motto: bei
feudalen Prämien 6 darf man auch feudalistische R.eminiszenzen wecken.
Aber eine AG ist eben kein Gutshof, und wenn man das Problemfeld von
Entscheidungen in der Wirtschaft mit landwirtschaftlichen Mitteln beackert,
wird einiges untergepflügt. In einer AG ist "Gutsherr" der Aktionär. "Guts-
verwalter" ist der Vorstand. Der Aufsichtsrat ist "Oberaufseher". Die Guts-
herren können ihn wählen, 7 dann aber nicht mehr mitreden. Der Aufsichts-
rat verwaltet allerdings insofern Güter als er die Bezüge des Vorstands
J

festsetzt. 8 Hält er sich dabei nicht an den Rahmen (Angemessenheit), macht


er sich zwar schadensersatzpflichtig, aber nicht gegenüber den "Gutsher-
ren", sondern der Gesellschaft. Der BGH hat anklingen lassen, dass die
Zustimmung aller Aktionäre eine Untreue entfallen lassen würde, und dabei
wohl übersehen, dass die hier gar keine Dispositionsbefugnis haben. Die nur
für eine Parzelle zuständigen "Gutsverwalter" in einem Gremium des Auf-
sichtsrates haben die Herrschaft über Vorstandsbezüge, und die "Gutsher-
ren" können ihnen nicht dreinreden. Der BGH, wäre er im Rahmen seines
Bildes geblieben, hätte sich überlegen müssen, wie es zu beurteilen ist,
wenn der Verwalter etwas verschenkt, das der Gutsherr gar nicht verschen-
ken könnte (denn Prämien darf die Hauptversammlung nicht vergeben). Für
die schlichte Tatsache, dass Aufsichtsratsmitglieder die Interessen des Un-
ternehmens zu wahren haben, hätte man den Leuten nicht suggerieren müs-
sen, hier sei eine Entscheidung nach Gutsherrenart getroffen worden. 1'.t1ehr
als moralische Empörung transportiert und provoziert dieser Ausdruck
nicht. Schiefe Bilder, krumme Furchen - tief eingegraben im Bild der öf-
fentlichen Meinung.

5 Im Großen und Ganzen leisten die Pressestellen der Obergerichte hier gute Arbeit.
6 Zum Problem Samson in: Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Gesellschaftsrecht
in der Diskussion, 2004, S. 109 ff.
7 Von anderen Formen der Bestellung einmal abgesehen, § 104 AktG.
8 § 87 AktG.
Bildersprache in der Strafrechtsdogmatik 371

I. Von der Polemik zur Dogmatik


1. Pseudo-Subjektivierung
Haltungen, Einstellungen, Entschlüsse, ganz allgemein alle subjektiven
"Fakten", lassen sich nur durch Indizienschlüsse aus der objektiven Lage
buchstäblich "dingfest" machen oder durch ein Geständnis erweisen. Das ist
so, seit es (Schuld-)Strafrecht gibt und also nicht der Rede wert. Der krimi-
nalpolitische Trend geht allerdings zur "Entsubjektivierung". Je mehr opfer-
lose Delikte es gibt, desto weniger interessiert, was sich der Täter gedacht
hat. Je mehr Tatbestandsmerkmale gestrichen werden (Beispiel: vom Betrug
zum Subventionsbetrug), desto weniger Chancen hat der Täter einzuwen-
den: "Das habe ich nicht gewollt". Dieser "roll back" zu verschärfter Haf-
tung ist im Wirtschaftsstrafrecht besonders ausgeprägt. Wenn man Funktio-
nen schützt, ist dysfunktionales Verhalten per se strafbar (Prototyp:
"unrichtige Angaben"). Diese Entwicklung vollzieht sich mehr oder minder
offen. Daneben gibt es aber apokryphe Objektivierungen. Man hält am
subjektiven Begriff fest und versteckt den Wechsel des Paradigmas hinter
Bildern.

2. Neutrale Beihilfe - "Solidarisierung ((


Dazu heißt es in der Leitentscheidung:
"Zielt das Handeln des Haupttäters ausschließlich darauf ab, eine strafba-
re Handlung zu begehen, und weiß dies der Hilfeleistende, so ist sein Tat-
beitrag als Beihilfehandlung zu werten. 9 • In diesem Fall verliert sein Tun
stets den ,Alltagscharakter' ; es ist als ,Solidarisierung' mit dem Täter zu
deuten 10 und dann auch nicht mehr als sozialadäquat anzusehen. 11 Weiß
der Hilfeleistende dagegen nicht, wie der von ihm geleistete Beitrag vom
Haupttäter verwendet wird, hält er es lediglich für möglich, dass sein Tun
zur Begehung einer Straftat genutzt wird, so ist sein Handeln regelmäßig
noch nicht als strafbare Beihilfehandlung zu beurteilen, es sei denn, das
von ihm erkannte Risiko strafbaren Verhaltens des von ihm Unterstützten
war derart hoch, dass er sich mit seiner Hilfeleistung ,die Förderung eines
erkennbar tatgeneigten Täters angelegen sein' ließ". 12

9 Vgl. BGHR StGB § 27 Abs. 1 - Hilfeleisteo 3, 20.


10 LK-StGBIRoxin, 11. Aufl. Bd. 1,2003, § 27 Rn. 19.
11 Vgl. Löwe-Krahlwistra 1995,201,203.
12 BGHR StGB § 266 Abs. 1 - Beihilfe 3~ BGHR StGB § 27 Abs. I Hilfeleisteo 20~ LK-
StGBIRoxin [Fo. 10], § 27 Rn. 19~ BGH NJW 2000, 3010, 3011.
372 Klaus Volk

Die Ausgangsfrage ist, wann jemand zum Gehilfen eines anderen wird.
Die Antwort lautet: wenn er sich mit ihm solidarisiert. Damit sind wir bei
dem oben erwähnten ursprünglichen Sinn einer Glosse; ein Wort wird durch
ein anderes erklärt. Wenn man nun allerdings wissen will, was es denn
bedeutet, sich solidarisch zu verhalten, wird man wieder auf das zu erklä-
rende Wort zurückgeführt. "Solidarität (abgeleitet vom lateinischen solidus
für gediegen, echt oder fest; Adjektiv: solidarisch) bezeichnet eine ... Hal-
tung der Verbundenheit mit - und Unterstützung von - Ideen, Aktivitäten
und Zielen anderer". 13 Gehilfe ist also, wer die Aktivitäten und Ziele eines
anderen unterstützt. Das wusste man schon vorher. Die Frage war ja, wann
und unter welchen Voraussetzungen das der Fall ist. Die Erklärung ist aber
nicht nur tautologisch, sondern auch inadäquat. Solidarität äußert sich in
gegenseitiger Hilfe, und ob (im Ausgangsfall) der Bankkunde der "Kame-
rad" des Bankmitarbeiters sein will, ist nicht von Interesse. Das Kriterium
"Solidarität" führt also im Kreis herum und überdies in die Irre.
In Wahrheit entscheiden, wie stets, objektive Umstände, und ob man sie
als Indiz fur ein subjektives Kriterium (die innere Einstellung) oder Be-
griffsmerkmal behandelt, spielt, wie immer, letztlich keine Rolle. 14 Es
kommt auf das vom potentiellen Gehilfen erkannte Risiko strafbaren Ver-
haltens des anderen an. Auch dieses Kriterium ist nur scheinbar subjektiv
und individualisierend. Ab einer bestimmten Höhe dieses Risikos kann man
nicht mehr anders als den Schluss zu ziehen, "dass er sich mit seiner Hilfe-
leistung ,die Förderung eines erkennbar tatgeneigten Täters angelegen sein'
ließ".15 Die vermeintlich subjektiven Bestandteile dieser Umschreibung
werden also ebenfalls objektiv ermittelt.
Ob der andere "erkennbar tatgeneigt" war, bemisst sich nicht nach der
Einsichtsfahigkeit des Gehilfen. Erkennbar heißt für jeden erkennbar.
Das vom potentiellen Gehilfen "erkannte" Risiko wird nicht nach seinem
Erkenntnishorizont bestimmt, sondern danach, wie hoch "man" es an seiner
Stelle eingeschätzt hätte. Von einer gewissen Höhe an wird niemand mehr
mit dem Einwand gehört, er hätte es nicht als hoch eingestuft: "Schutzbe-
hauptung". Diese prozessuale Floskel umfasst zwar nicht nur den Vorsatz
("das haben Sie gewusst"), sondern auch die Leichtfertigkeit ("das sieht
doch jeder"), dient aber schlicht der Beweiswürdigung beim Vorsatz. Auf
diese Weise wird über die prozessuale Zurückweisung eines Vorbringens
als Schutzbehauptung - ein wissenschaftlich noch nicht hinreichend unter-

13 Wikipedia, "Solidarität".
14 Zur Austauschbarkeit von Begriff und Beweis, insbesondere bei subjektiven Merkmalen,
vgl. Ver! FS 50 Jahre BGH, Bd. IV, 2000, S. 739 ff.
15 Verf. a.a.O.
Bildersprache in der Strafrechtsdogmatik 373

suchtes Schlagwort der Bereich des bedingten Vorsatzes erweitert und auf
die Leichtfertigkeit ausgedehnt.
Nun könnte der Betroffene noch einwenden, dass er zwar das Risiko er-
kannt und als hoch eingestuft habe, sich aber die Förderung des anderen
nicht "angelegen sein" ließ. Daraus wird natürlich nichts. Wer sich etwas
angelegen sein lässt, das bestimmt das Gericht, nach objektiven Maßstäben.
Es handelt sich um eine schlichte Leerformel, die einen als zwingend be-
handelten Schluss von der erkannten (erkennbaren) Höhe des Risikos auf
eine innere Einstellung verbrämt, die in Wahrheit niemanden interessiert.
Fazit: Mit dem Bild von der Solidarisierung kann sich jeder solidarisieren.
Es besagt aber nichts. Sein Appell, nach Entschluss und innerer Einstellung
zu suchen, ruhrt in die Irre. Entscheidend sind objektive Umstände. Und
dass dem so ist, wird durch das Wort Solidarisierung eher verdeckt. Das
Wort gefährdet, um es in der Terminologie der Geldwäsche zu sagen, "das
Auffinden des Gegenstands". Es handelt sich um Wortwäsche. Im Grunde
müsste man die Kritik sogar noch verschärfen. Das Wort verwischt die
Grenze zur Mittäterschaft. Solidarität bedeutet, gemeinsame Sache zu ma-
chen. Für die Umschreibung der Beihilfe sollte man nicht Ausdrücke ver-
wenden, die besser auf die Mittäterschaft passen.

3. "Jetzt geht 's los"


Diese Formulierung ist viel zu sympathisch, als dass man sie kritisieren
dürfte. Sie befreit von dem Zwang, mühevoll Definitionsketten aus Substan-
tiven zu bilden, bringt Action in den Hörsaal und zeigt den Studenten, dass
Strafrechtler doch eigentlich ganz locker sind. Ohne den Zusatz, dass der
Täter auch obj ektiv zur tatbestandsmäßigen Angriffshandlung angesetzt
haben muss, würde sie allerdings nichts anderes besagen als die alte subjek-
tive Theorie, die allein das Vorstellungsbild entscheidend sein ließ. 16 Wenn
der Täter sich sagt, jetzt geht es los? Aber nein. Es kommt nicht darauf an,
was er sich sagt, sondern was er uns sagt. Sagt er, für ihn sei es losgegan-
gen, als er das Gift kaufte, belastet ihn das nicht, und sagt ein besonders
cooler Typ, rur ihn wäre das Töten erst in1 Zimmer losgegangen und nicht
schon beim Aufbrechen der Türe,17 entlastet ihn das nicht. Wir brauchen nur
den Tatplan, und dann entscheiden wir, wann es losgeht. Und was, wenn der
Täter seinen Plan nicht offenbart? Dann (re-)konstruieren wir ihn aus dem
äußeren Ablauf des Geschehens. Anders kann es ja auch nicht sein - straf-
rechtliche "Theorien" dürfen sich nicht vom praktischen Prozessverhalten

16 Scheinbar - denn auch in diesem Falle war es so, dass die Richter ihr Vorstellungsbild in
den Kopf des Täters projizierten.
17 BGH NStZ 1987,20.
374 Klaus Volk

abhängig machen. Die Formel funktioniert auch beim schweigenden Ange-


klagten, und das beweist endgültig, dass es letztlich irrelevant ist, was sich
der Täter gesagt hat. Entscheidend ist die objektive Bewertung eines Tat-
planes, der notfalls aus objektiver Perspektive gezeichnet wird.

11. Immunisierung
1. Tun und Unterlassen - der "Schwerpunkt der Vorwerjbarkeit"
Die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen ist entweder evident
oder, in den Fällen mehrdeutigen Verhaltens, höchst umstritten, dann aber
auch bedeutungslos. Zu dieser vor langem geäußerten Auffassung 18 habe
ich noch immer keine Situation gefunden, die sie widerlegen würde. In den
viel diskutierten Fällen der Ambivalenz hängt die Strafbarkeit 19 von der
Unterscheidung nicht ab, weil es stets auch eine Garantenstellung gibt. Das
ist natürlich sehr pragmatisch und sehr undogmatisch gedacht. Dogmatisch
soll es nach der Rechtsprechung darauf ankommen, wo der Schwerpunkt
der Vorwerfbarkeit liegt. 20
Diese Lehre ist schwer vermittelbar. Wenn man in der Vorlesung einen
der umstrittenen Fälle darlegt und den Studenten sagt, es käme für das Prob-
lem, ob ein Begehungs- oder ein Unterlassungsdelikt vorliegt, darauf an, ob
man den Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit in einem Tun oder einem Unter-
lassen sieht, dann fragt, wie man das herausfindet, und die Antwort der
herrschenden Ansicht zitiert, sind aus den erstaunten Gesichtern gelegent-
lich Zweifel am Verstand des Dozenten herauszulesen. Wieso gibt er uns als
Antwort die Frage zurück?21 Das Erstaunen schwindet nicht, wenn man
hinzusetzt, es käme auf eine wertende Betrachtung aller Umstände an. Wer-
tung nach welchen Maßstäben? Ein letzter Rettungsversuch: der Schlüssel
könnte im Prozessrecht liegen. Der BGH möchte vielleicht die Wertung
dem Tatrichter überlassen. Aber auch das trifft es nicht, weil sich das Revi-
sionsgericht die Freiheit der Überprüfung vorbehält.
Am Ende bleibt als denkbarer "Sinn" der Schwerpunkt-Formel nur der,
dass man sich damit gegen Kritik immunisiert, weil alles offen und schwer
angreifbar bleibt. Das ist eine Strategie, die vom BGH nicht selten verfolgt
wird. Methodisch gibt es dafür zwei probate Techniken. Man verweist auf

18 Verf. FS TrändIe, 1989, S. 219 ff.


19 Allenfalls die Strafhähe, § 13 Abs. 2 StGB.
20 BGHSt 6, 59; NStZ 99, 607: "Darüber ist in wertender Betrachtung vom Tatrichter zu
entscheiden".
21 Umfassende, treffende Kritik an der Schwerpunkts-Formel bei Roxin Strafrecht Allge-
meiner Teil 11, 2003, § 31 Rn. 79 ff.
Bildersprache in der Strafrechtsdogmatik 375

die "wertende Betrachtung aller Umstände des Einzelfalles" oder verwendet


subjektiv gefasste Kriterien, die sich dann je nach Lage mit objektiven "In-
dizien" geschmeidig handhaben lassen. Ich will das gar nicht fundamental
kritisieren. Die Dogmatik braucht eine gewisse "Elastizität", weil sie sonst
mit ihren abstrahierten Regeln an den Besonderheiten des Einzelfalles
scheitern könnte. Und das Revisionsgericht als Institution, die Einzelfallge-
rechtigkeit gewähren und die Einheit des Rechts gewährleisten soll, braucht
begriffliche Pufferzonen, in denen es diese manchmal unvereinbaren Auf-
gaben ausbalancieren kann. Dagegen ist nichts einzuwenden.
Aber die Formel vom Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ist doch arg
plump. Sie empfiehlt unverhohlen, vom erwünschten Ergebnis her zu argu-
mentieren.

2. Mittäterschaft
"Ein Minus bei der Tatausführung wird durch ein Plus bei der Vorberei-
tung aufgewogen". Das Faszinosum dieser Regel 22 zur "funktionellen"
Tatherrschaft - jeder kennt sie, jeder nennt sie - liegt in der unterschwelli-
gen Beschwörung der Gewissheit mathematischer Formeln. Sie funktioniert
aber nur, wenn man schon vorher weiß, dass einer Tatherrschaft hat, und sie
sagt nichts darüber, wann sie vorliegt. Auch Gehilfen leisten ja ihren "för-
derlichen" Tatbeitrag häufig nur im Vorbereitungsstadium, haben ein Minus
bei der Ausführung, aber ein deutliches Plus im Stadium der Vorberei-
tung. 23 Kriminologisch gesehen handelt es sich bei jener Regel um eine
Neutralisationstechnik. Für die Vertreter der Tatherrschaftslehre wäre es
nahezu delinquentes Verhalten, dem subjektiven Ansatz zu folgen. Da man
das beim Bandenchef, der sich die Finger nicht schmutzig macht, in der
Sache tun muss, nolens volens, geben sie ihre dogmatischen Hemmungen
zwar auf, das wiederum aber nicht zu und verbergen ihr Abdriften hinter
jener Farmel. 24 Das ist der "symbiotische Widerstreit", der in der Krimino-
logie beschrieben wird. 25 Es gibt ihn eben auch dogmatisch.

22 So oder ähnlich formuliert mittlerweile ein Klassiker, vgl. nur Wessels/Beulke Strafrecht
Allgemeiner Teil, 39. Aufl. 2009, Rn. 528. Kein Student lässt es sich entgehen, diesen Satz
anzubringen, wenn in einer Klausur irgendwie Täterschaft und Teilnahme vorkommt.
23 Der bekannte Fall: Ein korrupter Prof. verfasst Gutachten über die "Echtheit" von Gemäl-
den, die eines Tages vom Auftraggeber an irgendeinen verkauft werden. Beihilfe im Vorberei-
tungsstadium. Wenn die beiden fifty-fifty ausgemacht haben, ist der Prof. Mittäter. Mit Tat-
herrschaft hat das nichts zu tun.
24 Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, 7. Aufl. 1999, S. 690, bemerkt zu Recht: "ähnlich
vage wie die subjektive Theorie".
25 Sykes/Matza in: SackIKönig, Kriminalsoziologie, 1968, S. 360 ff.
376 Klaus Volk

111. Hausgemachte Empirie


"Hemmschwelle"
Vor dem Tötungsvorsatz, sagt die Rechtsprechung, liege eine viel höhere
Hemmschwelle als vor dem Gefährdungs- oder Körperverletzungsvorsatz. 26
Das muss man zwar nicht glauben,27 im Ergebnis aber begrüßen.
In München gibt es eine team-teaching-Vorlesung "Forensische Psychiat-
rie", erfunden von Bockelmann, bei dem ich Assistent war, und die, wenn er
scheinbar keine Lust hatte oder mich testen wollte, zusammen mit dem
Psychiater von mir zu halten war. Später, als die Veranstaltung längst etab-
liert war, durfte ich den verehrten Jubilar, der die Tradition fortgeführt hat,
gelegentlich vertreten. Aus diesen Zeiten rührt meine zweifelhafte Halbbil-
dung als Dilettant der Psychologie. Hemmschwelle? Welche Hemmschwel-
le hat ein stiefeltretender Neo-Nazi oder ein U-Bahn-Schläger? Fragt das
einer im Einzelfall? Sicher nicht. Es handelt es sich um einen nicht existen-
ten Erfahrungssatz, der nur dazu dient, den Anwendungsbereich des beding-
ten Vorsatzes einzuschränken und bei Strafe der Aufhebung des zu prüfen-
den Urteils dazu auffordert, besonders exakt zu begründen.
Der bedingte Vorsatz ist ja nichts anderes als eine Auffangkonstruktion,
entwickelt für die Fälle des nicht beweisbaren direkten Tötungsvorsatzes,
die dann, nach deutscher begriffsjuristischer Manier, übertragen wurde auf
alle Vorsatzprobleme. Für das Wirtschaftsstrafrecht ist diese Pauschalierung
inzwischen - längst überfällig - modifiziert worden. Auch die Hemm-
schwellen - "Theorie" besagt letztlich nichts anderes, als dass der Einzelfall
sorgfältig zuzuordnen ist. Im Ergebnis wird der Anwendungsbereich des
bedingten Vorsatzes eingeschränkt. In der Methode bleibt der BGH be-
griffsjuristisch, obwohl er sich in der Sache dem Vergleich von Präjudizien
nähert. Die Konvergenz von systematischer Dogmatik und case law kann
noch nicht offen proklamiert, sondern muss über vermeintliche Erfahrungs-
sätze vermittelt werden.
Fazit: Das Bild von der "Hemmschwelle" trifft auf unsereinen durchaus
zu. Ob es für den Täter passt, wird nicht untersucht. Hausgemachte Empirie,
die nicht zu belegen ist, wird als Erfahrungssatz verkleidet, damit man im
Einzelfall alle revisionsrechtlichen Möglichkeiten hat, ein als unrichtig
empfundenes Urteil zu kippen.

26 Exemplarisch BGH NStZ 1983,407; 1983,365; 1984,19; 2004, 330.


27 Vgl. Verrel NStZ 2004, 309; Trück NStZ 2005, 233.
Bildersprache in der Strafrechtsdogmatik 377

IV. Bildersprache wo?


Alle bisher erwähnten Beispiele liegen im Bereich des Allgemeinen Teils.
Das letzte - Hemmschwelle - betrifft die Konkretisierung der allgemeinen
Regeln über den bedingten Vorsatz rür die Gruppe der Tötungsdelikte.

J. Besonderer Teil
Wie steht es, allgemein gefragt, mit Bildern im Bereich des Besonderen
Teils? Sie sind selten. Je "besonderer" die Materie ist, desto geringer ist die
Neigung, etwas bildhaft auszudrücken. Niemand würde versuchen, die
Lösung eines Problems aus dem Bereich des Arzneimittel- oder Arbeits-
strafrechts (um nur den Buchstaben "A" aufzurufen) bildlich-plakativ zu
vermitteln. Hier sind genaue Definitionen gefragt und nicht Assoziationen.
Und wenn doch ein Bild aufgerufen wird, geschieht das in der Erwartung,
dass die Assoziationen schon die richtigen sein werden.
Ein Beispiel dafür ist die Redeweise des BGH zu der Frage, wann im Be-
reich der Untreue ein unverantwortlich hohes Risiko eingegangen wird:
wenn sich der Täter "nach Art eines Spielers" verhält. Da muss man sich
schon darauf verlassen, dass die Leute wissen, was gemeint ist. Nicht der
Spieler, der die Spieltheorie beherrscht. Das nämlich wäre jemand, der sich
gerade nicht pflichtwidrig verhält, sondern seine Entscheidung zwar unter
Ungewissheit und im Rahmen begrenzter Rationalität,28 aber auf der Basis
optimal erreichbarer Informationen nach wissenschaftlich ausgearbeiteten
Modellen trifft. 29 Am Anfang der Spieltheorie steht historisch der homo
oeconomicus 30 als der wirtschaftswissenschaftliche Bruder des juristisch
ordentlichen Kaufmanns,31 und das ist gewiss das Gegenteil dessen, was der
BGH chiffrieren wollte. Er möchte, dass man an den "Zocker" denkt, der
unrealistischen Optimismus an den Tag legt, Verluste bagatellisiert, sich
einbildet, dass Verluste durch Gewinne aufgewogen würden, Kredite auf-

28 Für deren Erforschung Herbert Simon 1978 und Daniel Kahnemann 2002 den Nobelpreis
erhielten. Insgesamt wurden für die Erforschung der Spieltheorie bisher acht Wirtschaftsnobel-
preise vergeben.
29 Der Klassiker: v. Neumann/Morgenstern Theory of Games and Economic Behavior,
1944.
30 Bernoulli, Bertrand, Cournot, 1838.
31 Beide sind, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen, im Abdanken begriffen - der
homo oeconomicus als einseitig rational und der ordentliche Kaufmann als der undeutliche
Schattenmann vergangener Zeiten.
378 Klaus Volk

nimmt (und weitere Merkmale des psychiatrisch "pathologischen" Spielens


aufweist). 32
Wer hat etwas davon, wenn an das Bild vom Spieler appelliert anstatt re-
feriert wird, dass sich pflichtwidrig verhält, wer ein unvertretbar hohes
Risiko eingeht? Allenfalls das Publikum. Es ist kein Zufall, dass bei der
Untreue ein Bild verwendet wird. Der Tatbestand ist ähnlich unbestimmt
wie es die oben aufgegriffenen Rechtsfiguren des Allgemeinen Teils sind,
und so entsteht das Bedürfnis nach "Greifbarem". Dass aber ein Typus - der
Spieler - dazu herhalten muss, ist unglücklich, weil wir uns vom Tätertypen
längst verabschiedet haben. Hier wird unterschwellig auf das moralische
Abseits gezielt.

2. Strafprozessrecht
Bilder helfen dabei, ein Ergebnis "an den Mann zu bringen", es nachträg-
lich plausibel und eingängig zu machen. Sie helfen wenig, wenn es darum
geht, ad hoc eine Entscheidung zu treffen. Das aber ist die im Verfahren
typische Situation: was ist der nächste Schritt, was mache ich jetzt? Als
Handlungsanweisung gibt es Bilder nicht. Sie finden sich nur dort, wo es
etwas zu verbrämen gilt. 33
Wie zum Beispiel die Ablehnung eines Beweisantrages mit der Begrün-
dung, die Beweisbehauptung sei ohne jede begründete Vermutung "aufs
Geratewohl ins Blaue hinein aufgestellt" worden, so dass es sich nur "um
einen nicht ernst gemeinten, zum Schein gestellten Beweisantrag" hande-
le. 34 Diesen Mechanismus hatten wir schon - eine aus der Sicht des An-
tragstellers zu beurteilende Frage wird nicht aus dessen Perspektive, son-
dern aus "der Sichtweise eines verständigen Antragstellers"35 beantwortet,
also objektiviert.
Was das Verbrämen betrifft, also das Umrahmen, Verzieren und Ver-
schleiern, ist im Verfahrensrecht sicherlich an der Spitze der Hitliste das
"Organ der Rechtspflege". Der Verteidiger als Organ der Rechtspflege. Es
war der germanistische Zweig der historischen Rechtsschule, der einem
Lehmklumpen Leben eingehaucht, ihn zur Person erklärt und mit Organen
und Gliedern versehen, ihn zur Uuristischen) Person erklärt hatte. Wie wird
ein Bild zum Rechtsbegriff? "Indem das Recht anordnet, dass und unter

32 Wobei "zocken", dem Hebräischen entstammend, eigentlich "spielen, unterhalten" und


ursprünglich "lachen" heißt (s. Wiktionary), also harmlos ist. Strafrechtlich gewendet kenn-
zeichnet es einen, der über das Risiko nur lacht, es verlacht.
33 Vertrauen wir noch einmal der Sprache: verbrämen heißt, etwas Negatives nlit positivem
Beiwerk umrahmen, verzieren, verschleiern.
34 BGH NStZ 2003, 497~ 2006, 405~ 2008,52.
35 BGH a.a.O.
Bildersprache in der Strafrechtsdogmatik 379

welchen Voraussetzungen in den Lebensäußerungen bestimmter Glieder


oder Gliederkomplexe die Lebenseinheit des Ganzen zur rechtlichen Er-
scheinung kommt, stempelt es den Begriff des Organs zum Rechtsbeg-
riff'.36 Es geht mir nicht darum, diese Ansicht zu würdigen, nicht aus der
Perspektive von damals und nicht aus der von heute. Auffällig ist allerdings,
dass gerade denen die Floskel vom Organ der Rechtspflege so leicht über
die Lippen geht, die an anderer Stelle vehement gegen die Strafbarkeit von
Verbänden eintreten ohne zu bemerken, dass sie sich zwar auf die gleiche
Grundlage beziehen, dabei aber selbst widersprechen. 37 Man greift eine
passende Formulierung auf, ohne über ihre wissenschaftliche Fundierung
länger nachzudenken, und wirft sie in den Ring. Otto v. Gierke wäre es
wohl nicht eingefallen, "die Rechtspflege" als Organismus zu bezeichnen.
Ist sie ein Verband, eine soziale Lebenseinheit? Die Rechtspflege ist und hat
eine Funktion, unter anderem die der Erforschung der Wahrheit, und nur
darum geht es. Den Verteidiger daran verantwortlich zu beteiligen, ist der
Sinn der wolkigen Floskel vom Organ der Rechtspflege. Dass er zur Wahr-
heit verpflichtet sei und (anders als sein Mandant) nicht lügen dürfe, ließe
sich durch eben diesen einen Satz festhalten. Die "Überhöhung" dieser
schlichten Regel durch den institutionell-abstrakten Begriff "Organ der
Rechtspflege" mag ja deutschen "Wesen" entsprechen, ist aber im Grunde
entbehrlich. Der höher angesiedelte Begriff macht aber Deduktionen zum
Nachteil der Verteidigung möglich (Mitwirkungspflicht, wie z. B. durch
Widerspruch), und das dürfte der tiefere Sinn der Sache sein.

3. Strafverfahren
Eine ganz andere Rolle spielen Bilder im Strafverfahren. Was sagt der
Richter zu Beginn der Beweisaufnahme, sich im Stillen oder laut im Saal?
"Nun wollen wir uns einmal ein Bild von der Sache machen". Ob das am
Ende ein Abbild der Wirklichkeit ist, weiß man nie ganz genau (weshalb
nicht Wissen, sondern eine entsprechende "Überzeugung" gefordert ist und
ausreichen muss). Welche "Aufnahmen" haben wir denn, die helfen kön-
nen, das Gesamtbild zu formen? Das, was Zeugen wahrgenommen (und in
ihr Gedächtnis aufgenommen) haben, die Spuren, die aufgenommen worden
sind, etc. Nun ist es jedenfalls beim Personalbeweis so, dass man zwar ver-
sucht, einzelne Punkte der Aussage auf andere Weise zu verifizieren, um

36 V Gierke Das Wesen der menschlichen Verbände. Rektoratsrede vor der Universität Ber-
lin am 15. Oktober 1902, S. 29.
37 "Das Recht schreibt dem Verbande Persönlichkeit zu. Somit muss er dem Individuum
gleich eine leiblich-geistige Lebenseinheit sein, die wollen und das Gewollte in die Tat umset-
zen kann", a.a.O. S. 15 - na also.
380 Klaus Volk

sich der "Glaubwürdigkeit des Zeugen" (Glaubhaftigkeit der Aussage)


sicher sein zu können. Insgesamt aber kommt es auf die Plausibilität seiner
"story" an. Dann wird sie für wahr gehalten, und so folgt die Wirklichkeit
aus der Wahrheit. 38
Mit diesen Andeutungen über Bilder habe ich mein Thema der Bilder-
sprache überschritten. Es handelte sich ohnehin nur, wie angekündigt, um
eine Glosse, und sie geht methodologisch nicht über das hinaus, was schon
zu Zeiten der "glossa ordinaria" möglich gewesen wäre. Über Metaphern im
Recht, ein der "Bildersprache" eng verwandtes Thema, ist schon viel ge-
schrieben worden. 39 Es sind aber vor allem die neuen Forschungen zu Visu-
alisierung, die uns neue Einblicke in die Art und Weise eröffnen werden,
wie juristische Konzepte beschaffen sind und wie Juristen denken. 40 Ob sie
auch für die Kriminologie Uedenfalls in einigen Bereichen) aufschlussreich
sein können, möchte ich nicht zuletzt deshalb offen lassen, weil ich davon
zu wenig verstehe. Und in einer Festschrift für Heinz Schöch, den präzise
empirisch arbeitenden Forscher, wären sie gewiss fehl am Platze. Ich wün-
sche ihm und uns, dass er weiterhin Maßstäbe setzt.

38 Diese Zusammenhänge, das "story telling" und die narrative Struktur der Wahrheit, habe
ich in FS SaIger, 1995, S. 411 etwas näher dargestellt.
39 Ich sehe davon ab, Literatur aufzuführen, die ich hier gar nicht auswerten will.
40 Vgl. auch Holzer in: Schweighofer et al. (Hrsg.), Komplexitätsgrenzen der Rechtsinfor-
matik, 2008, S. 523 ff.
Staatsschutzstrafrecht im Vorfeld
Probleme strafrechtlicher Prävention bei mutmaßlichen
terroristischen Einzeltätern

RITA HAVERKAMP

I. Einleitung

"J etzt zieht es offenbar eine Kohorte radikaler Verlierer in den Bann des
Terrors - individuell motivierte amateurhafte Möchtegernbomber, die
schwer zu bekämpfen sind, weil sie sich in westlichen Gesellschaften zu
bewegen wissen und sich oft in kürzester Zeit selbst per Internet indoktri-
nieren. Faruk Abdulmutallab, der ,Unterwäschebomber' , ist so einer
[ ••• ]." 1

Vermutlich steht Abdulmutallab Al Qaida nahe, allerdings ist gegenwär-


tig noch unklar, ob der Nachweis seiner Zugehörigkeit zu dem internationa-
len terroristischen Netzwerk gelingt. 2 Er könnte damit zu einer neuen Gene-
ration von Einzeltätern gehören, die nicht in eine terroristische Organisation
integriert sind. 3 Genau diesen Typus möchten die drei neuen Strafbestim-
mungen im Staatsschutzstrafrecht nicht erst im Versuchsstadium - wie bei
Abdulmutallab erfassen, sondern bereits im Vorbereitungsstadium.

1 Lau DIE ZEIT Nr. 2/2010,3. Umar Faruk Abdulmutallab wurde am 25. Dezember 2009
bei dem Versuch eines Flugzeugsattentats von einem Passagier überwältigt.
2 Re inert TIME vom 11.1.2010 unter
www.time.com/time/printout/ 0,8816, 1952315,00.html.
3 Dossier in DIE ZEIT Nr. 2/2010 über die zweite Generation Al Qaidas und den Ausbil-
dungsstützpunkt im Jemen~ H.-i. Albrecht FS Nehm, 2006, S.21 stellt zutreffend fest: "Der
moderne Terrorismus ist in eine Ära der Netzwerke übergegangen, die keine Peripherie mehr
kennen, sondern Effizienz in der Anwendung von Gewalt und Schutz vor Entdeckung aus dem
Nebeneinander einer Vielzahl selbständiger Gruppen und damit aus Redundanz bezieht. Neue-
re Beschreibungen des Terrorismus kommen allesamt zur Schlussfolgerung, dass es sich wohl
eher um Netzwerke denn um hierarchisch strukturierte Phänomene mit Zentrum und Peripherie
handelt."
382 Rita Haverkamp

Die am 4. August 2009 4 in Kraft getretenen §§ 89a, 89b und 91 StGB 5


sollen nach der Absicht des Gesetzgebers auf die neuen Bedrohungsszena-
rien des internationalen Terrorismus reagieren, um nun auch potenzielle
Einzeltäter bei der Vorbereitung strafrechtlich zu verfolgen, die nicht von
den §§ 129a und b StGB oder § 30 StGB erfasst werden. 6 Der vereitelte
Flugzeuganschlag von Aodulmutallab scheint für die viel gescholtene Kri-
minalisierung im Vorfeld den Nachweis zu erbringen, dass die frühe straf-
rechtliche Verfolgung von potenziellen Alleintätern aufgrund ihrer typi-
schen Ausprägung und ihrer besonderen Gefährlichkeit erforderlich ist. Aus
befürwortender Perspektive 7 wirkt das neue Staatsschutzstrafrecht modem
und am Puls der Zeit, da es den lose agierenden Einzeltäter als aktuellen
Terrorismustypus ins strafrechtliche Visier nimmt. 8
Diesem Gedanken wird dennoch nicht zugestimmt, wenngleich der Fall
Abdulmutallab eindrücklich das nach wie vor bestehende Gefährdungspo-
tenzial des internationalen Terrorismus vorführt. Denn das neue Staats-
schutzstrafrecht stößt auf schwerwiegende Bedenken9 wegen der Verhält-

4 Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefahrdenden Gewalttaten


(GVVG), BGBI. I, S. 2437.
5 Art. 7 des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung des Terrorismus v. 16.5.2005
(SEV Nr. 196) wurde verwirklicht, weil die Ausbildung für terroristische Zwecke kriminali-
siert worden ist, so BT-Drs. 1216/12428, S. 12. Deutschland hat dieses Übereinkommen am
24.10.2006 unterzeichnet, aber bislang noch nicht ratifiziert, vgI. http://conventions.coe.int/
Treaty/CommuniChercheSig. asp?NT= 196&CM=8&DF=&CL=GER~ die Kriminalisierung im
Vorfeld geht über das Übereinkommen hinaus, wie die Pönalisierung der Finanzierung poten-
zieller Anschläge als Vorbereitungshandlung in § 89a Nr. 4 StOB zeigt~ dies trifft ebenso auf
den EU-Rahmenbeschluss zu (2008/919/11 des Rates v. 28.11.2008 zur Änderung des Rah-
menbeschlusses 2002/475/11 zur Terrorismusbekämpfung, AbI. L 330/21), vgI. hierzu
F. Zimmermann ZIS 2009, 1 ff.~ bemerkenswert ist indessen, dass die Tathandlung in Nr. 4
Art. 2 das von Deutschland 2003 ratifizierte UN-ÜbereinkOlnmen zur Bekämpfung der Finan-
zierung des Terrorismus v. 9.11.1999 umsetzt.
6 BT-Drs. 16/12428, S. 12.
7 Zu den Befürwortern des GVVO gehören Bader NJW 2009, 2853 ff.~ Kauder ZRP 2008,
169, ZRP 2009, 169 ff.~ Uhl DRiZ 2008, 140~ Wasser/Piaszek DRiZ 2008,315 ff.
8 Die strafbaren Vorbereitungshandlungen eines potenziellen terroristischen Alleintäters
wurden mit weitgehenden Befugnissen im Ermittlungsverfahren nach der StPO und anderen
Gesetzesänderungen wie im Aufenthaltsgesetz verbunden. Die erweiterten Ermittlungsbefug-
nisse ermöglichen den Strafverfolgungsbehörden frühzeitig empfindliche strafprozessuale
Grundrechtseingriffe. Sogar Sicherungshaft kann gern. § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO angeordnet
werden. Die neuen Stratbestimmungen werden deshalb auch als "Türöffner für weitreichende
prozessuale Eingriffe" angesehen, was als Legitimation zur Begründung materieller Stratbar-
keit nicht ausreicht~ Beck Online-Kommentar StOB-Heintschel-Heinegg, Stand 01.10.2009,
Vor § 89b.
9 Siehe nur Backes StV 2008, 654~ Beck FO Paulus, 2009, S. 15 ff.~ Deckers/Heusel ZRP
2008, 169~ Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling NStZ 2009, 593 ff.~ Gierhake ZIS 2008, 397; Radt-
ke/Steinsiek ZIS 2008, 383; Sieber NStZ 2009, 363~ T Walter KJ 2008, 443; Weißer ZStW
Staatsschutzstrafrecht im Vorfeld 383

nismäßigkeit der Regelung, der Bestimmtheit der Tathandlungen sowie der


täterorientierten Ausformung der abstrakten Gefährdungsdelikte, deren
objektive Tatbestandsmerkmale sich auch auf sozial neutrale bzw. unge-
fährliche Tathandlungen beziehen und für sich genommen keinen Unrechts-
gehalt aufweisen. 1O Erst der Anschlagsvorsatz konstituiert das strafbare
Unrecht, so dass es in weitaus höherem Maße auf die Gefährlichkeit des
potenziellen Alleintäters ankommt. 11
Der dem verehrten Jubilar gewidmete Beitrag versucht, insbesondere As-
pekte zur Auslegung ausgewählter Tatbestandsmerkmale des § 89a Abs. 1
und 2 StGB beizusteuern. Heinz Schöch begleitete kriminalpolitische Ent-
wicklungen stets mit wohldurchdachter und fundierter Kritik. In jüngster
Zeit beschäftigte er sich auch mit den Gesetzesinitiativen zur Terrorismus-
bekämpfung - u.a. dem verfassungswidrigen "Rettungsabschuss entführter
Flugzeuge" 12 - und plädiert für eine verhältnismäßige und maßvolle Sicher-
heitspolitik. 13

11. Rechtsgüter und Wesen der neuen Straftatbestände


Kennzeichnend für die neuen Staatsschutzstraftatbestände 14 ist die Verla-
gerung der Strafbarkeitsgrenze weit vor den Versuchsbeginn. 15 Allerdings

(121) 2009, 131~ sowie die Übersicht zu den wesentlichen Einwänden bei Fischer StOB,
57. Aufl. 2010, § 89a, Rn. 7-9.
10 RadtkelSteinsiek (Fn. 9), 393 f.
11 RadtkelSteinsiek (Fn. 9), 394.
12 Vgl. Kutscha Bürgerrechte & Polizei/CILIP 83 Nr. 1/2006,76.
13 Schäch Kriminalpolitik in Zeiten komplexer Bedrohungen, in: Lösel (Hrsg.), Kriminolo-
gie und wissensbasierte Kriminalpolitik, 2007, S. 45-64.
14 Backes (Fn. 9), 654 f. kritisiert die Einordnung in diese Rubrik~ die fehlende Bezugnahme
auf Terrorismus in den neuen Straftatbeständen ist vor dem Hintergrund interessant, dass in der
Anwendungspraxis unterschiedliche Definitionsversuche zirkulieren (vgl. hierzu Weigend FS
Nehm, 2006, S. 155 ff., auch zur Definition des EU-Rahmenbeschlusses S. 162 ff.) und in der
Wissenschaft der Begriff des Terrorismus nach wie vor ungeklärt ist, wobei es eine unüber-
sichtliche Vielzahl an Begriffsbestimmungen gibt~ bereits in den 1970er Jahren trugen
SchmidlJongman Political Terrorism, 2. Aufl. 1988, in ihrem Standardwerk 109 Definitionen
zusammen~ außerdem ist in der Wissenschaft höchst umstritten, ob der sog. "Lone Wolf' als
Alleintäter überhaupt von dem Begriff Terrorismus erfasst wird.
15 Je mehr Zwischenschritte die Verwirklichung des angedachten Anschlags erfordert, desto
weniger zielgerichtet erscheint die Vorbereitungshandlung. Deshalb verwundert die "Untertei-
lung" in Vorbereitungshandlungen nach dem Orad der Nähe zum Versuchsbeginn nicht, d.h.
wenn bei den Tathandlungen nach der Vorbereitung vor dem unmittelbaren Ansetzen, der
"Vorbereitung der Vorbereitung" und der "Vorbereitung zur Vorbereitung einer Vorbereitung"
unterschieden wird~ vgl. GazeaslGrosse-WildelKießling (Fn.9), 598, 601 ~ NK-Paeffgen,
3. Aufl. 2010, § 89a Rn. 41 bzgl. § 89a Abs. 2 Nr. 1 StOB.
384 Rita Haverkamp

ist zu konstatieren, dass dem StGB die Strafbarkeit von potenziellen Einzel-
tätern in der Vorbereitungsphase nicht fremd ist. 16 Bei den §§ 89a, 89b und
91 StGB handelt es sich um abstrakte Gefährdungsdelikte. Die Strafwürdig-
keit ergibt sich aus der Vermutung, dass die sanktionierten Verhaltenswei-
sen fur die geschützten Rechtsgüter generell gefährlich sind, obwohl nur ein
entfernter zeitlicher und räumlicher Bezug zur Verwirklichung der schwe-
ren Gewalttat besteht. 17 Auf den Eintritt einer Gefährdung kommt es im
Einzelfall gerade nicht an, denn die angenommene Gefährlichkeit der Vor-
bereitungshandlungen stellt den Grund für die Schaffung der Straftatbestän-
de dar. 18 Obgleich in der Gesetzesbegründung der terroristische Hintergrund
und Zusammenhang der neuen Delikte betont wird,19 lässt der Gesetzestext
einen solchen Bezug vermissen und begnügt sich mit einer allgemeinen
Staatsschutzklause 1.
Über die geschützten Rechtsgüter besteht Uneinigkeit. So reicht das Mei-
nungsspektrum vom ausschließlichen Schutz der hinter §§ 211, 212, 239a,
239b StGB stehenden Individualrechtsgüter potenzieller Gewaltopfer20 über
den Schutz der Individual- und der Staatsschutzrechtsgüter21 bis hin zum
vorrangigen Schutz der Rechtsgüter der Allgemeinheit.22 Für die beiden
letzteren Ansichten spricht die Staatsschutzklausel des § 89a Abs. 1 S. 2
StGB,23 die sich auf die innere und äußere Sicherheit eines jeden Staates
(vgl. Abs. 3), den Bestand internationaler Organisationen oder auf die
Grundsätze der Verfassung bezieht. Dagegen ist einzuwenden, dass sich
hieraus ein "universeller Staatsintegritätsschutz"24 ohne Konturen und Ziel-
richtung ergibt. 25 Eine derartige Uferlosigkeit verträgt sich nicht mit der

16 S. nur §§ 80, 83, 87, 149, 202c, 234a Abs. 3, 267 Abs. 1 Alt. 1, 275, 303a Abs. 3, 303b
Abs. 5,310, 316c Abs. 4 StGB.
17 So auch Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 594 (diese beziehen sich auf die Eig-
nungsklausel bzgl. der "noch nicht begangenen späteren Gewalttat")~ Radtke/Steinsiek (Fn. 9),
387~ Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 7~ Zöller Terrorismusstrafrecht, 2009, S. 564~ während
Fischer (Fn. 9) dieser Einordnung bzgl. §§ 89b, 91 zustimmt, geht er bei § 89a Rn. 10,41 von
einem unechten Unternehmensdelikt aus; Gierhake (Fn.9), 401 f. verneint mit beachtlicher
Ber:ründung eine Legitimation als abstrakte Gefährdungsdelikte.
8 Wessels/Beulke Strafrecht Allgemeiner Teil, 39. Aufl. 2009, Rn. 29.
19 BT-Drs. 16/12428, S. 12.
20 Zöller (Fn. 17), S. 564: Leben, Freiheit und Unversehrtheit des Opfers, Freiheit des in
seiner Sorge ausgenutzten Dritten, Vermögen, Freiheit der Willensentschließung und -betäti-

gU~fBackes (Fn. 9), 654; Ga::eas/Grosse- Wilde/Kießling (Fn. 9), 594; Paeffgen (Fn. 15), § 89a
Rn. 7.
22 Fischer (Fn. 9), § 89a Rn. 5 und mittelbar der Individualrechtsgüter.
23 Ebenso §§ 89b Abs. 1 und 91 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB, die auf die schwere staatsgefähr-
de~2e Gewalttat in § 89a StGB verweisen.
So zu Recht Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 10.
25 Backes (Fn. 9), 654; Zöller (Fn. 17), S. 564.
Staatsschutzstrafrecht im Vorfeld 385

limitierenden Funktion des Rechtsgutsbegriffs. 26 Wenn schon Legitimati-


onsprobleme bei den Schutzgütem "öffentlicher Frieden" und "öffentliche
Ordnung bzw. innere Sicherheit" ausgemacht werden,27 dann gilt dieser
Befund umso mehr für die universellen Rechtsgüter der Staatsschutzklausel.
Diese abstrakten und unbestimmten "Universalrechtsgüter" hegen die
Schutzrichtung nicht ein, sondern entgrenzen die unrechtsbegründende
Eigenart der neuen Stratbestimmungen. 28 Anknüpfungspunkt für den Maß-
stab zur Beurteilung stratbaren Verhaltens dürfen daher nicht die Rechtsgü-
ter der Allgemeinheit der neuen Stratbestimmungen sein. Vielmehr ist auf
die Individualrechtsgüter der dahinter stehenden Delikte abzuheben. Die
Funktion der Staatsschutzklausel erschöpft sich mithin darin, den allgemei-
nen staatsschützenden Bezug zu den stratbaren Vorbereitungshandlungen
herzustellen. 29

111. Der Straftatbestand des § 89a StGB


Die Vorbereitung einer schweren staatsgefahrdenden Gewalttat wird in
ihren Grundzügen dargestellt und beschränkt sich auf die Erörterung be-
denklicher objektiver Tatbestandsmerkmale sowie die Vorsatzproblematik.
§ 89a StGB pönalisiert Handlungen im Vorfeld zu den in den §§ 211,212,
239a, 239b StGB normierten Verbrechen. In Bezug auf einen potenziellen
Alleintäter erfolgt damit eine Anlehnung an den Straftatenkatalog in Nr. 1
und 2 des § 129a StGB, da die weiteren dort angeführten Straftaten nicht
ohne organisatorische Einbindung verübt werden können. 3o Die Tathand-
lungen ergeben sich aus einer Zusammenschau des Abs. 1 LV.m. Abs. 2, so
dass § 89a StGB einen "Gesamttatbestand" bildet. 31

26 Gierhake (Fn. 9), 404.


27 Vgl. die Debatte zu § 129a StGB bzgl. "die öffentliche Sicherheit" und die "staatliche
Ordnung": befürwortend BGHSt 41,47 (51) und T. d. Lit., z. B. Fischer (Fn. 9), § 129 Rn. 2,
da~~gen T. d. Lit. z.B. SK-Rudolphi, § 129 Rn. 4~ OstendorfJA 1980,499. . . ..
Zum Ganzen Gierhake (Fn. 9), 404~ Beck Unrechtsbegründung und Vorfeldknmlnahsle-
rung, 1992, S. 94 ff., 143 sieht im "öffentlichen Frieden" kein geeignetes Rechtsgut~ vielmehr
müssten die Schutzrichtung und die Modalitäten der Beeinträchtigung näher bestimmt werden~
auch Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Autl. 2005, § 2 C IX, S. 28 äußert Vorbehal-
te~ weitere ablehnende Stimmen: ScheiffWann beginnt der Strafrechtsschutz gegen kriminelle
Vereinigungen (§ 129 StGB)?, 1997, S. 25 f. zur Unbestimmtheit der Begriffe "öffentliche
Ordnung" und "innere Sicherheit", und Hefendehl Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002,
S. 288 ff.~ Sieber (Fn. 9), 360~ Wohlers Deliktstypen des Präventionsstrafrechts - zur Dogmatik
'moderner' Gefahrdungsdelikte, 2000, S. 225 f.
29 Zöller (Fn. 17), S. 564.
30 Vgl. BT-Drs. 16/12428, S. 12~ Backes (Fn. 9), 655~ Zöller (Fn. 17), S. 564.
31 So auch Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 11 ~ Zöller (Fn. 17), S. 565.
386 Rita Haverkamp

1. Die Staatsschutzklausel in § 89a Abs. 1 S. 2 StGB


Entsprechend der Legaldefinition in § 89a Abs. 1 S. 2 StGB liegt eine
schwere staatsgefährdende Gewalttat vor, wenn die Tat i.S.d. §§ 211, 212,
239a bzw. 239b StGB nach den Umständen bestimmt und geeignet ist, den
Bestand und die Sicherheit32 eines Staates oder einer internationalen Orga-
nisation zu beeinträchtigen oder Verfassungsgrundsätze der Bundesrepublik
Deutschland zu beseitigen, außer Geltung zu setzen oder zu untergraben.
N ach dem gesetzgeberischen Willen soll sich die Staatsschutzklausel an
§ 120 Abs.2 Nr.3 lit. (a) und (b) GVG anlehnen. 33 Mit dem Bezug auf
diese Prozessnorm geht jedoch die restriktive Wirkung der Staatsschutz-
klausel weitgehend verloren, zumal deren Auslegung durch die Eggesin-
Entscheidung des BGH 34 konturiert wird. 35
Die beabsichtigte Einschränkung relativiert demzufolge eine "außeror-
dentlich weite Interpretation des Staatsschutzbezugs".36 Nach der Gesetzes-
begründung, die auf die Ausführungen der Eggesin-Entscheidung rekurriert,
soll die innere Sicherheit schon dann beeinträchtigt sein, "wenn durch die
Tat zwar nicht die Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Einrichtungen
in Mitleidenschaft gezogen wird, aber durch den ihr innewohnenden Ver-
stoß gegen Verfassungsgrundsätze ihren besonderen Charakter gewinnt". 37
Hierfür soll es bereits ausreichen, dass "das Vertrauen der Bevölkerung
erschüttert wird, vor gewaltsamen Einwirkungen in ihrem Staat geschützt zu
sein".38 Damit berührt jeder geplante Anschlag eines Einzeltäters die innere
Sicherheit. 39
Irrelevant ist somit eine rationale und objektivierte Bewertung eines po-
tenziellen Anschlags für die Funktionstüchtigkeit eines Staates und seiner
Einrichtungen. Ausschlaggebend ist allein eine nicht belegte Annahme über
nebulöse gefühlte Sicherheiten in der Gesellschaft, die auf einer vorüberge-
henden, medial aufgeheizten Momentaufnahme und gerade nicht auf einer
kontinuierlichen, empirisch abgesicherten Beobachtung beruht. Um eine
restriktive Auslegung zu erreichen, bietet sich die von Heinz Schäch für
kriminalpolitische Entscheidungen stets eingeforderte kriminologisch fun-

32 Innere und äußere Sicherheit nach BT-Drs. 16/12428, S. 14.


33 BT-Drs. 16/12428, S. 14.
34 BGHSt 46, 238 ff.
35 Auch Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 594~ Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 16.
36 Weißer (Fn. 9), 147.
37 BT-Drs. 16/12428, S. 14 in Anlehnung an BGHSt 46,238 (250).
38 BT-Drs. 16/12428, S. 14.
39 Überspitzt formuliert, können nicht nur potenzielle Täter mit politisch-extremistischem
Hintergrund (vgl. Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling [Fn. 9], 594), sondern auch allgemein "ge-
fährliche Täter" berücksichtigt werden und damit ein potenzieller Sexualtäter, beispielsweise
im tragischen Fall von Natascha Kampusch in Österreich.
Staatsschutzstrafrecht im Vorfeld 387

dierte Betrachtung an. Die Einzelfallprüfung müsste zunächst das Gefähr-


dungspotenzial des geplanten Anschlags auf Basis der gesetzgeberischen
Intention analysieren. Dabei geht es um die Vorbereitung von verheerenden,
ideologisch motivierten Anschlägen,40 die mit gemeingefährlichen Mitteln
eine unbestimmte Anzahl von Opfern in den Tod reißen sollen. 41 Im ange-
sprochenen Eingangsfall "Abdulmutallab" stellte das vereitelte Sprengstoff-
attentat eine tatsächliche Bedrohung für die Passagiere des Flugzeugs i.S.d.
GVG dar. Die Ungewissheit über das Auftreten eines solchen seltenen
Großrisikos ("dread risk") erzeugt irrationale Ängste, weil ungeachtet der
geringen Wahrscheinlichkeit eine Viktimisierung eines jeden Individuums
möglich erscheint.42 Insofern kann eine Vertrauenseinbuße in die staatliche
Gewährleistung von Sicherheit angesichts des heutigen Standes der Sozial-
forschung nicht von der Hand gewiesen werden. 43 Diese Erschütterung
dürfte jedoch nach einer gewissen Zeit abklingen und eben keine dauerhafte
Destabilisierung der Demokratie zeitigen. Der temporäre Situationsbezug
des Vertrauenskriteriums erscheint daher inadäquat zur Beurteilung der
anhaltenden Staatsschutzgefährdung. Mit Hilfe von nachvollziehbaren Kri-
terien und Risikofaktoren könnte hier eine kriminologische Bewertung dazu
beitragen, das Vertrauenskriterium aufzugeben und die Staatsschutzklausel
einzuschränken.

2. Vorbereitungshandlungen des § 89a Abs. 28tGB


Abs. 1 des § 89a StGB findet bereits dann Anwendung, wenn der Delikts-
typ der vorbereiteten Tat i.S.d. §§ 211,212, 239a oder 239b StGB in der
Vorstellung des potenziellen Attentäters hinreichend bestimmt ist. 44 Im
Unterschied zu § 30 StGB ist eine Konkretisierung der anvisierten Tat nach

40 "Großanschläge" von New York, London und Madrid.


41 Ähnlich argumentieren im Folgenden Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn.9), 595; sie
führen zutreffend an, dass "gezielte Geiselnahmen oder Tötungen von Repräsentanten des
Staates unter das "Untergraben von Verfassungsgrundsätzen" subsumiert werden sollten; denn
nicht jedermann kann sich in seinem eigenen Sicherheitsgefühl von solchen Taten rational
tangiert fühlen, da man nicht zum potenziellen Opferkreis gehört".
42 Hierzu auch Sieber (Fn. 9), 353 f. und Gigerenzer Psychological Science 15 (2004), 286-
287, die beide zusätzlich die indirekten Folgewirkungen und Nebenkosten aufzeigen.
43 Wie schon vorher angeführt, fehlt es an einer soliden und aussagekräftigen empirischen
Basis zu Sicherheitswahmehmungen. Eine Erforschung von Sicherheitsgefühlen könnte Auf-
schluss über Befindlichkeiten und Prioritäten in der Bevölkerung geben, aus denen sich ein
differenziertes Bild zu Anforderungen an Sicherheiten auf unterschiedlichen Ebenen ergeben
und möglicherweise Interventionen für einen anderen Umgang mit "dread risks" entwickelt
werden könnten.
44 BT-Drs. 16/12428, S. 14; ein weiterer Unterschied ist (s.o.!.), dass § 30 StGB einen wei-
teren Beteiligten verlangt.
388 Rita Haverkamp

Zeit, Ort und Art der Ausführung gerade nicht nötig. Diese weite Pönalisie-
rung des bisher straflosen Vorfelds schwerer staatsgefährdender Gewaltta-
ten muss den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots nach Art. 103 Abs. 2
GG genügen. Deshalb enthält Abs. 2 des § 89a StGB vier abschließende
und umfassende Alternativen tatbestandsmäßiger Vorbereitungshandlun-
gen. 45 Grob skizziert handelt es sich um folgende Tathandlungen:
- Unterweisen oder sich Unterweisen lassen in der Herstellung von oder
im Umgang mit den enumerativ genannten Tatobjekten oder sonstigen
Fertigkeiten (Nr. 1),

Herstellen, sich oder einem anderen Verschaffen, Überlassen oder


Verwahren von Waffen, bestimmten Stoffen oder besonders zur Aus-
ruhrung der vorbereiteten Tat erforderlichen Vorrichtungen (Nr. 2),

_. Sich Verschaffen oder Verwahren wesentlicher Gegenstände oder


"Grundstoffe", um diese Waffen, Stoffe oder Vorrichtungen herzustel-
len (Nr. 3),

- Finanzieren von Anschlägen (Nr. 4).


Bei der Fassung der Tathandlungen haben sich etliche Ungenauigkeiten
eingeschlichen, die bei der Auslegung von verschiedenen Tatbestands-
merkmalen in Abs. 2 Schwierigkeiten bereiten und teilweise verfassungs-
rechtlich fragwürdig sind. Den diffusen Fällen und Generalklauseln wohnt
ein geringer bzw. kaum fassbarer Gehalt der Gefährdung inne. 46 Dies gilt
vor allem rur Tathandlungen ohne ausgereifte Tatvorstellungen in einem
frühen und wenig gegenständlichen Planungsstadium. Die notwendige Prä-
zisierung des objektiven Unrechtskerns fiel dem Bestreben des Gesetzge-
bers, alle denkbaren Strafbarkeitslücken zu schließen, zum Opfer. Dies
macht die Fassung der Tatalternativen in Nr. 1 deutlich, bei der versucht
wurde, sämtliche vorstellbaren Vorbereitungshandlungen in strafbare Ver-
haltensweisen zu gießen. 47 Die tatbestandliche Unschärfe spitzt sich bei den
sozialadäquaten Verhaltensweisen zu, beispielsweise bei den Finanzie-
rungsaktivitäten der Nr. 4. Um die Problematik zu veranschaulichen, wer-
den besonders fragwürdige Tatbestandsmerkmale und Tathandlungen unter-
sucht.

45 BT-Drs. 16112428, S. 15.


46 Decker~'!Heusel(Fo. 9), 171 ~ Sieber (Fo. 9), 362.
47 Deckers/Heusel (Fo. 9), 171.
Staatsschutzstrafrecht im Vorfeld 389

3. "Andere gesundheitsschädliche Stoffe" in Abs. 2 Nr. 1


Der Begriff der "anderen gesundheitsschädlichen Stoffe" ist § 224 Abs. 1
Nr. 1 StGB entnommen und soll Krankheitserreger, insbesondere biologi-
sche Kampfstoffe, erfassen. 48 Im Rahmen von § 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB
fallen unter den Begriff auf mechanischem oder thermischem Wege wir-
kende Stoffe. 49 Abgesehen von Bakterien, Viren oder sonstigen Krankheits-
erregern gehören ebenso zerstoßenes Glas, zerhacktes Metall, heiße Flüs-
sigkeit oder mit Radioaktivität kontaminierte Stoffe dazu. Demnach könnte
schon die Einführung in die Handhabung eines Wasserkochers, um eine
schwere, staatsgefahrdende Gewalttat vorzubereiten, strafbar sein. 50 Der
Rückgriff auf § 224 Abs. 1 Nr. 1 StGB überspannt das Begriffsverständnis
der anderen gesundheitsschädlichen Stoffe in § 89a Abs. 2 Nr. 1 StGB ins
Uferlose und kann vom Gesetzgeber nicht gewollt sein. Eine verfassungs-
konforme Auslegung begrenzt den Terminus dahingehend, dass nur biolo-
gisch wirkende Substanzen in Betracht kommen, die nach ihrer Art und dem
konkreten Einsatz geeignet sind, die Gesundheit erheblich zu schädigen
oder zu zerstören. 51 Hierfür spricht die eingangs erwähnte Gesetzesbegrün-
dung, die sich ausdrücklich auf Krankheitserreger bezieht. Überdies lässt
das Zusammenspiel mit Abs. 1 hinsichtlich des Staatsschutzbezuges keine
andere Interpretation zu. Denn die gebotene restriktive Auslegung des Be-
griffs "innere Sicherheit" (s.o. 1.) bezieht sich auf gemeingefahrliche Mit-
tel. 52

4. "Sonstige Fertigkeiten" in Abs. 2 Nr. 1


Die als Auffangtatbestand 53 konzipierte Formulierung "sonstige Fertigkei-
ten" wirft gravierende rechtsstaatliche Bedenken auf. 54 Dem StGB war der
Begriff der "Fertigkeiten" bis dato fremd. Unter Fertigkeiten sind nach dem
Sprachgebrauch durch Übung erworbene Gewandtheit und Geschicklichkeit

48 BT-Drs. 16/12428, S. 15.


49 Fischer (Fn. 9), § 224 Rn. 4.
50 Beispiel bei Zöller (Fn. 17), S. 567.
51 Ähnlich Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn.9), 596; Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 33;
Zöller (Fn. 17), S. 567 ist restriktiver und führt lediglich die gesundheitszerstörende Wirkung
an, was bzgl. einer schweren Gewalttat i.S.d. §§ 211, 212 StGB zutrifft, aber nicht einer LS.d.
§§ 239a, 239b StGB.
52 Das gilt ebenso im Fall der Geiselnahme oder Tötung eines Staatsrepräsentanten; eine
gesetzliche Nachbesserung entsprechend dem Vorschlag von Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling
(Fn. 9), 596 ist zu empfehlen: der Begriff "biologische Kampfmittel" sollte auf der Grundlage
der Anlage zu § 1 Abs. 1 KrWaftKG verwendet werden.
53 BT-Drs. 16/12428, S. 15.
54 Zöller (Fn. 17), S. 568.
390 Rita Haverkamp

im Ausführen bestimmter Tätigkeiten zu verstehen. 55 Nach der Gesetzesbe-


gründung sind hierunter "logistische" Vorbereitungshandlungen zu verste-
hen. 56 Beispielhaft werden das Auskundschaften des Tatortes und die Be-
schaffung gefälschter Dokumente oder eines Fluchtfahrzeugs genannt.
Problematisch ist hier nicht die Einbeziehung schon anderweitig strafbe-
wehrter Verhaltensweisen, sondern die unbegrenzte Kriminalisierung sozial
neutraler Verhaltensweisen, wie eine Ausbildung zur Nutzung des öffentli-
chen Nahverkehrs, die der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden
Straftat dienen. 57 Der Unrechtsgehalt rechtsgutneutraler Handlungen steht in
keinem Verhältnis zu dem anderer objektiv gefährdender Tatmodalitäten in
Abs. 2 Nr. 1. Neben der Verhältnismäßigkeit erscheint die Bestimmtheit
nach Art. 103 Abs. 2 GG zweifelhaft. Es fragt sich, ob die gebotene Ein-
schränkung mittels einer verfassungskonformen Auslegung erreicht werden
kann. Hierfür spricht wiederum die Staatsschutzklausel in Abs. 1, so dass
das Gefährdungspotenzial den in Abs. 2 Nr. 1 angeführten Tathandlungen
entspricht und, anders gewendet, Fertigkeiten geschult werden, die illegale
Zwecke verfolgen. 58 Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden, weil es
keine gefestigte Rechtsprechung als Auslegungsgrundlage zum neuen Be-
griff "Fertigkeiten" gibt. 59 Noch dazu können weder andere Strafnormen
des StGB herangezogen noch der Normzusammenhang berücksichtigt wer-
den. 60 Das Tatbestandsmerkmal der "sonstigen Fertigkeiten" bleibt hinter
den Anforderungen des Gesetzlichkeitsprinzips zurück und ist verfassungs-
widrig.

5. " Unterweisen, Sich-Unterweisen-Lassen ", Abs. 2 Nr. J


Diese Tatbestandsmerkmale bedeuten Ausbilden wie spiegelbildlich das
Sich-Ausbilden-Lassen 61 in dem spezifischen Wissen über die Herstellung

55 Aus DWDS (Das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jh.) unter
http://www.dwds.de/?kompakt=l&sh=l&qu=Fertigkeit; Fischer (Fn.9), § 89a Rn. 29: ,jede
beliebige geistige, manuelle, technische oder sonstige erlern- oder trainierbare menschliche
Fähigkeit".
56 BT-Drs. 16/12428, S. 15.
57 Ebenso mit weiteren Beispielen Deckers/Heusel (Fn. 9), 171; Montag DRiZ 2008, 141;
Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 35; Zöller (Fn. 17), S. 569.
58 Ähnlich argumentierend und eine verfassungskonforme Auslegung befürwortend Zöller
(Fn. 17), S. 569.
59 Zutreffend Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 597.
60 Nach Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 597 und Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 35
"vermag auch die etwa im Rahmen von § 315b A.bs. 1 Nr. 3 herangezogene, innertatbestandli-
che Analogie' keine Abhilfe zu verschaffen".
61 So BT-Drs. 16/12428, S. 15.
Staatsschutzstrafrecht im Vorfeld 391

oder den Umgang mit den angeführten Tatmitteln bzw. Fertigkeiten. 62 Der
in den Gesetzesmaterialien verwendete Begriff des "Ausbildens" fur "Un-
terweisen" sollte daher an den Begriff des "Schulens" gern. § 87 Abs. 1
Nr. 5 StGB angelehnt werden, unter dem eine "gewisse Zeit in Anspruch
nehmende Ausbildung"63 verstanden wird. 64 Kennzeichen des Ausbildens
ist mithin ein längerer Lernprozess, der einen kommunikativen Austausch
zwischen Ausbilder und Auszubildenden impliziert - U.U. auch im Wege
eines Fernstudiums. 65
Das "Sich-Unterweisen-Lassen" ist ohne eine verfassungsrechtliche Kor-
rektur nicht tragbar,66 da der Wortlaut den Unterricht eines Ausbilders ohne
deliktische Absichten umfasst und sich derart auf alle sozialadäquaten Un-
terweisungen eines bösgläubigen Auszubildenden erstreckt.67 Pönalisiert ist
mithin das "verbotene Wissen" ohne erkennbaren Deliktsbezug. 68 Eine
verfassungsmäßig vertretbare Lösung ist auf zweierlei Wegen anhand einer
einschränkenden Auslegung erreichbar: Entweder der Auszubildende mani-
festiert seinen Vorbereitungsentschluss nach außen 69 oder, noch restriktiver,
den Ausbilder und den Auszubildenden eint das gemeinsame Interesse an
einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat i.S.d. Abs. 1. 70

62 Obwohl der Begriff "Unterweisen" in das StGB neu eingeführt wurde, handelt es sich im
Unterschied zum Tatbestandsmerkmal der sonstigen Fertigkeiten um eine verständliche Be-
grifflichkeit, die nach ihrem Wortlaut und ihrer sonstigen Verwendung im Recht einen Bezug
zum Unterrichten aufweist, vgl. Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9),597 m.w.N.
63 Fischer (Fn. 9), § 87 Rn. 9~ MK-StGB/Steinmetz, 2005, § 87 Rn. 10~ Anhaltspunkte las-
sen sich auch aus der Kommentierung von Fischer (Fn. 9) zu § 174 Rn. 7 gewinnen, auch
wenn hier natürlich kein vertragliches Ausbildungsverhältnis i.S.d. §§ 1, 6, 20 BBiG vorliegt:
"Vermittlung von [... ] Fertigkeiten und Kenntnissen und zum Erwerb der erforderlichen [... ]
Erfahrung"~ es reicht nicht "die Anleitung zu einfachen, z.B. mechanischen Verrichtungen".
64 So auch im Ergebnis Gazeas/Grosse- Wilde/Kießling (Fn. 9), 597.
65 Im Ergebnis ebenso Gazeas/Grosse- Wilde/Kießling (Fn. 9), 597 und Zöller (Fn. 17),
S. 569~ einschränkend bzgl. der Femmedien Paeffgen (Fn. 15), Rn. 36, der eine Belehrung in
Person verlangt.
66 A.A. Fischer (Fn. 9), § 89a Rn. 30.
67 Ebenso Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 597~ Paeffgen (Fn. 15), Rn. 36~ Zöller
(Fn. 17), S. 570.
68 Sieber (Fn. 9), 362~ für Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 597 stellt sich die Frage
nach der rechtsstaatlich gebotenen Straflosigkeit des "dolus antecedens" wegen des damit
verbundenen "überschießenden Anschlagsvorsatz"~ die Autoren und Paeffgen (Fn. 15), Rn. 36
weisen darauf hin, dass die US-amerikanische Parallelvorschrift ein "military-type-training"
durch eine terroristische Organisation (U.S.C. § 23390) erfordert und somit hinter der deut-
schen Regelung zurückbleibt.
69 Sieber (Fn. 9), 362~ hier sind strenge Anforderungen zu stellen, jedoch können die Atten-
täter vom 9. September 2001 angeführt werden, die nicht an Flugstunden zur Landung des
Flugzeuges interessiert waren.
70 So Paeffgen (Fn. 15), Rn. 36~ Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn.9), 597 und Zöller
(Fn. 17), S. 570 fordern ein kollusives Zusammenwirken.
392 Rita Haverkamp

6. "Das frühe Vorfeld", Abs. 2 Nr. 3


Strafbewehrt ist bereits das Verschaffen oder Verwahren von Gegenstän-
den oder Stoffen, die für die Herstellung der in Abs. 2 Nr. 1 bezeichneten
Tatmittel wesentlich sind. Die Tatmodalität bezieht sich folglich auf die
Vorbereitung einer Tat nach Abs.2 Nr. 2 ("Vorbereitung der Vorberei-
tung").71 Der Umgang mit Grundstoffen birgt jedoch keine abstrakte Ge-
fahr, weil es sich um noch nicht einsatzbereite und für sich allein ungefähr-
liche Einzelteile handelt, die erst nach ihrer Zusammenfügung ihre
zerstörerische Wirkung entfalten können. 72 Der Unrechtsgehalt bleibt im
Dunkeln, weil die Gefahr der "Selbstauslösung" sowie der missbräuchli-
chen Verwendung des Tatgegenstandes durch Dritte wegfällt. 73
Die Beschränkung auf wesentliche Gegenstände oder Stoffe hat nach den
Gesetzesmaterialien den Sinn, den Erwerb oder Besitz eines einzelnen Ge-
genstandes mit einem alltäglichen Verwendungszweck (z.B. Wecker oder
Handy) vom Tatbestand von vornherein auszuscheiden. 74 Der Gesetzgeber
möchte nur Gegenstände oder Stoffe in staatsschutzrelevanter Zielsetzung
erfassen, die im Falle ihrer Zusammenfügung oder technischen Manipulati-
on ein taugliches Kampfmittel oder eine taugliche Vorrichtung LS.d. Abs. 2
Nr.2 bilden. 75 Die Beurteilung der "Wesentlichkeit" soll im Rahmen einer
wertenden Gesamtschau im Einzelfall erfolgen. Aus diesen gesetzgeberi-
schen Vorstellungen erschließt sich mitnichten eine strafbeschränkende
Funktion des Begriffs. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die "zur Aus-
führung der Tat erforderlichen besonderen Vorrichtungen" in Abs. 2 Nr. 1,
die regelmäßig schon von Abs. 2 Nr. 2 erfasst sein dürften. 76 Darüber hinaus
stellt sich im Einzelfall die Frage nach der Auslegung des Begriffs "wesent-
lich" bei alltäglichen Gegenständen, bei denen in der Regel schon der straf-
würdige Deliktsbezug fehlt. 77 Die Begründung des Gesetzgebers, Was-

71 In diesem Kontext könnte das Sich-Unterweisen-Lassen in einem "Terrorcamp" LS.d.


Nr. 1 eine Vorbereitung zur Vorbereitung durch Verwahren von Wasserstoffperoxid i.S.d.
Nr. 3 der Vorbereitung zur Herstellung eines Sprengsatzes i.S.d. Nr. 2 darstellen. Im Unter-
schied zum bloßen Verwahren besteht jedoch die abstrakte Gefährdung beim Ausbilden-Lassen
in dem Erwerb von Fähigkeiten mit deliktischem Bezug und zumindest einer sich objektiv
manifestierenden, staatsgefährdenden Zielsetzung (s.o. 5).
72 Vgl. Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 598 und Zöller (Fn. 17), S. 571 f.
73 Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 44.
74 BT-Drs. 16/1248, S. 15.
75 BT-Drs. 16/1248, S. 15: der Vollendung soll das Fehlen von weniger relevanten Kleintei-
len, wie eine oder mehrere Schrauben oder Drähte, nicht entgegenstehen.
76 Gazeas/Grosse- Wilde/Kießling (Fn. 9), 598.
77 Gazeas/Grosse- Wilde/Kießling (Fn. 9), 598; richtig stellt Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 43
fest, dass "selbstverständlich jene angeblich klar nicht-tatbestandsmäßigen Gegenstände (We-
cker/Handy) für die Nagelbombe nicht weniger essentiell als das Paket Nägel oder das
Schwarzpulver o.ä. sind. Allenfalls über die Formel der Sozialadäquanz wird man hier ein
Staatsschutzstrafrecht im Vorfeld 393

serstoffperoxid als gefährlichen Grundstoff für den Bombenbau einzubezie-


hen (sog. "Sauerland-Gruppe"), ist vor dem Hintergrund der missglückten
Fassung des Abs.2 Nr. 1 nicht nachvollziehbar. 78 Letztlich bleiben die
sonstigen explosions- und brandgefährlichen Stoffe für die Herstellung
eines Sprengsatzes als einziges Anwendungsgebiet übrig. 79
Die Kriminalisierung des frühen Vorfelds überdehnt jedoch die verfas-
sungsmäßigen Grenzen in mehrfacher Hinsicht. Einerseits steht der fehlen-
de Unrechtsgehalt im frühen Vorfeld verbunden mit einer außerordentlich
hohen Strafandrohung nicht im Einklang mit dem Verhältnismäßigkeits-
prinzip.80 Andererseits entbehrt die kaum vomehmbare Abgrenzung der
Anwendungsbereiche der Tatrnodalitäten in Abs. 2 Nr. 3 von denen in
Abs. 2 Nr. 2 der Normenklarheit und verstößt gegen den Bestimmtheits-
grundsatz in Art. 103 Abs. 2 GG.

7. "Finanzieren anschlagsgeneigter Einzeltäter ", Abs. 2 Nr. 4


Die Strafbarkeit erstreckt sich auf Personen, die Vorbereitungen zur Be-
gehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat durch das Sammeln,
Entgegennehmen oder das Zur-Verfügung-Stellen von Vermögenswerten
unterstützen. Laut den Gesetzesmaterialien ist die Strafnorm dem Schweize-
rischen Strafrecht nachgebildet. 81 Jedoch bleibt die deutsche Fassung bei
den subjektiven Anforderungen deutlich hinter Art. 260 quinquies schweiz.
StGB zurück, so dass die hierzu entwickelten Auslegungsgrundsätze kaum
genutzt werden können. 82 Zweifellos ist die Finanzierung staatsgefährden-
der Gewalttaten bei der Vorbereitung bedeutsam. Dennoch handelt es sich
objektiv um ein nicht zu missbilligendes Verhalten. 83 Erst das subjektive
Interesse des Finanziers, einen anschlagsgeneigten Einzeltäter zu unterstüt-
zen,84 macht den bedenklichen Unrechtsg~halt der Finanzierung aus. 85

wenig eingrenzend argumentieren können: Den Besitz von ein, zwei Handys oder Weckern
wird man noch als sozialadäquat bezeichnen können (von 30 auch? Für einen Handy;.Laden-
Besitzer?)".
78 Näher Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 596 und Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 42,
nach denen der Gesetzestext in Abs. 2 Nr. 1 entsprechend § 316c Abs. 4 StGB lediglich um
sonstige explosions- und brandgefährliche Stoffe hätte ergänzt werden müssen.
79 Ebenso Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 598 und Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 45.
80 _Ähnlich Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 44~ Zöller (Fn. 17), S. 571.
81 BT-Drs. 16/12428, S. 15~ vgl. Fn. 5 zum EU-Rahmenbeschluss, Übereinkommen des Eu-
roparates und des UN-Übereinkommens.
82 Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 598~ Zöller (Fn. 17), S. 573.
83 Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 598~ Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 48 kritisiert zu
Recht, dass die strafbare Beihilfe (§ 27 StGB) beim versuchten und vollendeten Delikt im
Vorfeld in täterschaftliches Handeln "umgemünzt" wird.
84 Vgl. RadtkelSteinsiek (Fn. 9), 391~ Z~ller (Fn. 17), S. 572.
394 Rita Haverkamp

Die Tathandlung des Sammelns bezieht sich auf das Einsammeln,86 Ein-
werben, Erhalten und das vorübergehende Aufbewahren von Vermögens-
werten. Dabei reicht eine einzige Spende für den Taterfolg des Sammelns
aus. 87 Mit der Begehungsweise des Entgegennehmens wird das tatsächliche
In-Empfang-Nehmen von Vermögenswerten verfolgt, um diese weiterzulei-
ten. 88 Bei dieser Tathandlung hat der Täter eine Mittlerfunktion zwischen
Spender und anschlagsgeneigtem Einzeltäter inne. 89 Für den Taterfolg
kommt es darauf an, dass der Empfänger zumindest eine Vermögenspositi-
on erhält.90 Die Alternative des Zur-Verfügung-Stellens betrifft den Spender
mit der Weggabe bzw. Übergabe nicht unerheblicher Vermögenswerte. 91
Vermögenswerte sind (un)bewegliche Sachen sowie Rechte einschließ-
lich Forderungen, sofern sie "nicht unerheblich" sind. 92 Allerdings sieht der
Gesetzgeber auch solche Vermögenswerte als nicht unerheblich an, die
isoliert betrachtet als nicht bedeutend erscheinen, jedoch im Rahmen einer
wertenden Gesamtschau fur die Vorbereitung einer schweren staatsgefähr-
denden Gewalttat relevant sind. 93 Danach können schon geringe Beträge
genügen, die beispielsweise für die Platzierung einer Autobombe anfallen. 94
Trotzdem hält diese weite Auslegung den Anforderungen des Art. 103
Abs. 2 GG stand, weil es auf die mit dem verknüpften Vermögenswert

85 Hier geht es auch um das frühe Vorfeld mit mehreren denkbaren Zwischenschritten, die
bis zur Vorbereitung (Finanzieren, Nr. 4) der Vorbereitung (Ausbilden, Nr. 1) zur Vorbereitung
(Verwahren, Nr. 3) der Vorbereitung (Herstellen, Nr. 2) reichen können; im Unterschied zum
unmittelbaren potenziellen Einzeltäter gibt der Finanzier als Vorbereitungstäter mit der Über-
gabe des Geldes das Geschehen in der Weise aus der Hand, dass dem nicht organisierten und
damit weniger berechenbaren Bedachten die gesamte Tatplanung, -vorbereitung und -ver-
wirklichung obliegt. Hieran wird deutlich, dass Vorverlagerungen der Stratbarkeit dazu führen
können, "die ganzen dogmatischen Kategorien wie Täterschaft und Teilnahme, Versuch und
Vollendung oder andere zentrale Institutionen der Zurechnungslehre gleichsam einzustamp-
fen", zutreffend Melki FS Tiedemann, 2008, S. 1493.
86 Das Ansammeln i.S.v. Sparen scheidet aus, näher hierzu Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling
(Fn. 9), 599 und Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 51; dagegen für Fischer (Fn. 9), § 89a Rn. 37
und Sieber (Fn. 9), 360 unklar.
87 Richtig konstatieren Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 599, dass eine erfolglose Bit-
te ein strafloser Versuch ist; ebenso Zöller (Fn. 17), S. 574.
88 Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 599, diese Tathandlung ist weder in der schweize-
rischen Stratbestimmung noch im UN-Übereinkommen enthalten.
89 Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 51 ist beizupflichten, dass der bloße Bote nicht erfasst ist,
der wissentlich einen Umschlag mit viel Geld auftragsgemäß dem Empfänger aushändigt.
90 Zöller (Fn. 17), S. 574.
91 Spiegelbildlich zum Spendensammler Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 51.
92 BT-Drs. 16/12428, S. 15.
93 BT-Drs. 16/12428, S. 15.
94 So ausdrücklich der Gesetzgeber BT-Drs. 16/12428, S. 15; weitere Beispiele führen Ga-
zeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 599 (drei Euro für Bahnticket) und Zöller (Fn. 17), S. 574
(fünf Euro für Munition) an.
Staatsschutzstrafrecht im Vorfeld 395

verbundenen funktionellen Möglichkeiten zur Vorbereitung einer schweren


staatsgefährdenden Gewalttat ankommt. 95 Demgegenüber läuft die hohe
Strafdrohung dem Verhältnismäßigkeitsprinzip zuwider und führt zur Ver-
fassungswidrigkeit dieser Auslegung. 96

8. Der subjektive Tatbestand


Der Vorsatz des potenziellen Einzeltäters muss sich auf die drei Kompo-
nenten Vorbereitungshandlung, geplante Begehung einer Gewalttat und die
Gefährdung des Staates durch die Gewalttat beziehen. 97
Die spätere Gefährdung des Staates erfordert direkten Vorsatz wegen des
Ausdrucks "bestimmt" in der Staatsschutzklause1. 98 Hierfür sprechen die
Gesetzesmaterialien, nach denen die möglichen Folgen der Tat vom Willen
des Täters umfasst sind. 99 Der Vorbereitungstäter muss also wissen oder es
als sicher voraussehen, dass die angedachte Gewalttat auch objektiv geeig-
net ist, den Staat in seinen Grundfesten zu erschüttern. Dabei braucht der
Täter nur die tatsächlichen Umstände, die die Eignung zur Beeinträchtigung
des Schutzgutes ergeben, zu kennen und in seinen Willen einbezogen zu
haben, ohne dass ein zielgerichtetes Handeln erforderlich ist. 100
Der Gesetzesbegründung zufolge ist für den Vorsatz bzgl. der späteren
Haupttat kein vom Täter im Detail geplantes Verbrechen i.S.d. Abs. 1 S.2
nötig, so dass die konkrete Art der Ausführung, die Zeit und der Ort sowie
potenzielle Opfer nicht festgelegt zu sein brauchen. 101 Danach ist schon
allein die hinreichende Bestimmung des Deliktstyps ausreichend, d.h. der

95 Anders Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 599, die einen Verstoß gegen das Analo-
gieverbot annehmen und einen Mindestbetrag des durchschnittlichen Nettoeinkommens i.H.v.
2000 Euro einfordern~ dem ist nicht zuzustimmen, weil Sprengsätze in der Herstellung preis-
wert sein können~ Paeffgens berechtigter Kntik (Fn. 15), § 89a Rn. 50 an der Sprachungenau-
igkeit des Gesetzgebers ist nicht zuzustimmen, weil sich der mögliche Wortsinn des Gesetzge-
bers erschließen lässt.
96 Ebenso Zöller (Fn. 17), S. 574.
97 So bereits Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn.9), 595 und Paeffgen (Fn. 15), § 89a
Rn. 20 ff.
98 Näher Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 595 und Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 25
m.w.N., die auf die parallele, wenngleich umstrittene Auslegung des Bestitnmungserfordernis-
ses in § 129a Abs. 2 verweisen~ s. hierzu Fischer (Fn. 9), § 129a Rn. 22~ dolw; eventualis aber
hier ausreichend (Fischer a.a.O., § 89a Rn. 40).
99 BT-Drs. 16/12428, S. 14~ in Anlehnung an die Eggesin-Entscheidung BGHSt 46,252.
100 So BT-Drs. 16/12428, S. 14 und BGHSt 46, 252~ aus dieser Passage leitet Zöller
(Fn. 17), S. 140 das Ausreichen von Eventualvorsatz ab; dem ist nicht zuzustimmen, weil in
der Gesetzesbegründung lediglich zum Ausdruck kommt, dass keine Absicht erforderlich ist; in
diesem Kontext weist das "Bestimmen" auf dolus directus hin, denn sonst würde dem Begriff
keine eigenständige Bedeutung zukommen~ im Ergebnis auch Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 25.
101 BT-Drs. 16/12428, S. 14.
396 Rita Haverkamp

Vorbereitungstäter stellt sich eine Tat gegen das Leben in den Fällen der
§§ 211 bzw. 212 StGB oder gegen die persönliche Freiheit in den Fällen der
§§ 239a bzw. b StGB vor. 102 Der Wortlaut der Norm und die gesetzgeberi-
sche Intention lassen somit schon dolus eventualis für die spätere Gewalttat
genügen. 103
Besondere subjektive Anforderungen finden sich auch nicht bei einer der
Tathandlungen zur Vorbereitung gern. Abs. 1 LV.m. Abs. 2, so dass erneut
Eventualvorsatz ausreicht. Der Gesetzgeber verzichtete auf eine Restriktion
der subjektiven Tatseite, obwohl der objektive Tatbestand der Tathandlun-
gen vielfach bloß neutrale, sozialadäquate und alltägliche Verhaltensweisen
kriminalisiert (z.B. Fotografieren von Sehenswürdigkeiten)104.
Dies gilt insbesondere für die Finanzierung anschlagsgeneigter Einzeltä-
ter, weil der Bezug zur Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden
Gewalttat lediglich über die Tätervorstellungen hergestellt werden kann.
Der Spender macht sich mithin bereits dann strafbar, wenn er in Kauf
nimmt, dass er einem anschlagsgeneigten Einzeltäter Geld zur Verfügung
stellt und dieser Vermögenswert für die Vorbereitung einer schweren Ge-
walttat verwendet wird, um deren staatsgefährdende Eignung er weiß. Bei
einer Spende an eine terroristische Vereinigung, die für ihre terroristischen
Aktivitäten hinlänglich bekannt ist, sind diese subjektiven Minimalanforde-
rungen nachvollziehbar, aber nicht für einen anschlagsgeneigten Einzeltäter
ohne konkrete Anschlagsplanungen. 105 In diesem frühen Vorfeld erscheint
die Realisierung eines Großanschlags mit gemeingefährlichen Mitteln und
einer Vielzahl an Opfern in weiter und vor allem ungewisser Feme, schon
allein weil unabhängig vom Spender das Tätigwerden der bedachten Ein-
zelperson nötig ist. So mag der potenzielle Einzeltäter im Laufe der Zeit den
bei Entgegennahme des Geldes verschwommenen Tatgedanken aus unter-
schiedlichen Motiven aufgeben. Aufgrund dieser Unwägbarkeiten muss
zumindest dolus directus 2. Grades 106 beim Finanzier eines mutmaßlichen
Alleintäters hinsichtlich der Vorbereitungshandlung und der schweren
staatsgefährdenden Gewalttat vorliegen. 107 Diese Begrenzung ist allerdings

102 BT-Drs. 16/12428, S. 14.


103 Zu Recht kritisch Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 22-24 und Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling
(Fn. 9), 596, die "eine wenigstens grobschlächtige Vorstellung der in Aussicht genommenen
Tat fordern".
104 Weitere Beispiele bei Zölle!' (Fn. 17), S. 575.
105 Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 599.
106 Dies würde dem UN-Übereinkommen entsprechen~ die schweizerische Strafbestimmung
schließt Eventualvorsatz ausdrücklich in Abs. 2 von Art. 260 quinquies StGB aus und fordert
Absicht.
107 So auch Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 599~ Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 23~
Zöller (Fn. 17), S. 576.
Staatsschutzstrafrecht im Vorfeld 397

nicht mit dem eindeutigem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte verein-


bar. Der mögliche Wortsinn als äußerste Grenze der Wortbedeutung könnte
überstrapaziert sein, weil Sinn und Zweck des Gesetzes - Bekämpfung von
Gefahren durch Erfassung jeglicher Vorbereitungshandlungen für schwere
staatsgefährdende Gewalttaten eine extensive Auslegung nahelegen. Hier-
gegen lässt sich in Anlehnung an die Geldwäsche-Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichts 108 einwenden, dass im StGB die nähere Bestimmung
vorsätzlichen Handeins "an vielen anderen Stellen [... ] Rechtsprechung und
Literatur" 109 überlassen ist. 110 Dem Willen des Gesetzgebers wird danach
hinreichend Genüge getan, wenn im Gesetzgebungsverfahren die besondere
verfassungsrechtliche Problematik "nicht hinreichend bedacht" 111 wurde.
Dies ist beim Vorsatz zur Finanzierung von potenziellen Einzeltätern der
Fall, so dass eine verfassungskonforme Reduktion dolus directus im Rah-
men von Abs. 2 Nr. 4 verlangt. In Bezug auf die anderen Vorbereitungs-
handlungen in Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 3 kann Eventualvorsatz trotz rechtsstaat-
licher Bedenken ausreichen, weil hier der potenzielle Einzeltäter
unmittelbar und selbstbestimmt handeln kann.

IV. Schlussbetrachtung

"Heute ist Gewalt kein Privileg der Staaten mehr, sie ist individualisiert.
Ein einziger Flugpassagier mit Sprengstoff in der Unterhose kann in der
halben Welt ein Gefuhl der Bedrohung auslösen. Den Sprengstoff kann
sich jeder in der Küche zusammenmischen. Es braucht wenig um große
Angst zu verbreiten." 112
Das hierin liegende neue Gefährdungspotenzial fur unzählige unschuldige
Zivilisten wie auch für die Verfasstheit eines Staates dient als Legitimation
für die außerordentliche Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes des
GVVG. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob der anschlagsgeneigte Einzeltä-
ter tatsächlich eine Bedrohung für die westlichen Demokratien darstellt. Der
Grausamkeit und Menschenverachtung der von Al Qaida-Zellen organisier-
ten Großanschlägen wie in New York, London und Madrid zum Trotz kann
die Antwort nur Nein lauten. Solche glücklicherweise seltenen Anschläge 113

108 BVerfGE 110,226 ff.


109 BVerfGE 110,268.
110 Instruktiv zu BVerfGE 110, 226 Kohlen Die verfassungskonforme Auslegung von Straf-
gesetzen, 2006, S. 52-66.
111 BVerfGE 110,271.
112 Kornelius Süddeutsche Zeitung v. 6./7.2.2010.
113 Sog. low probability, high impact incidents.
398 Rita Haverkarnp

scheinen kaum geeignet, den Bestand oder die Sicherheit 114 eines Landes
ernsthaft zu beeinträchtigen 115 oder die Verfassungsgrundsätze hierzulande
zu beseitigen, außer Geltung zu setzen oder zu untergraben. 116
Noch dazu scheint die von einem potenziellen Einzeltäter ausgehende Ge-
fahr fur einen Staat überbewertet zu werden. Aus kriminologischer Perspek-
tive mindern die fehlenden gruppendynamischen Prozesse das Bedrohungs-
potenzial, gerade auch in Bezug auf die Erfolgschancen eines Anschlags. 117
Dies macht auch der Fall des gut vorbereiteten Einzeltäters Abdulmutallab
deutlich, der von Passagieren überwältigt wurde, als er die Sprengstoff-
schnur entzündet hatte. 118 Wäre er als Gruppenangehöriger von weiteren
Mitgliedern im Flugzeug begleitet worden, so hätten ihn diese bei der Ent-
zündung abschirmen können -- was zum Glück nicht der Fall war. Keines-
wegs soll derart die individuellen Anschlägen innewohnende Gefahr ver-
harmlost werden, jedoch könnten hier empirische Erkenntnisse über die
Gefährlichkeit von terroristischen Einzeltätern dazu beitragen, die neue
Bedrohung seitens anschlagswilliger islamistischer Alleintäter einzuschät-
zen, um eine rationale und besonnene Gefährdungsanalyse fur Staat und
Gesellschaft anzustellen.
Die Zweifel am Bedrohungspotenzial eines potenziellen Einzelterroristen
rufen grundsätzliche Skepsis an der Ausgestaltung der neuen Staatsschutz-
delikte hervor - verstärkt durch die konstatierten rechtsstaatlichen Defizite
in § 89a Abs. 1 und 2 StGB. Probleme bereitet die angenommene abstrakte
Gefährlichkeit 119 von sozial adäquaten bzw. neutralen Verhaltensweisen, die
an sich harmlos sind und nicht zu einer konkreten Gefährdung oder gar
Verletzung von Rechtsgütern fUhren. Die Gefährlichkeit der Tathandlung
stellt in diesen Konstellationen keinen Grund fur dIe Existenz der Strafnorm
dar. Vielmehr hängt der Eintritt der Strafbarkeiten in stärkerem Ausmaß
von der Gefährlichkeit des anschlagsgeneigten Alleintäters ab. 120 Diese
Verschiebung bedeutet bei den sozial adäquaten bzw. neutralen Verhal-

114 Nur unter Zugrundelegung eines überaus weiten Sicherheitsbegriffs, zur Kritik s.o. III 1.
115 Die Erschütterung über einen Anschlag geht mit Angst und Verunsicherung in der Be-
völkerung einher. Dabei handelt es sich um psychologisch verständliche Folgen des Erlebens
eines "dread risk" auf Mikroebene, die nicht mit der Beeinträchtigung der inneren Sicherheit
auf Makroebene gleichgestellt werden dürfen.
116 So auch Weißer (Fn. 9), 147~ TrojanowlZeh Angriff auf die Freiheit, 2009, S. 26 ff.
117 Es lassen sich natürlich furchtbare Gegenbeispiele anführen: Timothy Mc Veigh ("Okla-
homabomber") und Theodore Kaczynski ("Unabomber")~ vgl. zur Planung, Vorbereitung und
Tathergang Hamm Terrorism as Crime: From Oklahoma-City to AI-Qaeda and Beyond, 2007.
118 Meyer and Nich 0 las Los Angeles Times v. 29.12.2009 unter http://www.
latimes. com/news/nation-and-world/la-na-plane-terror29-2009dec29,0,5464914. story.
119 Mit überzeugender Argumentation lehnt Gierhake (Fn. 9), 402 das Vorliegen einer ab-
strakten Gefahrdung ab.
120 RadtkelSteinsiek (Fn. 9), 394.
Staatsschutzstrafrecht im Vorfeld 399

tensweisen einen verfassungswidrigen Systembruch. 121 An dieser Stelle


liegen Assoziationen zum "Gesinnungs"- bzw. "Feindstrafrecht"122 nahe. 123
Obwohl das neue Staatsschutzstrafrecht einen als gefährlich eingeschätzten
Tätertypus im Vorbereitungsstadium pönalisiert, kann von einem Feind-
strafrecht nicht die Rede sein, weil sich der Betroffene während des gesam-
ten Strafverfahrens auf die Errungenschaften des Rechtsstaats mit seinen
grundrechtlichen Gewährleistungen berufen und diese geltend machen
kann. 124 Demgegenüber lässt sich der Vorwurf einer Tendenz in Richtung
Gesinnungsstrafrecht 125 zumindest hinsichtlich der Kriminalisierung objek-
tiv neutraler Verhaltensweisen nicht entkräften, weil erst die subjektive
Tatseite den Unrechtsgehalt von Alltagshandlungen konstituiert. Die Straf-
barkeit darf sich aber nicht auf Absichten, Vorsätze, Pläne, Motive und
Gesinnungen gründen, wenn der Anknüpfungspunkt lediglich eine neutrale
Handlung ohne Bezug zu einer Rechtsgutsgefährdung ist. 126 Angesichts der
gravierenden rechtsstaatlichen Schwächen des neuen Staatsschutzstrafrechts
bleibt zu hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht dem Pönalisierungsei-
fer des Gesetzgebers in Zukunft rechtsstaatliche Grenzen setzen wird. 127

121 So bereits RadtkelSteinsiek (Fn. 9), 394; ähnlich DeckerslHeusel (Fn. 9), 171: "Der [da-
malige] Entwurf betritt zumindest in der Tragweite, nämlich wegen der Pönalisierung (teilwei-
se) sozial neutraler Handlungen, ohne spezifische Gefahr durch Zusammenwirken mehrerer,
neues bedenkliches Terrain".
122 Jakobs in: Eser (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der lahrtausendwende
- Rückbesinnung und Ausblick, 2000, S. 47-56; Jakobs ZStW 97 (1985), 751-785; aus dem
Kreis der ablehnenden Stimmen vgl. Paeffgen FS Amelung, 2009, S. 81-123.
123 Die Forderung nach einer dritten Spur im Polizeirecht für den Umgang mit anschlagsge-
neigten Einzeltätern könnte sich je nach Konzeption als Manifestation eines Feindstrafrechts
erweisen.
124 Sofern aus einer deskriptiv-analytischen Sicht die fortschreitende Vorverlagerung der
Strafbarkeit, die Schaffung neuer Rechtsgüter der Allgemeinheit und beständige Erweiterung
staatlicher Ermittlungsbefugnisse zu Lasten grundrechtlicher Garantien als Kennzeichen eines
bereits bestehenden Feindstrafrechts gesehen werden, ist das Etikett "Feindstrafrecht" verfehlt,
denn der Tatverdächtige ist nach wie vor keine "Unperson", ihm stehen die Bürgerrechte
weiterhin zu; ausführlich Zöller (Fn. 17), S 278 ff. m.w.N.
125 Zu betonen ist, dass das neue Staatsschutzstrafrecht kein Gesinnungsstrafrecht im eigent-
lichen Sinne darstellt, weil die Strafbarkeit an die Begehung einer in ihren Merkmalen festge-
legten Tat anknüpft ("Tatschuld") und eben nicht unmittelbar an die Gefährlichkeit des Täters,
seiner verfallenen oder verwerflichen Gesinnung mitsamt seiner gesamten Lebensführung; vgl.
Roxin (Fn. 28), § 6 Rn. 1.
126 Radtke/Steinsiek (Fn. 9),393; ähnlich Fischer (Fn. 9), § 89a Rn. 39; Weißer (Fn. 9), 149;
s. auch Heinrich ZStW 121 (2009),94-130.
127 Fischer (Fn. 9), § 89a Rn. 9.
Der lückenhafte Schutz jugendlicher Opfer
im Sexualstrafrecht

TATJANA HÖRNLE

I. Einleitung
Opferschutz ist ein Thema, das dem Jubilar am Herzen liegt, unter ande-
rem dokumentiert in seiner Tätigkeit als Vorstandsmitglied der Opferhilfe-
vereinigung WEISSER RING e.V. sowie zahlreichen Publikationen zur
Rolle des Opfers im Strafverfahren und zur Wiedergutmachung. 1 Insbeson-
dere hat er sich mit der Situation von Minderjährigen als Opfer von Sexual-
und Gewaltdelikten und deren prekärer Stellung im Strafprozess mehrfach
beschäftigt. 2 Mit diesem Aufsatz, den ich Heinz Schöch in dankbarer Erin-
nerung an Gespräche und Unterstützung während meiner Münchner Assis-
tentenzeit widme, möchte ich auf Probleme aufmerksam machen, die dem
Anliegen eines adäquaten Opferschutzes entgegenstehen - die aber nicht im
Verfahrensrecht, sondern im materiellen Strafrecht stecken.
Die These, dass Opfer von Sexualstraftaten im materiellen Strafrecht, also
durch den Bestand an Strafnormen, nicht hinreichend geschützt würden,
könnte auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen. In den letzten Jahr-
zehnten war gerade der 13. Abschnitt des StGB (Straftaten gegen die sexu-
elle Selbstbestimmung) häufig Gegenstand von Reformen. 3 So wurde bei
Delikten gegen Erwachsene die Strafbarkeit in verschiedener Hinsicht aus-
gedehnt (etwa Strafbarkeit von sexuellen Nötigungen zu Lasten des Ehe-
partners; Ergänzung der Gewalt- und Drohungsvariante in § 177 Abs. 1 Nr.
1 und 2 StGB durch das Ausnutzen einer schutzlosen Lage, § 177 Abs. 1
Nr. 3 StGB; Pönalisierung des sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung
eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses, § 174c
StGB). Augenfällig ist außerdem die Vermehrung und Verschärfung von

I S. z.B. Schöch FS Böhm, 1999, S. 663 ff.~ ders. 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000,
S. 309 ff. ~ ders. FS Riess, 2002, S. 507 ff.
2 Schäch Politische Studien, Sonderheft 2/97, 48. Jg., 1997, S. 95 ff.~ ders. FS Eisenmenger,
2009, S. 430 ff.
3 S. für einen Überblick über die Gesetzesänderungen seit dem Jahr 1974 LK-Härnle, 12.
Aufl. 2010, Vor § 174 Rn. 12 ff.~ MK-Ren=ikowski, 2005, Vor §§ 174 ff. Rn. 61 ff.
402 Tatjana HörnIe

Strafnormen, die dem Schutz von Kindern (Personen unter vierzehn Jahren,
§ 176 Abs. 1 StGB) dienen. Die Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs
von Kindern und von Kinderpornographie wird seit einigen Jahren sehr
ernst genommen, was mit dem gestiegenen Interesse der Öffentlichkeit und
mit geänderten Wertungen im Blick auf Kinder zu erklären ist. 4 Im Hinblick
auf solche Taten zu Lasten von Minderjährigen kann von Lücken im Gesetz
nicht mehr die Rede sein. (Vielmehr würde insoweit die Kritik in eine ande-
re Richtung weisen: Verbotsnormen wurden in den Bereich der abstrakten
Gefährdungen und Vorbereitungen ausgedehnt, s. § 176 Abs. 4 Nr. 3, Abs.
5 StGB, und überholte Vorstellungen wiederbelebt, nämlich Straferhöhun-
gen bei Wiederholungstaten, § 176a Abs. 1 StGB). Blickt man auf das aktu-
elle Schrifttum zum Sexualstrafrecht, vermittelt dieses den Eindruck einer
gewissen Ermattung. Die perfektionistischen Anstrengungen des Gesetzge-
bers, bei sexuellen Übergriffen auf Kinder jede mögliche Konstellation
streng zu bestrafen, machen Debatten um Strafbarkeitslücken überflüssig.
Auch in der Diskussion um sexuelle Nötigung/Vergewaltigung ist weitge-
hend Ruhe eingekehrt, nachdem der mit großem publizistischem Aufwand 5
betriebene Kampf um die Strafbarkeit von Taten zu Lasten von Ehegatten
mit der Streichung des früheren Tatbestandsmerkmals "außerehelich" ent-
schieden wurde.
Aber: Trotz alledem wäre es nicht überzeugend, die Regelungen im 13.
Abschnitt des StGB und die höchstrichterliche Rechtsprechung dazu als
rundum gelungen einzuordnen. Vielmehr zeigen sich bei näherem Hinsehen
sowohl in der Gesetzesfassung als auch bei der Auslegung Schwachstellen.
Unter anderem gilt dies für den hier zu erörternden Schutz Jugendlicher
(Personen im Alter zwischen vierzehn und achtzehn Jahren)6 vor sexuellem
Missbrauch. Es zeigt sich ein Ungleichgewicht, wenn man den Stellenwert,
der dem Schutz von Kindern beigemessen wird, mit der spärlichen Diskus-
sion über Grund und Grenzen von Normen zum Schutz Jugendlicher kon-

4 Hörnle FS Eisenberg, 2009, S. 321 ff.


5 Dazu z.B. Helmken ZRP 1980, 171, 174; Nelles Streit 1995,91,97; Siek Sexuelles Selbst-
bestimmungsrecht und Vergewaltigungsbegriff, 1993, S. 302 f. einerseits (für die Strafbarkeit
des Ehegatten); andererseits Horn ZRP 1985,265 ff.; Mösl ZRP 1989,49 ff.; Sehünemann GA
1996,307,310 ff.; ders. FS Pawlowski, 1996, S. 275,297 ff.
6 An der Differenzierung zwischen Kindern und Jugendlichen im deutschen Recht kann
festgehalten werden, obwohl der Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union zur
Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie (s. die
nachfolgende Fn.) nur den Begriff des Kindes kennt, der alle Personen unter 18 Jahren ein-
schließt (dort Art. 1 lit a). Der Rahmenbeschluss verlangt von den nationalen Gesetzgebern die
Einhaltung von Mindeststandards im Bereich der Tatbestandsbeschreibungen und Strafen,
nicht aber die EU-weite Vereinheitlichung von Begriffen und Definitionen.
Der lückenhafte Schutz jugendlicher Opfer im Sexualstrafrecht 403

trastiert. In der öffentlichen Wahrnehmung haben Taten zu Lasten dieser


Personengruppe bislang kaum eine Rolle gespielt. 7
Im 13. Abschnitt des StGB finden sich einschlägige Verbote in unsyste-
matischer Weise verteilt. Unter der Überschrift "Sexueller Missbrauch von
Jugendlichen" steht § 182 StGB, der im Jahr 1994 durch das 29. StÄG 8 zu
einem männliche wie weibliche Jugendliche gleichermaßen schützenden
Tatbestand umgestaltet wurde. 9 Dieser Reform ging eine Diskussion über
den Umfang und die Bedingungen von Strafnormen voraus, die sexuelle
Handlungen mit Jugendlichen pönalisieren. lO Seither ist diese allerdings
verstummt und bei der Fassung des § 182 StGB blieb es in den Grundzügen.
Eine Änderung wurde allerdings aufgrund des Rahmenbeschlusses des
Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung
von Kindern und der Kinderpornographie ll erforderlich; das deutsche Um-
setzungsgesetz wurde im Jahr 2008 verabschiedet. l2 Die dadurch erfolgte
Änderung in § 182 StGB betrifft die sog. Freier minderjähriger Prostituier-
ter. 13 Während zuvor sexuelle Dienstleistungen von Sechzehn- und Sieb-
zehnjährigen straflos in Anspruch genommen werden konnten, ist dies
nunmehr jedenfalls volljährigen Kunden verboten (§ 182 Abs. 2 StGB). In
diesem Zusammenhang, und nur in diesem Zusammenhang, gab es eine
kleine Debatte um jugendschützende Strafnormen (s. dazu unten Text bei
Fn. 20). Ferner sind zwei andere Strafbestimmungen zu erwähnen.
§ 180 StGB gilt Tätern, die nicht selbst einen Jugendlichen missbrauchen,
aber sexuelle Handlungen eines Minderjährigen mit Dritten fördern. Prak-
tisch wichtigere Verbote finden sich in § 174 StGB (sexueller Missbrauch
von Schutzbefohlenen). Dieser Tatbestand, der sexuelle Handlungen mit
Jugendlichen im Kontext bestimmter Autoritäts- und Vertrauensverhältnisse

7 Mit einer erwähnenswerten Ausnahme: Zu Beginn des Jahres 2010 gab es eine ausführli-
che Presseberichterstattung über den sexuellen Missbrauch von Schülern in Internaten und
anderen Schulen. Dabei ging es allerdings nicht um die hier zu erörternden Probleme des
teilweise lückenhaften materiellen Strafrechts. Vielmehr ist aus rechtssoziologischer Sicht von
Interesse, dass Sinn und Zweck von Verjährungsvorschriften otIenbar nicht immer nachvollzo-
gen wird.
8 V. 31.5.1994, BGBL I, S. 1168.
9 Zuvor hatte der mit "Verführung" betitelte Tatbestand nur den Beischlaf mit Mädchen un-
ter sechzehn Jahren unter Strafe gestellt, homosexuelle Handlungen mit Jungen bis zum Alter
von achtzehn Jahren wurden von § 175 StGB a.F. erfasst.
10 Bruns ZRP 1991, 66 ff; Frommel KJ 1992, 80 ff; Kusch/Mössle NJW 1994, 1504 ff;
Schroeder ZRP 1992,295 ff; ders. NJ\V 1994, 1501 ff; Steinmeister KJ 1991, 197 ff; dies.
ZRP 1992, 87 ff
11 ABI. L 13 v. 22.12.2003, S. 44.
12 BGBI. I, S. 2149; dazu Hörnie NJW 2008,3521 ff
13 Außerdem wurde § 184c StGB neu eingeführt, der die Verbreitung jugendpomographi-
scher Schriften unter Strafe stellt. Hierbei handelt es sich um den problematischeren Teil des
Gesetzes (dazu Hörnie [Fn. 12],3521,3523 ff).
404 Tatjana HörnIe

unter Strafe stellt (etwa von Lehrern mit Schülern oder von Eltern mit Kin-
dern), entspricht im Wesentlichen der Fassung, die ihm durch das 4. StrRG
v. 23.11.1973 gegeben wurde.
Es gibt kaum zeitgenössische rechtswissenschaftliehe Schriften zum
sexuellen Missbrauch von Jugendlichen. 14 Was die Gerichtspraxis betrifft,
so liefert die Strafverfolgungsstatistik Indizien dafür, dass Jugendliche als
Opfer im Vergleich zu Kindern weniger wahrgenommen werden. Die Abur-
teilungsziffern sind beim sexuellen Missbrauch von Kindern mehr als
zehnmal so groß wie beim sexuellen Missbrauch von Jugendlichen. Im Jahr
2008 wurden 231 Täter nach den §§ 174,182 StGB verurteilt und 2.991
Personen nach den §§ 176, 176a StGB; 2007 betrug das Verhältnis
287:3.056. 15 De lege lata ist eine solche Divergenz jedenfalls teilweise da-
mit zu erklären, dass erstens die §§ 176, 176a StGB einer größeren Gruppe
von Minderjährigen gelten (die Schutzalterszone ist größer) und zweitens
die §§ 174, 182 StGB enger gefasst sind. Zu einer skeptischeren Beurtei-
lung könnte man aber gelangen, wenn man sich vom geltenden Recht und
der etablierten Auslegung durch die Rechtsprechung löst, und auf der fak-
tisch-phänomenologischen Ebene überlegt, wie wahrscheinlich es ist, dass
diejenigen, die sexuelle Übergriffe begehen, dabei zwischen Kindern und
Jugendlichen unterscheiden. Es gibt zwar vermutlich einen bestimmten
Prozentsatz an pädophil veranlagten Männern, die sich ausschließlich von
Kindern mit den physischen Merkmalen vor Pubertätsbeginn sexuell ange-
zogen fühlen. Aber damit sind nicht alle Fallkonstellationen erschöpft. Die
Annahme erscheint plausibel, dass nicht wenige Erwachsene aus anderen
Gründen ihre sexuellen Bedürfnisse zu Lasten von Minderjährigen erfüllen:
Es ist einfacher, eigene Wünsche ohne Rücksicht auf den Willen und die
Bedürfnisse des Gegenübers umzusetzen, wenn dieser im Vergleich zu
erwachsenen Sexualpartnern weniger widerstandsfähig und abhängiger ist.
Vorstellbar ist sogar, dass das Erleben von Macht über den l\1inderjährigen
ein wichtigerer Tatanreiz sein kann als die im engeren Sinne sexuelle Be-
friedigung. Bei solchen Motiven ist es gleichgültig, ob Minderjährige zwölf,
dreizehn, vierzehn oder fünfzehn Jahre -alt sind. Es ist deshalb zweifelhaft,
ob die niedrigen Aburteilungsziffern damit gerechtfertigt werden könnten,
dass nur sehr selten die sexuelle Selbstbestimmung von Jugendlichen miss-
achtet wird. Wahrscheinlicher ist, dass es Fälle gibt, in denen ältere und
überlegene Personen die Selbstbestünmungsrechte Jugendlicher nicht res-
pektieren, dies aber wegen mangelhafter Gesetzesfassung oder wegen einer
nicht selbstbestimmungsorientierten Rechtsprechung nicht verfolgt wird.

14 Es findet sich eine neuere Monographie: Stephan Sexueller Missbrauch von Jugendlichen,
2002.
15 Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Strafverfolgung - Fachserie 10 Reihe 3,2009.
Der lückenhafte Schutz jugendlicher Opfer inl Sexualstrafrecht 405

11. Jugendliche und sexuelle Selbstbestimmung


Das in Wissenschaft und Praxis zu verzeichnende geringe Interesse an
Sexualdelikten zu Lasten von Jugendlichen hat zur Folge, dass der Schutz-
bereich der geltenden Verbote nicht auf mögliche Inkonsistenzen überprüft
wird und dass vor allem eine intensivere Diskussion über zugrunde liegende
Prämissen fehlt, nämlich darüber, inwieweit Jugendliche zu sexueller
Selbstbestimmung in der Lage sind. Auf die Frage, wie es um die Fähigkeit
von Jugendlichen bestellt ist, selbstbestimmt über Sexualkontakte entschei-
den zu können, wären zwei simple Antworten möglich (Jugendlichen fehlt
diese Fähigkeit, oder umgekehrt: sie sind zu selbstbestimmtem Handeln
uneingeschränkt in der Lage) und eine etwas kompliziertere Antwort. Es
wird den Leser eines rechtswissenschaftlichen Beitrages nicht überraschen,
dass die Verfasserin die kompliziertere Antwort als die Richtige einordnet.
Zuvor ist es aber erforderlich, auf die weniger differenzierten Positionen
einzugehen, weil diese vertreten werden und in der Kriminalpolitik auch
durchaus erfolgreich sein können.
Die simple These, dass Minderjährige niemals, unter keinen Umständen,
über Sexualkontakte mit einer anderen Person selbstbestimmt entscheiden
könnten, müsste schon im Hinblick auf faktische Verhältnisse nachdenklich
stimmen. Repräsentative Umfragen zeigen, dass die große Mehrheit der
Jugendlichen bis zur Vollendung des achtzehnten Lebensjahres den ersten
Geschlechtsverkehr bereits erlebt hat. 16 Ein strafrechtlich abzusicherndes
Keuschheitsgebot bis zum Erreichen der Volljährigkeit würde nicht nur der
Lebenswelt heutiger Jugendlicher widersprechen. Es wäre auch aus norma-
tiver Sicht nicht zu begründen. Wenn überhaupt, käme nur eine modifizierte
Folgerung ernsthaft in Betracht, nämlich, dass zwar Sechzehn- und Sieb-
zehnjährigen die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung zuzusprechen
sei, nicht aber jüngeren Jugendlichen im Alter von vierzehn und fünfzehn
Jahren. In diesem Sinne hat sich Gereon Wolters im Systematischen Kom-
mentar zum StGB geäußert. Bei der Auslegung von § 182 Abs. 3 StGB geht
er davon aus, dass Jugendliche unter sechzehn Jahren unfähig zur sexuellen
Selbstbestimmung seien. Das Gesetz verzichte zwar bei etwa gleichaltrigen
Partnern auf eine Bestrafung (§ 182 Abs. 3 StGB greift nur ein, wenn der
Sexualpartner des Vierzehn- oder Fünfzehnjährigen über einundzwanzig
Jahre alt war). Aber es bleibe dabei, dass beim Opfer nicht individuelle
Fähigkeiten zu untersuchen seien, weil pauschal von fehlender Selbstbe-
stimmung auszugehen sei. 17 Zur Untermauerung dieses Ansatzes könnte
man auf § 180 Abs. 1 Nr. 2 StGB verweisen. § 180 Abs. 1 Nr. 2 StGB ver-

16 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.), Jugendsexualität 2006. Repräsen-


tative Wiederholungsbefragung von 14- bis 17-Jährigen und ihren Eltern, 2007, S. 86.
17 SK-Wolters, § 182 Rn. 20 (Stand Nov. 2008).
406 Tatjana Hörnie

bietet es, sexuellen Handlungen mit Vierzehn- und Fünfzehnjährigen durch


Gewähren oder Verschaffen von Gelegenheit Vorschub zu leisten. Dieses
Verbot scheint zu implizieren, dass sexuelle Aktivitäten von jüngeren Ju-
gendlichen generell, ohne Differenzierung nach Partner und Kontext, unter-
bleiben sollen (die Bestrafung einer Förderungshandlung ergibt nämlich nur
dann Sinn, wenn auch das zu Fördernde als zu verhindernde Handlung
eingestuft wird).
Gegen die einfache These der generell fehlenden Selbstbestimmungsfa-
higkeit von Vierzehn- und Fünfzehnjährigen sprechen jedoch die besseren
Gründe. Hinter § 180 Abs. 1 Nr. 2 8tGB steht ein Jahrzehnte zurückliegen-
der und damals nicht hinreichend durchdachter Kompromiss im Streit um
den alten Kuppeleiparagraphen, 18 und es wäre nicht überzeugend, hieraus
auf die zentralen Prämissen des heute geltenden Sexualstrafrechts zu schlie-
ßen. Vielmehr ergeben sich die Grundlinien aus den §§ 174 und 182 StGB
(an die de lege ferenda der dazu im Widerspruch stehende § 180 Abs. 1 Nr.
2 8tGB angepasst werden sollte). Die Regelungen in den §§ 174 und
182 StGB basieren auf der Annahme, dass Jugendliche nicht nur mit
Gleichaltrigen, sondern unter Umständen auch mit älteren Personen selbst-
bestimmt sexuelle Kontakte eingehen können. In § 182 Abs. 3 StGB wäre
das Merkmal "und dabei die fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen
Selbstbestimmung ausnutzt", das zusätzlich zum Merkmal "missbraucht" im
Gesetzestext steht, überflüssig, wenn gemäß der Auslegung Wolters' der
Sexualkontakt einer mindestens fünf Jahre älteren Person mit dem Jugendli-
chen regelmäßig bereits unter das Verb "missbraucht" fiele. Vor allem aber
wäre eine differenzierungslose Festlegung, dass Jugendliche unter sechzehn
Jahren nicht selbstbestimmt sexuell handeln können, der Sache nach unan-
gemessen. Wünschenswert fur eine gelingende Entwicklung ist das allmäh-
liche Herantasten an Interaktionen mit anderen. Wie alle sozialen Kontakte,
bedürfen auch das Anbahnen und das Aufrechterhalten intinler Beziehungen
der Übung, was es ausschließt, bis zum Erreichen des sechzehnten Lebens-
jahres Enthaltsamkeit zu fordern. Zu bedenken ist., dass auch erotische Ak-
tivitäten relativ geringer Intensität (etwa Zungenküsse, Berührungen an
Brust und Genitalien) im Sinne des Strafrechts (§ 184g Nr. 1 8tGB) sexuel-
le Handlungen sind. 19 Es ist notwendig, Jugendlichen Spielräume zuzuge-
stehen, den Umgang mit anderen zu erproben, und dies umfasst nicht nur
erste Annäherungen, sondern im freundschaftlichen Umgang ohne Druck
und äußere Zwänge auch sich steigernde Formen des Sexualkontakts. Man

18 S. zum alten Kuppeleiparagraphen Hartmann Prostitution, Kuppelei, Zuhälterei - Re-


formdiskussion und Gesetzgebung seit 1870, 2006; Hörnie (Fn. 3), § 180 Entstehungsge-
schichte.
19 LK-LaujhütteIRoggenbuck, 12. Aufl. 2010, § 184g Rn. 10, 12.
Der lückenhafte Schutz jugendlicher Opfer im Sexualstrafrecht 407

würde die Fähigkeiten auch von jüngeren Jugendlichen mit der Unterstel-
lung unterschätzen, dass sie dies nicht verantworten könnten.
Diese optimistischere Einschätzung der Kompetenzen von Jugendlichen
könnte wieder in eine simple These umschlagen, nämlich in die Forderung,
dass sich das Strafrecht mit sexuellen Handlungen Jugendlicher nur inso-
weit befassen sollte, als es dies auch bei Erwachsenen tut (also dann, wenn
Gewalt, Drohung oder eine andere Form des äußeren Druckes vorliegt, die
in den §§ 174a bis 174c, 177 StGB geschildert wird). Eine nüchterne Be-
trachtung des notwendigen Schutzes von Jugendlichen wird dadurch er-
schwert, dass die Forderung nach einer Ausweitung von Strafnormen in den
Verdacht einer antiquierten, antiliberalen Kriminalpolitik geraten kann.
Diese zeigte sich etwa bei der Diskussion um das Gesetz, mit dem 2008 der
Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung der
sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie 20 umge-
setzt wurde. Soweit es dabei um die Verhinderung der Prostitution Jugend-
licher ging, war das von der Europäischen Union initiierte Anliegen durch-
aus mit guten Gründen zu unterfüttern - in der Presse wurde jedoch
suggeriert, dass die freie Entfaltung Jugendlicher eingeschränkt werden
würde. 21 Dahinter stand offenbar die Vorstellung, dass Einmischung in die
Aktivitäten Jugendlicher vermieden werden sollte. Dieser Ansatz lässt je-
doch notwendige Differenzierungen vermissen. Während es richtig ist,
Jugendlichen Spielräume rur sexuelle Beziehungen zu lassen, kann nicht
gefolgert werden, dass jugendliche Selbstbestimmung in jeder Hinsicht den
Fähigkeiten gleichzusetzen ist, die Erwachsene haben (oder, was die pas-
sendere Formulierung ist: die bei volljährigen Personen unterstellt werden).
Der Status "Minderj ährigkeit" zeichnet sich gerade dadurch aus, dass von
Rechts wegen Defizite anzuerkennen sind. Es ist der Tatsache Rechnung zu
tragen, dass sich kognitive, emotionale und soziale Kompetenzen erst im
Lauf der Zeit entwickeln, ferner den biologisch und psychologisch zu be-
schreibenden Schwierigkeiten in der Pubertät und kurz danach. Eine teil-
weise zwar bereits vorhandene, aber noch fragile, unvollständige Kompe-
tenz im Umgang mit anderen bedeutet, dass bei Jugendlichen auch solche
ungünstigen Rahmenbedingungen die Selbstbestimmung beeinträchtigen
können, die bei Erwachsenen als unbeachtlich gewertet würden. Bei Ju-
gendlichen ist deshalb eine kontextsensible Analyse erforderlich. Es kommt
darauf an, wie die Beurteilungs- und Bewertungsinstrumente des Jugendli-
chen ausgebildet waren, aber auch maßgeblich darauf, ob in der konkreten
Handlungssituation äußere Faktoren (vor allem die soziale Rolle und das

20 S. Fn. 11.
21 S. Hörnte (Fn. 3), § 182 Rn. 26 f.
408 Tatjana Hörnie

Verhalten des erwachsenen Sexual"partners") selbstbestimmtes Handeln


unmöglich gemacht haben.
Teilweise wird schon im Gesetz auf äußere Umstände abgestellt. Dahinter
steht die Vorstellung, dass sich diese Umstände deshalb auswirken, weil
Vierzehn- und Fünfzehnjährige typischerweise Druck und Anreizen nicht
gut standhalten können. Fehlende sexuelle Selbstbestimmung wird deshalb
vermutet, wenn zwischen den beteiligten Personen bestimmte Autoritäts-
oder Vertrauensverhältnisse bestanden (§ 174 Abs. 1 Nr. 1, 3 StGB) und
wenn ein Entgelt bezahlt oder eine Zwangslage ausgenutzt wurde (§§ 180
Abs. 2, 182 Abs. 1 und 2 StGB). Nach einer anderen Gesetzestechnik ist mit
stärkerem Bezug zum Einzelfall zu erforschen, ob Jugendliche selbstbe-
stimmt entscheiden konnten (§§ 174 Abs. 1 Nr. 2, 182 Abs. 3 StGB). Diese
Grundlinie hält kritischer Prüfung stand, aber mit Blick auf Details zeigen
sich Unzulänglichkeiten. Es fehlt, was sich sowohl in den gesetzlichen
Bestimmungen als auch in der Rechtsprechung zeigt, ein entwickeltes Ver-
ständnis dafür, wie leicht Jugendliche, die unter günstigen Umständen
selbstbestimmt Sexualkontakte eingehen können, unter anderen Bedingun-
gen zu nötigen und zu beeinflussen sind.

111. Lücken beim Schutz Jugendlicher


1. Der Gesetzeswortlaut in § 174 Abs. 1 Nr. 1, 3 StGB
(betr.: nicht leibliche Kinder, Enkel- und Stiefkinder)
§ 174 StGB stellt den sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen unter
Strafe. Schutzbefohlene sind zum einen noch nicht achtzehn Jahre alte leib-
liche oder angenommene Kinder des Täters (§ 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB), zum
anderen Minderjährige, die ihm zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur
Betreuung in der Lebensführung anvertraut sind (§ 174 Abs. 1 Nr. 1, 2
StGB). Damit sind typische Konstellationen erfasst, die es Erwachsenen
ermöglichen, Jugendliche zu missbrauchen. In der Auflistung der strafbar-
keitsbegründenden Umstände stecken jedoch Lücken, die mit dem Schutz-
konzept nicht vereinbar sind. Diese zeigen sich, wenn sich im familiären
Umfeld des Jugendlichen Erwachsene fmden, die nicht die leiblichen Eltern
sind, die aber eine dominante Rolle spielen. Erstens begründet der Zuschnitt
auf "leibliche oder angenommene Kinder" in § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB
Probleme. Leibliche Kinder eines Vaters sind nur solche, die von ihm tat-
sächlich gezeugt wurden. Diese Tatbestandsbeschreibung umfasst nicht eine
sozial und rechtlich etablierte Vaterschaft, die auf einer Zuordnung jenseits
Der lückenhafte Schutz jugendlicher Opfer im Sexualstrafrecht 409

der biologischen Abstammung beruht 22 (s. § 1592 BGB: Vater ist im zivil-
rechtlichen Sinne auch, wer mit der Mutter zum Zeitpunkt der Geburt ver-
heiratet war, wer die Vaterschaft anerkannt hat oder wessen Vaterschaft
gerichtlich festgestellt wurde). "Angenommen" i.S.v. § 174 Abs. 1 Nr. 3
StGB bedeutet: adoptiert. 23 Zweitens werden Großeltern, die im Familien-
verband eine wichtige Rolle spielen können, nach einhelliger, durch den
Wortlaut erzwungener Ansicht nicht erfasst: § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB ist
nur auf Eltern, nicht auf Großeltern anzuwenden. 24 Drittens nutzen in nicht
selten vorkommenden Konstellationen Freunde, Lebensgefährten oder neue
Ehepartner der Mutter ihre durch das Altersgefälle, die Unterordnung oder
Passivität der Mutter und die Stellung als "Mann im Haus" geprägte Autori-
tätsposition zu sexuellen Handlungen gegen den Willen der minderjährigen
Betroffenen aus. Gegenüber Gefährten der Mutter werden deren Kinder bis
zum Alter von dreizehn Jahren von den §§ 176, 176a StGB geschützt. Sind
Minderjährige dagegen vierzehn Jahre alt oder älter, so fällt der Strafrechts-
schutz lückenhaft aus.
Entscheidend ist de lege lata, ob der oder die Jugendliche dem Täter gern.
§ 174 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 StGB zur Erziehung anvertraut war. Erzie-
hung bedeutet, über längere Zeit rur die Überwachung der Lebensführung
zuständig zu sein und Verantwortung rur die körperliche, psychische und
moralische Entwicklung eines Minderjährigen zu übernehmen. 25 Die Recht-
sprechung misst diesem Merkmal großes Gewicht bei. Es ist zwar aner-
kannt, dass jenseits der Sorgerechtsregelungen des Familienrechts tatsächli-
che Lebensverhältnisse den Erzieherstatus begründen können. Aber bei der
Feststellung solcher Erziehungsverhältnisse werden strenge Maßstäbe ange-
legt. Die Verwandtschaft zwischen Großeltern und Enkeln sei nicht per se
damit verbunden, dass Enkel zur Erziehung anvertraut seien, und zwar auch
nicht, wenn sie gelegentlich bei den Großeltern übernachten. 26 Ebenso be-
deute nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der ge-
meinsame Haushalt eines Mannes mit der Mutter minderjähriger Kinder
nicht, dass der Stiefvater damit Mitverantwortung rur die Erziehung über-
nehrne. 27 Es soll vielmehr darauf ankommen, ob der Gefährte der Mutter
eigenständig Entscheidungen traf, die die Jugendlichen betreffen (Verbote

22 BGHSt. 29, 387~ Renzikowski (Fn. 3), § 174 Rn. 33.


23 S. BT-Drs. 7/3061, S. 27.
24 Renzikowski (Fn. 3), § 174 Rn. 33~ Schänke/Schräder/Lenckner/Perron/Eisele StGB,
27. Aufl. 2006, § 174 Rn. 11 ~ Hörnle (Fn. 3), § 174 Rn. 37.
25 BGH NStZ 1989, 21~ Hörnle (Fn. 3), § 174 Rn. 37~ Lenckner/Perron/Eisele (Fn. 24),
§ 174 Rn. 6.
26 BGH bei Pfister NStZ-RR 2000, 353 f.
27 BGH NStZ 1989, 21~ BGH bei Miebach NStZ 1996, 120 f.~ BGH bei Pfister NStZ-RR
1999,321; BGH bei Pfister NStZ-RR 2002, 353~ BGH bei Pfister NStZ-RR 2006,361.
410 Tatjana Hörnie

und Strafen verhängen, Erlaubnisse erteilen etc.).28 Ist der Täter der gern.
§ 1592 BGB zugeordnete, aber nicht leibliche Vater, wird in vielen Fällen
zwar Erziehungsverantwortung bestehen. Aber auch dies muss nicht immer
der Fall sein. Hat sich der früher z.B. mit der Mutter verheiratete, nicht
leibliche Vater nach langjährigem Zusammenleben von der Familie ge-
trennt, ohne sich danach weiter um das Kind zu kümmern, fällt er weder
unter § 174 Abs. 1 Nr. 3 noch unter § 174 Abs. 1 Nr. 1, 2 StGB.
Die Notwendigkeit, das Tatbestandsmerkmal "zur Erziehung anvertraut"
zu prüfen, fuhrt in den geschilderten Fallgruppen zu kritikwürdigen Ergeb-
nissen. Je asozialer die Verhältnisse beschaffen sind und je egoistischer der
nicht leibliche Vater, der gegenwärtige Gefährte der Mutter oder ein Groß-
elternteil agieren, umso größer wird die Freiheit zu sexuellen Übergriffen.
Ein Stiefvater, der sich immerhin bemüht hat, für das Leben der Kinder
einer neuen Partnerin ein gewisses Interesse aufzubringen und Mitverant-
wortung zu übernehmen, unterfällt den strafrechtlichen Schranken in
§ 174 StGB, ebenso der nicht leibliche Vater, der sich um das Kind küm-
mert. Wer dagegen eine solche Mitverantwortung abgelehnt hat, kann in
strafloser Weise sexuelle Handlungen an den Minderj ährigen in seinem
sozialen Nahbereich vornehmen (soweit Gewalt und Drohungen mit Gewalt
entbehrlich waren). Ähnlich absurd ist es, dass der Bundesgerichtshof einen
sexuelle Handlungen am Enkelkind vornehmenden Großvater freispricht,
weil dieser "kein herzliches Verhältnis zu den Enkelkindern entwickelt und
nie einen richtigen Bezug zu ihnen gefunden hat".29
Hinter § 174 StGB steht offensichtlich die Annahme, dass die Situatio-
nen, die das Opfer besonders hilflos machen, mit dem Verweis auf Erzie-
hungsverhältnisse (sowie Ausbildungs- und Betreuungsverhältnisse) präzise
zu erfassen wären. Dem liegt jedoch ein zu idealistisch geprägtes Bild
zugrunde. Das Näheverhältnis, das einem Erwachsenen Macht über einen
Jugendlichen verleiht, muss keineswegs durch positive Praktiken oder je-
denfalls durch pädagogische Ziele gekennzeichnet sein, wie sie mit dem
Wort "Erziehung" verbunden sind. Gerade dann, wenn Erwachsenen das
Wohlergehen des Jugendlichen gleichgültig ist, ist die Gefahr einer miss-
bräuchlichen Behandlung besonders groß. Für die Schutzbedürftigkeit des
Jugendlichen ist maßgeblich, inwieweit faktisch Macht aufgebaut werden
konnte, die auch in Problemfamilien ohne vernünftig-positive Erziehungs-
strukturen bestehen können. Bei den Großeltern wirken sich der Altersun-
terschied und ihre Stellung im Verhältnis zu den eigenen Kindern und deren
Abkömmlingen aus. Bei nicht leiblichen Vätern kann die in langen Jahren
innerhalb einer Familienhierarchie etablierte Über- und Unterordnung ge-

28 BGH bei Pfister NStZ-RR 2006, 361.


29 BGH bei Pfister NStZ-RR 2000, 353 f.
Der lückenhafte Schutz jugendlicher Opfer im Sexualstrafrecht 411

nauso wirken wie dies beim leiblichen Vater der Fall wäre. Bei Stiefvätern
ist die Regelmäßigkeit und Unvermeidbarkeit von I(ontakten bedeutsam,
ferner die Verbindung des Stiefvaters mit der sorgeberechtigten Mutter. Da
die soziale Realität oft nicht normativen Gleichberechtigungsidealen ent-
spricht, kann dies bedeuten, dass die betroffenen Jugendlichen es mit je-
mandem zu tun haben, gegen den sich die Mutter nicht durchsetzen kann -
oder mit jemandem, der in der Wertschätzung der Mutter höher steht als die
von ihr abhängigen Minderjährigen, so dass bei ihr die Bereitschaft fehlt,
dafür zu sorgen, dass ihre Kinder nicht missbraucht werden.
Dominanz und dadurch bewirkte Unterordnung des Kindes sind ferner
nicht die einzigen Umstände, die sexuelle Handlungen erleichtern. Vorstell-
bar ist auch, dass eine Mischung aus Naivität, Vertrauen und Zuneigung
innerhalb von Abhängigkeitsverhältnissen zu Großvätern, nicht leiblichen
Vätern und Stiefvätern sexuelle Übergriffe ermöglicht hat. Entscheidend ist,
dass die in sozialen Interaktionen zum Selbstschutz notwendigen Fähigkei-
ten bei Minderjährigen noch nicht voll entwickelt sind: die Fähigkeit, Ab-
sichten und Intentionen anderer zu erkennen und nicht Manipulationen zum
Opfer zu fallen; die Fähigkeit, eigene Bedürfnisse zu definieren und auszu-
drücken; ferner die Fähigkeit, den eigenen Willen gegen anders lautende
Aufforderungen effektiv und konsequent durchzusetzen. Die Existenz einer
Schutzlücke für Jugendliche ist auch nicht mit Verweis auf § 177 StGB
(sexuelle Nötigung, Vergewaltigung) zu verneinen. Als sexuelle Nötigung
wird vielmehr nur ein Segment der Sachverhalte erfasst, in denen jemand
dazu gebracht wird, gegen seinen Willen sexuelle Handlungen zu erdulden
oder vorzunehmen. § 177 StGB ist nur anzuwenden, wenn Gewalt ange-
wandt oder mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben gedroht wurde
(§ 177 Abs. 1 Nr. 1,2 StGB) oder das Opfer wenigstens befürchtet hat, dass
der Täter bei Verweigerung zu Gewalt greifen würde (§ 177 Abs. 1 Nr. 3
StGB).30 Jenseits dieser Konstellationen gibt es vielfältige Szenarien, in
denen ebenfalls Selbstbestimmung missachtet wurde. Dies wirft auch bei
erwachsenen Geschädigten die Frage auf, ob das geltende deutsche Recht
mit seinem nur punktuellen Schutz sexueller SelbstbestimlTIung überzeugt.
Dem soll hier nicht nachgegangen werden,31 sondern darauf verwiesen, dass
es jedenfalls gegenüber Minderjährigen besonders einfach ist, mit Aufforde-
rungen vorzugehen, die nicht von § 177 Abs. 1 StGB erfasst werden. Min-
derjährige sind in existentiellerer Weise als volljährige Personen von den

30 Die Rspr. geht davon aus, dass das Opfer Körperverletzungen oder sogar Tötungshand-
lungen befürchten müsse (BGHSt. 51, 280, 284~ BGH NJW 2003, 2250, 2251: BGH NStZ
2009, 443)~ nach meiner Auffassung genügt die Furcht vor Gewalteinwirkung im Allgemeinen,
Hörnle (Fn. 3), § 177 Rn. 97.
31 S. dazu Hörnle (Fn. 3), Vor § 174 Rn. 51 f.
412 Tatjana Härnle

Macht ausübenden Erwachsenen abhängig, die ihr Schicksal gestalten kön-


nen (wobei es nicht auf das Sorgerecht ankommt, sondern darauf, wer im
familiären Umfeld faktisch Einflussmöglichkeiten hat). Die Drohung ge-
genüber einem Mädchen, getrennt von ihrer Schwester in einem Heim un-
tergebracht zu werden, ist wirkmächtig - unterfällt aber nicht § 177 Abs. 1
StGB. 32
Um Minderjährige im Verhältnis zu nicht leiblichen Vätern, Stiefvätern
und Großvätern besser zu schützen, ist es notwendig, das StGB zu ändern.
In früheren Gesetzesberatungen hatte der Bundesrat gefordert, in § 174 Abs.
1 Nr. 3 StGB nach "angenommenes Kind" die Wörter "oder an seinem mit
ihm in häuslicher Gemeinschaft lebenden Stiefkind oder Enkelkind oder an
dem mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebenden leiblichen oder ange-
nOlnmenen Kind, Pflegekind, Stiefkind oder Enkelkind seines Lebenspart-
ners" anzufügen. 33 Eine derartige Ergänzung wäre grundsätzlich zu empfeh-
len, wobei aber gegenüber diesem Vorschlag zwei Änderungen zu erwägen
sind. Zum einen sollte statt der bisherigen Formulierung "seinem leiblichen
oder angenommenen Kind" die schlichtere Formulierung "seinem Kind"
gewählt werden, da damit das Problem des nicht leiblichen Vaters zu lösen
wäre. Zum anderen wäre zu erörtern, ob das Bestehen einer häuslichen
Gemeinschaft ein zwingendes Erfordernis ist. Fragt man nach der Schutz-
würdigkeit der Opfer, ist entscheidend, ob Macht- oder/und Vertrauensbe-
ziehungen bestanden, die rur Einflussnahmen anfällig machen, welche die
noch nicht voll ausgebildeten Fähigkeiten von Jugendlichen überfordern.
Dies kann auch dann der Fall sein, wenn ein Täter sich nur zeitweise, aber
regelmäßig in der Wohnung einer Freundin aufhält. Ähnliches gilt für En-
kelkinder, die nur zeitweilig bei ihren Großeltern sind. Aus dieser Perspek-
tive wäre deshalb nicht die häusliche Gemeinschaft der maßgebliche Faktor.
Allerdings entstünde, wenn bei Stiefkindern nicht das Bestehen einer häus-
lichen Gemeinschaft erforderlich wäre, ein Problem im Hinblick auf die
Bestimmtheit eines neu zu formulierenden § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB. Ab
wann und wie lange die Stietkindeigenschaft besteht, ist schwierig festzu-
stellen. Sowohl bei der Anbahnung einer Beziehung zur Mutter als auch
während der Auflösung einer solchen ist schwierig zu bestimmen, wann
genau jemand schon oder nicht mehr Stiefvater ist. Der Zeitpunkt der Be-
gründung und Aufhebung einer häuslichen Gemeinschaft ist zwar auch
nicht immer ganz problemlos zu bestimmen. Wegen der Relevanz äußerer
Umstände (Aufenthaltsdauer in den Räumen, persönliche Gegenstände in

32 BGH NStZ 2009, 443.


33 BR-Drs. 603/1/03, S. 3 f. (Beratungen zum Gesetz zur Änderung der Vorschriften über
die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften v.
27. 12.2003).
Der lückenhafte Schutz jugendlicher Opfer im Sexualstrafrecht 413

der Wohnung usw.) wäre aber die Feststellung doch etwas einfacher. Aus
diesem Grund wäre es letztlich empfehlenswert, bei der Einbeziehung von
Stiefkindern in § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB eine häusliche Gemeinschaft zu
fordern, wobei eine solche aber zu bejahen wäre, wenn trotz eines noch
bestehenden anderen Wohnsitzes jedenfalls ein Lebensschwerpunkt des
Täters in der auch von dem Jugendlichen bewohnten Wohnung liegt.

2. Auslegung der Missbrauchsklausel in § 174 Abs. 1 Nr. 28tGB


Die nächste zu erörternde Unzulänglichkeit ergibt sich nicht aus der Ge-
setzesfassung, sondern aus der Auslegung durch die Rechtsprechung. Bei
sechzehn- und siebzehnjährigen Opfern verlangt das Gesetz in § 174 Abs. 1
Nr. 2 StGB eine stärker kontextspezifische Betrachtung als in § 174 Abs. 1
Nr. 3 StGB. Während in § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB die Eigenschaft des Op-
fers, leibliches Kind zu sein, die Strafbarkeit des sexuelle Handlungen vor-
nehmenden Täters begründet, bedarf es in anderen Fällen mit sechzehn- und
siebzehnjährigen Geschädigten der Feststellung, dass der Täter "unter
Missbrauch einer mit dem Erziehungs-, Ausbildungs-, Betreuungs-, Dienst-
oder Arbeitsverhältnis verbundenen Abhängigkeit" vorging (§ 174 Abs. 1
Nr. 2 StGB). Eine schutzzweckbezogene Auslegung dieses Tatbestands-
merkmals muss zu folgendem Maßstab ruhren: Konnte der oder die Jugend-
liche im konkreten Kontext selbstbestimmt zustimmen, d.h. ohne Defizite,
die einer wirksamen Einwilligung im Wege stünden, wurde nicht Abhän-
gigkeit missbraucht. Umgekehrt bedeutet das Fehlen selbstbestimmten
Handeins des Opfers für den erwachsenen Sexual"partner", dass er die
besondere Situation des Opfers missbraucht hat.
Probleme bereiten die Fälle, in denen ein oberflächlicher Blick auf das
Geschehen nicht einen evidenten Einsatz von Macht und Überlegenheit
(etwa in Form von Drohungen und Einschüchterung) zeigt. Es ist zu be-
fürchten, dass die Rechtsprechung dem äußeren Geschehensablauf zuviel
Bedeutung beimisst und dem Aspekt Selbstbestimmung, rur den die innere
Verfassung des Opfers und seine höchstpersönlichen Abhängigkeiten maß-
geblich sind, zu wenig Gewicht. So wurde einem geistig retardierten Mäd-
chen unterstellt, es habe mit der beim Umkleiden ihrem Stiefvater gestellten
Frage, wie es sei, wenn ein Mädchen und ein Junge Geschlechtsverkehr
hätten, die Initiative zum Sexualkontakt ergriffen. 34 Es ist zweifelhaft, ob
schon die Beschreibung passt, das Mädchen habe die "Initiative ergriffen"35
(statt nur in naiver Weise sexualbezogene Fragen zu stellen). Vor allem aber

34 BGHSt. 28, 365, 367 f. Auf dieses Urteil verweist auch OLG Zweibrücken NJW 1996,
330, 331. Zust. Lenckner/Perron/Eisele (Fn. 24), § 174 Rn. 14.
35 BGHSt. 28, 365, 368.
414 Tatjana Hörnie

dürfte auch dann, wenn das Verhalten eines Minderj ährigen tatsächlich als
Einladung zu sexuellen Handlungen gemeint und gewollt war, dies nur dann
zur Verneinung eines Missbrauchs führen, wenn dahinter echte Selbstbe-
stimmung stand. Das Verhalten des Jugendlichen ist unter eingehender
Würdigung möglicher Defizite und des bestehenden Abhängigkeitsverhält-
nisses zu analysieren. Auch wenn ein Minderjähriger initiativ wird, kann
dies auf einer Abhängigkeit beruhen, die durch das spezifische Verhältnis
der Personen sowie durch typische altersbedingte oder individuelle Schwä-
chen des Minderjährigen geprägt wird (z.B. ein übergroßes Bedürfnis nach
Zuwendung und Anerkennung, das zu Körperkontakten mit einem Heimer-
zieher motivieren könnte). Faktisch etwas zu wollen ist zwar eine notwen-
dige Bedingung für selbstbestimmtes Handeln, aber keine hinreichende
Bedingung. Selbstbestimmung setzt vielmehr voraus, dass hinter einem
faktischen Wollen die Kompetenz steht, die eigenen Interessen zu erkennen
und sie reflektiv zu bewerten (über ein gut entwickeltes Reflexionsvermö-
gen verfügen zwar de facto auch Erwachsene nicht immer,36 wobei bei
ihnen aber im Unterschied zu Minderjährigen selbstbestimmtes Handeln
unterstellt werden muss). Es ist vorstellbar, dass z.B. ein Mädchen, dass
sich von einem gutaussehenden Lehrer angezogen fühlte, einen hinreichend
reflektierten Umgang mit ihren eigenen sexuellen Bedürfnissen bekunden
kann und deshalb die Ausnutzung von Abhängigkeit zu verneinen wäre. Im
Übrigen aber wird oft die Kombination aus altersbedingten Defiziten (even-
tuell, wie im Fall des geistig retardierten Mädchens, verschärft durch zu-
sätzliche Handicaps) und dem Gewicht eines Abhängigkeitsverhältnisses zu
fehlender 'Selbstbestimmung geführt haben.

3. Auslegung der Ausnutzungsklausel in § 182 Abs. 38tGB


Es wäre zu erwarten, dass Taten, die unter § 182 Abs. 3 StGB fallen (se-
xueller Missbrauch eines über einundzwanzig Jahre alten Täters an einem
unter sechzehn Jahre alten Opfer, dessen fehlende Fähigkeit zur sexuellen
Selbstbestimmung ausgenutzt wurde), nicht unge\vöhnlich. sind. Dies zum
einen, weil für manche Täter das Interesse an Sexualkontakten mit wenig
widerstandsfähigen Minderjährigen im Vordergrund steht und aus dieser
Sicht der Unterschied zwischen Dreizehn- und Vierzehnjährigen belanglos
ist. Zum anderen wäre zu erwarten, dass die vorstehend geschilderte Lücke
in § 174 StGB beim Missbrauch von Stiefkindern und ähnlichen Fällen
durch die Anwendung von § 182 Abs. 3 StGB geschlossen wird, was im-
merhin dann möglich ist, wenn die Minderjährigen vierzehn oder fünfzehn
Jahre alt sind (bei älteren Stiefkindern etc. greift auch § 182 Abs. 3 StGB

36 Darauf weist Fischer StGB, 56. Aufl. 2009, § 182 Rn. 13, zu Recht hin.
Der lückenhafte Schutz jugendlicher Opfer im Sexualstrafrecht 415

nicht ein). Die Strafverfolgungsstatistik zeigt allerdings ein anderes Bild:


§ 182 Abs. 3 StGB 37 ist eine selten angewandte Strafnorm: Im Jahr 2008
wurden 48 Täter danach abgeurteilt, im Jahr 2007 52 Täter (zum Vergleich:
wegen exhibitionistischer Handlungen, § 183 StGB, gab es 903 bzw. 1.033
Aburteilungen in diesen beiden Jahren).38
Auch an dieser Stelle ist es unwahrscheinlich, dass die Statistik nur des-
halb wenige Urteile verzeichnet, weil es kaum strafwürdige Vorfalle gibt.
Vielmehr könnte ein Grund für die Zurückhaltung der Strafverfolgungsbe-
hörden sein, dass das entscheidende Tatbestandsmerkmal "und dabei die
fehlende Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung ausnutzt" in
der Kommentarliteratur teilweise in wenig überzeugender Weise ausgelegt
wird. Grundlage einer solchen Auslegung ist die Vorstellung, dass "fehlen-
de Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung" ein abnormaler
Zustand in der Person des Jugendlichen sei. Die Feststellung erfordere, so
etwa die im Schönke/Schröder von Lenckner/Perron/Eisele vertretene Auf-
fassung, regelmäßig die Exploration des Jugendlichen durch einen Gutach-
ter, obwohl eine solche Exploration für die Betroffenen eine erhebliche
Belastung bedeute. 39 Die h.M. stellt darauf ab, dass der betroffene Jugendli-
che sich in messbarer Weise von seinen Altersgenossen unterscheide, d.h.
zurückgeblieben sei. 40 An dieser Stelle dürfte die Erklärung dafür liegen,
dass die Aburteilungsziffern so niedrig sind. Wird vorausgesetzt, dass nur
"retardierte" Jugendliche missbraucht werden können, gibt es erstens nur
eine kleine Gruppe potentieller Opfer, da rur die große Mehrzahl der Ju-
gendlichen davon auszugehen ist, dass sich keine fassbaren Unterschiede im
Vergleich zu anderen ihres Alters feststellen lassen. Zweitens impliziert
nach diesem Verständnis ein Strafantrag (§ 182 Abs. 5 StGB), dass sich
Betroffene als "zurückgeblieben" definieren müssen (bzw. ihre Erziehungs-
berechtigten, § 77 Abs. 3 StGB, eine solche Definition wünschen) - dies
dürfte zu Zurückhaltung beim Drängen auf Strafverfolgung ruhren. Er-
schwerend kommt hinzu, dass die Rechtsprechung darauf abstellt, ob Ju-
gendliche bereits sexuelle Erfahrungen gesammelt hatten. 41 Die Peinlich-
keit, die das Sprechen über den konkreten Vorfall bereits bedeutet, wird
demgemäß dadurch vergrößert, dass sexuelle Kenntnisse und frühere Erfah-

37 In der Strafverfolgungsstatistik bis 2008 noch § 182 Abs. 2 StGB. Die Änderung des
§ 182 StGB durch das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses der Europäischen Union
(Fn. 12) hat den Text in Absatz 3 n.F. nicht geändert.
38 Statistisches Bundesamt (Fn. 15).
39 Fn. 24, § 182 Rn. 11.
40 NK-Frommel, 3. Autl. 2010, § 182 Rn. 11~ Lenckner/Perron/Eisele (Fn. 24), § 182 Rn.
1O~ Renzikowski (Fn. 3), § 182 Rn. 52.
41 BGH NStZ 1997, 386 f.~ BGH NStZ-RR 1997,98,99.
416 Tatjana Härnle

rungen bloßgelegt werden sollen - auch dies könnte vom Stellen eines
Strafantrags abhalten.
Eine Verbesserung des Opferschutzes ist nicht auf eine Änderung des Ge-
setzes angewiesen, sondern ist durch eine dem Schutzgut angepasste Ausle-
gung des § 182 Abs. 3 StGB zu erreichen. "Fähigkeit zur sexuellen Selbst-
bestimmung" ist kein ausschließlich personenbezogener Zustand, der durch
eine sachverständige Exploration des Opfers festzustellen wäre 42 (so wie es
etwa bei der Bestimmung des Blutdrucks oder Intelligenzquotienten der Fall
wäre). Vor allem ist nicht erforderlich, dass der betroffene Jugendliche
innerhalb seiner Altersgruppe auffällig ist. 43 Eine solche Abweichung kann
zwar vorliegen _.- es ist aber auch möglich, dass der Entwicklungsstand des
Opfers eines Missbrauchs nach § 182 Abs. 3 StGB in jeder Hinsicht dem für
sein Alter zu erwartenden Entwicklungsstand entspricht. Die "fehlende
Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung" ist relativ und interaktionsab-
hängig. 44 Strafverfolgungsbehörden und Gerichte sollten in kontextsensibler
Weise Folgendes bewerten: die soziale Rolle des Täters im Verhältnis zum
Jugendlichen (insbesondere ein durch das Ausmaß des Altersunterschiedes
und die soziale Rolle geschaffenes Iv1achtungleichgewicht) und die konkre-
ten Umstände der Interaktion, die den sexuellen Handlungen vorausging.
Nur wenn es danach plausibel erscheint, dass der Jugendliche selbstbe-
stimmt eingewilligt hat, wurde nicht seine fehlende Fähigkeit zu sexueller
Selbstbestimmung ausgenutzt. Es ist weder eine gutachterliehe Stellung-
nahme erforderlich noch müssen Jugendliche nach früheren Sexualkontak-
ten befragt werden, weil diese rür die Anwendung des § 182 Abs. 3 StGB
irrelevant sind. 45 Vielmehr .muss davon ausgegangen werden, dass Vier-
zehn- und Fünfzehnjährige meist Wissen über sexuelle Praktiken haben,
und dieses Wissen häufig nicht nur in theoretischer Weise erworben wurde.
Aufgabe eines modemen Sexualstrafrechts ist es nicht, "Unschuld" und
"Reinheit" zu schützen, sondern Jugendliche davor zu bewahren, dass ihre
noch nicht voll entwickelte Fähigkeit, eigene Interessen auch in der Interak-
tion mit psychisch und sozial Stärkeren zu erkennen und durchzusetzen,
ausgenutzt wird.
Während eine Verbesserung des Schutzes sexueller Selbstbestimmung
Jugendlicher in § 182 Abs. 3 StGB durch Auslegung zu erreichen ist, bleibt

42 So zu Recht Fischer (Fn. 36), § 182 Rn. 13~ Renzikolvski (Fn. 3), § 182 Rn. 50.
43 A.A. Lenckner/Perron/Eisele (Fn. 24), § 182 Rn. 1O~ Renzikowski (Fn. 3), § 182 Rn. 52.
44 Fischer (Fn. 36), § 182 Rn. 13.
45 Wurden Erfahrungen in typischen Jugendfreundschaften gemacht~ erlauben sie keine
Rückschlüsse für die konkret zu beurteilende Interaktion. Sollte es in der Vergangenheit bereits
Sexualkontakte mit älteren Personen gegeben haben, so können auch diese auf den Missbrauch
eines besonders leicht zu beeinflussenden Jugendlichen zurückzuführen sein. Gegen das Ab-
stellen auf frühere sexuelle Erfahrungen auch Renzikowski (Fn. 3), § 182 Rn. 52.
Der lückenhafte Schutz jugendlicher Opfer im Sexualstrafrecht 417

ein Punkt, für den zu erwägen wäre, ob der Gesetzgeber tätig werden sollte.
Dies betrifft die für Täter vorgeschriebene Altersgrenze in § 182 Abs. 3
StGB: Diese müssen älter als einundzwanzig Jahre sein. Es ist zwar über-
zeugend, dass ein Missbrauch umso wahrscheinlicher ist, je größer der
Altersunterschied zwischen den beteiligten Personen ist. Dies aus zwei
Gründen: zum einen wird es mit dem Anwachsen des Altersunterschiedes
unwahrscheinlicher, dass aus der Perspektive des Jugendlichen der andere
ein attraktiver Sexualpartner ist, zum anderen ist mit Altersunterschieden oft
auch ein soziales Gefälle und damit das Potential für Machtmissbrauch
verbunden. 46 Umgekehrt bedeutet jedoch ein eher geringer Altersunter-
schied nur ein Indiz und keineswegs einen verlässlichen Anhaltspunkt fur
eine autonome Entscheidung des Jugendlichen: Vierzehnjährige können
auch auf manipulierende oder Druck ausübende Neunzehnjährige treffen.
Wenn man in kontextsensibler Weise Rollen und Interaktionen analysiert,
wäre eine starre Altersgrenze fur Täter verzichtbar.

46 S. zu Letzterem Lenckner/Perron/Eisele (Fn. 24), § 182 Rn. 10~ Ren=ikolt'ski (Fn. 3),
§ 182 Rn. 8.
Punktuelle Ergänzungen des
Persönlichkeitsschutzes im Strafgesetzbuch

KRISTIAN KÜHL

I. Zur Auswahl des Themas


Der strafrechtliche Schutz der Persönlichkeit bzw. des Persönlichkeits-
rechts ist weder für Strafrechtler noch für Kriminologen ein besonders att-
raktives Thema. Schon dieser erste Satz schafft ein Bündel von "Proble-
men". Er kann vom Autor dieses Festschriftbeitrags eigentlich nur rur die
Strafrechtler, zu deren "Zunft" er gehört, mit Anspruch auf Richtigkeit oder
doch wenigstens mit der Erwartung auf Zustimmung der Wissenschaftler
dieser "Zunft" formuliert werden. Bei den Kriminologen, zu denen der
Adressat dieser Festschrift zunächst zu rechnen ist, könnte er möglicherwei-
se keine Mehrheit bekommen oder sogar auf Ablehnung stoßen, weil er
falsch ist. Für eine solche Einschätzung könnte sprechen, dass sich beide bei
einer Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages zu einer
der beiden punktuellen Ergänzungen des Persönlichkeitsschutzes im Straf-
gesetzbuch, um die es im Folgenden gehen wird, als Sachverständige auf
dieses Thema einließen; der "Kriminologe" möglicherweise "aus Interesse".
Es ging damals - genauer: am 24. September 2003 1 - um den inzwischen
im Strafgesetzbuch "angekommenen" § 20la StGB, der laut Überschrift die
"Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen"
mit (allerdings im Vergleich zur "Parallelvorschrift" des § 201 StGB -
"Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes" - geringerer, aber der Straf-
vorschrift des § 33 Kunsturhebergesetz, der die Verbreitung und öffentliche
Zurschaustellung von Bildnissen erfasst, entsprechender) "Freiheitsstrafe
bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft" (§ 20la Abs. 1 StGB).
Ein weiteres Indiz rur die "Falschheit" des Einleitungssatzes für "Krimi-
nologen" könnte sich aus den zahlreichen Veröffentlichungen von Krimino-
logen im weiterem Sinne (d.h. unter Einschluss etwa von Psychologen und
Psychiatern) zu der zweiten punktuellen Ergänzung des Persönlichkeits-

1 Vgl. das Protokoll der 27. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags der
15. Wahlperiode (= Prot. 15/27).
420 Kristian Kühl

schutzes im Strafgesetzbuch, die im Folgenden behandelt werden soll, erge-


ben. 2 Gemeint ist der inzwischen ebenfalls im Strafgesetzbuch "angekom-
mene" § 238 StGB - "Nachstellung" -, der das zuvor lange und ausführlich
diskutierte gesellschaftliche Phänomen 3 des sog. "Stalking" mit (im Ver-
gleich zu § 201 a StGB höherer) "Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit
Geldstrafe bestraft" (§ 238 Abs. 1 StGB). Mit der Einbeziehung dieser Vor-
schrift in den Persönlichkeitsschutz des Strafgesetzbuchs ergibt sich ein
weiteres "Problem", dem an dieser frühen Stelle des Festschriftbeitrags nur
mit dem Hinweis auf den von § 238 Abs. 1 StGB vorausgesetzten tatbe-
standsmäßigen Erfolg begegnet werden soll. Dieser Erfolg, der zugleich das
von dieser Strafvorschrift geschützte Rechtsgut sein könnte, 4 besteht in der
schwerwiegenden Beeinträchtigung der "Lebensgestaltung".
Damit erscheint eine Einordnung bei den Strafvorschriften des Strafge-
setzbuches, die die "Persönlichkeit" schützen, jedenfalls vereinbar. Dass der
Gesetzgeber die Vorschrift bei den "Straftaten gegen die persönliche Frei-
heit" - vor der Freiheitsberaubung gern. § 239 StGB, durch die die "Fort-
bewegungsfreiheit"5 geschützt werden soll, vor der Nötigung gern. § 240
StGB, durch die die "freie Willensentschließung und Willensbetätigung"
geschützt werden soll, 6 und vor der Bedrohung gern. § 241 StGB, die das
"Gefühl der Rechtssicherheit des Einzelnen, namentlich sein Vertrauen in
deren Fortbestand", schützen wilF - eingeordnet hat, muss deshalb nicht
falsch sein, weil die Gestaltung des persönlichen Lebensbereichs die Fort-
bewegungsfreiheit, die Handlungs- und Entschließungsfreiheit und die
Freiheit von qualifizierten Bedrohungen - § 238 Abs. 1 Nr. 4 StGB: Bedro-
hung mit der "Verletzung von Leben, körperlicher Unversehrtheit, Gesund-
heit oder Freiheit" - mit umfasst. Dass diese Eingruppierung der Nachstel-
lung gern. § 238 StGB bei den Straftaten gegen die persönliche Freiheit von
den Lehrbuchautoren, die nach geschützten Rechtsgütern aufbauen und
systematisieren,s übernommen wird,9 verwundert schon deshalb nicht, weil

2 Vgl. etwa Kinzig ZRP 2006, 255; Neubacher ZStW 118, 855, 864; NeubacherlSeher 1Z
2007, 1029. - Aus forensisch-psychiatrischer Sicht DressingIMaul-Backer/Gass NStZ 2007,
253.
3 Dazu Rackow GA 2008, 552.
4 So etwa LacknerlKühl StGB, 26. Aufl. 2007, § 238 Rn. 1.
5 LacknerlKühl (Fn. 4), § 239 Rn. 1.
6 LacknerlKühl (Fn. 4), § 240 Rn. 1.
7 LacknerlKühl (Fn. 4), § 241 Rn. 1. .
S Besonders konsequent die beiden BT-Lehrbücher von MaurachlSchroederlMaiwald Straf-
recht Besonderer Teil, Teilbd. 1: Straftaten gegen Persänlichkeits- und Vermägenswerte, 9.
Aufl. 2007, Teilbd. 2: Straftaten gegen Getneinschaftswerte, 10. Aufl. 2009; zur Begründung
näher Schroeder In der Einleitung zu Teilbd. 1, Rn. 15-29.
Punktuelle Ergänzungen des Persönlichkeitsschutzes im StGB 421

diese sich an das Gesetz halten können und nicht ein neues Kapitel kreieren
müssen, das die Straftaten gegen die "Persönlichkeit" enthält (das Strafge-
setzbuch enthält ja auch keinen so überschriebenen BT-Abschnitt). Aus
wissenschaftlicher Sicht ist es allerdings zu bedauern, dass der strafrechtli-
che Persönlichkeitsschutz de lege lata und de lege ferenda nicht ausreichend
fundiert und systematisiert ist. Zumindest die Strafrechtswissenschaftler
haben insofern "mit-verschuldet", dass der Einleitungssatz für sie "stimmt".
Problematisch ist dieser Einleitungssatz aber hinsichtlich des "Kriminolo-
gen" noch deshalb, weil damit der Adressat dieser Festschrift gemeint ist.
Das ist bei etwas näherer Betrachtung eindeutig eine "Verkürzung" seines
wissenschaftlichen Arbeitsfeldes. "Gerechtfertigt" werden kann diese "Ver-
kürzung" zum Teil mit der persönlichen Wahrnehmung seiner Person. Der
Autor dieses Festschriftbeitrags nahm ihn als Kriminologen, der auch zu
einem kriminologischen Thema - der Dunkelfeldforschung - sprach, bei der
Freiburger Kriminologentagung 1975 und kurz danach bei einem "Bewer-
bungsvortrag" für einen kriminologischen Lehrstuhl in Bielefeld 1996 10
wahr. Jüngst erhielt er von ihm als Präsident einer (oder inzwischen der)
Kriminologischen Gesellschaft eine Einladung zu einer Münchener Krimi-
nologischen Tagung. Doch ändern diese persönlichen Wahrnehmungen
nichts daran, dass die Bezeichnung von Schäch als Kriminologe sein wis-
senschaftliches Werk nur unzureichend erfasst.
Noch nicht weit entfernt von der Kriminologie liegen das Jugendstraf-
recht und der Strafvollzug. Beide "Nebenfächer" des Strafrechts waren
schon seit langem in einem der früheren Wahlfächer mit der Kriminologie
"zusammengeschweißt" und finden sich auch heute noch in den neuen
Schwerpunkten als "Strafrechtspflege" oder in ähnlicher Bezeichnung. Für
beide Fächer - Jugendstrafrecht und Strafvollzug - hat der Kriminologe
Schäch in einer für RechtswissenschaftIer typischen Literaturgattung Veröf-
fentlichungen aufzuweisen: dem Lehrbuch. In 2. Auflage ist 2007 das von
Meier/Rössner/Schöch verfasste "Jugendstrafrecht" erschienen; darin hat
Schäch u.a. den § 11, der die Jugendstrafe behandelt, bearbeitet. Dabei zeigt
er sich insofern als Strafrechtler, als er den "Strafcharakter" der Jugendstra-
fe betont: sie habe eine "repressive Zielsetzung"; sie "soll dem Täter zum
Ausgleich für begangenes Unrecht ein Übel zufügen und von ihm und von
der Allgemeinheit auch so empfunden werden". 11 Als Strafrechtler könnte
man unter Berufung auf das Bundesverfassungsgericht hinzufügen, dass der

9 Vg. etwa Eiseie Strafrecht Besonderer Teil, Bd. I, 2008, § 22~ Mau-
rach/Schroeder/J'vfaiwald BT 1 (Fn. 8), § 16~ Rengier Strafrecht Besonderer Teil II, 10. Aufl.
2009, § 26a~ Wessels/Hettinger Strafrecht Besonderer Teil 1, 33. Aufl. 2009, § 8.
10 Zum damaligen Thema "zeitnah" Schöch Die Reform der Hauptverhandlung, in: Schrei-
ber (Hrsg.), Strafprozeß und Reform, 1970, S. 52 ff.
11 Schöch in: Meier/Rössner/Schöch, Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2007, § 12 Rn. 1,2.
422 Kristian Kühl

Strafcharakter der Strafe außer der Übelszufügung eine sozialethische


Missbilligung verlangt. 12
Zum Strafvollzug gibt es sogar zwei l.lehrbücher, die Schöch mit dem in-
zwischen verstorbenen Günther Kaiser verfasst hat; beide sind in 5. Auflage
erschienen, das große Lehr- und Handbuch 2002, die "Einführung" als
Studienbuch 2003. Auch hier zeigt er sich als "Auch-Strafrechtler", wenn er
bei der möglichen Rechtfertigung der Verletzung von Privatgeheimnissen
gern. § 203 StGB - einer hier einschlägigen Strafvorschrift, die mit der
"Geheimsphäre des Einzelnen" 13 die Persönlichkeit schützen will - gesetz-
liche Offenbarungspflichten behandelt. 14 - Abgerundet wird die Trias aus
,Kriminologie, Jugendstrafrecht, Straffvollzug' durch den genau so genann-
ten Juristischen Studienkurs, den Schöch ebenfalls mit Kaiser zuletzt in 6.
Auflage 2006 herausgebracht hat.
Weiter entfernt sich der Kriminologe von seinem Fach, wem1 er sich im
Kernstrafrecht betätigt. Auch dies hat der Adressat dieser Festschrift in
einer wieder für die Rechtswissenschaft typischen Literaturgattung getan: in
Kommentaren. Da ist zunächst der "Kommentar zur Strafprozessordnung"
in der von Wassermann herausgegebenen "Reihe Alternativkommentare" zu
nennen. Hier hat Schöch u.a. seine Vorarbeiten zur Refonn der Hauptver-
handlung umsetzen können und bei § 238 StPO - "Verhandlungsleitung" -
ganz kriminologisch "rechtstatsächliche Erkenntnisse" beigesteuert. 15 Dann
ist aus jüngster Zeit die Übernahme mehrerer Vorschriften aus dem Allge-
meinen Teil des Strafgesetzbuchs im "Leipziger Kommentar", dessen 12.
Auflage seit 2006 im Erscheinen begriffen ist, hervorzuheben. Passend für
den "Strafrechtler-Kriminologen" ist die Kommentierung §§ 19-21 StGB,
denn sie setzen wie kaum anqere StGB-Vorschriften kriminologische
Kenntnisse im weiteren Sinne voraus. Dementsprechend ist bei den "Grund-
lagen der Schuldfahigkeitsbeurteilung" der Punkt ,,1. Psychiatrisches und
juristisches System seelischer Störungen" aufgeführt. 16 Den Strafrechtler
fordert die Kommentierung der actio libera in causa; 17 Verständnis der
"modernen Hirnforschung" verlangt seit einiger Zeit die Erörterung der
Willensfreiheit,18 doch muss man sich von deren Ergebnissen nicht beirren
lassen, was bei Schöch dazu führt, dass er beim "Bewusstsein des Anders-
könnens" als Grundlage des Schuldvorwurfs bleibt. 19 Aus dem Sanktionen-

12 Zum Missbilligungscharakter der Strate vgl. Kühl FS Eser, 2005, S. 149 ff.
13 Lackner/Kühl (Fn. 4), § 203 Rn. 1.
14 Kaiser/Schäch Strafvollzug, 5. Autl. 2002, § 7 Rn. 227-229.
15 Schäch in: Alternativ-Kommentare zur StPO, Bd. 2, Teilbel. 2, 1993, § 238 Rn. 14-28.
16 Schäch in: Leipziger Kommentar zum StOB. Bd. 1,12. Autl. 2007, § 20 Rn. 51-73.
17 Schäch (Fn. 16), § 20 Rn. 194 ff.
18 Schäch (Fn. 16), § 20 Rn. 15 ff., 25 f.
19 Schäch (Fn. 16), § 20 Rn. 24; vgl. dazu Kühl OA 2009,69,71 f.
Punktuelle Ergänzungen des Persänlichkeitsschutzes im 5tGB 423

system des Strafgesetzbuchs hat er die §§ 61-64 und 67 bearbeitet. Dabei


muss der Strafrechtler durch den empirisch arbeitenden Kriminologen er-
gänzt werden, was sich im Anhang Vor § 61 niederschlägt: "Bemerkungen
zum empirischen Problem der Prognose".20
Wer so als Kriminologe und Strafrechtler unterwegs ist, der sieht sich
unweigerlich auch mit kriminalpolitischen Fragen konfrontiert. So erging es
auch dem Adressaten dieser Festschrift, der in jüngster Zeit maßgeblich an
zwei Alternativ-Entwürfen zum strafrechtlichen Lebensschutz mitgewirkt
hat: dem AE-Sterbebegleitung 2005 und dem AE-Leben 2008. 21 Es ist des-
halb nicht "von ungefähr", wenn Schäch auf seiner Homepage bei seinen
Arbeitsgebieten - nur einige sind hier bisher angesprochen; vollständig
umfassen sie: strafrechtliche Sanktionen, empirische Sanktions- und Straf-
verfahrensforschung, Straf- und Maßregelvollzug, Jugendstrafrecht, Wie-
dergutmachung und Mediation im Strafrecht, Viktimologie, Verletzten- und
Zeugenrechte, Straßenverkehrsdelinquenz, Medizinstrafrecht, Grenzfragen
der forensischen Psychiatrie - mit der "Kriminalpolitik" beginnt. Die Kri-
minalpolitik im Sinne der sachverständigen Beratung des "Strafgesetzge-
bers" war es - wie bereits gesagt - auch, die den Autor dieses Festschrift-
beitrags und den Adressaten dieser Festschrift zum Thema strafrechtlicher
Persönlichkeitsschutz durch Strafbewehrung unbefugter Bildaufnahmen vor
dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages zusammenbrachte und
damit das Thema dieses Festschriftbeitrags mit-bestimmte.

11. Der strafrechtliche Persönlichkeitsschutz als Beispiel


für den fragmentarischen Charakter des Strafrechts
Der Schutz der Persönlichkeit findet nicht nur und schon gar nicht in ers-
ter Linie im Strafrecht statt. Dass das so sein soll, ergibt sich aus dem Sub-
sidiaritätsprinzip,22 nach dem das Strafrecht ultima rati0 23 ist und erst dann
eingreift, wenn das zu "bekämpfende" Phänomen mit milderen Mitteln als
der Strafe ebenso gut geregelt werden kann. Auf diese normative Problema-
tik soll im Hinblick auf Strafvorschriften, welche die Persönlichkeit schüt-
zen, erst am Schluss dieses Beitrags eingegangen werden. Hier geht es zu-
nächst nur um eine tatsächliche Bestandsaufnahme. Da eigene Unter-
suchungen zur Erstellung einer Bestandsaufnahme rur einen Festschriftbei-

20 Schöch in: Leipziger Kommentar, Bd. 3, 12. Aufl. 2008, Vor § 61 Rn. 144-175~ vgl. dazu
Kühl GA 2010, 183.
21 Vorgestellt bzw. veröffentlicht in: GA 2005,553 ff. und 2008, 200 ff.
22 Lacker/Kühl (Fn. 4), Vor § 13 Rn. 3~ Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl.
2006, § 2 Rn. 97-102.
23 Baumann/Weber/Mitsch Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2003, § 3 Rn. 19.
424 Kristian Kühl

trag zu aufwendig wären und dem Autor dieses Festschriftbeitrags das me-
thodische Rüstzeug zu deren Ermittlung fehlt, wird hier ein einfaches, dafür
aber unsicheres Verfahren gewählt, in dem ein Werk herangezogen wird,
das das gesamte Persönlichkeitsrecht behandelt.
Sucht man nach einem solchen Werk, stößt man auf das von Göt-
ting/Schertz/Seitz herausgegebene "Handbuch des Persönlichkeitsrechts",
das außer seiner Vollständigkeit - laut Verlagswerbung werden "erstmals
alle Fragen des Persönlichkeitsrechts" und "sämtliche verfassungsrechtli-
chen, zivilrechtlichen und strafrechtlichen Implikationen dieses wichtigen
Rechtsguts dargestellt"24 - auch noch den Vorteil der Aktualität hat, denn es
ist 2008 erschienen. Dieses Handbuch wird übrigens im Prospekt des Ver-
lages, der es "herausgebracht" hat, überraschend und doch bezeichnender-
weise beim "Medien-, Presse- und Rundfunkrecht" platziert, also bei einer
Rechtsmaterie, die wie das Persönlichkeitsrecht eine "Querschnittsmaterie"
ist, die von allen juristischen Hauptfachern (Öffentliches Recht, Strafrecht
und Zivilrecht) "beackert" wird. So wird etwa im traditionsreichen Kom-
mentar zu den Landespressegesetzen bzw. Landesmediengesetzen - dem
"Löffler"25 - das Öffentliche Recht, insbesondere das Verfassungsrecht von
Bullinger, das Strafrecht von Kühl und das Zivilrecht u.a. von Steifen bear-
beitet. Die entsprechende Aufteilung findet sich auch im "Handbuch des
Persönlichkeitsrechts",26 in dem das öffentliche Recht, insbesondere das
Verfassungsrecht von Vesting und Ladeur, 27 das Strafrecht allein von Heu-
eherner und das Zivilrecht u.a. vom Mitherausgeber Götting bearbeitet ist.
"Überraschend" ist die Platzierung des Persönlichkeitsrechts beim Medien-
recht, weil man es dort nicht erwartet hätte; - aber wo hätte man es erwarten
sollen oder können? "Bezeichnenderweise" ist die Platzierung dort erfolgt,
weil zwischen dem Persönlichkeitsrecht und ,j ournalistischer Informations-
beschaffung", insbesondere beim "investigativen Journalismus", ein "Span-
nungsverhältnis" besteht. 28 Das hat sich auch in den Anhörungen des
Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages zu den hier im Folgenden zu
behandelnden "punktuellen Ergänzungen des Persönlichkeitsschutzes" -
den unbefugten Bildaufnahmen i.S. des § 20la StGB und der Nachstellung
getu. § 238 StGB - gezeigt, bei denen Vertreter der Medien zum Teil ve-

24 Zur "inhaltlichen Spannbreite" des Handbuchs vgl. Hoffmann-Riem NJW 2009,3292.


25 Löffler, Presserecht, 5. Aufl. 2006.
26 Götting/Schertz/Seitz (Hrsg.), Handbuch des Persönlichkeitsrechts, 2008.
27 Besonders gelobt von ·Hoffmann-Riem (Fn. 24).
28 Zu diesem Spannungsverhältnis Kraenz Der strafrechtliche Schutz der Persönlichkeit,
2008, S. 29 ff.
Punktuelle Ergänzungen des Persönlichkeitsschutzes im StOB 425

hement Einspruch gegen die "Kriminalisierung" des Journalismus erho-


ben. 29
Vertraut man dem "Handbuch des Persönlichkeitsrechts~' und hält man
dieses außerdem noch für repräsentativ, so macht der strafrechtliche Persön-
lichkeitsschutz mit 60 Seiten etwa 5 Prozent des Handbuchs, das insgesamt
1227 Seiten "stark" ist, aus. Kein Wunder, dass es - wie bereits erwähnt -
von nur einem Bearbeiter bewältigt werden kann. Wie erwartet beansprucht
der zivilrechtliche Persönlichkeitsschutz den "Löwenanteil". Als solcher -
materiellrechtlich - schon etwa 20 0A> (S. 195-410 = 215 Seiten), wozu
schon acht Bearbeiter eingesetzt werden; nimmt nlan die zivilrechtlichen
"Rechtsfolgen der Verletzung des Persönlichkeitsrechts" und das (Zi-
vil-)Verfahrensrecht hinzu (S. 737-964), so sind es fast 50 %, wobei fur den
letzteren Teil wieder sieben Bearbeiter gebraucht werden. Demgegenüber
macht sich das Verfassungsrecht mit 80 Seiten eher klein, ist aber immer
noch größer als das Strafrecht.
Konzentriert man sich fur die angestrebte Bestandsaufnahme des straf-
rechtlichen Persönlichkeitsschutzes auf den kleinen strafrechtlichen Teil des
"Handbuchs des Persönlichkeitsrechts", so ist man vom Inhalt wiederum
überrascht, denn über die Hälfte der dem Strafrecht gewidmeten Teile be-
trifft den "Ehrenschutz" der §§ 185 ff StGB (Kapitell 0, §§ 25-28, S. 426-
458). Dass es sich dabei um keinen "Ausreißer" des Bearbeiters Heuchemer
handelt, belegt die Bochurner Dissertation von Peglau "Der Schutz des
allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch das Strafrecht" aus dem Jahre
1997, in dem die "Beleidigungsdelikte" auch über die Hälfte des Buches
ausmachen (S. 55-128 = 73 von 134 Seiten). Die insofern nicht repräsenta-
tive, neuere Dissertation von Kraenz "Der strafrechtliche Schutz des Per-
sönlichkeitsrechts" aus dem Jahre 2008 konzentriert sich auf die aus (von
ihr eingenommenen) Mediensicht zu kritisierenden §§ 201 a, 238 StGB. Sie
bestätigt immerhin die hier getroffene Auswahl und bildet einen Kontrast zu
der vor allem vom Mitherausgeber Götting vertretenen "Grundannahme,
das Persönlichkeitsrecht sei durch die Intervention des Medienrechts defor-
nliert'·.30
Der Ehrenschutz im Strafgesetzbuch ist, auch wenn man ihn mit Heuche-
mer und Peglau zum strafrechtlichen Persönlichkeitsschutz zählt,31 jeden-

29 Nachweise zu den Stellungnahmen der ,,!v1edienverbände" bei Kraen= (Fn. 28), S. 124 f
zu § 201a StGB, S. 288 ff zu § 238 StGB.
30 Hoffmann-Riem (Fn. 24), nach dem das "kaum stimmen kann", wenn man die Rechtspre-
chung des Bundesverfassungsgerichts betrachte.
31 Ebenso die wohl h.M.; vgl. etwa Hilgendorf in: ArztlWeber/HeinrichiHilgendorf, Straf-
recht Besonderer Teil, 2. Aufl. 2009, § 7 Rn. 1 f; aus der Rechtsprechung vgl. BGHSt 36, 145,
148, wonach die Ehre nicht mit dem Bereich, den das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst,
identisch ist, aber zu ihm gehört.
426 Kristian Kühl

falls eine "separierte" Materie mit einem eigenen BT-Abschnitt, dem 14., an
den sich allerdings der 15. BT-Abschnitt - "Verletzung des persönlichen
Lebens- und Geheimnisbereichs" - mit dem persönlichkeitsschützenden
§ 201 a StGB - "Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch
Bildaufnahmen" - anschließt. Über diesen Abschnitt muss man schon hi-
nausgehen, wenn man - wie hier - die Nachstellung gern. § 238 StGB mit
in den strafrechtlichen Persönlichkeitsschutz einbeziehen will. Das gilt auch
für weitere persönlichkeitsschützende Strafvorschriften im Kernstrafrecht
des StGB und erst recht für solche aus dem Nebenstrafrecht. Da der Gesetz-
geber beim "Aufspüren" solcher Strafvorschriften jedenfalls systematisch
nicht hilft, muss die Strafrechtswissenschaft und Strafrechtsprechung jede
in Betracht kommende Vorschrift daraufhin überprüfen, ob sie das Rechts-
gut der Persönlichkeit schützen will; - dafür gibt es, wie oben zu § 238
StGB ausgeführt, gelegentlich Andeutungen im Gesetzestext (bei § 238
Abs. 1 StGB durch den tatbestandsmäßigen Erfolg: schwerwiegende Beein-
trächtigung der "Lebensgestaltung").
Dieses Aufspüren des jeweils geschützten Rechtsguts ist - wie die gesam-
te Bestandsaufnahme, zu der es gehört - selbst wiederum zu aufwendig, als
dass es für einen Festschriftenbeitrag sinnvoll in Angriff genommen werden
könnte. Außerdem ist es schon im Ansatz schwierig, weil es - wie auch
bereits gesagt - an einer Fundierung und Systematisierung des strafrechtli-
chen Persönlichkeitsschutzes fehlt; - ein Mangel, der erst recht nicht so
nebenbei in einem Festschriftbeitrag behoben werden kann. Beides - das
Aufspüren und die Mangelbeseitigung - muss hier aber auch nicht geleistet
werden, denn hier geht es nach der Überschrift von 11. nur darum zu zeigen,
dass der strafrechtliche Persönlichkeitsschutz ein Beispiel für den fragmen-
tarischen Charakter des Strafrechts abgibt. Dazu genügt es, sich in vorhan-
denen Arbeiten zum strafrechtlichen Persönlichkeitsschutz weiter umzuse-
hen.
Bisher hat diese "Umsicht" im strafrechtlichen Teil des "Handbuchs des
Persönlichkeitsrechts" und in der Dissertation von Peglau nur den gemein-
samen Befund ergeben, dass die "Ehrverletzungen" bzw. die "Beleidi-
gungsdelikte" den "größten Batzen" der persönlichkeitsschützenden Straf-
vorschriften ausmachen. Die Ausschau nach weiteren solchen Vorschriften
führt wiederum in beiden "Quellen" zu einem recht ähnlichen Bild. In bei-
den "Quellen" werden Strafvorschriften aus dem 15. BT-Abschnitt des
StGB genannt; bei Peglau die §§ 201, 203, 204 StGB,32 im neueren Hand-
buch von Heuchemer auch schon der relativ neue § 201a StGB. 33 Das ist

32 Peglau Der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch das Strafrecht, 1997, S.
31 ff.
33 Heuchemer in: Götting/Schertz/Seitz (Fn. 26), § 23 Rn. 1-6.
Punktuelle Ergänzungen des Persänlichkeitsschutzes im StGB 427

nicht überraschend, weil dieser Abschnitt schon durch seine Überschrift den
persönlichen Lebensbereich - bei § 201 a StGB sogar den höchstpersönli-
chen Lebensbereich - als Rechtsgut vorgibt, womit der Schutz der Persön-
lichkeit bzw. des Persönlichkeitsrechts deutlich wird. Von beiden genannt
werden auch die falsche Verdächtigung LS. des § 164 StGB 34 - mit der
Einschränkung, dass durch diese Vorschrift der Schutz des Persönlichkeits-
rechts neben dem Allgemeinheitsrechtsgut der Rechtspflege mit umfasst
seP5 - und die verbotenen Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen i.S. des
§ 353d StGB - beschränkt auf die Nr. 3 - öffentliche Mitteilung speziell
von Anklageschriften 36 -, bei der - wieder - neben dem Schutz der Rechts-
pflege der Schutz des vom Verfahren Betroffenen vor vorzeitiger Bloßstel-
lung "mitschwingt".37 In beiden "Quellen" werden auch Strafvorschriften
aus dem sog. Nebenstrafrecht - dem Strafrecht außerhalb des Strafgesetz-
buches - genannt. Bei Heuchemer die §§ 106 ff des Urhebergesetzes,38 in
denen u.a. die Vervielfältigung von Werken ohne Einwilligung des Berech-
tigten bei Strafe verboten wird (§ 106 Abs. 1 UrhG), bei Peglau neben
Strafvorschriften aus dem Bundesdatenschutzgesetz und dem Stasi-
Unterlagen-Gesetz der § 33 des Kunsturhebergesetzes,39 der die Verbreitung
von Bildnissen gegen den Willen des Betroffenen bei Strafe verbietet und
deshalb - \vie eingangs unter I. bereits gesagt - den neuen § 201 a StGB, der
schon unbefugte Bildaufnahmen erfasst, ergänzt. 40
Schon diese "Umsicht" spricht für die in der Überschrift zu 11. enthaltene
These, dass der strafrechtliche Persönlichkeitsschutz fragmentarisch ist. Das
ergibt sich zum einen daraus, dass keine Strafvorschrift gefunden werden
konnte, die das (allgemeine) Persönlichkeitsrecht umfassend schützt. Zum
anderen daraus, dass die vorhandenen Strafvorschriften zum Schutz dieses
Rechts auf bestimmte Ausschnitte dieses Rechtsgut wie Lebensgestaltung
oder persönlicher und höchstpersönlicher Lebensbereich usw. und auf be-
stimmte Angriffsweisen wie Bild- und Tonaufnahmen, Verbreiten von Bild-
nissen usw. beschränkt sind mit der Folge, dass sich zwischen diesen
"Fragmenten" Lücken ergeben. So war es bis vor kurzem bei Bildaufnah-
men, die anders als Tonaufnahmen i.S. des § 201 StGB, erst seit kurzem
durch § 201 a StGB -lückenschließend - strafrechtlich erfasst sind. Eine
Lücke besteht in diesem Bereich weiterhin fur Bildaufnahmen von Perso-

34 Heuchemer a.a.O., § 30 Rn. 8~ Peglau (Fn. 32), S. 30 f. u. in ZRP 1998, 249.


35 Das entspricht der h.M., vgl. Lackner/Kühl (Fn. 4),§ 164 Rn. 1.
36 Peglau (Fn. 32), S. 36~ Heuchemer (Fn. 33), § 30 Rn. 5.
37 So auch eine verbreitete Meinung in der Literatur und die Rechtsprechung, vgl.
Lackner/Kühl (Fn. 4), § 353d Rn. 1, mit Nachweisen auch zur Gegenmeinung.
38 Heuchemer (Fn. 33), § 30 Rn. 9. -
39 Peglau (Fn. 32), S. 39 f.
40 Lackner/Kühl (Fn. 4), § 201a Rn. 1 u. 11.
428 Kristian Kühl

nen, die sich nicht in ihrem höchstpersönlichen Rückzugsbereich wie etwa


der Wohnung befinden. Eine gründliche Aufbereitung des wünschenswerten
strafrechtlichen Schutzes des Persönlichkeitsrechts würde noch weitere und
wohl auch größere Lücken zu Tage fördern. Es sei nur an die Diskussion
um die Schaffung eines sog. "Indiskretionsdelikts" erinnert,41 durch das
auch wahre Tatsachenbehauptung indiskreter bzw. bloßstellender Art erfasst
werden sollten, die bis heute - im Gegensatz zu mancher ausländischen
Rechtsordnung - nicht zu einer über § 185 StGB i.V. mit § 192 StGB und §
201 Abs. 2 Nr. 2 StGB 42 hinausgehenden Strafvorschrift geführt haben
(zivilrechtlichen Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen Verletzung des
allgemeinen Persönlichkeitsrechts gibt es natürlich).43
Obwohl im letzten Halbsatz des vorstehenden Absatzes schon die norma-
tive Problematik der Fragmentarität des Strafrechts 44 anklingt, ist mit der
davor angestellten "Umsicht" die faktische Richtigkeit der in der Über-
schrift zu 11. aufgestellten These "bewiesen". Dieser tatsächliche Befund
muss nur durch eine Erweiterung des Bliekes auf das geltende deutsche
Strafrecht richtig eingeordnet werden. Dann zeigt sich, dass eigentlich nur
das Rechtsgut ,Leben' durch Strafvorschriften quasi rundum geschützt
wird. Auch dieser "Rund-um-Schutz" gilt nur für das menschliche Leben,
tierisches Leben ist keineswegs derart umfassend geschützt, ja es wird sogar
- etwa bei der Tierquälerei gern. § 17 Tierschutzgesetz - bezweifelt, ob
tierisches Leben und die körperliche Unversehrtheit von Wirbeltieren über-
haupt ein Rechtsgut darstellen. 45 Für das menschliche Leben gilt der "Rund-
um-Schutz" auch erst aber der Geburt,46 also für geborenes Leben. Das
Leben des Embryos im Mutterleib ist zwar ab dem Zeitpunkt der Nidation
(vgl. § 218 Abs. 1 StGB: "Einnistung") auch strafrechtlich durch die § 218
ff. StGB geschützt, aber im Vergleich zum geborenen menschlichen Leben

41 Aus dieser Diskussion vgl. nur Gallas ZStW 75 (1963), 16~ Ar=t Der strafrechtliche
Schutz der Intimsphäre, 1970, S. 142 ff~ Hirsch Ehre und Beleidigung, 1967, S. 217 ff.~ aus der
neueren Diskussion vgl. Rogall FS Hirsch, 1999, S. 665 ff. u. Kargl ZStW 117 (2005), 324,
327.
42 Zu diesen' Vorschriften im Zusammenhang Init einem "Indiskretionsdelikt" vgl. Maiwald
(Fn. 8)~ Teilbd. 1, § 25 Rn. 43 und § 29 Rn. 7.
43 Bedauerlich nach Maiwald (Fn. 8)~ Teilbd. 1, § 25 Rn. 44~ nach Lenckner in: Schön-
ke/Schröder, StGB-Kommentar, 27. Autl. 2006, Vor §§ 185 ff. Rn. la, wäre die unerledigt
gebliebene Schaffung eines Indiskretionstatbestands "durchaus berechtigt". - Nach Rogall
(Fn. 41), S. 669, ist von einem solchen Delikt "heutzutage kaum noch die Rede"~ Rogall selbst
ist gegen die Schaffung eines solchen Delikts~ ebenso schon Schünemann ZStW 90 (1978), 45
ff.
44 Dazu Kühl FS Tiedemann, 2008, S. 29,35-41.
45 Jüngst etwa von Heger Die Europäisierung des deutschen Umweltstrafrechts, 2009,
S. 238 ff., 242 f.~ früher schon von Gallas Beiträge zur Verbrechenslehre, 1969, S. 14 f.
46 Genauer Kühl JA 2009,321 ff.
Punktuelle Ergänzungen des Persönlichkeitsschutzes im StGB 429

etwa nicht gegen fahrlässige Abtötung. Noch geringer fällt der strafrechtli-
che Schutz für den Embryo vor der Nidation - der "Schutz des extrauterinen
vorgeburtlichen Lebens"47 -, den das Embryonenschutzgesetz gewährt, aus.
Insofern kann man von einem gestuften strafrechtlichen Schutz sprechen,48
ohne damit zu bestreiten, dass es sich in allen Stadien ab der "Befruch-
tung"49 um menschliches Leben handelt. Selbst geborenes menschliches
Leben ist durch die §§ 211 ff. StGB strafrechtlich nicht lückenlos geschützt.
Zwar gewähren die Tötungsdelikte Schutz gegen vorsätzliche (auch nur
versuchte) und fahrlässige Angriffe, aber ein allgemeines Lebensgefähr-
dungsdelikt gibt es zunächst formell (noch) nicht, obwohl die Aussetzung
gern. § 221 StGB als Einstieg in ein solches verstanden werden kann. 50
Schon bei allgemein anerkannten individuellen Rechtsgütem wie ,Eigen-
tum' oder ,Vermögen' gibt es keinen "Rund-um-Schutz" gegen alle erdenk-
lichen Verletzungen oder gar Gefährdungen. So ist das Eigentum - auch
fragmentarisch nur gegen bestimmte Angriffe geschützt; so etwa gegen
Wegnahme in Zueignungsabsicht durch § 242 StGB - "Diebstahl" - oder
gegen Beschädigung usw. durch § 303 StGB - "Sachbeschädigung" -.
Diese Bezeichnung typischer und traditioneller Deliktstypen erfolgt im
Strafgesetzbuch auch nicht etwa in einem BT-Abschnitt "Straftaten gegen
das Eigentum". Das steht der Aufnahme neuer eigentumsschützender Straf-
vorschriften wie etwa § 303 Abs. 2 StGB, der jetzt das gesellschaftliche
Phänomen ,Graffiti' als unbefugte Veränderung des "Erscheinungsbilds"
einer fremden Sache strafrechtlich als Eigentumsdelikt erfasst,51 nicht ent-
gegen. Bedenklich weit in Richtung "Rund~um-Schutz" ist der Gesetzgeber
bei der Neufassung der Unterschlagung gern. § 246 Abs. 1 StGB gegangen,
der als "Anfangtatbestand" für alle Zueignungsdelikte konzipiert wurde. 52
Auch das Vermögen ist im Strafgesetzbuch zwar vielfältig, aber nicht um-
fassend geschützt. Auch hier führt die strafrechtliche Erfassung bestimmter
Angriffsweisen zu einem fragmentarischen Schutz. Etwa gegen Täuschun-
gen durch den Betrug gern. § 263 StGB, der wie fast alle Straftaten in die-
sem Bereich - Ausnahme die Geldwäsche gern. § 261 Abs. 5 StGB, bei der

47 Schroeder (Fn. 8), Teilbd. 1, § 7. - Eingehend zu diesem Schutz GüntherlTaupitzlKaiser


Embryonenschutzgesetz, 2008.
48 So etwa Dreier JZ 2007,260 ff.
49 Vgl. BVerfGE 39, 1, 41; nach Günther (Fn. 47) die bisher vorherrschende Rechtsansicht;
die heutige verfassungsrechtliche Beurteilung des menschlichen Lebens in vitro sei dagegen
gespalten (Rn. 3 zu § 1 Abs. I Nr. 2).
50 So etwa von Struensee in: Dencker u.a., Einführung in das 6. Strafrechtsreformgesetz,
1998, S. 29 ff.
51 Vgl. LacknerlKühl (Fn. 4), § 303 Rn. I und WesselslHillenkamp Strafrecht Besonderer
Teil 2, 32. Autl. 2009, Rn. l1a.
52 BT-Drs. 13/8587, S. 43; vgl. dazu LacknerlKühl (Fn. 4), § 246 Rn. 1 und Wes-
selslHillenkamp (Fn. 51), Rn. 276.
430 Kristian Kühl

leichtfertiges, also grob fahrlässiges Verhalten erfasst wird - nur vorsätzli-


che Vermögensschädigungen unter Strafe stellt, was freilich durch die in
aktueller Diskussion befindliche, bisherige Anerkennung einer schadens-
gleichen Vermögensgefahrdung als Vermögensschaden erweitert
wird/wurde. 53 Eine schon immer bedenkliche Erweiterung des strafrechtli-
chen Vermögensschutzes in Richtung "Rund-um-Schutz" enthält die
"wachsweiche" Fassung der Untreue gern. § 266 StGB, die auf vieles, ja auf
fast alles passt;54 von einer Einführung der Versuchsstrafbarkeit hat der
Gesetzgeber allerdings bisher abgesehen (BT-Dr 13/8587, S. 10,43).
Damit ist ausreichend belegt, dass unser Strafrecht fragmentarisch ist.
Soll es aber fragmentarisch bleiben und warum? Die Beantwortung dieser
Frage setzt zunächst voraus, dass man sich über den Status und die Begrün-
dung der Fragmenarität Gedanken macht. Beides - Status und Begründung
- sind bisher nicht eindeutig geklärt; die Klärung würde ein weites Ausho-
len voraussetzen. Das ist hier, wo es darum geht, für zwei neue Strafvor-
schriften - §§ 201 a, 238 StGB - zu prüfen, ob sie diese Fragmentarität
"sprengen" oder ob es sich um legitime Lückenschließungen handelt, nicht
möglich und nicht nötig.
Zunächst zum ungeklärten Status der Fragmentarität des Strafrechts. Da-
bei fallt auf, dass ihr nicht der Status eines Prinzips zuerkannt wird, wie dies
etwa für die Subsidiarität des Strafrechts - das Subsidiaritätsprinzip55 - gilt
(sachlich dazu im vorliegenden Zusammenhang unter 111. 2.). Die Fragmen-
tarität wird weniger streng und niedriger aufgehängt meist so angesprochen,
dass vom "fragmentarischen Charakter"56 oder von der "fragmentarischen
Natur"57 des Strafrechts die Rede ist. "Charakter" und "Natur" kann man
auch als "Wesen" einer, Sache bezeichnen, so dass man - etwas höher auf-
gehängt, aber immer noch "weniger streng" - davon sprechen könnte, dass
die Fragmentarität zum "Wesen des, Strafrechts" gehört. Wenn sie aber zum
Wesen dieses Teils der Gesamtrechtsordnung gehört, dann liegt es nahe,
dass die Fragmentarität mit der Sanktion, die dieses Rechtsgebiet auszeich-

53 Zur bisherigen Rechtslage vgl. LacknerlKühl (Fn. 4), § 263 Rn. 40~ zur aktuellen Diskus-
sion vgl. WesselslHillenkamp (Fn. 51), Rn. 571.
54 Kritisch zur Weite der Gesetzesfassung vor allem des Treubruchtatbestandes Maiwald
(Fn. 42), § 45 Rn. 9 - Nachweise zur deshalb geführten kriminalpolitischen Diskussion dieser
Vorschrift bei LacknerlKühl (Fn. 4), § 266 Rn. 1.
55 Näher Kühl (Fn. 44), S. 41 ff.
56 So etwa bei BaumannlWeber/Mitsch (Fn. 23), § 3 Rn. 11 ~ Eber! Strafrecht - Allgemeiner
Teil, 3. Aufl. 2001, S. 3 ~ Heinrich Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 2. Autl. 2010, Rn. 11 ~
Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Autl. 1996, S. 52~ Kindhäuser
Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2009, § 2 Rn. 6~ Rengier Strafrecht Allgemeiner Teil,
2009, § 3 Rn. 7.
57 So etwa Roxin (Fn. 22), § 2 Rn. 97~ nur von "fragmentarisch" sprechen WesselslBeulke
Strafrecht Allgemeiner Teil, 39. Aufl. 2009, Rn. 9.
Punktuelle Ergänzungen des Persönlichkeitsschutzes im 8tGB 431

net, zu tun hat: der Strafe. Zu deren "Wesen" gehört neben ihrem Übelscha-
rakter, den sie mit vielen Sanktionen des Zivilrechts und des Öffentlichen
Rechts, aber auch mit Sanktionen des Strafrechts wie den Maßregeln der
Besserung und Sicherung, die keine Strafen sind, teilt, der Missbilligungs-
charakter - Strafe als ein "sozialethisches Unwerturteil"58 -. Der Zusam-
menhang zwischen diesen beiden "Wesen" dürfte darin zu sehen sein, dass
eine so verstandene Strafe wegen ihres besonderen "Doppelcharakters" -
Übel plus Missbilligung - nicht auf alle rechtswidrigen Verhaltensweisen
Anwendung finden darf. Dafür wäre sie ein zu scharfes Instrument. So wäre
es übertrieben, auf jeden Vertragsbruch mit einer Strafe wegen Untreue
gern. § 266 StGB zu reagieren, und ebenso übers Ziel hinausgeschossen
würde, wenn jede Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts mit
Strafe belegt würde. Ihren "Sondercharakter" und die davon ausgehenden
Wirkungen (etwa nonnstabilisierender oder abschreckender Art) bewahrt
die Strafe nur, wenn sie in ihrem Anwendungsbereich auf besonders hervor-
stechende (= fragmentarische) rechtswidrige Verhaltensweisen beschränkt
bleibt. Man könnte diese Verhaltensweisen als strafwürdiges Unrecht be-
zeichnen. Insoweit wird die Fragmentarität durch die Subsidiarität ergänzt,
und zwar unter dem Stichwort der Strafbedürftigkeit (auf beides - Straf-
würdigkeit und Strafbedürftigkeit - wird im Hinblick auf die §§ 201 a, 238
StGB abschließend unter III. noch eingegangen werden).
Ein Unterschied zwischen Fragmentarität und Subsidiarität, der über die
Qualität als "Prinzip", die nur letzterer zuerkannt wird, hinausgeht, ist die
verfassungsrechtliche Absicherung wiederum nur der Subsidiarität.59 Bei
der Fragmentarität tut man sich dabei schwer, hat aber wohl auch noch nicht
genügend darüber nachgedacht. Denkbar wäre eine Ableitung aus dem
verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip, denn dieses verbietet
einen "übermäßigen", überzogenen Einsatz staatlicher Reaktionen auf Fehl-
verhalten der Bürger. Auch das Bestimmtsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG
könnte zur Begründung der Fragmentarität insofern aktiviert werden, als nur
"sauber ausgestanzte" Strafvorschriften als "bestimmte" anerkannt werden,
während die erforderliche gesetzliche Bestimmtheit bei zu weit formulierten
Strafvorschriften fehlt. Schließlich könnte das Bundesverfassungsgericht
die verfassungsrechtliche Dignität der Fragmentarität des Strafrechts her-
ausarbeiten oder postulieren. Dies ist - soweit ersichtlich - bisher nicht
geschehen, zumindest nicht in der Deutlichkeit und Häufigkeit, mit der
dieses Gericht den Missbilligungscharakter der Strafe hervorhebt. 60

58 Näher dazu Kühl (Fn. 12), S. 149 ff.


59 Kühl (Fn. 44), S. 41 und Lackner/Kühl (Fn. 4), Vor § 13 Rn. 3 m.w.N.
60 Vgl. nur BVerfGE 96, 245, 249~ 105, 135, 153; 109, 133, 167 u. 190,213; 110, 1, 13;
120,224,240.
432 Kristian Kühl

Auch ohne verfassungsrechtliche "Weihen" kann man sagen, dass die


Charakterisierung des Strafrechts als fragmentarisch allgemein in der Straf-
rechtswissenschaft akzeptiert ist. Wenn es gesehen und nicht übersehen
wird, gilt es als kriminalpolitisches Kriterium 61 für die Strafgesetzgebung,
insbesondere wenn es um die häufige Forderung von Lückenschließungen
durch neue Strafvorschriften geht. In diesem gesicherten Anwendungsbe-
reich 62 gilt danach, dass Lücken zum Strafrecht gehören. Nicht jeder Auf-
weis einer Lücke ist deshalb schon eine berechtigte Forderung für ihre
Schliessung. Das bedeutet allerdings nicht, dass Lücken bestehen bleiben
müssen, sondern nur, dass deren Schliessung nicht schon mit dem Argu-
ment begründet ist, dass sonst eine Lücke bliebe. Lücken hält das Strafrecht
aus. Lücken dürfen/müssen aber dann geschlossen werden, wenn dies durch
Strafvorschriften geschehen soll, die "unabweisbar" straf\\'ürdiges und
strafbedürftiges Verhalten "kriminalisieren". Angeblich lückenschliessende
Strafvorschriften - wie die relativ neuen §§ 201 a, 238 StGB - müssen dar-
aufhin überprüft werden, ob sie diesen Kriterien genügen. Dies soll jetzt
unter 111. geschehen.

111. Zur Legitimation von Strafvorschriften


Die Legitimation von Strafvorschriften soll hier - wie schon mehrfach
gesagt - nur für die unbefugten Bildaufnahmen i.S. des § 201a StGB und
das Nachstellen i.S. ~es § 238 8tGB überprüft werden. Dabei wird davon
ausgegangen, dass beide Vorschriften dem Schutz der Persönlichkeit bz\\'.
des Persönlichkeitsrechts dienen. Ob sie aber wirklich nur strafwürdige und
strafbedürftige Verhaltensweisen erfassen, bleibt zu klären.

I. Die Strqflvürdigkeit
Die Strafwürdigkeit eines Verhaltens hebt dieses aus dem großen Bereich
"nur" rechtswidrigen Verhaltens heraus. Das geschieht bei §§ 201 a, 238
StGB formal, d.h. was die Mittel angeht, die die Strafwürdigkeit begründen,
ganz ähnlich, sachlich aber sind beide Straftaten gesondert zu betrachten.

61Betont von Tiedemann Tatbestandsfunktionen im Nebenstrafrecht, 1969, S. 136.


62Weitere Anwendungsbereiche sieht Maiwald FS Maurach, 1972, S. 9 ff.: gegenüber der
Gesamtrechtsordnung und im Verhältnis zur Moral.
Punktuelle Ergänzungen des Persönlichkeitsschutzes im StOB 433

a) Unbefugte Bildaufnahmen i.S. des § 201a StGB


Um dem Kriterium der Strafwürdigkeit zu genügen, muss der Gesetzge-
ber einen Unrechtstypus schaffen, der dieses Prädikat verdient. Das setzt
zunächst voraus, dass ein Rechtsgut als Schutzgut der jeweiligen Strafvor-
schrift erkennbar ist. Dabei soll die vor kurzem vom Bundesverfassungsge-
richt63 verneinte Frage, ob nur solche Strafvorschriften legitim sind, die
Rechtsgüter schützen, hier unbeantwortet bleiben, denn jedenfalls schadet
es der Legitimation einer Strafvorschrift nicht, wenn sie ein schutzwürdiges
Rechtsgut aufweisen kann.
Das ist bei § 201 a StGB der Fall. Das geschützte Rechtsgut ist aus der
Überschrift und aus der Angabe des tatbestandsmäßigen Erfolges in § 201 a
Abs. 1 StGB leicht erkennbar: der "höchstpersönliche Lebensbereich". An
der Dignität dieses Rechtsguts als strafrechtliches Rechtsgut besteht bei
einem solchen höchstpersönlichen Individualrechtsgut kein Zweifel. Zwei-
fel ergeben sich aber hinsichtlich seiner Bestimmtheit. In dieser Hinsicht hat
dieses Rechtsgut teil an der Unbestimmtheit des allgemeinen Persönlich-
keitsrechts, das niemand ohne weiteres zu einem strafrechtlich geschützten
Gut machen will. Zwar ist der "höchstpersönliche Lebensbereich" schon
eine Konkretisierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, doch handelt es
sich auch bei ihm immer noch um ein relativ offenes, unbestimmtes Rechts-
gut, das zudem unserer Rechtsordnung bisher fremd war. Letzteres hätte
man von dem allerdings weiteren Rechtsgut des "persönlichen Lebensbe-
reichs" nicht sagen können, denn diesbezüglich gibt es etwa eine gefestigte
Rechtsprechung zu § 171 b GVG.64 Freilich hätte auch dieses Rechtsgut, das
vom Adressaten dieser Festschrift im Gesetzgebungsverfahren favorisiert
wurde,65 einer weiteren Einschränkung bedurft, um einen eindeutigen Un-
rechtstypus zu ergeben.
Eine solch weitere Einschränkung bildet im geltenden § 201 a StGB die
räumliche Begrenzung auf Wohnungen usw. Dass es sich dabei um eine
weitere, zusätzliche Begrenzung neben dem konkretisierten Rechtsgut han-
delt, ergibt sich schon daraus, dass es für § 201 a Abs. 1 StGB nicht aus-
reicht, dass eine Bildaufnahme von einer anderen Person, die sich in einer
Wohnung oder einem gegen Einblick besonders geschützten Raum befindet,
hergestellt wird; es muss "dadurch" der höchstpersönliche Lebensbereich
dieser Person verletzt werden. Das wird die Gerichte noch vor erhebliche

63 BVerfG NJW 2008, 1137 ff. zu § 173 Abs. 2 S. 2 StGB; zur Kritik des sog. Rechts-
gutskonzepts durch das Gericht kritisch Kühl JA 2009, 833, 837 f.
64 Nachweise bei Meyer-Goßner StPO, 52. Aufl. 2009, § 171 GVG Rn. 4.
65 Schöch Prot. 15/27 (Fn. 1), S. 29; dazu auch Wolter in: Schünemann-Symposium, 2005,
S. 225,227.
434 Kristian Kühl

Probleme stellen,66 denn ein relativ offenes, unbestimmtes Rechtsgut ist


vom Rechtsanwender eher zu verkraften als ein ebensolcher tatbestandsmä-
ßiger Erfolg. Neben dieser Bestimmtheitsproblematik ist die sachliche Be-
rechtigung dieser räumlichen Begrenzung umstritten, denn sie fuhrt dazu,
dass eindeutige und schwere Persönlichkeitsverletzungen wie das Fotogra-
fieren von schwerverletzten Unfallopfern oder von Angehörigen am Grab
ihres Kindes nicht von § 20la StGB erfasst sind; - das haben sowohl der
Autor dieses Festschriftbeitrags als auch der Adressat dieser Festschrift
unabgestimmt, aber übereinstimmend in der Anhörung des Rechtsausschus-
ses "beklagt".67 Weitergehenden Persönlichkeitsschutz gewährt das Zivil-
recht; auch polizeiliches Einschreiten gegen das Fotografieren einer Person,
die sich nicht im persönlichen Rückzugsbereich aufhält, ist möglich. 68
Gut gelungen ist dem Gesetzgeber das Herausarbeiten der das Unrecht
mit-typisierenden Tathandlung. Gerade bei Strafvorschriften mit relativ
offenen, unbestimmten Rechtsgütern sind die Angriffsforlnen und ihre Ein-
griffstiefe 69 besonders wichtig. Das "Herstellen der Bildaufnahme" ist die
richtig gewählte Tathandlung, weil mit ihrer Vornahme die fur die Persön-
lichkeit gefährliche Perpetuierung des augenblicklichen Erscheinungsbildes
einer Person beginnt. 70 Die bloße Beobachtung, auch mit einem Bildauf-
nahmegerät,71 ist ebenso vergänglich wie die augenblickliche Erscheinung
einer Person; der "freche Blick des Spanners" in Nachbars Garten sollte der
moralischen Beurteilung vorbehalten bleiben. 72
Ob zur Unrechtstypisierung das Merkmal "unbefugt" erforderlich ist, soll
hier offenbleiben. Viel spricht dafur, dass sich die Unbefugtheit schon aus
den oben genannten Tatbestandsmerkmalen (Tathandlung, tatbestandsmäßi-
ger Erfolg, Wohnung usw.) ergibt. 73

66 Das zeigt schon die wohl erste OLG-Entscheidung des OLG Koblenz NStZ 2009, 268 f.
mit Bespr. Bosch JA 2009, 308, der diese Probletnatik anspricht.
67 Kühl und Schöch Prot. 15/27 (Fn. 1), S. 16 und 29~ anders Kächele Der strafrechtliche
Schutz vor unbefugten Bildaufnahmen (§ 20la StGB), 2007, S. 101, der ausschließlich auf die
räumliche Begrenzung setzt.
68 VGH Mannheim NVwZ-RR 2008, 700 mit Bespr. Durner JA 2009, 748.
69 Schünemann Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2010, Vor § 201 Rn. 3 und schon in: ZStW
90 (1978) 11, 17 ff.
70 Betont auch von Heuchemer (Fn. 33), § 29 Rn. 8. - Für § 201 StGB schon Gallas
(Fn. 45), S. 205.
71 Dies pönalisiert das schweizerische Strafrecht in Art. 179 quater.
72 Arzt (Fn. 41), S. 64~ gegen Einbeziehung des Beobachtens Pollähne KritV 86 (2003),
387,410f.
73 Lackner/Kühl (Fn. 4), § 201a Rn. 9.
Punktuelle Ergänzungen des Persönlichkeitsschutzes im StGB 435

b) Nachstellen i.S. des § 238 StGB


Auch bei der "Stalking" - Vorschrift des § 238 StGB stehen bei der
Strafwürdigkeitsprüfung74 das geschützte Rechtsgut und die Tathandlungen
im Fokus. Hinsichtlich des Rechtsguts gibt es viele Parallelen zu § 201 a
StGB. Das Nachstellen verletzt die Persönlichkeit bzw. das allgemeine
Persönlichkeitsrecht. § 238 StGB konkretisiert dieses Rechtsgut zwar durch
die Beeinträchtigung der "Lebensgestaltung" als tatbestandsmäßigen Erfolg,
doch ist diese Lebensgestaltung, die dem individuellen Lebensbereich zuge-
schlagen wird, 75 so vielgestaltig, dass es sich auch hier um ein relativ offe-
nes, unbestimmtes Rechtsgut handelt. 76
Die erforderliche Unrechtstypisierung verlangt deshalb \vie bei § 201 a
StGB - nach Tathandlungen, die das strafwürdige Unrecht mit-begründen.
Dabei hat sich der Gesetzgeber große Mühe gegeben 77 und in den Nummern
1-4 des § 238 Abs. 1 StGB Handlungen w'ie das Aufsuchen der räumlichen
Nähe (Nr. 1) oder Bedrohungen (Nr. 4) "herausgestanzt". Die Mühe könnte
sich aber als "vergebliche" herausstellen, weil in Nr. 5 die Vornahme "an-
derer vergleichbarer Handlungen" zusätzlich erfasst wird. Wie diese Hand-
lungen beschaffen sein müssen, sagt das Gesetz nur mit ihrerseits unbe-
stimnlten Tatbestandsmerkmalen. Sie müssen - wie die Tathandlungen der
Nr. 1 bis 4 - als "Nachstellen" zu verstehen sein und eine schwerwiegende
Beeinträchtigung der "Lebensgestaltung" bewirken ("dadurch"). Ob das zur
Unrechtstypisierung reicht, erscheint fraglich. Auch sind die "bestimmten"
Tathandlungen der Nr. 1 bis 4 so disparat, dass sie kaum Maßstäbe für ver-
gleichbare Handlungen i.S. der Nr. 5 abgeben können. 78 Wie die Rechtspre-
chung mit diesem Auftrag zur Analogie zurecht kommt, muss man abwar-
ten.
Ob das weitere Tatbestandsmerkmal "beharrlich" etwas zurUnrechtstypi-
sierung oder - was näherliegt zur Schuldtypisierung beiträgt, erscheint
ebenso zweifelhaft wie seine sachliche Berechtigung; 79 immerhin schränkt
es die Strafbarkeit ein. Einen anderen Stellenwert als bei § 201 a StGB erhält
das Merkmal "unbefugt", das vom überwiegenden Teil der Strafre9htswis-
senschaft hier als notwendige. Ergänzung des Tatbestandes, dessen Unrecht

74 Zu einem negativen Ergebnis kommt Löhr Zur Notwenigkeit eines spezifischen Antistal-
king-Straftatbestandes in Deutschland, 2008, S. 372 ff.: symbolisches Strafrecht (S. 436).
75 BT-Drs. 16/575, S. 6 - Regierungsentwurf.
76 LacknerlKühl (Fn. 4), § 238 Rn. 1.
77 Kritisch dennoch Schroeder (Fn. 8), Teilbd. 1, § 16 Rn. 9: "Aufmotzung" banaler Tatbe-
standshandlungen durch "fachterminologische Sprechblasen" ..
78 Anders für Nr. 3 und 4 NeubacherlSeher JZ 2007, 1029, 1033: sog. "innertatbestandlicher
Analogie" zugänglich.
79 Zur Problematik LacknerlKühl (Fn. 4), § 238 Rn. 3~ kritisch Löhr (Fn. 74), S. 333 f.
436 Kristian Kühl

sonst nicht ausreichend typisiert sei, verstanden wird. 80 Erst Handeln gegen
den Willen des Opfers macht etwa das Aufsuchen der räumlichen Nähe zu
ihm - ein an sich sozialadäquates Verhalten - zu strafwürdigem Unrecht. 81

2. Strafbedürftigkeit
Die vom Subsidiaritätsprinzip geforderte Strafbedürftigkeit lässt das
Strafrecht als ultimo ratio erst zu, wenn andere, mildere Formen der Erledi-
gung von Fehlverhalten nicht greifen. Dabei kommen als Alternativen nicht
nur Sanktionen des Zivilrechts, des Öffentlichen Rechts und des Ordnungs-
widrigkeitenrechts in Betracht, sondern auch Selbstschutzmöglichkeiten des
Opfers. Bei den hier interessierenden Strafvorschriften der §§ 201 a, 238
StGB bietet sich vor allem das Zivilrecht als mildere Alternative an. Die vor
allem normativ problematischen Selbstschutzmöglichkeiten wie Sonnenba-
den im Kellerstudio bei § 20la StGB und Änderung der Telefonnummer bei
§ 238 StGB sollen hier ausgeklammert bleiben.

a) Zivilrechtlicher Schutz des Persänlichkeitsrechts


Wie eingangs bereits belegt, dominiert beim Schutz der Persönlichkeit
vom Umfang her das Zivilrecht. Dieser Schutz ist inzwischen so ausgebaut,
dass er auch in Deutschland zu nennenswerten Schmerzensgeldbeträgen für
die Verletzten führt. Dennoch bleibt das Prozeßrisiko einschließlich der
Kosten beim Verletzten, so dass der Gang zu den Zivilgerichten fast nur
von "Prominenten" beschritten wird. 82 Für den "normalen" Menschen, der
durch Bildaufnahmen in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt wird, ist des-
halb das Zivilrecht keine realistische Alternative zum strafrechtlichen
Schutz nach § 201 a StGB, auch wenn diese Vorschrift als Antragsdelikt
(§ 205 Abs. 1 StGB) ausgestaltet ist; immerhin ist sie kein Privatklagedelikt
wie der ergänzende § 33 KUG, bei dem "praktisch eine Verweigerung des
Strafrechtsschutzes" zu befürchten wäre. 83

80 Nachweise zur h.M. bei Lackner/Kühl (Fn. 4), § 238 Rn. 6.


81 Anders für Nr. 3 und 4 Mitsch NJW 2007, 1237, 1240~ dem zustimmend Fischer StGB,
56. Aufl. 2009, § 238 Rn. 26; ganz ablehnend und für Verortung auf der Rechtfertigungsebene
Wolters in: Systematischer Kommentar zum StGB, Stand: November 2007, § 238 Rn. 8.
82 Ebenso Schöch Prot. 15/27 (Fn. 1), S. 28 1'.,120.
83 Schöch a.a.O., S. 122; fur Streichung des § 33 KUG aus dem Katalog der Privatklagede-
likte Kächele (Fn. 67), S. 228.
Punktuelle Ergänzungen des Persänlichkeitsschutzes im 8tGB 437

b) Zivilrechtlicher Gewaltschutz
Die zivilrechtliche Alternative zum Nachstellen LS. des § 238 StGB ist
seit kurzem das Gewaltschutzgesetz vom 11.12.2001 (BGBL I S. 3513).
Das Besondere dieser Alternative ist die flankierende Strafvorschrift des § 4
GewSchG, die einen Verstoß gegen eine bestimmte vollstreckbare Anord-
nung eines Zivilgerichts - z.B. die Untersagung, die Wohnung des Opfers
zu betreten oder sich im Umkreis der Wohnung aufzuhalten - mit Strafe
belegt. Das macht diese Alternative attraktiver als der bloße Verweis auf
den Zivilrechtsweg. Dennoch muss dieser zunächst beschritten werden, um
eine richterliche Anordnung nach § 1 GewSchG zu erstreiten. Liegt diese
dann vor, kann ihr der "Stalker" leicht dadurch entgehen, dass er dem Opfer
auf andere Weise nachstellt, als es ihm vom Gericht untersagt wurde. Des-
halb ist auch diese zivilrechtlich-strafrechtliche K.ombination kein Ersatz für
den strafrechtlichen Schutz des § 238 StGB,84 auch wenn dessen Absatz 1
nach Absatz 4 als eingeschränktes Antragsdelikt und sogar als Privatklage-
delikt ausgestaltet ist (§ 374 Abs. 1 Nr. 5 StPO).

84 Lackner/Kühl (Fn. 4), § 238 Rn. 1, mit Nachweisen zu Gegenstimmen; kritisch etwa Löhr
(Fn. 74), S. 372 ff.
Der Arzt, die Kommunikation und das Strafrecht
- Aspekte der ärztlichen Sch~eigepflicht unter
besonderer Berücksichtigung von Supervision, ärztlichem
Konsil und Sachverständigentätigkeit -

CHRISTOPH KNAUER

I. Einleitung
Das Verhältnis zwischen Medizinern und Juristen wird häufig nicht als
das beste angesehen. Andererseits: Welche Berufsgruppe ist den Rechtswis-
senschaftlern schon so wichtig, dass gleich ein ganzes Forschungsgebiet
nach ihr benannt wird - das Arztrecht oder neuerdings auch das Medizin-
strafrecht nämlich, das eine unübersehbare Zahl von literarischen Äußerun-
gen, aber auch eine Unmenge von Urteilen hervorgebracht hat. Die Gründe
für das gespannte Verhältnis zwischen zwei der ältesten akademischen
Berufsgruppen erörtern zu wollen, würde hier zu weit gehen.
Heinz Schöch hat sich stets als Brückenbauer zwischen beiden Berufs-
gruppen engagiert. Durch seine Zusammenarbeit mit Ärzten, etwa im Be-
reich der forensischen Psychiatrie, hat er das wechselseitige Verständnis
und den Respekt zwischen beiden Berufsgruppen gefördert - dies wird von
allen Seiten bestätigt. Grundlegend mit den ärztlichen Pflichten setzt Heinz
Schöch sich etwa in seinem Beitrag zur Aufklärungspflicht des Arztes und
deren Grenzen auseinander. 1
Von den zahlreichen Fragen, die sich um den Problemkreis "Arzt und
Strafrecht" ranken, soll im Folgenden die (strafrechtliche) Schweigepflicht
herausgegriffen werden, die eines der Beispiele für die problematische

1 Schäch Die Aufklärungspflicht des Arztes und ihre Grenzen, in: RoxiniSchroth, Handbuch
des Medizinstrafrechts, 3. Autl. 2007, S. 47 ff.~ dem Verf. ist es eine besondere Ehre, dass
damit der Beitrag aus der Vorauflage: Ärztlicher Heileingriff, Einwilligung und Aufklärung -
Überzogene Anforderungen an den Arzt? in: Roxin/Schroth/Knauer/Niedermair, Medizinstraf-
recht, 2. Autl. 2001, S. 11 ff. durch den verehrten Jubilar eine Fortsetzung gefunden hat. Mit
einer parallelen Thematik zum vorliegenden Beitrag beschäftigt sich Schäch Schweige- und
Offenbarungspflichten für Therapeuten im Maßregelvollzug, in: FS H.-L. Schreiber, 2003, S.
437 ff.
440 Christoph Knauer

Gratwanderung ärztlichen Handeins bzgl. der gesetzten normativen Grenzen


darstellt. Neben grundsätzlichen Aspekten der ärztlichen Schweigepflicht
(vgl. unten 11.) soll insbesondere der Frage nachgegangen werden, ob eine
Verletzung von Privatgeheimnissen auch im Interesse des Patienten liegen
kann - vor allem bei Supervision und ärztlichem Konsil (vgl. unten 111.).
Sodann soll das Problemfeld "Schweigepflicht und Gutachten" beleuchtet
werden (vgl. unten IV.), insbesondere also die Frage, inwieweit der Sach-
verständige die Grundsätze der Schweigepflicht zu achten hat. In diesem
Zusammenhang soll der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit
eine gerichtliche Beauftragung rechtfertigend ist.

11. Grundsätzliches zur ärztlichen Schweigepflicht


1. Einleitung
Die ärztliche Schweigepflicht dient dem Schutz des Vertrauens zwischen
Arzt und Patient sowie auch dem Selbstbestimmungsrecht des letzteren.
Schon im Eid des Hippokrates hieß es: "Was immer ich sehe und höre bei
der Behandlung oder außerhalb der Behandlung im Leben der Menschen,
so werde ich von dem, was niemals nach draußen ausgeplaudert werden
soll, schweigen, indem ich alles Derartige als solches betrachte, das nicht
ausgesprochen werden darj,.2
Gemäß § 203 Abs. 1 StGB wird bestraft, "wer unbefugt ein fremdes Ge-
heünnis, namentlich ein zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Ge-
heimnis ( ... ) offenbart, das ihm als Arzt (...) anvertraut worden oder sonst
bekannt geworden ist (...)".
Diese straftatbestandliche Manifestation der überlieferten ärztlichen
Schweigepflicht, die sich kaum von der hippokratischen Selbstverpflichtung
unterscheidet, ist natürlich jedem Arzt und dessen (durch Abs. 3 mit einbe-
zogenen) Mitarbeitern der Sache nach bekannt. Überdies findet sie sich -
ohne freilich unmittelbar strafrechtliche Sanktionen auszulösen - in § 9 der
,,(Muster-) Berufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte". Interes-
sant ist, dass zahlreiche andere Heilberufe durch § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB
erfasst sind (Zahnärzte, Tierärzte und Apotheker, durch das Abstellen auf
eine staatliche Ausbildungsregelung z.B. Krankenschwestern, Kranken-
3
gymnasten, Hebammen u.v.m.), nicht aber die Heilpraktiker. Offenbar

2 Zit. nach Schlund in: Laufs/Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl. 2002,
§ 69 Rn. 1.
3 Schönke/SchröderlLenckner StGB, 27 Aufl. 2006, § 203 Rn. 35~ str. ist, ob der nicht ap-
probierte Hochstapler "Arzt" i.S.d. § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB ist, vgl. Braun in: Roxin/Schroth
(Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 3. Aufl. 2007, S. 278.
Der Arzt, die Kommunikation und das Strafrecht 441

scheint dem Gesetzgeber weder das Vertrauen zwischen Heilpraktiker und


"Patient" schutzwürdig, noch das Selbstbestimmungsrecht desselben.

2. Geheimnis
Geheimnis i.S.d. Vorschrift ist eine Tatsache, die nur einem begrenzten
Personenkreis bekannt ist und an deren Geheimhaltung der Betroffene ein
schutzwürdiges Interesse hat. 4 Bezogen auf den ärztlichen Behandlungsall-
tag wird diese Definition sehr \veit aufgefasst, so dass bspw. nicht nur
Anamnese, Diagnose und Therapie sowie familiäre, persönliche und finan-
zielleUmstände des Patienten hierunter fallen, sondern auch die Tatsache
der Behandlung selbst und der Patientenname. 5 Da Rechtsgut des § 203
StGB das Geheimhaltungsinteresse des Patienten ist, 6 besteht das Geheim-
nis in einer Verbindung zwischen der Tatsache und einer bestimmten Per-
son (des Patienten). Dabei ist es aber ausreichend, wenn die Tatsachen sich
einer Person zuordnen lassen, wenn diese also erkennbar ist. 7 Danach ist es
also zwingend, dass die Krankenschwester die telephonische Nachfrage, ob
eine bestimmte Person auf der Station sei, damit quittiert, dass sie das nicht
sagen dürfe (eine regelmäßig missachtete simple Folge der Schweige-
ptlicht 8).
Die Vorschrift fUhrt als fremdes Geheimnis auf "namentlich ein zum per-
sönlichen Lebensbereich gehörendes". Man könnte daher ,,'egen der im
ärztlichen Sprachgebrauch anzutreffenden Wendung vom "therapeutischen
Bereich" daran zweifeln, ob ein Geheimnis als ZUlU persönlichen Lebensbe-
reich gehörend gelten kann, wenn die betreffenden T'atsachen in den Be-
handlungsbereich fallen. Bei einer solchen Gegensatzbildung von "persönli-
chem" und "therapeutischem" Lebensbereich würde jedoch der juristische
Sprachgebrauch verkannt und schon der maßgebliche Wortlaut der Vo~­
schrift missachtet. Dieser schützt anvertraute Geheimnisse umfassend, was
sich bereits an der lediglich exemplarischen Erwähnung des persönlichen

4 VgI. dazu im Einzelnen z.B. Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 3), § 203 Rn. 5 ff.
5 Dazu die Übersicht bei Ulsenheimer in: Laufs/Uhlenbruck (Fn. 2), § 70 Rn. 1; vgI. auch
Sommer/Tsambikakis in: Terbille (Hrsg.), MAH Medizinrecht, 2009, § 2 Rn. 112.
6 Hilgendorfin: Arzt/WeberlHeinrichlHilgendorf, Strafrecht Besonderer Teil, 2. Aufl. 2009,
§ 8 Rn. 29.
7 Bosch in: Satzger/Schmidt/Widmaier, StOB, 2009, § 203 Rn. 2.
8 Ebenso problematisch ist die Unart mancher niedergelassener Ärzte, aber auch Kliniken,
ihre Patienten in nur durch Vorhängen getrennten Kabinen zu behandeln, wobei der volle
Name und die diagnostizierte Erkrankung für jeden anderen Anwesenden hörbar sind.
442 Christoph Knauer

Lebensbereichs zeigt. Die Annahme eines "therapeutischen Privilegs" ist


somit abzulehnen. 9
Ein Geheimnis liegt nicht mehr vor, wenn die Tatsache bereits einer un-
bestimmten Vielzahl von Personen bekannt oder zugänglich ist. 10 Aller-
dings bleibt die Tatsache ein Geheimnis, wenn es sich lediglich um ein noch
unbestätigtes "Gerücht" handelt. 11 Wenn also unter Kollegen das Gerücht
umgeht, der Kollege X sei HIV-positiv, so ist die entsprechende Diagnose
(positiv und negativ!) für den behandelnden Arzt dennoch eine geheimzu-
haltende.
Ist eine Erkrankung allerdings für jedermann offensichtlich, so ist sie
ebenfalls kein Geheimnis, also etwa bei einer Querschnittslähmung, Ampu-
tation u.ä. Ebenso liegt mangels Geheimhaltungsinteresse 12 kein schutz-
würdiges Geheimnis vor, wenn der Träger die Tatsache selbst allgemein
ausplaudert.

3. Art der Kenntniserlangung


Die Art der Kenntniserlangung ist unbedeutend, solange sie in der Eigen-
schaft als Arzt erfolgt ist. Das bedeutet, dass nicht nur die Tatsachen ge-
schützt sind, die der Arzt im Zusammenhang mit der Behandlung seines
Patienten im Krankenhaus erfährt, sondern auch die, die ihm außerhalb
seines Dienstes "anvertraut" werden, also sogar gegen seinen Willen auf der
Straße, einem Empfang oder im Urlaub. Entscheidend ist, dass ihm das
Geheimnis bekannt wird, weil er Arzt ist, also eine berufsspezifische Kon-
nexität besteht. 13 Fragt also Patientin X den "Herrn Doktor" beim Bäcker,
was gegen ihre Krampfadern zu tun sei, dann unterliegt auch dies dem
Arztgeheimnis. Aber auch sog. "Drittgeheimnisse" sind nach § 203 StGB
geschützt: Erkennt der Arzt z.B. mit geschultem Blick, dass der im Warte-
bereich ausharrende Begleiter Anzeichen einer bestimmten Erkrankung hat,
oder erfährt er im Gespräch mit dem Patienten, dass dessen Partnerin an
einer Geschlechtskrankheit leidet, so muss er auch hierüber schweigen.
Allerdings muss auch bei Drittgeheimnissen ein gewisser Bezug zur Ge-
heimsphäre des Patienten bestehen 14. Dieser Bezug liegt nur dann sicher

9 Niedermair in: Roxin/SchrothlKnauerlNiedermair (Fn. 1), S. 397~ so auch Braun (Fn. 3),
S. 281.
10 Wann diese Grenze überschritten ist, muss anhand der Umstände des Einzelfalls ermittelt
werden, vgl. Braun (Fn. 3), S. 282.
11 LK-Schünemann, 11. Aufl. (Stand: 1.8.2000, 35. Lieferung), § 203 Rn. 22.
12 Oder "Geheimhaltungswille": LK- Schünemann (Fn. 11), § 203 Rn. 24.
13 Vgl. dazu Ulsenheimer in: Laufs/Uhlenbruck (Fn. 2), § 70 Rn. 5 sowie Ulsenheimer Arzt-
strafrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2008, Rn. 365.
14 Vgl. Ulsenheimer Arzstrafrecht (Fn. 13), Rn. 364.
Der Arzt, die Kommunikation und das Strafrecht 443

nicht vor, wenn der Arzt auch hinsichtlich der Erhebungssituation wie ein
beliebiger Dritter Kenntnis erlangt,15 was aber bei Arzt-Patienten-
Gesprächen in der Regel zu verneinen sein wird.
Schweigen muss der Arzt auch über bei Hausbesuchen mitgehörte Fami-
liengespräche und Beobachtungen. Auch wenn er im Rahmen seiner Tätig-
keit etwa in einer Belegklinik oder einem Ärztehaus nur aufgrund der An-
wesenheit einer Person erkennt, dass diese dort in Behandlung ist, so muss
man diese Tatsache richtiger"veise als "Arztgeheimnis" betrachten.
Die Grenze all dessen liegt dort, wo der Arzt etwas als Privatperson er-
fährt. Wenn er etwa auf einer privaten Feier erkennt, dass der Gastgeber
offenbar an einer Gelbsucht leidet, oder er anlässlich eines Waldspazier-
gangs den Spitzenpolitiker aus der Praxis des berühmten HIV-Spezialisten
kommen sieht, muss er dies nicht für sich behalten. Auch private Gespräche
mit Freunden oder Bekannten, die in der Sprechstunde stattfinden, fallen
dementsprechend aus der Schweigepflicht heraus.

4. Offenbarung des Geheimnisses


Das Geheimnis ist offenbart worden, wenn es auf irgendeine Art einem
Dritten mitgeteilt wurde, der von dem Geheimnis noch keine sichere
Kenntnis hatte. 16 Hier bestehen die meisten ärztlichen Missverständnisse.
Die Geheimhaltungspflicht besteht entgegen einer unter Ärzten weit ver-
breiteten Ansicht nämlich auch gegenüber Kollegen. Es ist also auch straf-
bar, die geheime Tatsache an einen seinerseits Schweigepflichtigen mitzu-
teilen. 17 Dies wird vor allem damit begründet, dass es eine so große Anzahl
von Schweigepflichtigen gibt, dass das Herausnehmen einer Offenbarung
an diese die Vorschrift überflüssig machen würde. Es ist also nicht unprob-
lematisch, wenn unter Kollegen über diverse Fälle gesprochen wird und
dabei die Identität des Patienten aufgedeckt wird. 18
Grenze dieser strengen Maxime ist allerdings die Zustimmung des Patien-
ten. Ist sie ausdrücklich oder konkludent erteilt, darf das Geheimnis \veiter-
gegeben werden (dazu gleich unten).
Die Schweigepflicht gilt im Übrigen auch über den Tod des Patienten
hinaus (§ 203 Abs. 4 StGB). Es war also strafbar, als sich der inzwischen

15 Bosch in: Satzger/Schmidt/Widlnaier (Fn. 7), § 203 Rn. 8 m.w.N.


16 Tag in: DöllingiDuttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 2008, § 203 Rn. 44.
17 So BayObLG NStZ 1995, 187 in einer - freilich aus anderen Gründen abzulehnenden -
Entscheidung zur Schweigepflicht des Psychologen~ dazu Schöch FS Schreiber (Fn. 1), S. 437,
43~ä s.a. ~K-~iernak, Bd. 3, 2003, § ~03 Rn. 49.. . . . . .
Zur rIChtIgen Begründung s.u. bel Fn. 38. Oh bel SupervIsIon oder ärzthchem KonSll eIne
Ausnahme von diesem Grundsatz (zum Wohle des Patienten) geboten sein könnte, soll weiter
unten in einem eigenen Abschnitt untersucht werden (s.u. 111.).
444 Christoph Knauer

selbst verstorbene Dr. HackethaI in einer Boulevardzeitung über "die letzten


Tage des Helmut Fischer" ausbreitete.
Auch gegenüber Verwandten des Patienten und dessen Ehepartner gilt die
Schweigepflicht. Es obliegt dem Patienten, nicht dem Arzt, seine nächsten
Angehörigen über eine evtl. sogar existenzbedrohende Erkrankung zu unter-
richten (es sei denn, dies ist zu deren Schutz erforderlich, s. u.). Ebenso
dürfen Patientendaten nicht ohne Einwilligung des Patienten an ärztliche
Verrechnungsstellen weitergegeben werden. Allerdings haben sich die
meisten Ärzte hier schon eine formularmäßige Einwilligung erteilen las-
19
sen. Gleiches gilt für den Praxisverkauf; die dabei erfolgende Weitergabe
von Patientendaten ist nicht ohne weiteres zulässig. 20

5. Unterlassen
Die Offenbarung des Geheimnisses kann auch durch Unterlassen verwirk-
licht werden. 21 Dies stellt sich vor allem hinsichtlich der Organisation in der
Klinik als problematisch dar. Der Tatbestand des § 203 StGB ist nämlich
auch dadurch verwirklicht, dass jemand durch herumliegende oder offen
(vor den einzelnen Behandlungsräumen) aushängende Patientenakten Pati-
entendaten erfährt. Damit können auch räumliche Verhältnisse dazu führen,
dass die nötige Geheimhaltung nicht gewahrt bleibt: Ist etwa die Anmel-
dung zu nah an Wartebereichen platziert oder sind die Patienten in Behand-
lungskabinen nur durch Vorhänge getrennt, so kann ein Bruch der Schwei-
gepflicht vorliegen, wenn ein anderer Patient Geheimnisse erfährt und dies
vom Klinikarzt bzw. dem Personal bedingt vorsätzlich in Kauf genommen
wurde?2 Am besten und sichersten für das Krankenhaus und den Niederge-
lassenen ist es daher, alle Behandlungsräume sowie die Anmeldung räum-
lich durch Türen getrennt unterzubringen.

6. Einwilligung
Allerdings ist der Arzt dann nicht strafbar, wenn der Patient in die Wei-
tergabe seiner Daten eingewilligt23 hat. Dies kann nicht nur ausdrücklich,
sondern auch konkludent dadurch erfolgen, dass das Verhalten des Patien-

19 Vgl. Meurer in: Szwarc (Hrsg.), Aids und Strafrecht, 1996, S. 133, 141.
20 Dazu Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 3), § 203 Rn. 28. Vgl. zum Praxisverkauf auch die
AUiführungen unten in Fn. 26.
Braun (Fn. 3), S. 290.
22 Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 3), § 203 Rn. 20.
23 Auf den Streit, ob eine Einwilligung tatbestandsausschließende oder nur rechtfertigende
Wirkung hat, braucht hier nicht näher eingegangen zu werden, vgl. dazu Roxin Strafrecht
Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. 2006, § 13 Rn. 12 ff.
Der Arzt, die Kommunikation und das Strafrecht 445

ten seine Zustimmung ausreichend signalisiert. Als Einschränkung des


Grundsatzes, dass auch gegenüber Kollegen Patientendaten nicht weiterge-
geben werden dürfen, ist regelmäßig von einer konkludenten Einwilligung
auszugehen, wenn die Behandlung und Kontaktaufnahme durch mehrere
Ärzte sich aus den Umständen der Behandlung ergibt, also bei einem Kran-
kenhaus, einer Praxisgemeinschaft, Überweisung vom Hausarzt an Facharzt
oder Klinik, Weiter- und Nachbehandlung durch die Hausärzte, Behandlung
durch Assistenten oder Vertreter, sowie beim Einsatz nichtärztlichen Perso-
nals. 24
Eine Befreiung von der Schweigepflicht liegt aber auch dann konkludent
vor, wenn der Patient mit einer anderen Person das Sprechzimmer betritt.
Dies gilt ebenso, wenn der Patient zum Zwecke einer Untersuchung bzgl.
einer Lebens- oder Unfallsversicherung, eines Tauch- oder Segelscheines
25
u.ä. den Arzt konsultiert. Zu beachten ist jedoch, dass der BGH hervorge-
hoben hat, dass strenge Anforderungen an das Vorliegen einer stillschwei-
genden Einwilligung in die Weitergabe von Informationen gestellt werden
müssen, die Geheimnisse im Sinne des § 203 StGB darstellen. 26
Auch eine sog. "mutmaßliche Einwilligung" kommt in Betracht. Dies gilt
zum einen in Fällen, wo der Patient (wegen Bewusstlosigkeit, Tod u.ä.)
nicht gefragt werden kann. Es muss dann dem Patientenwillen entsprochen
werden, in dem man klärt, wie der Patient entscheiden würde, wenn man
ihn fragen könnte. Sie kommt aber auch da in Frage, wo der Patient zwar

24 So auch Braun (Fn. 3), S. 293 f., der für das Vorliegen einer konkludenten Einwilligung
eine "gewisse Eindeutigkeit" fordert~ nach Quaas/Zuck Medizinrecht, 2. Aufl. 2008, § 72
Rn. 16 wird die Schweigepflicht insbesondere im Verhältnis Arzt/Krankenhausverwaltung
nicht hinreichend ernst genommen.
25 Bei schriftlichen Anfragen von Versicherungen ist zu empfehlen, im Zweifelsfall immer
das Vorliegen der Einwilligung zu überprüfen. Damit fährt der Arzt ohnehin am sichersten:
Fragt er den Patienten vor der telefonischen Konsultation eines Spezialisten, ob er "mal eben
einen Fachmann" befragen dürfe, so gilt bei Zustimmung die Einwilligung als erteilt. In allen
genannten Fällen gilt die Einwilligung natürlich nur partiell bzgl. der betreffenden Person oder
Institution als erteilt.
26 Vgl. BOHZ 115, 123~ 116, 268~ 122, 115. Insoweit Abkehr von der früheren Rspr., die
Übergabe von Patientenkartei und Behandlungsunterlagen an den Praxisnachfolger eines
Arztes liege regelmäßig im Interesse des einzelnen Patienten und entspreche seinem muttnaßli-
chen Willen (so BOH NJW 1974, 602). Die Abkehr ist auf die seit dem Volkszählungs-Urteil
eingetretene Rechtsentwicklung zurückzuführen. Insoweit ist der Schutz ärztlicher Behand-
lungsunterlagen nicht mehr ausreichend gewährleistet, wenn die Rechtfertigung ihrer Weiter-
gabe allein aus der objektiven Interessenlage der Betroffenen hergeleitet wird und die Beurtei-
lung dieser Interessenlage an die Stelle einer freien Entscheidung des Patienten tritt (so BOHZ
116, 268, 273, unter Heranziehung der Rechtsprechung des BVerfO[E 65, 1~ NJW 1991,
2411])~ in der Praxis wird inzwischen in Patientenformulare für den Fall einer Praxisnachfolge
eine Übergabeklausel eingefügt, vgl. Geilen in: Wenzel (Hrsg.), FA MedizinR, 2. Aufl. 2009,
S.424.
446 Christoph Knauer

gefragt werden kann, sein "mangelndes Interesse an der Einhaltung der


Schweigepflicht aber offen zutage liegt". 27

7. Weitere Rechtfertigungsmöglichkeiten
Gerechtfertigt ist ein Bruch der ärztlichen Schweigepflicht aber auch un-
ter den Voraussetzungen des § 34 StGB (rechtfertigender Notstand), also
wenn dies zur Abwehr einer konkreten Gefahr für ein wesentlich höherran-
giges Rechtsgut erforderlich ist. Dies wird vor allem für folgende Konstella-
tionen diskutiert: erstens, wenn der Patient durch seine krankheitsbedingte
Fahrunfahigkeit eine Gefahr für Leib oder Leben der Verkehrsteilnehmer
28
darstellt ; sowie zweitens fur Fälle, in denen ein HIV-infizierter Patient
29
seinen Sexualpartner in die Gefahr der Ansteckung bringt . Das Informie-
ren des Sexualpartners durch den Arzt ist aber nur dann "angemessen" LS.d.
§ 34 StGB, wenn der Arzt zuvor alles Mögliche und Zumutbare getan hat,
um die an Aids erkrankte Person zur Aufklärung ihres Partners zu veranlas-
sen. 30 Nach richtiger Ansicht kann hier der Arzt auch bei Nichtbestehen
einer objektiven Gefahrenlage gemäß § 193 StGB analog (Wahrnehmung
berechtigter Interessen) gerechtfertigt sein, wenn er sich nicht sicher sein
31
kann, ob der Patient seinen Sexualpartner über die Erkrankung informiert.

8. Verpflichtung zur Weitergabe


Zu guter Letzt ist der Arzt in einigen Fällen sogar zur Preisgabe von Pati-
entengeheimnissen verpflichtet,32 er handelt dann nicht "unbefugt" i.S.d.
§ 203 StGB. Diese Offenbarungspflicht ergibt sich vor allem aus den ge-
setzlichen Meldepflichten, die beispielsweise im Infektionsschutzgesetz (§ 8
Abs. 1 Nr. 1 IfSG) festgeschrieben sind.

111. Verletzung von Privatgeheimnissen im Interesse


des Patienten?
Die Weitergabe von Informationen aus dem Verhältnis zwischen Arzt und
Patient kann also aus vielerlei Gründen notwendig sein. Jedoch darf der

27 Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 3), § 203 Rn. 27.


28 BGHZ, NJW 1968, 2288.
29 Hierzu Uisenheimer Arztstrafrecht (Fn. 13), Rn. 376c f.; Kat=enmeier in: Laufs/Kat-
zenmeier/Lipp, Arztrecht, 6. Autl. 2009, S. 296.
30 Ulsenheimer Arztstrafrecht (Fn. 13), Rn. 376c; Braun (Fn. 3), S. 298.
31 Meurer (Fn. 19), S. 147; a.A. Braun (Fn. 3), S. 300.
32 Ulsenheimer Arztstrafrecht (Fn. 13), Rn. 377 ff.; Geilen (Fn. 26), S. 425.
Der Arzt, die Kommunikation und das Strafrecht 447

Arzt die Weitergabe keinesfalls allein von einer Vernünftigkeitskuratel über


das Wohl des Patienten abhängig machen. Dies gilt auch dann, wenn es dem
(vermeintlichen) Interesse des Patienten dient - was wohl bei nahezu allen
zu treffenden Entscheidungen der Fall sein wird. Vielmehr ist die Rechtmä-
ßigkeit einer Informationsweitergabe eine Frage genauer Anwendung straf-
rechtsdogmatischer Grundsätze über Tatbestandsausschluss und Rechtferti-
gungsgründe.33
Die Frage der Rechtmäßigkeit der Weiterleitung von Geheimnissen an
Dritte, insbesondere im Fall der Supervision und des ärztlichen Konsils ist
eine Problematik, die an dem bereits erörterten Tatbestandsmerkmal des
"Offenbarens" festgemacht werden muss. Es stellt sich somit die Frage, ob
in diesen Fällen ein Offenbaren gegeben ist.
Ein solches liegt bei jeder Weitergabe des Geheimnisses und der Identität
seines Trägers an Personen vor, die bis dahin noch keine sichere Kenntnis
davon haben 34 und die nicht zum Kreis der zum Wissen Berufenen gehören
(beispielsweise bestimmte Mitarbeiter).35 Dies ist jedoch nicht der Fall bei
Personen, die nicht aufgrund der Notwendigkeit ordnungsgemäßer Behand-
lungsfuhrung, sondern lediglich aus Gründen organisatorischer Erleichte-
rung hinzugezogen werden. 36 Eine Einweihung solcher Personen, die
außerhalb der Behandlungseinheit stehen, erfüllt den Tatbestand, da der
Patient mit der Einwilligung in die Behandlung zugleich konkludent den
Kreis der erlaubten Wissenden absteckt und sich lediglich mit der Informie-
rung eines bestimmten Behandlungsteams einverstanden erklärt. Innerhalb
dieser Gruppe liegt bei Übermittlung von Wissen über den Patienten schon
kein "Offenbaren" vor. 37
Im Fall einer Supervision kann sich der Mitteilende also nicht darauf be-
rufen, die Mitteilungsempfanger seien ebenso wie er zum Schweigen ver-
pflichtet. Der Tatbestand ist dennoch erfüllt.

33 Niedermair (Fn. 9), S. 394.


34 Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. 2007, § 203 Rn. 17.
35 Grundlegend Niedermair (Fn. 9), S. 397. Die Bezeichnung als "Kreis der Wissenden" (so
z.B. Ulsenheimer Arztstrafrecht [Fn. 13], Rn. 370) ist an sich zu unpräzise, da der Schweige-
pflichtige die Tathandlung dann nicht verwirklicht, wenn er die relevanten Tatsachen anderen
Personen zur Kenntnis gibt, denen sie zwar nicht vom Geheimnisträger selbst anvertraut wor-
den sind, welche aber noch unmittelbar am konkreten Vertrauensverhältnis teilnehmen, mithin
typischerweise in die Betreuung des Patienten miteinbezogen sind und der Patient mit der
Einschaltung solcher Mitarbeiter rechnet (so auch Schönke/Schröder-Lenckner [Fn. 13], § 203
Rn.19).
36 Langkeit NStZ 1994, 6 f.
37 Niedermair (Fn. 9), S. 398; Schlund (Fn. 2), § 75 Rn. 1; nach anderer Ansicht soll das
"Offenbaren" jedenfalls kein "unbefugtes" sein, wenn es von der (konkludent erteilten) Einwil-
ligung des Patienten gedeckt ist (vgl. die Nachweise bei Niedennair [Fn. 9], S. 398.
448 Christoph Knauer

Bei Zulässigkeit einer Offenbarung unter Kollegen wäre dem Patienten


eine effektive Ausübung seines Informationsbeherrschungsrechts unmög-
lich. Es besteht darüber hinaus auch die Gefahr, dass einer der Geheimnis-
träger das Erfahrene an einen nicht Schweigepflichtigen weiter trägt und
damit die Möglichkeit regelrechter Veröffentlichung schafft.
Jedoch greift die pauschale Argumentation, aufgrund der Vielzahl von
Personen, die einer Schweigepflicht unterworfen sind, würde der Schutz des
§ 203 StGB leer laufen, wenn man die Mitteilung an jede von Ihnen als
nicht tatbestandsmäßig ansähe,38 m.E. zu kurz. Bei der Ermittlung des
Schutzbereichs der Vorschrift geht es nämlich nicht um den mit Berufs-
merkmalen umschriebenen Katalog aller denkbaren Schweigepflichtigen
ganz verschiedener Sparten. Es ist vielmehr auf die Bestimmung des kon-
kret verletzten Privatgeheimnisses abzustellen, indem die im konkreten
Behandlungsverhältnis Einzu,veihenden nach dem Willen des Geheimnis-
herrn ermittelt werden.
Zwar wird dieser Wille vom Behandlungsinteresse des jeweiligen Patien-
ten geleitet; er darf jedoch nicht pauschal in der Weise vermutet werden,
dass jeder Kranke die Klärung seines Zustandes wünscht und deshalb re-
gelmäßig damit einverstanden ist, dass der Arzt seines Vertrauens bei Spe-
zialfragen besonders erfahrene Kollegen konsultiere. 39
Dem Zweck, sich der besten Vorgehensweise zu vergewissern, könnte oft
die Beratschlagung mit Kollegen dienen. Gerade im psychologischen und
pädagogischen Bereich kommt kollektiven Arbeitsformen wie Supervision
und Balintgruppen ein hoher Stellenwert zur Qualitätsverb~sserung zu.
40

Aber unabhängig von einem denkbaren (objektiven) Interesse an einer mög-


lichst effektiven Behandlung, kann ein Hilfesuchender erkennbar eine Ver-
trauensbeziehung zu einem bestimmten Therapeuten aufgebaut haben und
deshalb das Geheimnis nur an diesen weitergeben "vollen.
Entscheidend ist also, ob der Patient mit der Aufnahme der Behandlung
nur den behandelnden Arzt oder konkludent auch andere Ärzte betraut hat.
Das besondere Vertrauensverhältnis zwischen Patient und dem unmittelbar
behandelnden Arzt spricht in aller Regel für eine singuläre Beauftragung.

38 So BayObLG, StV 1996, 484.


39 So jedoch Ulsenheimer Arztstrafrecht (Fn. 13), Rn. 373b, der in diesen Fällen eine still-
schweigend erteilte Einwilligung in die Offenbarung von Patientengeheimnissen an einen
Konsiliarius ableitet. Dies verwischt jedoch den Unterschied zwischen einer in konkludenter
Weise (tatsächlich) erteilten Einwilligung und der mutmaßlichen Einwilligung~ für die Annah-
me einer konkludenten Ein,villigung des Patienten im Rahmen des ärztlichen Konsils auch
Kat=enmeier (Fn. 29), S. 293.
40 Fahricius StV 1996,486, Fn. 7.
Der Arzt, die Kommunikation und das Strafrecht 449

Die Einschaltung einer Supervision dient der Selbstüberprüfung des Arz-


tes. 41 Auch kann er Rat einholen müssen, wenn er sich mit (fur ihn) neuen
Phänomenen konfrontiert sieht. Die Situation ist vergleichbar mit der Hin-
zuziehung von Konsiliarärzten zur Einholung von Spezialwissen. Solche
Ratgeber sind aber nicht von vornherein in die Behandlung eingebunden
und werden nur in Sonderfällen herangezogen. Vom Kenntnisstand des
Patienten aus handelt es sich nicht um einen durch Arbeitsteilung geprägten,
behandlungsnotwendigen Informationsverbund, der ihm wenigstens der
Grobstruktur nach von Anfang an bekannt ge\vesen ,väre. 42
Eine grundsätzliche (konkludente) Einwilligung in die Information ande-
rer Geheimnisträger über alle relevanten Umstände der Behandlung ist
somit abzulehnen.
Insoweit bleibt es auch in Fällen von Supervision und ärztlichem Konsil
bei dem Grundsatz, dass die Geheimhaltungspflicht auch gegenüber Kolle-
gen besteht.
Folglich liegt eine Strafbarkeit auch dann vor, wenn der Mitteilungsemp-
fanger seinerseits schweigepflichtig ist, es sei denn, dass der Mitteilungs-
empfanger dem Kreis der zum Wissen Berufenen angehört und die Mittei-
lung im Rahmen des Berufs geboten und mit Billigung des Geheimnis-
trägers zu rechnen ist. 43 Es ist und bleibt sOlnit strafbar, die geheime Tatsa-
che an einen seinerseits Schweigepflichtigen mitzuteilen.
Dies bedeutet jedoch keineswegs das Ende von Supervision oder ärztli-
chem Konsil. Oft werden diese Formen fachlicher Rückfrage und Hilfe fur
den Therapeuten ohne Preisgabe der Identität des Patienten - also tat-
bestandslos - möglich sein. In anderen Fällen bleibt dem Arzt nur der Ver-
such, den Patienten von der Vorteilhaftigkeit der Hinzuziehung Dritter zu
44
überzeugen und so die Einwilligung zu bekommen. Dies liegt auf der
Linie, die sich richtungsweisend durch das modeme Medizinrecht zieht: der
Dialog zwischen Arzt und dem mündigen Patienten, der il1;formed consent
als unverzichtbare Grundlage der Vertrauensbeziehung. 45
Zu beachten bleibt allerdings, dass dem Arzt die Hände nicht pauschal
gebunden sind. Es sind selbstverständlich immer wieder Konstellationen
denkbar, in denen die Einschaltung einer Supervision oder eines ärztlichen
Konsils zwar den Tatbestand des § 203 StGB erfüllt, jedoch die Offenba-
rung des Geheimnisses aufgrund der bereits erörterten Rechtfertigungs-

41 Fabricius a.a.O., 486 f.


42 Niedermair (Fn. 9), S. 401 f.
43 Fischer StGB, 57. Autl. 2010, § 203 Rn. 30b~ nach Ansicht von Geilen (Fn. 26), S. 423
liegen diese Voraussetzungen im Falle der Weiter- und Nachbehandlung durch einen anderen
Arzt vor.
44 So auch Gropp JR 1996, 480~ Niedermair (Fn. 9), S. 419.
45 Niedermair (Fn. 9), S. 419.
450 Christoph Knauer

gründe (also beispielsweise einer mutmaßlichen Einwilligung des Patienten,


eines rechtfertigenden Notstandes zugunsten des Patienten oder zugunsten
Interessen Dritter, einer Offenbarungsbefugnis aus Anzeigepflicht oder aus
Wahrnehmung berechtigter Interessen) gerechtfertigt, mithin nicht rechts-
widrig ist. 46
Neben dem Vorliegen von Umständen, die sich bereits auf Tatbestands-
ebene auswirken und dem Vorliegen etwaiger Rechtfertigungsgründe, kön-
nen auch Konstellationen auftreten, in denen der Arzt irrtümlich annimmt,
er sei zum Schweigebruch berechtigt. 47

IV. Besonderheiten bei der Gutachtenerstattung bzw. als


Sachverständiger
I. Allgemeines zum Sachverständigen
Der Sachverständige ist eine Person mit besonderer Sachkunde. Im Be-
weisverfahren soll der Sachverständige fur das Gericht Tatsachen und Er-
fahrungssätze beurteilen oder feststellen. 48 Der Beweis durch Sachverstän-
dige ist in jeder Verfahrensordnung vorgesehen: §§ 144, 402-414 ZPO;
§§ 72-93 StPO; § 96 Abs. 1 VwGO; § 81 FGO; § 118 Abs. 1 SGG; § 15
Abs. 1 FGG.
Der Sachverständige wird durch das Gericht ausgewählt (§ 404 ZPO, § 73
StPO). Das Gericht hat die Tätigkeit des Sachverständigen zu leiten und
kann ihm für die Art und den Umfang seiner Tätigkeit Weisungen erteilen
(§ 404a ZPO). Grundsätzlich ist der ausgewählte Sachverständige nicht
verpflichtet, tätig zu werden, wohl aber nach § 407 ZPO und § 75 StPO,
wenn er öffentlich bestellt ist (s.u.) oder die Fachtätigkeit öffentlich ausübt.
Doch muss der Auftrag in sein Fachgebiet fallen (§ 407a ZPO), auch steht
ihm unter denselben Voraussetzungen wie einem Zeugen ein Verweige-
rungsrecht zu (§ 408 ZPO, § 76 StPO).
Der Sachverständige erstattet ein Gutachten, in der Regel zunächst
schriftlich (§ 411 ZPO), das er dann in der Hauptverhandlung des Strafver-
fahrens mündlich vortragen, im Zivilprozess und in anderen Streitsachen in
der mündlichen Verhandlung nur bei besonderer gerichtlicher Anordnung
erläutern muss (§ 411 Abs. 3 ZPO).
Der Sachverständige kann vereidigt werden (§ 410 ZPO, § 79 StPO). Er
wird nach dem Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz (JVEG), erlas-

46 Im Einzelnen vgl. Niedermair (Fn. 9), S. 402 ff.


47 Zu den verschiedenen Irrtumskonstellationen bei einer Supervision vgl. Niedermair
(Fn. 9), S. 410 ff.
48 Manchmal auch die Kenntnis von Rechtsnormen (§ 293 ZPO) vermitteln.
Der Arzt, die Kommunikation und das Strafrecht 451

sen als Art. 2 des Kostenrechtsmodernisierungsgesetz v. 5.5.2004 (BGBL I,


718), entschädigt.
Sachverständige erhalten Aufwands- und Auslagenersatz (z.B. Kilome-
terpauschale von 0,30 €) sowie ein Honorar für ihre Leistungen Ge nach
Honorargruppe gemäß Anlage 1 zum JVEG 50 bis 95 € pro Stunde, bei
besonderen Leistungen - Vergütung nach Anlage 2; abweichende Parteiver-
einbarungen sind jedoch zulässig).
Nicht Sachverständiger, sondern Zeuge ist der sog. "Sachverständige
Zeuge"; er sagt über Tatsachen aus, die er nur auf Grund besonderer Sach-
kunde hat wahrnehmen können (§ 414 ZPO, § 85 StPO).
Für bestimmte Sachgebiete können Sachverständige öffentlich bestellt
und auf gewissenhafte und unparteiliche Erfüllung ihrer Pflichten vereidigt
werden, wenn sie besondere Sachkunde nachweisen und gegen ihre Eig-
nung keine Bedenken bestehen (§ 36 GewO). Die öffentliche Bestellung
darf zwar von der fachlichen und persönlichen Eignung des Bewerbers
sowie von einem allgemeinen Bedürfnis an entsprechendem Sachverstand
auf einem bestimmten Fachgebiet, nicht aber von der Zahl der bereits vor-
handenen Sachverständigen abhängig gemacht werden. Eine solche konkre-
te Bedürfnisprüfung verstößt gegen Art. 12 GG. 49
Sondervorschriften bestehen für einzelne Arten von Sachverständigen;
z. T. landesrechtlich geregelt sind Voraussetzungen für die Bestellung, Be-
fugnisse und Pflichten der bestellten Sachverständigen.
Der gerichtliche Sachverständige haftet für die Folgen eines vorsätzlich
oder grob fahflässig unrichtig erstatteten Gutachtens auf Schadensersatz
gern. § 839a BGB.

2. Schweigepflicht und Schweigerecht des ärztlichen


Sachverständigen - insbes. im Strafprozess
a) Einführung
Anknüpfend an die bereits angesprochene Offenbarungsverpflichtung
bzw. Offenbarungsbefugnis, ist grundlegend die Rechtsstellung des arntli-
5o
chen oder privat bestellten sachverständigen Arztes.
Zuständig für die Bestellung von Sachverständigen ist im Ermittlungsver-
fahren die Staatsanwaltschaft (§ 161a Abs. 1 S. 2 StPO). Im gerichtlichen
Verfahren ist es der Richter (§ 72 StPO). Im Stadium des polizeilichen
Ermittlungsverfahrens kann auch die Polizei den Sachverständigen heran-

49 BVerfGE 86, 28.


50 Vgl. zur Rolle des medizinischen Sachverständigen im Zivilverfahren die Ausführungen
von Katzenmeier (Fn. 29), S. 428 ff.
452 Christoph Knauer

ziehen. In anderen Prozessordnungen erfolgt die Bestellung i.d.R. durch das


Prozessgericht.
Der Arzt, der kraft amtlichen Auftrages zum Sachverständigen ernannt
wird, hat der Ernennung in aller Regel Folge zu leisten (§ 75 StPO). Nur
bestimmte in den §§ 52 ff. StPO näher bezeichnete Gründe berechtigen ihn
zur Verweigerung des Gutachtens (§ 76 StPO). Andernfalls ist er zur Erstat-
tung des Gutachtens verpflichtet. Diese Pflicht erscheint umfassend. Eine
partielle Verweigerung oder gar das Recht, bekannt gewordene Tatsachen
unter bestimmten Umständen oder nach eigenem Ermessen zurückzuhalten,
sind gesetzlich nicht vorgesehen. Insoweit scheint eigentlich gar kein Rauln
für eine materielle Schweigepflicht oder gar ein Schweigerecht, jedenfalls
nicht gegenüber dem zuständigen Auftraggeber.
Gleichwohl bezeichnet das Thema ein Standardproblem des Sachverstän-
digenbeweises. Das wird verständlich, wenn man sich die Fülle der Infor-
mationen vor Augen führt, die dem Sachverständigen bei der Abfassung
seines Gutachtens oftmals zur Verfügung stehen. Es fragt sich, ob der Sach-
verständige die erlangten Informationen in seinem Gutachten oder auf ande-
re Weise offenbaren muss oder jedenfalls offenbaren darf, oder ob er nicht
umgekehrt bestimmte Tatsachen verschweigen muss oder doch verschwei-
gen darf.

b) Die Befugnis - Tatbestandsnlerkmal oder Rechtfertigungsgrund?


Das Offenbaren eines Patientengeheimnisses ist nur strafbar, wenn der
Arzt "unbefugt" handelt. Die systematische Stellung dieses Merkmals in-
nerhalb des Verbrechensaufbaus ist umstritten, wobei sich zwei Auffassun-
gen gegenüber stehen.
Für die einen ist "unbefugt" lediglich eine Abkürzung für die Worte "oh-
ne Einwilligung des Betroffenen", kennzeichnet somit erst den sonst indif-
ferenten Tatbestand5 ! des § 203 StGB und ist daher ein Tatbestandsmerk-
mal.
Für die anderen liegt die Bedeutung des Nlerkmals "unbefugt" über sei-
nen tatbestandsabgrenzenden Sinngehalt hinaus in dem Hinweis auf die
Rechtfertigungsmöglichkeit, z.B. durch Einwilligung, Notstand, Pflichten-
kollision oder gesetzliche Meldegebote. Nach dieser - herrschenden - Mei-
nung ist der Tatbestand des § 203 StGB ohne das Merkmal "unbefugt"
keineswegs "indifferent", sondern indiziert das Tatunrecht durchaus; der

51 So OLG Köln NJW 1962,686 m. Anm. Bindokat.


Der Arzt, die Kommunikation und das Strafrecht 453

Begriff "unbefugt" ist also mit "ungerechtfertigt", somit "rechtswidrig"


gleichzusetzen.52
Überzeugend ist insoweit die Ansicht, dass das Merkmal einen Blankett-
begriff darstellt, der sowohl auf das Fehlen eines tatbestandsausschließen-
den Einverständnisses als auch auf die Rechtswidrigkeit als allgemeines
Verbrechensmerkmal verweist.53
Unbefugt handelt der Arzt nicht, wenn die Preisgabe des Geheimnisses
gerechtfertigt ist. Insoweit kommen die bereits angesprochenen speziellen
gesetzlichen Offenbarungspflichten und die ebenfalls bereits betrachteten
allgemeinen Rechtfertigungsgründe für den Ausschluss der Rechtswidrig-
keit in Betracht.

c) Die Offenbarungsbefugnis des Sac.hverständigen


Zur Offenbarung einer Tatsache, die als "Geheimnis" zu gelten hat, be-
darf der Sachverständige einer besonderen Befugnis. Als Grundlage der
Befugnis kommt die Bestellung zunl Sachverständigen und die damit ein-
hergehende Verpflichtung zur Erstattung des Gutachtens in Betracht, die bei
Ärzten häufig zu typischen Spannungen fUhrt.
Wie ausgeführt, ist der Sach verständige zur Erstattung des Gutachtens
verpflichtet, wenn er durch einen amtlichen/staatlichen Auftrag bestellt
wurde, also stets als von Gericht oder Staatsanwaltschaft Bestellter. Soweit
er dieser Pflicht nachkommt, ist er zur Offenbarung von Geheimnissen des
Probanden befugt. Es stellt sich jedoch die Frage wie sich diese Befugnis
auswirkt - gilt sie als Rechtfertigung und lässt damit die Rechtswidrigkeit
entfallen? Und wenn ja, wie weit gilt die Befugnis? Ist sie umfassend, so
dass der Arzt dem Gericht alles mitteilen kann bzw. darf, was er vom Pro-
banden bzw. durch dessen Untersuchung erfahren hat?

- Anwendbarkeit des § 203 StGB -


Zunächst stellt sich die Frage, ob § 203 StOB auf den Sachverständigen
überhaupt Anwendung findet. Insbesondere früher wurde vertreten, dass der
Sachverständige dem Probanden nicht "als" Arzt gegenüber tritt, da ein
gerichtlicher Untersuchungsauftrag ein "Anvertrauen" ausschließen ~'ür­
de,54 woraus die vollständige Unanwendbarkeit des § 203 StPO (und auch

52 OLG Schleswig NJW 1985, 1092 m. Anm. Wente NStZ 1986, 366: Fischer (Fn. 43),
§ 203 Rn. 30 b m.w.N.
53 Jakobs JR 1982, 359~ Schönke/Schröder-Lenckner (Fn. 3), § 203 Rn. 21, 71~ MK-
Cierniak (Fn. 17), § 203 Rn. 52.
54 RGSt. 61, 384~ 66, 273~ OOHSt. 3, 63; so auch noch Tröndle/Fischer StOB, 49. Aufl.
2000, § 203 Rn. 7 mit Verneinung des Anvertrauens.
454 Christoph Knauer

des § 53 StPO) folgen würde. Dies ist jedoch abzulehnen, da sich damit eine
Strafbarkeitslücke für den Fall ergeben würde, dass ein Sachverständiger
die bei der Begutachtung erfahrenen Geheimnisse des Probanden Dritten
gegenüber ausplaudert. 55
Nach der heute überwiegenden Auffassung gelten für die Frage des An-
vertrauens vielmehr die allgemeinen Regeln. 56 § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB ist
danach auf das Verhältnis zwischen dem ärztlichen Sachverständigen und
seinem Probanden uneingeschränkt anwendbar. Auch gegenüber dem staat-
lichen Auftraggeber ist der Sachverständige grundsätzlich zur Verschwie-
genheit verpflichtet. Wenn er in seinem Gutachten oder bei anderer Gele-
genheit Tatsachen offenbaren will, die ihm erst bei seiner Untersuchung
bekannt geworden sind, ist er auf einen Rechtfertigungsgrund angewiesen.
Es fällt also alles unter die Schweigepflicht, was der Arzt in dieser seiner
Eigenschaft wahrgenommen hat. Danach ist die Offenbarung von Geheim-
nissen des Untersuchten stets tatbestandsmäßig 57 , aber nicht unbefugt, so-
weit der Sachverständige durch einen "amtlichen" (gerichtlichen) Auftrag
(oder durch Einwilligung - dazu sogleich) gedeckt ist. 58 Er ist also im Um-
fang des Untersuchungsauftrags durch die Pflicht zur Gutachtenerstattung
(§ 75 StPO) gerechtfertigt. 59
Fehlt eine solche Pflicht zur Gutachtenerstattung - etwa bei Privatgutach-
ten, ist der Arzt immer auf die Einwilligung des Probanden angewiesen.
Mangels staatlichen Auftrags wird ihm nur die Einwilligung des Patienten
eine Rechtfertigung der Weitergabe von Geheimnissen ermöglichen. Auf
eine Offenbarungsbefugnis wie vor Gericht oder anderen staatlichen Stel-
len, kann sich der Arzt dann nicht stützen.
Zu beachten ist auch, dass Kenntnisse, die allein aus früheren Tätigkeiten
als Sachverständiger stammen, beispielsweise als behandelnder Arzt, nicht
offenbart werden dürfen, wozu auch Erkenntnisse aus früheren Gutachtens-
aufträgen zählen. 60

55 LK-Schünemann (Fn. 11), § 203 Rn. 125~ Fischer (Fn. 43), § 203 Rn. 40.
56 BGHSt 38, 369, 370~ BGHZ 40, 288~ Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 3), § 203 Rn. 16~
Lackner/Kühl (Fn. 34), § 203 Rn. 23~ Fischer (Fn. 43), § 203 Rn. 40~ Braun (Fn. 3), S. 289~
Sommer/Tsambikakis (Fn. 5), § 2 Rn. 112.
57 Fischer (Fn. 43), § 203 Rn. 40~ Lackner/Kühl (Fn. 34), § 203 Rn. 23~ Krauß ZStW 1997,
81, 92~ and. Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 3), § 203 Rn. 16.
58 BGHZ 40, 288~ BGHSt 38, 369~ LK-Schünemann (Fn. 11), § 203 Rn. 125~ Fischer
(Fn. 43), § 203 Rn. 40~ Lackner/Kühl (Fn. 34), § 203 Rn. 23.
59 Anders Kühne JZ 1981,647 ff., der für eine Teilung der Rolle als Berufsausübender und
als Sachverständiger spricht~ dagegen Dencker NStZ 1982, 460~ LK-Schünemann (Fn. 11),
§ 203 Rn. 125. .
60 BGHSt 38, 369, 371~ Fischer (Fn. 43), § 203 Rn. 40~ Lackner/Kühl (Fn. 34), § 203
Rn. 23.
Der Arzt, die Kommunikation und das Strafrecht 455

- Umfang der Befugnis-


Aber der Umfang der amtlichen Offenbarungspflicht bzw. Offenbarungs-
befugnis des Sachverständigen gegenüber dem Gericht bzw. allgemein
gesprochen, gegenüber seinem staatlichen Auftraggeber, besteht nicht unbe-
schränkt.
1. Das Beweisthema
Eine erste Begrenzung ergibt sich aus dem Beweisthema, das dem Gu-
tachtenauftrag zugrunde liegt. Dieses Thema, das im Zeitpunkt der Ernen-
nung oft nur sehr allgemein umschrieben werden kann, konkretisiert sich im
Laufe der Untersuchung, gewinnt durch mögliche Rücksprachen mit dem
Auftraggeber und weitere Aufklärung seine Konturen und ist schließlich
durch einzelne Fragen zumeist hinreichend bestimmt. Wo solche Klarheit
noch aussteht, hat der Sachverständige in der Hauptverhandlung darauf
hinzuwirken, dass ihm das Gericht weitere Belehrungen und Anweisungen
erteilt. Der nunmehr präzisierte Gutachtenauftrag steckt die Grenze der
Offenbarungsbefugnis ab: Der Sachverständige hat die gestellten Fragen zu
beantworten, mehr nicht!
2. Die Problematik der Anknüpfungstatsachen
Das ärztliche Gutachten über die Untersuchung oder Begutachtung eines
Probanden vermittelt nicht nur Fachwissen oder deutet vorgegebene Befun-
de fachmännisch aus, sondern knüpft (auch) an Tatsachen an, die der Gut-
achter selbst ermittelt hat. Das wirft die Frage auf, welche Tatsachen der
Sachverständige in seinem Gutachten überhaupt verwerten darf.
Der Gutachter darf jedenfalls nur solche Tatsachen beibringen, die für das
Verständnis des Gutachtens erforderlich sind. Die Tatsachen auf denen das
61
Gutachten aufbaut, sind bekanntlich die sog. Anknüpjungstatsachen. Ma-
terial, das nicht zu ihnen zählt, findet in der Beweisführung durch den Sach-
verständigen keinen Platz; wenn der Gutachter es gleichwohl offenbart, ist
er jedenfalls nicht in seiner Funktion als Sachverständiger gerechtfertigt.
Die Schwierigkeit beginnt mit der weiteren Frage, ob der Sachverständige
denn jedenfalls alle Anknüpfungstatsachen dem Gericht durch sein Gutach-
ten vermitteln und damit in seiner Funktion als Sachverständiger offenbaren
darf.
Der BGH hat insoweit klare Grundsätze der Beweisvermittlung durch
Sachverständige herausgearbeitet. 62 Das Gericht unterscheidet die Anknüp-
fungstatsachen in zwei Gruppen: solche, die nur der Sachverständige auf-

61 Vgl. KK-Senge, StPO, 6. Aufl. 2008, Vor § 73 Rn. 3, § 78 Rn. 2~ Läwe-Rosen-


berg/Krause StPO, Bd. 2, 26. Aufl. 2008, Vor § 72 Rn. 11 ~ Meyer-Goßner StPO, 52. Aufl.
20~i' § 78 Rn. 4, § 79 Rn. 10 ff.
BGHSt 13, 1, 3~ 18, 107, 108~ 20, 164, 166.
456 Christoph Knauer

grund seiner Sachkunde erkennen kann (sog. Befundtatsachen), und solche,


die auch das Gericht mit den ihm zur Verfugung stehenden Erkenntnis- und
Beweismitteln feststellen könnte (sog. Zusatztatsachen).
Befundtatsachen können durch die gutachterlichen Ausführungen des
Sachverständigen in die Hauptverhandlung eingeführt und vom Gericht
verwertet werden. Zusatztatsachen müssen dagegen in anderer zulässiger
Weise in die Hauptverhandlung eingeführt werden. 63
Befragt beispielsweise ein psychologischer Sachverständiger im Rahmen
einer Glaubwürdigkeitsbegutachtung eine jugendliche Probandin u.a. zum
Tathergang, wird eine solche Befragung nicht aufgrund einer fachkundigen
Untersuchung, sondern mit Mitteln, derer sich auch das nicht fachkundige
Gericht bedienen kann, durchgeführt. Das Ergebnis der Sachverständigen-
befragung ist daher den Zusatztatsachen zuzuschlagen. 64
Typische Befundtatsachen sind hingegen naturvvissenschaftliche Wahr-
nehmungen des Sachverständigen am Körper und am \'erhalten einer Per-
65
son , am Tatort und in Bezug auf äußere Umstände 66 ; der rein fachliche
Inhalt von Krankengeschichten und von ärztlichen Gutachten 67; Schlüsse
auf das Verhalten einer Person aus ihrer körperlich-seelischen Beschaffen-
heit (Blutalkoholgehalt - Fahrweise).68 Der gemeinsame Nenner der ge-
nannten Tatsachen ist nicht nur eine spezifische Sachkunde, sondern vor
allem eine bestimmte Art der Befunderhebung. Die Beispiele halten sich
erkennbar iln Rahmen einzelner gesetzlicher Eingriffsermächtigungen gern.
§§ 81 a, 81 c, 81 StPO usw. Sie zeigen einseitig den Sachverständigen bei
naturwissenschaftlichen Untersuchungen und Beobachtungen bestimmter
Objekte. In ihnen fehlt der Dialog mit dem Probanden.
Das wird vor allem deutlich, wenn man dieser Aufzählung die Beispiele
für (problematische) Zusatztatsachen entgegenhält. Es handelt sich dabei
ausnahmslos um Informationen von Auskunftspersonen, und die Befunder-
hebung des Sachverständigen besteht in jedem einzelnen Fall aus der selb-
ständigen Befragung der Probanden (Beschuldigter oder Zeuge) oder Drit-
ten.
Die Befundtatsachen weisen in aller Regel auf körperliche oder geistige
Zustände und insgesamt auf die Persönlichkeit des Probanden hin, die
(problematischen) Zusatztatsachen dagegen eindeutig un~ ausschließlich
auf das dem Schuldvorwurf zugrunde liegende Tatgeschehen. Zusatztatsa-

63 BGHSt 22, 268, 271 ~ BGH NStZ 1993, 245~ Löwe-Rosenberg/Gollwit=er StPO, 25. Aufl.
1999, § 261 Rn. 21~ Jvfeyer-Goßner (Fn. 61), § 261 Rn. 9.
64 KK-Senge (Fn. 61), Vor § 72 Rn. 4; Löwe-RosenbergiKrause (Fn. 61), Vor § 72 Rn. 11.
65 BGHSt 18, 107, 108.
66 BGH VRS 10,287; RG HRR 32,213.
67 BGHSt 9, 292~ BGH MDR 1977,108.
68 BGH NStZ 2002,532,533.
Der Arzt, die Kommunikation und das Strafrecht 457

chen sind demnach vom Gutachter ermittelte zusätzliche, den Anklagevor-


wurf betreffende Tatsachen (z.B. drei Einzelvorkommnisse, statt, wie in der
Anklage angenommen, nur zwei; erschwerende Gesichtspunkte und dergl.),
wobei als die typische Art der Ermittlung die "Befragung" erscheint. 69
Befundtatsachen, so lässt sich zusammenfassen, sind Ergebnisse sach-
kundiger Erhebungen zur Person des Probanden oder zu anderen Beweis-
themen, die weder das Tatgeschehen noch den Anklagevorwurf im engeren
Sinne betreffen. Solche Tatsachen dalf der Sachverständige dem Gutachten
zugrunde legen und durch das Gutachten in die Hauptverhandlung einfüh-
ren. Wie er die Tatsachen ermittelt hat, ist unerheblich. Zusatztatsachen
betreffen demgegenüber das Wissen bestimmter Personen zum Tatgesche-
hen. Solche von ihm außerhalb der Hauptverhandlung durch Befragen zu-
sätzlich erforschte belastende Tatsachen darf der Gutachter dem erkennen-
den Gericht nicht als Sachverständiger vermitteln.
Das gilt jedoch mit einer Einschränkung. Auch Zusatztatsachen stehen
dem Sachverständigen frei, wenn sie offenkundig sind oder sich das Gericht
bereits anderweitig von ihrer Richtigkeit überzeugt hat - etwa durch ein
glaubwürdiges Geständnis.
3. Die Offenbarung von Zusatztatsachen
Insbesondere ist fraglich, ob die Befugnis zur Offenbarung von Zusatztat-
sachen aus der Pflicht zur Erstattung des Sachverständigengutachtens folgen
kann.
Dies ist jedoch zu verneinen. Denn Verwertungsbefugnis und Offenba-
rungspflicht des Sachverständigen dienen ausschließlich der Erstattung
eines Gutachtens. Wenn feststeht, dass dieses Gutachten bestimmte Tatsa-
chen prozessual nicht transportieren kann, so kann es auch kein Recht und
schon gar keine Pflicht geben, solche Tatsachen preiszugeben - jedenfalls
nicht unter Berufung auf den Status des Sachverständigen. Die Offenba-
rungsbefugnis im Hinblick auf ein bestimmtes Verfahren kann nicht weiter
reichen als die Möglichkeit des Staates, das Offenbarte prozessordnungs-
gemäß zu verwerten.
Im Ergebnis steht zunächst fest, dass Zusatztatsachen jedenfalls nicht un-
ter Berufung auf die Pflicht des Sachverständigen offenbart werden dürfen.
4. Die Offenbarung von Befundtatsachen
Der Verwertbarkeit von Befundtatsachen steht kein Verwertungsverbot
im Wege. Die Frage der Offenbarungsbefugnis ist dementsprechend hier
ausschließlich nach materiellrechtlichen Gesichtspunkten zu beantworten.

69 KK-Senge (Fn. 61), Vor § 72 Rn. 4, 5~ Löwe-Rosenberg/Krause (Fn. 61), Vor § 72


Rn. 11 ~ Meyer-Goßner (Fn. 61), § 79 Rn. 10, 11.
458 Christoph Knauer

Es gibt zahlreiche Gesichtspunkte, die einer Offenbarung vorhandener


Befundtatsachen entgegenstehen. Beispielsweise können eine schwere Ver-
letzung rechtsstaatlicher Grundsätze der Wahrheitsfindung oder ein grober
Verstoß gegen das ärztliche Berufsethos zu einem Verwertungsverbot fuh-
ren.
Im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Problematik des § 203 StGB
interessiert hier vor allem, ob der Proband selbst einer Verwertung wider-
sprechen darf. Die Frage stellt sich, wenn der Proband an bestimmten Be-
funderhebungen ohne Rechtspflicht freiwillig mitgewirkt hat, später aber
seine zuvor erteilte Einwilligung zur gutachterlichen Verwertung bestimm-
ter Tatsachen widerruft. Fraglich ist somit, ob im Bereich des § 203 StGB
die Entbindung von der Schweigepflicht der einzige Rechtfertigungsgrund
ist, der die Tatsachenmitteilung des Sachverständigen erlaubt. Diese Frage
ist - wie wir gesehen haben - zu verneinen. Die Einwilligung des Geheim-
nisträgers ist ein möglicher Rechtfertigungsgrund, und sie hat, auch für das
Verhältnis des Sachverständigen zum Probanden, ihre praktische Bedeu-
tung. Im Übrigen aber kommt die ErfUllung der gesetzlichen Pflichten des
Gutachters als selbständiger Rechtfertigungsgrund in Betracht, und diese
Befugnis ist von der Einwilligung des Probanden völlig unabhängig.
Natürlich kommt es für die Tätigkeit des Sachverständigen oftmals auf
die freiwillige Mitwirkung des Betroffenen an. Dessen Bereitschaft ist je-
derzeit widerruflich, im Falle des "Tiderrufs kann die Untersuchung nur
noch in dem begrenzten Rahmen gesetzlicher Pflichten des Probanden fort-
gesetzt werden. Ob jedoch die bis dahin ermittelten Tatsachen mitgeteilt
werden dürfen, ist keine Frage der Entbindung von der Verschwiegenheits-
pflicht, sondern der Pflichten und Befugnisse des Sachverständigen.

d) Die Zeugenpflicht des ärztlichen Gutachters


Wenn das Gericht vom Sachverständigen über den Bereich der Befundtat-
sachen hinaus weitere Tatsachen erfahren \vill, muss es ihn als Zeuge laden
und behandeln. Weil Zusatztatsachen nur durch Vernehm~ng des Gutach-
ters als Zeuge in den Prozess eingeführt werden können,70 gilt seine Offen-
barungsbefugnis als Gutachter nicht mehr. Vielmehr ist dann § 53 StPO
anwendbar, der dem Arzt dann ein Zeugnisverweigerungsrecht (aber keine
Pflicht) bezüglich dieser Zusatztatsachen einräulnt. In seinem Abs. 2 sieht
die Vorschrift jedoch die Möglichkeit vor, den Arzt durch eine Einwilligung
des Berechtigten von seiner. Schweigepflicht zu entbinden, was zur Folge
hat, dass er auch über die Zusatztatsachen dem Gericht berichten muss.

70 BGHSt 9, 292, 293 f.~ 13, 1~ 18, 107~ 20, 164~ 22, 268, 271.
Der Arzt, die Kommunikation und das Strafrecht 459

Somit kommt eine Rechtfertigung der Offenbarung von Zusatztatsachen


nicht mehr durch die Offenbarungsbefugnis in Betracht, sondern nur durch
eine prozessual als Schweigepflichtentbindung gemäß § 53 Abs. 2 StPO
wirkende Einwilligung des Berechtigten. Willigt der Proband nicht ein,
bleibt es bei der Schweigepflicht.
Nach verbreiteter Auffassung ist aber bereits in der Freiwilligkeit der An-
gaben gegenüber dem Sachverständigen eine konkludente Einwilligung zu
71
sehen. Das ist problematisch, denn der Untersuchte wird im Interesse
eines für ihn günstigen Gutachtenauftrages zur Mitteilung auch zusätzlicher
72
Tatsachen neigen. Die Mitteilung solcher zusätzlicher Tatsachen durch
den Arzt kann in Konflikt mit dem nemo-tenetur-Grundsatz des Beschuldig-
ten geraten,73 denn dieser möchte zwar ein für ihn selbst günstiges Gutach-
ten erreichen, nicht aber zu seiner Überfuhrung beitragen. Diesem Interesse
wird dadurch Rechnung getragen, dass der Sachverständige den Beschul-
digten analog § 136 Abs. 1 S. 2 StPO über die Freiwilligkeit seiner Mitwir-
74
kung belehrt. Die Grenze liegt jedoch darin, dass es sich nicht um Anga-
ben handeln darf, die der Beschuldigte dem Gutachter ersichtlich nicht im
Hinblick auf die Gutachtenerstattung, sondern ausschließlich wegen seiner
75
Stellung als Arzt gemacht hat. Auf die Abgrenzung zwischen Gutachtens-
auftrag und Sachverhaltsermittlung sollte der Sachverständige gegenüber
76
der von ihm befragten Person unbedingt hinweisen. Auf diese Weise wird
er auch leichter die Mitwirkung des Probanden erwirken können.

e) Die Mitwirkungspflicht des Probanden


Erhält der Arzt im Gespräch mit dem Probanden nicht das nötige Vertrau-
en - auch durch entsprechende Aufklärung -, sind ihm die Hände gebun-
den. Es wird dann kein Gutachten geben, dass allen Belangen (denen des
Staates aber auch denen des Probenden selbst) gerecht wird. Denn die ge-
setzlichen Pflichten des Probanden gegenüber dem Sachverständigen sind
außerordentlich eng gefasst. Sie lassen seinen verfahrensrechtlichen Status
als Beschuldigter oder Zeuge weitgehend unangetastet. Der Proband hat
sich nach Maßgabe einzelner gesetzlicher Vorschriften untersuchen und
beobachten zu lassen - mehr nicht! Eine Verpflichtung, Fragen zu beant-
worten, trifft ihn nicht; vor allem erfährt der Grundsatz "nemo tenetur se

71 BGHZ 40, 288, 294; LK-Schünemann (Fn. 11), § 203 Rn. 126.
72 Fischer (Fn. 43), § 203 Rn. 40.
73 Bosch (Fn. 7), § 203 Rn. 44 fordert daher ein Beweisverwertungsverbot.
74 Analog §§ 163a Abs. 4 S. 2, 136 Abs. 1 S. 2, 136a Abs. 5 StPO. Vgl. BGHSt 35,32,35;
LK-Schünemann (Fn. 11), § 203 Rn. 126;
75 LK-Schünemann (Fn. 11), § 203 Rn. 126 m.w.N.
76 Fischer (Fn. 43), § 203 Rn. 40.
460 Christoph Knauer

ipsum accusare" keine Einschränkung. Der Proband darf die geforderte


Untersuchung passiv und stillschweigend über sich ergehen lassen - das ist
die wichtigste Antwort des Gesetzes auf das Problem des Geheimnisschut-
zes.

f) Zusammenfassung
Die Offenbarungsbefugnis des ärztlichen Sachverständigen ist kurz zu-
sammenzufassen: Alle Tatsachen, die der Sachverständige durch seine Un-
tersuchung ermittelt hat, unterliegen der Schweigepflicht aus § 203 StGB.
Das gilt natürlich erst recht für solche Umstände, die ihm vor seiner Bestel-
lung zum Sachverständigen oder unabhängig davon als Arzt bekannt ge-
,vorden sind.
Der Sachverständige darf (bzw. muss [§ 75 StPO]) seinem staatlichen
Auftraggeber (Staatsanwaltschaft, Gericht) nach Maßgabe der an ihn ge-
richteten zulässigen Fragen Befundtatsachen mitteilen. Diese Mitteilungs-
pflicht gibt ihm eine Offenbarungsbefugnis gern. § 203 StGB. Alle weiteren
Geheimnisse des Probanden, die nicht zu den Befundtatsachen zählen, darf
der Sachverständige jedenfalls nicht in seiner Funktion als Gutachter offen-
baren. Diese Zusatztatsachen müssen dann in anderer (zulässiger) Weise in
die Hauptverhandlung eingeführt werden. Dies geschieht, indem der Gut-
77
achter dann als "normaler" Zeuge vernommen wird.

v. Schluss
Handelt der Arzt nach ärztlich-ethischen Vernunftmaßstäben, basierend
auf einem vertrauensvollen Arzt-Patienten-Verhältnis, und verlässt er sich
in Zweifelsfällen auf ein zeitaufwendiges "Mehr" als ein routinemäßiges
"Weniger" an Gespräch mit dem Patienten, so wird er sich ohnehin kaum je
eine Strafanzeige gern. § 203 StGB einhandeln. Die Kommunikation mit
dem Patienten ist also der sicherste Weg, die Kommunikation über ihn
risikolos zu ermöglichen.

77 BGHSt 13,1; 18, 107; 20, 164.; Fischer (Fn. 43), § 203 Rn. 40; Lackner/Kühl (Fn. 34), §
203 Rn. 23; LK-Schünemann (Fn. 11), § 203 Rn. 126.
Rechtmäßige Tötung im Krieg:
zur Fragwürdigkeit eines Tabus

ALBINEsER

I. Erkenntnisinteresse
Wenn man es für einen Festschriftbeitrag als gebührend ansieht, sich mit
einer bereits von dem zu Ehrenden behandelten Thematik auseinanderzuset-
zen, so hätte es im Falle von Heinz Schöch nahe gelegen, sich aus dem
Problembereich der Tötungsdelikte mit der Neuregelung der Patientenver-
fügung zu befassen. Denn nicht nur, dass sich der verehrte Jubilar, wie
seinem reichhaltigen Schriftenverzeichnis zu entnehmen, schon seit Ende
der achtziger Jahre mehrfach mit dem Recht auf ein menschenwürdiges
Sterben (1986, 1987, 1997, 1999, 2005, 2007) und der Verantwortlichkeit
bei Suizid (1996, 2007) beschäftigt hat; auch war er bereits am Altemativ-
Entwurf eines Sterbehilfegesetzes (1986) wie auch neuerdings maßgeblich
an einem ergänzenden Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung (2005) beteiligt,
sowie nicht zuletzt mit der Leitung der dem Thema "Patientenautonomie
und Strafrecht bei der Sterbebegleitung" gewidmeten Strafrechtlichen Ab-
teilung des 66. Deutschen Juristentages von 2006 in Stuttgart betraut. Nach-
dem sich vor Kurzem nun selbst der Gesetzgeber nicht mehr den öffentli-
chen Rufen nach einer gewissen Regelung des so genannten
Patiententestaments verschließen konnte, wäre es sicherlich reizvoll gewe-
sen, die in § 1901 a BGB durch das Dritte Änderungsgesetz des Betreuungs-
rechts vom 29.07.2009 eingefügte "Patientenverfügung" im L,ichte der
Schriften von Heinz Schöch zu beleuchten und auf möglicherweise fortbe-
stehende Desiderate aufmerksam zu machen.
Wenn ich mich trotzdem für eine andere Thematik entschieden habe,
dann zum einen deshalb, weil die Problematik der Patientenautonomie in
letzter Zeit derart viel Aufmerksamkeit erfahren hat, dass ich dazu in dem
hier vorgegebenen Rahmen schwerlich wesentlich Neues hätte sagen kön-
nen. Zum anderen aber hat mich demgegenüber die publizistisch festzustel-
lende Verlegenheit aufgeschreckt, mit der teils non-chalant, vielleicht aber
eher rat- wie sprachlos auf die absichtliche, versehentliche oder lediglich
"kollaterale" Tötung von Menschen in kriegerischen Auseinandersetzungen
462 Albin Eser

reagiert wird. Wie gerade jüngst in besonders spektakulärer Weise in dem


von einem deutschen Offizier ausgelösten UN-Bombardement eines Tank-
lastzugs im afghanischen Kundus mit einer hohen Zahl (auch) ziviler Opfer
zu beobachten war, reichen die Reaktionen von verständnisvoll-billigenden
bis zu scharf verurteilenden Extremen - wobei dies nicht nur mit unter-
schiedlicher politischer Voreingenommenheit, sondern wohl auch mit dem
unsicheren Gefühl mangelnder Rechtsklarheit in der Beurteilung von tödli-
chen Militäraktionen zu erklären sein dürfte. 1 Ja noch mehr: Wenn man
sich, wie nachfolgend noch zu zeigen sein wird, die häufig mit kommentar-
losen Verweisungen begnügende, wenn sich nicht gar schlicht verschwei-
gende Distanziertheit vor Augen führt, mit der sich in einschlägigem
Schrifttum Tötungen im Krieg gerechtfertigt finden, kann man sich des
Eindrucks eines Tabus nicht erwehren: Krieg ist unvermeidlich mit dem
Töten von Menschen verbunden. Das war schon immer so und wird auch so
bleiben. Also besser nicht daran rühren und die Legalität des Tötens nicht
weiter hinterfragen. Auf solche gleichsam selbstverständliche Weise tabui-
siert, scheint die Tötung im Krieg keiner weiteren Rechtfertigung zu bedür-
fen. Aber was vielleicht noch in der direkten Konfrontation von Kombattant
zu Kombattant zwingend erscheinen mag, vermag dies auch gegenüber
unbeteiligten Zivilpersonen zu überzeugen? Und soweit nicht ohne weite-
res, wo bleiben dann die Grenzen zu ziehen? Und zwar nicht nur hinsicht-
lich des Anlasses und Ausmaßes als in steigendem Maße auch hinsichtlich
des immer schwerer abzugrenzenden Übergangs von soldatischer bis zu
andersartiger Beteiligung an einer kriegsähnlichen Auseinandersetzung?
Und wie, wenn im Kampf gegen Terrorismus und vergleichbaren Bedro-
hungen des Staates das von manchen angediente "Feindstrafrecht" sich auch
der Rechtfertigungsprivilegien des "Kriegsrechts" bedienen wollte?
Auch wenn sich diese und weitere Fragen in dem hier vorgegebenen
Rahmen weder allseitig entfalten, geschweige abschließend werden beant-
worten lassen, scheint es doch an der Zeit, mit einer Enttabuisierung des
Tötens im Krieg zu beginnen - und sei es auch nur in der Weise, dass man
sich zunächst einmal einen Überblick über die Behandlung dieser Proble-
matik - oder auch mit deren beredter Nichtbefassung - im gängigen Schrift-
tum verschafft (11), überkommene Legitimierungstheorien einer kritischen
Überprüfung unterzieht (111) und mögliche Lösungswege andeutet (IV).

1 Statt vieler vgl. Rath Darf die Bundeswehr gezielt töten?, in: die tageszeitung (taz) vom
14.12.2009, Zielcke Unschuldige Feinde im Visier, in: Süddeutsche Zeitung vom 19.02.2010. -
Auch von dem derzeit nur in Form einer Pressemitteilung zugänglichen Einstellungsbeschluss
des Generalbundesanwalts im Ermittlungsverfahren gegen Oberst Klein (8/2010 vom
19.04.2010) wird weder eine abschießende Klärung der Rechtslage noch eine öffentliche
Beruhigung zu erwarten sein: vgl. nur Kreye Niederlage im Kampf um Herzen und Köpfe, in:
Süddeutsche Zeitung vom 21.04.2010.
Rechtmäßige Tötung im Krieg: zur Fragwürdigkeit eines Tabus 463

Wenn auf diese Weise das Tabu rechtmäßiger Tötung im Krieg als des
Hinterfragens würdig bewusst gemacht wird, hoffe ich mich auch damit im
Interessenkreis des verehrten Jubilars zu bewegen, hat doch Heinz Schöch
sein Engagement fur diesen Rechtsbereich sowohl durch seine Beschäfti-
gung mit der Todesstrafe (2004) als auch erst jüngst wieder durch aktive
Mitwirkung am "Alternativ-Entwurf Leben" (2008) eindrucksvoll unter
Beweis gestellt.

11. Behandlungsstand
Wie schon zuvor angedeutet, scheint Töten im Krieg als derart selbstver-
ständlich angesehen zu werden, dass man sich für seine Rechtfertigung eine
besondere Begründung meint ersparen zu können.
Von dieser Einschätzung vermag ich mich, wie rückblickend einzuge-
stehen ist, auch selbst nicht ganz auszunehmen, glaubte ich mich doch bis-
lang mit Verweisen auf überkommenen Kriegsgebrauch begnügen zu kön-
nen, ohne diesen auf seine Legitimationskraft hin zu hinterfragen. Immerhin
mag ich aber fur mich in Anspruch nehmen, bereits bei meiner ersten Be-
fassung mit Tötung im Krieg, als ich rechtsgeschichtlich den Wandlungen
des strafrechtlichen Lebensschutzes nachging, 2 von deren offenbar selbst-
verständlichen Rechtmäßigkeit überrascht gewesen zu sein, wenn ich fest-
stellte: "Dass die Tötung des Kriegsfeindes auch ohne ausdrückliche Zulas-
sung für gerechtfertigt gehalten wurde, (sei) zwar als Folge menschlicher
Machtlüsternheit bedauerlich, aber aufgrund langer Tradition nicht verwun-
derlich". 3 An dieser zunächst allein fur die Rechtslage zur Zeit der Constitu-
tio Criminalis Carolina von 1532 getroffenen Feststellung hat sich auch in
der Folgezeit nichts Wesentliches geändert, so dass sich die gerne beschwo-
rene "Heiligkeit" des Lebens wie auch die oft recht leichthändig behauptete
"Absolutheit" seines Schutzes 4 nach wie vor durch die drei klassischen
Ausnahmen vom Tötungsverbot -- so neben der tödlichen Notwehr und der
(noch weithin praktizierten) Todesstrafe eben auch die Tötung im Krieg -
relativiert sehen muss. 5 Vielleicht ist es von daher als resignatives Abfinden

2 Eser Zwischen "Heiligkeit" und "Qualität" des Lebens, in: Gernhuber (Hrsg.), Tradition
und Fortschritt im Recht. FS gewidmet der Tübinger Juristenfakultät, 1977, S. 377-414.
3 A.a.O., S. 394.
4 Wie neuerdings namentlich auch von lngelfinger Grundlagen und Grenzbereiche des Tö-
tungsverbots, 2004, S. 7 ff. moniert.
5 Eser (Fn. 2), S. 394; zu dieser Relativität des Lebensschutzes vgl. au'ch Eser Recht und
Schutz des Lebens, in: Goerres Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 3, 7. Aufl. 1987, Sp.
858-862 (859), sowie ders. Auf der Suche nach dem mittleren Weg, in: Langer/Laschet
(Hrsg.), Unterwegs mit Visionen, 2002, S.117-139 (122 ff., 134 f.).
464 Albin Eser

mit ohnehin Unvermeidlichem erklärbar, dass ich mich bislang mit Hinwei-
sen auf völkerrechtliches Kriegsrecht und diesbezügliche Literatur zufrie-
den gegeben habe. 6
Im Vergleich dazu scheint für viele das Töten im Krieg noch viel selbst-
verständlicher zu sein, indem man es offenbar nicht einmal einer ausdrück-
lichen Rechtfertigung bedürftig hält. Wenn man sich dazu auf die Durch-
sicht des gängigen Schrifttums zu den Tötungsdelikten beschränkt -
wenngleich unter dem Vorbehalt, dabei möglicherweise etwas an versteck-
ter Stelle Stehendes oder allzu verklausuliert Ausgedrücktes übersehen zu
haben -, lässt sich die Feststellung wagen, dass sich die Tötung im Krieg
wohl überwiegend überhaupt nicht oder allenfalls beiläufig behandelt fin-
det. Das gilt nicht nur für die mit Tötungsdelikten befasste Lehr- und
Kommentarliteratur,7 sondern sogar für monografische Arbeiten. 8 Auch
steht damit die Strafrechtslehre keineswegs allein; vielmehr meinen selbst
hochrangige Grundrechtskommentare sich eine Rechtfertigung tödlicher
Kriegshandlungen ersparen zu können. 9 Ähnliche Blickverengungen sind
auch in monografischen Auseinandersetzungen mit verfassungsrechtlichen

6 Wie in meiner Kommentierung zu Rechtfertigung von Totschlag in: Schönke/Schröder,


StGB, 27. Aufl. 2006, § 212 Rn. 7~ vgl. auch Eser Grounds for excluding criminal responsibil-
ity, in: Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute of the International Criminal
Court, 2. Aufl. 2008, Art. 31 Rn. 39 (S. 880).
7 Wie - soweit aus den Darstellungen der jeweils letzten Auflagen zu Rechtfertigungsgrün-
den und Tötungsdelikten ersichtlich - in den Lehrbüchern von Arzt/Weber/Heinrich/Hilgen-
dorf, Baumann/Weber/Mitsch, EiseIe, Gropp, Jakobs, Kindhäuser, Krey/Heinrich, Kühl, Roxin,
Stratenwerth/Kuhlen und WesseIs bzw. für die Kommentierungen von Günther (zu §§ 32 ff.)
bzw. von Horn (zu §§ 211 ff.) im Systematischen Kommentar (Stand 1993), für die (ansonsten
eingehenden) Rechtfertigungsausführungen Geweils zu den Vorbemerkungen vor §§ 32 ff.)
von Rönnau im Leipziger Kommentar (12. Aufl. 2006) und von Schlehofer bzw. von Dau (zum
Wehrstrafgesetz) im Münchener Kommentar, Bd. 1 (2003), bzw. Bd. 6/2 (2009), wie auch
neuestens von Rosenau (zu §§ 32 ff.) bzw. von Momsen (zu § 212) im StGB-Kommentar von
Satzger/Schmitt/Widmaier (2009).
8 Wie beispielsweise für lngelfinger (Fn. 4).
9 Wie etwa die Kommentierung von Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz bei Udo Di Fabio im Grund-
gesetz-Kommentar von Maunz/Dürig (2009), während sich in der Kommentierung von Art.
87a (Rn. 54) durch Günter Dürig immerhin noch ein Hinweis auf das Kriegsvölkerrecht findet.
Auch unter den von Murswiek, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 5. Aufl. 2009, Art.
2 Rn. 152 erwähnten Beispielen zu Eingriffen in das Leben findet sich die Tötung im Krieg
nicht erwähnt, wenngleich immerhin unter "Grundrechtsbegrenzungen" als Fall der Verhält-
nismäßigkeit von Eingriffen eingeräumt wird, dass durch prinzipielle Zulässigkeit eines (Ver-
teidigungs-)Krieges implizit auch kriegsvölkerrechtsgemäße Tötungshandlungen "gerechtfer-
tigt" seien (Rn. 172). Aufschlussreich zum verfassungsrechtlichen Schrifttum, auch wenn dies
vornehmlich aus dem Blickwinkel des grenzüberschreitenden Grundrechtschutzes geschieht,
die Meinungsübersicht von Wiefelspütz Auslandseinsatz der Streitkräfte und Grundrechte,
Neue Zeitschrift für Wehrrecht 2008,89-102.
Rechtmäßige Tötung im Krieg: zur Fragwürdigkeit eines Tabus 465

Grenzen des Tötungsverbots zu finden. lO Gleichermaßen ist in völkerrecht-


licher Literatur zu Humanitäts- und Kriegsverbrechen zwar immer wieder
von davon möglichen Straffreistellungen die Rede, ohne dass sich jedoch
eine Rechtfertigung der Tötung im Krieg als solche ausdrücklich begründet
fande. 11
Von einer ebenfalls großen Zahl von Autoren wird die Tötung im Krieg
zwar nicht gänzlich ignoriert; sofern sich deren Behandlung aber nicht oh-
nedies in bloßen Hinweisen auf andere Literatur erschöpft,12 begnügt man
sich mit der Berufung auf Völkerrecht und/oder Kriegsgebrauch 13 oder
beschränkt sich auf die Behandlung von speziellen Teilbereichen tödlicher
Kriegshandlungen oder bewaffneter Konflikte, wie einerseits im Zusam-

10 Wie namentlich bei Dreier Grenzen des Tötungsverbots, JZ 2007,261-270, 317-326, wo


die Tötung im Krieg allenfalls in Verbindung mit der traditionellen Figur des "gerechten
Krieges" anklingt (S. 262) bzw. die "als Erfüllung einer militärischen Pflicht" einzustufende
Tötung feindlicher Soldaten offenbar nur in Verbindung mit der "staatlichen Inpflichtnahme"
und der damit dem eigenen Leben drohenden Todesgefahr einer Behandlung wert erscheint
(S. 262 f).
11 Das betrifft neben der grundlegenden "Introduction to International Criminal Law" von
M Cherif Bassiouni (2003) beispielsweise auch die Empfehlungen von Dieter Fleck in dem
von ihm herausgegebenen Sammelband zu "Rechtsfragen der Terrorismusbekämpfung durch
Streitkräfte" (2004), wo weder bei dem zu "Menschenrechtlichen Verpflichtungen" erwähnten
"Recht auf Leben" (S. 252, Nr. 13) noch zu den "Kriegsvölkerrechtlichen Regelungen" im
Hinblick auf bewaffnete Konflikte (S. 251, Nr. 16) die Rechtmäßigkeit von Tötungen bedacht
wird. Auch in den sich mit "defences" befassenden Monografien von Knoops Defenses in
Contemporary International Criminal Law, 2001, und von van Sliedregt Criminal Responsibil-
ity of Individuals for Violations of International Humanitarian Law, 2003, ist zu einem grund-
sätzlichen Tötungsrecht nichts Einschlägiges zu tinden. Gleiches gilt für die sich ansonsten
eingehend mit Rechtfertigungsfragen im internationalen Strafrecht befassende Monografie von
Ambos Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts, 2. Aufl. 2004.
12 Wie im Falle von Gössel/Dölling Strafrecht Besonderer Teil 1, 2. Aufl. 2004, S. 39
(Rn. 67) sowie von Neumann Nomos Kommentar StGB, 2. Aufl. 2005, § 212 Rn. 23.
13 Aus dem national- wie auch internationalstrafrechtlichen Schrifttum ist hierzu insbeson-
dere hinzuweisen auf Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. 2007, Vor § 32 Rn. 24, § 212 Rn. 4~ Kreß
Münchener Kommentar StGB, Bd. 3, 2003, § 220 a/§ 6 StGB (wo allerdings nur Rechtferti-
gungsgründe zu § 6 behandelt werden, nicht aber die grundsätzliche Rechtmäßigkeit von
Kriegshandlungen)~ Nill-Theobald Defences bei Kriegesverbrechen am Beispiel Deutschlands
und der USA, 1998, S. 55 ff~ Schmidhäuser Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Autl 1975, S. 315
f~ H. Schneider Münchener Kommentar StGB, Bd. 3, 2003, Rn. 53~ Schwenck Die kriegeri-
sche Handlung und die Grenzen ihrer strafrechtlichen Rechtfertigung, in: Warda u.a. (Hrsg.),
FS Lange, 1976, S. 97-118 (98)~ Zimmermann/Geiß Münchener Kommentar StGB, Bd. 6/2,
2009, § 8 VStGB Rn. 247 f, sowie neuestens Safferling/Kirsch Die Stratbarkeit von Bundes-
wehrangehörigen bei Auslandseinsätzen, in: Juristische Arbeitsblätter (JA) 2010, S. 81-86 (82).
Aus dem verfassungs- und völkerrechtlichen Schrifttum findet sich die Berufung auf Kriegs-
recht beispielsweise bei Kunig in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz, 5. Aufl. 2000, Art. 2 Rn. 44~
Dahm/Delbrück/Woljrum Völkerrecht, Bd. V3, 2. Aufl. 2002, S. 1024 ff~ Arnold War Crimes,
in: Triffterer (Fn. 6), Art. 8 Rn. 58 und Murswiek (Fn. 9) sowie im Ergebnis auch bei Wie-
felspüt= (Fn. 9), S. 102.
466 Albin Eser

menhang mit besonders gravierenden Kriegsverbrechen 14 oder andererseits


möglicherweise grenzwertiger Kriegsrepressalien; 15 auch tödliche Aktionen
zur Wahrung der Luftsicherheit wären, wenn im Sinne einer ,~kriegsrecht­
lich inspirierten Regelung" zu verstehen,16 hier einzuordnen.
Nach alledem kann es nicht überraschen, dass sich der Kreis von Autoren,
bei denen von einer eingehenderen Befassung mit der Tötung im Krieg die
Rede sein kann, in leicht überschaubaren Grenzen hält. Dazu ist aus dem
strafrechtlichen Schrifttum in erster Linie das Lehrbuch von Maurach zu
nennen, dessen Darstellung schon seit seiner ersten Auflage bis hin zur
jüngsten Neubearbeitung von Schroeder keine wesentlichen Änderungen
erfahren hat. 17 Auch die Kommentierungen von Jaehnke 18 und von Stern-
berg-Lieben 19 sind dieser Gruppe zuzurechnen. Aus der völkerrechtlichen
Literatur ist insbesondere auf die Lehrbücher von Cassese 20 und Ipsen 21
hinzuweisen.
Wendet man von hier den Blick der höchstrichterlichen Rechtssprechung
zu, so sieht man sich in das große Lager derer zurückversetzt, rur die sich
die Rechtmäßigkeit von Tötung im Krieg - als gleichsam selbstverständlich
keiner weiteren Rechtfertigung bedürftig - kurzerhand aus dem Kriegsrecht
ergibt. Das gilt sowohl für die früheren Urteile der Oberlandesgerichte

14 Wie bei Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht, 3. Aufl. 2009, S. 262 ff. und
Werle Völkerstrafrecht, 2. Aufl. 2007, S. 201 ff., 384 ff., ähnlich wie bereits in meinem Beitrag
zu: "Defences" in Strafverfahren wegen Kriegsverbrechen, in: Schmoller (Hrsg.), FS Triffterer,
1996, S. 755-775. Hierzu ließen sich auch die bereits erwähnten Monografien von Ambos
(Fn. 11) und Nill-Theobald (Fn. 13) rechnen.
15 Wie bei lescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996,
S. 328 (mit Hinweis aufBGHSt 23, S. 103 [unten Fn. 24]~ Paeffgen Nomos Kommentar StGB,
Bd. 1,2. Aufl. 2005, Vor § 32 Rn. 206~ vgl. auch Verdross/Simma Universelles Völkerrecht,
3. Aufl. 1984, S. 907.
16 So Fischer StGB, 57. Aufl. 2010, § 34 Rn. 11 a. Vgl. auch Schult=e-Fielit= in: Dreier
(Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 2004, Art. 2 II Rn. 46 zu Lebensgefahrdung bei militärischen
Aktionen (ohne dass aber dazu Rechtfertigungsgründe erörtert würden).
17 Vgl. Maurach Deutsches Strafrecht Besonderer Teil, 1. Aufl. 1954, S. 21 ff. bzw. Mau-
rach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. 2009, S. 37 ff.
181ähnke in: Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl. Bd. 5,2005, § 212 Rn. 16 f.
19 In Vertiefung der Vorauflagen Lenckner/Sternberg-Lieben in: Schönke/Schröder, StGB~
28. Aufl. (im Druck), Vor § 32 Rn. 91.
20 Cassese International Criminal Law, 2003, S. 219 ff.
21 Ipsen Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, S. 1230 f., S. 1240 ff.
Rechtmäßige Tötung im Krieg: zur Fragwürdigkeit eines Tabus 467

Kiel 22 und Dresden 23 wie auch fur die üblicherweise zitierten neueren Ent-
scheidungen des Bundesgerichtshofs zur Erschießung von Kriegsgeiseln 24 .

111. Legitimationstheorien
Sucht man nach einer Erklärung für die weit verbreitete Selbstverständ-
lichkeitseinstellung, mit der das Töten im Krieg ohne weiteres Begrün-
dungsbemühen hingenommen wird, so könnte sie, wie sich als Erstes auf-
drängt, in einem unreflektierten Festhalten an einer als menschheits-
geschichtlich nicht weiter zu hinterfragenden Gewohnheit zu finden sein. 25
Doch was schon immer so war, muss nicht deshalb richtig gewesen und
weiter hin gut sein - und dies schon deswegen nicht, weil sowohl die Gren-
zen des Krieges wie auch der sich gegenüberstehenden Kombattanten im-
mer fließender und die als "Kollateralschäden" verharmlosten Auswirkun-
gen auf unbeteiligte Zivilpersonen immer alarmierender werden. Aber
vielleicht geht es, um sich solchen drängenden Fragen nicht stellen zu müs-
sen, gerade um deren bewusstes Verdrängen? Auch gilt es ja nicht nur, eine
Rechtfertigung für das aktive Töten von Feinden zu finden, vielmehr will
auch das zu erduldende und seinerseits nicht einklagbare Getötetwerden
eigener Soldaten und Bürger erklärt sein.
Um es gleich unumwunden zuzugeben: auch ich vermag dazu hier keine
endgültigen Antworten zu geben. Zumindest aber sollte mit dem Hinterfra-
gen überkommener Positionen begonnen werden, und sei es auch nur, um
unhaltbar Gewordenes auszuscheiden und möglicherweise Weiterführendes
aufzuzeigen.
Wenn in diesem Sinne nachfolgend einige - sei es ausdrücklich vertretene
oder eher nur unterschwellig zugrunde liegende - Legitimationstheorien
zum Töten im Krieg in Frage gestellt werden sollen, so ist dabei ein häufig
übersehener Unterschied im Auge zu behalten: Aus welcher Rechtsquelle
sich Töten im Krieg legitimieren lässt (wie etwa aus völkerrechtlichem

22 OLG Kiel, SJZ 1947, Sp. 323-330, mit - entgegen seiner im Übrigen scharf ablehnenden
Kritik offenbar zustimmender Anmerkung von Arndt, S. 333-337.
23 OLG Dresden, SJZ 1947, Sp. 519-521, mit diesbezüglich ebenfalls zustimmender An-
merkung von A. Henneka Sp. 522-527.
24 BGHSt 23 (1969), 103 bzw. 49 (2005), 189, mit diesbezüglich zustimmenden Anmerkun-
gen von Gribbohm NStZ 2005, 38 f. und Bröhmer/Bröhmer NStZ 2005, 39 f.
25 Offenbar erschien, wie auch von Wo{ff Gewaltmaßnahmen der Vereinten Nationen und
die Grenzen der strafrechtlichen Rechtfertigung der beteiligten deutschen Soldaten, Neue
Zeitschrift für Wehrrecht 1996, 9-21, festgestellt, die Rechtmäßigkeit von Tötungen im Krieg
"im Ergebnis so klar, dass die dogmatische Herleitung kaum diskutiert wird" (S. 15). Im
gleichen Sinne ist auch bei Dreier zur Tötungsproblematik im Krieg von "nicht gerade über-
bordender Literatur" die Rede (Fn. 10, S. 262 Anm. 18).
468 Albin Eser

Gewohnheitsrecht oder aus vertraglichem Kriegsrecht) und wie eine Legi-


timierung verbrechenssystematisch einzuordnen ist (wie etwa bereits als
Tatbestandsausschluss oder erst als Rechtfertigung), dies ist das eine, das
mehr rechtstechnisch Formale. Welche Ratio hingegen dem zugrunde liegt,
ist das andere, das mehr fundalnental Materiale. Gewiss kann beides mitein-
ander zusammenhängen. Doch wenn beispielsweise das Töten im Krieg
aufgrund gewohnheitsrechtlichen Kriegsgebrauches als schon gar nicht vorn
Tötungsverbot umfasst befunden wird, dann ist damit lediglich eine tatbe-
standsausschließende Rechtsquelle benannt, ohne dass aber darur schon
eine rationale Begründung gegeben wäre - ähnlich wie umgekehrt ein Tö-
tungsgrund ohne Wirkung bleibt, solange ihm die Geltungsgrundlage fehlt
oder die verbrechenssystematische Eingliederung verbaut ist.
Um sich die Radikalität der Legitimierungsfrage bewusst zu machen,
braucht man sich eigentlich nur die unterschiedliche Behandlung des Tötens
innerhalb und außerhalb eines militärischen Konflikts vor Augen zu ruhren:
Während ein "normaler" Totschlag ohne ausdrückliche Rechtfertigung
selbstredend als rechtswidrig zu verwerfen ist, gilt das Töten im Krieg als
rechtmäßig, ohne dass dafür jeweils eine besondere Begründung verlangt
würde. Ja noch mehr: nicht nur dass die Tötung von feindlichen Kombattan-
ten selbstredend als rechtmäßig angesehen wird, vielmehr darf man sich von
steigendem Tötungserfolg sogar noch Belobigungen und statusfördernde
Auszeichnungen erhoffen. Das ist umso erstaunlicher, als es meines Wis-
sens keinen Rechtssatz gibt, der ausdrücklich das Töten im Krieg für recht-
mäßig erklären würde. 26 Vielmehr scheint diese Legitimierung lediglich auf
beiderseits militärisch akzeptierter Tolerierung und daraus entstandenem
Gewohnheitsrecht zu beruhen. 27
Wenn dies so vorsichtig tastend formuliert ist, dann schon deshalb, weil
man bei der Suche nach expliziten Rechtmäßigkeitserklärungen der Tötung
von Kriegsfeinden selbst bei eingehenderen Abhandlungen von Kriegsrecht

26 So auch die Feststellung von Woijfa.a.O., 15.


27 Falls überhaupt als eigenständige Rechtmaßigkeitserklärung für Tötung im Krieg geeig-
net, wäre allenfalls an die Ausnahmeklausel in Art. 15 Abs. 2 Europäische Menschenrechts-
konvention zu denken, wonach "bei Todesfallen infolge rechtmäßiger Kriegshandlungen" von
dem in Art. 2 garantierten Recht auf Leben abgewichen werden kann. Doch auch dabei wird
offensichtlich die Rechtmäßigkeit tödlicher Kriegshandlungen bereits als anerkannt vorausge-
setzt. In diesem Sinne dürfte auch Frowein (in: Frowein/Peukert, Europäische Menschen-
rechtskonvention: EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, Art. 15 Rn. 14) zu verstehen sein, wenn
er offenbar bereits als rechtmäßig anerkannte Kriegshandlungen "also auch unter Att. 15
gerechtfertigt" sieht. Auch aus Art. 57 (2) (a) (e) Zusatzpr~tokoll I 1977 zur Haager Land-
kriegsordnung, wo es um Vorsichtsluaßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung geht, kann
daraus, dass- Angriffsziele keine Zivilpersonen' sein dürfen, allenfalls indirekt entnommen
werden, dass "militärische Ziele" angegriffen werden dürfen und dies ,voh1 auch die Tötung
von Kombattanten einschließt.
Rechtmäßige Tötung im Krieg: zur Fragwürdigkeit eines Tabus 469

im allgemeinen und Tötungsrechtfertigungen im besonderen weitgehend im


Stich gelassen wird. Während etwa in der vergleichsweise umfangreichen
"Revision der Lehre von den angeblich straflosen Tödtungen" von Abegg'l8
- neben allgemeiner Notwehr und Notstand - die gerechtfertigte Tötung
bestimmter gleichsam bemakelter Menschen bis hin zu inneren Feinden und
Fahnenflüchtigen im römischen, germanischen und gemeinen deutschen
Strafrecht eine detaillierte Behandlung erfährt,29 wird im Verhältnis zum
Krieg lediglich beiläufig festgestellt, dass "die bis zur Vernichtung der
Gegner ausgedehnte Befugniß und Verpflichtung" ihre Rechtfertigung in
der "höhern Nothwendigkeit und Befugniß des Staates zur Kriegsfuhrung"
finde. 3o Oder um einen Blick auf das speziell dem "Kriegsrecht" gewidmete
Lehrbuch von Berber zu werfen, findet sich den Kriegsführenden zwar das
Recht zugestanden "sich gegenseitig in großem Umfang Schäden zuzufü-
gen, die im Frieden verboten sind und dort Völkerrechtsdelikte darstellen
würden",31 ohne dass aber ausdrücklich klargestellt würde, ob und inwie-
weit mit diesem "Recht zur Schädigung des Feindes" auch dessen Tötung
mit abgedeckt ist. 32
Wenn somit nicht auf direktem Weg positiv-explizite Rechtmäßigkeitser-
klärungen zur Tötung im Krieg zu finden sind, bleibt auf indirektem Weg
danach zu suchen. Und in der Tat scheint man danlit eher fündig zu werden.
Denn wenn, wie von Berber im Anschluss an die vorangehende Passage
fortgeführt, nach Art. 22 Haager Landkriegsordnung "die Kriegsfuhrenden
kein unbeschränktes Recht in der Wahl der Mittel zur Schädigung des Fein-
des (haben)", und daraus zu schließen sei, dass, diejenigen Kriegsmittel, die
nicht verboten sind, als erlaubt zu betrachten seien,33 nach Art. 23 Haager
Landkriegsordnung aber gerade nicht das Töten von Kriegsfeinden an sich,
sondern nur bestimmte Tötungsformen (wie die Verwendung von vergifte-
ten Waffen, die meuchlerische Tötung oder die eines wehrlosen Feindes)

28 Abegg Untersuchungen auf dem Gebiete der Strafrechtswissenschaft, 1830, S. 55-378.


29 Vgl. insbesondere Abegg a.a.O., S. 198 ff., 204 ff., 301 ff., 371 ff.
30 Abegg a.a.O., S. 102.
31 Berber Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. II Kriegsrecht, 2. Aufl. 1969, S. 163.
32 Auch dass das Sachregister bei der Suche nach "Tötung im Krieg" oder vergleichbaren
Begriffen nicht weiter hilft - und dies im Übrigen auch für andere Lehrbücher des Völkerrechts
zu konstatieren ist -, lässt einmal mehr die Frage offen, ob dies aus desinteressiertem Nichtbe-
fassen mit ohnehin Selbstverständlichem oder in bewusster Problemverdrängung geschieht.
33 Berber (Fn. 31), S. 163.
470 Albin Eser

verboten sind,34 dann wäre aus dem mangelnden Verbot die Erlaubtheit der
Tötung im Kriege als solcher zu entnehmen. 35
In dieser indirekten Legitimierung eines Tötungsrechts im Krieg aus dem
Fehlen eines ausdrücklichen Tötungsverbots, wie dies meist unausgespro-
chen der traditionellen Vorstellung zugrunde liegen dürfte, scheint man sich
- über ungeschriebenen Kriegsgebrauch und die nur partiellen Verbote
bestimmter Tötungsmittel der Haager Landgerichtsordnung und deren ver-
schiedenartiger Vorläufer und Nachfolger36 hinaus - nicht zuletzt auch
durch die neueren Statuten der internationalen Strafgerichtsbarkeit gestärkt
sehen. Denn wenn beispielsweise in Art. 3 des Statuts fur den Internationa-
len Strafgerichtshof fur das ehemalige Jugoslawien von 1993 oder in Art. 8
des Rom-Statuts für den Internationalen Strafgerichtshof von 1998 weder
das Töten von Kriegsgegnern noch von mitbetroffenen Zivilisten als solches
verboten ist, sondern vorsätzliche Tötung nur bei bestimmten Verstößen
gegen Gesetze oder Gebräuche des Krieges als "Kriegsverbrechen" strafbar
ist, dann scheint es in der Tat nahe zu liegen, alle nicht ausdrücklich verbo-
tenen Tötungsmodalitäten - und somit insbesondere das Töten als solches -
im Krieg für erlaubt zu halten. 37
Doch so sehr sich solche Schlussfolgerungen aufdrängen mögen und
möglicherweise von all jenen gezogen werden, die sich für die Rechtmäßig-
keit der Tötung im Krieg schlicht auf Völkerrecht und/oder Kriegsgebrauch
berufen,38 sind sie wirklich zwingend und überzeugend? Ganz abgesehen
von der noch zu hinterfragenden Ratio einer kriegsbedingten Tötungsbe-
rechtigung, sind gegen deren Legitimierung auf indirektem Wege schon
gewisse rechtstechnische Zweifel angebracht. Gewiss: für erlaubt zu be-
trachten, was nicht verboten ist, klingt nach Freiheitlichkeit. Doch kann

34 Näher dazu Geter Kampfmittel und Kampfnlethoden in bewaffneten Konflikten und ihre
Vereinbarkeit mit dem humanitären Völkerrecht, in: Hasse u.a. (Hrsg.), Humanitäres Völker-
recht, 2001, S. 78-109.
35 Ohne sich ausdrücklich gegen Berber zu wenden, wird demgegenüber von lpsen (Fn. 21),
S. 1240 zwar festgestellt, dass die Beschränkung des kodifizierten Rechts auf Verbote nicht
bedeute, dass alle Schädigungshandlungen, die nicht verboten sind, erlaubt seien; die von ihm
angeführten Beschränkungen in der Wahl der Mittel und Methoden der Kriegsführung wie
auch die erforderliche Beachtung des Prinzips der Humanität stellen aber die offenbar als
selbstverständlich erlaubte Tötung im Krieg jedenfalls im Grundsatz nicht in Frage.
36 Näher zu dieser Entwicklung Bothe Friedenssicherung und Kriegsrecht, in: Graf Vitzthum
(Hrsg.), Völkerrecht, 4. Aufl. 2007, S. 637-725 (643 ff, 683 ff); van der Wolf/van der Wolf
Laws ofWar and International Law, 2002.
37 In diesem Sinne offenbar die Interpretation des geltenden Völkerrechts bei Kremnitzer
Präventives Töten, in: Fleck (Hrsg.), Rechtsfragen der Terrorismusbekämpfung durch Streit-
kräfte, 2004, S. 201-222 (204 f).
38 Neben den oben in Fn. 13 Genannten wären hier wohl auch anzuführen: Gössel/Dölling
(Fn. 12), lähnke (Fn. 18), Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 19), Maurach/Schroeder (Fn. 17).
Vgl. ferner unten zu Fn. 62.
Rechtmäßige Tötung im Krieg: zur Fragwürdigkeit eines Tabus 471

man sich auf diese Maxime auch dann berufen, wenn es zur Gestattung von
etwas an sich Verbotenem dienen soll? Wäre es nicht ein Trugschluss zu
meinen, durch Aufhebung eines Tötungsverbots ein Tötungsrecht einzu-
räumen, sei nichts anderes, als Freiheit gegen Beschränkungen durch Ver-
bote zu schützen? Während bei Letzterem von einer an sich unbeschränkten
Freiheit auszugehen ist, wie sie zum Töten gerade nicht gegeben ist, wird
bei Legitimierung eines kriegsbedingten Tötungsrechts aus dem Fehlen
eines ausdrücklichen Tötungsverbots verkannt, dass es schon nach allge-
meinen Rechtsgrundsätzen und zudem nach dem strafrechtlichen Tötungs-
verbot keine Tötungsfreiheit gibt, diese vielmehr von vornherein einge-
schränkt ist und etwaige Ausnahmen davon ihrerseits einer Begründung
bedürfen, die aber nicht schon allein irn Fehlen eines ausdrücklichen
kriegsbezüglichen Tötungsverbots gesehen \verden kann. Kurzum: da das
Töten von Menschen grundsätzlich verboten (und dadurch tödliche Frei-
heitsentfaltung von vornherein eingeschränkt) ist, lässt sich kriegsbedingtes
Töten nicht einfach aus dern Fehlen eines ausdrücklichen Tötungsverbots
im Kriegsrecht legitimieren. Vielmehr bedarf auch das Töten im Krieg, um
vom grundsätzlichen Tötungsverbot ausgenommen zu sein, einer materialen
Ratio, die nicht ohne weiteres aus einem rechtstechnischen Umkehrschluss
zu gewinnen ist.
Solche Vorbehalte sind auch nicht durch Verweis auf die gesetzesförmige
Pönalisierung bestimmter Tötungsmodalitäten als Kriegsverbrechen ausge-
räumt, wie dies in den zuvor erwähnten Statuten des Jugoslawien-Tribunals
und des Internationalen Strafgerichtshofs geschehen ist. Im Gegenteil: woll-
te man alles fur erlaubt halten, was nicht als "Kriegsverbrechen" für strafbar
erklärt ist, dann würde das Tötungsrecht in bewaffneten Konflikten sogar
noch eine Erweiterung erfahren. Denn nachdem nicht alles, was durch die
Haager Landkriegsordnung und die einschlägigen Genfer Konventionen
verboten ist, zugleich als Kriegsverbrechen strafbar ist,39 würde im Um-
kehrschluss jedwedes Töten im bewaffneten Konflikt erlaubt sein, solange
es nur nicht die Schwere eines Kriegsverbrechens erreicht. pamit aber wür-
de die mit der Kriminalisierung bestimmter Verletzungen des ius in beUo
beabsichtigte Verstärkung des Schutzes von Komba~tanten und Zivilperso-
nen hinsichtlich ihres Lebens gerade kontraproduktiv geschwächt: indem
das Tötungsrecht als solches erweitert würde. Ein solcher Rückschritt im
Streben nach Humanisierung des - wenn schon nicht zu vermeidenden -
Krieges kann nicht gewollt gewesen sein. Deshalb l~sst sich Töten iI? Krieg

39 Vgl. Dahm/DetbrückJWoljrum (Fn. 13), S. 1052 ff.; Werte (Fn. 14), S. 389 f.
472 Albin Eser

nicht einfach damit legitimieren, dass alles erlaubt sei, was kein Kriegs-
verbrechen darstellt. 40
Wie aber wäre dann Tötung im Krieg auf andere Weise zu legitimieren?
Wenn man sich dafür nicht einfach mit der formalen Berufung auf Völker-
recht und Kriegsgebrauch zufrieden geben will,41 zumal nlit einer solchen
weit verbreiteten Scheinlegitimierung lediglich eine mögliche Rechtsquelle
benannt, aber damit noch keine materiale Begründung dafür geliefert ist,
warum und wann grundsätzlich verbotenes Töten gleichwohl als rechtmäßig
zu akzeptieren sei, dann wird man nicht umhin können, vorzufindende Er-
klärungen zur Tötung im Krieg auf ihren expliziten Gehalt oder ihre mögli-
cherweise unausgesprochen zugrunde liegende Ratio hin zu untersuchen.
Um es gleich vorweg zu nehmen, ist freilich auch davon nur wenig Ergie-
biges zu erwarten. Immerhin 'väre aber möglicherweise Erhellendes aus der
Art von Konstruktionen zu gewinnen, mit denen man rechtmäßiges Töten
im Krieg mit dem strafrechtlichen Tötungsverbot in Einklang zu bringen
versucht. Dabei sind im Wesentlichen drei unterschiedlich weit gehende
Abstufungen erkennbar.
Eine Vereinbarkeit von grundsätzlichem Tötungsverbot und militärischer
"Lizenz zum Töten" scheint am leichtesten und weitestgehenden dadurch zu
erreichen sein, dass man tödliche Kriegshandlungen von vornherein von der
Garantie des Lebensschutzes ausgenommen sieht: wie etwa dadurch, dass
Anderes zu meinen geradezu für "absurd" erklärt wird, weil Krieg "auf die
Tötung von Menschen angelegt" sei,42 oder dass gegnerische Kombattanten
als "naturgemäß legitime ,militärische Ziele'" verstanden werden;43 denn
damit wird dem Töten im Krieg schon durch immanente Einschränkung des
Tötungsverbots der Makel der Rechtswidrigkeit genommen. Eine solche
"quasi-tatbestandliche Begrenzung des Lebensgrundrechts"44 dürfte auch
dort gemeint sein, wo tödliche Aktionen als "vom Kriegsrecht gewohnheits-

40 Im gleichen Sinne auch lpsen (Fn. 21), S. 384 unter Bezugnahnle auf die sog. Mar-
tens' sche Klausel.
41 Vgl. oben in und zu Fn. 38.
42 So besonders drastisch Matthias Hartwig (laut Markus Decker Ist es nun doch ein Krieg?,
in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 11.2.2010). Auch für lose! lsensee wäre es "absurd", jeden
Pulverschuss als "Grundrechtseingriff" gegen einen betroffenen feindlichen Soldaten zu quali-
fizieren und dafür eine grundrechtliche Güterabwägung zu erfordern (in: IsenseelKirchhof
[Hrsg.], Handbuch des StaatsRechts, Bd. 2,2. Aufl. 2000, § 115 Rn. 90). Vgl. auch die unten
Fn. 55 zitierte Bemerkung von '/febel.
43 So Oeler (Fn. 34), S. 88.
44 Wie sie Sachs in: Stern (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.
11112, 1994, Bd. lVII, 2006, S. 151 f., aus der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zum
Verteidigungsauftrag des Art. 87a Abs. 1 S. 1 Grundgesetz meint herleiten zu können
Rechtmäßige Tötung im Krieg: zur Fragwürdigkeit eines Tabus 473

rechtlich erlaubt" befunden werden 45 , wenn sie "im Rahmen der Kriegsfüh-
rung straflos zu sein pflegen"46, wenn von (auch) "legitimierender Wir-
kung" der Kriegsregeln gesprochen wird,47 oder wenn in kriegerischen
Auseinandersetzungen das Tötungsverbot als "außer Kraft gesetzt" oder als
"aufgehoben" betrachtet48 und darin ein "rechtliches Privileg" für Kombat-
tanten gegen Strafverfolgung gesehen wird. 49
Was aber ist von derartigen Ausgrenzungen tödlicher Militäraktionen aus
dem Tötungsverbot zu halten? Genau besehen beschreiben sie lediglich eine
(suspendierende) Wirkung, ohne dass aber dafür auch schon eine Begrün-
dung geliefert würde. Auch wenn es unbestreitbar zur Gewohnheit gewor-
den war, dass "an overall licentiousne~s in the use of force in the interatio-
nal arena was taken for granted",50 muss es Gründe für eine sich daraus
ent,vickelnde "Lizenz zum 'Töten" gegeben haben. Könnte ein Souveräni-
tätsdenken dahinter stehen, das nicht nur interne rv1acht verleiht, sondern
Krieg als legitimes Mittel staatlicher Machtpolitik versteht 51 und dement-
sprechend auch grenzüberschreitende Gewaltrechte einräumt? Aber wenn
schon, soll dies auch grundlos schlicht aus eigener Machtenfaltung gesche-
hen dürfen? Oder wäre dafür nicht wenigstens ein "gerechter Glund" zu
fordern - was natürlich zu überwunden geglaubten Auseinandersetzungen
um den "gerechten Krieg" zurückführen müsste? Im Grunde ist eine solche
Rückkehr ja bereits eingeleitet: so durch das grundsätzliche Ge'A'altverbot in
Art. 2 Nr. 4 Charta der Vereinten Nationen, nach deren Art. 51 die Abwehr
eines bewaffneten Angriffs nur "zur individuellen oder kollektiven Selbst-
verteidigung" erfolgen darf (und selbst dieses "naturgegebene Recht" weite-
ren formalen Beschränkungen unterliegt),52 wie auch durch die vom huma-
nitären Völkerrecht entwickelten Tötungseinschränkungen gegenüber

45 BGHSt 49, 189 (193); im gleichen Sinne hatte bereits BGHSt 23, 103 (106) in Bezug auf
Kriegsrepressalien von (keinen) "dem Kriegsgebrauch entsprechenden - rechtmäßigen -
Kampfhandlungen" gesprochen. Vgl. aber dazu auch unten zu Fn. 61.
46 OLG Dresden SJZ 1947, Sp. 520 (521).
47 Botheo (Fn. 36), S. 686; im gleichen Sinne wohl auch Zimmermann/Geiß (Fn. 13), § 8
VStGB, Rn. 248 (S. 701).
48 Werle (Fn. 14), S. 378 bzw. SafferlinglKirsch (Fn. 13), S. 85, wobei dies offenbar aus der
zuvor festgestellten grundsätzlichen Erlaubtheit der Tötung feindlicher Kombattanten abgelei-
tet wird (vgl. aber dazu auch unten zu Fn. 61). Obgleich eine solche Begründung letztlich nicht
selbst akzeptierend, findet sich auch bei Wo(ff(Fn. 25), S. 12 unter Berufung auf Carl SchmU!
für den Kriegsfall als "Ausnahmezustand" eine Aufhebung des Straf:rechtssystems erwogen.
49 Safferling/Kirsch (Fn. 13), S. 82. Ähnlich ist im Interview von Michael Bothe ("Die Tö-
tung von Zivilisten muss hingenommen werden", in: Berliner Zeitung vom 10.02.2010) von
"Privileg der Kombattanten" die Rede.
50 Wie von Dinstein National and Collective Self-defense, in: Cherif BassiounilNanda
(Hrsg.), A Treatise on International Criminal Law, Vol. I, 1973, S. 273-286 (273) moniert.
51 Wie von Dahm/Delbrück/Wolfrum (Fn. 13), S. 818 f. beschrieben.
52 Näher dazu Bothe (Fn. 36), S. 652 ff.; Ipsen (Fn. 21), S. 1072 ff., 1086 ff.
474 Albin Eser

Zivilpersonen und teilweise auch gegenüber Kombattanten. 53 Doch selbst


durch solche speziell-partiellen Tötungsverbote bleibt eine militärische
Lizenz zum Töten als solche vorausgesetzt und wird gewissermaßen ledig-
lich vom Rand her eingeschränkt, während die vorausliegende Frage nach
dem tieferen Grund für die Suspendierung des grundsätzlichen Tötungsver-
bots fur den Kriegsfall unbeantwortet bleibt. Das ist nicht zuletzt deshalb
unbefriedigend, weil ohne Nennung eines Suspendierungsgrundes auch die
Grenzen einer Ausnahme vom grundsätzlichen Tötungsverbot unbestimm-
bar bleiben: Wird etwa eine kriegerische Lizenz zum Töten als Ausprägung
grenzüberschreitungsberechtigender Souveränität verstanden, dann wird sie
tendenziell weitergehen (wie beispielsweise bis hin zu territorialen Expan-
sionsansprüchen oder zur Durchsetzung von wirtschaftlichen Energieinte-
ressen), als wenn das grundsätzliche Tötungsverbot nicht schon durch die
bloße Existenz eines Krieges aufgehoben wird, sondern nur weil und soweit
er zu ihrerseits legitimen Interessen ausgelöst und durchgeführt wird.
Auch mit der gelegentlichen Berufung auf "Sozialadäquanz" lässt sich
Tötung im Krieg schwerlich als rechtmäßig begründen und gleichzeitig
begrenzen. Nach dieser Rechtsfigur sollen als sozialadäquat "alle Betäti-
gungen, die sich innerhalb des Rahmens der geschichtlich gewordenen
sozialethischen Ordnungen des Gemeinschaftslebens bewegen", auch wenn
man sie dem Wortlaut nach einen Tatbestand subsumieren könnte, gleich-
wohl nicht dem Deliktstatbestand unterfallen. 54 Da dies auch auf kriegsmä-
ßige Tötungen zutreffe, seien diese keine Tötungen im Sinne der §§ 211
ff. 55 Zwar geht dieser Ansatz insofern weniger weit, als Tötung im Krieg
nicht schon von vornherein aus dem Tötungsverbot ausgegrenzt wird, son-
dern - in strafrechtsdogmatischen Kategorien gesprochen - zunächst einmal
durchaus vom Tatbestand der Tötungsdelikte umfasst erscheint. Auch mag

53 Wie insbesondere aufgrund der Haager Landkriegsordnung von 1907 und dem IV. Genfer
Abkommen mit seinen Zusatzprotokollen von 1949~ vgl. im Einzelnen Ipsen (Fn. 21), S. 1241
ff., 1251 ff.
54 Wie beispielhaft von Webe! Der Allgemeine Teil des deutschen Strafrechts, 1940, S. 33
formuliert.
55 Wetze! a.a.O., S. 34~ geradezu sarkastisch in diesem Sinne vgl. bereits FVebe!s Studien
zum System des Strafrechts, in: ZStW 58 (1939), 491-566 (527), wonach "der Gedanke, dass
das Heer im Kampf um Leben und Tod lauter strafrechtliche Tatbestände - wenn auch recht-
mäßig - verwirkliche, zu absurd, zu papieren konstruiert (sei), als dass er richtig sein könnte"
(vgl. aber dazu auch unten Fn. 59). Im gleichen Sinne für Behandlung tödlicher Kriegshand-
lungen als "sozialadäquat" Niethammer, in: 1. v. Olshausen's Kommentar zum StGB, 12. Aufl.
1942, Vorbem. 4 vor § 51, sowie selbst noch in den 50er Jahren von Weber Negative Tatbe-
standsmerkmale, in: Bockelmann u.a. (Hrsg.), FS Mezger, 1954, S. 183-192 (186, 188)~
Schaffstein Soziale Adäquanz und Tatbestandslehre, ZStW 72 (1960), 369-396 (371)~ ferner
zeitweilig auch Mayer Der Verbrechensbegriff, in: Deutsches Strafrecht 1938, S. 73-107 (97)~
vgl. aber dazu auch unten Fn. 60.
Rechtmäßige Tötung im Krieg: zur Frag\vürdigkeit eines Tabus 475

die verbrechenssystematische Frage dahinstehen, ob durch "Sozialadä-


quanz" bereits die Tatbestandsmäßigkeit ausgeschlossen wird oder ihr nur
rechtfertigende Wirkung beizulegen ist. 56 Was jedoch im vorliegenden
Zusammenhang schon sozialpsychologisch gegen die Heranziehung dieser
Rechtsfigur spricht, ist der damit verbundene Eindruck von Vemiedlichung,
kann es doch bei Sozialadäquanz eigentlich nur um die Ausschließung von
geringfügigen Rechtsgutsbeeinträchtigungen oder Interessenkollisionen
gehen: Davon aber kann bei gezielter Tötung von Menschen schlechter-
dings nicht die Rede sein. 57 Auch wenn das für Sozialadäquanz wesentliche
Kriterium der "Üblichkeit" des Verhaltens angesichts erschreckend zahlrei-
cher Todesopfer in stets gegenwärtigen Kriegen und bewaffneten Konflik-
ten bedauerlicherweise erfüllt sein mag, wird man bei Tötung von Men-
schen schwerlich von "völlig sozial-normal" und "sozial angemessen"
sprechen können, wie dies im Sinne allgemeiner "gesellschaftlicher Billi-
gung" als weiterem Kriterium sozialer Adäquanz erforderlich ist58 ; dies
umso weniger, je mehr man sich über die direkte Konfrontation von Soldat
gegen Soldat hinaus auch in die "kollaterale" Tötung von Zivilpersonen
hineinbegibt. 59 Vor allem aber soll auch um des allgemeinen Wertbewusst-
seins willen "der Soldat wissen, dass er tötet" und sich dabei "bewusst blei-
ben, dass es sich um schwerwiegende und schmerzvolle Vorgänge handelt,
die besonderer Rechtfertigung bedürfen". 60
Damit ist die Position erreicht, die sich, sofern überhaupt ein Legitimati-
onsbedürfnis für tödliche Kriegaktivitäten angesprochen wird, heute wohl
vorwiegend vertreten findet. Danach erfüllen auch Tötungen im Krieg oder
in vergleichbaren bewaffneten Konflikten, gleich ob Kombattanten oder
Zivilpersonen betreffend, grundsätzlich den Tatbestand eines Tötungsde-
likts, so dass sie, um nicht strafrechtliche verfolgt zu werden, der Rechtfer-

56 Vgl. Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006, S. 295 f.


57 Vgl. Eser "Sozialadäquanz": eine überflüssige oder unverzichtbare Rechtsfigur? in:
Schünemann u.a. (Hrsg.), FS Roxin, 2001, S. 199-212 (211).
58 Vgl. Wetze! Das neue Bild des Strafrechtssystems, 1952, S. 20.
59 Wie schwer dabei die Grenze zwischen Recht und Unrecht zu ziehen ist und schon des-
halb nicht von kaum bestimmbaren gesellschaftlichen Einschätzungen abhängen kann, zeigt
das zähe diplomatische Ringen um Ausweitung des humanitären Schutzes und dementspre-
chender Einschränkung von Tötungslizenzen. Offenbar auch aus diesem Grund gegen Recht-
fertigung kriegsbedingter Tötungshandlungen mittels "Sozialadäquanz" Würtenberger Zur
Rechtswidrigkeit der Kriegsverbrechen, FS Mezger (Fn. 55), S. 193-212 (195f.), wie auch
bereits Maurach (Fn. 17), S. 21 bzw. Maurach/Schroeder (Fn. 17), S. 37.
60 So eindrucksvoll Mayer Strafrecht. Allgemeiner Teil, 1953, S. 107, ohne allerdings dabei
die Abkehr von seiner früheren gegenteiligen Meinung (vgI. o. Fn. 55) offen zu legen. Gleiches
gilt auch für Webe!, bei dem seit seinem Das deutsche Strafrecht, 1947, S. 36, wie von Hirsch
(Fn. 61), S. 88 festgestellt, die kriegs mäßige Tötung nicht mehr unter den Beispielen für Sozia-
ladäquanz zu finden ist.
476 Albin Eser

tigung (oder eines sonstigen StraffreisteIlungsgrundes) bedürfen. 61 Woraus


sich aber eine Rechtfertigung näherhin begründen lässt, dazu gibt es, sofern
überhaupt - und sei es auch ohne verbrechenssystematische Einordnung -
artikuliert, nur spärliche und uneinheitliche Aussagen.
Vergleichsweise am häufigsten wird die Rechtfertigung tödlicher Kriegs-
handlungen schlicht aus dem Kriegs(völker)recht abgeleitet. 62 Doch so
wenig dies nach traditioneller Selbstverständlichkeitseinstellung überra-
schen kann, so wenig vermag es zu befriedigen. Nicht als ob sich nicht auch
aus dem Völkerecht - ähnlich wie aus innerstaatlichem Zivil- und Polizei-
recht - Rechtfertigungsgründe ergeben könnten. 63 Doch wie schon zuvor
dargetan, ist mit dem Verweis auf VölkelTecht lediglich eine Rechtferti-
gungsquelle benannt, ohne dass aber damit schon begründet wäre, warum
man - beispielsweise - gegnerische KOlnbattanten selbst dann soll töten
dürfen, wenn diese sich eines aufgezwungenen Angriffskriegs zu erwehren
haben und/oder sich nicht ihrerseits gerade in einer Angriffsposition befin-
den, ganz zu sch\veigen von tödlichen "Kollateralschäden", die von der
Zivilbevölkerung sollen klaglos hinzunehmen seien.
Um die materiale Begründungslücke zu fullen, \vird gelegentlich auch
versucht, die Rechtfertigung militärischer Tötungsaktionen aus A-mtsrechten
oder Dienstpflichten herzuleiten. 64 Doch auch auf diesem Wege ist nicht

61 In diesem Sinne eines "Rechtfertigungsgrundes des Kriegsrechts" (so OLG Kiel SJZ
1947, Sp. 325 f) - mehr oder weniger explizit und ohne Anspruch auf vollständige Erfassung
- BGHSt 23, 103 (107); Arnold in: Triffterer (Fn. 6), Art. 8 Rn. 58 (S. 338 f); Cassese (Fn.
20), S. 219; GössellDölling (Fn. 12), S. 39; Hirsch Soziale Adäquanz und Unrechtslehre, ZStW
74 (1962), 87-135 (109 f.); Jähnke (Fn. 18); Lackner/Kühl (Fn. 13); Maurach/Schroeder
(Fn. 17), S. 37; Murswiek (Fn. 9), Art. 2 Rn. 172; Rönnau (Fn. 7), Vor § 32 Rn. 302; Saffer-
fing/Kirsch (Fn. 13), S. 85 (obgleich freilich einerseits von Privileg und Aufhebung des Tö-
tungsverbots sprechend [vgI. oben zu Fn. 49] bzw. andererseits auch schon den Ausschluss der
Strafbarkeit im Rahmen der objektiven Zurechnung erwägend [So 85 Anm. 61]); Schmidhäuser
(Fn. 13), S. 316 f; Schneider (Fn. 12), § 212 Rn. 53; Schwenck (Fn. 12), S. 97;
Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 19), Vor § 32 Rn. 91 (unter Hinweis auf Maurach); Wolff
(Fn.25), S. 12 f; Würtenberger (Fn. 59), S. 193-212 (196); Zöller Grausame Tötung oder
völkerrechtlich gedeckte Kriegsrepressalie?, Jura 2005, 552-561 (557).
62 Das gilt aus dem Kreis der in der vorangehenden Fn.61 Genannten - jeweils a.a.O. - für
Gössel/Dölling, Hirsc.h, Maurach-Schroeder, Murswiek, Rönnau, Schmidhäuser, Schneider,
Lenckner/Sternberg-Lieben, Würtenberger und Zöller, ferner für Lackner-Kühl, Schwenck und
Wolff, bei denen jedoch auch noch auf Amtsrechte Bezug genonlmen wird (vgI. zu Fn. 64),
sowie für Arnold und Cassese, bei denen auch noch Notstandsaspekte herangezogen werden
(vgI. zu Fn. 65).
63 Wie namentlich von Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 19), Vor § 32 Rn. 91 und Rönnau
(Fn. 7), Vor § 32 Rn. 302 hervorgehoben und schon von Würtenberger (Fn. 59) zu verschiede-
nen Rechtsquellen entfaltet.
64 Neben den nur kursorischen Bezugnahmen darauf bei Jescheck/Weigend (Fn. 15), S. 391,
Lackner/Kühl (Fn. 13), Schwenck (Fn. 13), S. 97 und rVoljf (Fn. 25), der von einem "internati-
onalen Amtsrecht" spricht (S. 19), ist insbesondere hinzuweisen auf OLG Kiel SJZ 1947 Sp.
Rechtmäßige Tötung im Krieg: zur Fragwürdigkeit eines Tabus 477

weit zu kommen. Ganz abgesehen davon, dass sich damit nur tödliche
Kriegshandlungen staatlich einberufener Krieger, nicht aber von Kämpfern
in sonstigen bewaffneten Konflikten erfassen ließen, lassen sich selbst staat-
lich verliehene Tötungslizenzen nicht rein formal aus der Hoheitsgewalt
ableiten, sondern bedürfen ihrerseits einer materialen Legitimierung. Zudem
wäre fur solche Befugnisse jedenfalls insoweit eine völkerrechtliche Grund-
lage erforderlich, als sie territoriale Souveränitätsgrenzen überschreiten.
Vergleichsweise selten finden sich Notstands- oder vergleichbare Güter-
abwägungsaspekte zur Legitimierung von Tötung im Krieg herangezogen. 65
Dies ist umso erstaunlicher, als doch gerade von Erforderlichkeits- und
Verhältnismässigkeitskriterien am ehesten so"vohl eine Begründung wie
zugleich auch eine Begrenzung tödlicher Kriegshandlungen zu erwarten
wäre. Oder meint man, daraus zu befürchtenden Anforderungen bereits
durch das Verbot bestimmter kriegerischer Methoden und Mittel ausrei-
chend Rechnung getragen zu haben? Aber würde dies nicht wiederum zu
dem fragwürdigen Schluss führen, Töten schlicht für erlaubt zu halten,
soweit es nicht ausdrücklich verboten ist?
Auch auf Notwehr- oder vergleichbare Verteidigungsaspekte wird zur
Rechtfertigung tödlicher Kriegshandlungen kaum zurückgegriffen. 66 Das ist
ebenfalls verwunderlich, nachdem das völkerrechtliche Gewaltverbot doch
gerade bei Wahrnehmung des "naturgegebenen Rechts zur kollektiven und
individuellen Selbstverteidigung" überschritten werden darf. 67 Oder fürchtet
man, dass sich damit tödliche Kriegshandlungen von Kombattanten eines
Angriffsstaates nicht mehr legitimieren ließen und auch "Kollateralschä-
den" unter der Zivilbevölkerung, wie sie in alarmierendem Übermaß zu
beobachten sind, schwerer zu begründen wären?

323 (329), wonach "die Amtstätigkeit eines Vollzugsbeamten [denen auch Soldaten zugerech-
net werden] bei pflichtmäßiger Vollstreckung immer rechtmäßig (sei)"; noch deutlicher Dreier
(Fn. 10), S. 262, wonach die Tötung feindlicher Soldaten nicht als kriminelles Delikt, sondern
als "Erfüllung einer militärischen Pflicht" eingestuft wird. Wohl im gleichen Sinne US Manual
for Courts Martial (1951), para. 197 (b), wonach "homicide committed in the proper perform-
ance of a legal duty is justifiable" (zitiert nach Cassese [Fn. 20], S. 219).
65 Immerhin vergleichsweise eingehend dazu Cassese (Fn. 20), S. 219 f, ferner ansatzweise
Arnold (Fn. 13), Art. 8 Rn. 58 (S. 339), indem die Rechtfertigung nach Kriegsrecht mit den
Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der militärischen Notwendigkeit in Verbindung
gebracht wird. Gleichermaßen muss nach OLG Kiel SJZ 1947, Sp. 326 neben Beachtung der
Kriegsregeln die Tat auch "durch militärische Notwendigkeiten geboten" sein.
66 Immerhin sind dahingehende Anklänge bei Dinstein (Fn. 50), S. 274, Kremit=er (Fn. 37),
S. 204 fund Verdross/Simma (Fn. 15), S. 901 f zu finden.
67 Vgl. zu Art. 51 Charta der Vereinten Nationen oben zu Fn. 52.
478 Albin Eser

IV. Ausblick
Das mag des Fragens genug sein, um darzutun, dass aufgrund der weit-
verbreiteten Selbstverständlichkeit, mit der Töten im Krieg als rechtmäßig
hingenommen wird, wichtige Fragen unbeantwortet bleiben und daraus
auch manche Rat- und Fassungslosigkeit zu erklären ist, mit der in der Öf-
fentlichkeit auf die fatalen Folgen aktueller bewaffneter Auseinanderset-
zungen reagiert wird. Konkrete Antworten darauf sollten und konnten hier
nicht gegeben werden; denn wie hoffentlich deutlich geworden ist, geht es
mir zunächst einmal buchstäblich prinzipiell um die grundlegende und
maßgebende Kernfrage: das Töten itn Krieg als solches. Statt sich allein um
seine Eingrenzung zu bemühen, wie das gewissermaßen vom Rand her
durch Verbote geschieht, bedarf zu allererst seine Erlaubtheit einer Begrün-
dung.
Wenn man diese gewohnheitsmäßig gleichsam als "geschenkt" ansieht, so
wird das sicherlich nicht zuletzt aus der menschheitsgeschichtlichen Erfah-
rung von der schicksalhaften Unabwendbarkeit von Kriegen und damit
unvermeidlich verbundener Opfer an Menschenleben zu erklären sein. Aber
könnte die daraus als "selbstverständlich" gefolgerte Rechtmäßigkeit tödli-
cher Kriegshandlungen nicht auch zu wohlfeilem Selbstschutz gegen Straf-
verfolgung von fragwürdigen 'rötungsaktionen dienen? Solange im Krieg
alles als erlaubt gilt, was nicht verboten ist, befindet sich der Täter auf der
besseren Seite: Er braucht lediglich das Verbotensein seines Tuns zu
bestreiten, ohne seine Erlaubtheit positiv begründen zu müssen - eine be-
weislastmäßig zweifellos für ihn günstigere \'erteidigungsposition. Könnte
es also - wie vor allem um eines möglichst großen militärischen Hand-
lungsspielraums willen ~ sogar im politischen Interesse liegen, sich weniger
um die positive Begründung rechtmäßiger Tötung im Krieg zu bemühen, als
sich allenfalls Einschränkungen vorausgesetzter Rechtmäßigkeit durch
partielle Verbote abringen zu lassen?
Wenn ich diese Grundeinstellung in Frage stellen möchte, dann nicht et-
wa deshalb, weil ich so weltfremd wäre, Tötungen im Krieg generell die
Rechtmäßigkeit vorenthalten zu wollen. Ebenso, um nur ein nahe liegendes
Beispiel zu nennen, wie sich eine Privatperson gegen einen rechts\vidrigen
Angriff erforderlichenfalls mit tödlicher Folge muss verteidigen dürfen,
muss Gleiches auch für ein angegriffenes Land und für die zu seiner Vertei-
digung eingesetzten Soldaten gerechtfel1igt sein. Wohl aber müssen solche
Berechtigungen zur Tötung von Menschen begründet und in ihren Voraus-
setzungen und Grenzen umschrieben sein. Sich dafür nicht einfach negativ
mit dem Verbot bestimmter Kriegshandlungen zu begnügen, sondern er-
laubtes Töten im Krieg positiv zu bestimmen, wäre - kurz skizziert - in
dreifacher Hinsicht von besonderer Bedeutung.
Rechtmäßige Tötung im Krieg: zur Fragwürdigkeit eines Tabus 479

Würde - erstens - Krieg nicht schon als solcher zum Töten berechtigen,
dann müssten schon dem Grunde nach die Interessen bestimmt und gewich-
tet werden, für deren Verteidigung und Durchsetzung grundsätzlich
menschliches Leben geopfert werden darf: sei es auf Seiten des Gegners
oder auch hinsichtlich der den eigenen Kämpfern drohenden Lebensgefahr.
Dann würden - abgesehen von klaren Fällen aufgezwungener Verteidigung
gegen einen völkerrechtliche Gewaltverbote missachtenden Angriffskrieg -
nicht nur bewaffnete Konflikte um wirtschaftliche Interessen oder ethnische
Säuberungsaktionen fragwürdig, vielmehr würde dann vielleicht auch man-
che kriegerische Auseinandersetzung, die sich die Rettung "nationaler Eh-
re" aufs Panier geschrieben hat, als rational "grundlos" entlarvt. Gewiss
könnte dies neue Diskussionen um den "gerechten Krieg" auslösen. Dies
wird aber ohnehin unvermeidlich sein, je mehr die Anwendung militärischer
Gewalt selbstherrlicher Souveränität entzogen und in den Dienst humanitä-
rer Rechte gestellt wird.
Durch Benennung eines legitimierenden Grundes würden sich - zweitens
- auch die Voraussetzungen und Grenzen rechtmäßigen Tötens besser
bestimmen und beschreiben lassen. Ist das Recht zur Tötung fremder und
zur Opferung eigener Kombattanten nicht einfach aus der staatlichen Sou-
veränität abzuleiten, dann bedarf es anderer Rechtfertigungskonzepte, wie
besonders nahe liegend in Anlehnung an Notwehr- und Notstandsmodelle.
Auch wenn diese wie auch möglicherweise andere Rechtfertigungsmaximen
im Blick auf individuelle Konflikte ent\vickelt sein mögen, könnten darin
enthaltene Verteidigungs- und Abwägungskriterien wie auch sonstige -
positive oder negative - Legitimierungsaspekte unter Berücksichtigung der
Besonderheiten kriegerischer Auseinandersetzungen zur Bestimmung von
Voraussetzungen und Grenzen rechtmäßigen Tötens herangezogen werden.
Das gilt nicht zuletzt auch für die Tötung von unbeteiligten Zivilpersonen,
deren Rechtfertigung nach Grund und Grenzen noch einer wirklich befrie-
digenden Lösung harrt.68
Wenn positiv bestimmt, dann könnte - drittens - auch einem formalen
rechtsstaatlichen Erfordernis Rechnung getragen werden. Nimmt man ver-
fassungsrechtlich ernst, dass staatliche Eingriffe in das Grundrecht Leben
einer gesetzlichen Eingriffsgrundlage bedürfen,69 dann kann rur das Recht
zu Töten schwerlich genügen, lediglich negativ bestimmte Tötungsmodali-

68 Vgl. Oeter (Fn. 34), S. 83 ff.; SchaUer Humanitäres Völkerrecht und nichtstaatliche Ge-
waltakteure, 2007; Prantl Wie viel kostet ein toter Afghane?, in: Süddeutsche Zeitung vom
10.12.2009.
69 Zu den damit verbundenen Problemen - nicht zuletzt bei Auslandseinsätzen vgl. insbe-
sondere den Meinungsüberblick von Wiefelspüt= (Fn. 9).
480 Albin Eser

täten durch Verbot auszugrenzen: Dann bedarf das Töten als solches einer
positiven gesetzesförmigen Rechtfertigung. 70
Auch wenn in diesem Beitrag mehr Fragen gestellt als bereits Antworten
gegeben werden konnten, so hoffe ich doch, auf ein Legitimitätsproblem
aufmerksam gemacht zu haben, über das bisher mit allzu großer Selbstver-
ständlichkeit zur Tagesordnung übergegangen wird. Das ist umso bedenkli-
cher, wenn durch Ausweitung des Kriegsbegriffs auch daraus abgeleitete
"Lizenzen zum Töten" legitimiert werden sollen. Dazu kommt einem nicht
nur der - an die Stelle ordentlicher Strafverfahren tretende - "War on Ter-
ror" in den Sinn,?1 auch in Kategorien von "Feindstrafrecht" zu reden, lässt
Unheilvolles ahnen.
Eine solche Thematik ist gewiss nicht etwas, womit man einen Jubilar zu
seinem Geburtsfest beglücken könnte. Nachdem ich jedoch um das ein-
gangs geschilderte Engagement von Heinz Schöch rur den Schutz des Le-
bens weiß, darf ich hoffen, mit meinen dem gleichen Zweck dienenden
Überlegungen sein Interesse zu finden - zugleich in dankbarer Erinnerung
an freundschaftliche Begegnungen während gemeinsamer Tübinger Zeit
und auch weiterer verschiedenartiger Zusammenarbeit, wie nicht zuletzt
aufgrund seiner langjährigen Mitwirkung im Fachbeirat des Max-Planck-
Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg.

70 Grundlegend in diesem Sinne auch Yausif Die extraterritoriale Geltung der Grundrechte
bei der Ausübung deutscher Staatsgewalt im Ausland, 2007, S. 166 ff., 188, 212 ff.
71 Mit den damit verbundenen Unklarheiten und Missbrauchsmöglichkeiten eindringlich
beschrieben von Wiec:;orek Unrechtmäßige Kombattanten und humanitäres Völkerrecht, 2005,
S. 162 ff.; vgl. auch Waechter Polizeirecht und Kriegsrecht, JZ 2007, 261-268.
Überlegungen zur Suizidrechtsprechung des
Bundesgerichtshofes

KLAUS KUTZER

I. Einleitung
Meine Überlegungen werden sich nur auf den so genannten freiverant-
wortlichen Suizid beziehen, ohne dass der Frage nachgegangen werden soll,
welches die Kriterien für einen freiverantwortlichen Suizid sind. Dass es ihn
gibt, kann ernsthaft nicht bestritten werden, auch wenn den Psychiatern
Recht zu geben ist, dass in den meisten Fällen eine krankhafte oder krank-
heitswertige Motivation zugrunde liegt. In diesen Fällen braucht der Le-
bensmüde unsere Hilfe. Wer sie ihm verweigert, obwohl möglich und zu-
mutbar, muss in einem sozialen, der Humanität und Solidarität
verpflichteten Rechtsstaat äußerstenfalls mit den Mitteln des Strafrechts
dazu angehalten werden. l Anders fällt jedoch die ethische und rechtliche
Beurteilung aus, wenn der Betroffene frei von mentalen Krankheitseinflüs-
sen in einem längeren Willensbildungsprozess nach Abwägung möglicher
Alternativen beschließt, sein Leben zu beenden (sog. Bilanzsuizid). Einen
solchen stabilen Suizidwillen finden wir häufig bei alten schwerkranken
Menschen, die ohne Hoffnung auf Besserung ihres ihnen unerträglich er-
scheinenden Leidens es ablehnen, ihr irreversibles Siechtum als bloßes
Objekt fremder Pflege und unter (vermeintlichem) Verlust ihrer personalen
Würde bis zum Ende miterleben zu müssen. Sie wollen ihr Leiden mög-
lichst schmerzlos und unter ärztlichem Beistand und nicht durch brachiale
Methoden wie Erhängen oder Überfahrenwerden verkürzen. Die Selbsttö-
tungsrate liegt bei Senioren in Deutschland etwa doppelt so hoch wie beim
Rest der Bevölkerung. 2 Da mit der Alterung der Bevölkerung die Zahl sol-
cher Suizidwilliger zunehmen wird, gewinnt die Frage nach der rechtlichen
Zulässigkeit ärztlich assistierter Suizide steigende Bedeutung. Diese Sach-
lage hat die Parlamente in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg ver-

1 Dazu Schöch Die Verantwortlichkeit des Klinikpersonals aus strafrechtlicher Sicht, in:
Wolfslast/Schmidt (Hrsg.) Suizid und Suizidversuch, 2005, S. 163 ff.
2 DÄrztebl. online 14.6.2006. Die Suizidraten steigen bei Männern wie Frauen mit dem Al-
ter überproportional an~ Net= in: Wolfslast/Schmidt a.a.O., S. 81, 82.
482 Klaus Kutzer

anlasst, die Euthanasie und den ärztlich assistierten Suizid in Ausnahmefäl-


len zu legalisieren. Dem sind andere Länder in Europa nicht gefolgt. Die
Schweiz lässt aber das öffentliche Wirken von Sterbehilfeorganisationen
(Exit, Dignitas) zu, die bei schwerer Krankheit einen freiverantwortlichen
Suizid mit Hilfe ärztlich verschriebener Medikamente ermöglichen. Dies ist
nach Art. 115 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs dann straflos möglich,
wenn die Suizidhilfe nicht aus "selbstsüchtigen Beweggründen" geleistet
wird. Da auch Deutsche diese Hilfe in Anspruch nehmen, ist es nicht ver-
wunderlich, dass bei uns die öffentliche und fachwissenschaftliche Diskus-
sion dieses Themas intensiver wird. Ich will mich vornehmlich auf die Erör-
terung der strafrechtlichen Rechtslage beschränken, wie sie sich aus der
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ergibt. Sie steht in aller Regel
einem ärztlich assistierten Suizid entgegen, jedenfalls wenn der Arzt den
Suizidenten bis zum Eintritt des Todes begleitet.
Der 66. Deutsche Juristentag hat eine Änderung der Suizidrechtsprechung
des Bundesgerichtshofs gefordert. Dessen strafrechtliche Abteilung hat
unter der verdienstvollen Leitung des Jubilars mit überwältigender Mehr-
heit3 Straffreiheit für denjenigen gefordert, der in Kenntnis der Freiverant-
wortlichkeit einer Selbsttötung diese nicht hindert oder eine nachträgliche
Rettung unterlässt. Diese vom Jubilar maßgeblich mit geprägten Beschlüsse
sollen Anlass sein, einige Überlegungen zur Suizidrechtsprechung des Bun-
desgerichtshofs anzustellen. Dabei komme ich zum Teil zu anderen Ergeb-
nissen als ich sie früher in Verteidigung der BGH-Rechtsprechung vertreten
habe. 4 Ich werde weitgehend auf Literaturnachweise verzichten. Diese hat
Dölling nahezu vollständig und auf neuestern Stand in der Festschrift für
Manfred Maiwald zum 75. Geburtstag zusammengetragen. 5

11. Zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs


1. Der Suizid als Unglücksfall im Sinne der Strafvorschrift über
unterlassene Hilfeleistung
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hatte in dem Urteil vom 12.
Februar 1952 eine Selbsttötung nur dann als Unglücksfall im Sinne der

3 Mit einer Mehrheit von 101 : 10 : 6 bei Nichtverhinderung des Suizids und einer Mehrheit
von 97 : 14 : 8 bei Unterlassen der nachträglicher Rettung~ Verhandlungen des 66. Deutschen
Juristentages Stuttgart 2006, Bd. II/2 N, S. 216 f.
4 Kutzer MDR 1985, 710 ff.
5 Dölling FS Maiwald, 2010, S. 119 ff. setzt sich u.a. überzeugend mit den in der Lit. erör-
terten Kriterien für die Freiverantwortlichkeit des Suizids auseinander.
Überlegungen zur Suizidrechtsprechung des Bundesgerichtshofes 483

Strafvorschrift über unterlassene Hilfeleistung 6 angesehen, wenn besondere


Umstände wie z.B. die Geisteskrankheit des Suizidenten gegeben sind.
Seiner damaligen Meinung nach war ein Unglücksfall begrifflich und
sprachlich ausgeschlossen, solange das verantwortliche Handeln des
Selbstmörders die Lebensgefahr im Wesentlichen so gestaltet, wie er es sich
vorgestellt hat und solange sein Selbsttötungswille fortbesteht. 7 Der Große
Senat rur Strafsachen hat diese begriffsjuristische Begründung zurückge-
wiesen und u.a. ausgefuhrt: 8 "Da das Sittengesetz jeden Selbstmord - von
äußersten Ausnahmefällen vielleicht abgesehen - streng missbilligt, da
niemand selbstherrlich über sein eigenes Leben verfugen und sich den Tod
geben darf, kann das Recht nicht anerkennen, dass die Hilfepflicht des Drit-
ten hinter dem sittlich missbilligten Willen des Selbstmörders zu seinem
eigenen Tod zurückzustehen habe."
Die Begründungen beider Senate überzeugen nicht. Warum es, wie der 1.
Strafsenat meint, ausgeschlossen sein soll, eine durch einen Suizidversuch
entstandene ernsthafte Gefahrenlage, die noch abwendbar erscheint, sprach-
lich und begrifflich als zur Hilfe verpflichtenden Unglücksfall zu bezeich-
nen, bleibt unklar. Natürlich ist, von gravierenden existentiellen Ausnahme-
situationen einmal abgesehen, jeder gelungene Suizid ein Unglücksfall.
Wenn ein Mensch sich das I.eben nimmt, ist dies nicht nur ethisch, sondern
auch rechtlich ein Unglück, da ein grundrechtlich geschütztes Leben vor-
sätzlich zerstört wird. Dies gilt unabhängig davon, ob der Suizident freiver-
antwortlich handelt oder nicht. Ist somit auch der freiverantwortliche Sui-
zidversuch ein Unglücksfall, so e~scheint doch fraglich, ob das weitere
Tatbestandsmerkmal der Erforderlichkeit und/oder der Zumütbarkeit der
Hilfeleistung gegeben ist oder entfällt, weil der Suizidentschluss respektiert
werden muss. Fehl geht jedenfalls die Ansicht des Großen. Senats für Straf-
sachen, dass das Sittengesetz ein Einschreiten erfordere, weil niemand das
Recht habe, über sein Leben zu verfugen. Einen solchen Inhalt des Sittenge-
setzes behauptet er, ohne dies rational nachprüfbar zu begründen. Dies er-
scheint schon angesichts der in unserer Kultur über zweitausend Jahre an-
haltenden kontroversen Diskussion über die ethische und moralische
Bewertung des Suizids 9 mehr als erstaunlich. Welill das Sittengesetz den
behaupteten Inhalt hätte, würden diejenigen Staaten, die in bestimmten
Fällen den ärztlich assistierten Suizid erlauben,lO dagegen verstoßen oder

6 Jetzt: § 323 c StGB.


7BGHSt2, 150, 151.
8 BGHSt 6, 147, 153.
9 Von Engelhardt in: Wolfslast/Schmidt (Fn. 1), S. 11 ff.
10 Niederlande, Belgien, Luxemburg, Oregon, Schweiz. Erst kürzlich hat auch der Oberste
Gerichtshof des US-Bundesstaates Montana die medizinische Hilfe beim Suizid für legal
angesehen, DÄrztebl. online 4.1.2010.
484 Klaus Kutzer

sie hätten Sittengesetze mit anderem Inhalt. Im Übrigen stimmt es nicht,


dass niemand über das eigene Leben selbstherrlich verfügen dürfe. Schon
damals war in der Rechtsprechung anerkannt, dass jeder ärztliche Eingriff
der Einwilligung des Patienten bedarf, also auch eine vital indizierte Indika-
tion hierfür nicht ausreicht. 11 Nur wenige Jahre nach der Entscheidung des
Großen Senats für Strafsachen hat der 4. Strafsenat festgestellt, dass das in
Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes gewährleistete Recht auf körperliche
Unversehrtheit auch Berücksichtigung bei einem Menschen fordere, der es
ablehne, seine körperliche Unversehrtheit selbst dann preiszugeben, wenn er
dadurch von einem lebensgefährlichen Leiden befreit werde. 12 Jeder einwil-
ligungsfahige Kranke hatte und hat es daher in der Hand, aus welchen
Gründen auch immer, also gewissermaßen selbstherrlich, eine lebensretten-
de Behandlung zu untersagen und so über das eigene Leben zu verfügen. 13
Auch das Argument der Unverfügbarkeit des Lebens,14 dessen zeitliches
Ende unserem Willen entzogen sei, greift nicht; denn dann wäre auch die
mit den Mitteln der modemen Medizin ermöglichte Lebensverlängerung
über bisherige Grenzen hinaus von der Unverfügbarkeit betroffen, eine
Folgerung, die niemand ziehen will.
Kehren wird also von der unergiebigen metaphysischen und naturrechtli-
chen Argumentation des Großen Senats für Strafsachen auf die Ebene ratio-
nal begründeter Rettungspflichten in einem liberalen und sozialen Rechts-
staat zurück. In diesem Sinn bemüht sich 30 Jahre später der 3. Strafsenat in
dem sog. Wittig- oder Peterle-Fall l5 zu argumentieren, indem er das damals
vom Großen Senat fur richtig gehaltene Ergebnis mit den Worten rechtfer-
tigt: "An dem Ergebnis jener Entscheidung ist jedenfalls festzuhalten. Denn
wenn § 323 c StGB seine dem solidarischen Lebensschutz dienende Funkti-
on auch in Selbstmordfällen erfüllen soll, kann die jedermann treffende
allgemeine Hilfspflicht nicht davon abhängig gemacht werden, ob im kon-
kreten Einzelfall der Selbstmörder aufgrund eines frei verantwortlich gefass-
ten oder eines auf Willensmängeln beruhenden Tatentschlusses handelt oder
gehandelt hat. Dies kann innerhalb der kurzen Zeitspanne, die für die unter
Umständen lebensrettende Entscheidung am Unglücksort zur Verfügung
steht, kaum jemand ohne psychiatrisch-psychologische Fachkenntnisse und
ohne sorgfältige Abklärung der äußeren und inneren Motivationsfaktoren
zuverlässig beurteilen." Sosehr diese Begründung fur die Fälle fehlender
Freiverantwortlichkeit überzeugt, so versagt sie doch, wenn für den anwe-

11 RGSt 25,375 ff.


12 BGHSt 11,111,113 f.
13 Vgl. BGHZ 90, 103, 111: Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ... schützt auch eine
Entschließung, die aus medizinischen Gründen unvertretbar erscheint.
14 Religiös: da Geschenk Gottes, vgl. Jens/Küng in: Denkanstöße 2010, 2009, S. 143, 144.
15 BGHSt 32,367, 376.
Überlegungen zur Suizidrechtsprechung des Bundesgerichtshofes 485

senden Dritten die Freiverantwortlichkeit offensichtlich ist, also gewisser-


maßen auf der Hand liegt.
Die grundsätzliche Missachtung des Suizidwillens bei der Begründung
der allgemeinen Rettungspflicht ist deswegen gerechtfertigt, weil er in den
meisten Fällen nicht freiverantwortlich gebildet worden ist und die Ermitt-
lung der die Freiverantwortlichkeit begründenden besonderen Umstände
den Erfolg der Eingriffspflicht gefährden würde. Die Ratio einer solchen
vom 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs begründeten Pflicht ist die Mini-
mierung des Risikos, nicht freiverantwortliche Suizide untätig geschehen zu
lassen, nicht aber die zur Rechtsmaxime erhobene ethische Missbilligung
des Freitods. 16 Wenn der 3. Strafsenat in BGHSt 32,367 mit der von ihm
gegebenen Begründung unverändert an dem vom Großen Senat für Strafsa-
chen erzielten Ergebnis festhalten will, berücksichtigt er nicht die Fälle, in
denen der potentielle Retter erkennen kann und erkennt, dass der Entschluss
zum Suizid ernsthaft, überlegt und nach informierter Abwägung möglicher
Alternativen gefasst und über längere Zeit durchgehalten worden ist. Es gibt
nämlich durchaus Situationen, in denen es "innerhalb der kurzen Zeitspan-
ne, die für die unter Umständen lebensrettende Entscheidung am Unglücks-
ort zur Verfügung steht" ohne weiteres möglich ist, die äußeren und inneren
Motivationsfaktoren zuverlässig zu beurteilen. Das wird beispielsweise für
den behandelnden Arzt oder die nahe Bezugsperson des Suizidenten zutref-
fen, die die subjektiv ausweglose Lage des Suizidenten kennen und die
Bildung seines Tatentschlusses nachvollziehen können, weil sie sie miter-
lebt haben. Es spricht daher sehr viel dafür, bei solchen unbezweifelbaren
"Bilanzsuiziden" die strafbewehrte Erforderlichkeit und/oder Zumutbarkeit
der Hilfeleistung zu verneinen. Auch die christlichen Kirchen verurteilen
den Suizid eines Schwerstkranken nicht in jedem Fall. 17
Schließlich spricht für dieses Ergebnis auch das am 1. September 2009 in
Kraft getretene Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts. 18 Die in
der Praxis übliche Bezeichnung als Patientenverfügungsgesetz verdeckt,
dass in diesem Gesetz auch eine für das allgemeine Medizinrecht bedeutsa-
me Vorschrift über die ärztliche Behandlung bei Fällen enthalten ist, in
denen ein einwilligungsunfähiger Patient keine Patientenverfügung errichtet
hat. Nach § 1901a Abs. 2 BGB n.F. hat der Betreuer bei Fehlen einer Pati-

16 Ku/zer in: Wolfslast/Schmidt (Fn. 1), S. 181,191.


17 Vgl. dazu EKD-Texte Nr. 97, Eine Orientierungshilfe zum Problem der ärztlichen Beihil-
fe zur Selbsttötung~ Gemeinsames Hirtenschreiben der Bischöfe von Freiburg i.Br., Strasbourg
und Basel "Die Herausforderung des Sterbens annehmen" vom Juni 2006 (www.bistum-
basel.ch), S. 7: "Es mag schwerste Krankheitsverläufe und Leidenszustände geben, angesichts
derer ein Arzt nach sorgfaltiger Gewissensprüfung zu dem Urteil kommt, dass er einem Sui-
zidversuch seines Patienten nicht im Wege stehen soll."
18 Vom 29. Juli 2009, BGBI. I, S. 2286.
486 Klaus Kutzer

entenverfügung die Behandlungswünsche und den mutmaßlichen Willen


des Betreuten festzustellen und auf dieser Grundlage zu entscheiden~ ob er
in eine (lebenserhaltende) ärztliche Maßnahme einwilligt. Der mutmaßliche
Wille ist aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln. Zu berücksichti-
gen sind insbesondere frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen,
ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvor-
stellungen des Betreuten. All dies gilt gemäß § 1901 a Abs. 3 BGB n.F.
unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung. Auch wenn für einen
freiverantwortlich handelnden Suizidenten in aller Regel keine Betreuung
angeordnet worden sein wird, so enthält doch diese Vorschrift den rechtli-
chen Beurteilungsmaßstab dafür, wie bei Einwilligungsunfähigkeit des
Patienten zu verfahren ist, \venn er vor Eintritt der Einwilligungsunfähigkeit
eine ärztliche Lebensrettung abgelehnt hat. Das in das BGB übernommene
Verbot ärztlicher lebensrettender Intervention gegen den mutmaßlichen,
insbesondere gegen den zuvor geäußerten Willen des nunmehr Einwilli-
gungsunfähigen gilt auch bei heilbaren Erkrankungen, und zwar auch dann,
wenn der Patient die Erkrankung selbst verschuldet hat. Mit dieser gesetz-
lich angeordneten Rechtslage ist es nicht zu vereinbaren, einen erkennbar
freiverantwortlichen Suizid als einen jedermann, also erst recht Ärzte zur
Hilfeleistung verpflichtenden Unglücksfall anzusehen mit der Folge, dass
jeder mit Strafe bedroht wird, der den in § 1901 a Abs. 2 BGB 11. F. für maß-
geblich erklärten Patientenwillen beachtet und daher dem freiverantwortlich
in Gang gesetzten Suizidversuch seinen Lauf lässt. So hat auch das Verwal-
tungsgericht Hamburg 19 zu Recht die Auffassung vertreten, dass die Polizei
die im Selbstmord zum Ausdruck kommende persönliche Grenzentschei-
dung eines Menschen zu respektieren hat, der bei klarem Bewusstsein un-
bedingt entschlossen ist, sich das Leben zu nehmen.

2. Verbot organisierter Sterbehilfe ohne Rücksicht aufdie Auslegung


der Strafvorschrift über unterlassene Hilfeleistung
Auch wenn bei einem freiverantw'ortlichen Suizid die Strafvorschrift über
unterlassene Hilfe nicht mehr eingreift, \vie es hier begründet worden ist,
rechtfertigt dies nicht, organisierte Suizidhilfe öffentlich anzubieten. Aufse-
hen erregt hat das Verhalten des ehemaligen Hamburger Justizsenators
Roger Kusch, der 2008 in fünf Fällen öffentlichkeitswirksam Hilfe bei der
Selbsttötung geleistet hat und Suizidbegleitung gegen Zahlung von 8.000
Euro im Internet angeboten hatte. Uin ein solches Verhalten strafrechtlich
unterbinden zu können, hatte der Bundesrat am 4. Juli 2008 ein Gesetz

19 VG Hamburg MedR 2009, 550, 555.


Überlegungen zur Suizidrechtsprechung des Bundesgerichtshofes 487

befiirwortet, das die gewerbliche Suizidbeihilfe mit Strafe bedroht. 20 Im


Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und FDP vom 26. Oktober 2009 ist
vereinbart, die gewerbsmäßige Vermittlung von Gelegenheiten zur Selbsttö-
tung unter Strafe zu stellen. 21 Gewerbsmäßig handelt, wer sich durch wie-
derholte Tatbegehung eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle von
einigem Umfang und einiger Dauer verschaffen will; liegt diese Absicht
vor, ist bereits die erste Tat als gewerbsmäßig begangen einzustufen, auch
wenn es entgegen den ursprünglichen Intentionen des Täters zu weiteren
Taten nicht kommt. 22 Daher wäre die organisierte Vermittlung ohne Gewin-
nerzielungsabsicht weiterhin straflos. Auch der 66. Deutsche Juristentag hat
einen neuen Straftatbestand der "Förderung der Selbsttötung" gefordert,
wenn der Täter aus Gewinnsucht handelt oder eine Zwangslage in Bereiche-
rungsabsicht ausbeutet. 23
Solche Gesetzesvorhaben sind nicht mehr dringlich, nachdem das Ver-
waltungsgericht Hamburg durch Beschluss vom 6. Februar 2009 24 in dem
von Dr. Kusch eingeleiteten Eilverfahren die Rechtmäßigkeit der gegen ihn
ergangenen polizeilichen Untersagungsverfügung bestätigt hat und Dr.
Kusch daraufhin erklärt hat, keine Suizidhilfe mehr anbieten zu wollen. Dr.
Kusch hat nunmehr am 1. Oktober 2009 einen Verein gegründet, der sich
"bei hoffnungsloser Prognose, unerträglichen Beschwerden oder unzumut-
barer Behinderung" fur einen begleiteten Suizid einsetzt.
Strafvorschriften sollten bei ethisch heikler Problematik ohnehin nur er-
lassen werden, wenn das Verwaltungsrecht keine ausreichende Handhabe
zur Wahrung der öffentlichen Interessen bietet. Zutreffend vertritt das Ver-
waltungsgericht die Ansicht, die kommerziell betriebene Suizidbegleitung
sei nicht als erlaubtes Gewerbe anzusehen, so dass sie wegen Störung der
öffentlichen Sicherheit aufgrund der polizeilichen Generalklausel untersagt
werden könne. Denn die angebotene Suizidhilfe gefährde das Leben von
Menschen, die, auf sich gestellt, vor diesem unumkehrbaren Schritt zurück-
scheuen würden. Dies gilt meines Erachtens auch dann, wenn Suizid zwar
nicht gewerbsmäßig, aber in organisierter Form und geschäftsmäßig 25 ins-
besondere durch Verschaffung tödlich wirkender Mittel gefördert wird.
Welche Gefahren hierdurch auch ohne Gewinnerzielungsabsicht erwachsen

20 Punkt 17 der 846. Sitzung, BR-Drs. 436/1/08.


21 Unter IV 4~ S. 108/132, www.cdu.de/portaI2009/29145.htm.
22 BGHSt 49, 177, 181.
23 Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentages (Fn. 3), II/2 N 217.
24 MedR 2009,550.
25Geschäftsmäßig handelt derjenige, der beabsichtigt - sei es auch nur bei sich bietender
Gelegenheit die Tätigkeit zu wiederholen, unl sie dadurch zu einem dauernden oder wieder-
kehrenden Bestandteil seiner Beschäftigung zu machen, BGHR Zivilsachen RBerG Art. 1 § 1
Abs. 1 Handeln, geschäftsmäßiges 2.
488 "Klaus Kutzer

können, verdeutlicht die ausufernde Praxis der Schweizer Sterbehilfeorgani-


sationen Dignitas und Exit. 26 Deswegen prüft der Schweizer Bundesrat, ob
die bestehenden Sterbehilfeorganisationen durch Gesetz verboten oder we-
nigstens deren Aktivitäten stärker reglementiert werden sollen. Es geht ihm
darum zu verhindern, dass sich die organisatorische Hilfe zum Suizid in
eine profitorientierte Tätigkeit verwandelt. Außerdem müsse sichergestellt
werden, dass nur todkranke Menschen Suizidhilfe erhalten, nicht aber chro-
nisch oder psychisch Kranke. Diese dürften nicht dem nötigenden Druck
ausgesetzt sein, eine solche kostensparende Option zu wählen. 27

3. Strafrechtliche Verpflichtung des Garanten, einen


freiverantwortlichen Suizid zu verhindern
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat mit Urteil vom 3. Dezember
1982 folgenden Fall entschieden: Der Angeklagte lebte mit seinem Jugend-
freund S in einer engen \Vohngemeinschaft. Als S bettlägerig \vurde, ver-
sorgte er ihn mit Essen und Trinken und half ihm beim Waschen und Rasie-
ren. Der Angeklagte empfahl, einen Arzt hinzuzuziehen. Dies lehnte S bis
zuletzt ab. Schließlich stellte der Angeklagte die Versorgung von S ein und
gab ihm wunschgemäß nur noch Bier, Schnaps und Zigaretten. Er nahm den
erwarteten alsbaldigen Tod von S billigend in Kauf. S war bis zu seinem
Tod bei klarem Bewusstsein und hatte die Fähigkeit, sich zu äußern, nicht
verloren. Der Bundesgerichtshof hob die Verurteilung wegen versuchten
Totschlags auf und sprach den Angeklagten frei. Das Landgericht hatte eine
Garantenpflicht des Angeklagten, den Tod seines hilflos gewordenen
Freundes zu verhindern, aus der zwischen beiden bestehenden Wohn- und
Lebensgemeinschaft hergeleitet. Dies hat der Bundesgerichtshof beanstan-
det, weil sich aus einer derartigen Wohn- und Lebensgemeinschaft für den
daran Beteiligten jedenfalls nicht die Rechtspflicht ergebe, den and"eren am
selbst gewollten Ableben zu hindern, sofern sich dieser in freier Willensbe-
stimmung dazu entschlossen habe, dem für ihn erkennbar herannahenden
Tod keinen Widerstand mehr entgegenzusetzen, sondern dem dazu führen-
den Geschehen seinen Lauf zu lassen. Kudlich 28 weist allerdings darauf hin,
dass das Fehlen der Rechtspflicht nicht an der Form des Zusammenlebens,
sondern an der zu respektierenden eigenverantwortlichen Entscheidung des
anderen Teils festzumachen sei. Dem stimme ich zu. Denn hätte der Ange-
klagte entgegen dem Willen seines Freundes einen Arzt geholt, so hätte der

26 Art. 115 Schweizerisches StOB verbietet die Suizidhilfe nur "aus selbstsüchtigen Beweg-
gründen".
27 DÄrztebl. online 28.10.2009.
28 Kudlich in: Satzger/SchmittlWidmaier (Hrsg.), StOB, 2009, § 13 Rn. 26.
Überlegungen zur Suizidrechtsprechung des Bundesgerichtshofes 489

Arzt nicht eingreifen dürfen, solange er hierzu nicht durch den entschei-
dungsfahigen Patienten legitimiert worden war. Dies folgt aus dem seit
jeher anerkannten Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Ein solcher
"Normalpatient" ist von einem Suizidpatienten zu unterscheiden, weil der
zielgerichtete tödliche Akt des Suizidenten gegen sich selbst rechtsethisch
und psychologisch etwas anderes ist als die Nichtbekämpfung einer den
Patienten beherrschenden tödlichen Krankheit.
Um einen Suizidfall handelt es sich dagegen bei der sog. Peterle-
Entscheidung29 des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofes vom 4. Juli
1984. Dort hat der Bundesgerichtshof den behandelnden Arzt zum lebens-
rettenden Eingriff auch gegenüber einem freiverantwortlich handelnden
Suizidenten verpflichtet, wenn dieser infolge von Bewusstlosigkeit die
Tatherrschaft über das Geschehen verloren hat. Anderenfalls könne er sich
wegen eines Tötungsdelikts strafbar machen. Diese Entscheidung des
3. Strafsenats, an der der Verfasser mitgewirkt hat, erscheint problema-
tisch. 30 Die gegebene Begründung überzeugt nicht, weil sie das Selbstbe-
stimmungsrecht des Suizidenten zu wenig berücksichtigt.
Dass in diesen Fällen keine allgemeine Hilfspflicht besteht, ist oben näher
begründet worden. Insbesondere geht es nicht an, die rur jedermann gelten-
de Hilfspflicht nach § 330c StGB Uetzt § 323c StGB) und folglich auch die
Interventionspflicht des Garanten 31 schon dann einsetzen zu lassen, wenn
sich ein Lebensmüder in erkannter Selbsttötungsabsicht in unmittelbare
Lebensgefahr begibt, wie es der Bundesgerichtshof3 2 annimmt, wenn sich
der Suizident in die Nähe des Teiches begibt, in dem er sich ertränken will.
Eine solche zur Nötigung des Suizidenten ruhrende Verhinderungspflicht ist
selbstverständlich, wenn der Suizident nicht freiverantwortlich, also auf-
grund einer krankhaften Willensbildung handelt;33 sie ist vertretbar, wenn
zur Tatzeit zweifelhaft ist, ob der Suizident freiverantwortlich handelt; sie
muss jedoch ausscheiden, wenn der Suizident freiverantwortlich handelt
und der anwesende Dritte von der Freiverantwortlichkeit überzeugt ist.
Diese Rechtsauffassung ist insbesondere für die Beurteilung des ärztlich
assistierten Suizids von Bedeutung, wenn der behandelnde Arzt \veiß, dass
der Schwerstkranke in Kenntnis der Irreversibilität des weiteren Krank-

29 BGHSt 32, 367. Auf einen Zettel hatte die Suizidpatientin geschrieben (a.a.O., S. 369):
"Ich will zu meinem Peterle."
30 Auch der 2. Strafsenat des BGH (NJW 1988, 1532) neigt dazu, "einem ernsthaften, frei-
verantwortlich gefassten Selbsttötungsentschluss eine stärkere rechtliche Bedeutung beizumes-
sen, als dies in dem Urteil des 3. Strafsenats (BGHSt 32, 367 ff.) geschehen ist".
31 BGHSt 32,367,375 zieht diese Folgerung nur indirekt.
32 BGHSt 13, 162, 169.
33 Vgl. Urteil des VI. ZS des BGH v. 19. Juni 2001, BGHR Zivilsachen BGB § 823 Abs. 1
Arzthaftung 139.
490 Klaus Kutzer

heitsverlaufs eine wohlüberlegte und andauernde Entscheidung zum Suizid


getroffen hat.
Das Strafrecht verhält sich gegenüber dem freiverantwortlichen Suizid
neutral. Zwar meint der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs, dass die
Rechtsordnung die Selbsttötung - von äußersten Ausnahmefällen abgesehen
-- als rechtswidrig werte. 34 Die dafür gegebene Begründung - das Leben
eines Menschen stehe in der Werteordnung des Grundgesetzes ohne eine
zulässige Relativierung an oberster Stelle der zu schützenden Rechtsgüter -
trifft jedoch nicht zu. Art. 2 GG schützt die Freiheitsrechte des Menschen
nicht weniger als das Recht auf Leben; in dieses kann nach Art. 2 Abs. 2
GG aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden. Solange der Betroffene
frei entscheidet und nicht in Rechtsgüter Anderer eingreift, gibt es keine
strafbewehrte Rechtspflicht fUr Dritte, dies zu verhindern, und zwar auch
nicht für sog. Garanten wie den behandelnden Arzt oder den Ehegatten.
Eine Tötung durch pflichtwidrige Unterlassung der Rettung kommt daher in
diesen Fällen nicht in Betracht. Das sieht der 3. Strafsenat des Bundesge-
richtshofs in dem oben erwähnten sog. Peterle-Fall grundsätzlich anders. 35
Er nimmt aufgrund eines zwischen dem Arzt und dem Suizid-Patienten
bestehenden Garantenverhältnisses die strafrechtliche Rechtspflicht an, das
Leben seines bewusstlos gewordenen Patienten auch gegen dessen frei ver-
antwortlich erklärten Willen zu retten.
Dies widerspricht der inzwischen anerkannten Ausformung des Selbstbe-
stimmungsrechts des Kranken am Lebensende. So besteht keine Pflicht zur
medizinisch möglichen Lebensverlängerung, wenn der todkranke Patient
dies ausdrücklich oder mutmaßlich nicht mehr will (passive Sterbehilfe). 36
Darauf, ob das Verhalten des Arztes, der das Behandlungsziel der Lebens-
erhaltung zugunsten einer bloßen palliativmedizinischen und palliativpfle-
gerischen Versorgung aufgibt, sich äußerlich gesehen als ein Tun oder Un-
terlassen darstellt, kommt es für den Ausschluss der Strafbarkeit wegen
Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) nicht an. Selbst wenn aktive Maßnah-
men wie die Abschaltung des Respirators oder die Unterbrechung der künst-
lichen Ernährung zum voraussehbaren und gebilligten Tod des Patienten
fUhren, der bei Ausschöpfung aller intensivmedizinischen Verfahren zu
diesem Zeitpunkt noch vermeidbar wäre, unterfällt ein solches Sterbenlas-
sen nicht der Strafvorschrift des § 216 StGB. Der Verfasser hat schon 1994
die Ansicht vertreten, dass diese Auslegung dem durch teleologische Re-

34 BGHSt 46,279,285; Dreier JZ 2007,317,319 tneint: Auch wenn man den Suizid nicht
emphatisch als "Privileg des Humanen" bezeichnen wolle, so stelle die Beendigung des eige-
nen Lebens als freier Willensakt keinen Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie dar, son-
dern finde in ihr eine Grundlage.
35 BGHSt 32, 367.
36 BGHSt 37,376.
Überlegungen zur Suizidrechtsprechung des Bundesgerichtshofes 491

duktion zu bestimmenden Normzweck des § 216 StGB entspricht. 37 Eine


solche An\vendungssperre des § 216 StGB liegt aber nach Inkrafttreten des
Dritten Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts 38 auch außerhalb des
Bereichs der passiven Sterbehilfe nahe. Denn § 1901 a Abs. 2 und 3 BGB
n.F. erklärt den mutmaßlichen Willen des entscheidungsfahigen Patienten,
lebenserhaltende Maßnahmen nicht rnehr einzuleiten oder fortzuführen,
unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung für maßgeblich. Darauf,
ob es sich um eine tödliche oder heilbare Krankheit handelt, kommt es nicht
mehr an. Mit der in dieser Regelung zum Ausdruck kommenden bedin-
gungslosen Achtung des Patientenwillens ist es kaum zu vereinbaren, wei-
terhin eine mit der Totschlagsstrafe des § 216 StGB sanktionierte Pflicht
des "Lebensgaranten", insbesondere des Arztes zu konstruieren, den Willen
des entscheidungsfahigen Suizid-Patienten außer acht zu lassen und ihn
zum Weiterleben zu nötigen.
Andererseits sind der Reichweite des Dritten Gesetzes zur Änderung des
Betreuungsrechts Schranken gesetzt, die sich aus dem unverändert geblie-
benen § 216 StGB ergeben. Die vom Verfasser geleitete interdisziplinäre
Arbeitsgruppe des Bundesjustizministeriums, die die Vorarbeiten zu dem
Dritten Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts geleistet hat,39 hat es für
notwendig angesehen, neben einer Änderung von zivilrechtlichen Betreu-
ungsvorschriften auch § 216 StGB um einen dritten Absatz zu ergänzen, um
Auslegungsbrüche zu vermeiden. Vorgeschlagen wurde folgender Absatz: 4o
"Nicht strafbar ist [1. die An\vendung einer nledizinisch angezeigten leid-
mindernden Maßnahme, die das Leben als nicht beabsichtigte Nebenwir-
kung verkürzt,] 2. das Unterlassen oder Beenden einer lebenserhaltenden
medizinischen Maßnahme, wenn dies dem Willen des Patienten entspricht."
Der Gesetzgeber hat den Vorschlag nicht aufgegriffen, obwohl auch der 66.
Deutsche Juristentag unter der Leitung des Jubilars eine ähnliche strafrecht-
liche Klarstellung für erforderlich gehalten hat. 41 Es bleibt daher bei einem

37 Kutzer NStZ 1994, 110, 114.


38 Vgl. Fn. 18.
39 www.bmj.bund.de/media/archive/695.pdf~ auch abgedruckt in: Vormundschaftsgerichts-
tag e. V Betreuungsrecht in Bedrängnis, 2004, S. 158 ff.
40 S. 50 ff. des Berichts (Fn. 39).
41 Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentages (Fn. 3), 11/2 N 211 (11 1): "Es· ist im StGB
klarzustellen, das das Unterlassen, Begrenzen oder Beenden lebenserhaltender Maßnahmen
straflose Behandlungsbegrenzung ist (bisher sog. "passive Sterbehilfe"), a) wenn für solche
Maßnahmen keine medizinische Indikation (mehr) besteht, b) wenn dies vom Betroffenen
ausdrücklich und ernstlich verlangt wird, c) wenn dies vom (einwilligungsunfähigen) Betroffe-
nen in einer Patientenverfügung für den Fall seiner Einwilligungsunfahigkeit angeordnet
wurde, d) wenn dies von einem Vertreter des Patienten (Betreuer, sonstiger gesetzlicher Vertre-
ter oder Vorsorgebevollmächtigter) .- erforderlichenfalls mit Genehmigung des Vormund-
schaftsgerichts - verlangt wird und der erklärte oder mutmaßliche Wille des Betroffenen nicht
492 Klaus Kutzer

Spannungsverhältnis zwischen dem neuen § 1901 a Abs. 2 und 3 BGB und


dem alten § 216 StGB. Der Frage kann hier nicht weiter nachgegangen
werden, ob der Normzweck des § 1901a Abs. 2 und 3 (Achtung jeder frei-
verantwortlichen Entscheidung des Betroffenen unabhängig von Art und
Stadium der Erkrankung) Rückschlüsse auf den Fortfall einer strafrechtli-
chen Rettungspflicht nur bei Suizidenten zulässt, die eine schwere Krank-
heit nicht länger ertragen, nicht aber bei Suizidenten, die aus anderen Grün-
den aus dem Leben scheiden wollen. Jedenfalls würde gegen den Sinngehalt
der Neuregelung verstoßen, wenn das Strafrecht den Arzt zwingen wollte,
den freiverantwortlichen Sterbewillen des schwer kranken Suizid-Patienten
zu missachten und ihm eine Rettung aufzuzwingen. Insoweit hat § 1901 a
Abs. 2 und 3 BGB n. F., der unmittelbar nur für Betreuer gilt, mittelbar
auch die Garantenpflicht des Arztes zur Lebenserhaltung modifiziert.
Ein nützlicher Nebeneffekt der hier vertretenen Auslegung liegt darin,
dass sie es dem suizidwilligen Patienten erleichtert, mit seinem Arzt ein
offenes Gespräch über die von ihln erwogene Selbsttötung zu suchen. Ein
solches Gespräch, das den Patienten aus seiner inneren Einsamkeit befreien
kann, ist notwendig, damit der Arzt die ihm verfügbaren Möglichkeiten der
Suizidprävention einsetzen kann. Weiß der Patient, dass der Arzt verpflich-
tet ist, Suizide zu verhindern und ihn auch gegen seinen Willen zu retten, so
wird er, wie Erfahrungen immer wieder bestätigen, geneigt sein, seine sui-
zidalen Planungen dem Arzt zu verschweigen, und sich damit den Zugang
zu ärztlicher Hilfe bei der Bewältigung seiner existentiellen Krise versper-
ren.
Allerdings ist das angesprochene Problem nicht damit gelöst, dass der
Arzt nicht mehr durch das Strafrecht zu einem Eingreifen gezwungen wird.
Denn er hat auch sein Berufsrecht zu achten. Nach der Präambel zu den
Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung aus
dem Jahre 200442 widerspricht die Mitwirkung eines Arztes bei der Selbst-
tötung dem ärztlichen Ethos. Ausnahmen sind nicht vorgesehen. Dennoch
kann in besonders gelagerten Fällen eine andere Beurteilung auch nach dem
Standesrecht geboten sein, weil es sich bei dem Verbot nur um einen
Grundsatz handeln kann. 43 Allerdings würde eine von diesem Grundsatz

erkennbar entgegensteht, e) wenn der Patient einwilligungsunfähig ist und aufgrund verlässli-
cher Anhaltspunkte anzunehmen ist, dass er diese Behandlung ablehnen würde (mutmaßlicher
Wille)".
42 DÄrztebl. v. 7. Mai 2004 S. B-I076; NJW 23, 2004, XXIX, XXXII f.
43 Nach Meinung des 66. Deutschen Juristentages (Fn. 3), 11/2 N 218 sollte die ausnahmslo-
se standesrechtliche Missbilligung des ärztlich assistierten Suizids einer differenzierten Beur-
teilung weichen, welche die Mitwirkung des Arztes an dem Suizid eines Patienten mit uner-
träglichem, unheilbarem und mit palliativmedizinischen Mitteln nicht ausreichend zu
Überlegungen zur Suizidrechtsprechung des Bundesgerichtshofes 493

gelöste generelle Erlaubnis, nach eigenem ärztlichem Ermessen Suizidhilfe


zu leisten, mindestens solange den notwendigen Lebensschutz gefährden,
wie es keine eine rechtliche Kontrolle ermöglichenden strengen Vorschrif-
ten über Voraussetzungen und einzuhaltendes Verfahren gäbe.

111. Schluss
Bleiben der Bundesgerichtshof bei seiner strengen Auslegung des Straf-
rechts und die Bundesärztekammer bei ihrer strengen Auslegung des Be-
rufsrechts im Falle eines freiverantwortlichen Suizids, werden ärztliche
Gewissensentscheidungen, einen schwerstkranken Patienten nicht zum
Weiterleben zu zwingen, sondern in den frei gewählten Tod zu begleiten,
weiterhin verschleiert und ins Dunkelfeld abgedrängt werden. Damit wird
eine Überprüfung durch das Recht erschwert, wenn nicht gar unmöglich
gemacht. Aber auch außerhalb des Arzt-Patienten-Verhältnisses sollte das
Strafrecht auf einen illiberalen patemalistischen Zwang gegenüber Dritten
verzichten, die einen freiverantwortlichen Suizid respektieren wollen. Wirk-
samer als durch das Strafrecht können Suizide durch gesellschaftliche und
individuelle Hilfsangebote verhindert werden, die das Selbstbestimmungs-
recht des Lebensmüden ernst nehmen.

linderndem Leiden als eine nicht nur strafrechtlich zulässige, sondern auch ethisch vertretbare
Form der Sterbebegleitung toleriert.
Notwendigkeit der Reform des Tötungsstrafrechts
und der "AE-Leben"

ARTHUR KREUZER

I.
Kaum irgendwo sonst hat sich eine so große Kluft zwischen Kriminalwis-
senschaften einerseits, Rechtsprechung und Gesetzgebung andererseits
aufgetan wie gerade bei den schwersten Taten und der höchsten Strafe:
vorsätzliche Tötungen und lebenslange Freiheitsstrafe. Die Reform ist über-
fällig. 1 Höchstrichterliche Versuche, mit der Gesetzeslage zurecht zu kom-
men, sehen sich unvergleichlich herber Kritik ausgesetzt: Diese Rechtspre-
chung befinde sich "auf einer Rutschbahn in immer tiefere Konfusion"; man
spricht von "Zickzack-Kurs", "trostloser Misere der Interpretation" gesetz-
licher Mordmerkmale, "Dauerkrise", "Kollaps des § 211 unter der Last des
case law". 2 Zusammenfassend wird konstatiert: "Seit langem ist es ja fester
Bestandteil fast jeden wissenschaftlichen Beitrags zu §§ 211 ff. StGB
(Mord, Totschlag), die Mängel der Regelung zu beklagen, ihre Reformbe-
dürftigkeit zu betonen und zugleich den Gesetzgeber aufzufordern, endlich
tätig zu werden. "3
Jedoch ist man sich uneins über Umfang und wesentliche Inhalte einer
Reform. So wurden auf einer Fachtagung der Kriminologischen Zentralstel-
le zu Tötungsdelikten 2002 in Wiesbaden Jubilar und Verfasser nach ihren
Referaten zu strafrechtlichen und kriminologischen Aspekten der Tötungs-
kriminalität4 gefragt, wie sie sich eine Reform vorstellten. Der Ver! plädier-

1 So zuletzt Fischer StGB, 57. Aufl. 2010, Rn. 1 Vor §§ 211-216~ NK-Neumann StGB,
Bd. 2, 3. Aufl. 2010, Vor § 211 Rn. 156~ Roxin in: JahnlNack (Hrsg.), Rechtsprechung, Ge-
setzgebung, Lehre: Wer regelt das Strafrecht? 2. Karlsruher Strafrechtsdialog 2009,2010, S. 21
ff.~ Heine e! al. (Hrsg.), Alternativ-Entwurf Leben (AE-Leben), GA 2008, 193 ff. (mit Nachw.
194 f.)~ Ver! FAZ Nr. 129 v. 05.06.2008, S.8~ ders. StV 2007,598 ff.
2 Vgl. z. B. Heine Ehrengabe für Anne-Eva Brauneck, 1999, S. 315 ff.~ Ar::! in: Arzt/Weber,
Strafrecht Besonderer Teil, 2000, § 2 Rn. 17,23.
3 Mitsch Verfassungsbeschwerde v. 15.03.2007 im Verfahren gegen den "Kannibalen von
Rotenburg".
4 Egg (Hrsg.), Tötungsdelikte. Kriminologie und Praxis Bd. 36, 2002~ darin: Verf, S. 45 ff.,
Schöch, S. 71 ff.
496 Arthur Kreuzer

te für eine Lösung mit dem Grunddelikt des Totschlags, einer beispielhaft
unterlegten Qualifikation als Mord mit lebenslanger Freiheitsstrafe und
einer Privilegierung des Totschlags fur wiederum beispielhaft gekennzeich-
nete minder schwere Fälle. Heinz Schöch mahnte hingegen, die durch eine
konturierte Rechtsprechung zu einzelnen Mordmerkmalen erreichte Rechts-
sicherheit nicht aufs Spiel zu setzen, wenn man leichtfertig auf Teile der
bisherigen Regelung verzichte. In der Bandbreite dieser beiden Ansichten
hält sich auch der nachfolgende Beitrag. Im Alternativ-Entwurf Leben, an
dem der Jubilar mitgewirkt hat, findet sich in der Tat ein Teil der bisherigen
Mordmerkmale nunmehr allerdings funktional modifiziert, reduziert,
modernisiert und durch ein gemeinsames Leitprinzip konturiert - wieder.
Die Kritik des Ver! ist teils zustimmend, aber gerade hinsichtlich der vor-
geschlagenen Struktur der Tötungs-Straftatbestände skeptisch. Heinz
Schöch hat sich Jahrzehnte u. a. mit namentlich strafrechtlichen Fragen
dieser Delikte befasst, der Ver! ebenso lang vorwiegend mit kriminologi-
schen. So liegt es nahe, dass sich der Festschriftbeitrag mit ausgewählten
Aspekten dieser Thematik im Lichte des vom Jubilar mit erarbeiteten
grundlegenden Reformentwurfs auseinandersetzt. Das soll ein Zeichen
hoher Wertschätzung für den Freund und dessen Werk sein.

II.
Dem primären Anliegen des AE-Leben, der Analyse von Mängeln des
geltenden Tötungsstrafrechts und seiner Anwendung sowie dem entschie-
denen und konstruktiven Votum für eine gesetzliche Reform 5 ist grundsätz-
lich beizupflichten. 6 Das geltende Recht entspricht nicht unverzichtbaren
Forderungen nach systematischer Konsistenz, rechtsstaatlicher Vorherseh-
barkeit und Berechenbarkeit sowie Einzelfallgerechtigkeit. Daran ändert das
Bemühen der Rechtsprechung um einzelfallorientierte Anpassung nichts
grundlegend. 7 Die wichtigsten, überwiegend auch in der AE-Analyse ge-
nannten Mängel seien nach ihrer Gewichtung in der Sicht des Ver! stich-
wortartig umrissen und ergänzt:
Noch als vordergründig mag die Kritik an den §§ 211 ff. StGB angesehen
werden wegen ihrer Herkunft aus der NS-Zeit und auch sprachlich ver-
fehlten (Mord und Totschlag können offenbar nur von Männern begangen

5 AB-Leben (Fn. 1), insb. S. 194-200, 203 f.


6 Ähnlich drückt Neumann (Fn. 1), Rn. 156a Vor § 211 "Sympathie" trotz gewisser Vorbe-
halte gegenüber der neu vorgeschlagenen Systematik aus.
7 Dazu insb. schon Eser Gutachten D, 53. DJT 1980, D 39~ Heine Tötung aus "niedrigen
Beweggründen", 1988~ ders in: Heine (Fn. 2), S. 315 ff.
Notwendigkeit der Reform des Tötungsstrafrechts 497

werden) - Anreicherung mit Elementen der überholten, kriminologisch


unhaltbaren Tätertyplehre. Zwar hat man in den meisten Rechtskulturen
versucht, nach schwereren und weniger schweren vorsätzlichen Tötungen
zu unterscheiden. Kriterien waren Heimlichkeit und Planung oder die Ge-
fährlichkeit des Täters oder die moralische Verwerflichkeit seines Tuns,
welche Mord vom Totschlag abheben sollten. Pragmatisch, aber inkonsis-
tent wurden diese Kriterien in § 211 StGB vermengt, und der Gesetzgeber
hat es in der Nachkriegszeit versäumt, wenigstens die Mordmerkmale dem
Stand der Zeit gemäß zu überarbeiten.
Schwerer wiegt der Umstand, dass die Mordmerkmale je für sich stehen
und zwangsläufig die Höchststrafe nach sich ziehen. Gemeint ist der auto-
matische, im Einzelfall völlig unverhältnismäßig erscheinende Sanktions-
sprung von einer zeitigen Freiheitsstrafe bei Totschlag zur lebenslangen bei
Mord. In der Lehre vielfältig vorgeschlagene zusätzliche Gesamtprüfungen
einer Tat, die ein Mordmerkmal erflillt, danach, ob die Höchststrafe noch
verhältnismäßig ist, oder entsprechend vorzunehmende restriktive Ausle-
gungen der einzelnen Mordmerkmale, wie sie auch vom BVerfG nahegelegt
wurden, sind auf beharrliche, vehemente Ablehnung der höchstrichterlichen
Rechtsprechung gestoßen. 8 Hinzu kommt, dass selbst gleichzeitig vorlie-
gende privilegierende, Unrecht und Schuld deutlich mindernde Umstände,
die in § 213 StGB genannt werden, bei Vorliegen eines Mordmerkmals kein
Abweichen von der zwangsläufigen Rechtsfolge des Lebenslang erlauben
sollen.
Besonders wichtig erscheint eine Reform wegen der seit Langem beob-
achtbaren Strategien der Praxis, im Einzelfall die sonst unabwendbare Folge
der Höchststrafe zu umgehen. 9 Solche Strategien können sich allerlei mög-
licher materiell- und verfahrensrechtlicher Instrumente bedienen, etwa
großzügig Voraussetzungen von Rechtfertigungs- und Entschuldigungs-
gründen anzunehmen, von bedingtem Tötungsvorsatz zur Fahrlässigkeit
abzustufen, prozessuale Zweifel am Tat- oder Schuldnachweis geltend zu
machen, vor allem aber weitherzig Begutachtungen anzuordnen, um
Schuldminderungen nach § 21 StGB festzustellen. lIinzu kommen, worauf
der AE-Leben zu Recht hinweist,lO Verfahrensabsprachen, die dazu dienen,
VOlTI Mordvorwurf, jedenfalls von der Höchststrafe, abweichen zu können.
Derartigen Strategien begegnen wir zwar in vielen Deliktsbereichen. Sie
sind rechtsstaatlich aber am wenigsten hinnehmbar bei schwersten Delikten

8 Vgl. einerseits BVerfG E 45,187 ff., andererseits BGHSt GS 30,105 ff.


9 AE-Leben (Fn. 1), S. 197 und passim. Ähnlich schon Sessar Rechtliche und soziale Pro-
zesse einer Definition der Tötungskriminalität, 1981; Ver! ZRP 1977, 49 ff.; ders. Kriminalis-
tik 1982,428 ff., 455, 491 ff.
10 AE-Leben (Fn. 1), S. 197.
498 Arthur Kreuzer

und der höchsten Strafe, zumal dann, wenn eine gesetzliche Fehlkonstrukti-
on sie geradezu herausfordert. Sie sind unvereinbar mit der Bindung des
Richters an das Gesetz, mit dem Gebot der Bestimmtheit von Strafnormen,
mit der Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit von Strafen. Ähnlich ist es
übrigens in den USA bei dem Zwang, in einigen Staaten ansonsten die To-
desstrafe zu verhängen. Dort wird oft schon in "plea bargainings" seitens
der Staatsanwaltschaft auf ein Geständnis hingewirkt mit dem Entgegen-
kommen, auf den Antrag der Todesstrafe zu verzichten. 11 Die enorme Be-
deutung solcher mit der Gefahr einer Erosion des Rechtsdenkens einherge-
henden Umgehungsstrategien mag man an der bemerkenswert offenen und
herben Diagnose eines erfahrenen Praktikers erkennen. Nach Hartmut
Schneider wird in Schwurgerichtsverfahren "ein angeblich nicht
ausschließbarer Affekt vielfach geradezu nachgeworfen"; dort habe das
Motto "Alles Psycho!" Konjunktur; es gebe eine bedenkliche "Tendenz
einer 'Knochenerweichung' der Tötungsdelikte durch höchstrichterliche
Befugnis zum nahezu freihändigen 'Overruling' im Psycho-Bereich". Auf
der Tatbestandsseite biete die Rechtsprechung "in heiklen Einzelfällen mit-
hilfe mordmerkmalsspezifischer Psycho-Erwägungen oder gesinnungsethi-
scher Zurüstungen effektive, rechtsdogmatisch indessen weitestgehend
verfehlte Möglichkeiten zum Ausstieg aus § 211 StGB." 12 Freilich meint er
im Gegensatz zum Verf, "dass von der vordergründig Furcht einflößenden
Rechtsfolgenseite des § 211 StGB für sich betrachtet kein drängender Re-
formbedarf ausgeht", und er warnt sogar davor, mit dieser Begründung in
Reformansätzen wie dem AE-Leben "Lebenslang als gesetzliche Regel-
sanktion fur Fälle höchststrafwürdiger Tötung gleichsam unter der Hand
auszuhebeln."
Eine Gesetzesreform ist zudem angezeigt, um das verfassungsgerichtlich
ausgesprochene Verdikt über den gesetzlichen Zwang, die in § 211 StGB
vorgesehene Rechtsfolge des Lebenslang bei Vorliegen eines Mordmerk-
mals in das Urteil zu übernehmen, 13 umzusetzen. Die Korrektur über eine
Rechtsfolgenlösung durch den BGH mag zwar wenigen Einzelfällen gerecht
werden, in denen nach der konturenlosen inhaltlichen Kennzeichnung
"außergewöhnliche Umstände" vorliegen. Sie fuhrt aber in der höchstrich-
terlichen Rechtsprechung ein Schattendasein, soll ohnehin nur bei dem
Mordmerkmal der Heimtücke, nicht etwa bei dem der Habgier oder Verde-
ckungsabsicht oder gar allen Mordmerkmalen greifen können. Sie wird
offenbar zunehmend vom BGH selbst gemieden. Sie beruht überdies auf
einem verfassungsrechtlich bedenklichen richterrechtlichen Übergriff in die

11 S. dazu Ver! GS Vogler, 2004, S. 163 ff.


12 Schneider in: JahnlNack (Fn. 1), S. 44 ff., 55.
13 BVerfG E 45, 187,262 ff.
Notwendigkeit der Reform des Tötungsstrafrechts 499

Gesetzgebungskompetenz, weil der BGH damit ohne Not den nicht der
Analogie zugänglichen § 49 StGB gleichwohl als entsprechend anwendbar
erklärt. 14
Demgegenüber dürfte der traditionelle Streit über die Struktur der §§ 211
ff. StGB zwischen der Rechtsprechung einerseits, nahezu dem gesamten
Schrifttum andererseits, in der Bedeutung, die Strukturreform der Tötungs-
delikte als zwingend einzuschätzen, übergewichtet sein. Wenn man mit dem
BGH Mord als eigenständiges Delikt ansieht, droht Teilnehmern an der Tat,
bei denen entsprechende strafbarkeitsbegründende Mordmerkmale fehlen,
über §§ 28 Abs. 1, 49 Abs. 1 StGB eine Freiheitsstrafe von drei bis 15 Jah-
re. 15 Wertet man mit der Lehre Mord als Qualifikation des Totschlags, führt
dies für solche Teilnehmer über §§ 28 Abs. 2, 212 Abs. 1 StGB zu dem
Strafrahmen des Grunddelikts mit fünf bis 15 Jahren. So kann letztlich in
wohl jedem einzelnen Fall eine angemessene zeitige Strafe verhängt wer-
den. Freilich wiegt verbal der Schuldvorwurf - Mord- oder Totschlagsbetei-
ligung - ungleich schwer, und in seltenen Ausnahmefällen kann mit der
Rechtsprechung sogar eine kürzere Strafe greifen. In einem weiteren Aus-
nahmebereich könnte eine gesetzliche Abkehr von der Sicht des BGH zur
Einordnung des § 211 StGB als eigenständiges Delikt allerdings eine zeit-
geschichtlich bedeutsame praktische Konsequenz haben: bei den bislang als
Beihilfe zum Mord gewerteten und darum nach § 78 Abs. 2 StGB nicht
verjährten Beteiligungen an NS-Pogromen. 16 Der AE-Leben trägt dem
Rechnung, indem er den Tatbestandsbereich des § 211 ausweitet. 17 Würde
man dem nicht folgen, ließe sich durch eine Anpassung des § 78 StGB
Rechnung tragen indem man klärt, dass die bisher von der Nicht-
Verjährbarkeit umfassten Taten auch weiterhin nicht verjähren.
Zu einer Reform drängt insbesondere die Inkonsistenz des nach geltender
Rechtslage bestehenden Systems der Strafandrohungen in Fällen vorsätz-
lich, täterschaftlich, "vollendet" (horribile dictu, aber traditioneller straf-
rechtswissenschaftlicher Terminus) und in ungen1inderter Schuldfähigkeit
begangener Tötungen. Sozusagen quer zu strafrechtsdogmatischen Versu-
chen einer plausiblen Systematisierung der Tötungsdelikte ist hier einziges
Kriteri~m der Stufung die konkrete Strafandrohung. Das dementsprechend
siebenstufige System abgestufter Strafandrohungen ist entstanden aus einer
Interaktion gesetzgeberischer, verfassungsgerichtlicher und höchstrichterli-

14 BGH OS 30, 105 ff.~ wie hier mit vielen Nachw. Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. 2007, V~r
§ 211 Rn. 20,21.
15 Daran hält der BGH, von peripheren Modifikationen abgesehen, wohl grundsätzlich fest,
wie die sorgfaltige Rechtsprechungsanalyse von Rissing-van Saan in: Jahn/Nack (Fn. 1) S. 26
ff. zeigt.
16 Daraufweist besonders Jähnke in: Jahn/Nack (Fn. 1), S. 62 hin.
17 AE-Leben (Fn. 1), S. 267.
500 Arthur Kreuzer

cher Entscheidungen. 18 Erste und oberste Stufe ist Mord bei Feststellung
besonderer Schwere der Schuld nach §§ 211, 57a StGB mit obligatorisch
lebenslanger Freiheitsstrafe und einem zwar nicht zwingenden, aber bislang
immer strafvollstreckungsgerichtlich angeordneten, in der Länge gesetzlich
nicht limitierten "Schuldschwerezuschlag" über die Mindestverbüßungszeit
von 15 Jahren hinaus. Zweite Stufe ist das Lebenslang mit 15jähriger Min-
destverbüßung für "normalen" Mord nach § 211 StGB. Die dritte Stufe
bildet der Totschlag in besonders schwerem Fall nach § 212 Abs. 2 StGB
mit ebenfalls Lebenslang und 15jähriger Mindestverbüßung. Auf der vierten
Stufe findet sich der "normale" Totschlag nach § 212 Abs. 1 StGB mit
einem Strafrahmen von fünf bis 15 Jahren Freiheitsstrafe. Die fünfte Stufe
ist der Rechtsfolgenlösung des BGH vorbehalten für Mord bei außerge-
wöhnlichen Umständen, die zu einem Strafrahmen von· drei bis 15 Jahren
führen nach §§ 211, 49 analog StGB. Auf der sechsten Stufe ist der Tot-
schlag in minder schwerem Fall nach § 213 StGB mit einem Strafrahmen
von einem Jahr bis 10 Jahren angesiedelt. Die siebte Stufe bildet die Tötung
auf Verlangen nach § 216 StGB mit einer Strafe von sechs Monaten bis fünf
Jahren. Beispielhaft für Inkonsistenzen im System sei lediglich auf die
Rechtsfolgenlösung des BGH hingewiesen: Auf der vierten Stufe ist die
Mindeststrafe von drei Jahren vorgesehen für eine gleichwohl als Mord
einzuordnende Tötung, also zwei Jahre weniger als die Mindeststrafe für
Totschlag; demgegenüber ist die Rechtsfolge für einen Totschlag auf der
dritten Stufe schon das Lebenslang.
Weiter drängen Ungereimtheiten und ungelöste Fragen des § 57a StGB
bei der Restaussetzung von lebenslangen Strafen zu einer Reform. Stich-
wortartig seien nur folgende Probleme genannt: Zutreffend kritisiert der
AE-Leben l9 die Unbestimmtheit der Voraussetzungen, eine Schuldschwere
festzustellen; die "besondere Schwere der Schuld" mit dem BGH 20 als
"Umstände, die Gewicht haben" zu charakterisieren und dazu recht unglei-
che Beispiele zu geben, die von besonderer Verwerflichkeit der Tatausfüh-
rung oder Motive bis zu Vielfachmord reichen, bedeutet keine wirkliche
inhaltliche Konkretisierung und Erleichterung der Entscheidung des
Schwurgerichts. Die über 15 Jahre hinaus gehende, von der Strafvollstre-
ckungskammer zu bestimmende Mindestverbüßungszeit darf nicht auf einer
"nach oben offenen Richterskala" beruhen, sondern bedarf einer inhaltli-
chen und zeitlichen Limitierung im Gesetz. Das Gebotensein einer Weiter-

18 S. dazu schon Ver! FS "Rechtswissenschaft im Wandel" des Fachbereichs Rechtswissen-


schaft zum 400jährigen Gründungsjubiläum der Justus-Liebig-Universität Gießen, 2007,
S. 205 ff.; ders. zuletzt StV 2007 (Fn. 1), 598 ff.
19 A.a.O. S. 254 ff.
20 BGH St GS 40, 360 ff.
Notwendigkeit der Reform des Tötungsstrafrechts 501

verbüßung ist ebenfalls zu konkretisieren; die notwendige Frage, ob über-


haupt die Strafe noch weiter verbüßt werden müsse, scheint in der Praxis
völlig übergangen oder formelhaft bejaht zu werden; es ist jedenfalls kein
Fall bekannt geworden, in dem trotz Schuldschwere eine Restaussetzung
nach 15 Jahren bewilligt worden wäre. Ungeklärt ist zudem, wie die von
Tat- und Vollstreckungsgericht vorzunehmenden Schuldbewertungen von-
einander abzugrenzen seien und warum eine Art z\veiter Strafzumessung
durch ein weiteres Gericht nach dem Tatgericht vorgenommen werden
muss. Man könnte sich auf das Konstrukt einer dynamischen Schuld stüt-
zen, die zur Tatzeit anders sei als bei der Prüfung durch das Vollstre-
ckungsgericht wegen zwischenzeitlicher Schuldverarbeitung, Veränderun-
gen der Lebensverhältnisse usw. Allemal scheint es aber sinnvoller, ein
einziges Gericht - das Tatgericht - mit der Anordnung des Lebenslang,
einschließlich der Feststellung außergewöhnlich schulderhöhender Umstän-
de und einer Mindestverbüßungszeit über 15 Jahre hinaus, zu befassen. Ob
allerdings auch ein Ausufern der Vollstreckungspraxis mit der zunehmen-
den Annahme besonderer Schuldschwere und entsprechend zunehmender
Verbüßungszeiten über 15 Jahre hinaus zu erkennen und als Grund für eine
Reform anzuführen ist, wie der AE-Leben meint, erscheint zweifelhaft
angesichts einer völlig unzureichenden Datenlage. 21 Ungeklärt ist schließ-
lich das Verhältnis der nicht mehr von der Schuld, sondern nur noch aus
Gründen eines Rückfallrisikos legitimierten Verbüßungszeit, die über die
Mindestverbüßungszeit des Lebenslang hinaus reicht ("Sicherungsüber-
hang"), einerseits zu der nach einer schuldangemessenen Strafe zu vollstre-
ckenden Sicherungsverwahrung andererseits. Dieses Verhältnis ist schon an
sich problematisch, weil in den Sicherungsüberhang dominant das Maßre-
geldenken rückt, welches die Rechtsnatur der Verbüßung als Straf-
Verbüßung infrage stellt. Es ist noch komplizierter durch die zwischenzeit-
lich bei der Sicherungsverwahrung durch das BVerfG verlangten Vorgaben
geworden. 22 Danach gelten fur die als schuldunabhängig gewertete Siche-

21 AE-Leben (Fn. 1), S. 257 ff. unter Verweis (Fn. 291) auf die Daten der Kriminologischen
Zentralstelle. Dieses jährlich erneuerte Datenmaterial lässt indes keinen Aufschluss darüber zu,
warum Gefangene länger als 15 Jahre im Strafvollzug sind; es kann mit einer noch ungünstigen
Prognose oder mit der Schuldschwere zu tun haben. Gleiches gilt für das Argument hoher
Sterberaten unter Lebenslänglichen im Vollzug; es kann sich bei den relativ niedrigen Fallzah-
len um Gefangene handeln, die - etwa durch Suizid schon bald nach der Inhaftierung - noch
vor Ablauf der Mindestverbüßungszeit sterben; auch dazu gibt das Datenmaterial keinen
Aufschluss.
22 BVerfG NJW 2004, 737 ff.; dazu z. B. Kinzig JR 2007, 165 ff.; Verf.lBartsch in: Ester-
mann (Hrsg.), Interdisziplinäre Rechtsforschung zwischen Rechtswirklichkeit, Rechtsanalyse
und Rechtsgestaltung, 2009, S. 99 ff.; Ver! in: Loccumer Protokolle 2010 (im Druck); ausführ-
lich Bartsch Sicherungsverwahrung - Recht, Vollzug, aktuelle Probleme, Diss. Universität
Gießen, 2009 (erscheint bei Nomos 2010). Die gegenwärtig schon komplizierte Lage wird
502 Arthur Kreuzer

rungsverwahrung ein Abstandsgebot (Besserstellung gegenüber Strafgefan-


genen), ein Resozialisierungsgebot mit deutlich verbesserten Behandlungs-
chancen sowie eine Beweislastumkehr hinsichtlich der Rückfallgefahren-
einschätzung nach Ablauf der ersten zehn Jahre der Verwahrung. Zu klären
ist strafrechtsdogmatisch und gesetzlich, ob der Sicherungsüberhang einer
lebenslänglichen Strafe trotz dort anders gestalteter Gefahrenprognose ma-
teriell der Sicherungsverwahrung gleich zu stellen ist. Dann müssten Straf-
gefangene mit einem solchen Sicherungsüberhang Teil haben an Abstands-
gebot und Beweislastumkehr.
Im Zusammenhang mit einer nötigen Gesamtreform des Tötungsstraf-
rechts bedarf die populistisch in § 66 Abs. 1 StGB ermöglichte Anordnung
der Sicherungsverwahrung neben einer lebenslangen Freiheitsstrafe der
Remedur. Sicherungsverwahrung nach lebenslanger Strafe ist praktisch
generell ausgeschlossen. Das Instrument entpuppt sich als schiere symboli-
sche Gesetzgebung. 23 Kommt eine Strafrestaussetzung in Betracht, fehlen
Voraussetzungen für eine anschließende Verbüßung der Sicherungsmaßre-
gel. Die Praxis muss sich jetzt herumschlagen mit der offenbar nirgendwo
geklärten Frage, ob nach der Mindestverbüßungszeit entsprechende Strafge-
fangene in die Sicherungsverwahrung zu überstellen oder im Strafvollzug
zu belassen seien und welche Grundsätze dann bei der Haftgesta ltung für
sie jeweils zu gelten haben unter Berücksichtigung der Vorgaben des
BVerfG. 24
Letztlich sprechen manche recht unbefriedigende, eigenen traditionellen
Argumentationslinien widersprechende Entscheidungen des BGH dafiir,
dass es ein konsistentes Gerüst von Erkenntnissen innerhalb der höchstrich-
terlichen Rechtsprechung nicht gibt, welches im Einzelfall verlässliche
Erwartungen einer Einordnung .zu den einzelnen Tatbeständen der
§§ 211 ff. StGB zuließe. Nur zwei Beispiele seien dafiir angefiihrt:
Schon früh hat der Ver! aufgezeigt, dass sich der BGH in seiner Recht-
sprechung zur ärztlichen Behandlungs- und Lebenserhaltungspflicht in
Widersprüche verwickelt: 25 Einerseits soll der Patient grundsätzlich jeder-
zeit selbst bindend über eine Behandlung durch den Arzt entscheiden dür-
fen, auch noch bei an sich vital indizierter Behandlung zur Lebenserhaltung;
andererseits soll der behandelnde Arzt grundsätzlich als Garant angesichts

noch labiler durch die vorliegende noch nicht rechtskräftige Kammerentscheidung des EGMR
v. 17.12.2009 (dazu Ver! in: ZEIT ONLINE v. 17.12.2009).
23 Populistische Argumente für eine Sicherungsverwahrung neben dem Lebenslang wurden
leider auch in der Justiz gelegentlich unterstützt~ vgl. z.B. LG Frankfurt v. 09.05.2006 (Nachw,
bei Ver! StV [Fn. 1],598, Fn. 2). .
24 Ansatzweise erörtert vom Ver! in: Loccumer Protokolle (Fn. 22). '
25 Ver! Ärztliche Hilfeleistungspflicht bei Unglücksfällen im Rahmen des § 330c· StGB,
1965, S. 63 ff.~ ders. NJW 1967, 278 ff.~ ders. JR 1,984,293 ff.
Notwendigkeit der Reform des Tötungsstrafrechts 503

eines Suizids seines Patienten verpflichtet sein, für ihn gegen seinen aus-
drücklich erklärten Willen lebensrettende Maßnahmen einzuleiten, und nur
Zweifel an der Möglichkeit einer Lebensrettung oder eine Konstellation der
Unzumutbarkeit können ihn vor Strafe wegen versuchter Tötung auf Ver-
langen, begangen durch Unterlassen, schützen. 26 Dabei missachtet der BGH
seine eigenen Grundsätze zur Patientenautonomie; er verkennt zugleich,
dass eine Garantenstellung entfällt, wenn der Patient den Behandlungsauf-
trag frei verantwortlich zurückzieht.27 Überhaupt drängt der Gesamtbereich
von Lebenserhaltungspflicht und Sterbehilfe angesichts veränderter medizi-
nischer Kenntnisse, technischer Entwicklungen und rechtlicher Grauzonen
zu einer gesetzlichen Anpassung. 28
Das zweite Beispiel betrifft die Entscheidungen des BGH zum Mordvor-
wurf gegen den "Kannibalen von Rotenburg".29 Die Höchststrafe wegen
Mordes wurde gerechtfertigt, obwohl der Täter in voller Übereinstimmung
mit dem Opfer handelte, von diesem bei der Tat unterstützt und zum Wei-
termachen aufgefordert wurde und jederzeit aufzuhören bereit war, wenn es
das Opfer verlangen sollte. Dass beide sozusagen in reziprok aufeinander
bezogener paraphiler Einstellung nicht rechtsverbindlich entscheiden konn-
ten, ändert nichts an der Beachtlichkeit der - schwer nachvollziehbaren
krankhaften - Willensübereinstimmung fur die Beurteilung des Unrechts-
gehalts der Tat. Schon die überdeutliche Nähe zur Tötung auf Verlangen
und verminderten Schuldfähigkeit angesichts einer beidseitig abnormen
Triebrichtung hätte eine Einordnung als Totschlag, zumindest ein Absehen
vom Lebenslang nach der Rechtsfolgenlösung ebendieses Gerichts nahege-
legt,30 worauf der BGH ebenso wenig einging wie auf viele bedeutende
Argumente einer Vorinstanz 31 und im Schrifttum 32 fur eine adäquate Ein-
ordnung als Totschlag. Schon hier sei angemerkt, dass nach dem Modell des

26 Vgl. etwa das bekannte "Myom-Urteil" BGHSt 11, 111 ff, auch BGHSt GS 10,262, zum
Selbstbestimmungsrecht des Patienten und der Beachtlichkeit seiner Operationsverweigerung
selbst in lebensbedrohlicher Lage~ dagegen BGHSt 32, 367 ff (Fall Wittig) , wo der Arzt
grundsätzlich als Garant zur Lebenserhaltung trotz entgegenstehender Erklärung der unheilba-
ren Suizidpatientin verpflichtet sein soll.
27 Ebenso etwa Kühl (Fn. 14), Rn. 15 Vor § 211 ~ Rengier Strafrecht Besonderer Teil Bd. 11,
6. Aufl. 2005, S. 54 f
28 Vgl. statt vieler: Wessels/Hettinger Strafrecht Besonderer Teil Bd. 1,33. Aufl. 2009, § 1
Rn. 30, 37.
29 BGHSt Urt. v. 22.04.2005 - 2 StR 310/04, Beschl. v. 07.02.2007 - 2 StR 518/06 (= BGH
St 50, 80 ff). Dazu Ver! StV (Fn. 1), 598 ff.
30 Ebenso vor allem Roxin (Fn. 1), S. 23, ferner alle mir bekannt gewordenen mündlichen
Einschätzungen von Kriminalwissenschaftlern und einigen erfahrenen forensischen Psychia-
tern.
31 LG Kassel Urt. v. 30.01.2004 - 2650 Js 36980/02~ dazu Ver! (Fn. 29).
32 Z.B. Ver! MschrKrim 2005, 412 ff
504 Arth ur Kreuzer

AE-Leben der Fall gleichfalls nicht auf Anhieb angemessen einzuordnen


wäre: Es läge Mord nach § 211 Abs. 1 vor; lebenslange Freiheitsstrafe nach
Abs. 2 käme als Regelfall infrage, weil, wenn man der extensiven Ausle-
gung des BGH folgt,33 Nr. 6 (Zweck sexueller Erregung) vorläge und weil
wegen entsprechender Bereitschaft, solches Tun gegenüber Menschen mit
gleichen Wünschen zu wiederholen, zugleich dem Maßstab des Leitprinzips
der Bedrohung der Allgemeinheit entsprochen wäre; eine ausdrückliche
Ausnahme rür Tötungen in Willensübereinstimmung mit dem Opfer fehlt;
man könnte wohl nur wegen der genannten außergewöhnlichen unrechts-
mindernden Umstände die Regelwirkung der Ermllung eines genannten
ersch,,,erenden Beispiels außer Kraft setzen.

111.
Nur auswahlhaft können wichtige Aspekte des mit dem AE-Leben vorge-
stellten Modells einer Neuordnung des Tötungsstrafrechts erörtert werden.
Zustimmung und kritische Würdigungen bei manchen Details sind bereits in
der Bestandsaufnahme unter II. angeklungen.
Hauptsächlich ist die vorgeschlagene Zweistufigkeit der Einteilung von
Tötungsdelikten, die neue Architektur des Tötungsstrafrechts, diskussions-
bedürftig. An die Stelle der bisherigen drei- bis vierstufigen Einteilung tritt
eine Zweiteilung nach Mord und Totschlag mit einem gespreizten Straf-
rahmen für Mord. Das Modell folgt ausländischen Vorbildenl und Anre-
gungen vor allem von Eser 34, indenl es nur noch zwischen schwererem
Tötungsunrecht - Mord nach § 211 - und weniger schwerem - Totschlag
nach § 212 - unterscheidet. Dem Mord wird ein großer Teil dessen zuge-
ordnet, was bisher als Mord oder als einfacher oder sogar privilegierter
Totschlag erfasst wurde; so sollen "normale" Affekt- und Konflikttötungen
aus dem Bereich des bisherigen § 213 zu Mord hochgestuft werden. Der
Strafrahmen umfasst Freiheitsstrafe von mnf bis 15 Jahren oder das Lebens-
lang. Die Höchststrafe ist in § 211 Abs. 2 vorbehalten für qualifiziertes
Tötungsunrecht; dieses ist im Regelfall anzunehmen, wenn abschließend
benannte Merkmale erfüllt sind und "wenn besonders erhöhtes Unrecht
verwirklicht wird, das die Lebenssicherheit der Allgenleinheit zu bedrohen
geeignet ist" (Leitprinzip). Totschlag (Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu
zehn Jahren) liegt nur vor, ,venn die vorsätzliche Tötung auf einer der bei-
den detailliert benannten erheblichen Konflikt- oder Affektlagen oder auf
einer vergleichbaren Konfliktlage beruht.

33 Zurn Meinungsstreit Nachw. bei Neumann (Fn. 1), § 211 Rn. 12a mit Fn. 7.
34 Fn. 7.
Notwendigkeit der Reform des Tötungsstrafrechts 505

Der Vorschlag wird damit begründet, dass er kriminologisch fundiert so-


wie schuld- und präventionsorientiert zwischen schwerer und weniger
schwerer vorsätzlicher Tötung differenziere. Er entspreche rechtsverglei-
chend einem internationalen Trend. Mord mit einem breiten Anwendungs-
feld voranzustellen, werde zudem generalpräventiven Anliegen gerecht und
werte den Lebensschutz auf. 35 Die Argumentation ruft manchen Wider-
spruch heraus:
Zwar trifft es zu, dass man kriminologisch-phänomenologisch eine weite
Bandbreite vorsätzlicher Tötungen sowohl hinsichtlich der situativen Be-
dingungen und Begehungsmodi als auch hinsichtlich der Schwere von Un-
recht und Schuld feststellen kann. Dabei lässt sich aber gerade nicht eine
Zweiteilung von schwereren und weniger schweren Tötungen nach Verhal-
tensmustern oder Unterscheidungsmerkmalen erkennen. Schon gar nicht
ergibt die phänomenologische Betrachtung, schwereres Tötungsunrecht (im
Sinne des nunmehr als Mord Definierten) trete "mit signifikanter Häufigkeit
auf'36. Eher das Gegenteil dürfte der Wirklichkeit entsprechen. Weit über
90 % aller vorsätzlichen versuchten oder "vollendeten" vorsätzlichen Tö-
tungen finden im sozialen Nahraum einander bekannter Personen statt, und
zwar ganz überwiegend in einer irgendwie konflikthaften Lage. Das dürfte
besonders fur das Dunkelfeld der üblicherweise nicht erkannten, jedenfalls
nicht verfolgten Taten gelten, sich aber noch im Hellfeld des Verfolgten und
amtlich Erfassten verifizieren lassen.37 Kriminologisch-phänomenologisch
läge also gerade nicht eine Zweiteilung, vielmehr wegen der enormen
Streubreite und Vielfaltigkeit vorsätzlicher Tötungen sowie wegen des
deutlichen Übergewichts weniger schwerer vorsätzlicher Tötungen die
Annahme eines Grunddelikts des Totschlags nahe, welches Aufstufungen
nach höherem Schweregrad zu Mord mit der Höchststrafe und Abstufungen
nach geringerem Schweregrad mit reduzierten Strafrahmen vorsähe.
Dem Hinweis auf einen internationalen Trend ist entgegen zu halten, dass
es in einzelnen Ländern unterschiedliche Traditionen und strafgesetzliehe
Rahmenbedingungen gibt, die einheitliche Unterscheidungen von Mord und
Totschlag nur schwer ermöglichen. Wenn ein System beispielsweise eine
breitere Palette des als Mord Definierten vorsieht aus Gründen des Gesell-
schaftsschutzes gegenüber rückfallgefahrdeten Tätern, dann verfugt es zu-
meist nicht über die Möglichkeit unseres Systems der Zweispurigkeit, neben
einer Strafe die Maßregel der Sicherungsverwahrung anzuordnen, um der
Rückfallgefahr zu begegnen. Auch dürfte die vorgesehene Weite des Straf-

35 AB-Leben (Fn. 1), S. 205 f., 247.


36 AB-Leben (Fn. 1), S. 225.
37 Vgl. die Belege mit typischen Fallgruppen des als Tötungsunrecht oft schwer und sehr
ungleich juristisch Definierbaren Ver! (Fn. 4 und 9).
506 Arthur Kreuzer

rahmens mit der Mindeststrafe von runf Jahren rur Mord selten in ver-
gleichbaren Ländern zu finden sein; in Oesterreich etwa liegt die Unter-
grenze bei zehn Jahren. 38
Die generalpräventive Argumentation für einen breiten Bereich des als
Mord Definierten passt zwar gut in die Zeit eines "punitive turn". Es trifft
zu, dass sich eine Abschaffung des Lebenslang oder eine Einengung des als
Mord Erfassten politisch schwer durchsetzen lassen, solange noch die Nei-
gung zu massenmedial unterstützter Verbrechensangst mit der Folge krimi-
nalpolitischer Aufrüstung vorzuherrschen scheint. Die stete, weitgehend
populistische Nachrüstung in dem Recht der Sicherungsverwahrung zeigt
es. Gleichwohllnüssen Wissenschaftler nüchtern urteilen und mäßigend auf
solche Entwicklungen einzuwirken bestrebt sein. Das generalpräventive
Argument für die Entwurfslösung ist vor allem aber in sich fragwürdig.
Denn wie kann eine Hochstufung weiter Teile des bisher als Totschlag
Erfassten zu Mord eine strafgesetzliche Höherschätzung des Lebensgutes
signalisieren, wenn zugleich der Strafrahmen rur Mord derart weit gestaltet
wird, dass sich damit eher der Vorwurf einer Bagatellisierung assoziieren
lässt?39 Der vom AE-Leben zu Recht gerügte "Quantensprung" von der
Rechtsfolge rur Totschlag zu der des Mordes im bisherigen Recht 40 findet
nun innerhalb des vorgeschlagenen § 211 statt, nämlich von einer zeitigen
zur lebenslangen Freiheitsstrafe. 41 "Nur" fünf Jahre Mindeststrafe sind vor-
gesehen, also eine Untergrenze des Strafrahmens, die wir auch von anderen
Straftatbeständen kennen. Derselbe Strafrahmen rur Mord im "Normalfall"
des § 211 Abs. 1 des Entwurfs droht etwa dem, der Betäubungsmittel in
nicht geringer Menge einruhrt oder mit ihnen Handel treibt (§ 30a BtMG),
oder dem, der bei einem Raub eine Waffe verwendet (§ 250 Abs. 2 StGB).
Noch markanter zeigt sich die möglicherweise generalpräventiv ungünsti-
ge Signalwirkung der Weite des Strafrahmens, wenn man sich vergegen-
wärtigt, dass die jeweils geltenden Mindestverbüßungszeiten rur eine Straf-
restaussetzung zur Bewährung bei Mord nach §§ 211 Abs. 1 und 2, 57a
Abs. 1 des Entwurfs zwischen etwa drei und 20 Jahren lägen.
Die gewaltige Bandbreite des vom vorgeschlagenen § 211 mit Mord er-
fassten Unrechts hat zu alledem noch eine fragwürdige Folge rur die Unver-
jährbarkeit von Mord. Die gesamte Palette der bislang teilweise lediglich als
Totschlag nach §§ 212, 213 StGB und vom § 211 erfassten Tötungen soll
nunmehr unverjährbar sein nach § 78 Abs. 2 StGB. 42 Das widerstreitet den

38 Vgl. die Übersicht bei Heine (Fn. 2), S. 348 Fn. 116.
39 Kritik daran auch von Hirsch in: Jahn/Nack (Fn. 1), S. 61, der eine Bildzeitungsschlagzei-
le prognostiziert: "Neue Reform des StOB - Fünf Jahre Freiheitsstrafe für Mord".
40 AB-Leben (Fn. 1), S. 208 f.
41 So auch kritisch lVeumann (Fn. 1), Rn. 156a Vor § 211.
42 AB-Leben (Fn. 1), S. 267 f.
Notwendigkeit der Reform des Tötungsstrafrechts 507

Gesetzgebungsmotiven, namentlich für NS-Pogromtaten die Verjährung


aufzuheben. Unverjährbarkeit stellte und stellt an sich schon eine rechts-
staatlich fragwürdige Ausnahme dar angesichts vor allem der zunehmend
erschwerten Beweisführung und des Gedankens einer "zweiten Chance",
die ja auch in dem Grundsatz Niederschlag findet, dass schuldangemessen
selbst bei lebenslanger Strafe nur eine zeitlich befristete Verbüßung vorge-
sehen ist. Dass aber mit sogar fünfjähriger Mindeststrafe versehene Tötun-
gen unverjährbar sein sollen, ist unangemessen. Es würde überdies gegen-
wärtig virulente Forderungen laut werden lassen, dann zugleich andere
Delikte - vor allem Sexualstraftaten und Kindesmisshandlung - mit fünf-
jährigen Mindeststrafandrohungen fUr unverjährbar zu erklären.
Der Ver! favorisiert wegen dieser Einwände nach wie vor die Struktur
eines Grundtatbestandes des Totschlags (fünf bis 15 Jahre Freiheitsstrafe)
mit einer Aufstufung wegen Mordes in abschließend benannten Fällen,
verbunden mit einer qualitativen Gesamtbewertung im Sinne vielleicht
eines Leitprinzips (Höchststrafe) einerseits und andererseits der Möglich-
keit, für wiederum beispielhaft benannte und mit einer Art Leitprinzip ver-
bundene Fälle den Strafrahmen abzustufen (ein Jahr bis 10 Jahre). Ein
Grundtatbestand am Anfang erscheint kriminologisch und gleichfalls
rechtsdogmatisch und systematisch besser fundiert. Will man aber aus guten
Gründen mit dem AE-Leben an der generalpräventiv verstandenen Plaka-
tivwirkung eines Mordtatbestandes - gewissermaßen als "Flaggschiff des
gesamten Strafgesetzbuches"43 oder jedenfalls der Tötungs-Straftatbestände
- festhalten und dennoch den hier aufgezeigten kriminologischen, kriminal-
politischen und sanktionsrechtlichen Einwänden Rechnung tragen, so ließe
sich an folgende Umschichtung im vorgeschlagenen Modell de.s AE-Leben
denken: Ein neuer § 211 würde wegen Mordes mit lebenslanger Freiheits-
strafe diej enigen bedrohen, die einen anderen Menschen töten und dabei die
in § 211 Abs. 2 des Entwurfs genannten Voraussetzungen erfüllen. § 212
würde in der Konsequenz den bisher in § 211 Abs. 1 des Entwurfs erfassten
Fällen gelten. § 212 des Entwurfs würde zu einem neuen § 213.
Außer der vorgeschlagenen Grundstruktur des Tötungsstrafrechts verdient
die Einfiihrung des Leitprinzips im Entwurf des § 211 Abs. 2, mit den Zie-
len, die abschließend benannten Mordmerkmale besser auslegen und be-
grenzen zu können, kritische Auseinandersetzung. Ein Leitprinzip hat sicher
seinen Charme. Es verspricht als zweiter Prüfstein erhöhte Rechtssicherheit
bei der Anwendung der Höchststrafe. Es erscheint im Entwurf des AE-
Leben sogar unverzichtbar angesichts der dort vorgeschlagenen Mord-
merkmale der Nummern 3-6; denn diese bedeuten im Gegensatz zu den
Merkmalen der Nummern 1 und 2 gerade nicht eo ipso ein~ Gemeinschafts-

43 Terminus von Schneider in: lahnlNack (Fn. 1), S. 55.


508 Arthur Kreuzer

bedrohlichkeit derart, dass eine Beliebigkeit der Auswahl des Opfers durch
die Tötung indiziert wird. So würde etwa das bestimmte Menschen diskri-
minierende Motivmerkmal der Nr. 3 sonst zu übergroßer Anwendungsbreite
führen. Ohnehin erscheint ein drastisch straferhöhendes Merkmal diskrimi-
nierender Tatmotivation fragwürdig wegen meist vorherrschender Motiv-
bündel mit in ihrer Wertigkeit durchaus diskrepanten Einzelmotiven. Bei
Brandlegungen an Ausländerwohnheimen durch junge Tätergruppen bei-
spielsweise nehmen manche junge Leute unreflektiert teil, bloß um zur
Gruppe zu gehören, aus Feigheit, sich von der Gruppe zu distanzieren, mit-
unter auch, um stark zu erscheinen, oder vor allem aus Frustration gegen-
über ihrer Lage am Rande der Gesellschaft, aber meist durchaus wissend
um die Situation der Opfer als Ausländer.
Bedenken bestehen schon wegen der schwierigen Interpretation dieses
Leitprinzips, wenn darin eine verschuldete "unrechtserhöhende Gemein-
schaftsbedrohlichkeit" liegen soll.44 Es dürfte schwer zu ermitteln sein,
wann eine Tat lediglich diesem Opfer gelten sollte oder wann sie darüber
hinaus eine potenzielle Austauschbarkeit des Opfers signalisiert derart, dass
auch jeder andere Bürger zum Opfer hätte werden können.
Ein weiteres Bedenken besteht, weil einer von drei bisher in § 211 StGB
erfassten Erschwerungsgründe, eben die Gemeinschaftsgefahrlichkeit, nicht
indes die besondere Verwerflichkeit der Motivation oder die Heimlichkeit,
Hinterhältigkeit, Skrupellosigkeit, zum alleinigen Maßstab erklärt wird.
Damit wird vielleicht nicht unbedingt, wie ein Kritiker meint,45 wieder auf
die gerade als obsolet erklärte Tätertyplehre zurückgegriffen. Aber zumin-
dest überschneidet sich der Gefahrlichkeitsgesichtspunkt mit dem nämli-
chen, welcher der Maßregel der Sicherungsverwahrung zugrunde liegt.
Sicherungsverwahrung aber sollte nach Ansicht des Ver! und vieler anderer
bereits neben einer Strafe für Ersttäter schwerster Gewalttaten bei im Ur-
teilszeitpunkt festzustellender Rückfallgefahr vorbehalten werden können. 46
Dies ist auch teilweise schon nach geltendem Recht möglich, sogar über-
flüssigerweise neben lebenslanger Strafe. Dann jedoch kommt der Gefahr-
lichkeit keine besondere Funktion mehr im Tötungsstrafrecht zu.
Überdies fragt es sich, ob auf andere Leit-Kriterien für die Bestitnmung
erhöhten Tötungsunrechts ganz verzichtet werden kann. Heimtücke und
"niedrige Beweggründe" sollen gänzlich wegfallen. Damit wird der An-
wendungsbereich des Lebenslang drastisch gegenüber dem bisherigen be-
schnitten. Das Lebenslang würde, wie ein Kritiker formuliert, zur "forensi-

44 AE-Leben (Fn. 1), S. 210 f.


45 Hirsch in: Jahn/Nack (Fn. 1), S. 61 f.
46 VerflBartsch GA 2008, 655 ff.~ dies. (Fn. 22).
Notwendigkeit der Reform des Tötungsstrafrechts 509

schen Rarität degenerieren"47. Warum, so kann man sich fragen, sollte nicht
beispielsweise der Täter mit der Höchststrafe belegt werden, der heimtü-
ckisch einen anderen Menschen tötet, weil er an diesem und eben nur die-
sem fürchterliche Rache in grausamster Form üben will, hernach aber ver-
geblich versucht, sich selbst das Leben zu nehmen. Schwerstes Unrecht
liegt vor, aber keine Gemeinschaftsgefährlichkeit.
Man sollte daher überlegen, das genannte Leitkriterium zu ergänzen oder
zu ersetzen durch dasjenige "besonderer Verwerflichkeit". Ein solches Leit-
prinzip ließe es zu, Heimtücke wieder als Mordmerkmal vorzusehen und im
Anwendungsbereich gebührend einzuschränken. Zwei alternative Ziele
würden freilich die Einheitlichkeit und Stimmigkeit des Leitprinzips im AE-
Leben stören.
Als letzter Aspekt kritischer Reflexion seien das Festhalten an der lebens-
langen Freiheitsstrafe und die Bestimmung ihrer Mindestverbüßungszeiten
im AE-Leben 48 gestreift. Zutreffend weisen die Autoren auf eine gegenwär-
tig fehlende Akzeptanz in Politik und Öffentlichkeit hin, würde man die
Abschaffung dieser Strafe vorschlagen. Mehrheitlich haben sie sich prag-
matisch für die Beibehaltung entschieden. Das wäre in einer früheren Zeit
andersartiger gesellschaftspolitischer Gestimmtheit wohl nicht möglich
ge\vesen. Die öffentliche Erklärung "Wider die lebenslange Freiheitsstrafe"
des Komitees rur Grundrechte und Demokratie von 1992 war noch von 150
Experten unterzeichnet worden,49 darunter Mitverfassern des jetzigen AE-
J..Jeben. Ver! hatte sich seinerzeit dem nicht angeschlossen, weil er eine
dann konsequente Ausweitung alternativer Sicherungen für potenziell rück-
fällige Tötungstäter im Maßregelrecht befürchtete. Diese Ausweitung ist
nun geschehen, ohne dass es zur Abschaffung des Lebenslang gekommen
wäre. Sogar neben der Höchststrafe soll Sicherungsverwahrung unsinniger-
weise angeordnet werden können. Das deutet auf eine realistische Einschät-
zung der Autoren. Aber müssen Kriminal\vissenschaftler in Diskussions-
modellen pragmatisch argumentieren? Und wird ein solcher Vorschlag nicht
um so eher angreifbar, wenn gleichzeitig zu verstehen gegeben \vird, man
wolle diese Strafe ähnlich pragmatisch durch "einen weitgehenden Verzicht
auf die Vollstreckung" verändern?50 Das bedeutet Wasser auf die Mühlen
derer, die von "Lebenslang" als einer Lüge sprechen. Es lässt Fragen nach
der Rechtsnatur des "Sicherungsüberhangs" einer aus Präventionsgründen
über die unabdingbare Mindestzeit hinaus reichenden Verbüßung ungeklärt,

47 Schneider in: JahnlNack (Fn. 1), S. 55,57.


48 AE-Leben (Fn. 1), insb. S. 206-208~ 254 ff.
49 Dazu eingehend mit Nachw. Weber Die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe,
1999, S. 21 ff.~ dazu kritisch Ver! FAZ Nr. 25 v. 31.01.2000, S. 10.
50 AB-Leben (Fn. 1), S. 207.
510 Arthur Kreuzer

beispielsweise die Frage, ob die über das Schuldangemessene dauernde Haft


wie Sicherungsverwahrung oder in der Sicherungsverwahrung zu vollstre-
cken sei mit dem dafür geltenden "Abstandsgebot".51
Erörterungsbedürftig erscheinen damit zugleich die in § 57ades AE-
Leben vorgeschlagenen Mindestverbüßungszeiten des Lebenslang, während
der Verlagerung einer Entscheidung über diese Zeiten auf das erkennende
Gericht und einer Beseitigung sonstiger Ungereimtheiten des § 57a StGB
voll zuzustimmen ist. 52 Für Mord nach § 211 Abs. 2 des Entwurfs wird zu
Recht grundsätzlich an der Mindestverbüßungszeit von 15 Jahren festgehal-
ten. Lediglich für die lebenslangen Strafen mit den in § 211 Abs. 2 Num-
mern 1-3 des Entwurfs genannten Mordmerkmalen soll einheitlich eine
Mindestdauer von zwanzig Jahren gelten. Das überzeugt nicht aus zwei
Gründen: Erstens ist die Bandbreite der erfassten Morde zu groß, um einen
generellen pauschalen Zuschlag von fünf Jahren zu rechtfertigen. Man den-
ke an Massen- oder Serienmord einerseits, eine diskriminierende Einzeltat
mit den oben genannten Bedenken gegen eine Beurteilung entsprechender
Motive andererseits. Zumindest sollte dem erkennenden Gericht ein Spiel-
raum verbleiben, die Mindestverbüßungszeit auszutarieren nach der Schwe-
re der jeweiligen Tat. Zweitens erscheint der Zuschlag von fünf Jahren
allenfalls für übliche Fälle von Einzelmorden angemessen. Massenmord wie
den NS-Pogrom-Taten und Serienmord dürfte er nicht mehr gerecht werden.
Hier sollte dem Gericht ein Zumessungsspielraum von zusätzlich bis zu
mindestens 10, vielleicht sogar 15 Jahren über die übliche Mindestverbü-
ßung hinaus zur Verfügung stehen. In seinem Rahmen ist individuell die
Mindestverbüßungszeit festzulegen unter Berücksichtigung u.a. der Schuld-
schwere, der Zahl von Opfern, des Lebensalters des Täters. Warum sollte
eine Mindestverbüßung von 25 Jahren für einen 3D-jährigen Serienmörder
mit insgesamt zehn Morden nicht mehr schuldangemessen und verkraftbar
sein, wenn sich eine Entlassungsperspektive im Alter von 55 Jahren bietet?
Nach alledem ist der Vorschlag des AE-Leben eine für die Reformdiskus-
sion wertvolle Grundlage. Er gibt fundiert Denkanstöße. Aber er \vird nach
Struktur- und einigen Detailvorschlägen noch gründlicher Diskussion und
Modifikation bedürfen, Uln in die Gesetzgebung einfließen zu können.

51 Dazu Ver! Loccumer Protokolle (Fn. 22).


52 AE-Leben (Fn. 1), S. 254 ff.
Zum Mitwirkungsverweigerungsrecht beim
Schwangerschaftsabbruch

THOMAS HILLENKAMP

I.
"Niemand" - so lautet § 12 Abs. 1 des Gesetzes zur Vermeidung von
Schwangerschaftskonflikten (Schwangerschaftskonfliktgesetz - SchKG)l -
"ist verpflichtet, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken". Nach
Abs. 2 dieser Vorschrift gilt das nur dann "nicht, wenn die Mitwirkung
notwendig ist, um von der Frau eine anders nicht abwendbare Gefahr des
Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung abzuwenden". Bei die-
ser nach ihrem Wortlaut jedermann, in der Praxis aber namentlich Ärzten,
ärztlichem Hilfspersonal und - wie der Gebrauch des "unpersönlichen"
Wortes "niemand" nahe legt - auch nach weitgehend übereinstimmender
Meinung Krankenhausleitungen und -trägem ein nur rur den akuten Notfall
eingeschränktes Weigerungsrecht zubilligenden Vorschrift handelt es sich
nach Hans-Georg Koch "um eine der klarsten Bestimmungen des Reform-
werks", die "in ihrem Kern auch allgemein akzeptiert" werde. 2 Für Rein-
hard Merkel "bekräftigt" § 12 Abs. 1 SchKG sogar nur ,,(deklaratorisch)
eine Selbstverständlichkeit"; denn "eine zwangsrechtliche Pflicht", an nicht
im Sinne des § 12 Abs. 2 SchKG strikt medizinisch indizierten Schwanger-
schaftsabbrüchen mitzuwirken, wäre nach ihm "eine nach allgemeinen
Prinzipien unrechtmäßige und wohl auch verfassungswidrige Nötigung".3

1 So die durch das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz (SFHÄndG) vom


21. August 1995 (BGBL I, S. 1050) dem vormaligen Gesetz über Aufklärung, Verhütung,
Familienplanung und Beratung vom 27. Juli 1992 (BGBL I, S. 1398)' neu gegebene Bezeich-
nung; § 12 ist durch die jüngste Reform durch das Gesetz zur Änderung des SchKG vom
26. August 2009 (BGBL I, S. 2990) - in Kraft seit dem 1. Januar 2010 - unverändert geblie-
ben; s. zu den Änderungen Duttge/Bernau ZfL 2009, 42 ff.
2 Koch in: Eser/Koch, Schwangerschaftsabbruch im internationalen Vergleich, Teil 1: Euro-
pa, I. Aufl. 1988, S. 183; mit "Reformwerk" war die durch das Fünfte Gesetz zur Reform des
Strafrechts (5. StrRG) vom 18. Juni 1974 (BGBL I, S. 1297) eingeleitete Reform des Schwan-
gerschaftsabbruchrechts gemeint. Art. 2 dieses Gesetzes stimmt mit dem heutigen § 12 SchKG
überein.
3 Merkel in: Roxin/Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, 3. Aufl. 2007, S. 229.
512 Thomas Hillenkamp

Diese Aussagen weisen auf breite Akzeptanz, ja auf Unverzichtbarkeit


des in § 12 Abs. 1 SchKG verbürgten Verweigerungsrechts. Dafür spricht
auch, dass dieses Recht für Ärzte und Ärztinnen in deren Berufsordnungen
in einem noch abwehrender formulierten, die Einschränkung des § 12
Abs. 2 SchKG nicht einmal enthaltenden Satz festgeschrieben ist. Er lautet:
"Ärztinnen und Ärzte können nicht gezwungen werden, einen Schwanger-
schaftsabbruch vorzunehmen".4 Unser Thema scheint danach nicht sonder-
lich viel herzugeben: Die Grundfragen sind entschieden, umstritten sind
lediglich Einzelfolgerungen, nicht aber der "Kern". Über ihn herrscht Kon-
sens. Und doch lohnt es, die Regelung nach mehr als drei Jahrzehnten ein-
mal neu auf den Prüfstand zu stellen. Denn was vor allem in Publikationen
der Juristenvereinigung Lebensrecht e.V.,5 aber - wie schon gezeIgt - auch
in "neutraleren" Stellungnahmen als "Selbstverständlichkeit" erscheint, ist
es aus drei Gründen eigentlich nicht. Zum ersten stellt sich die Frage, wie
sich die Einräumung eines Mitwirkungsverweigerungsrechts am Schwan-
gerschaftsabbruch an eine Berufsgruppe - die Ärzte und ihr Personal - und
an Institutionen - die Krankenhäuser, ihre l,eitungen und Träger - zu der
Rolle verhält, die das in §§ 218 ff. StGB vom Gesetzgeber verwirklichte
Lebensschutzkonzept eben diesen Normbegünstigten, den Ärzten und
Krankenanstalten, in ihm zuweist. Zum zweiten bedarf der Antwort, was
eigentlich die "Berechtigung" einer Schwangeren wert ist, sich fur einen ihr
gesetzlich (straf)frei gestellten Schwangerschaftsabbruch zu entscheiden
und diesen dann auch durchführen zu lassen, wenn es denjenigen, von deren
Mitwirkung die StraffreisteIlung abhängt, offenbar gänzlich freisteht, diese
Mitwirkung zu verweigern. Und zum dritten muss man fragen, warum das
Weigerungsrecht nur bei einem engen Ausschnitt der in § 218a Abs. 2 gere-
gelten Indikation, nicht ~ber in den übrigen gerechtfertigten Abbruchsfällen
ausgeschlossen ist. Geht man diesen Fragen nach, wird sich möglicherweise
zeigen, dass der Kernkonsens zu den gesetzlichen Antworten vielleicht doch
nicht auf "Selbstverständlichkeiten" ruht. Und wenn dem so ist, muss man
auch die Interpretation der Norm und die Berechtigung ihrer weiten Fassung
neu bedenken.
Wenn das in diesem kleinen, Heinz Schöch mit herzlichen Glückwün-
schen zu seinem 70. Geburtstag gewidmeten Beitrag geschieht, dann des-
halb, weil das Interesse des Jubilars an den Fragestellungen des Medi-
zin(straf)rechts und der (straf)rechtlichen Bewertung ärztlichen HandeIns
durch viele wegweisende Publikationen eindrucksvoll belegt und unser

4 S. § 14 Berufsordnung für Ärzte Baden-Württemberg, 2007~ zu der entsprechenden Vor-


schrift in der Bayrischen Berufsordnung für Ärzte s. BVerfGE 98, 265, 276.
5 S. dazu nur zuletzt Büchner ZtL 2008, 2 tI.~ Cornides ZfL 2007, 2 ff.
Zum Mitwirkungsverweigerungsrecht beim Schwangerschaftsabbruch 513

Thema daher in einem der Schwerpunktgebiete des wissenschaftlichen


Lebenswerks des hier zu Ehrenden angesiedelt ist. 6

11.
Fragt man als erstes nach der Vereinbarkeit des Mitwirkungsverweige-
rungsrechts der Ärzte und Krankenhäuser mit der Rolle, die ihnen der Ge-
setzgeber im Schwangerschaftskonflikt zugedacht hat, muss man die gel-
tende Rechtslage ins Auge fassen. Zwar stammt die Weigerungsrechts-
regelung aus dem 5. StrRG von 1974, das mit § 218a eine Fristenlösung
einführen wollte, 7 die mitzutragen und zu praktizieren der Ärzteschaft und
den Krankenhäusern prospektiv nicht ohne Weiteres zuzumuten sein moch-
te. Das Weigerungsrecht hatte daher (auch) eine Ventilfunktion. Deren
schon damals von den Befürwortem der Fristenlösung befürchtete Wirkung
einer (Schein)Legitimation für einen politisch motivierten Ausstieg aus der
Reform 8 muss sich mit der Berechtigung der Ventilfunktion selbst heute
aber an dem vom Gesetzgeber 19969 auf der Grundlage der Aussagen des
2. Fristenregelungsurteils des Bundesverfassungsgerichts 10 verwirklichten
Lebensschutzkonzept messen lassen. Es zeichnet sich einerseits durch die
für eine Straflosigkeit eines jeden Abbruchs zwingende Mitwirkung von

6 Neben den ohne Einbeziehung der medizinischen Grundlagen in der von Heinz Schöch
gebotenen Qualität nicht denkbaren zahlreichen Beiträgen zum Einfluss von Alkohol, Medi-
kamenten und Drogen im Straßenverkehr, seiner Kommentierung der §§ 19-21 StGB im
Leipziger Kommentar und seinen Äußerungen zu Problemen der Beteiligung von Psychologen
und Psychotherapeuten am Strafvollzug sind seine aus der Mitarbeit im Kreis der "AE-
Professoren" hervorgegangenen gewichtigen Beiträge zur ärztlichen Rolle bei Suizid und
Sterbehilfe besonders hervorzuheben. Im 2010 in 4. Auflage erschienenen, von Roxin und
Schroth herausgegebenen Handbuch des Medizinstrafrechts ist der Jubilar mit drei Arbeiten
vertreten. Namentlich im letzten über die "Gesundheitsfürsorge im Straf- und Maßregelvoll-
zug" (S. 778-810) sind unsere in bester Erinnerung gebliebenen und durch die vergangenen
gemeinsamen Göttinger Tage sehr persönlich gehaltenen Begegnungen auf einem uns verbin-
denden Interessengebiet abgebildet.
7 Art. 2 des 5. StrRG vom 18. Juni 1974 (BGBL I, S. 418) stimmt in beiden Alternativen
wörtlich mit dem heutigen § 12 SchKG überein~ § 218a lautete: "Der mit Einwilligung der
Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist nicht nach § 218
strafbar, wenn seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen verstrichen sind".
8 Befürchtet wurde angesichts des Mitwirkungsverweigerungsrechts kommunaler und kreis-
eigener Krankenhäuser das Unterlaufen des Konzepts vor allem in ländlichen Gegenden durch
die Weigerung der Krankenhausträger, in ihren Häusern Fristenabbrüche zuzulassen, s. zur
Problematik entsprechender Kreistagsbeschlüsse Grupp NJW 1977, 329 ff. ~ zur benannten
Befürchtung auch Koch (Fn. 2), S. 183.
9 Die heute geltende Regelung beruht auf dem Schwangeren- und Familienhilfeänderungs-
gesetz (SFHÄndG) vom 21. August 1995 (BGBL I, S. 1050)
10 BVerfGE 88,203.
514 Thomas Hillenkamp

Ärzten aus. Andererseits gibt es in § 13 Abs. 2 SchKG den Ländern auf, ein
"ausreichendes Angebot ambulanter und stationärer Einrichtungen zur Vor-
nahme von Schwangerschaftsabbrüchen" und damit auch durch Kranken-
häuser ll sicher zu stellen. Die Notwendigkeit der ärztlichen Mitwirkung ist
in § 218a Abs. 1 für die "beratenen", in § 218a Abs. 2 und 3 für die durch
Indikationen gerechtfertigten Schwangerschaftsabbrüche festgeschrieben.
Für Letztere ist die schriftliche Feststellung der Indikation durch einen vom
abbrechenden unterschiedenen Arzt nach § 218b Abs. 1 vorausgesetzt.
Auch für einen nach § 218a Abs. 4 nur fur die Schwangere strat10sen Ab-
bruch ist die Mitwirkung eines Arztes unabdingbar. Die Beratung nach
§ 219 erfolgt zwar nicht zwingend, kann aber durch einen Arzt erfolgen.
§ 2a SchKG hat vor allem fur Spätabbrüche besondere Beratungspflichten
für Ärzte, die der Schwangeren einen pränataldiagnostisch zutage geförder-
ten Befund mitteilen, sowie fur die Ärzte hinzugefügt, die in solchen Fällen
die Feststellung der medizinisch-sozialen Indikation treffen.
Während historisch der Arztvorbehalt (auch) mit der Zurückdrängung des
Laienaborts und des Kurpfuscher-Unwesens erklärt werden kann,12 hat das
Bundesverfassungsgericht 1992 die beiden für das heutige Recht maßgebli-
chen Zielsetzungen dahin zusammengefasst, dass die "staatliche Schutz-
pflicht" es erfordere, "dass die im Interesse der Frau notwendige Beteili-
gung des Arztes zugleich Schutz für das ungeborene Leben bewirkt". Da
der Arzt schon "durch Berufsethos und Berufsrecht" darauf festgelegt sei,
sich für die Erhaltung menschlichen Lebens, auch des ungeborenen, einzu-
setzen, müsse das Recht "den Arzt verpflichten, die ihm zukommende
Schutzaufgabe" fur das werdende Leben im Schwangerschaftskonflikt
wahrzunehmen und den Abbruch allein den Feten vorzubehalten, in denen
er ihn "für ärztlich verantwortbar" hält. Auch müsse das Recht den Arzt
anhalten, seine dem Lebensschutz dienende Aufklärungs- und Beratungs-
pflicht zu erfüllen. Auf diesem Wege werde er zu einer wichtigen "Stütze
für den Schutz des ungeborenen Lebens", auf die "ein auf Schutzwirkung
zielendes Beratungskonzept nicht verzichten" dürfe. 13
N eben diesen das ungeborene Leben betreffenden Schutz tritt das "Inte-
resse der Frau", sachkundig aufgeklärt und beraten, über das Alter der

11 Das gilt, obwohl nach BVerfGE 88, 203, 329 "der Schwangerschaftsabbruch ... nicht
mehr grundsätzlich in das Krankenhaus verwiesen", sondern auch in dafür eingerichteten
Ambulatorien möglich ist und es an sich auch Aufgabe des Staates sein soll, "für ein ausrei-
chendes Angebot an Abbruchseinrichtungen auch in der Fläche des Landes im Sinne einer
Auswahlmöglichkeit zwischen stationären und ambulanten Einrichtungen ·zu sorgen".
12 S. LK-Tröger, 11. Aufl. 2002, § 218a Rn. 13; SK-Rudolphi/Rogall, Stand 2008, § 218a
Rn. 33; s. zu dieser gesetzgeberischen Motivation auch Koch in: EserlKoch, Schwanger-
schaftsabbruch und Recht, 1. Aufl. 2003, S. 159 f.
13 BVerfGE 88,203,289-293.
Zum Mitwirkungsverweigerungsrecht beim Schwangerschaftsabbruch 515

Schwangerschaft informiert und fur den Fall des Schwangerschaftsabbruchs


durch seine der medizinischen lex artis entsprechende Ausführung den mit
dem Eingriff verbundenen Risiken nicht mehr als zwangsläufig ausgesetzt
zu werden. 14 Die "aus ärztlicher Sicht" der Frau geschuldete "Hilfe"15 ge-
währleistet also zugleich den Schutz der Gesundheit der Frau, indem na-
mentlich die Durchführung des Abbruchs in sachkundige Hände gelegt
wird. Aus beiden Begründungen des Arztvorbehaltes hat das Bundesverfas-
sungsgericht in seinem Urteil zum "Bayerischen Sonderweg" seinen bemer-
kenswerten Schluss gezogen, dass ,jedenfalls hier, wo die Tätigkeit des
Arztes notwendiger Bestandteil des gesetzlichen Schutzkonzepts ist, weil es
seiner Mitwirkung im Interesse der Schwangeren und ihrer Gesundheit
bedarf und von der Beteiligung des Arztes am Schutzkonzept zugleich ein
besserer Schutz fur das ungeborene Leben durch eingehende ärztliche Bera-
tung zu erwarten ist, der ärztlichen Vomahme (selbst) von rechtswidrigen
Schwangerschaftsabbrüchen der Schutz des Art. 12 Abs. 1 GG nicht versagt
werden" könne. 16 Dass zum Schutz des ungeborenen Lebens im Falle der
Entscheidung, es zugunsten der Konfliktlösung aufzuopfern, auch die scho-
nendste Weise seiner Tötung gehört, wird im hier erörterten Zusammenhang
zwar nicht erwähnt, ist aber ein zusätzlicher Grund, auf der ausschließlichen
Zuweisung des Abbruchs in ärztliche Hand zu bestehen. 17
Obwohl "der Schwangerschaftsabbruch18 ... auch wenn er von einem
Arzt vorgenommen wird" nach Auskunft des Bundesverfassungsgerichts
"weder eine Maßnahme der Gesundheitsvorsorge noch ein Heileingriff' ist
und "ein in irgendeiner Weise behandlungsbedürftiger Zustand der
Schwangeren ... hier in der Regel erst durch den Eingriff' entsteht, fehlt
den von "einem Arzt vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüchen" nach
Meinung des Gerichts "nicht ein Bezug zu ... der Gesundheitsvorsorge".
Denn "auch der nicht medizinisch indizierte Schwangerschaftsabbruch stellt
sich" nach ihm "als medizinischer Eingriff an der Frau dar und ist daher mit
gesundheitlichen Risiken für sie verbunden". Aus diesem Grund ist es nicht
nur gerechtfertigt vorzuschreiben, dass jeder Schwangerschaftsabbruch "nur
von einem Arzt vorgenommen werden darf, damit er nach den Regeln der
ärztlichen Kunst erfolgt". 19 Vielmehr gilt es dem Bundesverfassungsgericht

14 S. hierzu BVerfGE 88,203,314 und auch schon BVerwGE 89, 260, 266 f.~ MK-Gropp,
2003, § 218a Rn. 22.
15 BVerfGE 88, 203, 289.
16 BVerfGE 98, 265, 297.
17 "Schonend" meint die Vermeidung denkbarer Angst- und Schmerzeriebnisse namentlich
bei Spätabbrüchen durch Fetozid, s. dazu Hillenkamp FS Amelung, 2009, S. 445~ NK-Merkel,
2. Aufl. 2005, § 218a Rn. 108 ff.
18 "mit Ausnahme des medizinisch indizierten", s. BVerfGE 88,203,314.
19 BVerfGE 88,203, 314.
516 Thomas Hillenkamp

auch als legitim vorzuschreiben, "dass ein Schwangerschaftsabbruch nur in


einer Einrichtung vorgenommen werden darf, in der auch die notwendige
medizinische Nachbehandlung gewährleistet ist".20 Und das Gericht bean-
standet auch nicht die vom Bundesgesetzgeber zugleich etablierte Aufgabe,
von "staatlicher Seite ein ausreichendes und flächendeckendes Angebot
sowohl ambulanter als auch stationärer Einrichtungen zur Vornahme von
Schwangerschaftsabbrüchen sicher zu stellen".21 Auch diesen, durch ent-
sprechende Ambulatorien, aber auch Krankenhäuser zu erfüllenden Sicher-
stellungsauftrag begründet das Bundesverfassungsgericht neben der schon
zitierten Gesundheitsfürsorge für die Schwangere und einer ihr geschulde-
ten "Hilfe in der Not" nicht anders als den Arztvorbehalt zugleich mit dem
"Lebensschutz". Denn "wenn sich der Arzt nicht wegen einer weiten Anrei-
se der schwangeren Frau gedrängt sieht, den Schwangerschaftsabbruch an
dem Tage, an dem sie sich bei ihm zum ersten Mal einfindet, vorzuneh-
men", bleibt Zeit, "zunächst das ärztliche Gespräch mit der Frau zu ruhren
und sie in Übereinstimmung mit der auf Lebensschutz gerichteten ärztlichen
Beratungspflicht zu beraten" sowie einen etwaigen Eingriff auf einen späte-
ren Tag zu verschieben. Damit werde "noch einmal die Chance für eine
Entscheidung der Frau zugunsten des Ungeborenen eröffnet".22
Führt man sich diese Aussagen zum Arztvorbehalt und zum gesetzlich
verordneten, die Krankenhäuser einbeziehenden Sicherstellungsauftrag vor
Augen, ist die gleichzeitige Etablierung eines nach seinem Wortlaut sehr
weitreichenden Mitwirkungsverweigerungsrechts für Ärzte und Kranken-
häuser jedenfalls keine "Selbstverständlichkeit". Es ist zwar vom Bundes-
verfassungsgericht nicht übersehen, wenn das Gericht schreibt, es obliege
den Ländern nur "im Rahmen der durch das ärztliche Weigerungsrecht ...
eingeschränkten Möglichkeiten und der durch die verfassungskonforme
Begründung des Sicherstellungsauftrags gesetzten Schranken für die not-
wendige ärztliche Betreuung der Schwangeren zu sorgen".23 Auch versucht
das Gericht, dem von ihm im "Schutzbereich" des "durch das ärztliche
Berufsbild geprägten Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 12 Abs. 1 GG)" grundrechtlich verankerten und daher (wohl) unver-
zichtbaren wie "vertraglich nicht abdingbaren" Weigerungsrecht eine die
dem Arzt "im Schutzkonzept einer Beratungsregelung zukommende Funk-
tion" unterstützende Bedeutung zuzuschreiben, wenn es zugleich garantiere,
dass dem Arzt aus seiner "Weigerung, Schwangerschaftsabbrüche vorzu-
nehmen, grundsätzlich keine rechtlichen oder tatsächlichen Nachteile" er-

20 BVerfGE 88,203,294.
21 BVerfGE 88,203,328.
22 BVerfGE 88,203,330.
23 BVerfGE 88, 203, 333 f.
Zum Mitwirkungsverweigerungsrecht beim Schwangerschaftsabbruch 517

wachsen dürften. 24 Mehr als die Notwendigkeit, sich in den verfassungs-


rechtlich unabdingbaren Grenzen folgenlos einer Mitwirkung verweigern zu
dürfen, ist hiermit aber nicht belegt. Jedenfalls bilden weder diese Begrün-
dung noch das Lebensschutzkonzept selbst Anlass und Grund, ein nahezu
schranken- und begründungsloses Mitwirkungsverweigerungsrecht für die
maßgeblichen Träger dieses Konzepts einzurichten und sich damit jeder
Möglichkeit zu begeben, die in der "Gewissensfreiheit der Ärzte", der nicht
erzwingbaren "Bereitschaft kirchlicher Stellen, an der Beratung mitzuwir-
ken" und den eben im Sinne einer Ablehnung offenen "Entscheidungen von
Krankenhausträgern" nach dem Bundesverfassungsgericht liegenden "Unsi-
cherheiten bei der Organisation einer ausreichenden Beratung und Versor-
gung" auf das unvermeidbare Maß zurückzuschneiden. Das empfiehlt sich
nicht, \venn man diesen "Unsicherheiten" zugleich bescheinigt, es handle
sich um die "unvermeidbaren Schwächen" des vom Gesetzgeber gewählten
Konzepts. 25
Ein zweiter Vorbehalt gegen die vermeintliche "Selbstverständlichkeit"
eines annähernd unbegrenzten und - wie noch zu zeigen ist, nach h. M. -
begründungslos ausübbaren Mitwirkungsverweigerungsrechts ergibt sich
aus der aus seiner gesetzlichen Normierung nahezu einmütig abgeleiteten
Botschaft, die abtreibungswillige Frau habe "keinen einklagbaren Anspruch
auf Vornahme des Eingriffs". 26 Das ist zwar überall da, wo sich diese Aus-
sage in dieser allgemeinen Form oder auch so konkretisiert findet, es gebe
jedenfalls keinen "Anspruch gegenüber einem bestimmten Arzt oder Kran-
kenhaus auf Durchführung selbst eines indizierten Sch\vangerschaftsab-
bruchs",27 in erster Linie im Sinne einer individuellen zivi/rechtlichen Ver-
tragsabschluss-, bisweilen auch Vertragserfüllungsfreiheit gemeint,28 Die
Hervorhebung dieser Folgerung flankiert und stützt aber zugleich die häufig
mit ihr Hand in Hand gehende Zurückweisung des "in der Öffentlichkeit
nicht selten anzutreffenden" und gleich so bezeichneten "Irrtums", es lasse
sich aus der gesetzlich angeordneten Straffreiheit bestimmter Schwanger-
schaftsabbrüche ein Anspruch auf ihre "Durchführung bei Vorliegen der

24 .
BVerfGE 88, 203, 294.
25 BVerfGE 88, 203, 304 (Hervorheb. vorn Verf).
26 LK-Tröger (Fn. 12), § 218a Rn. 77.
27 MK-Gropp (Fn. 14), § 218a Rn. 98. Die Anspruchsverneinung findet sich im Zusammen-
hang mit der Kommentierung des Weigerungsrechts z. B. auch bei Ellwanger, Schwanger-
schaftskonfliktgesetz, 1997, § 12 Rn. 1; NK-Merkel (Fn. 17), § 218a Rn. 164, 166; Schön-
ke/Schröder/Eser Strafgesetzbuch, 23. Aufl. 2006, § 218a Rn. 84; SK-Rudolphi/Rogall
(Fn. 12), § 218a Rn. 69; Ulsenheimer Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2008, Rn. 338.
28 S. Pfälz. OLG Zweibrücken MedR 2000, 540~ Gitter/WendUng in: Eser/Hirsch, Sterilisa-
tion und Schwangerschaftsabbruch, 1980, S. 199; Koch (Fn. 2), S. 193.
518 Thomas Hillenkamp

Straffreiheitsvoraussetzungen" herleiten. 29 Mit dieser allgemeiner formu-


lierten Negierung eines "Anspruchs" wird nicht nur ein klagbares Recht
gegen den einzelnen Arzt oder die einzelne Institution geleugnet. Vielmehr
wird übergreifender nahe gelegt, einer abtreibungswilligen und zum
Schwangerschaftsabbruch "berechtigten" Frau stehe auch gegenüber dem
Staat kein "Anspruch" zur Seite, überhaupt auf eine Institution zu stoßen,
die zur Durchführung des Abbruchs bereit sei. Verweigerung gegenüber den
gesetzlichen "Möglichkeiten", ja das vollständige "Unterlaufen" der gesetz-
lichen Lebensschutzkonzeption, die durch die Ergebnisoffenheit des Bera-
tungsprozederes bewusst auch die Alternative des Abbruchs eröffnet, be-
deutete folglich - entgegen dem "Laienverständnis vieler unmittelbar
Betroffener" - keinerlei "Rechtsverweigerung".30
Nun ist es zwar so, dass anders als dem Recht der ehemaligen DDR, das
die Schwangere als "berechtigt" bezeichnete, "die Schwangerschaft inner-
halb von zwölf Wochen nach deren Beginn durch einen ärztlichen Eingriff
in einer geburtshilflich-gynäkologischen Einrichtung unterbrechen zu las-
sen" und ihr damit einen durchsetzbaren, ein Weigerungsrecht ausschlie-
ßenden und statt dessen eine "Behandlungspflicht" auslösenden "Anspruch"
einräumte,31 der heute geltenden Regelung eine vergleichbare politische
Entscheidung fehlt. 32 Ein einklagbares "Menschenrecht auf Abtreibung",
das Ärzte und Krankenhäuser zur Mitwirkung an Schwangerschaftsabbrü-
chen individuell verpflichtete, kann man daher in der Tat aus ihr nicht ent-
nehmen. 33 Dass man deshalb aber mit dem Weigerungsrecht nur eine
"Selbstverständlichkeit" und "aus strafrechtlicher Sicht nichts Neues"34
proklamiere, ist daraus nicht ohne Weiteres abzuleiten. Denn einerseits ist

29 S. dazu Gropp Der straflose Schwangerschaftsabbruch, 1981, S. 176 f.~ Koch (Fn.2),
S. 186~ gegen diesen Schluss zunächst auch Grupp (Fn. 8), 332, der ihn dann allerdings ein-
schränkt.
30 S. dazu Sax JZ 1977, S. 327.
31 Der zitierte Gesetzestext entstammt § 1 Abs. 3 des DDR-"Gesetzes über die Unterbre-
chung der Schwangerschaft" vom 09.03.1972 (GB1. I Nr. 5, S. 89)~ die "Behandlungspflicht"
\vurde auch aus § 4 dieses Gesetzes hergeleitet, der "die Vorbereitung, Durchführung und
Nachbehandlung einer nach diesem Gesetz zulässigen Unterbrechung der Schwangerschaft ...
arbeits- und versicherungsrechtlich dem Erkrankungsfall" gleichstellte~ s. zur Rechtslage in der
DDR genauer Lammich in: EserlKoch (Hrsg.), Schwangerschaftsabbruch im internationalen
Vergleich, Teil 1: Europa, 1. Aufl. 1988, S. 325,358 f.
32 S. zur Entstehungsgeschichte Schönke/Schröder/Eser (Fn. 27), Vor §§ 218 ff. Rn. 2 ff.;
Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. 2007, Vor § 218 Rn. 5 ff.
33 Entgegen Cornides (Fn. 5), 2 ff. ist das auch in solcher Klarheit nicht aus dem von ihm
dort unter dem Titel "Ein Menschenrecht für Abtreibung?" besprochenen Gutachten Nr. 4 -
2005 vom 14.12.2005 des EU-Expertennetzwerks für fundamentale Rechte über die Verein-
barkeit von in Konkordaten enthaltenen Gewissensklauseln mit dem EU-Gerneinschaftsrecht
herzuleiten.
34 So Harrer DRiZ 1990, 138.
Zum Mitwirkungsverweigerungsrecht beim Schwangerschaftsabbruch 519

es zwar richtig, dass aus der StraffreisteIlung oder strafrechtlichen Rechtfer-


tigung nicht generell die Pflicht erwächst, das "Erlaubte" zu tun. Notwehr
darf, muss aber nicht geübt werden. 35 Diese Aussage trifft aber die Proble-
matik eines tatbestandslosen oder gerechtfertigten Schwangerschaftsab-
bruchs im hier erörterten Zusammenhang nicht. Denn hier geht es bei der
ärztlichen Mitwirkung nicht darum, ob der Arzt ein ihm zu eigenem Nutzen
eingeräumtes Recht ausübt oder nicht, sondern darum, ob er der Frau die
Ausübung des von ihr begehrten "Rechts" ermöglicht. Da von seiner "Not-
hilfe" die Straflosigkeit der "Rechtsausübung" durch die Schwangere ab-
hängt, kaml die Entscheidung darüber, ob der Arzt "hilft" oder nicht, nicht
in vergleichbarer Weise "frei" sein wie die Entscheidung, ein eigenes Recht
auszuüben. Es besteht daher Anlass, hier jedenfalls nicht gänzlich unkon-
trollierte Willkür walten zu lassen.
Das gilt andererseits auch deshalb, weil der schon beschriebene, vom
Bundesverfassungsgericht abgesicherte Sicherstellungsauftrag nur erflillbar
ist, wenn es nicht mit staatlicher Billigung unter Berufung auf das Fehlen
von Anspruch und Verpflichtung zu einer "Weigerung ganzer Arztgruppen
oder gar der gesamten Ärzteschaft" kommen kann~36 die das Beratungskon-
zept leerlaufen ließe. Ein nahezu schrankenloses Weigerungsrecht sugge-
riert aber diese Möglichkeit einer praktischen Unzugänglichkeit des erlaub-
ten Schwangerschaftsabbruchs, die Hilfe suchende Frauen potentiell nach
einer entwürdigenden "Betteltour" nur noch den Weg in ein "willigeres"
Ausland wiese. Dass dieses Szenarium zur Zeit in Deutschland keine be-
drohliche Wirklichkeit ist, macht es nicht überflüssig, gesetzlichen Einla-
dungen hierzu Schranken zu ziehen. Denn selbst wenn es an einem einklag-
baren Rechtsanspruch auf Durchführung eines Schwangerschaftsabbruchs
fehlt,37 folgt aus dem Sozialstaatsprinzip doch die staatliche Aufgabe, "den
Frauen~ bei denen die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Schwanger-
schaftsabbruch gegeben sind, die medizinisch gebotene Versorgung ohne

35 Harrer a.a..O.
36 S. zu einem solchen Szenarium Prot. der 25. Sitzung des Sonderausschusses für die Straf-
rechtsreform, S. 1484; es wird auch deshalb erwogen, weil dem Beratungskonzept "unaus-
weichlich die Zumutung an einen Teil der Ärzteschaft immanent" sei, "etwas zu tun und zu
verantworten, was das Bundesverfassungsgericht selbst als Unrecht missbilligt und deshalb
auch nicht für verantwortbar halten kann", so Lackner/Kühl (Fn. 32), Vor § 218 Rn. 14; zu
dieser Zumutung s. auch Hepp Archives of Gynecology and Obstetrics, Vol. 257 (1995),
XXVff.
37 Einschränkend insoweit Grupp NJW 1997,329 ff., der deshalb staatlichen und kommuna-
len Krankenhausträgern ein Weigerungsrecht absprechen will.
520 Thomas Hillenkamp

Gefährdung der Gesundheit, Diskriminierung oder ungerechtfertigte


Rechtsvorwürfe zugänglich zu machen".38
Als drittes ist die von Hans-Georg Koch 1988 festgehaltene allgemeine
Akzeptanz der Regelung des § 12 SchKG "in ihrem Kern" schon von ihm
selbst für den Beginn ihrer Wirkzeit relativiert worden. Er weist nämlich auf
die Beunruhigung zurück, die es auslöste, als einige kommunale Kranken-
hausträger in Baden-Württemberg und Bayern unter Berufung auf die neue
Regelung bereits im Jahr ihres In-Kraft-Tretens in ihren Häusern die Durch-
führung von Schwangerschaftsabbrüchen untersagten, die nicht unter die
medizinische Indikation fielen. 39 Vor allem also das Gros der damals prak-
tisch werdenden Fälle, der Abbruch nach der in § 218a Abs. 2 Nr. 340 gere-
gelten Notlagenindikation, wurde hierdurch abgewiesen. Dieser Vorgang
zeigte zum einen die schon erwähnte und durch die Weigerungsregelung
beförderte Gefahr, dass angesichts der Monopolstellung kommunaler
(Kreis-)Krankenhäuser in ländlichen Gegenden die gesetzgeberisch gewoll-
te "Liberalisierung" des Abtreibungsrechts faktisch unterlaufen oder doch
jedenfalls erheblich erschwert werden könnte. Zum anderen offenbarte er
aber auch die zweifelhafte Wirkung, die von der eng zugeschnittenen Aus-
nahmeregelung des § 12 Abs. 2 SchKG ausging. Durch sie wurde ein
"Zweiklassensystem" unter den damals geltenden Indikationen nahe gelegt,
das die Zugänglichkeit des legalen Abbruchs nur für den Fall der medizini-
schen Indikation garantierte.
Das aber ist trotz der Veränderung der gesetzlich anerkannten Indikatio-
nen bis heute so geblieben. Denn das Mitwirkungsverweigerungsrecht um-
greift nicht nur die "beratenen" Abbrüche nach § 218a Abs. 1. Vielmehr
erstreckt es sich im Gegenschluss aus § 12 Abs. 2 SchKG auf alle Fälle der
in § 218a Abs. 3 der medizinisch-sozialen Indikation gleichgestellten "Ver-
gewaltigungsindikation" und zudem auf einen gewichtigen Ausschnitt
selbst der medizinisch-sozialen Indikation des heute geltenden § 218a
Abs. 2. Das erscheint jedenfalls nach der sprachlich und sachlich von
§ 218a Abs. 2 deutlich abweichenden Fassung des § 12 Abs. 2 SchKG

38 S. dazu Bericht der Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit dem reformierten
§ 218 des Strafgesetzbuches, BT-Drs. 8/3630, S. 20~ s. dazu und zur Not\vendigkeit der "prak-
tischen Zugänglichkeit des erlaubten Schwangerschaftsabbruchs" Koch (Fn. 2), S. 193 f.
39 Koch (Fn. 2), S.183~ s. hierzu genauer Grupp (Fn. 8), 329 ff.~ Maier NJW 1974, 1405~ s.
auch den 1976 in Nr. 49 auf S. 68 ff. unter der Überschrift ,,§ 218: mit sozialer Notlage ist
nichts drin" erschienenen Bericht des Spiegel, der mit der Zusammenfassung beginnt: "Ob eine
Frau ihre Schwangerschaft abbrechen kann oder abgewiesen wird, ist eine Frage des Wohnorts
geworden: In Berlin geht, was in bayerischen Landkreisen so unmöglich ist wie vor der Re-
form des Paragrafen 218. Provinzpolitiker und Kleinstadtärzte unterlaufen das Bundesgesetz.
Bonn sieht "das Gebot der Bundestreue" verletzt".
40 In der Fassung des 15. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 18. Mai 1976 (BGBL 1,
S. 1213).
Zum Mitwirkungsverweigerungsrecht beim Schwangerschaftsabbruch 521

zwingend, die die Verweigerung nur dann fur unzulässig erklärt, "wenn die
Mitwirkung notwendig ist, um von der Frau eine anders nicht abwendbare
Gefahr des Todes oder der schweren Gesundheitsschädigung abzuwenden".
Darin liegt gegenüber § 218a Abs. 2 eine zweifache Restriktion. Denn ei-
nerseits fehlt die Berücksichtigungsfähigkeit "der gegenwärtigen und der
zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren", also das "soziale" Ele-
ment dieser Indikation. Und andererseits geht es um die Gefahr nicht einer
"schwer wiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen
Gesundheitszustandes", sondern um eine demgegenüber engere, an den
Text des § 223 angelehnte Gefahr der (schweren) Gesundheitsschädigung,
zusammengefasst also um die Fälle der Abwendung unmittelbarer41 Todes-
oder schwerer körperlicher Gesundheitsschädigungsgefahr. Da Konstellati-
onen solcher genuin medizinischen Indikation heute nur noch selten vor-
kommen, weil "gravierende schwangerschaftsrelevante internistische Er-
krankungen ... in der Regel gut zu therapieren sind",42 unterfällt auch das
Gros der von der medizinisch-sozialen Indikation erfassten Abbruche, die
sich als Folge eines belastenden Befundes beim Fetus ereignet,43 dem sich
hierauf regelmäßig erstreckenden Mitwirkungsverweigerungsrecht; denn
eine unmittelbare Todes- oder körperliche Gesundheitsschädigungsgefahr
wird sich aus der Mitteilung des Befundes nur sehr selten ergeben. So wie
seinerzeit die soziale Indikation bietet heute die medizisch-soziale in ihrem
Hauptanwendungsfeld keine Gewähr, dass die sich auf sie berufende Frau
mitwirkungsbereite Ärzte oder Krankenhäuser findet.
Sicher kann man etwa mit Blick auf das Katholiken bindende Kirchen-
recht, nach dem eine "direkte, das heißt eine als Ziel oder Mittel gewollte
Abtreibung" als ein "schweres Vergehen gegen das sittliche Gesetz" gilt,
das mit der Tatstrafe der Exkommunikation geahndet wird,44 oder den

41 Auf die Einführung dieses Begriffs drängt der von der BÄK und der DGGG gemeinsam
am 14.12.2006 publizierte "Vorschlag zur Ergänzung des Schwangerschaftsabbruchsrechts aus
medizinischer Indikation, insbesondere unter Berücksichtigung der Entwicklung der Pränatal-
diagnostik", S.20, wieder abgedruckt in Anhang 2 zur "Gemeinsamen Stellungnahme der
BÄK und der DGGG für die Anhörung am 16. März 2009 zur Gesetzlichen Änderung des
Schwangerschaftskonfliktgesetzes", Deutscher Bundestag, Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend, Ausschussdrucksache 16 (13), S. 439 f.
42 S. Vorschlag (Fn.41), S. 12, 18~ als akute Indikation werden Eklampsie und Prä-
eklampsie genannt.
43 S. dazu Hillenkamp (Fn. 17), S. 425,427,434 ff.
44 Katechismus der Katholischen Kirche, 1993, S. 578~ can 1398 des Codex Juris Canonici
(CIC) lautet in deutscher Übersetzung: "Wer eine Abtreibung vornimmt, zieht sich mit erfolg-
ter Ausführung die Tatstrafe der Exkommunikation zu"~ nach can 1314 tritt die "Tatstrafe"
ohne Spruch "von selbst durch Begehen der Straftat" ein, s. Codex des canonischen Rechts,
lateinisch-deutsche Ausgabe, 5. Aufl. 2001. Zeitungsberichten (s. z.B. FAZ vom 6. März 2009,
S. 9) zufolge wird Exkommunikation (auch) beteiligter Eltern und Ärzte bei Schwanger-
522 Tholnas Hillenkamp

Standpunkt der evangelischen Kirche, nach dem zwar nicht die Entschei-
dung der Schwangeren zum Abbruch, wohl aber die Mitwirkungsverweige-
rungsentscheidung des Arztes oder ärztlichen Personals als echte "Gewis-
sensentscheidung" gilt45 wie angesichts der Vorbehalte religiös geprägter
StimInen in islamischen Ländern gegen einen Abbruch jedenfalls im fortge-
schrittenen Gestationsalter46 Bedenken erheben, ob der Staat zur Mitwir-
kung überhaupt - und wenn auch nur in den eng begrenzten Fällen des § 12
Abs.2 SchKG - "verpflichten" darf. Wenn er es aber nur fiir den benannten
Einzelfall tut, so muss er dafür trifftige, besser noch z\vingende Gründe
haben. Andernfalls sind nur "sonst" gültige Rechtfertigungsgründe diskredi-
tiert.

111.
Wer die hier aufgefiihrten Vorbehalte gegen das Mitwirkungsverweige-
rungsrecht beim Schwangerschaftsabbruch teilt oder ihnen eine gewisse
Berechtigung nicht abspricht, muss fragen, welche Folgerungen sie nahe
legen. Da sich anders als in dominant vom katholischen Glauben geprägten
Ländern 47 in Deutschland heute "nennenswerte Probleme, Ärzte und Kran-
kenhauspersonal zu finden, die beim Schwangerschaftsabbruch mitwirken

schaftsabbrüchen namentlich in Südanlerika (Argentinien, Brasilien, Kolumbien) durch die


Kirche publik gemacht. Das gilt nach solchen Berichten auch für Schwangerschaftsabbrüche
bei minderjährigen Mädchen, die missbraucht/vergewaltigt wurden und für die die Schwanger-
schaft eine Gesundheits- oder Lebensgefahr bedeutet, ein Fall, der auch nach katholischem
Recht eigentlich nicht eindeutig zu entscheiden sein dürfte. S. dazu Gropp FS Eser, 2005,
S. 291,306.
45 S. dazu Barth Referat bei der Kirchenjuristentagung 2001 in Eisenach, S. 5.
46 S. dazu Eich in: EichIHoffmann (Hrsg.), Kulturspezifische Bioethik, 2006, S. 162,
164 ff. ~ Ellwan Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Bd. 70 (1968), 25 ff.
47 Außer den in Fn. 44 schon erwähnten südamerikanischen Staaten ist z. B. auch in Polen
die Situation für abtrelbungswillige Frauen nicht unproblematisch~ in einem Hintergrundbe-
richt von Maria Kwiatkowska vom 8.2.2007 heißt es hierzu: "Dass die offizielle Zahl der
Eingriffe sehr niedrig ist (193 Abtreibungen 2004~ 222 im Jahr 2005), resultiert aus der Weige-
rung staatlicher Krankenhäuser, Abtreibungen durchzuführen. Ihr Vorwand: die Gewissens-
klausel". Wanda Nowicka, Vorsitzende des polnischen Vereins "Für die Sache der Frau",
äußert hierzu in einem Interview: "Die Ärzte in Polen stellen eine sehr große Hürde dar, um
legal einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen ... Viele Ärzte wollen keinen
legalen Schwangerschaftsabbruch vornehmen ... Die Frau kann nirgends Beschwerde einlegen,
wenn der Arzt den Eingriff verweigert"
(Zitate aus: http://\\'Vvw.cafebabeI.de/articel/19941/polen-mein-bauch-gehoert-mir.html, abge-
rufen arn 21.1.20 1O)~ s. zu Polen, Malta, der Slowakei und Peru auch das Gutachten Nr. 4 -
2005 (Fn. 33), S. 7, 17 ff., 20, 30 f.
Zum Mitwirkungsverweigerungsrecht beim Schwangerschaftsabbruch 523

... in der Praxis nicht (mehr) ergeben",48 könnte man geneigt sein, es bei der
für die Ärzteschaft49 und 1974 auch für den Großteil der Politik50 offenbar
unverzichtbaren Weigerungsrechtsregelung zu belassen. Hierfür ließe sich
(auch) anführen, dass dann, wenn das Weigerungsrecht des Arztes nach
dem Bundesverfassungsgericht5l "in den Schutzbereich seines durch die
ärztliche Berufspflicht geprägten Persönlichkeitsrechts" fällt, der Schutz
dieser grundrechtlich abgesicherten Position nicht mehr als im Sinne des
Rechtsgüterschutzes der Schwangeren unabdingbar eingeschränkt werden
sollte. Auch könnte man eine "großzügige" Freistellung danlit zu rechtferti-
gen suchen, dass es einem liberalen Rechtsstaat, der sich in einer die Gesell-
schaft spaltenden Frage dazu entschließt, in Fällen des Schwangerschafts-
konflikts die vormals rigidere Strafandrohung in einem in seinem Umfang
umstrittenen Maße zurückzunehmen, gut anstehe, niemandem die Ver-
pflichtung aufzubürden, an der "Durchführung" dieses Programms mitzu-
wirken,52 solange nur gesichert bleibt, dass die durch Weigerung entstehen-
den "Schwächen" oder "Lücken" im implementierten System durch eine
ausreichende Zahl von Mitwirkungswilligen ohne Auswirkung bleiben.
Auch wenn solche Gründe Gewicht haben, sollte man die aufgezeigten
Vorbehalte aber nicht ohne jede Wirkung belassen. Sie wiegen als die oh-
nehin kompromisshafte und mit manchen Ungereimtheiten befrachtete
gesetzgeberische Lösung zum Schwangerschaftsabbruch zusätzlich belas-
tende Irritationen des Lebensschutzkonzepts, der "Rechte der Schwangeren"
im Konflikt und der gesetzlichen Bewertungen seiner straffrei gestellten
Lösungen schwer. Um sie abzumildern muss und kann man allerdings für
die radikalste Bereinigung der aufgezeigten Widersprüchlichkeiten, für eine
Abschaffung des Weigerungsrechts wohl nicht plädieren. Abgesehen davon,
dass sich ein Weigerungsrecht - deklarierte man es gesetzlich nicht - auf-
grund seiner verfassungsrechtlichen Verbürgung in Deutschland ohnehin in
der Rechts- und Spruchpraxis hielte, findet man europa- und weltweit den
Verzicht auf ein gesetzlich oder in der Standesethik verankertes Weige-

48 So die wohl zutreffende Einschätzung von Weber in: ArztlWeber/HeinrichiHilgendorf,


Strafrecht Besonderer Teil, 2. Auflage 2009, § 5 Rn. 57.
49 S. Vorschlag (Fn. 41), S. 19 f., mit dem BÄK und DGGG noch eine ",'eitere Verengung
des § 12 Abs. 2 SchKG auf den Fall nur der "unmittelbaren Gefahr einer schweren Gesund-
heitsschädigung" der Frau fordern.
50 S. dazu die bei Maier (Fn. 39), 1405 f. wiedergegebenen Zitate führender Politiker, z. B.
das von der Abgeordneten Funcke: "Es darf und es kann nach Auffassung der FDP nirgendwo
auch nur den Anschein einer Verpflichtung für einen Arzt geben, ehvas zu tun, was er vor
seinem Gewissen nicht glaubt verantworten zu können ... ".
51 BVerfGE 88,203,294. .
52 S. zu dieser Motivation des Gesetzgebers, mit Art. 2 des 5. StrRG ein \Veigerungsrecht
einzuführen, den Bericht des Abgeordneten Dr. de With in BT-Drs. 7/1981 (neu), S. 18 f.~
Maier (Fn. 39), 1406.
524 Thomas Hillenkamp

rungsrecht lediglich in Regelungsgeflechten, die entweder - wie ehemals


die DDR - der im Rahmen der Legalität abtreibungswilligen Frau einen -
bisweilen von der Entscheidung eines Gremiums abhängigen - Anspruch
auf Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs gewähren 53 oder die lega-
le Vornahme des Abbruchs ausschließlich dafür auf ihren Antrag hin zuge-
lassenen Ärzten oder Institutionen zuweisen, denen niemand unfreiwillig
angehört.54 Während im ersten Falle allenfalls informelle Organisationsstra-
tegien abtreibungsunwilligen Ärzten in einer faktischen Weigerungsnische
Hilf~ bieten,55 erübrigt sich die Einräumung eines Weigerungsrechts im
zweiten Falle naturgemäß ebenso wie umgekehrt dort, wo angesichts aus-
nahmsloser Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs statt eines Weige-
rungsrechts eine Weigerungspflicht besteht.56
Eröffnet ein Rechtssystem wie das in Deutschland geltende dagegen straf-
frei bleibende Abbruchsmöglichkeiten, ohne der Schwangeren auf deren
Durchführung einen Anspruch zu gewähren und macht es die Straffreiheit
zugleich davon abhängig, dass ein Arzt mitwirkt, ist das Weigerungsrecht
überall Teil des Systems. 57 Zwar scheint seine Einräumung auf den ersten
Blick entbehrlich, weil einen nicht bestehenden Anspruch niemand erfüllen
und unter der Herrschaft der Vertragsfreiheit sich auch niemand einfinden
muss, einen Anspruch gegen sich zu begründen. Öffentlichrechtliche,
dienst- oder arbeitsrechtliche, aber auch strafrechtliche "Hintergründe"

53 Einen \veltweiten Überblick über die (strat)rechtlichen Bestimmungen des Schwanger-


schaftsabbruchs einschließlich der Fragen des der Schwangeren gewährten Anspruchs und des
mit ihm kontligierenden Weigerungsrechts findet man in der verdienstvollen Zusammenstel-
lung von Eser/Koeh, Schwangerschaftsabbruch im internationalen Vergleich, Teil 1: Europa,
1. Autl. 1988 und Teil 2: Außereuropa, 1. Autl. 1989. In Europa gewährten 1988 neben der
DDR (Teil 1, S.358 f), Jugoslawien (Teil 1, S. 923 f), Polen (Teil 1, S. 1209), Rumänien
(Teil 1, S. 1364), die Sowjetunion (Teil 1, S. 1599), Ungarn, CSSR und Bulgarien (Teil 1,
S. 1698) unter Verzicht auf ein Weigerungsrecht einen Anspruch, aber auch Schweden und
Finnland (Teil 1, S. 1432); außerhalb Europas findet sich diese Kombination in Abhängigkeit
von der Entscheidung eines Dreierausschusses im Irak (Teil 2, S. 444).
54 Ein solches System findet sich z. B. in China (Eser/Koeh [Fn. 53], Teil 2, S. 199) und In-
dien (Teil 2, S. 408).
55 Für Schweden s. dazu Eser./Koeh (Fn. 53), Teil 1, S. 1432.
56 So1988 offenbar noch in Irland, s. dazu Eser/Koeh (Fn. 53), Teil 1, S. 788.
57 Außer Deutschland kennen bei vergleichbarer~ im Umfang der Straffreistellung naturge-
mäß variierender Gesetzeslage ein gesetzlich, standesrechtlich oder durch die Rechtsprechung
anerkanntes Weigerungsrecht in Europa Belgien (Eser/Koeh [Fn 53 ], Teil 1, S. 413), Frank-
reich (Teil C S. 530 f), Großbritannien (Teil 1, S. 71?), Italien (mit partiellem Anspruch der
Frau, Teil 1, S. 849 ff), Luxemburg (TeH 1, S. 973), Niederlande (Teil 1, S. 1037), Österreich
(Teil 1, S. 1119 ff), Portugal (Teil 1, S. 1298 f), Schweiz (Teil 1, S. 1515) und Spanien (Teil
1, S. 1645); außerhalb Europas kennen ein Weigerungsrecht Australien (Teil 2, S. 102), Ghana
(Teil 2, S. 366), Israel (Teil 2, S. 514) und die meisten Staaten der USA (Teil 2, S. 1074).
Zum Mitwirkungsverweigerungsrecht beim Schwangerschaftsabbruch 525

können diese Aussage aber entkräften. Dann entsteht die Frage des
"Zwangs" zur Erfüllung einer "an sich" doch begründeten Pflicht. 58
Wie man sie beantwortet, kann man sicher der durch die Rechtsprechung
kontrollierten praktischen Übung überlassen. Das hätte den "Vorteil", diese
vom Bundesverfassungsgericht sogenannte "Unsicherheit" und "unver-
meidbare" Schwäche im System von Beratung und Versorgung nicht im
Gesetz sichtbar zu machen, vielleicht auch, die vom "System" nicht er-
wünschte Verweigerung zu erschweren. Demgegenüber ist eine gesetzlich
nachlesbare Aussage zum Weigerungsrecht aber aus Gründen der Rechts-
klarheit, -verdeutlichung, -ehrlichkeit und der Rechtssicherheit vorzugswür-
dig. Plädiert man folglich nicht für eine Abschaffung des Weigerungsrechts
und auch nicht gegen eine gesetzliche Weigerungsklausel, kann man die
hier erhobenen Einwände nur dadurch mindern oder beseitigen, dass man
die Klausel so fasst oder auslegt, dass sie ihre das Gesamtkonzept störenden
Ausstrahlungen so weit wie möglich verliert. Ob und wie das gelingen
könnte, sei abschließend an drei dem Weigerungsrecht inhärenten Fragen
geprüft.

IV.
Als erstes fällt ins Auge, dass nach dem Text des § 12 Abs. 1 SchKG
niemand, der sich auf das Weigerungsrecht beruft, hierfür eine Begründung
schuldet. Daraus folgert die ganz h. L., dass die Erklärung "Ich/Wir mache
(n) es nicht" genüge, jede "Begründungs-" oder "Beweislast" fehle und
darüber hinaus, dass es auf den Weigerungsgrund (folglich) nicht ankomme.
Namentlich ein "Gewissensgrund" müsse es also nicht sein. Da das Gesetz
nach den Motiven nicht frage, schließe es jede Anforderung an ihre Valenz
und jede Überprüfung ihrer Anerkennungswürdigkeit aus. 59 Während hier-

58 Denkbar ist z. B., dass ein in einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis angestellter Arzt durch
den Dienstherrn oder Arbeitgeber zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen ver-
pflichtet wird; denkbar ist auch, dass durch § 323c oder eine Garantenpflicht die Abwendung
von Gesundheits- oder Lebensgefahr durch den Arzt strafrechtlich geboten ist; s. hierzu nur
Gitter/Wendling in: Eser/Hirsch, Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch, 1980, S. 198 ff.;
Hirsch/Weißauer Rechtliche Probleme des Schwangerschaftsabbnlchs, 1977, S. 71 ff.; Kohle
NZA 1989, 161, 167 f. Wegen dieser die Rechtsgebiete übergreifenden Bedeutung ist das
Weigerungsrecht nicht - wie ursprünglich vorgesehen - im StGB, sondern zunächst in Art. 2
des 5. StrRG, später dann in § 12 SchKG geregelt worden, s. dazu j\1aier NJW 1977, 1405.
59 Der Grundkonsens findet sich z. B. bei Büchner ZfL 2008, 6; Gitter/Wendling (Fn. 58),
S. 199; Gropp (Fn. 29), S. 179; Harrer DRiZ 1990, 138; Kaup Der Schwangerschaftsabbruch
aus verfassungsrechtlicher Sicht, 1992, S. 207; Koch (Fn.53), Teil 1, S. 185; LK-Tröger
(Fn. 12), § 218a Rn. 81; Maier (Fn. 39), 407; MK-Gropp (Pn. 14), § 218a Rn. 99 f.; NK-
Merkel (Fn. 17), § 218a Rn. 167; Sax (Fn. 30), 336; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 27), § 218
526 Thomas Hillenkamp

von wenige Stimmen60 bei "offensichtlicher Willkür" oder aus dem Weige-
rungsmotiv ableitbarem "Missbrauch" eine Ausnahme machen wollen,
wollen andere, da sie hierdurch die Folge eines unzulässigen "Kontrahie-
rungszwangs" oder eine ungesetzliche "Motivzensur" berurchten, auch
diese Ausnahme nicht machen. "Wer aus jederlei Motiv ablehnen darf, darf
es" hiernach "auch aus dem schäbigsten".61
Es liegt auf der Hand, dass eine in solcher Weise beliebig ausübbare und
nach der zuletzt genannten Meinungsvariante nicht einmal durch die eigent-
lich jeder Rechtsausübung immanente Missbrauchsschranke eingeengte, mit
anderen Worten gänzlich entfesselte Mitwirkungsverweigerung weder mit
den aus dem Lebensschutzkonzept gespeisten Gründen des Arztvorbehalts
und des Sicherstellungsauftrages noch mit dem nach dem Sozialstaatsprin-
zip und dem Diskriminierungsverbot Frauen im Schwangerschaftskonflikt
geschuldeten Mindesstandard einer (fairen) Hilfe, Beratung und Versorgung
harmoniert. Die Notwendigkeit eines solchen selbst der Willkür- und Miss-
brauchsschranke enthobenen Rechts ergibt sich auch rur seinen praktischen
Kernbereich sicher nicht aus dem VOITI Bundesverfassungsgericht aufgeru-
fenen, "durch das ärztliche Berufsbild geprägten Persönlichkeitsrecht".
Ganz im Gegenteil entspräche es allein dem mit diesem korrespondierenden
ärztlichen Ethos, das Verweigerungsrecht nur aus Gewissensnot auszuüben,
die sich rur nicht wenige Ärzte nachvollziehbar aus der von ihnen empfun-
denen Unvereinbarkeit des ärztlichen Auftrags, Leben zu erhalten, mit einer
in der Tötung von Leben bestehenden ärztlichen Hilfe ergeben mag. Man
sollte folglich das Weigerungsrecht vor Willkür und Missbrauch schützen.
Das aber geschieht am wirksamsten dann, wenn man seine Ausübung an das
Vorliegen (nachprüfbarer) Gewissensgründe bindet.
Dass eine solche Verengung bereits de fege fata möglich ist, wird aller-
dings mit nur schwer überwindbaren Gründen bestritten. Sie fließen aus der
Gesetzgebungsgeschichte. 62 In ihrem Verlauf hat man die vom Regierungs-
entwurf zum 5. StrRG 63 noch vorgesehene Vorschrift des § 220b StGB, die
die Verweigerungsberechtigung an das Vorliegen von "Gewissensgründen"

Rn. 84; SK-Rudolphi/Rogall (Fn. 12), § 218a Rn. 67; Ulsenheimer (Fn. 27), Rn. 338; Pfäl-
zOLG Zweibrücken MedR 2000, 540.
60 Der Willkür- und Missbrauchsvorbehalt findet sich z. B. bei LK-Tröger (Fn. 12), § 218a
Rn. 81; MK-Gropp (Fn. 14), § 218a Rn. 100; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 27), § 218a Rn. 84.
61 So vor allem Merkel in: Roxin/Schroth (Fn.3), S. 231; NK-Merkel (Fn. 17), § 218a,
Rn. 167; in der Sache ebenso SK-Rudolphi/Rogall (Fn. 12), § 218a Rn. 67; als ein "schäbiges"
bzw. "missbräuchliches" Vorgehen wird regelmäßig die Begründung genannt, einen Schwan-
gerschaftsabbruch nur gegen besonderes Entgelt vorzunehmen, ein Verhalten, das nach § 291
StGB zu beurteilen sei.
62 S. dazu zunächst Laujhütte/Wilkitzki JZ 1976,337; Maier (Fn. 39), 1404 ff.
63 BR-Drs. 58,72 vom 14.02.1972; zum Weigerungsrecht dort Begründung S. 37 f.; die For-
mulierung des § 222b ist identisch mit einem Gruppenantrag der SPD, s. BT-Drs. 7/443, S. 5.
Zum Mitwirkungsverweigerungsrecht beim Schwangerschaftsabbruch 527

band,64 durch Art. 2 des 5. StrRG ersetzt, der dem heutigen Text des § 12
SchKG entspricht. Dem langsamen Abschied von der Einengung auf Ge-
wissensgründe liegen unterschiedliche Erwägungen zugrunde. Während in
den Beratungen des Sonderausschusses manche glaubten, dass "niemand
imstande sei, das Gewissen wirklich zu beurteilen", es dabei auch zur "Ge-
wissensschnüffelei" kommen müsse und man deshalb schlicht sagen können
solle "Nein, ich tue es nicht",65 gab der Ministerialrat Horstkotte in Vor-
wegnahnle der späteren Aussage des Bundesverfassungsgerichts "persön-
lich" zu bedenken, "ob nicht angesichts der Besonderheit des ärztlichen
Berufs als eines freien Berufs und der besonderen ethischen Verpt1ichtun-
gen, die der Arzt eingegangen ist, ein weiter Spielraum für die Entschei-
dungsfreiheit des Kassenarztes bestehen" müsse, "der die Ablelmung von
Schwangerschaftsabbrüchen" einschließe. 66 Auch wurden Gründe vorgetra-
gen, die anerkennenswert seien, ohne die Höhe von Gewissensgründen zu
erreichen. Genannt wurden etwa der gefürchtete \1 ertrauensverlust bei einer
"Klientel, die den Schwangerschaftsabbruch aus religiösen Gründen ab-
lehnt" oder eine drohende "Depression~' bei Ärzten, die "viele Schwanger-
schaftsabbrüche durchgeführt haben und nun psychisch nicht mehr kön-
nen~'.67 Auf dem Hintergrund solcher Überlegungen wurde zwischenzeitlich
erwogen, nicht nur dem, der "Gewissensbedenken hat", sondern auch dem,
dem "die Mitwirkung aus anderen Gründen nicht zumutbar ist", das Weige-
rungsrecht einzuräumen,68 zuvor auch, "ob solche Probleme nicht unter
einen weiter gefassten Gewissenbegriff fallen. "69
Da sich 'auf diesem Hintergrund die heute geltende Fassung durchgesetzt
hat, liegt es nahe, das Verlangen nach Begründung und namentlich Gewis-
sensgründen für mit dem in der Gesetzesfassung zum Ausdruck gekomme-
nen gesetzgeberischen Willen für unvereinbar zu halten. Wer das so sieht,
kann nur nach dem Gesetzgeber rufen und auf die "Wiederaufnahme" der
Ursprungsfassung 70 drängen. In1merhin ließe sich aber auch an eine dem
Lebensschutzkonzept und seinen vom Bundesverfassungsgericht herausge-
schälten verfassungsrechtlichen Vorgaben besser entsprechende restriktive

64 S. dazu Koffka FS Heinitz, 1972, S. 343 ff.


65 S. Prot. SA 30. Sitzung, S. 1649.
66 Horstkotte Prot. SA 25. Sitzung, S. 1485~ er zitiert dort anschließend noch die Musterbe-
rufsordnung der Ärzte, nach der Ärzte ,jedem Menschenleben vor der Ernpfängnis ... Ehr-
furcht entgegenzubringen" geloben. Es frage sich daher, ob nicht auch die "nicht ausdrücklich
auf Gewissensgründe gestützte Weigerung ... vollkommen sanktionslos bleiben sollte".
67 Prot. SA 25. Sitzung, S. 1484 f.
68 Prot. SA 28. Sitzung, S. 1464: "dann wären Zumutbarkeitsfälle oberhalb der Schwelle der
willkürlichen Verweigerung und unterhalb der Schwelle des Gewissens angesprochen".
69 Prot. SA 25. Sitzung, S. 1484.
70 Also den Text des § 220b.
528 Thomas Hillenkamp

Neuinterpretation denken, die schon aus allgemeinen Rechtsgründen auf


den Ausschluss bei willkürlicher oder missbräuchlicher Verweigerung setz-
te und die Legitimität der Verweigerung auf durch Gewissensgründe unter-
legte Fälle beschränkte. 71 Eine solche Auslegung führte die Norm auf ihren
allgemein nicht geleugneten Ursprung und Kern zurück, der nach dem Bun-
desverwaltungsgericht auch für die geltende Fassung im "Schutz des Ge-
wissens", in einer Konkretisierung der "in Art. 4 Abs. 1 GG gewährleisteten
Gewissensfreiheit" besteht. 72 Sie erinnerte zudem daran, was schon früh im
Gesetzgebungsverfahren gegen andere als Gewissensgründe eingewandt
wurde. 73 Und sie befände sich im Einklang mit den politischen Äußerungen,
die das Gesetzgebungsverfahren zum Weigerungsrecht stets mit dem Re-
kurs auf die Gewissensfreiheit begleitet haben. 74 All das sind gute Gründe,
schon de lege lata eine Weigenlng nach § 12 Abs. 1 SchKG aus anderen als
Gewissensgründen nicht zuzulassen.
Verführe man so, liegt es zum zweiten nahe, die Entscheidung über Mit-
wirkung oder Verweigerung ausschließlich dem einzelnen Arzt oder Helfer
zu überlassen. Dem Gewissen ist Stellvertretung fremd. Deshalb sollte man
entgegen der ganz überwiegend vertretenen Ansicht 75 Krankenhausleitun-
gen und -trägem kein das in ihren Häusern tätige Personal bindendes Wei-
gerungsrecht zugestehen. Das wird angesicht ihrer Verpflichtung zu weltan-
schaulicher Neutralität und ihrem Auftrag, die Gesundheitsftirsorge im
Rahmen der Gesetze sicherzustellen, zwar in der Literatur nur für staatliche
und kommunale Krankenhausträger erwogen. 76 Jedenfalls mit Blick auf
diese lässt sich hierfür auch der spezifische Sicherstellungsauftrag des § 13
SchKG bemühen. Der Individualvorbehalt sollte aber für alle gelten, da die
Unvertretbarkeit von Gewissensentscheidungen von der Rechtsform und

71 Dass darunter nicht nur arztethisch, sondern auch religiös bedingte Ablehnung fällt, ver-
steht sich von selbst, s. dazu noch einmal Barth (Fn. 45).
72 Dies gilt nach der 1991 ergangenen Entscheidung des BVerwG (E 89, 260, 262) für die
heute geltende Fassung.
73 Der Einwand lautet: "Es wäre ein zu tiefer Eingriff in bestehende Rechtsverhältnisse und
auch gegenüber der hilfesuchenden Schwangeren nicht zu verantworten, wollte man jedes
Motiv für die Weigerung in die Vorschrift des § 220b einbinden ... unter den sonstigen Be-
weggründen für die Weigerung kann ... nicht mit der nonvendigen Eindeutigkeit zwischen
legitimen und nicht legitimen Motiven unterschieden werden", RegE eines 5. StrRG, BR-Drs.
58/72, Begr. S. 37.
74 S. dazu noch einmal die Wiedergabe solcher Äußerungen bei Maier (Fn. 39), 1406
75 Die Frage ist von Beginn an lebhaft diskutiert worden, s. zu ihr besonders ausführlich und
das Weigerungsrecht letztlich bejahend Gitter/Wendling (Fn. 58), S. 204 ff.~ HirschiWeißauer
(Fn. 58), S. 105 ff.~ Maier (Fn. 39), 1406 ff.~ heute bejaht z. B. von Ellwanger (Fn. 27), § 12
Rn. 2~ MK-Gropp (Fn. 14), § 218a Rn. 97~ NK-Merkel (Fn. 17), § 218a Rn. 164~ SK-
Rudolphi/Rogall (Fn. 12), § 218a Rn. 66.
76 SO Z. B. mit dem Ergebnis der Ablehnung eines Weigerungsrechts Grupp (Fn. 8), 331~
Kaup (Fn. 59), S. 210~ Zweifel auch bei LK-Tröger (Fn. 12), § 2I8a Rn. 81.
Zum Mit\virkungsverweigerungsrecht beim Sch\vangerschaftsabbruch 529

Funktion des jeweiligen Krankenhausträgers unabhängig ist. Eine Ver-


pflichtung etwa kirchlicher Träger, in ihren Häusern Schwangerschaftsab-
brüche zuzulassen, erwächst daraus nicht. Es bleibt ihnen unbenon1men, die
dafür nötige Infrastruktur nicht zu schaffen oder mit ihren Ärzten zu verein-
baren, Schwangerschaftsabbrüche nicht vorzunehmen. Benommen ist ihnen
nur, sich hierfür auf ein - auch stellvertretend wahrgenommenes und wirk-
sames - Weigerungsrecht nach § 12 SchKG zu berufen.
Entschließt man sich schon de lege lata zu einer Verengung der Weige-
rungs- auf eine Gewissensklausel, sind schließlich die Auswirkungen auf
die rechtlich verschieden bewerteten "Abbruchsformen" zu bedenken. Für
den "beratenen~' Abbruch nach § 2I8a Abs. I ließe sich einwenden, seine
vom Bundesverfassungsgericht verordnete Rechts\vidrigkeit versperre jede
Einengung des Weigerungsrechts, "weil ein Zwang zur Vornahme rechts-
widriger Handlungen verfassungswidrig wäre".77 Da namentlich für den
Arzt und beteiligte Krankenanstalten nach den Ausführungen des Gerichts
die Rechtswidrigkeit in allen \vesentlichen Belangen aber folgenlos bleibt,
ist schon diese Schlussfolgerung nicht z\vingend. Hinzu kommt, dass mit
der Verneinung eines Weigerungsrechts ja nicht per se die Pflicht erwächst,
den Abbruch vorzunehmen. Daher kann und sollte es auch für die beratenen
Abbrüche bei einem Weigerungsrecht nach § 12 SchKG nur aus Gewis-
sensgründen bleiben. Umgekeillt ist fraglich, ob man - wie es der Text des
§ 12 Abs. 2 SchKG nahe legt -- eine Weigerung (auch) aus Gewissengrün-
den von Gesetzes wegen versagen kann, wenn es um die Abwendung des
l~odes oder einer schweren Gesundheitsschädigung der Schwangeren geht.
Das aber ist zu bejahen. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Versagung
des Weigerungsrechts in einem solchen Fall der im Übereinklang mit dem
Bundesverfassungsgericht78 stehenden gesetzgeberischen Wertung ent-
spricht, "die der Gesundheit der Schwangeren den Vorzug vor dem Lebens-
recht des Nasciturus einräumt".79 "Nielnand" folge11 Kröger daraus zurecht,
"kann verlangen, dass bei einer Kollision von Grundrechten Dritter mit dem
eigenen Gewissen die Entscheidungen des Gesetzgebers ihre Kraft verlie-
ren".80 Dem entspricht die Wertung des Strafrechts. Nach ihm muss "der
Arzt, der die Schwangere dem Tode überlässt, ,,'eil er den rettenden
Schwangerschaftsabbruch mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann ...
bestraft werden".81 Bleibt es bei einer schweren Gesundheitsschädigung,

77 Aus diesem Grund wird von SK-Rudolphi/Rogall (Fn. 12), § 2I8a Rn. 65 angenommen,
das Weigerungsrecht verstehe sich in diesen Fällen von selbst~ s. auch Weber (Fn. 48)~ § 5 Rn.
57: "lediglich deklaratorische Bedeutung"."
78 BVerfGE 39,1,49.
79 SK-Rudolphi/Rogall (Fn. 12), § 218a Rn. 68.
80 LK-Tröger (Fn. 12)~ § 218a Rn. 79.
81 Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1,4. Aufl. 2006, § 22 Rn. 116.
530 Thomas Hillenkamp

kann nichts anderes gelten. Ist die Mitwirkung des Arztes nicht "notwen-
dig", weil ein anderer Arzt rechtzeitig bereit steht, den rettenden Eingriff
vorzunehmen, ist die Weigerung nach § 12 Abs.2 SchKG nicht ausge-
schlossen, nach dem hier eingeschlagenen Weg aber gleichfalls auf die
Fälle der Gewissensnot zu beschränken. Das gilt auch für die weiteren
Konstellationen eines gerechtfertigten Abbruchs. Dass der Gesetzgeber in
§ 12 Abs.2 SchKG nur den Fall der engen medizinischen Indikation be-
denkt, ist also entgegen erstem Anschein keine Herabstufung der restlichen
Indikationen und diskreditiert diese folglich nicht. 82
N ach allem empfiehlt es sich, der Weigerungsklausel den Charakter einer
Gewissensklausel zu geben. Da dies de lege lata schwierig ist, sollte der
Gesetzgeber handeln. Als Alternative ist zu bedenken, Schwangerschafts-
abbrüche auch in Deutschland allein hierfür auf ihren Antrag zugelassenen
Ärzten und Institutionen zu überlassen. Sie hätte für sich, dass sie ein Mit-
wirkungsverweigerungsrecht bei Schwangerschaftsabbrüchen erübrigen und
damit ein nur schwer lösbares Problem aus der Welt schaffen würde.

82 Die von BVerfGE 88,203,294 und wohl auch Tröndle NJW 1995,3009,3016 angedeu-
tete Erstreckung des Weigerungsausschlusses auf die Fälle einer medizinisch-sozialen Indika-
tion (ohne unmittelbare Lebens- oder Gesundheitsgefahr) hätte zwar die Gleichstellung aller
unter § 218a Abs. 2 fallenden Fälle für sich, würde aber - wenn sich die Weigerung auf Gewis-
sensnot stützt - Art. 4 GG verletzen.
Die italienische Strafvorschrift gegen das Stalking
im Vergleich mit § 238 des deutschen
Strafgesetzbuchs

MANFRED MAIWALD

I. Der Ausgangspunkt der Überlegungen: Die problematische


Regelung des § 238 des deutschen StGB
Auf das Phänomen des Stalking hat in Deutschland der Gesetzgeber be-
kanntlich durch Einführung des § 238 StGB reagiert, der am 31. März 2007
in Kraft getreten ist und die Überschrift "Nachstellung" trägt. Die so ge-
schaffene Strafvorschrift hat alsbald eine lebhafte Diskussion ausgelöst.
Überwiegend ist die Vorschrift in ihrer Ausgestaltung aus verschiedenen
Gründen auf Ablehnung gestoßen. Zwar war es weitgehend unbestritten,
dass eine Strafvorschrift gegen das Stalking sozialpolitisch sinnvoll sei.
Jedoch erweckte die Art und Weise, wie der Gesetzgeber die Vorschrift
formuliert hat, vielfältige Einwände. 1 Von diesen sei an dieser Stelle nur der
Einwand erwähnt, dass § 238 Abs. 1 Nr. 5 StGB durch die Formulierung
"eine andere vergleichbare Handlung vornimmt" die Anwendung eines
Analogieschlusses zu Lasten des Täters vorsehe, der durch Art. 103 Abs. 2
GG verboten sei. 2
Allerdings wurde mit Recht zugunsten des Gesetzgebers immer wieder
darauf aufmerksam gemacht, wie schwierig es sei, das soziologische Phä-
nomen des Stalking in juristische Begriffe zu fassen, noch dazu in straf-

1 Vgl. etwa Schroeder in: Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht Besonderer Teil, Teilbd.


1, 10. Aufl. 2009, S. 180, der die Kritik dahingehend zusammenfasst, durch die verwendeten
Formulierungen werde der Tatbestand teilweise eine Karikatur.
2 Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit z. B. bei Kühl FS Seebode, 2008, S. 72: "Ob..... aber
hinreichende Anhaltspunkte für die 'vergleichbare Handlung' im Gesetz enthalten sind, ist zu
bezweifeln."~ Gazeas JR 2007, 501 f.~ Fischer StGB, 56. Aufl. 2009, § 238 Rn. 17b: "Nach
hier vertretener Ansicht genügt Nr. 5 daher, auch unter Berücksichtigung eines eigenständigen
Gehalts des Begriffs 'Nachstellen' den Anforderungen des Art. 103 II GG wohl nicht"~ Löhr
Zur Notwendigkeit eines spezifischen Anti-Stalking-Straftatbestandes in Deutschland, 2008,
S. 327: "Damit verstößt sie (die Öffnungsklausel des § 238 Abs. 1 Nr. 5 StGB) gegen das in
Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistete Bestimmtheitsgebot."
532 Manfred Maiwald

rechtliche Begriffe, die dem Bestimmtheitsgebot unterworfen sind. Die


hierfür bereits vorhandenen Strafvorschriften aus dem angelsächsischen
Rechtsraum waren nicht gerade ein ermutigendes Vorbild. Beispielsweise
verzichtet der englische Protection /rom Harassment Act aus dem Jahre
1997, der die Belästigung (" harassment ") unter Strafe stellt, auf eine Defi-
nition dessen, was unter "belästigen" zu verstehen ist, indem pauschal for-
muliert wird: "A person must not persue a course 0/ conduct a) which
amounts to harassment 0/ another.... " Am Ende der Vorschrift fmdet sich
dann die infolge der Unbestimmtheit und Weite der Deliktsbeschreibung
offenbar als erforderlich angesehene Einschränkung, die Strafvorschrift
finde keine Anwendung, wenn der Täter darlegen könne, dass sein Verhal-
ten nach den besonderen Umständen angemessen (,J reasonable ") gewesen
sei, 3 eine Einschränkung die ihrerseits freilich auch nicht als sonderlich
präzise bezeichnet werden kann.
Der deutsche Gesetzgeber konnte sich angesichts der eingangs erwähnten
sozialpolitisch als dringlich empfundenen Forderung nach Schaffung einer
besonderen Strafvorschrift nicht zu der denkbaren Lösung entschließen, es
bei der möglichen Strafbarkeit nach § 4 GewSchG zu belassen 4 und die
gravierenden Fälle des Stalking wie bisher "lediglich" mit den Strafvor-
schriften gegen Nötigung, Körperverletzung, Bedrohung und Beleidigung
zu erfassen, die - worauf Schroeder mit Recht hinweist - teilweise im Um-
fang der Strafbarkeit sogar weiter gehen, da sie weder "Beharrlichkeit"
noch als Erfolg eine "schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensweise"
verlangen. 5 So wird es also Rechtsprechung und Lehre vorbehalten bleiben,
die Tathandlungen und den Taterfolg des deutschen § 238 StGB durch Aus-
legung justiziabel zu machen, und möglicherweise wird das Bundesverfas-
sungsgericht zu dem durch § 238 Abs. 1 Nr. 5 StGB angeordneten Analo-
gieschluss Stellung beziehen müssen.

11. Der Wortlaut des Stalking-Tatbestands des italienischen


codice penale und erste Bewertungen in Italien
1. Der Gesetzeswortlaut
Angesichts des sowohl vom rechtsstaatlichen als auch vom kriminalpoli-
tischen Standpunkt aus wenig erfreulichen Stands der Strafgesetzgebung
gegen das Stalking in Deutschland ist mit Interesse zur Kenntnis zu neh-

3 Zum Protection from Harassment Act 1997 vgl. v. Pechstaedt Stalking. Strafbarkeit nach
englischem und deutschem Recht, 1999, insbes. S. 98 ff.; Löhr a.a.O., S. 238 ff.
4 Dazu vgl. Rackow GA 2008,555.
5 Schroeder (Fn. 1) S. 180.
Die italienische Strafvorschrift gegen das Stalking 533

men, dass der italienische Gesetzgeber kürzlich durch Gesetzesdekret vom


23. Februar 2009 6 für Italien ebenfalls einen Straftatbestand geschaffen hat,
der, entsprechend dem "Nachstellen" in § 238 des deutschen StGB, das
Phänomen des Stalking erfassen soll. Es handelt sich um Art. 612-bis c.p.,
der die Überschrift trägt "Atti Persecutori", was man etwa mit "Verfol-
gungshandlungen" oder eben dem deutschen "Nachstellen" übersetzen
kann. Der Tatbestand hat in deutscher Übersetzung 7 folgenden Wortlaut:
"Wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist,
wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu vier Jahren bestraft, wer wie-
derholt einen anderen bedroht oder belästigt und dadurch bei diesem einen fort-
dauernden und schwerwiegenden Zustand der Beunruhigung oder Angst verur-
sacht oder die begründete Furcht fur die Unversehrtheit der eigenen Person, eines
Angehörigen oder einer nahe stehenden Person erzeugt, oder wer diesen dadurch
dazu zwingt, seine Lebensgewohnheiten zu ändern. Die Strafe wird erhöht, wenn
die Tat begangen wird durch den gesetzlich getrennten oder geschiedenen Ehegat-
ten oder von einer Person, die mit der verletzten Person affektiv verbunden war.
Die Strafe wird bis um die Hälfte erhöht, wenn die Tat zum Nachteil eines Min-
derjährigen, einer Schwangeren oder einer behinderten Person im Sinne von Art.
3 des Gesetzes Nr. 104 vom 5. Februar 1992, oder wenn sie mit Waffen oder
durch eine unkenntlich gemachte Person begangen wird. Die Tat wird auf Antrag
der verletzten Person verfolgt. Die Antragsfrist beträgt sechs Monate. Jedoch tritt
Verfolgung von Amts wegen ein, wenn die Tat gegen einen Minderjährigen oder
eine behinderte Person im Sinne von Art. 3 des Gesetzes Nr. 104 vom 5. Februar
1992 begangen wurde, oder wenn die Tat mit einem anderen Delikt verbunden ist,
dessentwegen die Verfolgung von Amts wegen eintritt. ,,8

6 Decreto Legge 23 febbraio 2009 n. 11, convertito in Legge 23 aprile 2009 n. 38.
7 Übersetzung durch den Verf.
8 Art. 612-bis (Atti persecutori)
Salvo che ilfatto costituisca piu grave reato, epunito con la reclusione da sei mesi a quat-
tro anni chiunque , con condotte reiterate, minaccia 0 molestia taluno in modo da cagionare
un perdurante e grave stato di ansia 0 di paura ovvero da ingenerare un fondato timore per
I'incolumita propria 0 di un prossimo congiunto 0 di persona al medesimo legata da relazione
affettiva ovvero da costringere 10 stesso ad alterare le proprie abitudini di vita.
La pena e aumentata se il fatto e commesso dal coniuge legalmente separato 0 divorziato
o da persona che sia stata legata da relazione affettiva alla persona offesa.
La pena e aumentata fino alla meta se il fatto e commesso a danno di un minore, di una
donna in stato di gravidanza 0 di una persona con disabilita di cui all'articolo 3 della legge 5
febbraio 1992, n. 104, ovvero con armi 0 da una persona travisata.
Il delitto epunito a querela della persona offesa. 11 termine per la proposizione della que-
rela e di sei mesi. Si procede tuttavia d'ufficio se ilfatto e commesso nei confronti di un minore
o di una persona con disabilita di cui all'articolo 3 della legge 5 febbraio 1992, n. 104, nonche
quando ilfatto e connesso con altro delitto per il quale si deve procedere d'ufficio.
534 Manfred Maiwald

Schon auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass diese Vorschrift sich von
§ 238 StGB dadurch unterscheidet, dass sie die Tathandlungen des Stalking
weniger detailliert aufzählt: Während § 238 StGB - sieht man einmal von
den "vergleichbaren" Handlungen ab - in vier Nummern das Nachstellen
mit dem Aufsuchen der räumlichen Nähe, dem Versuch der Kontaktauf-
nahme durch Telekommunikationsmittel usw. deskriptiv zu erfassen ver-
sucht, verwendet die italienische Regelung zur Beschreibung der Tathand-
lung die beiden plakativen Begriffe "bedrohen" und "belästigen".
Andererseits wird in der italienischen Regelung der für die Strafbarkeit
wesentliche Taterfolg nicht nur durch die Formulierung "schwerwiegende
Beeinträchtigung der Lebensgestaltung" gekennzeichnet, sondern es wird
eine Mehrheit möglicher für die Deliktsbegehung relevanter Erfolge aufge-
zählt, nämlich ein fortdauernder Zustand der Beunruhigung oder Angst oder
die begründete Furcht fur die Unversehrtheit der Person des Opfers oder für
bestimmte diesem nahe stehende Personen oder der Zwang zur Änderung
der Lebensgewohnheiten des Opfers.
In formaler Hinsicht ist festzustellen, dass die italienische Regelung eben-
so wie die deutsche Regelung Qualifikationen enthält, die freilich sachlich
von den deutschen Qualifikationen, die auf einen Todeserfolg oder den
Erfolg der Gefahr des Todes oder einer schwerwiegenden Gesundheitsbe-
schädigung abstellen, deutlich verschieden sind: Die Qualifikationen betref-
fen die persönlichen Beziehungen zwischen Täter und Opfer, eine besonde-
re Schwächeposition des Opfers und die Handlungsmodalitäten.
Jedoch ist der Todeserfolg einer Handlung des Stalking der Sache nach in
Italien ebenfalls als Qualifikation erfasst, allerdings gesetzestechnisch an
einer ganz anderen Stelle, nämlich als erschwerender Umstand bei den
Tötungsdelikten (Art. 576 c.p.). Vorweg zu erwähnen ist weiterhin, dass die
italienische Strafvorschrift gegen das Stalking von prozessualen Regelun-
gen flankiert wird, auf die noch - ebenso wie auf die Qualifikationen -
zurückzukommen sein wird.

2. Erste Bewertungen in der italienischen Literatur


Schon unmittelbar nach Einführung des Tatbestands "Atti persecutori"
wurden in Italien Zweifel geäußert, ob sich der Tatbestand in der tatsächli-
chen Rechtsanwendung sachgemäß werde handhaben lassen. So bemerkt
Belfiore angesichts der Tatbestandsfassung, die in erheblichem Umfang auf
psychische Befindlichkeiten des Opfers - Beunruhigung, Angst, Furcht -
Die italienische Strafvorschrift gegen das Stalking 535

Bezug nimmt: "Come funzionera in Italia questa fattispecie? In realta non


10 sappiamo." Und: " ....possiamo rispondere solo congetturando."9
Ein anderer Autor kritisiert vor allem die Unbestimmtheit des neuen Tat-
bestands: " .... e sicuramente indubbio il fatto che la formulazione deI delitto
in esame non raggiunga quel livello di precisione e di determinatezza carat-
terizzante altre fattispecie deI nostro ordinamento (come ad esempio le
lesioni, il furto ecc.)".l0 Er fügt jedoch mit rechtsvergleichendem Blick auf
das deutsche Strafgesetzbuch und den britischen Protection from Haras-
sment Act - Regelungen, die er gleichfalls analysiert - hinzu: "L' analisi
comparatistica, deI resto, ha chiarito oltre ogni dubbio che la fattispecie
italiana e sicuramente piu precisa e determinata di quella britannica e, so-
prattutto, di quella tedesca."11 Und abschließend gelangt der Autor zusam-
menfassend zu dem Ergebnis, dass letztlich die Deliktsfassung - wenn sie
auch nicht bedenkenfrei sei - dem Bestimmtheitsgebot nicht widerspreche.

111. Der im italienischen Stalking-Tatbestand vorausgesetzte


Erfolg der atti persecutori
1. Überlegungen zum geschützten Rechtsgut
Wendet man sich der Tatbestandsfassung des neu geschaffenen Art. 612-
bis C.p. in seinem Wortlaut im Einzelnen zu, so ist - wie schon erwähnt - zu
konstatieren, dass er ebenso wie die deutsche Regelung als Erfolgsdelikt
ausgestaltet ist. Während § 238 des deutschen StGB als konstitutiv für die
Deliktsbegehung nur einen Erfolg nennt, nämlich die schwerwiegende Be-
einträchtigung der Lebensgestaltung des Opfers, zählt die italienische Rege-
lung, wie oben dargestellt, drei mögliche Erfolge auf, die das Tatunrecht
begründen können. Die Änderung der Lebensgewohnheiten des Opfers -
einer der möglichen Erfolge - dürfte, obwohl das Adjektiv "schwerwie-
gend" im Gesetzestext fehlt, ungefähr dem Erfolg in § 238 StGB entspre-
chen. So wird beispielsweise die Formulierung "ad alterare le proprie abi-

9 "Wie wird dieser Tatbestand in Italien funktionieren? Tatsächlich wissen wir das nicht."
Und: " .... wir können darauf nur mit Vermutungen antworten": Belfiore unveröff. Manuskript
eines Vortrags in Caltanisetta am 18. 6. 2009. Für die Überlassung des Manuskripts bin ich
Herrn Kollegen Belfiore sehr zu Dank verbunden.
10 "Es ist unbestreitbar, dass die Formulierungen in diesem Tatbestand nicht das Maß an
Genauigkeit und Bestimmtheit erreichen, durch die andere Tatbestände in unserem Strafrecht
gekennzeichnet sind (wie zum Beispiel Körperverletzung, Diebstahl usw.)": Macri Diritto
penale e processo, 2009, S. 827.
11 "Die vergleichende Untersuchung hat im Übrigen zweifellos ergeben, dass der italieni-
sche Tatbestand sicherlich genauer und bestimmter ist als der britische, und, vor allem, der
deutsche Tatbestand": Macri a.a.O., S. 827.
536 Manfred Maiwald

tudini di vita" von Macri ohne weiteres damit umschrieben, dass die Tat-
handlungen in schwerwiegender Weise die Lebensqualität des Opfers beein-
trächtigen. 12 Die beiden anderen möglichen Erfolge sind rein psychischer
Natur und werden mit den Begriffen "Beunruhigung" (ansia), "Angst"
(paura) und "Furcht" (timore) umschrieben, wobei der rur die "Beunruhi-
gung" verwendete Begriff ansia sprachlich ebenfalls das Moment der Angst
mit enthält.
Die Erfolgsbeschreibungen ruhren zu der Frage, was als das in Art. 612-
bis C.p. geschützte Rechtsgut anzusehen ist. Im Hinblick auf die Beeinträch-
tigung der Lebensgestaltung in der deutschen Regelung hat der deutsche
Gesetzgeber erklärt, geschützt sei durch die Vorschrift der individuelle
Lebensbereich. 13 Die Literatur hat diese Festlegung durch die Gesetzesbe-
gründung teilweise kritisiert und sieht andere oder zusätzliche Rechtsgüter
als geschützt an und weist vor allem darauf hin, dass entsprechend den
empirischen Erscheinungsformen des sozialpsychologischen Phänomens
"Stalking" der Aspekt des Rechtsfriedens im Sinne eines Lebens ohne
Furcht nicht außer Betracht gelassen werden dürfe. 14 Würde man die Frage
des in der deutschen Regelung geschützten Rechtsguts allein aus dem vor-
ausgesetzten Erfolg - der schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebens-
gestaltung - erschließen wollen, so würde allerdings die Willensentschlie-
ßung und die Willensbetätigung als geschütztes Rechtsgut anzusehen sein.
Denn eine Beeinträchtigung der Lebensgestaltung ist, da diese als Gestal-
tung auf dem Willen des Tatopfers beruht - andernfalls würde dieses nichts
"gestalten" - nur in der Weise denkbar, dass der Wille des Tatopfers beein-
flusst wird. 15
Nach dieser letzteren Weichenstellung würde dann der deutsche Stalking-
Tatbestand des § 238 StGB dieselbe objektive Struktur aufweisen wie der
Tatbestand der Nötigung: Durch Einwirkung auf den Willen des Opfers
wird dieses dazu veranlasst, eine Handlung, Duldung oder Unterlassung
vorzunehmen, die es ohne diese Einwirkung nicht vornehmen würde. Zu
beachten ist freilich, dass die Einwirkung im deutschen Tatbestand der
Nötigung mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel
geschehen muss, dass das Drohungselement andererseits in § 238 8tGB nur
in Nr. 4 - Bedrohung mit der Verletzung von Leben usw. - enthalten ist und
dass das Gewaltelement überhaupt fehlt. Die entscheidende Frage rur das
durch § 238 StGB geschützte Rechtsgut ist aber nach alledem, ob der im

12 Macri (Fn. 10), S. 826: " .....eondotte moleste e minaeciose ehe, pur senza eagionare un
grave stato di ansia 0 paura, ineidono pesantemente sulla qualita di vita deI destinatario delle
stesse."
13 BT-Drs. 16/575, S. 6.
14 Darstellung der Meinungen z. B. bei Rackow (Fn. 4), 556 ff.; Löhr (Fn. 2), S. 297 ff.
15 Vgl. Heinberg JZ 2006, 31.
Die italienische Strafvorschrift gegen das Stalking 537

Tatbestand vorausgesetzte Erfolg allein die Feststellung des geschützten


Rechtsguts bestimmt, oder ob auch die Handlungsmodalitäten, die mehr
oder weniger stillschweigend die Erzeugung von Beunruhigung oder Furcht
voraussetzen, zur Ermittlung des geschützten Rechtsguts herangezogen
werden müssen. Diese Frage ist für den deutschen Stalking-Tatbestand
ungeklärt. 16
Kehren wir nach diesem Blick auf die Rechtsgutsbestimmung für die
deutsche "Nachstellung" gern. § 238 StGB wieder zu den atti persecutori in
Art. 612-bis c.p. zurück, die für die Deliktsvollendung drei mögliche Tater-
folge vorsehen. Der erste der Taterfolge ist die Änderung der Lebensge-
wohnheiten, zu denen das Opfer "gezwungen" (da costringere.... .) wird.
Dass die Verwendung des Wortes "zwingen" dabei wegen der Besonderhei-
ten der psychischen Kausalität für die Gesetzesanwendung erhebliche
Schwierigkeiten mit sich bringen wird, liegt auf der Hand.
In der Tat wird in Italien die mit dem Begriff des Zwangs hier verbundene
Subjektivierung des Taterfolgs als wenig befriedigend empfunden. Denn
wie soll man feststellen, ob die vom Täter herbeigeführte Änderung der
Lebensgewohnheiten "erzwungen" wurde? Angenommen, das Opfer - das
in dieser Alternative ja nicht in Angst oder Furcht versetzt sein muss - ent-
schließt sich, den atti persecutori durch ein Ausweichverhalten aus dem
Wege zu gehen, so kann dies auf Panik beruhen, aber auch auf ruhigem
Kalkül. In beiden Fällen bleibt aber die Frage, in welchen Fällen eine Ver-
anlassung zur Änderung der Lebensgewohnheiten als "Zwang" anzusehen
ist. In dieser Hinsicht lesen wir denn auch in der italienischen Analyse des
Gesetzestextes, es sei zu hoffen, dass bei der Gesetzesanwendung das Wort
"zwingen" zu einer gewissen Objektivierung dieser Erfolgsvariante führen
werde. 17 Hier sei aber vor allem festgehalten, dass mit dem Zwang zur Än-
derung der Lebensgewohnheiten die Herbeiführung von außenweltlichen
Veränderungen gemeint ist, nämlich einer äußerlich wahrnehmbaren Le-
bensweise des Opfers.
Demgegenüber lassen es die beiden anderen in Art. 612-bis c.p. genann-
ten möglichen Deliktserfolge bei der Erzeugung eines bestimmten psychi-

16 In subjektiver Hinsicht sei an dieser Stelle angemerkt, dass nach allgemeiner Meinung der
Täter hinsichtlich des Erfolges der schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung
des Opfers vorsätzlich handeln muss (vgl. z.B. Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. 2007, § 238 Rn.
7~ Fischer StGB, 56. Aufl. 2009, § 238 Rn. 30). Belästigt also der Täter das Opfer, ohne eine
schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensweise des Opfers auch nur für möglich zu halten
und/oder in Kauf zu nehmen (der Täter will z.B. partout nicht, dass das Opfer seine Lebens-
weise ändert), so bleibt der Täter straflos.
17 Macri (Fn. 10), S. 826: " '" si auspica che al riguardo venga valoriz::ato I'uso dei verbo
'costringere', onde pervenire aa una - quanta meno parziale - oggettivazzione dei concetto
sunnom inato."
538 Manfred Maiwald

schen Zustands beim Opfer bewenden. Die Verursachung eines fortdauern-


den und schwerwiegenden Zustands der Beunruhigung oder der Angst ist
ein Erfolg, der sich allein in den Gefühlen des Opfers niederschlägt. Und
auch die Furcht fur die Unversehrtheit der eigenen Person oder bestimmter
nahe stehender Personen ist für sich genommen der Erfolg; tatsächlich
braucht die Unversehrtheit nicht beeinträchtigt worden zu sein. Diesen
beiden auf Beunruhigung, Angst und Furcht abstellenden Erfolgsbeschrei-
bungen kann man also als geschütztes Rechtsgut nicht die Freiheit der Wil-
lensentschließung und Willensbetätigung entnehmen. Es ist der Einschüch-
terungseffekt an sich, von dem das Opfer frei bleiben soll; schon wenn
dieser eintritt, ist das gemeinte Rechtsgut verletzt.
Dieses Rechtsgut wird man ungefähr mit dem in § 241 des deutschen
8tGB (Bedrohung) geschützten Rechtsgut gleichsetzen können. Für § 241
8tGB wird von der herrschenden Meinung in Deutschland das individuelle
Gefuhl der Rechtssicherheit als geschütztes Rechtsgut angenommen. 18 Das
lässt sich zwanglos dahin präzisieren, dass es um die Freiheit von Furcht
geht l9 , was hier jedoch dahingestellt bleiben soll. Denn hier soll nur fest-
gehalten werden, dass die italienische Regelung des Art. 612-bis c.p. in
zwei ihrer Erfolgsbeschreibungen die psychische Beeinträchtigung des
Opfers an sich im Auge hat.

2. Die Subjektivierung des Erfolgs in der italienischen Regelung


In Deutschland wurde der Verzicht auf die Notwendigkeit einer außen-
weltlichen Opferreaktion als Erfolg des § 238 8tGB zwar im Gesetzge-
bungsverfahren ebenfalls erwogen 20 und die schließlich Gesetz gewordene
Fassung, die die Beeinträchtigung der Lebensführung als objektiven Erfolg
ausdrücklich vorsieht, deswegen kritisiert. 21 Jedoch dürfte nach der Geset-
zesbegründung sicher sein, dass die dort verwendeten Vokabeln der Objek-
tivierbarkeit des Erfolges und die hierfur verwendeten Beispiele es aus-
schließen, eine Erfolgsherbeiführung fur die deutsche Regelung schon im
psychischen Faktum der Erzeugung von Beunruhigung, Angst oder Furcht
zu sehen. Vielmehr ist als Erfolg eben die schwerwiegende Beeinträchti-
gung der Lebensgestaltung als objektives Ereignis vorausgesetzt. Insofern
unterscheidet sich die deutsche Regelung deutlich von der italienischen

18 LacknerlKühl (Fn. 16), § 241 Rn. 1.


19 Schroeder FS Lackner, 1997, S. 671.
20 Darstellung bei Meyer ZStW 115 (2003), 249, 285; Mitsch NJW 2007, 1240; Neuba-
cher/Seher JZ 2007, 1034.
21 NeubacherlSeher a.a.O.. Nicht überzeugend die dort vertretene Lösung, schon der Druck
zur Änderung der Lebensgestaltung stelle den Deliktserfolg dar.
Die italienische Strafvorschrift gegen das Stalking 539

Regelung, die ihrerseits, wie dargestellt, in zwei ihrer Erfolgsmodalitäten


allein die subjektive Befindlichkeit des Opfers entscheidend sein lässt.
Dieser Subjektivierung des Erfolges steht man in Italien freilich kritisch
gegenüber. Hinsichtlich der ersten Erfolgsmodalität - Zustand der Beunru-
higung oder Angst - wird die Hoffnung geäußert, dass das Merkmal "wie-
derholt", das für die Handlungsmodalität gilt, für eine gewisse Objektivie-
rung auch des Erfolges sorgen werde, und dass auch die Attribute
"fortdauernd und schwerwiegend", die der "Beunruhigung" und "Angst" im
Gesetzestext hinzugefügt sind, zur Objektivierung beitragen werden. 22
Hinsichtlich der zweiten Erfolgsmodalität - Furcht für die Unversehrtheit
der eigenen Person, eines Angehörigen oder einer nahe stehenden Person -
weist man darauf hin, dass diese Furcht nach dem Gesetzeswortlaut "be-
gründet" (jondato) sein müsse. Damit werde von vornherein eine extreme
Subjektivierung ausgeschlossen. Im Übrigen unterfalle diese Erfolgsmodali-
tät in der Praxis in der Regel gleichzeitig der ersten Erfolgsbeschreibung.23
Will man nach diesen vergleichenden Betrachtungen eine kurze Schluss-
folgerung hinsichtlich des Erfolgs der Stalking-Handlungen ziehen, die in
den Rechtsordnungen Deutschlands und Italiens für die Strafbarkeit voraus-
gesetzt wird, so lässt sich sagen, dass die italienische Erfolgsbeschreibung
das soziologische Phänomen des Stalking direkter anspricht. Indem Beun-
ruhigung, Angst und Furcht in zwei der drei Erfolgsmodalitäten fur die
Deliktsvollendung ausreichen, wird die "Freiheit von Furcht" (oder doch
von "Beunruhigung") zum geschützten Rechtsgut erhoben und damit den
Motiven auch des deutschen Gesetzgebers bei Schaffung des § 238 StGB,
der, wie schon erwähnt, u.a. auf den strukturellen Zusammenhang mit der
Bedrohung hinwies,24 Rechnung getragen.
Andererseits stellt sich gegenüber dem italienischen Gesetzgeber die Fra-
ge, ob nicht die dritte Erfolgsmodalität des Tatbestands, die über die Furcht
hinaus eine Opferreaktion, hervorgerufen durch einen "Zwang" zur Verän-
derung der Lebensgewohnheiten, fordert, wenig praktische Bedeutung ha-
ben wird. Denn eine selbständige Strafbarkeit, die nicht bereits durch die
Erzeugung von fortdauernder und schwerwiegender Beunruhigung und
Angst an sich begründet würde, ist in diesem Zusammenhang nur für einen
"Zwang" denkbar, der gerade nicht in dieser fortdauernden und schwerwie-
genden psychischen Beeinträchtigung besteht. Ob man aber bei Abwesen-
heit einer solchen Beeinträchtigung von Zwang sprechen kann, ist immerhin
fraglich.

22 Macri (Fn. 10), S. 825.


23 Macri (Fn. 10), S. 826.
24 BT-Drs. 16/575, S. 7.
540 Manfred Maiwald

Der deutsche Gesetzgeber, der in § 238 StGB die Opferreaktion der Än-
derung der Lebensgestaltung als alleinigen, aber auch notwendigen Erfolg
des Täterhandelns vorsieht, führt auf der anderen Seite zu der Frage, warum
eigentlich bei beharrlichen und unbefugten Nachstellungshandlungen i. S.
der Nr. 1 bis 4 des § 238 StGB, die das Opfer in Furcht versetzen, die Straf-
verfolgungsbehörden, um den Täter verfolgen zu können, abwarten müssen,
bis auch wirklich das Opfer die Gestaltung seines Lebens in schwerwiegen-
der Weise geändert hat - wobei noch dazu solche schwerwiegenden Ände-
rungen von der psychischen Stabilität des jeweiligen Opfers abhängen wer-
den.

IV. Die Umschreibung der als atti persecutori bezeichneten


Tathandlungen
Zeigt der Vergleich der für die Strafbarkeit nötigen tatbestandlichen Er-
folge in § 238 StGB einerseits und Art. 612-bis c.p. andererseits, wie
schwierig es ist, das soziologische Phänomen des Stalking mit den allge-
meinen Prinzipien gerade der staatlichen Strafe in ein ausgewogenes Ver-
hältnis zu bringen, so gilt dies nicht minder für die in den beiden Regelun-
gen formulierten tatbestandlichen Handlungen. Für beide Regelungen ist zu
konstatieren, dass sie für die Erzeugung von Furcht oder die Änderung der
Lebensgewohnheiten nicht die bloße Verursachung ausreichen lassen. Beide
Regelungen formulieren vielmehr Handlungsmodalitäten, durch die der
Erfolg herbeigeführt werden muss. Der italienische Tatbestand ist bei dieser
Formulierung einerseits recht lapidar, indem er nur ein wiederholtes Bedro-
hen oder Belästigen als Tathandlung verlangt, andererseits ist die Formulie-
rung aber auch umfassend, da das Bedrohen und in besonderem Maße das
Belästigen Handlungsmodalitäten mit einem hohen Unbestimmtheitsgrad
darstellen.
Demgegenüber folgt der deutsche Tatbestand der Nachstellung bei der
Handlungsbeschreibung einer durchaus eigenartigen Formulierungstechnik.
Als Tathandlung erscheint zunächst das Nachstellen. Dem Nachstellen folgt
sodann eine mit "indem" eingeleitete Aufzählung von Handlungen. Unklar
bleibt bei dieser Technik, wie diese beiden Satzteile in ihrem Verhältnis
zueinander zu verstehen sind. Sollen nämlich diese Handlungen - beharrli-
ches Aufsuchen der räumlichen Nähe, der Versuch, Kontakt herzustellen
usw. - die Tathandlungen sein, so ist der einleitende Oberbegriff "nachstel-
len" überflüssig, da das Täterhandeln eben unter die einzelnen Nummern
des § 238 Abs. 1 StGB subsumiert werden muss. Würde ein Richter, der
einen Angeklagten aus § 238 StGB verurteilt, sich auf die Feststellung des
Nachstellens beschränken, ohne auf eine der in Nr. 1 bis 4 beschriebenen
Die italienische Strafvorschrift gegen das Stalking 541

Modalitäten einzugehen, so würde sein Urteil vermutlich in der Revisions-


instanz sehr schnell aufgehoben. So gesehen, ist also die Verwendung der
Vokabel "nachstellen" im deutschen Gesetzestext überflüssig. Daher wird
denn auch die Formulierung "nachstellen, indem" bereits vom Gesetzgeber
als Hinweis darauf bezeichnet, dass jeweils zu prüfen sei, ob die etwa ver-
wirklichten Handlungsmodalitäten der Nummern 1 bis 4 auch wirklich dem
"Bild" des Stalking entsprechen. 25 Man kann dies als eine Anweisung zur
teleologischen Reduktion bezeichnen.
Da nun aber, wie schon eingangs bemerkt, die Bestimmtheit der Nr. 1 bis
4 des § 238 StGB durch die in Nr. 5 geschaffene Analogiemöglichkeit zu-
nichte gemacht wird, wird sich bei einem Vergleich mit dem italienischen
Tatbestand der Atti persecutori der Einwand der Unbestimmtheit ziemlich
gleichmäßig auf beide Regelungen - die deutsche und die italienische -
verteilen. Denn die schwache Stelle der italienischen Regelung liegt in der
Handlungsmodalität des Belästigens. Wenn man bedenkt, dass viele Bürger
häufig der Belästigung durch Geräusche, Gerüche, durch Lärm usw. ausge-
setzt sind, die von anderen Personen hervorgerufen wird, so ist klar, dass
eine Belästigung für sich genommen, auch wenn sie "wiederholt" geschieht,
noch keineswegs als Unrechtsindiz aufgefasst werden kann. Da von einer
"wiederholten" Belästigung schon dann gesprochen werden soll, wenn sie
auch nur durch mindestens zwei Ereignisse herbeigeführt worden ist, die,
jedes rur sich genommen, nicht notwendig strafrechtliches Unrecht darstel-
len müssen,26 wird diese Weite der Tatbestandsfassung noch akzentuiert.
Die Weite des Tatbestands und die Geringrugigkeit der Tathandlung des
Belästigens wird nur wenig dadurch ausgeglichen, dass der Zustand der
Beunruhigung und der Furcht, der durch das Belästigen verursacht sein
muss, "dauerhaft" und "schwerwiegend" zu sein hat.
Sieht man die Sache abstrakt-semantisch, so bleibt demgemäß das Unbe-
hagen, das einen Strafrechtler unweigerlich beschleicht, wenn er sieht, dass
der Gesetzgeber die bloße Belästigung einer anderen Person mit einer Frei-
heitsstrafe von sechs Monaten bis zu vier Jahren bestraft. Dieses Unbehagen
besteht freilich bei einer abstrakt-semantischen Betrachtung auch gegenüber
der deutschen Regelung. Dort ist in Abs. 1 Nr. 1 des § 238 StGB vom Auf-
suchen der räumlichen Nähe eines anderen Menschen die Rede, was offen-
bar als konkrete Erfassung einer Form des Belästigens gedacht ist: Das
Aufsuchen der räumlichen Nähe eines anderen Menschen für sich genom-
men schafft schwerlich ein Unrechtsindiz, auch nicht, wenn es wiederholt

25 BT-Drs. a.a.O.; dazu Schroeder (Fn. 1), § 16 Rn. 12.


26 Vgl. Macri (Fn. 10), S. 824: " ... .appare ragionevole richiedere la necessita di almeno
due 'episodi persecutori' i quali non devono essere necessariamente omogenei, ne costituire in
se illecito penale".
542 Manfred Maiwald

geschieht. Die meisten Menschen suchen jeden Tag die räumliche Nähe
anderer Menschen auf. Wenn der Arzt im Krankenhaus immer wieder die
räumliche Nähe der ihm anvertrauten Patienten aufsucht, wenn der Lehrer
jeden Morgen seine Schüler unterrichtet und - natürlich - dabei deren
räumliche Nähe aufsucht, wenn ein berufstätiger Ehegatte allabendlich nach
Hause zurückkehrt und die Nähe des jeweils anderen Ehegatten aufsucht, so
ist damit sicher noch kein Unrechtsindiz im Sinne des Tatbestands des Stal-
king geschaffen, für das man dann erst nach einem Rechtfertigungsgrund
suchen müsste, um ein Eingreifen des Staatsanwalts auszuschließen. Erst
wenn man in das Merkmal "beharrlich" das Handeln gegen den Willen des
anderen hineinlegt27 und auch noch das Handeln ohne "Befugnis" berück-
sichtigt,28 lässt sich im Aufsuchen der räumlichen Nähe eines anderen Men-
schen so etwas wie Unrechtsrelevanz erkennen.
Insgesamt kann man bei einem Vergleich der Tathandlungen feststellen,
dass die italienische Regelung das sozialpsychologische Phänomen, das von
der Stalking-Norm erfasst werden soll, deutlicher zum Ausdruck bringt als
die deutsche. Es geht um wiederholte Nachstellungshandlungen, die beim
Opfer zu einem Zustand der Einschüchterung führen, indem sie bei diesem
ein körperliches oder psychisches Unbehagen erzeugen und ein nachvoll-
ziehbares Gefühl der Furcht. Da der "Zwang", die Lebensgewohnheiten zu
ändern, nach dem Wortlaut der Bestimmung ebenfalls durch Drohung oder
Belästigung erzeugt sein muss, ist auch in dieser Handlungsmodalität die
Beziehung zu einer psychischen Beeinträchtigung hergestellt. Allerdings
besteht der Preis, der für diese Verdeutlichung zu zahlen ist, in der Verwen-
dung summarisch-wertender Begriffe - bedrohen und belästigen - und in
der Subjektivierung des Erfolgs - Zustand der Beunruhigung und Angst -
so dass mit dieser Verdeutlichung auch hier das strafrechtliche Bestimmt-
heitsgebot tangiert ist.

v. Eine erste gerichtliche Entscheidung: Tribunale di Bari


Inzwischen ist im Hinblick auf die Anwendung des neuen Art. 612-bis
c.p. in Italien auch schon eine erste, viel beachtete Entscheidung ergangen.
Es handelt sich um eine Entscheidung des Tribunale di Bari vom 6. April
2009. Die Entscheidung stellt prozessual gesehen eine Rechtsbehelfsent-
scheidung dar, und zwar eine Entscheidung über den Rechtsbehelf "riesa-
me", der zulässig ist gegen gerichtliche Beschlüsse, die prozessuale

27 Vgl. Fischer (Fn. 16), § 238 Rn. 19.


28 Vgl. Fischer (Fn. 16), § 238 Rn. 26.
Die italienische Strafvorschrift gegen das Stalking 543

Zwangsmaßnahmen anordnen. 29 In dem betreffenden Verfahren war durch


Beschluss des GIP (giudice per le indagini preliminari) des Tribunale di
Foggia30 gegen den Beschuldigten die custodia cautelare in carcere ange-
ordnet worden, eine Zwangsmaßnahme, die der deutschen Untersuchungs-
haft entspricht. Vorgeworfen wurde dem Beschuldigten die Begehung von
atti persecutori im Sinne von Art. 612-bis c.p. Das Tribunale di Bari hat
den riesame als unbegründet verworfen: ,,11 riesame e infondato e va riget-
tato."31
Der Sachverhalt, der der Verhängung der Untersuchungshaft zugrunde
lag, war ein geradezu "klassischer" Fall von Stalking. Ein von seiner Ehe-
frau gesetzlich getrennt lebender Ehemann war wegen Misshandlung von
Familienangehörigen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Schon wäh-
rend dieses Verfahrens hatte der Ehemann mehrmals gedroht, er werde
Ehefrau und Tochter (offenbar die misshandelten Personen) umbringen,
sobald er seine Strafe verbüßt haben werde. Als er aus der Haft entlassen
wurde, begann er trotz zivilrechtlicher Anordnung, sich der Wohnung von
Ehefrau und Tochter fernzuhalten, ihnen "nachzustellen", indem er mehr-
fach an der Wohnungstür klingelte, mittels der Sprechanlage Einlass be-
gehrte, u. a. wieder Todesdrohungen ausstieß, mit der Ehefrau zu telefonie-
ren versuchte, stundenlang auf der Straße stehend die Wohnung beobachtete
und in einem Fall, als seine Ehefrau und die Tochter in ihr Auto einstiegen,
mit den Fäusten gegen die Scheiben schlug, da er die Tür von außen nicht
öffnen konnte. Ehefrau und Tochter fürchteten wegen dieser wiederholten
Annäherungsversuche und Drohungen um ihre körperliche Unversehrtheit. 32
Das Tribunale di Bari sagt nicht ausdrücklich, auf welche Modalitäten
des Art. 612-bis c.p. es die Verwerfung des riesame stützt. Einerseits wird
auf die Erzeugung dauernder Angst (continua paura) abgestellt, was auf die
erste Modalität der Vorschrift deutet. Hinzugefügt wird aber, die Angst der
Opfer betreffe "die eigene Person" (paura per se stesse), so dass an die
Furcht um die körperliche Unversehrtheit - die zweite Tatbestandsmodalität
- zu denken ist. Und schließlich wird auf den Zwang zur Veränderung der
Lebensgewohnheiten abgestellt, da die Opfer fortdauernd hätten um sich
schauen müssen (da doversi continuamente "guardare alle spalle H), was
eben eine Veränderung der normalen Lebensgewohnheiten bedeute. Die
Entscheidung hält ebenfalls nicht ausdrücklich fest, um welche der beiden
Tathandlungen es sich handelt - um das Belästigen oder um das Bedrohen.

29 Zum Rechtsbehelf des riesame im italienischen Strafverfahren gern. Art. 309 c.p.p. näher
Maiwald Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht, 2009, S. 200 f.
30 Der GIP (giudice per fe indagini preliminari) ist dem deutschen Ermittlungsrichter ver-
gleichbar; s. Maiwald a.a.O., S. 204 f.
31 Entscheidung des Tribunale di Bari S. 1 (http//www.uilpadirigentiministeriali.com).
32 Sachverhalt in der Entscheidung des Tribunale di Bari a.a.O., S. 2 f.
544 Manfred Maiwald

Angesichts der Feststellungen, die die Bedrohung mit dem Tode herausstel-
len, dürfte aber hier die schwerwiegendere Tathandlung des Bedrohens
ohne weiteres anzunehmen sein. Demgemäß war wohl die Verwerfung des
riesame in diesem Fall des Tribunale di Bari unproblematisch

VI. Die tatbestandlichen Qualifikationen der italienischen


Stalking-Regelung
Eine Qualifikation des italienischen Stalking-Tatbestands bildet der Um-
stand, dass das Opfer eine Person ist, von der der Täter gesetzlich getrennt
oder geschieden ist, oder mit der der Täter in eheähnlicher Gemeinschaft
gelebt hat. Damit ist sicher ein statistisch relevanter Teil der Stalking-FäUe
erfasst. Ob damit zugleich ein Komplex von - gegenüber anderen Fällen -
besonders erhöhter Strafwürdigkeit formuliert ist, wird freilich wohl erst die
gerichtliche Praxis zeigen.
In der italienischen Literatur wird jedenfalls kritisiert, dass nicht einzuse-
hen sei, warum bei Ehegatten die erhöhte Strafe an das formale Moment der
gesetzlichen Trennung geknüpft ist: Auch vor dem gerichtlichen Akt der
gesetzlichen Trennung könne das Stalking-Phänomen selbstverständlich
auftreten, vor allem bei nur faktischer Trennung, und die Strafwürdigkeits-
erwägungen seien in solchen Fällen kaum verschieden von denen, die für
die Fälle nach der gesetzlichen Trennung maßgebend seien. 33
Ein zweiter Kritikpunkt betrifft die Terminologie. Der Gesetzestext ver-
wendet für eine zweite Fallgruppe der Qualifikation als Bezeichnung des
Stalking-Opfers die Formulierung "persona ehe sia stata legata da relazio-
ne affettiva alla persona offesa Diese Formulierung wurde oben übersetzt
H.

mit "Person, die mit der verletzten Person affektiv verbunden war". Damit
würden aber - so die Kritik - Begriffe verwendet, die ansonsten der italieni-
schen Gesetzgebung gänzlich unbekannt seien. Vielmehr wäre es - so wie-
derum die Kritik - wünschenswert gewesen, etwa die Formulierung" legata
da relazione sentimentale stabile zu wählen, weil so die Unbestimmtheit,
H

die in der bloßen Erwähnung der affektiven Verbindung liege, abgemildert


worden wäre. 34 Aber solche Einzelheiten der sprachlichen Festlegung sollen
hier dahingestellt bleiben.
Die Strafe ist übrigens in diesen Qualifikationsfallen nach dem Schlüssel
des Art. 64 C.p. bis um ein Drittel gegenüber der konkret verwirkten Strafe

33 Macri (Fn. 10), S. 826.


34 Macri (Fn. 10), S. 826 f.
Die italienische Strafvorschrift gegen das Stalking 545

zu erhöhen, so dass das abstrakte Höchstmaß der Freiheitsstrafe 5 Jahre 4


Monate beträgt. 35
Bis um die Hälfte ist die Strafe in den weiteren, ebenfalls in Art. 612-bis
C.p. enthaltenen Qualifikationsfällen zu erhöhen, d. h. dann, wenn das Opfer
eine minderjährige oder behinderte Person ist oder eine Schwangere. Die
abstrakt mögliche Höchststrafe beträgt demgemäß in solchen Fällen 6 Jahre.
Die weitere Qualifikation der Begehung mit Waffen oder durch eine un-
kenntlich gemachte Person, die ebenfalls zur Straferhöhung bis um die
Hälfte führt, ist bereits in Strafvorschriften ganz anderer Art zu finden,
nämlich bei den "Verbrechen von Privatpersonen gegen die öffentliche
Verwaltung" (Art. 336 ff. c.p.). Hier taucht in der Tat u. a. bereits die Bege-
hung mit Waffen oder durch eine unkenntlich gemachte Person in Art. 339
c.p. als Qualifikationsgrund auf. Im Zusammenhang mit den atti perseeutori
dürfte fiir die Schaffung dieser Qualifikationen der Gedanke der durch die
Waffen und die Vermummung erzeugten verstärkten Furcht beim Opfer
maßgebend sein und hinsichtlich der Waffen zusätzlich die erhöhte objekti-
ve Gefährlichkeit der Tat.

VII. Die Subsidiaritätsklausel


"Salvo ehe il fatto eostituisea piu grave reato ... ": Mit dieser Subsidiari-
tätsklausel beginnt die italienische Stalking-Vorschrift. Während für den
deutschen § 238 StGB die allgemeinen Konkurrenzregeln gelten, was u. a.
zur Annahme von Idealkonkurrenz mit sog. harten Formen des Stalking
fuhrt,36 ist also fiir die italienische Regelung von vornherein ein Zurücktre-
ten vorgesehen, wenn dieselbe Tat in anderen Vorschriften mit höherer
Strafe bedroht ist.
Man könnte annehmen, dass die Subsidiaritätsklausel der italienischen
Regelung von vornherein die praktisch Anwendung dieser Regelung in
großem Umfang einschränkt, und zwar in den soeben erwähnten sog. harten
Fällen des Stalking. Jedoch ist zu konstatieren, dass insofern eine praktisch
wichtige Erscheinungsform des Stalking, nämlich das Bedrohen des Opfers,
vom Tatbestand der Bedrohung, der auch im codiee Roeeo in Form des Art.
612 existiert, in seinem Grundtatbestand nur mit einer Geldstrafe bestraft
wird, und, wenn in qualifizierter Form begangen (Art. 612 Abs. 2 c.p.),
auch nur mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr. Gegenüber dem

35 Die Regelstrafe ist Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 4 Jahren. Sie ist gern. Art. 64 C.p.
bis um ein Drittel- also 16 Monate - zu erhöhen, was im Höchstmaß die Summe von 5 Jahren
4 Monaten ergibt.
36 Vgl. etwa Lackner/Kühl (Fn. 16), § 238 Rn. 12.
546 Manfred Maiwald

Tatbestand der Bedrohung im deutschen StGB - dem § 241 - ist dieser


Tatbestand erheblich weitergehend, da er nicht nur das Bedrohen mit einer
schwerwiegenden Straftat - in Deutschland: mit einem Verbrechen - unter
Strafe stellt, sondern das Androhen eines unrechtmäßigen Nachteils (ingi-
usto danno) genügen lässt.
Gegenüber diesem Tatbestand des Androhens eines Nachteils ist daher
die Stalking-Regelung des Art. 612-bis c.p. von vornherein erheblich enger,
da sie, wie oben dargestellt, die Erzeugung von Furcht oder den Zwang zur
Änderung der Lebensführung als Erfolg voraussetzt und zusätzlich die wie-
derholte Begehung, wenn auch andererseits die Handlungsmodalität des
Belästigens weniger schwerwiegend erscheinen mag als das Androhen eines
ungerechtfertigten Nachteils. Jedenfalls tritt aber trotz der Subsidiaritäts-
klausel im italienischen Strafrecht der Stalking-Tatbestand in den Fällen des
Bedrohens - wenn die sonstigen Voraussetzungen vorliegen - nicht zurück,
da - wie gezeigt - das Strafmaß des Stalking-Tatbestands das des Bedro-
hens bei weitem übersteigt. In der obigen Entscheidung des Tribunale di
Bari, die u. a. mit wiederholten Todesdrohungen begründet wird, ist denn
auch dieser Umstand nicht geeignet, den Stalking-Tatbestand im Wege der
Subsidiarität zurücktreten zu lassen.

VIII. Ergänzungen prozessualer Art


Die deutsche Stalking-Strafvorschrift wird durch prozessuale Regelungen
ergänzt. So tritt zur materiellrechtlichen Tatbestandsfassung des § 238
Abs. 1 bis 3 StGB die prozessuale Vorschrift des § 238 Abs. 4 StGB hinzu,
nach der für die Verfolgung ein Strafantrag erforderlich ist, es sei denn, die
Strafverfolgungsbehörde halte wegen des besonderen öffentlichen Interes-
ses ein Einschreiten von Amts wegen für erforderlich; es wird die Möglich-
keit des Anschlusses als Nebenkläger eröffnet; der Tatbestand zählt zu den
Privatklagedelikten; die Untersuchungshaft kann gern. § 112a Abs. 1 Nr. 1
StPO bei Wiederholungsgefahr angeordnet werden, soweit die Qualifikatio-
nen des § 238 Abs. 2 und 3 StGB erfüllt sind. 37
Auch die italienische Regelung enthält prozessuale Ergänzungen. Art.
612-bis c.p. ist ein Antragsdelikt mit Ausnahme der Fälle, in denen sich die
Tat gegen eine minderjährige oder gegen eine behinderte Person richtet,
oder in denen die Tat zugleich ein Offizialdelikt darstellt; in diesen letzteren
Fällen tritt die Strafverfolgung von Amts wegen ein. Der italienische Straf-
prozess kennt allerdings weder das Institut der Nebenklage noch das der
Privatklage. Jedoch existiert von jeher die Möglichkeit für den Verletzten,

37 Näher NeubacherlSeher (Fn. 20), 1035 f.


Die italienische Strafvorschrift gegen das Stalking 547

sich im Strafprozess durch einen difensore vertreten zu lassen. Die Be-


zeichnung als difensore (Verteidiger) im Zusammenhang mit dem Verletz-
ten ist zwar aus der Sicht des deutschen Prozessrechts ungewöhnlich. Der
Sache nach wird so aber eine prozessuale Möglichkeit geschaffen, die eine
gewisse Entsprechung zur deutschen Nebenklage darstellt. 38 Dieser Mög-
lichkeit kann sich ein Stalking-Opfer bedienen.
Was die prozessualen Zwangsmaßnahmen der italienischen Strafprozess-
ordnung betrifft, so ist zusammen mit dem Stalking-Tatbestand des mate-
riellen Strafrechts in Gestalt des Art. 282-ter C.p.p. eine prozessuale Mög-
lichkeit geschaffen worden, die speziell auf die Fälle des Stalking
zugeschnitten ist. Es ist für den Richter möglich, im Ermittlungsverfahren
die Anordnung zu treffen, dass der Beschuldigte sich der verletzten Person,
den mit ihr zusammenlebenden Personen oder den ihr nahe stehenden Per-
sonen nicht nähern darf und nicht durch Kommunikationsmittel in Verbin-
dung treten darf. Kommt der Beschuldigte der Anordnung nicht nach, so
verhängt der Richter gern. Art. 276 C.p.p. gravierendere Zwangsmaßnah-
men, wie beispielsweise die Untersuchungshaft. 39
Die Untersuchungshaft (custodia cautelare in carcere) kann gem. Art.
274 c.p.p. bei Fluchtverdacht und Verdunkelungsgefahr angeordnet werden,
aber auch bei der Gefahr, dass der Beschuldigte, bliebe er in Freiheit, be-
stimmte schwerwiegende Delikte - die in Art. 274 c. P p. aufgezählt werden
- oder dasselbe Delikt, dessen er im betreffenden Verfahren beschuldigt
wird, begehen werde. 40 Diese schon vor Einfilhrung des Stalking-
Tatbestands in Italien geltende Vorschrift ermöglicht es, einen Stalker in
Untersuchungshaft zu nehmen, wenn die Gefahr besteht, dass er ohne ein
derartiges Einschreiten der Strafverfolgungsbehörden von seinen Nachstel-
lungen nicht ablassen wird, und wenn weiterhin anzunehmen ist, dass die
oben dargestellte Anordnung eines Kommunikationsverbots wirkungslos
bleiben würde. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit bei der Auswahl einer
misura cautelare ist in Art. 275 c.p.p. ausdrücklich statuiert. 41
Das Tribunale di Bari nennt den von ihm angenommenen Haftgrund in
der obigen Entscheidung nicht ausdrücklich, doch kann man dem Zusam-
menhang der Gründe entnehmen, dass es um die Wiederholungsgefahr
bezüglich des dem Beschuldigten vorgeworfenen Delikts geht. Die Verhält-

38 Näher zum difensore des Verletzten }vfaiwald (Fn. 29), S. 182.


39 Über die Abstufung der prozessualen Zwangsmaßnahmen vgl. Tonini Manuale di Proce-
dura penale, 7. Aufl. 2006, S. 352 ff., 362 f.~ Maiwald (Fn. 29), S. 199.
40 Zu den Haftgründen der italienischen Strafprozessordnung vgl. Tonini a.a.O., S. 349 f.
41 Dazu wieder Tonini (Fn. 39), S. 350 ff.
548 Manfred Maiwald

nismäßigkeit der Anordnung der Untersuchungshaft wird ausdrücklich


hervorgehoben. 42
Hinzuweisen ist schließlich noch auf eine polizeirechtliche Bestimmung.
Als Begleitvorschrift zum Tatbestand des Art. 612-bis c.p.p. hat der italieni-
sche Gesetzgeber die Regelung getroffen,43 dass das Opfer von atti persecu-
tori, solange noch kein Strafantrag gestellt ist, sich an die Polizeibehörden
wenden kann mit dem Antrag, den Täter zu verwarnen. Das Gesetz spricht
von ammonimento. Die Verwarnung geschieht mündlich durch den pretore.
Wird eine solche Verwarnung ausgesprochen und wird der Tatbestand des
Art. 612-bis c.p. nach der Verwarnung gleichwohl verwirklicht, so ist die
Strafe aus dieser Bestimmung gegenüber dem bereits verwarnten Täter zu
erhöhen. Außerdem ist in einem solchen Fall dann kein Strafantrag erfor-
derlich.

IX. Schlussbemerkung
Die Erfassung des soziologischen Phänomens des Stalking durch eine ge-
setzliche Regelung des Strafrechts stellt offenbar jede Rechtsordnung vor
kaum überwindliche Schwierigkeiten, jedenfalls dann, wenn diese sich dem
Bestimmtheitsgrundsatz verpflichtet fühlt. Die italienische Regelung des
Art. 612-bis C.p. ist im Kreis der inzwischen in vielen Staaten ergangenen
strafrechtlichen Normen gegen das Stalking ein weiterer Beweis hierfür.
Bemerkenswert ist aus der Sicht des deutschen Strafrechts, dass die italie-
nische Regelung in zwei ihrer drei Erfolgsmodalitäten die Erregung von
Furcht für sich genommen als tatbestandlich relevant ausreichen lässt; aller-
dings muss die Furcht dauerhaft und schwerwiegend sein oder sich auf die
körperliche Unversehrtheit beziehen. Dass die italienische Regelung auf
eine die Analogie ermöglichende Vorschrift verzichtet, wie sie unglückseli-
gerweise in § 238 Abs. 1 Nr. 5 StGB enthalten ist, ist nur zu begrüßen.
Doch ist die Aufnahme der bloßen Belästigung in den Tatbestand als aus-
reichende Tathandlung ihrerseits wegen ihrer Weite und ihrer geringen
Eingriffsintensität Bedenken ausgesetzt.

42 Tribunale di Bari (Fn. 31), S. 4: Die "totale mancanza di autocontrollo" (das völlige Feh-
len der Selbstkontrolle beim Beschuldigten) wird ebenso betont wie die Unmöglichkeit, im
vorliegenden Fall zur weniger einschneidenden Maßnahme des Hausarrests greifen zu können.
43 Decreto legge 23 febbraio 2009 n. 11, Art. 8.
Das Taschenmesser als gefährliches Werkzeug
des Diebes

RUDOLF RENGIER

I.
Im seit dem 6. Strafrechtsreformgesetz von 1998 schwelenden Streit um
den Begriff des gefahrlichen Werkzeugs insbesondere im Sinne des § 244
Abs. 1 Nr. 1a 2. Var. StGB - und auch des § 250 Abs. 1 Nr. 1a 2. Var.
StGB - haben Praxis und Wissenschaft lange auf eine grundlegende Ent-
scheidung des BGH warten müssen. Dem Beschluss des 3. Strafsenats vom
3.6.2008 - 3 StR 246/07 1 kann ein solcher Charakter durchaus zugespro-
chen werden. Doch wer die Hoffnung gehabt hat, dem BGH werde es gelin-
gen, die Streitfrage zu klären oder eine von einer breiteren Basis akzeptierte
Position zu entwickeln, sieht sich eher enttäuscht. Jedenfalls überwiegen
eindeutig die kritischen Stimmen. 2 Fairerweise muss man hinzufügen, dass
BGHSt 52, 257 überhaupt nicht mit dem Anspruch auftritt, die Streitfrage in
einer grundlegenden Weise zu klären. Vielmehr spürt man eine gewisse
Resignation, die durchaus verständlich erscheint und damit zusammen-
hängt, dass der 3. Strafsenat keine Lösung gefunden hat, die nach einer über
zehnjährigen - eine ungewöhnliche Meinungsvielfalt hervorbringenden -
Diskussion neue Wege aufzeigt. Der BGH sieht die Ursache für Misslich-
keiten, die sich auch auf dem Boden des von ihm eingenommenen Stand-
punkts ergeben, nicht zu Unrecht beim Gesetzgeber, dem er eine "adäquate
Neufassung" des Gesetzes nahelegt. 3 Diese Offenheit macht die Entschei-
dung zwar sympathisch, doch gegenüber Kritik nicht immun. 4 Denn man

1 BGHSt 52, 257 ff mit zahlreichen Nachweisen; zur Diskussion auch Rengier Strafrecht
Besonderer Teil I, 12. Aufl. 2010, § 4 Rn. 19 ff
2 Vgl. Kasiske HRRS 2008, 378 ff; Deiters ZJS 2008, 424 ff~ lahn JuS 2008, 835 f; Krü-
ger JA 2009, 190 ff; Geppert JK 2/09 StGB § 244 Abs. 1 Nr. 1a14~ Foth NStZ 2009, 93 f;
Peglau JR 2009, 162 ff~ Landrath/Fieberg Jura 2009, 350 f~ Sättele NJW 2009, 2758 f~
Wessels/Hillenkamp Strafrecht Besonderer Teil 2, 32. Aufl. 2009, Rn. 262 f, g~ Rengier (Fn. 1),
§ 4 Rn. 42a.
3 BGHSt 52, 257, 269.
4 Vgl. auch Krüger JA 2009,192 f
550 RudolfRengier

fragt sich erstens, warum der 3. Strafsenat eine verunglückte gesetzliche


Regelung extensiv und nicht restriktiv interpretiert und jeden Bürger, der
insbesondere bei einem (Bagatell-)Ladendiebstahl ein übliches zusammen-
geklapptes Taschenmesser bei sich führt, der Gefahr einer Mindeststrafe
von 6 Monaten Freiheitsstrafe aussetzt. Der Leitsatz verkündet nämlich:
"Ein Taschenmesser ist grundsätzlich ein gefährliches Werkzeug im Sin-
ne des § 244 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) StGB; dies gilt unabhängig davon,
ob der Dieb es allgemein für den Einsatz gegen Menschen vorgesehen
hat."
Zweitens leuchtet es nicht unbedingt ein, weshalb der BGH sehenden Auges
den Weg zu einer - nicht nur die Justiz belastenden - "schwer kalkulierba-
ren Einzelfallkasuistik" bereitet, bei der zudem die "Gefahr von wider-
sprüchlichen Entscheidungen offenkundig" ist. 5

11.
Vorangestellt seien zur Veranschaulichung ein paar Bemerkungen zu den
Taschenmessern, um die es hauptsächlich geht. Taschenmesser gibt es
selbstverständlich in verschiedenen Größen, Formen und Ausstattungen.
Für das klassische Produkt stehen die roten Taschenmesser mit Schweizer
Kreuz der Schweizer Firma Victorinox, der auch vom BGH schon die Ehre
zuteil wurde, erwähnt zu werden. 6 Ein beliebtes Standardmesser weist eine
Länge von 9 cm bei einer Klingenlänge von 7 cm auf. Es vereint 12 Funkti-
onen (insbesondere große Klinge, kleine Klinge, Korkenzieher, Dosenöff-
ner, Kapselheber, Schraubendreher), wiegt 63 g und lässt sich daher auch
als Multifunktionswerkzeug bezeichnen. Dicke und Gewicht der Messer
hängen von der Anzahl der Funktionen ab.
Nicht nur in den üblichen Internetbewertungen werden solche Taschen-
messer als ideale praktische tägliche Begleiter gelobt, die unproblematisch
in jedes Gepäck und jede Tasche passen. Wenn solche Messer auch als
"Schweizer Messer" und "Schweizer Offiziersmesser" bezeichnet werden,
so könnte zumindest die zweite Bezeichnung dem Uninformierten aus straf-
rechtlicher Sicht eine besondere Gefährlichkeit des Objekts im Sinne einer
Waffe im technischen Sinn suggerieren. Richtig ist: Die Bezeichnungen
sind geschützt, um Verwechslungen mit Imitationen zu vermeiden. Das sog.
Offiziersmesser wurde Ende des 19. Jahrhunderts als Soldatenmesser ent-
wickelt; es sollte geeignet sein, "um beim Essen zu helfen, darüber hinaus

5 BGHSt 52, 257, 269.


6 BGHSt 43, 266, 268.
Das Taschenmesser als gefährliches Werkzeug des Diebes 551

allerdings auch noch Werkzeuge besitzen, mit denen Gewehre gewartet


werden konnten."7
Es kann also festgehalten werden: Taschenmesser der geschilderten Art
sind sehr verbreitet. Ihr MitfUhren ist absolut normal und sozial üblich und
fUr viele - "seit ihren Knabentagen"g oder ihrer "Erstkommunion" bzw.
"Konfirmation"9 - eine tägliche Gewohnheit wie das Beisichftihren von
Schlüsseln und einer Geldbörse. Der BGH spricht im Zusammenhang mit
dem "Schweizer Offiziersmesser" von einem bei "Wanderern gebräuchli-
chen Multifunktionsmesser", bei dem die Annahme fernliege, es sei im
Sinne des § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG zur Verletzung von Personen be-
stimmt. 10

111.
Mit Taschenmessern der geschilderten Art hat sich die Rechtsprechung
auch schon vor BGHSt 52, 257 verhältnismäßig oft zu befassen gehabt. Es
lohnt sich, einen näheren Blick auf diese Entscheidungen und ihre Diskus-
sion in der Literatur zu werfen.
1. Im Urteil des BayObLG vom 12.4.2000 11 hat der Angeklagte mehrere
Kleidungsstücke im Wert von über 1.000 DM entwendet und dabei nach
den Urteilsfeststellungen "ein kleines zusammengeklapptes normales Ta-
schenmesser ... in der Hosentasche" gehabt. Das Amtsgericht sah dieses
Messer als Gebrauchsgegenstand und nicht als gefährliches Werkzeug ge-
mäß § 244 Abs. 1 Nr. la 2. Var. StGB an. Dem widerspricht das BayObLG
und stuft das Taschenmesser als gefährliches Werkzeug ein, gibt freilich
dem Strafrichter - ohne zu sagen weshalb - noch die Aufgabe mit auf den
Weg, den (angeblichen) Widerspruch zwischen "kleinem" und "normalem"
Taschenmesser aufzuklären, so als ob man nicht etwa die 7 cm lange Klinge
eines Standard-Taschenmessers 12 als klein bezeichnen dürfe.
Erb hat gegen dieses Urteil zu Recht "gravierende" Bedenken vorgetra-
gen: 13 Wenn schon das bloße MitfUhren eines zusammengeklappten Ta-
schenmessers die Qualifizierung begründe, "werden letzten Endes Delikte,
deren Unrechts- und Schuldgehalt an der absoluten Untergrenze der Straf-
würdigkeit angesiedelt ist und bei denen die Annahme einer gesteigerten

7 Siehe dazu den Artikel "Victorinox" im Online-Lexikon Wikipedia.


g So Geppert JK 2/09 StGB § 244 I Nr. Ia/4.
9 Geppert JK 01 StGB § 244 I Nr. la/I.
10 BGHSt 43, 266, 268.
11 BayObLG JR 2001,205 f.
12 Oben n.
13 Erb JR 2001,206 f.
552 Rudolf Rengier

Gefährlichkeit geradezu abenteuerlich anmutet, zur mittelschweren Krimi-


nalität hochstilisiert." 14 Erb führt das Beispiel eines Wanderers an, zu des-
sen Gepäck - selbstverständlich - ein Taschenmesser gehört, der im Vorü-
bergehen einen Apfel pflückt und nun 6 Monate Mindestfreiheitsstrafe zu
erwarten hat. Das BayObLG sei der Aufgabe, "Augenmaß walten zu lassen,
statt einer ebenso erbarmungslosen wie sinnlosen Härte des Strafrechts ...
den Weg zu ebnen, ... nicht nachgekommen."15
In die gleiche Richtung geht die Kritik von Kindhäuser/Wallau, die das
Tragen eines Taschenmessers in der Hosentasche für "schlicht zu ubiquitär,
um hieran eine Straferhöhung zu knüpfen," halten. Niemand komme doch
auf die Idee, "den, der mit einem Schweizer-Messer heimlich Blumen aus
des Nachbars Garten schneidet, um sie seiner Angebeteten zu schenken,
nach § 244 Abs. 1 Nr. 1a StGB zu verurteilen." 16 Dieser Kritik schließt sich
Geppert an, der das BayObLG dafür tadelt, dass es von dem ganzen "Aus-
legungsstreit nichts erkennen lässt und es sich in seiner schneidig-schnellen
Entscheidung ... doch etwas leicht macht." 17
Braucht man weitere Beispiele, so denke man etwa an (Baga-
tell-)Diebstähle jeder Art am Arbeitsplatz durch Beschäftigte, die ein Ta-
schenmesser als Brotzeitmesser bei sich zu tragen pflegen.
Eine Auseinandersetzung mit den erwähnten Bedenken, die auch etwas
mit dem Schuldprinzip zu tun haben, findet in BGHSt 52, 257 ff. allenfalls
konkludent insoweit statt, als die "latente Gefahr" hervorgehoben wird, die
von einem vom Dieb bei sich geführten Taschenmesser ausgehe. 18
2. Erheblich mehr Problembewusstsein als das BayObLG zeigt die Ent-
scheidung des OLG Frankfurt vom 11.1.2002. 19 Sie hat einen nahezu klassi-
schen Ladendiebstahl einer Uedenfalls heute) geringwertigen Sache zum
Gegenstand (2 Uhren im Wert von 60 DM). Der Täter trug in der Hosenta-
sche ein zusammengeklapptes Taschenmesser mit einer Klingenlänge von
ca. 8,5 cm. Behandelt man den Fall als Bagatelldiebstahl, so ist ein Strafan-
trag erforderlich (§ 248a StGB) und die Anwendung des § 243 StGB ist
ausgeschlossen (§ 243 Abs. 2 StGB); hält man die Folgen für gering oder
ändert dementsprechend den Wert des Diebstahlsobjekts, so kommt sogar
eine Einstellung gemäß § 153 Abs. 1 Satz 2 StPO in Betracht. All dies ent-
fällt - also z.B. die Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft
beim Erstdiebstahl einer Tafel Schokolade -, sofern man § 244 Abs. 1 Nr.
la 2. Var. StGB eingreifen lässt. Was den Begriff des gefährlichen Werk-

14 Erb (Fn. 13),206.


15 Erb (Fn. 13),206.
16 Kindhäuser/Wallau StV 2002, 18 f. (Zitate auf S. 19).
17 Geppert JK 01 StGB § 244 I Nr. 1all.
18 BGHSt 52, 257, 268, 270 (dazu noch unten VII).
19 OLG Frankfurt StV 2002, 145 f.
Das Taschenmesser als gefährliches Werkzeug des Diebes 553

zeugs betrifft, so befürwortet das OLG Frankfurt eine restriktive Auslegung


und verlangt, dass der Täter den Gegenstand subjektiv generell zur gefährli-
chen Verwendung bestimmt hat. Insoweit greift es eine auf § 250 Abs. 1 Nr.
la 2. Var. StGB bezogene Überlegung des BGH auf, wonach beim Begriff
des gefährlichen Werkzeugs "neben der objektiven Beschaffenheit des Ge-
genstandes eine generelle, von der konkreten Tat losgelöste ... Bestimmung
des Gegenstandes zur gefährlichen Verwendung seitens des Täters hinzutre-
ten (könnte), die noch nicht die konkrete Verwendungsabsicht nach § 250
Abs. 1 Nr. 1b StGB" erreicht habe. 20 Im Ergebnis will das OLG Frankfurt
"unabsehbare Ausweitungen des Anwendungsbereichs der Vorschrift, die
zum Teil zu absurden Ergebnissen fuhren könnten", vermeiden. 21
3. Auf der gleichen Linie wie das OLG Frankfurt liegt der Beschluss des
OLG Braunschweigs vom 21.2.2002. 22 Das OLG Braunschweig möchte das
Urteil eines Amtsgerichts aufheben, das einen Täter gemäß § 244 Abs. 1 Nr.
1a 2. Var. StGB zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt hat, der
Herrenhosen im Wert von knapp 500 DM gestohlen und in der linken Ho-
sentasche ein Taschenmesser mit einer Klingenlänge von ca. 8 cm getragen
hatte. Das OLG Braunschweig ist wie das OLG Frankfurt der Ansicht, dass
,jedenfalls bei Gegenständen, die konstruktionsbedingt nicht zur Verletzung
von Personen bestimmt sind, sondern jederzeit in sozial adäquater Weise
von jedermann bei sich geführt werden können, neben der objektiven Eig-
nung zur Zufügung von erheblichen Verletzungen noch hinzukommen
muss, dass der Täter den Gegenstand generell - von der konkreten Tat los-
gelöst zur Bedrohung oder Verletzung von Personen bestimmt hat".23 An
0-

einer Aufhebung des amtsgerichtlichen Urteils sieht sich das OLG aber
angesichts der erwähnten Entscheidung des BayObLG 24 gehindert und legt
daher die Sache dem BGH vor.
4. Im daraufhin ergangenen Beschluss des BGH vom 27.9.2002 25 gibt der
BGH die Sache an das OLG mit der Begründung zurück, dass die Vorle-
gungsfrage nicht entscheidungserheblich sei, da bisher die subjektive Seite
des Beisichführens noch nicht festgestellt worden sei. Dem Täter müsse
nachgewiesen werden, dass er das Taschenmesser bewusst gebrauchsbereit
bei sich gehabt habe. Vor diesem Hintergrund komme es nicht darauf an, ob
das Taschenmesser als gefährliches Werkzeug anzusehen sei. Der BGH

20 BGH NStZ 1999,301,302.


21 OLG Frankfurt StV 2002, 145, 146.
22 OLG Braunschweig NJW 2002, 1735 ff., ebenfalls an BGH NStZ 1999,301,302 anknüp-
fend.
23 OLG Braunschweig a.a.O., 1735, 1736.
24 Oben II I. 1.
25 BGH NStZ-RR 2003,12 f.
554 Rudolf Rengier

ergreift also bedauerlicherweise die Gelegenheit zu einer zumindest weiter-


fiihrenden Stellungnahme nicht.
5. Doch geht von dem Hinweis des BGH auf das subjektive Merkmal der
bewussten Gebrauchsbereitschaft eine signalähnliche Wirkung aus. Denn
nun folgen einige Entscheidungen, die diesen Gedanken aufgreifen und das
Heil dort suchen: So hat in dem dem Beschluss des OLG Celle vom
18.2.2005 zugrundeliegenden Fall der Täter Getränke im Wert von ca. 80 €
gestohlen, um mit dem Erlös den Kauf von Drogen zu finanzieren. 26 Dabei
hat er ein Taschenmesser mit einer ca. 5,5 CIn langen Klinge an einer Kette
befestigt in der Hosentasche getragen und angegeben, er habe das Messer
immer dabei; beim Betreten des Supermarkts sei ihm dies aber nicht be-
wusst gewesen. Das OLG Celle hält diese Einlassung insbesondere bei
Gegenständen, die in sozialadäquater Weise bei sich gefiihrt werden, fiir
plausibel und verlangt Feststellungen zum erforderlichen Bewusstsein des
Täters, ein "funktionsbereites Werkzeug zur Verfiigung zu haben, das ge-
eignet ist, erhebliche Verletzungen zu verursachen. "27 Im konkreten Fall sei
dem Täter nicht konkret und aktuell bewusst gewesen, ein Messer bei sich
zu haben. Wenn das Gericht dann im gleichen Atemzug ohne irgendeine
Begründung betont, die Anforderungen an derartige Feststellungen zum
Vorstellungsbild seien um so niedriger, desto gefährlicher, d.h. "waffenähn-
licher" der Gegenstand sei,28 so wird deutlich, auf welch wackligen Füßen
der ergebnisorientierte Ansatz steht.
6. Auch der Beschluss des BGH vom 12.7.2005 29 lässt die Werkzeugfrage
in einem Fall offen, in dem der - einen Pkw stehlende - Täter ein Taschen-
messer mit einer Klingenlänge von 4,5 cm dabei hatte, das er ständig bei
sich fiihrte und (nur) zum Öffnen von Bierflaschen benutzte. In der voran-
gegangenen Nacht und am Vormittag des Tattages hatte er davon reichlich
Gebrauch gemacht (Blutalkoholkonzentration drei Stunden nach der Tat
noch 2,82 %0). Der BGH hält, was die Frage der bewussten Gebrauchsbe-
reitschaft betrifft, die Feststellung des Landgerichts, dem Täter sei bewusst
gewesen, ein Taschenmesser in einer Tasche bei sich zu fuhren, für nicht
ausreichend, wobei der BGH ergänzend auf die hohe Alkoholisierung hin-
weist.
Insoweit fragt Kudlich zu Recht, wie das vom BGH propagierte Kriterium
der "bewussten Gebrauchsbereitschaft" aussehen und ob es systemwidrig
über Vorsatzanforderungen hinausgehen solle. Erstens tue sich ein Wider-

26 OLG Celle StV 2005, 336.


27 A.a.O.
28 A.a.O. (im Anschluss an OLG Schleswig NStZ 2004, 212, 214~ zu dieser Entscheidung
noch unten III.ll).
29 BGH NStZ-RR 2005, 340 f.
Das Taschenmesser als gefährliches Werkzeug des Diebes 555

spruch zum üblicherweise für ausreichend gehaltenen sachgedanklichen


Mitbewusstsein auf. 3o Zweitens genüge ja für den Vorsatz bezüglich der
gefährlichen Werkzeugeigenschaft die Kenntnis der Umstände, aus denen
sich die Gefährlichkeit objektiv ergebe; dann könne rur das Merkmal des
Beisichruhrens nichts anderes gelten. 31
7. Die Brüchigkeit des Gedankens der bewussten Gebrauchsbereitschaft
verdeutlicht die Entscheidung des OLG Frankfurt vom 8.8.2006,32 in wel-
cher der Täter aus einem Fahrzeug ein Taschenmesser schlicht entwendet
hat. Nachdem das OLG Frankfurt mit der sonstigen Rechtsprechung festge-
stellt hat, dass auch diese Konstellation grundsätzlich von § 244 Abs. 1 Nr.
la 2. Var. StGB erfasst wird,33 lotet es (hilfsweise) verhältnismäßig ausführ-
lich auch das restriktive Potential des Kriteriums der bewussten Gebrauchs-
bereitschaft aus. Am Ende steht die banale Erkenntnis, dass der Täter das
Messer "aus dem Fahrzeug entwendet hat. Damit muss dem Angeklagten
jedenfalls der Besitz des Messers noch während der Tatbegehung bewusst
gewesen sein."34 Damit droht dem Täter, der ein "Schweizer Messer" im
Wert von etwa 12 € stiehlt, eine Freiheitsstrafe von nicht unter 6 Monaten. 35
8. Im Urteil des OLG München vom 16.5.200636 rügte die Staatsanwalt-
schaft, dass das Amtsgericht den Angeklagten, der beim Diebstahl einer
geringwertigen Sache ein Schweizer Taschenmesser in der Hosentasche bei
sich führte, nicht gemäß § 244 Abs. 1 Nr. la 2. Var. StGB verurteilt hatte.
Der "schneidige" Leitsatz des OLG München lautet: "Ein Schweizer Ta-
schenmesser, das mit Schneide und Spitze zum Schneiden und Einstechen
konstruiert und zu gebrauchen ist, errullt die Merkmale eines gefährlichen
Werkzeugs im Sinne des § 244 I Nr. Ib StGB." Richtigerweise ist, wie die
Urteilsgründe ergeben, § 244 Abs. 1 Nr. la 2. Var. StGB gemeint. In der
Begründung stützt sich das Urteil auf die eines Oberlandesgerichts unwür-
dige Behauptung, dass "nach ständiger Rechtsprechung und Lehre ein ge-
fährliches Werkzeug i.S. von § 244 Abs. 1 Nr. la StGB jeder körperliche
Gegenstand ist, der sich bei der konkreten Art seiner Benutzung dazu eig-

30 Vgl. Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben StGB, 27. Aufl. 2006, § 15 Rn. 51 ff.~


Rengier Strafrecht Allgemeiner Teil, 2009, § 14 Rn. 42 f. und Besonderer Teil I (Fn. 1), § 4
Rn. 42.
31 Kudlich JA 2006, 250.
32 OLG Frankfurt StraFo 2006, 467.
33 BGH StV 1988, 429 LV.m. SaIger StV 1989, 66~ grundsätzlich zustimmend Rengier
(Fn. 1), § 4 Rn. 51 f.
34 OLG Frankfurt StraFo 2006, 467, 468.
35 Wenn man nicht, wie das OLG Frankfurt, etwa eine generelle Bestimmung des Gegen-
standes zur gefährlichen Verwendung verlangt (siehe schon oben 111.3).
36 OLG München BeckRS 2006 06212 (in NStZ-RR 2006, 342 ist nur der Leitsatz abge-
druckt).
556 Rudolf Rengier

net, erhebliche Verletzungen zuzufügen. "37 Immerhin ist dem Gericht nicht
das vom BGH ins Spiel gebrachte Kriterium der bewussten Gebrauchsbe-
reitschaft entgangen (das als Vorsatzmerkmal verstanden wird). Aber:
Diesbezüglich hat der Angeklagte, wie man wohl sagen darf, Pech. Denn er
hat "in seiner entwaffnenden Ehrlichkeit" eingeräumt, dass er sich bewusst
gewesen sei, das Taschenmesser mit sich zu führen; denn zum einen sei es
sein Brotzeitmesser und zum anderen sei er in einem Klub, für dessen Mit-
glieder es Pflicht sei, das Taschenmesser immer mit sich zu fuhren.
9. In zwei Entscheidungen des KG vom 31.10.2007 und 17.4.2008 38 hatte
es das Gericht mit (Diebstahls-)Tätern zu tun, die gewohnheitsmäßig ein
Taschenmesser mit einer Klingenlänge von ca. 6 cm bei sich führten. Die
erste Entscheidung stuft das Messer recht unkritisch als objektiv gefährli-
ches Werkzeug ein. Aber das KG beanstandet die Feststellungen des Amts-
gerichts zur Frage der bewussten Gebrauchsbereitschaft. Insoweit müsse der
Täter das Bewusstsein haben, dass das Werkzeug im Falle seines Einsatzes
gegen Menschen erhebliche Verletzungen verursachen könne. 39 Die Fest-
stellung des Amtsgerichts, dass der Täter das Messer gewohnheitsmäßig bei
sich in der Hosentasche getragen habe, um es in alltäglicher Weise etwa
zum Obst- und Wurstschneiden zu nutzen, reiche nicht aus, um zu belegen,
dass ihm gerade beim Betreten des Geschäfts die Gebrauchsbereitschaft
zum Einsatz gegen Menschen bewusst gewesen und nicht in den gedankli-
chen Hintergrund getreten sei.40
Demgegenüber zeigt sich die zweite Entscheidung problembewusster und
bereitet zwar zur Frage der gefährlichen Werkzeugeigenschaft einige Recht-
sprechung und Literatur aus, lehnt es aber ab, den Werkzeugbegriff im
Sinne der erwähnten Entscheidungen des OLG Frankfurts 41 und OLG
Braunschweigs 42 mit Hilfe des subjektiven Kriteriums einer allgemeinen
Verwendungsbestimmung einzuschränken. Denn: ,,§ 244 Abs. 1 Nr. 1a
StGB bezweckt einen vorbeugenden Opferschutz durch das Verbot, latent
gefährliche Gegenstände mitzuführen".43 Das klingt fast so, als ob aus § 244
Abs. 1 Nr. la 2. Var. ein allgemeines Verbot abgeleitet werde, ein Ta-
schenmesser bei sich zu führen. So sieht also auch diese Entscheidung nur
noch die Möglichkeit, eventuell die "bewusste" Gebrauchsbereitschaft zu
verneinen. Indes: Dem Täter wird zum Verhängnis, dass er unmittelbar vor

37 OLG München BeckRS 2006 06212.


38 KG StV 2008,361 und 473.
39 KG StV 2008, 361, unter Bezugnahme auf OLG Celle StV 2005, 336 (oben III.5) und
OLG Schleswig NStZ 2004, 212, 214 (dazu noch unten IU.II).
40 KG StV 2008, 361.
41 Oben III.2.
42 Oben III.3.
43 KG StV 2008, 473, 474.
Das Taschenmesser als gefährliches Werkzeug des Diebes 557

dem Betreten des Elektromarktes (wo er diverse Objekte stahl) das Schwei-
zer Offiziersmesser, ein Multifunktionswerkzeug, als Messer (Hervorhe-
bung auch im Original) zum Schneiden von Obst benutzt habe. Darin liege
ein "grundlegender" Unterschied zur Entscheidung BGH NStZ-RR 2005,
34044 , wo der Täter das Schweizer Offiziersmesser vor der Tat nur zum
Öffnen von Bierflaschen verwendet habe. Offenbar soll nach der Ansicht
des KG der Strafrahmensprung zur 6-monatigen Mindeststrafe davon ab-
hängen, in welcher Funktion der T'äter das Multifunktionswerkzeug mehr
oder weniger unmittelbar vor der Tat benutzt hat. Anders formuliert: Wenn
der Täter vor dem Elektromarkt nicht die Klinge des Werkzeugs benutzt
hätte, um sich mit einem geschnittenen Apfel zu stärken, sondern bloß den
Flaschenöffner des Werkzeugs gebraucht hätte, um seinen Durst zu löschen,
hätte das KG die Verurteilung durch das Landgericht gemäß § 244 Abs. 1
Nr. 1a 2. Var. StGB aufgehoben, dies aber wohl wiederum nicht getan,
sofern der Täter die Flasche mit der Klinge geöffnet hätte. Kommentieren
muss man solche Differenzierungen wohl nicht. Auch bleibt in der zweiten
Entscheidung unklar, woher das KG das in der ersten Entscheidung hervor-
gehobene Bewusstsein nimmt, ein im Einsatzfalle zur Verletzung von Men-
schen geeignetes Werkzeug bei sich zu führen. Vielmehr wird dieses Be-
wusstsein schlicht aus dem bewussten Beisichführen des Messers abgeleitet.
10. Die Dimensionen, die zur Debatte stehen, verdeutlicht ein Urteil des
AG Stuttgart-Bad Cannstatt vom 6.12.2007: 45 Der Angeklagte begab sich,
nachdem er nach der Arbeit vier Flaschen Bier mit Hilfe eines stets für
diesen Zweck und zum Obst- und Gemüseschneiden bei sich geführten
Taschenmessers geöffnet und leer getrunken hatte, gegen 20.45 Uhr in ein
Kaufhaus und nahm Lebensmittel im Wert von 12,50 € an sich. Das Amts-
gericht spricht sich dafür aus, bereits die gefährliche Werkzeugeigenschaft
des Messers zu verneinen. Hilfsweise wendet es sich aber auch dem Ge-
brauchsbewusstsein zu. Insoweit sei, so meint das Gericht, dem Angeklag-
ten seine Einlassung nicht zu widerlegen, im Augenblick der Tat sei ihm
nicht aktuell bewusst gewesen, das zusammengeklappte Taschenmesser in
der Jackentasche zu tragen. Das Amtsgericht verurteilte den Angeklagten
wegen einfachen Diebstahls zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen.
11. In die Diskussion um die subjektive Komponente der bewussten Ge-
brauchsbereitschaft hat sich auch das OLG Schleswig in einer Entscheidung
vom 16.6.2003 eingeschaltet,46 in der es zwar nicht um ein Taschenmesser
geht, die aber für die Thematik von Bedeutung ist. In dem Fall stahl der
Täter einen ans Stromnetz angeschlossenen DVD-Player, nachdem er mit

44 Oben 111.6.
45 Über das - offenbar als urteilender Richter - Jooß Jura 2008, 777 ff. informativ berichtet.
46 OLG Schleswig NStZ 2004,212 ff.; zustimmend Geppert JK 9/04 StGB § 244 1Nr. la/3.
558 Rudolf Rengier

einem - ebenfalls entwendeten - Teppichmesser das Stromkabel durchge-


schnitten hatte. Das OLG spricht sich zunächst dafür aus, das Teppichmes-
ser - wie auch ein etwaiges Taschenmesser - als gefährliches Werkzeug
einzustufen, und sucht anschließend die Restriktion auf der subjektiven
Seite. Dafür sei das auf keinen bestimmten Zweck gerichtete Bewusstsein
erforderlich, "ein funktionsbereites Werkzeug zur Verfügung zu haben, das
geeignet ist, erhebliche Verletzungen zu verursachen."47 Wer ein objektiv
gefährliches Werkzeug verwende, begebe sich in eine Situation, die mit
dem Risiko der Entdeckung oder Bedrohung verbunden sei, und in der sich
die potentielle Doppelfunktion des Werkzeugs als Wegnahme- und Nöti-
gungsmittel realisieren könne. "Dieser objektiven Situation muss auch sein
Vorstellungsbild von der Gefährlichkeit und der Gebrauchsbereitschaft des
Werkzeugs entsprechen. Er muss jedenfalls das Bewusstsein haben, dass es
im Falle eines wenn auch nicht von vomeherein fur möglich gehaltenen,
oder sogar höchst unerwünschten Einsatzes gegen Menschen erhebliche
Verletzungen verursachen kann."48 Das alles sei nach den konkreten Tatum-
ständen - dem situativen Kontext der Tat - zu bestimmen. Insoweit sieht
sich das OLG Schleswig im Ergebnis offenbar im Einklang mit Kindhäu-
ser/Wal/au,49 auf die verwiesen wird. Diese Autoren ziehen freilich den
situativen Kontext heran, um den Werkzeugbegriff objektiv einzuschrän-
ken. Demgegenüber verlagert das OLG Schleswig die Restriktion in den
subjektiven Tatbestand, will aber, die Restriktion begrenzend, das erforder-
liche Maß an Feststellungen zum Vorstellungsbild des Täters von der Ge-
fährlichkeit des Gegenstandes abhängig machen. 50 Dem Amtsgericht gibt
die Revisionsinstanz mit auf den Weg, dass es noch keine Feststellungen
zum Vorstellungsbild des Angeklagten bezogen auf die potentielle "Doppel-
funktion" des Teppichmessers als Nötigungsmittel und dessen Gefährlich-
keit im Falle einer Konfrontation getroffen habe. 51 Das Amtsgericht hatte,
um den Schritt zu § 244 Abs. 1 Nr. la 2. Var. StGB zu vermeiden, das Tep-
pichmesser für objektiv ungefährlich gehalten, weil eine denkbare Körper-
verletzungshandlung mit einer übermäßigen Belastung oder Verkantung
und damit mit einem Bruch der Klinge einhergehen müsse (die 8 cm lange
Klinge des Teppichmessers bestand aus acht Segmenten, die mittels eines
Schiebers aus der Ummantelung geschoben und nach dem Gebrauch ab-
gebrochen werden). Eine solche Aussage ist kühn und belegt entweder
technische Unkenntnis oder anschaulich die Nöte des Tatrichters.

47 OLG Schleswig NStZ 2004, 212, 214.


48 A.a.O.
49 StV 2002, 18 f.
50 Vgl. schon oben III.5 bei Fn. 28.
51 OLG Schleswig NStZ 2004, 212, 214.
Das Taschenmesser als gefahrliches Werkzeug des Diebes 559

12. Im Vorlegungsfall zu BGHSt 52, 257 hat der Angeklagte drei Fla-
schen Whiskey gestohlen; dabei führte er am Gürtel ein klappbares Ta-
schenmesser mit einer längeren Klinge, mit der er vor der Kasse an den
Flaschen die Sicherungsetiketten abgeschnitten hatte. Anders als im Fall
vom 18.2.2005 52 sah das OLG Celle in dieser Konstellation offenbar keine
Möglichkeit, die bewusste Gebrauchsbereitschaft infrage zu stellen. Den
Gedanken des OLG Schleswig, dass dem Täter die potentielle "Doppelfunk-
tion" des Taschenmessers als Nötigungsmittel und dessen Gefährlichkeit im
Falle einer Konfrontation bewusst sein müsse, greift das OLG Celle (und
auch der BGH) nicht auf, sieht sich vielmehr an einer Verneinung des § 244
Abs. 1 Nr. 1a 2. Var. StGB durch die Entscheidungen des OLG Schleswig
vom 16.6.2003 53 , des BayObLG vom 12.4.2000 54 und des OLG München
vom 16.5.200655 gehindert und möchte sich den Entscheidungen des OLG
Frankfurt vom 11.1.2002 56 und des OLG Braunschweigs vom 21.2.2002 57
anschließen.

IV.
Einschließlich der Vorlegungssache des OLG Celle sind vorstehend 11
Entscheidungen dargestellt worden, in denen ein Dieb ein Taschenmesser
bei sich geführt hat und die Anwendbarkeit des § 244 Abs. 1 Nr. 1a 2. Var.
StGB zu entscheiden war. Zwei Meinungslager lassen sich bilden: 58 Ein
Teil der Rechtsprechung hält ein Taschenmesser nur dann für ein gefährli-
ches Werkzeug, wenn es der Täter subjektiv generell, d.h. vom konkreten
Lebenssachverhalt losgelöst, zur Verwendung gegen Menschen bestimmt
hat. Der andere Teil stuft das Taschenmesser als gefährliches Werkzeug ein,
betont aber immerhin - wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten - die
Notwendigkeit, auf der subjektiven Tatseite dem Kriterium der bewussten
Gebrauchsbereitschaft besondere Aufmerksamkeit zu widmen.
Fragt man, inwieweit BGHSt 52, 257 zur Klärung dieser Fälle beigetra-
gen hat, so ergibt sich - nicht ohne Irrwege, die im Beschluss angelegt sind
- die ernüchternde und für jeden, der mehr Führung durch den BGH erwar-
tet hat, enttäuschende Bilanz, dass außerhalb der Vorlegungssache vieles
offen und unverbindlich bleibt.

52 Oben III.5.
53 Oben III.II.
54 Oben III.I.
55 Oben III.8.
56 Oben III.2.
57 Oben III. 3.
58 Vgl. auch BGHSt 52, 257, 263 f.
560 Rudolf Rengier

Dem scheint freilich auf den ersten Blick der Leitsatz59 zu widersprechen,
der Taschenmesser als objektiv geflihrliche Werkzeuge einstuft. Doch
schafft schon das eingefügte "grundsätzlich" Raum für Ausnahmen. Insbe-
sondere betont der BGH, dass es sich im Vorlegungsfall bei dem Taschen-
messer um ein solches mit einer "längeren"60 bzw. "relativ langen"61 Klinge
gehandelt habe und daher allein entscheidungserheblich sei, ob derartige
"größere" Taschenmesser als gefährliche Werkzeuge anzusehen seien; es
komme also nicht darauf an, wie Taschenmesser mit "sehr kurzer" Klinge
zu behandeln seien. 62 Da Zentimeterangaben fehlen, kann das Rätselraten
losgehen. Orientiert man sich am Standardmesser,63 könnte man 7 cm als
"länger" bzw. "relativ lang" einstufen. So betrachtet mag man annehmen,
dass sich der BGH-Entscheidung für kürzere Taschenmesser keine Aussa-
gen entnehmen lassen. Daran muss die angedeutete und unklare Ausnahme
für Messer mit "sehr kurzer" Klinge nichts ändern. Jeder weiß, dass es zwi-
schen "sehr kurz" und "größer" weitere Abstufungen gibt.
Die Reichweite der Entscheidung des 3. Strafsenats beschränkt sich also
erstens auf "größere" Taschenmesser. Von noch größerer Bedeutung dürfte
eine weitere Restriktion sein, die man wegen des ungenauen Leitsatzes
zunächst leicht überliest. Denn für den BGH stellt sich nicht "die Frage, ob
eine Einschränkung des Tatbestandsmerkmals ,anderes gefährliches Werk-
zeug' in den Fällen vorzunehmen ist, in denen der Täter den in Rede ste-
henden Gegenstand ohne jede Gebrauchsabsicht in ,sozialadäquater' Weise
bei der Tatbegehung mit sich führt". 64 Der 3. Strafsenat sieht demzufolge
eine Besonderheit des Vorlegungsfalles darin, dass der Täter das Taschen-
messer während der Tatbegehung - d.h. im Stadium zwischen Versuch und
Vollendung (eventuell auch Beendigung) - gebrauchen wollte und auch vor
dem Kassenbereich zur Entfernung der Sicherungsetikerten gebraucht hat.
Daraus kann man den umgekehrten Schluss ableiten: BGHSt 52, 257 nimmt
nicht zur Eigenschaft des Taschenmessers als gefährliches Werkzeug in all
denjenigen Fällen Stellung, in denen es "schlicht", also ohne Gebrauchsab-
sicht bei der Tatbegehung, mit sich geführt wird. Dies sind die mit Abstand
häufigsten Fälle; in dem oben ausgewerteten Entscheidungsmaterial liegt
diese Konstellation in 10 von 11 Entscheidungen vor.65

59 Siehe oben I.
60 So formuliert in BGHSt 52, 257, 258.
61 So formuliert in BGHSt 52, 257, 260.
62 BGHSt 52, 257, 260 f.
63 Siehe oben 11.
64 BGHSt 52, 257, 261.
65 Siehe oben III~ mit Gebrauchsabsicht handelte der Täter nur in der Vorlegungssache.
Das Taschenmesser als gefährliches Werkzeug des Diebes 561

Man fragt sich nur, weshalb der 3. Strafsenat, nachdem er die zu weite
Fassung der Vorlegungsfrage beanstandet und auf die beiden Eingrenzun-
gen hingewiesen hat, die Rechtsfrage wie folgt präzisiert:
"Ist ein Taschenmesser grundsätzlich ein gefährliches Werkzeug im Sinne
des § 244 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) StGB, oder nur dann, wenn der Dieb es
allgemein auch fur den Einsatz gegen Menschen vorgesehen hat?"66 Die
Präzisierung müsste eigentlich lauten: "Ist ein größeres Taschenmesser,
das der Täter bei der Tatbegehung in Gebrauchsabsicht mit sich fuhrt, ein
gefährliches Werkzeug im ... " (usw.)?
Dementsprechend täuscht auch der Leitsatz eine Weite vor, die ihm nach
der Einschränkung der Vorlegungsfrage nicht zukommt. 67 So betrachtet
kann man ferner die deutliche Stellungnahme des BGH gegen all diejenigen
Stimmen, die den Begriff des gefährlichen Werkzeugs mit Hilfe von subjek-
tiven Kriterien einschränken wollen, auf in Gebrauchsabsicht mit sich ge-
fuhrte größere Taschenmesser beschränkt sehen. Von daher können die
Oberlandesgerichte Frankfurt, Braunschweig und Celle nach wie vor der
Meinung sein, dass BGHSt 52, 257 der von ihnen in den oben genannten
Entscheidungen68 befürworteten Einschränkung im Sinne einer subjektiven
allgemeinen Bestimmung auch für den Einsatz gegen Menschen nicht im
Wege steht. Dies mag man einerseits im Interesse der Einzelfallgerechtig-
keit begrüßen, andererseits vergrößert eine solche Interpretation der BGH-
Entscheidung die ohnehin schon vorhandene Rechtsunsicherheit.

v.
Alles in allem verstärken unsere Überlegungen das Lager der kritischen
Stimmen. 69 Bezüglich der auf dem Boden von BGHSt 52, 257 drohenden
Einzelfallkasuistik liefern schon die bisherigen Taschenmesser-Entschei-
dungen genügend Anschauungsmaterial. Man wird über größere, längere,
kürzere und kleinere Klingen, über Zentimeterangaben, über schärfere und
stumpfere Messer diskutieren70 und vielleicht bei einem besonders scharfen
Teppichmesser ein Segment von einem Zentimeter ausreichen lassen, an-
sonsten aber bei einer so kurzen Klinge die etwaige Ungefährlichkeit the-
matisieren, möglicherweise mit sachverständiger Hilfe. Handelt es sich um

66 BGHSt 52, 257, 261.


67 Vgl. schon Deiters ZJS 2008, 424 mit Fn. 1; Kasiske (Fn. 2), 379 f.
68 Siehe oben III. 2, 3, 5, 7.
69 Belege oben in Fn. 2.
70 Vgl. auch lahn JuS 2008, 836.
562 Rudolf Rengier

ein Multifunktionswerkzeug ohne Klingen oder sind diese abgebrochen,


wird man debattieren, ob die etwaige Säge, die Schere, der spitze Dosenöff-
ner oder der Korkenzieher den erforderlichen "objektiven" Gefährlichkeits-
grad aufweist. Irgendwann werden Ladendetektive, Polizei und Staatsan-
waltschaft - vermutlich eher bei weiblichen Ladendieben - bei Durch-
suchungen das routinemäßig "sozialadäquat" zum eigenen Schutz gegen
aggressive Mitmenschen mitgeführte Pfefferspray als potentielles gefährli-
ches Werkzeug entdecken. Dann stellen sich ähnliche Fragen wie beim
Taschenmesser. 71 Diesbezüglich hilft auch nicht, will man zu vernünftigen
Ergebnissen kommen, der von einigen Oberlandesgerichten favorisierte
Gedanke, die Einstufung als gefährliches Werkzeug an eine generelle Be-
stimmung zur für Menschen gefährlichen Verwendung zu knüpfen,72 da
eine solche Bestimmung bei einem Pfefferspray, das man zur eigenen Si-
cherheit mitführt, gegeben ist. 73 Daher wird man ohne eine restriktivere, auf
die konkrete Tat bezogene objektive ("situativer Kontext") oder subjektive
Komponente ("Einsatzwille", "Widmung") nicht auskommen. Dass die
Taschenmesser-Entscheidung des BGH solche Wege (eher) ablehnt, über-
zeugt also auch mit Blick auf andere potentiell gefährliche Alltagswerkzeu-
ge wie das Pfefferspray nicht.
Soweit man demgegenüber dem BGH folgt, wird man wie schon bisher
versuchen, auf der subjektiven Seite mit dem Kriterium der bewussten Ge-
brauchsbereitschaft zu akzeptablen Ergebnissen zu gelangen. 74 Das kann,
wie oben hoffentlich deutlich geworden ist, nur schlecht gelingen und darf
nicht etwa davon abhängen, ob der Täter kurz vor der Tat das Taschenmes-
ser zu einer alltäglichen Verrichtung benutzt hat. 75 Die Auseinandersetzung
wird weiter angesichts der von BGHSt 52, 257 angeführten Rechtspre-
chung, die sich gegen restriktive Ansätze stemmt, erhebliche Kapazitäten
binden. Sie wird zudem teilweise auf dem Rücken von Tätern ausgetragen,
die (eher) nicht die Strafe des § 244 Abs. 1 StGB verdienen. Ob eine solche
unbefriedigende Rechtslage den Gesetzgeber motivieren wird, Abhilfe zu
schaffen und sich zu einer möglicherweise unpopulären stratbarkeitsein-
schränkenden Reform zu entschließen, bleibt Spekulation. Besser wären
Leitentscheidungen mit restriktiveren Ansätzen. 76

71 Weiterführend Jesse NStZ 2009, 364 ff.


72 Oben III.2, 3, 12.
73 Vgl. bereits Rengier (Fn. 1), § 4 Rn. 36.
74 Befürwortet von Peglau JR 2009, 163 f.
75 Vgl. oben ab III.5, insbesondere III.9. Ergänzend Foth NStZ 2009,93: "Vermeidungsstra-
tegie"~ Rengier (Fn. 1), § 4 Rn. 42.
76 Vgl. auch Foth NStZ 2009, 93. Reformpolitisch wird zunehmend die Streichung der
Werkzeugvariante gefordert (Mitsch NJW 2008, 2861 ~ Geppert JK 2/09 StOB, § 244 I
Nr. 1a/4~ Foth a.a.O.).
Das Taschenmesser als gefährliches Werkzeug des Diebes 563

VI.
Auf die erste Entscheidung, die BOHSt 52, 257 in gewisser Weise den
Gehorsam verweigert, hat man nicht lange warten InÜssen. Im Urteil des
OLG Stuttgart vom 5.5.2009 hebelte der Angeklagte in einem Fall mit ei-
nem 20 cm langen Schraubendreher das Fenster zu einer Gaststätte auf,
kletterte durch dieses in das Lokal und entwendete Geld aus einem aufge-
brochenen Automaten. 77 Der BGH hat mit Blick auf solche Einbruchswerk-
zeuge nicht klar Stellung bezogen, immerhin aber von schwierigen Abgren-
zungsfragen gesprochen und zugleich deutlich gemacht, er sehe keinen
Raum für ein zusätzliches subjektives Element. 78 Genau in diesem Punkt
widerspricht das OLG Stuttgart zu Recht und stuft von daher den Schrau-
bendreher entgegen dem - sich auf die aktuelle BGH-Entscheidung be-
rufenden - Amtsgericht nicht als gefährliches Werkzeug ein. 79 Der Fall des
OLG Stuttgart wird für weiteren Diskussionsstoff sorgen. Die Konfrontati-
on spitzt sich zu, wenn man in diesem Fall den Täter das Fenster nicht mit
einem Schraubendreher, sondern mit einem Standard-Taschenmesser aus-
hebeln lässt. Folgt man den Argumentationslinien von BGHSt 52, 257, so
ist der Weg zu den "schwierigen Abgrenzungsfragen" und zu einer etwai-
gen Verneinung des § 244 Abs. 1 Nr. la 2. Var. StGB eigentlich bereits
verbaut. 80

VII.
Wenden wir uns zum Abschluss dieses Beitrages - der dem geschätzten
Jubilar mit den besten Geburtstagswünschen in dem Bewusstsein gewidmet
ist, dass sich seine vielseitigen Interessen auch auf Fragen des materiellen
Strafrechts erstrecken und ihn die hier erörterte Materie zumindest als Do-
zent auch schon beschäftigt hat - noch den methodischen Argumenten zu,
auf die sich BGHSt 52, 257 stützt:
Der BGH meint erstens, der Wortlaut des § 244 Abs. 1 Nr. la StGB lasse
das Hineininterpretieren von subjektiven Elementen in den Begriff des
anderen gefährlichen Werkzeugs nicht ZU. 8I Dies überzeugt nicht. Was

77 OLG Stuttgart NJW 2009, 2756 ff.


78 BGHSt 52, 257, 269.
79 Zumindest im Ergebnis zustimmend Heintschel-Heinegg JA 2009, 655~ Sättele NJW
2009,2758 f.
80 Immerhin erwähnenswert ist: In BGH NStZ-RR 2009, 279 haben die Täter einen Schlüs-
seltresor aufgehebelt. Auch wenn zur Art des Werkzeugs nichts gesagt ist, fällt doch auf, dass
§ 244 gleichsam selbstverständlich nicht ins Blickfeld gerät.
81 BGHSt 52, 257, 267.
564 Rudolf Rengier

gefährlich und nicht nur harmlos ist, lässt sich namentlich bei Alltagsge-
genständen - Bierflasche, Brieföffner, Nagelschere und eben auch Ta-
schenmesser - ohne eine subjektive Bestimmung kaum ermitteln. Der Be-
griff "gefährlich" hat keinen feststehenden objektiven Wortlautkern, son-
dern erlaubt es, subjektive Gefährlichkeitsaspekte einzubeziehen. 82 Weiter
verlangt das Gesetz, dass der Täter ein "gefährliches" Werkzeug "bei sich"
führen muss. Auch dieser Zusammenhang ermöglicht die Einbeziehung
subjektiver Komponenten. 83 Der Sache nach hat dies der 3. Strafsenat in
einer kurz vor BGHSt 52, 257 ergangenen Entscheidung selbst eingeräumt,
als er die Eigenschaft eines Baseballschlägers als gefährliches Werkzeug
nicht nur im Sinne des § 250 Abs. 2 Nr. 1 2. Var., sondern auch des § 250
Abs. 1 Nr. 1a 2. Var. StGB damit begründete, dass "ein Baseballschläger ...
ein Gegenstand (ist), der nach seiner objektiven Beschaffenheit geeignet ist,
einem Opfer erhebliche Körperverletzungen zuzufügen, wenn er als
Schlagwerkzeug eingesetzt wird". 84
Das systematische zweite Argument,85 nämlich der Umkehrschluss von
§ 244 Abs. 1 Nr. 1b (Verwendungsabsicht ausdrücklich geregelt) auf § 244
Abs. 1 Nr. 1a StGB (Verwendungsabsicht nicht geregelt/erforderlich) kann
ebenfalls entkräftet werden. Wenn § 244 Abs. 1 Nr. 1b StGB eine bestimm-
te Verwendungsabsicht normiert, verbietet dies nicht eine subjektivierende
Interpretation des Begriffs "gefährlich". Dass Tatbestandsmerkmale mit
subjektiven Komponenten nichts Ungewöhnliches sind, belegen Merkmale
wie die Heimtücke und Grausamkeit,86 die Täuschung 87 und die Hilfeleis-
tung 88 . Die vom 3. Strafsenat in der Tendenz befürwortete Gleichstellung
von Waffen im technischen Sinn (§ 244 Abs. 1 Nr. 1a 1. Var. StGB) mit
Taschenmessern als objektiv gefährlichen Werkzeugen (§ 244 Abs. 1 Nr. la
2. Var. StGB) führt zu einem systematischen Ungleichgewicht der beiden
Tatvarianten.
Schließlich vergleicht der BGH unter teleologischen Aspekten die latente
Gefahr, die von einem ein Taschenmesser bei sich führenden Dieb ausgeht,
mit der Gefahr, die ein eine (Messer-)Waffe im technischen Sinn mit sich
führender Täter hervorruft. 89 Indes liegt es relativ fern, mit Blick auf ein

82 Vgl. OLG Stuttgart NJW 2009, 2756, 2758~ Küper JZ 1999, 192 ff.~ Kasiske (Fn. 2),
380 f.~ Foth (Fn. 76), 94.
83 Vgl. Küper a.a.O., 192 ff.~ Hardtung StV 2004, 400, 402 f.~ Krüger NZV 2009, 194.
84 BGH NStZ 2008, 687.
85 BGHSt 52, 257, 267.
86 Krüger (Fn. 83),193 f.
87 Vgl. Rengier (Fn. 1), § 13 Rn. 5.
88 Vgl. die Diskussion zur neutralen Beihilfe: BGHSt 46, 107, 112~ Rengier (Fn. 30), § 45
Rn. 109 ff.
89 BGHSt 52, 257, 270.
Das Taschenmesser als gefahrliches Werkzeug des Diebes 565

Taschenmesser, das ein Täter mehr oder weniger gewohnheitsmäßig ledig-


lich etwa zum Öffnen von Bierflaschen oder zum Obst- und Wurstschnei-
den bei sich fUhrt, von einer latenten Gefahr des Einsatzes als Nötigungs-
mittel zu sprechen;90 jedenfalls überzeugt die normative Gleichstellung mit
Waffen im technischen Sinn nicht,91

VIII.
So viele Meinungen es auch gibt, so sollte man doch nicht übersehen,
dass sich im Wesentlichen, freilich mit zahlreichen Nuancierungen im De-
tail, nur zwei Meinungslager gegenüberstehen, von denen das eine mit Hilfe
von objektiven, das andere mit Hilfe von subjektiven Kriterien versucht, das
gefährliche Werkzeug so zu definieren, das ihm - auf einer Ebene mit den
Waffen im technischen Sinn - "Waffenersatzfunktion"92 zugesprochen
werden kann. Übereinstimmung herrscht zudem im Streben nach einer
restriktiven Interpretation. Dass trotz all dieser Tendenzen, die auch im
Einklang mit einem Teil der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung ste-
hen, der BGH die gegenteilige Richtung eingeschlagen hat, verdient Kritik.
Näher gelegen hätte es doch etwa, die selbst als "schwer verständlich"93
eingestufte unterschiedliche Auslegung des Werkzeugbegriffs in § 250 Abs.
2 Nr. 1 und § 250 Abs. 1 Nr. la StGB in Frage zu stellen und eine ein-
schränkende subjektivierende Sichtweise auch fur § 250 Abs. 1 Nr. 1a bzw.
§ 244 Abs. 1 Nr. 1a StGB anzuerkennen.
Immerhin: Ruft man sich die genau betrachtet sehr beschränkte Reichwei-
te der Entscheidung BGHSt 52,257 in Erinnerung,94 so bleibt die Hoffnung,
dass die Diskussion, so wie dies das OLG Stuttgart bereits praktiziert hat,95
innerhalb der Rechtsprechung weitergehen wird und auch den BGH zur
Einnahme restriktivereer) Positionen veranlassen könnte.

90 Vgl. auch Lan=rathlFieberg Jura 2009,351.


91 Ablehnend auch Kasiske (Fn. 2), 382 f.
92 Streng GA 2001,359.
93 BGHSt 52, 257, 266. Ergänzend Rengier (Fn. 1), § 8 Rn. 19 ff.
94 Oben IV.
95 Oben VI.
Neue Akzente für den Untreuetatbestand?
- Der Fall "Bremer Vulkan" im Lichte der Abwendung
der neueren Rechtsprechung von der "Interessentheorie" -

CARSTEN MOMSEN

I. Einführung
Zu Recht wird die Entscheidung des BGH in Sachen "Bremer Vulkan" als
für das Wirtschaftsstrafrecht richtungsweisend angesehen. 1 In dieser Ent-
scheidung operiert der Senat im Hinblick auf die Begründung von Vermö-
gensbetreuungspflichten u.a. mit der sog. "Interessentheorie", welche für
den Vertretungsbezug bestimmter an persönliche Merkmale geknüpfte Ver-
haltensweisen von Bedeutung ist. 2 Diese Ansicht entfaltet jedoch auch im
Hinblick auf den in der Praxis äußerst relevanten Fall der Abgrenzung von
Untreue (§ 266 StGB) und den Insolvenzdelikten (§§ 283 ff. StGB) weitrei-
chende Wirkung: 3 Verkürzt oder gefährdet ein Organ/Vertreter desjenigen,
dessen Vermögen Gegenstand des Insolvenzverfahrens ist, die Insolvenz-
masse durch eine der in § 283 Abs. 1 StGB genannten Verhaltensweisen, so
kommt die Vertreterstratbarkeit wegen Bankrotts nur bei einem Handeln
des Vertreters im Interesse des Inhabers des betroffenen Vermögens in
Betracht. Handelt der Vertreter dagegen im eigenen Interesse, kommt eine
Stratbarkeit wegen Untreue gern. § 266 StGB oder ggf. aus §§ 242, 246 in
Betracht. Bei durch kombiniertes Eigen- und Fremdinteresse motiviertem
Vertreterhandeln können dagegen nach bisheriger Ansicht des BGH Un-
treue und Bankrottstraftaten auch tateinheitlieh verwirklicht sein. 4

1 BGHSt 49, 147 ff = wistra 2004,341 = NStZ 2004,559.


2 Vgl. nur MK-Radtke, 2003, § 14 Rn. 58 f; NK-Marxen, 2. Aufl. 2005, § 14 Rn. 28 f;
jüngst Bittmann wistra 2010, 9.
3 BGH NJW 1969, 1494; GA 1963,307; vgl. auch BGH NStZ 1994, 119; NStZ 2000,206;
NK-Marxen a.a.O., § 14 Rn. 29; Satzger/Schmitl/Widmaier/Bosch StGB, 2009, § 14 Rn. 10.
4 BGHSt 30, 127 (130); vgl. MK-Radtke (Fn. 2), § 14 Rn. 59; Bittmann (Fn. 2), 10, geht
wohl mit Recht davon aus, dass die angedeutete Rechtsprechungsänderung primär zu einer
Zunahme tateinheitlicher Verurteilungen führen wird.
568 Carsten Mamsen

Infolgedessen sind derzeit besonders gravierende und gläubigerschädi-


gende Handlungen, die allein eigennützig erfolgen, vom Anwendungsbe-
reich des § 283 StGB regelmäßig nicht erfasst. Damit verbunden sind weite-
re problematischen Folgen: Geschäftsführer einer (I-Mann) GmbH werden
im Verhältnis zu beispielsweise Einzelkaufleuten begünstigt, denn bei aus-
schließlich eigennützigen Handlungen läge hier bei Anwendung der Interes-
senformel eine Strafbarkeit wegen Bankrotts vor, bei ersteren jedoch allen-
falls aus den allgemeinen Vorschriften. Auch folgt diese subjektive
Zielsetzung nicht aus dem Wortlaut des § 14 StGB; bei fahrlässiger Bege-
hung gemäß § 283 Abs. 5 StGB kann nicht kohärent abgegrenzt werden. 5
Der Senat spricht sich nunmehr dafür aus, für die Beantwortung der Fra-
ge, ob ein Handeln "als Organ der Gesellschaft" vorliegt, darauf abzustel-
len, ob ein Handeln im Geschäftskreis des Vertretenen (der Gesellschaft)
vorliegt, womit insbesondere rechtsgeschäftliches Handeln im Namen der
Gesellschaft regelmäßig zu einer Bejahung der Organeigenschaft und der
Anwendbarkeit des § 14 StGB führen würde. Bei rein faktischem Verhalten
könnte darauf abzustellen sein, ob das Handeln mit Zustimmung der Gesell-
schaft, also der Gesellschafter, erfolgt ist. Gegen den ursprünglichen Ansatz
gibt es seit jeher eine Reihe von emstzunehmenden Bedenken. 6 Eine ver-
gleichbare Interessenformel wird in der Sache auch in anderen Rechtsord-
nungen diskutiert und mit vergleichbaren Argumenten verworfen. 7 Zudem
darf bezweifelt werden, ob es sich tatsächlich um soweit gleichgelagerte

5 Vgl. Radtke GmbHR 2009, 875 f.~ ders. in: MK (Fn. 2), Vor § 283 Rn. 56~ § 14 Rn. 61 ff.
6 Vgl. nur die Darstellungen bei Fischer StGB, 56. Aufl. 2009, § 14 Rn. 5~ Radtke GmbHR
1998,361 ff., ders. GmbHR 2009, 875 ff.~ ders. in: MK (Fn. 2), § 14 Rn. 59 ff.~ Brandt NStZ
2010, 9 ff.~ Momsen in: v. Heintschel-Heinegg, StGB, 2010, § 14 Rn. 19 ff.~ Schönke/Schrö-
der/Lenckner/Perron StGB, 27. Autl. 2006, § 14 Rn. 26~ HK-GS/Tag, 2008, § 14 Rn. 10~ LK-
Tiedemann StGB, 11. Autl. 1992, Vor § 283 Rn. 85.
7 Zu Fragen der Haftung für unwirksame oder unterlassene Compliance-Maßnahmen vgl.
bspw. die Überlegungen McNultys, Memorandum, S. 3: "Furthermore, in United Stales v. Sun-
Diamond Growers 0/ California, 138 F.3d 961, 969-70 (D.C. Cir. 1998), aff'd on other
grounds, 526 D.S. 398 (1999), the D.C. Circuit rejected a corporation's argument that it should
not be held criminally liable for the actions of its vice-president since the vice-president's
"scheme was designed to - and did in fact - defraud [the corporation], not benefit it." Ac-
cording to the court, the fact that the vice-president deceived the corporation and used its
money to contribute illegally to a congressional campaign did not preclude a valid finding that
he acted to benefit the corporation. Part of the vice-president's job was to cultivate the corpora-
tion's relationship with the congressional candidate's brother, the Secretary of Agriculture.
Therefore, the court held, the jury was entitled to conclude that the vice-president had acted
with an intent, "however befuddled", to further the interests of his employer. See also United
Slates v. Cincotta, 689 F.2d 238, 241-42 (1 st Cir. 1982) (upholding a corporation's conviction,
notwithstanding the substantial personal benefit reaped by its miscreant agents, because the
fraudulent scheme required money to pass through the corporation's treasury and the fraudu-
lently obtained goods were resold to the corporation's customers in the corporation's name)".
Neue Akzente rur den Untreuetatbestand? 569

Fragen handelt, dass diese mit ein und derselben "Theorie" beantwortet
werden können. Richtigerweise bilden sich die Kriterien für den Vertre-
tungsbezug ("als"; "auf Grund des Auftrages") einerseits und für das Kon-
kurrenzverhältnis zwischen Untreue und Bankrott andererseits auf verschie-
denen Ebenen. 8
Nachdem sich nun etwas überraschend die Rechtsprechung der Strafsena-
te von dieser Theorie abzuwenden scheint,9 erscheint es reizvoll, die Über-
legungen des BGHs zum "Bremer Vulkan" vor dem Hintergrund der sich
abzeichnenden Rechtsprechungsänderung noch einmal nachzuvollziehen
und zu fragen, ob sich bezüglich der Abgrenzung zwischen den §§ 283 ff.
und § 266 StGB Veränderungen ergeben bzw. ob sich für vergleichbare
Konstellationen nunmehr andere Ergebnisse erwarten lassen. Es ist mit
einem Wort also zu hinterfragen, ob die Entscheidung "Bremer Vulkan"
zumindest in Bezug auf die Beurteilung des Merkmals "Verletzung einer
Vermögensbetreuungspflicht" ihren Charakter als Leitentscheidung einge-
büßt haben könnte.
Die erneute Analyse der Entscheidung ist, abgesehen von den grundsätz-
lichen Fragen, auch deshalb relevant, weil die Aufarbeitung des Komplexes
"Bremer Vulkan" vor den Strafkammern und Zivilsenaten der bremischen
Gerichte nach wie vor nicht abgeschlossen ist. 10

11. Die Entscheidung "Bremer Vulkan"


Dem Urteil des BGHs lag - vereinfacht dargestellt - folgender Sachver-
halt zu Grunde: im August 1992 erwarb die Hanse Schiffs- und Maschinen-
gesellschaft (Hanse Holding) als Tochter der Bremer Vulkan Verbund AG
(BVV) sämtliche Anteile der MTW Schiffswerft GmbH (MTW). Im Febru-
ar 1993 folgte der Erwerb von 89 % der Anteile an der Volkswerft Stral-
sund GmbH (VWS). Die restlichen 11 % hielt die Stadt Stralsund.
Vorausgegangen waren Verhandlungen mit der Treuhandanstalt, welcher
als Anstalt öffentlichen Rechts die Aufgabe der Privatisierung ostdeutscher

8 Zutreffend begründet von Ransiek Unternehmensstrafrecht, 1996, S. 91; vgl. auch MK-
Radtke (Fn. 2), § 14 Rn. 61 m.w.N.; ders. JR 2010 (im Erscheinen, Manuskript liegt dem Verf.
vor): "Theorie von bestenfalls mittlerer Reichweite"; vgl. auch Bittmann (Fn. 2), 9 f.
9 BGH NStZ 2009, 437; BGH wistra 2009,475.
10 Zum Fortgang der anhängigen Verfahren bspw. http://oberlandesgericht.bremen.de/
sixcms/media.php/13/Pressemitteilung_080630.pdf sowie www.radiobremen.de/politik/ the-
men/vulkan102.html. Lt. WK v. 30.01.2010, S. 9, wurde das Verfahren gg. Vorstandsmitglie-
der wg. Untreue am 29.01.2010 auf Antrag der StA Bremen eingestellt, da keine Verurteilung
zu erwarten sei. Es ist nicht bekannt, ob die hier analysierte Rechtsprechungsänderung Einfluss
auf die Entscheidung hatte.
570 Carsten Mamsen

Betriebe zukam. Diese verpflichtete sich zu einer Entschuldung von Altkre-


diten und zur Zahlung eines Gesamtausgleichsbetrages in Höhe von 585
Mio. DM. Neben einer Kompensation für drohende Verluste enthielt dieser
Betrag auch einen Investitionszuschuss in Höhe von 380 Mio. DM. Beide
Verträge enthielten allerdings einen Genehmigungsvorbehalt der Europäi-
schen Kommission, welche sicherstellen wollte, dass sich die Beihilfeleis-
tungen der Treuhandanstalt nicht zugleich als Subventionen der im Westen
gelegenen Betriebsstätten der BVV AG auswirken würden (sog. "spill over"
Effekte).
Die BVV selbst befand sich seit 1992 in einer andauernden angespannten
finanziellen Situation. Zur Optimierung der Liquiditätsstruktur innerhalb
des Konzerns wurde daher aufgrund eines Vorstandbeschlusses im Herbst
1992 ein zentrales automatisiertes Cash-Management-System für alle west-
deutschen Tochtergesellschaften eingeführt. Dieses sollte dazu dienen,
Finanzüberhänge innerhalb des Konzerns zu nutzen und damit die Aufnah-
me von Bankkrediten zu reduzieren.
Anders stellte sich die finanzielle Situation der beiden Ostwerften dar.
Nicht zuletzt aufgrund der erhaltenen Leistungen der Treuhandanstalt ver-
fügten diese über erhebliche Liquiditätsreserven. Daher wurden zunächst
freie Gelder der MTW (und in geringerem Umfang der VWS) als Festgeld-
anlage an den Treasury der BVV ausgereicht. Die Treuhandanstalt stimmte
dem unter der Bedingung zu, dass die jederzeitige Rückzahlbarkeit der
Gelder gesichert sein müsse. Die Gelder wurden zum 31. März 1994 ord-
nungsgemäß zurückgeführt. Nach massiven Verlusten der BVV im Jahre
1993 und einer Kürzung der Kreditlinien durch die Banken überwies die
MTW bereits am 5. April 1994 70 Mio. DM, am 8. April weitere 40 Mio.
DM als Festgeld an die BVV. Nach Freigabe eines erheblichen Betrages
durch die EU-Kommission legte die MTW im Mai 1994 zusätzlich 220
Mio. DM bei der BVV an.
Nachdem sich im Jahre 1994 die finanzielle Situation der BVV weiter
verschärft hatte und sich eine ins Auge gefasste Kapitalerhöhung nicht
realisieren ließ, beschloss der Vorstand in seiner Sitzung Mitte Juli 1994 ein
Sanierungskonzept, welches im Rahmen der Neuordnung der Finanzpla-
nung die Eingliederung der beiden Ostwerften in das bestehende Cash-
Management-System enthielt. Darauf kam es im September 1994 zu einer
Vereinbarung mit der MTW, im Rahmen derer sich die MTW zur Teilnah-
me am Cash-Management-System verpflichtete. Von Seiten der VWS hin-
gegen wurde anhaltender Widerstand gegen eine Einbeziehung geleistet,
weshalb diese erst aufgrund einer Gesellschafterweisung beitrat.
Im Jahre 1995 kam es dann nach anfänglichen Erfolgen bei der finanziel-
len Konsolidierung des Gesamtkonzerns zu weiteren finanziellen Rück-
schlägen. Ende August erfolgte die Vereinbarung eines Konsortialkredits in
Neue Akzente für den Untreuetatbestand? 571

Höhe von insgesamt 300 Mio. DM, an dem mehrere Banken beteiligt wa-
ren. Als Sicherheiten wurden dazu alle wesentlichen im Konzern noch vor-
handenen freien Vermögenswerte verpfandet. Dabei nahm die VWS auf
Geheiß der Konzernmutter aus dem Gesamtkredit ein Teildarlehen in Höhe
von 68 Mio. DM auf.
Trotz dieses Konsortialkredits kam es im Herbst 1995 zu einer weiteren
Verschlechterung der Liquiditätssituation der BVV. Noch im Oktober 1995
wurden von der EU-Kommission 194 Mio. DM aus dem Gesamtausgleichs-
betrag freigegeben. Der Betrag wurde auf Konten der MTW ausgezahlt und
floss darauf sofort in das Cash-Management-System ein. Zugleich nahm die
MTW auf Veranlassung der Konzernleitung einen sog. Bauzeitenkredit in
Höhe von 80 Mio. DM auf.
Ende 1995 kam es zu einer weiteren Kreditvergabe in Höhe von 384 Mio.
DM. Dennoch traten im Dezember 1995 erneute Liquiditätslücken auf,
welche sich im Januar 1996 nochmals drastisch vergrößerten. Im Februar
1996 kam es dann zum Antrag auf Eröffnung eines Vergleichsverfahrens
(heute: Insolvenzverfahren). Die Forderungen der MTW gegen die BVV
beliefen sich zu diesem Zeitpunkt auf insgesamt etwa 590 Mio. DM, die der
VWS auf etwa 260 Mio. DM.

111. Die Begründung des Senats für die Annahme einer


Vermögensbetreuungspflicht
Der Senat hatte sich - ebenso wie zuvor das LG Bremen - mit der Frage
zu befassen, ob sich die Angeklagten als Organe der BVV durch die Einbe-
ziehung der Ostwerften in den cash-pool des Konzerns der Untreue strafbar
gemacht haben.
Dabei stößt man bei der hier gegebenen Struktur eines mehrstufigen Kon-
zerns zunächst auf folgendes Problem: die BVV AG war nicht selbst Ge-
sellschafterin der VWS, sondern über eine 100%ige Tochter (der Hanse
Holding) an dieser beteiligt. Bei Vorliegen einer Vermögensbetreuungs-
pflicht der Gesellschafter würde diese Pflicht gern. § 14 Abs. 1 StGB auf
deren Organpersonen übergehen. Betreuungspflichtig wären damit die Ge-
schäftsführer der Hanse Holding. Auf die Gesellschafter der Hanse Holding
können nach § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB aber keine Pflichten übergehen. Auch
§ 14 Abs. 2 Nr. 2 StGB hilft in direkter Anwendung nicht weiter, denn dazu
müsste - dem Wortlaut entsprechend - die Hanse Holding die BVV mit der
Wahrnehmung der ihr obliegenden Vermögensbetreuungspflicht - wenn
man eine solche annimmt - beauftragt haben (für deren Handeln dann wie-
derum § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB eingreifen würde). Tatsächlich hatte die
Hanse Holding aber nicht die BVV beauftragt, sondern die BVV hatte diese
572 Carsten Mamsen

Aufgabe gewissermaßen selbst an sich herangezogen. In Betracht zu ziehen


wäre daher eine analoge Anwendung des § 14 Abs. 2 Nr. 2 StGB mit dem
Argument, dass derjenige, der eine Aufgabe quasi eigenmächtig an sich
zieht, nicht weniger an Pflichten haben kann als derj enige, der beauftragt
wird. Zumindest im Hinblick auf den Wortlaut der Norm erscheint dies
jedoch nicht ganz unproblematisch, weshalb vorgeschlagen wird, aufgrund
der rechtlichen Weisungsbefugnis und der faktischen Durchsetzungsbefug-
nis eine faktische Vermögensbetreuungspflicht anzunehmen. 11

J. Organpjlichten im gestuften Konzern


Dazu müsste den Gesellschaftern allerdings zunächst eine eigene Vermö-
gensbetreuungspflicht überhaupt zukommen. Der stets vorrangig zu prüfen-
de Missbrauch einer Verfugungs- oder Verpflichtungsbefugnis über frem-
des Vermögen bedeutet insofern, dass sich der Vermögensbetreuungs-
pflichtige im Außenverhältnis zu Dritten im Rahmen seines rechtlichen
Könnens bewegt, aber die im Innenverhältnis vom Vertretenen gezogenen
Grenzen seines rechtlichen Dürfens überschreitet. Für eine Verfügungs-
oder Verpflichtungsbefugnis der BVV - bzw. ihrer Organe - gegenüber
ihren Tochtergesellschaften sprach zunächst einmal, dass die VWS dem
Cash-Pool erst nach einer Gesellschafterweisung beigetreten ist. 12
Weisungen der Gesellschafter sind für den Geschäftsführer bindend. Er
ist demgemäß verpflichtet, diesen nachzukommen. Allerdings ist es der
Geschäftsführer, der eine Rechtsstellung innehat, kraft deren er nach außen
hin Vermögensrechte der Gesellschaft wirksam ändern, übertragen, aufhe-
ben oder die Gesellschaft mit Verbindlichkeiten belasten kann. Ihm, nicht
aber den Gesellschaftern, kommt daher die Befugnis zu, über fremdes Ver-
mögen unmittelbar nach außen hin zu verfugen oder einen anderen zu ver-
pflichten. Die Möglichkeit der Gesellschafter, diesbezüglich bindende Wei-
sungen zu erteilen, stellt damit lediglich eine mittelbare Befugnis dar, die
zwar gewissermaßen intern bindet, um nach außen wirksam zu werden, aber
erst durch den Geschäftsführer als Verpflichtungs- und Verfugungsbefugten
umgesetzt werden muss.
In Betracht zu ziehen war daher die Treubruchvariante. 13 Das LG Bremen
kam dabei zum dem Ergebnis, eine Vermögensbetreuungspflicht der BVV
als Konzernmutter ergebe sich aus den Verträgen über den Kauf der beiden
Ostwerften. Begründet hat das LG dieses Ergebnis damit, dass die massiven
Unterstützungsleistungen der Treuhand die Verträge derart geprägt hätten,

11 Vgl. Ransiek wistra 2005, 121, 125.


12 BGH wistra 2004,341 = NStZ 2004,559.
13 A.a.O.
Neue Akzente rür den Untreuetatbestand? 573

dass die BVV als Muttergesellschaft sämtliche Vermögenswerte bei den


Ostwerften hätte belassen müssen. Dem ist der BGH entgegengetreten,
indem er zunächst die gesellschaftsrechtliche Möglichkeit des Entzugs von
Vermögenswerten der Tochtergesellschaft durch die Muttergesellschaft als
gesetzliches Leitbild konstatiert, von dem sich das LG bei Auslegung der
Verträge entfernt hatte. Zudem weise das in vertraglichen Einzelabreden
vereinbarte Gewinnbezugsrecht darauf hin, dass der Hanse Holding als
Käuferin und damit der BVV als Konzernmutter die unternehmerische Frei-
heit gewährleistet sein sollte, die zur Gewinnerzielung notwendig war. Da-
von sei grundsätzlich auch das Finanzmanagement erfasst. Auch habe der
Verkauf an einen großen Schiffsbaukonzern gerade auch deshalb stattge-
funden, um Synergieeffekte nutzen zu können. Ein Teil der Synergien habe
dabei eben auch im Rahmen der Finanzanlage im Rahmen des zentralen
Cash-Managements erzielt werden können. Eine Vermögensbetreuungs-
pflicht kraft Rechtsgeschäfts schied daher nach zutreffender Sicht des
BGH 14 aus.
Zu untersuchen war nunmehr, ob sich ein Treueverhältnis möglicherweise
aus den gezahlten Gesamtausgleichsbeträgen ergeben könnte. Dabei unter-
scheidet der BGH zwischen den Teilbeträgen, die als Ausgleich für drohen-
de Verluste aus vereinigungsbedingten Verlustgeschäften bzw. aus Auf-
wendungen aus Sozialplänen entstanden waren, und solchen, die als
Investitionsbeihilfen ausgezahlt wurden. Hinsichtlich erster lehnt der BGH
eine Vermögensbetreuungspflicht deshalb ab, weil mit diesen Beträgen
lediglich erreicht werden sollte, dass die Ostwerften nicht verschuldet auf
den Erwerber übergehen sollten. Dieser Zweck war aber bereits mit Ein-
gang der Zahlungen erreicht, da der bereits eingetretene oder zumindest
bilanziell eingestellte Verlust damit bereits ausgeglichen war und daraus
kein Ansatzpunkt für eine weitergehende Sonderverpflichtung zu erkennen
sei. 15
Anders zu beurteilen waren hingegen nach Ansicht des Senats die ge-
nannten Investitionsbeihilfen. Diese stellten nach den Ausführungen des
BGH ihrem Charakter nach Subventionen dar, welche die BVV (vertrag-
lich) verpflichteten, die in den Verträgen aufgeführten Investitionen vorzu-
nehmen. Es stellte sich daher die Frage, ob daraus eine besondere Pflichten-
steIlung im Sinne des § 266 StGB folgen konnte. Dazu führt der BGH aus,
eine besondere Pflichtenstellung ergebe sich aus dem Erhalt von Subventio-
nen deshalb nicht, weil der Empfänger damit keine Vermögensinteressen
der öffentlichen Hand wahrnehme, sondern diese selbst ihren eigenen Ver-
mögensinteressen, vertreten durch ihre Amtsträger, Sorge trägt. Dem Emp-

14 A.a.O.~ vgl. auch BGH wistra 2003,344, NJW 2003, 2996.


15 Siehe Fn. 12.
574 Carsten Momsen

fanger fehle es demnach an einer engen Beziehung zu den staatlichen Ver-


mögensinteressen, welche sich aus den Verträgen per se nicht ergebe, rur
deren Vorliegen darüber hinaus besondere Umstände vorliegen müssten.
Ein solcher besonderer Umstand könne etwa dann in Betracht kommen,
wenn der Subventionsgeber mit der Subvention eigene wirtschaftliche In-
teressen verfolge,16 etwa im Sinne einer Beteiligung der zu erwartenden
Einnahmen. Ein solcher Ausnahmefall sei vorliegend allerdings nicht er-
sichtlich. Damit aber bleibe es dabei, dass der Subventionsempfanger nicht
fremdnützig tätig werde, sondern ein eigenes Geschäft wahrnehme. Zwar
hatte der 11. Zivilsenat hinsichtlich der Investitionsbeihilfen eine gesteigerte
Vermögensbetreuungspflicht angenommen, wenn die zweckgerichtete Ver-
wendung der Subventionsmittel die wesentliche Pflicht aus dem mit der
öffentlichen Hand geschlossenen Vertrag sei. 17 Dem entgegnet der BGH
jedoch dergestalt, dass dieses Wesentlichkeitselement letztlich darauf
hinausliefe, als Kriterium die Größenordnung und wirtschaftliche Bedeu-
tung der Subvention heranzuziehen. Ein derartiges Kriterium sei allerdings
rur die Frage der Fremdnützigkeit der Subventionsgewährung von unterge-
ordneter Bedeutung. 18

2. Existenzerhaltungspflicht für Tochtergesellschaften im gestuften


Konzern trotz Zustimmung der Gesellschafter
Eine Treuepflicht könnte sich allerdings in der Weise konstruieren lassen,
dass es dem herrschenden Unternehmen im Rahmen seiner Treuepflicht
nicht gestattet sein soll, dem beherrschten Unternehmen Vermögenswerte in
einem derartigen Umfang zu entziehen, dass dadurch dessen Existenzfahig-
keit in Gefahr gerät.
Dabei gilt es zunächst zu beachten, dass die Gesellschaft gegenüber ihren
Gesellschaftern grundsätzlich keinen Anspruch auf ungeschmälerten Be-
stand hat. Dies stellt auch der BGH in vorliegendem Urteil seinen Ausruh-
rungen unter Verweis auf zuvor ergangene zivil- und strafrechtliche Ent-
scheidungen19 voran. Allerdings seien in der zivil- wie auch in der
strafrechtlichen Rechtsprechung Fallkonstellationen anerkannt, in denen der
Geschäftsführer trotz Zustimmung sämtlicher Gesellschafter seine Vermö-
gensbetreuungspflicht verletzt. Die Frage der Reichweite eines tatbe-
standsausschließenden Einverständnisses ist daher entscheidend für die

16 Unter Verweis aufBGH GA 1977,18,19.


17 Vgl. BGHZ 149, 10,24.
18 BGH wistra 2004,341; vgl. auch BGH wistra 2003,344; NJW 2003,2996.
19 Vgl. BGHZ 151, 181, 186 f.; BGH wistra 2004, 341 = NStZ 2004, 559; BGH wistra
2003, 344, 346 f.; NJW 2003,2996,2998.
Neue Akzente fur den Untreuetatbestand? 575

Frage des Entstehens bzw. Bestehens einer eigenen Vermögensbetreuungs-


pflicht der Gesellschafter. Soweit dieses Einverständnis reicht, kann denk-
logisch auch keine Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht ange-
nommen werden. 20 Auch in Bezug auf die eingangs gestellte Frage der
Abgrenzung zwischen Untreue und Bankrott ist die Beantwortung dieser
Frage entscheidend, denn sofern ein wirksames Einverständnis der Gesell-
schafter für den existenzgefährdenden Eingriff in die Tochtergesellschaft
angenommen werden kann, würde sich dieser Eingriff als im ggf. überge-
ordneten Interesse des Konzerns darstellen, mit der Folge, dass über Bank-
rottdelikte, zu entscheiden gewesen wäre. In Betracht würde hier etwa
kommen die Verwendung zweckgebundener Gelder zur Begleichung von
Verbindlichkeiten als "Beiseiteschaffen" und damit als ein Verstoß gegen
ordnungsgemäßes Wirtschaften i.S. § 283 Abs. 1 Nr. 1 StGB.21 Zu der vor-
gelagerten Problematik des Einverständnisses der Gesellschafter existieren
im Wesentlichen vier verschiedene Auffassungen, innerhalb derer teilweise
verschiedene Unterauffassungen vertreten werden.

a) Einverständnis der Gesellschafter


Bereits im Jahre 1937 hatte das Reichsgericht 22 entschieden, dass sich
auch der einzige Gesellschafter einer Einmann-GmbH einer Untreue zum
Nachteil seiner Gesellschaft schuldig machen kann. Dazu rührte das Gericht
weiter aus: "Gerade bei einer GmbH, die ein Zwecksparunternehmen be-
treibt, darf die Fähigkeit, ihre Pflichten gegenüber ihren Gläubigern, na-
mentlich gegenüber den Sparern, zu erfüllen, weder vereitelt, noch gefähr-
det werden...". 23
Diese Ansicht wurde in späteren Entscheidungen dahingehend konkreti-
siert (und in der Literatur als "eingeschränkte Körperschaftstheorie" be-
zeichnet), dass ein erteiltes Einverständnis dann unwirksam sei, wenn es in
gesetzeswidriger Weise oder unter Verstoß gegen die Grundsätze eines
ordentlichen Kaufmanns erteilt werde. Unbeachtlich war daher auch für den
damals entscheidenden 3. Strafsenat, dass die Entnahmen weder das
Stammkapital beeinträchtigt, noch die GmbH in die Gefahr der Insolvenz
(bzw. damals des Konkurses) gebracht hatten. Begründet hatte der Senat
diese Ansicht damit, dass selbst im Falle der Einmanngesellschaft das Ver-
mögen des Alleingesellschafters nicht mit dem Vermögen der GmbH iden-

20 Vgl. Bittmann (Fn. 2), 9 f.


21 NK-Kindhäuser, 2. Aufl. 2005, § 283 Rn. 21~ vgl. auch BOHSt 30, 127, 129~ Schön-
ke/Schröder/Heine StOB, 27. Aufl. 2006, § 283 Rn. 7.
22 Vgl. ROSt 71, 353 f
23 Vgl. ROSt 71,355,356.
576 Carsten Momsen

tisch sei. Die von der Rechtsordnung eröffnete Möglichkeit der Bildung
rechtlich getrennter Vermögensmassen zur Teilnahme am Rechtsverkehr
"mit beschränkter Haftung" dürfe nicht dergestalt eigennützig missbraucht
werden, als gebe es keine rechtliche Trennung. Der alleinige Gesellschafter
solle sich nicht im Falle der Haftung auf die Vorteile der Vermögenstren-
nung berufen können, andererseits aber die Vermögenseinheit geltend ma-
chen können, wenn er der GmbH willkürlich wirtschaftliche Werte zum
eigenen Vorteil entziehe.
Dem ist im Schrifttum die sog. "eingeschränkte Gesellschaftertheorie"
entgegengetreten. Danach soll die Zustimmung der Gesellschafter nur dann
keine Wirksamkeit entfalten, wenn die Kapitalerhaltungsvorschrift des § 30
GmbHG verletzt oder eine Existenzgefahrdung der GmbH ausgelöst wird. 24
Die Grenze des § 30 GmbHG sei dabei vor allem deshalb von Bedeutung,
weil die GmbH als juristische Person über ein ihr zugeordnetes verselbstän-
digtes Vermögen verfuge, was etwa in § 13 GmbHG zum Ausdruck kom-
me. Damit sei - dem Trennungsprinzip entsprechend - das Vermögen der
juristischen Person streng von dem seiner Mitglieder zu unterscheiden.
Allerdings müsse sich die juristische Person, da sie ihre Rechte nicht selbst,
sondern nur durch ihre Organe ausüben kann, das Handeln eben dieser
Organe als eigenes Handeln zurechnen lassen. Eine solche Zurechnung soll
allerdings nur in dem Umfang möglich sein, in dem die GmbH als Rechts-
subjekt selbst über ihr Vermögen verfugen kann. Diese Grenze sei in § 30
GmbHG exakt geregelt.
Eben diese Grenze leugnen die Vertreter der sog. "strengen Gesellschaf-
tertheorie". § 266 StGB schütze allein das Vermögen der Gesellschaft,
welche wiederum durch die Gesamtheit der Gesellschafter als oberstes
Organ repräsentiert werde. Dabei sei die Zustimmung der Gesellschafter
nicht aufgrund deren alleiniger Dispositionsbefugnis beachtlich, sondern
weil sich die GmbH deren Einverständnis, auch wenn es gegen gesetzliche
Vorschriften verstoße, zurechnen lassen müsse. 25 Eine irgendwie geartete
Gläubigerschutzfunktion komme dem Untreuetatbestand nicht zu. Der Ver-
weis der Gegenansicht darauf, dass die Gesellschafter an das ihnen gehö-
rende Gesellschaftsvermögen nur über die Liquidation der Gesellschaft
herankämen und die Gesellschaft ihren Gesellschaftern gegenüber ein ei-
genständiges, anerkennenswertes Bestandsinteresse habe, sei ein rein zivil-
rechtlich formales, das äußere Verfahren betreffendes Argument. Diese
Ansicht fuhre auch nicht zu unvertretbaren Strafbarkeitslücken, wenn man
die Anwendbarkeit der §§ 283 ff. StGB entgegen der vom BGH angewand-
ten Interessenformel bei einem Handeln als Geschäftsfuhrer stets bej ahe

24 Vgl. Kohlmann FS W. Werner, 1984, S. 387 ff.~ Ulmer FS Pfeiffer, 1988, S. 853,868.
25 Vgl. Reißwistra 1989, 81, 84.
Neue Akzente rur den Untreuetatbestand? 577

und § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB eingreifen lasse. Es zeigt sich insoweit noch-
mals die enge Verzahnung beider Fragen.

b) Unbeachtlichkeit des Einverständnisses bei Existenzgefährdung


von Tochtergesellschaften
Folgt man im Rahmen dieser Diskussion zunächst einmal dem BGH und
erachtet das Einverständnis der Gesellschafter bereits dann für unbeachtlich,
wenn die Verfügung geeignet ist, das Stammkapital zu beeinträchtigen oder
die Gesellschaft unmittelbar und konkret in ihrer Existenz gefährdet, so war
folgerichtig im nächsten Schritt zu prüfen, zu welchem Zeitpunkt die beiden
Ostwerften zumindest in ihrer Existenz gefährdet waren. 26
Dabei galt zunächst zu beachten, dass es sich jeweils bei den im Rahmen
des Beitritts zum Cash-Pool der BVV geleisteten Vermögenstransfers um
Darlehen der Ostwerften an die Konzernmutter handelte, den ostdeutschen
Tochtergesellschaften mithin ein Rückzahlungsanspruch gegen die Kon-
zernmutter zustand. Bilanziell lag bei diesen Verfügungen somit lediglich
ein bloßer Aktivtausch vor, bei denen ein Aktivposten (Bankguthaben)
durch einen anderen (Darlehenrückzahlungsanspruch) ersetzt und damit das
Aktivvermögen nicht gemindert wurde. 27 Durch den im Rahmen des
MoMiG 28 in § 30 Abs. 1 GmbHG angefügten Satz 2 ist nunmehr auch klar-
gestellt, dass bei Bestehen eines vollwertigen Rückzahlungsanspruchs der
Gesellschaft gegen die Gesellschafter keine verbotene Auszahlung im Sinne
des § 30 GmbHG vorliegt. Zur Frage, wann eine längerfristige und unbesi-
cherte Darlehensforderung durch eine faktisch konzernierte AG an ihren
Hauptaktionär gegen § 57 Abs. 1 S. 3 AktG 29 verstößt, hat der BGH für
Zivilsachen im Dezember 2008 Stellung bezogen. 3o Danach soll es für die
Beurteilung der "Vollwertigkeit" auf eine vernünftige kaufmännische Beur-
teilung entsprechend der Bewertung von Forderungen aus Drittgeschäften
im Rahmen der Bilanzierung (vgl. § 253 HGB) ankommen. Nicht erforder-
lich sein soll eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit der Darle-
hensrückzahlung. Allerdings habe der im faktischen Konzern nicht wei-
sungsunterworfene Vorstand der abhängigen Gesellschaft die Gewährung
eines unbesicherten Darlehens im Fall eines konkreten Ausfallrisikos zu
verweigern.

26 Vgl. BGH wistra 2004,341 = NStZ 2004,559.


27 Vgl. BrockerlRockstroh BB 2009, 730.
28 "Gesetz zur Modemisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen"
(MoMiG) vom 23. Oktober 2008, BGBl. I, S. 2026 ff.~ siehe dazu BT-Drs. 354/07.
29 Die Norm stimmt mit § 30 Abs. 1 S. 2 GmbHG wörtlich überein.
30 Vgl. BGH ZIP 2009, 70 ff. mit Anm. v. FalkenhausenlKocher.
578 Carsten Mamsen

Zumindest wenn im Rahmen der Einbeziehung der Ostwerften in den


Cash-Pool ein solches konkretes Ausfallrisiko bestanden hätte, hätte man
den Rückzahlungsanspruch nicht mehr als "vollwertig" ansehen und damit
- bei einem das Stammkapital berührenden Ausmaß - bereits einen Verstoß
gegen § 30 GmbHG sehen können. Sollte dies nicht der Fall gewesen sein,
soll es nach Ansicht des BGH ausreichen, wenn dadurch die GmbH konkret
und unmittelbar in ihrer Existenz gefährdet würde, etwa weil ihr die Pro-
duktionsgrundlagen entzogen wurden oder ihre Liquidität gefährdet wurde.
Bei Forderungen der MTW von insgesamt 590 Mio. DM und der VWS
von etwa 260 Mio. DM gegen die BVV liegt eine Existenzgefährdung für
die beiden Tochtergesellschaften zumindest nicht fern.
Damit stünde bezüglich der Geschäftsführung der MTW fest, dass dem
Einverständnis der BVV als Gesellschafterin keine tatbestandsausschlie-
ßende Wirkung zukommen könnte. Von Seiten der Geschäftsführung der
VWS bestand hingegen anhaltender Widerstand gegen eine solche Einbe-
ziehung, weshalb der Beitritt erst aufgrund einer Gesellschafterweisung
erfolgte. Ein derartiges Weisungsrecht der Gesellschafter einer GmbH fin-
det seine gesetzliche Grundlage in § 37 GmbHG. Dabei sind verbindliche
Weisungen der Gesellschafter durch den Geschäftsführer zwingend zu be-
folgen und befreien diesen daher auch vor möglichen Haftungsansprüchen.
Allerdings fmdet die Haftungsbefreiung ihre Grenze bei gröblich sorgfalts-
widrigen, anfechtbaren oder nichtigen Weisungen. 31 Weisungen, die eine
(mangels tatbestandsausschließender Funktion des Einverständnisses) Ver-
letzung einer strafbewehrten Pflicht zum Inhalt haben, sind demnach grund-
sätzlich als nichtig anzusehen und nicht zu befolgen. Im Falle der VWS war
die Gesellschafterweisung nach Auffassung des Senats daher nicht zu be-
folgen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Stadt Stralsund dem als Minder-
heitsgesellschafterin nicht zugestimmt hatte und daher bereits die gesell-
schaftsrechtliche Legitimation entfallen soll.32

3. Die Gesellschafter der Konzernnlutter als Täter einer Untreue


zulasten der Konzerntochter
Problematisch erscheint nun, ob sich die Gesellschafter der Konzemmut-
ter damit zugleich einer täterschaftlichen Untreue strafbar gemacht haben.
Naheliegend wäre es gewesen, eine Strafbarkeit wegen Anstiftung zur
Untreue anzunehmen. Der BGH ist hier jedoch erstmals einen anderen Weg
gegangen, indem er die Gesellschafter - aufgrund ihrer Stellung als Gesell-
schafter - gleichfalls als mögliche Täter einer Untreue ansieht. Dies er-

31 Vgl. Krause BB 2009, 1370, 1373.


32 Vgl. BGH wistra 2004,341,347.
Neue Akzente für den Untreuetatbestand? 579

scheint vom Ansatz her deshalb als problematisch, weil den Gesellschaftern
damit eben auch eine Vermögensbetreuungspflicht zukommen müsste. 33
Folgt man der Literaturansicht, derzufolge das Gesellschaftsvermögen al-
leine den Gesellschaftern zusteht, wäre eine Vermögensbetreuungspflicht
bereits mangels Fremdnützigkeit abzulehnen. 34 Sieht man die GmbH als
eigenständige juristische Person mit einem ihr (und nicht den Gesellschaf-
tern) zugeordneten Vermögen an, so würde die Vermögensbetreuungs-
pflicht zumindest nicht am Merkmal der Fremdheit scheitern. Allerdings
müsste den Gesellschaftern, selbst wenn man das Vermögen der GmbH für
diese als fremd ansehen wollte, auch eine Pflicht zukommen, für dieses
Vermögen Sorge zu tragen bzw. es zu betreuen. Der BGH führt an dieser
Stelle aus, eine Pflicht, die Gesellschaft nicht in ihrer Existenz zu gefähr-
den, treffe nicht nur den Geschäftsführer als vertretungsberechtigtes Organ,
sondern "in gleicher Weise den beherrschenden Alleingesellschafter".35
Dem wurde in der Literatur teilweise entgegengehalten, der Senat hätte
damit die Pflichtwidrigkeit des Verhaltens der Gesellschafter dargelegt,
ohne vorab zu prüfen, ob ihnen eine Vermögensbetreuungspflicht überhaupt
zukomme. 36
Sieht man sich jedoch einzelne Ausführungen an entsprechender Stelle
an, scheint es, als leite der BGH die Vermögensbetreuungspflicht der Ge-
sellschafter aus einer Garantenstellung her. So führt der Senat u.a. aus: "Der
Zweck einer Kapitalgesellschaft erschöpft sich nämlich nicht in einer blo-
ßen Vermögensanlage für die Gesellschafter. Jedenfalls wenn die Gesell-
schaft eine eigene wirtschaftliche Tätigkeit aufgenommen hat, handelt sie
unter eigener Rechtspersönlichkeit als Wirtschaftssubjekt im Geschäftsver-
kehr und wird Träger von Rechten und Pflichten. Dies lässt gleichzeitig
Schutzerfordernisse entstehen ...". An anderer Stelle heißt es: "Jedenfalls
bei der hier gegebenen Sachverhaltskonstellation kann die dem Alleinge-
sellschafter gegenüber der Gesellschaft obliegende Pflicht, ihr das zur Be-
gleichung ihrer Verbindlichkeiten erforderliche Kapital zu belassen, auch
eine Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 266 Abs. 1 StGB darstel-
len."37

33 Die neueren Überlegungen zur Compliance im gestuften Konzern führen zwar zu ver-
gleichbar ausgerichteten Ptlichtenstrukturen, allerdings steht hier, anders als bei der vorliegen-
den Problematik, die Normbefolgung im Vordergrund (vgl. ReichertlOtt ZIP 2009, 2173),
nicht die wirtschaftliche Erhaltung einzelner Untergliederungen. Die Schlussfolgerungen
lassen sich daher nicht ohne weiteres übertragen.
34 Vgl. Beckemper GmbHR 2005,592,593.
35 Vgl. BGHSt 49,147, 158.
36 Vgl. Beckemper (Fn. 34), 592, 594; MK-Dierlamm StGB, 1. Autl. 2006, § 266 Rn. 237,
der von einem "Zirkelschluss" des BGH spricht.
37 Vgl. BGHSt 49, 147, 158.
580 Carsten Momsen

In letzter Konsequenz scheint sich der Senat der Allgemeingültigkeit die-


ser These dann aber doch nicht sicher zu sein und gesteht ein, dass diese
Pflicht durchaus auch lediglich als Schranke der eigenen Dispositionsfrei-
heit verstanden werden könnte. Letztlich begründet er das Vorliegen einer
Vermögensbetreuungspflicht damit, dass sich die als Darlehen an die Kon-
zernmutter in den Cash-Pool eingespeisten Gelder in der ausschließlichen
Einflusssphäre des Konzerns befanden und die BVV als Alleingesellschaf-
terin gehalten gewesen wäre, eine andauernde Sicherung der Gelder zu
gewährleisten. Die Errichtung eines Cash-Management-Systems sei zwar
nicht an sich pflichtwidrig, löse aber gesteigerte Sicherungspflichten aus,
welche bei einem Ausmaß, das bei einem Verlust der Gelder die Existenz
der Tochtergesellschaft gefahrden würde, eine Vermögensbetreuungspflicht
begründe. Dann habe die Konzernmutter die Eigeninteressen der Tochterge-
sellschaft und deren Gläubiger zu wahren.
Diese fallspezifische Umschreibung einer Existenzgefahrdung der Kon-
zerntochter durch die Konzernmutter als Gesellschafterin löst allerdings
nicht das vom Senat selbst erkannte und in den Raum gestellte Problem, ob
ein solches Verbot der Existenzgefahrdung eine Vermögensbetreuungs-
pflicht für die zu betreuende Tochter beinhaltet oder nicht lediglich die
Schranke eigener Dispositionsbefugnis darstellt.
Die Lösung des Problems dürfte sich dabei in den Anforderungen finden,
die man an das Vorliegen einer Vermögensbetreuungspflicht i.S.d. § 266
StGB stellt. Verlangt man mit Teilen der Literatur 38 einen eigenen Ent-
scheidungsspielraum des Betreuenden, würde eine Vermögensbetreuungs-
pflicht des Gesellschafters gegenüber der Gesellschaft (bzw. deren Gläubi-
ger, sofern man diese als durch § 266 StGB geschützt sehen will) an diesem
konstitutiven Merkmal scheitern: denn jenseits der Grenze des § 30
GmbHG bzw. - wenn man mit dem BGH die Grenze höher ansetzen will -
einer Gefahrdung der Existenz der Gesellschaft können die Gesellschafter
quasi unbeschränkt über deren Vermögen verfügen. Ist eine der beiden
Grenzen erreicht, würde den Gesellschaftern aber erst gar kein Entschei-
dungsspielraum mehr zustehen. Worin dann der Fehlgebrauch eines einge-
räumten Entscheidungsspielraums liegen soll, ist kaum zu erklären.
Nach anderer Ansicht soll es im Rahmen der Vermögensbetreuungs-
pflicht nicht darauf ankommen, ob dem Betreuungspflichtigen ein eigen-
ständiger Entscheidungsspielraum zugestanden wird. Entscheidend soll

38 Vgl. MK-Dierlamm (Fn. 36), § 266 Rn. 42~ LK-Hübner, 10. Aufl. 1978 ff., § 266 Rn. 32~
NK-Kindhäuser (Fn. 21), § 266 Rn. 24 ff.~ Schönke/Schröder/Lenckner/Perron (Fn. 6), § 266
Rn. 24; SK-Samson/Günther, 7. Aufl. 2003 ff., § 266 Rn. 29, der einen gewissen Spielraum für
die Stellung als Garant voraussetzt~ Wessels/Hillenkamp Strafrecht Besonderer Teil 2, 32. Aufl.
2009, Rn. 771.
Neue Akzente für den Untreuetatbestand? 581

vielmehr sein, ob dieser eine Garantenstellung innehat,39 wobei nicht jede


Garantenstellung ausreichen soll. Teilweise wird für das Vorliegen einer
Garantenstellung eine qualitative Herrschaft über das fremde Vermögen
gefordert, welche sich in der Abwesenheit von Kontrolle äußere. 4o Der
Betreuungspflichtige müsse dabei zwar nicht von einer nachträglichen
Überprüfung befreit sein. Ausreichend soll sein, dass er sich während seines
Handeins gewissermaßen selbst kontrolliert. 41
Wie bereits zu Anfang dargestellt, erfolgte die Einbeziehung der MTW
auf Initiative, im Falle der VWS aufgrund eines Gesellschafterbeschlusses
der BVV. Ob die Gesellschafter dabei unter Abwesenheit von Kontrolle
agieren konnten, ist äußerst zweifelhaft: denn auch innerhalb eines Kon-
zerns werden Entscheidungen primär und unmittelbar durch die Geschäfts-
führung der jeweiligen Tochtergesellschaft getroffen. Zwar wirken - wie
dargelegt - Gesellschafterbeschlüsse grundsätzlich bindend. Allerdings ist
dies insbesondere bei nichtigen Beschlüssen nicht der Fall. Gerade hierauf
bezieht sich die - eine eigene Haftung verhindernde - Kontrolle der jewei-
ligen Geschäftsführung.

IV. Zwingt eine Aufgabe der Interessentheorie zu einer


veränderten Bewertung?
1. Untreuestrafbarkeit des Gesamtvorstands im Verhältnis
zu den Konzerntöchtern?
Der BGH sieht das Kriterium der Entscheidungsfreiheit bzw. Selbstän-
digkeit allenfalls als Indiz fur eine Vermögensbetreuungspflicht42 und als
Kriterium zur Abgrenzung von bloßen Handlangerdiensten. Im vorliegen-
den Fall scheint der BGH die Vermögensbetreuungspflicht der Gesellschaf-
ter aus einer Art Schutzgarantenstellung fur die Gesellschaft herzuleiten.
Eine solche Schutzgarantenstellung, welche darauf abzielen würde, exis-
tenzbedrohende Eingriffe in das Gesellschaftsvermögen zu unterlassen,
erscheint allerdings als Ansatzpunkt fur die Annahme einer Vermögens-
betreuungspflicht problematisch. Das Handlungsunrecht der Untreue liegt in
dem Missbrauch der Vermögensfürsorgepflicht, die der Betreuungspflichti-
ge dem Geschäftsherr gegenüber haben muss. Dabei ist die spezifische
Gefährlichkeit gerade darin zu sehen, dass der Betreuungspflichtige dazu in

39 Vgl. LK-Schünemann, 11. Autl. 1992 ff., § 266 Rn. 82 ff.


40 Vgl. LK-Schünemann a.a.O., § 266 Rn. 85.
41 Zu strukturell vergleichbaren Überlegungen im Bereich Compliance vgl. ReichertlOU ZIP
2009,2173 ff.
42 Vgl. BGHSt 13,315,319.
582 Carsten Momsen

der Lage ist, Entscheidungen zu treffen, die nicht im Sinne des zu betreuen-
den Vermögens liegen und dies für den Geschäftsherrn gerade deshalb
schwierig zu erkennen bzw. zu kontrollieren ist, weil er dem Betreuungs-
pflichtigen insoweit einen gewissen Entscheidungsspielraum überlassen hat.
Gerade hierin ist der Missbrauch des Vertrauens zu sehen, das dem Betreu-
ungspflichtigen entgegengebracht wurde und gerade dieser Entscheidungs-
spielraum wäre es, der nach den bisherigen Maßstäben der Rechtsprechung
gegen und nicht im Interesse der Gesellschaft genutzt worden sein müsste.
Dies lässt sich zwar im Verhältnis zur Konzerntochter (noch) begründen,
das Kriterium versagt aber offenkundig dann, wenn man die Konzernmut-
ter, dergegenüber die unmittelbaren Pflichten oblagen, mit in den Blick
nimmt.
Aus eben diesem Grund war gerade der Fall "Bremer Vulkan" daher auch
bislang schon geeignet, die Grenzen der sog. "Interessentheorie" deutlich
aufzuzeigen. 43 Denn das Handeln im Interesse der Konzernmutter, der ge-
genüber die unmittelbare Pflicht zur Interessenwahrung besteht, kann
durchaus die Interessen der Konzemtöchter, welchen gegenüber zumindest
eine abgeleitete entsprechende Pflicht besteht, verletzen. Dies gilt zumin-
dest dann, wenn man mit dem BGH davon ausgehen will, dass es im Kon-
zern verschiedene, U.V. kollidierende Pflichten auf den Ebenen der Kon-
zernstruktur geben kann und vor allem, dass der Gesamtvorstand sich
grundsätzlich nicht nur auf der zentralen Ebene einer Untreue strafbar ma-
chen kann. Dass der Senat hier von einer spezifischen Konstellation spricht,
dürfte lediglich verdeutlichen, dass er sich bewusst ist, nicht nur die Gren-
zen der Vermögensbetreuungspflicht des (Allein-)Gesellschafters aufs Äu-
ßerste zu strapazieren, sondern auch, dass ein morastiges Gelände paralleler,
mitunter gegenläufiger Pflichtenstellungen betreten wird, in dem die klare
dogmatische Abgrenzung und mit ihm in letzter Konsequenz auch das Be-
stimmtheitsgebot zu versinken drohen. Überdeutlich wird diese Verlegen-
heit durch die Hilfserwägung, eine Pflicht entstehe jedenfalls bei Erreichen
einer nicht näher zu konkretisierenden Schwelle der Existenzgefährdung der
Tochtergesellschaft. 44 Ist nämlich der Transfer von Vermögenswerten der
Tochter zur Mutter mit und wegen der Billigung durch die Gesellschafter
grundsätzlich kein pflichtwidriges Verhalten, so wird offenkundig, dass der

43 Vgl. Bittmann (Fn. 2), 9.


44 BGH wistra 2004, 341: "Erreicht der Vermögenstransfer ein solches Ausmaß, daß die
Erfüllung der eigenen Verbindlichkeiten des einlegenden Konzernmitglieds im Falle eines
Verlusts der Gelder gefährdet wäre, dann trifft die Muttergesellschaft eine Vermögensbetreu-
ungspflicht, die Rückzahlung der Gelder - enva durch ausreichende Besicherung - zu gewähr-
leisten. Sie hat dann die wirtschaftlichen Eigeninteressen ihrer Tochtergesellschaft (und deren
Gläubiger) zu wahren. Diese Pflicht der Konzernmutter wird den Angeklagten nach § 14 Abs.
1 Nr. 1 StGB als Mitgliedern des Organs der Muttergesellschaft zugerechnet."
Neue Akzente für den Untreuetatbestand? 583

Gesichtspunkt der Existenzgefahrdung schon deshalb kein taugliches Krite-


rium zur Definition des handlungsleitenden Interesses ist, da es sich entwe-
der um keine fixierbare Grenze handelt oder aber um eine bilanz- bzw.
insolvenzrechtliche Frage. Erfolgt nun der existenzgefahrdende Eingriff zur
Vermeidung oder Verzögerung der Insolvenz der Mutter (so wie hier), so
würde man wohl nur schwerlich zu dem Ergebnis kommen können, das
Handeln richte sich gegen die Interessen der Tochter, wenn letztendlich die
Insolvenz des Gesamtkonzerns erfolgreich abgewendet würde und damit
U.U. im Ergebnis sogar wiederum zugleich die Existenz der Tochter gesi-
chert würde. Eigentlich ein klassisches Problem der Insolvenzdelikte.

2. Verwirklichung von Insolvenzdelikten durch den Gesamtvorstand


bei existenzgeJährdenden Eingriffen in das Vermögen von
Konzerntöchtern?
Betrachtet man nun die eingangs skizzierte Entwicklung der Rechtspre-
chung, so liegt es nahe zu fragen, was denn die in Aussicht stehende gene-
relle Aufgabe der sog. "Interessentheorie" für die Strafbarkeitsrisiken des
Gesamtvorstands im Hinblick auf die Verwirklichung von Insolvenzdelik-
ten (§§ 283 ff. StGB) bedeuten kann: Nach bisheriger Rechtsprechung wäre
eigentlich zu erwarten, dass in vergleichbaren Fällen auch eine Haftung
wegen Insolvenzdelikten in Betracht gezogen werden könnte, dies jeden-
falls soweit man die Situation im Konzern so zu interpretieren hätte, dass
die Existenzgefahrdung der Töchter zugleich ein Indiz dafür ist bzw. sein
könnte, dass dem Gesamtkonzem zumindest die Zahlungsunfahigkeit droht,
also die Tatsituation der §§ 283 ff. StGB gegeben wäre. Dass im Falle
"Bremer Vulkan" keine entsprechende Verurteilung im Revisionsurteil in
Betracht gezogen wurde, liegt wohl darin begründet, dass die Feststellungen
des Landgerichts Bremen von der noch rechtzeitigen Stellung eines Ver-
gleichsantrags ausgingen. 45 Häufig dürfte jedoch die wirtschaftliche Maß-
nahme, welche sich als existenzgefahrdender Eingriff in das Tochterunter-
nehmen darstellt, gerade dann und dazu erfolgen, wenn es um die
Verschleierung der faktisch eingetretenen oder drohenden Zahlungsunfa-
higkeit bzw. Insolvenz geht. Diese - fiktive - Situation hätte nun für den
Gesamtvorstand die unangenehme Konsequenz, dass aufgrund der auf der
Grundlage der "Bremer Vulkan" - Rechtsprechung getrennt zu betrachten-
den Vermögensmassen von Mutter und '"[ochter und den daraus folgend
differenziert zu bewertenden Pflichten, im Verhältnis zur Tochter eine
Strafbarkeit wegen Untreue gern. § 266 StGB (interessenverletzender exis-
tenzgefahrdender Eingriff) droht. Gleichzeitig könnte im Verhältnis zur

45 Dies legt jedenfalls die Sachverhaltsdarstellung in BGH wistra 2004, 341, nahe.
584 Carsten Mamsen

Mutter eine Strafbarkeit wegen Insolvenzdelikten gern. §§ 283 ff. StGB


(Handlungen im Interesse der Mutter bei faktisch gegebener, durch den
Eingriff in das Kapital der Tochter indizierter, Krisensituation) gegeben
sein. Bspw. wenn in dieser Situation ungewöhnliche Handlungen nach
§ 283 Abs. 1 Nr. 1 vorgenommen werden, um die Masse zu verringern, aber
auch, wenn Risiken i.S. § 283 Abs. 1 Nr. 2 StGB eingegangen werden, also
etwa Spekulationsgeschäfte 46 in der Absicht getätigt werden, die Kapitalba-
sis des Konzerns auBerhalb der üblichen Geschäfte zu verbessern, tatsäch-
lich aber zu einer Verringerung der potentiellen Insolvenzmasse führen,
weil das Geschäft wirtschaftlich misslingt. Ein Verhalten, das, wie die Er-
fahrungen der vergangenen eineinhalb Jahre zeigen, keineswegs außerge-
wöhnlich wäre.
Folgt man hingegen dem u.a. von Radtke entwickelten sog. "Zurech-
nungsmodell"47A8, so ergeben sich auch in Bezug auf gestufte Konzernie-
rungen kohärentere Ergebnisse: Erfolgt der Eingriff in das Tochterunter-
nehmen mit Zustimmung des Vertretenen, so kommt unter der
Voraussetzung, dass sich ein masseschädigendes Verhalten feststellen lässt,
grds. eine Strafbarkeit wegen Insolvenzdelikten in Betracht, nicht aber aus
den allgemeinen Delikten, insbesondere nicht aus § 266 StGB. 49 In Konstel-
lationen wie der vorliegenden muss daher die Zustimmung des Alleingesell-
schafters dazu fuhren, dass eine Verletzung einer Vermögensbetreuungs-
pflicht zulasten der Tochtergesellschaft ausscheidet, richtigerweise mangels
gegenüber dem Konzern selbständiger Pflichten, soweit dies die Organe des
Konzerns betrifft und diese zugleich den Alleingesellschafter der Tochter
repräsentieren. Dieses Ergebnis erscheint auch betriebwirtschaftlich richtig,
da die Verpflichtung der Organe des Gesamtkonzerns dahin gehen muss,
diesen vor der Insolvenz zu bewahren. Repräsentieren diese Organe als
Gesellschafter ein Tochterunternehmen, so muss dieses im Fall des Falles
auch durch eine als Gesellschafterbeschluss wirksame Entscheidung aufge-
löst werden können, wenn dadurch eine Insolvenz oder anderweitige Kri-

46 Vgl. hierzu Satzger/Schmitt/Widmaier/Bosch (Fn. 3), § 283 Rn. 9; NK-Wohlers, 2. Aufl.


2005, § 283 Rn. 30; Fischer (Fn. 6), § 283 Rn. 8; Köhler in: WabnitzlJanovsky, Handbuch des
Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 3. Aufl. 2007, Kap. 7 Rn. 143; HK-GS/Bannenberg, 2008,
§ 283 Rn. 16; Maurach/Schroeder/MaiwaldBesonderer Teil 1, 10. Aufl. 2009, § 48 Rn. 23.
47 MK-Radtke (Fn. 2), § 14 Rn. 62; ders. JR 2010 (Fn. 8); vgl. auch Reiß (Fn. 25), 81, 85;
jetzt auch BGH NStZ 2009, 437, wistra 2009,479.
48 Der 1. Senat (BGH wistra 2009, 475) offenbarte seine "Neigung, diese Interessentheorie
nicht mehr anzuwenden und den Schutzbereich der Insolvenzdelikte zu erweitern" und die
Ungleichbehandlung zwischen GmbH-Geschäftsführern und Einzelkaufleuten (die durch die
Interessentheorie nicht privilegiert werden können) zu vermeiden (so auch der 3. Senat in BGH
NStZ 2009, 437, 439). Verwiesen wird auf alternative Kriterien wie bspw. masseschädigendes
Verhalten; vgl. Radtke GmbHR (Fn. 5), 875.
49 Näher MK-Radtke (Fn. 2), § 14 Rn. 64 m.w.N.; ders. JR 2010 (Fn. 8).
Neue Akzente für den Untreuetatbestand? 585

sensituation LS. der §§ 283 ff. StGB für den Gesamtkonzern abgewendet
werden kann. Die Annahme einer ggf. konfligierenden Vermögensbetreu-
ungspflicht hinsichtlich (der Existenzerhaltung) des Tochterunternehmens
fUhrt im gestuften Konzern nahezu automatisch in nicht mehr auflösbare
Pflichtenkollisionen und lässt sich im Sinne einer betriebswirtschaftlich
nachvollziehbaren Handlungsanweisung kaum umsetzen.
Eine Aufgabe der Interessentheorie fUhrt daher in Fällen wie dem vorlie-
genden tendenziell zu einer Ausweitung des Anwendungsbereichs der In-
solvenzdelikte und zu einer Zurückdrängung der Untreuestrafbarkeit. Ob
die damit verbundene Stärkung der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit all-
seits konvenieren wird, bleibt abzuwarten. Im Übrigen aber sollte das Er-
gebnis ganz der "Neigung" entsprechen, durch den Verzicht auf die Interes-
sentheorie "den Schutzbereich der Insolvenzdelikte zu erweitern", wie sie
der 1. Senat hat ausdrücken wollen. 50 Zudem wird die Abgrenzung nunmehr
aus dem Focus der Insolvenzdelikte betrieben. Dies zu Recht, da sich ein
eigenmächtiges und eigennütziges Verhalten von Organen bzw. Vertretern
eines zumindest faktischen Insolvenzschuldners, welche die potentielle
Insolvenzmasse schmälert, wegen der geradezu handgreiflichen Verletzung
der Vermögensinteressen der Insolvenzgläubiger vom Rechtsgut her als
Insolvenzdelikt zeigt. Auch in Fällen, wie dem vorliegend erneut betrachte-
ten, wird man richtigerweise danach fragen, ob die vorgeworfene Handlung
faktisch die Insolvenzmasse schädigt. 51 Ist dies so, liegt aber noch keine
Krisensituation LS. der §§ 283 ff. StGB vor, dann fehlt fUr das als ultima
ratio verstandene Strafrecht einstweilen der Handlungsbedarf. Gegebenen-
falls sind Maßnahmen der Wirtschaftslenkung einzusetzen, zu denen das
Strafgesetz richtigerweise nicht zählt.

50 BGH wistra 2009,475.


51 Radtke JR 2010 (Fn. 8).
Sind die "Trunkenheitsdelikte" reformbedürftig?

PETERKöNIG

I. Ausgangslage
Während die "Gesetzgebungsmaschinerie" im Verkehrsrecht ständig und
auf hohen Touren läuft, sind das Verkehrsstrafrecht und speziell die "Trun-
kenheitsdelikte" (§315a Abs.1 Nr.1, §315c Abs.l Nr.1a, §316 StGB)
seit ihrer Konstituierung im Jahr 1964 1 von Änderungen weitgehend ver-
schont geblieben. Dies ist auch deswegen nicht selbstverständlich, weil das
gesetzgeberische Konzept zur Pönalisierung der folgenlosen "Trunkenheits-
fahrt" seinerzeit eigentlich vorläufigen Charakter trug. § 345 des E 19622
hatte insoweit vorgesehen, das Führen von Kraftfahrzeugen im Straßenver-
kehr mit einem Blutalkoholgehalt von mindestens 0,8%0 unter Strafe zu
stellen. Der Vorschlag wurde maßgebend mit der Begründung nicht aufge-
griffen, dass die Normierung einer bestimmten Promillegrenze vor Fertig-
stellung des beim Bundesgesundheitsamt in Auftrag gegebenen Gutachtens
zur Bedeutung des Alkohols im Straßenverkehr noch nicht entscheidungs-
reif sei. 3
Nach Vorlage des Gutachtens im Jahr 19664 suchte der Gesetzgeber sein
Heil dann bekanntlich aber nicht im Strafrecht, sondern im Ordnungs-
widrigkeitenrecht. 1973 wurde der ,,0,8%0-Bußgeldtatbestand" des § 24a
StVG eingefuhrt. 5 Es folgten 1998 bzw. 2001 die Absenkung des Gefahren-
grenzwerts auf 0,5%0 bei gleichzeitiger (1998) Verankerung der Atemalko-

1 Durch das Zweite Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 21.11.1964 (BGBL I,
S.921)
2 In den Regierungsentwurf eines 2. Gesetzes zur Sicherung des Straßenverkehrs (BT-Drs.
IV/651) war er - anders als in der 3. Wahlperiode des Bundestags (BT-Drs. 111/2368) - nicht
aufgenommen worden. Dazu LK-König, 12. Aufl. 2008, § 316 Entstehungsgeschichte.
3 Beschlussempfehlung und Bericht des federführenden Rechtsausschusses, BT-Drs.
IV/2161, S. 5~ s. auch BT-Drs. IV/651, S. 4 Fn. 2; S. 9 f.
4 Gutachten "Alkohol bei Verkehrsstraftaten" (1966)~ bearbeitet von Lundt und Jahn; "Er-
gänzende Stellungnahme" (1967).
5 Das Gesetz ist erst nach zähem Ringen zustande gekommen. S. dazu etwa Händel BA
1973, 353~ Helfer BA 1973, 1~ 192; Hentrich BA 1973, 177.
588 Peter König

holanalyse im Bußgeldverfahren und 2007 das "absolute Alkoholverbot" für


Fahranfänger (§ 24c StVG). Dabei hat es über den gesamten Zeitraum hin-
weg an Forderungen nicht gefehlt, den von der Rechtsprechung anerkannten
6
Grenzwert "absoluter Fahrunsicherheit" im StGB festzuschreiben oder
einen strafbewehrten Gefahrengrenzwert von 0,8%0 bzw. 0,5%0 einzufüh-
ren. 7
Demgegenüber konzentrierten sich die in den 90er Jahren 8 verstärkt auf-
kommenden Diskussionen um die Sanktionierung des Kraftfahrzeugführens
unter illegalen Drogen von vornherein auf das Bußgeldrecht und mündeten
1998 in die Regelung des § 24a Abs. 2 St\'G. Strafrechtliche Ansätze blie-
ben vereinzelt 9 und hatten letztlich keine Chance.
Der Jubilar, der einen Schwerpunkt seiner weit gefächerten Forschungstä-
tigkeit auf die kriminologischen, rechtlichen und kriminalpolitischen As-
pekte der Straßenverkehrsdelinquenz legt, hat die Entwicklung durch zahl-
reiche Beiträge beeinflusst. Das ständige "Herumdrehen" an der
"Promilleschraube" sieht er skeptisch. lO Dem strafrechtlichen Konzept ge-
gen "Trunkenheitsfahrten" stellt er ein insgesamt gutes Zeugnis aus. 11 Da-
mit kontrastiert geradezu vernichtende Gesetzeskritik von anderer Seite
auch aus jüngster Zeit. 12 Im Folgenden sollen einige zentrale Gesichtspunk-
te beleuchtet werden.

11. Gesetzeskritik
Die Ausgestaltung der "Trunkenheitsdelikte" war von Beginn an Angrif-
fen aus dem juristischen und dem medizinisch-naturwissenschaftlichen
Schrifttum ausgesetzt, und zwar durchaus aus gegensätzlichen Richtungen.
Den von relativ wenigen Autoren 13 erhobenen Forderungen nach (weiterer)

6 So u.a. Cramer VOR 1974,21,28 f; Riemenschneider Fahrunsicherheit oder Blutalkohol-


gehalt als Merkmal der Trunkenheitsdelikte, 2000, zugleich Diss. Gießen 1999, S. 256 ff
7 Bund gegen Alkohol im Straßenverkehr BA 1988, 1; BA 1994, 379, 383; Geppert BA
1990,23,25 f; Helfer BA 1990, 50, 56 f; Nehm DAR 2008, 1; Schneble BA 1993, 1, 11 ff;
Spiegel BA 1989, 65, 68.
8 Die Thematik ist im Jahr 1973 nicht übersehen worden; die Schaffung eines "Drogentatbe-
stands" wurde vielmehr mangels Untersuchungsmöglichkeiten zurückgestellt (BT-Drs. 7/692,
S.3).
9 Vgl. den vom Bundesrat nicht aufgegriffenen Entschließungsantrag des Freistaates Bayern
in BR-Drs. 420/94.
10 Krüger/Schöch DAR 1993, 334.
11 Schöch NStZ 1991, 11, 16.
12 Nehm (Fn. 7), 1.
13 Etwa durch Streichung des § 316 StGB; vgl. Bialas Promille-Grenzen, Vorsatz und Fahr-
lässigkeit, 1996, S. 249; Zieschang Die Gefahrdungsdelikte, 1998, S. 391 ff
Sind die "Trunkenheitsdelikte" reformbedürftig? 589

Entkriminalisierung wird im Rahmen dieses Beitrags nicht nachgegangen.


Im Blickpunkt sollen die verbreiteten Vorschläge stehen, das auf das Fahren
in Fahrunsicherheit abstellende Konzept des geltenden Strafrechts durch ein
Modell abzulösen, in dem das Fahren mit bestimmten Wirkstoffkonzentra-
tionen unter Strafe gestellt ist. 14

1. Unübersichtlichkeit und Norm internalisierung


Namentlich die Verfechter von rigiden (0,5%0 bzw. 0,8%0) "Grenzwert-
modellen" geißeln zunächst eine Unübersichtlichkeit des überkommenen
"Promillerechts" mit seinen strafrechtlichen Beweisgrenzwerten der "abso-
luten" Fahrunsicherheit (1,1%0/1,6%0) sowie dem in der Regel ab 0,3%0
beginnenden Nachweisbereich "relativer" Fahrunsicherheit einerseits und
dem bußgeldrechtlichen Gefahrengrenzwert von 0,5%0 sowie dem "absolu-
ten" Alkoholverbot für Fahranfänger andererseits. Hierdurch werde der
Verkehrsteilnehmer überfordert, was die Wirkungskraft der Norm schwä-
che. Ferner werde dem Betroffenen ein Anreiz geboten, sich an den "Kraft-
fahrergrenzwert" von 1,1 %0 "heranzutrinken". 15
Dem Befund der Unübersichtlichkeit ist dabei uneingeschränkt zuzu-
stimmen. Niemand wird behaupten wollen, dass der verkehrsstrafrechtliche
Laie das Ineinandergreifen von Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht sowie
die jeweiligen Grenzwerte im Detail kennt. Aber das muss auch gar nicht
sein. Vielmehr genügt es, wenn er weiß, dass er nach nicht nur ganz gering-
fügigem Alkoholkonsum nicht fahren darf, und das vermitteln ihm vielfälti-
ge Quellen. 16 Dementsprechend erweisen Untersuchungen eine beachtliche
Internalisierung vor allem des bußgeldrechtlichen BAK-Grenzwerts in der
Bevölkerung, 17 wohingegen die strafrechtlichen Beweisgrenzwerte nur einer
verschwindenden Minderheit von "Insidern" bekannt sein dürften. 18 Die
Gefahr eines "Herantrinkens" an eine Blutalkoholkonzentration von 1,1 %0
(Kraftfahrer) oder 1,6%0 (Radfahrer) erscheint damit empirisch nicht be-

14 Zusammenfassend LK-König(Fn. 2), § 316 Rn. 15 ff


15 Exemplarisch Nehm (Fn. 7), 1.
16 Vgl. Janiszewski DAR 1988, 253, 255.
17 Bei einer Erhebung von BarthlGasparlPeters (BA 1985, 109, 110f) waren 90,3% der
Befragten der Meinung, dass spätestens ab 0,8%0 ein atntliches Einschreiten möglich sei,
immerhin 47,6% hielten eine Verfolgung bereits bei Werten darunter für möglich, 18,3% ab
0,3%0. KrügerlVollrathlSchöch (in: Fahren unter Alkohol in Deutschland, 1998, S.59, 79)
haben eine Kenntnis der bußgeldrechtlichen Promille-Grenze bei über 82,9% ("Nüchternfah-
rer") bzw. knapp 86,9% (Alkoholfahrer) ermittelt. Für eine Verdeutlichung des Werts von
0,3%0 spricht sich Schöch aus (in: Kröber/Dölling/Leygraf/Sass [Hrsg.], Handbuch der Forensi-
schen Psychiatrie, Bd. 4, 2009, S. 578, 595).
18 Vgl. BarthlGasparlPeters (Fn. 17), 109, 110 f: Der damals gültige Beweisgrenzwert von
1,3%0 war lediglich mit 0,9% vertreten.
590 Peter König

gründbar. Dem durch Normen motivierbaren Kraftfahrer drohen, wie er


weiß, weit unterhalb dieser Grenze in Gestalt von hohen Geldbußen sowie
Fahrverbot sehr spürbare Sanktionen. Und der jenseits von 1,1 %0 nicht
selten anzutreffende "fahrende Trinker" kann durch Sanktionen jedweder
Art kaum beeindruckt werden. Im Übrigen steht der Vorwurf der Übersicht-
lichkeit bei näherem Hinsehen auch ansonsten auf tönernen Füßen: Über-
zieht man nämlich nicht den gesamten "Promille-Bereich" mit einem oder
zwei sehr niedrig angesetzten Grenzwerten, so fällt ein durch Einführung
von Promillewerten reformiertes Strafrecht gewiss nicht übersichtlicher aus
als das geltende (dazu unten 111).

2. Fahrunsicherheit und Beweisgrenzwerte


Schwieriger liegt es mit der Rüge mangelnder Absicherung der durch den
Bundesgerichtshof geschaffenen Beweisregel "absoluter" Fahrunsicherheit.
Sie ruht auf einem zentralen Ergebnis der - sowohl in die Breite als auch in
die Tiefe gehenden - psychologischen, statistischen und experimentellen
Alkoholforschung, wonach jeder Mensch ab einer bestimmten Alkoholisie-
rung derart starke Leistungsminderungen und Persönlichkeitsveränderungen
aufweist, dass er das Fahrzeug nur noch gefährlich führen kann. 19 Der Beg-
riff der "absoluten" (bzw. "unbedingten") Fahrunsicherheit knüpft hieran
an. Er beschreibt aber nicht eine medizinisch-naturwissenschaftliche Aussa-
ge, sondern ist das Ergebnis einer juristischen Bewertung der medizinisch-
naturwissenschaftlichen Erkenntnisse. 20 Diese mündet in den allgemeinen,
den Tatrichter bindenden Erfahrungssatz, nach dem, was für die richterliche
Überzeugungsbildung ausreicht,21 die Fahrunsicherheit mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, sofern der jeweilige Alkoholisie-
rungsgrad erreicht wird.
Gegen diese Konstruktion wird sowohl von medizinischer als auch von
juristischer Seite eingewandt, dass das Gutachten des Bundesgesundheits-
amts aus dem Jahr 1966 keine absolute Aussage im Sinne des durch den
Bundesgerichtshof formulierten Erfahrungssatzes, sondern eine Wahr-
scheinlichkeitsaussage getroffen habe, die "nur" auf 99,8790/0 der Fälle
zutreffe. 22 Das hat die Rechtsprechung nach dem zuvor Gesagten aber auch
nicht verkannt. Zudem wurden die Grundaussagen des Gutachtens durch die
Alkoholforschung der nachfolgenden Jahre bestätigt. "Echte" Fahrversuche,

19 BGHSt 21, 157, 160 f.~ LK-König (Fn. 2), § 316 Rn. 16 ff., 59 sowie mehrfach und mit
zahlreichen Nw.
20 Maatz BA 2002,21,25.
21 BGHSt 21, 156, 161~ Maat= a.a.O.
22 Z.B. Haffke JuS 1972, 448, 449 f.~ SchefflerlHalecker BA 2004, 422~ Arbab-Zadeh NJW
1967, 273, 274~ Nehm (Fn. 7), 1.
Sind die "Trunkenheitsdelikte" reformbedürftig? 591

Untersuchungen mit Fahrsimulatoren und laborexperimentelle Studien, auf


die die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs besonderes Gewicht
legt,23 haben BAK-Werte ab 1,0%0 als absolut unverträgliche Grenze erhär-
tet.24 Die Strafgerichte werden in ihrer Auffassung von der ganz herrschen-
den Lehre unterstützt. 25 Auch das Bundesverfassungsgericht hat keinen
Grund zur Beanstandung gesehen. 26 Bei einem solchen Streitstand ist realis-
tischerweise nicht zu erwarten, dass der Gesetzgeber lediglich in der ge-
nannten Grundlagenkritik einen hinreichenden Anlass sieht, die sehr veräs-
telte und mit allerlei politischen Fallstricken verwobene Problematik
anzugehen.

111. Legislatorisches Problemgeflecht


Dass der Gesetzgeber vor eine außerordentlich schwierige Aufgabe ge-
stellt wäre, wird nicht selten verkannt. Zu sehr verengt sich die Sicht man-
chen Kritikers auf den Komplex des Kraftfahrzeugführens unter Alkohol im
Straßenverkehr und hier auf die unproblematischen Fälle. 27

1. Wegfall des "Fahrunsicherheitskonzepts "?


Indessen ist es kein gangbarer Weg, das "Fahrunsicherheits-Konzept" des
geltenden Rechts kurzerhand durch ein "Grenzwert-Konzept" zu ersetzen.
Auf das Merkmal der Fahrunsicherheit könnte nämlich bereits mit Blick auf
die "anderen berauschenden Mittel,,28 sowie die sonstigen (nicht rauschmit-
telbedingten) "geistigen oder körperlichen Mängel,,29 nicht verzichtet wer-
den. Die Bandbreite der vom "geistigen oder körperlichen Mangel" umfass-
ten Krankheiten und sonstigen Gebrechen verschließt sich dabei schon ihrer
Natur nach einer durch Grenzwerte typisierbaren Eingrenzung. Medizi-
nisch-toxikologisch belastbare Grenzwerte, an die ein Gesetzgeber entspre-

23 BGHSt 30, 251, 253 ff.~ 34, 133, 134 ff.~ 37,89, 94.
24 Z.B. Gerchow BA 1976, 341 ~ Gerlach BA 1972, 239; GilglLiebhardt/SchullerlRiedel BA
1984, 235~ LutzlRahnlTaupp BA 1991,235; LockemannlPüschel BA 1997,241,248 ff.; Krü-
ger (BA 1990, 182, 193 ff.) kommt nach Auswertung einer Vielzahl experimenteller Untersu-
chungen sogar zu dem Ergebnis, dass die Fahrsicherheit bereits ab einer BAK zwischen 0,7
und 0,8%0 allgemein aufgehoben sei; hierzu LK-König (Fn. 2), § 316 Rn. 16c.
25 Nachweise bei LK-König (Fn. 2), § 316 Rn. 59.
26 BVerfG NJW 1990,3140; 1995, 125, 126.
27 Exemplarisch die Arbeit von Riemenschneider (Fn. 6), die sich für einen auf Kraftfahr-
zeuge und den Straßenverkehr beschränkten ,,1,O%o-Tatbestand" ausspricht, die Folgeprobleme
aber weitgehend ausblendet; gegen sie König NZV 2001, 169.
28 § 315a Abs. 1 Nr. 1, 1. Alt., § 315c Abs. 1 Nr. la, § 316 Abs. 1 StGB.
29 § 315a Abs. 1 Nr. 1, 2. Alt., § 315c Abs. 1 Nr. 1b StGB.
592 Peter König

chende Gefahrdungstatbestände knüpfen könnte, sind aber auch für die


unüberschaubare Masse der illegalen Drogen und fahrleistungsrelevanten
Medikamente nicht vorhanden. 30 Hiergegen stehen die "Vielfalt der Wirk-
stoffe und ihrer Kombinationen sowie [die] individuellen Unterschiede bei
den Dosiswirkungen und den Eliminationszeiten".31 Für Rauschdrogen
kommt hinzu, dass eine Normierung von Grenzwerten (z.B. für Heroin oder
Kokain) schädliche Signale auf die Rechtsgemeinschaft auszusenden geeig-
net wäre. 32 In diesem Dilemma hat sich das auf die Fahrunsicherheit abstel-
lende Konzept des geltenden Strafrechts gerade bewährt. 33 Wäre der Ge-
setzgeber des Jahres 1964 dem Vorschlag des E 1962 gefolgt, so hätten für
die folgenlose Drogenfahrt keine strafrechtlichen Handhaben bereit gestan-
den. Bei allen mit der Feststellung der ("relativen") Fahrunsicherheit ver-
bundenen Problemen (dazu noch unten IV) erscheint die Aussage berech-
tigt, dass das Merkmal neu "erfunden" werden müsste, wenn wir es nicht
schon hätten. 34

2.... nur bei Kraftfahrzeugführen unter Alkohol im Straßenverkehr?


Aber auch wenn man das Fahrunsicherheits-Konzept nach dem Vorbild
des § 24a Abs. 1 StVG (bzw. des § 345 E 1962) nur für das Kraftfahrzeug-
führen unter Alkohol im Straßenverkehr durch ein Grenzwertmodell ersetzt,
ist einiges zu bedenken. Das Ausmaß des hierdurch verursachten Problem-
geflechts hängt dabei davon ab, wo man die Grenzwerte setzt. Insoweit
divergieren die Vorschläge. Häufig wird ein Wert von 0,8%0 propagiert; es
werden jedoch auch 0,5%0 oder - mit dem Ziel einer Perpetuierung der
geltenden Rechtslage - 1,1 %0 genannt.35 Indessen wird oftmals nicht hinrei-
chend bedacht, dass bei einem (partiellen) Wegfall des Merkmals der Fahr-
unsicherheit die Fälle der in der Regel bei 0,3%0 beginnenden "relativen
Fahrunsicherheit" nicht mehr strafrechtlich geahndet werden könnten, es sei
denn, man würde die Grenze (radikal und nicht vertretbar) eben bei 0,3%0
(faktisch wegen des erforderlichen Sicherheitszuschlags: 0,2%0) festsetzen.
Selbst dann fielen jedoch die Konstellationen durch das strafrechtliche Ras-
ter, in denen die Rechtsprechung heute anhand beweiskräftiger Indizien zur
Annahme von Fahrunsicherheit gelangt, ohne dass eine bestimmte Blutal-
koholkonzentration festgestellt werden kann. 36 Der Gewinn an Rechtssi-

30 LK-König (Fn. 2), § 315c Rn. 60, § 316 Rn. 136, 148 f, 175.
31 Schöch DAR 1996,452,455.
32 S. auch Bundesregierung in: BT-Drs. 16/2264, S. 3 zu Grenzwerten in § 24a StVG.
33 LK-König (Fn. 2), § 316 Rn. 130 ff., 144 ff., 167 ff.
34 S. auch LK-König (Fn. 2), § 316 Rn. 15d.
35 Nachweise bei LK-König (Fn. 2), § 316 Rn. 15.
36 Zuletzt LG Berlin BA 2008, 266~ zahlreiche Nw bei LK-König (Fn. 2), § 316 Rn. 96 f
Sind die "Trunkenheitsdelikte" reformbedürftig? 593

cherheit durch Normierung eines strafrechtlichen Grenzwerts unter Wegfall


des Merkmals der Fahrunsicherheit wäre deshalb mit einem je nach Höhe
des Grenzwerts größeren oder kleineren Spektrum strafwürdiger, jedoch
nicht mehr ahndbarer Taten erkauft.
Auf der anderen Seite wäre die Strafbarkeit im Anwendungsbereich eines
0,8%0- oder gar 0,5%0-Tatbestands beträchtlich ausgeweitet. Wegen der
quantitativen Bedeutung des Phänomens würde die Maßnahme sogar eine
grundsätzliche kriminalpolitische Weichenstellung im Sinne einer Rückkehr
zur "Vielstraferei" im Verkehrsstrafrecht bedeuten. Zumindest bei einer
Promillegrenze von 0,5%0 (faktisch - Sicherheitszuschlag - 0,4%0) liegen
Bedenken unter dem Blickwinkel des Übermaßverbots staatlichen Sanktio-
nierens auf der Hand. Das gilt verstärkt, wenn an eine Verurteilung regel-
mäßig die Entziehung der Fahrerlaubnis angeknüpft würde.
Zu klären wäre schließlich, was mit dem Führen anderer Fahrzeuge im
Straßenverkehr und mit dem Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr zu geschehen
hätte. Darauf soll sogleich noch eingegangen werden.

3. Andere Lösungsmöglichkeiten
Um wenigstens einen Teil der vorgenannten Friktionen zu vermeiden,
könnte man neben den unveränderten "Trunkenheitsdelikten" einen eigen-
ständigen "Promille-Tatbestand" einfuhren. 37 Dies würde allerdings syste-
matische und andere Folgeproblem nach sich ziehen. 38 Eine Alternative
wäre es, dem ansonsten beibehaltenen Fahrunsicherheits-Konzept innerhalb
einer Beweisregel eine gesetzliche Fiktion an die Seite zu stellen, wonach
ab einer bestimmten BAK zwingend von Fahrunsicherheit auszugehen ist.
Dies liegt nahe an der derzeitigen Rechtssituation, sofern die anerkannten
Beweisgrenzwerte übernommen würden. Der Gesetzgeber würde die bis-
lang durch die Rechtsprechung ausgeformten Grundsätze legalisieren und
damit der unter 11 2 referierten Kritik den Wind aus den Segeln nehmen. Ein
gewisses Vorbild hätte eine solche Regelung in § 24a Abs. 2 S. 2 StVG, der,
nach freilich nicht unumstrittener Auffassung, für das Merkmal der Wir-
kung der in § 24a Abs. 2 S. 1 StVG mit Anlage bezeichneten Rauschmittel
ebenfalls eine Beweisregel festschreibt. 39
Ein mögliches Modell ist unlängst vorgestellt worden. 40 In einem neuen
§ 315e soll bestimmt werden, dass zum sicheren Führen eines Kraftfahr-

37 Z.B. "Nach ... wird auch bestraft, wer ... "; so der Vorschlag von Maat= BA 2001,21,30;
2008, Supplement S. 31, 32.
38 LK-König (Fn. 2), § 316 Rn. 15b; Laschewski NZV 2008, 1,6.
39 Dazu König in: HentschellKönig/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl. 2009, § 24a
StVG Rn. 21; im Anschluss an Stein NZV 1999,441 und Geppert DAR 2008,125.
40 Laschewski (Fn. 38), 6 f.
594 Peter König

zeugs im Straßenverkehr im Sinne von § 315c Abs. 1 Nr. 1a und § 316


StGB insbesondere nicht in der Lage ist, wer mindestens eine Blutalkohol-
konzentration von 1,1 %0 oder einen Atemwert von 0,55 mg/l aufweist oder
eine Alkoholmenge im Körper hat, die zu einer solchen Atem- oder Blutal-
koholkonzentration ruhrt.
Ein gewisses Bedenken könnte deswegen geltend gemacht werden, weil
etwaige künftige Absenkungen des Grenzwerts aufgrund neuer Forschungs-
erkenntnisse durch den Gesetzgeber vorzunehmen wären, wobei das rur
Rechtsprechungsänderungen nach h.M. nicht geltende Rückwirkungsverbot
voll durchschlagen würde. 41 Es wird allerdings nicht wenige geben, die
genau dies als rechtsstaatlichen Gewinn begrüßen würden. Außerdem dürfte
- bleibt der Vorschlag auf die "Vertatbestandlichung" der "absoluten" Fahr-
unsicherheit beschränkt - nach den Forschungsergebnissen kaum mehr
Spielraum rur weitere Absenkungen bestehen. Lässt man die durch den
Vorschlag einbezogene Verankerung von Atemwerten zunächst beiseite,42
begrenzt man ihn also auf die Legalisierung der an der Blutalkoholkonzent-
ration ausgerichteten "absoluten" Fahrunsicherheit, so könnte man deshalb
beinahe versucht sein, ihn als kriminalpolitischen "Selbstläufer" zu dekla-
rieren. Aber so einfach ist es nicht. Der Primat der Rechtsprechung bei der
Anerkennung von Grenzwerten wäre durch den Primat des Gesetzgebers
abgelöst. Außerhalb von gesetzlich anerkannten Grenzwerten würde es
(trotz des Wortes "insbesondere" im genannten Vorschlag) keine Grenzwer-
te "absoluter" Fahrunsicherheit mehr geben.
So hätte eine Partikularregelung rur das Kraftfahrzeugruhren zunächst
Ausstrahlungswirkung auf das Führen anderer Fahrzeuge im Straßenver-
kehr. Der Gesetzgeber würde zu erkennen geben, dass er den Stand der
Forschung insoweit nicht als valide ansieht. Folglich wäre es mit dem "Rad-
fahrergrenzwert" von 1,6%0 wohl vorbei. Dem könnte mit der Normierung
eines Wertes von 1,6%0 für das Führen von Fahrzeugen relativ leicht begeg-
net werden. Dass dann etwa auch den Führer eines Pferdefuhrwerks ab einer
BAK von 1,6%0 die Härte des Strafrechts treffen würde,43 läge wohl inner-
halb des Beurteilungsspielraums des Gesetzgebers und wäre zu verschmer-
zen, zumal das Sanktionenrecht schuldangemessene Lösungen im Einzelfall
ermöglichen würde. Die Alternative wäre ein "echter" Radfahrergrenzwert.
Aber dann würden Konstellationen herausfallen, die - wie z.B. das Fortbe-

41 Die Problematik hat bei der zweimaligen Herabsetzung des Grenzwerts absoluter Fahr-
unsicherheit durch den BGH eine beachtliche Rolle gespielt; hierzu LK-König (Fn. 2), § 316
Rn. 64.
42 Dazu noch unten IV.
43 AG Köln NJW 1989, 121 sieht keinen Grenzwert "absoluter" Fahrunsicherheit.
Sind die "Trunkenheitsdelikte" reformbedürftig? 595

wegen eines Mofas mit Pedalkraft - in ihrer Struktur dem Radfahren gleich-
stehen. 44
Diffiziler wäre die Lage bei den sonstigen Verkehrsarten. So existiert für
den Schiffsverkehr eine Rechtsprechung, die den Grenzwert von 1, 1%0,
gestützt durch medizinisch-naturwissenschaftliche Erkenntnisse, zumindest
auf "Schiffe von Gewicht" überträgt. 45 Für den Bahnverkehr wird die Frage
in der Judikatur zumindest diskutiert. 46 Für den Luftverkehr gibt es zwar
soweit ersichtlich keine strafgerichtliche Rechtsprechung. Unter Bezug-
nahme auf Erkenntnisse der internationalen Flugmedizin wird aber die Auf-
fassung vertreten, dass absolute Flugunsicherheit bei einer Blutalkoholkon-
zentration von 0,5%0 beginne. 47 Andere betonen, dass die hohen Anforde-
rungen des Luftverkehrs eine Differenzierung zwischen absoluter und
relativer Flugunsicherheit wenig sinnvoll erscheinen ließen, und halten
deshalb "absolute" Fahrunsicherheit bei jeglichem Alkoholkonsum für
gegeben. 48 De lege lata erscheint dies schwerlich haltbar. 49 De lege ferenda
sprechen hingegen gute Gründe darur, dass fur derart höchstgefährliche
Bewegungsarten im Verkehr niedrigere Promillegrenzen gelten müssen als
rur den gewöhnlichen Kraftfahrer. Einzubeziehen sind aber auch z.B. das
Führen eines leE oder Gefahrguttransporte auf See,50 Schiene und Straße.
Auf der anderen Seite stehen Minima wie eben das Radfahren, aber auch
etwa das Führen eines Paddelboots oder eines elektrifizierten Ausflugsboots
in Trunkenheit.
Der Gesetzgeber könnte sich dieser Problematik nicht entziehen. Zu er-
warten wäre ein sehr schwieriges Gesetzgebungsverfahren, das letztlich zu
differenzierten Lösungen zwingen würde. Am Ende eines quälenden Ent-
scheidungsprozesses würde dann vielleicht genau die "verwirrende Vielfalt
von Werten" für die verschiedenen Bewegungsarten im Verkehr stehen, die
die jüngere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aus guten Gründen zu
vermeiden trachtet. 51

44 Zu weiteren Fällen LK-König (Fn. 2), § 316 Rn. 70 m.w.N.


45 OLG Brandenburg NStZ-RR 2002, 222~ AG Rostock NZV 1996, 124~ weitere Nachweise
bei LK-König (Fn. 2), § 315a Rn. 17.
46 LK-König (Fn. 2), § 315a Rn. 15.
47 LG Kassel v. 27.1.2004 -7 0 1546/01~juris~ SchmidNZV 1988, 125, 128.
48 Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben StGB, 27. Autl. 1996, § 315a Rn. 3.
49LK-König(Fn. 2), § 315aRn. 19.
50 Zur Havarie der ENA 2 am 25.6.2004, bei der 960 Tonnen Schwefelsäure in die EIbe aus-
gelaufen sind, und zur Kollision des Frachters "KAREN DANIELSEN" mit der Brücke über
den Großen Belt am 3.3.2005 Escherich BA 2006, 207, 208~ Spöntjes VGT 2006,247.
51 BGHSt 22,352,359.
596 Peter König

IV. Neue Impulse


Wie schon angesprochen ist bei einer derartigen Gemengelage ein Tätig-
werden des Gesetzgebers nur zu erwarten, wenn anderweitige Impulse da-
nach drängen. Einen solchen Impuls stellt im Prinzip das Anliegen dar, die
"beweissichere" Atemalkoholanalyse stärker für das Strafrecht fruchtbar zu
machen. Dementsprechend stehen die unter II!. 3 referierten Vorschläge vor
diesem Hintergrund. 52 Ohne die komplexe Thematik hier vertiefen zu kön-
nen, scheint mir viel für die Verankerung von Atemwerten im Strafrecht zu
sprechen. 53 Als Nebeneffekt könnte hierdurch dem unsäglichen Streit um
die Verletzung des Richtervorbehalts nach § 81 a Abs. 3 StPO bei der (poli-
zeilich angeordneten) Blutentnahme und daraus resultierende Beweisver-
wertungsverbote 54 zu einem guten Teil die Grundlage entzogen werden.
Jedoch haben sich die justitielle Praxis und ihr folgend die lustizminister-
konferenz dagegen ausgesprochen, die (absolute) Fahrunsicherheit an das
Erreichen bestimmter Atemwerte zu knüpfen. 55 Der 47. Verkehrsgerichtstag
2009 hat der Maßnahme gleichfalls eine eindeutige Absage erteilt. 56 Das
Anliegen dürfte deshalb kriminalpolitisch gesehen für die nächste Zeit so
gut wie "tot" sein und scheidet damit als "Büttel" rur die Bereinigung der
Grenzwertproblematik aus.
Der zweite "Strang" in Richtung auf grundlegende Reformen könnte viel-
leicht die Drogenproblematik sein. Jedoch ist es aus den unter I genannten
Gründen aussichtslos, wenigstens für die epidemiologisch am meisten ver-
breiteten Drogen in überschaubarer Zukunft zu validen Grenzwerten zu
gelangen. 57 Allerdings wäre es eine Aufgabe der Rechtsprechung, dem
Phänomen im Rahmen der "relativen" Fahrunsicherheit besser Rechnung zu
tragen, als dies bislang der Fall ist. Mustert man die einschlägigen Judikate
durch, so kommt nicht nur gelegentlich Unverständnis auf, wie hoch die
Messlatte hier teilweise gehängt wird. Beispielsweise sollten Sehstörungen
in Verbindung mit "sehr schläfrigem" Verhalten, zögerlichen Reaktionen
und der Äußerung von Selbstmordabsichten, Stimmungsschwankungen
"von Minute zu Minute zwischen aggressiv, aufgedreht lustig und weiner-
lich depressiv" (4,4 ng/ml THC, Morphin Spur, Codein 0,034 mg/I, Ben-
zoylecgonin 0,012 mg/I, Methylecgonin 0,0009 mg/I) für die Annahme von

52 Auch hier steckt der Teufel im Übrigen im Detail~ so hätte eine auf das Kraftfahrzeugfüh-
ren im Straßenverkehr beschränkte Beweisregel den Effekt, dass beim Kraftfahrer die Atem-
probe ausreichen würde, wohingegen dem Radfahrer Blut entnommen werden müsste.
53 Eingehend LK-König(Fn. 2), § 316 Rn. 15c, 44 ff.
54 Vgl. Meyer-Goßner StPO, 52. Aufl. 2009, § 81a Rn. 25b.
55 BA 2008, 251~ auch abrufbar über ww\v.lnj.niedersachsen.de.
56 Vgl. NZV 2009,126
57 Zum CIF-Wert (Cannabis Injluence Factor) bei Cannabis und zu weiteren Klassifizie-
rungsversuchen LK-König (Fn. 2), § 316 Rn. 148a.
Sind die "Trunkenheitsdelikte" reformbedürftig? 597

Fahrunsicherheit hinreichen.58 Entsprechendes scheint mir zu gelten für das


"außergewöhnlich fehlerhafte und risikoreiche Fahrverhalten" eines heroin-
abhängigen Kraftfahrers, der "zunehmend unter körperlichem Entzug" steht
und "sein Vorhaben, sich möglichst schnell wieder Heroin zuzuführen,
gefährdet" sieht, "sich aber auf Grund des bestehenden Suchtdrucks nicht
aufhalten lassen" will. 59

v. Schieflagen
Damit ist eine Schieflage angesprochen, die das Verkehrsstraf- und -ord-
nungswidrigkeitenrecht 60 durchzieht: Das Fahrzeugführen unter illegalen
Drogen ist gegenüber dem Fahrzeugführen unter Alkohol privilegiert. Im
Bereich der §§ 315c, 316 StGB profitiert der "Drogenfahrer" vom Defizit
an Grenzwerten und von einer teils sehr restriktiven Rechtsprechung (IV).
Der vom Gesetzgeber intendierte "Nullwert" im Rahmen des § 24a Abs. 2
StVG ist durch eine Kammerentscheidung des BVerfG aufgeweicht,61
Ahndbarkeit ist danach in der Regel nur noch gegeben, wenn ein "analyti-
scher" Grenzwert erreicht wird, der nach den Festlegungen der Grenzwert-
kommission z.B. für THC bei 1 ng/ml liegt,62 Dies tritt in deutliche Span-
nungslage zu medizinisch-toxikologischen Erkenntnissen, nach denen
gerade im Bereich solch niedriger Wirkstoffkonzentrationen nicht nur ver-
einzelt deutliche Leistungsbeeinträchtigungen auftreten. 63 Hinzu kommt
eine mittlerweile schon als herrschend zu bezeichnende Rechtsprechung der
Oberlandesgerichte, derzufolge es bei (behauptetem) länger zurückliegen-
dem Drogenkonsum vor Antritt der Fahrt - anders als bei Restalkohol 64 - an
der Erkennbarkeit der Drogenwirkung und damit an Fahrlässigkeit soll
fehlen können. 65 Und der Gesetzgeber bedroht - die angesprochene, für
repressive Sanktionen zumindest abstrakte Gefahren einfordernde Kammer-
entscheidung des BVerfG vor Augen - in § 24c StVG in Bezug auf Alkohol

58 A.M. OLG Zweibrücken DAR 2003, 431 ~ weitere Nw. zu ähnlichen Entscheidungen bei
LK-König a.a.O., § 316 Rn. 164a.
59 A.M. aber BGH NZV 2008, 528 m. Bspr. König NZV 2008, 492.
60 Anders im Fahreignungsrecht, wo eine Schlechterbehandlung von Drogenkonsumenten
wegen einer im Hinblick auf die Defizite des Repressionsrechts verfolgten "Kompensations-
strategie" der Fahrerlaubnisbehörden beklagt wird. Vgl. Kreuzer NZV 1999, 353~ Schöch in:
Berghaus/Krüger, Cannabis im Straßenverkehr, 1998, S. 217.
61 BVerfG NJW 2005,349.
62 Dazu König (Fn. 39), § 24a StVG Rn. 21a, 21b.
63 Drasch/v. Meyer/Roider/Staack/Paul/Eisenmenger BA 2006, 441, 448.
64 Abw. allerdings OLG Hamm BA 2002,123; 2009, 47, 413.
65 OLG Hamm NJW 2005, 3298; OLG Saarbrücken NJW 2007, 1373; OLG Celle NZV
2009,89; hiergegen König NStZ 2009,425.
598 Peter König

eine Palette von Handlungen mit Geldbuße, denen jegliche (abstrakte) Ge-
fährlichkeit abzusprechen ist,66 lässt aber den "Drogenfahrer" außen vor. So
begeht der Fahranfänger eine Ordnungswidrigkeit, der während der Fahrt
einen Schluck eines alkoholhaltigen Getränks aufnimmt, wohingegen der
während der Fahrt einen "Haschisch-Cookie" konsumierende Fahranfänger
sanktionslos ausgeht, sofern zu diesem Zeitpunkt noch kein Wirkstoftbe-
fund vorhanden ist. 67 All dies erscheint wenig überzeugend, wobei dafür
aber nur teilweise die Gesetzeslage verantwortlich ist.

VI. Fazit
Trotz einiger Verwerfungen ist der Verfasser nach alledem geneigt, die
im Titel dieses Beitrags gestellte Frage zu verneinen. Das geltende Recht in
seiner Ausformung durch den Bundesgerichtshof ist im Wesentlichen ge-
eignet, auch neu auftretende Phänomene sachgerecht zu erfassen. Dass
- wie stets - Perfektionierungen möglich sind, bleibt davon unberührt. Bei
der Rechtsanwendung bestehen indessen Spielräume, die durch die Praxis
ausgetUllt werden sollten.
Der Verfasser meint, sich mit diesem Fazit (wenngleich nicht mit allen
der vorausgegangenen Wertungen) auf einer Linie mit dem verehrten Jubi-
lar zu befinden, was für einen Festschriftenbeitrag geradezu ideal erscheint.
Er wünscht ihm weiterhin volle Tatkraft und die Gesundheit, die er tUr seine
ungebrochenen Aktivitäten in Forschung und Lehre braucht. Angesichts der
geradezu unglaublichen Vitalität, die der Jubilar ausstrahlt, hegt er keine
Sorge, dass dieser Wunsch nicht in ErtUllung gehen könnte.

66 Die soweit ersichtlich erste veröffentlichte Entscheidung zu § 24c StVG könnte darauf
hindeuten, dass die Praxis dem Gesetzgeber nicht uneingeschränkt folgt: AG Herne BA 2009,
433 verneint, sachverständig beraten, bei einer AAK von 0,13 mg/I die "Wirkung", obwohl der
Gesetzgeber diese bereits ab 0,1 mg/I als gegeben ansieht; vgl. dazu König (Fn. 39), § 24c
StVG Rn. 11.
67 Vgl. König (Fn. 2), § 24c StVG Rn. 5.
Der Arzt als Unterlassungstäter

GUNNAR DUTTGE

I.
Das ärztliche Selbstverständnis bezeichnet die Erhaltung und Wiederher-
stellung der Gesundheit der anvertrauten Patienten als "oberstes Gebot",
dem sich mit Blick auf die "edle Überlieferung" eine jede Ärztin und ein
jeder Arzt "mit allen Kräften" zu widmen habe (GelÖbnis).l Indem sie sich
"mit Gewissenhaftigkeit und Würde" ihrer Aufgabe stellen, "das Leben zu
erhalten, die Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen, Leiden zu
lindern, Sterbenden Beistand zu leisten und an der Erhaltung der natürlichen
Lebensgrundlagen im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Gesundheit der
Menschen mitzuwirken", dienen Ärztinnen und Ärzte über die Gesundheit
der einzelnen Menschen hinaus zugleich "der Bevölkerung" im Ganzen (§ 1
Abs. 1 und 2 MBO).2 Diese im gedanklichen Ansatz schlechthin umfassen-
de PflichtensteIlung legitimiert und prägt nicht minder auch alle Anstren-
gungen im Bereich der medizinischen Forschung, insbesondere jener, die
sich der Entwicklung besserer Arzneimittel verschrieben hat (vgl. § 40
Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG: " ... voraussichtliche Bedeutung des Arzneimittels
für die Heilkunde"; Deklaration des Weltärztebundes von Helsinki 2008).3
Noch heute - oder gerade heute wieder verstärkt in kritischer Absicht ge-
genüber den aktuellen Problemlagen einer (zu?) weit reichenden Technisie-
rung, Ökonomisierung4 und Bürokratisierung der Medizin - wird die "ärzt-
liche Grundhaltung" beschrieben als eine "unvergleichliche Einmaligkeit",
in der "das notleidend-ungeschützte Antlitz des Patienten und dessen spre-

1 Die Musterberufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte hat ihrer eigenen Präam-
bel eine modernisierte Fassung des altehrwürdigen "Hippokratischen Eides" vorangestellt,
http://www.bundesaerztekammer.del.
2 Siehe Fn 1.
3 Zu den aktuellen Rechtsproblemen klinischer Arzneimittelstudien näher Duttge in:
Deutsch/Duttge/Schreiber/Spickhoffffaupitz (Hrsg.), Die Implementierung der GeP-Richtlinie
und ihre Ausstrahlungswirkungen, 2010 [im Erscheinen].
4 Zuletzt hierzu: Duttge/Dochow/Waschkewit=/Weber (Hrsg.), Recht am Krankenbett - Zur
Kommerzialisierung des Gesundheitswesens, Göttinger Schriften zum Medizinrecht, Bd. 7,
2009.
600 Gunnar Duttge

chende Augen mir als Arzt befehlen, mich ihm auszusetzen und in seinen
Dienst zu treten, ihn zu hören in Gehorsam ohne Hörigkeit", und dies alles
in Befolgung eines "kategorischen Imperativs der Solidarität".5 In der Anth-
ropologie des Paracelsus bildete bekanntlich die christliche Nächstenliebe
den Fixpunkt ärztlicher Verantwortung, gleichsam als "höchste Tugend des
Arztes".6
Bei solcher Prägung der ärztlichen Rolle im Sinne einer "institutionali-
sierten Hilfeleistungsperson"7 kann es kaum überraschen, dass die Sorge
vor einer strafrechtlichen Inanspruchnahme wegen mangelnder oder man-
gelhafter Fürsorge - sei es unter Anwendung des "Samariter-Paragraphen"
aus § 323c StGB 8 oder gar (bei Eintritt eines tatbestandsmäßigen "Erfol-
ges") gleich einem Begehungstäter (§ 13 StGB)9 - die Debatten über medi-
zinrechtliche Grenzfragen und nicht selten wohl auch die medizinische
Praxis beherrscht. So fühlen sich behandelnde Ärzte insbesondere durch die
prognostischen wie wertbezogenen ("Nutzen" versus "Schaden") Unsicher-
heiten in Situationen der letzten Lebensphase offenbar nach wie vor dazu
gedrängt, die eigene Verantwortung zur Sicherstellung einer angemessen
dosierten (und damit ggf. auch begrenzten) Therapie zu verschleiern 10 oder
auf die Patienten und ihre Angehörigen abzuwälzen 11 - sofern deren Votum
nicht wiederum mit Blick auf "Lebenserhaltung" und "Fürsorge" zur unver-
bindlichen Meinungskundgabe 12 herabgestuft werden. Der Impetus der

5 Dörner Medizin als Menschendienst statt als Marktdienstleistung, 2005, S. 9 f.; siehe zu-
letzt auch Eibach/Ewig/Zwirner, Medizin, Ökonomie und der kranke Mensch, 2009.
6 H. Fischer in: ders., Arzt und Humanismus, 1962, S. 200, unter Verweis auf Paracelsus,
Sieben Defensiones. Verantwortung über etliche Verunglimpfungen seiner Mißgönner,
1537/38.
7 Kleiber Anästh. Intensivther. Notfallmed 16 (1981), 350.
8 Geppert Jura 2005, 39, 40 unter Verweis auf Luk. 10, Verse 30 bis 37; siehe bereits Kreu-
=er NJW 1967,278,281: "Liebes-Paragraph".
9 Diese an sich höchst bedeutsame Unterscheidung spielt im Kontext ärztlichen Handeins
wegen der mit Behandlungsübernahme stets begründeten Garantenstellung hinsichtlich der
Reichweite der Strafbarkeit (anders als natürlich hinsichtlich der Strafzumessung) jedenfalls
dann keine Rolle, wenn § 323c StGB nicht als allgemeiner Auffangtatbestand jenseits des
ärztlichen Handlungsspielraums missbraucht wird. Deshalb differenziert der weitere Text nicht
dezidiert zwischen echtem und unechtem Unterlassungsdelikt und konzentrieren sich die
weiteren Überlegungen auf den Tatbestand des § 323c StGB.
10 Indem bewusst getroffene Entscheidungen zur Therapiebegrenzung "sicherheitshalber"
nicht offen gelegt, mit dem Pflegeteam nicht kommuniziert und schon gar nicht in der Kran-
kenakte vermerkt und begründet werden.
11 Indem auf "klare Anweisungen" in einer Patientenverfügung gehofft und zugleich der
"Konsens" mit den Angehörigen gesucht wird - "schon um sich juristischen Ärger zu erspa-
ren" (auch sog. "präventive Konfliktvermeidung").
12 Siehe nur die kryptische Formulierung der Empfehlungen von Bundesärztekammer und
ihrer Zentralen Ethikkommission zum Umgang mit Patientenverfügungen in der ärztlichen
Der Arzt als Unterlassungstäter 601

"Gesamtverantwortlichkeit" für das "Schicksal" ihrer Patienten bringt Ärzte


darüber hinaus ersichtlich in Versuchung, sich im Zweifel - selbst jenseits
einer unmittelbar lebensrettenden Notwendigkeit 13 - für hochriskante Ein-
griffe zu entscheiden wie etwa in den aufsehenerregenden Fällen einer (ver-
suchten) Trennung von siamesischen Zwillingen,14 sofern die Alternative
resignierende Untätigkeit (und Ablehnung des elterlichen Hilfeersuchens)
verheißt. 15 Der Gedanke einer spezifisch ärztlichen "Solidaritäts- und
Einstandspflicht" soll zudem - unter ergänzender Inanspruchnahme der
Notstandsregelung aus § 34 StGB - auch die Vornahme einer "dringend
notwendigen ... Transplantation" selbst entgegen den spezialgesetzlich
ausformulierten Zulässigkeits- und Verfahrensregeln des TPG rechtferti-
gen 16 sowie klinische Arzneimittelprüfungen auch dann, wenn diese für die
erkrankten Probanden ganz erhebliche Risiken mit sich bringen,17 bei deren
zwangsweisen Unterbringung aufgrund der damit zweifelhaften "Freiwil-
ligkeit" für verboten erklärt (§ 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 AMG)18 oder gar nicht
für diese selbst, sondern allenfalls für andere vorteilhaft sind (so § 41 Abs. 2
Nr. 2a AMG: sog. "Gruppennutzen" bei Minderjährigen) 19. Die Reihe ein-
schlägiger Beispiele ließe sich noch um einige weitere ergänzen: Erinnert
sei aus aktuellem Anlass nur an die Entwicklung der Pränataldiagnostik zu

Praxis: "Der in einer Patientenverfügung geäußerte Wille des Patienten ist grundsätzlich
verbindlich... GleichwohL .. " (DÄBI 2007, A-891, 895).
13 Insoweit bestehen an der Zulässigkeit des Eingriffs natürlich keine Zweifel.
14 Eingehend R. Merke! in: RoxiniSchroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts,
3. Aufl. 2007, S. 462 ff.
15 Interessante Bemerkung des leitenden Arztes Benjamin Carson im Falle der Trennung
von Lea und Tabea Block, bezogen auf die aussichtslos werdende Situation: "Für einen Mo-
ment habe ich mich gefragt: "Warum, um Himmels willen, machst du so etwas überhaupt?"
(Stern v. 25.11.2004).
16 So ausdrücklich Deutsch/SpickhoffMedizinrecht, 6. Aufl. 2008, Rn. 904.
17 Die Praxis verfährt offenbar nach der Devise: Je gravierender die Erkrankung, umso hö-
here Risiken dürfen auch bei der Anwendung eines noch nicht zugelassenen Wirkstoffs einge-
gangen werden. Bei einer rechtsnormativen, auf die Bedürftigkeit der Individuen abhebenden
Bewertung könnte man aber ebenso gut die gegenteilige Formel aufstellen: Je schwächer und
schutzbedürftiger der Betroffene ist, umso größerer Vorsicht bedarf es.
18 Für eine Durchbrechung des Verbots aus therapeutischen Gründen v. a. Deutsch/Spickhoff
(Fn. 16), Rn. 1322; Fischer Medizinische Versuche am Menschen, 1979, S. 68 ("teleologische
Reduktion"); Stock Der Probandenschutz bei der medizinischen Forschung am Menschen,
1998, S. 64; Wachenhausen Medizinische Versuche und klinische Prüfung an Einwilligungs-
unfähigen, 2001, S. 167.
19 Siehe zur Legitimationsgrundlage die Erwägungen bei R. Merke! in: Brudennüller u.a.
(Hrsg.), Forschung am Menschen - ethische Grenzen medizinischer Machbarkeit, 2005, S. 137
ff., sowie Magnus/R. Merke! in: Boos u.a. (Hrsg.), Nutzen und Schaden aus klinischer For-
schung am Menschen, 2008, S. 109, 118: Die "solidarische Duldungspflicht" lasse sich aus
"zwei fundamentalen rechtlichen Grundsätzen" ableiten, dem strafrechtlichen Notstand sowie
dem Hilfeleistungsgebot aus § 323c StGB.
602 Gunnar Duttge

einer häufig nachdrücklich (nicht ohne Eigeninteresse) empfohlenen Routi-


nemaßnahme 20 oder an die vorherrschende Neigung, Zufallsfunde aus bild-
gebenden Verfahren21 oder aus humangenetischen Untersuchungen (vgl.
jetzt die [hinter-]listige Regelung des § 10 Abs. 3 S. 3 GenDG) den hiervon
Betroffenen auch ungefragt zu offerieren. 22
Stets zeigt sich das gleiche Bild: Im Zweifel wird gehandelt, um folgen-
orientiert selbst die kleine Chance auf eine Verbesserung des Status quo
möglichst offenzuhalten, auch wenn dies mit erheblichen tatsächlichen
und/oder normativen Risiken behaftet ist. Denn gerade die ,juristischen
Risiken" einer evtl. Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung bzw. ein
hieraus abzuleitendes allgemeines "Rechtsprinzip" sollen über die arztethi-
sche Fürsorgepflicht hinaus diese Grundhaltung einer (unbedingten?) "vita
activa"23 nahelegen. Ganz und gar vergessen zu sein scheint dabei aber, dass
sich die (breite) Anwendbarkeit des § 323c StGB auf ärztliches Wirken
keineswegs von selbst versteht: Eberhard Schmidt sprach einst von einer
Strafvorschrift, die ihrer ganzen Struktur nach "mit der Problematik ärztli-
cher Berufspflichten so wenig etwas zu tun [habe] wie mit den Berufs-
pflichten der Polizei, der Feuerwehr oder sonstiger Einrichtungen ... zur
Gefahrenabwehr";24 ein halbes Jahrhundert später liest man etwa beim briti-
schen Medizinethiker lohn Harris den erhellenden Satz: Soweit die dahin-
gehende Pflicht reicht, ist Hilfeleistung ,j edermanns Sache"; d.h. bezogen
auf die Rolle von Angehörigen der ärztlichen Profession: "An ihrer Pflicht
ist nichts besonderes. Ebenso wenig, wie es eine besondere Kategorie von
Personen gibt, deren erste und einzige Pflicht es wäre, uns nicht zu töten, ...
gibt es Personen, die in besonderer Weise dazu verpflichtet wären, Leben zu
retten. "25
Ganz in diesem Sinne begegnet auch im Kontext des § 323c StGB regel-
mäßig der dezidierte Hinweis, dass hierin keine Sonder- oder erweiterte

20 Zu den damit einhergehenden Problemen, die jüngst zur Änderung des Schwanger-
schaftskonfliktgesetzes geführt haben (Gesetz v. 26.8.2009, BGBL I, S. 2990), eingehend
Woopen/Rummer MedR 2009,130 ff.
21 Bezeichnend die Irritation etwa im Beitrag von Kummer DÄBL 2007, A-3186: "In einer
merkwürdigen Verschiebung der Perspektive wird ... die Entdeckung struktureller Zufallsbe-
funde als Risiko bezeichnet und nicht als Chance, Krankheit im Frühstadium zu entdecken und
zu heilen. Wenn der diagnostizierende Arzt und nicht die Krankheit als Risiko eingeschätzt
wird, dann wird Ignoranz zu einem ethischen Prinzip erhoben."
22 Zur Bedeutung des Rechts auf Nichtwissen näher Duttge DuD 2010, 34 ff. mit weiteren
Beispielen.
23 Grundlegend H. Arendt Vita activa oder Vom tätigen Leben, 1960.
24 Eh. Schmidt Die Besuchspflicht des Arztes unter strafrechtlichen Gesichtspunkten, 1949,
S.17.
25 Harris Der Wert des Lebens, 1995 (Originaltitel: The Value of Life. An introduction to
medical ethics, 1985), S. 93 f.
Der Arzt als Unterlassungstäter 603

Berufspflicht für Ärzte statuiert sei, diese vielmehr nur im Rahmen einer
"allgemeinen Nothilfepflicht", d.h. "unter denselben Voraussetzungen wie
für jedermann",26 "unabhängig von ihrer beruflichen Qualifikation"27 zu
Adressaten der Gebotsnorm und damit handlungspflichtig werden können. 28
Eine solche nur allgemein formulierte Leitlinie hat aber offenbar nicht zu
verhindern vermocht, dass die praktische Relevanz dieses "Jedermannsde-
likts" (seiner tatbestandlichen Fassung nach) eben doch im Schwerpunkt
das ärztliche Wirken erfasst. 29 Dass hierfür nicht nur die bei Unglücksfällen
meist höhere "Sachkompetenz von Medizinalpersonen",30 sondern auch
eine im Zweifel extensive Interpretation der einzelnen Tatbestandsmerkma-
le verantwortlich sein könnte, ist schon früh konstatiert worden. 31 Dabei
drängen die jüngeren grundlegenden Untersuchungen zur Legitimität einer
- strafbewehrten Solidaritätspflicht doch gerade umgekehrt zu einer re-
striktiven Auslegung (dazu 11.). Soweit sich hieraus vorpositive Grenzlinien
ergeben oder solche gar innerhalb der geltenden Strafrechtsordnung nach-
weisbar sind, müssen diese sich auch in der Deutung der einzelnen Tatbe-
standsmerkmale manifestieren. Der Brückenschlag zu Konstellationen aus
dem ärztlichen Berufsfeld wird jedoch Defizite der bisherigen Auslegung
des § 323c StGB aufdecken (anschließend 111.) und damit nahtlos anknüp-
fen an die einschlägigen Beiträge des verehrten Jubilars. 32 Ihm gilt an dieser
Stelle mein besonderer Dank für seine vielfältig fördernde" Wegbegleitung"
insbesondere während der gemeinsamen "Münchener Zeit"; ihm seien noch
viele weitere schaffensreiche Jahre vergönnt!

26 RGSt 75, 68, 73.


27 OLG München NJW 2006, 1883, 1884.
28 Statt vieler nur Ulsenheimer Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Autl. 2008, Rn. 247~ ganz in
diesem Sinn nicht zuletzt auch Schöch in: Roxin/Schroth (Fn. 14), S. 109, 114.
29 In diesem Sinne bereits Kreu=er in: Mergen (Hrsg.), Die juristische Problematik in der
Medizin, Bd. 11, 1971, S. 217, 228~ siehe auch Geilen in: Wenzel (Hrsg.), Handbuch des Fach-
anwalts: Medizinrecht, 2. Autl. 2009, Rn. 552~ Hilgendorf, in: Arzt/Weber/Heinrich/Hil-
gendorf, Strafrecht Besonderer Teil, 2. Autl. 2009, § 39 Rn. 9 f: zunehmende Verlagerung auf
"professionelle Retter"~ zur früheren Lage dagegen FreIlesen Die Zumutbarkeit der Hilfeleis-
tung, 1980, S. 114 ff: Straßenverkehr als "Hauptanwendungsgebiet".
30 Geilen (a.a.O.).
31 Dezidiert Kreu=er NJW 1967, 278: "unzulässige Ausweitung des Straftatbestandes in
Arztfällen"~ in der Sache auch schon Eh. Schmidt (Fn. 24).
32 Vor allem: Schöch in: Roxin/Schroth (Fn. 14), S. 109 ff~ ders.!Verrel Alternativ-Entwurf
Sterbebegleitung, GA 2005, 553 ff.~ weiterhin auch ders. in: Wolfslast/Schmidt (Hrsg.), Suizid
und Suizidversuch. Ethische und rechtliche Herausforderung im klinischen Alltag, 2005,
S. 163 ff
604 Gunnar Duttge

11.
Zur grundlegenden Legitimationsfrage wird gerne auf die kantische Mo-
ralphilosophie Bezug genommen und - zutreffend - festgestellt, dass dort
die Sorge um das Wohl (die "Glückseligkeit") anderer von vornherein nur
als Tugend- und nicht als Rechtspflicht in Erscheinung tritt, d.h. als eine
solche, die nicht Gegenstand einer "äußeren", sondern nur einer "inneren
Gesetzgebung" sein kann. 33 Kehrseite dieser Unterteilung ist ein Rechtsbe-
griff, der sich bekanntlich auf die wechselseitige Sicherung "äußerlicher"
Freiheitssphären beschränkt,34 ausschließlich gegen schädigende Übergriffe
gerichtet (neminem laede).35 Die Gründe für eine solchermaßen strikte Be-
grenzung auf ein rechtliches Verletzungsverbot in Abgrenzung zu einem
rein "moralischen Liebesgebot" sind ebenso wie deren Überzeugungskraft
bereits von anderen eingehend beleuchtet worden. 36 Deshalb sei hier
sogleich das Ergebnis erläutert: Sämtliche Argumente - in aller Kürze:
Freiheitsschutz, (mangelnde) Verallgemeinerungsfähigkeit und (zu großer)
"Handlungsspielraum" - haben ihr Gewicht, stehen aber unter zwei zusam-
mentreffenden Bedingungen einer Verrechtlichung von Handlungspflichten
nicht kategorisch entgegen. Erstens müssen diese bei übergreifender Be-
trachtung in einer auf dem Boden rechtlicher Freiheit verfassten Rechtsge-
meinschaft (vgl. Art. 2 ff. GG) die Ausnahme bleiben; zweitens bedürfen
auch bei konkreter Betrachtung Anwendungsbereich und Ausmaß einer mit
Rechtszwang versehenen Solidaritätspflicht einer engen Begrenzung, damit
diese Inpflichtnahme hinreichend verallgemeinerungsfähig, dem Adressaten
zumutbar und durch eine "äußere Gesetzgebung" erzwingbar bleibt. Kühl
hat konkretisierend eine Reihe von Anforderungen aufgezählt, damit eine
solche "Nothilfe" als Rechtspflicht legitimiert werden könne, u.a. die radi-
kale Beschränkung auf "geringe und punktuelle Freiheitsopfer" und auf eine
"legale Pflichterfüllung" (ohne sich das fremde Bedürfnis selbst zueigen
machen zu müssen).37 Dieses leitende Gebot der restriktiven Auslegung

33 Kant Metaphysik der Sitten, 1797, in: Weischedel (Hrsg.), Werke, Bd. 7, 1983, AB 17
(S. 326) und AB 47 (S. 347).
34 Die viel zitierte Formel lautet: "Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter
denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der
Freiheit zusammen vereinigt werden kann" (Kant [Fn. 33], AB 33/34 [So 337]).
35 Neben dem "neminem laede" nennt Kant als weitere "Rechtspflichten" auch noch die
Gebote des "honeste vive" und des "suum cuique tribuere"~ doch der auf die Gesetzgebung in
einer Gesellschaft bezogene, von Kant als "lex iuridia" bezeichnete Rechtsrahmen findet sich
allein im allgemeinen Schädigungsverbot benannt, zutr. Kühl, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann
(Hrsg.), Recht und Moral, 1991, S. 139, 170 m. Fn. 188.
36 Insbesondere: Kahlo Die Handlungsform der Unterlassung als Kriminaldelikt, 2001, vor
allem S. 281 ff.~ Kühl (a.a.O.); Seelmann Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 2007, § 3 Rn 24 ff.
37 Kühl (Fn. 35), S. 175.
Der Arzt als Unterlassungstäter 605

wird, wie Seelmann gezeigt hat, umso mehr Geltung beanspruchen und
noch um das der Subsidiarität38 ergänzt werden müssen, wenn eine strajbe-
wehrte Solidaritätspflicht wie in § 323c StGB normiert in Frage steht. 39
Dem ließe sich allerdings bei unbefangener Lesart entgegenhalten, dass
doch die Orientierung am kantischen Rechtsdenken nicht anders als etwa an
der Lehre seines (insoweit) getreuen Adepten Schopenhauer40 oder etwa
auch an so unterschiedlichen, aber fiir die hier interessierende Frage zu ganz
ähnlichen Resultaten gelangenden Denkern wie Hegel41 oder Mi1l42 keines-
wegs zwingend und im Zeitalter des "nachmetaphysischen Denkens"43 und
der hierdurch motivierten Rechtsbegründung (möglichst) ohne naturrechtli-
chen Überbau nicht einmal mehr gut begründbar sei. Ebenso könne man
auch den - dezidiert auf die Gegebenheiten in einer (post-)modernen, plura-
listischen Gesellschaft proj izierten - Habermasschen Weg für den richtigen
halten und die "benevolence" unter dem Leitgesichtspunkt des "gleichen
Respekts fur alle" als ebenbürtiges Moralprinzip, eben nur als zweite Seite
derselben Sache betrachten,44 fur dessen Geltung das Recht im Sinne einer
Art "Ausfallbürgschaft"45 bis zur Grenze der verallgemeinerbaren Erforder-
nisse 46 ebenfalls zu sorgen habe. Oder es ließe sich - etwa mit Merkel47 -
nicht minder einleuchtend Anschluss suchen an die Überlegungen Rawls,

38 Zur Subsidiarität des Rechtsgüterschutzes durch Strafrecht (auch als ultima-ratio-Prinzip


bezeichnet) näher Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 2 Rn. 97 ff
39 See/mann in: JunglMüller-DietzJNeumann (Fn. 35), S. 295, 302 ff~ ders. JuS 1995, 281,
283.
40 Preisschrift über die Grundlage der Moral, 1840 (in: v. Löhneysen [Hrsg.], Sämtliche
Werke, Bd. 111, 1986), §§ 17, 18 (S. 744 ff): im Ausgangspunkt "scharfe" Grenzziehung
zwischen (negativem) Nichtschädigen ("Tugend der Gerechtigkeit") und (positivem) Helfen
("Tugend der Menschenliebe"), aber: ausnahmsweise auch "Verletzung" durch Unterlassen,
Handlungspflichten aber begrenzt auf "eingegangene Verpflichtungen".
41 Grundlinien über die Philosophie des Rechts, 1820 (in: Werke 7, Suhrkampausgabe,
1989), §§ 38, 242: innergesellschaftliche Solidarität ist Sache der (individuellen) "Moralität".
42 Utilitarianism, 1861 (Hrsg.: A.D. Lindsay, 1936), S. 1 ff, insbes. S. 46.
43 Habermas Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, 1988.; siehe auch Pat-
zig Ethik ohne Metaphysik, 2. Aufl. 1983.
44 Näher Habermas in: EdelsteinlNunner-Winkler (Hrsg.), Zur Bestimmung der Moral,
1986, S. 291, 304 ff
45 Treffend Kühnbach Solidaritätspflichten Unbeteiligter, 2007, S. 67 ff, 86 unter Verweis
auf die grundlegende Verhältnisbestimmung zwischen Recht und Moral bei Habermas in:
Faktizität und Geltung, 1992, S. 137 ff.
46 Die Grenzen der Solidarität bleiben eher im Vagen: Erfasst sein sollen nur diejenigen As-
pekte, "die sich allgemein unter dem Gesichtspunkt der kOlnmunikativen Vergesellschaftung
überhaupt von den konkreten Totalitäten jeweils besonderer Lebensformen - und Lebensge-
schichten abheben lassen" (Habermas in: Nunner-Winkler [Hrsg.], Weibliche Moral, 1991,
S. 225,235).
47 In: Institut für Kriminalwissenschaften (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Straf-
rechts, 1995, S. 171 ff
606 Gunnar Duttge

der uns in vielem doch als moderner - aber eben gemäßigter - Kantianer
erscheint und in seiner "Theorie der Gerechtigkeit" sehr wohl auch eine
"natürliche Pflicht" des Einzelmenschen zur Hilfeleistung gegenüber einem
in Not Geratenen kennt, und zwar ganz unabhängig davon, "ob wir uns nun
dazu verpflichtet haben oder nicht" - "vorausgesetzt, es ist ohne ungebühr-
liche eigene Gefährdung und Schädigung möglich".48 Diesen Erwägungen
entgegenzuhalten, sie beachteten nicht hinreichend die kantische Unter-
scheidung zwischen Rechts- und Tugendpflichten,49 wäre zwar in der Sache
richtig, aber kein durchschlagender Einwand, weil Rawls gar nicht - inso-
weit freilich ganz unkantisch - zwischen Recht und Moral trennt. Zutref-
fend konnte deshalb bereits Kühnbach erwidern: "Der Urzustand gibt nicht
nur die Bedingung des Begriffs des Rechten an, sondern gilt für die Wahl
aller ethischen Grundsätze; die Beschreibung des Urzustands und seiner
Bedingungen folgt weder dem Begriff des Rechten noch dem des Morali-
schen".50
Obgleich Rawls die letztlich zentrale Prioritätsfrage nicht nur in ihrer
prinzipiellen Fassung, sondern auch für den Fall einer konkret-situativen
Kollision solcher "positiven" mit "negativen" Pflichten 51 erklärtermaßen
offen lässt52 und allzu vage nur von einem (generell?) größeren Gewicht der
letztgenannten spricht,53 gibt die angeführte Begründung für die grundsätz-
liche Anerkennung einer Pflicht zur gegenseitigen Hilfeleistung dennoch
einen aufschlussreichen Hinweis: Die kantische Grundlegung 54 gleichsam in
die Sozialsphäre verlängernd betont Rawls nämlich den freiheitserweitern-
den Effekt jenseits der akuten Notlage, wenn Menschen ihr Leben generell
im Vertrauen auf die Solidarität der anderen gestalten können. 55 Damit steht
der Gedanke "mitmenschlicher Solidarität" also im Dienste der Freiheit und
deren Entfaltungsbedingungen im gesamtgesellschaftlichen Rahmen, ganz
in dem Sinne, wie schon Pawlik den Geltungsgrund des § 323c StGB in der

48 Ralvls Theorie der Gerechtigkeit, 1975, Kap. 19 (S. 135 f): Natürliche Pflichten bestehen
"nicht nur gegenüber bestimmten Menschen ... , sondern gegenüber Menschen überhaupt" (als
gleiche moralische Subjekte).
49 So Morgenstern Unterlassene Hilfeleistung, Solidarität und Recht, 1997, S. 79 f
50 Kühnbach (Fo. 45), S. 66.
51 Terminologisch übernimmt Rawls (Fn. 48, S. 136) bemerkenswert die Schopenhauersche
Terminologie, siehe o. Fn. 40.
52 Explizit Rawls (Fn. 48), S. 375.
53 Rawls (Fn. 48), S. 136.
54 Vgl. Kant (Fn. 33), Tugendlehre, § 30 (A 124, S. 589 f): "Denn jeder Mensch, der sich in
Not befindet, wünscht, dass ihm von anderen Menschen geholfen werde. Wenn er aber seine
Maxime, anderen in ihrer Not nicht Beistand leisten zu wollen, laut werden ließe, ... so würde
ihm ... jedermann gleichfalls seinen Beistand versagen oder wenigstens zu versagen befugt
sein".
55 Rawls (Fn. 48), S. 374.
Der Arzt als Unterlassungstäter 607

"Stabilisierung des Ordnungsrahmens" fur die individuelle Freiheit aller,


auch des Hilfspflichtigen erkannt hat. 56 Diese Aufgabe fällt freilich nicht
nur auf dem Boden sämtlicher gesellschaftsvertraglichen Modelle, sondern
auch an den Grundsätzen der geltenden Rechtsordnung gemessen nicht in
den originären Zuständigkeitsbereich der einzelnen Bürger, sondern der
staatlichen Hoheitsgewalt, die es deshalb dem Einzelnen stets nur bei feh-
lender obrigkeitlicher Hilfe erlaubt, in Notfällen ausnahmsweise zur Selbst-
hilfe zu greifen (und dies nur so weit, wie es die Abwehr der Notlage ver-
langt, vgl. §§ 32, 34 StGB, § 229 BGB). Ebenso wie es der Idee der
Rechtsstaatlichkeit zuwiderliefe, Privatpersonen mehr Eingriffsbefugnisse
zuzugestehen als zur Beseitigung einer akuten und existentiellen Notlage
unbedingt erforderlich ("Not kennt kein Gebot!")57, kann auch das Sozial-
staatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) eine direkte Inverantwor-
tungnahme des Einzelnen unmittelbar für die Sorge um das ihm fremde
Wohp8 nur ausnahmsweise dann gutheißen, wenn und solange das "Exis-
tenzminimum"59 eines Mitbürgers im streng existentiellen Sinne (als biolo-
gisches Daseinsminimum) akut gefährdet und Hilfe durch den Sozialstaat
und seine Organe nicht rechtzeitig zu erlangen ist.
Dies gilt um so mehr, als die Inpflichtnahme des Bürgers zur tätigen Ab-
wehr einer Notlage freiheitsrechtlich weit einschneidender ist: Hier wird
dem Einzelnen nicht nur jene Entscheidungsfreiheit genommen, die ihm bei
der erlaubten Abwehr von Gefahren - ungeachtet der äußeren Bedrängnis-
lage - von Rechts wegen noch offensteht ("Gebot" versus "Erlaubnis");
selbst jener, der als Unbeteiligter ausnahmsweise Eingriffe in seine Sphäre
hinnehmen muss, damit ein anderer keinen größeren Schaden erleidet (§ 34
StGB, § 904 BGB), ist lediglich zur "Duldung" und nicht zum Handeln
verpflichtet.60 Mit Blick auf das individualpsychologisch fundamentale
Prinzip menschlicher "Verhaltensträgheit"61 kostet es dem Normadressaten
daher weit mehr an Willens- und Entschlusskraft, aus seiner meist ganz

56 Pawlik GA 1995, 360, 365 f.~ ähnlich Kühnbach (Fn. 45), S. 86.
57 Hier im allgemeinsten Sinne verstanden, bezogen auf den sonst geschuldeten Respekt ge-
genüber dem staatlichen Gewaltmonopol.
58 Also nicht etwa nur mittelbar in Form der Erhebung von Steuern.
59 Zur sozialstaatlichen Aufgabe, die unverzichtbaren "Mindestbedingungen für ein men-
schenwürdiges Dasein" zu garantieren, vgl. BVerfGE 40, 121, 133~ 44, 353, 357~ 45, 187, 228~
82, 60, 80 und 85~ 110,412, 445 f.~ vertiefend dazu Kersting Rechtsphilosophische Probleme
des Sozialstaats, 2000.
60 Zutr. betont von Kühnbach (Fn. 45), S. 95 f. ~ siehe bereits Engisch FS Gallas, 1973,
S. 173 ff.
61 Explizit T Walter ZStW 116 (2004), 555, 557~ zum notwendigen "Aufforderungscharak-
ter der Situation" aus Sicht der Sozialpsychologie weiterführend Witte Sozialpsychologie,
1989, S. 140 f.~ empirische Studien zu den relevanten Faktoren getätigter Hilfeleistung bei
Bierhoffin: Stroebe/Jonas/Hewstone (Hrsg.), Sozialpsychologie, 4. Aufl. 2003, S. 342 ff.
608 Gunnar Duttge

andersartigen Lebenssphäre aktiv herauszutreten und seine Gestaltungsmög-


lichkeiten - von seinen ursprünglichen Plänen bewusst absehend - vorüber-
gehend in den Dienst eines fremden Wohls zu stellen, als lediglich ein be-
reits unabhängig von ihm ablaufendes Ereignis geschehen zu lassen.
Zugleich besteht auch normlogisch zwischen Ver- und Geboten ein gravie-
render Unterschied, mag im konkreten Einzelfall das Verbot ausnahmswei-
se auch einmal als eingriffsintensiver empfunden werden als ein Gebot: 62
Denn der Kreis freigestellter Verhaltensalternativen ist im Falle eines Ver-
bots strukturell (regelmäßig)63 noch immer groß (" Du darfst alles mögliche
tun, nur dieses eine nicht! H), während ein Gebot jede Verhaltensalternative
- jenseits eines evtl. in engen Grenzen bestehenden "Handlungsspielraums"
- gerade untersagt (" Dir bleibt keine Wahl: Du musst dieses eine tun! H)64.
Oder in den Begrifflichkeiten der Modallogik: Nur das Verbot enthält neben
dem Bereich der "Pflicht" noch einen weiteren (mehr oder weniger großen)
der "Indifferenz" (nicht verboten und nicht geboten, also "erlaubt" = freige-
stellt); im Falle eines Gebots ist jedoch die Vornahme der geschuldeten
Handlung "notwendig" und daher jede Verhaltensalternative - und nicht nur
ein konkret für "verboten" erklärtes Verhalten bzw. eine begrenzte Verhal-
tensdimension (z.B. töten, verletzen) - normativ "unmöglich".65
Von hier aus versteht sich jetzt nahezu von selbst, warum die prioritäre
Forderung des (Delikts-)Rechts (im Ausgangspunkt)66 schon seit alters her
- spätestens seit den Institutionen Justinians - im Schädigungsverbot (ne-
minem laede) gesehen wird,67 und dies aus einem faktischen wie normati-
ven Grund: Zum einen liegt die Beherrschungsmacht und infolgedessen
auch Vermeidefahigkeit Uedenfalls im Vorsatzbereich und vorbehaltlich
von Schuldausschließungsgründen) stets bei demjenigen, der den schädi-
genden Kausalverlauf auslöst und planvoll lenkend, hinreichend wissend
oder sehenden Auges in Kauf nehmend auf das Opfer/Schutzobjekt hin
ausrichtet; denn er braucht lediglich die Tatausführung (rechtzeitig) auf-
zugeben. Der Unterlassungstäter dagegen beherrscht das (straf-)rechtlich
relevante, zur Rettungstat drängende Geschehen im Ausgangspunkt nicht,

62 Vgl. etwa NK-Wohlers, 3. Aufl. 2010, § 323c Rn 1: z.B. das Verbot, beim Autofahren
gewisse Geschwindigkeiten ... zu überschreiten, verglichen mit dem Gebot, bei Unfallen einen
Krankenwagen zu alarmieren.
63 Es sei denn, die äußere Lebenswelt schließe Verhaltensalternativen aus (z.B. an men-
schenfeindlichen Orten).
64 Treffend aus normlogischer Sicht Röhl Allgemein Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, § 58 IV
(S.467).
65 Dazu näher Joerden Logik im Recht, 2005, S. 199 ff.
66 Natürlich unabhängig von weiteren Differenzierungen je nach rechtssystematischem Kon-
text!
67 Näher zu geschichtlichen Bezügen: G. Schiemann JuS 1989,345 ff. m.w.N.
Der Arzt als Unterlassungstäter 609

weil die schädigende Ursache nicht seiner Sphäre entstammt;68 er findet die
Gefahrenlage bereits vor und schafft sie nicht erst selbst.69 Hiermit verbin-
det sich der normative Leitgesichtspunkt der "Eigenverantwortlichkeit" als
Grundlage jedweder (straf-)rechtlichen Zurechenbarkeit: Der schädigende
Erfolg gilt primär als das Werk desjenigen, der diesen Verlauf kraft "auto-
nomer"70 Steuerung unter Nutzung eines Wirkzusammenhangs maßgeblich
"in den Händen hielt" (sog. "Tatherrschaft")71; kommt bei demselben Täter
ein Unterlassensmoment hinzu (z.B. unterbliebene Erste-Hilfe-Maßnahmen
nach Versetzen der tödlich wirkenden Schläge), so wird es entweder schon
nicht als tatbestandsmäßig oder aber konkurrenzrechtlich als subsidiär be-
trachtet. 72 Das Unterlassen gewinnt also nur dort seine strafrechtliche Rele-
vanz, wo die Tat weder einem eigenständig 73 agierenden Begehungstäter
noch dem Opfer qua eigenverantwortlicher Selbstschädigung oder
-gefährdung74 zugeschrieben werden kann.
Die Nachrangigkeit der Handlungs- gegenüber einer Unterlassungspflicht
bzw. des Gebots gegenüber einem Verbot zeigt sich aber auch in Kollisions-
fällen, die nach h.M. zur Rechtfertigung nur im Falle zweier unvereinbarer
(gleichrangiger) Handlungspflichten führt, während bei Zusammentreffen
einer Handlungs- mit einer (gleichrangigen) Unterlassungspflicht (Extrem-
beispiel: Tötung zur Rettung anderen Lebens) die letztere stets als vorrangig
angesehen wird. 75 Ein weiterer, überdeutlicher Hinweis auf dieses der gel-

68 Im Kontext der sog. "Sterbehilfe" bildet im Rahmen der - umstrittenen und häufig miss-
verstandenen - Abgrenzung zwischen (strafbarer) Tötung auf Verlangen und (u.U. erlaubter)
"passiver Sterbehilfe" die Schädigungskausalität das richtige Abgrenzungskriterium, vgl. etwa
Duttge in: Kettler/Anselm/Duttge u.a. (Hrsg.), Selbstbestimmung am Lebensende, 2006, S. 37,
65 ff.~ Schreiber NStZ 2006, 473, 475~ siehe auch Schöch NStZ 1995, 153, 154: "normative
Gleichwertigkeit" zwischen Einstellen und Nichteinleiten einer Behandlung.
69 So der Hinweis Roxins im Kontext des unechten Unterlassungsdelikts, vgl. ders. Straf-
recht Allg. Teil, Bd. 11, 2003, § 31 Rn. 182.
70 Die durch die modernen Neurowissenschaften geweckten Zweifel an der menschlichen
Willensfreiheit seien in diesem Zusammenhang dahingestellt, näher dazu die Beiträge in:
Duttge (Hrsg.), Das Ich und sein Gehirn, 2009.
71 Grdl. Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, 1. Aufl. 1963 (8. Aufl. 2006).
72 Im Überblick dazu Roxin (Fn. 69), § 31 Rn. 84 ff. m.w.N.
73 Die Anforderungen an einen für Mittäterschaft ausreichenden Tatbeitrag sollen hier nicht
weiter interessieren.
74 Zum Abgrenzungskriterium der "Tatherrschaft" bei der Unterscheidung zwischen eigen-
verantwortlicher Selbst- und einverständlicher Fremdgefahrdung zuletzt eingehend BGH NStZ
2009, 148 ff. m. Anm. Duttge NStZ 2009, 690 ff.
75 Vgl. etwa HK-GS/Duttge, 2008, § 34 Rn. 30 f. m.w.N.~ NK-Neumann (Fn. 62), § 34 Rn.
126~ Otto Jura 2005, 470, 474~ Roxin (Fn. 38), § 16 Rn 117~ grdl. Küper Grund- und Grenzfra-
gen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht, 1979~ aus der jüngeren Vergangen-
heit etwa Scheid Grund- und Grenzfragen der Pflichtenkollision beim strafrechtlichen Unter-
lassungsdelikt, 2000~ zur "Konkurrenz" zwischen einer Garanten- (§ 13 StGB) und allgemeiner
Hilfeleistungspflicht (§ 323c StGB) näher Beulke FS Küper, 2007, S. 1 ff.
610 Gunnar Duttge

tenden Strafrechtsordnung zugrunde liegende Selbstverständnis findet sich


schließlich - nicht zuletzt - in § 13 StGB: Denn hiernach muss nicht nur -
rur die Bewertung der Tat als begehungsgleiches Unterlassen - die Zustän-
digkeit einer Person rur die Vermeidung des schädlichen Erfolges (sog.
Garantenstellung) erst eigens ermittelt werden, während sie sich beim Be-
gehungstäter in aller Regel von selbst versteht. 76 Über die Feststellung die-
ser "Sonderverantwortlichkeit"77 als Basis der personalen Zurechnung hin-
aus verlangt das Gesetz zusätzlich noch eine vergleichende
Unrechtsbewertung dieses Unterlassens im Verhältnis zur Verwirklichung
des gesetzlichen Tatbestandes durch aktives Tun, was denknotwendig imp-
liziert, dass diese Vergleichbarkeit - selbst bei "Garanten" -- nicht von
vornherein gegeben ist. Unabhängig von der - umstrittenen - Reichweite
dieser "Entsprechungsklausel"78 offenbart sich darin die vielfältige Be-
dingtheit der Inanspruchnahme wegen pflichtwidrigen Unterlassens im
Verhältnis zu den Verletzungsverboten, deren strikte Beachtung in toto
gleichsam den normativen Rahmen rur jede Handlungspflicht bildet. Denn
es widerspräche sich die Rechtsordnung selbst, würde sie vom Normadres-
saten ein rechtswidriges Tun verlangen: 79 Wenn aber dasjenige, was gebo-
ten ist, denknotwendig erlaubt sein muss,80 so kann sich das jeweilige Gebot
auch stets nur auf dasjenige erstrecken, was nicht verboten ist.

111.
Welche Folgerungen lassen sich daraus nun rur die Interpretation des
Tatbestandes aus § 323c StGB ziehen, und zwar mit Blick auf den Bereich
ärztlichen Wirkens?81 Die rechtlichen wie medizinethischen Grenzen er-
laubter ärztlicher Tätigkeit liegen bekanntlich auf der Basis eines konzepti-

76 Siehe MK-Freund, Bd. I, 2003, Vor §§ 13 ff Rn. 154.


77 Freund a.a.O. sowie zuletzt in: FS Herzberg, 2008, S. 225, 231 et passim.
78 Dazu einerseits MK-Freund (Fn. 76), § 13 Rn. 190 ff, andererseits Roxin (Fn. 69), § 32
Rn. 218 ff,jew. m.w.N.
79 Statt vieler etwa Roxin (Fn. 69), § 31 Rn 14, zugleich zur umstrittenen Frage der dogmati-
schen Einordnung im Rahmen des unechten Unterlassungsdelikts: Man kann nicht zu rechts-
widrigem Handeln verpflichtet sein!
80 Siehe Joerden (Fn. 65), S. 202: geboten = nicht verboten und nicht indifferent.
81 Die Darstellung konzentriert sich von vornherein auf den hier interessierenden Bezugsge-
genstand und bezweckt keine Vertiefung der darüber hinaus begegnenden Grund- und Tatbe-
standsfragen des § 323c StGB (zur näheren Struktur der zugrunde liegenden Verhaltensnorm
zuletzt eingehend Stein FS Küper, 2007, S. 607 ff).
Der Arzt als Unterlassungstäter 611

onellen "Zwei-Säulen-Modells"82 - unabhängig von rechtsdogmatischer


Struktur 83 und je bereichsspezifischer Ausprägung - in einem Rahmen "ob-
jektiver Vernünftigkeit" sowie zusätzlich in einer auch patientenseitigen
(subjektiven) Legitimation des Eingriffs. So steht etwa im therapeutischen
Kontext die (Weiter-)Behandlung von Patienten unter einem doppelten
Vorbehalt: Fehlt es an der nötigen (mutmaßlichen) Einwilligung oder wird
diese gar verweigert (einschließlich des antizipierten Behandlungsvetos in
der Form einer Patientenverfügung)84, so ist das Abstandnehmen von einer
geplanten oder Einstellen einer bereits stattfindenden Intervention (wie u.a.
auch der künstlichen Ernährung mittels PEG-Sonde) ebenso geboten wie
beim sog. Wegfall der "medizinischen Indikation",85 mögen hier die Grenz-
linien nicht nur bezogen auf konkrete klinische Szenarien,86 sondern auch
im Prinzipiellen 87 immer mehr verschwimmen und die Vorgehensweisen im
medizinischen Alltag deshalb immer stärker auf die Wünsche der Patienten
und ihrer Angehörigen abstellen. Für den Bereich der medizinischen For-
schung, etwa der besonders praxisrelevanten Arzneimittelstudien, manifes-
tiert sich die "objektive Vernünftigkeit" im Erfordernis der "ärztlichen Ver-
tretbarkeit" mit Rücksicht auf Risiken und (möglichen) Nutzen der
klinischen Prüfung (§ 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG),88 wiederum ergänzt
durch die subjektive Legitimation einer wirksamen Einwilligung der Pro-
banden (§ 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 3a, b AMG) oder - bei Einwilligungsunfahi-
gen unter nochmals begrenzenden Anforderungen - ihrer Vertreter (§§ 40

82 Vgl. Laufs NJW 2000, 1757, 1760 m.w.N.~ siehe auch die Modellbildung bei E. Emanu-
eI/I. Emanuel Journal ofthe American Medical Association 267 (1992),2221 ff.: paternalisti-
sches, informatives, interpretatives und deliberatives Modell.
83 Die seit RGSt 25, 375 ff. vorherrschende Körperverletzungsdoktrin ist bekanntlich durch
den Gedanken einer Stärkung des Selbstbestimmungsrechts motiviert, sieht sich jedoch dem
Einwand einer Rechtsgutsvertauschung ausgesetzt (eigenmächtige Heilbehandlung als Körper-
verletzung geahndet) und gerät restlos in Schwierigkeiten in Fällen eines kontraindizierten,
aber vom (aufgeklärten) Patientenwillen getragenen Eingriffs wie im berühmten Zahnextrakti-
onsfall, vgl. BGH NJW 1978, 1206~ näher dazu Duttge MedR 2005, 706 ff.
84 Jetzt §§ 1901a, b BGB i.d.F. des 3. Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts v.
19.6.2009, BR-Drs. 593/09~ erste Analysen bei Höfling NJW 2009, 2849 ff.~ Lange ZEV 2009,
537 ff.~ SpickhojfFamRZ 2009, 1949 ff.~ zur vorausgegangenen Rechtsunsicherheit vgl. zum
einen BGHSt 40, 257 ff., zum anderen BOHZ 154, 205 ff.; aus der Reformdebatte siehe insbe-
sondere den Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung, abgedruckt und begründet in: Schöch/Verrel
GA 2005,553 ff.
85 Vgl. BGHZ 154,205,224 f.
86 Zur Indikation für die künstliche Ernährung vgl. etwa Schneider/Momma/Manns Der In-
ternist 2007, 1066 ff.
87 Zu den normativen Implikationen z.B. Pöltner WMW 2007, 196, 199.
88 Die schwierige Operationalisierbarkeit dieser Risiko-Nutzen-Abwägung wird neuerdings
verstärkt beleuchtet, dazu näher die Beiträge in: Boos u.a. (Fn. 19).
612 Gunnar Duttge

Abs. 4, 41 AMG)89. Diese rechtlichen Schranken und alle weiteren, je nach


Lebensbereich ggf. noch hinzukommenden speziellen Anforderungen (wie
etwa das strikte Verbot der Arzneimittelprüfung an zwangsweise Unterge-
brachten, § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 4 AMG) lassen sich auch unter Berufung auf
Erfordernisse des Rechtsgüterschutzes nicht übergehen, soll ihr Geltungsan-
spruch nicht mehr oder minder weitreichend einer diffusen, rein konsequen-
tialistischen Abwägungspragmatik zum Opfer fallen. Wohlgemerkt: Der
Gedanke eines "überwiegenden Interesses" mag zusätzlich die - strafbe-
wehrte - Inpflichtnahme des Bürgers begrenzen, die rettende Intervention
zu bewirken;90 der Grund für eine solche Inpflichtnahme kann sich hieraus
jedoch nicht ergeben. 91
Die entscheidende Frage, die sich jetzt aber stellt, geht dahin, an welchem
Punkt innerhalb der tatbestandlichen Struktur des § 323c StGB die vorste-
henden Begrenzungen ärztlicher Tätigkeit konkret relevant werden: Soweit
die Beachtung des patientenseitigen Selbstbestimmungsrechts in Frage
steht, ist die vom BGH im sog. Peterle-Fall vorgenommene dogmatische
Einordnung als Problem (allenfalls) der "Zumutbarkeit"92 mit Recht - nicht
zuletzt auch durch den verehrten Jubilar93 - kritisiert worden. Denn wenn
es, wie schon seit langem anerkannt,94 selbst im Falle einer vitalen Indikati-
on letztlich einzig und allein Sache des Patienten ist, eine angebotene ärztli-
che Behandlung anzunehmen oder abzulehnen, so müssen strafrechtliche
Konsequenzen für den Arzt bei einer durch Zustimmungsverweigerung
erzwungenen Nichtbehandlung generell ausgeschlossen sein 95 und nicht erst
aufgrund einer "Abwägung" der widerstreitenden Pflichten im Einzelfall
oder gar erst bei Hinzukommen einer ärztlich-medizinischen "Grenzlage".96
Da Gegenstand der "Zumutbarkeits"-Prüfung allein die Frage ist, ob einem
zur Hilfeleistung prima facie Verpflichteten die Erfüllung dieser Pflicht
ausnahmsweise aufgrund einer besonderen, gerade ihn in seiner spezifi-
schen Situation treffenden Konfliktlage so gut wie "unmöglich" geworden

89 Zu dieser Systematik auch Duttge FS Deutsch, Bd. 11, 2009, S. 119 ff


90 Für eine Orientierung des Zumutbarkeitserfordernisses in § 323c StOB an § 34 StOB,
§ 904 BOB: Pawlik OA 1995,360,371 f; Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben StOB,
27. Autl. 2006, § 323c Rn. 20~ Verrel in: HK-OS (Fn. 75), § 323c Rn. 10.
91 Dazu schon o. 11., bei Fn. 56.
92 Vgl. BOHSt 32,367,381.
93 Siehe u.a. Schäch ZRP 1986, 236 f~ ders. in: Roxin/Schroth (Fn. 14), S. 109, 123 ff
94 Vgl. BOHSt 11, 111 ff
95 So explizit Schäch in: RoxiniSchroth (Fn. 14), S. 109, 120.
96 In diesem Sinne jedoch BOHSt 32, 367, 380 f: "rechtlich bedeutsame Konfliktlage" erst
dadurch, dass der angeklagte Arzt "wegen des weit vorangeschrittenen, von ihm als tödlich
aufgefassten Vergiftungszustands davon überzeugt war, das Leben von Frau ... allenfalls noch
mittels von ihr stets verabscheuter Inkaufnahme irreparabler schwerer Schäden verlängern zu
können".
Der Arzt als Unterlassungstäter 613

sein könnte (Rechtsgedanke des "ultra posse nemo obligatur"), kann hier fur
den allgemein und einzelfallunabhängig gebotenen Respekt gegenüber dem
Selbstbestimmungsrecht des Patienten gewiss nicht der richtige dogmati-
sche Ort sein. 97 Dies gilt im Übrigen auch für Konstellationen eines (ver-
suchten) Suizids, sofern man sich nur von der heute nicht mehr akzeptierba-
ren Vorstellung einer spezifischen Bemakelung des - in der pejorativen
Begrifflichkeit - "Selbstmordes"98 als generell und von vornherein verwerf-
liche ("sittenwidrige") Tat99 gelöst hat. Denn was sollte die Rechtsgemein-
schaft auf dem Boden einer freiheitlich verfassten, weltanschaulich neutra-
len Rechtsordnung dazu berechtigen, einem Menschen das Weiterleben
(unter den von ihm als unerträglich empfundenen Lebensumständen!) selbst
dann aufzuzwingen, wenn dieser aufgrund eines "freiverantwortlichen"
Willensentschlusses defmitiv nicht mehr weiterleben will?100 Nur die -
zugegeben bereits prinzipiell, in der Maßstabsfrage und nicht nur in der
konkreten Situation101 offene - Frage der "Freiverantwortlichkeit", nicht
aber die (wie auch immer begründete) Annahme eines "Sonderfalls" im
allgemeinen Bürgerrechts- oder speziellen Arzt-Patienten-Verhältnis kann
zur Rettung des Suizidenten verpflichten: 102 Denn solange die (im Regelfall
und somit ohne Kenntnis der konkret-einzelfallbezogenen Umstände immer
bestehenden) Zweifel an der hinreichenden "Freiverantwortlichkeit" eines
Selbstötungsversuchs nicht im Rahmen des Menschenmöglichen widerlegt
sind,103 kann die mit § 323c StGB strafbewehrte Rettungspflicht auch nicht
mit dem "Selbstbestimmungsrecht" der suizidwilligen Person kollidieren. 104
Um der unbedingten Beachtenspflicht gegenüber dem patientenseitigen
Selbstbestimmungsrecht mitsamt der daraus resultierenden Handlungsbe-

97 So auch HK-GS/Verrel, § 323c Rn. 9 m.w.N.


98 Vgl. Art. 115 schwStGB, § 78 öStGB (Überschrift).
99 In dieser Vorstellungswelt ist der BGH aber wohl noch immer gefangen, vgl. zuletzt
BGHSt 46,279,285 (mit abI. Anm. Duttge NStZ 2001, 546 ff.)~ zuvor vor allem BGHSt 6,
147,153.
100 Siehe dazu die grundlegende Analyse bei Wittwer Selbsttötung als philosophisches Prob-
lem, 2003, wonach sich auch jenseits des Rechts - gleichsam als "Tugendpflicht" - kein strik-
tes Selbsttötungsverbot begründen lässt.
101 Kasuistik mit Kommentaren in: Zeitschrift für Palliativmedizin 2006, 123 ff.~ 2009,
10 ff.
102 In diesem Sinne auch § 215 Abs. 1 Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung 2005 sowie Be-
schluss IV., 1. des 66. Deutschen Juristentages~ mit Blick auf den ärztlichen Pflichtenkreis
konnte dagegen der Nationale Ethikrat in seiner Stellungnahme vom 15.7.2006 ("Selbstbe-
stimmung und Fürsorge am Lebensende") keine Einigkeit erzielen.
103 Letzte Zweifel \verden sich nie vollständig beseitigen lassen~ das jenseits der menschli-
chen Erkenntnisfähigkeit Liegende kann jedoch nicht zum Maßstab für die Beurteilung
menschlicher Handlungen und Entscheidungen genommen werden.
104 Im Ergebnis wie hier und mit vertiefenden Erläuterungen zur Problematik auch Dölling
NJW 1986,1011 ff.
614 Gunnar Duttge

grenzung hinreichend Durchschlagskraft zu verleihen, wird teilweise ange-


nommen, es fehle bereits an einem "Unglücksfall".105 Darur könnte gerade
der Sinn der dem Patienten eröffneten Entscheidungsfreiheit sprechen; denn
für ihn sind die Folgen seiner Zustimmungsverweigerung kein "Unglück",
sondern Emanation seines willentlichen, ihm zurechenbaren Verhaltens.
Das ändert freilich nichts daran, dass die rechtsgutsgefährdende Situation,
in der er seine Entscheidung trifft, und die zugleich die Frage nach einer
Rettungspflicht anderer erst auslöst, ihm kaum zurechenbar sein wird (auch
ein "freiverantwortlicher" Suizidversuch wird regelmäßig auf eine äußerlich
bedrängende Situation zurückgehen, der sich der Selbsttötungswillige hoff-
nungslos ausgeliefert sieht). Das Tatbestandsmerkmal des "Unglücksfalls"
soll aber ersichtlich - ebenso wie die alternativ benannten bedrohlichen
Lebenslagen - nur die (konkrete) Gefahrensituation in ihrem faktischen
Erscheinungsbild kennzeichnen, gleichsam im Sinne eines Raumes, der alle
Eintretenden grundsätzlich zur Hilfeleistung verpflichtet. Dieser letztlich
aus der Schutzverpflichtung des Staates generaliter für alle Hilfsbedürftigen
errichtete Schutzraum106 bleibt jedoch als solcher bestehen, selbst wenn sich
innerhalb seiner Sphäre ein an Leben oder Gesundheit Gefährdeter 107 im
konkreten Einzelfall dem rettenden Zugriff auf seine Person verweigert - so
wie auch im Rahmen der Nothilfe die Unzulässigkeit einer aufgedrängten
Hilfeleistung nicht schon das Vorliegen eines (rechtswidrigen) "Angriffs" in
Frage zu stellen vermag. 108
Gerade in diesem Lichte liegt deshalb der Gedanke nahe, den Verzicht
des Opfers auf Hilfeleistung als Problem der "Erforderlichkeit" zu begrei-
fen. 109 Die Argumentation könnte etwa dahin formuliert werden, dass die -
noch dazu: strafbewehrte - Inpflichtnahme allein auf der Basis des allge-
meinen bürgerlichen (d.h. ohne Vorliegen eines besonderen) Rechtsverhält-
nisses nur als ultima ratio legitimiert werden kann, wenn dies also zur Ab-
wehr des drohenden Schadens schlechterdings unverzichtbar erscheint, weil
andere Rettungsmöglichkeiten, sei es durch Dritte oder durch den Gefährde-
ten selbst, nicht zu erkennen sind. Weil die Abwehr von Gefahren in einer

105 Vgl. Geppert Jura 2005, 39, 43 f; Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. 2007, § 323c Rn. 2;
Ranft JZ 1987, 913; Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 90), § 323c Rn. 7;
Seebode FS Kohlmann, 2003, S. 279,286; SK-StGB/Rudolphi, § 323c Rn. 8.
106 Zu diesem Verständnis bereits o. bei Fn. 55 f
107 Zur Notwendigkeit einer "existentiellen Betroffenheit" bereits o. bei Fn. 59; wie hier -
unter Ausklammerung bloßer Sachwerte - auch Kahlo (Fn. 36), S.334 f; Otto Grundkurs
Strafrecht. Die einzelnen Delikte, 7. Aufl. 2005, § 67 Rn. 4; siehe auch MK-Freund, § 323c
Rn. 26: "allenfalls gewichtige Gefahren für Sachen von bedeutendern Wert".
108 Dazu m.w.N. HK-GS/Duttge, § 32 Rn. 34 f
109 In diesem Sinne insbesondere auch Schäch in: RoxiniSchroth (Fn. 14), S. 109, 119 f;
weiterhin OLG München NJW 1987, 2940, 2945 m. zust. Anm. Her=berg JZ 1988, 182 ff;
HK-GS/Verrel, § 323c Rn. 9; NK-Wohlers, § 323c Rn. 10.
Der Arzt als Unterlassungstäter 615

vorn Primat individueller Freiheit geprägten Rechtsordnung originär in die


Zuständigkeit des (zur Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts befähig-
ten) Einzelnen fällt, muss es folgerichtig auch "seiner freiverantwortlichen
Entscheidung überlassen bleiben, ob er von der Möglichkeit, seine bedroh-
ten Interessen zu retten, Gebrauch macht oder nicht". 110 Mit dieser relatio-
nal auf das Ausmaß an Gebotenem abhebenden Betrachtungsweise bleibt
jedoch das Spezifikum dieser Konstellation gänzlich verborgen, nämlich der
Umstand, dass die zwangsweise Vornahme der Rettungshandlung nicht
etwa nur außerhalb eines "Zielgebietes" (des normativ "Notwendigen")III,
sondern überdies innerhalb eines "Sperrgebietes", d.h. jenseits des "erlaub-
ten" Handlungsrahmens liegt. 112 Die Vornahme eines rechtlich Verbotenen
als nicht "erforderlich" zu bezeichnen ist denklogisch höchst inadäquat, was
dort besonders deutlich wird, wo der rechtliche Handlungsspielraum nicht
durch das Selbstbestimmungsrecht des Patienten, sondern durch objektive
Anforderungen wie insbesondere die einer "ärztlichen Vertretbarkeit" der
eingegangenen Risiken begrenzt ist. 113 Stehen dem Arzt keine erlaubten,
sondern nur untaugliche oder gar inakzeptable Mittel zu Verfügung (Bsp.:
zielgerichtetes Töten "zur Leidensminderung" nach einern schrecklichen
Unfall),114 so ändert dies nichts an der objektiven 115 Notwendigkeit einer
Hilfeleistung (seil: Schmerzlinderung!); nur befmdet er sich in einer Lage,
in der es für ihn keinen rechtlich akzeptablen Weg gibt, die objektiv durch-
aus erforderliche Hilfeleistung zu bewirken. Oder anders gesagt: Der recht-
liche Rahmen erlaubter (ärztlicher) Tätigkeit kann die "Erforderlichkeit"
einer bestimmten Verhaltensoption begründen (sofern andere Optionen
verboten sind), aber nicht beseitigen.
Es liegt auf der Hand, dass der gesuchte strafrechtsdogmatische Ort, an
dem die Pflichtwidrigkeit und damit Tatbestandsmäßigkeit der unterlasse-
nen Rettungsmaßnahme wegen "rechtlicher Unmöglichkeit" in Wegfall

110 Pawlik GA 1995, 360, 370 f, der aber bei Vorliegen eines "freiverantwortlichen" Sui-
zidversuchs gleichwohl schon das Tatbestandsmerkmal "Unglücksfall" in Abrede stellt (369).
111 Siehe o. bei Fn. 65.
112 Zur "regulativen" Funktion von Rechtsnormen im skizzierten Sinne treffend Philipps in:
Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegen-
wart, 6. Aufl. 1994, S. 318~ weiterhin (und vertiefend) auch ders. in: Der Handlungsspielraum,
1974, S. 15 ff~ erhellend: von der Pfordten Rechtsethik, 2001, S. 92 f
113 Siehe o. bei Fn. 82 ff
114 Zu den rechtlichen Grundlagen und Grenzen erlaubter "indirekter Sterbehilfe" näher
Duttge u.a. Preis der Freiheit, 2. Autl. 2006, S. 80 ff.~ ders. in: Kettler/Anselm/Duttge u.a.
(Fn. 68), S. 36, 52 ff
115 Nach h.M. bestimmt sich die Erforderlichkeit nach einem objektiven ex ante-Maßstab,
d.h. "nach dem Urteil, das ein verständiger Beobachter auf Grund der ihm erkennbaren ...
Umstände fällen würde", vgl. m.w.N. Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 90),
§ 323c Rn. 2, 13 ff~ a.A. MK-Freund, § 323c Rn. 76 ff
616 Gunnar Duttge

geraten soll, nur einheitlich für alle rechtlichen Schranken Geltung bean-
spruchen kann, d.h. nur gemeinsam für objektive und subjektive Vorausset-
zungen eines erlaubten ärztlichen Handeins. Hält man daran fest, dass aus
Gründen der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung 116 allein die Wahl
von Mitteln und Wegen innerhalb dieses Rahmens erlaubter Betätigung
rechtlich erwartet werden kann, so sind dem Normadressaten bei gänzli-
chem Fehlen eines rechtlichen Handlungsspielraums die Hände ebenso
gebunden wie im Falle nicht vorhandener tatsächlicher Rettungsmöglichkei-
ten. Wenn in letztgenannter Hinsicht, mit Blick auf die physisch-realen
Handlungsoptionen des Täters, ein "ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal"
wohl weithin Anerkennung findet,117 so lassen sich trotz zugegeben recht
schwachen gesetzlichen Fundaments keine methodischen oder sachlichen
Einwände gegen die nach alledem naheliegende Schlussfolgerung erkennen,
dieses Tatbestandsmerkmal um den Aspekt der "rechtlichen Unmöglich-
keit" zu erweitern. Dass dies konsequenterweise auch für die strafrechts-
dogmatische Statik des unechten Unterlassungsdelikts Folgen nach sich
ziehen sollte,118 kann hier nur noch angedeutet und nicht mehr weiter ver-
folgt werden.

IV.
Der geläufige Satz, wonach sich rür den ärztlichen Berufsstand aus
§ 323c StGB keine erweiterte Berufs- oder Sonderpflicht entnehmen las-
se, 119 bedarf abschließend noch der Ergänzung um einen wichtigen Zusatz:
Es kann sein, dass dieser Personenkreis trotz seiner in der Regel überlege-
nen Möglichkeiten zur effektiven Hilfeleistung aufgrund seiner besonderen
rechtlichen Stellung in geringerem Maße handlungspflichtig ist als ein me-
dizinischer Laie. Dies mag auf den ersten Blick überraschen, ist aber
schlichte Konsequenz des Umstandes, dass sich die erweiterten tatsächli-
chen Handlungsmöglichkeiten nicht ohne die soziale - und damit rechtlich
eingehegte - Rolle denken lassen. Es hat einige Jahrzehnte gedauert, ehe

116 Grdl. Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935, insbes. S. 42 ff. zu den verschiede-
nen Typen von Widersprüchen.
117 Vgl. HK-GS/Verrel, § 323c Rn. 9~ Schäch in: Roxin/Schroth (Fn. 14), S. 109, 120 f.~
Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 90), § 323c Rn. 19~ abw. LK-Spendel, StGB,
11. Autl. 2005, § 323c Rn. 91: schon ein für das Unterlassen notwendiges Begriffsmerkmal.
118 Für die Anerkennung eines Tatbestandsmerkmals der "rechtlichen Möglichkeit" in die-
sem Zusammenhang vor allem Eser Juristischer Studienkurs, Strafrecht II, 3. Aufl. 1980, Fall
28~ Gropp Strafrecht Allg. Teil, 2. Aufl. 2001, § 11 Rn. 48 f.~ a.A. jedoch die h.M.: Wegfall
der Erfolgsabwendungspflicht.
119 Siehe bereits bei Fn. 26 ff.
Der Arzt als Unterlassungstäter 617

durch fortlaufende "Juridifizierung" des Arzt-Patienten-Verhältnisses I2o das


(Selbst-)Verständnis vom Arzt als allen irdischen Beschränkungen entzoge-
ner, gottesgleicher "Herr" 121 einer Sichtweise gewichen ist, die - "erdennä-
her" - von einer geteilten, beschränkten Verantwortlichkeit ausgeht. Die
derzeit unternommenen Anstrengungen um Etablierung einer immer stärker
"personalisierten Medizin"122 werden das alte hippokratische Bild noch weit
mehr als bisher verändern. Diese Entwicklungen im sozialen Rollenbild wie
rechtlichen Fundament ärztlicher Betätigung dürfen nicht im Kontext der
Frage nach einer Strafbarkeit wegen Unterlassens mit verengtem Blick
allein auf das gefährdete Rechtsgut ignoriert werden. Der darin liegende
Selbstwiderspruch des Rechts würde jedes Streben nach Rechtssicherheit
untergraben und - im Verhältnis von Recht und Medizin - jede Hoffnung
auf Akzeptanz der rechtlichen Vorgaben durch Angehörige der ärztlichen
Profession. Dazu zählt nicht zuletzt auch, die weit verbreitete Sorge vor den
Zumutungen einer "Allzuständigkeit", wie sie zuletzt etwa anlässlich von
Flugreisen intensiv diskutiert worden sind,123 zu entkräften und die in der
rechtlichen Gebundenheit liegende Entlastung vor unbegrenzten Hand-
lungserwartungen auch im Bereich der Unterlassungsdelikte rechtlich abzu-
sichern und breit zu kommunizieren. Denn wie es der verehrte Jubilar an-
lässlich seines jahrzehntelangen Engagements für eine (straf-)gesetzliche
Regelung des Gesamtbereichs sog. "Sterbehilfe" so treffend formuliert hat:
"Erst wenn das Strafbarkeitsrisiko begrenzt und ... kalkulierbar ist, kann
sich die Abwägung des Arztes - frei von sachfremden Ängsten - allein an
ethischen Prinzipien orientieren". 124

120 Zur Entwicklung dieser Rechtsbeziehung im Wandel der Zeit näher Laufs in: Eser
(Hrsg.), Recht und Medizin, 1990, S. 387 ff.~ siehe auch Schreiber Notwendigkeit und Grenzen
rechtlicher Kontrolle der Medizin (Göttinger Universitätsreden), 1984.
121 2. Mose, Kap. 15, Vers 26 (Lutherbibel): "Ich bin der Herr, dein Arzt'.
122 Dazu näher: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des
Deutschen Bundestages, Zukunftsreport: Individualisierte Medizin und Gesundheitssystem v.
17.02.2009, BT-Drs. 16/12000~ Förstl/Neumeyer/Wolj (Hrsg.), Patientenorientierte Therapie-
prinzipien: Ist individualisierte Medizin vorstellbar?, 2006; Jütte (Hrsg.), Die Zukunft der
Individualmedizin - Autonomie des Arztes und Methodenpluralismus, 2009.
123 Etwa Heier Kein Arzt an Bord?, in: FAZ v. 14.2.2005; Gendreau/DeJohn New England
Journal of Medicine 2005, 1067 ff.; Koller Notfall + Rettungsmedizin 2006, 667 ff.~ zum
Haftungsrisiko vgl. OLG München NJW 2006, 1883 ff.
124 Schöch FS Hirsch, 1999, S. 693,694.
Allgemein- Ulld Sonderdelikte:
Versuch einer Abgrenzung im Umweltstrafrecht

HERO SCHALL

I. Zur Relevanz der Fragestellung


Die Frage der Abgrenzung zwischen Allgemein- und Sonderdelikten stellt
sich im Umweltstrafrecht deshalb in besonderem Maße, weil es hier zum
einen um die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Amtsträgern geht, de-
nen durch die Erteilung (oder auch Verweigerung) von großzügigen oder
strengen Genehmigungen zur Inanspruchnahme der Umweltgüter und durch
die regelmäßige StraffreisteIlung des Genehmigungsinhabers - selbst bei
materieller Rechtswidrigkeit einer solchen Genehmigung l - eine erhebliche
Definitionsmacht über die Legalität oder aber Strafbarkeit der jeweiligen
Umweltverletzungen zukommt,2 die aber ihrerseits überall dort von vorn-
herein aus der strafrechtlichen Verantwortung herausgenommen sind,3 wo
es sich bei der von ihnen genehmigten (und ggf. sogar initiierten) Umwelt-
verletzung um ein - z.B. nur vom Betriebsinhaber begehbares - Sonderde-
likt handelt.
Zum anderen folgt die Aktualität der Fragestellung aus der Tatsache, dass
Umweltstraftaten ganz überwiegend aus Unternehmen heraus begangen

1 Nach heute h.M. gilt die verwaltungsrechtliche Wirksamkeit einer auch materiell rechts-
widrigen Genehmigung (§ 43 VwVfG) auch im Strafrecht, schließt also den Tatbestand bzw.
die Rechtswidrigkeit der Umweltverletzung aus, sofern nicht ausnahmsweise ein Fall der
rechtsmissbräuchlichen Erlangung der Genehmigung vorliegt (§ 330d Nr. 5 StGB). Siehe dazu
nur Lackner/Kühl StGB, 26. Autl. 2007, § 324 Rn. 10~ MK-StGB/Schmitz, 2006, Vor § 324
Rn. 69 ff.~ Schall FS Otto, 2007, S. 743, 756 ff.~ Schönke/Schröder/Cramer/Heine StGB,
27. Autl. 2006, Vor § 324 Rn. 15 ff. m.w.N.
2 Grundlegend dazu die Untersuchung von Rogall Die Strafbarkeit von Amtsträgern im
Umweltbereich, 1991 ~ siehe auch Hellmich Kooperation statt Konfrontation als Alternative bei
der Bekämpfung der Umweltkriminalität, 2008, S. 38 ff., 51 ff.~ Schall Zur Strafbarkeit von
Amtsträgern in Umweltbehörden - BGHSt 38,325, JuS 1993,719 ff.
3 Jedenfalls als Täter~ aber auch eine Teilnahmestrafbarkeit scheidet regelmäßig aus, da nach
h.M. (siehe Fn. 1) auch eine fehlerhafte Genehmigung für den Genehmigungsinhaber rechtfer-
tigend bzw. schon tatbestandsausschließend wirkt, so dass es an der für die Teilnahme notwen-
digen vorsätzlichen und rechtswidrigen Haupttat fehlt.
620 Hero Schall

werden 4 und dort - aufgrund des den Unternehmen immanenten Prinzips


der Arbeitsteilung - unmittelbar Handelnder (Arbeitnehmer) und Normad-
ressat (Unternehmensinhaber, insbesondere als juristische Person) zumeist
auseinanderfallen: Ist die dort begangene Umweltstraftat ein Allgemeinde-
likt, so wird jeder, der den Tatbestand selbst verwirklicht, gern. § 25 Abs. 1
1. Alt. StGB allein dadurch zum unmittelbaren Täter. Und wer diesen Tat-
bestandserfolg gemeinsam mit anderen oder durch andere herbeifiihrt, kann
bei entsprechender Intensität der Beteiligung auch Mittäter oder mittelbarer
Täter dieser unternehmensbezogenen Umweltstraftat sein. Eine täterschaft-
liehe Verantwortung entfällt dagegen - trotz der im Übrigen identischen
Beteiligungsintensität - bei Vorliegen eines Sonderdelikts fiir denjenigen,
der zwar die eigentliche Tathandlung der unternehmensbezogenen Umwelt-
verletzung (selber, mit anderen oder durch andere) verwirklicht, ohne je-
doch die im Gesetz verlangte besondere Täterqualifikation zu erfüllen - also
z.B. in einem durch Verwaltungsanordnung untersagten oder entsprechend
beschränkten Anlagenbetrieb als Maschinenarbeiter gesundheitsgefährden-
de Schadstoffe in die Luft freisetzt (§ 325 StGB), da die vollziehbare Unter-
sagung oder Anordnung allein den Inhaber des Unternehmens trifft. 5 In
diesen Fällen ist eine Strafbarkeit des unmittelbar Handelnden (des sog.
Extraneus) als Täter nur dann möglich, wenn ihm die besondere Täterquali-
fikation als besonderes persönliches Merkmal über die spezielle, nur unter
engen Voraussetzungen anwendbare 6 Vorschrift des § 14 StGB (§ 90WiG)
zugerechnet werden kann. Einer solchen Merkmalsüberwälzung bedarf es
bei den untemehmensbezogenen Umweltdelikten immer dann, wenn Träger
der Sonderdeliktseigenschaft eine - nach deutschem Recht nicht strafbare -
juristische Person oder rechtsfähige Personengesellschaft ist (z.B. die
GmbH als Betreiberin einer Anlage oder als Adressatin einer verwaltungs-
rechtlichen Genehmigungspflicht) oder wenn der einzelne Normadressat die
ihn als Betreiber oder Adressat des Verwaltungsakts treffenden Pflichten
auf untergeordnete Unternehmensmitarbeiter delegiert hat. Scheitert eine

4 Industrie und Gewerbe gelten als Hauptverursacher der Umweltschäden - siehe ausführ-
lich dazu Busch Unternehmen und Umweltstrafrecht, 1997, S. 71 ff., 106 ff. mit Auswertung
der empirischen Arbeiten; Hellmich (Fn. 2), S. 14 ff. m.w.N.; siehe auch Umweltbundesamt
(Hrsg.), Umweltdelikte, 2004, S. 17 f.
Dementsprechend sind Umweltverstöße inzwischen zu einem Hauptrisikobereich für Unter-
nehmen geworden: siehe Dannecker/Streinz in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäi-
schen und deutschen Umweltrecht, Bd. I, 2. Autl. 2003, § 8 Rn. 43; Eidam Unternehmen und
Strafe, 3. Autl. 2008, Rn. 1199, 1203 ff.; Gebhard Unternehmensangehörige und Straftaten
gegen die Umwelt, 2001, S. 7 f.; Schmidt/Salzer WiB 1996, 1,6 f.
5 So jedenfalls die überwiegende Meinung; siehe dazu unten unter VI.2.
6 Vgl. dazu nur LK-Schünemann StGB, 12. Autl. 2007, § 14 Rn. 32 ff., 56 ff.; MK-
StGBIRadtke, 2003, § 14 Rn. 48 ff., 89 ff.; Schönke/SchröderlLenckner/Perron (Fn. 1), § 14
Rn. 30 ff., 33 ff.
Allgemein- und Sonderdelikte 621

solche Überwälzung der besonderen Täterqualifikation auf den Extraneus


an den engen Voraussetzungen des § 14 StGB (§ 90WiG),7 so verbleibt
theoretisch die Möglichkeit einer Teilnahmestrafbarkeit, die allerdings in
der Praxis der unternehmensrelevanten Umweltverstöße kaum zum Tragen
kommt, da zumeist der eigentliche Normadressat entweder selber gar nicht
tatbestandsmäßig handelt oder als juristische Person schon nicht handlungs-
fähig im strafrechtlichen Sinne ist, so dass es regelmäßig an einer teilnah-
mefähigen Haupttat fehlt.
Die unterschiedliche Ausgestaltung der Umweltstraftaten als Allgemein-
oder Sonderdelikt hat nach alledem ein höchst unterschiedliches Strafbar-
keitsrisiko zur Folge, was das BVerfG im Hinblick auf Amtsträger in den
Umweltverwaltungsbehörden zwar als verfassungsrechtlich unbedenklich
bewertet hat, 8 was aber vor allem im Bereich des Unternehmensstrafrechts
kriminalpolitisch als höchst unbefriedigend empfunden wird. Daher ist es
auch nicht verwunderlich, dass mit ganz unterschiedlichen Lösungsansätzen
versucht wird, die genannten Konsequenzen zu vermeiden bzw. zu unterlau-
fen. 9 Ob und inwieweit sich derartige Versuche mit den gesetzlichen und
strafrechtsdogmatischen Vorgaben in Einklang bringen lassen, wird sich am
Ende der nachfolgenden Untersuchung erweisen. Ich verbinde mit dieser
dem Freund und Kollegen Heinz Schöch zum (es ist kaum zu glauben!)
70. Geburtstag gewidmeten Untersuchung zugleich die herzlichsten Wün-
sche fiir ein (zunächst) weiteres Jahrzehnt lebensfrohen, Wissenschaft und
Praxis gleichermaßen befruchtenden Schaffens.

11. Die pauschale Abgrenzung bei den Umweltdelikten


Bei den Umweltstraftaten der §§ 324 ff. StGB besteht nur insoweit Einig-
keit, als die in der Praxis häufigsten Delikte der Gewässerverunreinigung
(§ 324 StGB) und des unerlaubten Umgangs mit gefährlichen Abfällen
(§ 326 Abs. 1 StGB)10 wie auch das Freisetzen von Giften (§ 330a StGB)

7 Z.B. weil er weder vertretungsberechtigt noch mit Leitungsbefugnissen betraut ist.


8 BVerfG NJW 1995, 186, 187: Wegen der unterschiedlichen Aufgabenbereiche liege in der
unterschiedlichen Bestrafung kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
9 Die kriminalpolitische Motivation solcher Lösungsansätze wird besonders deutlich bei
LK-Schünemann (Fn. 6), § 14 Rn. 21 sowie Winke/bauer FS Lenckner, 1998, S. 645, 650 f.;
siehe auch Wiesener Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Stellvertretern, 1971, S. 185.
10 Der Anteil dieser Delikte an allen Umweltstraftaten betrug nach der PKS 2008 (Hrsg.:
Bundeskriminalamt, 2009) 62,1 % für § 326 Abs. 1 StGB und 21,9 % für § 324 StGB und nach
der Strafverfolgungsstatistik 2007 (Verurteilungen; Hrsg.: Stat. Bundesamt, 2009) ca. 70 % für
§ 326 Abs. 1 StGB und ca. 10 % für § 324 StGB.
622 Hero Schall

heute einhellig als Allgemeindelikte eingestuft werden. 11 Dem ist auch ohne
Weiteres zuzustimmen, da diese Straftatbestände keine spezifischen, d.h.
über die Beschreibung der Tathandlung und des Taterfolges hinausgehen-
den, Tätermerkmale enthalten. Gleiches muss dann aber auch für die Straf-
tatbestände des § 328 Abs. 2 Nr. 3 und 4 StGB gelten, die das Verursachen
einer nuklearen Explosion sowie das Verleiten dazu und die Förderung
einer solchen Handlung unter Strafe stellen. Auch sie verzichten auf eine
Anknüpfung an die Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten oder an den
Betrieb einer Anlage und damit auf eine Einschränkung des Täterkreises. 12
Größte Uneinigkeit ist demgegenüber bei der Beantwortung der Frage zu
konstatieren, welche der Umweltstraftaten als Sonderdelikte zu qualifizieren
sind und demzufolge täterschaftlich nur von dem Unternehmensinhaber
selbst bzw. den besonderen Funktionsträgern begangen werden können.
Diese Frage entzündet sich vornehmlich an dem bei allen "Betriebsdelik-
ten" vorausgesetzten (allerdings unterschiedlich umschriebenen) Erforder-
nis des Anlagenbezuges, 13 aber auch an dem bei den meisten Umweltstraf-
normen verlangten verwaltungsakzessorischen Merkmal der "Verletzung
verwaltungsrechtlicher Pflichten,,14 bzw. des "Handeins ohne die erforderli-
che Genehmigung" oder "entgegen einer vollziehbaren Untersagung (An-
ordnung)". 15 Häufig wird aus diesen Merkmalen generell die Sonderdelikts-
eigenschaft der entsprechenden Straftatbestände hergeleitet - mit der Kon-
sequenz, dass Täter eines solchen Delikts (abgesehen von der Vertreterhaf-
tung des § 14 StGB) nur der Betreiber i.S.v. Inhaber der Anlage und/oder
der persönliche Adressat der verwaltungsrechtlichen Pflicht bzw. des Ge-
nehmigungserfordernisses oder der Untersagung sein können. 16 Eine solche
pauschale Anknüpfung der Sonderdeliktseigenschaft erweist sich jedoch bei
näherer Betrachtung als nicht haltbar.

11 Siehe nur Fischer StOB, 57. Autl. 2010, Vor § 324 Rn. 6, 14~ LK-Steindorf StOB,
11. Autl. 1997, § 324 Rn. 44, § 326 Rn. 131, § 330a Rn. 12~ Schönke/Schröder/Cramer/Heine
(Fn. 1), § 324 Rn. 17, § 330a Rn. 1O~ Schönke/Schröder/Lenckner/Heine (Fn. 1), § 326 Rn. 21.
12 Ebenso mit ausführlicher Begründung Martin Sonderdelikte im Umweltstrafrecht, 2006,
S. 119 f ~ der Sache nach auch Fischer (Fn. 11), § 328 Rn. 10f ~ MK-StOB/Alt (Fn. 1), § 328
Rn. 31 ff~ NK-StGB/Ransiek, 3. Autl. 2010, § 328 Rn. 8 f, I5~ Sack Umweltschutz-Strafrecht,
5. Autl. 2005, § 328 Rn. 66a ff~ Schönke/Schröder/Cramer/Heine (Fn. 1), § 328 Rn. I3a ff
13 So in den §§ 325, 325a, 327, 328 Abs. 3 Nr. 1,329 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1,2 StOB.
14 Siehe §§ 324a, 325, 325a, 326 Abs.3, 328 Abs.3 StOB - jeweils i.V.m. § 330d
Nr. 4 StOB.
15 Siehe §§ 326 Abs. 2, 327, 328 Abs. 1~ 329 StOB.
16 Siehe Fischer (Fn. 11), Vor § 324 Rn. 14, 22~ Maurach/Schroeder/Maiwald Strafrecht,
Besonderer Teil, Teilbd. 2, 9. Autl. 2005, § 58 Rn. 24, 34~ Michalke Umweltstrafsachen,
2. Autl. 2000, Rn. 55~ MK-StOB/Schmitz (Fn. 1), Vor § 324 Rn. 93~ SK-StOB/Horn, 2001,
§ 325 Rn. 14, § 327 Rn. 9, § 329 Rn. 6.
Allgemein- und Sonderdelikte 623

111. Notwendigkeit eines differenzierenden Lösungsansatzes


Die Notwendigkeit einer differenzierenden Lösung ergibt sich schon dar-
aus, dass sich die Frage, ob der jeweilige Straftatbestand "besondere persön-
liche Merkmale" i.S.v. Statusmerkmalen des § 14 StGB verlangt, die also
über die Beschreibung der Tathandlung und des Taterfolges hinausgehen
und nur einen bestimmten Personenkreis als Täter erfassen, nur durch Aus-
legung des einzelnen Tatbestandes beantworten lässt. 17 Diese Auslegung
richtet sich darauf, ob das jeweils geschützte Rechtsgut ausschließlich oder
zumindest in gesteigertem Maße durch bestimmte Personen gefährdet wird,
deren besondere Beziehung zu dem tatbestandlich geschützten Rechtsgut
der Gesetzgeber ausdrücklich durch typische Statusmerkmale oder der Sa-
che nach durch bestimmte Handlungsausübungen 18 gekennzeichnet hat. 19
Davon abzugrenzen sind bloße Handlungsbeschreibungen, die keine He-
raushebung einer bestimmten Position des Täters erkennen lassen, sondern
nur die Vornahme bestimmter Handlungen verlangen, die grundsätzlich
jedermann möglich sind. 20 Legt man diesen Ausgangspunkt zugrunde, so
liegt es zumindest nahe, die sonderdeliktsverdächtigen Merkmale der
§§ 324 ff. StGB in vier Gruppen zu unterteilen (IV. - VII.) und insoweit
einer gesonderten Überprüfung zu unterziehen.

IV. Umweltverletzungen "beim Betrieb einer Anlage"


Bei den häufig pauschal als Sonderdelikt eingeordneten 21 sog. "Betriebs-
delikten" ist eine weitere Unterteilung danach geboten, ob es sich um echte
"Betreiberdelikte" handelt (nachfolgend unter V.) oder aber um Straftatbe-
stände, die die Beeinträchtigung des jeweiligen Umweltgutes lediglich
"beim Betrieb einer Anlage, insbesondere einer Betriebsstätte oder Maschi-

17 Insoweit (trotz der gravierenden Meinungsverschiedenheiten bei den Auslegungsergeb-


nissen) einhellige Meinung: siehe nur Lackner/Kühl (Fn. 1), § 14 Rn. 1~ Roxin Strafrecht,
Allgemeiner Teil 11, 2003, § 27 Rn. 85, 105 ff., 113; Schönke/SchröderlLenckner/Perron
(Fn. 1), § 14 Rn. 5~ SK-StGBIHoyer, 2005, § 14 Rn. 33.
18 So z.B. bei §§ 266, 266b, 283, 288 StGB.
19 Ausführlich dazu Martin (Fn. 12), S. 23 ff.~ ebenso MK-StGBIRadtke (Fn. 6), § 14
Rn. 36~ Roxin (Fn. 17), § 27 Rn. 107 f.~ Schönke/SchröderlLenckner/Perron (Fn. 1), § 14
Rn. 5~ Schünemann Unternehmenskriminalität und Strafrecht, 1979, S. 129 f.
20 So auch NK-StGBIMarxen (Fn. 12), § 14 Rn. 19 f.~ Schünemann (Fn. 19), S. 141 f.
21 So Arzt/Weber/Hilgendorj Strafrecht, Besonderer Teil, 2. Autl. 2009, § 41 Rn. 17, 32~
Fischer (Fn. 11), Vor § 324 Rn. 14~ Fran=heimlPjohl Umweltstrafrecht, 2. Autl. 2001,
Rn. 574 f.~ Kloepjer/Vierhaus Umweltstrafrecht, 2. Autl. 2002, Rn. 49a, 114~ Kuhlen in: Ame-
lung (Hrsg.), Individuelle Verantwortung und Beteiligungsverhältnisse bei Straftaten in
bürokratischen Organisationen des Staates, der Wirtschaft und der Gesellschaft, 2000, S. 71,
92~ Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 16), § 58 Rn. 24,28, 34.
624 Hero Schall

ne" voraussetzen. 22 Denn bei der letztgenannten Fallgruppe ist schon vorn
Wortlaut her keine Heraushebung eines bestimmten Täterkreises zu erken-
nen, sondern lediglich das Erfordernis einer kausalen Verknüpfung des
jeweiligen Taterfolges mit dem Betrieb einer Anlage. Die Weite der Tat-
handlung (z.B. Verunreinigung der Luft, Verursachen von Lärm) wird hier
durch den Zusatz "beim Betrieb einer Anlage" räumlich-gegenständlich auf
einen bestimmten Bereich begrenzt. 23 Der Zusatz bedeutet daher nur eine
Einschränkung der Tathandlung, wie sie mit vergleichbaren Formulierungen
auch aus anderen Strafvorschriften geläufig ist, deren Anerkennung als
Allgemeindelikt außer Frage steht.24 Vorbehaltlich der Auslegung der "Ver-
letzung verwaltungsrechtlicher Pflichten" (unten VI.) handelt es sich dem-
nach bei den im Zusammenhang mit einern Anlagenbetrieb vorgenomme-
nen Umweltverletzungen der §§ 325, 325a, 328 Abs. 3 Nr. 1 StGB nicht um
Sonderdelikte, so dass die Voraussetzungen für Täterschaft und Teilnahme
hier insoweit nach den allgemeinen Kriterien der §§ 25 ff. StGB zu beurtei-
len sind und als Täter jeder Mitarbeiter des Betriebs oder auch fremde Per-
sonen, die sich der Anlage bzw. Maschine bemächtigen, in Betracht kom-
men.

v. Die Betreiberdelikte der §§ 327, 329 StGB


Auch wenn der Wortlaut der in den §§ 327, 329 StGB umschriebenen Be-
triebsbezogenheit "wer eine Anlage betreibt" ein rein faktisches Verständnis
des Betreibens einer Anlage - und damit die Deutung als Allgemeindelikt -
nicht ausschließt, so legt der auffällige Unterschied zur Forrnulierung der
betriebsbezogenen Komponente in der zuvor genannten Gruppe (IV.) es
zumindest nahe,25 hierunter nicht schon alle Mitarbeiter zu verstehen, die
eine solche Anlage oder Maschine faktisch bedienen (und dabei lediglich

22 So in §§ 325, 325a StGB und ganz ähnlich in § 328 Abs. 3 Nr. 1 StGB~ vgl. auch § 311
Abs. 3 StGB.
23 Ebenso LK-Steindorj(Fn.ll), §325 Rn. 67, §325a Rn.31~ Martin (Fn.12), S.53f.~
NK-StGB/Ransiek (Fn. 12), § 325 Rn. 9~ Rengier FS Kohlmann, 2003, S. 225, 236 f. Auch aus
den Gesetzesmaterialien lässt sich entnehmen, dass die Beschränkung auf den rechtswidrigen
Betrieb von Anlagen nicht im Hinblick auf einen besonders herausgehobenen Täterkreis,
sondern allein unter dem Aspekt der Intensität der Umweltbeeinträchtigung vorgenommen
wurde (siehe BT-Drs. 8/2382, S. 15 und 8/3633, S. 27 sowie BT-Drs. 12/192, S. 18).
24 Vgl. etwa die Beschränkung der Tathandlung auf den Verkehr bzw. Straßenverkehr in
§§ 315c, 316 StGB, auf den geschäftlichen Verkehr in § 299 Abs. 2 StGB oder auf den Zu-
sammenhang mit dem Vertrieb von Wertpapieren usw. in § 264a StGB.
25 Dafür spricht auch die gesonderte Benennung des Innehabens, des Abbauens und der we-
sentlichen Änderung einer Anlage (§ 327 Abs. 1 StGB), deren Erwähnung es nicht bedurft
hätte, wenn das Merkmal des Betreibens im weiten, faktischen Sinne zu verstehen sein sollte.
Allgemein- und Sonderdelikte 625

ihren Pflichten aus dem Arbeitsvertrag nachkommen), sondern nur den


Unternehmensträger, also den Betreiber im rechtlichen Sinne.
Entscheidend für eine solche, die §§ 327, 329 StGB als Sonderdelikte
qualifizierende Auslegung des Betreibermerkmals sprechen insbesondere
die folgenden Gründe: Anders als bei der ersten Fallgruppe wird hier nicht
die Verletzung oder Gefährdung eines bestimmten Umweltgutes, sondern
bereits die abstrakte Gefährdung durch das ungenehmigteBetreiben be-
stimmter Anlagen pönalisiert, wobei das entscheidende Unrecht nicht im
Betrieb der Anlage, sondern im Unterlaufen der verwaltungsbehördlichen
Kontrollbefugnisse zu sehen ist.26 Eine derart weitgefasste Verbotsnorm
aber kann sich sinnvollerweise nur gegen Personen richten, die faktisch und
rechtlich in der Lage sind, die von der Anlage ausgehenden Risiken zu
beherrschen und die erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen zu veranlassen,
also nicht gegen den die einzelne Anlage oder Maschine in Gang setzenden
bzw. sie wartenden Arbeitnehmer des jeweiligen Betriebs. 27
Für eine Begrenzung des Täterkreises auf Betreiber im rechtlichen Sinne
(Unternehmensträger) spricht zudem die verwaltungsakzessorische Ausge-
staltung des Umweltstrafrechts: D.h. zum einen die Anknüpfung an den in
den Umweltverwaltungsgesetzen teils ausdrücklich definierten,28 teils in-
haltlich zugrunde gelegten 29 Begriff des Betreibers im rechtlichen Sinne. 30
Bestätigt wird diese Sichtweise des Begriffs "betreiben" zum anderen durch
die verwaltungsakzessorischen und bei § 327 StGB unrechtskonstituieren-
den Merkmale "ohne die erforderliche Genehmigung" und "entgegen einer
vollziehbaren Untersagung", da verwaltungsrechtlich nur der Betriebsinha-
ber verpflichtet ist, die für den Anlagenbetrieb erforderliche Genehmigung
einzuholen, wie auch die Untersagungsverfügung nur an den jeweiligen
Betriebsinhaber gerichtet ist. 31
Würdigt man diese Umstände in ihrer Gesamtheit, so wird deutlich, dass
dem Betreibermerkmal in den §§ 327, 329 StGB ein für das Tatunrecht
entscheidendes Gewicht zukommt, der strafrechtliche Normenappell sich
daher hier nur an den für die Anlage rechtlich verantwortlichen Unterneh-

26 Siehe nur MK-StGB/Schmitz (Fn. 1), Vor § 324 Rn. 17; SK-StGB/Horn (Fn. 16),
Vor § 324 Rn. 9, § 327 Rn. 2.
27 Siehe dazu insbesondere Martin (Fn. 12), S. 45 ff., 49 f mit überzeugender Argumentati-
on gegen die faktische Sichtweise bzw. die Deutung der Betreiberdelikte als Organisationsde-
likt~ siehe auch Witteck Der Betreiber im Umweltstrafrecht, 2004, S. 78,80 f, 187, 196 f
28 § 3 Nr. 7 GenTG, § 3 Abs. 10 KWKG.
29 So z.B. in den §§ 52a, 53 ff BlmSchG, § 64 Abs. 2 Nr. 3,4 WHG, §§ 53 ff. KrW-/AbfG.
30 Ausführlich zum Betreiberbegriff im Umweltverwaltungsrecht Martin (Fn. 12), S. 38 ff
m.w.N.
31 Näher zu diesen verwaltungsakzessorischen Voraussetzungen als möglichen Sonderde-
liktsmerkmalen siehe unten VI. 2.
626 Hero Schall

mensträger richtet. Als taugliche Täter kommen demzufolge nur der Anla-
genbetreiber im rechtlichen Sinne und über § 14 StGB seine Vertreter in
Betracht. Der die Maschine bedienende Arbeitnehmer - und auch ein
außenstehender Dritter, der unbefugt in das Betriebsgebäude eindringt und
dort die Anlage in Betrieb setzt32 - erfüllt diese Voraussetzungen nicht.
Eine Ausdehnung des Täterkreises mit den Mitteln einer faktischen Be-
trachtungsweise mag daher kriminalpolitisch wünschenswert sein, über-
zeugt aber aus dogmatischen Gründen nicht. 33

VI. Das Tatbestandsmerkmal der "Verletzung


verwaltungsrechtlicher Pflichten"
1. Die Unterscheidung nach demjeweiligen Adressatenkreis
Entgegen einer weit verbreiteten Meinung 34 qualifiziert auch das Erfor-
dernis der "Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten" den jeweiligen
Straftatbestand nicht generell zum Sonderdelikt. Denn das würde vorausset-
zen, dass die hinsichtlich ihrer Herkunft und ihres Schutzzwecks in § 33 Od
Nr. 4 StGB näher umschriebenen verwaltungsrechtlichen Pflichten sich
immer nur an einen bestimmten Personenkreis richten. Dass eine verwal-
tungsrechtliche Pflicht nur einen ausgewählten Kreis von Adressaten er-
fasst, kann, muss aber nicht so sein. Wer Träger der jeweiligen verwaltungs-
rechtlichen Pflicht ist, deren Verletzung hier zum Tatbestand gehört, ist
durch Auslegung der in § 330d Nr. 4 StGB genannten pflichtbegründenden
Rechtsquellen zu ermitteln. 35

32 So das Beispiel von Rengier (Fn. 23), S. 237.


33 Das gilt auch für den neuerlichen Versuch von Ransiek FS Widmaier, 2008, S.725,
732 ff, 734 f, der § 327 StGB entgegen der h.M. im Hinblick sowohl auf den Betreiberbegriff
als auch auf die verwaltungsakzessorischen Voraussetzungen als Allgemeindelikt einstufen
will; siehe auch NK-StGB/Ransiek (Fn. 12), § 327 Rn. 4 ff; ähnlich LK-Steindorf (Fn. 11),
§ 327 Rn. 25; MK-StGB/Alt (Fn. 1), § 327 Rn. 38.
Im Ergebnis wie hier: Fischer (Fn. 11), § 327 Rn. 16; FranzheimiPfohl (Fn. 21), Rn. 396;
LacknerlKühl (Fn. 1), § 327 Rn. 6a; Martin (Fn. 12), S. 31 ff; Rengier (Fn.23), S. 236 f;
Schönke/Schröder/CramerIHeine (Fn. 1), § 327 Rn. 23; Schroth Unternehmen als Normadres-
saten und Sanktionsobjekte, 1993, S. 97 f; Witteck (Fn. 27), S.203; siehe auch die Rspr.-
Nachw. bei Schall NStZ 1997,577,580,582.
34 Fischer (Fn. 11), Vor § 324 Rn. 14; GössellDölling Strafrecht, Besonderer Teil 1, 2. Autl.
2004, § 45 Rn. 12, § 46 Rn. 22, 30; LacknerlKühl (Fn. 1), § 324a Rn. 7 LV.m. § 325 Rn. 12;
MaurachlSchroederlMaiwald (Fn. 16), § 58 Rn. 34, 49; Michalke (Fn. 16), Rn. 55; Dtto JURA
1991,308,314; SK-StGB/Horn (Fn. 16), § 324a Rn. 13, § 325 Rn. 14.
35 In gleicher Weise differenzierend auch Martin (Fn. 12), S. 62 ff; MK-StGB/Alt (Fn. 1),
§ 324a Rn. 52; Rengier (Fn. 23), S. 230 f., 236; Sack (Fn. 12), § 325 Rn. 194; Sanden wistra
1996, 283, 285; Schönke/Schröder/CramerIHeine (Fn. 1), Vor § 324 Rn. 25; Schön-
Allgemein- und Sonderdelikte 627

Von diesem Ausgangspunkt her sind die pflichtenbegründenden Rechts-


vorschriften i.S.d. § 330d Nr. 4a StGB daraufhin zu untersuchen,36 ob sie
eine für jeden Bürger geltende Verhaltenspflicht konstituieren 3? oder aber
auf einen bestimmten Adressatenkreis begrenzt sind. 38 Nur in den letztge-
nannten Fällen wird die auf eine solche Pflicht rekurrierende Umweltstraf-
norm zum Sonderdelikt und die strafrechtliche Verantwortlichkeit als Täter
auf den jeweiligen Pflichteninhaber beschränkt, sofern nicht für herausge-
hobene Unternehmensangehörige eine Zurechnung über § 14 StGB eröffnet
wird.
Handelt es sich dagegen bei der verwaltungsrechtlichen Pflicht, auf deren
Verletzung die Strafbarkeit wegen der entsprechenden Umweltstrafnorrn
gestützt wird, um eine Jedermann-Pflicht, so erweist sich das Erfordernis
der Pflichtverletzung nicht als Eingrenzung des Täterkreises, sondern als
verwaltungsakzessorische Eingrenzung des Tatunrechts. Denn diese
Pflichtnorrnen39 begründen keine auf die besonderen persönlichen Umstän-
de des Täters ausgerichtete persönliche Pflichtenstellung, sondern konkreti-
sieren den verwaltungsrechtlich gebotenen oder verbotenen Umgang mit
den jeweiligen Umweltgütern und beschränken damit im jeweiligen Straf-

ke/Schröder/Stree/Heine (Fn. 1), § 325 Rn. 29, § 325a Rn. 16~ Witteck (Fn. 27), S. 207 f~ der
Sache nach auch NK-StGB/Ransiek (Fn. 12), § 324a Rn. 22 f., § 325 Rn. 19 f, da er dem
Merkmal "Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten" nur im Regelfall sonderdeliktsbegrün-
dende Wirkung zuschreibt, davon aber abweichen will, wenn die verwaltungsrechtliche Pflicht
"ausnahmsweise" jedermann trifft (hier werde das Sonderdelikt wieder zum Allgemeindelikt).
36 Wird die Strafbarkeit des Umweltverstoßes dagegen auf die Verletzung einer bereits in
der Umweltstrafnorm spezifizierten Pflichtverletzung gegründet, so ist damit auch die Einord-
nung Ge nach dem Adressatenkreis eben dieser Pflicht) als Allgemein- oder Sonderdelikt
abschließend festgelegt. So handelt es sich z.B. bei der in § 328 Abs. 2 Nr. 1 und 2 StGB unter
Strafe gestellten Nichtablieferung von Kernbrennstoffen bzw. der Abgabe (oder der Vermitt-
lung der Abgabe) von Kernbrennstoffen an Unberechtigte um Allgemeindelikte, da die hier
unmittelbar in Bezug genommenen Pflichten des § 5 AtG sich an jedermann richten (siehe
dazu mit ausführlicher Begründung Martin [Fn. 12], S. 117 ff).
3? Wie beispielsweise § 6 Abs.2 S. 2 PflSchG, § 19k WHG, § 5 Abs.2 und 3 AtG, § 4
Abs. 1 AltfahrzeugV.
38 So etwa bei der Pflicht zur Einholung der für den Anlagenbetrieb notwendigen Genehmi-
gung (siehe unten VII. 2.) oder bei anderen konkreten Pflichten für den Betreiber bzw. für
einzelne Funktionsträger (z.B. für Umweltschutzbeauftragte gern. § 33 StrlSchV, § 65 WHG,
§ 54 BImSchG). Zu den konkreten Pflichten für den Betreiber gehören etwa die Pflicht zur
Bestellung und Instruktion eines Immissionsschutzbeauftragten (§§ 53, 55 BImSchG i.V.m.
5. BImSchV), die Entsorgungspflicht des Erzeugers von Abfällen gern. § 11 Abs. 1
KrW-/AbfG oder die betriebsbezogenen Pflichten in den zahlreichen Rechtsverordnungen, mit
denen die umweltschützenden Grundpflichten der §§ 5, 22 BImSchG konkretisiert werden
(z.B. die Pflicht zur Einhaltung bestimmter Immissionsgrenzwerte beim Anlagenbetrieb nach
§§ 3 ff der 13. BImSchV)~ zu weiteren Betreiberpflichten siehe die Auflistung bei Martin
(Fn. 12), S. 73 ff
39 Siehe die oben in Fn. 37 genannten Beispiele.
628 Hero Schall

tatbestand nicht den Kreis der Deliktssubj ekte, sondern nur die tatbestands-
mäßige Handlung selbst. Die die verwaltungsrechtliche J edermann-Pflicht
und damit auch die Strafbarkeit begründenden Umstände sind keine beson-
deren persönlichen Merkmale, die der Zurechnungsbrücke des § 14 StGB
bedürften. Täter des Umweltdelikts kann daher in diesen Fällen grundsätz-
lich jeder sein, der für die pflichtwidrige Beeinträchtigung des jeweiligen
Umweltgutes kausal wird. Das gilt entgegen einer im Schrifttum weit ver-
breiteten Auffassung auch für Amtsträger, denn es ist kein Grund ersicht-
lich, warum Angehörige der Umweltverwaltungsbehörden, also gerade die
sog. "Hüter unserer Umwelt", aus dem Adressatenkreis dieser für jeder-
mann geltenden Pflichten zum Schutz der Umvvelt ausgeschlossen sein
sollten. 40

2. Pflichten aus Einzeljallregelungen


Eindeutig als Sonderdelikt tritt der Straftatbestand dagegen dann in Er-
scheinung, wenn die verwaltungsrechtliche Pflicht gern. § 33 Od
Nr. 4b-e StGB aus einem vollziehbaren Verwaltungsakt oder anderen Akten
singulärer Rechtssetzung hergeleitet wird. 41 Denn durch diese Einzelfallent-
scheidungen werden jeweils nur der unmittelbare Adressat bzw. die unmit-
telbar Beteiligten gebunden,42 so dass nur sie als Täter des jeweiligen Straf-
tatbestandes, bei dem die verletzte verwaltungsrechtliche Pflicht aus einer
dieser Rechtsquellen43 abgeleitet wird, in Betracht kommen. So verpflichtet
z.B. die an einen Unternehmensinhaber gerichtete nachträgliche Anordnung
(§ 17 Abs. 1 BImSchG), zwecks Reduzierung schädlicher Emissionen eine
Filteranlage einzubauen, nur diesen selbst, nicht aber andere Unterneh-
mensangehörige, auch wenn sie durch ihre Mitarbeit (insbesondere bei

40 Ebenso Fran=heimlPfohl (Fn. 21), Rn. 575~ Martin (Fn. 12), S. 125 ff.~ NK-StGB/Ransiek
(Fn. 12), § 324a Rn. 25~ Schönke/Schröder/Heine (Fn. 1), § 324a Rn. 18.
41 H.M.: Kemme Das Tatbestandsmerkmal der Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten
in den Umweltstraftatbeständen des StGB, 2007, S. 484 f.~ Martin (Fn. 12), S. 77 ff.~ MK-
StGB/Alt (Fn. 1), § 324a Rn. 52~ Rengier (Fn. 23), S. 233 ff.~ Schönke/Schröder/CramerIHeine
(Fn. 1), Vor § 324 Rn. 25, § 327 Rn. 23~ Schönke/Schröder/StreeIHeine (Fn. 1), § 325 Rn. 29;
Witteck (Fn. 27), S. 207 f.
42 Symptomatisch darur § 43 Abs. 1 S. 1 VwVfG (siehe dazu nur KopplRamsauer Verwal-
tungsverfahrensgesetz, 10. Aufl. 2008, § 41 Rn. 18~ Maurer Allgemeines Verwaltungsrecht,
17. Aufl. 2009, § 9 Rn. 65, 66). Zur in der Sache gleichen Beschränkung des Adressatenkreises
bei gerichtlichen Entscheidungen, vollziehbaren Auflagen und öffentlich-rechtlichen Verträgen
(§ 330d Nr. 4b, d, e StGB) siehe ausführlich Martin (Fn. 12), S. 81 ff.~ siehe auch Kemme
(Fn. 41), S. 484 f.~ Rengier (Fn. 23), S. 235 f.
43 Als Ermächtigungsgrundlagen kommen hier z.B. in Betracht: §§ 17 Abs. 1, 20,
24 ff. BlmSchG.
Allgemein- und Sonderdelikte 629

leitender Funktion) von dem die Betriebsvorgänge regelnden Verwaltungs-


44
akt immerhin mittelbar tangiert werden.
Gleiches gilt bei Untersagungsverfügungen für den Betrieb einer Anlage
(z.B. gern. §§ 20, 25 BlmSchG oder § 19 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 AtG). Trotz ihrer
"Anlagenbezogenheit" nehmen diese Verfügungen jeweils nur ihren unmit-
telbaren Adressaten, den Unternehmensträger als rechtlichen Betreiber, in
die Pflicht, so dass eine täterschaftliche Verantwortung auch nur den Unter-
nehmensinhaber bzw. die nach § 14 StGB qualifizierten Mitarbeiter treffen
45
kann. Ebenso wie bei der Anlagengenehmigungspflicht ist auch hier zwi-
schen dem Adressaten und den Auswirkungen der Verfügung (Genehmi-
46
gung bzw. Betriebsuntersagung) zu unterscheiden.

VII. Sonstige verwaltungsakzessorische Merkmale


1. Die Unter/älle der" Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten"
Die Abhängigkeit der Strafbarkeit einer Umweltverletzung vom Verwal-
tungsrecht wird nicht nur durch den ausdrücklichen Verweis auf die "Ver-
letzung verwaltungsrechtlicher Pflichten" zum Ausdruck gebracht, sondern
in zahlreichen Umweltstrafnormen durch die Voraussetzung eines HandeIns
"ohne die erforderliche Genehmigung" bzw. entgegen einem Verbot oder
47
einer vollziehbaren Anordnung oderUntersagung oder auch (wie in
§ 329 StGB) entgegen einer Rechtsverordnung bzw. Rechtsvorschrift. Auch
hier handelt es sich um verwaltungsrechtliche Pflichten, die erkennbar
durch eine der in § 330d Nr. 4 StGB aufgeführten Rechtsquellen begründet
werden und daher jeweils Unterfalle der zuvor behandelten Gruppe der
Umweltverstöße "unter Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten" bil-
48
den.

44 Die nur aus der innerbetrieblichen Aufgabenverteilung folgende Auswirkung des Verwal-
tungsakts reicht für ein "Betroffen-Sein" i.S.d. § 43 Abs. 1 S. 1 VwVfG nicht aus, da dafür
eine rechtliche Betroffenheit vorauszusetzen ist, zumal die Untemehmensmitarbeiter nicht
"Beteiligte" i.S.d. § 13 VwVfG sind~ siehe Ruffert in: KnackJHenneke, Verwaltungsverfah-
rensgesetz, 9. Autl. 2010, § 41 Rn. 16~ Kopp/Ramsauer (Fn. 42), § 43 Rn. 11.
45 Wie hier Martin (Fn. 12), S. 77 ff~ ebenso Kemme (Fn.41), S. 485~ Rengier (Fn. 23),
S. 233 ff; Schönke/Schröder/Stree/Heine (Fn. 1), § 325 Rn. 29~ Schönke/Schröder/Cra-
mer/Heine (Fn. 1), § 327 Rn. 23~ Winkelbauer (Fn. 9), S. 652 f; Witteck (Fn. 27), S. 208~ a.A.
Gebhard (Fn.4), S. 178 ff~ LK-Steindorf (Fn. 11), § 327 Rn. 25, § 329 Rn. 12~ NK-
StGB/Ransiek (Fn. 12), § 327 Rn. 4 ff, § 329 Rn. 18; Ransiek (Fn. 33), S. 730, 734 f.
46 Siehe dazu unten VII. 2.
47 Vgl. §§ 326 Abs. 2, 327, 328 Abs. 1,329 StGB.
48 So auch Martin (Fn. 12), S. 58; Schönke/Schröder/Cramer/Heine (Fn. 1), § 330d Rn. 10;
speziell zum gesetzlichen Genehmigungsvorbehalt ausführlich Kemme (Fn. 41), S. 298 ff.
m.w.N.
630 Hero Schall

Das bedeutet zunächst einmal, dass bei den in Bezug genommenen


Rechtsverordnungen und sonstigen Rechtsvorschriften für die Frage der
Qualifizierung des jeweiligen Delikts als Sonderdelikt ebenfalls danach zu
differenzieren ist, ob sie Pflichten für jedermann oder nur für einen be-
stimmten Personenkreis begründen (siehe oben VI.l.). Demgegenüber liegt
bei einem Verstoß gegen Untersagungen und Anordnungen stets ein Son-
derdelikt vor, da es sich hier um nur den jeweiligen Adressaten verpflich-
tende Verwaltungsakte handelt (siehe oben VI.2.).49

2. Speziell das Handeln" ohne die erforderliche Genehmigung H

Nicht ganz so unproblematisch sind die Konsequenzen für die Einord-


nung als Allgemein- oder als Sonderdelikt, soweit ein Handeln "ohne die
erforderliche Genehmigung" vorausgesetzt wird (§§ 326, 327, 328 StGB).
Zu diesen - in der Praxis besonders relevanten - gesetzlichen Genehmi-
gungsvorbehalten gehören auch die bereits angeführten Fälle (oben VI.l.),
in denen die vom Täter verletzte "verwaltungsrechtliche Pflicht" in der
notwendigen Einholung einer verwaltungsbehördlichen Genehmigung be-
steht. 50 Hier wird teilweise aus der Anlagenbezogenheit, d.h. aus der alle
Mitarbeiter des Betriebs erfassenden Legalisierungswirkung einer vorhan-
denen Genehmigung, der Umkehrschluss gezogen, dass deshalb auch die
Genehmigungspflicht nicht nur für den Inhaber der Anlage gelte, sondern
für alle Mitarbeiter des Betriebs und auch für außenstehende Dritte, die sich
der Maschine bemächtigen, so dass es sich hier um ein Allgemeindelikt
handle. 51
Diese Argumentation überzeugt jedoch nicht: Hinter dem Verbot eines
HandeIns ohne die erforderliche Genehmigung steht die strafbewehrte
Pflicht zur Einholung einer entsprechenden Genehmigung. Täter der straf-
rechtlichen Verbotsnorm kann demzufolge nur derjenige sein, der durch die
jeweilige Verwaltungsvorschrift zu dieser Genehmigungseinholung ver-
pflichtet wird. Eine solche Verpflichtung besteht in selteneren Fällen für

49 Das für den illegalen "Abfallexport" gern. § 326 Abs. 2 StOB vorausgesetzte Verbrin-
gungsverbot wird in den meisten Fällen auf die für jedermann geltenden Rechtsvorschriften der
Verordnung über die Verbringung von Abfällen zurückzuführen sein (insoweit Allgemeinde-
likt) und nur in Einzelfällen auf ein durch Verwaltungsakt ausgesprochenes und daher nur
seinen Adressaten verpflichtendes Verbot.
50 So z.B. bei § 325 StOB i.V.m. § 4 Abs. 1 BlmSchG und 4. BlmSchV.
51 So insbesondere NK-StGB/Ransiek (Fn. 12), § 327 Rn. 4 ff., 15; Ransiek (Fn.33),
S. 734 f; ebenso LK-Steindorf (Fn. 11), § 327 Rn. 25, § 329 Rn. 12; Rengier (Fn.23),
S. 231 ff.; Winkelbauer (Fn. 9), S. 651 f~ dieser Auffassung nahestehend auch Kuhlen WiVerw
1991, 181,236 ff.; a.A. Martin (Fn. 12), S. 66 ff.~ Schönke/Schröder/Stree/Heine (Fn. 1), § 325
Rn. 29; Witteck (Fn. 27), S. 207 f
Allgemein- und Sonderdelikte 631

jedermann - mit der Konsequenz, dass der auf eine solche Genehmigungs-
pflicht Bezug nehmende Straftatbestand ein Allgemeindelikt darstellt. 52 Bei
den hier zumeist relevanten Pflichten zur Einholung einer Genehmigung für
den Betrieb einer Anlage 53 handelt es sich dagegen um Sonderpflichten,
denn verwaltungsrechtlich verpflichtet zur Einholung einer Genehmigung
(bzw. Planfeststellung) für kemtechnische, immissionsrechtliche, wasser-
rechtliche und abfallrechtliche Anlagen ist immer nur der Anlagenbetreiber
bzw. der Träger des Vorhabens. 54
Die daraus folgende Konsequenz der Beschränkung des Täterkreises lässt
sich auch nicht dadurch umgehen, dass man pauschal alle betriebsbezoge-
nen verwaltungsrechtlichen Pflichten mittels einer faktischen Betrach-
tungsweise auch auf die die einzelne Anlage beherrschenden Unterneh-
mensangehörigen erstreckt55 oder durch ihre Interpretation als "anlagen-
bzw. objektsbezogene Pflichten" sogar auf jedweden mit der Anlage be-
schäftigten Mitarbeiter ausweitet. 56 Denn bei allen genannten verwal-
tungsakzessorischen Merkmalen - das gilt für die Pflicht zur Einholung
einer Genehmigung ebenso wie für die Untersagungsverfügung - geht es
um "Pflichtverletzungen", womit aber schon begrifflich immer nur die
Verletzung eigener Pflichten gemeint ist, so dass ein Straftatbestand, dessen
Unrecht (u.a.) durch eine Pflichtverletzung begründet wird, schon wesens-
notwendig als Täter nur von demjenigen verwirklicht werden kann, der
selber Träger dieser Pflicht ist. 57 Gegen eine Ausweitung der verwaltungs-

52 So z.B. bei § 324a StGB LV.m. § 8 Abs. 1 WHG, bei § 326 Abs. 2 StGB i.V.m. der Ver-
ordnung über die Verbringung von Abfällen oder bei § 328 Abs. 1 Nr. 1 StGB i.V.m. § 6
Abs. 1 AtG; siehe zu diesen Beispielen auch Martin (Fn. 12), S. 63 f; LK-Steindorf (Fn. 11),
§ 328 Rn. 56 LV.m. Rn. 6 und 14; MK-StGB/Alt (Fn. 1), § 328 Rn. 54 i.V.m. Rn. 18 und 21.
53 Siehe neben § 327 StGB auch §§ 325, 325a StGB.
54 Einschlägig sind hier die Verwaltungsrechtsnormen der §§ 7, 9 AtG, § 4 BImSchG
(LV.m. § 2 Abs. 1 der 9. BImSchV), § 19a WHG a.F., §§ 31, 33 KrW-/AbfG; siehe zur Adres-
sateneigenschaft nur Haedrich AtG, 1986, § 7 Rn. 19; Jarass BImSchG, 7. Aufl. 2007, § 3
Rn. 81 ff; Zeitler in: Sieder/Zeitler/Dahme/Knopp, WHG, 2001, § 19a WHG Rn. 46, 48;
KuniglPaetowlVersteyl KrW-/AbfG, 2. Aufl. 2003, § 31 Rn. 104.
55 So Michalke (Fn. 16), Rn. 175; NK-StGB/Ransiek (Fn. 12), § 327 Rn. 4 ff, 15; Sack
(Fn. 12), § 325 Rn. 194.
56 So z.B. Gebhard (Fn.4), S. 178 ff.; LK-Steindorf (Fn. 11), § 325 Rn. 67; Ransiek
(Fn. 33), S. 734 f; einschränkend demgegenüber Rengier (Fn. 23), S. 231 ff sowie Winkelbau-
er (Fn. 9), S. 651 ff, die die anlagenbezogene Interpretation der verwaltungsrechtlichen Pflich-
ten nur insoweit gelten lassen wollen, als es sich um gesetzliche Genehmigungsvorbehalte
handelt; bei Verstößen gegen Untersagungsverfügungen, Auflagen und Anordnungen komme
dagegen nur der Adressat dieser Verwaltungsakte als Täter in Betracht.
57 Siehe zu dieser notwendigen Voraussetzung aller "Pflichtdelikte"' nur JeschecklWeigend
Lehrbuch des Strafrechts, 5. Aufl. 1996, S. 652; Kühl Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl.
2008, § 20 Rn. 14; Roxin Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. 2006, § 10 Rn. 129; Wes-
selslBeulke Strafrecht, Allgemeiner Teil, 39. Aufl. 2009, Rn. 522.
632 Hero Schall

rechtlich eindeutig begrenzten Pflichten sprechen zudem sowohl der im


Umweltstrafrecht grundsätzlich geltende Vorrang des Verwaltungsrechts als
auch der Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG, der nicht nur eine
hinreichend bestimmte Umschreibung der bei den Blankettgesetzen in Be-
zug genommenen verwaltungsrechtlichen Pflichten gebietet,58 sondern
zugleich verbietet, dass dieses Tatbestandsmerkmal über den verwaltungs-
rechtlich vorgegebenen Pflichtenkreis hinaus - und d.h. sowohl bzgl. des
Inhalts als auch bzgl. der Adressatenschaft der Verhaltensanweisungen -
ausgeweitet wird. Und schließlich widerspricht die Ausweitung der verwal-
tungsrechtlichen Pflichten auf sämtliche bzw. die die Anlage beherrschen-
den Unternehmensmitarbeiter der Gesetzessystematik, da § 14 StGB
(§ 29 OWiG) die Zurechnung solcher Pflichtmerkmale nur an einen beson-
ders qualifizierten Personenkreis eröffnet.59
Im Ergebnis ist daher zwischen der anlagenbezogenen Auswirkung einer
Genehmigung und der nur den Betreiber treffenden Pflicht zur Einholung
der vorgeschriebenen Genehmigung zu unterscheiden. Die daraus folgende
Konsequenz, dass Täter des entsprechenden Delikts nur der Betriebsinhaber
und über § 14 StGB nur besondere Leitungspersonen sein können, während
Mitarbeiter der unteren Hierarchieebene - bei Kenntnis vom Fehlen der
Genehmigung - nur als Teilnehmer strafrechtlich verantwortlich sind, ist
kriminalpolitisch durchaus befriedigend, da dies auch die Realität der Ver-
antwortungsverteilung in Betrieben und Unternehmen widerspiegelt. 60

VIII. Resümee
Die hier vertretene differenzierende Lösung bleibt insofern unbefriedi-
gend, als sie eine generelle Etikettierung der einzelnen Umweltstrafnormen
als Allgemein- oder als Sonderdelikt verwehrt. Sie ist aber die zwingende
Konsequenz sowohl der verwaltungsakzessorischen Ausgestaltung des

58 Siehe dazu die Begründung zum RegE BT-Drs. 12/192, S. 17, 18, 23, 31. Eine ausführli-
che Auseinandersetzung mit der Frage der Verfassungskonformität des § 330d Nr. 4 StOB und
der an diese Rahmenregelung anknüpfenden Umweltstraftatbestände bietet die grundlegende
Arbeit von Kemme (Fn. 41)~ siehe dazu auch Martin (Fn. 12), S. 61 f; Michalke Verwaltungs-
recht im Umweltstrafrecht, 2001, S. 71 ff; MK-StOB/Schmitz (Fn. 1), § 330d Rn. 18 f~
Schönke/Schröder/Cramer/Heine (Fn. 1), § 330d Rn. 13.
59 Vgl. hierzu auch die Argumentation von Martin (Fn. 12), S. 38 f, 44 f; instruktiv zur
Systematik des § 14 StOB und der damit zusammenhängenden Kritik an der "faktischen Be-
trachtungsweise" MK-StOBIRadtke (Fn. 6), § 14 Rn. 33 ff
60 Siehe dazu auch Martin (Fn. 12), S. 69 ff, die das von den Anhängern der anlagenbezo-
genen Auslegung postulierte Stratbedürfnis (unter dem Aspekt der §§ 324 ff StOB) für den
Fall des eigenmächtig die Anlage benutzenden Dritten mit überzeugenden Argumenten ver-
neint.
Allgemein- und Sonderdelikte 633

Umweltstrafrechts als auch des dargelegten Ausgangspunktes einer tatbe-


standsspezifischen Auslegung. Und sie bietet immerhin auch eindeutige
Abgrenzungskriterien insofern, als sie eine Einordnung als Sonderdelikt von
vornherein fur alle verwaltungsaktsakzessorischen Fälle vorschreibt, in
denen also die dem Umweltschutz dienende verwaltungsrechtliche Pflicht
durch einen Akt singulärer Rechtssetzung i.S.d. § 330d Nr. 4b-e StGB be-
gründet wird. Lediglich in den Fällen einer verwaltungsrechtsakzessori-
schen Anbindung der Strafnormen hängt die Einordnung als Allgemein-
oder als Sonderdelikt von der Reichweite der jeweiligen umweltschützen-
den Rechtsvorschrift ab, auf deren Verletzung der Vorwurf des Umweltde-
likts gegründet wird. Die Frage der Deliktsnatur der einzelnen Umweltstraf-
taten lässt sich hier also erst durch Auslegung der in Bezug genommenen
Verwaltungsrechtsvorschrift beantworten, jedoch erweist sich eine solche
Auslegung zumindest für die hier relevanten unternehmensbezogenen und
dem Umweltschutz dienenden Rechtsvorschriften nicht als sonderlich
schwierig, wie die genannten Beispiele für die jedermann treffenden Pflich-
ten einerseits und für die nur den Inhaber bzw. besondere Leitungspersonen
des Unternehmens treffenden Sonderpflichten andererseits belegen (oben
Vl.l.).
v. Strafrechtliche Sanktionen
Empirische Perspektiven zur Legitimation
der Kriminalstrafe

DIETER RÖSSNER

I. Einleitung: Traditionelle Definitionen und Rechtfertigungen


der Kriminalstrafe
Die unendliche Kontroverse um den Einsatz der (Kriminal-) Strafe als
Mittel gesellschaftlicher Verhaltenssteuerung spielt sich hauptsächlich in
drei unterschiedlichen Sachebenen ab: 1
Was ist Strafe? (Wesen der Strafe)
Darf man strafen? (Rechtfertigung der Strafe)
Was soll Strafe bewirken (Sinn der Strafe)2
In der Auffassung zum Wesen der Strafe besteht weithin Einigkeit, weil
man sie zutreffend als sekundäre Sanktionsnorm zur ahndenden Verdeutli-
chung der Verletzung einer elementaren Primämorm des Zusammenlebens
betrachtet. 3 Im Gesamtsystem der Verhaltenssteuerung ist die Strafe damit
konsequent ein negatives Element mit belastendenden Folgen des Fehlver-
haltens im Gegensatz zur positiven Bestärkung durch Bestätigung oder
Belohnung konformen Verhaltens. Die Strafe enthält also ein sozialethi-
sches Unwerturteil, bekräftigt die verletzte Primärnorm und weist persönli-
che Verantwortung zu. 4 Dieses Grundelement bleibt als Wesensmerkmal
der Strafe erhalten, auch wenn bei der darauf basierenden Sinngebung zwi-
schen Repression, Prävention und Konfliktregelung durch Opfer-Täter-
Ausgleich eine große Bandbreite rür den Ausdruck der Negation des Ver-

1 S. z. B. die erhellende Gliederung bei Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts Allge-


meiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 8.
2 Meistens werden insbesondere in der Kommentar- und Lehrbuchliteratur die genannten
Ebenen weniger streng oder gar nicht unterschieden. Vor allem werden Ebene 2 und 3 (Recht-
fertigung und Sinngebung der Strafe) kaum getrennt, sondern als Gesamtproblem im Rahmen
der Diskussion um die Sinngebung unter den Stichworten "Strafzwecke" oder "Straftheorie"
behandelt.
3 Eingehend Freund Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2008, § 1.
4 Jescheck/Weigend (Fn. 1), S. 65~ Meier Strafrechtliche Sanktionen, 2. Aufl. 2006, S. 1 ff.
638 Dieter Rössner

haltens eröffnet wird. 5 In diesem Rahmen spielt sich die kontroverse Debat-
te um die Straftheorien ab.
Die zweite Ebene grundlegender Erwägungen zur Legitimation der Kri-
minalstrafe mit notwendig negativen Folgen wird meist übersprungen oder
geht in der dritten Ebene zur Sinngebung auf. Dabei soll nicht übersehen
werden, dass die neue Straftheorie der positiven oder integrativen General-
prävention Begründungs- und Sinngebungselemente der Kriminalstrafe
miteinander vereint. 6 Das tritt besonders hervor, wenn man die strafrechtli-
che Sanktion als Bestätigung gesellschaftlicher Identität begreift. 7 Denn so
wird das Strafrecht mit seinen Sozialisationsfunktionen in die gesellschaftli-
che Kontrolle eingebunden und dadurch gerechtfertigt. 8 Die empirische
Diskussion wird aber nicht durch die Annahmen der positiven Generalprä-
vention obsolet, da diese bisher nur ansatzweise empirisch erfasst wurden. 9
Weithin finden sich zur Rechtfertigung der Kriminalstrafe nach wie vor nur
strafrechtsimmanente Zirkelschlüsse, die die Notwendigkeit der Strafe in
der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung sehen.
Die Begründungen belegen das vorstehende straftheoretische Axiom
nicht, sondern rüllen es nur inhaltlich aus. 10 Mit dem Hinweis auf die staats-
politische Notwendigkeit der Strafe wird festgestellt, dass ohne strafrechtli-
ches Reaktionsmittel ein geordnetes und gedeihliches Zusammenleben in
einer menschlichen Gesellschaft auf Dauer undenkbar sei. Dies ergebe sich
aus der dem Staat obliegenden Verpflichtung, die Sicherheit seiner Mitglie-
der zu garantieren. Ohne das Mittel der Strafe würde sich die Staatsgewalt
selbst preisgeben. Die Reaktion demonstriere, dass an der übertretenen
Norm kontrafaktisch festgehalten werde und sie sei erforderlich, um eine
geordnete Kommunikation, demokratische Partizipation und sozialstaatliche
Solidarität der Gesellschaft zu gewährleisten.
Der sozialpsychologische Ansatz versteht die Strafe als natürliches Be-
dürfnis. Strafe ist danach ein angeborenes Aggressionsmuster, das ursprüng-
lich als Rache auftritt und im Strafrecht zivilisiert und begrenzt wird. Für
den privaten Triebverzicht entschädigt der Staat seine Bürger, indem er
kollektive Aggressionsabfuhr im geregelten Strafrecht zulässt. Unkontrol-

5 Rössner BewHi 2009, 259 f.


6 Zur Rechtfertigung des Jugendstrafrechts Schöch FS Jescheck, 1985, S. 1103 ff.
7 Jakobs ZStW 1995, 844.
8 Hassemer Warum Strafe sein muss, 2009, S. 96 ff.~ AK-StGB/Hassemer, 1990, Vor § 1
Rn. 318 ff.~ s. auch RössnerFS Roxin, 2001, S. 984.
9 Allerdings mit Ergebnissen, die generell für eine Wirksamkeit des Strafrechts bei der Ver-
haltenssteuerung sprechen, Dölling ZStW 1990, 1 ff.~ MK-Radtke, 2003, Vor §§ 38 ff. Rn.
37 ff.~ Schöch in: Frank/Harrer (Hrsg.), Forensia-Jahrbuch Bd. 1, 1990, S. 95 ff.; kritisch Bock
JuS 1994, 89 ff.
10 Siehe die Ansätze im Überblick bei Jescheck/Weigend (Fn. 1), § 8 12 a.
Etnpirische Perspektiven zur Legititnation der K.ritninalstrafe 639

lierbare Lynchjustiz und die Rückkehr zur Privatstrafe würden so vennie-


den. Die sozialpsychologische Notwendigkeit der Strafe könnte freilich
durch eine zunehlnende Rationalisierung der Gesellschaft entfallen.
Die individualethische Notwendigkeit sieht den Menschen als sittliches
Wesen lnit deIn Bedürfnis, sich von Schuld zu befreien. Der Weg dahin
führte über eine Sühneleistung durch die Strafe.
In ihren globalen Aussagen treffen alle Ansätze richtige Aspekte. Eine
zwingende - vor allem empirische - Begründung fehlt aber und iln Verhält-
nis zur Diskussion der Strafzwecke ist die gesalnte Argumentation als ober-
flächlich einzustufen: Die staatspolitische Rechtfertigung der Strafe beruht
auf der Vennutung, dass gesellschaftliche Ordnungen ohne Strafrecht nicht
existieren könnten. Dafür gibt es gute Gründe, widerlegt aber nicht, dass
positive gerichtete Verhaltenssteuerung jedenfalls in großen Teilen wirksa-
lner sein könnte. Zudeln steht fest, dass die Wiederherstellung des sozialen
Gleichgewichts durch verschiedene Fonnen der Mediation das geordnete
Zusalnlnenleben ebenso fördert wie Sanktionen. Ebenso fragwürdig sind die
sozialpsychologischen Rechtfertigungen der Strafe insoweit sie sich auf die
Irrationalität des lnenschlichen Aggressionstriebs berufen. LegitiInation aus
eineIn perpetuuln mobile des wechselseitigen Aggressionsausgleichs ist
nicht erstrebenswel1. Der individualethischen Rechtfertigung der Strafe
fehlt schon Plausibilität. Die innere Läuterung des Straftäters durch Sühne
ist eine autonolne sittliche Leistung, die durch den Zwang der Strafe eher
verhindert, jedenfalls aber nicht erreicht werden kann. So bleibt bisher aln
Ende nur eine rational auf das Güterabwägungsprinzip des § 34 StGB zu-
rückzuführende Rechtfeliigung der Sanktion als Gegenwehr gegen nonn-
verletzende Übergriffe. Das allgelneine Rechtsprinzip des Notstands erlaubt
es, sozialschädliche Angriffe auf überwiegende Rechtsgüter der Gelnein-
schaft lnit strafrechtlichen Zwangsreaktionen zur Sozialvelieidigung Init der
erforderlichen aber weniger schwerwiegenden Güter- und Welieinbuße
beiln Betroffenen zu beantworten. I I
In dieser Situation ist es wohl ganz in1 Sinne des Jubilars 12 reizvoll, die
zweite Ebene der Grundfragen zur I{rilninalstrafe - die LegitiInation als
Instrulnent der Verhaltenssteuerung - spezifisch und in elnpirischer Per-
spektive anzupacken. Es gilt zu klären, ob auch in dieseln Kontext von der
rasanten Entwicklung der Grundlagenforschung in den HZllnanvvissenschaf:"

II Hassemer (Fn. 8), S. 22 f. sieht in dieser Gerechtigkeitserwartung ein entscheidendes


Eletnent unserer Alltagskultur.
12 Hein::: Schöch hat sich in seinetn wissenschaftlichen Schatfen stets intensiv den etnpiri-
sehen Wirkungen der Strafe zugewandt, vgl. nur FS Schaffstein, 1975, S. 255 ff.~ ZStW 1980,
143 t1, FS Jescheck, 1985, S. 1081 ff.~ in: .lehle (Hrsg.), Individualprävention und Strafzutnes-
sung, 1996, S. 243 ff. ~ Artikel "Strafe" in: Evangelisches Kirchenlexikon, 3d. 4, 1996,
S. 513 ff., in: Hof/Lübbe-Wolf, Wirkungsforschung zun1 Recht I, 1999, S. 253 tf.
640 Dieter Rössner

ten neue Impulse für die Einschätzung der Kriminalstrafe im System sozia-
ler Kontrolle ausgehen können. Bisher sind entsprechend neue sozial- vor
allem neurowissenschaftliche Erkenntnisse in der Debatte um Willensfrei-
heit und Schuld im Strafrecht angekommen und haben zu heftigen Ausei-
nandersetzungen über das Vorhandensein und das Ausmaß der normativen
Ansprechbarkeit des Menschen geführt. 13 Hierbei ergaben sich trotz aller
Kontroversen wichtige Präzisierungen und Klärungen des Problems, die
neue Zugänge zur Lösung ermöglichen. So geht es nun nicht mehr um glo-
bale Fragen und Antworten zu Willensfreiheit und Schuld, sondern um
Maßstäbe fur die normative Ansprechbarkeit und Selbstbestimmungsfähig-
keit im Rahmen der hirnorganischen Ausstattung und der normativen Kon-
struktion von Gesellschaft. In diesem Sinn soll hier ein entsprechender
Klärungsprozess zur Legitilnation der Kriminalstrafe zumindest angestoßen
werden.

11. Anthropologischer Ansatz der Rechtfertigung von Sanktionen


Anthropologische Analysen der Funktion von Verbrechen und Strafe in
der Gemeinschaft weisen auf eine "formale Konstanz im Zusammenleben
U

der Menschen hin. Sie soll sich darin zeigen, dass der Mensch sich anders
als das instinktgeprägte Tier stets um die Ordnung des Zusammenlebens
bemühen muss,14 weil er diese Ordnung durch seine zu verantwortenden
Abweichungen stets selbst gefährdet. Die Differenz zwischen Ordnung und
deren Negation wird so als Urphänomen des menschlichen Lebens verstan-
den. Die Ordnung bedarf also der Abwehr ihrer Negation mit dem Mittel
der Sanktion. Aus der Fähigkeit, sich zwischen verschiedenen Verhaltens-
weisen entscheiden, zumindest zwischen verschiedenen Alternativen wäh-
len zu können, folgt die notwendige Konsequenz, das Gemeinschaftsleben
durch Verhaltensnormen zu regeln, insbesondere gemeinschaftsschädliches
Verhalten als Verhaltensalternative auszuschließen. Dieser zentrale Punkt
des Evolutionsgeschehens bei der Entwicklung zum Menschen als Lebewe-
sen mit nur schwach vorhandenen angeborenen Verhaltensmustern und
einem großen Spielraum zur Annahme umweltgeprägten Verhaltens und
damit verbundenen moralischen Handels findet sich in allen Schöpfungsge-
schichten als Grundthematik. So unterschiedlich sie sich auch im Einzelnen
darstellen, das Verbrechen und seine Sanktionierung als Auflehnung gegen

13 Exemplarisch sind jeweils die Sammelbände von Hillenkamp (Hrsg.), Neue Hirnfor-
schung - Neues Strafrecht, 2006, und Duttge (Hrsg.), Das Ich und sein Gehirn, 2009; Hirsch
ZIS 2010, 62 ff.
14 Schuh Philosophie in der veränderten Welt, 1980, S. 720 f.
Empirische Perspektiven zur Legitimation der Kriminalstrafe 641

die kosmische Ordnung der Welt sind untrennbar mit dem Auftreten des
Menschen verbunden. In der biblischen Schöpfungsgeschichte lebte der von
Gott geschaffene Mensch im Garten Eden - dem Paradies - bis Adam und
Eva mit dem gestohlenen Apfel vom verbotenen Baum der Erkenntnis essen
und danach Gut und Böse unterscheiden können. Der Diebstahl als erstes
Verbrechen der Menschen ist die Erbsünde, der bald der erste Mord folgt,
wenn Kain den Abel erschlägt und beide Taten notwendig mit Sanktionen
verknüpft sind. Im babylonischen Schöpfungslied "Enuma elisch" aus dem
2. Jahrtausend vor ehr. ist der Mensch schon bei der Entstehung kein reines
und unschuldiges Wesen, sondern ist belastet mit den Verbrechen der Göt-
ter, die Sünde und Tod in die Welt abschieben.
Der nicht Instinkt geleitete Mensch trägt die Normen also nicht in sich,
sondern muss sie im Prozess der moralischen Entwicklung mit vielen mög-
lichen Störfeldern erst lernen. 15 Der Prozess ist komplex und kennt vielfälti-
ge Wechselwirkungen. Eine "formale Konstanz" ist jedoch auch mit dem
Prozess des Normlernens verbunden, die zugleich die doppelte Bedeutung
der Sanktion im Blick auf das Endziel der "Verinnerlichung grundlegender
Verhaltensnormen" zeigt. Das Normlernen geschieht im notwendigen Zu-
sammenspiel von zwei unterschiedlichen Ebenen:
Die in der Außenwelt konstituierten sozialen Normen - das Normfun-
dament - bedürfen zunächst und ständig fortlaufend der externen so-
zialen Kontrolle zum Sichtbarwerden und zur Vergegenständlichung.

Die persönliche Aneignung der Normen aus der Außenwelt führt zu


der letztlich wirksamen inneren Kontrolle, die eine ständige äußere
Kontrolle zur Normbeachtung überflüssig macht.
Auf beiden Ebenen kommt der Sanktion existenzielle Bedeutung zu. In
der Außenwelt wird eine Norm nur dann sichtbar, wenn gegen sie verstoßen
und diese Verletzung durch eine Reaktion (= Sanktion) skandaliert wird.
Ohne solche sichtbaren Konturen ist aber der Weg von der Außenwelt der
Gemeinschaft in die Innenwelt des Individuums nicht möglich. Die Sankti-
on ist also eine Grundkonstante menschlicher Gemeinschaft.
Nicht weniger bedeutsam ist die Reaktion auf abweichendes Verhalten für
die Internalisierung grundlegender Verhaltensnormen. Die Belege dazu
liefern die Kontrolltheorien der Kriminologie. Gottfredson und Hirschi 16

15 Oerter in: Schneewind (Hrsg.), Psychologie der Erziehung und Sozialisation, 1994,
S. 159; Gehlen Der Mensch, 13. Aufl. 1997, S. 16 ff. spricht anschaulich von der ,,2. sozialen
Geburt", s. auch die Modelle der moralischen Entwicklung bei Piaget Das moralische Urteil
beim Kinde, 1973, und Kohlberg Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, 1974.
16 GottfredsonlHirschi A General Theory of Crime, 1990.
642 Dieter Rössner

gehen in ihrem umfassenden Erklärungsansatz abweichenden Verhaltens


davon aus, dass Menschen ohne externe und interne Kontrolle stets so han-
deln, dass sie im Eigeninteresse ihre Bedürfnisse mit möglichst geringem
Aufwand realisieren. Entscheidendes Mittel verantwortlicher Gegensteue-
rung ist die innere Selbstkontrolle. Diese entsteht durch drei Rahmenbedin-
gungen: Das Verhalten muss kontrolliert, Fehlverhalten erkannt, themati-
siert und sanktioniert werden. Zuerst muss bei der moralischen Entwicklung
also Verhalten beaufsichtigt werden. Die Verbindung zwischen äußerer und
innerer Kontrolle ist nirgends so unmittelbar und intensiv wie im Fall elter-
licher Beaufsichtigung des Kindes. Dazu gehört natürlich vor allem eine
grundsätzlich akzeptierende, wohlwollende Haltung gegenüber dem Kind,
worin die Sanktion eingebettet ist.
Die Bedeutung der Konstanz sozialen Normlernens zeigt sich sehr plas-
tisch in empirisch kriminologischen Untersuchungen. Bei der Nachuntersu-
chung der groß angelegten Tübinger-Jungtäter-Vergleichsuntersuchung
stellte sich heraus, dass die mit Abstand stärksten und signifikantesten Kor-
relationen zwischen dem Ob und Wie der Beaufsichtigung ("Monitoring")
der Kinder durch die Eltern und dem konsequenten und konstanten Erzie-
hungsstil sowie der emotionalen Bindung an die Familie bestehen. Nahezu
die Hälfte der Varianz des Unterschieds zwischen der kriminellen Untersu-
chungsgruppe und der unauffälligen Vergleichsgruppe ist mit den genann-
ten drei Faktoren zu erklären. I7 Die Ergebnisse erhalten besonderes Ge-
wicht, da diese die Ausprägung kriminellen Verhaltens auch in allen großen
empirischen Untersuchungen zur Kriminalitätsentwicklung zeitüberdauemd
und interkulturell bestimmen. Die formale Konstanz der normativ orientier-
ten sozialen Kontrolle mit den Mitteln der Sanktion tritt so einmal mehr
hervor. Es ist im nächsten Abschnitt zu fragen, ob sich weitere Legitimati-
onsgrundlagen bei soziologisch-funktionaler Betrachtung des normativen
Systems sozialer Kontrolle in der Gesellschaft finden.

111. Die Stellung der Sanktion in der normativen Konstruktion


der Gesellschaft
Wie vorstehend nahe gelegt, sind soziale Normen und damit einherge-
hende Verhaltensnormierungen Grundelement des menschlichen Zusam-
menlebens, und zwar in allen Formen. Auch hier zeigt sich in gleicher Wei-
se eine formale Konstanz: In allen Zweierbeziehungen, Gruppen, Gemein-

17 Kerner in: Klosinski (Hrsg.), Empathie und Beziehung, 2004, S. 41 ff.


Empirische Perspektiven zur Legitimation der Kriminalstrafe 643

schaften und Gesellschaften gibt es allgemeine soziale Normen (primäre


Verhaltensregeln) und (sekundäre) Sanktionsnormen zur Absicherung. 18
Die Normen sind Voraussetzung für menschliche Kommunikation: Sie
wirken im Alltag entlastend, denn sie geben die Kommunikationsstruktur
für jede Begegnung vor, schaffen Vertrauen und Verhaltenssicherheit und
regeln vor allem den fairen Wettbewerb. Die Normsetzung ist hinsichtlich
der primären Verhaltensnorm nicht mehr als eine Klarstellung und Affirma-
tion der Verhaltenserwartungen. Die ausdrückliche Normierung hat aber
letztlich die Legitimierung der sekundären Sanktionsnorm im Auge. Die
Normierung erfolgt, weil Verstöße gegen die Primärregel als Gemein-
schaftsproblem erkannt wurden und verhindert werden sollen. Die ohne
Verhaltensabweichungen lautlos laufende primäre Verhaltensnormierung ist
auf sekundärer Ebene erst gefordert, wenn Verstöße offenkundig sind. 19 Es
bedarf dann einer Sanktionsstruktur, um zu verhindern, dass die Primär-
norm quasi von hinten her durch Nichtbeachtung aufgehoben wird. 20 Am
Ende kann dann selbst ein staatliches Ordnungsgefüge in Schieflage "La
Deriva" geraten, wenn die Missachtung von Regeln zum "Volkssport" ge-
rät. 21 Die Sanktion allein ist in der Lage in einem normativen System dann
gegen erodierendes Fehlverhalten entscheidende Schlussakte zu setzen. 22
Insbesondere die staatliche Kriminalstrafe ist berufen, einen Schlusspunkt
bei Konflikten mit Eskalationsgefahr zu markieren.
Hinsichtlich des Normvertrauens und Normlernens hat die Sanktion die
Funktion, die allein nicht sichtbare Primämorm in der Sanktion zu verge-
genständlichen und offenkundig zu machen. Die Sanktion ist so gesehen
"der Kitt des gesellschaftlichen Zusammenlebens. 23 Diese grundlegenden
U

soziologischen Erkenntnisse zum normativen System haben inzwischen


auch die Dogmatik des Strafrechts erreicht. In neuen Systemüberlegungen
wird berücksichtigt, dass Verhaltens- und Sanktionsnorm zu unterscheiden
sind und der Verstoß gegen eine (primäre) Verhaltensnorm zur Vorausset-
zung für eine (sekundäre) Kriminalstrafe bei bestimmten Verhaltensnorm-
verstößen wird. 24
Das soziologische Konzept der normativen Struktur der Gemeinschaft
wird in jüngster Zeit durch zahlreiche experimentelle Untersuchungen em-

18 Raiser Grundlagen der Rechtssoziologie, 5. Aufl. 2009, S. 160 ff.


19 Bellebaum Abweichendes Verhalten, 1984.
20 Popitz Die normative Konstruktion; Elster Social Psychology, Quarterly 2001, 253 ff.
21 StellalRizzo La Deriva, 2008.
22 Rössner (Fn. 8), S. 997.
23 Elster The Cement of Society, 1989; FehrlFischbacher Trends in Cognitive Science
2004, 185 ff.
24 Freund (Fn. 3), § 1 Rn. 12 ff.; Kindhäuser Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Autl. 2006, § 2
Rn. 1 ff.
644 Dieter Rössner

pirisch gestützt. So wird insbesondere die Bedeutung der Sanktionierung


abweichenden Verhaltens für die Aufrechterhaltung sozialer Primärnormen
und die Kooperation von Menschen in der Gemeinschaft untersucht. 25 Die
Sanktion gegen "Trittbrettfahrer", die sich regelwidrige Vorteile verschaf-
fen, widerspricht dem Grundsatz reziproken sozialen Verhaltens der Men-
schen. 26 Im kontrollierten Experiment ist das gut zu belegen. Bietet man
Menschen beim ökonomischen Gewinnspiel die Option verschiedener For-
men der Verhaltenssteuerung von der Belohnung prosozialen Verhaltens bis
zur Bestrafung gemeinschaftsschädlichen Verhaltens im sozialen Dilemma,
so wird die Unverzichtbarkeit der Sanktion am harten Ende des Experi-
ments sehr deutlich. Während anfänglich fast alle Spieler (vorrangig Studie-
rende) rur das sanktionsfreie Umgehen im Spiel votierten, wollte am Ende
mit der Erfahrung einiger weniger Schmarotzer im System niemand mehr
darauf verzichten und besonders eindrucksvoll: Unter der Strafdrohung
wurden auch die Egoisten kooperativ und setzten altruistische Mittel ein,
um das Sanktionssystem einzurichten und aufrechtzuerhalten. 27 Offenbar
wurde die ursprünglich breite Kooperationsbereitschaft in den sanktions-
freien Spielgruppen schnell durch die wenigen egoistischen Nutznießer
dieses Systems so strapaziert, dass Misstrauen und Rücksichtslosigkeit
einern echten Kooperationsmodell keine Chance mehr ließen. Im sanktio-
nierenden System etablierten und stabilisierten sich dagegen kooperative
Verhaltensmuster.
Die anonyme staatliche Ebene ist fur sog. "Free-Rider" in Form kriminel-
len Verhaltens besonders anfällig. Gemeinschaft basiert darauf, dass Sank-
tionen mögliche Verhaltensvorteile von Normbrechern beseitigen und Kon-
forme bevorzugen. Letztlich hängt die faire Kooperation einer Gemeinschaft
also von der Möglichkeit der Sanktionierung ab. 28 Langfristig reicht dann
schon die Sekundärnorm um die Einhaltung der Primärnorm zu stützen. Die
Ergebnisse lassen sich nicht nur dem Experiment entnehmen sondern auch
bei der Untersuchung überschaubarer Gemeinschaften. Das geordnete Zu-
sammenleben bei der Nutzung von Ressourcen setzt - ähnlich wie beim
Normlemen - zumindest voraus, dass es ein ständiges Monitoring des Ver-
haltens der Akteure gibt und unkooperatives Verhalten abgestuft sanktio-
niert werden kann. 29
Die angemessene Strafe und deren sicheres Eintreffen nach einern Fehl-
verhalten sind freilich entscheidende Faktoren im normativen System der

25 FehrlFischbacherlGächter Human Nature 2002, 1 ff.~ DixitlNalebufjSpieltheorie für Ein-


steiger, 1997, S. 97 ff.
26 Becker Man in Reciprocity, 1956~ FehrlFischbacherlGächter a.a.O.
27 Gürerkllrelnbuch/Rockenbach Science 2006, 108 ff.
28 FehrlFischbacher (Fn. 23), 187 ff.
29 Diekmann Spieltheorie, 2009, S. 132~ Ostrom Die Verfassung der Allmende, 1999.
Empirische Perspektiven zur Legitimation der Kriminalstrafe 645

Gesellschaft. 30 Die Annahmen der positiven Generalprävention werden


durch die Ergebnisse insbesondere hinsichtlich der Integrationsfunktion der
Strafe erheblich gestützt. In jedem Fall sollte die Strafrechtswissenschaft die
Impulse aus den Forschungen zur normativen Struktur und Funktion der
Gemeinschaft stärker aufnehmen als bisher. Die Rechtfertigung der Strafe
ist so eingehend auf einer empirisch zugänglichen Basis zu diskutieren.

IV. Neurowissenschaftliche Ansätze


Schließlich bleibt noch eine Durchsicht der aktuellen neurowissenschaft-
lichen Ergebnisse hinsichtlich ihres Ertrags fur die Rechtfertigung der Kri-
minalstrafe. Der Blick wird schon deshalb darauf gelenkt, weil die aktuellen
Experimente der Spieltheorie viele Bezüge zur Neurowissenschaft auch im
Untersuchungsdesign aufweisen. 31 So wird die im normativen System mit
der Spieluntersuchung festgestellte reziproke Einstellung der Bestrafung
von Normverletzungen auch als neurologisch begründet angesehen. Fair-
ness und Kooperation finden sich schon als "Moralinstinkt beim Men- Cl

schenaffen 32 und beim noch nicht moralisch entwickelten Kleinkind. 33 Die


Suche nach Inhalten und Grundzügen des angeborenen Moralsinns durch
die Konfrontation mit moralischen Dilemmata sowie hirnorganische Befun-
de lassen einen universellen Moralsinn ebenso wie bei der Sprache eine
Universalgrammatik erkennen,34 an deren Entschlüsselung interdisziplinär
und weltweit mit beachtlichen Ergebnissen gearbeitet wird. 35 Das dabei
aufgedeckte Gegenseitigkeitsprinzip als Grundlage der Kooperation enthält
als Kehrseite die Sanktion gegenüber Unfairen. Die Strafe ist wie bildge-
bende Hirnuntersuchungen zeigen - deutlich mit Gefühlen des Spannungs-
abbaus und der Genugtuung verbunden. 36 Daher werden im Sinne eines
reziproken Altruismus die erheblichen Kosten fur Sanktionen eher ertragen
als das unfaire Verhalten. 37 Faires Verhalten eines Gegenüber zeigt im
menschlichen Gehirn messbare positive Erregung. 38

30 DixitINabeluff(Fn. 25), S. 104 ff.


31 S. Z. B. Fehr Science 2004, 1254 ff.~ Spit=erlFischbacherlHerrnbergerlGrönlFehr Neu-
ron 2007, 185 ff.
32 De Waal Wilde Diplomaten, 2006.
33 Lampe Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 2006, 397 ff. ~ Keller in:
Horster/Delkers, Pädagogik und Ethik 2005, S. 149 ff.
34 Hauser Moral Minds, 2006; Walter Nervenheilkunde 2007, 312 ff.
35 Mahlmann German Law Journal 2007, 577 ff.; Mikhail Trends in Cognitive Sciences,
2007,143 ff.
36 FehrlGächter Nature 2002, 139.
37 De QuervainlFischbacherlTreyer u. a. Science 2004, 1254 ff.
38 SingerlFehr American Economic Review 2005, 340 ff.
646 Dieter Rössner

Neuronale Aktivitäten spielen eine erhebliche Rolle bei der Entscheidung


für die Befolgung sozialer Normen. Bei entsprechenden MRT-Unter-
suchungen wurden insbesondere individuelle Unterschiede der Fähigkeit
zur Normeinhaltung aufgrund von Sanktionen deutlich: Normeinhaltung
steht im Zusammenhang mit Aktivitäten im orbifrontalen Cortex und dem
rechten präfrontalen Cortex. 39 Freilich bedürfen gesicherte Aussagen in
diesem Bereich der Korrelation zwischen neuronalen Vorgängen und Ein-
stellungen sowie Verhalten noch differenzierter interdisziplinärer Forschun-
gen.
Eine an reziproken Gerechtigkeitsprinzipien orientierte "wohlgeordnete
Gesellschaft"40 erfordert die Gewissheit, dass sich alle anderen auch an die
Regeln halten. Zur Lösung des "Gewissheitsproblems" CRawls) ist die Sank-
tion notwendig. Der Konforme wird darin bestärkt, dass regelkonformes
Verhalten sinnvoll ist, auch wenn es einige Abweichungen gibt. Durch das
Erleben klarer und akzeptierter Primärregeln entsteht eine gemeinschafts-
orientierte Haltung der Integration und Kooperation. 41 Die kurze Analyse
hat somit zum Ertrag, dass neue verhaltens- und neurowissenschaftliche
Forschung zur Funktion der Sanktion in der sozialen Kontrolle wichtige
Argumente auch für die Rechtfertigung der Kriminalstrafe ergeben. Der
Dialog mit diesen Forschungsansätzen wird den empirischen Gehalt der
Diskussion deutlich erhöhen.

39 Spitzer/Fischbacher u. a. (Fn 31).


40 Rawls Eine Theorie der Gerechtigkeit, Neuauflage 2009.
41 Dalbert The justice motive as a personal resource, 2001.
Knast für den Diebstahl einer Milchschnitte?
Grenzen der Verhängung kurzer Freiheitsstrafen bei
Bagatelltaten wiederholt straffälliger Personen

JÖRG KINZIG*

I. Einleitung
Wann ich mit dem Werk des Jubilars zum ersten Mal in Berührung ge-
kommen bin, ist mir nicht mehr genau präsent. Ich vermute aber sehr stark,
dass es in der Zeit war, in der ich mich an der Albert-Ludwigs-Universität
Freiburg in der zweiten Hälfte der 80er Jahre auf mein Erstes Juristisches
Staatsexamen und dabei insbesondere auf die Klausur in der damaligen
Wahlfachgruppe "Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug" vorzuberei-
ten hatte. Hier weiß ich sicher, dass mir dabei der von Heinz Schöch zu-
sammen mit meinem späteren Doktorvater, Günther Kaiser, herausgegebe-
ne Juristische Studienkurs l von großem Nutzen war.
Genau vor Augen habe ich auch noch, dass mir Günther Kaiser im Rah-
men meiner ersten Literaturrecherchen zur Arbeit an meiner Promotion zur
Sicherungsverwahrung2 ab dem Herbst 1992 empfahl, doch in das zum
59. Deutschen Juristentag erschienene Gutachten von Heinz Schöch mit
dem Titel "Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den straf-
rechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug?" Einblick zu nehmen. 3
Während eigener Arbeiten an der Kommentierung des Sanktionenteils im
Schönke/Schröder4 stieß ich nun vor kurzem auf das vor allem die oberlan-
desgerichtliche Rechtsprechung in den letzten Jahren verstärkt beschäfti-
gende Problem, ob und unter welchen Voraussetzungen kurze Freiheitsstra-

* Für wertvolle Vorarbeiten danke ich Frau Ref. iur. Anika Burkhardt und Frau stud. iur.
Anja Esperschidt.
1 Kaiser/Schöch Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, 3. Aufl. 1987~ zuletzt 6. Aufl.
2006.
2 Kinzig Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand, 1996.
3 Schöch Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen
ohne Freiheitsentzug?, 1992.
4 Schönke/Schröder Strafgesetzbuch, 28. Aufl. (erscheint voraussichtlich 2010).
648 Jörg Kinzig

fen 5 auch bei so genannten Bagatellstraftaten zulässig sind. Gemäß den


Interessen des Jubilars bot es sich an, das Thema Grenzen der Verhängung
kurzer Freiheitsstrafen bei Bagatelltaten wiederholt straffalliger Personen
empirisch-normativ aufzubereiten und in fünf Schritten abzuhandeln. Dabei
wird nach dieser Einleitung zunächst in einem kriminologisch ausgerichte-
ten Abschnitt das vorhandene statistische Material daraufhin untersucht, wie
sich ganz generell die kurze Freiheitsstrafe in den letzten Jahren quantitativ
entwickelt hat (11). Daran anschließend soll anhand einer Analyse der
Rechtsprechung eruiert werden, in welchen Fallgruppen das Thema kurze
Freiheitsstrafen fur Bagatellkriminalität derzeit überhaupt von Relevanz ist
und welche strafrechtlichen Reaktionen und Argumentationslinien die Judi-
katur dafür entwickelt hat (111). Darauf aufbauend ist der eher strafrechts-
dogmatisch angelegten Frage nachzugehen, welche Vorgaben § 47 StGB
und die Verfassung fur den Einsatz kurzer Freiheitsstrafen im Falle soge-
nannter Bagatellkriminalität bereithalten (IV), bevor der Ertrag dieses klei-
nen Beitrags zusammengefasst werden soll (V).

11. Die kurze Freiheitsstrafe - ein statistischer Überblick


Das Vorhaben, einen Überblick über die Entwicklung der kurzen Frei-
heitsstrafe zu gewinnen, veranlasste mich eingedenk des bereits erwähnten
Rates von Günther Kaiser dazu, zunächst Einblick in das eingangs genannte
Gutachten von Heinz Schöch aus dem Jahre 1992 zu nehmen. Es enthält
auch eine kleinere Passage, die mit der Zwischenüberschrift "Konstant
hoher Anteil kurzer Freiheitsstrafen" versehen ist. Darin konstatiert der
Autor, dass zwar die Zurückdrängung der kurzen Freiheitsstrafen unmittel-
bar nach dem 1. Strafrechtsreformgesetz aus dem Jahre 1969 eindrucksvoll
gelungen, aber seit Mitte der 70er Jahre eine Stagnation eingetreten sei. 6
Der Anteil der ganz überwiegend als resozialisierungsfeindlich angesehenen
Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten 7 betrage seither regelmäßig ca. 45%
der verhängten Freiheitsstrafen. Liest man diesen Abschnitt zu Ende, ge-
winnt man im Übrigen den Eindruck, dass der Autor jedenfalls der voll-
streckten kurzen Freiheitsstrafe eher skeptisch gegenüberzustehen scheint.

5 Als kurze Freiheitsstrafe soll in Anlehnung an § 47 StGB eine solche unter sechs Monaten
verstanden werden~ zur terminologischen Diskussion vgl. Wittstamm ZfStrVo 1997, 3 f.
6 Schäch (Fn. 3), C 25.
7 Weitere empirische Daten zur kurzen Freiheitsstrafe, verstanden als eine solche bis zu 24
Monaten Länge, finden sich bei Sohn ZfStrVo 2004, 264 tT.
Knast für den Diebstahl einer Milchschnitte? 649

Betrachtet man zunächst die Entwicklung der kurzen Freiheitsstrafe seit


Mitte der 70er und speziell Anfang der 90er Jahre, ergibt sich folgendes
Bild (Schaubild 1).

Schaubild 1: Anteil der kurzen Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten


an den Verurteilungen zu Freiheitsstrafen insgesamt (1976-2008)

50% + - -::- - -- - --=- - - -- - - -- - -4tr.l:SV~)- -- -- - -- --- -. - -, -.. - -- - - -- - - -- - - -- _ .. -- - -.- - - .-.- - - -- - - -- - - .-- ---- -'- - - -- - - -- --1

40% +- -----. - - --- - ·'44,V'1o----- - --- ~L:;:..·-- -------.------- - --- - .. ----- - .. - --- ---. - --- - - ---.- -- -- .. ---- - -.- - -;

30% + - -- - - -' -- --- - - -- .. - -- - - -- - --- - - -- - --- .. - - -- - - -.- - - -. - - -- - - -- .. --- - -.' """"~'>.LlJ)" -, -.---- - - , . - - - - - -.' - .. - - .......·-...... 1

20% +---- ...----------------.------ ... -.---- .. ------------ .. -··-··-----·-------·---·---·-------------- .. ··--1

10% +------.-----------------.----- .. -------... -----------------·----------- .. ··-------·------··-·-----·---1

1976 1980 1985 1990 1995 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008

Tatsächlich hat seit Erstellung des Gutachtens der Anteil von kurzen
Freiheitsstrafen an den Verurteilungen zu Freiheitsstrafen insgesamt weiter
kontinuierlich abgenommen. Zuletzt (2008) wies nur noch ein knappes
Drittel aller Freiheitsstrafen eine Dauer bis zu sechs Monaten auf. In absolu-
ten Zahlen ausgedrückt, erhielten 45.622 von 140.279 Personen (32,5%),
denen im Jahr 2008 eine Freiheitsstrafe auferlegt wurde, eine kurze. 8 Seit
Mitte der 70er Jahre bis heute wurden und werden auch im Übrigen regel-
mäßig zwischen rund 40.000 und 50.000 Personen jährlich zu einer derarti-
gen Sanktion verurteilt, mit Spitzenwerten im Jahre 1980 (50.324) und
einem Tiefststand von 41.796 im Jahre 2006. 9 Dabei ist der Anstieg in den
Jahren 2007 (46.794) und 2008 (45.622) allein dem Umstand geschuldet,
dass seit dieser Zeit auch die neuen Bundesländer in der Strafverfolgungs-
statistik erfasst sind. 10

Den Anteil der kurzen Freiheitsstrafen, die zur Bewährung ausgesetzt


werden, bezifferte Schöch in seinem Gutachten rnr das Jahr 1989 auf 77,50/0

8 Quelle: Statistisches Bundesamt - Rechtspflege Strafverfolgung Fachserie 10 Reihe 3


2008, Tabelle 3.1 (seit dem Jahr 1990)~ zuvor bis zum Berichtsjahr 2001 einerseits in einer so
genannten Arbeitsunterlage mit dem vollständigen Nachweis der einzelnen Straftaten und
andererseits im alten Fachserienheft 10, Reihe 3 veröffentlicht (dort jeweils Tab. 6). Zur Ent-
wicklung der kurzen Freiheitsstrafe vgl. auch Heinz Das strafrechtliche Sanktionensystem und
die Sanktionierungspraxis in Deutschland 1882-2006 (Stand: Berichtsjahr 2006, Version
112008), im Internet unter www.uni-konstanz.de/rtf/kis. Tabelle 6 und Schaubild 16.
9 Quelle: Statistisches Bundesamt (0. Fn. 8).
10 Vgl. dazu die Anmerkungen in Rechtspflege Strafverfolgung Fachserie 10 Reihe 3 2007,
S. 4,7.
650 Jörg Kinzig

"mit sinkender Tendenz". 11 Schaubild 2 zeigt, dass sich dieser Trend noch
etwas fortgesetzt und seit nunmehr etwa einer Dekade stabilisiert hat.

Schaubild 2: Anteil der unbedingt angeordneten an allen kurzen


Freiheitsstrafen im Zeitraum von 1976 - 2008

40%

35% ~ -- ----I
30%

25% -22,1%----

23,2%
20%
19,9%
15%

10%

5%

0%
1976 1980 1985 1990 1995 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008

Nach einem Tiefststand im Jahre 1985 mit rund 20% ist der Anteil der
unbedingt angeordneten an allen kurzen Freiheitsstrafen bis zur Jahrtau-
sendwende aufrund 250/0 angestiegen. Auch im Jahre 2008 wurden von den
bereits genannten 45.622 Freiheitsstrafen unter sechs Monaten 11.468
(25,10/0) nicht zur Bewährung ausgesetzt. 12 Im Verhältnis zu den im Jahre
2008 insgesamt angeordneten, nicht zur Bewährung ausgesetzten Freiheits-
strafen, fielen immerhin 27,8% (11.468 von 41.239) in die Kategorie der
kurzen Freiheitsstrafen.
Rein faktisch werden jedoch in einem erheblich größeren Maße Freiheits-
strafen von unter sechs Monaten vollzogen. Dies kann z.B. der Fall sein bei
einem Widerruf (§ 56f StGB) einer ehedem kurzen zur Bewährung ausge-
setzten Freiheitsstrafe; darüber hinaus im Falle der Vollstreckung einer
Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43 StGB) sowie im Falle einer Strafrestaussetzung
zur Bewährung (§ 57 StGB) vor Ablauf von sechs Monaten Haftzeit. Zu-
dem führt die regelmäßig nach § 51 StGB vorzunehmende Anrechnung
vorangegangener Untersuchungshaft auf die zu vollstreckende Freiheitsstra-
fe zu einer Verkürzung der realen Zeit im Strafvollzug. 13

11 Schäch (Fn. 3), C 25, 122.


12 Vgl. auch Hein= (Fn. 8), Schaubild 20.
13 Wittstamm ZfStrVo 97, 8 schätzt, dass die Zahl derjenigen, die sich realiter weniger als
sechs Monate im Strafvollzug befinden, rund 6-mal so hoch ist wie die Zahl der zu kurzer
Freiheitsstrafe Verurteilten~ vgl. auch Hein= (0. Fn. 8), S. 64~ NK-Streng, 2. Aufl. 2005, § 47
Rn. 12.
Knast für den Diebstahl einer Milchschnitte? 651

Dies ändert aber nichts an der Vorrangstellung der Geldstrafe. Sie lässt
sich auch daran ersehen, wenn man die Verurteilungen zu Geldstrafe im
Bereich von 3 1 bis zu 180 Tagessätzen und damit dem zu einer Freiheits-
strafe von einem bis zu sechs Monaten äquivalenten Bereich, denen zu
kurzer Freiheitsstrafe gegenüberstellt (Schaubild 3). Standen im Jahre 1976
47.053 kurzen Freiheitsstrafen 106.562 und damit (nur) etwas mehr als
doppelt so viele Geldstrafen von 31-180 Tagessätzen gegenüber, waren es
im Jahr 2008 mit 325.503 Geldstrafen bereits mehr als 7-mal so viele wie
kurze Freiheitsstrafen (45.622). 14

Schaubild 3: Vergleich kurze Freiheitstrafe/Geldstrafe 31-180 Tagessätze

1976 1980 1985 1990 1995 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008

Konzentrieren wir uns nun auf eine besonders prekäre Fallkonstellation:


nämlich auf die kurze Freiheitsstrafe, die nicht zur Bewährung ausgesetzt,
sondern sogleich vollstreckt wird: Für welche Deliktsgruppen wird eigent-
lich eine solche Sanktion ausgesprochen? Aufschlussreich ist in diesem
Zusammenhang ein Vergleich der Daten aus der Strafverfolgungsstatistik
1976 mit denen aus dem Jahr 2008.
Schaubild 4 zeigt eine deutliche Verschiebung der Deliktsgruppen, die
einer kurzen unbedingten Freiheitsstrafe zugrunde liegen.
So wurden im Jahre 2008 von den insgesamt 11.468 unbedingten kurzen
Freiheitsstrafen allein 5.063 (44,1 0/0) für eine Verurteilung wegen eines
Delikts aus der Gruppe Diebstahl und Unterschlagung (§§ 242-248c StGB)
angeordnet. 15 Demgegenüber lag der entsprechende Anteil im Jahr 1976 nur
bei 24,5% (2.625 von 10.704 Verurteilungen insgesamt). Angestiegen ist
auch die Kategorie der anderen Vermögensdelikte, zu denen die §§ 257-261

14 Quelle zu Geldstrafen: Statistisches Bundesamt (Fn. 8), Tabelle 3.3 (seit 1990)~ zuvor bis
zum Berichtsjahr 2001 Tabelle 7~ vgl. auch die Ergebnisse von Schott Gesetzliche Strafrahmen
und ihre tatrichterliche Handhabung, 2004, S. 227 für Niedersachsen und Schleswig-Holstein.
15 Quelle: Statistisches Bundesamt (Fn. 8). Das Straftatenverzeichnis für das Jahr 1976 fin-
det sich auf Seite 248 der genannten Arbeitsunterlage. Die jeweils zusanlmengefassten Strafta-
ten sind in den Vergleichsjahren weitgehend identisch geblieben.
652 Jörg Kinzig

StGB (Begünstigung und Hehlerei), die §§ 263-266b StGB (Betrug und


Untreue), die §§ 267-281 StGB (Urkundenfälschung) sowie die §§ 283-
305a StGB (sonstige Straftaten gegen das Vermögen) zu zählen sind. Waren
im Jahr 1976 nur 1.210 kurze unbedingte Freiheitsstrafen (11,3%) wegen
anderer Vermögensdelikte zu verzeichnen, waren es im Jahr 2008 immerhin
17,90/0 (2.054 Verurteilungen). In diesem Jahr wurden auch 1.040 Verurtei-
lungen zu kurzen unbedingten Freiheitsstrafen (9,1 0/0) wegen Straftaten
nach dem BtMG ausgesprochen.

Schaubild 4: Unbedingt angeordnete kurze Freiheitsstrafen

(Anteil der Deliktsgruppen 1976) (Anteil der Deliktsgruppen 2008)

g 33 GI 795 GI 24
0% 7% 0%
iJ 5063
01227 44%
11%

&1563
5%

111210 EJ 76
CI.1348 1%
3% 11%
EI StaaUöff.Ordnung/im Amt
EJ StaaUöff.Ordnung/imAni
E9 sex. Selbstbest.
Cl sex. Selbstbest.
o §§ 223~230
(] geg. Person (] sonst geg. Person
6 Diebst. und Untersehl. mDiebst. und Untersehl.
lIIl and. Vermögens deI. 11 and. Vermbgensdel.
El gemeingef. El gemeingef.
B Straßenverkehr EE Straßenverkehr
IIBtMG
mJ sonst.
Im sonst.

Deutlich gefallen ist im Gegensatz dazu der Anteil der kurzen unbeding-
ten Freiheitsstrafen wegen Straftaten im Straßenverkehr. Betrug dieser im
Jahr 1976 noch 36,9% (3.950 von 10.704 Verurteilungen) ging selbiger auf
zuletzt 13,1 % (1.503 von 11.468 Verurteilungen) zurück. 16

16 Zur "Strafzumessung und Verkehrsdelinquenz" vgl. auch die im Jahre 1973 erschienene
Dissertation des Jubilars, bei deren Erstellung Hein= Schöch die schnelle Entscheidung des
Gesetzgebers, die kurze Freiheitsstrafe einzuschränken, methodisch in den Griff bekommen
musste (vgl. S. 105).
Knast für den Diebstahl einer Milchschnitte? 653

Sieht man noch etwas genauer hin und richtet anband der Strafverfol-
gungsstatistik einen Blick auf die Ebene der einzelnen Delikte, für die eine
(unbedingte) kurze Freiheitsstrafe angeordnet wird, zeigt sich die überra-
gende Bedeutung des (einfachen) Diebstahls (Tabelle 1).17 So wurden im
Jahr 2008 allein 12.073 und damit 26,5% aller kurzen Freiheitsstrafen we-
gen eines einfachen Diebstahls verhängt. Auch innerhalb des Sanktio-
nenspektrums des § 242 StGB spielt die kurze Freiheitsstrafe eine bedeu-
tende Rolle, was daran zu ersehen ist, dass immerhin 12,4% der wegen
einfachen Diebstahls Verurteilten eine solche kurze Freiheitsstrafe auferlegt
bekamen. Besonders hoch fällt bei diesem Tatbestand auch die Quote derer
aus, deren kurze Freiheitsstrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt wird.
38,30/0 (4.626 von 12.073 Verurteilten) mussten sofort den Strafvollzug
antreten. Dagegen betrug im Jahre 2008 die entsprechende Quote quer über
alle Delikte, wie bereits gesehen, nur 25,1 %.

Tabelle 1: Bedeutung einzelner Tatbestände bei der Verhängung kurzer


Freiheitsstrafen im Jahr 2008

Delikt Strafrah- Verurteilte Anteil an Unbedingte in % an


men m. kurzen allen Verurt. kurze FS allen kurzen
Freiheits- FS
strafen
§ 242 ~5J./GS 12.073 12,4% 4.626 38,30/0
§ 263 I :::5J./GS 4.350 4,50/0 730 16,80/0
§ 316 <1 J./GS 4.072 4,90/0 575 14,1 0/0
§ 21 I Nr. 1 :::1 J./GS 3.471 9,9% 814 23,5%
StVG
§ 223 :::5J./GS 2.897 7,6 % 698 24,10/0
§ 265a ~1 J./GS 2.782 5,50/0 846 30,40/0
§ 29 I 1 Nr. 1 :::5J./GS 2.072 8,2 % 545 26,3%
BtMG
§ 29 I 1 Nr. 3 :::5 J./GS 1.362 7,8% 480 35,2%
BtMG
§ 170 I :::3 J./GS 1.238 43,6% 22 1,8%
§ 224 I 3M.-I0J. 1.013 5,7% 88 8,7%
§ 243 12 Nr. 1 3M.-I0J. 950 11,60/0 149 15,7%
§ 267 I <5J./GS 915 5,60/0 197 21,5%
§ 185 :::2 J./GS 677 3,4% 235 34,7%
§ 243 12 Nr. 3M.-I0J. 630 12,9% 171 27,1%
2-7
§ 303 I ~2J./GS 482 4,30/0 152 31,50/0

17 Dies ergab sich bereits auf der Datenbasis des Jahres 1991 bei einem Vergleich mit
Schweden~ s. dazu Schaeferdiek Die kurze Freiheitsstrafe im schwedischen und deutschen
Strafrecht, 1997, S. 156 f.
654 Jörg Kinzig

Macht man sich des Weiteren die Mühe, aus der Strafverfolgungsstatistik
2008 alle die Tatbestände zu ermitteln, die mehr als 500 zu kurzen Frei-
heitsstrafen Verurteilte oder mehr als 100 zu einer kurzen unbedingten Frei-
heitsstrafe Verurteilte zu verzeichnen haben, ergeben sich hinter dem Dieb-
stahl die in Tabelle 1 aufgelisteten Tatbestände. Abgesehen vom einfachen
Diebstahl erfolgen viele Verurteilungen zu kurzer Freiheitsstrafe wegen
Betrugs (4.350), Trunkenheit im Verkehr (4.072), Führen eines Kraftfahr-
zeugs ohne Fahrerlaubnis oder trotz Fahrverbots (3.471) sowie wegen ein-
facher Körperverletzung (2.897). Mit Ausnahme des einfachen Diebstahls
und seinem auf § 243 StGB gestützten besonders schweren Fall, sind bei
den in der Tabelle aufgeführten Delikten Verurteilungen zu kurzer Frei-
heitsstrafe mit unter 100/0 des Sanktionenspektrums eher selten, mit einer
Ausnahme: Bei einer Unterhaltspflichtverletzung nach § 170 Abs. 1 StGB
ordnen die Gerichte zu einem hohen Anteil (43,60/0) eine kurze Freiheits-
strafe an, setzen diese aber dann fast immer (98,2%) zur Bewährung aus.
Schaut man nur auf die Zahl der Verurteilten, die wegen einer kurzen
Freiheitsstrafe sofort in den Strafvollzug müssen, imponiert, dass dies we-
gen Leistungserschleichung im Jahr 2008 bei immerhin 846 Verurteilten der
Fall war. Hohe Anteile von unbedingten kurzen Freiheitsstrafen weisen
neben dem Diebstahl (38,3%) der unerlaubte Besitz von Betäubungsmitteln
(§ 29 Abs. 1 S. 1 Nr.3 BtMG) mit 35,2%, die Beleidigung (34,7%), die
Sachbeschädigung (31,5%) sowie wiederum die Leistungserschleichung mit
30,4% auf.
Zusammen machen die in der Tabelle aufgelisteten Tatbestände 38.984
der im Jahr 2008 insgesamt angeordneten 45.622 und damit 85,5% aller
kurzen Freiheitsstrafen aus. Noch höher liegt der Anteil bei den Verurtei-
lungen zu unbedingter kurzer Freiheitsstrafe. Dort repräsentieren die in der
Tabelle enthaltenen 10.328 Verurteilungen sogar einen Anteil von 90,1 %.
Beschließen wir die quantitative Übersicht über die kurze Freiheitsstrafe
mit einem Blick in die kommentie11e Rückfallstatistik. Aus ihr lässt sich
entnehmen, dass 57,8% der aus einer unbedingt angeordneten kurzen Frei-
heitsstrafe Entlassenen innerhalb des Untersuchungszeitraums von vier
Jahren (1994-1998) eine Folgeentscheidung aufwiesen. Dieser Wert liegt
damit geringfügig unter denjenigen der mit sechs bis zwölf Monaten
(61,9 % ) sowie mit ein bis zwei Jahren Freiheitsstrafe Sanktionierten
(62,9%). 43,9% wurden wieder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, darunter
29,7% zu einer unbedingten. In 13,6% der Fälle wurde eine Geldstrafe
angeordnet, 18

18 Jehle/Heinz/Sutterer Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine kOlnmen-


tierte RückfaIIstatistik, 2003, Übersichtstabelle 4.4.
Knast rur den Diebstahl einer Milchschnitte? 655

111. Analyse der Rechtsprechung zur Verhängung


kurzer Freiheitsstrafen bei Bagatellstraftaten
wiederholt straffälliger Personen
Der quantitative Überblick über die kurze Freiheitsstrafe hat unter ande-
rem gezeigt, dass in der Bundesrepublik nach wie vor rund 45.000 Personen
jährlich zu einer kurzen Freiheitsstrafe verurteilt werden, die bei mehr als
10.000 von ihnen nicht zur Bewährung ausgesetzt wird.
Parallel dazu hat sich seit knapp zehn Jahren in der Rechtsprechung eine
recht lebhafte Diskussion zur normativen Frage entwickelt, ob und unter
welchen Voraussetzungen die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen im Falle
sogenannter Bagatellkriminalität gerechtfertigt werden kann. 19 Dabei ist zu
beobachten, dass das Problem der Grenzen der Anordnung sowie der Dauer
kurzer Freiheitsstrafen bei sogenannter Bagatellkriminalität nicht bei allen
Tatbeständen, bei denen nach den statistischen Daten kurze Freiheitsstrafen
verhängt werden, gleichermaßen erörtert zu werden scheint, sondern im
Wesentlichen nur bei drei Delikten: dem einfachen (Laden-)diebstahl, der
Leistungserschleichung, landläufig als "Schwarzfahren" bezeichnet, sowie
dem Besitz von Betäubungsmitteln in geringen Mengen zum Eigenkon-
sum. 20

1. In der Diskussion befindliche Konstellationenfür die Verhängung


kurzer Freiheitsstrafen wegen Bagatellstraftaten
Zur Verdeutlichung der in der Diskussion befindlichen Konstellationen
fUr die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen wegen Bagatellstraftaten sollen
drei typische Fälle dienen:
1. Bereits eine gewisse Berühmtheit hat der "Milchschnitten-Fall" erlangt,
den das OLG Stuttgart im Jahre 2002 zu entscheiden hatte. 21 Darin hatte
zunächst das AG den Angeklagten wegen Diebstahls einer geringwertigen
Sache zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je 70 DM, also insgesamt
über 1.000 DM, verurteilt. Nach den tatrichterlichen Feststellungen hatte
der Täter als Freigänger während eines vorangegangenen Strafvollzuges die
Geschäftsräume einer Firma aufgesucht und dort Waren eingekauft, die er
an der Kasse auch bezahlte: ausgenommen eine Milchschnitte im Wert von
0,50 DM, die er noch im Laden verzehrte. Auf die Berufung der Staatsan-
waltschaft erhöhte das LG das Strafmaß auf eine Freiheitsstrafe von einem

19 Vereinzelt existieren aber auch früher veröffentlichte Entscheidungen, s. z.B. OLG


Schleswig NJW 1982, 116.
20 Eine Datenbankrecherche ergab für die Fallgruppe Diebstahl 20, für die beiden anderen
Delikte je sechs einschlägige Entscheidungen.
21 OLG Stuttgart NJW 2002, 3188~ zustimmend NK-Streng, 2. Autl. 2005, § 47 Rn. 7.
656 Jörg Kinzig

Monat. Die Revision des Angeklagten führte dazu, dass das OLG Stuttgart
auf die gesetzliche Mindeststrafe fur die Geldstrafe (vgl. § 40 Abs. 1 S.2
StGB) in Höhe von 5 Tagessätzen erkannte.
2. Im Anschluss an den Beschluss des OLG Stuttgart erörterte, soweit aus
der veröffentlichten Rechtsprechung ersichtlich, zuerst das OLG Karlsruhe
die Grenzen der Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe bei einem mehr-
fach vorbestraften Betäubungsmittelkonsumenten. 22 In diesem Fall wurde
der Angeklagte zunächst durch das AG wegen unerlaubten Besitzes von
Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BtMG) zu einer Freiheitsstrafe
von zwei Monaten verurteilt. Nach den Feststellungen des Urteils hatte der
Täter 0,21 g netto Amphetamin mit einem Wirkstoffgehalt von 0,0145 g
Amphetaminbase, 3,8 g brutto Marihuana nebst 0,8 g brutto Haschisch
schlechter Qualität und damit eine derartige Quantität sogenannter weicher
Drogen besessen, dass die Grenze der von § 29 Abs. 5 BtMG erfassten
geringen Menge noch erheblich unterschritten wurde. Selbige waren zudem
ausschließlich zum Eigenverbrauch des drogenabhängigen Straftäters be-
stimmt. Die Strafkammer verwarf die Berufung des Angeklagten als unbe-
gründet. Auf seine Revision hob das OLG Karlsruhe das Urteil auf. Das
Tatunrecht wiege hier so gering, dass die Verhängung einer Freiheitsstrafe
eine unangemessen harte und damit gegen das Übermaßverbot verstoßende
Sanktion darstelle, auch wenn der Angeklagte einschlägig vorbestraft sei
und unter Bewährung gestanden habe und stehe. Erst recht gelte dies bei
Berücksichtigung der Besonderheiten in der Persönlichkeit des in seinem
Steuerungsvermögen erheblich verminderten Angeklagten.
3. Wiederum das OLG Stuttgart war es, das augenscheinlich als erstes die
Grenzen der Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe bei einer mehrfach
wegen sogenannten Schwarzfahrens Vorbestraften thematisierte. 23 Hier
hatte eine drogenabhängige Angeklagte in drei Fällen öffentliche Ver-
kehrsmittel benutzt, ohne im Besitz eines gültigen Fahrausweises zu sein.
Das Beförderungsentgelt hätte sich auf jeweils 1,65 € belaufen. In erster
Instanz verurteilte das AG die Angeklagte wegen Erschleichens von Leis-
tungen in drei Fällen zu einer - aus drei Einzelstrafen von jeweils zwei
Monaten gebildeten - Gesamtfreiheitsstrafe von drei Monaten ohne Bewäh-
rung. Ihre auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung verwarf
das LG. In seiner Argumentation stellte das Gericht zu Lasten der Ange-
klagten vor allem darauf ab, dass sie bisher 19-mal verurteilt worden und in
zahlreichen Fällen bewährungsbrüchig gewesen sei. Dennoch setzte das
aLG Stuttgart in der Revisionsinstanz die drei Einzelstrafen auf solche von
jevveils einem Monat Länge herab.

22 OLG Karlsruhe NJW 2003, 1825.


23 OLG Stuttgart NJW 2006, 1222.
Knast für den Diebstahl einer Milchschnitte? 657

Bevor auf die strafrechtlichen Reaktionen und Argumentationslinien der


Judikatur im Einzelnen eingegangen werden soll, sei zunächst die Frage
erlaubt, warum sich die Rechtsprechung bei der Behandlung der Thematik
der Verhängung kurzer Freiheitsstrafen im Falle von Bagatellkriminalität
vor allem auf die Fallkonstellationen Ladendiebstahl, Konsum geringer
Mengen weicher Drogen sowie Schwarzfahren zu konzentrieren scheint.
Dafür liegen Erklärungen zum Teil auf der Hand, teilweise sind sie aber
auch weniger ersichtlich. Nehmen wir den in Tabelle 1 aufgeführten Kata-
log mit den Delikten zur Hand, die fUr die Verhängung kurzer Freiheitsstra-
fe quantitativ am bedeutsamsten sind: Dass die einfache (§ 223 Abs. 1
StGB), aber auch die gefährliche Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 StGB),
nicht bei der Diskussion um die Berechtigung kurzer Freiheitsstrafen für
Bagatellstraftaten auftauchen, dürfte vor allem daher rühren, dass sich das
Rechtsgefühl generell dagegen sperrt, eine Straftat gegen die körperliche
Unversehrtheit als Bagatelle zu bewerten. 24 Ähnliches dürfte im Falle der
Beleidigung gelten, da diese bei einer Ahndung mit einer kurzen Freiheits-
strafe zumeist eine besonders entwürdigende Komponente enthält. 25
Bei den zahlenmäßig vergleichsweise recht häufig zu einer kurzen Frei-
heitsstrafe führenden Verkehrsdelikten der Trunkenheit im Verkehr nach
§ 316 StGB sowie des Fahrens ohne Fahrerlaubnis nach § 21 Abs. 1 Nr. 1

24 Es ist nur eine Entscheidung ersichtlich (OLG Karlsruhe StV 2004,477), die im Rahmen
der Diskussion über kurze Freiheitsstrafen eine Körperverletzung als Bagatelle einordnet. Dort
hatte das LG in der Vorinstanz den (wenn auch nicht einschlägig) vorbestraften Angeklagten
wegen Körperverletzung in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in zwei
Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Monaten (bei Einzelstrafen von zwei und einein-
halb Monaten) verurteilt, weil er sich in stark alkoholisiertem Zustand in zwei Fällen gegen
Anordnungen von Polizeibeamten zur Wehr gesetzt hatte. Das OLG Karlsruhe hob die Ent-
scheidung schon aus verfahrensrechtlichen Gründen auf. Darüber hinaus sah es sich zu Hin-
weisen für eine etwaige Anwendung des § 47 StGB veranlasst. Das Tatunrecht wiege so ge-
ring, dass die Verhängung einer Freiheitsstrafe eine unangemessen harte und damit gegen das
Übermaßverbot verstoßende Sanktion darstelle, auch wenn der Angeklagte vorbestraft sei und
unter Bewährung stehe. So habe eine der bei den Körperverletzungen - Prellung eines Dau-
mens - am eher unteren Bereich der Stratbarkeitsgrenze gelegen, bei der anderen, "Um-
sichschlagen bei der Festnahme", bestünden zudem erhebliche Zweifel, ob der Angeklagte den
Polizeibeamten überhaupt habe verletzen wollen. Bei beiden Taten handele es sich letztendlich
nur um Bagatelldelikte, die ihre eigentliche Ursache in einer psychischen Erkrankung des
Angeklagten haben dürften.
25 Die Frage wird nur am Rande in einer Entscheidung des OLG Oldenburg Ss 446/05 (I 2)
v. 23.1.2006 thematisiert. Dort wurde die Titulierung einer Sachbearbeiterin eines Finanzamts
als "schwachsinnig dumm" im Kontext einer Sachauseinandersetzung als nicht sehr schwer
wiegend bezeichnet und die Freiheitsstrafe von drei Monaten aufgehoben. Vgl. im Übrigen
z.B. den Fall des OLG Brandenburg OLGSt StGB § 47 Nr. 13, in dem der Täter mit Blick auf
das dunkelhäutige Kind einer hellhäutigen Mutter auf das nationalsozialistische Gedankengut
der "Rassenschande" hinwies und erklärte, dass er sich für die Fortgeltung der Rassengesetze
der Nationalsozialisten einsetzen werde.
658 Jörg Kinzig

StVG scheint einerseits das abstrakte Gefahrenpotential, andererseits die


Gewichtigkeit des Rechtsguts Sicherheit des Straßenverkehrs für die Ge-
richte ausschlaggebend dafür, dass solche Straftaten nicht als Bagatelldelik-
te eingestuft und im Wiederholungsfall recht routinemäßig kurze Freiheits-
strafen verhängt werden. 26 Angesichts des in beiden Fällen bestehenden
Strafrahmens, der neben einer Geldstrafe nur eine Freiheitsstrafe bis zu
einem Jahr vorsieht (vgl. Tabelle 1), ist freilich nicht ohne weiteres einsich-
tig, warum die Anordnung einer kurzen Freiheitsstrafe in der veröffentlich-
ten Rechtsprechung so wenig thematisiert wird.
Die Festsetzung einer kurzen Freiheitsstrafe wegen einer Verletzung der
Unterhaltspflicht nach § 170 Abs. 1 StGB scheint jedenfalls in der Praxis
schon deswegen weitgehend toleriert, weil bei der Verhängung einer Geld-
strafe auch diese Beträge dem Unterhaltsberechtigten nicht zur Verfügung
stehen würden. 27
Nicht ganz einsichtig ist, warum zu den §§ 263 Abs. 1, 267 Abs. 1, 303
Abs. 1 StGB, die den §§ 242, 265a StGB ja strukturell nicht ganz unähnlich
sind, fast keine veröffentlichten Entscheidungen zur Frage der Grenzen
kurzer Freiheitsstrafen im Falle sogenannter Bagatellkriminalität vorliegen.
Zu vermuten ist, dass bei der Verhängung kurzer Freiheitsstrafen die Scha-
denssummen bei diesen Delikten die von der Rechtsprechung im Rahmen
des § 248a StGB angenommene Grenze für die Geringwertigkeit in Höhe
von 25 bis 30 €28 regelmäßig übersteigen dürften. 29 Zudem ist anzunehmen,

26 Gegen die Möglichkeit der Anordnung einer Geldstrafe bei einem vielfach und auch be-
reits mehrfach einschlägig mit Gefängnisstrafen vorbestraften Angeklagten wegen Fahrens
ohne Fahrerlaubnis bereits OLG Hamm NJW 1969, 1222; vgl. auch die lapidare Argumentati-
on des OLG Koblenz VRS 1989, 424: "Die Verhängung einer unter sechs Monaten liegenden
Freiheitsstrafe hat die Strafkammer zur Einwirkung auf den Angeklagten im Hinblick darauf
für erforderlich erachtet (§ 47 StGB), daß er zum wiederholten Male in einschlägiger Weise
nachteilig in Erscheinung getreten ist und sich bisher weder die Aburteilung zu einer Geldstra-
fe noch die Verhängung von Freiheitsstrafen zu Herzen genommen hat. Diese kurze Begrün-
dung reichte schon deshalb in der vorliegenden Sache für die Bemessung der Freiheitsstrafe
von drei Monaten ausnahmsweise aus, weil der Angeklagte zuvor wegen einer einschlägigen
Tat bereits zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt worden war, deren Vollstre-
ckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist." S. zuvor bereits OLG Koblenz BA 1977, 435;
vgl. auch OLG Hamm 3 Ss 235/09 v. 24.6.2009 sowie SchäferlSanderlvan Gemmeren Praxis
der Strafzumessung, 4. Autl. 2009, Rn. 117, 120. Eher gegenläufig aber die Entscheidung des
OLG Nürnberg ZfSch 2006,288, in der die mangelhafte Begründung der Voraussetzungen des
§ 47 StGB beanstandet wurde; die Entscheidung BayObLG StV 1992, 322 betrifft einen Son-
derfall.
27 Vgl. zwar die Anwendung des § 47 StGB betonend, dennoch nicht zu einer Geldstrafe
kommend BayObLG NJW 1988,2750; vgl. auch Fischer StGB, 57. Autl. 2010, § 170 Rn. 13;
generelle Bedenken gegen den Einsatz des § 47 Abs. 1 StGB in dieser Fallgruppe bei Ssw-
StGB/Esche/bach, 2009, § 47 Rn. 5.
28 Vgl. Fischer a.a.O., § 248a Rn. 3.
Knast für den Diebstahl einer Milchschnitte? 659

dass der in diesen Fällen im Gegensatz zu der Entdeckung von Ladendieb-


stählen fehlende faktische Anzeigezwang die wiederholte Verurteilung
wegen der genannten Delikte in Form einer Bagatelle normalerweise ver-
hindert.

2. Verfassungsgerichtliche Vorgaben
Den Rahmen für die zumeist oberlandesgerichtliche Rechtsprechung zum
hier interessierenden Bereich geben zwei Entscheidungen des Bundesver-
fassungsgerichts aus den Jahren 1979 und 1994 vor. 30 Im ersten Fall hatte
das AG Köln dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 248a
StGB mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Hintergrund war ein Strafverfah-
ren, in welchem dem Angeklagten vorgeworfen worden war, unter den
Voraussetzungen des (damals noch existierenden) strafverschärfenden
Rückfalls (§ 48 StGB a.F.)31 in einem Supermarkt Nahrungsmittel im Werte
von 4,69 DM entwendet zu haben (§§ 242, 248a StGB). Das Bundesverfas-
sungsgericht stellte dazu fest, dass es nicht gegen das verfassungsrechtliche
Prinzip schuldangemessenen Strafens verstoße, dass das Gesetz die Bege-
hung von Diebstählen geringwertiger Sachen wahlweise mit Freiheitsstrafe
bis zu fünf Jahren und mit Geldstrafe bedrohe. Zum einen ermögliche der
weite Strafrahmen eine angemessene Sanktion, zum anderen brauche auch
ein Diebstahl geringwertiger Sachen keineswegs leicht zu wiegen: etwa
dann, wenn der Täter - ohne Not oder sonstige noch verständliche Beweg-
gründe - um geringfügiger Vorteile willen einen Einbruch begehe oder die
Hilflosigkeit eines unbemittelten Opfers ausnutze (vgl. § 243 Abs. 1 S.2
Nr. 1, 6; Abs. 2 StGB). Im Hinblick auf § 47 StGB, der die Verhängung
kurzzeitiger Freiheitsstrafen nur in Ausnahmefällen gestatte, könne der
Diebstahl geringwertiger Sachen im Allgemeinen mit einer Geldstrafe ge-
ahndet werden, es sei denn, dass die Voraussetzungen des strafschärfenden
Rückfalls vorlägen. 32
Im Jahre 1994 nahm die Zweite Kammer des Zweiten Senats die Verfas-
sungsbeschwerde eines mehrfach, überwiegend einschlägig vorbestraften

29 Lediglich das OLG Brandenburg wistra 2009,404 weist im Rahmen der Aufhebung einer
eindrucksvoll fehlerhaften Verurteilung wegen fortgesetzten (!) Betruges darauf hin, dass
insbesondere wegen des Bagatellcharakters eines wesentlichen Teils der dem Angeklagten
vorgeworfenen Betrugshandlungen (es handelt sich u.a. um neun Betrugstaten mit Schadens-
summen zwischen 2,50 und 30 €) geprüft werden müsse, ob sich kurze Einzelfreiheitsstrafen
als gerechtfertigt erweisen.
30 BVerfGE 50,205 v. 17.1.1979 sowie BVerfG 2 BvR 710/94 v. 9.6.1994.
31 Zur Anwendung von § 48 StGB a.F. im Falle von Bagatellkriminalität siehe Wagner GA
1979,39 ff.
32 BVerfGE 50,205,215 f.
660 Jörg Kinzig

Straftäters nicht zur Entscheidung an, der wegen eines Zechbetruges in


Höhe von 13,60 DM zum Nachteil einer Gaststätte und eines Diebstahles
zweier Flaschen Bier im Wert von 1,40 DM aus einem Supermarkt zu Frei-
heitsstrafen von jeweils zwei Monaten und zu einer Gesamtfreiheitsstrafe
von drei Monaten verurteilt worden war. § 47 StGB sei mit dem Grundge-
setz vereinbar. Die kurze Freiheitsstrafe habe Ausnahmecharakter. Die
Bestimmung beruhe auf der Auffassung, dass die Ziele der Strafrechtspflege
die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe insbesondere in denjenigen
Fällen notwendig machen können, in denen der Täter durch eine Geldstrafe
nicht nachhaltig zu beeinflussen sei oder wo um des Bestandes und der
Wahrung der Rechtsordnung willen auf eine Ahndung des Rechtsbruches
mit einer Freiheitsstrafe nicht verzichtet werden könne. Die verhängte Stra-
fe übersteige auch unter Berücksichtigung der geringen Schadenshöhe nicht
die Schuld des Beschwerdeführers und verletze somit nicht das Gebot
schuldangemessenen Strafens aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG in Ver-
bindung mit dem Rechtsstaatsprinzip. Aus diesem Gebot ergebe sich nicht,
dass die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe gemäß § 47 StGB erst ab
einer bestimmten Schadenshöhe in Betracht komme. Die Verhängung einer
Freiheitsstrafe gegen den Beschwerdeführer sei angesichts seiner vielfa-
chen, überwiegend einschlägigen Vorstrafen nachvollziehbar.

3. Strafrechtliche Reaktionen und Argumentationslinien in der


oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung
Ganz generell sind bei der revisionsgerichtlichen Überprüfung der Ver-
hängung kurzer Freiheitsstrafen für Bagatelldiebstahlsdelikte vorbestrafter
Personen vier verschiedene strafrechtliche Reaktionen der Oberlandesge-
richte zu beobachten: Zum einen wird teilweise eine angeordnete kurze
Freiheitsstrafe akzeptiert 33 bzw. (auf Revision der Staatsanwaltschaft) eine
vom Tatgericht angeordnete Geldstrafe aufgehoben. 34 Zum anderen erfolgt
teilweise unter Verweis auf das Übermaßverbot und das Gebot schuldan-

33 BayObLG NJW 2003, 2926: Akzeptanz einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten wegen
Diebstahls von zwei Fläschchen Nagellack im Gesamtwert von 31,26 DM bei nicht
ausschließbarer verminderter Schuldfahigkeit~ OLG Nümberg StraFo 2006, 502: Akzeptanz
einer Freiheitsstrafe von einem Monat wegen Ladendiebstahls einer Tageszeitung~ OLG 01-
denburg NdsRpfl 2008, 347: Akzeptanz einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten wegen Dieb-
stahls einer Flasche Wodka im Wert von 10,98 €.
34 OLG Düsseldorf NStZ 1986, 512: Aufhebung einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen für
den Diebstahl zweier Packungen Tabak in1 Wert von insgesamt 8,80 DM~ BayObLG NStZ
1989, 75 mit krit. Anm. Köhler JZ 1989, 697: (Zweite) Aufhebung einer Geldstrafe von 50
Tagessätzen für den Diebstahl einer Packung Kaffee im Wert von 13,99 DM~ OLG Jena
OLGSt § 47 Nr. 12: Aufhebung einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen wegen Ladendiebstahls.
Knast für den Diebstahl einer Milchschnitte? 661

gemessenen Strafens eine Reduktion oder Aufhebung der festgesetzten


Freiheitsstrafe. 35 Als dritte Lösung kommt die Aufhebung der Verurteilung
zu einer kurzen Freiheitsstrafe in Frage, die zumeist mit dem Hinweis auf
die fehlenden oder nicht ausreichend festgestellten Voraussetzungen der
Anforderungen nach § 47 StGB verbunden wird. 36 Aus dem Anfang der
80er Jahre stammt eine Entscheidung des OLG Schleswig, die eine vierte
Variante enthält. Dort verwarf das Gericht die Revision der Staatsanwalt-
schaft gegen eine Geldstrafe in Höhe von 60 Tagessätzen. Diesem Fall lag
ein Diebstahl von Lebensmitteln in Höhe von 10,81 DM zugrunde, wobei
die Angeklagte zuvor jährlich (!) wegen Ladendiebstahls verurteilt worden
war, darunter 3-mal zu Geldstrafe, zuletzt zu einer kurzen Freiheitsstrafe
mit Bewährung. 37
Bei der Überprüfung der Anordnung kurzer Freiheitsstrafen wegen des
Besitzes geringer Mengen Betäubungsmittel durch vorbestrafte Personen
favorisieren die Gerichte in der dazu veröffentlichten Rechtsprechung recht
einheitlich eine Aufhebung der Urteile, wobei teilweise ein Verstoß gegen
das Übermaßverbot, 38 überwiegend ein solcher gegen die Voraussetzungen

35 OLG Braunschweig NStZ-RR 2002, 75: Reduktion einer zweimonatigen Freiheitsstrafe


wegen Diebstahls einer Schachtel Zigaretten aus einem Supermarkt im Wert von 5 DM auf
einen Monat; OLG Stuttgart NJW 2002, 3188: Reduktion einer zweimonatigen Freiheitsstrafe
wegen Diebstahls einer Milchschnitte auf eine Geldstrafe in Höhe von fünf TageSSätzen; OLG
Hamm StraFo 2003, 99: Aufhebung einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten wegen Diebstahls
einer Tafel Schokolade im Wert von 0,50 € aus einem Selbstbedienungsgeschäft sowie von
sechs Monaten wegen Diebstahls von drei CDs im Gesamtwert von 18,40 € vor einem Ge-
schäft aus einer Verkaufsgondel; OLG Celle NStZ-RR 2004, 142: Reduktion einer Freiheits-
strafe von drei auf einen Monat wegen Diebstahls von zwei Tuben "Uhu Sekundenkleber" im
Wert von 5,99 € bzw. 5,19 €~ OLG Oldenburg StraFo 2008, 297 m. Anm. Peglau jurisPR-
StrafR 14/2008 Anm. 1: Reduktion einer Freiheitsstrafe von vier Monaten auf einen Monat
wegen Diebstahls von Lebensmitteln im Gesamtwert von 5,08 € aus einem Einkaufsmarkt.
36 KG (4) 1 Ss 111/01 (61/01) v. 25.6.2001: Autnebung einer Freiheitsstrafe von drei Mona-
ten wegen Ladendiebstahls von 21 Schachteln Zigaretten; OLG Dresden 2 Ss 167/02 v.
2.5.2002: Aufhebung einer Freiheitsstrafe von einem Monat wegen Entwendung einer Hose~
OLG Sachsen-Anhalt StV 2008, 472: Aufhebung zweier Einzelfreiheitsstrafen von je drei
Monaten wegen Diebstahls einer Flasche Pfefferminzlikör im Wert von 3,59 € sowie von neun
Flaschen Bier im Gesamtwert von 3,33 €; OLG Stuttgart StraFo 2009, 118: Aufhebung einer
Freiheitsstrafe von einem Monat wegen Diebstahls von Damenunterwäsche und Sekt im Wert
von 31,46 €; OLG Brandenburg 1 Ss 48/09 v. 13.7.2009: Aufhebung einer Freiheitsstrafe von
vier Monaten wegen Diebstahls eines Bremszuges im Wert von 2,99 € in einem Supermarkt.
37 OLG Schleswig NJW 1982, 116.
38 OLG Karlsruhe NJW 2003, 1825: Aufhebung einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten
wegen unerlaubten Besitzes einer geringen Menge von Betäubungsmitteln im Sinne des § 29
Abs. 5 BtMG (0,21 g netto Amphetamin, 3,8 g brutto Marihuana nebst 0,8 g brutto Haschisch
schlechter Qualität) zum Eigenverbrauch.
662 Jörg Kinzig

des § 47 StGB beanstandet wird. 39 Auch der Zweite Strafsenat des BGH hat
im Jahre 2007 die Verhängung einer dreimonatigen Freiheitsstrafe für den
Besitz einer nicht näher festgestellten, jedenfalls sehr geringen Menge Can-
nabis in Form eines Joints unter Hinweis auf einen Verstoß gegen § 47
StGB gerügt und das Urteil aufgehoben. 40 Jedoch erfolgen auch hier Reduk-
tionen von festgesetzten Freiheitsstrafen. So hat kürzlich das OLG Olden-
burg eine Freiheitsstrafe von drei Monaten, die ein langj ährig von harten
Drogen Abhängiger wegen unerlaubten Erwerbs und Besitzes von ca. 0,5g
Heroin in zwei Päckchen mit nicht festgestelltem Wirkstoffgehalt erhalten
hatte, auf einen Monat reduziert. 41
In der Fallgruppe der Leistungserschleichung hat das OLG Stuttgart in
dem bereits eingangs erwähnten Urteil 42 die wegen dreifachen Schwarzfah-
rens in Höhe von jeweils zwei Monaten verhängten Freiheitsstrafen eben-
falls wegen eines Verstoßes gegen das Übermaßverbot auf jeweils einen
Monat reduziert. 43 Zumeist nahmen die Gerichte jedoch eine Aufhebung der
tUr Schwarzfahren festgesetzten kurzen Freiheitsstrafen vor. 44 Interessan-
terweise finden sich weder in der Fallgruppe des Besitzes geringer Mengen
von Betäubungsmitteln zum Eigenkonsum noch in der des Schwarzfahrens
Entscheidungen, die über der Mindestdauer von einem Monat liegende

39 OLG Hamburg StV 2007, 305: Aufhebung einer Freiheitsstrafe von drei Monaten wegen
unerlaubten Besitzes einer geringen Menge von Betäubungsmitteln (mehrere Steinchen mit
insgesamt 123 mg Crackgemenge) zum Eigenverbrauch~ KG StV 2008,583 m. Anm. Kreu=er:
Aufhebung einer Freiheitsstrafe von sechs Wochen wegen unerlaubten Besitzes von Marihuana
in einer Strafanstalt~ KG StRR 2007, 113: Aufhebung einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten
wegen unerlaubten Besitzes geringer Mengen von Betäubungsmitteln (Amphetamin und
Kokain) zum Eigenverbrauch~ OLG Hamm 3 Ss 323/09 v. 13.8.2008: Aufhebung von Frei-
heitsstrafen von je einem Monat bei wöchentlichem Erwerb von 2 g Marihuana zum Preis von
je 20 €.
40 BGH StV 2007,633.
41 OLG Oldenburg NdsRpfl2009, 107.
42 OLG Stuttgart NJW 2006, 1222.
43 Vgl. auch OLG Hamm 3 Ss 344/07 v. 11.10.2007: Reduktion einer Freiheitsstrafe von
fünf auf zwei Monate.
44 KG StV 2007, 35: Aufhebung von Einzelfreiheitsstrafen von jeweils einem Monat bei
einer Leistungserschleichung in fünf Fällen~ 0 LG Hamm 3 Ss 491/07 v. 10.1.2008: Aufhebung
zweier Einzelfreiheitsstrafen von je drei Monaten bei zweifachem Schwarzfahren mit einem
Schaden von insgesamt 2,40 €, allerdings unter Bejahung eines Verstoßes gegen das Übermaß-
verbot~ KG (4) 1 Ss 375/08 (249/08) v. 4.11.2008: Aufhebung zweier Einzelfreiheitsstrafen
von je zwei Monaten wegen Schwarzfahrens in zwei Fällen mit einem Schaden in Höhe von
jeweils 2,10 €~ OLG Brandenburg OLGSt StGB § 46 Nr. 24: Aufhebung von EinzeIfreiheits-
strafen von drei und vier Monaten wegen Schwarzfahrens in zwei Fällen mit einem Schaden in
Höhe von jeweils 1,20 € wegen einer rechtsfehlerhaften Erfassung der gesetzlichen Vorausset-
zungen des § 47 Abs. I StGB und der Verletzung des Gebots schuldangemessenen Strafens
(Übermaßverbot) .
Knast fur den Diebstahl einer Milchschnitte? 663

kurze Freiheitsstrafen der Tatgerichte bei Bagatellen billigen oder anmah-


nen.

IV. Vorgaben des § 47 8tGB und der Verfassung


für die Verhängung kurzer Freiheitsstrafen
im Falle so genannter Bagatellkriminalität
Versucht man sich der Frage zu nähern, welche Vorgaben die Rechtsord-
nung für den Einsatz kurzer Freiheitsstrafen im Falle sogenannter Bagatell-
straftaten macht, erscheint es richtig, zunächst die Voraussetzungen des
speziell diese Konstellation betreffenden § 47 StGB zu überprüfen und sich
erst danach der Frage des Übermaßverbots zuzuwenden. 45
Nach § 47 Abs. 1 StGB darf das Gericht eine kurze Freiheitsstrafe unter
sechs Monaten nur verhängen, "wenn besondere Umstände, die in der Tat
oder der Persönlichkeit des Täters liegen, die Verhängung einer Freiheits-
strafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsord-
nung unerlässlich machen".46 Intention der Einführung des § 47 StGB (§ 14
StGB a.F.), insbesondere der Worte "besondere Umstände" und "unerläss-
lich machen" war es klarzustellen, "dass kurze Freiheitsstrafen nur in Aus-
nahmefällen verhängt werden dürfen".47 § 47 Abs. 1 StGB geht demnach
von einer zweigliedrigen Struktur aus. 48 Zum einen müssen besondere Um-
stände vorliegen, die alternativ in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters
liegen können. Zum anderen müssen diese die Verhängung einer Freiheits-
strafe unerlässlich machen, wobei dies entweder zur Einwirkung auf den
Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung der Fall sein kann. Die
Wahl des Begriffs der Unerlässlichkeit gegenüber anderen im Sanktionen-
recht verwendeten Termini wie etwa dem der Gebotenheit in § 56 Abs. 3
StGB betont in diesem Zusammenhang den Ausnahmecharakter der kurzen

45 Systematisch anders freilich z.B. das OLG Stuttgart NJW 2002, 3188; etwas unscharf
auch Krumm NJW 2004, 328, der in seiner Analyse der Rechtsprechung meint, dass die das
Übermaßverbot betreffenden Entscheidungen an den Begriff der Unerlässlichkeit in § 47
Abs. 1 StGB anknüpften. Zu den vorangehenden Schritten der Strafzumessung vgl. van Gem-
meren JR 2007,214 in seiner Anmerkung zur Entscheidung des OLG Hamburg StV 2007,305.
46 Auch Krumm a.a.O. nimmt § 47 Abs. 1 StGB richtigerweise zum "Ausgangspunkt der
richterlichen Prüfung".
47 So der Erste Schriftliche Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BT-
Drs. V/4094, S. 6; vgl. zur historischen Entwicklung auch Kohlmann FS Triffterer, 1996,
S. 603, 606 ff.
48 Vgl. etwa Meier Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. 2009, S. 83. Die weithin gebrauchte
Formel von einer "Gesamtwürdigung" (vgl. etwa LK-Theune, § 47 Rn. 8) scheint einer genau-
en Subsumtion eher hinderlich; vgl. auch SSW-Eschelbach (Fn. 27), § 47 Rn. 10.
664 Jörg Kinzig

Freiheitsstrafe. 49 Unerlässlich ist eine Freiheitsstrafe nur dann, wenn eine


andere schuldangemessene Sanktion, insbesondere eine Geldstrafe, keines-
falls ausreicht und wenn auf die kurze Freiheitsstrafe nicht verzichtet wer-
den kann. 50 Besondere Umstände in der Tat oder Persönlichkeit des Täters
liegen nach der Rechtsprechung vor, wenn entweder bestimmte Tatsachen
die konkrete Tat in einer bestimmten Beziehung aus dem Durchschnitt der
praktisch vorkommenden Taten dieser Art herausheben, oder wenn be-
stimmte Eigenschaften und Verhältnisse beim Täter diesen von durch-
schnittlichen Tätern solcher Taten unterscheiden. 51
Bereits in diesem Zusammenhang erscheint fraglich, ob allein täterbezo-
gene Umstände, im konkreten Fall etwa das Vorhandensein einschlägiger
Vorstrafen und/oder ein Bewährungsbruch, die Verhängung einer kurzen
Freiheitsstrafe auch im Falle einer sogenannten Bagatellstraftat rechtferti-
gen können. 52 Schließlich dürften in einem solchen Fall die besonderen
Umstände in der Persönlichkeit des Täters regelmäßig durch das Vorliegen
des geringen Erfolgsunrechts und damit durch besondere Umstände in der
Tat kompensiert sein. 53
Selbst wenn man diese erste Hürde nähme, müsste im Falle einer Baga-
telltat die Verhängung einer Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter
oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich sein. 54 Dass es für die
Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich sein soll, einen Angeklagten,
der z.B. eine Milchschnitte oder einen Bremszug gestohlen, Kleinstmengen
von Betäubungsmitteln konsumiert hat oder Schwarzgefahren ist, mit einer
kurzen Freiheitsstrafe statt einer Geldstrafe zu versehen, wird selbst dann
nur schwer zu begründen sein, wenn er mehrfach (einschlägig) vorbestraft
und/oder bewährungsbrüchig ist. Die in dieser Frage deutlich divergierende

49 OLG Dresden 2 Ss 167/02 v. 2.5.2002~ OLG Stuttgart StraFo 2009, 119.


50 OLG DüsseldorfStV 1986, 63~ OLG Stuttgart StraFo 2009,119.
51 OLG Dresden 2 Ss 167/02 v. 2.5.2002~ OLG Schleswig SchlHA 2005, 254~ OLG Nürn-
berg StraFo 2006, 502~ OLG Sachsen-Anhalt StV 2008, 472.
52 Verneinend etwa die Rechtsprechung des Kaminergerichts (siehe KG StV 2007,35, KG
StRR 2007, 113) sowie die des OLG Brandenburg (OLG Brandenburg OLGSt StGB § 46
Nr. 24~ OLG Brandenburg wistra 2009, 404). In eine ähnliche Richtung gehen Judikate, die
betonen, dass das Vorliegen der Ausnahmevoraussetzungen des § 47 StGB nicht schematisch
aus einschlägigen Vorstrafen geschlossen werden darf (vgl. etwa OLG Köln NStZ 2003, 421 ~
OLG Schleswig SchlHA 2005, 254~ OLG Hamburg StV 2007, 305~ OLG Stuttgart StraFo
2009, 118)~ vgl. auch LG Augsburg StV 2006, 473: "Einen Haftautomatismus dahin, dass
Vorstrafen und Bewährungsversagen zwangsläufig in eine Freiheitsstrafe einmünden, darf es
nicht geben", sowie MK-StGB/Franke, § 47 Rn. 14.
53 Vgl. auch OLG Hamburg NStZ-RR 2004, 72~ OLG Nürnberg StraFo 2006, 502~ OLG
Jena OLGSt § 47 Nr. 12. Insofern ist der Verweis auf eine erforderliche Gesamtwürdigung
zutreffend, vgl. LK-Theune (Fn. 48), § 47 Rn. 12.
54 Zutreffende Kritik unter dem Blickwinkel der Bestimmtheit bei SSW-Eschelbach
(Fn. 27), § 47 Rn. 8.
Knast für den Diebstahl einer Milchschnitte? 665

Rechtsprechung der Oberlandesgerichte lässt es als kaum vertretbar er-


scheinen, die Anordnung einer Freiheitsstrafe und damit einen schwer wie-
genden Freiheitseingriff von der unterschiedlichen, subjektiven Auffassung
einzelner Strafgerichte abhängig zu machen. 55 In diesem Zusammenhang ist
auch zu bedenken, dass der durch die jetzt auch gesetzlich verankerte Ab-
sprachepraxis bisweilen in der Bevölkerung entstandene Eindruck einer
Ungleichbehandlung beschwerdemächtiger Groß- und der Justiz ausgelie-
ferter Kleinkrimineller vermieden werden sollte. 56
Anders mag die Notwendigkeit einer kurzen Freiheitsstrafe zur \Terteidi-
gung der Rechtsordnung in den Fällen zu beurteilen sein, in denen die Ba-
gatellkriminalität des Täters von zusätzlichen Besonderheiten geprägt ist.
Das Bundesverfassungsgericht hat schon früh derartige Umstände benannt,
die freilich nicht gerade häufig auftreten dürften: Dazu kann zählen, dass
der Täter ohne Not oder sonstige noch verständliche Beweggründe um
geringfügiger Vorteile willen einen Einbruch begeht oder die Hilflosigkeit
eines unbemittelten Opfers ausnutzt. 57 Schon sehr bemüht bis unfreiwillig
komisch wirkt allerdings das Beispiel, dass sich "ein Täter bei häufigen
Beutezügen in Ladengeschäften im Einzelfall der Wertgrenze für die An-
nahme eines geringen Schadens ... z\var annähert, aber sie regelmäßig nicht
überschreitet und schon bei Tatbegehung dadurch dreist auf die Verhängung
bloßer Geldstrafen spekuliert."58 Dessen ungeachtet kann somit mit der

55 Vgl. einerseits etwa das BayObLG NStZ 1989, 75 unter Hinweis darauf, "dass die Bevöl-
kerung dies (sc. die Nichtahndung mit einer Freiheitsstrafe) als ein Zurückweichen der Rechts-
ordnung vor unbelehrbaren und unbeeinflussbaren Tätern und damit als Preisgabe der Unver-
brüchlichkeit des Rechts empfinden würde" (dagegen kritisch Köhler JZ 1989, 698)~ ebenso
OLG Nürnberg StraFo 2006, 502. Unabhängig von ihrer Richtigkeit verkennt diese Auffas-
sung, dass der Straftäter ja durchaus mit einer (im Einzelfall empfindlichen) Geldstrafe belegt
werden kann, hinter der zudem eine Ersatzfreiheitsstrafe steht (so zutreffend LG Kleve 216 Ns
12/08 v. 14.7.2008 sowie van Gemmeren JR 2007,215 f. in seiner Anmerkung zur Entschei-
dung des OLG Hamburg StV 2007, 305~ vgl. auch SSW-Eschelbach [Fn. 27], § 47 Rn. 24.).
Dagegen war das OLG Stuttgart im Milchschnitten-Fall (NJW 2002, 3188) zur Frage der
Verteidigung der Rechtsordnung sogar der Ansicht, dass bei einer vom Sachverhalt voll und
zutreffend unterrichteten Bevölkerung die Verhängung einer Freiheitsstrafe in diesem Fall auf
Unverständnis stieße~ zuvor schon OLG Schleswig NJW 1982, 116~ ähnlich auch LG Kleve
216 Ns 12/08 v. 14.7.2008 sowie Horn JR 1987,295 in seiner Anmerkung zu OLG Düsseldorf
NStZ 1986, 512.
Vgl. dagegen aber das OLG Jena OLGSt § 47 Nr. 12, das das Vertrauen der Bevölkerung in die
Unverbrüchlichkeit des Rechts als "empfindlich gestört" ansieht, "wenn die Strafjustiz diesen
Erscheinungsformen der allgemeinen Kriminalität angesichts der mittlerweile festzustellenden
hohen Zahl von Straftaten nicht mit Nachdruck und Konsequenz entgegentreten und sie es
selbst bei Wiederholungstätern bei der Ahndung mit Geldstrafen belassen würde."
56 Vgl. auch OLG Oldenburg StraFo 2008, 297.
57 BVerfGE 50, 205, 215.
58 So OLG Stuttgart NJW 2002, 3188~ ihm folgend OLG Hamm StraFo 2003, 99~ OLG
Nürnberg StraFo 2006, 502.
666 Jörg Kinzig

ganz herrschenden Meinung daran festgehalten werden, dass § 47 StOB die


Verhängung kurzer Freiheitsstrafen im Falle von Bagatellkriminalität nicht
schlechthin ausschließt.
Damit spitzt sich alles auf die Frage zu, ob und wann kurze Freiheitsstra-
fen im Falle von Bagatelldelikten vorbestrafter Personen zur Einwirkung
auf den Täter unerlässlich sein können. Der Tatrichter müsste dafür substan-
tiiert belegen, dass die Anordnung einer kurzen Freiheitsstrafe spezialprä-
ventiv aussichtsreicher als die Verhängung einer Geldstrafe ist. 59 Dabei ist
im Auge zu behalten, dass die spezialpräventive Wirkung kurzer Freiheits-
strafen vom Gesetzgeber fur den Regelfall ja gerade verneint wird. 60 So
erscheint dessen Ansatz, kurze Freiheitsstrafen einerseits wegen ihrer
Schädlichkeit zurückdrängen zu wollen, andererseits spezialpräventiv im
Einzelfall für unerlässlich zu halten, ohnehin nur vor dem Zeitgeist der
Strafrechtsreform verständlich. 61 Die Judikatur behilft sich in diesem Di-
lemma, indem sie die Anordnung einer kurzen Freiheitsstrafe regelmäßig
nur ex negativo begründet, so etwa wenn das Bayerische Oberste Landesge-
richt ausfuhrt, eine die Angeklagte weniger belastende und dennoch krimi-
nalpolitisch erfolgversprechende Alternative zu Freiheitsstrafe sei nicht
ersichtlich. 62 Dies reicht aber auch angesichts der bereits geschilderten
Rückfallraten in Folge der Verhängung kurzer Freiheitsstrafen nicht aus, um
eine Unerlässlichkeit im Sinne von § 47 Abs. 1 StGB zu begründen. 63
Legt man § 47 Abs. 1 StGB derart aus, bedarf es kaum noch eines Rück-
griffs auf das Gebot schuldangemessenen Strafens oder das Übermaßverbot.
Dafür spricht auch, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Wort-
wahl des § 47 Abs. 1 StOB zum Ausdruck kommt, für eine zusätzliche
Begrenzungsfunktion daher kein Platz bleibt. In diesem Zusammenhang
scheint der Umstand, dass etwaige von den Tatgerichten angeordnete Frei-
heitsstrafen durch die Revisionsgerichte fast ausschließlich auf die Mindest-
strafe von einem Monat zurückgeführt werden, eher dazu geeignet, in die-

59 Vgl. OLG Nürnberg StraFo 2006,502: zuvor bereits OLG Schleswig NJW 1982, 116.
60 So völlig zu Recht: OLG Dresden 2 Ss 167/02 v. 2.5.2002~ OLG Stuttgart StraFo 2009,
118.
61 Vgl. auch Köhler JZ 1989,699 in seiner Antnerkung zu BayObLG NStZ 1989,75.
62 BayObLG NStZ 1989,75. In der Entscheidung BayObLG NJW 2003, 2926 genügt dem
Gericht die eine Begründung ersetzende Feststellung, dass der verfahrensgegenständliche
Diebstahl "trotz sechs vorausgegangener einschlägiger Verurteilungen, davon vier zu Freiheits-
strafen, die auch überwiegend vollstreckt wurden, und trotz laufender einschlägiger Bewäh-
rung" begangen worden sei.
63 Vgl. bereits Horn JR 1987,294 in seiner Anmerkung zu OLG DüsseldorfNStZ 1986,512
sowie Köhler JZ 1989,698 in seiner Anmerkung zu BayObLG NStZ 1989,75: siehe auch NK-
Streng, 2. Aufl. 2005, § 47 Rn. 4 sowie zutreffend SK-StGB/Horn, 7. Aufl. 2001, § 47 Rn. 14
mit der Überlegung, dass die Geldstrafe in aussichtslosen Fällen hilfsweise anwendbar ist,
sowie Meier (0. Fn. 48), S. 84.
Knast fur den Diebstahl einer Milchschnitte? 667

sen Fällen ganz allgemein die Berechtigung der Anordnung einer kurzen
Freiheitsstrafe in Frage zu stellen.
Bleibt am Ende im Wesentlichen eine, bisher ausgesparte Frage offen:
Wann ist eine Straftat als Bagatelle anzusehen? Einfachgesetzlich gilt im-
mer noch der Satz, dass das Bagatelldelikt keinen Begriff des positiven
Strafrechts darstellt. 64 Dennoch existieren jedenfalls für alle drei derzeit in
der Diskussion befindlichen Konstellationen normative Hinweise darauf,
wann eine Bagatelle vorliegt: Zum einen sollte im Regelfall der Diebstahl
geringwertiger Sachen im Sinne des § 248a StGB als Bagatelle angesehen
werden. 65 Die dort von der Rechtsprechung erarbeitete Wertgrenze gilt über
§ 265a Abs. 3 StGB nicht nur fur die Leistungserschleichung, sondern z.B.
über § 263 Abs. 4 StGB ebenfalls für den Betrug. Darüber hinaus könnte sie
auch fur die Sachbeschädigung fruchtbar gemacht werden. Im Betäubungs-
mittelbereich weist die Möglichkeit, nach § 29 Abs. 5 BtMG (vgl. auch
§ 31a BtMG) von Strafe absehen zu können, "wenn der Täter die Betäu-
bungsmittel lediglich zum Eigenverbrauch in geringer Menge anbaut, her-
stellt, einfuhrt, ausfuhrt, durchführt, erwirbt, sich in sonstiger Weise ver-
schafft oder besitzt", auf die Bagatelleigenschaft einer derartigen Straftat
hin.
Eine derart begründete weitere Einschränkung kurzer Freiheitsstrafen
könnte auch auf die Zustimmung des Jubilars stoßen.

v. Zusammenfassung
1. Der Anteil der kurzen Freiheitsstrafen an den Verurteilungen zu Frei-
heitsstrafen insgesamt ist seit dem Jahr 1990 kontinuierlich auf zuletzt ein
knappes Drittel gesunken.
2. Dennoch wurden im Jahr 2008 noch mehr als 45.000 Personen zu einer
Freiheitsstrafe unter sechs Monaten verurteilt, rund ein Viertel davon gar zu
einer unbedingten.
3. Mit Abstand bedeutsamstes Delikt bei der Anordnung einer kurzen
(unbedingten) Freiheitsstrafe ist der (Laden-)diebstahl. Recht hohe Anteile

64 So bereits der Eingangssatz von Krümpelmann in seiner aus dem Jahr 1966 stammenden
Dissertation über "Die Bagatelldelikte". Zur Diskussion um Voraussetzungen und Grenzen des
Bagatelldelikts vgl. neben der Arbeit von Krümpelmann etwa Rössner Bagatelldiebstahl und
Verbrechenskontrolle, 1976~ Kun= Das strafrechtliche Bagatellprinzip, 1984~ Nugel Ladendieb-
stahl und Bagatellprinzip, 2004 sowie Priebe Zur Kodifizierung der "Bagatellkriminalität" in
Deutschland und Europa, 2005.
65 Warum weiter einschränkend eine Kategorie "absolut geringwertiger Sachen" oder "abso-
luter Bagatellschäden" erforderlich sein sollte (so aber z.B. OLG Stuttgart NJW 2002, 3188~
OLG Hamm StraFo 2003, 99~ Fischer [Fn. 27], § 47 Rn. 6a), ist nicht einsichtig.
668 Jörg Kinzig

weisen auch Verurteilungen nach § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und 3 BtMG sowie


die Leistungserschleichung aus.
4. Diese Delikte bestimmen auch die seit etwa zehn Jahren intensiver ge-
fiihrte Diskussion über die Zulässigkeit und Grenzen kurzer Freiheitsstrafen
im Falle von Bagatellstraftaten (mehrfach) vorbestrafter Personen.
5. Die dazu vorliegende oberlandesgerichtliche Rechtsprechung ist unein-
heitlich. Teilweise werden kurze Freiheitsstrafen akzeptiert, teilweise wer-
den sie unter Berufung auf das Übermaßverbot auf die Mindeststrafe von
einem Monat reduziert, teilweise werden sie aufgehoben.
6. Die normative Lösung dieser Frage hat an der zweigliedrigen Struktur
des § 47 Abs. 1 StGB anzusetzen. Eine kurze Freiheitsstrafe darf nur dann
verhängt werden, wenn besondere Umstände in der Tat oder der Persön-
lichkeit des Täters vorliegen, die zudem eine solche Sanktion zur Einwir-
kung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich
machen.
7. Bei Bagatelldelikten scheint selbst bei mehrfach vorbestraften und/oder
bewährungsbrüchigen Personen schon das Erfordernis der besonderen Um-
stände kaum begründbar, weil ein etwa erhöhtes Handlungsunrecht durch
das im Bagatellfall regelmäßig niedrige Erfolgsunrecht kompensiert sein
dürfte.
8. Mit der Verteidigung der Rechtsordnung wird der Einsatz der kurzen
Freiheitsstrafe bei Bagatellstraftaten regelmäßig nicht begründet werden
können, ohne dass damit die Verhängung einer solchen Sanktion für Baga-
telldelikte generell ausgeschlossen ist.
9. Die Feststellung der Unerlässlichkeit einer kurzen Freiheitsstrafe zur
Einwirkung auf den Täter erfordert die Einschätzung, dass diese Strafe im
konkreten Fall spezialpräventiv erfolgversprechender als die Anordnung
einer Geldstrafe ist. Regelmäßig dürfte eine solche Begründung bei Baga-
tellstraftaten nicht gelingen.
10. Für die Feststellung einer Straftat als Bagatelle liefern die Geringwer-
tigkeit nach § 248a StGB sowie die geringe Menge nach § 29 Abs. 5 BtMG
einen praktikablen Anhaltspunkt.
Verschobener Reststrafenzeitpunkt und
Härteausgleich bei Unmöglichkeit nachträglicher
Gesamtstrafenbildung

HANS KUDLICH

I. Prolog und Hinführung


Die Mitwirkung an einer Festschrift ist stets ein nobile officiun1. Im vor-
liegenden Fall ist sie mir aber darüber hinaus - sogar noch mehr als bei
Beiträgen für andere, nicht weniger geschätzte Kollegen - eine besondere
Herzensangelegenheit: Der Jubilar war in den Jahren 2002/2003 Dekan der
Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München, an der
während dieser Zeit mein Habilitationsverfahren als gleichsam "externer
Habilitand" (d.h. als ein solcher, der zu dieser Zeit und auch vorher nicht als
Assistent in München tätig war) stattfand. Heinz Schöch hat dieses Verfah-
ren als Dekan mit großer Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft begleitet und
mir immer das beruhigende Gefühl gegeben, dass mein Fall von der Fakul-
tät mit dem gleichen Wohlwollen behandelt wird wie bei einem "echten
Münchner Gewächs". Dafür sowie auch für die Förderung und wichtige
Ratschläge in den folgenden Jahren bin ich ihm zu großem Dank verpflich-
tet.
Das Schaffen des Jubilars zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass er
einerseits die Kriminologie als empirische Wissenschaft ernst nimmt und
engagiert betreibt, andererseits aber zugleich - was bekanntlich keine
Selbstverständlichkeit ist - neben der Kriminologie und den oft damit ver-
bundenen Fächern (insbesondere Jugendstrafrecht und Strafvollzugsrecht) 1
auch Strafrechts- und Strafprozessrechtsdogmatik nicht nur in der Lehre,
sondern auch in der Forschung immer wieder auf hohem Niveau aufgegrif-
fen hat. 2 In diesem Sinne soll auch der vorliegende kurze Beitrag ein über-

1 Vgl. aus dem umfangreichen Werk besonders prominent etwa das nlit Meier und Räßner
verfasste, 2007 in zweiter Auflage erschienene Lehrbuch zum Jugendstrafrecht und das zu-
sammen mit Kaiser besorgte Lehrbuch zum StratVollzugsrecht (zuletzt 5. Aufl. 2003).
2 Vgl. nur die Kommentierungstätigkeit des Jubilars im materiellen Recht zu §§ 19-21,61 ff.
und 323a ff. StGB im Leipziger Kommentar bzw. im Kommentar von Sat=ger/Schmitt/Wid-
maier sowie zu §§ 151 ff., 238 ff. und 403 ff. StPO im Alternativkommentar.
670 Hans Kudlich

greifendes bzw. gewissermaßen an der Schnittstelle zwischen Strafzumes-


sungsrecht, Strafvollstreckung und letztlich auch Berücksichtigung empiri-
scher Beobachtungen liegendes Problem behandeln. Es geht dabei um die
Frage, inwiefern für die Auslegung bzw. Handhabung eines genuin rechts-
dogmatischen Instituts aus dem Bereich des Strafzumessungsrechts (Härte-
ausgleich) Regelungen aus der Vollstreckung (Reststrafenaussetzung), aber
auch die tatsächliche Situation des Gefangenen im Vollzug (Stichworte:
nicht-lineares Ansteigen des Strafübels bei langer Freiheitsstrafe; Bedeu-
tung der generellen Aussicht auf bedingte Entlassung) Berücksichtigung
finden sollen. 3 Dass hiermit auch ein starker Bezug zur Strafzumessung
hergestellt wird, fügt sich gut ins CEuvre des Jubilars ein, dessen erste Mo-
nographie dem Thema der Strafzumessung bei Verkehrsdelinquenz gewid-
met war4 und den das Thema der Strafzumessung auch in anderen Arbeiten
immer wieder beschäftigt hat. 5

11. Grundgedanken des Härteausgleichs


1. Das Erfordernis eines sog. Härteausgleichs bei Unmöglichkeit nach-
träglicher Gesamtstrafenbildung lässt sich nur verstehen, wenn man sich auf
die Grundsätze der Strafzumessung bei mehreren selbständigen Taten im
materiellen Sinn rückbesinnt: Nach §§ 53, 54 StGB gilt hier bei einheitli-
cher Aburteilung mehrerer Taten nicht das Prinzip der Kumulation (d.h. der
Summierung der für die einzelnen Taten ausgeworfenen Einsatzstrafen),
sondern der bloßen Asperation (d.h. der Schärfung der höchsten Einsatzstra-
fe).6 Werden nun aus irgendwelchen Gründen - insbesondere wegen ihres
zeitversetzten Bekanntwerdens - an sich gesamtstrafenfähige Taten getrennt
abgeurteilt, droht eine Benachteiligung des Täters, der nicht in den Genuss
der mit dem Prinzip der bloßen Asperation (statt Kumulation) verbundenen
Privilegierung kommt. Nun wäre eine im Vergleich zum Modell der
§§ 53 ff. 8tGB längere Strafe "nur" ein Problem einer "relativen Gerechtig-

3 Herrn Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht Sven-Thorsten Oberhof sei an dieser
Stelle für die fruchtbaren Diskussionen über dieses Problem von Herzen gedankt.
4 VgI. Schäch, Strafzumessungspraxis und Verkehrsdelinquenz, 1973.
5 VgI. nur Möglichkeiten und Grenzen einer Typisierung der Strafzumessung bei Verkehrs-
delikten mit Hilfe empirischer Methoden, in: Göppinger/Hartmann (Hrsg.), KrimGegfr. 10
(1972), S. 128 ff.; Artikel zum Thema "Strafzumessung" in: Kaiser/Sack/Schellhoss (Hrsg.),
Kleines kriminologisches Wörterbuch, 1974 (ebenso wie in der 2. Aufl. 1985 sowie in der
3. Aufl. 1991); Strafzumessung und Persönlichkeitsschutz in der Hauptverhandlung, FS Bruns,
1978, S. 754 ff.
6 Zu den verschiedenen Prinzipien der Strafzun1essung bei mehrerer Taten vgl. MK-von
Heintschel-Heinegg StGB, Bd. lVI, 2005, Vor §§ 52 ff. Rn. 13 f.
Verschobener Reststrafenzeitpunkt und Härteausgleich 671

keit" der Strafzumessung zwischen verschiedenen Tätern 7 (und keine Frage


schuldangemessener oder tatproportionaler8 Strafzumessung), wenn es sich
bei der Asperation um eine reine Zweckmäßigkeitsüberlegungen handeln
würde, die bei getrennter Aburteilung eben nicht vergleichbar opportun
erscheint. Indes hat das Prinzip "Asperation statt Kumulation" auch eine
innere Legitimation für die schuldangemessene Strafzumessung, indem sie
das progressive Ansteigen des Strafübels bei zunehmender Freiheitsstrafe
berücksichtigt. 9
2. Man mag nun zwar erwägen, ob dieses progressive Ansteigen des
Strafübels auch für mehrere einzeln ausgeworfene bzw. zu verbüßende
Strafen gilt. Indes ändern diese nicht nur nichts an der längeren Gesamtin-
haftierung mit den ihr zugeschriebenen negativen Sekundäreffekten, 10 son-
dern je nach konkretem zeitlichem Ablauf können die beiden Inhaftierungen
(ggf. unter Berücksichtigung einer etwaigen Untersuchungshaft) auch so
nahe aneinander heranrücken, dass die ggf. kurze Zwischen-Phase in Frei-
heit kaum nennenswert ins Gewicht fällt. Dass jedenfalls zwei verschiedene
Verurteilungszeitpunkte als solche bei an sich gesamtstrafenfähigen Taten
nichts am Grundsatz Asperation statt Kumulation ändern, zeigt deutlich die
Regelung zur nachträglichen Gesamtstrafenbildung in § 55 StGB. Deren
ratio liegt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dar-
in, dass diese Taten "auch bei getrennter Aburteilung dieselbe Behandlung
erfahren sollen, so dass der Täter im Endergebnis weder besser noch
schlechter gestellt ist, als wenn alle Taten in dem zuerst durchgefUhrten
Verfahren abgeurteilt worden wären". 11
3. Scheitert eine solche nachträgliche Gesamtstrafenbildung nach § 55
StGB, die eine schuldadäquate Vollstreckung bei fehlender gleichzeitiger
Aburteilung garantieren SOll,12 weil die erste Strafe bereits vollständig voll-
streckt ist, so droht eine Versagung nachträglicher Gesamtstrafenbildung
nach bereits vollstreckten Strafen zu einer insgesamt schuldinadäquaten
Strafvollstreckung zu fUhren. 13 Nach auch insoweit ständiger Rechtspre-

7 Welches freilich allein sub specie Art. 3 GG auch schon problematisch sein könnte, wenn
man in der getrennten Aburteilung keinen sachlichen Grund zur Ungleichbehandlung sieht.
8 Zu diesem Postulat vgl. insb. Härnle Tatproportionale Strafzumessung, 1999, vor allem
S. 108 ff. (nebenbei: eine Dissertation, an welcher der Jubilar auch als Zweitgutachter beteiligt
war), sowie zur Einordnung in die allgemeine Strafzumessungstheorie Streng Strafrechtliche
Sanktionen, 2. Aufl. 2002, Rn. 489 ff.
9 Zu den Erklärungsansätzen für diese Privilegierung vgl. auch Deiters Strafzumessung bei
mehrfach begründeter Strafbarkeit, 1999, S. 17 ff.
10 Vgl. dazu nur Kaiser/Schäch Strafvollzug, 5. Aufl. 2002, § 5 Rn. 13.
11 Vgl. zuletzt BGH NStZ 2010, 30~ ständige Rechtsprechung, vgl. vorher etwa BGHSt 7,
180, 181~ 15,66,69; 17, 173, 174 f; BGHSt 33, 131, 132~ 32,190,193.
12 Vgl. Deiters (Fn. 9), S. 69.
13 Vgl. Deiters (Fn. 9), S. 78.
672 Hans Kudlich

chung des Bundesgerichtshofs ist die darin liegende Härte bei der Bemes-
sung der nunmehr zu verhängenden Strafe auszugleichen. 14 Denn die "Tat-
sache, dass § 55 Abs. 1 S. 1 StGB in diesen Fällen eine Gesamtstrafenbil-
dung ausdrücklich ausschließt, ändert nichts an der dem Prinzip der
nachträglichen Gesamtstrafenbildung zugrunde liegenden Forderung nach
einem Ausgleich der sich durch getrennte Aburteilung ergebenden Nachtei-
le".15
Mit Rissing-van-Saan lassen sich damit Natur und Anspruch des Härte-
ausgleichs - gerade auch in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs -
rur die Fälle der vollständigen Vorwegvollstreckung wie folgt zusammen-
fassen: "Kann keine nachträgliche Gesamtstrafe gebildet werden, weil die
früher verhängten Strafen bereits vor dem tatrichterlichen Urteilen in dem
anhängigen Verfahren erledigt waren, so darf dies dem Angeklagten nicht
zum Nachteil gereichen; die darin liegende Härte ist nach allgemeiner Mei-
nung bei der Strafzumessung auszugleichen". 16 Dabei kann bei einem Här-
teausgleich auch das gesetzliche Mindestmaß der Strafe unterschritten wer-
den. Insgesamt ist also darauf zu achten, "dass das ,Gesamtstrarubel' den
Unrechts- und Schuldgehalt der Taten nicht übersteigt". 17

111. Reststrafenzeitpunkt und Härteausgleich


1. Die Verschiebung des ReststraJenzeitpunkts
bei getrennter Aburteilung
Als eine solche Härte, die beim zweiten Strafausspruch zu berücksichti-
gen sein könnte, kommt nun - jedenfalls in bestimmten Konstellationen -
neben der unterlassenen Gesamtstrafenbildung auch noch ein zweiter Punkt
in Betracht, der rur das Strafübel in Gestalt der tatsächlich vollzogenen
Freiheitsstrafe von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist: der mögliche
Zeitpunkt einer bedingten Entlassung nach § 57 StGB. Dieser droht bei
einem "Nacheinandervollzug" zweier Freiheitsstrafen "insgesamt" (d.h.
verglichen mit der hypothetischen Situation bei einer Gesamtfreiheitsstrafe)
spürbar nach hinten verschoben zu werden, weil sich der ggf. zur Bewäh-
rung ausgesetzte Strafrest nur noch aus der zweiten ausgeworfenen Strafe
(und nicht aus der hypothetischen Gesamtstrafe) errechnet. Dies gilt jeden-
falls dann, wenn die erste ausgeworfene Strafe aus Gründen vollständig
vollstreckt wurde, die nicht automatisch dazu führen müssen, dass auch bei

14 Vgl. zuletzt BGH NStZ 2010, 30~ vorher etwa BGHSt 31, 102, 103~ 33,131,132.
15 Vgl. BGH NStZ 2010, 30.
16 Vgl. LK-Rissing-van-Saan, 12. Aufl. 2006, § 55 Rn. 32.
17 Vgl. LK-Rissing-van-Saan a.a.O., § 55 Rn. 34 f. m.w.N.
Verschobener Reststrafenzeitpunkt und Härteausgleich 673

einer hypothetischen Gesamtstrafe keine bedingte Aussetzung in Betracht


kommen würde. Dies sei anhand eines fiktiven - aber deswegen keinesfalls
unrealistischen - Beispiels verdeutlicht:
A hat in seinem Unternehmen für das Jahr 2004 Steuern hinterzogen. Im
Jahr 2005 macht er sich ferner eines massiven Falles einer Kurspreisma-
nipulation nach §§ 20a, 38, 39 WpHG schuldig. Die Steuerstraftat wird
rasch aufgedeckt, und der bislang nicht vorbestrafte und sozial an sich gut
integrierte A wird zu einer Anfang 2006 18 angetretenen Freiheitsstrafe
von zwei Jahren und 6 Monaten verurteilt. Die Kurspreismanipulation
bleibt dagegen zunächst unentdeckt, und auch dann ziehen sich die Er-
mittlungen in die Länge. Im August 2007 gesteht A im Ermittlungsver-
fahren die vorgeworfenen Handlungen. Darauf wird eine eigentlich zum
1.9.2007 geplante bedingte Entlassung zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt nicht
gewährt, nicht zuletzt, da die Staatsanwaltschaft davon ausgeht, dass
sonst wegen Fluchtgefahr auch die Voraussetzungen eines Haftbefehls
vorliegen würden. 19 Da das Verfahren sich wegen der erforderlichen Gut-
achten zur Beeinflussung des Börsenkurses sowie wegen der schwierigen
rechtlichen Fragen, ob das vorgeworfene und auch gestandene Verhalten
überhaupt unter die missglückte Vorschrift des § 20a WpHG subsumiert
werden kann, noch länger hinzieht, kommt es erst zum 1.7.2008 zu einem
Urteil. 20 Das Gericht hält A für schuldig und an sich eine Freiheitsstrafe
von 3 Jahren für angemessen. Als Härteausgleich wegen der nicht mehr
möglichen Gesamtstrafenbildung wirft es letztlich wieder eine Strafe von
zwei Jahren und sechs Monaten aus, da es davon ausgeht, dass bei ge-
meinsamer Aburteilung eine Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren gebil-
det worden wäre, von denen zwei Jahre und sechs Monate bereits verbüßt
sind.
In dieser Situation nun wird bei der zweiten Freiheitsstrafe der Zeitpunkt
einer möglichen Haftentlassung mit Aussetzung des Strafrests zur Bewäh-
rung nach § 57 Abs. 1 StGB gegenüber einer fiktiven anfänglichen gemein-
schaftlichen Aburteilung signifikant weit nach hinten verschoben:

18 Der leichteren Berechenbarkeit wegen soll davon ausgegangen werden, dass der Vollzug
der Freiheitsstrafe am 1.1.2006 beginnt.
19 Alternativ: Eine schon beschlossene Reststrafenaussetzung zur Bewährung wird aus den
gleichen Erwägungen - kurz vor oder auch kurz nach dem Beginn der Aussetzung - wieder
widerrufen.
20 Das Urteil könnte auch noch später ergehen~ falls A für das zweite Verfahren in U-Haft
bleibt, die dann auf die zweite Freiheitsstrafe angerechnet wird, ändert sich an der Gesamthaft-
zeit nichts.
674 Hans Kudlich

- Geht man von einer (fiktiven) Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Jahren aus, so


würde dies vom Zeitpunkt der erstmaligen Inhaftierung am 1.1.2006 (bei
unterstellter durchgehender Haft) zu einem Zwei-Drittel-Zeitpunkt nach
zwei Dritteln von 60 Monaten, mithin nach 40 Monaten am 1.5.2009
führen.
- Dagegen könnte eine vorzeitige Haftentlassung bei der nunmehr ausge-
worfenen Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten ab dem
vollständigen Vollzug der ersten Freiheitsstrafe erst nach zwei Dritteln
von 30 Monaten, mithin nach 20 Monaten nach dem 1.7.2008 und damit
erst am 1.3.2010 erfolgen.
- Mit anderen Worten: Der Zwei-Drittel-Zeitpunkt wäre trotz des Härte-
ausgleichs aufgrund der getrennten Aburteilung erst 10 Monate (und d.h.
hier mehr als ein Drittel der ausgeworfenen Strafe) später erreicht.
Zumindest auf den ersten Blick steht A daher durch die getrennte Aburtei-
lung spürbar schlechter, als es bei einer gemeinsamen Verurteilung der Fall
gewesen wäre. Liegt also der Grundgedanke des Härteausgleichs darin,
ungerechte Konsequenzen des Umstandes zu verhindern, dass "Zufälligkei-
ten des Verfahrensablaufs und der Prozessgestaltung dazu führen, dass ,an
sich' zur nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe geeignete ,frühere'
Strafen nur deshalb nicht in eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung einbe-
zogen werden, weil sie sich vor dem ,späteren' Urteil im laufenden Straf-
verfahren vollständig erledigen",21 so würde dieses Ziel hier ersichtlich
verfehlt.

2. Behandlung in Rechtsprechung und Literatur


Die Frage, ob und gegebenenfalls wie der Zeitpunkt einer möglichen be-
dingten Entlassung nach § 57 StGB im Rahmen des Härteausgleichs zu
berücksichtigen ist, ist obergerichtlich noch kaum - und soweit ersichtlich
jedenfalls nicht vertieft - behandelt wordetl. Auch die Literatur schweigt
sich darüber im Wesentlichen aus. Dieses Schweigen erklärt sich wohl rein
praktisch teilweise auch damit, dass vergleichbar drastisch unterschiedliche
Konsequenzen für den Angeklagten sich insbesondere in Fällen wie dem
vorliegend Gelagerten ergeben, in welchen trotz der bereits vollständigen
Vollstreckung der ersten Freiheitsstrafe deren Dauer im Verhältnis zur
zweiten Freiheitsstrafe und damit auch zur (fiktiven) Gesamtfreiheitsstrafe
beträchtlich ins Gewicht fällt und in denen die vollständige Vollstreckung
der ersten Freiheitsstrafe und damit die Nichtgewährung bzw. der Widerruf
einer etwa gewährten Reststrafenaussetzung in einem Punkt begründet liegt,

21 Vgl. Bringewat Die Bildung der Gesamtstrafe, 1987, Rn. 250.


Verschobener Reststrafenzeitpunkt und Härteausgleich 675

der die Reststrafenaussetzung der Gesamtfreiheitsstrafe nicht berühren


würde.
Die - soweit ersichtlich - existierenden Entscheidungen weisen zunächst
ein etwas divergentes und stark von Besonderheiten des Sachverhalts ge-
prägtes Bild auf: So hat der 2. Senat in einer Entscheidung vom
30.10.1996 22 - zugegebenermaßen für eine etwas spezielle Fallkonstella-
tion 23 - gerügt, das Tatgericht habe nicht berücksichtigt, dass "der Ange-
klagte bei der Dauer der jetzt verhängten Gesamtfreiheitsstrafe den Zeit-
punkt, von dem ab eine bedingte Entlassung nach Zwei-Drittel-Verbüßung
(§ 57 Abs. 1 StGB) in Betracht kommt, um mehrere Monate später errei-
chen würde". Demgegenüber postuliert derselbe Senat in einer Entschei-
dung vom 18.02.1998 24 zwar, dass der spätere Zwei-Drittel-Zeitpunkt nur in
Ausnahmefällen strafmildernd zu berücksichtigen sei. Indes behandelt die
Entscheidung Fälle von "vielfach vorbestraften Bewährungsversagern, bei
denen eine positive Zwei-Drittel-Entscheidungen auch bei längerer Straf-
verbüßung kaum zu erwarten ist".
Beide Entscheidungen sind in ihrer Tendenz also auf den ersten Blick ge-
genläufig und überdies jeweils nicht wirklich begründet. Insoweit erschei-
nen sie auch kaum geeignet, allgemeine Leitlinien vorzugeben, sondern
skizzieren nur den sehr groben Rahmen, dass die Berücksichtigung des
verschobenen Zwei-Drittel-Zeitpunktes für den Härteausgleich offenkundig
möglich sein soll, aber nicht erforderlich ist, wenn von vornherein die Aus-
sicht auf eine Strafrestsaussetzung zur Bewährung nahezu ausgeschlossen
ist. Das Gleiche gilt für einen knappen Beschluss des 1. Strafsenats vom
17.6.2009,25 in dem zu einem in seiner Struktur mit unserem Beispielsfall
vergleichbaren Sachverhalt nur kurz lnitgeteilt wird, die Nachprüfung lasse
keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erkennen. Ergänzend
wird freilich bemerkt, über den (den verschobenen Reststrafenzeitpunkt
nicht erwähnenden, aber eben die getrennte Aburteilung "standardmäßig"
berücksichtigenden) gewährten Härteausgleich hinaus, sei ein solcher nicht
zu gewähren - ja sogar der gewährte Ausgleich sei in der vorliegenden
Fallgestaltung "neue Taten zur ,Strafvereitelung' des eigenen laufenden
Strafverfahrens (... ) aus der Untersuchungshaft heraus (... ) mit Blick auf
den Zweck [des Härteausgleichs] bedenklich". Das zeigt deutlich, wes Geis-
tes Kind die Entscheidung ist, hat doch der Inhalt der beiden Taten - selbst

22 BOH NStZ-RR 1997, 131 = BOHR StOB § 55 Abs. 1 S. 1 Härteausgleich 7.


23 Aufhebung und Auflösung einer Oesamtfreiheitsstrafe und Verbüßung einer Oesamtfrei-
heitsstrafe aus einem früheren Urteil mit der Folge, dass eine Einbeziehung der dieser zugrunde
liegenden Einzelstrafen nicht mehr möglich ist.
24 BOHR StOB § 55 Abs. 1 S. 1 Härteausgleich 11.
25 1 StR 212/09 n.v. - der Verfasser war hier einer der Verteidiger des Angeklagten im Re-
vis ionsverfahren.
676 Hans Kudlich

dann, wenn die zweite Tat der Justiz so ungelegen kommt, wie es Verdunk-
lungsbemühungen 26 aus der Untersuchungshaft heraus nun einmal tun - mit
dem Zweck des Härteausgleichs rein gar nichts zu tun,27 denn dieser hat
seine Wurzeln nicht in den verwirklichten Tatbeständen, sondern allein in
den Konkurrenzregeln der §§ 53 - 55 StGB. 28 Wenngleich die Entscheidung
rur den Regelfall die Praxis möglicherweise zementieren wird - einen in-
haltlich-materiellen Erkenntnisgewinn rur den Problemkreis "Verschobener
Reststrafenzeitpunkt und Härteausgleich" bringt sie nicht.

3. BerücksichtigungsJähigkeit des verschobenen


ReststraJenzeitpunkts bei der nachträglichen GesamtstraJenbildung
a) Jedenfalls in Ga keineswegs ganz atypisch gelagerten) Fällen wie dem
oben zugrunde Gelegten - d.h. also beim Fehlen von Vorstrafen zum Zeit-
punkt der ersten (und damit auch der hypothetischen Gesamtstrafen-) Ver-
urteilung und auch leidlich Erfolg versprechenden Sozialparametern im
Übrigen - spricht doch mehr rur eine grundsätzliche Berücksichtigung des
verschobenen Zwei-Drittel-Zeitpunktes bei der Bemessung des Härteaus-
gleichs, als es die restriktiven Formulierungen einzelner Entscheidungen
spontan vermuten lassen. Denn die - sowohl nach absoluter Zeitdauer als
auch insbesondere in Relation zur zu verbüßenden Strafe - ganz eklatante
Verschiebung selbst des Zwei-Drittel-Zeitpunkts nach § 57 Abs. 1 StGB 29
ist durchaus ein bedeutsamer Faktor: Zwar werden insgesamt nur rund 200/0
(bzw. nach anderen Untersuchungen ein etwas größerer Anteil von Strafge-
fangenen)30 nach § 57 Abs. 1 StGB (und zusätzlich noch ein weiterer Anteil
nach § 57 Abs. 2 StGB) vorzeitig entlassen. Berücksichtigt man aber, dass

26 Schon der - wenngleich in Anführungszeichen gesetzte - Begriff der "Strafvereitelung"


mit Blick auf eigene C!) Taten macht das deutlich.
27 Und nebenbei bemerkt: auch nur wenig mit § 57 Abs. 1 StGB, bei dessen Anwendung
Schuld und Schwere des vorher begangenen Deliktes als solche keinesfalls ausschlaggebend
sein dürfen, vgl. nur Fischer StGB, 57. Aufl. 2010, § 57 Rn. 12 m.w.N. auch aus der Recht-
sprechung des BVerfG.
28 Eher wird umgekehrt ein Schuh daraus: Unter dem Gesichtspunkt der Tatbegehung gera-
de aus der Untersuchungshaft heraus und mit Blick auf die Prognoseentscheidung des § 57
StGB ist sogar im Gegenteil festzuhalten, dass für den Fall einer bedingten Haftentlassung ein
Wiederholungspotential für diese Art von Taten gerade nicht vorliegt!
29 Wie gravierend sich eine Nichtberücksichtigung des Zeitpunkts der vorzeitigen Haftent-
lassung nach § 57 StGB auswirken kann, wird deutlich, wenn man gleichsam colorandi causa
den (freilich seltener einschlägigen und insoweit auch prognostisch weniger nahe liegenden)
Fall der Halbstrafenentlassung nach § 57 Abs. 2 StGB zugrunde legt. In unserem Beispielsfall
wäre dieser bei einer bereits anfänglichen gemeinsamen Aburteilung mit Gesamtstrafenbildung
30 Monate nach dem 1.1.2006, und damit am 1.7.2008, erreicht gewesen, an dem bei getrenn-
ter Aburteilung der Vollzug der zweiten Strafe gerade erst beginnt.
30 Zahlenmaterial bei MK-Groj3 StGB, Bd. 2/1,2005, § 57 Rn. 6 m.w.N.
Verschobener Reststrafenzeitpunkt und Härteausgleich 677

sich diese Zahlen auf alle Freiheitsstrafen und damit auch auf Wiederho-
lungsverbüßer oder Gefangene mit einer aus anderen Gründen schlechten
Sozialprognose beziehen, wird leicht deutlich, dass es sich keineswegs um
eine völlig unverbindliche "Expektanz", sondern für bestimmte Gefangene
um eine sehr, sehr reale Chance bei der Vollstreckung handelt. Dies gilt
umso mehr, als aufgrund der Kriterien des § 57 StGB ("Verhalten des Ver-
urteilten im Vollzug") der Verurteilte durchaus die Möglichkeit hat, am
Vorliegen dieser Voraussetzungen mitzuwirken (und erfahrungsgemäß auch
das Verhalten vieler Gefangener dadurch geprägt wird 31 ).
Hinzu kommt, dass unabhängig vom tatsächlichen Vollzug der möglichen
Reststrafenaussetzung die Hoffnung auf diese Möglichkeit - und damit
dann auch der Zeitpunkt, in dem sich diese Hoffnung realisieren könnte -
für einen rechtsstaatlichen und menschenwürdigen Vollzug von ganz erheb-
licher Bedeutung sind, wie das Bundesverfassungsgericht grundlegend in
der bekannten Entscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe ausgeführt
hat. 32 Für das "Gesamtstrafl1bel" ist die Mindestverbüßungsdauer mithin ein
zentraler Bestandteil, weshalb die Verschiebung des Zeitpunkts nach
§ 57 Abs. 1 StGB jedenfalls dann nicht zu vernachlässigen ist, wenn dieser
einen signifikanten Teil der Strafdauer betrifft.
b) Auf den ersten Blick könnte man gegen diese Überlegungen nun frei-
lich einwenden, dass eine Berücksichtigung dieses Umstandes bei Festset-
zung der Strafhöhe umgekehrt auch zu einer unangemessenen Besserstel-
lung des Verurteilten führen könnte. Denn durch § 55 StGB und auch durch
das Institut des Härteausgleichs soll verhindert werden, dass der Verurteilte
aufgrund der getrennten Aburteilung und des vollständigen Vorwegvollzugs
der ersten Freiheitsstrafe schlechter gestellt wird - er soll aber auch nicht
besser gestellt werden. Diese drohende Besserstellung könnte zum einen
damit begründet werden, dass sich das Problem apriori nur stellt, wenn die
erste Freiheitsstrafe gerade vollständig verbüßt wurde; zum anderen aber
auch damit, dass ja durchaus ungewiss ist, ob nicht auch die zweite Strafe
vollständig verbüßt werden muss.
Hinsichtlich des ersten Einwandes ist zu differenzieren: Lagen der Voll-
verbüßung Gründe in der Person des Verurteilten bei der Prognose zu
Grunde, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auch bei der zweiten
Vollstreckung von Bedeutung sein werden, dürfte nicht zu beanstanden
sein, wenn der Punkt "Reststrafenaussetzung" beim Härteausgleich (zwar
aufgeworfen, aber im Ergebnis) nicht berücksichtigt wird. Anders ist dies
freilich, wenn Grund für die Nichtentlassung zur Bewährung oder Wider-
rufsgrund gerade die Tat ist, die zur zweiten Freiheitsstrafe fuhrt. Denn der

31 Vgl. MK-Groß a.a.O., § 57 Rn. 6, m.w.N.


32 Vgl. BVerfGE 45, 187,239,245.
678 Hans Kudlich

Maßstab, nach dem etwa eine bereits gewährte Strafrestaussetzung widerru-


fen werden muss und derjenige, der bei einer fiktiven anfänglichen Gesamt-
beurteilung an die Frage angelegt werden muss, ob trotz zweier Taten vor
der Verurteilung eine Strafrestaussetzung in Betracht kommt, sind durchaus
unterschiedliche. 33
Dass aber selbst in diesem Falle ungewiss ist, ob es letztlich zu einer
Reststrafenaussetzung kommen wird, ist durchaus als Grund dafür ernst zu
nehmen, dass nicht pauschal stets und in voller Höher beim Härteausgleich
die Zeitspanne zusätzlich in Abzug zu bringen ist, um die sich der Reststra-
fenzeitpunkt verschiebt. Andererseits ist genauso unbefriedigend, sehenden
Auges eine Strafe zu verhängen, in deren Folge sich bei einer Reststrafen-
aussetzung jedenfalls ein dem Gedanken des Härteausgleichs widerspre-
chendes Straftibel ergibt. Vielmehr wird man - je nach "Prognose für die
Prognose" -, also nach Einschätzung des Tatgerichts darüber, wie wahr-
scheinlich aus der Sichtweise des Urteilszeitpunkts später eine entsprechen-
de Entscheidung des Vollstreckungsgerichts getroffen wird, auch einen
"Mittelwert" berücksichtigen können, also etwa in unserem Beispielsfall:
einen zusätzlichen Härteausgleich z.B. irgendwo zwischen weiteren drei
und sechs Monaten (bei denen dann zu berücksichtigen ist, dass eine etwai-
ge unangemessene Besserstellung anteilsmäßig an der hypothetischen Ge-
samtstrafendauer zu messen ist). Dass auch dann eine die ex-ante nicht
vorhersehbare gerechte Größe noch exakter treffende Lösung nicht gefun-
den werden kann, kann dem Tatgericht nicht vorgeworfen werden - ultra
posse nulla obligatio. Aber das ist allemal besser, als eine gerechte Lösung
nicht einmal anzustreben.
c) Zuletzt ist auch die Tatsache, dass die Entscheidung über die vorzeitige
Haftentlassung eine vollstreckungsrechtliche (und keine Frage des Erkennt-
nisverfahrens und damit der Strafzumessung durch das Tatgericht) ist, sys-
tematisch kein zwingender Einwand dagegen, bei der - ohnehin eher über-
geordneten Gerechtigkeitserwägungen offen stehenden - Frage nach dem
Härteausgleich auch die Vollstreckungsperspektive zu berücksichtigen.
Vielmehr befindet sich die Vorschrift des § 57 StGB selbst auf einer etwas
fließenden Grenze zwischen dem Bereich des Erkenntnisverfahrens und der
Strafvollstreckung,34 und gerade die in der Rechtsprechung anerkannten

33 Das gilt evident auch ganz allgemein im Bewährungsrecht: Zwar kann die spätere Bege-
hung einer Straftat selbstverständlich ein Grund sein, dass ein zur Bewährung ausgesetzter
Strafrest wieder verbüßt werden muss~ hingegen ist die Tatsache, dass bei einer fiktiven ersten
gemeinsamen Verurteilung nicht nur ein, sondern zwei Tatkomplexe in Rede gestanden hätten,
gewiss kein Grund, bei der Vollstreckung der (fiktiven) Gesamtfreiheitsstrafe apriori eine
bedingte Haftentlassung nicht zuzulassen.
34 Vgl. NK-Paeffgen StGB, 3. Aufl. 2010, § 57 Rn. 4.
Verschobener Reststrafenzeitpunkt und Härteausgleich 679

Fallgruppen 35 bewegen sich häufig im Schnittbereich zwischen Erkenntnis-


verfahren und Vollstreckung bzw. setzen geradezu an diesem Punkt an:
- Dies gilt im Ausgangspunkt wohl bereits für die Fallgruppe des Härte-
ausgleichs beim Zusammentreffen von Jugend- und Erwachsenenstrafe
im Falle getrennter Aburteilung und daher der Unanwendbarkeit von
§ 32 JGG, da die Begrenzung des § 32 JGG auf Fälle der gleichzeitigen
Aburteilung ihren Grund wohl nicht zuletzt in der getrennten Vollstre-
ckung von Jugend- und Erwachsenenstrafe hat.
- Noch deutlicher wird die Verzahnung zwischen Erkenntnisverfahren
(gerade im Zusammenhang mit dem Härteausgleich) und dem Vollstre-
ckungsverfahren, wenn der BGH betont, dass bei einem Vollstreckungs-
hindernis hinsichtlich der ersten Tat ein Härteausgleich nicht erfolgen
kann. 36
- Umgekehrt weist BGHSt 41, 310, 313 f. darauf hin, dass im Rahmen des
Härteausgleichs ein etwaiger (letztlich durch das Gericht im Erkennt-
nisverfahren auch nur mehr oder weniger sicher zu prognostizierender)
drohender Bewährungswiderrufzu berücksichtigen sein soll.
Die Berücksichtigung solcher an sich genuin vollstreckungsrechtlicher
Fragen ist auch nicht nur "zufällig" ein wichtiger Aspekt bei einer Reihe
von behandelten Fallgruppen, sonden1 muss dies auch sein, weil die Voll-
streckung für die Bemessung des im Rahmen der Strafzumessung zu ver-
hängenden und zu berücksichtigten Strafübels bei konkreter Betrachtung für
den Angeklagten gar nicht überschätzt werden kann. Hinzu kommt Folgen-
des: Aspekte, die im Erkenntnisverfahren im Rahmen eines Härteausgleichs
nicht berücksichtigt wurden bzw. nicht berücksichtigt werden können, ent-
ziehen sich im Wesentlichen auch einer Berücksichtigung im Rahmen der
Strafvollstreckung. 37 Sieht man nun jedoch, dass das Übersehen eines As-
pekts im Erkenntnisverfahren später nicht "geheilt" werden kann, so spricht
umgekehrt viel dafür, vollstreckungsrechtliche Fragen aus der Entscheidung
im Erkenntnisverfahren und damit auch aus der Bemessung des Härteaus-
gleichs nicht apriori auszublenden.

IV. Fazit
Aus all dem ergibt sich, dass der verschobene Reststrafenzeitpunkt - je-
denfalls im Einzelfall - bei einer konsequenten Anwendung des Gedankens

35 Vgl. dazu zusammenfassend BGH 2 StR 386/08 vom 29.10.2008, Rn. 11 ff.
36 Vgl. BGH NStZ 2000, 263.
37 Vgl. plastisch OLG Saarbrücken NStZ-RR 2007,219.
680 Hans Kudlich

des Härteausgleichs durchaus berücksichtigungsfähig sein kann. Hält man


sich einmal vor Augen, wie vielfältige und divergente Kriterien nach der
gesetzlichen Konzeption mittlerweile die Strafzumessung schon im Grund-
satz (!) beeinflussen (Maß der Schuld, § 46 StGB, Versöhnung mit dem
Opfer, § 46a StGB, und Aufklärungs- bzw. Präventionshilfe, § 46b StGB)38,
sollte man sich nicht zu sehr scheuen, bei der Betrachtung des Einzelfalles
drohende Ungerechtigkeiten durch Zufälle im Zeitablauf moderat aus-
zugleichen. Umgekehrt ist die bloße, im Gesetz vorgesehene Möglichkeit
einer Reststrafenaussetzung nicht als Automatismus stets im Rahmen des
Härteausgleichs zusätzlich strafmildernd zu berücksichtigen. Aber schon
allein, weil es - wie die vorhergehenden Ausführungen gezeigt haben -
durchaus Fälle gibt, in denen eine Reststrafenaussetzung so nahe liegt, dass
sie nicht von vornherein ausgeblendet werden darf, wird man vom Tatge-
richt eine (zumindest kurze und ggf. auch nach Fallgruppen spezifisch
schematisierende) Auseinandersetzung mit der Frage verlangen können, ob
und ggf. wie insoweit ein angemessener Ausgleich zwischen drohender
Bevorzugung einer-, aber eben auch drohender Benachteiligung andererseits
geschaffen werden muss und kann. Denn nur, wenn sich eine solche Aussa-
ge überhaupt in der Entscheidung findet, ist für das Revisionsgericht auch
nachprüfbar, ob das Tatgericht diesen Gesichtspunkt bei der Strafzumes-
sung überhaupt gesehen und sich Gedanken zu ihm gemacht hat.
Die vorangehenden kurzen Ausführungen haben - ohne das Problem ih-
rerseits erschöpfend ausloten zu können - gezeigt, dass selbst zu an sich
mehr oder weniger alltäglichen, jedenfalls aber häufig im Raume stehenden
rechtlichen Fragen mitunter noch keine vertiefte Auseinandersetzung in der
Literatur und nur ebenso spärliche wie apodiktische Rechtsprechung existie-
ren. Im weiten Feld der Kriminalwissenschaften, wie Heinz Schöch es in
ganzer Breite bestellt, ist das hier aufgeworfene Problem freilich keines-
wegs das einzige, auf das diese Beschreibung zutrifft. Wir alle dürfen uns
glücklich schätzen, wenn er uns mit seinem Tatendrang und seinem Scharf-
sinn auch in Zukunft dabei hilft, im einen oder anderen von ihnen etwas
klarer zu sehen.

38 Vgl. von Heintschel-Heinegg/Heintschel-Heinegg StOB, 2010, § 46b Rn. l~ Salditt StV


2009,375,376.
Zur Auslegung der "rechtswidrigen Tat" in der
zweifachen Verwendung in § 63 StGB

FRITZ LOOS

Die Vorschrift über die Unterbringung in einem psychiatrischen Kran-


kenhaus, § 63 StGB, setzt eine "Anlasstat" und eine "Prognosetat"l voraus,
wobei das Gesetz rür beide den in § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB definierten Be-
griff der "rechtswidrigen Tat" verwendet. In seiner umfassenden Kommen-
tierung des § 63 StGB in der 12. Auflage des Leipziger Kommentars (2008)
hat der verehrte Jubilar mit Recht darauf hingewiesen, dass im Hinblick auf
die Funktionszusammenhänge dieser Vorschrift der Begriff der rechtswidri-
gen Tat durch § 11 Abs. 1 Nr. 5 unterbestimmt ist. 2 Nur ein Mindestmaß
von Elementen ist rür beide Taten vorgegeben, nämlich die Erfüllung des
objektiven Tatbestandes und das Fehlen von Rechtfertigungsgründen,3 dazu
auch noch Handlungsqualität im Verständnis der klassischen kausalen
Handlungslehre, also Willkürlichkeit ohne besondere Inhaltsvorstellung. 4
Offen bleibt danach, welche Rolle Vorsatz bzw. Tatbestandsirrtum, Erlaub-
nistatbestandsirrtum, Entschuldigungs- und Strafausschließungsgründe 5
spielen. Unter der Führung des Bundesgerichtshofs 6 hat sich für die Anlass-
tat eine herrschende Meinung herausgebildet, deren Konsistenz hier einer
Prüfung unterzogen werden soll. Außerdem soll die sehr viel weniger be-
handelte rechtliche Struktur der Prognosetat ansatzweise untersucht werden.
- Diese strafrechtsdogmatischen Fragen stehen sicher nicht im Mittelpunkt
des kriminalpolitischen Interesses, das sich zu Recht auf die Gefährlich-
keitsprognose und die verfassungsrechtlichen Grenzen der Unterbringung

1 Präziser: der Gesetzestext spricht von einer Anlasstat und Prognosetaten.


2 LK-Schäch, 12. Aufl. 2008, § 63 Rn. 39. - Schäch hat sich in der Neuauflage natürlich vor
allem den hier besonders wichtigen empirisch (mit-)bestimmten Fragen zugewendet (vgl.
a.a.O., Rn. 9 ff., 172 f.).
3 Das erstere folgt unmittelbar aus dem Text des § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB~ das Fehlen von
Rechtfertigungsgründen wird auch dann anzunehmen sein, wenn die zur Rechtfertigung erfor-
derlichen subjektiven Elemente fehlen.
4 Das ist offenbar gemeint, wenn BGHSt 3,287,289 ein von einem "natürlichen Willen ge-
leitetes Verhalten" verlangt (so auch SSW-Schäch, 2009, § 63 Rn. 10).
5 Zu ergänzen wären insbesondere noch Strafverfolgungsvoraussetzungen (insbes. Strafan-
trag), die aber hier nicht behandelt werden.
6 BGHSt 3, 287~ 10, 355~ 31, 132. - Im Einzelnen s. sub III 1.
682 Fritz Loos

konzentriert. 7 Dass zur Gewährleistung relativ gerechten Entscheidens aber


die strafrechtsdogmatischen Fragen weiterhin Aufmerksamkeit verdienen,
braucht nicht besonders hervorgehoben werden; es wird dabei, so hoffe ich,
von den herauszuarbeitenden Gesichtspunkten auch Licht auf die allgemei-
nen Prinzipien des Maßregelrechts fallen. 8

I.

Die Anlasstat verbindet das Maßregelrecht mit dem Strafrecht i.e.S., die
Prognosetat mit dem (Verwaltungs-)Recht der öffentlichen Sicherheit. 9
Diese nur bildhafte Formulierung weist immerhin auf unterschiedliche
Funktionszusammenhänge hin, die aber genauer beschrieben werden müs-
sen. Dabei ist auch auf das Verhältnis zwischen beiden Taten einzugehen.
Damit zeichnet sich die Möglichkeit ab, dass, nachdem Engisch lO schon
darauf hingewiesen hatte, dass der Begriff des Unrechts als Voraussetzung
von Strafe einerseits, Maßregeln andererseits unterschiedlich bestimmt
werden könne und vielleicht müsse, nun auch innerhalb der Maßregelvor-
aussetzungen der Begriff der rechtswidrigen Tat rur Anlasstat und Progno-
setat jeweils unterschiedlich zu fassen sein könnte.
1. Ersetzt man den üblichen (auch hier verwendeten) Terminus Anlasstat
durch Symptomtat, 11 wird damit nicht nur die Bedeutung der tatsächlich
begangenen Tat rur die Prognose der künftigen Taten herausgestellt,12 son-
dern auch eine - freilich nicht wirklich tragfahige - gedankliche Brücke zur
symptomatischen Strafrechtslehre der Liszt-Schüler Tesar und Kollmann

7 Vgl. schon den Titel der Monographie von Dessecker Gefährlichkeit und Verhältnismä-
ßigkeit, 2004.
8 Die Darstellung im Folgenden orientiert sich an der Anordnung gegen Schuldunfähige
(§ 20 StGB), thematisiert also nicht Sonderfragen, die sich aus § 63 LV.m. § 21 StGB ergeben
können.
9 Die im Text benutzte Formel steht nicht im Widerspruch zu Achenbachs Pointierung (His-
torische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, 1974, S. 4 f.),
dass die Prognosetat im Maßregelrecht der Stratbegründungsschuld im Strafrecht Le.S. ent-
spreche. Die Erwartbarkeit künftiger rechtswidriger Taten trägt die Maßregelsanktion als
Instrument des Gesellschaftsschutzes wie die Stratbegründungsschuld die Strafe.
10 Engisch FS Kohlrausch, 1944, S. 141, 172 f.
11 Für möglicherweise irreführend, weil das notwendige Gewicht zu sehr relativierend, hält
Frisch ZStW 102 (1990), 343, 377 f. m. Fn. 154 den Terminus Anlasstat. Von Symptomtat
spricht P. Albrecht Die allgemeinen Voraussetzungen zur Anordnung freiheitsentziehender
Maßnahmen gegenüber erwachsenen Delinquenten, 1981, S. 48, 53.
12 Dazu Frisch a.a.O., 376-378 sowohl für die empirische Seite der Prognose als auch für
die daraus folgende rechtsstaatliche Legitimation. Zur letzteren auch noch im Text.
"Rechtswidrige Tat"' in § 63 5tGB 683

hergestellt. Trotz ihrer individualpräventionistischen Ausrichtung des Straf-


rechts auf Bekämpfung künftiger gefährlicher Taten wollen sie um des
Freiheitsschutzes der Bürger willen nicht auf die begangene Tat verzich-
ten. 13 Dieselbe Funktion kann aber die Symptomtat im Maßregelrecht gegen
Schuldunfähige gerade nicht errullen, da diese die Vermeidemöglichkeit des
Schuldfähigen und die daraus entspringende Handlungsfreiheit jedenfalls
nicht in gleicher Weise besitzen. Danach kann der Freiheitsschutz rur den
Schuldunfähigen nur darin bestehen, dass eine bereits begangene Tat mit
bestimmten (rechtlichen) Eigenschaften erst erlaubt, im strafrechtlichen
Maßregelverfahren die eine Unterbringung rechtfertigende Prognose zu
stellen, die also durch ein handfestes Faktum abgesichert ist.
Diese Legitimation durch die Anlasstat setzt sachlich voraus, dass Anlass-
und (vermutete) Prognosetat(en) zwar vielleicht nicht ähnlich sein, aber aus
demselben psychischen Defekt herrühren müssen. 14 Bei dieser Sicht ist es
dann aber zweifelhaft, ob die von Müller-Dietz sogenannte Hanacksche-
Faustformel, dass eine größere künftige Gefährlichkeit ein geringeres Ge-
wicht der Anlasstat zulasse,15 zu halten ist. Denn eine durch die Anlasstat
abgesicherte Prognose hoher Gefährlichkeit kann schwerlich eine relative
Geringfügigkeit zum Ausgangspunkt haben. 16
Diese einschränkenden Voraussetzungen für die strafrechtliche Unter-
bringung durch Anforderungen an die Anlasstat und der Funktionszusam-
menhang zwischen Prognose- und Anlasstat sind freilich durch die Mög-
lichkeit einer Unterbringung nach landesrechtlichen Unterbringungs-
gesetzen ohne Anlasstat im Endeffekt unterhöhlt. Eine die konkreten Frei-
heitsinteressen Schuldunfähiger ins Auge fassende verfassungsrechtliche
Theorie dürfte sich im Grunde nicht auf eine isolierte Betrachtung der straf-
rechtlichen Unterbringung, wie sie auch hier nur beabsichtigt ist, beschrän-
ken. 17
Bleibt man aber im Strafrecht, ist nicht von vorn herein rur die rechtliche
Ausgestaltung der Anlasstat eine ausschließliche Orientierung an der Indi-

13 Vgl. dazu Laos FS Maiwald, 2010.


14 BGHSt 27,246, 249 f~ 44, 338, 341 ff~ erweiternd BGHSt 44, 369, 374 f~ LK-Schäch
(Fn. 2), § 63 Rn. 69~ SSW-Schäch (Fn. 4), § 63 Rn. 20~ Dessecker (Fn. 7)~ S.214, 389 f,
jeweils m. Nachw.
15 LK-Hanack, 2006, § 63 Rn. 79 (Müller-Dietz NStZ 1983, 145, 149). Vorsichtiger als die
Faustregel aber LK-Hanack a.a.O., § 63 Rn. 77, 78, 80 und LK-Schäch (Fn. 2), § 63
Rn. 126 ff. Vgl. auch BGHSt 24, 134, 136.
16 In der Tendenz wohl ähnlich Frisch (Fn. 11),376-378.
17 Daher greift m.E. auch Frisch (Fn. 11), 376-378 und passim zu kurz. - Nur angemerkt
sei, dass das Nebeneinander, mehr noch das mögliche Nacheinander von zwei Freiheitsentzie-
hungsverfahren schwerwiegende rechtsstaatliehe Fragen aufwirft.
684 Fritz Laos

vidualprävention und deren Legitimation ausgemacht. Dem ist sub 11 1 noch


nachzugehen.
2. Die Verhinderung von prognostizierbaren Taten ist der Hauptzweck von
§ 63 StGB (dazu sub 11 1). Solche nur prognostizierbaren Taten unterschei-
den sich schon äußerlich von bereits begangenen Taten und lösen deshalb
auch andere Fragen hinsichtlich ihrer rechtlichen Ausgestaltung aus. Darauf
ist sub 11 3 noch näher einzugehen.
Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass für Anlasstat und Prognosetat
jeweils selbständig zu untersuchen ist, welche rechtlichen Erfordernisse für
die rechtswidrige Tat aufzustellen sind. 18 Eine unterschiedliche Auslegung
von zwei gleichen - zudem rechtlich geprägten - Ausdrücken in einer Vor-
schrift scheint zwar ungewöhnlich, ist aber vielleicht nur deswegen nicht
erörtert worden, weil überhaupt die Bedeutung der "rechtswidrigen Tat" bei
der Prognosetat kaum behandelt worden ist. 19

11.
Den Vorschlägen zur Einzelausgestaltung der beiden Begriffe "rechtswid-
rige Tat" (III 1 und 2) sollen Überlegungen zu den Auslegungsgrundsätzen,
die leitend sein könnten, vorausgeschickt werden. Natürlich steht an der
Spitze die Zweckausrichtung, auf die vorstehend schon im Vorgriff (I 1)
Bezug genommen war (1.). In der konkreten Argumentation in Rechtspre-
chung und Literatur spielt eine erhebliche Rolle das Verhältnis der straf-
rechtlichen Unterbringung zu der durch den Richter der freiwilligen Ge-
richtsbarkeit insbesondere nach den landesrechtlichen Unterbringungs-
gesetzen (§ 312 Nr. 3 FamFG; vorher § 70 Abs. 1 Nr. 3 FGG); für die
Auslegung von § 63 StGB ist das deswegen von Bedeutung, weil eine re-
striktive Auslegung dieser Bestimmung durch den Verweis auf die Schlie-
ßung der Sicherheitslücken durch außerstrafrechtliche Maßnahmen verant-
wortet werden kann (2.). Schließlich ist, wie auch schon angedeutet, zur
Prognosetat zu bedenken, ob die Prognoseinstrumente geeignet sind, be-
stimmte rechtliche Eigenschaften künftiger Taten vorauszusagen (3.).

18 Ausdrücklich anders LK-Schäch (Fn. 2), § 63 Rn. 77 und SK-Horn, § 63 Rn. 11. Vermut-
lich würde aber Schäch einem Teil der nachstehenden Erwägungen zur Prognosetat gerade
auch wegen ihrer Trivialität nicht widersprechen (s. auch oben im Text).
19 Schäch (Fn. 2, § 63 Rn. 77) stellt fest, dass außer dem LK nur SK-Horn (§ 63 Rn. 11) zur
gängigsten Streitfrage bei der Anlasstat - den krankheitsbedingten Fehlvorstellungen - bei der
Prognosetat Stellung bezieht, beide übrigens wie bei der Anlasstat (vgl. Fn. 18) mit entgegen-
gesetztem Ergebnis.
"Rechtswidrige Tat" in § 63 StGB 685

Dieser Ansatz zu den Auslegungsinstrumenten steht in einem gewissen


Gegensatz zu Versuchen, für die Auslegung der Anlasstat insbesondere aus
Art. 3 GG Argumente zu gewinnen. 20 Danach soll der Schuldunfähige nicht
schlechter gestellt sein als der Schuldfähige, so dass nur die Schuldfähigkeit
fehlen darf und insbesondere die Krankheitsbedingtheit von Fehlvorstellun-
gen die Erfordernisse an die Erfüllung der "normalen" subjektiven Un-
rechtsmerkmale nicht kompensieren kann. Zweifelhaft ist aber, ob die Frei-
heitsfunktion der subjektiven Zurechnung für den Schuldunfähigen in
gleicher Weise gilt,21 so dass eher eine Frage der Legitimation der Unter-
bringung überhaupt ansteht als die Detailfrage.22 Darüber hinaus schließt
eine Restriktion von § 63 StGB noch nicht die Unterbringung über § 312
FamFG LV.m. den landesrechtlichen Unterbringungsgesetzen aus, so dass
sich jetzt wieder im Detail die Beschränkung auf die strafrechtliche Unter-
bringung als anfechtbar erweist. 23

1. Mindestens der Hauptzweck der Maßregel der Unterbringung in einer


psychiatrischen Krankenanstalt ist die Sicherung der Allgemeinheit vor
gefährlichen Personen, von denen künftig erhebliche rechtswidrige Taten zu
befürchten sind. Darüber besteht weitgehende Einigkeit. 24 Das zeigt sich
deutlich daran, dass auch, wenn eine Besserung nicht erreichbar scheint, die
Unterbringung angeordnet werden kann. 25 Umgekehrt kann der Besserungs-
zweck allein die Freiheitsentziehung nicht rechtfertigen, soweit keine ge-
fährlichen Taten zu befürchten sind, was sich schon aus dem Gesetzestext
des § 63 StGB ergibt, aber auch legitimationstheoretisch unbestritten ist.

20 NK-Böllinger/Pollähne, 2. Aufl. 2005, § 63 Rn. 67-69; Prapolinat Subjektive Anforde-


rungen an eine "rechtswidrige Tat" bei § 63 StOB, Diss. 2004, S. 93 ff. - Aus Art. 103 Abs. 2
GO (Analogieverbot) (mindestens) das Erfordernis des Tatbestandsvorsatzes herzuleiten (so
Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, § 77 11 2a; Desse-
cker [Fn. 7], S. 213) - also keine Ersetzung bei krankheitsbedingten Fehlvorstellungen -, ist
wenig überzeugend. Die Definition der rechtswidrigen Tat in § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB lässt im
Licht von §§ 26, 27 Abs. 1 StGB e contrario die subjektiven Voraussetzungen eher nicht
einbezogen sein, mindestens bleibt eine wohl nicht zur Unbestimmtheit führende Offenheit für
die Auslegung (vgl. LK-Schöch [Fn. 2], § 63 Rn. 39 m. Nachw.).
21 Vgl. dazu oben I 1 bei Fn. 13.
22 Insoweit lässt Prapolinat eine gewisse Konsequenz erkennen, als sie mit Zweifeln an den
meisten Untergruppen der durch § 63 StOB erfassten Personengruppe die allgemeine Legitima-
tion kritisch sieht (Fn. 20, S. 79 ff., 90).
23 Vgl. dazu oben I 1 a.E.
24 Schreiber/Rosenau in: Venzlaff/Foerster (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl.
2004, S. 53, S. 86; LK-Schöch (Fn. 2), § 63 Rn. 1,2; Frisch (Fn. 11), S. 358 f. m. Fn. 65, alle
m. Nachw.
25 BOH NStZ 2002,533 f.; HK-OS/Braasch, 2008, § 63 Rn. 1 a.E. m. w.N .. A.A. wohl Je-
scheck/Weigend (Fn. 20), § 77 I Sb mit dem bezeichnenden Verweis auf die Möglichkeit der
Unterbringung nach landesrechtlichen Vorschriften.
686 Fritz Loos

Danach ist zwar das (Vollzugs-)Ziel die Besserung in dem Sinne, dass die
Gefährlichkeit entfällt,26 soweit das möglich ist. 27 Diese Zwecksetzungen
sind jedenfalls im Kern unabhängig von rechtsethischen Legitimationsfra-
gen, gleichgültig ob man sie utilitaristisch oder deontologisch ansetzt.
Diese Ratio der Vorschrift des § 63 StGB insgesamt muss aber nicht be-
deuten, dass auch die Einzelmerkmale des Voraussetzungsinbegriffs, hier
das Merkmal der "rechtswidrigen Tat", insbesondere als Anlasstat, aus-
schließlich unter dem Gesichtspunkt der Individualprävention zur Sicherung
der Allgemeinheit bestimmt werden müssen.
Dass von der Anordnung der Einweisung in ein psychiatrisches Kranken-
haus jedenfalls faktische Normbestätigungswirkungen ausgehen, lässt sich
kaum bezweifeln,28 wie umgekehrt bei Ausbleiben jeder Sanktion wegen
Schuldunfähigkeit aufgrund des Fehlens eines Dauerdefizits, wie insbeson-
dere bei Affekttaten, regelmäßig generalpräventive Bedenken auftauchten.
Diese Effekte in einem eingeschränkten Sinn zu normativieren als Aufarbei-
tung eines durch eine rechtswidrige Tat ausgelösten Konflikts, verfällt nicht
in den Fehler, den vorrangigen individualpräventiven Charakter zu verken-
nen,29 sieht aber den generalpräventiven Nebenzweck30 zur Bestimmung des
Bereichs strafrechtlicher Maßnahmen. 31 Für die Bestimmung der eine straf-
rechtliche Reaktion auslösenden Anlasstat erscheint daher der Rückgriff auf
den generalpräventiven Nebenzweck sinnvoll.
2. Bei der Auslegung der Voraussetzungen der Anlasstat besteht die Beson-
derheit, dass sich der Befiirchtung einer Sicherheitslücke durch eine engere
Auffassung der Anlasstat mit dem Verweis auf die landesrechtlichen Unter-
bringungsmöglichkeiten (i.V.m. § 312 Nr. 3 FamFG),32 die eine Anlasstat
nicht voraussetzen, begegnen lässt. Der Joker wird unterschiedlich ver-
wandt: Die h.L. bemüht ihn zum Ausschluss der Unterbringung nach § 63

26 Vgl. § 136 S.2 StVollzG: nicht "Heilung". Vgl. SSW-Schäch (Fn. 4), § 63 Rn. 2 m.
Nachw.
27 Zu den verbleibenden Vollzugszielen § 136 S. 3 StVollzG.
28 Anders auch nicht Frisch (Fn. 11), 343, 358 m. Fn. 65, wenn er etwas spitz zwischen der
Wirkung einer durch Zweck und Mittel charakterisierten Maßregel und dem nur benutzten
Freiheitsentzug unterscheidet.
29 So aber P. Albrecht (Fn. 11), S. 25 ff., 52 ff.~ gegen ihn Müller-Dietz NStZ 1983, 145,
148 und Frisch (Fn. 11),358 m. Fn. 65.
30 So auch Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Autl. 1991, 1. Abschn. Rn. 55.
31 Das nähert sich der von Frisch scharf kritisierten Beschränkung der Relevanz der began-
genen (Anlass-)Tat auf eine nur kompetentielle Funktion (Fn. 11, 376 ff.). Die Kritik greift
aber zu kurz, weil sie die möglichen nichtstrafrechtlichen Maßnahmen nicht einbezieht (vgl.
oben I 1 a.E.).
32 Zu ergänzen sind noch die in § 312 Nr. 1, 2 FamFG bezeichneten betreuungsrechtlichen
Freiheitsentziehungen.
"Rechtswidrige Tat" in § 63 StGB 687

StGB bei §§ 35, 24 StGB,33 die eine Unterbringungsanordnung bei krank-


heitsbedingten Fehlvorstellungen im Unrechtsbereich ablehnenden Litera-
turstimmen für diese Ansicht. 34 35 Das Argumentieren mit diesem Reserve-
instrument unterminiert bis zu einem gewissen Grade das alte Engisch-
Argument, im Bereich der Maßregeln bestimme der Sicherungszweck den
Unrechtsbegriff; auf welchem (Begriffs-)Niveau man den Joker zieht, ist
einigermaßen beliebig. Damit ist allerdings nur eingewandt, dass für die
Wahl des Niveaus andere Gründe gefunden werden müssen, der Sicher-
heitszweck der Vorschrift insgesamt wird aber natürlich nicht in Frage
gestellt. Dass man sich überhaupt auf die Lückenschließung durch das au-
ßerstrafrechtliche Freiheitsentziehungsrecht berufen kann, setzt die Gewähr-
leistung ähnlicher Sicherheitseffekte durch sie voraus. Davon wird in Ar-
gumentationen zur Bestimmung des Begriffs der rechtswidrigen Tat meist
ohne nähere Untersuchung ausgegangen. 3637 Das überrascht insofern, als
zur Frage des Konkurrenzverhältnisses zwischen den Verfahren zur straf-
rechtlichen Maßregelanordnung und zur Freiheitsentziehung nach den lan-
desrechtlichen Unterbringungsgesetzen die Frage, ob im Hinblick auf die
Sicherheit Gleichwertigkeit der landesrechtlichen Unterbringung bestehe,
ausführlich diskutiert worden ist und wird. 38 Die Annahme der Gleichwer-
tigkeit entspricht aber wohl der neueren Rechtsprechung, da in der insoweit
wohl immer noch leitenden Entscheidung BGHSt 34, 313 fiir den Vorrang
anders als in der früheren Rechtsprechung nur noch auf die günstigeren
konkreten Bedingungen für Heilung oder Pflege verwiesen wird,39 also
wesentliche Sicherheitsdefizite nicht mehr angenommen werden. 40 Damit

33 So der Bundesgerichtshof in der Leitentscheidung BGHSt 31,132,135.


34 SK-Horn (Fn. 18), § 63 Rn. 3, 4~ NK-BöllingerlPollähne (Fn. 20), § 63 Rn. 67-69~ Bruns
JZ 1964,473, 477 ff~ Prapolinat (Fn. 20), S. 78 f
35 Jescheck/Weigend (Fn. 20), § 77 I Sb greifen auf dieses Argument für ihre (Min-
der-)Meinung, das strafrechtliche Unterbringungsverfahren verbiete sich bei Fehlen von Besse-
rungschancen, zurück.
36 Thematisiert aber von Prapolinat (Fn. 20, S. 78 f), die ihre Anwendungsrestriktion für
§ 63 (keine Einbeziehung krankheitsbedingter Fehlvorstellungen) durch knappe Ausführungen
zur Sicherheitsgleichwertigkeit des Hamburgischen Unterbringungsrechts absichert.
37 In der Leitentscheidung BGHSt 31, 132, 135 wird die Gleichwertigkeit unerörtert voraus-
gesetzt, die herangezogene Literaturstelle SK-Horn (Fn. 18), § 63 Rn. 3 setzt die Sicherheits-
gleichwertigkeit auch selbstverständlich voraus. Vgl. auch die Argumentation bei Je-
scheck/Weigend (Fn. 20), § 77 I 5b~ Dessecker (Fn. 7), S. 213.
38 Ausführlich dazu LK-Schöch (Fn. 2), § 63 Rn. 158 tT., 160 ff zu BGHSt 24, 98, 102 f
und BGHSt 34,313, 317.
39 BGHSt 34, 313, 317.
40 Anders aber LK-Schöch (Fn. 2), § 63 Rn. 172 f, der trotz der Annahme eines grundsätzli-
chen Nebeneinander der beiden Verfahren (a.a.O., Rn. 169) aufgrund der Vollzugsfakten unter
Sicherheits- und Behandlungsaspekten sich für einen Vorrang der forensisch-psychiatrischen
Krankenhäuser ausspricht. Bei dieser Wendung ins Empirische fehlt mir die Kompetenz. Ob
688 Fritz Laos

bleibt es bei der eingangs erwähnten gewissen Beliebigkeit des Einsatzes


des Arguments.
3. Für die Prognosetat stellt sich das jedenfalls im Strafrecht ungewöhnliche
Problem, dass nicht ein zwar aufzuklärendes, aber tatsächlich feststehendes
Geschehen unter den Begriff der "rechtswidrigen Tat" zu subsumieren ist
wie bei der Anlasstat, sondern ein nur prognostizierbares Geschehen. Dar-
aus dürfte sich wohl auch erklären, dass die Rechtsfragen, welche die
"rechtswidrige Tat" im Rahmen der Prognosetat betreffen, relativ stiefmüt-
terlich behandelt werden; es gibt nur wenige zu den Themen der Anlasstat
parallele Ausführungen zur Prognosetat. 41 Zu den Einzelheiten der künfti-
gen Tat, die allgemeine Zurechnungsfragen auslösen können, lässt sich
kaum hinreichend konkret prognostizieren. Entsprechend dürftig oder vage
bleiben die Rechtsausführungen, oder sie konzentrieren sich im Wesentli-
chen auf Tatbestandsarten wie Unterlassungs- und Fahrlässigkeitsdelikte,
außerdem noch auf den Versuch 42 (s. unten sub 111 2).

111.
Nach dem Vorstehenden sind die Begriffe der "rechtswidrigen Tat" für
die Anlasstat und für die Prognosetat selbständig zu bestimmen.
1. Bei der hinsichtlich der allgemeinen Zurechnungsvoraussetzungen viel
ausführlicher erörterten Anlasstat hat die Entscheidung des Bundesgerichts-
hofs im 3 1. Bande43 zu einer breiten Übereinstimmung geführt, dass bis auf
die Schuldfahigkeit sämtliche zu einer Bestrafung erforderlichen Merkmale
erfüllt sein müssen - bis auf die Entbehrlichkeit von subjektiven Unrechts-
merkmalen, wenn ihr Fehlen krankheitsbedingt ist. Darin müsste nicht un-
bedingt ein Widerspruch zu sehen sein, wenn nicht der BGH und ihm fol-
gend ein Großteil der Literatur dieses Ergebnis ausdrücklich aus dem so
interpretierten § 71 StGB herleiten, dass nur die Schuldunfahigkeit44 dem
Strafverfahren im Wege stehen darf, nicht aber andere GrÜnde. 45 Dass das

Schäch selbst daraus Konsequenzen für die in BGHSt 31, 132 behandelten Fragen ziehen
würde, bleibt offen.
41 Die Problematik wird gesehen, aber sehr knapp - wie Anlasstat - behandelt von LK-
Schäch (Fn. 2), § 63 Rn. 77 und SK-Horn (Fn. 18), § 63 Rn. 11 (mit unterschiedlichen Ergeb-
nissen wegen der Differenzen zur Anlasstat). Vgl. oben Fn. 19.
42 Vgl. Dessecker (Fn. 7), S. 223-225.
43 BGHSt 31,132,134 ff.
44 Nach § 71 StGB: oder die Verhandlungsunfähigkeit, die in unserem Zusammenhang kei-
ne Rolle spielt.
45 BOHSt 31, 132, 134~ ausdrücklich auch hinsichtlich der Begründung aus § 71 StOB.
"Rechtswidrige Tat"' in § 63 StGB 689

"dem-Strafverfahren-im-Wege-Stehen" sich nicht etwa nur auf Prozesshin-


dernisse bezieht - wie das in BGHSt 31, 132 auch thematisierte Fehlen des
erforderlichen Strafantrages -, sondern die materiellrechtlichen Vorausset-
zungen einbezieht, ergibt sich schon daraus, dass mit dieser Argumentation
ebenso der strafbefreiende Rücktritt nach § 24 StGB die Anordnung der
Maßregel nach § 63 StGB ausschließen soll. Wie sich diese allgemeine
Regel mit der vom BGH und h.L. vertretenen Ansicht, dass krankheitsbe-
dingte Fehlvorstellungen, die nach § 16 StGB (bzw. § 16 StGB analog) die
Strafbarkeit ausschließen würden, die Maßregelanordnung nicht hinderten,
bleibt unklar und wird, soweit ich sehe, auch nicht erörtert. 46
Nun ist diese Problematik in der h.L. womöglich behebbar. Wie schon
angedeutet, kann man § 71 StGB als allenfalls deklaratorisch ansehen, so
dass aus der Bestimmung Rechtsfolgen gar nicht ableitbar wären. 47 Man
kann auch beim Rücktritt (und Fehlen des Strafantrages) selbständige
Gründe anfUhren, wie die regelmäßige geringere Gefährlichkeit des Zu-
rückgetretenen 48 (oder der eher bagatellarische Charakter von Antragsdelik-
ten)49.
Geht man dagegen nach dem sub 11 1 AusgefUhrten davon aus, dass bei
der Anlasstat die (Mit-)Berücksichtigung der Generalprävention sinnvoll ist,
wird eine in sich stimmige Lösung nahegelegt, die von den (materiellen)
Strafbarkeitsvoraussetzungen nur auf die Schuldfähigkeit verzichtet. Diese
Lösung hindert also eine strafrechtliche Unterbringung, wenn bei einem
Schuldfähigen eine Strafe nicht hätte verhängt werden können. 5o Insoweit
sind also Strafe und Maßregel gleichgestellt, was das Fehlen einer Reaktion
auf eine Tat angeht. 51 Dass der generalpräventive Nebenzweck bei der Maß-

46 Der die h.M. ablehnende Horn argumentiert positiv, dass sämtliche Stratbarkeitsvoraus-
setzungen gegeben sein müssen (SK-Horn [Fn. 18], § 63 Rn. 3), geht aber auf die Wider-
sprüchlichkeit in der h.L. nicht ein. Anders als Horn zu den krankheitsbedingten Fehlvorstel-
lungen nunmehr SK-Sinn, § 63 Rn. 4 und mindestens in der Formulierung widersprüchlich zu
Rn. 3.
47 NK-Böllinger/Pollähne (Fn. 20), § 71 Rn. 4~ HK-GS/Rössner, § 71 Rn.!.
48 So LK-Schöch (Fn. 2), § 63 Rn. 54~ ders. in: SSW-StGB (Fn. 4), § 63 Rn. 13. Der im
Text gerügte Widerspruch besteht dann nicht~ vgl. auch die zurückhaltende Interpretation von
BGHSt 31, 132 bei LK-Schöch a.a.O., § 63 Rn. 41.
49 Vgl. Geilen JuS 1972, 73, 78.
50 Im Ergebnis so auch P. Albrecht (Fn. 11), S. 53 f m. S. 46, insbesondere für die unter b)
anzusprechenden Irrtumsfragen; SK-Horn (Fn. 18), § 63 Rn. 3 f
51 In gewisser Hinsicht das Gegenstück zu dieser Ableitung aus dem generalpräventiven
Nebenzweck (bei P. Albrecht [Fn. 11], S. 53 f, wird ebenso aus der als Hauptzweck ange-
nommenen Generalprävention argumentiert) stellt die Begründung dar, es müsse eine weiter-
gehende Stigmatisierung durch eine Strafsanktion als beim Straffähigen verhindert werden
(NK-Böllinger/Pollähne [Fn. 20], § 63 Rn. 67-69), die so Art. 3 GG konkretisiert.
690 Fritz Loos

regel natürlich nicht zum Tragen kommt, wenn mangels Gefährlichkeits-


prognose der Sicherungszweck fehlt, sagt bereits das Gesetz.
a) Die hier vorgeschlagene Lösung stimmt also zu §§ 35, 33, 24
StGB mit der h.M. überein. Wie immer man § 35 StGB erklärt,
lässt sich die Annahme einer ausreichenden Anlasstat nicht recht-
fertigen: Die Unrechtsminderung muss auch dem potentiell Unter-
zubringenden zugute kommen, auch von ihm ist Heroismus nicht
zu verlangen. 52 Bei dem hier gewählten Begründungsweg lässt sich
zusätzlich anführen, dass eine unter den Voraussetzungen des ent-
schuldigenden Notstandes begangene Tat wohl keine (starken) ge-
neralpräventiven Bedürfnisse auslöst.53 Vergleichbare Gesichts-
punkte lassen sich zu § 33 StGB anfuhren. 54 Wie schon oben
ausgeführt, besteht Übereinstimmung mit der h. L. auch beim straf-
befreienden Rücktritt (§ 24 StGB)55.
b) Sind die rein subjektiven Zurechnungsmerkmale nach § 16 (oder
§ 16 analog) wegen Tatbestandsirrtums oder irriger Annahme der
tatsächlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen nicht erfüllt, entfällt
ausnahmslos die Sanktionsmöglichkeit nach § 63 StGB; die
Krankheitsbedingtheit der Fehlvorstellung kompensiert nicht. 56
Neben der hier herausgestellten generalpräventiven Entbehrlichkeit
kann man unterstützend darauf verweisen, dass das Fehlen des
Vorsatzes die Tatbestandskontur besonders beeinträchtigt. Das
wird am Versuch 57 deutlich, der ohne Tatbestandsvorsatz nicht hin-

52 Vgl. zur Begründung von § 35 StGB-Jescheck/Weigend (Fn. 20), § 44 pr.


53 Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 22 Rn. 11 m. internen Verw.
Vgl. auch Jakobs (Fn. 30), 20. Abschn. Rn. 4.
54 Auch die Erwägung, eine krankheitsbedingte Panikneigung, die zur Panikreaktion nach
§ 33 StGB mindestens beigetragen habe, trage die Anordnung (vgl. BGH NStZ 1991, 528 f
ohne Abgleichung mit BGHSt 31, 124), ist nicht sonderlich überzeugend: Auch für die Straf-
ausschließung kommt es auf die Quelle der Panik nicht an, so dass unter den "Normalen" auch
der psychische Schwächling entschuldigt ist.
55 Ohne die hier vorgeschlagene Gleichschaltung mit den Strafvoraussetzungen könnte man
mit Geilen (Fn. 49), 78 f zweifeln, ob das in BGHSt 31, 132, 135 angeführte Argument, der
Rücktritt zeige regelmäßig die geringere Gefährlichkeit an, nicht besser differenzierend bei der
Prognose berücksichtigt würde. Zu der von Geilen a.a.O. herausgestellten Unterschiedlichkeit
der Strafbefreiungsgründe vgl. Loos FS Jakobs, 2007, S. 347, 357 ff
56 Ebenso NK-BällingerlPollähne (Fn. 20), § 63 Rn. 69~ SK-Horn (Fn. 18), § 63 Rn. 4~
P. Albrecht (Fn. 11), S. 45; Prapolinat (Fn. 20), S. 102 ff und passim, mit unterschiedlichen
Begründungen. Anders die h.L. (BGHSt 3, 287, 288 f.; 10, 355, 357 f; SchreiberlRosenau
[Fn. 24], S. 89; LK-Schäch [Fn. 2], § 63 Rn. 44 ff, 48; SK-Sinn [Fn. 46], § 63 Rn. 4~ Schön-
ke/Schröder/Stree StGB, 27. Aufl. 2006, § 63 Rn. 7, alle m. Nachw.).
57 Der Versuch wird allgemein für die Anlasstat, wenn die sonstigen Voraussetzungen vor-
liegen, als ausreichend angesehen: LK-Schäch (Fn. 2), § 63 Rn. 53 m. Nachw.; ders. SSW-
"Rechtswidrige Tat" in § 63 5tGB 691

reichend bestimmt ist. Wenn der Täter aufgrund seiner geistigen


Erkrankung nicht erkannt hat, dass seine Handlung das Leben eines
Menschen gefährdet, ist das kein (tauglicher) Tötungsversuch: Die
objektive Gefährdung, kombiniert mit einer krankheitsbedingten
Fehlvorstellung, sei sie Nichtwissen oder irrige positive Annahme,
kann nicht ausreichen. Wenn das richtig ist, gilt dann das alte fina-
listische Argument, dass fur die Vollendung nicht anderes gelten
kann als fur den Versuch? Dass bei Eintritt der Vollendung eine
fahrlässige Tat als Anlasstat 58 nach Verneinung der Vorsatztat an-
genommen wird, hält Schöch 59 für eine widersprüchliche Lücken-
schließung. Abgesehen davon, dass bei Fehlen einer strafrechtli-
chen Fahrlässigkeitshaftung keine Schließung erfolgt, scheint es
mir sachgerechter, unter dem Gesichtspunkt der Fahrlässigkeitstat
über die Anlasstat zu entscheiden. Schließlich spricht auch dann,
wenn die eigentliche Rechtsgutsverletzung nur in einem zusätzli-
chen subjektiven Tatbestandsmerkmalliegt wie beim Diebstahl mit
dem Enteignungsteil der Zueignungsabsicht, einiges für ein Fehlen
der tatbestandlichen Kontur, wenn das subjektive Element nur
kompensiert wird. 60 Ein Vorzug der hier vertretenen Lösung be-
steht auch darin, dass es auf die schwierige Beweisbarkeit der
Krankheitsbedingtheit des Irrtums nicht ankommt. 61
Problematisch ist diese Lösung vor allem bei Erlaubnistatbestandsirrtü-
mem, insbesondere bei der Putativnotwehr, die auf Wahnvorstellungen

StOB (Fn. 4), § 63 Rn. 13~ Schönke/Schröder/Stree (Fn. 56), § 63 Rn. 6. Die beiden hier ge-
nannten Autoren, welche bei krankheitsbedingten Fehlvorstellungen bei den Unrechtsmerkma-
len die Anordnung nach § 63 StGB zulassen (siehe Fn. 56), thematisieren die im Text ange-
sprochene Frage nicht.
58 Fahrlässige Taten, bei denen die objektive Sorgfaltsptlicht vorliegen muss, werden bei
Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen für die Anlasstat als ausreichend angesehen~ vgl.
LK-Schöch (Fn. 2), § 63 Rn. 50 m. Nachw.
59 LK-Schöch (Fn. 2), § 63 Rn. 49. Dass das von Schöch (a.a.O., Rn. 50) und Stree (Fn. 56,
§ 63 Rn. 7) herangezogene Argument, die Irrelevanz krankheitsbedingter Irrtümer harmoniere
mit der Beschränkung der rechtswidrigen Tat bei Fahrlässigkeitsdelikten auf die objektive
Sorgfaltswidrigkeit, etwas für sich hat, ist nicht zu bestreiten. Eine Diskussion setzte aber ein
tiefes Eindringen in die Fahrlässigkeitsdogmatik voraus. Hält man für die weitaus wichtigeren
Vorsatzdelikte die hier vertretene Lösung für richtig, müsste man gegebenenfalls eine andere
Parallelführung bei den Fahrlässigkeitsdelikten vornehmen.
60 Nur angemerkt sei hier, dass das Fehlen des Fremdheitsvorsatzes bei § 242 StOB gleich-
zeitig die Enteignungsseite der Zueignungsabsicht entfallen lässt.
61 Die Beweisschwierigkeiten räumt auch LK-Schöch (Fn. 2), § 63 Rn. 48 f., ein, hält sie
aber für überwindbar.
692 Fritz Loos

zurückzuführen ist ("Verfolgungswahn").62 Da es hier um gravierende Ver-


letzungen gehen kann, ist die Lücke, die aus Konsequenzgründen entsteht,
nicht zu bagatellisieren. Will man keine Ausnahme zulassen, bleibt dann
auch insoweit nur der Verweis auf die landesrechtliche Unterbringung.
2. Abschließend sollen noch einige Bemerkungen zum Begriff der rechts-
widrigen Tat63 im Rahmen der Prognosetat gemacht werden. Der wesentli-
che Unterschied zur Anlasstat, dass es um keine begangene, sondern um
eine befürchtete Tat geht, führt nicht nur zur Vagheit, sondern auch dazu,
dass hier generalpräventive Gesichtspunkte ganz ausscheiden, da kein ein-
getretener Konflikt abzuarbeiten ist. Daher kann nur die Sicherung gegen
künftige Gefährdungen über die zu den anfangs erwähnten selbstverständli-
chen Begriffsmerkmalen der "rechtswidrigen Tat" hinausgehenden Merk-
male bestimmen. Dass künftige Taten im Versuch stecken bleiben, lässt sich
wegen der Zufälligkeiten, die die Vollendung nicht haben eintreten lassen,
kaum prognostizieren. 64 Kann man mit hinreichender Prognosesicherheit
einen Rücktritt nach § 24 StGB nicht ausschließen, wird man das Fehlen der
erforderlichen Gefährlichkeit für Rechtsgüter annehmen können. Zu prog-
nostizieren, dass rechtswidrige Taten in Konstellationen von § 35 oder § 33
StGB begangen werden, erscheint schwierig. Kommt man nur mindestens
unter Einbeziehung solcher Konstellationen zu einer positiven Prognose,
sollte das aber kaum ausreichen, weil eine spezifische Tätergefährlichkeit
nicht gegeben ist. Dagegen müsste wohl - also anders als zur Anlasstat 65 -

62 Vgl. BGHSt 10, 355, 356~ zu Recht weist auf die Brisanz dieser Fallkonstellation Stree
(Fn. 56), § 63 Rn. 7 hin. - Auch die sonst, gestützt auf empirische Untersuchungen, die Rück-
fallwahrscheinlichkeit bei Geisteskranken eher gering einschätzende Annelie Prapolinat
(Fn. 20, S. 80 ff., 87 ff. m. Nachweisen aus psychiatrischen Untersuchungen) räumt eine
gewisse negative Sonderstellung von - wohl meist aus Schizophrenie resultierenden - Wahn-
kranken ein.
63 Zu dieser Thematik im strikten Sinne gehört nicht die Frage, welche Tatbestandsarten als
Prognosetaten in Betracht kommen. Dessecker, der sich ausführlicher mit den Tatbestandsarten
befasst hat (Fn. 7, S. 223-225), hat (vorsätzliche) Unterlassungsdelikte in die Gefährlichkeits-
gruppe wohl zutreffend grundSätzlich einbezogen (a.a.O., S. 223) mit der Differenzierung
zwischen Erheblichkeit der Delikte und Verhältnismäßigkeit). Bei den Fahrlässigkeitsdelikten
will er eine Beschränkung auf die vorsatznahe bewusste Fahrlässigkeit vornehmen (a.a.O.,
S. 225). Dagegen sollen unbewusste Fahrlässigkeitsdelikte nicht als Prognosetat ausreichen, da
auch schon die Strafwürdigkeit zweifelhaft sei. Das ist ein für die Gefährlichkeitsprognose aber
wohl verfehlter Gesichtspunkt, auch wenn man die Fälle von Tatsachenblindheit (vgl. Jakobs
[Fn. 30], 8. Abschn. Fn. 5a) nicht unter Schuldgesichtspunkten für besonders gravierend hält:
Denn die Gefährlichkeitsprognose kann sich gerade nicht am Maß der Schuld Lw.S. orientieren
(vgl. dazu auch den Text); auch im Ergebnis ist die Ausklammerung der gerade bei Tatsachen-
blindheit auch wohl großen Gefährlichkeit von Tätern unbewusster Fahrlässigkeitsdelikte
mindestens nicht unproblematisch.
64 So auch Dessecker (Fn. 7), S. 224. Dort richtig auch zu den Fällen des § 23 Abs. 3 StGB.
65 Vgl. oben in Fn. 54 zu BGH NStZ 1991,528 f.
"Rechtswidrige Tat" in § 63 5tGB 693

bei krankheitsbedingter Panikgeneigtheit LR. des § 33 StGB die Gefähr-


lichkeitsprognose bej aht werden.
Schwierig scheinen mir die krankheitsbedingten Tatbestandsirrtümer und
irrigen Annahmen einer Rechtfertigungssituation zu würdigen zu sein. Dass
aus der Biographie auf die Gefahr solcher krankheitsbedingter Irrtümer
geschlossen werden kann,66 erscheint möglich. Fällt das zur Anlasstat gege-
bene Hauptargument aus dem generalpräventiven Nebenzweck aus, spricht
insofern nichts gegen die Annahme einer Prognosetat. Bestehen bleiben
jedoch die Bedenken wegen der Auflösung der strafrechtlichen Kontur, die
aber bei vollendeten kongruenten Tatbeständen wohl zu überwinden sind.

66 Wobei als Alternative natürlich auch die prognostizierte "richtige" Vorstellung ausreichen
würde.
Die Erledigungserklärung im Maßregelvollzug

HENNING RADTKE

I. Einführung
Die Erledigungserklärung ist eine ausschließlich auf (stationäre) Maßre-
geln der Besserung und Sicherung anwendbare gerichtliche Entscheidung
über die Beendigung deren Vollzugs. Als Beendigungsform steht die Erle-
digungserklärung neben der aufgrund Fristablaufs (vgl. § 67d Abs. 1 i.V.m.
Abs.4 StGB) und der durch Aussetzung des weiteren Vollzugs der Maßre-
gel zur Bewährung (etwa § 67d Abs. 2 StGB).l Mit der Erledigungserklä-
rung als Entscheidung über die Beendigung des Vollzugs freiheitsentzie-
hender Maßregeln hält das Gesetz ein Rechtsinstitut vor, um dem
Verfassungsgebot2 zu entsprechen, den Maßregelvollzug zu beenden, wenn
und soweit die Voraussetzungen der entsprechenden Maßregel nicht mehr
vorliegen 3 bzw. der mit ihnen verfolgte Zweck nicht mehr erreichbar ist. 4
Die Erledigungserklärung oder eine ihr äquivalente Entscheidungsform ist
im Maßregelvollzug eine aus dem Zweck der Maßregeln, der erwarteten
erheblichen zukünftigen Gefährlichkeit von Straftätern im Interesse der
Rechtsgüter Einzelner zu begegnen, 5 resultierende Notwendigkeit. Gerade

1 Zu den verschiedenen Formen der Beendigung des Vollzugs stationärer Maßregeln der
Besserung und Sicherung ausführlicher Meier Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. 2009,
S. 327-334 sowie umfassend Bechtoldt Die Erledigungserklärung im Maßregelvollzug des § 63
StGB, 2002, S. 59-69.
2 Dazu Radtke ZStW 110 (1998), 297, 298-300 m.w.N.
3 Vgl. etwa Bechtoldt (Fn. 1), S. 49; Dessecker Straftäter und Psychiatrie, 1990, S. 123 ff~
Frisch Prognoseentscheidungen im Strafrecht, 1983, S. 155; Küchenmeister Behandlung des
nach §§ 63, 64 StGB Untergebrachten bei Erreichen des Maßregelzwecks, 1985, S. 20; Lau-
benthal FS Krause, 1990, S. 357, 359 ff; Radtke (Fn. 2), 298; ders. NStZ 2002, 580; Schrei-
berlRosenau in: Venzlaff/Foerster (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl. 2004, S. 106;
VolckartlGrünebaum Maßregelvollzug, 7. Aufl. 2009, S. 341 ff; WolfNJW 1997,779,780 f;
LK-Rissing-van SaanlPeglau, 12. Aufl. 2008, § 67d Rn. 42; MK-Veh, Bd. 2, 2005, § 67d
Rn. 26 f; siehe auch BGHSt 42,306,310.
4 BVerfGE 91, 1 (2 und 31) zu der Beendigung der Unterbringung in einer Entziehungsan-
stalt bei nicht mehr erreichbarem Therapieerfolg.
5 Grundlegend zu den Maßregeln der Besserung und Sicherung etwa Müller-Diet= Grund-
fragen des strafrechtlichen Sanktionensystems, 1979, S. 16 ff; Jung Was ist Strafe?, 2002,
696 Henning Radtke

weil Maßregeln der Abwehr der prognostizierten erheblichen zukünftigen


Gefährlichkeit eines Täters dienen und ihre Anordnung lediglich aus Anlass
der begangenen Straftat erfolgt, unterliegt die im Anordnungszeitpunkt der
Maßregel zu treffende Prognose über das zukünftige Verhalten des Straftä-
ters nicht absehbaren Wandlungen all derj enigen Verhältnisse, auf deren
Vorhandensein die Anordnung der Maßregel gegründet worden ist. Über die
Veränderungen der für die Prognose bedeutsamen tatsächlichen Verhältnis-
se hinaus können sich im Verlaufe des Vollzugs einer Maßregel Änderun-
gen bei den sonstigen Voraussetzungen der jeweiligen Maßregel ergeben.
So mag etwa bei einern nach § 63 StGB im psychiatrischen Krankenhaus
untergebrachten Straftäter der ursprünglich vorhandene psychische Defekt
erfolgreich therapiert worden sein oder bei dem in die Entziehungsanstalt
gemäß § 64 StGB eingewiesenen Täter stellt sich nach einer gewissen Voll-
zugsdauer heraus, dass eine hinreichend konkrete Aussicht auf einen Be-
handlungserfolg, der zwingende Voraussetzung dieser Maßregel ist, 6 nicht
mehr besteht.
Beide vorstehend angesprochenen Aspekte, die verfassungsrechtlich vor-
gegebene Verknüpfung der Zulässigkeit des Vollzugs einer Maßregel mit
dem Fortbestehen ihrer Anordnungsvoraussetzungen während des gesamten
Zeitraums der Vollstreckung einerseits und die Anbindung dieser Voraus-
setzungen an wandelbare, von der zukünftigen Entwicklung abhängige
Anknüpfungstatsachen andererseits, erfordern zur Sicherung der Grund-
rechtspositionen des von der Maßregel betroffenen Täters prozedurale In-
strumente, die eine wenigstens periodische Überprüfung des Fortdauerns
der Anordnungsvoraussetzungen sowie eine die Beendigung des Vollzugs
anordnende Entscheidung bei Wegfall der Voraussetzungen gewährleisten.
Das geltende Recht bezieht allerdings sowohl die jederzeitig mögliche
(§ 67e Abs. 1 S. 1 StGB) als auch die obligatorische periodische, nach Maß-
regelart in der zeitlichen Amplitude differenzierende Überprüfung in § 67e
Abs.2 StGB nicht unmittelbar auf das Fortbestehen der Anordnungsvoraus-
setzungen, sondern auf die Aussetzung der weiteren Vollstreckung der
Maßregel zur Bewährung. § 67e StGB enthält eine verfahrensmäßige Er-
gänzung der materiellen Aussetzungsregelungen in § 67d Abs.2 StGB. 7
Das Fehlen oder der Wegfall der Anordnungsvoraussetzungen können un-
geachtet dessen entweder im Rahmen der auf die Aussetzung zugeschnitte-
nen Überprüfung auffallen bzw. im Rahmen von Anträgen der Unterge-

S.33 ff; Meier (Fn. 1), S. 236 f; Streng Strafrechtliche Sanktionen, 2. Autl 2002, Rn. 281-
283; Radtke (Fn. 2),298 f jeweils m.w.N.
6 BVerfGE 91, 1,30; dazu Müller-Diet= JR 1995,353; Schalast/LeygrafNStZ 1999,485;
Stree FS Geerds, 1995, S. 581 ff
7 MK-Groß (Fn. 3), § 67e Rn. 1.
Die Erledigungserklärung im Maßregelvollzug 697

brachten bzw. Sicherungsverwahrten oder aufgrund von entsprechenden


Hinweisen der Maßregelvollzugseinrichtung bekannt werden. Ergänzende
Gewährleistungen der Rechtsposition des "Gemaßregelten" bieten bei der
Unterbringung in der Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) die gesetzliche
Höchstfrist des § 67d Abs. 1 StGB und für die Sicherungsverwahrung die
zwingende Prüfung aufgrund § 67d Abs. 3 S. 1 StGB nach zehnjähriger
Vollzugsdauer. Steht das Fehlen oder der Wegfall der Anordnungsvoraus-
setzungen fest, wird der Vollzug der stationären Maßregel durch gerichtli-
chen Beschluss entweder als Erledigungserklärung oder als Entscheidung,
den weiteren Vollzug der Maßregel zur Bewährung auszusetzen, beendet.
Ob bei Veränderungen der Maßregelvoraussetzungen die Beendigung des
Vollzugs durch Erledigungserklärung oder durch Aussetzung zur Bewäh-
rung zu erfolgen hat, ist eine in den Details bisher nicht befriedigend be-
antwortete Frage. 8 Die Konsequenzen des Zugriffs entweder auf die eine
oder die andere Beendigungsform sind sowohl für den betroffenen Täter als
auch die Allgemeinheit erheblich. Während die bewährungsweise Ausset-
zung unter dem Vorbehalt des Widerrufs (§ 67g StGB) steht und damit eine
Reaktionsmöglichkeit fur die Vollstreckungsbehörden bei erwartungswidri-
gem Verhalten des Probanden in Freiheit besteht, wird eine Erledigungser-
klärung für unwiderruflich gehalten. 9 Kontrollmöglichkeiten bestehen nach
einer Erledigungserklärung regelmäßig nur über die Führungsaufsicht (siehe
etwa § 67d Abs. 6 S.2 StGB), soweit nicht ausnahmsweise sogar deren
Nichteintritt angeordnet wird (vgl. § 67 Abs. 6 S. 3 StGB).
Die angedeuteten Unklarheiten bei dem Zugriff auf die "richtige" Been-
digungsform bei Änderungen der für die Maßregelvoraussetzungen relevan-
ten Gegebenheiten haben ihren Grund u.a. in der relativ geringen Rege-
lungsdichte des Gesetzes in Bezug auf die Beendigung des Vollzugs
stationärer Maßregeln. Dies betrifft vor allem die vollzugsrechtliche Erledi-
gungserklärung. Das geltende Recht enthält insoweit keine gesetzliche Re-
gelung, die sämtliche Konstellationen des Fehlens bzw. des Wegfalls der
Anordnungsvoraussetzungen sowie der Zweckerreichung erfasst. Stattdes-
sen finden sich verstreute Vorschriften, die jeweils einzelne Konstellationen
von Erledigungen bzw. Zweckerreichung im Maßregelvollzug normieren.
So statuiert § 67c Abs. 2 S. 5 StGB die praktisch wohl eher seltene Konstel-

8 Näher unten II.2.b.~ zum Streitstand einführend Koller FS Venzlaff, 2006, S. 229, 257 ff.~
ders. R & P 2007, 57, 63 f.~ Rissing-van SaanlPeglau (Fn. 3), § 67d Rn. 50-53~ Veh (Fn. 3),
§ 67d Rn. 27.
9 Für § 67d Abs. 5 etwa OLG Celle NStZ-RR 1997, 240 f.~ OLG Frankfurt NStZ-RR 2003,
41 f.~ OLG Hamm NStZ 2000,168 mit krit. Anm. RadtkelBechtoldt NStZ 2001, 222 f.~ Fischer
StGB, 56. Autl. 2009, § 67d Rn. 22~ Rissing-van SaanlPeglau (Fn. 3), § 67d Rn. 39~ Veh
(Fn.3), § 67d Rn. 43~ NK-PollähneIBöllinger, 3. Autl. 2010, § 67d Rn. 43~ für § 67d Abs. 6
StGB ausdrücklich ebenso Koller R & P (Fn. 8), 57.
698 Henning Radtke

lation der Erledigung bei Verstreichen eines Zeitraums von drei Jahren nach
Rechtskraft der Maßregelanordnung, ohne dass deren Vollzug begonnen
hat, wenn und soweit es nicht trotz des Zeitablaufs noch des Maßregelvoll-
zugs bedarf. § 67d Abs. 4 S. 2 StGB ordnet qua Gesetz - also nicht durch
gerichtliche Entscheidung - die Erledigung des Vollzugs der Unterbringung
in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) nach Ablauf der Hächstfrist aus
§ 67d Abs. 1 StGB an. Im Mittelpunkt der nachfolgenden Ausführungen
soll allerdings eine noch relativ junge gesetzliche Regelung über die Erledi-
gungserklärung im Maßregelvollzug stehen, § 67d Abs. 6 StGB. Diese
Vorschrift wurde durch das Gesetz zur Einführung der nachträglichen Si-
cherungsverwahrung vom 23. Juli 2004 10 in das StGB eingefügt. Sie er-
streckt sich allein auf die Beendigung der Unterbringung in einem psychiat-
rischen Krankenhaus (§ 63 StGB) und ist damit weder auf die
Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) noch auf die Siche-
rungsverwahrung (§ 66 StGB) und ihre Modifikationen (§§ 66a und b
StGB) unmittelbar oder analog anwendbar. 11 Mit der Einfügung hat der
Gesetzgeber eine Regelungslücke schließen wollen, die in solchen Fällen
bestand, in denen sich nach dem zeitlichen Beginn des Vollzugs der Maßre-
gel gemäß § 63 StGB das Fehlen von deren Voraussetzungen ergab. 12 Vor
der Reform hatte die hächstrichterliche Rechtsprechung - soweit nicht die
Beendigung über die bewährungsweise Aussetzung erfolgte - die Erledi-
gungserklärung in solchen Konstellationen auf die analoge Anwendung von
§ 67c Abs. 2 S. 5 StGB gestützt. 13 Die methodischen Voraussetzungen der
Analogie ließen sich allerdings kaum annehmen. 14 Angesichts der Begren-
zung von § 67d Abs. 6 StGB auf den Vollzug der Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus greift die Rechtsprechung für Fälle des Weg-
falls der Voraussetzungen der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt,
etwa weil kein hinreichend konkreter Behandlungserfolg mehr besteht, für
die gebotene Beendigung des Maßregelvollzugs allerdings auch weiterhin
auf eine auf die analoge Anwendung von § 67c Abs. 2 S. 5 StGB gestützte
Erledigungserklärung ZU. 15 Die gesetzgeberische Entscheidung, mit der

10 BGBI. I, S. 1838 (Art. 1 Nr. 3)


11 Siehe bereits Müller-Met= StV 2003, 42, 49~ Veh (Fn. 3), § 67d Rn. 23~ SSW-StGB/Jehle,
2009, § 67d Rn. 21.
12 BT-Drs. 15/2887, S. 14~ siehe auch BerglWiedner StV 2007,434, 437 f.~ Koller R & P
(Fn. 8), 59~ Rissing-van SaanlPeglau (Fn. 3), § 67d Rn. 42 f.
13 Etwa BGHSt 42, 306, 310 - nicht tragend~ OLG Frankfurt NStZ 1993, 252 mit Anm.
Loos~ ausführliche Rechtsprechungsnachweise bei Bechtoldt (Fn. 1), S. 182 Fn. 467~ Radtke
(Fn. 2), 303 mit Fn. 23~ Koller FS Venzlaff (Fn. 8), S. 236 ff.
14 Bechtoldt (Fn. 1), S. 173 ff. und 226 ff.~ Radtke (Fn. 2), 305 f.~ siehe in Bezug auf die frü-
here Rechtslage auch Rissing-van SaanlPeglau (Fn. 3), § 67d Rn. 49 aE.
15 OLG Karlsruhe JZ 2005, 285 f.~ zustimmend Koller R & P (Fn. 8), 59 Fn. 18 aE.
Die Erledigungserklärung im Maßregelvollzug 699

Einfügung von § 67d Abs. 6 StGB die zum alten Recht betriebene richterli-
che Rechtsfortbildung für die Maßregel nach § 63 StGB in Gesetzesform
umzusetzen,16 hat zwar den methodischen Einwand gegen den Zugriff auf
eine Erledigungserklärung für den Vollzug dieser Maßregel ausgeräumt.
Die Reform hat aber nicht sämtliche sachlichen Fragen und Unklarheiten
zum Anwendungsbereich der Erledigungserklärung im Maßregelvollzug des
§ 63 StGB lösen können. 17 Die nachfolgenden Erwägungen verfolgen das
Ziel, die Reichweite der Erledigungserklärung nach § 67d Abs. 6 StGB
auch hinsichtlich der Abgrenzung zur bewährungsweisen Aussetzung des
Vollzugs der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß
§ 67d Abs. 2 StGB zu klären. Ich hoffe, damit das Interesse des Jubilars
gerade vor dem Hintergrund seines langjährigen Wirkens als Vorsitzenden
einer Strafvollstreckungskammer am Landgericht Göttingen zu finden.
Zugleich ist der Beitrag Ausdruck meines herzlichen Dankes für die stete
Förderung während meiner Göttinger Studien- und Assistentenzeit sowie
für die vorzügliche Zusammenarbeit im Altemativkreis.

11. Die Erledigungserklärung nach § 67d Abs. 6 StGB bei


Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
1. Anwendungsbereich von § 67d Abs. 68tGB
§ 67d Abs. 6 StGB gestattet seinem Wortlaut nach den Vollstreckungsge-
richten (vgl. § 463 Abs. 5, § 462 StPO) die Beendigung des begonnenen
Vollzuges 18 der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus durch
Erledigungserklärung in zwei Grundkonstellationen anzuordnen: dem Weg-
fall der Anordnungsvoraussetzungen und der Unverhältnismäßigkeit des
weiteren Vollzugs der Maßregel. Da jedoch die Verhältnismäßigkeit bereits
im Zeitpunkt der Anordnung Voraussetzung der Maßregel ist, lässt sich die
Unterscheidung zwischen "Wegfall der Voraussetzungen der Maßregel"
und "Unverhältnismäßigkeit" des weiteren Vollzuges sachgerecht lediglich
dahin deuten, "Voraussetzungen" auf das Vorliegen eines nicht nur vorü-
bergehenden psychischen Defekts im Sinne von §§ 20, 21 StGB sowie die
darauf beruhende zukünftige Gefahrlichkeit zu beziehen, während die Ver-
hältnismäßigkeit allein die rechtliche Bewertung der Zulässigkeit des weite-
ren Vollzugs unter Berücksichtigung der Dauer der bereits erlittenen Frei-

16 BT-Drs. 15/2887, S. 14.


17 Einführend BerglWiedner (Fn. 12), 434 ff.
18 Zu den Anforderungen an den Beginn des Vollzugs Rissing-van SaanlPeglau (Fn. 3),
§ 67d Rn. 47~ Veh (Fn. 3), § 67d Rn. 25~ siehe auch LG Marburg NStZ-RR 2007,28 f.
700 Henning Radtke

heitsentziehung zum Gegenstand hat. 19 Wie bereits unter I. angesprochen


hat der Gesetzgeber mit der Einfügung von § 67d Abs. 6 StGB lediglich das
eher bescheidene Ziel verfolgt, die Erledigungserklärung für den Vollzug
der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in den Konstella-
tionen gesetzlich zu regeln, in denen die obergerichtliche Rechtsprechung 20
diese bei Wegfall der Voraussetzungen oder Zweckerreichung sowie bei
Unverhältnismäßigkeit im Wege der Rechtsfortbildung ohnehin bereits
angewendet hatte. 21 Ausweislich der Gesetzesmaterialien erfasste nach der
Bewertung des Gesetzgebers die bisherige Rechtsprechung durch analoge
Anwendung von § 67c Abs. 2 S. 5 StGB insgesamt vier Konstellationen des
Fehlens bzw. des Wegfalls der Voraussetzungen von § 63 StGB: die Fehl-
einweisung, d.h. eine auf fehlerhafter ärztlicher Diagnose beruhende, zu
Unrecht erfolgende Annahme eines psychischen Defekt im Sinne von
§§ 20, 21 StGB; die Heilung eines solchen im Anordnungszeitpunkt beste-
henden Defekts; den Wegfall der Gefährlichkeit des Untergebrachten trotz
noch bestehenden Defekts sowie die Unverhältnismäßigkeit des weiteren
Vollzugs (trotz fortbestehenden Defekts und andauernder Gefährlichkeit).22
Die in der Gesetzesbegründung zusammengefassten Fallgestaltungen der
Heilung und der Fehleinweisung lassen sich unter Berücksichtigung der
vorhandenen rechtstatsächlichen Erkenntnisse weiter dahingehend differen-
zieren, dass neben der später erkannten Fehleinweisung und den Fällen von
Heilung solche vorkommen, in denen allein das Fehlen eines unter §§ 20,
21 StGB zu fassenden psychischen Defekts feststeht, nicht aber geklärt
werden kann, ob dieser bereits im Zeitpunkt des die Unterbringung anord-
nenden Urteils nicht vorgelegen hat oder erst später weggefallen ist. 23
Für die Begrenzung der Reform der Erledigungserklärung im Vollzug des
§ 63 StGB auf die Übernahme der bereits in der Rechtsprechung qua
Rechtsfortbildung entwickelten Fallgruppen der Erledigung dürften zwei
Gründe ausschlaggebend gewesen sein: Zum einen hat der Gesetzgeber den
eigentlichen kriminalpolitischen Handlungsbedarf nicht bei der Einführung
einer gesetzlichen Grundlage für die methodisch zweifelhafte Rechtsfortbil-
dung durch analoge Anwendung von § 67c Abs. 2 S. 5 StGB gesehen, son-

19 Ähnlich Koller R & P (Fn. 8), 59.


20 Namentlich BGHSt 42, 306, 310 - nicht tragend; OLG Frankfurt NJW 1978, 2347; OLG
Frankfurt NStZ 1993,252; OLG Karlsruhe Justiz 1987,463.
21 BT-Drs. 15/2887, S. 10 und 13 f.
22 Siehe BT-Drs. 15/2887, S.21 ff; vgl. auch Koller R & P (Fn. 8), 59-61; Rissing-van
Saan/Peglau (Fn. 3), § 67d Rn. 42; Veh (Fn. 3), § 67d Rn. 26 sowie U. Schneider NStZ 2004,
649.
23 Siehe etwa OLG Frankfurt NJW 1978,2347; OLG Hamm NStZ 1982,300; vgl. auch die
Ergebnisse von Bechtoldt (Fn. 1), S. 127 ff. sowie Müller-Isberner/Glaßl/Gliemann MedR
1994, 319, 320 f.; U. Schneider a.a.O., 649.
Die Erledigungserklärung im Maßregelvollzug 701

dem bei den möglichen Konsequenzen der Erledigungserklärung in Bezug


auf bestimmte Täter. Handlungsbedarf hat der Gesetzgeber bei solchen
Untergebrachten gesehen, die trotz von Anfang an fehlender oder später
weggefallener (sonstiger) Voraussetzungen des § 63 StGB weiterhin als
erheblich gefährlich zu bewerten sind. 24 Um dem von solchen Straftätern
ausgehenden Gefährlichkeitspotential nach dem zwingend anzuordnenden
Ende des Vollzugs der Maßregel nach § 63 StGB begegnen zu können, hat
der Gesetzgeber mit § 66b Abs. 3 StGB die Möglichkeit eröffnet, zusam-
men mit der Erledigung des Vollzugs der Unterbringung nach § 63 StGB
gegen den bisher im psychiatrischen Krankenhaus Untergebrachten die
nachträgliche Sicherungsverwahrung anzuordnen. 25 Auf die rechtliche Ge-
staltung dieser Konstellationen hat der Reformgesetzgeber des Jahres 2004
sein Hauptaugenmerk gerichtet. Zum anderen hat er angesichts der gefestig-
ten Rechtsprechung zu der Erledigungserklärung auf der Grundlage der
analogen Anwendung von § 67c Abs. 2 S.5 StGB, grundlegendere Erwä-
gungen über die Erledigungserklärung als spezifische Beendigungsform des
Maßregelvollzuges, über die Wirkungen dieser gerichtlichen Erledigungs-
entscheidung sowie ihr Verhältnis zu den von der ursprünglichen Anord-
nungsentscheidung durch Urteil ausgehenden Wirkungen, nicht für erfor-
derlich gehalten. Die Annahme, für grundlegendere Erwägungen zu den im
vorstehenden Satz angesprochenen Aspekten der vollzugsrechtlichen Erle-
digungserklärung bestehe keine Notwendigkeit, dürfte ihren Grund darin
finden, dass im Gesetzgebungsverfahren zugrunde gelegt worden ist, aus
tatsächlichen medizinisch-psychiatrischen Gründen könne das Vorliegen
eines fur die Maßregel erforderlichen psychischen Defektzustandes ohnehin
stets nur auf den jeweils aktuellen Beurteilungszeitpunkt bezogen werden. 26
Zudem ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, mit der Erledigungserklä-
rung werde ohne jede Beeinträchtigung der fortbestehenden Rechtskraft des
die Maßregel nach § 63 StGB anordnenden Urteils allein die auf das jetzige
Fehlen der Maßregelvoraussetzungen gestützte Beendigung des Vollzugs

24 Siehe U. Schneider (Fn. 22), 650.


25 Zu den Gestaltungsoptionen des Gesetzgebers U. Schneider (Fn. 22), 652-654.
26 Vgl. U. Schneider (Fn. 22), 650, die allerdings selbst darauf hinweist, dass sich Gutachter
otIenbar durchaus zutrauen, Aussagen über das Vorliegen einer Fehleinweisung von Anfang zu
treffen; wie U. Schneider im Wesentlichen auch BT-Drs. 15/2887, S. 14 unter Berufung auf
BVerfG NJW 1995,2405,2406; zu Recht kritisch Koller R & P (Fn. 8), 61 Fn. 38 mit dem
völlig zutreffenden Hinweis, dass keine Schuldfähigkeitsbegutachtung und keine Prognose
über zukünftiges Legalverhalten auf eine rückschauende Betrachtung des psychischen Zustan-
des des Probanden verzichten kann. Die Vorstellung, den psychischen Zustand des Täters im
Zeitpunkt der Begehung der Tat und dem der Aburteilung (Anordnung der Maßregel nach § 63
StGB) bei der Beurteilung des aktuellen Zustandes im Zeitpunkt der Entscheidung über die
Erledigung ausblenden zu können, ist verfehlt.
702 Henning Radtke

angeordnet. 27 Letztere Annahme ist schon deshalb fragwürdig, weil die


Erledigungserklärung die Vollstreckungswirkung als Teil der - was streitig
ist - formellen oder materiellen Rechtskraft 28 des die Unterbringung in
einem psychiatrischen Krankenhaus anordnenden Urteils ganz oder teilwei-
se aufhebt.

2. Offene Fragen zur Reichweite der Erledigungserklärung


nach § 67d Abs. 68tGB
Vor dem Hintergrund der Beschränkung der Reform der maßregelvoll-
zugsrechtlichen Erledigungserklärung auf die Einfügung von § 67d Abs. 6
StGB als gesetzliche "Festschreibung" der bereits im Wege der richterli-
chen Rechtsfortbildung entwickelten Konstellationen der Erledigungserklä-
rung im Vollzug der Maßregel des § 63 StGB hat der Gesetzgeber keine
umfassende Normierung dieses Rechtsinstituts im Kontext des Vollzugs der
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus getroffen. 29 Teils
lässt sich der begrenzte lJmfang der getroffenen Regelung bereits dem
Wortlaut des § 67d Abs. 6 StGB unnlittelbar entnehmen. So verlangt die
Vorschrift eindeutig einen bereits begonnenen Vollzug. 30 Teils haben sich
der (möglicherweise) begrenzte Regelungsumfang und die damit verbunde-
nen Schwierigkeiten im Verständnis des § 67d Abs. 6 StGB erst in der An-
wendung durch die Vollstreckungsgerichte gezeigt. 31 Soweit für mich der-
zeit ersichtlich können sich hinsichtlich der Reichweite der
Erledigungserklärung nach § 67d Abs. 6 StGB unter vier verschiedenen
Aspekten Unklarheiten ergeben:

a) "Wegfall" der Anlasstat


Die Formulierung "Stellt das Gericht ... fest, dass die Voraussetzungen
der Maßregel nicht mehr vorliegen, so erklärt es sie für erledigt" enthält in
Bezug auf die nicht mehr bestehenden Anordnungsvoraussetzungen keiner-
lei Einschränkung. Eine solche Einschränkung ist in der Sache aber jeden-
falls für die Voraussetzung der durch den Untergebrachten begangenen
rechtswidrigen Tat (sog. Anlasstat) unverzichtbar. Der sicherlich wenig
praxisrelevante Fall des Fehlurteils wegen zu Unrecht angenommener Tä-

27 BT/Drs. 15/2887 S. 14~ U Schneider (Fn. 22), 650.


28 Zu der Vollstreckungswirkung als Teil der Rechtskraft eines Strafurteils Radtke Die Sys-
tematik des Stratklageverbrauchs verfahrenserledigender Entscheidungen im Strafprozeß,
1993, S. 30 f.
29 Zutreffend Rissing-van SaanlPeglau (Fn. 3), § 67d Rn. 43.
30 Siehe bereits oben Fn. 18.
31 Einführend dazu Koller FS Venzlaff (Fn. 8), S. 227 ff.
Die Erledigungserklärung im Maßregelvollzug 703

terschaft des Untergebrachten in Bezug auf die Anlasstat kann nicht durch
Erledigungserklärung zur Beendigung des Vollzuges führen. Denn es geht
um Korrektur eines Fehlers des Gerichts, der mit den unter I. angedeuteten
Abhängigkeiten der Maßregelvoraussetzungen von der zukünftigen Ent-
wicklung des Untergebrachten nichts zu tun hat. Die Klärung der Frage, ob
der Untergebrachte die Anlasstat begangen hat, knüpft bei der Beantwor-
tung - ebenso wie bei dem zu Unrecht zu Strafe Verurteilten - ausschließ-
lich an einen in der Vergangenheit liegenden abgeschlossenen Vorgang an.
Jedenfalls dann, wenn der Täter in den Fällen des § 21 StGB neben der
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wegen der Anlasstat
schuldig gesprochen und zu Strafe verurteilt worden ist, kann dieses Urteil
insgesamt, wie bei materiell zu Unrecht erfolgten Schuld- und Strafaus-
spruch auch, lediglich im Rahlnen des Wiederaufnahmeverfahrens der
§§ 359 ff. StPO beseitigt werden.

b) Zum Verhältnis von Erledigungserklärung gemäß


§ 67d Abs. 6 StGB und der Aussetzung des Vollzugs der Maßregel
zur Bewährung gemäß § 67d Abs. 2 StGB
Das Verhältnis zwischen den Beendigungsformen der Erledigungserklä-
rung auf der einen Seite und der Aussetzung des Vollzugs der Unterbrin-
gung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu Bewährung (§ 67d Abs. 2
S. 1 StGB) hat auch die Einfügung von § 67d Abs. 6 StGB nicht vollständig
geklärt. 32 Da hier vor allem der Anwendungsbereich des § 67d Abs. 6 StGB
im Hinblick auf die nachfolgend unter c) und d) zu behandelnden Konstella-
tionen untersicht werden soll, soll es bei der knappen Erwägung bleiben, die
Erledigungserklärung sowohl bei Veränderungen der Gefahrlichkeitsprog-
nose als auch bei der Verhältnismäßigkeit nur dann zulassen, wenn jegli-
ches Restrisiko im Sinne eines Rückfalls ausgeschlossen ist und es ansons-
ten bei der bewährungsweisen Aussetzung nach § 67d Abs.2 StGB zu
belassen. 33

c) Erledigungserklärung bei von Anfang an aus tatsächlichen


Gründen fehlenden Maßregelvoraussetzungen
(meist sog. Fehleinweisung)
Der Wortlaut "Voraussetzungen der Maßregel nicht mehr (Hervorhebung,
H.R.) vorliegen" deutet auf die Anwendbarkeit der Erledigungserklärung

32 Ausführlich Koller R & P (Fn. 8), 59 ff.


33 Ausführlicher und zutreffend Koller R & P (Fn. 8), 59 ff. sowie Rissing-van SaanlPeglau
(Fn. 3), § 67d Rn. 53 und 55.
704 Henning Radtke

lediglich in Konstellationen des nachträglichen Wegfalls der ursprünglich


im Anordnungszeitpunkt vorhandenen Maßregelvoraussetzungen hin. Ge-
stützt auf die Gesetzesbegründung 34 wird jedoch ganz überwiegend ange-
nommen, § 67d Abs. 6 StGB sei auch in den Fällen der sog. Fehleinwei-
sung, also des Fehlens des Voraussetzungen des § 63 StGB bereits bei
Anordnung der Maßregel durch Urteil des erkennenden Gerichts, anzuwen-
den. 35 Trotz der Wendung "nicht mehr vorliegen" wird die Einbeziehung
der Konstellation der aus tatsächlichen Gründen von Anfang an fehlenden
Maßregelvoraussetzungen (Fehleinweisung) in die Erledigung nach § 67d
Abs. 6 StGB mit dem Stand der früheren Rechtsprechung begründet, die die
Fehleinweisungsfalle stets der Erledigungserklärung auf der Grundlage von
§ 67c Abs. 2 S. 5 StGB analog unterworfen habe. 36 Diese Rechtsprechung
habe der Reformgesetzgeber unter Verwerfung solcher Auffassungen, die
zum früheren Recht die Beendigung des Vollzugs der Maßregel nach § 63
StGB in Fehleinweisungsfallen kritisiert haben,37 in das Gesetz übernehmen
wollen. 38 Die Gegenposition ist bisher vor allem von dem OLG Dresden
eingenommen worden. 39 Das Gericht bezieht sich wie die überwiegende
Auffassung auch vor allem auf die Gesetzesmaterialien und stellt heraus,
der Gesetzgeber habe unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des
BVerfG 40 betont, zum einen stelle sich die Frage nach einer fehlerhaften
Einweisungsdiagnose im Erledigungsverfahren nicht und zum anderen
könne aus tatsächlichen Gründen stets nur über die gegenwärtige psychi-
sche Situation entschieden werden. 41 Wenn das Vorliegen der tatsächlichen
Voraussetzungen der Maßregelvoraussetzungen zum Anordnungszeitpunkt
im Erledigungsverfahren nicht zu prüfen seien bzw. faktisch gar nicht ge-
prüft werden könnten, könne sich die Erledigungserklärung, so wird das
OLG Dresden zu verstehen sein dürfen, auch nicht auf die Fehleinweisung

34 BT-Drs. 15/2887, S. 14.


35 OLG Frankfurt StV 2007, 430 f.~ KG v. 7.6.2007 - 1 AR 651/07 - 2 Ws 330/07~ OLG
Rostock v. 8.2.2007 - 1 Ws 438/06 BeckRS 2007 16465~ LG Magdeburg v. 30.11.2007 - 50
StVK 218/07 BeckRS 2008 03955; Berg/Wiedner (Fn. 12),435; Koller FS Venzlaff (Fn. 8), S.
253 ff.; ders. R & P (Fn. 8), 61; in der Sache auch U. Schneider (Fn. 22), 650; Fischer (Fn. 9),
§ 67d Rn. 23; Rissing-van Saan/Peglau (Fn. 3), § 67d Rn. 49; Veh (Fn. 3), § 67d Rn. 26 und
30~ Pollähne/Bällinger (Fn. 9), § 67d Rn. 56; Schänke/Schräder/Stree StGB, 27. Aufl. 2006,
§ 67d Rn. 14~ SSW-StGB/Jehle (Fn. 11), § 67d Rn. 21 aB.
36 Nachw. wie Fn. zuvor.
37 Bechtoldt (Fn. 1), S. 225 tI.; Radtke (Fn. 2),305 ff.
38 Ausführlicher Koller R & P (Fn. 8),61; siehe auch BT-Drs. 15/2887, S. 14. und BT-Drs.
15/3652, S. 23.
39 OLG Dresden NStZ-RR 2005, 338; OLG Dresden NStZ 2008, 630 dazu Braasch Juris-
RP 11/2008.
40 NJW 1995, 2405, 2406.
41 OLG Dresden NStZ 2008,630 unter wärtlicher Zitierung von BT-Drs. 15/2887, S. 14.
Die Erledigungserklärung im Maßregelvollzug 705

erstrecken. Aus der fehlenden Anwendbarkeit von § 67d Abs. 6 StGB zieht
das Gericht den Schluss, es könne dann auch nach dem Ende des Maßregel-
vollzuges keine Führungsaufsicht nach § 67d Abs. 6 S. 2 StGB eintreten. 42
Die Diskussion um die Erstreckung der Erledigungserklärung auf die
Fehleinweisung (aus tatsächlichen Gründen) ist angesichts der jeweiligen
Berufung der Diskursteilnehmer auf dieselben Passagen der Gesetzesmate-
rialien kurios. Der vom OLG Dresden vertretenen Auffassung ist jedenfalls
zuzugestehen, dass nach den Vorstellungen des Gesetzgebers das Vorliegen
der Voraussetzungen des § 63 StGB zum Zeitpunkt des die Maßregel an-
ordnenden Urteils nicht Gegenstand der Kognitionspflicht des über die
Erledigung entscheidenden Vollstreckungsgerichts ist. 43 Die auf das aktuel-
le Vorliegen der Anordnungsvoraussetzungen begrenzte Kognitionspflicht
im Erledigungsverfahren findet in der Wendung "nicht Inehr" zudem einen
gewissen Ausdruck im Gesetz. Angesichts der Begrenzung des Entschei-
dungsgegenstandes der Vollstreckungsgerichte im Erledigungsverfahren
wäre eine ausschließlich auf anfängliches tatsächliches Fehlen der Voraus-
setzungen des § 63 StGB gestützte Erledigung rechtsfehlerhaft. Im Rahmen
des Erledigungsverfahrens darf das Vollstreckungsgericht lediglich das
Vorliegen bzw. Nichtvorliegen der Maßregelvoraussetzungen ZUlTI maßgeb-
lichen Zeitpunkt der Entscheidung über die Erledigung überprüfen und
darüber entscheiden. 44 Dürfte dieses im Rahmen von § 67d Abs. 6 StGB die
Erledigung tragend auf die Fehleinweisung stützten, wäre dies aus den be-
reits an anderer Stelle ausführlich dargelegten Gründen 45 mit der materiellen
Rechtskraft des die Maßregel nach § 63 StGB anordnenden Urteils unver-
einbar. § 67d Abs. 6 StGB bildet entgegen Berg/TiViedner46 jedenfalls keine
durch Gesetz angeordnete vollständige Durchbrechung der materiellen

42 OLG Dresden NStZ 2008, 630 sowie bereits zuvor OLG Dresden NStZ-RR 2005, 338.
43 BT-Drs. 15/2887, S. 14~ siehe auch BVerfG NJW 1995, 2405, 2406~ U. Schneider
(Fn. 22), 650, die behauptet, aus tatsächlichen Gründen könne ohnehin nur über den gegenwär-
tigen Zustand des Untergebrachten entschieden werden. Die im "Erledigungsverfahren" einge-
setzten Sachverständigen scheinen anderer Ansicht zu sein, wie sich aus den zahlreichen
veröffentlichten Entscheidungen ergibt, in denen ausdrücklich bereits das ursprüngliche Fehlen
der Anordnungsvoraussetzungen - regelmäßig das Fehlen eines dauerhaften psychischen
Defekts in1 Sinne von § 20 StGB - als Grund für die Erledigung angegeben wird~ etwa OLG
Dresden NStZ-RR 2005, 338~ OLG Frankfurt NStZ 1993, 252~ LG Magdeburg v. 30.11.2007 -
50 StVK 218/07 BeckRS 2008 03855~ vgl. auch LG Landau v. 10.5.2007 - 1 StVK 86/06
BeckRS 2007 10771 ~ vgl. auch die Ergebnisse der empirischen Untersuchung von Bechtoldt
(Fn. 1), S. 149 ff. sowie die Angaben von Müller-Jsberner/GraßI/Gliemann (Fn. 23), 320 f.
44 Insoweit zutreffend Berg/Wiedner (Fn. 12), 435~ U. Schneider (Fn. 22), 650.
45 Radtke (Fn. 2), 306-315.
46 Fn. 12, 439.
706 Henning Radtke

Rechtskraft (konkret deren Feststellungswirkung)47 des die Maßregel an-


ordnenden Urteils. Denn die Entscheidungsgegenstände des die Maßregel
anordnenden Urteils einerseits und der Erledigungserklärung sind nach den
Vorgaben des Gesetzes unterschiedlich. 48 Die rechtskräftige Erledigungser-
klärung hebt lediglich die Vollstreckungswirkung des ursprünglichen Ur-
teils mit der Anordnung der Maßregel auf. 49 Das die Maßregel anordnende
Urteil bleibt ansonsten aufrecht erhalten. Soweit der bisher Untergebrachte
von einer Fehleinweisung ausgeht, steht der Weg der Wiederaufnahme nach
§ 359 Nr. 5 StPO gegen das die Unterbringung anordnende Urteil weiterhin
offen, 50 mag auch die Neigung des vormals Untergebrachten, dieses zu
betreiben, nach Erledigung des Vollzugs der Maßregel nicht mehr ausge-
prägt sein.
Die Erledigungserklärung nach § 67d Abs. 6 StGB kann nach dem Vor-
genannten nicht tragend auf das anfängliche tatsächliche Fehlen der Vor-
aussetzungen des § 63 StGB (Fehleinweisung) gestützt werden. Vielmehr
kommt es für die Erledigung ausschließlich darauf an, ob im Zeitpunkt der
Entscheidung über die mögliche Beendigung des Vollzugs der Unterbrin-
gung in einem psychiatrischen Krankenhaus deren Voraussetzungen noch
gegeben sind oder nicht. Ein solches Verständnis des § 67d Abs. 6 StGB ist
durch den Wortlaut nahe gelegt und entspricht dem Zweck der Erledigungs-
erklärung, die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen aus dem fest-
gestellten aktuellen Fehlen der Maßregelvoraussetzungen zu ziehen. Den
Vorstellungen des Reformgesetzgebers von 2004 steht das hier Vorgeschla-
gene nicht entgegen. Denn dessen Vorstellungen sind in sich nicht konsi-
stent gewesen. Einerseits lediglich die frühere, Fehleinweisung als Beendi-
gungsgrund per Erledigungserklärung akzeptierende Rechtsprechung in die
Form des Gesetzes gießen zu wollen, andererseits das Vorliegen einer Fehl-
einweisung als Gegenstand des Erledigungsverfahrens ausnehmen zu wol-
len, ist nicht ohne weiteres miteinander kompatibel. Dennoch lässt sich
§ 67d Abs. 6 StGB im Hinblick auf die tatsächlich offenbar aus psychiatri-
scher Sicht durchaus feststellbaren Konstellationen der Fehleinweisung51
ein sachgerechter, auf der Auslegung anhand der klassischen Auslegungs-
canones gewonnener Anwendungsbereich zuweisen. Die Entscheidungs-
pflicht des Vollstreckungsgerichts im Erledigungsverfahren beschränkt sich
auf das Vorliegen der aktuellen Voraussetzungen der Maßregel gemäß § 63

47 Zur Feststellungswirkung als Element der materiellen Urteilsrechtskraft siehe Bruns FS


Eb. Schmidt, 1961, S. 602, 612 ff.~ Radtke (Fn. 28), S. 71-73 m.w.N.
48 Insoweit ebenso Bergner/Wiedner (Fn. 12), 439.
49 Siehe bereits LaubenthaI (Fn. 3), S. 360~ Radtke (Fn. 2), 306.
50 Ausführlich Radtke (Fn. 2), 310-315.
51 Siehe nur Müller-Jsberner/Graßl/Gliemann (Fn. 23), 320 f. und die Ergebnisse der empi-
rischen Untersuchung von Bechtoldt (Fn. 1), S. 149 ff.~ siehe auch bereits oben Fn. 43 aB.
Die Erledigungserklärung im Maßregelvollzug 707

StGB. Diese Beschränkung entspricht nicht nur dem Wortlaut "nicht mehr
vorliegen" und der Intention des Reformgesetzgebers, 52 sondern harmoniert
auch mit der Rechtskraft des die Maßregel anordnenden Urteils. Lediglich
dessen Vollstreckungswirkung wird durch eine Erledigungserklärung wegen
des Fehlens der Maßregelvoraussetzungen im Zeitpunkt dieser Erklärung
aufgehoben. Die Erledigung kann dementsprechend rechtlich nicht auf die
Fehleinweisung als solche gestützt werden. Allerdings kommt dem Vorlie-
gen einer Fehleinweisung dennoch Bedeutung für die Erledigungserklärung
zu. Denn sowohl fur die Frage des aktuellen Vorhandenseins eines nicht nur
vorübergehenden psychischen Defekts im Sinne von §§ 20, 21 StGB als
auch für die Frage der auf einem solchen Defekt beruhenden zukünftigen
Gefährlichkeit des (bisher) Untergebrachten ist es bei der Erhebung der
Anknüpfungstatsachen für eine Erledigungserklärung bedeutsam, ob der
Untergebrachte eine Anlasstat bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 63
StGB begangen hat oder nicht. 53 Kann im Erledigungsverfahren das Fehlen
der (tatsächlichen) Bedingungen für eine Unterbringung in einem psychiat-
rischen Krankenhaus bereits für den Tat- und Anordnungszeitpunkt festge-
stellt werden, ergibt sich daraus, dass auch im aktuell, für die Erledigungs-
erklärung maßgeblichen Zeitpunkt die Vollzugsvoraussetzungen der
Maßregel gemäß § 63 StGB nicht gegeben sind. Seine Erledigungserklärung
muss das Vollstreckungsgericht aber auf Letzteres stützen; lediglich bei der
Begründung für das Fehlen der Vollzugsvoraussetzung im Entscheidungs-
zeitpunkt des Vollstreckungsgerichts darf auf die Anknüpfungstatsache
Fehleinweisung - vergröbernd formuliert - zurückgegriffen werden. Die
Erledigung ist selbst dann auszusprechen, wenn aus tatsächlichen Gründen
zu Unrecht ein relevanter Defektzustand bei der Anlasstat angenommen
worden ist, sich im Erledigungsverfahren jedoch das aktuelle Vorliegen
eines anderen Defektzustandes, der ebenfalls die zukünftige Gefährlichkeit
des Täters begründet, herausstellt. 54 Anderenfalls würde ohne rechtliche
Grundlage eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ohne
eine durch den ursprünglich angenommenen Defektzustand hervorgerufene
Anlasstat zugelassen. Auf der Grundlage der hier entwickelten Deutung der
Bedeutung von Fehleinweisungen für die Erledigungserklärung nach § 67d
Abs. 6 StGB tritt in den fraglichen Konstellationen mit der Beendigung des
Vollzuges qua Erledigung die Führungsaufsicht gemäß § 67d Abs. 6 S.2
StGB ein, wenn und soweit nicht ausnahmsweise nach § 67d Abs. 6 S. 3
StGB vorgegangen wird. Die vom OLG Dresden vertretene Auffassung, die

52 BT-Drs. 15/2887, S. 14.


53 VgI. Koller R & P (Fn. 8),61 m.w.N. in Fn. 38.
54 OLG Oldenburg StraFo 2005, 80~ Fischer (Fn. 9), § 67d Rn. 24~ Rissing-van SaanlPeglau
(Fn. 3), § 67d Rn. 50~ Stree (Fn. 35), § 67d Rn. 14.
708 Henning Radtke

Fehleinweisungsfalle fielen nicht in die Anwendungsbereich von § 67d


Abs. 6 StGB und deshalb fehle es an einer gesetzlichen Grundlage für die
Führungsaufsicht,55 trifft zwar in der Prämisse insoweit zu, als Fehleinwei-
sungen, die auf fehlerhafter Tatsachenermittlung im Erkenntnisverfahren
beruhen, nicht der tragende Grund der Erledigungserklärung sein können.
Die daraus vom dem Gericht gezogenen Schlüsse greifen allerdings aus den
zuvor dargelegten Gründen zu kurz.

d) Erledigungserklärung nach § 67d Abs. 6 StGB bei bloßen


Rechtsfehlern des Tatrichters bei der Anordnung der Maßregel
nach § 63 StGB
Der Reichweite des Anwendungsbereichs der Erledigungserklärung von
§ 67d Abs. 6 StGB wird vor dem Hintergrund von Fehleinweisungen noch
rur weitere Konstellation kontrovers beurteilt, und zwar bei Fehleinweisun-
gen, die bei zutreffender Feststellung der fur die Maßregel nach § 63 StGB
relevanten Tatsachen auf einer fehlerhaften rechtlichen Subsumtion durch
den Tatrichter beruhen. 56 Die bisher wenigen ergangenen Entscheidungen
von Vollstreckungsgerichten 57 haben eine auf § 67d Abs. 6 StGB gestützte
Erledigungserklärung bei lediglich rechtsfehlerhafter Anordnung der Unter-
bringung in einem psychiatrischen Krankenhaus unter überwiegender Zu-
stimmung der Literatur58 abgelehnt. Diese durch die Rechtsprechung des
OLG Frankfurt geprägte Auffassung stützt sich in erster Linie auf die Ge-
setzesmaterialien, konkret den Umstand, dass dem Reformgesetzgeber des
Jahres 2004 die Problematik von Fehleinweisungen aus rechtlichen Grün-
den bekannt gewesen sei, dieser aber keine Veranlassung rur eine KlarsteI-
lung im neuen § 67d Abs. 6 StGB gesehen habe, die Erledigungserklärung
auf die rechtsfehlerhafte Anordnung der Unterbringung in einem psychiatri-
schen Krankenhaus durch den Tatrichter zu erstrecken. 59 Eine solche aus-
drückliche Klarstellung sei schon deshalb erforderlich gewesen, weil die
Korrektur solcher Rechtsfehler durch die Einlegung von Rechtsmitteln zu
erfolgen habe und im Übrigen die Anwendung der Erledigungserklärung in
den fraglichen Konstellationen zur Konsequenz hätte, eine Korrektur von

55 OLG Dresden NStZ 2008, 630 sowie bereits zuvor OLG Dresden NStZ-RR 2005, 338.
56 Siehe die Sachverhalte von OLG Frankfurt v. 3.6.2005 - 3 Ws 298/05, NStZ-RR 2005,
252 (lediglich LS) = R & P 2006, 151 = StV 2007, 430~ OLG Frankfurt v. 21.5.2008 - 3 Ws
344/08, NStZ-RR 2008, 324-326.
57 Nachw. wie Fn. zuvor; siehe auch LG Marburg NStZ-RR 2007,28 f.
58 Koller FS Venzlaff (Fn. 8), S. 256~ ders. R & P 2007, 61 f.~ Schalast R & P 2007, 69, 70~
Fischer (Fn. 9), § 67d Rn. 23~ Veh (Fn. 3), § 67d Rn. 30~ BöllingerlPollähne (Fn. 9), § 67d
Rn. 56~ Stree (Fn. 35), § 67d Rn. 14~ SSW-StGB/Jehle (Fn. 11), § 67d Rn. 24.
59 OLG Frankfurt NStZ-RR 2008, 324, 325 f.
Die Erledigungserklärung im Maßregelvollzug 709

Rechtsfehlern in einem rechtskräftigen Urteil zuzulassen, die selbst über das


Wiederaufnahmeverfahren der §§ 359 ff. StGB nicht möglich wäre. 6o Diese
vollstreckungsrechtliche Rechtsprechung hat das BVerfG als verfassungs-
rechtlich unbedenkliche Auslegung des einfachen Gesetzesrechts gebilligt
und vor allem die Erwägung fur zutreffend gehalten, dass es sich in den hier
fraglichen Konstellationen "bei der rechtlichen Zuordnung der unstreitigen
tatsächlichen Feststellungen zu den Eingangsmerkmalen der §§ 20, 21 StGB
um einen juristischen Subsumtionsvorgang handelt, der der Rechtskraft
fähig ist und für den als solchen keine Wiederaufnahmemöglichkeit be-
steht. ,,61 Die Gegenposition der Anwendbarkeit von § 67d Abs. 6 StGB auf
Fehleinweisungen, die auf rechtsfehlerhafter Annahme der Maßregelvor-
aussetzungen des § 63 StGB beruhen, haben bislang ausdrücklich allein
Berg/Wiedner62 eingenommen. 63 Sie stützen sich einerseits auf die Geset-
zesmaterialien, die keine Anhaltspunkte für eine nach den Gründen der
Fehleinweisung differenzierende Anwendbarkeit von § 67d Abs. 6 StGB
aufwiesen,64 und andererseits auf die Rechtsnatur der Maßregel sowie das
Verhältnis zwischen der Rechtskraft des diese anordnenden Urteils und der
Erledigungserklärung. 65 Aus dem Zweck der Maßregeln insgesamt leiten sie
ab, dass deren Anordnung niemals einen endgültigen Bestand haben könnte,
sondern unter dem Vorbehalt einer Überprüfung auf aktueller Tatsachen-
grundlage stünde. 66 Konflikte mit der Rechtskraft des die Maßregel anord-
nenden tatrichterlichen Urteils existierten nicht, weil es zum einen dem
Gesetzgeber freistehe, Durchbrechungen der Rechtskraft auch außerhalb des
Wiederaufnahmeverfahrens zuzulassen, und zum anderen die materielle
Rechtskraft ohnehin lediglich den Tenor umfasse, der aber wegen der ex
nunc Wirkung der Erledigungserklärung nicht tangiert sei. 67
Berg/Wiedner ist in ihrem Vorgehen bei der Bestimmung der Erledi-
gungserklärung nach § 67d Abs. 6 StGB insoweit zuzustimmen, als diese
von der Funktion der Maßregeln sowie deren - im Unterschied zu der auf
Schuld- und Strafausspruch beruhenden Vollstreckung von Strafen - auf
ständige Überprüfung angelegten Vollzug ausgehen. Der Wortlaut des
§ 67d Abs. 6 StGB selbst und sein systematisches Verhältnis zu § 66b
Abs. 3 StGB sind in ihrem Aussagegehalt ebenso ambivalent wie der Inhalt

60 Wie Fn. zuvor sowie BVerfG NStZ-RR 2007,29.


61 BVerfG NStZ-RR 2007,29.
62 Fn. 12, 436-441.
63 Eine BerglWiedner zustimmende Tendenz findet sich bei Rissing-van SaanlPeglau
(Fn. 3), § 67d Rn. 56.
64 BerglWiedner (Fn. 12), 436-438.
65 BerglWiedner (Fn. 12), 438 f.
66 BerglWiedner (Fn. 12), 438.
67 BerglWiedner (Fn. 12),439.
710 Henning Radtke

der Gesetzesmaterialien. Die genannten Auslegungskriterien lassen sich für


die hier relevante Auslegungsfrage in beide Richtungen fruchtbar machen.
Eine Lösung kann daher lediglich im Hinblick auf zwei Aspekte erfolgen:
(1.) Für ein auf Strafe lautendes Urteil ist gesichert, dass eine Durchbre-
chung der eingetretenen materiellen Rechtskraft zugunsten des Verurteilten
bei bloßen Subsumtionsfehlern im Urteil nach geltendem Recht nicht mög-
lich ist. Gibt es bei Anordnung stationärer Maßregeln einen aus dem Zweck
der Maßregeln ableitbaren, die Differenzierung tragenden Grund, Subsum-
tionsfehler im rechtskräftigen anordnenden Urteil zuzulassen? (2.) Gebietet
die zuvor dargelegte (mittelbare) Anwendbarkeit von § 67d Abs. 6 StGB in
Fällen der auf fehlerhafter Tatsachenermittlung beruhenden Fehleinweisung
dessen Erstreckung mangels eines die mögliche Differenzierung tragenden
Grundes auch auf die Fehleinweisung wegen rechtsfehlerhafter Subsumti-
on? Beide Fragen lassen sich m.E. lediglich im Kontext der Grundlagen des
zweispurigen Sanktionensystems des StGB lösen.
Soweit sich innerhalb des zweispurigen Sanktionsystems des geltenden
Rechts überhaupt noch kategoriale Unterschiede zwischen in Grund und
Ausmaß schuldabhängiger Strafe sowie schuldindifferenter, an der zukünf-
tigen Gefährlichkeit orientierter Maßregel finden lassen,68 so liegen diese
auf der Zeitebene der jeweiligen Anordnungsvoraussetzungen. Idealisierend
und zugleich vergröbernd betrachtet knüpft die Verhängung einer Strafe an
die in der Vergangenheit liegende, im Zeitpunkt des Strafausspruchs fest-
stehende Einzeltatschuld des Täters an. Das Vorhandensein dieser Einzel-
tatschuld ist von Verfassungs wegen notwendige Bedingung der Strafe;
zugleich bildet das Schuldquantum das wesentliche Maßprinzip für Art und
Ausmaß der verhängenden Strafe. 69 Wegen der in der Vergangenheit lie-
genden, abgeschlossenen Anknüpfungstatsachen und des daraus abgeleite-
ten Schuldquantums kann die Dauer des Vollzugs im Anordnungszeitpunkt
(relativ sicher) bestimmt werden. Soweit § 46 Abs. 2 StGB bei der Strafzu-
messung im engeren Sinne Berücksichtigung der (zu erwartenden) Auswir-
kungen der Strafe auf das zukünftige Leben des Täters verlangt, ändert
dieses schwach ausgeprägte prognostische Element nichts an dem Grund-
satz, dass der Strafausspruch nach Art und Höhe im Wesentlichen auf einem
in der Vergangenheit liegenden und im Urteilszeitpunkt feststehenden tat-
sächlichen Geschehen beruht. Lediglich bei der Abkürzung der Vollzugs-
dauer durch Bewährungsaussetzung kommt erwartetes zukünftiges Täter-

68 Gewichtige Zweifel an kategorialen Unterschieden äußert H. Jung (Fn. 5), S. 35 ff; siehe
auch bereits MK-Radtke (Fn. 3), Vor §§ 38 ff Rn. 70.
69 BVerfGE 20,323,331; BVerfGE 50,205,214 f; BVerfGE 54, 100, 108; BVerfGE 96,
249; überblicksartig MK-Radtke (Fn. 3), Vor §§ 38 ff Rn. 14 f
Die Erledigungserklärung im Maßregelvollzug 711

verhalten als Entscheidungsgrundlage in Betracht (vgl. § 57 Abs. 1 S. 2


StGB).
Bei Maßregeln der Besserung und Sicherung liegt dagegen lediglich ein
Teil der Anknüpfungstatsachen der Anordnungsvoraussetzungen als in der
Vergangenheit abgeschlossen vor. Mit Unterschieden zwischen den einzel-
nen stationären Maßregeln handelt es sich bei diesen an abgeschlossene
Anknüpfungstatsachen anschließende Voraussetzungen um die Begehung
der Anlasstat, die in den Fällen der §§ 63, 64 StGB Ausdruck eines nicht
nur vorübergehend bestehenden psychischen Defekts bzw. einer Hangs zum
Rauschmittelmissbrauch oder bei § 66 StGB Symptom der Hangtätereigen-
schaft ist. Für die Sicherungsverwahrung kommen die jeweiligen formellen
Voraussetzungen (etwa § 66 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB) als auf in der Ver-
gangenheit abgeschlossene Sachverhalte bezogen hinzu. Dagegen weisen
die zukünftige Gefährlichkeit des Täters sowie das Ausmaß dieser Gefähr-
lichkeit lediglich eine schwache Rückbindung an einen in der Vergangen-
heit feststehenden Sachverhalt auf. Im Kontext der Beurteilung der zukünf-
tigen Gefährlichkeit erschöpft sich die vergangenheitsbezogene
Anknüpfung in dem Vorhandensein der Anlasstat, die insoweit lediglich ein
Indiz im Rahmen der zu treffenden Prognose ist. 70 Sieht man von den Fällen
gesetzlich festgesetzter Höchstvollzugsdauern ab, kann die zulässige und
erforderliche zeitliche Dauer des Vollzugs der Maßregel im Anordnungs-
zeitpunkt angesichts des Fehlens eines bereits im Anordnungszeitpunkt
bekannten Ausmaßes erforderlicher Gefährlichkeitsabwehr nicht von vorn-
herein festgelegt werden. Denn wie lange (prognostisch) die erhebliche
Gefährlichkeit des Täters andauert, hängt entscheidend von der zukünftigen
Entwicklung des Täters ab. An den vorstehend aufgezeigten Unterschieden
zwischen den Anknüpfungstatsachen von Schuld- und Strafausspruch einer-
seits sowie Maßregelanordnung andererseits ändern die vielfältigen Ver-
knüpfungen zwischen beiden Sanktionsarten (siehe nur § 67 Abs. 1, Abs. 2
S. 1, Abs.4 StGB)71 nichts. Die Bedeutung der in der Vergangenheit lie-
genden Straftat erschöpft sich für die staatliche Reaktion in Gestalt einer
Maßregel im Kern darauf, den Anlass fur das staatliche Eingreifen zu bil-
den. 72 Zugleich fungiert die Anlasstat noch als Anknüpfungstatsache im
Rahmen der Prognose über die zukünftige Gefährlichkeit des betroffenen
Täters (Symptomtat). Das Ziel der Verhängung der Maßregel sowie deren
Vollzugs ist aber die Abwehr der dem Täter im Rahmen der Prognoseent-
scheidung zugeschriebenen, auch künftig erwarteten Gefährlichkeit, die in

70 Berg/Wiedner (Fn. 12),438.


71 Näher H. Jung (Fn. 5), S. 35 ff.~ Meier (Fn. 1), S. 319-325~ MK-AJaier (Fn. 3), § 67
Rn. 3-5~ MK-Radtke (Fn. 3), Vor §§ 38 ff. Rn. 70 m.w.N.
72 Insoweit zutretfend Berg/Wiedner (Fn. 12), 438.
712 Henning Radtke

der Wahrscheinlichkeit der Begehung weiterer erheblicher Straftaten Aus-


druck findet. Stützt man die verfassungsrechtliche Legitimität von Maßre-
geln als schuldindifferente staatliche Reaktion auf die Begehung von Straf-
ten zur Abwendung einer von dem Täter zukünftig ausgehenden
Gefährlichkeit und damit letztlich auf das Prinzip des überwiegenden Inte-
resses,73 so kann der intensive Eingriff in die Grundrechte des Täters aus
Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 S. 2 GG auf dieser Grundlage nur so lange berech-
tigt sein, wie die Voraussetzungen, unter denen das einfache Gesetzesrecht
ein Überwiegen von Allgemeininteressen annimmt, vorliegen. Da außer den
Konstellationen der Höchstfrist die Dauer des Vollzugs von Maßregeln
nicht in deren Anordnungszeitpunkt festgelegt wird, bedarf es eines Rechts-
instituts, mittels dessen über das Fortdauern der Anordnungsvoraussetzun-
gen entschieden und für deren Wegfall das Ende des Vollzugs bestimmt
werden kann. Dieses Institut ist die maßregelvollzugsrechtliche Erledi-
gungserklärung. Berücksichtigt man den auf die Abwehr zukünftiger Ge-
fährlichkeit ausgerichteten Zweck der Maßregeln und die nur schwach aus-
geprägte Rückbindung ihrer Anwendungsvoraussetzungen an einen in der
Vergangenheit abgeschlossenen Vorgang, so bestehen an sich genügende
Unterschiede zu der Situation eines auf Strafe lautenden Urteils, das allein
Grund und Maß der Strafe weitestgehend an dem in der Vergangenheit
verwirklichten Schuldquantum zu orientieren hat. Nur geht es in den hier
fraglichen Konstellationen gerade nicht um die für die Maßregel charakte-
ristische Abhängigkeit ihrer Anordnungsvoraussetzzungen von den jeweils
aktuellen tatsächlichen Umständen, sondern um einen Rechtsfehler des
Tatrichters bei der Anwendung der Maßregelvoraussetzungen auf einen
zutreffend festgestellten, ausschließlich in der Vergangenheit liegenden
Sachverhalt. Insoweit bestehen keinerlei Unterschiede zu einer rechtsfehler-
haften Subsumtion durch das Tatgericht bei einelTI auf Strafe lautenden
Urteil. Es bleibt damit allein die Frage, ob es einen verfassungsrechtlich
tragfähigen Grund gibt, Fälle der auf tatsächlichen Fehlern oder auf Rechts-
fehlern beruhenden Fehleinweisungen sub specie Erledigungserklärung
unterschiedlich zu behandeln. Das BVerfG scheint einen solchen Grund
gesehen zu haben, indem es die differenzierende Auslegung des § 67d
Abs.6 StGB durch das OLG Frankfurt gebilligt hat. 74 Ein solcher Grund
lässt sich jedenfalls dann annehmen, wenn noch einmal die Situation eines
rechtskräftig, aber rechtsfehlerhaft zu Strafe Verurteilten mit in die Erwä-
gungen einbezogen wird. Diesem mutet die Rechtsgemeinschaft den weite-

73 Zum Diskussionstand Frisch ZStW 102 (1990), 343, 364 ff.; Meier (Fn. 1), S. 236 f.;
Streng (Fn. 5), Rn. 281-283; MK-Van Gemmeren (Fn. 3), § 61 Rn. 2; MK-Radtke (Fn. 3), Vor
§§ 38 ff. Rn. 68.
74 BVerfGE NStZ-RR 2007,29.
Die Erledigungserklärung im Maßregelvollzug 713

ren Vollzug der Strafe zu. Denn das Wiederaufnahmeverfahren steht nicht
zur Verfügung, so dass prozedural betrachtet schon gar kein Verfahren zur
Verrugung steht, in dem die fehlerhafte Subsumtion durch den Tatrichter
nach Rechtskraft des Urteils überprüft werden kann. Im Fall der allein auf
fehlerhafter Subsumtion beruhenden Maßregelanordnung verhält es sich
insoweit anders, als das Gebot der (permanenten oder wenigstens periodi-
schen) Überprüfung der Vollzugsvoraussetzungen ein prozedurales Instru-
ment selbst für die erneute Prüfung der möglichen Fehlerhaftigkeit der
Maßregel bereit hält. Das allein dürfte jedoch ohne eine eindeutige Rege-
lung des Gesetzes, die § 67d Abs. 6 StGB nicht ist, nicht ausreichen, um
eine Korrektur von Subsumtionsfehlern bei auf Strafe lautenden Urteilen
auszuschließen, sie bei Maßregeln anordnenden Urteilen aber zu gestatten.
Unter der - prozedural betrachtet eben gerade nicht gesicherten - Prämisse
des feststehenden Subsumtionsfehlers wird dem zu Strafe Verurteilten zu-
gunsten der Rechtssicherheit ein Sonderopfer auferlegt, das sich nicht von
dem des mit einer Maßregel Belegten unterscheidet. Wenn der Gesetzgeber
rur die Fehleinweisung aufgrund von Rechtsfehlern bei § 63 StGB die Be-
endigung des Vollzugs durch Erledigungserklärung nach § 67d Abs. 6 StGB
gestatten will, bedarf es dafür einer Klarstellung im Gesetz. Bevor ein sol-
cher Schritt gegangen wird, sollte der Gesetzgeber jedoch erwägen, ob es
rur den relevanten Kontext verfassungsrechtlich ausreichend tragfähige
Gründe rur eine Differenzierung zwischen den aufgrund bloßer Subsumti-
onsfehlern schuldig Gesprochenen und zu Strafe Verurteilten sowie den mit
einer Maßregel Belegten im Sinne der hier aufgeworfenen Fragen gibt.
Die Sünden der Rechtspolitik bei den Änderungen
des Rechts der Sicherungsverwahrung ohne
Rücksicht auf kriminologische Erkenntnisse

AXEL BOETTICHER

I. Einleitung
In seinem Beitrag in der Zeitschrift rur die gesamte Strafrechtswissen-
schaft (ZStW) aus 1982 1 fiel bei Heinz Schöch, damals Professor in Göttin-
gen und Vertreter der modemen Kriminologie, die kriminologische Würdi-
gung des gerade gefeierten 100. Geburtstags des Marburger Programms und
des großen Franz von Liszt eher "reserviert" aus. In dem Beitrag wandte
sich Schöch insbesondere energisch gegen Franz von Liszt scheinrationalis-
tische Einteilung in "Gelegenheitstäter" und "unverbesserlichen Gewohn-
heitsverbrecher." Er war auch nicht einverstanden mit dem wenig tragfähi-
gen Verweis auf die anthropologischen Forschungsergebnisse von
Lombroso und Ferri und stritt gegen die sozialdarwinistische Konzeption
von Liszts und dessen Wiener Lehrer Wahlberg, den Erfinder des auch heute
noch in § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB verwendeten Begriffs des "Hanges." Heinz
Schöch war damals voller Hoffnung, dass insbesondere der Typus des "un-
verbesserlichen Gewohnheitsverbrechers", wie er im Gewohnheitsverbre-
chergesetz vom 24. November 1933 erstmals gesetzlich festgeschrieben
wurde, im neuen Strafrecht nach dem Krieg nie mehr zum Gegenstand kri-
minologisch fundierter Sanktionspolitik gemacht werden würde. 1982 konn-
te Heinz Schöch vermelden, dass die Sicherungsverwahrung, die an die
Stelle der von Franz von Liszt propagierten "Strafknechtschaft auf unbe-
stimmte Zeit" getreten war, vor allem unter dem Einfluss kriminologischer
Forschungsergebnisse so stark zurückgedrängt worden war, dass sie 1980
nur 41 mal verhängt worden war. Die Zahl der Sicherungsverwahrten war
tatsächlich im Jahr 1980 auf nur noch 208 Gefangene zurückgegangen.
Heinz Schöch widersprach Franz von Liszt deshalb auch insoweit vehement,
als dieser bei Rückfalltätern "Besserung im Sinne ....der Anpassung an die
Forderungen des gesellschaftlichen Lebens" ausgeschlossen sah, "wenn der

1 Schöch ZStW 94 (1982), 864 ff.


716 Axel Boetticher

Verbrecher das 21. Lebensjahr bei Begehung der Tat überschritten" habe. 2
Heinz Schächs Vision war damals, dass es weder möglich noch in Zukunft
zu erwarten sei, dass die kriminologische Prognoseforschung Verfahren zur
Verfügung stellen würde, die das Stigma der Unverbesserlichkeit rechtferti-
gen würden. 3 Wolfgang Naucke war da in seinem Beitrag in der ZStW zur
Kriminalpolitik des Marburger Programms pessimistischer: 4 "Nur in eini-
germaßen ruhigen Zeiten finden sich Gelegenheitstäter und Gewohnheitstä-
ter, verbesserliche und unverbesserliche Täter nebeneinander. In unruhigen,
politisch und militärisch bewegten Zeiten herrscht der Unverbesserliche
vor. In diesen Zeiten ist jeder Abweichende ein potentieller unverbesserli-
cher Täter"!

11. Freiheit und Sicherheit kämpfen ständig um ihre Positionen 5


1. Die heutigen unruhigen Zeiten
Nun haben wir doch wieder die von Naucke prophezeiten politischen und
wirtschaftlich unruhigen Zeiten. Diese sind jedoch insoweit anders als 1982,
als wir heute eine Medienwelt haben, in der sich Sex and Crime genauso gut
verkaufen lassen wie die Trauer und Wut der Opfer und der Angehörigen
nach einern Verbrechen. BILD als eine der einflussreichsten Medien ist in
der Lage, einen solchen Druck auf die Rechts- und Sicherheitspolitik erzeu-
gen, dass es gerade auf dem Gebiet der Gewalt- und Sexualstraftaten zu
Überreaktionen und irrationalen Entscheidungen kommt. So gibt es wieder
Mehrheiten, die als Reaktion auf spektakuläre Einzelfälle von Sexual-
verbrechen an Frauen und Kindern auf Sanktionsformen zurückgreifen, die
wir aus kriminologisch-historischer Sicht als rassisch motivierte, angeblich
von der Volksgemeinschaft gewollte Vergeltungsstrafe im Übermaß bewer-
tet haben und die wir hinter uns gelassen zu haben glaubten. Wozu eine
mediale Beeinflussung fuhren kann, haben wir am 8. Februar 2004 in der
Schweiz erlebt. Dort haben die Bürger in einer Volksabstimmung, die auf
die "Volksinitiative Lebenslange Verwahrung" zurückgeht, mit 56 % gegen
44 % eine Änderung der Bundesverfassung beschlossen. Art. 123a der Bun-
desverfassung lautet jetzt: "Wird ein Sexual- oder Gewaltstraftäter in den
Gutachten, die für das Gerichtsurteil nötig sind, als extrem gefährlich erach-

2Schäch (Fn. 1), 874.


3 Schäch (Fn. 1), 874.
4 Naucke ZStW 94 (1982),525,561.
5 MankeIl Der Chinese, 2008, S. 393: "In allen offenen Gesellschaftsformen kann man sich
schwer für die Sicherheit eines Menschen verbürgen. In allen Gesellschaften zahlt man einen
Preis. Freiheit und Sicherheit kämpfen ständig um ihre Positionen."
Die Sünden der Rechtspolitik 717

tet und nicht therapierbar eingestuft, ist er wegen des hohen Rückfallrisikos
bis an sein Lebensende zu verwahren. Frühzeitige Entlassung und Haftur-
laub sind ausgeschlossen." In Polen wurde es gerade beschlossen, in Frank-
reich heftig debattiert, dass Richter gegen Sexualstraftäter nach Verbüßung
einer Strafe die "chemische Zwangskastration" anordnen dürfen sollen.

2. Der Paradigmenwechsel in der Kriminalpolitik


Auch wir in Deutschland haben seit 1996 einen stabilen Paradigmen-
wechsel in der Kriminalpolitik, hin zu höheren Strafen und zu dauernder
Verwahrung von - nach Meinung der Medien - "tickenden Zeitbomben"
oder "fetten Bestien." Entgegen allen empirischen Erkenntnissen haben
Einzelfälle, nicht eine veränderte Sicherheitslage, zu einer Vielzahl von
Gesetzesänderungen im Recht der Sicherungsverwahrung sowie zu Ände-
rungen bei den Vorschriften über die Entlassung aus dem Straf- und Maßre-
gelvollzug geführt. Das liberale "Schuldstrafrecht," das gewährleistet, dass
ein Strafverfahren mit einer für den Verurteilten vorhersehbaren Strafe
endet und so die staatliche Macht begrenzt, das über das Rechtsstaatsprinzip
Teil der "Menschenwürde" ist und dem nach der Rechtsprechung des Bun-
desverfassungsgerichts verfassungsrechtlicher Rang zukommt, 6 weicht
immer mehr einem präventiven Strafrecht mit "weichen" und u. U. ein
Leben lang andauernden Maßregeln. Auch das Konzept für den gegenüber
dem Maßregelvollzug mit seinen differenzierten therapeutischen Angeboten
dramatisch schlechter dastehenden Strafvollzug ist verändert worden. Was
im Strafvollzug - meistens aus Kostengründen - nicht angeboten wird, soll
nunmehr nach Vollverbüßung durch die neue präventive Maßregel der Füh-
rungsaufsicht aufgefangen werden. Die Hauptsache ist, die Verantwortung
kann weitergegeben werden an polizei-präventive Überwachungsprogram-
me wie "HEADS", "ZÜRS" oder "KURS."
Heinz Schäch konnte sich in seiner Prognose von 1982 bestätigt fühlen,
als wir zunächst im Jahr 1996 mit 176 sogar den tiefsten Stand an Siche-
rungsverwahrten hatten und in der politischen Debatte sogar über die Ab-
schaffung der Sicherungsverwahrung gestritten wurde. Spätestens seit dem
Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen schweren Strafta-
ten vom 26. Januar 1998 7 stieg die Zahl der Sicherungsverwahrten ständig
an. Im Jahr 2008 waren es 448, am 31. August 2009 sogar schon 500 Siche-
rungsverwahrte. 8 Seit dem 12. Juli 2008 9 können nun auch nach Jugend-

6 BVerfGE 20, 323, 331.


7 BOBL I, S. 106.
8 Telefonische Vorabmitteilung des Statistischen Bundesamtes zur Reihe Rechtspflege
Fachserie 10.Reihe 4.1 für 2009.
718 Axel Boetticher

strafrecht Verurteilte mit schlechter Entlassungsprognose in die nachträgli-


che Sicherungsverwahrung genommen werden. Immer neue Vorschriften
zur "Schließung von Schutzlücken" sind bereits angekündigt, mit denen die
Sicherungsverwahrung, die eigentlich "ultima ratio" der Kriminalpolitik
sein sollte, weiter ausgeweitet wird. Das scheint alles nach dem Motto zu
funktionieren "Jeder gemeingefährliche Mensch ist im Interesse der Ge-
samtheit so lange als nötig unschädlich zu machen." 10

3. Niemand wehrt sich!


Warum konnten die Kriminalwissenschaftler und die Kriminologen wie
Heinz Schöch mit empirischen Zahlen und kriminologischen Erkenntnissen
diesen für das gesamte Strafrecht und den Strafvollzug verheerende Ent-
wicklung nicht aufhalten? Warum finden sie bei den Justizministern der
Länder und den Abgeordneten des deutschen Bundestages kein Gehör?
Woher kommt das? Warum wehrt sich niemand gegen das Wegsperren für
immer? Eine Erklärung könnte sein: Die Gesellschaft verzichtet - wie schon
nach der Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 - zu Gunsten ihrer bürgerli-
chen Sicherheit lieber auf einen Teil ihrer Freiheiten. Heute sind dies: Angst
vor Terrorismus, Angst vor Ausgrenzung durch Verlust des Arbeitsplatzes,
durch soziale Isolierung und Armut. Das alles ist nicht neu: Schon in der
französischen Revolution war eines der ersten Gesetze zur Sicherung der
neu gewonnen Bürgerfreiheit das sog. "Verdächtigengesetz vom 17. Sep-
tember 1793. Freiheit und Brüderlichkeit blieben bei diesem Gesetz auf der
Strecke. Heinz Schöch hat sich durch engagierte Beiträge in Vorträgen und
in Zeitschriften, in seinen Vorlesungen und in Anhörungen ständig gegen
die "Renaissance der Sicherungsverwahrung" zur Wehr gesetzt und sich
interdisziplinär maßgeblich an der Erarbeitung von Mindestanforderungen
für forensische Schuldfähigkeits- und Prognosegutachten beteiligt. 11

111. Die sieben Sünden der Rechtspolitik


Wie bei allen folgenden Einzelgesetzen war es der Einzelfall des Armin
S., der in Bayern öffentliche Proteste über den Umgang mit Sexualstraftä-
tern hervorrief. Dieser war wegen sexuellen Missbrauchs zu einer zeitigen

9 Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach


Jugendstrafrecht vom 8. Juli 2008, BGBI I, S. 1212.
10 Naucke (Fn. 4), 540 unter Hinweis auf Fran= von Lis=t Strafrechtliche Aufsätze und Vor-
träge, 2. Bd., 1905, S. 79.
11 BoetticherlNedopillBosinskilSaß NStZ 2005, 5 ff.; BoetticherIKröberIMüller-lsber-
nerIBöhmIMüller-Met=IWoljNStZ 2006, 537 tI
Die Sünden der Rechtspolitik 719

Freiheitsstrafe verurteilt, im Vollstreckungsverfahren nicht ausreichend


behandelt und nachgehend nicht ausreichend betreut worden und hatte kurz
nach seiner Entlassung am 20. September 1996 im bayerischen Epfach die
11jährigen Natalie A. missbraucht und anschließend getötet. Der Fall wurde
durch Medien wie BILD zu einem Szenario verallgemeinert, der die Quali-
tät einer ständigen Bedrohung durch den Terrorismus gleichgestellt wurde.

1. Die generelle Ausweitung des Anwendungsbereichs der


Sicherungsverwahrung
Anstatt mit gut ausgebildetem Personal und neuen Strategien die im ge-
samten Ablauf des Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahrens festgestellten
Mängel zu beheben, reagierte der Freistaat Bayern mit der symbolträchtigen
Bundesratsinitiative vom 19. November 1996. 12 Bayern wollte seine Hand-
lungsfahigkeit auf diese Weise unter Beweis stellen und forderte, dass die
Sicherungsverwahrung nicht mehr die letzte Notmaßnahme sein, sondern in
die Mitte der Kriminalpolitik rücken sollte. Die Sicherungsverwahrung sei
"vielfach auch die einzige Erfolg versprechende Möglichkeit, einen gefahr-
lichen Täter, der im Zustand der Schuldfahigkeit gehandelt hat, nach Ver-
büßung der Strafe hinreichend unter Kontrolle zu halten." Bayern hatte
Erfolg, weil es bis auf wenige Kriminalwissenschaftler und Praktiker bei
den verantwortlichen Rechtspolitikern keinen Widerstand gegen die vorher-
sehbare Veränderung des Schuldstrafrechts gab. Im Gegenteil, im parlamen-
tarischen Verfahren kam es im nächtlichen Vermittlungsverfahren sogar
dazu, dass der neue § 66 Abs. 3 StGB i.d.F. des Gesetzes vom 26. Januar
1998, der sich eigentlich gegen besondere Anlasstaten, nämlich gegen
schwere Sexualdelikte richten sollte, im Handstreich auf alle Verbrechen 13
anwendbar sein sollte. Nach § 66 Abs. 3 S. 2 ist die Anordnung der Siche-
rungsverwahrung nunmehr auch bei erstmaliger Verurteilung erlaubt:
"Hat jemand zwei Straftaten der in Satz 1 bezeichneten Art begangen,
durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt
hat und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu zeitiger Frei-
heitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht un-

12 BR-Drs. 876/96.
13 § 66 Abs. 3 S. 1 lautet: "Wird jemand wegen eines Verbrechens oder wegen einer Straftat
nach den §§ 174 bis 174c, 176, 179 Abs. 1 bis 3, §§ 180, 182,224,225 Abs. 1 oder 2 oder
nach § 323a, soweit die im Rausch begangene Tat ein Verbrechen oder eine der vorgenannten
rechtswidrigen Taten ist, zu zeitiger Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so
kann das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnen, wenn der Täter wegen
einer oder mehrerer solcher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon einmal zu
Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist und die in Absatz 1 Nr. 2 und 3
genannten Voraussetzungen erfüllt sind."
720 Axel Boetticher

ter den in Absatz 1 Nr. 3 bezeichneten Voraussetzungen neben der Strafe


die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheits-
entziehung (Absatz 1 Nr. 1 und 2) anordnen."
Selbst bei zwei kurz hintereinander verübten Taten ist somit die Anord-
nung der Sicherungsverwahrung möglich. Nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs kann dies sogar dann der Fall sein, wenn bei einer Ge-
samtstrafe nur eine davon eine Sexualstraftat ist. Diese nochmalige Erweite-
rung des Anwendungsbereichs hat Heinz Schöch heftig kritisiert,14 Diese
neue Regelung war der Aufbruch zu künftigen Ersttäter-Regelungen. Der
Gesetzgeber war damit bereit, über das Gewohnheitsverbrechergesetz vom
24. November 1933 hinauszugehen. Eine dem Übermaßverbot widerspre-
chende Ausweitung des Anwendungsbereichs der Sicherungsverwahrung
nahm ihren Anfang. In der täglichen Betreuungspraxis für Gewalt- und
Sexualstraftätern und deren ambulanter Nachsorge änderte sich zunächst
wenig.

2. Die Enttäuschung des Vertrauens aufEntlassung aus der


Sicherungsverwahrung nach zehn Jahren
Der Gesetzgeber hob darüber hinaus mit dem Gesetz vom 26. Januar 1998
und der dortigen Änderung des § 67d Abs. 3 StGB die zeitliche Befristung
der ersten Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre auf. Der Zweite Senat des
Bundesverfassungsgerichts segnete dies mit seinem Urteil vom 5. Februar
2004 15 ab. Er hat aber auch denjenigen die Hoffnung auf ein absehbares
Ende der gegen sie verhängten Freiheitsstrafe und einer höchstens auf zehn
Jahre begrenzten Sicherungsverwahrung genommen, die in einem früheren
Urteil zu einer aus einer Straftat herrührenden Strafe mit anschließender
Sicherungsverwahrung verurteilt worden waren. Mit der Begründung, die
Sicherungsverwahrung diene im Gegensatz zur Strafe nicht dem Zweck,
begangenes Unrecht zu sühnen, sondern dazu, die Allgemeinheit vor dem
Täter zu schützen, meint der Zweite Senat, die Sicherungsverwahrung habe
keinen Strafcharakter. Nicht die Schuld, sondern die in der Tat zutage getre-
tene Gefährlichkeit sei bestimmend für die Anordnung, Ausgestaltung und
zeitliche Dauer der Maßregel. Die Maßregel sei eine Maßnahme, die Gefah-
ren vorbeuge und in die Zukunft wirken solle. Die Sicherungsverwahrung
werde in einem strafgerichtlichen Urteil zugleich mit der Strafe wegen der
Anlasstat verhängt. Sie knüpfe ebenso wie die Freiheitsstrafe an eine
rechtswidrige und schuldhafte Anlasstat an. Diese Verknüpfung verleihe der

14 Schöch NStZ 2000, 138 Anm. zu BGH Urt. vom 14.07.1999 - 3 StR 209/99 -, NJW
1999,3723.
15 BVerfGE 109, 133 = NJW 2004,739 ff.
Die Sünden der Rechtspolitik 721

Sicherungsverwahrung aber keinen Strafcharakter. Das überzeugt nicht und


hat grundsätzliche Zweifel an der Entscheidung des Bundesverfassungsge-
richts hervorgerufen. Mit der neuen Fassung des § 67d Abs. 3 StGB muss
der Verurteilte noch am letzten Tag nach langjähriger Haft befiirchten, dass
die einst im Strafurteil rechtskräftig vorgenommene Begrenzung der Frei-
heitsentziehung fur "unverbindlich" erklärt wird. Zweifel an dieser rück-
wirkend geänderten deutschen Rechtslage hat offensichtlich auch der Euro-
päische Gerichtshof für Menschenrechte, der in einer Kammerentscheidung
vom 17. Dezember 2009 (Beschwerde Nr. 19359/04) die Bundesrepublik
Deutschlands zu Schadensersatz verurteilt hat 16 . Der Gerichtshof hat gerügt,
dass es nach der gesetzlichen Neuregelung von 1998 keine Höchstdauer
mehr für die Sicherungsverwahrung gibt und dass die Bedingung für ihre
Aussetzung zur Bewährung - nämlich, dass vom Straftäter keine Gefahr
mehr ausgehen darf - schwer zu erfüllen ist. Mithin handelt es sich um eine
der härtesten Maßnahmen, die nach dem StGB angewendet werden können.
Der Gerichtshof schlussfolgerte, dass es sich bei der Sicherungsverwahrung
eben doch um eine Strafe im Sinne von Artikel 7 Abs. 1 EMRK handelt.
Warum hatte niemand in Deutschland auf die zahlreichen Warnungen vor
einem solchen Spruch aus Strassburg gehört? Die Bundesrepublik hatte
versucht, die Sache zu retten gegen diese Entscheidung der Kammer Be-
schwerde zur Großen Kammer eingelegt. 17 Der sog. "Fünfer-Ausschuss"
der Großen Kammer hat am 10. Mai 2010 den Antrag der Bundesrepublik
auf Vorlage der Sache an die Große Kammer erwartungsgemäß zurückge-
wiesen, so dass die Verurteilung Deutschlands jetzt rechtskräftig ist. 18

3. Die Angst der Rechtspolitiker vor dem Restrisiko


Es war jene Angst vor dem Druck von Vereinfachern wie der BILD-
Zeitung und dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder, die einen
offenen und ehrlichen Dialog mit den Bürgern verhinderte. Die Bürger
wurden nicht aufgeklärt, dass die bisherigen gesetzlichen Regelungen aus-
reichen, dass es beim Einsatz von Therapien durchaus Erfolge gibt und dass
jede Entlassung aus dem Strafvollzug professionell vorbereitet und der
Entlassene nachgehend ambulant betreut werden muss. Das unterblieb, denn
dafür hätten ja im Straf- und Maßregelvollzug die notwendigen personellen
und sächlichen Mittel bereitgestellt und die ambulanten Nachsorge ausge-
baut werden müssen. Dann hätte man das mit jeder Entlassung - ob bei
Lockerungen, bei der Entlassung zur Bewährung oder nach Ende der Strafe
- vorhandene Restrisiko auf ein geringeres Maß zurückzuführen können.

16 EGMR file:///C:/DOKUME-I/AXELBE-l/LOKALE-l/Temp/view.htm.
17 https://ssl.bmj.de/enid//Pressestelle/Pressemitteilungen_58.html.
18 Pressemitteilung des EGMR Nr. 382 vom 11. Mai 2010.
722 Axel Boetticher

Solche Anstrengungen hätte man aber vor allem damit erklären müssen,
dass eine Gesellschaft nicht jeden Täter auf Dauer wegsperren kann und
eine gelungene Resozialisierung der beste Opferschutz ist.
Es war wiederum ein Einzelfall, der die Mehrheit der Abgeordneten weg-
schauen ließ. Diesmal war es der Fall Martin P., der iIn April 2004 gerade
entlassen worden war und in München einen Sexualrnord an einem Kind
beging. Obwohl die Anwendung der Sicherungsverwahrung seit 1998 schon
dreimal erleichtert worden war, wurde von Bayern aus nach dem neuen
Instrument der bundesweit geltenden nachträglichen Sicherungsverwahrung
gerufen. Dafür machte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom
10. Februar 2004 19 den Weg frei. Der Zweite Senat hatte zwar den "Auf-
trag" gegeben, zu prüfen, "ob und in inwieweit Anlass zu gesetzgeberischen
Einschreiten besteht." Eine Analyse der Lage durch den Gesetzgeber erfolg-
te nicht. Im Gegenteil. In den weiteren Urteilsgründen wurde der Gesetzge-
ber geradezu ennuntert, die nachträgliche Sicherungsverwahrung einzufüh-
ren, da diese ja "nur" eine präventive Maßregel und keine (zusätzliche)
Strafe sei. Bei der Abwägung zwischen den Interessen der Allgemeinheit
müsse das Freiheitsgrundrecht des Einzelnen "im Einzelfall" zurücktreten.
Die Rechtspolitiker nahmen ohne nähere Prüfung ein Gesetz hin, das im
Bundesjustizministerium innerhalb von nur zehn Tagen nach den Leitlinien
der Entscheidung entwickelt wurde. Später stellte sich das Gesetz in der
Praxis als ein in sich nicht stimmiges, teilweise widersprüchliches, immer
wieder neue Lücken aufreißendes Instrument heraus.
Vergeblich hatte der Kriminologe Jörg Kinzig in der Anhörung vor dem
Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages vom 5. Mai 2004 20 zum wie-
derholten Male ausgeführt, dass die vierte Ausweitung in Fonn der isolier-
ten nachträglichen Sicherungsverwahrung sich kriminalpolitisch nur dann
begründen lasse, wenn in den letzten Jahren ein Anstieg schwerer Strafta-
ten, insbesondere von die Bevölkerung besonders bewegender Sexualstraf-
taten, zu verzeichnen gewesen wäre. Dies war nicht der Fall. Die Häufig-
keitszahl, d.h. die Zahl der bekannt gewordenen Fälle auf 100.000
Einwohner, war im Jahr 1975 für alle Sexualstraftaten, fur den sexuellen
Missbrauch, fur die Vergewaltigung bzw. sexuelle Nötigung wie auch fur
den Sexualrnord (zum Teil deutlich) höher als im Jahr 2002. Es hörte ihm
aber niemand zu!

19 BVerfGE 109, 190, Rn. 167.


20 Vgl. Kinzig Schriftliche Stellungnahme für die öffentliche Anhörung des Rechtsaus-
schusses des Deutschen Bundestages am 5. Mai 2004, unter Verwendung der Zahlen aus der
PKS.
Die Sünden der Rechtspolitik 723

4. Das Wegschauen vor den Folgen


Die Auswirkungen allein der nachträglichen Sicherungsverwahrung sind
verheerend. Keiner der Abgeordneten wollte in BILD stehen, keiner hat sich
die Folgen einer solchen Gesetzgebung überlegt. Dabei hatten Arthur
Kreuzer 21 und Thomas Ullenbruch 22 konkrete Schätzungen vorgelegt. Aus-
gehend von den Bestandszahlen in Strafanstalten ist mit etwa 7000-10000
betroffenen Gefangenen ("f.V.nSV") im Erwachsenen-Strafvollzug zu
rechnen (alle Erst- oder Mehrfachbestraften, die wegen Katalogtaten zu
mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt sind, einschließlich der zu
lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten, 23 zuzüglich entsprechender Verur-
teilter in der Unterbringung nach § 63 und § 64 StGB, ferner diejenigen,
welche die Voraussetzungen nach § 66b Abs. 1 StGB erfüllen). Das ist etwa
jeder siebte bis zehnte Strafgefangene. In Langstrafanstalten kann es jeder
zweite bis dritte sein. Davon dürften vielleicht 10 bis lnaximal 50 später
tatsächlich bei der zu erwartenden strengen Prüfung durch die Gerichte in
die nachträgliche Sicherungsverwahrung gelangen, also weniger als 1%,
d.h. über 99% werden letztlich unnötig erfasst und entsprechend im Straf-
vollzug gehandhabt, was das Missverhältnis verdeutlicht, aber auch den
bürokratischen Mehr- und Fehlaufwand. Aber niemand hörte den beiden zu!

5. Der zweifelhafte Un1gang mit Prognosegutachten


Rechtspolitiker haben wegen des bestehenden Restrisikos beim Umgang
mit Sexualstraftätern seit jeher Angst vor Irrtümern und darauf beruhenden
unvermeidlichen Rückfällen bei Lockerungen und vorzeitiger Entlassung
aus dem Straf- und Maßregelvollzug. Deshalb bewegen wir uns seit 1998
im Straf- und Maßregelvollzug ün Zirkel: Vorzeitige Entlassungen können
mit Rücksicht auf die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit nicht gewährt
werden, wenn es im Strafvollzug vorher keine ausreichende oder gar keine
Behandlung und auch keine Lockerungen gegeben hat. Lockerungen aber
werden, wiederum gestützt auf diese Klausel, regelmäßig nicht gewährt.
Was bleibt, ist die Entlassung nach Vollverbüßung zum Ende der Strafzeit!
Dieser Zirkel spiegelt sich wider bei der Anzahl der Lockerungen im Para-
destück des Strafvollzuges, den Sozialtherapeutischen Anstalten
(SOTHAS). Die jährliche Stichtagserhebung der Kriminologischen Zentral-
stelle Wiesbaden hat zum 31. März 2009 24 ermittelt: von 1.814 Inhaftierten,
von denen über 50 % Sexualstraftäter sind, erhalten 79,9 % keine Locke-

21 Kreutzer BewHi 2006, 195,207.


22 Ullenbruch NStZ 2007,62, 70.
23 Ausführlich zu den Auswirkungen auf den Strafvollzug Bartsch StV 2009, 54 ff.
24 http://www.krimz.de.
724 Axel Boetticher

rungen. Was nützt eine Sozialtherapie, die in den Maßnahmen der Locke-
rungen nicht ausprobiert wird? Wie will man diese Männer ohne Lockerun-
gen entlassen?
Ihr eigenes Risiko versuchen die Rechtspolitiker durch die Anordnung auf
Einholung von immer mehr Prognose-Gutachten zu verringern. Dabei miss-
trauen sie eigentlich den Sachverständigen (Gerhard Schröder sprach ver-
ächtlich von den Kartellen der Gutachter). Schätzungen zufolge hat sich der
Bedarf an Prognose-Gutachten insgesamt verzehnfacht. So viele Gutachter,
die rur jedes Verfahrensstadium ein schnelles, kostengünstiges und richtiges
Gutachten erstellen, gibt es aber gar nicht. Im Gegenteil, an den Universitä-
ten werden die notwendigen Lehrstühle, die zur Aus- und Fortbildung drin-
gend benötigt werden, abgebaut, weil Prognoseforschung Sache der Justiz
ist.
Auch bei den Gutachtern ist der öffentliche Druck gewachsen. Aus der
Sicht der Rechtspolitiker und der Öffentlichkeit ist ein gutes Gutachten
jenes, das eine Entlassung des Verurteilten ablehnt. Stellt ein Gutachter eine
positive Prognose, wird der Verurteilte entlassen und begeht eine neue Tat,
rufen Rechts- und Sicherheitspolitiker sofort nach schwarzen Listen für
Gutachter und nach Ausschluss von weiteren Gutachtenaufträgen.
Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 5. Febru-
ar 2004 25 den Rechtspolitikern den Maßstab für gesetzliche Maßnahmen für
die Entlassung aus der Sicherungsverwahrung und die Anordnung der nach-
träglichen Sicherungsverwahrung auf den Weg mitgegeben: "Die Unsicher-
heiten der Prognose, die Grundlage der Unterbringung ist, haben Auswir-
kungen auf die Mindestanforderungen an Prognosegutachten und deren
Bewertung im Zusammenhang mit dem Übermaßverbot, beseitigen aber
weder die Eignung noch die Erforderlichkeit des Freiheitseingriffs. Progno-
seentscheidungen bergen stets das Risiko der Fehlprognose, sind im Recht
aber gleichwohl unumgänglich. Die Prognose ist und bleibt als Grundlage
jeder Gefahrenabwehr unverzichtbar, mag sie auch im Einzelfall unzuläng-
lich sein (Rn. 101) ... Die Qualität der Prognose hängt entscheidend von der
Breite der Prognosegrundlage ab. Die Prognose verliert an Plausibilität,
wenn sie nur einen schmalen Ausschnitt der Wirklichkeit zur Grundlage
macht" (Rn. 197). Der Zweite Senat hat auch bis in Einzelne gehende Vor-
gaben rur die Qualität forensischer Gutachten aufgestellt: "Neben dem Ge-
bot der Transparenz gilt für das psychiatrische Prognosegutachten das Ge-
bot hinreichend breiter Prognosebasis. Um dem Gericht eine Gesamt-
würdigung von Tat und Täter (vgl. § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB) zu ermöglichen,
muss das Gutachten verschiedene Hauptbereiche aus dem Lebenslängs- und
-querschnitt des Verurteilten betrachten. Zu fordern ist insbesondere eine

25 BVerfGE 109, 133 ff.


Die Sünden der Rechtspolitik 725

Auseinandersetzung mit dem Anlassdelikt, der prädeliktischen Persönlich-


keit, der postdeliktischen Persönlichkeitsentwicklung sowie dem sozialen
Empfangsraum des Täters" (Rn. 202).
An diese Vorgaben haben sich die verantwortlichen Rechtspolitiker aber
nicht gehalten. Im Gegenteil, mit ihren Ersttäterregelungen haben sie in den
letzten Jahren alles getan, um die eingeforderte notwendige Tatsachen-
grundlage für Prognosen zu verschlechtern. Der forensische Psychiater und
häufige Gutachter in spektakulären Prozessen um Sexualdelikte Norbert
Leygrafhatte in einer Anhörung deutlich gesagt,26 dass man bei einem Erst-
täter kaum prognostizieren könne, dass er "mit hoher Wahrscheinlichkeit"
erneut schwerwiegend straffällig werde, jedenfalls dann, wenn sich die
Gefährlichkeit nicht aus einer erheblichen und dann auch schuldfähigkeits-
relevanten psychiatrischen Erkrankung oder Störung ableiten lasse. Aber
niemand hörte ihm zu! Stattdessen gab es immer neue Ersttäterregelungen
in § 66b Abs. 2 StGB, in § 66b Abs. 3 StGB und in § 7 Abs. 2 JGG. 27
Es war wieder ein Einzelfall, der den üblichen Mechanismus der Rechts-
politik in Gang setzte. Maik S. hatte in Mecklenburg-Vorpommern nach
vollständiger Verbüßung einer Freiheitsstrafe wegen Vergewaltigung eine
Woche nach seiner Entlassung die 16jährige Schülerin "Carolin" vergewal-
tigt und getötet. Ein ausreichendes therapeutisches Angebot im Strafvollzug
und in der ambulanten Nachsorge stand damals im Land nicht zur Verfü-
gung. Die Landesregierung startete nach dem bayerischen Vorbild eine sie
entlastende Gesetzesinitiative im Bundesrat vom 7. Dezember 2005. 28 § 66
Abs. 4 StGB-E sollte lauten
"Wird jemand zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren wegen
eines oder mehrerer Verbrechen gegen das Leben, die körperliche Unver-
sehrtheit, die persönliche Freiheit, die sexuelle Selbstbestimmung oder
nach den §§ 250,251, auch in Verbindung mit §§ 252, 255, verurteilt, so
kann das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnen,
wenn die Gesamtwürdigung des Täters, seiner Tat oder Taten ergibt, dass
er infolge eines Hangs zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen,
durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt wer-
den, für die Allgemeinheit gefährlich ist."
Der Gesetzesantrag hätte zur Schließung von "Schutzlücken" die Anord-
nung der "originären" Sicherungsverwahrung - also ohne nachträgliche

26 Stellungnahme zur Anhörung des Rechtsausschusses am 05.Mai 2004 zum Thenla Siche-
rungsverwahrung, S. 2 f.
27 Vgl. ausführlich Boetticher FS Widmaier, 2009, S. 871,885 f.
28 Gesetzentwurf des Landes Mecklenburg-Vorpommern vom 7. Dezember 2005 (BR-Drs.
876/05).
726 Axel Boetticher

Erkenntnisse aus dem Strafvollzug - bei nur einer Sexualstraftat bedeutet.


(Noch) nicht einmal der Freistaat Bayern wollte diesen Weg mitgehen.
Im März 2009 startete der Freistaat Sachsen, \VO es 2007 den Fall Mitja
(9), 2008 den Fall der Schülerin Michelle (8) und im Jahr 2009 den Fall
Corinna (9) gab, einen ganz radikalen Reformschritt. Sachsen wollte alle
formellen Voraussetzungen für die Sicherungsverwahrung und die vorbe-
haltene Sicherungsverwahrung abschaffen und durch eine einheitliche Vor-
schrift für die nachträgliche Sicherungsverwahrung ersetzen. 29 § 66 StGB
sollte schlicht lauten:
"(1) Nach einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als zwei
Jahren wegen eines Verbrechens gegen das Leben, die körperliche Un-
versehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung
oder eines Verbrechens nach den §§ 250, 251, auch in Verbindung mit
den §§ 252, 255, oder wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 174c, 176,
179 Abs. 1 bis 4, §§ 180, 182, 224, 225 Abs. 1 oder 2 oder nach § 323a,
soweit die im Rausch begangene Tat ein Verbrechen oder eine der vorge-
nannten rechtswidrigen Taten ist, ordnet das Gericht vor Ende des Voll-
zugs dieser Freiheitsstrafe die Unterbringung in der Sicherungsverwah-
rung an, wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Taten und
ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, dass er
mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch
welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, und
er deshalb für die Allgemeinheit gefahriich ist.

(3) § 66a wird aufgehoben.

(4) § 66b wird aufgehoben."


In der Gesetzesbegründung heißt es, es bedürfe einer generellen N euord-
nung des Rechts der Sicherungsverwahrung. Auf die Frage der Gefahrlich-
keit des Täters komme es nicht an, solange dieser ohnehin eingesperrt sei.
Deshalb bedürfe es keiner originären Sicherungsverwahrung. Die Begutach-
tung und Bewertung der Gefahrlichkeit erhöhten - zeitnah zur anstehenden
Entlassung - die Zuverlässigkeit der Prognose und damit den Schutz der
Bevölkerung. Der Entwurf, der im Übrigen einen großen Teil der Delikte
des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches von der Sicherungsverwahrung
ausschließen wollte, erhielt insbesondere wegen der Ausweitung der Prü-
fung der nachträglichen Sicherungsverwahrung auf praktisch alle Freiheits-
strafen über zwei Jahren und wegen des damit verbundenen Aufwands an

29 Gesetzesantrag des Freistaates Sachsen vom März 2009 (unveröffentlicht, noch keine Nr.
für eine BR-Drs. vergeben).
Die Sünden der Rechtspolitik 727

Prognosegutachten (vorläufig) keine Unterstützung aus dem Bund und den


anderen Ländern und wurde nicht einmal in den Bundesrat eingebracht. Der
Trend zum umfassenden polizei-präventiven Strafrecht scheint jedoch nicht
mehr umkehrbar.

6. Die Kunstgriffe bei der nachträglichen Sicherungsverwahrungfür


nach Jugendstrafrecht Verurteilte
Der vom Freistaat Sachsen in seinem Gesetzesantrag aufgezeigte radikale
Weg wurde im Gesetz zur Anordnung der Sicherungsverwahrung für nach
Jugendstrafrecht Verurteilte vom 8. Juli 2008 bereits vorgemacht. Danach
kann die Sicherungsverwahrung nach Verbüßung einer Jugendstrafe von
mindestens sieben Jahren angeordnet werden. 30 Der erste Fall einer Anord-
nung erfolgte zwei Tage nach Inkrafttreten des Gesetzes durch das Landge-
richt Regensburg. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat mit Urteil
vom 9. März 2010 - 1 StR 554/09. 31 die Revision des Verurteilten verwor-
fen. Die Verteidigung hat bereits die Einlegung der Verfassungsbeschwerde
und den Weg zum EGMR nach Straßburg angekündigt.
Auch hier ging das Gesetz auf einen Vorschlag des Freistaates Bayern zu-
rück, in dem zwei auf den ersten Blick schwer zu erkennende Kunstgriffe
angewendet worden sind. Zum einen wird in der Gesetzesbegründung be-
teuert, die Einführung der originären oder der vorbehaltenen Sicherungs-
verwahrung im Jugendstrafrecht verbiete sich aus Schutzgründen. Ein jun-
ger Täter dürfe bei seiner Verurteilung zu Jugendstrafe nicht zu sehr durch
den zusätzlichen Ausspruch der Maßregel belastet werden. Es bleibe dabei,
im Jugendrecht dürfe die originäre Sicherungsverwahrung gesetzlich nicht
angeordnet werden. Deshalb sei aber die nachträgliche Sicherungsverwah-
rung erlaubt! Aufgrund dieser Logik ist in das Gesetz in Wahrheit ein Vor-
behalt eingebaut worden, ohne dass er im Gesetz erscheint. Denn es liegt
auf der Hand, dass jeder Jugendliche oder Heranwachsende, der zu mindes-
tens sieben Jahren Jugendstrafe verurteilt wird, weiß, dass er mit der Verur-
teilung ein potentieller Kandidat für die nachträgliche Sicherungsverwah-
rung ist, die ihn bis zum letzten Tag der Jugendstrafe im Unklaren lässt, ob
er entlassen werden kann oder in der U.U. lebenslangen Verwahrung bleiben
muss. Beschönigt wird das ganze durch den Rückgriff auf den Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit. Es sei im Jugendstrafrecht - der Freistaat Sachsen
sieht dies auch fur das Erwachsenenstrafrecht - vertretbar "den Zeitpunkt
der Beurteilung von Hang und Gefährlichkeit so zu legen, dass eine mög-

30 Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach


Jugendstrafrecht vom 8.7. 2008 (BGBL I, S. 1212), in Kraft seit dem 12.7.2008.
31 http://www.bundesgerichtshof.de/cln_134/DE/Entscheidungen/entscheidungen_node.html
728 Axel Boetticher

lichst umfassende Gesamtwürdigung aller positiven und negativen Umstän-


de möglich ist, um die gebotene Prognosesicherheit zu sichern. "32
Ein weiterer Kunstgriff war nötig. Entgegen jeder empirischen Forschung
wird eine kaum haltbare Feststellung getroffen: "Der Gesetzgeber kann
heute nicht mehr ausnahmslos davon ausgehen, dass sich bei jungen Men-
schen die erforderliche Gefährlichkeitsprognose niemals mit ausreichender
Sicherheit treffen lässt." Dem Gesetzgeber war also bekannt, dass es weder
ein auf junge Menschen ausgerichtetes Prognoseinstrument noch dass es
wegen der geringen Anzahl an besonders schweren Tötungsdelikten mit
sexuellem Hintergrund keine aussagekräftige Basisrate und wegen der Be-
sonderheiten des Entwicklungsprozesses keine Anleitungen tur die Erstel-
lung individueller Prognosen bei jungen Menschen gibt. 33 Es wird also vom
forensischen Sachverständigen die empirisch nicht abgesicherte Aussage
über einen junger Mensch verlangt, der seine Gefährlichkeit mit der Bege-
hung einer - sei sie noch so schwer - Tat gezeigt hat. Die Aussage soll das
Urteil treffen, der junge Mensch werde sich nicht mehr ändern und im Fall
seiner Entlassung mit "hoher Wahrscheinlichkeit" eine vergleichbare Tat
begehen. Christine Graebsch, Kriminologin und Anhörperson im
Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages, hat ausfiihrlich dargelegt,
dass eine solche endgültige Aussage jeglicher erfahrungswissenschaftlichen
Grundlage entbehrt. Vielmehr ist das Gegenteil zutreffend, nämlich dass
man heute sehr viel genauer als noch in den vergangenen Jahrzehnten weiß,
dass sich solche Gefährlichkeitsprognosen gerade bei jungen Menschen
nicht treffen lassen, schon gar nicht mit "ausreichender Sicherheit." Aber
keiner der Abgeordneten wollte ihre Auffassung erläutert haben
Diese Kunstgriffe dienen in Wahrheit der Vermeidung von "nova," die im
Erwachsenenrecht benötigt werden, um für die Anordnung der nachträgli-
chen Sicherungsverwahrung das Hindernis der Rechtskraft des Anlassurteils
zu überwinden. Es heißt in der Begründung für das Jugendstrafrecht, für
"die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung [seien] sind
nicht ausnahmslos und stets erhebliche "neue" Tatsachen vorauszusetzen.
Denn es ist auch bei jungen Menschen nicht völlig ausgeschlossen, dass
sich in Einzelfällen bereits zum Zeitpunkt des ursprünglichen Urteils erheb-
liche Hinweise auf eine hohe künftige Gefährlichkeit zeigen."
Die Auffassung von der deterministischen, genetisch bedingten Unver-
besserlichkeit selbst eines jungen Angehörigen der Tätergruppe der Gewalt-
und Sexualstraftäter hat obsiegt. Verfassungsrechtliche und strafrechtsdog-

32 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 16/9643, S. 6.


33 Ausführlich Graebsch Schriftliche Stellungnahme zur Anhörung des Rechtsausschusses
des Deutschen Bundestages vom 23.5.2008 m.w.N.; dies. FS Eisenberg, 2009, S. 725, 731
unter Hinweis auf Heft 2 der ZJJ 2006.
Die Sünden der Rechtspolitik 729

matische Bedenken des früheren Vorsitzenden des 1. Strafsenats beim Bun-


desgerichtshof Gerhard Schäfer blieben unerhört. Dieser hatte es als zwei-
felhaft angesehen, ob nicht Umstände, die bereits im Urteil für die Verhän-
gung der siebenjährigen Jugendstrafe verwertet worden sind, in einem
zweiten Verfahren für die nachträgliche Sicherungsverwahrung nochmals
herangezogen werden dürfen. Sein Einwand eines möglichen Verstoßes
gegen das Doppelbestrafungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG wurde einfach
überhört. 34

§ 7 Abs. 2 JGG lautet jetzt:

"(2) Sind nach einer Verurteilung zu einer Jugendstrafe von mindestens


sieben Jahren wegen oder auch wegen eines Verbrechens

1. gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle


Selbstbestimmung oder

2. nach § 251 des Strafgesetzbuches, auch in Verbindung mit § 252 oder


§ 255 des Strafgesetzbuches,

durch welches das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder
einer solchen Gefahr ausgesetzt worden ist, vor Ende des Vollzugs dieser
Jugendstrafe Tatsachen erkennbar, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit
des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen, so kann das Gericht
nachträglich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung anordnen,
wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten
und ergänzend seiner Entwicklung während des Vollzugs der Jugendstra-
fe ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Straftaten der vor-
bezeichneten Art begehen wird."
Mit dieser Vorschrift wird endlich das ausgesprochen, was man sich im
Erwachsenenrecht bisher nicht getraut hat zu sagen, was aber eigentlich
immer gewollt war: "Warum lässt der Gesetzgeber vor Ende der Strafzeit
nicht einfach eine erneute Entscheidung zur Sicherungsverwahrung zu, bei
der die Gefährlichkeit und die notwendigen formellen Voraussetzungen
geprüft werden, sondern verlangt nach der Verurteilung "erkennbar gewor-
dene Tatsachen." "Auch unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten er-
scheint es vorzugswürdig, den Zeitpunkt von Hang und Gefährlichkeit so zu
legen, dass eine möglichst umfassende Gesamtwürdigung aller positiven

34 Vgl. Schriftliche Stellungnahme zur Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen


Bundestages vom 27.5.2008.
730 Axel Boetticher

und negativen Umstände möglich ist. Das ist jedoch nicht der Urteils- son-
dern der potentielle Entlassungszeitpunkt."35
Das soll aber mit den neuesten Vorschlägen endlich erreicht werden. In
dem vom Freistaat Bayern gemeinsam mit den anderen B-Ländern (d.h. den
CDU-geführten Ländern) erarbeiteten Entwurf zur "Harmonisierung des
Rechts der Sicherungsverwahrung" von Oktober 2009 sollen die "nova" bei
den Ersttätern auch im Erwachsenenrecht überflüssig werden. 36 Es soll
damit erfüllt werden, was politisch gewollt ist: "Die Sicherungsverwahrung
muss jederzeit möglich sein."37 Die Ersttäterregelung des § 66b Abs. 2
StGB soll an die Konstruktion des § 7 Abs. 2 JGG angepasst werden und
auch § 66b Abs. 3 StGB - nach dem die Überfiihrung vom Maßregelvollzug
in die Sicherungsverwahrung möglich ist, soll zukünftig gänzlich ohne
"nova" auskommen:
§ 66b Abs. 2 StGB soll lauten:

"Liegen nach einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens


.fünfJahren wegen eines oder mehrerer Verbrechen gegen das Leben, die
körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit, die sexuelle Selbst-
bestimmung oder nach den §§ 250,251, auch in Verbindung mit § 252
oder § 255 vor Ende des Vollzuges dieser Freiheitsstrafe oder einer oder
mehrere unmittelbar im Anschluss daran vollstreckten Freiheits- oder Er-
satzfreiheitsstrafen Tatsachen vor, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit
des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen und nicht bereits zum
Zeitpunkt der Verurteilung zur Prüfung einer Unterbringung in der Siche-
rungsverwahrung berücksichtigt werden konnten~ so kann das Gericht die
Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nachträglich anordnen, wenn
die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten und
ergänzend seiner Entwicklung während des Strafvollzuges ergibt, dass er
mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird, durch
welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden."
Damit gelingt es auch, die störende strenge und begrenzende Auslegung
des Wortlautes des § 66b Abs. 2 StGB durch den Bundesgerichtshof zu
korrigieren und aus dem Gelegenheitstäter der einen Tat einen unverbesser-
lichen Gewohnheitstäter zu machen. Ganz nach dem Vorbild des Franz von
Liszt. Offenherzig lautet hierzu die Begründung, dass nach der (zu) engen
Rechtsprechung der Strafsenate des Bundesgerichtshofs die nachträgliche
Unterbringung in der Sicherungsverwahrung gegenüber dem Ersttäter nur

35 BT-Drs 16/1992, S. 6~ Veh NStZ 2005, 309.


36 So Baverns Innenminister Joachim Herrmann in Die Welt vomI8.8.2009.
37 Unve;öffentlichter Entwurf für ein neues StrÄndG.
Die Sünden der Rechtspolitik 731

erfolgen konnte, wenn nach der Verurteilung während des Strafvollzuges


neue Indiztatsachen für die Gefährlichkeit erkennbar wurden. Reichten die
"nova" nicht aus oder lagen keine vor, hätten die Gerichte hochgefährliche
Gewalt- und Sexualstraftäter sehenden Auges in die Freiheit entlassen müs-
sen. Aufgrund des neuen Entwurfs kann endlich das Problem einer häufig
unzulässigen Korrektur des rechtskräftigen Urteils gelöst werden. So wie
bei der nachträglichen Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsver-
wahrung gegen nach Jugendstrafrecht verurteilte Täter kann man zukünftig
wie bei § 7 Abs. 2 JGG auf das Erfordernis "neuer Tatsachen" verzichten.
Endlich stört die Rechtskraft des strafrechtlichen Ersturteils nicht mehr.

7. Der (bewusste) Verzicht au/jede Evaluation


Immer wieder neue, die Anordnungsvoraussetzungen der Sicherungsver-
wahrung herabsetzende Anlass-Gesetze sind seit 1998 über die Strafrechts-
praxis gekommen. Es gibt für diesen Bereich kein verlässliches, dauerhaftes
Recht mehr. Die Flut der Gesetze bedeutet aber nicht, dass die Einzelgeset-
ze jeweils auf ihre Wirksamkeit überprüft worden sind. Das scheint auch
nicht gewollt zu sein. Weder gibt es ein Evaluation über die Auswirkungen
des Wegfalls der 10-Jahresfrist in § 67d Abs. 3 StGB noch Untersuchungen
über die Wirksamkeit der vorbehaltenen und der nachträglichen Siche-
rungsverwahrung sowohl im allgemeinen als auch im Jugendstrafrecht.
Dabei wären die notwendigen empirischen Daten leicht zu haben, sind doch
die Zahlen noch gering. Es existiert tUr die nachträgliche Sicherungsver-
wahrung wohl bisher nur die von den BGH-Richtern PfisterlBoetticher
intern geführte Übersicht über die beim Bundesgerichtshof verhandelten
Revisionssachen. Danach gab es (Stand: Juni 2009) insgesamt 49 Entschei-
dungen, in 13 Fällen wurde die Anordnung der nachträglichen Sicherungs-
verwahrung bestätigt, in 17 Fällen endgültig abgelehnt (in acht Fällen auf
Entfallen durchentschieden, in neun Fällen die Revision der Staatsanwalt-
schaft verworfen). In 19 Fällen wurde die Sache zu neuer Verhandlung und
Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.
Eine mit Ergebnissen aufwartende Zwischenbilanz hat bisher nur Michael
Alex vom Lehrstuhl des Kriminologen Prof Feltes an der Ruhr-Universität
in Bochum vorgelegt. 38 Er wollte herausfinden, was aus denjenigen gewor-
den ist, die trotz eines Antrags der Staatsanwaltschaft auf Anordnung der
nachträglichen Sicherungsverwahrung entlassen wurden. Michael Alex hat
eine Zwischenbilanz zu 76 Fällen gezogen, bei denen ein Abgleich mit
aktuellen Auszügen aus dem Bundeszentralregister möglich war und teil-
weise Einsicht in Vollstreckungshefte bzw. Verfahrensakten gewährt wur-

38 Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den Beitrag von }te/teslA/ex verwiesen. In Vorbe-
reitung ist eine Untersuchung bei Prof Jürgen L. Müller von der Universität Göttingen.
732 Axel Boetticher

deo Bis zum 30. Juni 2008 waren 23 der 67 Haftentlassenen erneut rechts-
kräftig verurteilt worden, davon neun zu Geldstrafen, vier zu Freiheitsstra-
fen mit Bewährung und zehn zu Freiheitsstrafen ohne Bewährung. Auch
unter diesen zehn befanden sich sechs, die wegen eher geringfügiger Dieb-
stahls- oder Drogendelikte erneut verurteilt worden waren. Lediglich drei
Delikte waren Gewaltdelikte gegen Personen, die jene Intensität erreichten,
die Voraussetzung für den Antrag auf Anordnung der nachträglichen Siche-
rungsverwahrung waren. 39 Versuche, eine Evaluation über die Kriminologi-
sche Zentralstelle in Wiesbaden zu organisieren, haben bisher noch keinen
Erfolg gehabt. Hört jetzt endlich jemand zu, nachdem der EGMR von außen
die deutsche Regelung und die Durchführung der Sicherungserwahrung in
Frage gestellt hat?

39 Presseinformation der Ruhr-Universität Bochum vom 10.9.2009 unter


http.//www.pm.ruhr-uni-bochum.de "Nachträgliche Sicherungsverwahrung - ein kriminalpoli-
tischer Fehlschlag" sowie die gerade unter demselben Titel erschienene Dissertation von
Michael Alex in Band 11 der Bochumer Schriften zur Rechtsdogmatik und Kriminalpolitik,
2010.
Kriminalpolitische und kriminologische Probleme
der Sicherungsverwahrung

THOMAS FELTES / MICHAEL ALEX

I. Einleitung
Vor dem Hintergrund der Einruhrung des "Gesetzes über die Unterbrin-
gung besonders rückfallgefährdeter Straftäter" (StrUBG) in Baden-
Württemberg im Frühjahr 2001 hat der Jubilar betont, dass die rur eine
weitere Unterbringung nach vollständiger Strafvollstreckung verlangte
Prognose einer erheblichen gegenwärtigen Gefahr durch den Täter allein
aufgrund des Vollzugsverhaltens praktisch unmöglich sei. 1 Er nahm dies
zum Anlass, sich noch einmal generell mit der Leistungsfähigkeit, Seriosität
und Selbstbeschränkung der Kriminalprognostik auseinander zu setzen, und
kam er zu dem Ergebnis, dass in den letzten zwanzig Jahren zwar Fort-
schritte in der kriminologischen Prognoseforschung zu verzeichnen seien, 2
er bezweifelte aber, dass aus dem Vollzugsverhalten von Strafgefangenen
genügend valide Kriterien für eine "Verschlechterungsprognose" abgeleitet
werden könnten. 3 Als Alternative zu einer nachträglichen Unterbringung
sah er die Möglichkeit der Anordnung von Sicherungsverwahrung bei der
erneuten Verurteilung nach einem erheblichen Rückfall, wo er sie für gebo-
ten und rechtlich zulässig hielt. 4 Für Grenzfälle betrachtete er auch die 2002
eingeführte vorbehaltene Sicherungsverwahrung (§ 66a StGB) als vertretba-
re Zwischenlösung und kam deshalb zu dem Schluss, die isolierte nachträg-
liche Sicherungsverwahrung würde sich mangels prognostischer Fundierung
höchstwahrscheinlich als Akt der symbolischen Gesetzgebung erweisen.
Die Entwicklung seitdem gibt ihm teilweise recht, allerdings nur, weil die
2004 auf Anregung des Bundesverfassungsgerichts eingeführte nachträgli-
che Sicherungsverwahrung auf Bundesebene (§ 66b StGB) infolge der re-

1 Schäch Kriminalprognose. In: Dittmann/Jehle (Hrsg.), Kriminologie zwischen Grundla-


genwissenschaft und Praxis, 2003, S. 407-420.
2 Schäch (Fn. 1), S. 410 ff.
3 Schäch (Fn. 1), S. 419.
4 Schäch (Fn. 1), S. 417.
734 Thomas Feltes / Michael Alex

striktiven Anwendung der Vorschrift durch Bundesgerichtshof und Bundes-


verfassungsgericht nicht die Bedeutung erlangte, die von der Rechtspolitik
erwartet worden war.

11. Überblick über die historische Entwicklung der


Sicherungsverwahrung
Das 1934 von den Nationalsozialisten eingeführte Institut der Siche-
rungsverwahrung stand nach dem 2. Weltkrieg beinahe vor dem Aus. In
Westdeutschland wurde in den ersten Jahren die Sicherungsverwahrung
eher selten angeordnet, obwohl die §§ 20a und 42e RStGB zunächst unver-
ändert fort galten. Man geht davon aus, dass in Teilen der Richterschaft
möglicherweise Unsicherheit herrschte, ob das Instrument nach der Nazizeit
überhaupt noch anwendbar war. 5 Entsprechend wurden in der DDR durch
eine Entscheidung des Obersten Gerichts vom 23.12.1952,6 das die Siche-
rungsverwahrung als "inhaltlich faschistisch" beurteilte, die in der national-
sozialistischen Zeit erlassenen Vorschriften des § 20a RStGB gegen "ge-
fährliche Gewohnheitsverbrecher" und der §§ 42a Ziff. 4 und 42e RStGB
über die Sicherungsverwahrung für unanwendbar erklärt.
In der Bundesrepublik gab es später jedoch ein Umdenken, so dass die
Zahl der in der Sicherungsverwahrung untergebrachten Personen bis 1965
auf 1.430 (einschließlich Unterbringung im Arbeitshaus) anstieg. Im Zu-
sammenhang mit der Strafrechtsreform sank die Zahl der in der Sicherungs-
verwahrung Untergebrachten auf 176 im Jahre 1996,7 und noch im Jahre
2001 wurden in der Fachdiskussion beachtliche Argumente zur Abschaf-
8
fung dieses umstrittenen Rechtsinstituts vorgebracht. Zu diesem Zeitpunkt
war die Zahl der in der Sicherungsverwahrung Untergebrachten aber schon
wieder auf 257 gestiegen, nachdem 1998 durch das "Gesetz zur Bekämp-
fung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten"g die Hürden
für die Anordnung der Sicherungsverwahrung gesenkt worden waren. Seit-
dem geht es Schlag auf Schlag: Mit Gesetz vom 21.08.2002 wurde die sog.
vorbehaltene Sicherungsverwahrung, §§ 66a StGB, eingeführt,IO 2003 wur-
de sie durch eine entsprechende Änderung des § 106 JGG auf Heranwach-
sende ausgedehnt. Durch die Neuregelung sollte die Möglichkeit eröffnet
werden, die Anordnung der Sicherungsverwahrung im Urteil anzukündigen,

5 Kin:=ig Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand, 1996, S. 129.


6 NJ 1953, 54.
7 Statistisches Bundesamt Fachserie 10, Reihe 4.1, 2003.
8 WeberlReindlNK 2001,16-21.
9 BOB!. I, S. 160.
10 BOB!. I, S. 3344.
Kriminalpol. und kriminol. Probleme der Sicherungsverwahrung 735

erst am Ende der Haft aber endgültig über die Anordnung zu entscheiden.
Die rot-grüne Bundesregierung hatte die vorbehaltene Sicherungsverwah-
rung als Konzession an die von Bundesländern mit CDU- oder CSU-
Regierung wiederholt erhobene Forderung nach Einführung einer nachträg-
lichen Sicherungsverwahrung betrachtet. Da von dieser Regelung Gefange-
ne, die vor dem Inkrafttreten des § 66a StGB bereits verurteilt waren, nicht
erfasst werden konnten, verstummten die Forderungen nach Einführung
einer nachträglichen Sicherungsverwahrung jedoch nicht. Die Bundesländer
Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Niedersach-
sen verabschiedeten zwischen 2001 und 2003 vorsorglich eigene Straftäter-
Unterbringungsgesetze auf polizeirechtlicher Grundlage. Das Bundesverfas-
sungsgericht entschied zwar im Urteil vorn 10.2.2004,11 dass die Länder
keine Gesetzgebungskompetenz für einen solchen Eingriff in das Strafrecht
hätten, legte dem Bundesgesetzgeber aber nahe, eine gesetzliche Grundlage
für die nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung von bereits
Verurteilten zu schaffen, um deren Entlassung aus dem Justizvollzug zu
vermeiden.
Mit der Einführung von § 66b StGB durch das Gesetz zur Einführung der
nachträglichen Sicherungsverwahrung 12 wird diesem kriminalpolitischen
Anliegen seit dem 29.07.2004 Rechnung getragen, aber der gesetzgeberi-
sche Elan war damit noch nicht erloschen. Nachdem die Rechtsprechung
die neu eingeführte Vorschrift sehr restriktiv interpretiert hatte, wurden im
Frühjahr 2007 die Regelungen zur nachträglichen Sicherungsverwahrung
auf sog. Altfälle, bei denen anlässlich der Verurteilung die Anordnung von
Sicherungsverwahrung aus rechtlichen Gründen unzulässig gewesen wäre,
erstreckt. 13
Schließlich wurde im Juli 2008 durch das Gesetz zur Einführung der
nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstraf-
recht 14 trotz heftiger Kritik der Fachäffentlichkeit die nachträgliche Siche-
rungsverwahrung im Jugendstrafrecht verankert. Derzeit werden die Ver-
längerung der "Rückfallverjährungsfrist" in § 66 Abs. 4 S. 3 StGB, eine
Erleichterung der Anordnungsvoraussetzungen bei Heranwachsenden 15 und
das Schließen von "Schutzlücken im geltenden Recht, wie sie bei Strafver-
fahren in jüngster Zeit aufgetreten sind" 16 diskutiert. Am 5.11.2009 hat sich
die Herbstkonferenz der Justizministerinnen und Justizminister in diesem
Zusammenhang mit einern Gesetzentwurf zur "Harmonisierung des Rechts

11 BVerfGE 109,190.
12 BGBL I, S. 1838.
13 BGBL I, S. 513.
14 BGBL I, S. 1212.
15 Focus 9.8.2009.
16 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP vom 26.10.2009,107.
736 Thomas Feltes I Michael Alex

der Sicherungsverwahrung befasst und darin eine "geeignete Grundlage für


weitere Schritte im Rahmen eines entsprechenden Gesetzgebungsverfah-
rens" gesehen. 17
Infolge dieser Entwicklung ist die Zahl der in der Sicherungsverwahrung
untergebrachten Personen bis zum 31.03.2009 wieder auf 476 angestiegen
und hat somit den höchsten Stand seit 1970 (vor Beginn der Strafrechtsre-
form, 718 Verwahrte) erreicht. 18

111. Umgang der Rechtsprechung mit der Sicherungsverwahrung


Der seit 1996 zu beobachtende praktisch kontinuierliche Anstieg der Zahl
der Sicherungsverwahrten von 176 auf 476 am 31.03.2009 ist nicht in erster
Linie darauf zurückzuführen, dass die Gerichte zurückhaltender geworden
sind bei der Entlassung von Sicherungsverwahrten. Zwar wird die Entlas-
sungspraxis erst seit 2002 durch die Kriminologische Zentralstelle in Wies-
baden systematisch beobachtet, doch 18 Entlassungen im Jahre 2002 stehen
26 Entlassungen im Jahre 2006 gegenüber. 19 Allerdings hat sich die Zahl
der jährlichen Anordnungen von Sicherungsverwahrung mit den im Jahr
1998 einsetzenden gesetzlichen Ausweitungen von 46 Anordnungen im
Jahre 1997 über 61 Anordnungen im Jahre 1998 auf 83 Anordnungen im
Jahre 2006 erhöht. Durchschnittlich wurde zwischen den Jahren 1998 und
2007 jährlich in 67 Fällen Sicherungsverwahrung durch die Gerichte ange-
ordnet, die sich allmählich in der erhöhten Zahl der Sicherungsverwahrten
niederschlagen. Die vorbehaltene (§ 66a StGB) und die nachträgliche
(§ 66b StGB) Sicherungsverwahrung werden bisher statistisch nicht syste-
matisch erfasst. In der Antwort auf eine kleine Anfrage der Fraktion DIE
20
LINKE gab die Bundesregierung am 22.05.2008 an, dass nach einer im
Auftrag des Bundesministeriums der Justiz Anfang Oktober 2007 durchge-
fiihrten Analyse von Bundeszentralregisterdaten seit 2002 in 15 Fällen eine
vorbehaltene Sicherungsverwahrung gemäß § 66a StGB ausgesprochen
worden sei. Das Rechtskraftdatum dieser Entscheidungen liege zwischen
dem 10. September 2003 und dem 25. Oktober 2006. Ferner könne Berich-
ten des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof entnommen werden,
dass zumindest in drei Fällen landgerichtliche Anordnungen wieder aufge-
hoben worden seien. Eine endgültige Anordnung, die vom Bundesgerichts-

17 Beschluss abrufbar unter: www.justiz.sachsen.de/smj.


18 Statistisches Bundesamt Stichtagserhebung 31.03.2009.
19 Dessecker Lebenslange Freiheitsstrafe, Sicherungsverwahrung und Unterbringung in ei-
ne%psychiatrischen Krankenhaus. Dauer und Gründe der Beendigung, 2008, S. 64.
BT-Drs. 16/9241.
Kriminalpol. und kriminal. Probleme der Sicherungsverwahrung 737

hof bestätigt worden sei, sei der Bundesregierung bislang nicht bekannt. Im
August 2008 21 gab der Bundesgerichtshof erstmalig einer Revision der
Staatsanwaltschaft statt, in der u.a. gerügt worden war, dass in einem Ver-
fahren gegen einen Heranwachsenden, auf den Erwachsenenstrafrecht an-
gewendet worden war, die Prüfung eines Vorbehalts der Sicherungsverwah-
rung gemäß § 106 Abs. 3 JGG unterlassen worden war. Bei dem zugrunde
liegenden Fall handelte es sich um den sog. "Foltermord" in der Justizvoll-
zugsanstalt Siegburg in Nordrhein-Westfalen im Jahre 2006, bei dem ein
Jugendstrafgefangener von den übrigen drei Zelleninsassen zu Tode gequält
worden war.
Noch restriktiver als mit der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung sind
Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht mit der nachträglichen
Sicherungsverwahrung gemäß § 66b StGB umgegangen. Zwischen Mai
2005 und Mai 2009 war der Bundesgerichtshof mit 57 Verfahren befasst,
die unterschiedliche Probleme der Anordnung der nachträglichen Siche-
rungsverwahrung betrafen. In lediglich 13 Fällen bestätigte er die nachträg-
liche Sicherungsverwahrung. 22
Dass Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht mehrheitlich die
unterinstanzlichen Entscheidungen zur nachträglichen Anordnung von Si-
cherungsverwahrung aufhoben, beruht vor allem auf drei Faktoren. Auf der
formellen Ebene legten die Obergerichte einen hohen Maßstab bezüglich
der erst nach der Verurteilung erkennbaren Tatsachen ("nova") und der
Erheblichkeit dieser neuen Tatsachen für die Beurteilung der künftigen
Gefährlichkeit des Verurteilten an. Materiellrechtlich forderten sie eine
individuelle Gefährlichkeitsprognose, aus der eine "erhöhte Wahrschein-
lichkeit für die schwere Schädigung von Personen" ableitbar sein müsse,
wobei diese erhebliche Gefahr "gegenwärtig" sein müsse. 23 Damit wurde
den Gerichten und Sachverständigen eine schwierige Aufgabe auferlegt, die
aber auch den Grenzen einer sachgerechten Kriminalprognose Rechnung
trug. Eine Voraussage für das Verhalten eines Menschen in ferner Zukunft

21 Urteil vom 13.8.2008 - 2 StR 240/08.


22 7 Fälle 11. Antwort der Bundesregierung vom 22.5.2008 auf die kleine Anfrage der Frak-
tion DIE LINKE, Bt-Drs. 16/9241, sowie BGH-Entscheidungen vom 15.4.2008 - 5 StR
431/07, vom 28.5.2008 - IStR 192/08, vom 10.9.2008 - 2 StR 320/08, vom 29.9.2008 - 1 StR
466/08, vom 21.11.2008 - 2 StR 437/08 und vom 17.3.2009 - 1 StR 34/09, wobei in einem
dieser Fälle das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung des BGH aufhob (Beseht. vom
23.8.2006, NStZ 2007, 87 ff.). Das Bundesverfassungsgericht bestätigte am 5.8.2009 die BGH-
Beschlüsse vom 10.9. und vom 21.11.2008, wobei es die Verfassungswidrigkeit von § 66b
Ab 3 StGB verneinte (BVerfG, 2 BvR 2098/08).
t3 Ullenbruch NStZ 2007, 62-71.
738 Thomas Feltes / Michael Alex

ist unmöglich, weil die künftig auf den Betroffenen einwirkenden Einflüsse
nicht bekannt sind. 24
Am 22.06.2009 ordnete das Landgericht Regensburg erstmals in Deutsch-
land die nachträgliche Sicherungsverwahrung gemäß § 7 JGG nach Ablauf
einer zehnjährigen Jugendstrafe an.
Die in der Fachliteratur erhobenen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit
der Sicherungsverwahrung 25 und insbesondere der nachträglichen Siche-
rungsverwahrung (Stichworte: Bestimmtheitsprinzip, Art. 103 Abs. 2 GG;
Mehrfachbestrafung, Art. 103 Abs. 3 GG; unmenschliche Behandlung, Art.
104 Abs. 1 GG; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Art. 20 Abs. 3 GG;
Rückwirkungsverbot, Art. 103 Abs. 2 GG)26 teilte die Rechtsprechung
27
nicht . Eine die Bundesrepublik verurteilende Entscheidung des Europäi-
schen Gerichtshofs zu dem deutschen Instrument der Sicherungsverwah-
rung liegt mittlerweile vor. 28

IV. Kriminalpolitische Probleme vor dem Hintergrund


der Rechtsprechung
Infolge der restriktiven Rechtsprechung zu § 66b StGB ist die praktische
Bedeutung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gering, auch wenn
durch die vermehrte Anordnung "originärer" Sicherungsverwahrung im
Urteil insgesamt eine Tendenz festzustellen ist, das Instrument wieder häu-
figer zu nutzen als in der Periode nach der Strafrechtsreform von 1969.
Unter kriminalpolitischen Gesichtspunkten ist dabei insbesondere die Ori-
entierung am Resozialisierungsgedanken sowie die Beachtung des Ab-
standsgebots gegenüber dem regulären Strafvollzug bei der Ausgestaltung
der Sicherungsverwahrung, wie vom Bundesverfassungsgericht in der Ent-
scheidung vom 05.02.2004 29 rur die Verfassungsmäßigkeit der Sicherungs-
verwahrung gefordert, von Interesse. Hier bestehen erhebliche Defizite, wie
eine Bestandsaufnahme gerade erbracht hat,30 und die Bundesländer sehen
wegen Sicherheitsbedenken auch wenig Spielraum. In der Begründung des
Entwurfs rur ein Justizvollzugsgesetzbuch für das Land Baden-
Württemberg vom 19.08.2009 heißt es dazu unter § 97: "Der Entwurf trägt

24 Nedopil NStZ 2002, 344-349, 346.


25 Kinzig (Fn. 5), S. 39 ff.~ Weber/Reindl (Fn. 8), 19f.
26 Kin=ig NJW 2001, 1455-1459, 1456 ff.
27 BVerfGE 109, 133-189~ BVerfGE 109, 190-244~ zuletzt BVerfG, 2 BvR 2098/08 vom
5.8.2009.
28 EGMR, Urteil v. 17.12.2009, Individualbeschwerde - Nr. 19359/04.
29 BVerfGE 109, 133, 155 ff.
30 Bartsch BewHi 2007, 399-409, 406 ff.
Kriminalpol. und kriminol. Probleme der Sicherungsverwahrung 739

in den folgenden Vorschriften dem verfassungsrechtlichen Abstandsgebot


deutlicher als bislang Rechnung. In diesem Zusammenhang ist jedoch fest-
zustellen, dass sich die Wahrung des Abstands zu den Strafgefangenen in
der Vollzugspraxis als immer schwieriger erweist. Grund hierfür ist, dass
Strafgefangene heute über Privilegien verfügen, etwa den eigenen Fernseher
auf dem Haftraum, die früher den Sicherungsverwahrten vorbehalten waren.
Einer beliebigen Steigerung von Privilegierungen der Sicherungsverwahrten
stehen jedoch ab einer gewissen Grenze Sicherheit und Ordnung der Justiz-
vollzugsanstalt entgegen.,,31
Allerdings hat die eher symbolische Gesetzgebung zur nachträglichen Si-
cherungsverwahrung nachhaltige Auswirkungen auf die Gestaltung des
Strafvollzugs. Am 31.03.2008 befanden sich nach der Stichtagserhebung
des Statistischen Bundesamtes 8.104 Gefangene im Vollzug einer Freiheits-
strafe von mehr als 5 Jahren. Unterstellt, die meisten von ihnen waren we-
gen Katalogtaten nach § 66b Abs. 2 StGB (Verbrechen gegen das Leben,
die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit, die sexuelle Selbst-
bestimmung oder nach den §§ 250, 251, auch in Verbindung mit § 252 oder
§ 255) verurteilt (insgesamt etwa 26.000 Strafgefangene waren nach der
Stichtagserhebung wegen derartiger Taten verurteilt), ist die Annahme nicht
aus der Luft gegriffen, mehr als 6.000 bis 10.000 Gefangene erfüllten die
formellen Voraussetzungen gemäß § 66b StGB. 32 Das gilt insbesondere
unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Verurteilungen zu genau 5
Jahren Freiheitsstrafe der Strafvollzugsstatistik nicht zu entnehmen sind und
die nach § 63 StGB im Maßregelvollzug Untergebrachten gern. § 66b
Abs. 3 StGB ebenfalls für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsver-
wahrung in Betracht kommen. Die Diskrepanz zwischen der hohen Zahl
potentiell betroffener Gefangener (etwa 10% der Gefangenenpopulation)
und der geringen Zahl von bisher 12 rechtskräftig bestätigten Anordnungen
macht deutlich, wie viele Gefangene einern Prüfungsverfahren ausgesetzt
werden, an dessen Ende nur gegenüber einer ganz geringen Zahl nachträgli-
che Sicherungsverwahrung verhängt wird. Doch auch über allen anderen
schwebt zunächst das "Damoklesschwert" der möglichen Anordnung von
Sicherungsverwahrung mit der Konsequenz, dass Lockerungen und Entlas-
sungsvorbereitungen erst nach Abschluss der Prüfung eingeleitet werden.

31 LT-Drs. 14/5012, S. 238.


32 So Kreuzer, Anhörung im Rechtsausschuss des Bundestages am 28.5.2008~ vgI. auch Ul-
lenbruch (Fn. 23), 70~ Kreuzer BewHi 2006,195-215,207.
740 Thomas Feltes / Michael Alex

v. Kriminologische Probleme
Unter kriminologischen Gesichtspunkten steht und fällt die ohnehin prob-
lematische präventive Unterbringung vermeintlich gefährlicher Menschen
mit der Zuverlässigkeit, mit der ihr künftiges Verhalten vorhergesagt wer-
den kann. Für das Bundesverfassungsgericht war diese Frage jedoch zweit-
rangig. Vor der Entscheidung vom 5.2.2005 zur Aufhebung der 10-
Jahresfrist bei der erstmaligen Anordnung der Sicherungsverwahrung hatte
das Bundesverfassungsgericht zwei Sachverständige aus der forensischen
Psychiatrie zur Prognosesicherheit befragt. Auf Grundlage dieser Aussagen
und unter Berücksichtigung von Literatur zur Problematik kam das Gericht
zu dem Ergebnis, dass die Unsicherheiten der Prognose Auswirkungen auf
die Mindestanforderungen an Prognosegutachten und deren Bewertung im
Zusammenhang mit dem Übermaßverbot hätten, aber weder die Eignung
noch die Erforderlichkeit des Freiheitseingriffs beseitigen könnten. "Die
Prognose ist und bleibt als Grundlage jeder Gefahrenabwehr unverzichtbar,
mag sie auch im Einzelfall unzulänglich sein." Zur Bestätigung dieses Er-
gebnisses verweist das Bundesverfassungsgericht darauf, dass sich in der
Praxis der forensischen Psychiatrie das Wissen um die Risikofaktoren in
den letzten Jahren erheblich verbessert habe, so dass über einen Teil der
Delinquenten relativ gute und zuverlässige prognostische Aussagen ge-
macht werden könnten. Auch wenn der Anteil relativ sicherer Prognosen
von den beiden Sachverständigen unterschiedlich hoch angesehen werde,
bilde die Prognose gerade für die seltenen Fälle hochgradiger Gefährlichkeit
eine taugliche Entscheidungsgrundlage. 33
In der wissenschaftlichen Literatur wird die Frage nach der Prognosesi-
cherheit wesentlich kontroverser diskutiert. Wie Untersuchungen gezeigt
haben, ist das Vertrauen in die Zuverlässigkeit von Kriminalprognosen
allenfalls gerechtfertigt im Hinblick auf die zutreffende Identifizierung von
später tatsächlich aufgefallenen Wiederholungstätern, nicht aber bezüglich
nicht erneut aufgefallener Probanden (also Nicht-Wiederholungstäter). Die
Identifizierung gefährlicher Wiederholungstäter gelingt nach wie vor nur
auf Kosten einer großen Zahl von ungefährlichen Menschen, die fälschlich
rur gefährlich gehalten werden. 34 Dafür gibt es mehrere Ursachen. Stich-
wortartig seien genannt die Problematik der sog. Basisrate bei seltenen
gefährlichen Ereignissen, die Überschätzung der Zuverlässigkeit von Prog-
noseskalen wie der "Psychopathy-Check-List (PCL)", dem "Sexual Violen-
ce Risk (SVR-20)" oder dem "Historical Clinical Risk (HCR-20)" und die
empirischen Befunde zur Rückfallhäufigkeit nach überraschender Entlas-

33 BVerfGE 109, 133, 158.


34 Vgl. Pollähne in: Barton (Hrsg.): " ... weil er für die Allgemeinheit gefährlich ist", 2006,
S. 221-258,251.
Kriminalpol. und kriminol. Probleme der Sicherungsverwahrung 741

sung vermeintlich hoch gefährlicher Untergebrachter ("Baxtrom-Entschei-


dung").
Grundsätzlich stellt sich außerdem die Frage, ob für die Kriminalprogno-
se strafrechtlich verantwortlicher, "gesunder" Täter die fast ausschließlich
mit Gutachten beauftragten forensischen Psychiater und Psychologen ge-
eigneter sind als Kriminologen, bei denen die Dynamik delinquenten Ver-
haltens im Mittelpunkt steht und nicht die Psychopathologie des Einzel-
nen. 35
Die Schwierigkeiten einer zutreffenden Kriminalprognose werden noch
größer, wenn am Ende der Haft eine Verschlechterung gegenüber der Situa-
tion bei der Verurteilung festgestellt werden soll. Die entsprechende Be-
hauptung des Jubilars in seinem Beitrag aus dem Jahre 2003 wird unter-
mauert durch eine Untersuchung des Lehrstuhls rur Kriminologie,
Kriminalpolitik, Polizeiwissenschaft der Ruhr-Universität zur nachträgli-
chen Sicherungsverwahrung.

VI. Die Bochumer Studie zu kriminalpolitischen und


kriminologischen Problemen bei der nachträglichen Anordnung
von Sicherungsverwahrung
1. Planung und Durchführung
Im Zusammenhang mit der Einführung der nachträglichen Sicherungs-
verwahrung in das deutsche Strafrecht ist deutlich geworden, dass das steu-
ernde Element rur Gesetzgebung und - zumindest in der frühen Phase der
Entwicklung - Rechtsprechung nicht eine neu aufgetretene "Sicherheitslü-
cke" war, sondern das Bedürfnis, auf spektakuläre Einzelereignisse, in de-
nen insbesondere Kinder Opfer brutaler Gewalttaten geworden waren, in
einer die Bevölkerung beruhigenden Form zu reagieren. Eine etwaige Ver-
änderung der objektiven Sicherheitslage forderte keine weitreichenden
Maßnahmen. Das im Bereich der Gewaltdelinquenz mit sexuellem Hinter-
grund gegenüber Kindern und Jugendlichen bestehende Opferrisiko war
unter Zugrundelegung der registrierten Delinquenz über die Jahre hinweg
gering und war in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts eher noch ge-
ringer geworden. Von 1987 bis 1991 wurden 24 Kinder Opfer vollendeter
Sexualmorde, von 1992 bis 1996 waren es 21, von 1997 bis 2001 waren es
12 und in den fünf Jahren von 2002 bis 2006 gab es 17 Kinder, die Opfer

35 Vgl. im Einzelnen Kin=ig Die Legalbewährung gefährlicher Rückfalltäter, 2008, S. 134 ff.
sowie Feltes StV 2000, 281-286 und ders. in: Hitzler/Pfadenhauer (Hrsg.), Gegenwärtige
Zukünfte. Interpretative Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Diagnose und Prognose, 2005,
S. 144-168.
742 Thomas Feltes / Michael Alex

eines vollendeten Sexualmordes wurden. 36 Daran hat sich erwartungsgemäß


auch seit Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nichts ge-
ändert - 2007 und 2008 wurden nach der Polizeilichen Kriminalstatistik
jeweils zwei entsprechende Opfer registriert37 -, da nicht der die Emotionen
hoch treibende Serientäter der Normalfall ist, sondern die Taten in der Re-
gel von Tätern begangen werden, die bisher einschlägig nicht aufgefallen
sind. Beinahe jeder Wiederholungstäter der vergangenen Jahre ist deshalb
unmittelbar Auslöser für eine jeweilige Gesetzesänderung im Bereich der
Sicherungsverwahrung gewesen. Betroffen von diesen Gesetzesänderungen
sind aber auch Verurteilte, die möglicherweise nie wieder aufgefallen wä-
ren. Infolge der restriktiven Rechtsprechung zu § 66b StGB ist davon aus-
zugehen, dass viele dieser Verurteilten trotz ungünstiger Prognose aus der
Haft entlassen worden sind, während andere wegen einer günstigen Progno-
se, die sich erst im Verlauf des Anordnungsverfahrens ergeben hatte, entlas-
sen wurden. Die Legalbewährung dieses Personenkreises nach der Entlas-
sung aus der Haft sollte anhand von Bundeszentralregisterauszügen über
nachträgliche Verurteilungen überprüft werden. Methodisch sind einer sol-
chen Rückfalluntersuchung enge Grenzen gesetzt. Rückfalluntersuchungen
anband der rechtskräftigen Neuverurteilungen lassen ansatzbedingt die nicht
registrierte Delinquenz außer Betracht. 38 Da für die Beurteilung der Frage,
ob die nachträgliche Sicherungsverwahrung zur Verbesserung der objekti-
ven Sicherheitslage bezüglich schwerster Delinquenz geeignet und erforder-
lich ist, aber ausschließlich Kapitaldelikte mit einer entsprechend hohen
Aufklärungsquote von Interesse sind, wurde eine Vernachlässigung des
Dunkelfeldes in Kauf genommen. Delikte unterhalb der Schwelle des § 66b
StGB ("erhebliche Straftaten, durch welche die Opfer seelisch oder körper-
lich schwer geschädigt werden") hätten die nachträgliche Anordnung von
Sicherungsverwahrung nicht legitimieren können, sind also auch fur das
Legalverhalten nach der Haftentlassung irrelevant. Darüber hinaus erlaubt
eine Rückfalluntersuchung unter Betrachtung der Neueintragungen im Bun-
deszentralregister ausschließlich deskriptive Aussagen über das Auftreten
des Phänomens "Rückfall". Schlussfolgerungen über individuelle oder
soziale Ursachen sind auf dieser Grundlage ebenso unzulässig wie Spekula-
tionen über Präventionsmöglichkeiten. 39
Die hier vorgestellte Untersuchung hatte jedoch auch nicht das vorrangige
Ziel, individuelle Besonderheiten wie Entlassungsvorbereitungen oder sozi-

36 2. Periodischer Sicherheitsbericht der Bundesregierung 2006, 97.


37 PKS 2007, 2008, Tabelle 91.
38 Vgl. zur Problematik H.-J. Schneider MSchrKrim 2002, 251-270, 253.
39 Zu entsprechenden Befürchtungen, durch Rückfalluntersuchungen würde in unzulässiger
Weise die Wirksamkeit von Behandlungsmaßnahmen im Strafvollzug in Frage gestellt vgl.
Obergfell-FuchslWulfForum Strafvollzug 2008, 231-236.
Kriminalpol. und kriminol. Probleme der Sicherungsverwahrung 743

alen Empfangsraum zu ermitteln, sondern kollektive Übereinstimmungen


festzustellen. Um untersuchen zu können, ob das Instrument der nachträgli-
chen Sicherungsverwahrung geeignet ist, Rückfallgefährdete und Rückfall-
resistente voneinander zu trennen, reicht die phänomenologische Betrach-
tungsweise aus. Auch die Beschränkung auf die Stichprobe der
Haftentlassenen und der Verzicht auf eine Einbeziehung der Gefangenen,
bei denen nachträglich Sicherungsverwahrung angeordnet worden ist, ist
angesichts der marginalen Zahl von Untergebrachten bei Planung der Un-
tersuchung gerechtfertigt. Für die beabsichtigte Untersuchung der Legalbe-
währung wären sie ohnehin uninteressant gewesen, da sie in absehbarer Zeit
keine Gelegenheit haben werden, ihre Legalbewährung unter Beweis zu
stellen. Für andere Fragestellungen wie etwa ausschlaggebende Gesichts-
punkte für die nachträgliche Anordnung erschien die Datenbasis bei Pla-
nung der Untersuchung mit 6 rechtskräftigen Anordnungen bis Ende 2006 40
zu gering. Eher hätten aus der originären Sicherungsverwahrung oder aus
lebenslanger Haft Entlassene in das Projekt einbezogen werden können,
insoweit liegen aber bereits umfangreiche Forschungsergebnisse vor. 41
Die Legalbewährung des für die hier vorgestellte Erhebung bedeutsamen
Personenkreises der Haftentlassenen nach erfolglosen Anträgen auf nach-
trägliche Unterbringung kann über verschiedene Aspekte in Verbindung mit
der Anordnung von Sicherungsverwahrung im allgemeinen und mit der
nachträglichen Anordnung im besonderen Aufschluss geben:
- Begehen die Entlassenen trotz ungünstiger Prognose nicht erneut er-
hebliche Straftaten gegen Leib, Leben, körperliche Unversehrtheit, se-
xuelle Selbstbestimmung oder persönliche Freiheit, werden die
Grundlagen der Prognose in Frage gestellt (falsche Positive).

- Begehen die Entlassenen bei günstiger Prognose erneut einschlägige


Delikte, spricht das dafür, dass die Prognosebeurteilung auch die
"Harmlosen" nicht hinreichend herausfiltern kann (falsche Negative).

- Unterscheidet sich die für die nachträgliche Sicherungsverwahrung


vorgesehene, aber letztlich doch entlassene Stichprobe in ihrem Le-
galverhalten nicht von der sonstigen Gefängnispopulation, so indiziert
das, dass es derzeit keine gültigen Diskriminierungskriterien zwischen
den beiden Gruppen gibt. Dann ste11t sich auch die grundsätzliche
Frage nach der kriminalpolitischen Legitimation der Sicherungsver-
wahrung.

40 Ullenbruch (Fn. 23), 63.


41 Kinzig (Fn. 35)~ Dessecker (Fn. 19).
744 Thomas Feltes / Michael Alex

Mit Rücksicht auf das Untersuchungsziel "Legalbewährung" sollte sich


die Datenerhebung auf Haftentlassene beschränken, die spätestens bis
31.12.2006 aus der Haft entlassen worden waren und bis zu einer Anfrage
beim zuständigen Bundesamt für Justiz bezüglich erneuter Delinquenz
mindestens 1 ~ Jahre in Freiheit gelebt hatten. Auf Grundlage der Vorüber-
legungen wurden zwei Erhebungsinstrumente entwickelt, um einerseits die
für einen Abgleich mit dem Bundeszentralregister erforderlichen Daten und
andererseits die für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung
relevanten Informationen erfassen zu können. In das Übersichtsblatt mit den
für den Abgleich mit dem Bundeszentralregister erforderlichen Daten soll-
ten von den um Auskunft gebetenen Staatsanwaltschaften bzw. Strafvoll-
streckungskammern Namen, Geburtsdaten und Entlassungstermin sowie mit
Rücksicht auf etwaige Nachfragen die zuständige Vollstreckungsbehörde
sowie das Aktenzeichen eingetragen werden. Der Erhebungsbogen zu den
Umständen des Anordnungsverfahrens diente dem Ziel, die in den Vollstre-
ckungsheften der Staatsanwaltschaft oder sonstigen Unterlagen zum Ver-
fahren der nachträglichen Unterbringung enthaltenen Informationen syste-
matisch zu erfassen, soweit sie für die Untersuchung von Bedeutung
schienen. Zur Identifikation war in den Bogen zunächst der Name des Be-
troffenen (später durch Code ersetzt) sowie das Aktenzeichen der zuständi-
gen Vollstreckungsbehörde einzutragen. Es folgten Informationen zu der
Verurteilung, die Anlass für den Antrag auf nachträgliche Anordnung der
Sicherungsverwahrung gewesen war (Delikt, Tatzeit, Datum der Verurtei-
lung, entscheidendes Gericht und Strafmaß). Anschließend sollten die den
Unterlagen entnehmbaren Vorverurteilungen oder Verurteilungen während
der Haftzeit erfasst werden, auch um ggf. Abweichungen gegenüber den
später einzuholenden Bundeszentralregisterauszügen feststellen zu können.
Danach waren im Erhebungsbogen der reguläre und der tatsächliche Entlas-
sungstermin mit der zur Verlängerung der Haft herangezogenen Ermächti-
gungsgrundlage einzutragen, bevor die Eintragungen zum eigentlichen
Anordnungsverfahren für die nachträgliche Sicherungsverwahrung vorzu-
nehmen waren (Informationen zu Antragstellung, Sachverständigengutach-
ten, erstinstanzlichen Entscheidungen, Rechtsmitteln, Rechtsmittelentschei-
dungen, Entscheidung, die zur Entlassung führte), und zwar jeweils die
Akteure, der Zeitpunkt der Intervention, ihr Inhalt sowie die Begründung.
Bezüglich der Sachverständigengutachten wurde inhaltlich zwischen Diag-
nose und Prognose getrennt. Der Erhebungsbogen zur Erfassung der Akten-
inhalte war insofern teilstandardisiert, als er zwar feste Kategorien enthielt,
die inhaltlichen Angaben aber offen sein sollten. Dadurch sollte auch Raum
für die Erfassung außergewöhnlicher Begründungen gelassen werden. Eine
Systematisierung der inhaltlichen Angaben sollte erst bei der Auswertung
erfolgen.
Kriminalpol. und kriminol. ProbleIne der Sicherungsverwahrung 745

Zunächst wurde im Mai 2007 das Justizministerium des Landes Nord-


rhein-Westfalen über die Ziele des Projekts und das geplante Vorgehen in
Kenntnis gesetzt und um Unterstützung gebeten. Diesem Schreiben waren
die Übersicht über die für den späteren Abgleich mit dem Bundeszentralre-
gister erforderlichen Daten, der Erhebungsbogen zur standardisierten Erfas-
sung von Akteninhalten sowie das Datenschutzkonzept rur das Projekt bei-
gefügt. Mit Schreiben vom 26.7.2007 teilte das Justizministerium mit, dass
es das Projekt unterstütze und mit Schreiben vom gleichen Tage die Justiz-
ministerien der übrigen Bundesländer ebenfalls um Unterstützung gebeten
habe.
Daraufhin wurden im August 2007 unter Bezugnahme auf das Empfeh-
lungsschreiben des Justizministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen die
Generalstaatsanwaltschaften über die Justizministerien der Bundesländer
um Auskunftserteilung gebeten. Die Reaktionen fielen unterschiedlich aus,
aber lediglich die Generalstaatsanwaltschaft Bremen verweigerte aus daten-
schutzrechtlichen Bedenken jegliche Auskünfte. In allen anderen Bundes-
ländern wurden die für die Übermittlung personenbezogener Informationen
zu Forschungszwecken gemäß § 476 StPO zuständigen Staatsanwaltschaf-
ten über das Proj ekt informiert und diese erteilten in unterschiedlicher Form
die erforderlichen Auskünfte.
Im Februar 2008 wurden die um Auskunft gebetenen Behörden nochmals
an das Anliegen erinnert. Das führte in einigen Ausnahmefällen noch zum
Erfolg. Ende März 2008 war aber davon auszugehen, dass weitere Auskünf-
te als die bis dahin über 69 Haftentlassene erteilten Auskünfte nicht erlangt
werden würden, so dass nunmehr beim Bundesamt rur Justiz die für die
Auswertung hinsichtlich der Legalbewährung erforderlichen aktuellen Aus-
züge aus dem Bundeszentralregister angefordert werden konnten. Auf eine
entsprechende Anfrage übersandte das Bundesamt rur Justiz im Juli 2008 in
pseudoanonymisierter Form aktuelle Bundeszentralregisterauszüge der in
die Untersuchung einbezogenen Probanden. Nach einer ergänzenden Nach-
frage im Januar 2009 waren schließlich verwertbare Auskünfte über 77 von
der Unterbringung nach Strafende bedrohte Häftlinge, die mangels Durch-
setzbarkeit entsprechender Anträge bis zum 31.12.2006 aus dem Strafvoll-
zug entlassen worden waren, vorhanden.
Bei der Auswertung der Untersuchung muss berücksichtigt werden, dass
zwischen dem letztmöglichen Entlassungstermin (31.12.2006) und dem
ersten Abgleich mit aktuellen Auszügen aus dem Bundeszentralregister
(30.6.2008) nur ein Zeitraum von 1 1i Jahren liegt. Im Durchschnitt lag
zwischen Entlassung und Abgleich mit dem Bundeszentralregister ein Zeit-
raum von 33 Monaten. Gerade im Hinblick auf gravierendere Rückfallde-
linquenz werden so kurze Zeiträume für die Legalbewährung teilweise als
746 Thomas Feltes / Michael Alex

unzureichend erachtet. Dahle42 fordert einen Katamnesezeitraum von fünf


Jahren, Schneider43 bezüglich Sexualstraftaten sogar einen Zeitraum von 15
Jahren. Der Rückfalluntersuchung von Jehle et al. im Auftrag der Bundes-
44
regierung liegt ein Intervall von vier Jahren zwischen Entlassung und
neuer Registrierung zugrunde. Die Ergebnisse der hier dargestellten Unter-
suchung können deshalb im Hinblick auf die Legalbewährung der Proban-
den nur vorläufig sein. In Einzelfällen waren den Vollstreckungsunterlagen
bereits bei der Auswertung 2007/2008 neue Haftbefehle und (nicht rechts-
kräftige) Urteile zu entnehmen, so dass in den kommenden Jahren noch
einige weitere Rückfälle zu erwarten sind. Der Abgleich mit Auszügen aus
dem Bundeszentralregister soll deshalb in der zweiten Hälfte des Jahres
2011 wiederholt werden, wenn auch für die im 2. Halbjahr 2006 entlassenen
Probanden der Entlassungstermin fünf Jahre zurück liegt.
Andererseits darf nicht außer acht gelassen werden, dass die Rechtspre-
chung eine "gegenwärtige" Gefährlichkeit für die nachträgliche Anordnung
der Sicherungsverwahrung verlangt, bei der Erwartung längerfristiger posi-
tiver Legalbewährung die Anordnung von Sicherungsverwahrung also auch
aus diesem Grunde unzulässig wäre.
Im Übrigen sind die Befunde zur Rückfallgeschwindigkeit uneinheitlich.
In einer Untersuchung, in der auch die Rückfallgeschwindigkeit von Haft-
entlassenen, bei denen nach dem neuerlichen Delikt im folgenden Urteil
zugleich mit der Strafe Sicherungsverwahrung verhängt worden war, erfasst
wurde, kam Kinzig in seiner Erstuntersuchung zur Sicherungsverwahrung
zu dem Ergebnis, dass bei nur 11,40/0 der Probanden, bei denen später Si-
cherungsverwahrung angeordnet wurde, der Rückfallzeitraum mehr als 2
Jahre betrug. 47,7% der einbezogenen Sexualtäter und 57,8% der Raubtäter
waren demgegenüber noch während der Haft oder binnen 6 Monaten nach
der Entlassung in so erheblichem Umfang rückfällig geworden, dass die
formellen Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungsverwahrung
gemäß § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB erfüllt waren. 45
Harrendorj6 stellte fest, dass die Rückfallgeschwindigkeit in den meisten
von ihm untersuchten Deliktsgruppen recht hoch war. Fast 1/3 der Rückfäl-
le der Gewalttäter ereignete sich im ersten Halbj ahr nach "Risikoeintritt"
(Verurteilung zu ambulanter Maßnahme oder Entlassung), die Hälfte im

42 Dahle in: Kröber/Dölling/Leygraf/Saß (Hrsg.), Handbuch der Forensischen Psychiatrie.


Bd. 3,2006, S. 9.
43 Schneider (Fn. 38), 251 ff.
44 Jehle/Heinz/Sutterer Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen - eine kommen-
tierte Rückfallstatistik, 2003, S. 21.
45 Kinzig (Fn. 5), S. 235 ff.
46 Harrendorf Rückfalligkeit und kriminelle Karrieren von Gewalttätern. Ergebnisse einer
bundesweiten Rückfalluntersuchung, 2007, S. 206 ff.
Kriminalpol. und kriminol. Probleme der Sicherungsverwahrung 747

ersten Jahr. In der ersten Hälfte des zweiten Jahres des Rückfallzeitraumes
wurden weitere 250/0 rückfällig, danach sanken die Anteile deutlich. Das
Rückfallrisiko sank mit der Dauer des rückfallfreien Intervalls. Er kam zu
dem Schluss, dass generell eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass Ge-
walttäter, die im Rückfallintervall von vier Jahren nicht erneut straffällig
wurden, dies auch danach nicht mehr werden. Bei sexuellen Gewaltdelikten
und Tötungen vollzog sich die Entwicklung langsamer, aber auch bei sexu-
eller Gewalt fanden beinahe 80% der Rückfälle in den ersten zwei Jahren
des beobachteten Risikozeitraumes statt, im vierten Jahr noch 50/0. 47
Im Hinblick auf Entlassungen aus dem Maßregelvollzug zeigt Seifert auf,
dass gerade der Übergang zwischen kustodialer Einrichtung und ambulanter
Betreuung als besonders sensible Phase gilt, in der es überrepräsentativ
häufig zum Scheitern der Wiedereingliederung kommt. In der von ihm
vorgestellten "Essener Prognosestudie" scheiterte bei 21,60/0 der aus Maß-
regeleinrichtungen entlassenen forensischen Patienten die Wiedereingliede-
rung in die Gesellschaft. Bei 78% der Stichprobe (n = 255) geschah dies
innerhalb der ersten 2 Jahre nach der Entlassung. 48 Insbesondere die ersten
1 ~ Jahre in Freiheit hält er für besonders bedeutsam und fordert, dass zur
Berücksichtigung von Veränderungen der Lebenssituation in dieser risiko-
vollen Zeit der "soziale Empfangsraum" so gestaltet werden muss, dass er
die Möglichkeit frühzeitiger Intervention bietet, um die Gefahr eines Delikt-
rückfalls zu reduzieren. Unter den gegenwärtigen Bedingungen sieht er das
durch die Führungsaufsicht nicht gewährleistet, sondern nur durch eine
professionelle forensische Nachsorge mit "Helferrunden" und ambulanter
Nachbetreuung.

2. Ergebnisse der Untersuchung


Nach den vorliegenden Unterlagen und veröffentlichten Entscheidungen
sind vom Jahr 2001 (zunächst auf Grundlage von Straftäter-Unter-
bringungsgesetzen einzelner Bundesländer) bis Ende 2006 etwa 115 Anträ-
ge auf Anordnung der nachträglichen Unterbringung durch die Gerichte
zurückgewiesen worden. Auf Grundlage der Straftäter-Unterbringungs-
gesetze einzelner Bundesländer ergab sich zunächst folgendes Bild (s. Ta-
belle 1):

47 Harrendorfa.a.O., S. 209.
48 Seifert in: Schmidt-QuernheitnlHax-Schoppenhorst: Professionelle forensische Psychiat-
rie, 2. Aufl. 2008, S. 283-292, 287.
748 Thomas Feltes / Michael Alex

Tabelle 1: Nachträgliche Unterbringung auf Grundlage von bis 2004


anwendbaren Ländergesetzen (rechtskräftige Anordnungen)
Baden- Bayern Nieder- Sachsen- Thürin-
Württem- (BayStrUBG) sachsen Anhalt gen
berg (NUBG) (UBG LSA) (Thür-
(StrUBG) StrUBG)
Anordnungen 0 4 1 1 1
Ablehnungen 9 32 1 1 ungeklärt
Anträge 16 36 2 2 7

Quelle: Kinzig (Fn. 35),20-28. Nach Auskunft des Bayerischen Justizminis-


teriums vom 22.10.2007 im Rahmen des hier dargestellten Forschungsvor-
haben gab es in Bayern nur 21 Ablehnungen. Abweichend von dieser Aus-
kunft werden die Zahlen in der Tabelle allerdings auch durch Meldungen in
"Der Spiegel" v. 20.10.2003 sowie in "Die Welt" v. 23.10.2003 weitgehend
bestätigt.
Nach Einfiihrung des § 66b StGB sind in den wenigen Fällen, in denen
eine rechtskräftige Anordnung der Unterbringung erfolgt war, mit Rück-
sicht auf die von Bundesverfassungsgericht und Bundestag nur bis
30.09.2004 befristet gebilligte Weitergeltung der Ländergesetze bis
30.09.2004 zusätzlich Anträge gemäß § 66b StGB gestellt worden, die teil-
weise vom Bundesgerichthof zurückgewiesen worden sind. 49 Unter Berück-
sichtigung der Mitteilung des Bayerischen Justizministeriums vom
22.10.2007 ist somit davon auszugehen, dass etwa 40 Anträge, die von
Justizvollzugsanstalten auf Grundlage der Straftäter-Unterbringungsgesetze
insbesondere in Bayern und Baden-Württemberg gestellt worden waren,
letztlich nicht zu einer nachträglichen Unterbringung geführt haben.
Bis Oktober 2006 war darüber hinaus der Bundesgerichtshof mit 21 Ver-
fahren zur nachträglichen Sicherungsverwahrung befasst, wobei lediglich
drei Anordnungen letztendlich Bestand hatten. 50 Hinzu kommen etwa 50
Fälle, in denen Anträge auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsver-
wahrung bereits auf untergerichtlicher Ebene endgültig scheiterten, wie sich
den im Rahmen dieses Forschungsprojekts übermittelten Daten entnehmen
lässt.
Von den um Auskunft gebetenen Justizministerien der Bundesländer
und/oder den zuständigen Staatsanwaltschaften, in Einzelfällen auch durch
veröffentlichte untergerichtliche Entscheidungen (n = 5) wurden bis Ende
2008 Daten über 102 Fälle erlangt, in denen zunächst Anträge auf nachträg-
liche Unterbringung nach Straftäter-Unterbringungsgesetzen der Länder

49 BGHSt 50, 121 ~ BGH NJW 2006, 1446.


50 Ullenbruch (Fn. 23), 63.
Kriminalpol. und kriminol. Probleme der Sicherungsverwahrung 749

Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thürin-


gen und seit 2004 Anträge gemäß § 66b StGB letztlich nicht zur nachträgli-
chen Anordnung der Sicherungsverwahrung gefuhrt hatten und die Verur-
teilten deshalb bis zum 3 1.12.2006 aus der Haft entlassen worden waren.
Nicht enthalten in diesen 102 Fällen sind 13 von den verschiedentlich
erwähnten 16 Ablehnungen nach dem StrUBG B_W. 51 Trotz nochmaliger
Nachfrage beim OLG Karlsruhe am 15.10.2008 und Unterstützung durch
das Gericht konnten weitergehende Informationen zu diesen 13 verweiger-
ten Unterbringungen von den Strafvollstreckungskammern ebenso wenig
erlangt werden wie von den Strafvollstreckungskammern in Bayern in 17
von 22 vom Justizministerium gemeldeten Fällen nach dem BayStrUBG.
Auch über runf weitere einschlägige Fälle, die in Bayern, Bremen, Hessen
und Niedersachsen entschieden worden waren, wurden keine weitergehen-
den Auskünfte erteilt.
Damit verbleiben 77 Fälle, bei denen ein Abgleich mit aktuellen Auszü-
gen aus dem Bundeszentralregister möglich war und darüber hinaus zumin-
dest teilweise Einsicht in Vollstreckungshefte bzw. Verfahrensakten ge-
währt wurde. Im Hinblick auf die Fragestellung waren sechs
Vollstreckungshefte nur begrenzt ergiebig, weil die Staatsanwaltschaft in
diesen Fällen auf Anregung der JVA nur eine Vorprüfung vorgenommen,
aber keinen Antrag auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwah-
rung gestellt hat. t

Insgesamt dürften die von Gerichtsentscheidungen nach § 66b StGB be-


troffenen Haftentlassenen fast vollständig von der Untersuchung erfasst
worden sein, lediglich bei den abgelehnten Unterbringungen nach den Straf-
täter-Unterbringungsgesetzen in Baden-Württemberg und Bayern gibt es
größere Lücken. Über die Gründe fur die im Vergleich zu den Staatsanwalt-
schaften deutlich geringere Kooperationsbereitschaft der Strafvollstre-
ckungskammern kann angesichts ihres Schweigens auch nach Erinnerung
nur spekuliert werden. Am plausibelsten scheint, dass die Unterstützung des
Projekts als unzumutbare Arbeitsbelastung oder im Hinblick auf die richter-
liche Unabhängigkeit abgelehnt worden ist.
Gerade weil die von der Auskunftsverweigerung betroffenen 33 Fälle
nach den Straftäter-Unterbringungsgesetzen durch den relativ langen Ka-
tamnesezeitraum von bis zu 5 Jahren für eine Rückfalluntersuchung beson-
ders aussagekräftig sein dürften, ist die Verweigerungshaltung bedauerlich.
Andererseits ist die so entstandene Lücke im Datenpool rur die Beurtei-
lung des § 66b StGB weniger erheblich, weil nach den Ländergesetzen noch
enger als in § 66b StGB die Gefahr ausdrücklich "gegenwärtig" sein muss-
te, der Rückfall also unmittelbar nach der Entlassung zu erwarten war. Eine

51 Kinzig (Fn. 35), S. 19.


750 Thomas Feltes / Michael Alex

auch nur wenige Monate überdauernde Legalbewährung hätte danach be-


reits ausgereicht, die Rechtswidrigkeit der ursprünglich angestrebten Unter-
bringung festzustellen. Die von der überwältigenden Mehrheit im Bundes-
tag beschlossene und in der Gesellschaft eher als nicht ausreichend
betrachtete nachträgliche Sicherungsverwahrung gemäß § 66b StGB wird
demgegenüber nur in Frage zu stellen sein, wenn auch längerfristig kein
einschlägiger erheblicher Rückfall erfolgt. Insofern sind die praktischen
Erfahrungen mit dem § 66b StGB perspektivisch sicher bedeutsamer als die
Erkenntnisse aus der Zeit, als die "Polizeigesetze" der Bundesländer galten.
Hauptanliegen der Untersuchung war deshalb die Überprüfung der Legal-
bewährung einer auch längerfristig für besonders gefahrlieh gehaltenen
Stichprobe von Haftentlassenen.
Der Abgleich mit dem Bundeszentralregister ergab in den 77 Fällen, in
denen ausreichende Auskünfte für eine Anfrage beim Bundesamt für Justiz
erteilt worden waren, folgendes Bild zur Rückfallhäufigkeit der Entlassenen
(Tabelle 2):

Tabelle 2: Strafböhe bei erneuter Verurteilung (n = 77)

Erneute Verurteilung zu Keine erneute


Eintragung
bis 30.06.2008
Geldstrafe Freiheitsstrafe Freiheitsstrafe
mit Bewährung ohne Bewährung
10 5 12, davon 3 zu- 50
sätzlich SV

Einzelheiten hinsichtlich der Verurteilungen zu Freiheitsstrafen ohne Be-


währung (n = 12) sind in der folgenden Übersicht (Tabelle 3) dargestellt:
Kriminalpol. und kriminol. Probleme der Sicherungsverwahrung 751

Tabelle 3: Delikte bei Verurteilung zu Freiheitsstrafe ohne Bewährung


und Strafmaß
Delikt Strafmaß Einschätzung
der Gefähr-
lichkeit durch
Gutachter
Diebstahl 4 Monate hoch
Diebstahl, BtMG 7 Monate und 2 Wo. Kein Gutachten
erstellt
Diebstahl, BtMG 10 Monate Kein Gutachten
erstellt
Körperverletzung in zwei Fäl- l Jahr und 4 Monate hoch
len, Nötigung, Diebstahl,
vorsätzlicher Vollrausch
Betrug, BtMG, 1 Jahr und 4 Monate mittel
Weisungsverstoß gegen FA
Gemeinschaftlicher Raub, 2 Jahre und 2 Monate hoch
gef. Körperverletzung
Gemeinschaftlicher Diebstahl 2 Jahre und 6 Monate hoch
Sexuelle Nötigung, Körper- 3 Jahre und hoch
verletzung Sicherungsverwahrung
Gewerbsmäßiger Handel 3 Jahre und 6 Monate hoch
mitBtM
Betrug, Einbruchsdiebstahl, 4 Jahre hoch/mittel
Urkundenfälschung
Schwerer sexueller Missbrauch 7 Jahre und hoch
von Kindern Sicherungsverwahrung
Schwere räuberische Erpres- 11 Jahre und Kein Gutachten
sung, BtMG Sicherungsverwahrung erstellt

Vier Delikte sind Katalogtaten des § 66b StGB, erreichen also die dort ge-
forderte Erheblichkeit für die Integrität der Opfer. Einschränkend ist aller-
dings darauf hinzuweisen, dass erst etwa 30% der Probanden (n=21) vor
mehr als 3 Jahren aus der Haft entlassen worden sind und 6 der 12 Verurtei-
lungen zu unbedingten Freiheitsstrafen auf diese kleine Gruppe entfallen. In
den kommenden Jahren sind also noch einige weitere Rückfälle zu erwar-
ten, in Einzelfällen lassen sich den Unterlagen bereits jetzt neue Haftbefehle
und (nicht rechtskräftige) Urteile entnehmen. 52 In regelmäßigen Abständen
zwischen drei und fünf Jahren müsste deshalb der Abgleich mit dem Bun-

52 Ein weiterer Rückfall mit einem Sexualdelikt (sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger


Personen) lässt sich der Rechtsprechung entnehmen, BGH, Urt. v. 23.3.2006, R&P 2006,
205 f. Zu diesem Fall wurden keine Auskünfte erteilt. Allerdings war die Entlassung aus der
Sicherungsverwahrung auch nicht aus rechtlichen Gründen erfolgt, sondern in Form der Aus-
setzung der Unterbringung zur Bewährung.
752 Thomas Feltes / Michael Alex

deszentralregister wiederholt werden, wenn eine langfristige Ermittlung der


Rückfallhäufigkeit angestrebt wird. Das wäre zwar von wissenschaftlichem
Interesse, mit Rücksicht auf die von der Rechtsprechung geforderte "Ge-
genwärtigkeit der Gefährlichkeit" wären solche Nachuntersuchungen zur
Legitimität der nachträglichen Sicherungsverwahrung aber unerheblich.
Hinsichtlich derartiger Wiederholungen ist außerdem zu bedenken, dass
bereits im Jahre 2008 vier der Entlassenen verstorben waren. Von den übri-
gen Probanden waren Ende des Jahres 2008 37% (27) 50 Jahre und älter
sowie weitere 37% (27) 40 Jahre und älter, also nur eine Minderheit von
26% (19) war jünger als 40 Jahre und damit in einem besonders rückfallge-
fährdeten Alter. Abgesehen von den schon in früher Jugend auffällig ge-
wordenen Tätern und der Gruppe der persistenten Intensivtäter geht die
strafrechtliche Auffälligkeit im Alter zwischen 30 und 40 Jahren deutlich
zurück. 53
Die Einschätzungen zur Rückfallgefährdung bei den erneut zu Freiheits-
strafen Verurteilten sind zu uneinheitlich, als dass daraus weitreichende
Schlüsse gezogen werden könnten. Zwar hat in 8 der 12 Fälle zumindest ein
Sachverständiger ein hohes Rückfallrisiko angenommen, doch bei der Hälf-
te dieser Fälle lag das neue Delikt unterhalb der Schwelle des § 66b StGB.
Andererseits ist bei der Rückfalltat mit dem höchsten Strafmaß eine Begut-
achtung gar nicht erst vorgenommen worden, weil bereits die Staatsanwalt-
schaft unter Berücksichtigung der Anlassverurteilung keine neuen Tatsa-
chen und keinen "Hang" erkennen konnte. Die Einholung von
Sachverständigengutachten hängt demnach weitgehend davon ab, wie
streng der Maßstab ist, der an die seit der maßgeblichen Verurteilung einge-
tretenen Veränderungen gelegt wird.
Zwischen der Gruppe der erneut registrierten und der Gruppe der (bis
zum Ende des Untersuchungszeitraums) unauffälligen Haftentlassenen
konnten nur ausnahmsweise statistisch bedeutsame Unterschiede festgestellt
werden. Weder die Gefährlichkeitseinschätzung in den Sachverständigen-
gutachten noch die von den Sachverständigen ermittelten Diagnosen stan-
den in Zusammenhang mit der tatsächlichen Rückfallhäufigkeit noch das
Delikt, das Anlass für die Prüfung der nachträglichen Sicherungsverwah-
rung gegeben hatte. Lediglich die Vorstrafenbelastung stellte ein Indiz für
eine erneute Straftatbegehung dar. Haftentlassene mit fünf oder mehr Vor-
strafen wurden häufiger erneut verurteilt als diejenigen, die keine oder nur
wenige Vorstrafen aufzuweisen hatten. Dass der Anteil von vielfach Vorbe-
straften an der Gesamtheit der registrierten Delinquenz wesentlich größer ist
als der von Menschen ohne oder mit weniger Vorstrafen, ist allerdings keine

53 StellylThomas Kriminalität im Lebenslauf, 2005, S. 260~ Dahle (Fn. 42), S. 22 ff.~ Feltes
(Fn. 35), 286.
Kriminalpol. und kriminol. Probleme der Sicherungsverwahrung 753

neue Erkenntnis, wobei zu berücksichtigen ist, dass auch einem großen Teil
der vielfach Vorbestraften der Ausstieg aus der Delinquenz gelingt. 54

VII. Fazit
Angesichts der äußerst geringen Quote von Neueinträgen von erheblicher
Bedeutung im Bundeszentralregister ist davon auszugehen, dass die Gefähr-
lichkeit von nach vielen Jahren aus der Haft entlassenen Verurteilten durch
die beigezogenen Sachverständigen weit überschätzt wird. Das kann mit der
Profession der beauftragten Sachverständigen zusammenhängen, deren
Blick weniger auf kriminogene Faktoren als auf psycho-pathologische Per-
sönlichkeitszüge gerichtet ist; es dürfte aber vorrangig auf die trotz aller
methodischen Verbesserungen weiterhin unzureichenden Möglichkeiten
einer zuverlässigen Gefährlichkeitsprognose zurückzuführen sein. Krimi-
nalprognose bleibt ein Feld, dem wissenschaftstheoretisch und methodisch
enge Grenzen gesetzt sind. Statische Faktoren aus der Vergangenheit wer-
den von Veränderungen im Alterungsprozess überlagert, eine gute Entlas-
sungsvorbereitung kann einen sozialen Empfangsraum in einem protektiven
Umfeld aufbauen, vermeintlich protektive Faktoren können nach der Ent-
lassung durch Beziehungsabbrüche oder ähnliche Veränderungen ihre
schützende Wirkung verlieren. 55 Mit der Erarbeitung von Standards für die
Gutachtenerstellung und der Verbesserung des diagnostischen Instrumenta-
riums hat vor allem die Psychiatrie bei den Entscheidungsträgern - bis hin
zum Bundesverfassungsgericht - viel zu hohe Erwartungen an die Zuverläs-
sigkeit der abgegebenen Prognosen geweckt. Allzu vorsichtig sind die Un-
sicherheiten bezüglich der PrognosesteIlung formuliert worden, so dass es
der Politik zuletzt leicht fiel, Sicherungsverwahrung sogar für nach Jugend-
strafrecht Verurteilte einzuführen, nachdem vor gerade einmal 20 Jahren die
wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Abschaffung der unbestimmten Ju-
gendstrafe geführt hatten. Statt immer wieder darauf hinzuweisen, wie vali-
de die neuen Instrumente der Prognosebeurteilung sind, sollten Psychiatrie
und Psychologie viel deutlicher herausstellen, wie hoch die Zahl der "Fal-
schen Positiven" ist, also der Anteil der Ungefährlichen, die mit Rücksicht
auf das vermeintliche Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung unberechtigt
auf Dauer in psychiatrischen Krankenhäusern oder Justizvollzugsanstalten
eingesperrt sind. Ohne die Weigerung, sich an dem symbolischen Spiel der
Politik, "Sicherheit vor Kinderschändern" als Ausgleich für eine allgemeine
Verunsicherung zu missbrauchen, zu beteiligen, machen sich forensische

54 2. periodischer Sicherheitsbericht der Bundesregierung 2006, S. 640 ff.


55 Vgl. zur Bedeutung protektiver Faktoren Nowara in: Barton (Fn. 34), S. 182 f.
754 Thomas Feltes / Michael Alex

Psychiatrie und forensische Psychologie zum Komplizen der Ausgren-


zungsstrategie.
Für die Ausgestaltung des Strafvollzugs hat die ungerechtfertigte Fokus-
sierung auf vermeintliche Sicherheit verheerende Auswirkungen. Entlas-
sungsvorbereitungen wie Kontaktaufnahme zu Nachsorgeeinrichtungen
oder Wohnungssuche werden mit Rücksicht auf die voraussichtliche Fort-
dauer der Inhaftierung eingestellt, so dass letztlich unmittelbar vor der Ent-
lassung nur noch eine Unterbringung in betreuten Wohneinrichtungen orga-
nisiert werden kann und die Planung einer ambulanten Nachsorge der
Führungsaufsicht überlassen werden muss. 56 Während des Schwebezustan-
des zwischen einstweiliger Unterbringung und endgültiger Gerichtsent-
scheidung hindern Verwaltungsvorschriften die Justizvollzugsanstalt an der
Gewährung von Vollzugslockerungen, so dass die Anstalt gezwungen ist,
ihrerseits bei Gericht auf unklarer Rechtsgrundlage Vollzugslockerungen zu
beantragen.
Insgesamt stellt die Sicherungsverwahrung den Strafvollzug vor unlösba-
re Aufgaben. Einerseits fordert das Bundesverfassungsgericht eine resozia-
lisierungsförderliche Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung und die
Einhaltung des Abstandsgebots gegenüber den sonstigen Gefangenen, ande-
rerseits verweigern die Gerichte zunehmend wegen Sicherheitsbedenken die
Entlassung von Sicherungsverwahrten, während der Strafvollzug aus Si-
cherheitsgründen nur sehr begrenzte Möglichkeiten sieht, das Abstandsge-
bot zu wahren. So wird eine zunehmende Zahl von hoffnungslosen Inhaf-
tierten erzeugt, die kaum noch etwas zu verlieren haben und
dementsprechend den Strafvollzug vor zusätzliche Probleme stellen. Prob-
leme, die bis hin zur Sterbebegleitung reichen.

56 Vgl. zur Problematik BGHSt 50, 373, 384.


Ausgewählte Fragen des Maßregelrechts

BERNHARD BÖHM*

I. Einleitung
Gemessen an der Bedeutung, die das Recht der Maßregeln rur Gesetzge-
bung, Rechtsprechung und Betroffene besitzt, fristet es in Forschung und
Lehre eher ein Schattendasein. Heinz Schöch hingegen war und bleibt die-
sem Rechtsgebiet verbunden, wie nicht zuletzt seine Kommentierung der
§§ 61 bis 64 StGB in der aktuellen (12.) Auflage des Leipziger Kommentars
belegt. Ihm ist dieser Beitrag über aktuelle Entwicklungen auf dem Gebiet
der Maßregeln der Besserung und Sicherung gewidmet, das in dem Bemü-
hen der Kriminalpolitik, zur Bekämpfung von Kriminalität den Sicherungs-
aspekt zu betonen, geradezu zwangsläufig im Mittelpunkt steht. Angesichts
der bisweilen überaus rasanten Entwicklung von Gesetzgebung und Recht-
sprechung auf diesem Feld muss sich der Beitrag dabei auf Schlaglichter
beschränken. So wird zunächst ein kurzer Blick zurück auf die Reform der
Führungsaufsicht geworfen,l anschließend der erst jüngst wieder aufgewor-
fenen Frage nach der Zulässigkeit einer Kombination aus lebenslanger Frei-
heitsstrafe und Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
nachgegangen und anhand einer Auswertung der Daten im Bundeszentral-
register die Anordnungspraxis der Gerichte dargestellt. Den Schluss bilden
einige Gedanken, die ein internationaler Vergleich nahe legt.

* Der Verfasser ist Ministerialdirigent im Bundesministerium der Justiz. Der Beitrag gibt
ausschließlich seine eigene Meinung wieder.
1 Zu der Heinz Schöch deutliche Impulse beigesteuert hat, beginnend bei der Grundsatzent-
scheidung, das Instrument der Führungsaufsicht zu reformieren und nicht etwa abzuschaffen~
die Begründung zum Regierungsentwurf (BT-Drs. 16/1993, S. 12) verweist insoweit u. a.
ausdrücklich auf seine Ausführungen in NStZ 1992, 364 ff.
756 Bernhard Böhm

11. Die Reform der Führungsaufsicht


1. Ausgangspunkt
Das Gesetz zur Reform der Führungsaufsicht ist am 18. April 2007 in
Kraft getreten. 2 Über den rechtstatsächlichen Stand bei Inkrafttreten sind
repräsentative Angaben nur schwer möglich, seit die Länderstatistiken die
Zahl der Probanden der Führungsaufsicht nicht mehr gesondert ausweisen.
Angaben über ihre Gesamtzahl und deren Entwicklung sind lediglich fur
einzelne Länder und ausgewählte Zeiträume vorhanden. Für den Stichtag
1. Januar 2006 ist bekannt, dass in Nordrhein-Westfalen gut 4.500, in Berlin
etwa 1.700 Probanden unter Führungsaufsicht standen. Das bedeutete in
beiden Ländern einen deutlichen Anstieg gegenüber 1997; in Nordrhein-
Westfalen betrug er gut 300/0, für Berlin gar 700/0. 3 Für ganz Deutschland
schätzte der 2004 erstattete Bericht des Strafrechtsausschusses der Justizmi-
nisterkonferenz die Zahl auf bis zu 20.000 Probanden der Führungsauf-
sicht, 4 der 2. Periodische Sicherheitsbericht der Bundesregierung ging Ende
2006 von bis zu 25.000 Probanden aus. 5
Als statistisch abgesichert dürfen auch noch die Erkenntnisse über die Zu-
sammensetzung der Führungsaufsichts-Probanden gelten: Der größte Anteil
der Probanden entfiel auf die sog. "Vollverbüßer",6 weitere nennenswerte
Anteile vereinten die Erledigungsfalle gern. § 67d Abs. 5 StGB sowie die
Aussetzungsfalle nach § 67d Abs. 2 bzw. § 67b Abs. 2 StGB auf sich, wäh-
rend die nach § 68 Abs. 1 StGB gerichtlich angeordnete Führungsaufsicht
nur eine verschwindend geringe Rolle 7 spielte. In der Praxis dominieren
also mit den "Vollverbüßern" und den erfolglos in einer Entziehungsanstalt
Behandelten 8 Personen, denen eine erhöhte Rückfallgefahr zugeschrieben

2 BGBL I, S. 513 ff.; nach Einfügung des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB während des parlamen-
tarischen Verfahrens lautete der amtliche Name "Gesetz zur Reform der Führungsaufsicht und
zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung"; vgl. BT-Drs.
16/4740, S. 4 ff.
3 Für Hessen ging Reckling, Geschäftsführer des DBH e.V., in seiner Stellungnahme als
Sachverständiger vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages etwa von einer Steige-
rungsquote von 130 % im Zeitraum 2000-2005 aus.
4 Strafrechtsausschuss der Konferenz der Justizministerinnen und Justizrninister, Neufas-
sung der Vorschriften über die Führungsaufsicht: Länderauswertung und Empfehlungen (im
Folgenden: Bericht des Strafrechtsausschusses). Unveröffentlichter Bericht, 2004, S. 3 ff.
5 Bundesministerium des InnernlBundesministerium der ]usti= (Hrsg.), 2. Periodischer Si-
cherheitsbericht, 2006, S. 634.
6 Führungsaufsicht gern. § 68f StGB.
7 Für das Jahr 2003, in dem die Arbeiten an dem Reformgesetz endgültig aufgenommen
wurden, weist die Strafverfolgungsstatistik lediglich 41 Fälle aus, für das Jahr 2008 - das
letzte, für das bei Abfassung dieses Beitrags Angaben vorlagen - 23 Fälle, vgl. jew. Statisti-
sches Bundesamt Fachserie 10, Reihe 3, Tabelle 5.5.
8 Zu letzteren vgl. die Voraussetzungen in § 67d Abs. 5 S. 1 StGB.
Ausgewählte Fragen des Maßregelrechts 757

wird. Ferner spielen eine praktisch bedeutsame Rolle diejenigen Personen,


die ungeachtet einer psychischen Störung eine grundsätzlich positive Kri-
minalprognose aufweisen,9 sich jedoch wegen der psychischen Störung als
Personengruppe mit besonderem Betreuungsbedarf identifizieren lassen.
Neben der eher misslichen Erkenntnislage aus offiziellen bzw. öffentlich
zugänglichen Quellen belegen diese jeweils punktuellen, untereinander
jedoch durchaus konsistenten Angaben und Schätzungen also eine beträcht-
liche quantitative Ausweitung des Anwendungsbereichs von Führungsauf-
sicht. Das ist nach den Anfangen der Debatte um die Reform der Führungs-
aufsicht keineswegs selbstverständlich gewesen, denn eingangs dieser De-
batte in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre wurde zunächst vor allem die
Frage aufgeworfen, ob an der Führungsaufsicht als selbständiger Maßregel
überhaupt festgehalten werden solle. Gerade aus der Bewährungshilfe kam
zunächst das Verdikt, dass sich die Führungsaufsicht nicht bewährt habe. 10
Schon bald wurde indessen dagegen gehalten, dass die - durchaus berech-
tigten - Kritikpunkte im Wesentlichen an der Praxis der Führungsaufsicht
ansetzten, während das Institut selbst sozial- und kriminalpolitisch durchaus
als Fortschritt betrachtet werden müsse, habe es doch nicht nur die frühere
Polizeiaufsicht ersetzt, sondern auch die bedingte Entlassung aus Siche-
rungsverwahrung und anderen Unterbringungsarten flankierend ermög-
licht. 11

2. Das Reformgesetz
Der Reformentwurf12 basierte auf Vorarbeiten des Strafrechtsausschusses
der Justizministerkonferenz, die ihrerseits auf einer umfassenden Praxisbe-
fragung fußten und die Reformnotwendigkeiten grundlegend neu diskutiert
sehen wollten,13 dies jedoch ausdrücklich als Vorbereitung einer Neufas-
sung, nicht als Schritt zu ihrer Abschaffung. Es galt also, die Führungsauf-
sicht unter Wahrung ihrer ursprünglichen Bestimmung zu reformieren. Sie
soll im Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit Täter mit zweifelhafter Sozi-

9 Vgl. die gesetzlichen Voraussetzungen für die Aussetzung und Unterstellung in § 67b Abs.
1 S. 1 StGB.
10 Vgl. etwa: Resolution der Landesarbeitsgemeinschaft Belvährungshilfe in Niedersachsen,
BewHi 1986, 298. Allerdings dürfte der Hinweis von Schäch NStZ 1992, 369 f zutreffen, dass
das Unbehagen an der Führungsaufsicht älter sei als ihre Existenz und dass ihm tatsächlich
eher die Ablehnung von über die Bewährungshilfe hinausgehenden Überwachungsaufgaben zu
Grunde lag als konkrete schlechte Erfahrungen.
11 So die Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft der Führungsaufsichtsstellen in Nieder-
sachsen BewHi 1987, 213 ff; vgl. auch Schäch a.a.O., 369 f, und Meier Strafrechtliche Sank-
tionen, 2001, S. 240.
12 Hierzu und im Folgenden Schneider, U. NStZ 2007, 441 ff
13 S. Fn. 4.
758 Bernhard Böhm

alprognose kontrollieren helfen und diesen wiederum Betreuung und Unter-


stützung bei der Resozialisierung gewähren. Ziel der Reform war vor allem,
Effizienzprobleme dieses Instituts zu beseitigen, die im Hinblick auf organi-
satorische Fragen und die Sanktionierung von Weisungsverstößen erkannt
wurden. 14
Als ein wesentliches Effizienzproblem war bereits die Dualstruktur iden-
tifiziert, die aus einem in § 68a Abs. 2, 3 StGB a. F. nicht koordinierten
Nebeneinander von Aufsichtsstelle und Bewährungshelfer entstand,15 das
auch noch dadurch verkompliziert werden konnte, dass mehrere Unterstel-
lungen unter Führungsaufsicht parallel liefen. 16 Der Regierungsentwurf17
schlug hier eine Neufassung des § 68e StGB vor, die bis auf eine marginale
Änderung während des Gesetzgebungsverfahrens 18 Gesetzeskraft erlangte
und künftig helfen wird, entsprechende Reibungsverluste zu vermeiden.
Daneben erweiterte das Gesetz den Katalog der stratbewehrten Weisun-
gen,19 unter anderem um die Vorstellungsweisung in § 68b Abs. 1 S. 1 Nr.
11 StGB. Dabei handelt es sich nicht um eine stratbewehrte "Therapiewei-
sung", die der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf
gefordert hatte,20 vielmehr beschränkte sich der Gesetzgeber bewusst auf
einen deutlichen Anreiz für die Probanden, sich Therapieangeboten zu stel-
len. 21 Er folgte damit einer einmütigen Empfehlung der Sachverständigen
aus dem Gesetzgebungsverfahren, die eine "Zwangstherapie" ablehnten, da
sich die erforderliche soziale Interaktion und die innere Bereitschaft zur
Therapie nicht erzwingen lassen, zumal eine stratbewehrte Therapieweisung
ein unverhältnismäßiger Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des
Verurteilten wäre. 22 Andererseits setzt der Erfolg einer Therapie nicht vor-
aus, dass der Proband von Anfang an therapiewillig oder aus autonomen
Gründen zur Therapie bereit ist. Ausschlaggebend ist insofern, dass es ge-
lingt, den Probanden zur Mitwirkung zu motivieren. Nach diesem Ver-
ständnis ist die Herstellung der Behandlungsmotivation erstes Ziel, nicht
vorangehende Voraussetzung einer Behandlung. 23 Diesem Ziel dient die
neue Vorstellungsweisung, während daneben eine eigenständige Therapie-

14 Vgl. z. B. Schäch (Fn. 1),370 f.


15 Schäch (Fn. 1), 371~ vgl. auch Meier (Fn. 11), S. 240.
16 Vgl. Schneider (Fn. 12),446.
17 Mit Stellungnahme des Bundesrates und Gegenäußerung der Bundesregierung: BT-Drs.
16/1993.
18 Vgl. Bericht und Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, BT-Drs. 16/4740, S. 11 u.
S. 25 f.
19 Einzelheiten bei Schneider (Fn. 12),442 ff.
20 Vgl. BT-Drs. 16/1993, S. 26.
21 Schneider (Fn. 12),443: "den Probanden 'in das Behandlungszimmer' zu zwingen".
22 LK-H. Schneider, 12. Autl. 2008, § 68b Rn. 37.
23 Schneider (Fn. 12), 443.
Ausgewählte Fragen des Maßregelrechts 759

weisung in § 68b Abs. 2 StGB vorgesehen ist, dort jedoch nicht unter der
Strafbewehrung des § 145a StGB.
Das Gesetz institutionalisierte ferner die forensischen Ambulanzen und
damit ein qualifiziertes Nachsorgeangebot für die Straftätertherapie (vgl.
§ 68b Abs. 2 Sätze 2 und 3 sowie § 68a Abs. 7 StGB) und wollte damit ein
Zeichen für den Auf- und Ausbau von Nachsorgenetzen an die Länder ge-
ben. 24 Dass sich das Bundesgesetz hierauf beschränkte, hat teilweise Kritik
nach sich gezogen, die jedoch angesichts der eindeutigen verfassungsrecht-
lichen Kompetenzverteilung nicht durchgreifen kann. Auch innerhalb der
Länder mussten teilweise noch Fragen der Kompetenzverteilung geklärt
werden, die letztlich auf die Frage der Finanzierung hinaus laufen. Immer-
hin ist inzwischen deutlich erkennbar, dass die Länder sich der Aufgabe
stellen und an der Einrichtung bzw. dem Ausbau eines qualifizierten Nach-
sorgeangebots arbeiten. 25

3. Insbesondere: Die Dauer der vorübergehenden Unterbringung zur


stationären Krisenintervention (§ 67h Abs. 1 Satz 2 StGB)
Neu geschaffen wurde schließlich die Möglichkeit einer vorübergehenden
Unterbringung zur stationären Krisenintervention (§ 67h StGB). Das bis
dahin geltende Recht bot keine hinreichende Handhabe, nach Aussetzung
einer Unterbringung gemäß §§ 63, 64 StGB zur Bewährung auf akute Ver-
schlechterungen des Gesundheitszustands eines Probanden oder auf einen
akuten Rückfall in kriminalprognostisch relevantes Suchtverhalten rasch zu
reagieren. Vielfach können vorübergehende stationäre Unterbringungen die
Probanden wieder stabilisieren und ihnen die Rückkehr in ein geordnetes
Lebensumfeld ermöglichen. Die Praxis hatte sich in diesen Fällen bisweilen
mit dem Erlass eines Sicherungsunterbringungsbefehls nach § 453c Abs. 1
StPO beholfen, der hier rechtlich problematisch ist, denn er bezweckt die
Sicherung bis zum Widerruf der Aussetzung, um den es in diesen Fällen
zumindest anfangs gar nicht geht,26 Auch Möglichkeiten zur Unterbringung
psychisch Kranker nach Landesgesetzen fuhren hier regelmäßig nicht wei-
ter, da sie eine konkrete, gegenwärtige Gefahr fur Dritte voraussetzen, wäh-
rend eine effektive Krisenintervention eine derartige Gefahrenlage gerade
vermeiden helfen soll.

24 Schneider (Fn. 12),445.


25 Vgl. zuletzt die Berichte von Douka v. Bormann für Berlin, Mair für Bayern, SchatzlThiel
für Hamburg und Heuer rur Sachsen-Anhalt in Forum Strafvollzug 3/2009, 113 ff.
26 Begründung zum Regierungsentwurf (Fn. 2), S. 16 f., auch zu weiteren Problemen, die
der Erlass eines Sicherungsunterbringungsbefehls in diesen Fällen mit sich bringen kann.
760 Bernhard Böhm

Deshalb kann die ausgesetzte Unterbringung nunmehr vorübergehend


wieder in Vollzug gesetzt werden, wenn dies erforderlich ist, um einen
Widerruf nach § 67g StGB zu vermeiden. Dazu bedarf es keines förmlichen
Antrags, die Maßnahme kann also auch beispielsweise von der forensischen
Ambulanz unmittelbar beim Vollstreckungsgericht angeregt werden. 27 Die
vorübergehende Wiederinvollzugsetzung ist zunächst auf längstens drei
Monate befristet und kann verlängert oder mehrfach angeordnet werden; ist
ihr Zweck erreicht, kann das Gericht sie jederzeit aufheben (§ 67h Abs. 2
StGB).
Führt eine Kriseninterventionsbehandlung innerhalb der Höchstfrist von
sechs Monaten nicht zum Erfolg, wird regelmäßig eine so schwerwiegende
Störung vorliegen, dass ein Widerruf der Aussetzung unumgänglich ist. 28
Das wird gelegentlich in Zweifel gezogen, da bei länger andauernder oder
gar unbefristeter Führungsaufsicht sporadisch Krisensituationen auftreten
könnten, die immer wieder einmal eine Intervention erforderlich machten,
so dass auch bei Überschreiten der Höchstgrenze von sechs Monaten der
Widerruf der Aussetzung unverhältnismäßig erscheine. 29
Diese Auffassung stützt sich auf den Wortlaut der Vorschrift; § 67h
Abs. 1 Satz 2 lautet: "Unter den Voraussetzungen des Satzes 1 kann es [sc.
das Gericht] die Maßnahme erneut anordnen oder ihre Dauer verlän-
gern; die Dauer der Maßnahme darf insgesamt sechs Monate nicht über-
schreiten."30 Da der 2. Hs. "die Dauer der Maßnahme" (Singular) auf insge-
samt sechs Monate begrenzt, wird gefolgert, dass damit die jeweilige
einzelne Anordnung gemeint sei, ohne die Dauer der Kriseninterventions-
behandlung bei mehreren Anordnungen insgesamt an die Sechs-Monate-
Frist zu binden. 31 Das ist jedoch nur dann einleuchtend, wenn man den
2. Hs. isoliert betrachtet. Nimmt man den ganzen Satz in den Blick, ist
schon diese Wortlautinterpretation nicht sonderlich überzeugend, denn der
1. Hs. unterscheidet sprachlich eindeutig zwischen der ausschließlich im
Singular verwendeten "Maßnahme" Wiederinvollzugsetzung - das ist auch
der Singular des 2. Hs. - einerseits und ihrer erneuten, ggf. also mehrfachen
Anordnung andererseits. Vor diesem Hintergrund wäre es im Gegenteil eher
schwer zu erklären, wenn die Vorschrift im 1. Hs. für "die Maßnahme" eine
mehrfache Anordnung zuließe, im 2. Hs. dann jedoch einen Bedeutungs-
wechsel vollzöge und der Begriff "Maßnahme" nunmehr für jede einzelne
von mehreren Anordnungen stünde, wie es der Gegenmeinung entspräche.

27 Vgl. Begründung zum Regierungsentwurf (Fn. 2), S. 17.


28 A.a.O.
29 Vgl. WolfRPtleger 2007, 293, 295 (ohne nähere Begründung)~ in diese Richtung auch
LK-Rissing-van SaanlPeglau, 12. Autl. 2008, § 67h Rn. 21.
30 Erläuterung der Hervorhebung d. Verf. sogleich.
31 So tatsächlich LK-Rissing-van SaanlPeglau (Fn. 29).
Ausgewählte Fragen des Maßregelrechts 761

Erst recht ist diese Interpretation mit dem klar zum Ausdruck gebrachten
Willen des Gesetzgebers nicht zu vereinbaren. Die geltende Fassung hat die
Vorschrift während des parlamentarischen Verfahrens erhalten; die vorste-
hend fett hervorgehobenen Worte wurden vom Rechtsausschuss eingefügt,
um die Möglichkeit einer mehrfachen Anordnung klarzustellen, wobei an
der Sechs-Monate-Frist nichts geändert werden sollte. 32 Zutreffend kann die
Vorschrift also nur so interpretiert werden, dass die Dauer aller Wiederin-
vollzugsetzungen sechs Monate nicht überschreiten darf. 33 Aus Verhältnis-
mäßigkeitsgründen mag das im Einzelfall unangemessen erscheinen,34
gleichwohl ist das Erfordernis einer Befristung auch unter dem Aspekt im
Blick zu behalten, dass das Instrument der stationären Krisenintervention
tatsächlich auf die Intervention in Krisenlagen beschränkt bleiben muss und
nicht etwa zu einer Zwangstherapie "durch die Hintertür" führen darf. 35

111. Einzelne Aspekte der Änderungen des Rechts der


Sicherungsverwahrung
Keine der in § 61 StGB genannten Maßregeln erfuhr in den vergangenen
eineinhalb Jahrzehnten so häufig Änderungen ihrer gesetzlichen Vorausset-
zungen wie die Sicherungsverwahrung, die für den Betroffenen mit den
tiefsten Einschnitten verbundene Maßregel des deutschen Sanktionen-
systems. Hier ist nicht der Raum für eine umfassende Darstellung der stür-
mischen Entwicklung in dem - kriminalpolitisch gesehen - relativ kurzen
Zeitraum der zurückliegenden 15 Jahre, zumal eine solche Darstellung be-
reits mehrfach geleistet ist. 36 Hier verdient vor allem die dahinter stehende
rechtspolitische Tendenz festgehalten zu werden, in der Kriminalitätsbe-
kämpfung auf Sicherung zu setzen,37 wobei allenfalls selten auf größere
Veränderungen in der tatsächlichen Kriminalitätslage reagiert wird, sondern

32 S. BT-Drs. 16/4740, S. 7, in der Begründung dazu heißt es a.a.O., S. 23 ausdrücklich:


"Die Gesamtdauer der Maßnahmen darf jedoch wie im Falle der Verlängerung sechs Monate
nicht überschreiten".
33 So auch Fischer StGB, 57. Aufl. 2010, § 67h Rn. 7.
34 Das ist LK-Rissing-van SaanlPeglau (Fn. 29) ohne Weiteres zuzugeben, allerdings ist
eine Lösung, wie vorstehend geschildert, kaum im Wege der skizzierten Interpretation der
insoweit klar gefassten Vorschrift möglich.
35 Vgl. Fischer (Fn. 33), Rn. 6 für die insoweit vergleichbare Konstellation ganzer Anord-
nungsserien mit kurzen Fristen der Invollzugsetzung.
36 Vgl. nur Balt:zer Die Sicherung des gefährlichen Gewalttäters, 2005, S. 9 ff. sowie S. 171
ff., 208 ff. speziell zur Entstehungsgeschichte des § 66b StGB~ Kin=ig Die Legalbewährung
gefahrlicher Rückfalltäter, 2008, S. 9 ff.~ zur Entstehungsgeschichte des § 66 b StGB auch
Bender Die nachträgliche Sicherungsverwahrung, 2007, S. 31 ff.
37 Streng FS Lampe, 2003, S. 611.
762 Bernhard Böhm

spektakulären Einzelfällen und der daraus folgenden Berichterstattung eine


große Rolle zukommt,38

1. Kombination aus lebenslanger Freiheitsstrafe und Anordnung der


Sicherungsverwahrung
Das Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung39
schuf nicht nur den neuen § 66a StGB, sondern beseitigte auch die gesetzli-
che Beschränkung, wonach die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
nur neben "zeitiger Freiheitsstrafe" - so der Wortlaut von § 66 Abs. 1, 2
und 3 StGB a. F. - angeordnet werden durfte. Die alte Gesetzeslage fuhrte
zu einer logisch kaum nachvollziehbaren Unterscheidung: War die Strafe
(nur) eine lebenslange Freiheitsstrafe, konnte Sicherungsverwahrung ebenso
wenig angeordnet werden wie im Fall einer aus mehreren lebenslangen
Freiheitsstrafen gebildeten Gesamtstrafe. Traf hingegen lebenslange Frei-
heitsstrafe mit zeitiger Freiheitsstrafe zusammen und wurde deshalb auf
lebenslange Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe erkannt (§ 54 Abs. 1 S. 1
StGB), war die Anordnung der Sicherungsverwahrung möglich.
Den Ausgangspunkt dieser Problematik verortet Peglau40 sicherlich zu-
treffend in einer fehlenden gesetzgeberischen Abstimmung zwischen § 66
(bzw. dem vorangegangenen § 42e) StGB a. F. und dem später eingefuhrten
§ 57a StGB. Der historische Gesetzgeber der Vorschriften über die Siche-
rungsverwahrung hatte keine Veranlassung, sich zur Einbeziehung der le-
benslangen Freiheitsstrafe zu verhalten, denn seinerzeit war eine vorzeitige
Entlassung aus dem Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe nur durch
Gnadenentscheidung denkbar, die durch anschließende Unterbringung in
der Sicherungsverwahrung offen sinnwidrig konterkariert worden wäre.
Dem Ver! zugängliche Akten des Bundesministeriums der Justiz ließen
ferner nicht erkennen, dass umgekehrt mögliche Querverbindungen zu den
Regelungen über die Anordnung der Sicherungsverwahrung in die Überle-
gungen bei Schaffung des § 57a StGB einbezogen worden wären. Seinerzeit
ging es um eine Regelung, die dem Resozialisierungsgebot der Verfassung
nach Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe Rechnung trägt. 41 Für der-
artige Verurteilte wurde die gesetzliche Möglichkeit der vorzeitigen Entlas-
sung in Freiheit vorgesehen. Es ist zumindest verständlich, wenn dabei das
Augenmerk auf dieser Möglichkeit und dem Zeitpunkt der Entlassung lag,

38 Streng a.a.O., S. 611 f. ("politisch-publizistischer Verstärkerkreislauf')~ zu den Einzelfäl-


len vgl. Balt=er und Kinzig Uew. Fn. 36).
39 Vom 21. August 2002, BGBL I, S. 3344.
40 NJW 2000, 2981.
41 Zu Entstehungsgeschichte und Zweck der Vorschrift vgl. nur LK-Hubrach, 12. Aufl.
2008, § 57a "Entstehungsgeschichte" und Rn. 1.
Ausgewählte Fragen des Maßregelrechts 763

nicht hingegen auf der insoweit entgegengesetzten Möglichkeit, die Verur-


teilten nach Ende der Strafhaft im Wege der Sicherungsverwahrung weiter
in Gewahrsam zu halten, die seinerzeit nur zum Zeitpunkt der Aburteilung
angeordnet werden konnte. Gleichwohl waren Friktionen der entsprechen-
den gesetzlichen Regelungen im vorstehenden Sinne die Folge.
Die Beseitigung dieser Friktionen, die der BGH verschiedentlich moniert
hatte,42 war erklärtes Ziel des Gesetzgebers,43 auch wenn es sich dabei eher
um ein abstraktes Spannungsverhältnis als um ein Problem mit praktischen
Auswirkungen größeren Umfangs handelte. 44 Lediglich in einer seltenen
Konstellation zur Zeit der Anordnung kann die Neuregelung praktische
Relevanz entfalten: Wurde die Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe
- nach alter Rechtslage ohne die Möglichkeit einer Anordnung der Siche-
rungsverwahrung - aufgehoben, weil etwa die alleinige Revision des Ange-
klagten erfolgreich war, so war als Konsequenz aus dem Verschlechterungs-
verbot des § 358 Abs. 2 StPO auch im weiteren Verfahrensverlauf die An-
ordnung der Sicherungsverwahrung nicht mehr möglich, selbst wenn dann
auf eine den Voraussetzungen der §§ 66 f. StGB genügende zeitige Frei-
heitsstrafe erkannt wurde.
Aus der mangelnden praktischen Relevanz der Neuregelung für die Ent-
lassungssituation wird jüngst wieder der Schluss gezogen, dass die Anord-
nung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung neben lebenslanger
Freiheitsstrafe unterbleiben müsse. 45 Zur Kompensation der fehlenden An-
ordnungsmöglichkeit in der oben beschriebenen Konstellation soll auf § 66b
Abs. 1 S. 2 StGB zurückgegriffen werden, der an sich in einem ganz ande-
ren Zusammenhang, nämlich zur Behandlung der sog. "Altfallproblematik",

42 Zuletzt mit Urt. vom 21. März 2000 - 5 StR 41/00, NStZ 2000, 417. Ob diese Beschrän-
kung ungeachtet des weitgehenden Fehlens praktischer Konsequenzen - s. sogleich - tatsäch-
lich "sachlich bedenklich" war, wie in der früheren Entscheidung BGHSt 37, 160 ausgeführt
wurde, kann letztlich dahin gestellt bleiben.
43 Vgl. die übereinstimmenden Begründungen zum Regierungsentwurf, BR-Drs. 219/02,
S. 9, und zum Entwurf der seinerzeitigen Koalitionsfraktionen, BT-Drs. 14/8586, S. 5 f. Letzte-
rer wurde nach Maßgabe einiger diesen Punkt nicht berührenden Änderungen (vgl. Bericht und
Beschlussempfehlungen des Rechtsausschusses, BT-Drs. 14/9264) vom Parlament beschlos-
sen.
44 Insoweit sicherlich zutreffend verneinte deshalb Peglau NJW 2000, 2980 f. in seiner Be-
sprechung der oben (Fn. 42) zitierten BGH-Entscheidung einen :=wingenden gesetzgeberischen
Handlungsbedarf. Insgesamt dürften weder die jeweiligen Aussetzungsregelungen selbst noch
die begleitenden Regelungen über Unterstellung unter Bewährungshilfe (lebenslange Freiheits-
strafe) bzw. Eintritt der Führungsaufsicht (Sicherungsverwahrung) nennenswerte praktische
Divergenzen zeitigen, vgl. bereits Peglau a.a.O.~ Kin:=ig NJW 2002, 3204 f.~ ferner auch Fi-
scher (Fn. 33), § 67d Rn. 8.
45 Kett-Straub GA 2009, 586 ff.
764 Bernhard Böhm

eingeführt wurde. 46 Der Wortlaut dieser Vorschrift steht einer solchen Aus-
legung zunächst nicht unmittelbar entgegen,47 wohl aber der Wortlaut des in
erster Linie betroffenen § 66 StGB, der bereits für sich genommen den
Willen des Gesetzgebers eindeutig zum Ausdruck bringt.48
Diese Auffassung findet de lege lata also keine Stütze im Gesetz. Tat-
sächlich gehört die Kombination von lebenslanger Freiheitsstrafe und An-
ordnung der Sicherungsverwahrung gerade in den spektakulären Fällen der
Schwerstkriminalität, die das Verständnis der Bevölkerung von Strafrecht
und Strafjustiz nachhaltig prägen und mittelbar die Gesetzgebung beeinflus-
sen,49 heute zum eingebürgerten Instrumentarium der Gerichte. 50 Vor die-
sem Hintergrund ist die Sorge sogar verständlich, dass damit dem Eindruck
Vorschub geleistet werde, die lebenslange Freiheitsstrafe sei heute automa-
tisch zeitlich begrenzt und nur die Kombination aus lebenslanger Freiheits-
strafe und Sicherungsverwahrung gewährleiste ein "echtes Lebenslang". 51
Missverständnisse in der Öffentlichkeit über die tatsächliche Dauer des
Vollzugs einer lebenslangen Freiheitsstrafe und mediale Zuspitzungen da-
mit zusammenhängender Fragen sind ebenfalls zu beobachten, 52 auch wenn
die Diskrepanzen zwischen Rechtstatsachen und öffentlicher Wahrnehmung
("Lebenslang entspricht 15 Jahren Freiheitsstrafe") nicht ganz so gravierend
ausfallen, wie Kett-Straub offenbar annimmt: Nach der aktuellen Auswer-
tung der Kriminologischen Zentralstelle e. V. 53 lag das arithmetische Mittel
der verbüßten Haftzeit derj enigen, die im Jahr 2007 in Freiheit entlassen

46 Die Regelung war im Gesetz zur Reform der Führungsaufsicht (Fn. 2) enthalten; knappe
Darstellung des Inhalts bei Kinzig (Fn. 36), S. 64 f Übersicht über die "Altfall"-
Konstellationen bei LK-Rissing-van SaanlPeglau (Fn. 29), § 66b Rn. 125.
47 Anders jedoch der eindeutige Wille des Gesetzgebers, so zutr. LK-Rissing-van
SaanlPeglau (Fn. 29), § 66b Rn. 131.
48 Das gilt erst recht, wenn die Gesetzgebungsmaterialien herangezogen werden, vgl. Fn. 43.
49 Kett-Straub (Fn. 45), 600 f; Kinzig (Fn. 36), S. 9 ff sowie 21 ff belegt beispielsweise
eindrücklich, welche Auswirkungen spektakuläre Einzelfcille auf die Gesetzgebung des Bundes
und der Länder zur Sicherungsverwahrung hatten; ebenso bereits Schöch NJW 1998, 1257 für
das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten (usw.) vom 26. Januar 1998.
50 Entgegen der Sorge von Kinzig (Fn. 44), 3204 f, die Neuregelung könne durch erweiterte
Begutachtungspflichten die Hauptverhandlungen in den betreffenden Fällen verkomplizieren
und verlängern. Das scheint jedoch zumindest nicht in einem die Praxis ernsthaft beeinträchti-
genden Ausmaß zuzutreffen.
51 Kett-Straub (Fn. 45), 586 f im Anschluss an Kinzig (Fn. 44), 3205.
52 Siehe Kett-Straub (Fn. 45), 588 f, 600 f
53 Vgl. Dessecker Lebenslange Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrung - Dauer und
Gründe der Beendigung, 2009, S. 20 (Bericht der Kriminologischen Zentralstelle; im Internet
zu finden unter http://krimz.de/fileadminidateiablage/forschungitexte/LF_SV_2007.pdt).
Ausgewählte Fragen des Maßregelrechts 765

wurden, bei 17,9 Jahren, der gegen statistische Verzerrungen durch extreme
Einzelwerte weniger anfällige Median 54 bei 16,2 Jahren. 55
Es ist allerdings nicht zu erkennen, worin dann der Gewinn liegen sollte,
folgte man (der Gesetzgeber?) der Auffassung, dass Sicherungsverwahrung
nicht zugleich mit der Verurteilung, sondern nur durch nachträgliche Ent-
scheidung angeordnet werden dürfte. Dann gäbe es nach den Erfahrungen
der jüngeren Zeit gleich zwei Zeitpunkte, den der Aburteilung und den der
Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwah-
rung, zu denen diese Fragen breit thematisiert würden. Hier geht es wohlge-
merkt nicht um die Selbstverständlichkeit, dass eine mediale / öffentliche
Diskussion dieser Fragen möglich sein muss, sondern um das Anliegen,
Missverständnissen möglichst keinen Vorschub zu leisten, und gerade in
diesem Sinne wäre der Vorschlag Kett-Straubs kontraproduktiv. Da sie
außerdem nachträglich die Anordnung gern. § 66b Abs. 2 StGB zulassen
will,56 kann sie ferner kaum Verhältnismäßigkeitsaspekte oder die sachge-
rechte Berücksichtigung des "ultima ratio"-Prinzips ins Feld fuhren, denn
gegen diese Personengruppe ist die Anordnung der Unterbringung (oder
deren Vorbehalt) nach geltendern Recht nicht möglich. Schließlich greift
zumindest angesichts der herrschenden Vollzugspraxis auch die Annahme
zu kurz, dass damit zusätzliche Stigmatisierungen und Demotivierung im
Vollzug vermieden würden. 57 Tatsächlich stehen vielmehr alle Verurteilten,
die sich auch nur unter den formellen Voraussetzungen des § 66b Abs. 1
und 2 StGB im Vollzug befinden, dort unter besonderer Beobachtung. 58

54 Der Median ist derjenige Wert einer Verteilung, ober- und unterhalb dessen jeweils die
Hälfte der beobachteten Werte liegen.
55 Der von Kett-Straub für das vorangegangene Berichtsjahr (2006) angenommene Median
von ca. 19 Jahren findet in der Auswertung keine Bestätigung (vgl. Dessecker, http://krimz.de/
... /LF_SV_PKH_2006.pdf, S. 11: 17 Jahre bei den in Freiheit Entlassenen). Erst recht ist die
Formulierung missverständlich, dass 10 % der Verurteilten in diesem Jahr im Vollzug verstor-
ben seien (Kett-Straub [Fn. 45], 588 Fn. 17)~ es handelte sich vielmehr um 100/0 derjenigen,
bei denen der Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe in diesem Jahr endete (vgl. den soeben
zitierten Bericht für das Jahr 2006 von Dessecker, S. 13).
56 Kett-Straub (Fn. 45), 598 ff.
57 Kett-Straub (Fn. 45), 594, wobei dahingestellt sei, ob die Anordnung der Sicherungsver-
wahrung neben einer Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe ernstlich zusätzlich stigmati-
sierend wirken kann.
58 Zu den Auswirkungen auf den Vollzug vgl. nur Bartsch/Kreuzer StV 2009, 53 ff.~ MK-
Ullenbruch, 1. Aufl. 2005, § 66b Rn. 172 f., auch zur daraus resultierenden Zwangslage der
Anstaltsleitung.
766 Bernhard Böhm

2. Auswirkungen der Gesetzgebung aufdie Anordnungspraxis


Den jeweiligen Ausdehnungen des gesetzlichen Anwendungsbereichs
scheint es auf den ersten Blick zu entsprechen, dass die Zahl der in Siche-
rungsverwahrung Untergebrachten von etwa 200 im Jahr 1998 auf genau
500 zum Stichtag 31. August 2009 gestiegen ist. Diese Zahlen sagen indes-
sen nur bedingt bzw. mit mehr oder weniger deutlicher zeitlicher Verzöge-
rung etwas über die Spruchpraxis der Gerichte aus, der hier das eigentliche
Interesse gilt, deshalb lohnt ein Blick auf die Anordnungen. Kinzig59 hat
dazu bei einer Auswertung der Strafverfolgungsstatistik festgestellt, dass
sich erwartungsgemäß die gesetzlichen Ausweitungen der Sicherungsver-
wahrung in einer deutlichen Steigerung der Anordnungszahlen seit 1998
niederschlagen.
Da die Strafverfolgungsstatistik Deutschland (einschließlich der neuen
Bundesländer) erst seit 2007 flächendeckend erfasst und Defizite der amtli-
chen Statistiken nicht zuletzt bei Maßregeln bekannt sind,60 wurde zum
Vergleich eine Auswertung des Bundeszentralregisters nach Entscheidun-
gen mit Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung 61
herangezogen. 62 Ihre Ergebnisse sind in Tabelle 1 aufgelistet. Die Diskre-
panzen zu den Ergebnissen von Kinzig dürften im Wesentlichen darauf
zurück zu ruhren sein, dass ihm mit der Strafverfolgungsstatistik bis 2006
Angaben aus den neuen Bundesländern nicht zur Verfügung standen. 63 Ein
Indiz dafür ist beispielsweise, dass Kinzig - auf Basis der alten Bundeslän-
der einschl. Berlins - einen Anstieg ab 1998 beobachtet hat, während
Tabelle 1 einen ersten kleinen "Sprung" bereits von 1995 nach 1996 aus-
weist, auf ein Niveau, das dann zunächst bis 1998 gehalten wurde. In die-
sem Zeitraum sind auch in absoluten Zahlen die Differenzen zu den von
Kinzig ausgewerteten Zahlen relativ deutlich ausgeprägt. Das stützt seine
These, dass die gesetzgeberische Ausdehnung der Sicherungsverwahrung
sich nahezu unmittelbar in der Anordnungspraxis der Gerichte niederschlug,
denn in den neuen Bundesländern waren die Vorschriften über die Siche-
rungsverwahrung erst mit Wirkung vom 1. August 1995 uneingeschränkt

59 Fn. 36, S. 107 f., insbes. Schaubild 2.


60 Vgl. nur Hein::: FS Schwind, 2006, S. 893 ff, 897 ff. und die jüngsten Empfehlungen des
Rates für So:::ial- und Wirtschaftsdaten (Hrsg.), Optimierung des bestehenden kriminalstatisti-
schen Systems in Deutschland, 2009, S. 63 ff.
61 Die unmittelbare und vorbehaltene Anordnung der Sicherungsverwahrung wird nach § 5
Abs. 1 Nr. 7 BZRG (i. V. m. § 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB), die nachträgliche Anordnung nach § 12
Abs. 1 Nr. 10 BZRG in das Register eingetragen.
62 Für die Auswertung und die Überlassung der Zahlen bin ich Herrn Priv.-Doz. Dr. Bert
Götting, Bundesamt für Justiz, zu großem Dank verpflichtet.
63 Außerdem ist die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwah-
rung statistisch nicht erfasst.
Ausgewählte Fragen des Maßregelrechts 767

anwendbar. Die daraus resultierende Entwicklung konnte in der von Kinzig


herangezogenen Strafverfolgungsstatistik bis 2006 keinen Niederschlag
finden. 64

Tabelle 1: Anordnung der Sicherungsverwahrung nach Eintragungen


im Bundeszentralregister

Jahr Anordnungen Jahr Anordnungen


1990 45 2000 86
1991 49 2001 86
1992 41 2002 77
1993 45 2003 99
1994 52 2004 101
1995 49 2005 110
1996 63 2006 97
1997 63 2007 97
1998 69 2008 119
1999 82 2009 65 91

Auch für die folgenden Jahre zeigt Tabelle 1 in der Tendenz keine bedeut-
samen Unterschiede zu den Befunden von Kinzig. Auffallig ist allerdings
das nach 2002 noch einmal angestiegene und, von einer Spitze im Jahr 2008
abgesehen, gehaltene Anordnungsniveau, das allein mit dem in den Jahren
2002 ff. eingeführten gesetzlichen Instrumentarium nicht zu erklären ist:
Die geringe Zahl von Entscheidungen nach dem 2002 eingeführten § 66a
StGB wird gelegentlich "belächelt",66 und auch die ebenfalls - in Überein-
stimmung mit der gesetzgeberischen Intention 67 - nicht sonderlich hohe

64 Es soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass die Divergenzen damit zwar zu einem
großen Teil, aber nicht vollständig erklärt werden können. Für das Jahr 2008 weist Tabelle 1
beispielsweise 119 Anordnungen aus, während die Strafverfolgungsstatistik für das gleiche
Jahr 111 Anordnungen registriert (vgl. Statistisches Bundesamt Fachserie 10, Reihe 3, Tab.
5.5). Den Gründen für die verbleibenden Divergenzen kann hier nicht im Detail nachgegangen
werden, es dürfte "im Zweifel" aber empfehlenswert sein, eher den Daten des BZR zu folgen,
die von der Justiz als Grundlage für die Vollstreckung gemeldet und herangezogen werden.
65 Die Absammlung der Daten für diese Auswertung erfolgte Ende November 2009.
66 Vgl. Ullenbruch NStZ 2008,6 m.w.N. Im Bundeszentralregister sind derzeit - s. o. - ins-
gesamt 31 Vorbehaltsentscheidungen nach § 66a StGB registriert.
67 Die Begründung zum Regierungsentwurf BT-Drs. 16/2887, S. 1 ging davon aus, "dass in
seltenen Fällen das Bedürfnis nach der Möglichkeit einer nachträglichen Anordnung der Un-
terbringung in der Sicherungsverwahrung" bestehen könne und sah "daher ungeachtet der
geringen Anzahl denkbarer Fälle Ergänzungsbedarf im Regelungssystem der Sicherungsver-
wahrung" (a.a.O., S. 10). Insoweit erschließt sich auch nicht völlig zwanglos, weshalb die
768 Bernhard Böhm

Zahl der Anordnungen nach § 66b StGB allein könnte diesen auffälligen
Anstieg nicht erklären. 68 Mit anderen Worten: Das deutlich höhere Niveau
seit 2003 kann nicht allein und wahrscheinlich nicht einmal vorwiegend auf
die seit 2002 neugeschaffenen rechtlichen Instrumente zurückgeführt wer-
den, sondern beruht auf der unmittelbaren Anordnung nach § 66 StGB (in
der seit 1998 geltenden Fassung). Insoweit ist also ein wenig zu differenzie-
ren. Die Gesetzgebung der Jahre 2002 ff. ist nicht der einzig ausschlagge-
bende Faktor fur die gestiegene Zahl der Anordnungen und der daraus mit
zeitlichem Abstand folgenden höheren Zahl der Unterbringungen gewesen.
Die Vermutung liegt nahe, dass die kriminalpolitischen Trends und Diskus-
sionen der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte auch ohne den Umweg über
die Gesetzgebung Einfluss auf die Spruchpraxis der Gerichte genommen
habe. Tatsächlich wäre die Annahme wohl eher realitätsfern, dass es sich
bei Kriminalpolitik, Gesetzgebung und Justizpraxis um drei streng zu sepa-
rierende Gebiete handeln könnte, vielmehr dürften sie in einem Kontext mit
wechselseitigen Abhängigkeiten und Einflussnahmen stehen.

3. Ausblick
Es ist absehbar, dass schon in näherer Zukunft aus verschiedenen Rich-
tungen weitere Impulse für Änderungen der Vorschriften über die Siche-
rungsverwahrung folgen werden. Der Koalitionsvertrag der Regierungsfrak-
tionen für die 17. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags sieht eine
Überarbeitung der Regelungen vor, und der Europäische Gerichtshof fur
Menschenrechte hat erst unlängst eine Entscheidung gefällt, die erhebliches
Gewicht für die Regelungen über die Sicherungsverwahrung, u. U. sogar für
das Recht der Maßregeln insgesamt erhalten kann. 69 Gerade vor dem letzt-
genannten Hintergrund lohnt ein Blick darauf, wie in anderen Rechtsord-
nungen die Sicherung gefährlicher Gewalttäter gehandhabt wird.
Im Vereinigten Königreich hat der Criminal Justice Act von 2003 die un-
bestimmte Freiheitsstrafe fur gefährliche Straftäter70 sowie für bestimmte
Sexual- und Gewaltdelikte die "erweiterte" zeitige Freiheitsstrafe ("ex-
tended sentence") eingeführt. Nach Sec. 227 (2) setzt sich diese zeitige

tatsächlich -- eben erwartungsgemäß - geringe Zahl der Anordnungen nach § 66b StGB für sich
genommen als Bestätigung für Kritik (vgl. etwa Fn. 66) an der Neuregelung gewertet wird.
68 Ullenbruch (Fn. 66), 5.
69 Entscheidung der Fünften Sektion des EGMR vom 17. Dezember 2009 in dem Individu-
albeschwerdeverfahren M .I. Deutschland (Application no. 19359/04). Die Entscheidung ist bei
Abschluss des Manuskripts noch nicht bestandskräftig; bekannt ist, dass die Bundesregierung
die Große Kammer des EGMR gegen diese Entscheidung anrufen will.
70 Sec. 225 (3) des Criminal lustice Act.
Ausgewählte Fragen des Maßregelrechts 769

Freiheitsstrafe zusammen aus der "angemessenen" Dauer 71 sowie dem "er-


weiterten Vollzugszeitraum", der je nach Delikt und gesetzlicher Strafhöhe
variiert und vom Gericht nach der Gefährlichkeit des Täters bemessen
wird. 72 Andere Rechtsordnungen suchen die Lösung ebenfalls in, nach deut-
schen Maßstäben, recht langen Freiheitsstrafen 73 und wählen damit einen
Ansatz, der potenziell mehr Verurteilte betreffen wird als die relativ speziell
zugeschnittene Maßregel der Sicherungsverwahrung in Deutschland.
Bei allen Problemen, die ein internationaler Vergleich in derartigen Fra-
gen mit sich bringt, lassen sich doch zumindest grobe Anhaltspunkte für die
Auswirkungen finden, die diese Unterschiede in den Rechtsordnungen auf
das Strafmaß für die Betroffenen besitzen. Der Blick in Tabelle 2 auf die
Zahl derjenigen Vollzugsinsassen, die zu den in diesem Zusammenhang
interessierenden lang andauernden Freiheitsstrafen verurteilt wurden, zeigt,
dass unter den großen Staaten der EU ihre Zahl in Deutschland mit Abstand
am niedrigsten ausfällt, selbst wenn man die Zahl der im Vollzug der Siche-
rungsverwahrung Einsitzenden hinzurechnet.

Tabelle 2: Vollzugsinsassen mit langjährigen Freiheitsstrafen 2007 in


ausgewählten europäischen Staaten 74

Dauer der Freiheitsstrafe


Land 10 bis unter 201. u. m. lebenslang Summe
20 1.
Deutschland 75 935 - 1973 2908
Frankreich 6677 1527 527 8731
Italien 3381 1684 1335 6400
Vereinigtes
Königreich 76 3763 10181 13944

71 "the appropriate custodial term" einerseits, wegen weiterer Sonderregelungen der Vor-
schrift (vgl. sec. 227 (3)) nur bedingt mit der deutschen Begrifflichkeit "schuldangemessene
Strafe" erfassbar, und "the extension period" andererseits.
72 "extension period" und "appropriate term" zusammen sind (nur) limitiert durch die ge-
setzlich vorgegebene Höchststrafe, "extension period" allein ist im Höchstmaß beschränkt auf
fünf Jahre bei bestimmten Gewalt- und acht Jahre bei bestimmten Sexualdelikten.
73 Kurze Übersicht und Hinweise auf die tatsächlichen Auswirkungen derartiger Regelungen
bei Dessecker (Fn. 53), S. 21 f.
74 Quelle: Aebi/Delgrande Council of Europe Annual Penal Statistics - SPACE I (Erhebung
2007),2009, Tabelle 8 S. 59.
75 Deutschland: Angaben für 31. März 2007.
76 Vereinigtes Königreich ohne Nordirland, Angaben zur Dauer der Freiheitsstrafe über
zehn Jahre nur summiert ,,10 Jahre und Inehr"/"lebenslang" möglich.
770 Bernhard Böhm

Bedenkt man zudem, dass Deutschland von diesen Staaten die wiederum
deutlich größte Bevölkerung aufweist, zeigt sich noch klarer das relativ
moderate deutsche Sanktionsniveau bei den lang andauernden Freiheitsent-
ziehungen, also einschließlich der Sicherungsverwahrung. Dieses moderate
Niveau wurde auch in Zeiten intensiver kriminalpolitischer Debatten um
eine möglichst umfassende Sicherung vor gefährlichen Straftätern gehalten,
die - s. o. 111. 2. - zwar ihre Auswirkungen auf die Anordnungspraxis der
Gerichte besaßen, aber die selbst vor diesem Hintergrund immer noch mo-
derate Sanktionierungspraxis 77 nicht grundlegend änderten. Daran dürfte die
Möglichkeit, der Prävention speziell gegenüber Hangtätern (i. w. S.) durch
Anordnung der Sicherungsverwahrung Rechnung tragen zu können, im
Gegensatz beispielsweise zur gesetzlichen Verankerung obligatorischer all-
gemeiner Strafzumessungsregeln für Täter bestimmter Delikte, einen be-
trächtlichen Anteil besitzen.
Möglicherweise greift diese Erkenntnis Raum auch bei denjenigen, die
die Sicherungsverwahrung skeptisch betrachten. Jedenfalls konzentrieren
sich die Kritiker, nach einer langen Phase der grundsätzlichen Kritik am
Institut der Sicherungsverwahrung, in der letzten Zeit zunehmend auf die
§§ 66a f. StGB, während der Grundgedanke der Sicherungsverwahrung
inzwischen eher "als ungeliebtes, aber notwendiges Übel akzeptiert wird". 78
Tatsächlich werden Reformbestrebungen der näheren Zukunft kaum mit
dem Ziel angelegt sein, diese Maßregel in ihrem Grundbestand etwa gänz-
lich abzuschaffen. Sie ist, wenn man so will, der Preis des deutschen Sank-
tionensystems für ein relativ moderates Niveau lang andauernder Freiheits-
entziehungen.

77 Selbst wenn alle aus Tabelle 1 ersichtlichen ca. 1.500 Anordnungen zum Vollzug der Si-
cherungsverwahrung führten, läge das Sanktionsniveau bei den lang andauernden Freiheitsent-
ziehungen im internationalen Vergleich immer noch am niedrigsten unter den großen EU-
Staaten, gemessen an der Bevölkerungsgröße sogar immer noch mit deutlichem Abstand.
78 Vgl. LK-Rissing-van SaanlPeglau (Fn. 29), § 66 Rn. 2 m.w.N.
Zum Verhältnis von Strafe und Therapie

DIETER DÖLLING

I. Einleitung
Der verehrte Jubilar hat sich in seinem umfangreichen Werk immer wie-
der dafür ausgesprochen, das Strafrecht unter Beachtung anderer legitimer
Strafzwecke in angemessenem Umfang spezialpräventiv auszugestalten. 1
Deshalb soll in dem vorliegenden Beitrag mit dem Verhältnis von Strafe
und Therapie eine Fragestellung aus dem Problembereich der Spezialprä-
vention behandelt werden. Hierbei soll es insbesondere um die Frage gehen,
inwieweit eine Kombination von Strafe und Therapie möglich und ange-
zeigt ist.

II. Die Verbindung von Strafe und Therapie


Bei Strafe und Therapie handelt es sich um unterschiedliche Reaktionen
auf Straftaten. Mit der Strafe wird gegen den Täter wegen der von ihm be-
gangenen Straftat ein sozialethischer Tadel ausgesprochen und als Aus-
gleich für die schuldhafte Unrechtstat ein Übel gegen ihn verhängt. 2 Bei der
Therapie handelt es sich demgegenüber um eine nicht mit einem Schuld-
vorwurf verbundene sozial- oder psychotherapeutische Einwirkung auf den
Täter, mit der Änderungen seiner Einstellungen und Verhaltensweisen und
Verbesserungen seiner Kompetenzen herbeigeführt und hierdurch weitere
rechtswidrige Taten verhindert werden sollen. 3 Hinsichtlich des Verhältnis-
ses zwischen Strafe und Therapie muss zwischen verschiedenen Konstella-
tionen differenziert werden:

1 Vgl. u.a. Schäch Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen
Sanktionen ohne Freiheitsentzug? Gutachten C für den 59. Deutschen Juristentag, 1992.
2 Siehe zum Begriff der Strafe Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner
Teil, 5. Aufl. 1996, S. 13.
3 Zur Kriminaltherapie vgl. die Beiträge von Leygraf u. a. in: Kröber/DöllinglLeygraf/Saß
(Hrsg.), Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd. 3: Psychiatrische Kriminalprognose und
Kriminaltherapie, 2006, S. 193 ff.
772 Dieter Dölling

Es kann sich so verhalten, dass der Täter bestraft werden muss, eine The-
rapie zur Verhinderung weiterer Taten aber nicht angezeigt ist. Dann ist die
Strafe die einzige Reaktion auf die Straftat. Weiterhin ist es möglich, dass
wegen der Gefährlichkeit des Täters eine Therapie zur Verhinderung künf-
tiger Taten erforderlich ist, der Täter aber nicht bestraft werden darf, weil er
wegen einer psychischen Störung im Zeitpunkt der Tatbegehung schuldun-
fähig war. Dann kann die Reaktion nur in einer Therapie bestehen, gegebe-
nenfalls verbunden mit sichernden Maßnahmen. Schließlich können in
einem Fall sowohl die Voraussetzungen für eine Strafe als auch für eine
Therapie erfüllt sein. Dann stellt sich die Frage, ob Strafe und Therapie
miteinander kombiniert werden sollten.
Gegen eine Kombination von Strafe und Therapie könnte eingewendet
werden, dass die eine Reaktionsform die andere stören könnte. So könnte
die Strafe wegen des mit ihr verbundenen Tadels und der mit ihr verknüpf-
ten Einschränkungen für den Täter den Erfolg der Therapie beeinträchtigen
und könnte die Therapie den Charakter der Strafe als Übelszufügung ab-
schwächen. Andererseits ist es aber auch denkbar, dass sich Strafe und
Therapie in sinnvoller Weise ergänzen, so dass sich eine Kombination bei-
der Reaktionsformen empfehlen kann. So kann die Strafe die Therapie absi-
chern, indem sie dem Täter verdeutlicht, dass sein bisheriges kriminelles
Verhalten auf keinen Fall hingenommen werden kann und die Rechtsord-
nung von ihm eine Verhaltensänderung erwartet, und indem sie Bedingun-
gen schafft, unter denen der Täter für eine Therapie erst ansprechbar wird.
Die Therapie wiederum kann eine sinnvolle Ausgestaltung einer Strafe sein,
mit der auch eine spezialpräventive Zielsetzung verfolgt wird. Ist bei einem
Täter, gegen den eine längere Freiheitsstrafe zu verhängen ist, eine Therapie
indiziert, ist es sachgerecht, diese Therapie im Rahmen des Vollzugs der
Freiheitsstrafe durchzuführen.
Das deutsche Strafrecht enthält eine Reihe von Regelungen, die eine
Kombination von Strafe und Therapie vorsehen. Wird der Täter nach § 56
StGB zu einer Freiheitsstrafe mit Aussetzung der Vollstreckung zur Bewäh-
rung verurteilt, kann das Gericht ihm gemäß § 56c Abs. 1 StGB für die
Dauer der Bewährungszeit die Weisung erteilen, sich einer Therapie zu
unterziehen. Hierbei darf nach § 56c Abs. 3 StGB die Weisung, sich einer
Heilbehandlung, die mit einem körperlichen Eingriff verbunden ist, oder
einer Entziehungskur zu unterziehen oder in einem geeigneten Heim oder in
einer geeigneten Anstalt Aufenthalt zu nehmen, nur mit Einwilligung des
Verurteilen erteilt werden. Gemäß § 183 Abs. 3 StGB kann das Gericht bei
Verurteilung wegen einer exhibitionistischen Handlung die Vollstreckung
einer Freiheitsstrafe auch dann zur Bewährung aussetzen, wenn zu erwarten
ist, dass der Täter erst nach einer längeren Heilbehandlung keine exhibitio-
nistischen Handlungen mehr vornehmen wird. Spricht das Gericht nach
Zum Verhältnis von Strafe und Therapie 773

§ 59 StGB eine Verwarnung mit Strafvorbehalt aus - hierbei handelt es sich


um ein strafrechtliches Reaktionsmittel eigener Art, das Ähnlichkeiten mit
einer Aussetzung der Vollstreckung der Geldstrafe zur Bewährung auf-
weist 4 - kann das Gericht gemäß § 59a Abs. 2 Nr. 4 StGB den Verwarnten
anweisen, sich während der Bewährungszeit einer ambulanten Heilbehand-
lung oder einer ambulanten Entziehungskur zu unterziehen. § 56c Abs. 3
StGB findet entsprechende Anwendung.
Nach § 35 Abs. 1 und Abs. 3 BtMG kann nach einer Verurteilung wegen
einer Straftat, die der Täter aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit
begangen hat, die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder eines Strafrestes
bis zu zwei Jahren zugunsten einer Behandlung der Betäubungsmittelab-
hängigkeit zurückgestellt werden. § 37 BtMG erlaubt ein Absehen von der
Anklage bzw. eine Verfahreneinstellung, wenn bei einer Straftat aufgrund
einer Betäubungsmittelabhängigkeit keine höhere Strafe als eine Freiheits-
strafe bis zu zwei Jahren zu erwarten ist und der Beschuldigte sich wegen
seiner Abhängigkeit einer Behandlung unterzieht. Therapieweisungen i. S.
v. § 56c StGB sind auch bei einer Aussetzung der Vollstreckung des Straf-
restes nach den §§ 57 und 57a StGB möglich (vgl. § 57 Abs. 3 S. 1 StGB
und § 57a Abs. 3 S. 2 StGB jeweils i. V. m. § 56c StGB).
Zu einer Kombination von Strafe und Therapie kann es auch kommen,
wenn neben die Bestrafung des Täters eine Maßregel der Besserung und
Sicherung tritt, deren Inhalt auch eine Therapie ist. Das ist der Fall, wenn
neben der Bestrafung die Unterbringung des Täters in einem psychiatri-
schen Krankenhaus nach § 63 StGB oder in einer Entziehungsanstalt gemäß
§ 64 StGB angeordnet wird oder wenn zur Strafe Führungsaufsicht nach
§ 68 StGB hinzukommt und diese mit einer Therapie verknüpft wird. Im
psychiatrischen Krankenhaus soll, soweit möglich, die psychische Störung
des Täters, die zu der rechtswidrigen Tat geführt hat und weitere rechtswid-
rige Taten befürchten lässt, geheilt werden oder der Zustand des Täters
soweit gebessert werden, dass er nicht mehr gefährlich ist (vgl. § 136
StVollzG). Ziel der Behandlung in der Entziehungsanstalt ist es, dass der
Täter seine kriminogene Substanzabhängigkeit überwindet (s. § 137
StVollzG). Im Rahmen der Führungsaufsicht kann das Gericht den Verur-
teilten nach § 68b Abs. 2 S. 2 StGB anweisen, sich psychiatrisch, psycho-
oder sozialtherapeutisch betreuen und behandeln zu lassen (Therapiewei-
sung). Die Betreuung und Behandlung kann nach S. 3 durch eine forensi-
sche Ambulanz erfolgen. § 56c Abs. 3 StGB gilt auch hier entsprechend.
Wird der Täter ausschließlich zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung
verurteilt, kann das Gericht die Strafe nicht mit der Anordnung einer Thera-
pie verbinden. Ob der Täter während der Vollstreckung der Freiheitsstrafe

4 Siehe zur Verwarnung mit Strafvorbehalt Schäch FS Baumann, 1992, S. 255 ff.
774 Dieter Dölling

eine Therapie erhält, richtet sich nach dem Strafvollzugsrecht. Das Straf-
vollzugsgesetz des Bundes enthält insoweit Vorschriften über die Verlegung
in eine sozialtherapeutische Anstalt (vgl. § 7 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 4 und § 9
StVollzG). Außerdem muss der Vollzugsplan nach § 7 Abs. 2 Nr. 6
StVollzG Angaben über besondere Behandlungsmaßnahmen enthalten.
Hierunter fallen auch Einzel- und Gruppentherapien. 5 Vorschriften über die
Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt und über besondere Behand-
lungsmaßnamen finden sich auch in Landesstrafvollzugsgesetzen, die nach
dem Übergang der Gesetzgebungszuständigkeit für den Strafvollzug auf die
Länder durch die Föderalismusreform von 2006 erlassen worden sind. 6
Das Fehlen der Möglichkeit, die Verhängung einer Freiheitsstrafe ohne
Bewährung mit einer Therapieanordnung zu verknüpfen, ist problematisch.
Wird eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung verhängt, wird die Rückfallge-
fahr häufig besonders hoch und die Notwendigkeit einer Therapie besonders
ausgeprägt sein. Eine Therapieweisung kann das Gericht aber nur bei einer
Freiheitsstrafe mit Bewährung und nicht bei einer Freiheitsstrafe ohne Be-
währung erteilen. Das Gericht muss als Grundlage für die Sanktionsent-
scheidung in der Hauptverhandlung auch klären, wie der Täter kriminal-
prognostisch zu beurteilen ist. Die Kriminalprognose ist nicht nur für die
Entscheidung über eine Strafaussetzung zur Bewährung von Bedeutung. Sie
spielt auch für die Festsetzung der Straflänge eine Rolle und ist immer dann
relevant, wenn Maßregeln der Besserung und Sicherung in Betracht kom-
men. 7 Ergibt sich in der Hauptverhandlung die Gefährlichkeit und Thera-
piebedürftigkeit des Täters, würde es nahe liegen, die Therapie auch im
Urteil anzuordnen. Damit würde es nicht im Ungewissen bleiben, ob die als
erforderlich erkannte Therapie auch tatsächlich durchgeführt wird. Die
Frage, ob gefährliche Straftäter eine Therapie erhalten, wäre dann nicht von
mehr oder weniger unterschiedlichen landesgesetzlichen Regelungen ab-
hängig.
Eine Therapieanordnung im Urteil hätte auch den Vorteil, dass hiermit
auch kriminell gefährdeten Tätern in der Hauptverhandlung eine Perspekti-
ve eröffnet werden könnte. Ihnen wird verdeutlich, dass eine Chance der
Wiedereingliederung besteht, wenn sie sich der Therapie unterziehen. Das
könnte die Akzeptanz des Strafurteils durch den Täter fördern und damit
günstigere Voraussetzungen für die Resozialisierung schaffen als ein allein

5 Vgl. Callies/Müller-Dietz StVollzG, 11. Autl. 2008, § 7 Rn. 6.


6 Siehe z. B. das Justizvollzugsgesetzbuch Baden-Württemberg vom 10.11.2009, GBI., S.
545, Buch 3 Strafvollzug §§ 4 Abs. 2 S. 3, 5 Abs. 2 Nr. 2, 6 Abs. 1 Nr. 2 und 8 zur sozialthera-
peutischen Anstalt und § 5 Abs. 2 Nr. 6 zu besonderen Behandlungsmaßnahmen.
7 Zur Kriminalprognose und ihrer Bedeutung in der Strafrechtsptlege siehe Schöch Krimi-
nalprognose, in: H. 1. Schneider (Hrsg.), Internationales Handbuch der Kriminologie, Bd.l:
Grundlagen der Kriminologie, 2007, S. 359 ff.
Zum Verhältnis von Strafe und Therapie 775

auf Freiheitsstrafe lautendes Urteil. Für die Schaffung der Möglichkeit einer
gerichtlichen Therapieanordnung ist es nicht erforderlich, die sozialthera-
peutische Anstalt als Maßregel der Besserung und Sicherung im StGB zu
verankern. 8 Die Therapie kann ihm Rahmen des Strafvollzugs durchgeführt
werden. 9
Einen Vorschlag für die Einführung einer Therapieanordnung als Maßre-
gel der Besserung und Sicherung hat die beim OLG Karlsruhe angesiedelte
Behandlungsinitiative Opferschutz (BIOS-BW) in ihrem am 3. März 2009
dem Bundesministerium der Justiz vorgelegten Memorandum unterbreitet.
Nach diesem Vorschlag soll folgende Vorschrift in das StGB eingefügt
werden:
,,§ 65 (a) Therapeutische Maßnahmen
1. Eine ambulante oder stationäre psychotherapeutische Maßnahme ist
anzuordnen, wenn
a. die Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB vorliegen;
b. eine Strafe allein nicht geeignet ist, der Gefahr weiterer Straftaten des
Täters zu begegnen;
c. ein Behandlungsbedürfnis des Täters besteht oder die öffentliche Si-
cherheit dies erfordert und
d. der mit der therapeutischen Maßnahme verbundene Eingriff in die
Persönlichkeitsrechte des Täters im Hinblick auf die Wahrscheinlich-
keit und Schwere weiterer Straftaten nicht unverhältnismäßig ist.
2. Die Anordnung unterbleibt, wenn eine therapeutische Maßnahme als
von vornherein aussichtslos erscheint." 10
Für die Einführung einer solchen Therapieanordnung spricht, dass es vor
allem im Bereich der Gewalt- und Sexualdelikte erheblich rückfallgefährde-
te und therapiebedürftige Täter gibt, die durch therapeutische Maßnahmen
im Rahmen der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach
§ 63 StGB oder der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64
StGB nicht erreicht werden können, weil sie nicht schuldunfähig oder er-

8 Zur Frage der Verankerung der sozialtherapeutischen Anstalt als Maßregel der Besserung
und Sicherung im StGB vgl. Schöch u. a. ZRP 1982, 207 ff. einerseits und KaiserlDün-
keliOrtmann ZRP 1982, 198 ff. andererseits.
9 Hierbei ist wirksame Therapie nicht nur in sozialtherapeutischen Anstalten, sondern auch
in Anstalten des Regelvollzugs möglich, vgl. Müller in: PreuskerlMaelicke/Flügge (Hrsg.), Das
Gefängnis als Risiko-Unternehmen, 2010, S. 74, 76.
10 Behandlungsinitiative Opferschut= (BIOS-B W) e. V Die unzureichende Begutachtung
gefahrlicher Gewalt- und Sexualstraftäter im Strafverfahren, die Mängel bei deren Behandlung
im Vollstreckungsverfahren sowie die Folgen. Memorandum zur Änderung der Strafprozess-
ordnung und des Strafgesetzbuches, 2009, www.bios-bw.de~ siehe dazu auch BöhmlBoetticher
ZRP 2009, 134 ff. Vgl. auch die Art. 56 ff. des Schweizerischen Strafgesetzbuchs über die
Anordnung von Maßnahmen.
776 Dieter Dölling

heblich vermindert schuldfähig sind und weil auch eine Alkohol- oder Dro-
genabhängigkeit nicht vorliegt. Es handelt sich hierbei insbesondere um
Täter mit Persönlichkeitsstörungen und mit Störungen der sexuellen Präfe-
renz. 11 Für Gewalt- und Sexualtäter sind gründliche ausgearbeitete Thera-
pieprogramme entwickelt worden, die eine ins Gewicht fallende Senkung
der Rückfallquote erwarten lassen. 12 Die Therapie darf nicht isoliert erfol-
gen, sondern muss von sozialen Unterstützungsmaßnahmen begleitet sein,
die dem Täter die Wiedereingliederung in die Freiheit erleichtern. Hierzu
gehören insbesondere Maßnahmen in den Bereichen Arbeit und Ausbil-
dung, Wohnung und Finanzen und die Förderung tragfähiger Beziehungen
zu Bezugspersonen. Auf diese Weise kann manche Rückfalltat verhindert
werden. 13 Findet demgegenüber die indizierte Therapie nicht statt, besteht
die erhebliche Gefahr, dass der ohne die erforderliche Behandlung aus dem
Strafvollzug entlassene Täter weitere Straftaten begehen wird, die zu neuen
- längeren - Freiheitsstrafen und schließlich möglicherweise zur Siche-
rungsverwahrung führen. Böhm und Boetticher haben zu Recht darauf hin-
gewiesen, dass die Sicherungsverwahrung nur legitimiert werden kann,
wenn zuvor die indizierten therapeutischen Interventionen vorgenommen
worden sind. 14
Die Therapie dient dem Schutz potentieller Opfer vor weiteren Straftaten
des Täters und dem Interesse des Täters an Wiedereingliederung in die
Gesellschaft. Bei der Therapie handelt es sich nicht um eine Vergünstigung
fur die Täter, die ihnen eine unverdiente Milderung des Straflibels ver-
schafft. Die Therapie verlangt vielmehr von den Tätern die nicht einfache
Auseinandersetzung mit sich selbst, die Einsicht in eigene Schwächen und
Mängel und harte Arbeit an sich selbst zur Herbeiflihrung als notwendig
erkannten Veränderungen. Die Therapie stellt an die Täter erheblich höhere
Anforderungen als das bloße Absitzen einer Strafe im Verwahrvollzug. Bei
einer Therapieanordnung handelt es sich auch nicht um eine unangemessene
Pathologisierung des Täters. Es geht vielmehr darum, im Dialog mit dem
Täter und in Anerkennung seiner SubjektsteIlung die bei ihm vorliegenden
kriminogenen Defizite aufzuarbeiten und die erforderlichen Veränderungen
zu erreichen. Zur Wahrung der SubjektsteIlung des Täters ist es nicht erfor-
derlich, die gerichtliche Therapieanordnung grundsätzlich von der Zustim-
mung des Angeklagten abhängig zu machen, denn seine Bereitschaft zur

11 Vgl. BöhmlBoetticher (Fn. 10),135.


12 Siehe die in Fn. 3 nachgewiesenen Beiträge zur Kriminaltherapie.
13 Zur Wirksamkeit der Behandlung von Straftätern vgl. die Beiträge von Dölling und Dün-
kel in: lehle (Hrsg.), Täterbehandlung und neue Sanktionsformen, 2000, S. 21 ff. und S. 379
ff., sowie Meier lZ 2010, 112 ff.
14 Fn. 10, 134, 137.
Zum Verhältnis von Strafe und Therapie 777

Therapie kann sich noch nach der Hauptverhandlung z. B. nach Gesprächen


mit Mitarbeitern des Vollzugs ergeben. Für den Fall, dass sich eine thera-
peutische Arbeit mit dem Täter als nicht möglich erweist, kann eine den §§
67d Abs. 5, 64 S. 2 StGB entsprechende Regelung geschaffen werden, nach
der die Therapieanordnung fur erledigt zu erklären ist, wenn keine hinrei-
chend konkrete Erfolgsaussicht mehr besteht.
Gegen die Einführung einer Therapieanordnung könnte eingewendet wer-
den, dass mit der Durchführung der Therapie erhebliche Kosten verbunden
sein können. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass der Staat nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gemäß Art. 2 Abs. 1 i. V.
m. Art. 1 Abs. 1 GG und nach dem Sozialstaatsprinzip verpflichtet ist, sich
um die Resozialisierung von Straftätern zu bemühen. I5 Dem Staat steht
zwar bei der Ausgestaltung des Behandlungsangebots ein weiter Spielraum
zu, und er muss die Verpflichtung zu Resozialisierungsbemühungen mit
anderen kostenintensiven Staatsaufgaben abwägen. I6 Der Staat ist jedoch
verpflichtet, ein Erfolg versprechendes Behandlungsangebot zur Verfügung
zu stellen. Unter diesen Rahmenbedingungen kann eine zur Rückfallverhin-
derung indizierte Therapie gefährlicher Straftäter schwerlich mit Berufung
auf die Kosten abgelehnt werden. I? Hinzu kommt, dass durch eine erfolg-
reiche Therapie Rückfälle verhindert und damit erhebliche Kosten, die
durch neue Straftaten ausgelöst werden würden, eingespart werden.

111. Die Erörterung der Therapiebedürftigkeit des Täters


in der Hauptverhandlung
Es hat eine Reihe von Vorteilen, die Therapiebedürftigkeit des Täters be-
reits in der Hauptverhandlung zu erörtern und diese Frage nicht dem Voll-
zug zu überlassen. In der Hauptverhandlung können Staatsanwaltschaft,
Angeklagter, Verteidiger und Nebenkläger die Gesichtspunkte, die nach
ihrer Ansicht für die Frage der Therapiebedürftigkeit von Bedeutung sind,
vorbringen und können diese Aspekte erörtert und abgewogen werden. Die

15 Siehe BVerfGE 35, 202, 235 f.~ 36, 174, 188~ 45,187, 238 f.~ 96, 100, 115~ 98,169,
199 ff.
16 Vgl. BVerfGE 98, 169, 201~ BVerfG NJW 2002, 2023, 2024.
17 Siehe OLG Hamm, NStZ 2009, 219. Nach dieser Entscheidung hat ein Gefangener dann,
wenn die Voraussetzungen für die Hinzuziehung eines externen Fachtherapeuten bejaht wer-
den, grundsätzlich einen Anspruch auf Übernahme der Kosten durch den Staat, soweit er diese
nicht selbst übernehmen kann und auch kein sonstiger freier Kostenträger hierfür einsteht, und
dürfen angesichts der überragenden Bedeutung des Resozialisierungsgebots jedenfalls bei
Gewaltdelikten Kostenfragen für die (weitere) Durchführung einer bewilligten externen Thera-
pie keine Rolle spielen.
778 Dieter Dölling

rechtsstaatlichen Formen der I-Iauptverhandlung stellen sicher, dass jeder


Verfahrensbeteiligte ausreichend Gelegenheit erhält, seinen Standpunkt
vorzutragen und die seine Ansicht stützenden Tatsachen und Beweismittel
in das Verfahren einzubringen. Für eine sachgerechte Entscheidung des
Gerichts über die Anordnung einer Therapie wird regelmäßig die Anhörung
eines Sachverständigen erforderlich sein. § 246a StPO sieht die Verneh-
mung eines Sachverständigen vor, wenn in Betracht kommt, dass die Unter-
bringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in
der Sicherungsverwahrung angeordnet oder vorbehalten werden wird, oder
wenn das Gericht erwägt, die Unterbringung des Angeklagten in einer Ent-
ziehungsanstalt anzuordnen. Wird die Therapieanordnung als neue straf-
rechtliche Rechtsfolge eingeführt, muss die in § 246a StPO geregelte Ver-
pflichtung zur Vernehmung eines Sachverständigen auf die Fälle erstreckt
werden, in denen eine Therapieanordnung in Betracht kommt. Einen Vor-
schlag hierzu hat die Behandlungsinitiative Opferschutz ausgearbeitet. Da-
nach soll § 246a StPO wie folgt lauten:
,,1. Ist damit zu rechnen, dass die Unterbringung des Angeklagten in ei-
nem psychiatrischen Krankenhaus, einer Entziehungsanstalt oder in
der Sicherungsverwahrung angeordnet oder vorbehalten werden oder
eine sozialtherapeutischen Maßnahme notwendig wird, so ist in der
Hauptverhandlung ein Sachverständiger über den Zustand des Ange-
klagten, seine Gefährlichkeit für die Allgemeinheit und die Behand-
lungsaussichten zu vernehmen.

2. Bei einem Verbrechen gegen das Leben, die körperliche Unversehrt-


heit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung oder
eines Verbrechens nach den §§ 250, 251, auch in Verbindung mit den
§§ 252,255, oder wegen eines der in § 66 Abs. 3 S. 1 genannten Ver-
gehen (Gewalt- oder Sexualstraftaten) ist ein Sachverständiger in der
Regel zu vernehmen.

3. Hat der Sachverständige den Angeklagten nicht schon früher unter-


sucht, so soll ihm dazu vor der Hauptverhandlung Gelegenheit gege-
ben werden."18

Der Nr. 1 des Vorschlags ist zuzustimmen. Nr. 2 ist möglicherweise et-
was weit gefasst, denn bei den dort genannten Delikten wird in nicht weni-
gen Fällen eine Therapie des Täters nicht indiziert sein. Denkbar wäre es,
die Gerichte zu verpflichten, in Verfahren wegen der in Nr. 2 des Vor-
schlags genannten Delikte die Voraussetzungen der Nr. 1 besonders sorgfäl-

18 Fn. 10.
Zum Verhältnis von Strafe und Therapie 779

tig zu prüfen und dies in den Urteilsgründen zu dokumentieren. Zur Ver-


wirklichung des Vorschlags bedarf es einer ausreichenden Zahl qualifizier-
ter Sachverständiger und sind deshalb verstärkte Ausbildungsbemühungen
auf den Gebieten der forensischen Psychologie und Psychiatrie erforderlich.
Gegen eine Erörterung der Therapieproblematik in der Hauptverhandlung
mit Anhörung eines Sachverständigen könnte sprechen, dass es hierdurch zu
einer Verlängerung der Hauptverhandlung kommen könnte. Die Verfah-
rensbeschleunigung ist ein wichtiger Prozessgrundsatz, und das Grundge-
setz und die Europäische Menschenrechtskonvention gebieten die Erledi-
gung von Strafverfahren in angemessener Frist. 19 Das Bemühen um
Beschleunigung darf jedoch nicht dazu führen, dass Maßnahmen unterblei-
ben oder vernachlässigt werden, die erforderlich sind, damit das Strafver-
fahren seine Aufgabe der Verwirklichung des materiellen Strafrechts erfül-
len kann. 20 Hierzu gehört auch, dass das Gericht die erforderliche
Tatschengrundlage für eine unter spezialpräventiven Gesichtspunkten sach-
gerechte Rechtsfolgenentscheidung ermittelt. Nur wenn dies gewährleistet
ist, kann die Strafrechtspflege die ihr auch obliegende Aufgabe des spezial-
präventiven Rechtsgüterschutzes erfüllen. Ist es daher unter spezialpräven-
tiven und rechtsstaatlichen Gesichtspunkte angezeigt, über eine Therapie
des Täters in der Hauptverhandlung unter Beteiligung eines Sachverständi-
gen zu entscheiden, dürfen Gesichtspunkte der Verfahrensbeschleunigung
nicht dazu führen, dass diese Lösung nicht verwirklicht werden kann. Un-
terbleibt eine unter sachverständiger Beratung durchgeführte Prüfung der
Therapiebedürftigkeit des Täters in der Hauptverhandlung, ist nicht gewähr-
leistet, dass sie im Strafvollzug stets rechtzeitig erfolgt. Das geltende Recht
verpflichtet in § 454 Abs. 2 S. 1 StPO zur Heranziehung eines Sachverstän-
digen bei Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe oder einer zeiti-
gen Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren wegen einer Straftat der in
§ 66 Abs. 3 S. 1 StGB bezeichneten Art erst dann, wenn das Gericht die
Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung erwägt und
nicht auszuschließen ist, dass Gründe der öffentlichen Sicherheit einer vor-
zeitigen Entlassung des Verurteilten entgegenstehen. Es kann daher gesche-
hen, dass wertvolle Zeit im Strafvollzug ohne Durchführung einer indizier-
ten Therapie vertan wird. 21
Ist in der Hauptverhandlung eine freiheitsentziehende Maßregel der Bes-
serung und Sicherung oder eine Therapieanordnung unter Anhörung eines
Sachverständigen zu erörtern, kann die Verhandlung nach dem vom Jubilar
befürworteten Modell der Zweiteilung der Hauptverhandlung gestaltet wer-

19 Siehe Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK~ BVerfGE 63, 45, 69~ BGHSt 26,288,232.
20 Vgl.Dölling FS Meyer-Goßner, 2001, S. 101, 112 f.
21 Siehe BöhmlBoetticher (Fn. 10), 135 f.
780 Dieter Dölling

den. 22 Nach diesem Modell wird in einem ersten Abschnitt der Hauptver-
handlung die Tatfrage und in einem zweiten Teil die Sanktionsfrage behan-
delt,23 Hiermit soll unter anderem erreicht werden, dass über die Rechtsfol-
gen intensiver verhandelt wird. 24 Vom Jubilar veranlasste empirische
Erprobungen haben gezeigt, dass dieses Verfahrensmodell praktikabel ist.25
In der Hauptverhandlung könnte daher zunächst die Frage der Tatbegehung
geklärt und im Fall des Tatnachweises anschließend unter Beteiligung eines
Sachverständigen die Rechtsfolgenfrage einschließlich der Therapiebedürf-
tigkeit des Angeklagten erörtert werden. Hierbei kann an die 2009 einge-
führten Vorschriften über die Verständigung im Strafverfahren angeknüpft
werden. 26 Nach § 257b StPO kann das Gericht in der Hauptverhandlung den
Stand des Verfahrens mit den Verfahrensbeteiligten erörtern, soweit dies
geeignet erscheint, das Verfahren zu fördelTI. Hält das Gericht die Beweis-
aufnahme zur Tatfrage für abgeschlossen, kann es die Tatfrage mit den
Verfahrensbeteiligten erörtern. Es kann ihnen Gelegenheit zur Stellung-
nahme zur Tatfrage geben und ihnen gegebenenfalls mitteilen, die Beweis-
aufnahme habe nach seiner Ansicht ergeben, dass der Angeklagte die vor-
geworfene Tat begangen hat. Anschließend kann dann konzentriert über die
Rechtsfolgenfrage verhandelt werden. Vielleicht können diese Vorschläge
zu einer Verbesserung der spezialpräventiven Ausgestaltung des Strafrechts
beitragen und damit einem Anliegen dienen, dass der verehrte Jubilar stets
nachdrücklich vertreten hat.

22 Vgl. zur Zweiteilung der Hauptverhandlung Schöch FS Bruns, 1978, S. 457 ff.~
Schöch/Schreiber ZRP 1978, 63 ff.
23 Umstritten ist, ob die Schuldfähigkeit im ersten oder zweiten Verhandlungsabschnitt ge-
prüft werden sol1~ siehe dazu Dölling Die Zweiteilung der Hauptverhandlung - Eine Erprobung
vor Einzelrichtern und Schöffengerichten -, 1978, S. 44 f.
24 Vgl. Dölling (Fn. 23), S. 83 f.
25 Siehe Dölling (Fn. 23)~ Schunck Die Zweiteilung der Hauptverhandlung - Die Erprobung
des informellen Tatinterlokuts bei Strafkammern -, 1982.
26 Vgl. das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.7.2009,
BGBL I, S. 2353.
Die Errichtung einer Stiftung Opferhilfe Bayern

MANFRED MARKWARDT

I.
Der Sozialstaat hat zu gewährleisten, dass das Existenzminimum der Bür-
ger gesichert ist. Hingegen kann es nicht Aufgabe eines freiheitlich verfass-
ten Staatswesens sein, alle Unglücksfälle und sonstigen Schicksalsschläge
seiner Angehörigen wirtschaftlich auszugleichen. Ein so verstandener
"Wohlfahrtsstaat" würde mit seiner patemalistischen Struktur nicht in das
Bild vom frei verantwortlichen und eigeninitiativen Bürger passen.
Dennoch gibt es Bereiche, in denen dem Staat eine besondere Verantwor-
tung zur Hilfe und Fürsorge für den zu Schaden gekommenen Bürger ob-
liegt. Abgesehen von den Fällen schuldhaften Fehlverhaltens seiner Be-
diensteten - hier ist ein Eintreten des Gemeinwesens eine rechtsstaatliche
Selbstverständlichkeit - gerät hier vor allem die Rechtsfigur der Aufopfe-
rung in den Blick: wird dem einzelnen Bürger durch staatlichen Eingriff im
Interesse des Allgemeinwohls ein Sonderopfer auferlegt, trifft den Staat
eine - subsidiäre - Entschädigungspflicht. 1
Was hat dies mit der Frage nach staatlicher Hilfe für Verbrechensopfer zu
tun? Es ist klar: Opfer von Straftaten haben keinen Entschädigungsanspruch
gegen den Staat nach dem Rechtsgedanken der Aufopferung. Es geht hier
nicht um Schäden aufgrund hoheitlicher Eingriffe. Es geht um das Lebens-
risiko des Einzelnen, durch Straftaten anderer geschädigt zu werden und
den Schadensausgleichsanspruch gegenüber dem Schädiger nicht realisieren
zu können. Es gibt keine allgemeine Rechtspflicht des Staates, dem einzel-
nen Bürger dieses Risiko abzunehmen.
Dennoch: sind gewisse Ähnlichkeiten der Situation des geschädigten
Verbrechensopfers mit der Aufopferungskonstellation ganz von der Hand
zu weisen? Der Schutz von Leib und Leben der Bevölkerung gegen Beein-
trächtigungen u.a. durch Straftaten ist eine der wichtigsten Aufgaben des

1 Eingehend zum Aufopferungsanspruch etwa Ossenbühl Staatshaftungsrecht, 5.Autl. 1998,


S. 124 ff.; Maurer Allgemeines Verwaltungsrecht, 16.Autl. 2006, S. 773 ff.; Wieland in: Dreier
(Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd.l, 2. Autl. 2004, Art. 14 Rn. 136 ff.
782 Manfred Markwardt

Gemeinwesens. 2 Das staatliche Gewaltmonopol und die alleinige staatliche


Strafverfolgungskompetenz erlegen dem Bürger im Interesse des Gemein-
wohls auf, insoweit auf den Staat zu vertrauen. Einen lückenlosen Schutz
vor Straftaten kann der Staat aber trotz größter Anstrengungen nicht ge-
währleisten. Opfer von Straftaten sind dadurch zwar nicht durch hoheitli-
chen Eingriff geschädigt, aber sie sind u.a. auch deshalb Opfer geworden,
weil die vom Staat übernommene Schutzfunktion versagt hat. Diese - im
weitesten Sinn - "aufopferungsähnliche" Situation fuhrt zu einer besonde-
ren Verantwortung des Staates gegenüber Verbrechensopfern. Anstrengun-
gen in Richtung eines angemessenen Opferschutzes und einer möglichst
weitgehenden Opferhilfe stehen einem sozialen Rechtsstaat gut an. Neben
der Förderung entsprechender privater Hilfsorganisationen ist der Staat zu
eigenen Aktivitäten aufgerufen.
Auf europäischer Ebene ist in diesem Zusammenhang auf die Richtlinie
2004/80/EG des Rates vom 29. April 2004 zur Entschädigung der Opfer
von Straftaten3 hinzuweisen, wonach die Mitgliedsstaaten verpflichtet wer-
den, Regelungen über die Entschädigung der Opfer von in ihrem Hoheits-
gebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten vorzusehen. 4 Für den Bereich
der Bundesrepublik Deutschland ist dem bereits Rechnung getragen durch
das Opferentschädigungsgesetz. 5

11.
Im Koalitionsvertrag für die 16. Wahlperiode des Bayerischen Landtags
haben die Koalitionsparteien u.a. vereinbart, den Opferschutz weiter auszu-
bauen und dazu eine landesweite "Opferhilfe Bayern" mit einer angemesse-
nen Kapitalausstattung einzurichten, die Opfern von Straftaten unbürokra-
tisch Hilfe und Unterstützung leistet. Das Bayerische Staatsministerium der
Justiz und fiir Verbraucherschutz wurde daraufhin vom Kabinett beauftragt,
einen Entscheidungsvorschlag auszuarbeiten.
Nach den eingangs angestellten Überlegungen können die Koalitionsver-
einbarung und ihr Aufgreifen durch die Staatsregierung nur begrüßt werden.
Der Aufbau einer landesweiten Organisation zur besseren Unterstützung
von Verbrechensopfern würde der besonderen Verantwortung des Staates
fiir diesen Personenkreis gerecht werden.

2 Ständige Rspr. des Bundesverfassungsgerichts auf der Grundlage von BVerfGE 39, 1,42;
vgl. zuletzt BVerfGE 115, 118, 152; 121,317,356.
3 ABI L 261 vom 6. August 2004, S. 15-18.
4 Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie.
5 Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) in der Bekanntmachung
vom 7. Januar 1985 (BGBl. I, S. 1).
Die Einrichtung einer Stiftung Opferhilfe Bayern 783

Das Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hatte nun in


Vorbereitung eines Entscheidungsvorschlags für das Kabinett Prüfungen
anzustellen im Hinblick auf Zielrichtung, Organisation und Finanzierung
einer entsprechenden Opferhilfeeinrichtung. Es hat zunächst Informationen
eingeholt zu den bereits bestehenden staatlichen Opferhilfen in Baden-
Württemberg ("Landesstiftung Opferschutz")6, Niedersachsen ("Stiftung
Opferhilfe Niedersachsen")7 und Rheinland-Pfalz ("Stiftung Rheinland-
Pfalz für Opferschutz")8 und auch Gespräche mit Vertretern privater Opfer-
hilfeorganisationen geführt. Folgende Eckpunkte sind erarbeitet worden:

1. Zielrichtung einer" Opferhilfe Bayern"


a) Die "Opferhilfe Bayern" soll Opfern von Straftaten oder deren nahen
Angehörigen in den vom Opferentschädigungsgesetz (OEG) nicht abge-
deckten Fällen im Wege der Einzelhilfe finanzielle Zuwendungen gewäh-
ren, soweit vom Straftäter kein (hinreichender) Schadensausgleich zu erlan-
gen ist. Das OEG sieht Leistungen lediglich bei vorsätzlichen Gewalttaten,
bei vorsätzlicher Beibringung von Gift und bei wenigstens fahrlässiger
Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit
gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen 9 vor. Ersetzt werden
dabei Gesundheitsschäden und damit zusammenhängende wirtschaftliche
Schäden. Schmerzensgeld wird nicht bezahlt. Daraus ergibt sich, dass Leis-
tungen der "Opferhilfe Bayern" vor allem in folgenden Fällen in Frage
kommen sollen:
bei anderen Taten als Gewaltstraftaten,
bei fahrlässigen Delikten,
- für Sachschäden,
für Vermögensschäden, die nicht mit dem durch eine Gewalttat verur-
sachten Gesundheitsschaden zusammenhängen,
für medizinisch sinnvolle Heilbehandlungsmaßnahmen, die über das
Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenkassen hinausgehen und
- für immaterielle Schäden (Schmerzensgeld).
Es geht hier nicht um Randgebiete, sondern um wichtige Bereiche der
Hilfsbedürftigkeit. Auch außerhalb des Bereichs der vorsätzlichen Gewalt-
straftaten haben Deliktsopfer wie Opferschutzverbände immer wieder

6Einzelheiten hierzu im Internet unter www.landesstiftung-opferschutz.de.


7 Einzelheitenhierzu im Internet unter www.opferhilfe.niedersachsen.de.
8 Einzelheiten hierzu im Internet unter wwwjustiz.rlp.de/ministerium/opferschutzJStiftung-
fuer-Opferschutz.
9 § lOEO.
784 Manfred Markwardt

vorbringen - unter vergleichbar schweren physischen und psychischen


Folgen zu leiden (man denke etwa an Wohnungseinbrüche oder fahrlässige
Körperverletzungen mit schweren Folgen). Nicht selten führen durch Straf-
taten verursachte Sach- und Vermögensschäden bei den Opfern oder ihren
Angehörigen zu Notlagen. Auch die Gewährung von Schmerzensgeld ist bei
den durch Straftaten erlittenen Verletzungen ein wichtiger Beitrag, um dem
Opfer Genugtuung zu gewähren und seine Würde wiederherzustellen. 10
Die Entscheidung über die Gewährung von Leistungen soll nach Billig-
keitsgesichtspunkten unter Berücksichtigung der Bedürftigkeit des jeweili-
gen Tatopfers und nach Maßgabe der zur Verfügung stehenden Mittel ge-
troffen werden. Zuwendungen sollen - abgesehen von Vorleistungen zur
Überbrückung in dringenden Fällen - nur in Betracht kommen, wenn weder
gesetzliche Ansprüche greifen noch Hilfen privater Opferhilfeeinrichtungen
oder Leistungen des Täters oder einer Versicherung eingreifen (Subsidiari-
tät der Opferhilfe). Ein Rechtsanspruch auf Leistungen der "Opferhilfe
Bayern" soll nicht begründet werden.
b) Mit Blick auf die Bedeutung gemeinnütziger Opferschutz- und Opfer-
hilfeeinrichtungen soll neben die individuelle Gewährung finanzieller Hilfe
an bestimmte Tatopfer als weiterer Aufgabenbereich die finanzielle Förde-
rung von Maßnahmen gemeinnütziger Einrichtungen treten, die der Opfer-
hilfe oder dem Opferschutz dienen. Auch die Stiftungen in Baden-
Württemberg, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz sehen - in unterschiedli-
cher Intensität und Ausgestaltung - solche Projekthilfen VOr. 11 Die vorgese-
hene Maßnahmenförderung unterstreicht die gesamtgesellschaftliche Auf-
gabe der Opferhilfe. Sie wird dort in Frage kommen, wo spezielle
öffentliche Förderprogramme nicht bestehen, die Opferhilfetendenz des
Proj ekts außer Frage steht und ein nachhaltiges Finanzierungskonzept vor-
liegt.
c) Die "Stiftung Opferhilfe Niedersachsen" bietet den Opfern auch pro-
fessionelle psychosoziale Beratung und Betreuung an. 12 Darin liegt sogar
ein Aufgabenschwerpunkt der niedersächsischen Stiftung. In den einzelnen

10 Die bisher bestehenden Opferhilfestiftungen behandeln die Frage von Schmerzensgeld-


zahlungen unterschiedlich: in Baden-Württemberg (s. hierzu Abschnitt II Nr. 2 und 5 der
Zuwendungsrichtlinien) liegt hier der Schwerpunkt der Zuwendungen (ca. 800/0); in Nieder-
sachsen bilden sie hingegen eine seltene Ausnahme (vgl. A II Nr. 5 der dortigen Förderrichtli-
nien); die Stiftung Rheinland-Pfalz gewährt kein Schmerzensgeld (s. Nr. 2.4.1 der Zuwen-
dungsrichtlinien).
11 § 2 Abs. 1 Buchst. b der Satzung sowie Abschnitt III der Zuwendungsrichtlinien der
"Landesstiftung Opferschutz" (Baden-Württemberg); § 2 Abs. 2 der Satzung sowie Abschnitt
B der Förderrichtlinien der "Stiftung Opferhilfe Niedersachsen"; § 2 Abs. 2 Nr. 2 der Satzung
sowie Abschnitt 3 der Zuwendungsrichtlinien der "Stiftung Rheinland-Pfalz für Opferschutz".
12 § 2 Abs. 1 der Satzung sowie Abschnitt A II Nr. 5 der Förderrichtlinien.
Die Einrichtung einer Stiftung Opferhilfe Bayern 785

Landgerichtsbezirken sind hierfür so genannte regionale Opferhilfebüros


eingerichtet, die mit Angehörigen des Ambulanten Justizsozialdienstes
Niedersachsen besetzt sind.
Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz
hat - m.E. zu Recht - vorgeschlagen, dass die zu errichtende "Opferhilfe
Bayern" keine Betreuungs- und Beratungsleistungen erbringen soll. Der
organisatorische und personelle Aufwand fur die Erbringung solcher Leis-
tungen wäre ganz erheblich. Im Übrigen wäre zu befürchten, dass es zu
Überschneidungen mit den vielfältigen Beratungs- und Betreuungsangebo-
ten privater Opferhilfeeinrichtungen, insbesondere des Weißen Rings, kä-
me. Hier in Konkurrenz zu - jedenfalls in Bayern - gut funktionierenden
Einrichtungen zu treten, wäre wenig sinnvoll. Vielmehr bietet es sich an,
statt dessen - wie vorgesehen - gemeinnützige Opferhilfeeinrichtungen bei
geeigneten Projekten finanziell zu unterstützen.
d) Die Einzelheiten der Unterstützungs- und Förderleistungen einer "Op-
ferhilfe Bayern" werden in Zuwendungsrichtlinien niederzulegen sein. Da-
bei wird darauf zu achten sein, dass unbürokratisch und in geeigneten Fällen
auch schnell geholfen werden kann. Eine zu starre Lenkung der Entschei-
dungsträger sollte vermieden werden.

2. Organisation einer" Opferhilfe Bayern"


Weitere grundlegende Überlegung bei der Vorbereitung einer Kabinetts-
entscheidung war die Frage, in welcher Organisationsform die angestrebten
Ziele einer "Opferhilfe Bayern" am besten erreichbar wären.
a) In Frage kam zunächst als Lösung mit dem wohl geringsten Aufwand,
die Opferhilfe einer Justizbehörde, etwa dem Justizministerium, als staatli-
che Aufgabe zuzuweisen und aus einem Zuschusstitel im Justizhaushalt zu
finanzieren. Dies hätte aber eine erwünschte breite Mitwirkung maßgebli-
cher öffentlicher und privater Stellen (Vertreter des Landtags, verschiedener
Ressorts und öffentlicher Körperschaften, privater Opferhilfeverbände) an
den Entscheidungsabläufen zumindest erschwert. Außerdem würde durch
die Eingliederung in eine bestehende Justizbehörde die Bedeutung der Op-
ferhilfe weniger herausgehoben als durch die Errichtung einer eigenständi-
gen Organisation.
b) Als selbständige Organisationsformen standen vor allem zur Wahl der
gemeinnützige eingetragene Verein, die Stiftung bürgerlichen Rechts und
die Stiftung öffentlichen Rechts. Für den Vorschlag, eine Stiftung zu errich-
ten, sprach neben repräsentativen Gesichtspunkten - zum einen die
zweckentsprechende Grundkonzeption, finanzielle Leistungen aus den Er-
trägen einer Kapitalausstattung zu erbringen. Zum andern fiel zugunsten der
Stiftung ins Gewicht, dass der Stifter den Stiftungszweck und die konkrete
786 Manfred Markwardt

Ausgestaltung der Stiftungsorganisation im Einzelnen selbst festlegen und


die Tätigkeit der Stiftungsorgane auf Dauer binden kann.
Auch die Opferhilfen in Baden-Württemberg, Niedersachsen und Rhein-
land-Pfalz sind rechtsfahige Stiftungen und haben sich in dieser Rechtsform
bewährt. Die beiden erstgenannten Länder haben sich der Rechtsform der
Stiftung des bürgerlichen Rechts bedient, Rheinland-Pfalz hat eine Stiftung
des öffentlichen Rechts errichtet. 13
Eine Stiftung des privaten Rechts hätte wohl den Vorteil tendenziell grö-
ßerer Flexibilität als eine Stiftung des öffentlichen Rechts (hier: haushalts-
rechtliche Bindungen, mögliche Geltung des Gleichheitsgrundsatzes bei
Zuwendungen, höhere Gefahr einer Einklagbarkeit von Leistungen). In
Bayern kommt jedoch im Hinblick auf Art. 1 Abs. 3 des Bayerischen Stif-
tungsgesetzes (BayStG) nur eine Stiftung des öffentlichen Rechts in Be-
tracht. Nach der genannten Vorschrift sind Stiftungen, die ausschließlich
öffentliche Zwecke verfolgen und mit dem Staat in einem näheren organi-
schen Zusammenhang stehen, als Stiftungen des öffentlichen Rechts zu
qualifizieren. Die Unterstützung von Verbrechensopfern ist zweifellos als
"öffentlicher Zweck" in diesem Sinne anzusehen. 14 Ein "organischer Zu-
sammenhang" im Sinne des Art. 1 Abs. 3 Satz 1 BayStG liegt vor, wenn der
Staat entweder die Stiftung selbst verwaltet oder in den Stiftungsorganen
aufgrund eines Funktionsrechts ausschlaggebend bestimmt. Davon wird bei
der "Opferhilfe Bayern" auszugehen sein.
c) Die "Stiftung Opferhilfe Bayern" sollte möglichst schlank strukturiert
sein. Neben dem Stiftungsvorstand, der die Stiftung nach außen vertritt und
- mit Hilfe einer Geschäftsstelle - die Geschäfte führt, sollte als weiteres
Organ lediglich ein Stiftungsrat vorgesehen sein. Der Stiftungsrat, der den
Vorstand bei seiner Tätigkeit unterstützen, beraten und überwachen und in
Angelegenheiten von besonderer Bedeutung beschließen soll, sollte sich aus
einem breiten Spektrum betroffener Ressorts und Institutionen zusammen-
setzen. Mit Blick auf den Stiftungszweck der Hilfe für Deliktsopfer und der
Förderung von Opferhilfeeinrichtungen sollten neben Vertretern des Land-
tags jedenfalls das Justiz-, das Innen- und das Sozialressort, die Rechtsan-
waltschaft und die Opferhilfeverbände vertreten sein. Zu den dem Stiftungs-
rat obliegenden Angelegenheiten von "besonderer Bedeutung" sollten
insbesondere die Beschlüsse über den Haushaltsplan, die Rechnungslegung

13 § 1 der Satzung der "Landesstiftung Opferschutz" (Baden- Württemberg)~ § 1 Abs. 2 der


Satzung der "Stiftung Opferhilfe Niedersachsen"~ § 1 Abs. 2 der Satzung der "Stiftung Rhein-
land-Pfalz für Opferschutz".
14 Vgl. Art. 1 Abs. 3 Satz 2 BayStG: " ... den sozialen Aufgaben oder sonst dem Gemein-
wohl" dienender Zweck.
Die Einrichtung einer Stiftung Opferhilfe Bayern 787

sowie die Aufstellung von Richtlinien zur Vergabe von Zuwendungen und
Förderungen gehören.

3. Arbeitsabläufe in einer" Stiftung Opferhilfe Bayern"


Ausgehend von den bereits mehrjährigen Erfahrungen in Baden-
Württemberg 15 und Niedersachsen 16 unter Berücksichtigung der Einwoh-
nerzahl Bayerns und der jeweils unterschiedlichen Leistungsumgriffe kann
damit gerechnet werden, dass jährlich bis zu 1000 Zuwendungsanträge von
Privatpersonen eingehen werden. Sowohl zur Entlastung der Geschäftsstelle
des Stiftungsvorstands als auch im Interesse der Antragsteller sollte das
Antragsverfahren so gestaltet werden, dass Anträge nicht ausschließlich bei
der (zentralen) Geschäftsstelle eingereicht, sondern landesweit auch bei
"Außenstellen" gestellt werden können. Eine eigene Organisation der Stif-
tung in der Fläche wird hierfür nicht erforderlich und im Interesse einer
sparsamen Stiftungsverwaltung auch nicht wünschenswert sein. Es bietet
sich an, sich hierfür der bestehenden Strukturen der Polizeidienststellen, der
Anwaltschaft und der gemeinnützigen Opferschutzverbände, insbesondere
der Regionalstellen des Weißen Rings, zu bedienen. Vor allem letztere
könnten mit ihrer Erfahrung auf dem Gebiet der Opferbetreuung und
-beratung eine äußerst wertvolle Hilfe bei der Abwicklung staatlicher Op-
ferhilfezuwendungen sein. Um die Mitwirkung des Weißen Rings und ande-
rer Opferschutzorganisationen wird man sich bemühen müssen. Selbstver-
ständlich ist sie nicht, zumal Befürchtungen zu erwarten sind, dass
Konkurrenzstrukturen entstehen. Für den angestrebten Erfolg eines Ausbaus
des Opferschutzes insgesamt wird es von entscheidender Bedeutung sein,
solche Befürchtungen zerstreuen zu können und ein gedeihliches Nebenein-
ander und Miteinander staatlicher und privater Opferhilfe zu erreichen. Das
kann zum einen durch die - vorgeschlagene - Aufgabenbegrenzung der
staatlichen Opferhilfestiftung auf finanzielle Leistungen geschehen, womit
die traditionell von den gemeinnützigen Opferhilfeeinrichtungen gewährte
Beratung und Betreuung deren Metier bleiben wird. Das kann ferner durch
die - ebenfalls vorgeschlagene - Maßnahmenförderung durch die staatliche
Stiftung unterstützt werden, die vor allem den gemeinnützigen Opferhilfe-
organisationen zugute kommen wird. Schließlich wird aber entscheidend
sein, dass bei der Finanzierung der Stiftung den bestehenden privaten Orga-

15 Vgl. zuletzt Geschäftsbericht für das Jahr 2008 der "Landesstiftung Opferschutz" unter
www.landesstiftung-opferschutz.de.
16 Vgl. Jahresberichte der "Stiftung Opferhilfe Niedersachsen" 2002 bis 2008 nebst Jahres-
statistiken unter www.opferhilfe.niedersachsen.de.
788 Manfred Markwardt

nisationen nicht "das Wasser abgegraben" wird. Darauf wird anschließend


noch einzugehen sein.
Die (schließlich) bei der Geschäftsstelle des Stiftungsvorstands eingehen-
den Zuwendungsanträge werden dort zu überprüfen sein (u.a. Aufklärung
des entscheidungserheblichen Sachverhalts, Abklärung etwaiger vorrangi-
ger Leistungen anderer öffentlicher Stellen, anderer Opferhilfeeinrichtungen
oder des Täters bzw. seiner Versicherung). Die Entscheidungen des Stif-
tungsvorstands bzw. der eingesetzten Zuwendungsausschüsse werden vor-
zubereiten sein. Diese Arbeit der Geschäftsstelle, die als weitere Aufgaben
etwa die
- Bearbeitung der Förderanträge gemeinnütziger Einrichtungen,
- Vermögensverwaltung,
- gerichtliche Geltendmachung und Vollstreckung abgetretener Forderun-
gen,
Abwicklung des Zahlungsverkehrs,
- Öffentlichkeitsarbeit sowie
- sonstige Büroaufgaben
erfasst, wird von ihrem Umfang her weder ehrenamtlich noch nebenamtlich
wahrgenommen werden können. Hier wird - bei im Übrigen ehrenamtlicher
Tätigkeit - die Stiftung Vollzeitarbeitskräfte, u.a. einen Geschäftsführer,
anstellen müssen.

4. Finanzierung einer" Stiftung Opferhilfe Bayern"


Die Finanzierung der Opferhilfestiftung ist natürlich eine zentrale Reali-
sierungsvoraussetzung. In der Koalitionsvereinbarung ist von einer "ange-
messenen Kapitalausstattung" die Rede. Ausgehend von einem jährlichen
Antragsaufkommen von etwa 1000 bei der Einzelopferhilfe und einem
angenommenen jährlichen Volumen der Maßnahmenförderung von etwa
300.000 € ergibt sich grob geschätzt, auch unter Berücksichtigung der Er-
fahrungen in Baden-Württemberg l7 und Niedersachsen l8 , insoweit ein jähr-
licher Finanzbedarf in einer Größenordnung von etwa 1,5 Mio. €. Hinzu
kämen schätzungsweise etwa 500.000 € jährlich für Personal- und laufende
Ausgaben der Stiftung. Um hinsichtlich der 1,5 Mio. € die klassische Stif-
tungsfinanzierung allein aus den Erträgen des Grundstockvermögens zu
erzielen,19 wäre auf der Basis eines jährlichen Ertrags von 3,5% ein Grund-
stock von ca. 43 Mio. € erforderlich. Eine solche Ausstattung der Stiftung

17S.Fn.15.
18S. Fn. 16.
19 Vgl. Art. 6 Abs. 2 und 3 BayStG.
Die Einrichtung einer Stiftung Opferhilfe Bayern 789

erscheint angesichts der derzeitigen Haushaltssituation illusorisch. Es ist


daher vorzugswürdig, die Finanzierung im wesentlichen durch jährliche
Haushaltszuschüsse zu bewerkstelligen, deren Höhe sich je nach Grund-
stockausstattung der Stiftung und dem danach zu erzielenden Ertragsvolu-
men richten müsste.
Eine gänzliche oder auch nur maßgebliche Finanzierung der Stiftung
durch Geldbußenzuweisungen seitens der Gerichte und Staatsanwaltschaf-
ten sollte nicht angestrebt werden. Zwar soll die Stiftung wie jede gemein-
nützige Organisation auch von Geldbußenzuweisungen profitieren können.
Aber ein solides Finanzierungsmodell kann und sollte dadurch nicht ersetzt
werden. Der Mittelzufluss aus Geldauflagen ist nicht vorhersehbar und kann
nicht kontinuierlich sichergestellt werden. Vor allem aber würde die Ein-
werbung von Geldzuweisungen an die staatliche Opferhilfestiftung zu Las-
ten der Geldbußenzuweisungen an die privaten Opferhilfeeinrichtungen
gehen. Die dadurch entstehende Konkurrenz zu den privaten Initiativen
würde den von den Koalitionsparteien gewünschten Ausbau des Opfer-
schutzes gerade in Frage stellen. Ferner würde die dringend erwünschte
Kooperation mit dem Weißen Ring und ähnlichen Einrichtungen ernsthaft
gefährdet. Der Staat sollte auf dem Gebiet der Opferhilfe nicht in Konkur-
renz zu den bewährten Organisationen treten, sondern im Zusammenwirken
mit diesen die vorhandenen Hilfsmöglichkeiten verbessern und Lücken
schließen.

111.
Die Bayerische Staatsregierung hat am 21. April 2009 beschlossen, dass
der Freistaat Bayern eine landesweite "Opferhilfe Bayern" einrichtet. In den
einzelnen Eckpunkten ist sie dabei dem dargestellten Entscheidungsvor-
schlag des Staatsministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz gefolgt.
Allerdings hat sich die Staatsregierung nicht auf einen Beginn des Projekts
festgelegt. Ob eine entsprechende Stiftung bereits 2010 errichtet werden
kann, blieb mit Blick auf die angespannte Ha~shaltssituation offen.
Angesichts der eingangs dargestellten Verantwortung des Staates für Op-
fer von Straftaten wäre es sehr wünschenswert, wenn ein Weg gefunden
würde, die "Stiftung Opferhilfe Bayern" bald ins Leben zu rufen. Derzeit
baut die bayerische Justiz - ebenfalls mit beträchtlichem finanziellen Ein-
satz - ein Netz von ambulanten psychotherapeutischen Nachsorgeeinrich-
tungen auf - eine eminent wichtige und unterstützenswerte Initiative. Es
wäre schön, wenn dieser Anstrengung, die den Täter im Auge hat, ein deut-
licher Einsatz für die Opferhilfe an die Seite gestellt werden könnte.
790 Manfred Markwardt

Dass der Jubilar dieses Postulat unterstreichen wird, dessen kann man
sich ziemlich sicher sein. Bekanntlich widmet er sich seit Jahren in vielen
wissenschaftlichen Beiträgen der Thematik des Opferschutzes und der Op-
ferhilfe. Sein langjähriger Einsatz an maßgeblicher Stelle im Weißen Ring
zeugt von seinem ganz persönlichen Engagement in dieser Sache. Ich bin
sicher, dass er sich mit Nachdruck fur eine nachhaltige Zusammenarbeit des
Weißen Rings mit einer "Stiftung Opferhilfe Bayern" einsetzen wird. Man
kann nur hoffen, dass er seinem Einsatz für den Opferschutz und die Opfer-
hilfe noch recht lange treu bleibt.
Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe-
ein Artefakt der Forschung?

DIETER HERMANN

I. Einleitung
Der Jubilar hat sich in zahlreichen Publikationen und Vorträgen mit dem
Thema Kriminalpolitik befasst. 1 In Zeiten neuer und komplexer Bedro-
hungsformen forderte er eine Kriminalpolitik mit Augenmaß, ein zurückhal-
tendes Strafrecht und eine sachgerechte Aufklärung gegen publizistisch
überhöhte Kriminalitätsfurcht. 2 In seiner Arbeit über die Todesstrafe aus
viktimologischer Sicht blieb er dieser Position ebenfalls treu. 3 Auch wenn
Rachegedanken der Angehörigen von ermordeten Opfern durchaus nach-
vollziehbar seien, könnten durch eine institutionalisierte und angemessene
Berücksichtigung von Opferinteressen im Strafverfahren Vergeltungs- und
Rachegelüste in einem rechtsstaatlichen Verfahren kanalisiert werden.
Letztlich liefere die Viktimologie keine Argumente für die Todesstrafe, so
Schäch.
Der vorliegende Beitrag knüpft an die Debatte um die Todesstrafe an.
Diese Diskussion ist keineswegs lediglich historischer Natur, denn im Jahr
2008 wurde in 59 Staaten und einem Territorium die Todesstrafe ange-
wandt, darunter auch in westlich orientierten Ländern wie Japan, USA und
Weißrussland. 4 Als Grundlage der Legitimation dieser Sanktionsform wird
in erster Linie die vermeintliche Abschreckungswirkung gesehen. Die theo-

1 Schäch Entkriminalisierung, Entpönalisierung, Reduktionismus - Quantitative Prinzipien


in der Kriminalpolitik, in: FS Schüler-Springorum, 1993, S. 245-256; Schäch Neue Punitivität
in der Jugendkriminalpolitik? In: Das Jugendkriminalrecht vor neuen Herausforderungen?
Jenaer Symposium. Eine Dokumentation des Bundesministeriums der Justiz, 2009, S. 13-27.
2 Schäch Kriminalpolitik in Zeiten komplexer Bedrohungsformen. In: Lösel u. a. (Hrsg.),
Kriminologie und wissensbasierte Kriminalpolitik: Entwicklungs- und Evaluationsforschung,
2007, S. 45-64.
3 Schäch Die Todesstrafe aus viktimologischer Sicht, FS Jung, 2007, S. 865-874;
Bartsch/Kemme/Buckolt Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 2006, 401-408.
4 Amnesty International Wenn der Staat tötet. Liste der Staaten mit und ohne Todesstrafe,
Stand 23. Oktober 2008. Internetpublikation:
http://www.amnesty.de/files/todes-strafe_laenderliste. pdf; Stand 12/2009.
792 Dieter Hermann

retische Grundlage dazu lieferten die Arbeiten von Cesare Beccaria, Jeremy
Bentham und Johann Anselm Feuerbach. 5 In neuerer Zeit haben Gary S.
Becker und Isaac Ehrlich die generalpräventiven Abschreckungstheorien
auf die Ebene ökonomischer und ökonometrischer Modelle übertragen. 6 Es
wird postuliert, dass es das Ziel der Gesellschaft sei, das Glück der Gesell-
schaftsmitglieder zu optimieren. Deshalb müsse Kriminalität möglichst
verhindert werden, denn dies beeinträchtige die gesellschaftliche Nutzenbi-
lanz in negativer Weise. Eine Verhinderung von Kriminalität sei möglich,
wenn die Sanktionen krimineller Handlungen den möglichen Nutzen über-
steigen würden, denn der Mensch würde bei seinen Handlungsentscheidun-
gen Kosten und Nutzen der möglichen Alternativen abwägen.
Nach dieser Logik müsste die Todesstrafe eine abschreckende Wirkung
haben, denn die Kosten sind bei dieser Sanktion für den Täter oder die Täte-
rin so groß, dass die Kosten-Nutzen-Bilanz in jedem Fall negativ ausfallen
muss. Folglich müssten rational-utilitaristische Personen alle Handlungen
unterlassen, die mit der Todesstrafe bewehrt sind. Die Richtigkeit dieser
Theorie kann jedoch angezweifelt werden, denn es liegen zahlreiche empiri-
sche Untersuchungen vor, die unterschiedliche Ergebnisse erzielen. Diese
Diskrepanz ist das Thema des vorliegenden Berichts, in dem eine Metaana-
lyse über empirische Studien zur Todesstrafe vorgestellt wird, wobei die
Frage nach den Gründen für die unterschiedlichen Befunde im Mittelpunkt
steht. 7

11. Forschungsstand
Mit der Publikation "The Deterrent Effect of Capital Punishment: A
Question of Life and Death" im American Economic Review aus dem Jahr
1975 hat Isaac Ehrlich eine Diskussion zur Wirkung der Todesstrafe ausge-

5 Beccaria (1766) Über Verbrechen und Strafen. Übersetzt und herausgegeben von W. Alff,
1988~ Bentham (1823) An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. Reprint,
1996~ Feuerbach (1799) Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen
Rechts 1.
6 Becker Journal of Political Economy 76 (1968), 169-217~ Ehrlich Journal of Political
Economy 81 (1973),521-565.
7 Das Projekt wurde von der DFG gefördert. Über das Forschungsprojekt sind bisher fol-
gende Publikationen erschienen: Dölling/Entorj/Hermann/Häring/Rupp/Woll Soziale Probleme
2006, 193-209~ Dölling/Entorj/Hermann/Rupp/Woll in: Lösel/Bender/Jehle (Hrsg.), Krimino-
logie und wissensbasierte Kriminalpolitik. Entwicklungs- und Evaluationsforschung, 2007,
S. 633-648~ Dölling/Entorj/Hermann/Rupp European Journal of Criminal Policy and Research
15 (2009), 201-224; Rupp Meta Analysis of Crime and Deterrence: A Comprehensive Review
of the Literature, Dissertation 2008. http://tuprints.ulb.tu-darmstadt.dell 054/2/rupp_diss. pdf.
Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe 793

lÖSt,8 Die Daten zu der Studie stammten aus den Uniform Crime Reports
(UCR), der Kriminalstatistik des FB!. Für den Zeitraum 1933 bis 1969
konnte Ehrlich durch multiple Regressionsanalysen zeigen, dass die Mord-
und Totschlagrate pro Einwohner von verschiedenen Indikatoren der Exe-
kutionswahrscheinlichkeit abhängig ist, wobei soziodemografische Variab-
len wie beispielsweise die Arbeitslosenquote und der nicht-weiße Bevölke-
rungsanteil kontrolliert wurden. Die Effektschätzungen waren signifikant
und bestätigten die Abschreckungshypothese. Zur Kontrolle variierte Ehr-
lich den Untersuchungszeitraum und belegte damit die Stabilität des Ergeb-
nisses. Sein Fazit: "In light of these observations one cannot reject the hy-
pothesis that punishment in general, and execution in particular, exert a
unique deterrent effect on potential murderers".9 Letztlich verhindere jede
Exekution acht Morde, so Ehrlich.
William Bowers und Glenn Pierce, zwei Sozialwissenschaftier, kritisier-
ten im selben Jahr die Studie von Ehrlich. lO Sie bemängelten die Validität
der von Ehrlich verwendeten Daten und konnten zeigen, dass sich die Er-
gebnisse ändern, wenn lediglich die Zeiträume der UCR-Daten variiert
werden und die gleichen statischen Verfahren zur Anwendung kommen, die
Ehrlich verwendet hatte. Die Autoren fanden keine eindeutigen Ergebnisse
mehr, wenn als Endpunkte die Jahre 1960 bis 1964 und nicht 1969 - wie in
der Ehrlich-Studie - betrachtet wurden. Die Regressionskoeffizienten für
die Messung des Effekts der sechs Exekutionsvariablen auf die Mord- und
Totschlagsrate waren nur noch zum Teil theoriekonsistent, und für den
Zeitraum von 1960 bis 1963 widersprachen alle Effektschätzungen der
Abschreckungstheorie.
Isaac Ehrlich hat in einer weiteren Publikation die Datenbasis erweitert
und UCR-Daten mit Daten der Sterbestatistik verknüpft. 11 Dabei wurden
Staaten der USA verglichen, die sich in der Gesetzgebung zur Todesstrafe
unterschieden. Als Messzeitpunkte wählte Ehrlich hier die Jahre 1940 und
1950, da zu diesem Zeitraum die Exekutionsraten einzelner Staaten beson-
ders hoch waren. Die Analysen zum Einfluss der Exekutionsrate auf die
Tötungsrate bestätigten die Ergebnisse seiner oben beschriebenen Studie.
Brian Forst hat versucht, die Ergebnisse der Ehrlich-Studie zu replizie-
ren, und wiederholte die Analyse mit Daten der Jahre 1960 und 1970. 12
Allerdings konnten auf Grund fehlender Werte lediglich 33 Staaten der
USA berücksichtigt werden. Der Autor führte wie Ehrlich multiple Regres-

8 Ehrlich American Economic Review 65 (1975),397-417.


9 Ehrlich (Fn. 8),413 f.
10 BowerslPierce Yale Law Journal 85 (1975), 187-208.
11 Ehrlich Journal of Political Economy 85 (1977), 741-788.
12 Forst Journal ofCriminal Law and Criminology 74 (1983),927-942.
794 Dieter Hermann

sionen unter Kontrolle von soziodemographischen Variablen durch. Das


Ergebnis der Analysen ist, dass es keine Anhaltspunkte für die Abschre-
ckungswirkung der Todesstrafe gibt: Die Regressionskoeffizienten sind
unter Einbeziehung aller vier Exekutionsindikatoren positiv und somit theo-
rieinkonsistent.
Die beschriebenen Studien sind zwar nur eine Auswahl, aber es wird
deutlich, dass die Ergebnisse der lJntersuchungen erheblich variieren. Selbst
Metaanalysen zu empirischen Untersuchungen über die präventive Wirkung
der Todesstrafe führen zu unterschiedlichen Resultaten.
Eine Forschungsübersicht zu 74 empirischen Studien stammt von Janet
Chan und Deborah Oxley.13 Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die Todes-
strafe keine abschreckende Wirkung habe, denn dies sei das Ergebnis der
meisten Studien. Eine Beschränkung auf 61 Untersuchungen, die elaborierte
statistische Analyseverfahren wie multivariate Techniken und ARIMA-
Methoden bei Zeitreihenanalysen verwendeten, bestätigte dieses Fazit. Von
diesen Studien kamen 660/0 zu dem Ergebnis, dass die Abschreckungshypo-
these falsch sei, und lediglich 23 % bestätigten sie. 11 % der Studien kamen
zu widersprüchlichen Ergebnissen.
Die Metaanalyse von Bijou Yang und David Lester hingegen führte zu
einem anderen Ergebnis: Sie fassten ihre Studie mit den Worten zusammen,
dass Exekutionen einen abschreckenden Effekt hätten. 14 Die Untersuchung
basierte auf 104 Publikationen; allerdings wurde die konkrete Analyse auf
95 Veröffentlichungen beschränkt, denn zum Teil waren die Untersu-
chungsergebnisse für eine Metaanalyse unbrauchbar, so die Autoren. Dazu
zählten die Untersuchungen, in denen die Entwicklung der Mordrate in
Staaten mit und ohne Todesstrafe verglichen wurde, denn in diesen Arbei-
ten wurden keine Zusammenhangsmaße angegeben. Zudem berücksichtigte
die Metaanalyse nur Aufsätze in Zeitschriften, die ihre Beiträge begutachten
ließen. Die Autoren haben zur Durchführung der Metaanalyse jeweils alle
Effektschätzungen zum Einfluss der Todesstrafe auf Delinquenz aus einer
Studie in Pearsonsche Korrelationskoeffizienten umgerechnet und den
Durchschnittswert gebildet. Somit wurden alle Einzelergebnisse einer Stu-
die in einem einzigen Wert zusammengefasst. Der Durchschnittswert für
alle Studien liegt bei r=-0,12 und ist theoriekonsistent und signifikant.
Besonders niedrig ist die Durchschnittskorrelation für Studien, die zeitliche
Aspekte berücksichtigen: Für Untersuchungen mit Zeitreihendaten ist
r=-O, 16 und für Paneldaten r=-O, 13. Beide Werte sind signifikant, während
die Durchschnittskorrelation für Studien mit Querschnittdaten nicht signifi-
kant ist.

13 Chan/Oxley Crime and Justice Bulletin 84 (2004), 1-24.


14 Yang/Les/er Journal of Criminal Justice 36 (2008), 453-460.
Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe 795

Bei der Interpretation der Ergebnisse der Metaanalyse von Yang und Les-
ter ist es hilfreich, die Argumentationslogik zu verdeutlichen. Die Forscher
kommen zu dem Ergebnis, dass ein Teil der Studien die Abschreckungs-
hypothese widerlegt, andere nicht. Daraus kann aber nicht abgeleitet wer-
den, welches Ergebnis letztlich falsch ist; es ist unklar, ob Längsschnitt-
oder Querschnittuntersuchungen zu falschen Ergebnissen führen. Zudem
sind die Unterschiede in den Korrelationen aus Längs- und Querschnittda-
ten minimal. In der oben erwähnten Literaturübersicht von Chan und Oxley
wurde für jede der berücksichtigten Studien angegeben, ob es sich um eine
Längsschnitt- oder Querschnittuntersuchung handelt. Von den dort berück-
sichtigten Längsschnittstudien bestätigen 27% und von den Querschnittstu-
dien 25% die Abschreckungshypothese. Letztlich wurde in der Metaanalyse
lediglich geprüft, ob Effektschätzungen aus Längsschnitt- bzw. Quer-
schnittuntersuchungen signifikant von null verschieden sind. Die eigentlich
relevante Frage, ob sich Effektschätzungen aus Längsschnitt- und Quer-
schnittuntersuchungen signifikant unterscheiden, wurde nicht behandelt.
Ein weiteres Problem der Arbeit von Yang und Lester ist die Art der An-
wendung der Metaanalyse. Metaanalysen werden sowohl eingesetzt, um die
Ergebnisse einzelner Studien zusammenzufassen~ als auch, um Unterschie-
de in Untersuchungsergebnissen zu erklären. Diese beiden Ziele der Meta-
analyse basieren aber auf unterschiedlichen Voraussetzungen. Yang und
Lester verwenden die Metaanalyse in erster Linie, um Ergebnisse von Stu-
dien zusammenzufassen. Dadurch wird die Genauigkeit und Zuverlässigkeit
von Schätzwerten erhöht, denn die zu Grunde liegende Fallzahl ist größer
als in jeder Einzelstudie. 15 Eine Voraussetzung der Zusammenfassung von
Untersuchungsergebnissen ist, dass alle einbezogenen Untersuchungen auf
unabhängigen Zufallsstichproben aus einer einzigen Grundgesamtheit basie-
ren. Dies ist bei Studien zur Abschreckungswirkung nicht der Fall. Hier
werden in der Regel kriminalstatistische Daten verwendet, die auf ein Zeit-
intervall begrenzt sind. lsaac Ehrlich sowie William J Bowers und Glenn L.
Pierce beispielsweise haben in ihren Studien Daten der US-amerikanischen
Kriminalstatistik für den Zeitraum von 1935 bis 1969 verwendet, also iden-
tische Stichproben. 16 Viele Studien überschneiden sich erheblich in der
berücksichtigten Datenmenge. Dies bedeutet, dass in der Metaanalyse von
Studien zur Todesstrafe häufig die Fallzahl für die zusammengefasste Sta-
tistik deutlich kleiner ist als die Summe der Fallzahlen der einzelnen Stu-
dien, und dies führt zu fehlerhaften Schätzungen von Signifikanzniveaus für
zusammengefasste Statistiken.

15 Glass Educational Researcher 5 (1976), 3-8.


16 Ehrlich (Fn. 8)~ BowerslPierce (Fn. 10).
796 Dieter Hermann

111. Untersuchungsdesign der Metaanalyse


Die Diskrepanzen in Untersuchungen führen zu der Frage nach den Grün-
den, wobei hier die Antwort mit Hilfe einer Metaanalyse gefunden werden
soll. Es handelt sich dabei um eine quantitative systematische Untersuchung
von Einzelstudien mit dem Ziel, die Gründe für abweichende Ergebnisse
der Einzelstudien zu ermitteln, die insbesondere im Untersuchungsdesign
oder in den Rahmenbedingungen der Untersuchungen zu finden sind. Meta-
analysen haben in der Regel keinen Zugriff auf die Rohdaten. Die Analyse-
einheiten sind Studien oder Effektschätzungen. 17 Hier wird die Metaanalyse
in erster Linie mit Effektschätzungen durchgeführt, denn einige Studien
behandeln nicht nur die Frage nach der Wirkung der Todesstrafe, sondern
berücksichtigen auch andere Sanktionen. Aus dem Ergebnis einer solchen
Studie kann nicht auf die Abschreckungswirkung der Todesstrafe geschlos-
sen werden. Deshalb werden statistische Schätzungen wie Korrelationen
oder Signifikanzen aus den Einzelstudien gesammelt und systematisch
ausgewertet.
Für die Durchfiihrung der Metaanalyse wurden die einschlägigen empiri-
schen Untersuchungen in Literaturdatenbanken und Literaturlisten von
Publikationen gesucht. Die Studien wurden anhand von zwei Erhebungsbö-
gen ausgewertet; der erste bezieht sich auf das Untersuchungsdesign der
Studie und der zweite auf die Effektschätzungen. In der Metaanalyse wur-
den 82 Studien berücksichtigt, wobei sich nur 52 schwerpunktmäßig mit
dem Thema Todesstrafe befassten. Zu den 82 Studien wurden 842 Effekt-
schätzungen erfasst, die sich auf die Wirkung der Todesstrafe beziehen.
In ökonomischen Studien ist die Anzahl der Effektschätzungen in der Re-
gel größer als in kriminologischen oder soziologischen Untersuchungen,
weil häufig systematische Variationen der Modelle überprüft werden. Um
die Ungleichheit in der Anzahl der Effektschätzungen zu berücksichtigen,
wurde für ökonomische Studien nach dem Zufallsprinzip jeweils nur eine
Effektschätzung pro Delikt ausgewählt. Bei den kriminologischen und sozi-
alwissenschaftlichen Studien hingegen wurden alle einschlägigen Schätzun-
gen erfasst. Um eventuelle Verzerrungen durch die unterschiedliche Anzahl
von Effektschätzungen pro Studie zu vermeiden, wird in den empirischen
Analysen so gewichtet, dass ökonomische, kriminologische und soziologi-
sche Studien mit gleichem Gewicht in die Analyse eingehen. Durch die
Gewichtung wird die rechnerische Anzahl von Effektschätzungen auf 585
reduziert.

17 Zur Metaanalyse siehe: Fricke/Treinis Einführung in die Metaanalyse. Methoden der Psy-
chologie, Vol. 3, 1985; Rosenthai Meta-Analytic Procedures for Social Research. Revised
Edition, 1991.
Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe 797

94 % der Effektschätzungen in Studien zur Todesstrafe beziehen sich auf


Tötungsdelikte. Damit die Vergleichbarkeit der Ergebnisse gewahrt bleibt,
beziehen sich alle Analysen - mit Ausnahme der deskriptiven Ergebnisse in
Kapitel 4 - ausschließlich auf diese Fälle.
In den Untersuchungen werden unterschiedliche Statistiken für die Ef-
fektschätzungen angegeben, beispielsweise Korrelationskoeffizienten, Sig-
nifIkanzniveaus und t-Werte. Diese statistischen Größen sind unterschied-
lich skaliert und damit nur bedingt vergleichbar. Zur Herstellung
komparabler Größen wurden deshalb alle Effektschätzungen in t-Werte
umgerechnet. 18 Der t-Wert ist eine Statistik, die meist in inferenzstatisti-
schen Analysen zur Berechnung der Irrtumswahrscheinlichkeit eingesetzt
wird; er ist von der zu Grunde liegenden Fallzahl abhängig. Deshalb wurden
alle t-Werte normalisiert. 19 Dadurch ist eine direkte Vergleichbarkeit ge-
währleistet. 20 Die im Folgenden dargestellten Ergebnisse basieren alle auf
gewichteten Analysen und normalisierten t-Werten. Zur Interpretation der
t- Werte ist anzumerken, dass negative Werte theoriekonsistent und Werte
unter -1,96 auf dem 5%-Niveau signifikant sind.
Einen Hinweis auf die Validität der Erfassung der Effektstärken durch
t-Werte erhält man durch eine Verknüpfung mit dem Gesamtergebnis der
Studie. In Schaubild 1 ist diese Beziehung dargestellt. Dabei sind lediglich
Studien berücksichtigt, die Abschreckung durch die Strafhöhe erfassen; die
Studien zur Strafwahrscheinlichkeit erzeugen bei der analogen Analyse
nahezu ein identisches Ergebnis.
In den Studien, in denen die Autoren als Fazit ihrer Analysen zu dem Er-
gebnis gelangten, dass der Abschreckungshypothese voll zuzustimmen sei,
sind 76,50/0 der Effektschätzungen theoriekonsistent und signifikant. Mit
zunehmender Ablehnung der Abschreckungshypothese reduziert sich auch
der Anteil der theoriekonsistenten und signifikanten Effektschätzungen, und
bei einer vollen Ablehnung der Hypothese erfüllen dieses Kriterium ledig-
lich 8,6% der Effektschätzungen. Dies spricht für eine valide Erfassung der
Effektschätzungen und der t-Werte in der Metaanalyse.

18 Siehe dazu: Stanley Journal ofEconomic Perspectives 15 (2001),131-150; AntonylEntorf


in: Albrecht, H.-J./Entorf (Hrsg.), Kriminalität, Ökonomie und Europäischer Sozialstaat, 2003,
S. 167-185.
19 Rupp 2008 (Fn. 7), S. 78-80.
20 Bei einer hohen Fallzahl sind i-Werte unter -1,96 auf dem 5%-Niveau signifikant. Bei
kleinen Fallzahlen liegt dieser Grenzwert niedriger. Die "Normalisierung" besteht in einer
Anpassung der t-Werte mit kleiner Fallzahl; für diese Fälle wurden die t-Werte berechnet, die
man erhalten würde, wenn die Fallzahl hoch wäre, aber die Irrtumswahrscheinlichkeit für die
Schätzung unverändert bliebe. Durch diese Normalisierung ist der Wert t=-1,96 immer die
Grenze zwischen signifikanten und nichtsignifikanten Schätzungen, unabhängig von der Fall-
zahl.
798 Dieter Hermann

Schaubild 1: Beziehung zwischen dem Gesamtergebnis der Studie und


dem Anteil theoriekonsistenter und signifikanter Effektschätzungen

volle Zustimrung teilw. Zustimrung teilw. Ablehnung volle Ablehnung

Fazit der Studie (Strafhöhe)

IV. Deskriptive Ergebnisse


Von den 52 Studien, die sich schwerpunktmäßig mit der Todesstrafe be-
fassten, wurden nahezu alle, nämlich 90%, in den USA veröffentlicht, und
92% der Untersuchungen beziehen sich auf dieses Land. 44% der Studien
stammen aus der Zeit bis 1984, zwischen 1984 und 1995 wurden 21 % ver-
öffentlicht und danach 34%. Fast alle Publikationen sind Zeitschriftenauf-
sätze, Monografien liegen keine vor. Nur ein kleiner Teil der Untersuchun-
gen basiert auf Querschnittdaten, alle anderen verwenden Längs-
schnittdaten. Die Untersuchungsobjekte, also die Fälle in der Datenmatrix,
sind immer aggregierte Daten, entweder Nationen oder Bundesländer. In
nahezu allen Fällen wurden öffentlich zugängliche Daten analysiert, wobei
der Uniform Crime Report eine zentrale Rolle spielt. Die klassische Studie
zur Todesstrafe verwendet demnach Hellfelddaten aus den USA über Tat-
verdächtigenbelastungszahlen oder Häufigkeitszahlen, wobei Regionen
und!oder Zeiträume verglichen werden, in denen die Androhung oder Ver-
hängung der Todesstrafe variiert.
Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe 799

Fasst man alle relevanten Effektschätzungen aus Studien zur Todesstrafe


zusammen, liegt der durchschnittliche t-Wert bei -0,59. Beschränkt man die
Berechnungen auf Effektschätzungen, die sich auf Tötungsdelikte beziehen,
beträgt der t-Wert -0,69. Beide Werte liegen somit deutlich über dem Wert
von -1,96, der die Grenze zu signifikanten Effektschätzungen markiert.
In Tabelle 1 ist die Verteilung der t-Werte dargestellt. Demnach sind na-
hezu zwei Drittel der Effektschätzungen nicht signifikant; allerdings ist der
Anteil der signifikanten theoriekonsistenten Schätzungen größer als der
Anteil der signifikanten theorieinkonsistenten Schätzungen. Im Vergleich
zu Abschreckungsstudien über andere Sanktionen ist jedoch der durch-
schnittliche t-Wert relativ groß. Besonders kleine t-Werte sind in Experi-
menten zu finden, in denen die Sanktion oft nur symbolischer Art ist. 21

Tabelle 1: Verteilung der Effektschätzungen von empirischen Studien


zur Todesstrafe

Signifikanzniveau der Effektschätzun- Prozentualer Anteil Prozentualer Anteil


gen Alle Effektschätzungen zu
Effektschätzungen Tötungsdelikten
Hoch signifikant und theoriekonsistent 17,5 17,3
t < -2,58 (a < 0,01)
Signifikant und theoriekonsistent 9,1 9,7
-2,58< t < -1,96 (0,01< a< 0,05)
Nicht signifikant 65,6 66,7
-1,96< t < +1,96 (a > 0,05)
Signifikant und theorieinkonsistent 1,1 0,6
1,96< t < 2,58 (0,01< a< 0,05)
Hoch signifikant und theorieinkonsistent 6,7 6,0
t> 2,58 (a< 0,05)
N=534, gewichtet

v. Der Einfluss methodisch-statistischer Kriterien der


Untersuchungen auf das Untersuchungsergebnis
Die Ergebnisse der Effektschätzungen wurden als t-Werte mit den oben
beschriebenen Kategorien operationalisiert. Dieses Merkmal ist die abhän-
gige Variable, die mit Hilfe multipler Regressionen erklärt werden soll.
Es ist anzunehmen, dass sich die Art und Weise der Variablenoperationa-
lisierung auf das Ergebnis auswirkt. Diese kann sich sowohl auf die unab-
hängige Variable beziehen, mit der der Grad der Abschreckung gemessen

21 Dölling u. a. 2006; Dölling u. a. 2007; Dölling u. a. 2009 (alle Fn. 7).


800 Dieter Hermann

wurde, als auch auf die abhängige Variable, die delinquentes Handeln er-
fasst. Hier wurden folgende Variablen in die Analyse einbezogen:
- Gesetzliche Androhung der Todesstrafe (nein / ja)
- Anzahl der Verurteilungen zur Todesstrafe (nein / ja)
- Anteil der Verurteilungen zur Todesstrafen an allen Verurteilungen
(nein / ja)
- Anzahl der Vollstreckungen von Todesstrafen und Exekutionsrate (nein/
ja)
- Anzahl polizeilich registrierter Taten
- Anzahl polizeilich registrierter Tatverdächtiger
- Anzahl Verurteilte
- Anzahl Inhaftierte
- Kriminalitätsbelastungsziffer
Eine weitere Größe, die das Ergebnis einer Untersuchung beeinflussen
könnte, ist die Konstruktion des statistischen Modells, das den Effektschät-
zungen zu Grunde liegt. Nahezu alle statistischen Analysen wurden multi-
variat durchgeführt, so dass die Auswahl der berücksichtigten Drittvariablen
ein wichtiger Aspekt der Modellspezifikation ist. Für die Erklärung der
Höhe der Effektschätzung wurde bedacht, welche Drittvariablen bei einer
Effektschätzung berücksichtigt wurden:
- Alter (nicht berücksichtigt / berücksichtigt)
- Geschlecht (s.o.)
- Familienstand (s.o.)
- Nationalität (s.o.)
- Schulbildung (s.o.)
- Einkommen (s.o.)
- Arbeitslosigkeit (s.o.)
- Religion (s.o.)
- Jugendliche (s.o.)
- Hautfarbe (s.o.)
- Einkommensdivergenz (s.o.)
- Armut, Wohlfahrt (s.o.)
- Urbanität (s.o.)
- BIP, GDP (s.o.)
- Bevölkerungswachstum (s.o.)
- Erwerbspersonen (s.o.).
Zudem kann die Modellspezifikation eine Rolle spielen. Die einbezoge-
nen Variablen sind:
- Anzahl der berücksichtigten Kontrollvariablen
Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe 801

- Logarithmische Transformation der abhängigen Variable (nein / ja)


- Abhängige Variable mit Differenzenoperator (nein / ja)
- Wurden andere Formen der Transformation verwendet (nein / ja)
- Fixed Effects Model/Querschnitt (nein / ja)
- Fixed Effects Model/Time (nein / ja)
- Modellkonstruktion linear (nein / ja)
- Modellkonstruktion additiv (nein / ja)
- Modell mit Fehlerkorrektur (nein / ja)
- Gewichtende Methode (nein / ja)
- Quer- oder Längsschnittstudie (Querschnitt / Längsschnitt)
Eine weitere unabhängige Variable ist die berufliche Verortung der Stu-
dienautoren. Dabei wird lediglich unterschieden, ob sie die Publikation als
Mitglied einer wirtschaftswissenschaftlichen Einrichtung verfasst haben
oder ob sie einer kriminologischen, soziologischen oder juristischen Orga-
nisation angehörten. Als weiteres Merkmal, das den Forschungskontext
charakterisiert, wurde das Publikationsorgan berücksichtigt, wobei nur
unterschieden wurde, ob der Beitrag in einer wirtschaftswissenschaftlichen
Zeitschrift oder in einem kriminologischen, soziologischen bzw. juristi-
schen Medium veröffentlicht wurde.
In Tabelle 2 sind die Ergebnisse der Analysen dargestellt. Der t-Wert
wird schrittweise durch verschiedene Gruppen von unabhängigen Variablen
erklärt. Spalte 1 der Tabelle enthält die standardisierten partiellen Regres-
sionskoeffizienten ftir den Einfluss der Operationalisierungsvariablen auf
die t-Werte. In Spalte 2 wurden zusätzlich zu den Operationalisierungsvari-
ablen Kontrollvariablen berücksichtigt und in Spalte 3 Merkmale der Mo-
dellcharakterisierung. In der Tabelle sind ausschließlich signifikante Ein-
flussfaktoren aufgeftihrt.
Es zeigt sich, dass methodenspezifische Unterschiede in den Untersu-
chungen einen Einfluss auf das Untersuchungsergebnis haben. Vergleichs-
weise hohe t-Werte und damit Ablehnungen der Abschreckungshypothese
erzielten Untersuchungen, in denen die unabhängige Variable als Anteil der
Verurteilungen zu Todesstrafen an allen Verurteilungen erfasst wurde, als
Kontrollvariablen das Bruttoinlandsprodukt, der Urbanisierungsgrad oder
die Einkommensdivergenz berücksichtigt wurden, die Anzahl der Kontroll-
variablen groß war oder die spezifizierten Modelle lineare oder additive
Verknüpfungen unterstellten. Vergleichsweise niedrige t-Werte und damit
Bestätigungen der Abschreckungshypothese erzielten Untersuchungen, in
denen die abhängige Variable als Kriminalitätsbelastungsziffer operationali-
siert wurde, als Kontrollvariablen die Arbeitslosigkeit, das Armutsniveau
oder der Anteil der Erwerbsbevölkerung berücksichtigt wurden, die Mo-
dellberechnungen mit Längsschnittdaten erfolgten oder Regressionskoeffi-
802 Dieter Hermann

zienten mit der gewichteten Methode der kleinsten Quadrate geschätzt wur-
den. Die erklärte Varianz liegt bei 24 Prozent.

Tabelle 2: Erklärung des Untersuchungsergebnisses (Effektschätzun-


gen) durch methodenspezifische Merkmale

Unabhängige Variablen (1) (2) (3)


Operationa- Gesetzliche Androhung der 0,17 -- --
lisierungen Todesstrafe
Anteil der Verurteilungen zu 0,09 0,11 0,10
Todesstrafen an allen Verurtei-
lungen
Kriminalitätsbelastungsziffer -0,15 -0,11 -0,08
Berück- Arbeitslosigkeit -0,19 -0,17
sichtigte
Einkommensdivergenz 0,11 0,09
Kontroll-
variablen Armut, Wohlfahrt -0,19 -0,21
Urbanität 0,19 0,14
BIP, GDP 0,14 0,12
Anteil der Erwerbsbevölkerung -0,16 -0,17

Modell- Anzahl Kontrollvariablen 0,13


spezifi kation
Modellkonstruktion linear 0,11
Modellkonstruktion additiv 0,15
Gewichtende Methode -0,15
Längsschnittstudie -0,15
R2 0,05 0,16 0,24
-- nicht signifikant

Der Anteil der Verurteilungen zu Todesstrafen an allen Verurteilungen


scheint nach dem Ergebnis in Tabelle 2 kein guter Abschreckungsindikator
zu sein, während die Kriminalitätsbelastungsziffer besser in der Lage ist als
andere Delinquenzvariablen, die Wirkungen der Todesstrafe zu erfassen.
Von den Kontrollvariablen haben insbesondere Merkmale zur Charakteri-
sierung von Armut und Reichtum einer Region bzw. Gesellschaft sowie
Kennzeichen des Arbeitsmarkts einen Einfluss auf Schätzwerte, die den
Einfluss der Todesstrafe auf Delinquenz beschreiben. Aus anomie-
theoretischer Sicht müsste Delinquenz durch die ökonomische Situation und
durch Arbeitsmarktmerkmale erklärt werden: Ökonomische Deprivation
und Ungleichheit sowie eine hohe Arbeitslosigkeit müssten zu einer hohen
Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe 803

Delinquenzrate führen. Aus der Sicht dieser Theorie wäre ein Modell zur
Erklärung von Delinquenz falsch spezifiziert, wenn diese Merkmale fehlen
würden. Eine solche Fehlspezifikation müsste die Schätzungen zum Ein-
fluss der Todesstrafe auf Delinquenz tangieren. In bivariaten Analysen zeigt
sich besonders deutlich, wie die Berücksichtigung von nur einer der beiden
Kontrollvariablen das Ergebnis tangiert. Der Anteil theoriekonsistenter und
signifikanter Effektschätzungen liegt bei 34%, wenn die Arbeitslosigkeit als
Kontrollvariable berücksichtigt wird; bei einer Berücksichtigung des Brut-
toinlandsprodukts liegt dieser Anteil bei 80/0. Nach der Anomietheorie
müssten beide Variablen relevant sein und die Berücksichtigung lediglich
einer Variable müsste zu verzerrten Schätzungen führen. Allerdings gibt es
von allen Effektschätzungen dieser Metaanalyse keine einzige, die beide
Merkmale als Kontrollvariablen berücksichtigt hat, so dass alle Effektschät-
zungen verzerrt sein dürften.
Nach Tabelle 2 hat auch die Modellspezifikation einen Einfluss auf das
Untersuchungsergebnis. Dies stimmt mit dem Ergebnis der Metaanalyse
von Yang und Lester überein. 22

VI. Der Einfluss forschungs- und publikationsspezifischer


Kriterien auf das Untersuchungsergebnis
Es wird postuliert, dass neben methodenspezifischen Besonderheiten von
Effektschätzungen der Forschungs- und Publikationskontext einen Einfluss
auf das Untersuchungsergebnis hat. Bereits Max Seheler und Karl Mann-
heim haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf die sozialen Prozesse bei
der Generierung von Wissen hingewiesen. Seheler redete in diesem Zu-
sammenhang von der sozialen Natur des Wissens und Mannheim von der
Seinsverbundenheit des Wissens. 23
Abschreckungsstudien werden in unterschiedlichen Fachrichtungen
durchgeführt, die sich in präferierten Handlungstheorien und Menschenbil-
dern unterscheiden. Solche Vorstellungen können die Ergebnisse publizier-
ter Forschungsergebnisse beeinflussen, sei es durch Versuchsleitereffekte
bei Experimenten, durch selektive Wahrnehmung und Interpretation von
Ergebnissen, durch die Wahl von Methoden und Daten und durch die Präfe-
renz theoriekonsistenter Ergebnisse bei Publikationen. 24 Somit könnte ver-

22 Yang/Lester (Fn. 14).


23 Sehe/er Die Wissensformen und die Gesellschaft, 1926~ l'vfannheim Wissenssoziologie.
Auswahl aus dem Werk, 2. Aufl., hrsg. von Kurt H. Wolff, 1970.
24 Kriz Methodenkritik empirischer Sozialforschung. Eine Problemanalyse sozialwissen-
schaftlicher Forschungspraxis, 1981.
804 Dieter Hermann

mutet werden, dass die fachspezifisch dominierende Theorie über Abschre-


ckung zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt hat. Dabei kann grob zwi-
schen kriminologisch-soziologisch-juristisch und ökonomisch ausgerichte-
ten Studien unterschieden werden. Effektschätzungen aus Untersuchungen
psychologischer Institute wurden auf Grund der geringen Fallzahl ausge-
schlossen.
Der Grund fur die Differenzierung in diese beiden Gruppen liegt in den
Diskrepanzen der jeweils präferierten Handlungstheorien und Menschenbil-
der. Während insbesondere in älteren ökonomischen Texten das Bild des
homo oeconomicus dominiert, wird in der Kriminologie, Soziologie und
Rechtswissenschaft die Vorstellung vom rein zweckrational handelnden
Menschen mit skeptischer Zurückhaltung gesehen. 25 Demnach müssten
empirische Falsifikationen der Abschreckungsstudien zur Todesstrafe in der
Ökonomie dem wissenschaftlichen Mainstream stärker widersprechen als in
Kriminologie, Soziologie und Rechtswissenschaft. Es wird postuliert, dass
Effektschätzungen von Kriminologen, Soziologen und Juristen die Hypo-
these von der abschreckenden Wirkung der Todesstrafe häufiger falsifizie-
ren als Ökonomen.
Das Ergebnis der Hypothesenprüfung ist in Tabelle 3 beschrieben. Es
handelt sich wie in Tabelle 2 um multiple Regressionen, wobei der t-Wert
durch verschiedene Gruppen von unabhängigen Variablen erklärt wird. Die
Zahlenwerte sind standardisierte partielle Regressionskoeffizienten.
In Spalte 1 wird, wie in Spalte 3 aus Tabelle 2, der Einfluss von Operati-
onalisierungen, Kontrollvariablen und Merkmalen der Modellcharakterisie-
rung als unabhängige Variablen dargestellt. In Spalte 2 wird zusätzlich der
Einfluss der Institutsangehörigkeit der Forscher berücksichtigt, wobei ledig-
lich unterschieden wird, ob er einem kriminologischen, soziologischen oder
rechtswissenschaftlichen Institut angehört (Code 1) oder einem wirt-
schaftswissenschaftlichen (Code 2). In Spalte 3 wird diese Analyse wieder-
holt, wobei lediglich solche Effektschätzungen berücksichtigt wurden, die
auf den Daten der Uniform Crime Reports basieren.

25 Manstetten Das Menschenbild in der Ökonomie - Der homo oeconomicus und die Anth-
ropologie von Adam Smith, 2002~ Diet:= Der hon1o oeconomicus, 2005~ Dahrendorf Homo
Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen
Rolle, 16. Aufl. 2006~ Weber, M. Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der Verstehenden
Soziologie, 5. Aufl. 1980 (Studienausgabe), hrsg. von 1. Winckelmann~ Auer Das Menschen-
bild als rechtsethische Dimension der Jurisprudenz, 2005~ Böckenförde Vom Wandel des
Menschenbildes im Recht, 2001~ Dölling Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie,
2007,59-62.
Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe 805

Tabelle 3: Erklärung des Untersuchungsergebnisses (Effektschätzun-


gen) durch methodenspezifische Merkmale und durch den Forschungs-
kontext

Datenbasis der Effektschätzungen


Unabhängige Variablen Verschiedene Nur UCR-
Datenquellen Daten
(1) (2) (3)

Operationa- Gesetzliche Androhung der -- -- --


lisierungen Todesstrafe
Anteil der Verurteilungen zu 0,10 0,08 --
Todesstrafen an allen Verur-
teilungen
Kriminalitätsbelastungsziffer -0,08 -- --
Berück- Arbeitslosigkeit -0,17 -0,17 --
sichtigte
Kontroll- Einkommensdivergenz 0,09 -- --
variablen
Armut, Wohlfahrt -0,21 -0,11 --
Urbanität 0,14 -- --
BIP, GDP 0)2 0,18 --

Erwerbspersonen -0,17 -- --

Modell- Anzahl Kontrollvariablen 0,13 0,19 --


spezi fi kation
Modellkonstruktion linear 0,11 -- --
Modellkonstruktion additiv 0,15 0,15 0,17

Gewichtende Methode -0,15 -- --

Längsschnittstudie -0,15 -0,16 --


Forschungs- Institutsangehörigkeit For- -0,45 -0,35
kontext scher

R2 0,24 0,31 0,17

Fallzahl 535 285

Nach den Ergebnissen in Tabelle 3 ist die Wahrscheinlichkeit einer Falsi-


fikation von abschreckenden Effekten durch die Todesstrafe maßgeblich
von der Fachrichtung des Forschers abhängig. Der standardisierte Regressi-
onskoeffizient für dieses Merkmal ist erheblich größer als alle anderen des
806 Dieter Hermann

Modells. Auch wenn die Analyse auf solche Effektschätzungen beschränkt


wird, die auf Daten der Uniform Crime Reports basieren, ist die Institutsan-
gehörigkeit des Forschers die zentrale Variable, um Unterschiede in den
Ergebnissen zu erklären.
Neben dem Forschungskontext könnte auch die Fachrichtung des Publi-
kationsmediums einen Einfluss auf das Untersuchungsergebnis haben. Al-
lerdings veröffentlichen Kriminologen, Soziologen und Rechtswissenschaft-
Ier ihre empirischen Studien zur Abschreckungswirkung der Todesstrafe in
der Regel in kriminologisch, soziologisch oder rechtwissenschaftlich ausge-
richteten Zeitschriften. Von den hier berücksichtigten Studien wurden 97 %
fachintern veröffentlicht, lediglich 30/0 der einschlägigen Arbeiten von Kri-
minologen, Soziologen und Rechtswissenschaftlern wurden in ökonomi-
schen Zeitschriften publiziert. Die Publikationspraxis von Ökonomen hin-
gegen weist interdisziplinäre Aspekte auf: 800/0 der Arbeiten erschienen in
wirtschaftswissenschaftlichen Fachzeitschriften und 20% wurden in krimi-
nologisch, soziologisch oder rechtwissenschaftlich ausgerichteten Medien
veröffentlicht. Die Beziehung zwischen der Fachrichtung des Publikations-
organs und dem Ergebnis einer Studie kann somit in erster Linie fur Veröf-
fentlichungen aus dem wirtschaftswissenschaftlichen Bereich überprüft
werden. Das Resultat der entsprechenden Analyse ist in Schaubild 2 gra-
fisch dargestellt.
Publizieren Ökonomen ihre Ergebnisse zur Abschreckungswirkung der
Todesstrafe in ökonomischen Fachzeitschriften, sind 49% der Effektschät-
zungen theoriekonsistent und signifikant; erfolgt die Veröffentlichung in
kriminologisch, soziologisch oder rechtwissenschaftlich ausgerichteten
Medien, trifft dies lediglich für 28% zu. Bei den Effektschätzungen von
Kriminologen, Soziologen oder Rechtswissenschaftlern sind lediglich 9%
theoriekonsistent und signifikant.
Dieses Ergebnis wird bestätigt, wenn anstatt der Effektschätzungen die
Beurteilungen der Forscher über das Gesamtergebnis der Studie betrachtet
werden. Dieses Gesamturteil wurde auf einer Skala von -2 (volle Zustim-
mung zur Abschreckungshypothese) bis +2 (volle Ablehnung der Abschre-
ckungshypothese) erfasst. Der Grad der Zustimmung ist unter Ökonomen
deutlich größer als unter Kriminologen, Soziologen und Rechtswissen-
schaftlern. Beschränkt man die Analyse auf Studien, die auf den Daten der
Uniform Crime Reports basieren, erhält man folgende Ergebnisse: 15 Stu-
dien stammen von Kriminologen, Soziologen oder Rechtswissenschaftlern.
Der Durchschnittswert fur das Gesamturteil dieser Untersuchungen liegt bei
+ 1,2; dies entspricht einer teilweisen Ablehnung der Abschreckungshypo-
these. 16 Studien stammen von Ökonomen; davon wurden 14 in ökonomi-
schen Zeitschriften publiziert. Der Durchschnittswert für diese Untersu-
chungen liegt bei -1,4; dies entspricht einer teilweisen Zustimmung zur
Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe 807

Abschreckungshypothese. Zwei Studien von Ökonomen wurden in krimino-


logisch, soziologisch oder rechtwissenschaftlich ausgerichteten Zeitschrif-
ten veröffentlicht - der Durchschnittswert rür diese Untersuchungen beträgt
-0,5. Infolgedessen beeinflusst die Fachrichtung der Zeitschrift das Unter-
suchungsergebnis. Entsprechende Resultate zeigen sich auch bei Studien,
die nicht auf Daten der Uniform Crime Reports basieren.

Schaubild 2: Beziehung zwischen der Institutsangehörigkeit des For-


schers, dem Publikationsorgan und dem Anteil theoriekonsistenter und
signifikanter Effektschätzungen

Somit bilden die Institutszugehörigkeit des Forschers und die Fachrich-


tung der Publikation einen ergebnisrelevanten Forschungskontext. Dies
kann einerseits durch das theoretische Vorverständnis der Forscher und
andererseits durch Selektionsprozesse bei Veröffentlichungen erklärt wer-
den.

VII. Fazit
Insgesamt gesehen sprechen die Ergebnisse der Metaanalyse mit Studien
zur Todesstrafe für eine erhebliche Verzerrung der Forschungsergebnisse.
808 Dieter Hermann

Den größten Einfluss auf die Ergebnisse hat der Forschungskontext; die
Fachrichtung der Forscher und des Publikationsorgans bestimmen die (pub-
lizierten) Resultate. Auf Grund der empirischen Untersuchungen von Kri-
minologen, Soziologen oder Rechtswissenschaftlern müsste man die Hypo-
these von der Abschreckungswirkung der Todesstrafe ablehnen, während
die Untersuchungsergebnisse von Wirtschaftswissenschaftlern den umge-
kehrten Schluss nahelegen, wenn die Veröffentlichung in einer wirtschafts-
wissenschaftlichen Zeitschrift erfolgte. Durch diese Mechanismen der Wis-
senschaftsproduktion und -publikation sind fachspezifisch unterschiedliche
Wissenswelten entstanden: Während im wirtschaftswissenschaftlichen Kon-
text durch die Bestätigung der Abschreckungshypothese das Bild vom ho-
mo oeconomicus gefestigt wird, unterstützen die Untersuchungen von Kri-
minologen, Soziologen oder Rechtswissenschaftlern die in diesen
Fachrichtungen gebräuchlichen nicht-utilitaristischen Handlungstheorien.
Die durchgeführte Metaanalyse kann die Frage, welche Untersuchungser-
gebnisse zuverlässiger sind, nicht beantworten. Allerdings legen die Analy-
sen der hier vorgestellten Studie eine Hypothese nahe, die den Einfluss des
Forschungskontextes auf das Untersuchungsergebnis erklären kann. Sind
Abschreckungseffekte der Todesstrafe nur gering oder gar nicht vorhanden,
so können in Untersuchungen zufällig signifikante Ergebnisse erzielt wer-
den. Bei einem Signifikanzniveau von 5% sind 50/0 der Effektschätzungen
aus Zufallsstichproben signifikant, auch wenn in der Grundgesamtheit kein
Zusammenhang besteht. Bei den Untersuchungen zur Abschreckungswir-
kung der Todesstrafe werden zwar keine Zufallsstichproben verwendet,
aber die vorgestellten inferenzstatistischen Überlegungen können auch auf
andere Stichprobenarten übertragen werden das Auswahlverfahren für die
Untersuchungsobjekte beeinflusst das Untersuchungsergebnis. Zudem füh-
ren Modifikationen der Modellspezifikation, des Analyseverfahrens und der
Operationalisierungen zu einem veränderten Anteil signifikanter Effekt-
schätzungen. Das theoretische Vorverständnis des Forschers und Selektio-
nen durch den Publication Bias haben eine Filterwirkung, so dass die veröf-
fentlichten Ergebnisse durch fachspezifische Wissenschaftsproduktions-
und Publikationsprozesse verzerrt sind.
Nach dieser Hypothese könnte nicht von einer Abschreckungswirkungs-
wirkung der Todesstrafe ausgegangen werden. Auf jeden Fall können die
Publikationen zur Abschreckungswirkung der Todesstrafe nicht zur Legiti-
mation dieser Sanktion herangezogen werden, denn das Ergebnis von Stu-
dien ist in erster Linie vom Forschungskontext abhängig. Somit fehlt der
Todesstrafe die generalpräventive Rechtfertigung.
VI. Strafprozessrecht
Gefahren im strafprozessualen Denken

LUTZ MEYER-GOSSNER

I.
Im materiellen Strafrecht besteht bei der Auslegung des Gesetzes weniger
eine substantielle, als mehr eine individuell-konkrete Gefahrenlage: Es geht
stets um die Frage, ob ein bestimmter Sachverhalt unter eine Norm des
StGB oder eines strafrechtlichen Nebengesetzes (BtMG, WaffG usw.) zu
subsumieren ist; ist dies möglich, kommt es zur Verurteilung, scheidet dies
aus, muss freigesprochen werden. Natürlich sind hierbei die bei der Geset-
zesanwendung gebotenen Auslegungsmöglichkeiten zu beachten, nämlich
die grammatische, die systematische und die teleologische Auslegung, zu
der noch die verfassungskonforme Auslegung und die Beachtung des objek-
tivierten Willens des Gesetzgebers hinzutritt. l
Aber dass unter Anwendung dieser Auslegungsmethoden ein Ergebnis
gefunden werden muss, ist unstreitig. Es gibt im materiellen Recht nicht
irgendwelche weiteren Prinzipien, die etwa die Aufgabe der Gesetzessub-
sumtion zur Findung des Ergebnisses (Strafbarkeit oder nicht?) ablösen
könnten.
Anders sieht es im Prozessrecht aus. Hier stehen zwar die Normen der
StPO und der sonstigen prozessualen Gesetze (insbesondere GVG und
OWiG) zur Verfügung; aber immer dann, wenn ein Verfahren nicht strikt
nach diesen vorgegebenen Normen abgelaufen ist, stellt sich die Frage, was
die Folge eines Regelverstoßes ist oder sein soll. Hier ist die Phantasie des
Gesetzesanwenders gefragt; dabei droht eine große Gefahr: Der Gesetzes-
anwender kann Folgerungen "erfinden", um zu einem bestimmten Ergebnis
zu gelangen. Die prozessuale "Stimmigkeit" der Entscheidung kann da-
durch beseitigt und ein den Rechtsanwender zwar zufrieden stellendes, der
Prozessordnung aber widersprechendes - eben ein nicht "richtiges" - Er-
gebnis erzielt werden.
Diese zunächst vielleicht etwas theoretisch anmutenden Erwägungen sol-
len im Folgenden an einigen Beispielen aus der Rechtsprechung erläutert

1 Vgl. Meyer-Goßner StPO, 52. Aufl. 2009, Einl. Rn. 190 ff.
812 Lutz Meyer-Goßner

werden. Es kann hier selbstverständlich nicht eine ins Einzelne gehende


systematische Untersuchung vorgelegt werden;2 vielmehr handelt es sich
mehr um "Momentaufnahmen", also um die Betrachtung von Entscheidun-
gen, bei denen der kundige Leser - bildlich gesprochen - "zusammen-
zuckt". Insgesamt werden darur sechs Entscheidungen beleuchtet werden.
Es wird darin - plakativ gesprochen - um folgende Fragen gehen:
Was ist ein "gutes" Ergebnis?
Was ist ein "gerechtes" Ergebnis?
Was ist ein "passendes" Ergebnis?
Was ist ein für das Verfahren "nützliches" Ergebnis?
Was ist ein das Verfahren "vereinfachendes" Ergebnis?
Was wäre ein für das Verfahren "zu schlimmes" Ergebnis?
Nach Betrachtung dieser Einzelfälle wird sich ein gewisses Resümee über
gefahrvolle Gesetzesauslegung im Strafprozessrecht ziehen lassen.

11.
1. Im ersten Fall geht es um das Problem, eine rur den Beschuldigten "gu-
te", ihn also nicht benachteiligende - oder sogar ihm einen Vorteil verschaf-
fende - Entscheidung zu finden. Hierzu soll eine Entscheidung des OLG
München 3 dienen, die sich ihrerseits allerdings an früherer Rechtsprechung
des BGH4 orientiert hat.
Der Sachverhalt: Das Amtsgericht hatte die Angeklagte durch einen Straf-
befehl wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu 60 Tagessät-
zen zu je 20 Euro verurteilt. Die Angeklagte legte hiergegen verspätet Ein-
spruch ein. Das Amtsgericht übersah die Verspätung und verurteilte die
Angeklagte nach durchgeführter Hauptverhandlung zu 40 Tagessätzen zu je
15 Euro. Auf die (Sprung-)Revision der Angeklagten hob das OLG das
Urteil auf und verwarf den Einspruch als unzulässig, allerdings mit der
Maßgabe, dass es bei der durch das Urteil verhängten (herabgesetzten)
Geldstrafe verbleibe. Zur Begründung führt der Senat aus,5 er müsse das in
§§ 331, 358 Abs. 2 StPO verankerte Verbot der Schlechterstellung beach-
ten, denn die Revision hätte sonst "tatsächlich dazu geführt, dass sie zu
einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 20 Euro verurteilt wäre, während

2 Dazu etwa LR-Lüderssen/Jahn, 26. Aufl. 2006, Einl. Abschn. M. Rn. 1a ff; Jahn in:
Jahn/Nack (Hrsg.), Strafprozessrechtspraxis und Rechtswissenschaft - getrennte Welten? 2008,
S.7.
3 NJW 2008, 1331 mit Anm. Meyer-Goßner.
4 BGHSt 18, 127.
5 Fn. 3, 1332.
Gefahren im strafprozessualen Denken 813

es bei der durch das Urteil verhängten Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je


15 Euro verblieben wäre, wenn sie von der Revision Abstand genommen
hätte". Das ist richtig, aber nur eine Sachverhaltsschilderung und keine
Begründung dafür, warum dieses Ergebnis nicht eintreten dürfe. Die "Be-
gründung" liefert dann allein der anschließende Satz: "Diese Folge darf das
allein von der Angeklagten eingelegte Rechtsmittel der Revision nicht ha-
ben."
Wieso denn nicht? Wenn doch der Einspruch gegen den Strafbefehl ver-
spätet, der Strafbefehl somit rechtskräftig war? Wenn - wie das OLG zu-
treffend feststellt - das Amtsgericht wegen Rechtskraft des Strafbefehls
nicht über die Sache verhandeln und damit auch keine andere Strafe als im
Strafbefehl aussprechen durfte, wieso darf das OLG dann diese unrechtmä-
ßig verhängte Strafe aufrechterhalten? Mit anderen Worten: Wenn die
Rechtskraft hinsichtlich der amtsgerichtlichen im Strafbefehl erfolgten
Verurteilung zu beachten war, wieso dann nicht für das OLG? Darf sich ein
OLG über die Rechtskraft hinwegsetzen? Nein, das darf das OLG ebenso
wenig wie der BGH. Das hat der BGH inzwischen auch erkannt: Er hat in
einer Sache, in der er auf die Revision des Angeklagten die vom Landge-
richt festgesetzte Strafe herabgesetzt hatte, ihm aber erst danach bekannt
wurde, dass der Angeklagte seine Revision zurückgenommen hatte, judi-
ziert, dass seine Entscheidung wegen der Revisionsrücknahme gegenstands-
los sei, es also bei der vom Landgericht festgesetzten (höheren) Strafe
verbleibe. 6 Der BGH hat sich damit - ohne dies allerdings in der Entschei-
dung zu sagen - von seiner früheren Rechtsprechung 7 zu Recht distanziert:
Es ist eben verfehlt, rechtskräftige und nicht-rechtskräftige Entscheidungen
(wie dort geschehen und vom OLG München übernommen) gleichzusetzen.
Was hier die juristische Deduktion einfach ins Hintertreffen geraten ließ,
war offensichtlich der Gedanke: Die "arme" Angeklagte darf doch nicht
einen Nachteil durch einen Fehler des Gerichts erleiden. Aber einem Ange-
klagten helfen zu wollen, obwohl das Gesetz etwas anderes sagt, ist keine
juristische Argumentation, sondern eine Gnadenentscheidung. Das Gesetz
lässt Durchbrechungen der Rechtskraft nur in den ausdrücklich von ihm
geregelten Fällen zu. Wenn sie sonst zu Nachteilen fuhrt, so kann nicht
deswegen, weil das Ergebnis fur den Angeklagten hart und nicht gut er-
scheint, die gesetzliche Regelung einfach über Bord geworfen werden. Das
kann nur der Gesetzgeber, aber nicht die Rechtsprechung ändern. Es bleibt
dann in der Tat nur der Hinweis auf den Gnadenweg.

6 BGH bei Becker NStZ-RR 2006, 5 = StraFo 2005, 71.


7 Fn. 4.
814 Lutz Meyer-Goßner

So hat denn der BGH sich auch bemüßigt gefühlt, in der neueren Ent-
scheidung 8 am Ende darauf hinzuweisen, "es werde auf der Hand liegen,
dem Angeklagten im Gnadenwege die gleiche Strafreduzierung zu gewäh-
ren, die in dem gegenstandslosen Senatsbeschluss ausgesprochen worden
ist". Aber liegt das wirklich "auf der Hand"? Der Angeklagte hatte sich
doch durch die Revisionsrücknahme mit dem Urteil des Landgerichts ein-
verstanden erklärt. Wieso soll er jetzt einen Vorteil daraus ziehen dürfen,
dass der BGH trotz Rechtskraft der landgerichtlichen Entscheidung die
Strafe herabgesetzt hatte? In allen anderen Fällen, in denen eine rechtsfeh-
lerhafte Entscheidung rechtskräftig geworden ist, muss der Angeklagte dies
doch auch hinnehmen. Nur wenn die Entscheidung derart fehlerhaft ist, dass
ihre Aufrechterhaltung unerträglich wäre, greift die Gnadenbehörde ein.
Davon konnte hier aber keine Rede sein.
Noch deutlicher wird dies im Ausgangsfall. Warum soll die Angeklagte
hier einen Vorteil erhalten, der ihr - weil sie die Einspruchsfrist versäumt
hatte - doch gar nicht zustand? Eh. Schmidt hat hier sehr hübsch von einer
"ergatterten Vergünstigung" gesprochen. 9 Wenn es also bei der im Strafbe-
fehl rechtskräftig verhängten Strafe bleibt, so wird der Angeklagten nur die
"ergatterte Vergünstigung" genommen, aber nicht ein Nachteil zugefügt. 10
Der menschlich verständliche Gedanke, dem Angeklagten keinen Nachteil
zufügen zu wollen, wird hier somit dahin verkehrt, ihm ungerechtfertigte
Vorteile zu sichern. Der Wunsch, ein "gutes" Ergebnis herbeizuführen, hat
das strafprozessual richtige Denken blockiert!
2. Kürzlich ist im Anschluss an eine BGH-Entscheidung auch ein heftiger
Streit darüber entbrannt, ob man sich denn mit einem "ungerechten" Ergeb-
nis abfinden dürfe. Worum geht es?
In einem Strafverfahren waren eine Heranwachsende und ein Erwachse-
ner gemeinsam angeklagt und vom Amtsgericht des gemeinschaftlichen
Raubes schuldig gesprochen worden. Beide legten gegen ihre Verurteilung
Berufung ein, die das Landgericht als unbegründet verwarf. Der erwachsene
Angeklagte legte sodann gegen das Berufungsurteil Revision ein. Das OLG
Karlsruhe ll hielt die Revision für begründet; es war der Ansicht, mögli-
cherweise liege (wegen fehlender finaler Verknüpfung) nur Diebstahl und
Nötigung vor. Es wollte das Urteil daher aufheben und die Aufhebung ge-
mäß § 357 StPO auf die Heranwachsende erstrecken. An dieser Entschei-
dung sah es sich aber durch ein Urteil des OLG Oldenburg 12 gehindert, das

8 Fn. 6.
9 Lehrkommentar zur StPO und zum OVG, Nachtragsband 1, 1967, § 411 StPO Rn. 15.
10 V gl. dazu weiter Meyer-Goßner N1W 2008, 3132.
11 Z11 2006, 74.
12 N1W 1957, 1450.
Gefahren im strafprozessualen Denken 815

§ 357 StPO wegen § 55 Abs. 2 JGG (Revision nach durchgeführter Beru-


fung nicht mehr statthaft) für unanwendbar gehalten hatte. Das OLG Karls-
ruhe legte die Frage daher dem BGH vor, hatte hier aber keinen Erfolg: Der
BGH entschied 13 wie das OLG Oldenburg.
Diese Entscheidung des BGH provozierte eine stattliche Reihe von - ab-
lehnenden - Anmerkungen mit unterschiedlichen Begründungen. 14 In einem
Punkt aber waren sich alle Anmerkungsverfasser einig: Es sei doch höchst
ungerecht, dass unter Erwachsenen eine Revisionserstreckung nach § 357
StPO stattfinde, hinsichtlich eines Jugendlichen oder Heranwachsenden im
Fall des § 55 Abs. 2 JGG aber nicht; die materielle Gerechtigkeit verlange
hier eine Erstreckung der Entscheidung auf den Nichtrevidenten. Wenn
auch natürlich alle Anmerkungsverfasser sich nicht nur auf das Gerechtig-
keitsargument beschränken,15 so nimmt dieses doch jeweils breiten Raum
ein und wird zur Begründung zumindest mit verwendet. Aber weil ein Er-
gebnis ungerecht erscheinen mag, muss es noch nicht falsch sein:
Es kann ja durchaus sein, dass der Gesetzgeber eine Regelung getroffen
hat, die zu ungerecht anmutenden Ergebnissen führt. Aber dann muss dieser
das Gesetz ändern; der Richter darf ihm nicht einfach die Gefolgschaft
verweigern, weil er damit gegen Art. 97 Abs. 1 GG ("Gesetzesunterworfen-
heit der Richter") verstoßen würde.
Wie gefahriich dieses Gerechtigkeitsargument ist, zeigt sich auch daran,
dass unter den Rechtsanwendern durchaus unterschiedliche Auffassungen
darüber bestehen können, was "gerecht" ist: Während die Anmerkungsver-
fasser die Entscheidung des BGH unisono für ungerecht hielten, war der
BGH offenbar durchaus nicht dieser Ansicht, indem er darauf hinwies,
einem Jugendlichen bleibe dadurch das Risiko erspart, "aus dem als beson-
ders behandlungs- und erziehungsorientiert geltenden Jugendstrafvollzug
gerissen [zu werden], um später nach erneuter - gegebenenfalls langwieri-
ger - Hauptverhandlung die Jugendstrafe wieder anzutreten".16 Weil "Ge-
rechtigkeit" auch eng mit dem "Gerechtigkeitsgefühl" zusammenhängt,
begibt man sich mit Gerechtigkeitsargumentationen auf dünnes Eis.
Wer also meint, wenn er eine Entscheidung als "ungerecht" erkannt habe,
hätte er bereits die Lösung eines Falles in der Hand, verlässt ebenso wie
derjenige, der ein "gutes" Ergebnis erzielen möchte, den festen Boden straf-
prozessualer Argumentation.

13 BGHSt 51, 54 = NJW 2006, 2275 = NStZ 2006, 518.


14 Altenhain NStZ 2007, 283~ Mohr JR 2006, 499: Prittwitz StV 2007, 52~ Satzger FS Bött-
cher, 2007, S. 175~ Sowada HRRS 2006, 376.
15 Dazu im Einzelnen Meyer-Goßner FS Eisenberg, 2009, S. 399.
16 NStZ 2007, 283~ zur Kritik an dieser Argumentation Meyer-Goßner a.a.O., S. 401.
816 Lutz Meyer-Goßner

3. Noch viel bedenklicher ist es aber, wenn die Rechtsprechung neue ver-
fahrensrechtliche Formen "erfindet", die in der StPO nicht vorgesehen sind.
Damit wird dann nämlich eine freie Rechtsschöpfung betrieben, wodurch
die strafprozessual vorgeschriebenen Formen aufgelöst werden. Hierfür
bietet die Entscheidung BGHSt 35, 137 ein (nicht-) schönes Beispiel:
In dem Revisionsverfahren hatte die Staatsanwaltschaft ohne erkennbaren
Grund fast fünf Jahre verstreichen lassen, bis sie die Akten dem BGH nach
§ 347 StPO vorgelegt hatte. Weil dem BGH eine abschließende Entschei-
dung der Sache aus materiell-rechtlichen Gründen nicht möglich war, wäre
eine Zurückverweisung der Sache an das Landgericht erforderlich gewesen.
Der Senat wollte das nun schon so lange anhängige Verfahren aber ab-
schließen. Er schlug der Staatsanwaltschaft die Einstellung nach § 153
Abs. 2 StPO vor; die Staatsanwaltschaft stimmte jedoch nicht zu. Zur An-
nahme eines Verfahrenshindernisses wegen überlanger Prozessdauer ver-
mochte sich der 3. Strafsenat des BGH nicht durchzuringen. 17 Was also tun?
Der BGH entschloss sich zu einem "Abbruch des Verfahrens"; das Ver-
fahren war dadurch - wie gewünscht - beendet und damit war "das passen-
de Ergebnis" gefunden! Aber um welchen Preis! Der BGH hatte eine neue
Form der Verfahrensbeendigung "erfunden". Obwohl er mit dem "Verfah-
rensabbruch" inhaltlich nichts anderes als eine Verfahrenseinstellung vor-
genommen hatte, wurde formell die Einstellung wegen eines Verfahrens-
hindernisses vermieden. Ein Gericht darf aber nicht einfach neue, ihm
passende Verfahrenserledigungsformen kreieren, nur um ein passendes
Ergebnis zu erzielen: Da das Gesetz als Voraussetzung der Verfahrensein-
stellung ein Verfahrenshindernis verlangt, dürfen sonstige Verfahrensver-
stöße nicht als ausreichend für eine Einstellung des Verfahrens angesehen
werden. Der BGH hätte daher, wenn er weder eine Einstellung des Verfah-
rens wegen eines Verfahrenshindernisses bejahen wollte noch eine Zurück-
verweisung zu neuer Verhandlung und Entscheidung nach § 354 Abs. 2
StPO für vertretbar hielt, den Angeklagten freisprechen müssen, weil die
rechtliche Möglichkeit, ihm eine Straftat in noch angemessener Zeit nach-
zuweisen, damit nicht mehr bestand; 18 der Senat durfte sich aber nicht ein-
fach ein ihm passendes Ergebnis schneidern.
4. Einem zum Verfahren "passenden" Ergebnis ähnlich ist auch das dem
Verfahren "nützliche" Ergebnis, "nützlich" nämlich insofern, als es geeignet
ist, das Verfahren schnell und vermeintlich komplikationslos zu beenden.

17 Erst im Jahre 2000 hat der 2. Strafsenat des BGH - BGHSt 46, 159 - das Vorliegen eines
Verfahrenshindernisses "in außergewöhnlichen Einzelfällen" anerkannt.
18 Vgl. ausführlicher zum Ganzen Meyer-Goßner FS Eser, 2005, S. 383 ff.; dort auch -
S. 379 ff. - zu einem weiteren Fall einer verfehlten "Rechtsschöpfung" durch den BGH.
Gefahren im strafprozessualen Denken 817

Hier bietet sich als Beispiel die Behandlung des § 329 StPO in der Recht-
sprechung an:
Nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO ist die Berufung des Angeklagten ohne Ver-
handlung zur Sache zu verwerfen, wenn der Angeklagte zu Beginn der
Hauptverhandlung ohne genügende Entschuldigung nicht erschienen ist.
Das Berufungsgericht könnte also darauf spekulieren, dass der Angeklagte
nicht zur Hauptverhandlung kommt und deswegen darauf verzichten, die
Akten - oder zumindest das erstinstanzliche Urteil - durchzuarbeiten. Das
wird ein verantwortungsbewusster Richter aber natürlich nicht tun; denn er
nimmt lieber, falls der Angeklagte nicht erscheint, die vertane Zeit für das
Aktenstudium in Kauf, als die Berufungsverhandlung unvorbereitet durch-
zuführen, falls der Angeklagte kommt. Nun passiert es aber immer wieder,
dass der Berufungsrichter beim Aktenstudium feststellt, dass eine Prozess-
voraussetzung fehlt, vornehmlich, dass die Sache schon vor Erlass des
amtsgerichtlichen Urteils verjährt war oder dass ein notwendiger Strafantrag
fehlte.
Die verfahrensmäßige Behandlung scheint schnell gefunden: Das Verfah-
ren wird außerhalb der Hauptverhandlung gemäß § 206a StPO eingestellt, 19
und damit ist die Sache bei Verjährung endgültig, bei fehlendem Strafantrag
jedenfalls zunächst erledigt. Aber ist dieses - dem Verfahren sicherlich
"nützliche" - Ergebnis richtig?
Wenn der Berufungsrichter bei Durcharbeiten von Akte und Urteil einen
materiell-rechtlichen Fehler erkennt - schlimmstenfalls, dass die abgeurteil-
te Tat gar nicht strafbar ist -, muss er trotzdem Hauptverhandlungstermin
ansetzen und die Berufung verwerfen, wenn der Angeklagte zum Termin
nicht erscheint. Hat das Amtsgericht z.B. einen Diebstahl angenommen,
obwohl nur ein strafloser furtum usus gegeben ist, kann der Fehler nur
durch ein freisprechendes Urteil in einer Berufungsverhandlung behoben
werden. Hat das Amtsgericht aber zugleich übersehen, dass rur die "Tat"
nach § 247 StGB ein Strafantrag erforderlich gewesen wäre, der nicht vor-
liegt, soll es das Verfahren ohne weiteres einstellen können? Das kann nicht
richtig sein; denn, um zu § 247 StGB zu kommen, muss das Gericht
zwangsläufig zunächst § 242 StGB prüfen. 20 Aber davon abgesehen liegt
hier ein grundsätzlicher Fehler vor:
Die Annahme, ein Verfahrenshindernis müsse stets von Amts wegen be-
achtet werden und zur Einstellung des Verfahrens ruhren,21 ist eine überhol-
te Vorstellung: So hat der BGH schon 1961 entschieden,22 dass eine zwar in

19 So BGHSt 21, 242~ 46, 230.


20 Vgl. näher dazu Meyer-Goßner NStZ 2003, 169 ff.
21 So etwa Eh. Schmidt JZ 1962, 155.
22 BGHSt 16,115 gegen BGHSt 15,203.
818 Lutz Meyer-Goßner

rechter Form und Frist eingelegte, jedoch nicht ordnungsgemäß begründete


Revision auch dann als unzulässig zu verwerfen ist, wenn der Tatrichter ein
Verfahrenshindernis übersehen hatte. In dieser Entscheidung, der sich die
ganz h.M. im Schrifttum angeschlossen hat,23 ist zutreffend ausgeführt,24
dass Fehler bei der Beurteilung der Verfahrensvoraussetzungen grundsätz-
lich nicht schwerer wiegen als Fehler bei der Anwendung des sachlichen
Rechts.
Dies muss ebenso wie bei der Revision für die Berufung gelten: Wenn
das Berufungsgericht bei der Vorprüfung das Fehlen einer Verfahrensvor-
aussetzung feststellt, muss es das ebenso unberücksichtigt lassen, wie wenn
es einen sachlich-rechtlichen Fehler entdeckt. Vom Angeklagten wird ver-
langt, dass er zur Berufungsverhandlung erscheint, wenn sich das Beru-
fungsgericht mit seiner Sache befassen soll. Unrichtig ist daher auch die
Entscheidung BGHSt 46, 230, in der der BGH meinte, die Entscheidung
dieser Frage offen lassen zu können, für die Revision aber gleichwohl da-
von ausging, das Fehlen einer Verfahrensvoraussetzung müsse hier beachtet
werden. Abgesehen davon, dass die Frage in Berufung und Revision nicht
unterschiedlich behandelt werden kann und ein Berufungsurteil nicht aufge-
hoben werden darf, wenn das Berufungsgericht richtig entschieden hatte,
muss die Frage für das Berufungsverfahren geklärt werden; hier kann das
Ergebnis aber nur sein, dass bei Nichterscheinen des Angeklagten das Feh-
len einer Verfahrensvoraussetzung ebenso wenig der Verwerfung der Beru-
fung entgegenstehen kann wie ein sachlich-rechtlicher Fehler. 25 So "nütz-
lich" es erscheinen mag, hier die Hauptverhandlung nicht abzuwarten,
sondern das Verfahren gleich einzustellen, so fehlerhaft ist es auch. Um die
Anberaumung einer Hauptverhandlung kommt der Berufungsrichter also
nicht herum; dafür ist die Durchführung der Hauptverhandlung aber pro-
blemlos und schnell beendet, wenn der Angeklagte nicht erscheint.
5. Noch schlimmer als eine auf "Nützlichkeit" statt auf prozessualer Fol-
gerichtigkeit aufbauenden Entscheidung ist es aber, wenn aus verfahrens-
ökonomischen, also das Verfahren angeblich vereinfachenden Erwägungen
die gesetzliche Systematik unbeachtet bleibt. Hier denke ich an die von mir
schon mehrfach angesprochene 26 "Unsitte", ein Rechtsmittelverfahren, in
dem der Tatrichter das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses übersehen
hatte, nach § 206a StPO einzustellen. Auch hier hat leider zuerst der BGH
die Weiche falsch gestellt:

23 Meyer-Goßner (Fn. 1), § 346 Rn. 11 ~ a. M. aber immer noch Roxin/Schünemann Strafver-
fahrensrecht, 26. Aufl. 2009, § 55 Rn. 66.
24 A.a.O. S. 119.
25 Zutreffend daher die Kritik von Duttge NStZ 2001, 442.
26 Zuerst in GA 1973,366, sodann in FS RieB, 2002, S. 332 und in FS Roxin, 2001, S. 1349.
Gefahren im strafprozessualen Denken 819

In der Entscheidung BGHSt 24, 208 hatte sich der BGH auf Vorlegung
durch das Bayer. Oberste Landesgericht damit zu befassen, ob eine Revisi-
onserstreckung nach § 357 StPO auch dann zulässig sei, wenn das Revisi-
onsgericht durch Beschluss vor der Hauptverhandlung und nicht in der
Hauptverhandlung durch Urteil entscheide. Der BGH hat diese Frage - in
Übereinstimmung mit der damals schon ganz h.M. in Rechtsprechung und
Schrifttum27 - zutreffend bejaht. Ohne die Brisanz der Entscheidung zu
erkennen, hält der BGH dabei die Einstellung nach § 206a StPO für zulässig
und behandelt erst am Ende seines Beschlusses 28 auch die Einstellung nach
§ 349 IV StPO, wobei er diese lediglich zur Bekräftigung seiner zuvor ge-
troffenen Entscheidung heranzieht.
Der BGH hatte sich bei seiner Entscheidung über den Wortlaut des § 357
StPO hinweggesetzt; denn dieser knüpft die Revisionserstreckung ausdrück-
lieh an die Urteilsaufhebung an; eine Aufhebung des Urteils erfolgt bei
§ 206a StPO jedoch - unstreitig - nicht, diese macht das angefochtene Ur-
teil vielmehr nur gegenstandslos. Schlimmer ist aber, dass Rechtsprechung
und Schrifttum aus der Entscheidung die Folgerung gezogen haben, ein
Verfahren könne auch dann nach § 206a StPO eingestellt werden, wenn der
Tatrichter ein Verfahrenshindernis übersehen hatte, der Fehler also ins an-
gefochtene Urteil eingegangen war. Auch der BGH war offenbar der An-
sicht, Einstellung nach § 206a und Einstellung nach § 349 Abs. 4 stünden
gleichberechtigt nebeneinander. Daraus wurde flugs die Folgerung gezogen,
das Revisionsgericht könne sich aussuchen, nach welcher Vorschrift es
entscheiden wolle. 29 So hat der BGH auch noch 2007 entschieden 30 und ein
Verfahren "unter Aufhebung des Urteils" C!) nach § 206a StPO eingestellt.
Aber das ist falsch, wie nun auch die oberlandesgerichtliehe Rechtspre-
chung 31 und die inzwischen wohl überwiegende Ansicht im Schrifttum32
erkannt haben.
Nur weil es einfach schien, wurden die gesetzlichen Unterschiede zwi-
schen zwei Vorschriften einplaniert. Dass es doch ausgeschlossen ist, dass
die StPO dieselbe Verfahrensfrage zweimal regelt, wurde dabei geflissent-
lich übersehen. Es handelt sich hierbei nicht nur um eine theoretische Ge-
dankenarbeit ohne praktische Auswirkungen: Die Anwendung des § 357
StPO hängt davon ab, ob eine Einstellung nach § 206a wegen eines erst
nach Erlass des tatrichterlichen Urteils eingetretenen Verfahrenshindemis-

27 Nachweise in BGHSt 24,209.


28 S. 213.
29 LR-Meyer, 23. Aufl. 1978, § 349 Rn. 28~ ebenso Hanack, § 349 Rn. 35 in der 24. und 25.
Aufl. 1985 und 1998, und immer noch Stuckenberg in der 26. Aufl. 2008, § 206a Rn. 17.
30 StraFo 2007,194 = NStZ-RR 2007, 179 = wistra 2007,154.
31 KG StraFo 2009, 286; OLG Celle NStZ 2008,118; OLG Jena VRS 110, 128, 129.
32 Vgl. die Nachweise bei Meyer-Goßner (Fn. 1), § 206a Rn. 6.
820 Lutz Meyer-Goßner

ses erfolgte oder ob dieses bereits beim tatrichterlichen Urteil vorlag, aber
übersehen wurde: Im ersten Fall erfolgt keine Urteilsaufhebung, sondern
nur die Einstellung nach § 206a StPO und folglich auch keine Revisions-
erstreckung, im zweiten Fall wird das Urteil aufgehoben und § 357 StPO ist
anwendbar. Die vermeintlich "einfache" Lösung, § 206a StPO stets anzu-
wenden, enthält also die Gefahr einer Fehlentscheidung bei § 357 StPO.
6. Eine letzte "Gefahr", die allerdings ganz anders liegt als die bisher er-
örterten Fälle, soll zuletzt noch erörtert werden: Die Rechtsprechung darf
zwar nicht die Konsequenzen aus den Augen verlieren, die eine Entschei-
dung für die Aufklärung von Straftaten haben kann. Hier kommt es aber
vor, dass die Rechtsprechung vor den Folgerungen zurückschreckt und mit
nicht überzeugenden Begründungen der Beantwortung einer Frage aus-
weicht. Der dafür wohl als besonders einschlägig zu bezeichnende Fall ist
das Problem, ob ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach § 136 Abs. 1
S. 2 1. Alt. StPO ein Verwertungsverbot hinsichtlich der vom Beschuldigten
ohne Belehrung gemachten Angaben zur Folge hat. Bekanntlich hat sich der
BGH jahrzehntelang - gegen die zuletzt allgemeine Ansicht im Schrifttum -
geweigert, ein solches Verwertungsverbot anzuerkennen. 33 Nur der Hartnä-
ckigkeit des OLG Celle, das die Rechtsfrage dem BGH zunächst 1983 er-
folglos 34 und dann - ein wohl einmaliger Vorgang - erneut 1991, diesmal
erfolgreich,35 vorgelegt hatte, ist es zu verdanken, dass der BGH die längst
fällige Wende vollzog. Die Angst, die Polizei dadurch in ihrer Aufklärungs-
arbeit und überhaupt die Aufklärung von Straftaten allzu sehr zu behindern,
war aber ersichtlich groß.36 So ist wohl auch das vom 5. Strafsenat in
BGHSt 38,214 kreierte Widerspruchserfordernis zu erklären.
Die Geschichte scheint sich nun zu wiederholen: Anerkennenswerterwei-
se hat der BGH am 18. 12. 2008 nach ebenfalls jahrzehntelangem Zögern
die Notwendigkeit einer "qualifizierten Belehrung" anerkannt,37 falls der
Beschuldigte ohne Belehrung über sein Recht, Angaben zur Sache zu ver-
weigern, vernommen worden war: Bei einer erneuten Vernehmung reicht es
also nicht, ihn über sein Aussageverweigerungsrecht zu belehren, vielmehr
muss er auch darüber informiert werden, dass seine früher (ohne Belehrung)
gemachten Angaben unverwertbar sind. So weit, so gut. Der BGH ist aber
auch hier davor zurückgeschreckt, beim Fehlen einer solchen "qualifizierten
Belehrung" ein Verwertungsverbot für die Angaben des Beschuldigten in
der neuen Vernehmung zu statuieren; der BGH meint vielmehr, hier sei eine

33 Vgl. dazu Aleyer-Goßner (Fn. 1), § 136 Rn. 20.


34 BGHSt 31,395.
35 BGHSt 38,214.
36 Auch der Generalbundesanwalt hatte noch beantragt, an BGHSt 31, 395 festzuhalten; vgl.
BGHSt 38,231.
37 BGH 4 StR 455/08 = NJW 2009, 1427.
Gefahren im strafprozessualen Denken 821

"Abwägung im Einzelfall" erforderlich, wobei "neben dem Gewicht des


Verfahrensverstoßes und des Sachaufklärungsinteresses" maßgeblich darauf
abzustellen sei, ob der Beschuldigte nach erfolgter Belehrung davon ausge-
gangen sei, von seinen früheren Angaben nicht mehr abrücken zu können.
Warum wird nicht einfach ein Verwertungsverbot angenommen, wenn nicht
sichergestellt ist, dass der Beschuldigte die Unverwertbarkeit seiner frühe-
ren Angaben kannte? Was der BGH im Übrigen als Begründung anführt,
erscheint auch wenig überzeugend: Dass das Fehlen der "qualifizierten
Belehrung" nicht so schwer wiege wie der Verstoß gegen § 136 Abs. 1 S 2
StPO wird man kaum sagen können. Im Übrigen darf hier auf die überzeu-
gende Kritik der Entscheidung durch Roxin38 verwiesen werden.
Es zeigt sich somit, dass die "Angst vor der eigenen Courage" dahin
führt, Begründungen für eine Entscheidung zu suchen, die das Ergebnis
nicht wirklich zu tragen vermögen. Es sei die Prophezeiung erlaubt, dass die
Rechtsprechung auch hier - ebenso wie bei dem Verstoß gegen die Pflicht
zur "ersten" Belehrung - eines Tages den zweiten Schritt zu einem von den
"Umständen des Einzelfalls" unabhängigen Verwertungsverbot tun wird.

111.
Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass gerade im Strafverfahrens-
recht die Versuchung für die Gerichte groß ist, auf nicht haltbare Weise ein
gewünschtes Ergebnis zu erzielen oder ein unerwünschtes Ergebnis zu ver-
meiden. Besondere Vorsicht ist stets bei ersichtlich "ergebnisorientierten"
Entscheidungen geboten.
Ich hoffe, dass diese kleine tour d'horizon meinem Freund Heinz Schäch
etwas Freude bereitet hat. Ich wünsche ihm weiterhin beste Gesundheit und
ungebrochene Schaffenskraft.

38 HRRS 2009, 186.


Zur Beschuldigteneigenschaft im Strafprozess

CLAUS ROXIN

Die Frage, wann jemand zum Beschuldigten im Sinne des § 157 StPO
wird, hat in der Rechtsprechung der neueren Zeit große Bedeutung erlangt.
Hauptsächlich beruht das darauf, dass die Rechtsprechung seit 1992 1 die
unterlassene Belehrung des Beschuldigten über sein Aussageverweige-
rungsrecht nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO mit einem Verwertungsverbot aus-
gestattet hat. Denn nun kann das Schicksal eines Verfahrens davon abhän-
gen, ob jemand, der ohne Belehrung gegenüber den Strafverfolgungs-
behörden selbstbelastende Angaben macht, schon Beschuldigter war oder
noch nicht. Es gibt freilich auch andere Konstellationen, bei denen es auf
die Beschuldigteneigenschaft ankommt. So ist bei der richterlichen Ver-
nehmung eines Zeugen dem Beschuldigten nach § 168c Abs. 2 die Anwe-
senheit gestattet, die nur unter den engen Voraussetzungen von § 168c
Abs. 5 S. 2 unterbleiben darf. Unterbleibt die Benachrichtigung, ist die
Aussage unverwertbar. 2
Über den Beginn der Beschuldigteneigenschaft gibt es heute theoretisch
weitgehend übereinstimmende Ansichten. Aber die Grundlage dieser Über-
einstimmung erscheint mir problematisch, und auch die praktische Umset-
zung des allgemein bevorzugten Ansatzes bereitet große Probleme. 3 Es
erscheint mir deshalb sinnvoll, den Diskussionsstand noch einmal zu hinter-
fragen.

I. Ist § 397 Abs. 1 AO eine geeignete Abgrenzungsrichtlinie?


Über den Beginn der Beschuldigteneigenschaft gibt § 157 StPO keine
Auskunft, und der Gesetzgeber hat die Frage absichtlich offen gelassen in
der Meinung, sie entziehe sich "einer allgemein durchgreifenden Feststel-
lung".4 Durchweg wird heute eine rein subjektive und eine rein objektive
Bestimmung der Beschuldigteneigenschaft abgelehnt. Es soll also weder

1 BGHSt 38,214.
2 Einen solchen Fall behandelt BGH NJW 2003, 3142.
3 So auch Geppert FS F.-C. Schroeder, 2006, S. 675 ff..
4 Nähere Nachweise bei SK-Rogall, 1995, Vor § 133 StPO, Rn. 9~ Geppert a.a.O., S. 677 f.
824 Claus Roxin

allein auf den Willensentschluss der Strafverfolgungsbehörden noch auf


eine bestimmte objektive Verdachtsstärke,5 sondern auf eine "Kombination
objektiver und subjektiver Merkmale"6 ankommen.
Für die Art dieser Kombination hat sich weithin der zuerst von RogalP
gemachte Vorschlag durchgesetzt, der sich an die Regelung des heutigen
§ 397 Abs. 1 AO anschließt. Danach wird ein Strafverfahren gegen jeman-
den eingeleitet, d.h. ein Beschuldigtenstatus geschaffen, wenn die zuständi-
ge Behörde "eine Maßnahme trifft, die erkennbar darauf abzielt, gegen
jemanden wegen einer Steuerstraftat strafrechtlich vorzugehen".
Der BGH hat diesen Gedanken zuerst in BGHSt 38, 228 aufgegriffen und
den Hinweis auf § 397 Abs. 1 AO seither mehrmals wiederholt. 8 Auch das
BVerfG 9 hat sich dem angeschlossen: "Ein Verdächtiger erlangt bereits
dann die Stellung eines Beschuldigten, wenn die zuständige Strafverfol-
gungsbehörde Maßnahmen gegen ihn ergreift, die erkennbar darauf abzie-
len, gegen ihn wegen einer Straftat vorzugehen."
Auch dem Gesetzgeber wird diese Formel mehrfach empfohlen. Der Al-
ternativ-Entwurf "Reform des Ermittlungsverfahrens (AE-EV)", an dem
Heinz Schäch, der verehrte Jubilar, und auch der Verfasser dieses Aufsatzes
mitgewirkt haben, formuliert folgenden Gesetzesvorschlag (§ 157 Abs. 1
StPO): "Beschuldigter ist ein Verdächtiger, gegen den ein Strafverfol-
gungsorgan eine Handlung vornimmt, die erkennbar darauf abzielt, ihn
wegen einer Straftat zu verfolgen." Ebenso hat Jahn 10 unlängst betont:
"Dem Gesetzgeber ist ... die Übernahme der in § 397 Abs. 1 AG zum Be-
ginn der Beschuldigteneigenschaft getroffenen Regelung in die Strafpro-
zessordnung anzuraten." Auch sonst wird diese Formel allgemein als zur
Bestimmung der Beschuldigteneigenschaft geeignet angesehen. 11
Bei näherem Hinsehen leistet sie aber nicht so viel, wie ihre Befürworter
sich davon versprechen. Gewiss sind die Voraussetzungen der steuerrechtli-
chen Formel, wie ich sie auf Grund ihrer Herkunft nennen will, bei der
förmlichen Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen eine bestimmte

5 So aber immerhin noch Peters Strafprozess, 4. Aufl. 1985, S. 201: "Es kommt nur darauf
an, dass zureichende tatsächliche Anhaltspunkte beigebracht und von einem Strafverfolgungs-
organ zur Kenntnis genommen worden sind."
6 BGHSt 38, 228.
7 Rogall Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S. 27 ff. unter Verweis
auf den damaligen § 432 I AG.
8 Etwa in BGH NStZ 1997, 398~ BGHSt 51, 370.
9 NStZ 2001, 103 (Leitsatz 1).
10 lahn JuS 2007, 962 ff., 964.
11 Ich zitiere nur exemplarisch aus der neuesten Literatur: LR-Gleß, 26. Aufl. 2007, § 136
Rn. 5~ LR-Erb, 26. Aufl. 2008, § 163a Rn. 9~ Beulke Strafprozessrecht, 10. Aufl. 2008,
Rn. 112~ Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 26. Aufl. 2009, § 25 Rn. 11 ~ Geppert
(Fn. 3).
Zur Beschuldigteneigenschaft im Strafprozess 825

Person errullt. Aber in solchen Fällen bedarf es ihrer nicht, weil die Be-
schuldigteneigenschaft ohnehin amtlich statuiert wird. Und sicher setzt die
Stellung eines Beschuldigten immer voraus, dass bei den Strafverfolgungs-
behörden der Wille zur Verfolgung einer potentiellen Straftat vorliegt und
sich in Ermittlungshandlungen manifestiert. Aber die in der Praxis auftre-
tenden Problemfalle werden damit nicht gelöst. Sie liegen in den beiden
Bereichen der Abgrenzung von Zeugen- und Beschuldigtenvernehmung und
der informatorischen Fragen von der Beschuldigtenvernehmung. In diesen
Grauzonen liefert die steuerrechtliche Formel keine weiterführenden Ergeb-
nisse.
Dass die Polizei bei einer verdächtigen Person Ermittlungen anstellt, kann
rur den Befragten noch nicht ohne weiteres eine Beschuldigteneigenschaft
(und damit die Belehrungspflicht) begründen. Denn die Strafprozessord-
nung kennt auch verdächtige Zeugen, wie sich aus § 60 Nr. 2 (Vereidi-
gungsverbot bei verdächtigen Zeugen) und § 55 StPO (Aussageverweige-
rungsrecht verdächtiger Zeugen) entnehmen lässt. Der BGH 12 hat noch
unlängst betont, dass die Strafverfolgungsorgane auch gegenüber einem
Zeugen "die Verdachtslage weiter abklären" und "den Vernommenen mit
dem Tatverdacht konfrontieren" dürfen. "Hierauf zielende Vorhalte und
Fragen" seien "nicht zwingend ein hinreichender Beleg darur, dass der
Vernehmende dem Vernommenen als Beschuldigter gegenübertritt." Die
Frage, ob jemand wegen einer Straftat verfolgt wird, lässt sich in solchen
Fällen mit Hilfe der steuerrechtlichen Formel nicht beantworten. Diese
enthält nur eine Ergebnisaussage, deren Voraussetzungen auf andere Weise
ermittelt werden müssen. Entsprechendes gilt für die Frage, ob und ggf.
beim Vorliegen welcher Umstände ein am Tatort nach den Geschehnissen
Befragter zum Beschuldigten wird.
Es kann auch nicht etwa darauf ankommen, ob die Strafverfolgungsbe-
hörden beschließen, jemanden als Beschuldigten zu vernehmen. Im Sach-
verhalt der Entscheidung BGHSt 51, 367 ff., in der es um die Frage ging, ob
eine verschwundene Ehefrau und ihre Tochter ermordet worden seien, war
bei der Vernehmung des Ehemannes noch nicht einmal klar, ob überhaupt
eine Straftat vorlag. Die Ermittlungsbehörden glaubten daher, ihn nicht als
Beschuldigten vernehmen und nicht belehren zu müssen. Trotzdem hat der
BGH 13 aus der "Art und Weise" (Leitsatz) der Vernehmung ("Das Gewis-
sen plagt Sie nicht?", "Dass Sie uns eventuell sagen, wo die Leichen sind?")
den Beschuldigtenstatus des vernommenen Ehemannes hergeleitet. Ent-
scheidend ist danach nicht der innere Wille zur Beschuldigtenvernehmung,
sondern das Verhalten des Vernehmungsbeamten "nach außen". Der Ver-

12 NStZ 2008, 48.


13 BGHSt 51, 367, 373; auch schon BGHSt 38, 228~ näher unten V.
826 Claus Roxin

folgungswille wird nicht aus den Intentionen der Vernehmungsperson, son-


dern "aus dem Ziel, der Gestaltung und den Begleitumständen der Verneh-
mung" hergeleitet.
Andererseits ist aber nach ständiger Rechtsprechung ein Vernommener
auch dann als Beschuldigter anzusehen, wenn er zwar nach der "Art und
Weise" der Vernehmung als Zeuge behandelt wird, wenn aber der objektive
Tatverdacht so erheblich ist, dass die Vorenthaltung der Beschuldigtenei-
genschaft als ermessensmissbräuchlich angesehen werden muss. So heißt es
schon in BGHSt 10, 12: "Würde sie - scil. die Strafverfolgungsbehörde - ...
einen ... Verdächtigen, den als Beschuldigten zu verfolgen gute Gründe
vorlagen, aus sachfremden Erwägungen willkürlich in die Rolle eines Zeu-
gen drängen, ... so vermöchte ein solcher Missbrauch des Ermessens ihm
nicht die Eigenschaft eines Zeugen zu verleihen." Und noch BGHSt 51,
371 f. sagt unter Hinweis auf viele andere Entscheidungen: "Falls ... der
Tatverdacht so stark ist, dass die Strafverfolgungsbehörde anderenfalls
willkürlich die Grenzen ihres Beurteilungsspielraums überschreiten würde,
ist es verfahrensfehlerhaft, wenn dennoch nicht zur Beschuldigtenverneh-
mung übergegangen wird." In einer nur 14 Tage später ergangenen Ent-
scheidung desselben (1.) Senats 14 wird das Erfordernis eines"Willensaktes"
der Verfolgungsbehörden für bestimmte Fälle ausdrücklich aufgegeben,
obwohl der Beschluss im vorhergehenden Absatz noch darauf beharrt hatte,
dass die Beschuldigteneigenschaft ,,- subjektiv - den Verfolgungswillen der
Strafverfolgungsbehörde" voraussetze, "der sich - objektiv - in einem Wil-
lensakt manifestiert". Später heißt es dann aber: "Ergibt sich die Beschul-
digteneigenschaft nicht aus einem Willensakt der Strafverfolgungsbehör-
den, kann - abhängig von der objektiven Stärke des Tatverdachts - unter
dem Gesichtspunkt der Umgehung der Beschuldigtenrechte gleichwohl ein
Verstoß gegen die Belehrungspflicht des § 136 Abs. 1 S. 2 StPO vorliegen."
Aus alledem ergibt sich, dass die Rechtsprechung widerspruchsfreie Klar-
heit noch nicht erreicht hat. Man darf aber jedenfalls davon ausgehen, dass
man Beschuldigter entweder durch einen Willensakt der Strafverfolgungs-
behörde oder durch den bloßen Eindruck ihres Verhaltens "nach außen"
oder auch allein durch die Stärke des Tatverdachts werden kann. Auf einen
gemeinsamen subjektiven Nenner lässt sich das schwerlich bringen. Da aber
objektiv in jedem Fall beliebige Ermittlungshandlungen genügen, fehlt auch
insoweit ein zur Abgrenzung geeignetes Kriterium. Dass bei der Erfassung
der doch offenbar sehr verschiedenartigen Umstände, die die Beschuldig-
teneigenschaft auslösen, die Formel des § 397 Abs. 1 AO wesentlich wei-
terhilft, wird man schwerlich sagen können.

14 BGH NStZ 2008, 48.


Zur Beschuldigteneigenschaft im Strafprozess 827

Es kommt hinzu, dass im Steuerstrafverfahren die Ermittlungssituation


auch in vielen Fällen anders beschaffen ist als beim Durchschnitt sonstiger
strafrechtlicher Ermittlungen. Während es bei diesen meist darum geht, wer
der Täter ist, gelten die Überprüfungen im Steuerstrafrecht oft der Frage, ob
überhaupt eine Straftat vorliegt. Rogall sagt selbst: 15 "Viele Maßnahmen
des Finanzamtes sind ... neutral und lassen nicht erkennen, ob sie im
Besteuerungs- oder Strafverfahren erfolgen." Infolgedessen heißt es in steu-
errechtlichen Kommentaren,16 die Voraussetzungen des § 397 Abs. 1 AO
seien erfüllt, wenn eine Willensbetätigung der zuständigen Stelle vorliege,
"deren strafrechtliche Zielsetzung objektiv erkennbar ist". Erkennbar müsse
nur sein, "dass die zuständige Stelle im strafrechtlichen Bereich tätig wer-
den will". Strafrechtliche Zielsetzungen und ein Tätigwerden im strafrecht-
lichen Bereich liegen aber im Ermittlungsverfahren auch bei einer Zeugen-
vernehmung und sonstigen deliktsbezogenen Fragen vor, so dass auch
insoweit eine an § 397 Abs. 1 AO orientierte Auslegung im allgemeinen
Strafrecht wenig nützt.

11. Der Rückgriff auf den Zweck von Schweigerecht und


Belehrungspflicht
Anerkannte methodologische Grundsätze legen es deshalb nahe, die Be-
schuldigteneigenschaft nicht durch eine unklare Kombination subjektiver
und objektiver Faktoren - also durch ontische Gegebenheiten -, sondern
teleologisch durch den Zweck von Schweigerecht und Belehrungspflicht zu
bestimmen. Denn die in Betracht kommenden realen Faktoren sind, wie sich
gezeigt hat, recht unterschiedlich und können sich nur durch einen Appell
an das Rechtsgefühl legitimieren, während der Zweck der §§ 136, 163a
Abs. 3 S. 2 StPO klar zu Tage liegt: Er soll denjenigen, der in den Verdacht
einer strafbaren Handlung gerät, vor einer ungewollten Selbstbelastung oder
gar Selbstüberführung schützen.
Man sollte also die Frage stellen: Unter welchen Voraussetzungen braucht
der Beschuldigte den Schutz des § 136 StPO? Dass nach der Auffassung des
Gesetzgebers nicht schon jeder Verdacht dieses Schutzbedürfnis hervorruft,
ergibt sich nicht nur aus den schon erwähnten §§ 60 Nr. 2, 55 StPO, son-
dern auch daraus, dass viele prozessuale Zwangseingriffe nur gegenüber
einem Beschuldigten zulässig sind, so dass ein Verdächtiger von ihnen
verschont bleiben muss, solange er noch kein Beschuldigter ist. Es geht also

15Rogall (Fn. 7), 30.


16Ich zitiere aus dem AE-EV, 98, der sich auf Fran=en/Gast/Joecks, 4. Aufl. 1996, § 397
AG, Rn. 65 und Klein/Orlapp, 4. Aufl. 1995, § 397 AG, Anm. 6, beruft.
828 Claus Roxin

nicht nur darum, dass die Strafverfolgungsbehörden um einer leichteren


Sachverhaltsaufklärung willen nicht immer schon in den Anfangsstadien der
Ermittlung zur Schweigerechtsbelehrung greifen wollen. Auch derjenige,
der in das Visier der Ermittier gerät, kann ein Interesse daran haben, nicht
sogleich in den Beschuldigtenstand versetzt zu werden. Er ist dadurch vor
Zwangseingriffen und auch vor öffentlicher Aufmerksamkeit und Herabset-
zung besser geschützt. Ein Element der Abwägung gegenläufiger Schutzbe-
lange sollte also in die Festlegung der Beschuldigteneigenschaft eingehen.
Der Vorgang, der aus einem Verdächtigen oder bisher sogar Unverdäch-
tigen einen Beschuldigten macht, wird meist mit einem aus dem französi-
schen Recht stammenden Begriff als "Inkulpation"17 bezeichnet. Dieser
Begriff lässt sich auch dann verwenden, wenn man darauf verzichtet, ihn
durch einheitliche Merkmale zu bestimmen. Wenn der Schutz des § 136
StPO durch verschiedenartige Sachgegebenheiten gefordert wird, muss es
auch unterschiedliche Formen der Inkulpation geben. Soweit ich sehe, ha-
ben sich aus der bisherigen Rechtsprechung vier verschiedene Formen der
Inkulpation ergeben, die jeweils besonderer Beurteilung bedürfen: die aus-
drückliche Inkulpation, die konkludente Inkulpation, die faktische Inkulpa-
tion und die Verdachtsinkulpation.

111. Die ausdrückliche Inkulpation


Der eindeutigste Fall der Versetzung in den Beschuldigtenstand liegt vor,
wenn ein förmliches Ermittlungsverfahren gegen einen Verdächtigen einge-
leitet wird. Das kann auf verschiedene Weise geschehen. Er kann ausdrück-
1ich als Beschuldigter zur Vernehmung geladen werden. Es kann aus einem
Schreiben der ermittelnden Behörde hervorgehen ("in der Sache gegen Sie
wegen ..."),18 dass der Adressat als Beschuldigter verfolgt wird. Man kann
auch als Anwalt eines Mandanten, der in Ermittlungen hereingezogen wird,
Klarheit schaffen, indem man bei der Polizei oder Staatsanwaltschaft nach-
fragt, in welcher Eigenschaft der Mandant dort geruhrt werde. 19
Eine ausdrückliche Inkulpation liegt auch vor, wenn auf eine Strafanzeige
hin eine Akte angelegt wird und die Ermittlungen aufgenommen werden.
Eine Strafanzeige als solche wird man entgegen einer verbreiteten Meinung
zur Begründung einer Beschuldigteneigenschaft noch nicht genügen lassen

17 Vgl. AE-EV 99~ dort wird auch dargelegt, dass der französische Gesetzgeber den Begriff
heute nicht mehr verwendet.
18 Weihrauch Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 6. Aufl. 2002, S. 22.
19 Weihrauch a.a.O., S. 23.
Zur Beschuldigteneigenschaft im Strafprozess 829

können. 2o Denn wenn Anzeigen, die kein strafbares Verhalten des Ange-
zeigten erkennen lassen oder die jeder realen Grundlage entbehren, keine
Verfolgungsaktivitäten auslösen, besteht kein Grund fur einen Schutz vor
Selbstbelastung. Wenn Erb 21 immerhin auch "das bloße Einziehen von
Erkundigungen" schon zur Begründung der Beschuldigteneigenschaft aus-
reichen lassen will, so geht auch das noch zu weit. Denn wenn solche "Er-
kundigungen" darauf abzielen, die anscheinende Haltlosigkeit einer Anzei-
ge zu bestätigen oder zu klären, ob überhaupt etwas daran ist, so wird der
Angezeigte noch nicht strafrechtlich verfolgt. Dies geschieht erst dann,
wenn durch die Anzeige ein Anfangsverdacht begründet und daraufhin
gegen ihn ermittelt wird.
In allen Fällen der ausdrücklichen Inkulpation beruht die Beschuldigten-
eigenschaft darauf, dass die Behörde selbst erklärt, sie ermittele gegen einen
Verdächtigen als Beschuldigten. Es ist also ein Willensakt der Behörde, der
die Beschuldigteneigenschaft begründet. Das Schutzbedürfnis des solcher-
maßen Inkulpierten und damit die Notwendigkeit, ihn über sein Schwei-
gerecht zu belehren, ergibt sich auch beim bloßen Bestehen eines Anfangs-
verdachts daraus, dass die Ermittlungen über den Willen zur Sach-
verhaltsaufklärung hinaus auf die Überführung des Verdächtigen zielen.
Dann aber entspricht es dem Sinn des § 136 StPO, ihn vor einer aus Un-
kenntnis der Rechtslage und der Verfahrenssituation resultierenden Selbst-
belastung zu schützen und entsprechend zu belehren.

IV. Die konkludente Inkulpation


Nahezu unstrittig ist auch die zweite Fallgruppe der konkludenten Inkul-
pation: 22 So liegt es, wenn im Zuge von Ermittlungen Zwangsmaßnahmen
beantragt oder vorgenommen werden, die nur gegenüber Beschuldigten
zulässig sind. Das gilt etwa für die Beantragung eines Haftbefehls (§§ 112,
114 StPO), die vorläufige Festnahme nach § 127 Abs. 2 StPO, die Anord-
nung oder Beantragung von Untersuchungen nach § 81 aStPO, die Vor-
nahme erkennungsdienstlicher Maßnahmen nach § 81 b StPO, die vorläufige
Entziehung der Fahrerlaubnis nach § lIla StPO und anderes mehr.
Auch die Rechtsprechung liegt auf dieser Linie: 23 "Strafprozessuale Ein-
griffsmaßnahmen, die nur gegenüber dem Beschuldigten zulässig sind, sind

20 Zutr. LK-Erb (Fn. 11), § 163a Rn. 12, wo in Fn. 24 Vertreter der Gegenmeinung ange-
führt werden.
21 LK-Erb (Fn. 11), § 163a Rn. 12.
22 Der Ausdruck wird auch sonst verwendet. So sagt etwa Beulke (Fn. 9), Rn. 112, "dass die
Begründung der Beschuldigteneigenschaft auch konkludent zum Ausdruck kommen kann".
23 Vgl. nur zuletzt BGHSt 51, 370.
830 Claus Roxin

Handlungen, die ohne weiteres auf den Verfolgungswillen der Strafverfol-


gungsbehörde schließen lassen."
Für diese Annahme streiten drei GrÜnde. 24 Erstens knüpft schon das Ge-
setz, wenn es einen Eingriff nur gegenüber Beschuldigten zulässt, die Be-
schuldigteneigenschaft automatisch an die Zwangsmaßnahme. Die
Zwangsmaßnahme selbst schafft den Beschuldigtenstatus, weil sie anderen-
falls nicht stattfinden dürfte. Zweitens ist auch ein Schutz des Betroffenen
noch notwendiger als bei einer ausdrücklichen Inkulpation. Denn während
bei dieser die Ermittlungen meist noch am Anfang stehen, beruhen die
Zwangsmaßnahmen auf einer erheblichen Verdachtsstärke und zielen meist
auf unmittelbare Überführung. Drittens würde es auch gegen die Fairness
des Verfahrens verstoßen, wenn dem Verdächtigen zwar die Nachteile der
Beschuldigteneigenschaft auferlegt, die Schutzwirkung des § 136 StPO ihm
aber vorenthalten würde.

v. Die faktische Inkulpation


Dieser Fall liegt vor, wenn die Ermittlungsbehörden jemanden zwar offi-
ziell als Zeugen vernehmen oder informatorisch befragen, wenn sie aber
trotz eines nur vagen Tatverdachts zu erkennen geben, dass sie den Betrof-
fenen für den wahrscheinlichen Täter halten. Das Musterbeispiel dieser Art
liefert BGHSt 51, 367 ff. Eine Ehefrau und ihre Tochter waren seit Monaten
verschwunden. Der Ehemann geriet in Verdacht, sie getötet zu haben, aber
es ließ sich ihm nichts nachweisen. Auch die Leichen waren noch nicht
gefunden. Auf Zwangsmittel, die eine konkludente Inkulpation hätten be-
wirken können, wurde verzichtet. Auf die "schwache Beweislage" wurde
der Vernommene ausdrücklich hingewiesen.
Andererseits versuchte der Vernehmungsbeamte in einer nur von kurzen
Pausen unterbrochenen, fast zehnstündigen Vernehmung den Ehemann in
Widersprüche zu verwickeln, bezichtigte ihn der Lüge ("Ich glaube Ihnen
kein Wort") und erwirkte seine Zustimmung zu einer Speichelprobe und zur
Durchsuchung von Haus und Anwesen mit Leichensuchhunden. Er drängte
ihn auch zu einem Geständnis ("Das Gewissen plagt Sie nicht?", "Dass Sie
uns eventuell sagen, wo die Leichen sind?").
Aus diesen Umständen lässt sich entnehmen, dass die Ermittlungsbeam-
ten den Ehemann zwar in der Zeugenrolle belassen und dementsprechend
nicht belehren wollten, dass sie ihn aber in einer für den Vernommenen
deutlich erkennbaren Weise für den wahrscheinlichen Täter hielten und ihn

24 Abw. Fincke ZStW 95 (1983), 951, demzufolge es keine Zwangsmaßnahme gibt, "die
generell inkulpativ wirkt".
Zur Beschuldigteneigenschaft im Strafprozess 831

als solchen zu überführen suchten. Denn sowohl die Auffindung der Lei-
chen wie auch die gewünschten Hinweise auf deren Fundort hätten den
Ehemann sofort als Täter entlarvt. Auch der Appell an das Gewissen anstatt
bloßer Fragen nach seinem Wissen deutet auf eine Beurteilung als mutmaß-
licher Täter.
Die Antwort auf die Frage, ob die Ermittlungsbehörden den Ehemann als
Beschuldigten verfolgen wollten, fällt bei solchen Konstellationen zwiespäl-
tig aus. Sie taten es faktisch (durch ihr Verhalten), wie der BGH 25 richtig
sieht, wenn er auf die Wirkung "nach außen, ... in der Wahrnehmung des
Betroffenen", abstellt. Sie wollten den Vernommenen aber rechtlich - durch
den Verzicht auf Zwangsmittel und gestützt auf das Fehlen konkreter Be-
weisindizien - in der Zeugenrolle belassen. Ob das rur eine Inkulpation
ausreicht, kann nicht von einer Analyse des solchermaßen gespaltenen Wil-
lenselementes, sondern nur davon abhängig gemacht werden, ob ein in
dieser Weise Vernommener den Schutz des § 136 StPO braucht. Das ist
eindeutig zu bejahen.
Die Schutzbedürftigkeit ist hier eher noch größer als in den Regelfällen
der ausdrücklichen oder der konkludenten Inkulpation. Denn während dort
meist noch Beweise gesucht werden müssen, würde eine Auffindung der
Leiche oder eine wahrheitsgemäße Antwort die sofortige Überführung des
Täters zur Folge haben. Dem Täter zu verdeutlichen, dass er dabei nicht
mitzuwirken braucht, ist aber gerade der Zweck der Belehrungsvorschrift.
Man kann daher verallgemeinernd sagen, dass die ausdrückliche oder ver-
klausulierte Frage nach der Täterschaft eines Vernommenen auch bei er-
kennbar schwacher Beweislage nur unter der Voraussetzung seiner Be-
schuldigteneigenschaft und damit nach einer vollständigen Belehrung im
Sinne des § 136 StPO (einschließlich des Hinweises auf das Verteidiger-
konsultationsrecht) gestellt werden darf.
Der BGH 26 ist also von einem richtigen Judiz geleitet, wenn er "die Art
und Weise einer Vernehmung" ggf. "zur Begründung der Beschuldigtenei-
genschaft ausreichen" lässt. Wer den Eindruck gewinnen muss, er solle
durch die Vernehmung überruhrt werden, bedarf der Belehrung über sein
Schweigerecht. Ob die objektive Beweislage eine Versetzung in den Be-
schuldigtenstand nötig macht, ist darur gleichgültig. Gerade der Versuch,
bei fehlenden Beweisen einen Vernommenen dadurch zu überrumpeln, dass
man "auf den Busch klopft", muss durch § 136 StPO verhindert werden.
Allerdings sollte man die Fälle der faktischen Inkulpation auf Konstellati-
onen beschränken, bei denen verbale Äußerungen der Ermittlungsbehörden
in dem Vernommenen den Eindruck erwecken müssen, man halte ihn rur

25 BGHSt 51, 373.


26 BGHSt 51, 367.
832 Claus Roxin

den Täter, obwohl die objektive Verdachtslage eine solche Beurteilung


nicht rechtfertigt. So lag es in der oben erörterten Entscheidung BGHSt 51,
367, einem Urteil des ersten Senats.
Entdecker der Einsicht, dass fur die Begründung der Beschuldigteneigen-
schaft unabhängig von der Verdachtslage auch von Bedeutung sei, "wie
sich das Verhalten des Beamten nach außen, auch in der Wahrnehmung des
Befragten darstellt", ist aber der fünfte Senat. 27 Dieser allerdings hat den
Anwendungsbereich der faktischen Inkulpation weiter ausgedehnt, wenn er
sagt: "Es gibt polizeiliche Verhaltensweisen, die schon nach ihrem äußeren
Befund belegen, dass der Polizeibeamte dem Befragten als Beschuldigten
begegnet, mag er dies auch nicht zum Ausdruck bringen. Das wird etwa für
Gespräche gelten, die der Beamte mit einem Verdächtigen führt, den er im
Kraftfahrzeug der Polizei mit zur Polizeiwache nimmt; hier wird selbst bei
einem vergleichsweise geringen Grad des Verdachtes vor jeder Befragung
ein Hinweis nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO anzubringen sein."
Das scheint mir in dieser Allgemeinheit zu weit zu gehen. Wenn der Be-
amte, der einen Zeugen am 'ratort angetroffen hat, ihn im Auto mit zur
Wache nimmt, um dem schlechten Wetter oder einem Volksauflauf zu ent-
gehen und ihn ungestört weiter befragen zu können, wird der Zeuge dadurch
noch nicht zum Beschuldigten. Der erste Strafsenat hat im Jahr 2004 28 einen
Fall entschieden, in dem es darum ging, ob eine Tochter für die Tötung
ihrer Mutter als Täterin in Betracht kam. Der einzige Anhaltspunkt für eine
solche Möglichkeit war nach dem damaligen Ermittlungsstand, dass die
Tochter sich zum Zeitpunkt des Todes ihrer Mutter im Haus aufgehalten
hatte. Hier sagt der erste Senat klipp und klar: "Auch aus dem Umstand,
dass die Angekl. am späten Vormittag im Dienst-Pkw der sachbearbeiten-
den Polizeidienststelle für die Zeugenvernehmung mitfuhr, ergibt sich kein
äußerer Befund dahingehend, dass sie nunmehr als Beschuldigte galt." Der
die Ermittlungen leitende Oberstaatsanwalt hatte ihr sogar beim Aussteigen
kondoliert, was einer Behandlung als Beschuldigte deutlich entgegensteht.
Die Ausführungen in BGHSt 38, 228 werden vom ersten Senat als "vom
Sachverhalt nicht vergleichbar" abgetan, obgleich es dort nicht um einen
realen Sachverhalt, sondern um ein verdeutlichendes Beispiel ging. Jeden-
falls zeigt auch diese Entscheidung, dass dem fünften Senat die abstrakte
Umschreibung der faktischen Inkulpation zu weit geraten ist und dass erst
BGHSt 51, 367 dieser Form der Beschuldigtenstellung klare Konturen ver-
liehen hat.

27 BGHSt 38, 228.


28 NStZ-RR 2004, 369.
Zur Beschuldigteneigenschaft im Strafprozess 833

VI. Die Verdachtsinkulpation


Wie schon oben (I.) dargelegt wurde, nimmt die Rechtsprechung eine Be-
schuldigteneigenschaft aber auch schon dann an, wenn ein starker Tatver-
dacht besteht, eine ausdrückliche, konkludente oder faktische Inkulpation
aber vermieden wird. Die Ermittlungsbehörden behandeln in solchen Fällen
den Vernommenen auch "nach außen" als Zeugen und belehren ihn allen-
falls nach § 55 Abs. 2 StPO, obwohl die Stärke des Verdachts eine Verfol-
gung als Beschuldigter und damit eine Belehrung nach § 136 StPO erfor-
dern würde.
Wenn der BGH bei derartigen Konstellationen auf Grund eines "Ermes-
sensmissbrauchs" den Beschuldigtenstatus bejaht, so ist das unter dem Ge-
sichtspunkt der Schutzbedürftigkeit des Betroffenen richtig. Denn wenn
dem Beschuldigten die Beweislage verschleiert wird, bleibt ihm verborgen,
dass er sich durch seine Äußerungen sehr leicht in Widerspruch zu schon
feststehenden Ermittlungsergebnissen setzen und sich dadurch ungewollt
selbst belasten kann. Dann aber braucht er den Schutz des § 136 StPO und
muss als Beschuldigter angesehen und belehrt werden.
Für die in der Literatur überwiegende Auffassung,29 die die Inkulpation
allemal als Willensakt der Strafverfolgungsbehörde auffasst, ist das nicht
leicht erklärbar. So lesen wir bei Beulke: 30 "Im Ergebnis bedeutet dies, dass
das Erfordernis des Willensaktes eines Strafverfolgungsorgans für die Be-
gründung der Beschuldigtenstellung ab einem bestimmten Verdachtsgrad
praktisch aufgegeben wird und eine Wertung nach objektiven Kriterien an
dessen Stelle tritt. Diese Inkonsequenz ist zum Schutz der Beschuldigten-
rechte durchaus akzeptabel." Dem folgt Geppert31 , wenn er sagt: "So gese-
hen ist die Beschuldigten-Eigenschaft in diesem Fall - scil. bei starkem
Tatverdacht - letztlich allein nach objektiven Maßstäben zu beurteilen, was
jedoch zu akzeptieren ist, weil diese Inkonsequenz dem Schutz rechtsstaat-
licher Beschuldigteninteressen dient." Eine Inkonsequenz ist das aber nur,
wenn man den Willen der Strafverfolgungsbehörde als das allein entschei-
dende Kriterium ansieht. Das kann, wie diese Fallgruppe zeigt, nicht richtig
sein, weil der "Wille" der Ermittier ggf. auch darauf gerichtet sein kann,
einem Verdächtigen seine Rechte vorzuenthalten. Geht man, wie es dem-
nach geboten ist, vom Schutzzweck des § 136 StPO aus, ist die Einbezie-
hung der Verdachtsinkulpation in die Entstehungsgründe der Beschuldig-
tenstellung jedoch völlig konsequent, wie durch die Billigung des
Ergebnisses indirekt auch Beulke und Geppert anerkennen.

29 Anders aber Putzke/Scheinfeld Strafprozessrecht, 2. Autl. 2009, S. 13.


30 Beulke (Fn. 11), Rn. 112.
31 Geppert (Fn. 3), S. 681, Anm. 28.
834 Claus Roxin

Anders und auch im Ergebnis ablehnend äußert sich Rogal[32 zur Ver-
dachtsinkulpation: "Ob sich eine derartige ,Willkürausnahme ' zweifelsfrei
in das Prozessrecht integrieren lässt, erscheint zweifelhaft. Denn wir hätten
es dann mit einer Statuszuschreibung ohne Inkulpation und ohne Inkulpati-
onssubjekt zu tun, was letztlich auf die objektive Theorie und ihre Schwie-
rigkeiten hinauslaufen würde. Das wäre der Rechtssicherheit nicht förder-
lich."
Die Rechtssicherheit fordert aber nur, dass der Verdachtsgrad, von dem
an jemand bei gegen ihn laufenden Ermittlungen in die Beschuldigtenrolle
einrückt, hinreichend klar bestimmt wird. Der BGH arbeitet insoweit wech-
selweise mit vier Verdachtskennzeichnungen, die wohl in etwa gleichbe-
deutend sein sollen: "Konkretheit", "Ernsthaftigkeit", "Stärke" und "Ver-
dichtung" des Verdachts. So heißt es in der Entscheidung zur faktischen
Inkulpation,33 in der es auf den Verdachtsgrad gar nicht ankam, "dass die
Strafverfolgungsbehörde ... erst bei einem konkreten und ernsthaften Tat-
verdacht zur Vernehmung des Verdächtigen als Beschuldigten verpflichtet
ist", während derselbe (erste) Senat an anderer Stelle 34 sagt: "Nicht jeder
Tatverdacht begründet bereits die Beschuldigteneigenschaft mit entspre-
chender Belehrungspflicht, es kommt vielmehr auf die Stärke des Tatver-
dachts an." Der Übergang zur Beschuldigtenvernehmung sei geboten,
"wenn sich der Verdacht so verdichtet hat, dass die vernommene Person
ernstlich als Täter der untersuchten Straftat in Betracht kommt". Da alle
diese Verdachtsgrade der StPO fremd sind und infolgedessen kaum eine
wissenschaftliche Präzisierung erfahren haben, wäre es wohl besser, an den
dringenden Tatverdacht anzuknüpfen, der durch die Verwendung im Haft-
recht feste Konturen aufweist. Auch leuchtet es unmittelbar ein, dass je-
mand, der ggf. sogar verhaftet werden könnte, den Schutz der Beschuldig-
tenbelehrung braucht. Jedenfalls wäre mit einem Rückgriff auf den
eingeführten Begriff des dringenden Tatverdachts der Rechtssicherheit
Genüge getan.
Rogall meint außerdem,35 auf die Verdachtsinkulpation gänzlich verzich-
ten zu können, "weil die Strafverfolgungsorgane ihren Verfolgungswillen
zwar zurückhalten, aber doch auf diesem Willen nicht ad kaIendas graecas
sitzen bleiben können, ohne dem ganzen Geschehen Taten folgen zu lassen.
Dann aber ist Raum fur die Feststellung des erforderlichen Verfolgungswil-

32 Rogall NStZ 1997, 398 ff., 400.


33 BGHSt 51, 372.
34 NStZ-RR 2002, 67; auf die Stärke des Tatverdachts hebt der erste Senat auch in NStZ
2008, 48 ab. Allein auf die "Verdichtung" des Tatverdachts nimmt ein Urteil des vierten Se-
nats, StraFo 2004, Bezug; derselbe Senat hatte in BGHSt 37, 52 die Verdichtung und die
Stärke des Tatverdachts nebeneinander gestellt.
35 Rogall (Fn. 32), 400.
Zur Beschuldigteneigenschaft im Strafprozess 835

lens ... nach Maßgabe des Rechtsgedankens, den § 397 Abs. 1 AO verlaut-
bart." Wenn aber die "Taten", die den Ermittlungen folgen, in einer Ankla-
geschrift bestehen, ist der Betroffene um sein Belehrungsrecht betrogen;
und wenn die Belehrung zwar vor der Anklage, aber viel zu spät erfolgt,
kann eine überrumpelnde Selbstüberflihrung des Verdächtigen schon ge-
glückt sein. Gewiss hat Rogall Recht, wenn er betont,36 es könne niemand
"automatisch" zum Beschuldigten werden. Er muss natürlich in strafrechtli-
che Ermittlungen einbezogen sein; sonst könnte ein inkulpierender Verdacht
überhaupt nicht entstehen. Aber der Wille, einen Verdächtigen als Beschul-
digten zu verfolgen, ist keineswegs unbedingt erforderlich.
Statistisch gesehen sind sicher die Fälle der ausdrücklichen und der kon-
kludenten Inkulpation die häufigsten. Da sie aber kaum Probleme bereiten,
steht in der forensischen Praxis die Verdachtsinkulpation im Vordergrund.
Es ist deshalb nicht zutreffend, wenn Rogall sagt,37 "dass die Inkulpation
ein prozessualer Gestaltungsakt ist, der allein in der Kompetenz des zustän-
digen Organs liegt". Denn auf diese Weise wird die Praxis bei den Schwie-
rigkeiten, die die Verdachtsinkulpation mit sich bringt, im Stich gelassen.
Mustert man die in den letzten 20 Jahren entschiedenen Fälle,38 so stehen
zwei verschiedene Sachverhaltstypen im Vordergrund: Auf der einen Seite
handelt es sich um Tötungsdelikte, bei denen Vermisstensachen auffallend
häufig sind,39 auf der anderen Seite geht es um Fälle strafbaren Verkehrs-
verhaltens, bei denen ein Polizist nach der Haltereigenschaft oder einem
Alkoholkonsum fragt. 40
Bei der ersten Fallgruppe lässt sich verallgemeinernd sagen, dass eine Be-
schuldigtenbelehrung noch nicht erforderlich ist, solange die Leiche noch
nicht gefunden ist. Auch wenn dies der Fall ist, genügt kriminalistische
Erfahrung noch nicht zum Übergang von der Zeugen- zur Beschuldigten-
vernehmung. Es müssen konkrete Indizien hinzutreten, die eine Täterschaft
des Vernommenen wahrscheinlich machen. 41 Das ist ein verhältnismäßig
gut handhabbarer Maßstab. Dass gleichwohl wegen faktischer Inkulpation
belehrt werden muss, wenn die Vernehmungsbeamten sich auf Grund ihrer
kriminalistischen Erfahrung hinreißen lassen, einen Vernommenen vor
Auffindung der Leiche und ohne handfeste Indizien als wahrscheinlichen
Täter zu behandeln, hat BGHSt 51, 367 grundlegend klargestellt.

36 Rogafl (Fn. 7), S. 27.


37 Rogafl (Fn. 32), 400.
38 Der Text enthält nur besonders anschauliche Beispiele~ eine gute Zusammenstellung der
Entscheidungen findet sich bei Geppert (Fn. 3), S. 677, Anm. 7.
39 Dazu gehören BGHSt 37,48; BGH NStZ-RR 2002,67; BGHSt 51, 367.
40 Zur Haltereigenschaft BGHSt 38, 214 ff.; AG Bayreuth NZV 2003, 202. Zur Frage nach
Alkohol BayObLG NZV 2003, 435; dazu Th. Heinrich NZV 2004, 159 f.
41 BGH NStZ-RR 2004,368 f.
836 Claus Roxin

Bei der zweiten Fallgruppe hat sich die Meinung durchgesetzt, dass bei
Verkehrsdelikten vor der Frage nach der Haltereigenschaft immer belehrt
werden muss. In BGHSt 38, 227 heißt es im Anschluss an das vorlegende
OLG, "dass eine Beschuldigtenvernehmung spätestens zu dem Zeitpunkt
vorlag, als R. den Angeklagten danach fragte, ob er das Unfallfahrzeug
geführt hatte". Richtigerweise war in diesem Fall mit Geppert42 schon vor
der vorhergehenden Frage, ob der Betroffene mit dem Inhaber des im Un-
fallwagen gefundenen Führerscheins identisch sei, zu belehren gewesen.
Denn angesichts der Umstände des konkreten Falles (falsche Namensanga-
be, Personenähnlichkeit mit dem Bild im Führerschein) kam schon die Fra-
ge nach der Identität einer Frage nach der Haltereigenschaft gleich. Eine
besondere Begründung für die Notwendigkeit einer Belehrung gibt der
BGH nicht. Sie liegt aber auf der Hand und wird vom AG Bayreuth43 nach-
geliefert. Die Belehrung sei zwingend, "weil auf Grund der Haltereigen-
schaft die Fahrzeugführereigenschaft naheliegt und sich daher der Beschul-
digtenkreis derart verdichtet, dass der Halter zum Zeitpunkt der Befragung
bereits als potentieller Täter in Betracht kommt."
Bei der polizeilichen Frage an einen Autofahrer nach seinem Alkoholge-
nuss sollte außer Streit stehen, dass eine Belehrung erforderlich ist, wenn
signifikante andere Auffalligkeiten (z.B. das Fahren von Schlangenlinien)
hinzutreten. Für den Fall einer verdachtsunabhängigen Verkehrs-
Alkoholkontrolle meint allerdings das BayOLG,44 dass ein festgestellter
Alkoholgeruch im Fahrzeug noch nicht ausreiche, "Fragen des Polizeibeam-
ten nach der Herkunft des Alkoholgeruchs als ,Vernehmung' des Fahrers
mit entsprechender vorheriger Belehrungspflicht zu bewerten". Zur Be-
gründung wird lediglich ausgeführt, der Alkoholgeruch im Auto könne
"durchaus auch andere Ursachen haben als eine die Grenzen des § 24a
Abs. 1 StVG überschreitende Alkoholisierung des Fahrers". Welche Gründe
das etwa sein könnten, wird nicht mitgeteilt. Geppert45 stimmt dem zu mit
der Begründung, dass der Alkoholgeruch zur Annahme einer "grenzwert-
überschreitenden Alkoholisierung" noch nicht ausreiche.
Dem ist aber zu widersprechen. 46 Wenn das BayObLG meint, der Beamte
habe nur "im Fahrzeug" und nicht etwa "in der Atemluft des Betroffenen"
Alkoholgeruch festgestellt, so ist das eine wenig plausible Unterscheidung,
weil es äußerst nahe liegt, dass der Alkoholgeruch im Auto der "Atemluft"

42 Geppert (Fn. 3), S. 686.


43 NZV 2003, 202 m. Anm. Th. Heinrich.
44 BayObLG NZV 2003, 435.
45 Geppert (Fn. 3), S. 688.
46 AbI. auch Th. Heinrich NZV 2004, 159 f.
Zur Beschuldigteneigenschaft im Strafprozess 837

des Fahrers entstammt47 und weil die "Atemluft" von der "Autoluft" kaum
zu unterscheiden sein dürfte.
Geppert ist entgegenzuhalten, dass ein noch erlaubter Alkoholkonsum,
der weniger als 0,25 mg/l Alkohol in der Atemluft ausweist (§ 24a Abs. 1
StVG) schwerlich einen Alkoholgeruch im ganzen Auto verbreitet und dass
in einem solchen Fall eine Grenzwertüberschreitung jedenfalls wahrschein-
lich sein wird.
Praktisch dürfte die Frage nach der Belehrungspflicht bei der "Frage nach
Alkohol" freilich weniger bedeutsam sein als sonst. Denn der Alkoholge-
ruch wird immer zu einem Atemalkoholtest und erforderlichenfalls einer
Anordnung nach § 81 a StPO ruhren, einerlei, ob der Betroffene belehrt
worden ist oder nicht und ob er mit oder ohne Belehrung geschwiegen,
gelogen oder die Wahrheit gesagt hat.
Die Bedeutung, die der Verdachtsinkulpation in der forensischen Praxis
zukommt, zeigt sich auch darin, dass der Grad des Verdachts zur Begrün-
dung der Beschuldigteneigenschaft selbst dann herangezogen wird, wenn
auch auf den erkennbaren Verfolgungswillen der Ermittlungsbeamten abge-
stellt werden könnte. Denn wenn sich die Indizien so verdichten, dass ein
Betroffener als wahrscheinlicher Täter angesehen werden muss, wird das in
der Regel - nicht notwendig - auch in dem Verhalten des Vernehmungsbe-
amten "nach außen" sichtbar. Auf eine derartige "faktische Inkulpation"
stützt sich die Rechtsprechung aber nur dann, wenn die Verdachtslage als
solche eine Inkulpation noch nicht nach sich zieht. Auch darin zeigt sich,
dass man die Bedeutung der Verdachtsstärke rur die Begründung der Be-
schuldigteneigenschaft nicht unterschätzen oder relativieren darf. Sie ist
keine "Inkonsequenz", sondern ein Kernelement des Beschuldigtenstatus.

VII. Schluss
Es zeigt sich also, dass die Schöpfer der Strafprozessordnung recht hatten,
als sie meinten, dass es einen einheitlichen Beschuldigtenbegriff nicht ge-
ben könne. Eine Definition des "Beschuldigten", die von stets gleichen
Begriffsmerkmalen ausgeht, ist unmöglich, weil der Beschuldigtenbegriff
nach den Schutzbedürfnissen der Betroffenen bestimmt \verden muss und
diese an unterschiedliche Prozesssituationen anknüpfen. Doch lassen sich
mit den vier vorstehend geschilderten Inkulpationsformen die in der Praxis
wichtigen Sachverhalte recht gut und genau erfassen.
Während die ausdrückliche und die konkludente Inkulpation auf einem
Willensakt der Strafverfolgungsbehörde beruhen, sind die faktische Inkul-

47 So auch Th. Heinrich (Fn. 46).


838 Claus Roxin

pation und die Verdachtsinkulpation Produkte einer Zuschreibung. Bei der


faktischen Inkulpation ist zwar ein Verfolgungswille erkennbar, aber es
fehlt der Wille zur Schaffung eines Beschuldigtenstatus. Ein "prozessualer
Gestaltungsakt" kann die faktische Inkulpation schon deshalb nicht sein,
weil die insoweit maßgebende "Art und Weise der Vernehmung" keine
statusschaffende Einzelhandlung, sondern eine Deutung des Gesamtverhal-
tens der Ermitllungsbehörden ist.
Damit bin ich am Ende meiner Abhandlung, die ich Heinz Schäch mit
herzlichen Glückwünschen zum 70. Geburtstag in alter und immer wieder
neuer Freundschaft verehrungsvoll darbringe. Seit ich ihn vor mehr als 25
Jahren kennen gelernt habe (ich glaube, es war auf der Strafrechtslehrerta-
gung in Bern), haben wir vieles gemeinsam gemacht: Alternativ-Entwürfe,
aber auch - mit unseren Frauen - Wanderungen und Geselligkeiten. Heinz
Schäch gehört zu den nicht allzu häufigen Professoren, die eine Lieblings-
beschäftigung darin sehen, anderen Kollegen Gutes zu tun. Das habe ich an
mir selbst in reichem Maße erfahren, und ich werde ihm dafür immer dank-
bar sein. Ich wünsche ihm Glück, Gesundheit und Schaffenskraft für viele
Jahre und freue mich auf unsere weitere Münchener Zeit.
Entwicklungen der Untersuchungshaft
aus rechtstatsächlicher und rechtspolitischer
Perspektive

JÖRG-MARTIN JEHLE

I. Vorbemerkung
Heinz Schöch hat sich seit Jahrzehnten immer wieder rechtstatsächlich
und rechtspolitisch mit Untersuchungshaft befasst. So leitete er im Auftrag
des Bundesjustizministeriums zusammen mit Hans-Ludwig Schreiber in
den 1980er Jahren ein bundesweit angelegtes Forschungsprojekt, welches
die Haftpraxis des Jahres 1981 untersuchte. l In den 1990er Jahren evaluierte
er das Hessische Modellprojekt mit dem Titel "Entschädigung von Anwäl-
ten für die Rechtsberatung von Untersuchungsgefangenen", welches das
Ziel der Untersuchungshaftvermeidung durch frühe Strafverteidigung ver-
folgte. 2 Hierauf konnte das Hannoveraner Projekt "Vermeidung und Ver-
kürzung von Untersuchungshaft durch frühzeitige Strafverteidigung" auf-
bauen. 3 Zuletzt hat er sich auf der Basis dieser Erfahrungen sachverständig
vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages zum Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts geäußert. 4 Das Ergeb-
nis dürfte ihn insofern befriedigt haben, als die frühzeitige Pflichtverteidi-
gung für Untersuchungshaftgefangene, die der Gesetzentwurf der Bundes-
regierung nicht vorgesehen hatte, in § 140 Abs. 1 Nr. 4 in die StPO auf-

1 S. Schäch Wird in der Bundesrepublik Deutschland zu viel verhaftet? Versuch einer Stand-
ortbeschreibung anhand nationaler und internationaler Statistiken, FS Lackner, 1987, S. 991 ff.~
Gebauer Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik Deutschland,
1987; zum im Zuges dieses Projekts durchgeführten Part zur Haftpraxis in Niedersachsen Jabel
Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in Niedersachsen, 1988.
2 Schäch Der Einfluss der Strafverteidigung auf den Verlauf der Untersuchungshaft, 1997.
3 Jehle in: Schöch/Jehle (Hrsg.), Angewandte Kriminologie zwischen Freiheit und Sicher-
heit, 2004, S. 39 ff.; JehlelBossow BewHi 2002, 73 ff.; Busse Frühe Strafverteidigung und
Untersuchungshaft, 2008; BusselHohmann in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Sicher-
heit durch Strafe?, 2003, S. 157 ff.
4 Schäch Schriftliche Stellungnahme für die öffentliche Anhörung des Rechtsausschusses
des Deutschen Bundestages am 22. April 2009 zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Untersuchungshaftrechts - BT-Drs. 16111644.
840 Jörg-Martin Jehle

genommen wurde und die Beschränkungen im Untersuchungshaftvollzug


nach dem neuen § 119 StPO nur auf den konkreten Haftgrund gestützt wer-
den dürfen.
So liegt es nahe, Heinz Schäch einen Beitrag zur Untersuchungshaft zu
widmen, zumal er zusammen mit dem Kollegen Frieder Dünkel und dem
Autor den von der Volkswagen Stiftung geförderten Forschungsverbund
zum Thema Haftvermeidung 5 mit den drei großen Evaluationsforschungen:
Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen mittels gemeinnütziger Arbeit, 6
Haftvermeidung durch frühe Strafverteidigung7 und Schadenswiedergutma-
chung über anwaltliche Schlichtungsstellen, 8 betrieben hat.
Eingebettet in einen Überblick über die Entwicklung der Untersuchungs-
haft in den letzten Jahrzehnten sollen zwei Aspekte näher betrachtet wer-
den: die Haftvermeidung durch frühe Strafverteidigung und der Untersu-
chungshaftvollzug.

11. Kriminalpolitischer Hintergrund


Ein bekanntes Wort lautet: Das Strafverfahrensrecht ist der Seismograph
der Staatsverfassung. 9 Dies gilt in besonderer Weise fiir das strafprozessuale
Zwangsmittel der Untersuchungshaft. Wie nirgends sonst drückt sich hier
der Konflikt zwischen kriminalpolitischer Effektivität und rechtsstaatlichem
Individualschutz aus. Die Interessen einer funktionstüchtigen Strafrechts-
pflege und effektiven Strafverfolgung stehen aus rechtsstaatlichen Geboten
der Unschuldsvermutung und Verhältnismäßigkeit gegenüber. Der jeweils
historisch gefundene Ausgleich zwischen beiden Seiten bleibt stets prekär,
ist nie unumstritten. Dementsprechend ist die Geschichte der Untersu-
chungshaft geprägt von widerstreitenden kriminalpolitischen Bestrebungen
restriktiver und extensiver Tendenz, von denen einmal die eine, ein anderes
Mal die andere Seite mehr zum Zuge kommt.
Besondere Aufmerksamkeit erlangte die Untersuchungshaft zu Beginn
der 1980er Jahre, als hohe Haftzahlen und eine starke Überbelegung die
Vollzugsanstalten belasteten. Damit verbunden wurde eine vom Deutschen
Anwaltverein angestoßene kriminalpolitische Diskussion über die Begren-
zung der Untersuchungshaft geführt, die seitens der Wissenschaft und der

5 S. Schöch/Jehle (Fn. 3).


6 S. Dünkel/Scheel in: Schöch/Jehle (Fn. 3), S. 19 ff.
7 S. Fn. 3.
8 Schöch Schadenswiedergutmachung über anwaltliche Schlichtungsstellen. Das Münchner
Modellprojekt, in: Schöch/Jehle (Fn. 3), S. 71 tI.~ Götting Schadenswiedergutmachung im
Strafverfahren, 2004~ Kaspar Wiedergutmachung und Mediation im Strafrecht, 2004.
9 Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 26. Autl. 2009, § 2 Rn 1.
Entwicklungen der Untersuchungshaft 841

Rechtspolitik zu Gesetzentwürfen führte. Die Justizverwaltungen reagierten,


indem sie an verschiedenen Orten Modellprojekte zur Haftvermeidung
einrichteten. Zur gleichen Zeit geriet auch der Vollzug der Untersuchungs-
haft ins Blickfeld; auch dazu wurden verschiedene Gesetzentwürfe vorge-
legt. Schließlich haben sich auch die rechtswissenschaftliche und krimino-
logische Forschung der Haftvoraussetzungen und des Haftvollzugs
angenommen. lO Indessen trat im Gefolge dieser Diskussion eine drastische
Verringerung der Haftzahlen und damit auch eine Entspannung im Haft-
vollzug ein; die kriminalpolitische Dringlichkeit verringerte sich, so dass
die rechtspolitischen Vorhaben zur Regelung der Haftvoraussetzungen und
des Haftvollzugs nicht über Referenten- bzw. Arbeitsentwürfe des Bundes-
justizministeriums hinausgelangten.
Die Situation änderte sich allerdings wieder im Gefolge der Deutschen
Einheit und der Öffnung der Grenzen zu Osteuropa. Es kam zu einer enor-
men Wanderungsbewegung von Ost nach West. Zudem stiegen die Zahlen
von Aussiedlern und Asylbewerbern. Dass diese Veränderungen auch Aus-
wirkungen auf die Strafjustiz hatten, versteht sich von selbst, und mit stei-
genden Verhaftungszahlen verschärfte sich das Problem wieder. ll
1996 präsentierte das Bundesjustizministerium einen Referentenentwurf12
eines Untersuchungshaftvollzugsgesetzes, dem erstmalig in der Geschichte
Deutschlands ein von der Bundesregierung vorgelegter Entwurf für ein
Gesetz zur Regelung des Vollzugs der Untersuchungshaft folgte. 13 Zu einer
gesetzlichen Regelung führte dies indes nicht. Hierzu kann. es erst im Zuge
der Föderalismusreform (s.u. VII!.).

111. Entwicklung der Haftzahlen


Betrachtet man die Entwicklung der Untersuchungshaftpopulation im Jus-
tizvollzug der alten Bundesländer, zeigt die Strafvollzugsstatistik eine wel-
lenförmige Auf- und Abbewegung mit Höhepunkten Anfang der 1980er
und Anfang der 1990er Jahre: Nach einem kontinuierlichen leichten Absin-

10 S. z.B. Schöch (Fn. 1), S. 991 ff.; Jehle Untersuchungshaft zwischen Unschuldsvermu-
tung und Wiedereingliederung, 1985; Seebode Der Vollzug der Untersuchungshaft, 1985;
Baumann Entwurf eines Untersuchungshaftvollzugsgesetzes, 1981; Arbeitskreis Strafprozess-
reform Die Untersuchungshaft. Gesetzentwurf mit Begründung, 1983; Jung/Müller-Dietz
(Hrsg.), Reform der Untersuchungshaft. Vorschläge und Materialien, 1983.
11 Ausführlich dazu Jehle Entwicklung der Untersuchungshaft bei Jugendlichen und Heran-
wachsenden vor und nach der Wiedervereinigung, 1995, S. 24 f.
12 Vgl. dazu Seebode in: v. Koop/Klappenberg (Hrsg;), Untersuchungshaft - eine vergesse-
ne Reform?, 1998, S. 14 ff.
13 BR-Drs. 249/99.
842 Jörg-Martin Jehle

ken der Zahlen bis zum Jahr 1978 schnellten diese bis 1982 wieder hoch auf
den bis dahin höchsten Nachkriegsstand (16.500 Untersuchungshäftlinge).
Die darauf folgende Abwärtsbewegung schlug Ende der 1980er Jahre wie-
derum in einen Aufwärtstrend um, der sich zunächst langsam, dann rapide
bis zu einem bis dahin nicht da gewesenen Höchststand Mitte der 1990er
Jahre steigerte (für das alte Bundesgebiet ink!. Gesamtberlin waren es
1993: 18.895; rur Gesamtdeutschland 1995: 20.959 Inhaftierte). Seither sind
die Belegungszahlen wieder enorm gesunken auf 11.178 (Gesamtdeutsch-
land) am 31.08.2009. Ob dies "auf Maßnahmen der Haftvermeidung" zu-
rückzuruhren ist, wie das Statistische Bundesamt 14 vermutet, oder eher auf
einer veränderten Anordnungspraxis infolge einer entspannteren kriminal-
politischen Lage beruht, muss offen bleiben. Für die neuen Bundesländer
gilt zu konstatieren, dass sich die Zahlen hier - gemessen an der Bevölke-
rungszahl - insgesamt auf einem deutlich niedrigeren Niveau bewegen, am
31.08.2009 waren es nur 1.197 Untersuchungshäftlinge.
In etwa parallel zur Entwicklung der Zahlen der Untersuchungsgefange-
nen geht nach der Strafverfolgungsstatistik die Zahl der Abgeurteilten, die
vor der Aburteilung in Untersuchungshaft waren, bis zum Jahr 1979 leicht
zurück, um dann bis zu einem vorläufigen Höchststand im Jahr 1982 stark
anzusteigen (42.324 Abgeurteilte, die zuvor in Untersuchungshaft waren).
Nach einem erneuten Rückgang in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre kam
es seit 1990 wieder zu einem Anstieg. Seit 1998 sind die Zahlen rückläufig.
Im Jahr 2008 waren nur noch 29.532 Abgeurteilte zuvor in Untersuchungs-
haft. 15
Diese Schwankungen der Untersuchungshaftzahlen lassen sich - wie be-
reits Schäch in seiner Untersuchung 1997 aufgezeigt hat 16 - nicht mit ge-
setzgeberischen Veränderungen erklären; auch die Strafrechtspraxis weist
im Übrigen keine derartigen Schwankungen auf. 17 Allgemein wird ange-
nommen, dass der stete Rückgang bei unveränderter Gesetzeslage zwischen
1982 und 1986 auf ein verändertes kriminalpolitisches Klima zurückzufüh-
ren war. Der Druck überfüllter Haftanstalten und die heftig geführte Dis-
kussion, ob zu viel und zu lange verhaftet werde, habe diesen Rückgang
bewirkt. 18 Für die seit 1989 steigenden Verhaftungszahlen wurde vermutet,
dass sie sich im Wesentlichen aus der Zuwanderung und verstärkten Reise-

14 So die Aussage des Statistischen Bundesamtes, in: Justiz auf einen Blick, 2008, S. 33.
15 Diese Zahlen beziehen sich nur auf das alte Bundesgebiet einschließlich Gesamtberlin.
16 Schäch (Fn. 2), S. 15 f.
17 Vgl. Jehle (Fn. 10), S. 34 ff; ders. in: ders. (Hrsg.), Individualprävention und Strafzu-
messung, 1992, S. 349 ff; Gebauer (Fn. 1), S. 49 ff.
18 Schäch Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik Deutsch-
land, in: Schuh (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Straf- und Maßregelvollzugs, 1987, S. 61 f;
Geiler Untersuchungshaft in Nordrhein-Westfalen, 1998, S. 54 f
Entwicklungen der Untersuchungshaft 843

tätigkeit im Zuge der deutschen Wiedervereinigung und der Öffnung der


Grenzen zu Osteuropa, aber auch aus der veränderten Kriminalitätsstruktur
erklären lassen. 19
Insgesamt zeigt die langfristige Entwicklung der Haftzahlen, dass es of-
fenbar erhebliche Beurteilungsspielräume gibt, wann die Anordnung von
Untersuchungshaft erforderlich ist; hierbei wird ersichtlich die Verhaf-
tungspraxis vom jeweiligen kriminalpolitischen Klima mit beeinflusst.

IV. Empirische Befunde zu den Haftvoraussetzungen


Sieht man sich die Haftvoraussetzungen genau an, so fordern sie durch-
weg Prognosen bzw. Erwartungen. Der Beschuldigte muss der Tat dringend
verdächtig sein, ein Haftgrund, z.B. Fluchtgefahr, muss bestehen
(§ 112 Abs. 1 S. 1 StPO) und die Anordnung darf nicht unverhältnismäßig
sein (§ 112 Abs. 1 S.2 StPO). Dem dringenden Tatverdacht liegt die An-
nahme zugrunde, dass der Beschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit ver-
urteilt wird. Die Haftgründe der Flucht-, Verdunkelungs- und Wiederho-
lungsgefahr setzen die Erwartung voraus, der Beschuldigte werde sich ohne
Untersuchungshaft dem Verfahren entziehen, die Beweisführung beein-
trächtigen oder weitere einschlägige Straftaten begehen. Schließlich erfor-
dert die Verhältnismäßigkeit einerseits die Annahme, dass weniger ein-
schneidende Maßnahmen nicht ausreichen werden, den genannten Gefahren
zu begegnen, und andererseits die Erwartung einer bestimmten Rechtsfolge,
in der Regel einer freiheitsentziehenden Sanktion. Ob diese Annahmen in
der Praxis richtig getroffen worden sind oder aufgrund fehlerhafter Annah-
men zuviel verhaftet wird, wie nicht selten behauptet wird, lässt sich nicht
präzise untersuchen, aber die einschlägigen Statistiken und empirische For-
schungen geben einige Hinweise.

1. Dringender Tatverdacht
Der dringende Tatverdacht als erste Voraussetzung dürfte in der Praxis
ganz überwiegend zu Recht angenommen, wenn auch selten eigens begrün-
det werden. Nach der Strafverfolgungsstatistik (2008) liegen gerichtliche
Freisprüche und Einstellungen bei 3 %. Nach einer bundesweiten Aktenun-
tersuchung in den 80er Jahren, die auch die statistisch nicht ausgewiesenen
Einstellungen, insbesondere auch §§ 170 Abs. 2, 153, 153a und 154 StPO,

19 Vgl. dazu H-J. Albrecht FS G. Kaiser, 1998, S. 1137 ff.; Jehle (Fn. 11).
844 Jörg-Martin Jehle

berücksichtigt hat, ergab sich allerdings eine Quote von etwa 10 % nicht
verurteilter Untersuchungsgefangener. 20

2. Haftgründe
Betrachtet man die prozentuale Verteilung der Haftgründe, ist zu beden-
ken, dass auch mehrere Verhaftungsgründe nebeneinander möglich sind und
dass deshalb das Gesamt der Haftgründe mehr als 100 % ergibt. 21 Als wich-
tigster, ganz dominierender Haftgrund mit 93,1 % ist die Flucht oder
Fluchtgefahr zu verzeichnen, gefolgt von der Wiederholungsgefahr, die nur
9,3 % ausmacht; noch seltener mit 5,9 % ist der Haftgrund der Verdunke-
lungsgefahr, d.h. die Gefahr, dass Beweismittel manipuliert oder Zeugen
beeinflusst werden (§ 112 Abs. 2 StPO). Am geringsten ist die Zahl der
Fälle, in denen Schwerstkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO) die Haft begrün-
det, mit 4,6 %. Wiederholungs- und Verdunkelungsgefahr sowie die Tat-
schwere entfalten als alleiniger Haftgrund jeweils aber nur geringe quantita-
tive Bedeutung. Ein "Zuviel" an Verhaftungen wird man ehesten im
Bereich der Fluchtgefahr vermuten dürfen.
Was die Haftbegründungen bei Fluchtgefahr angeht, fällt auf, dass neben
der bekannten Begründung mit mangelnden sozialen Bindungen häufig -
überwiegend formelhaft - eine hohe Straferwartung herangezogen wird,
zum Teil sogar als einzige Begründung. 22 Allerdings endeten die Verfahren
selbst in letzteren Fällen nur bei zwei Dritteln mit vollstreckbarer Freiheits-
strafe. 23 Diese falschen Erwartungen beruhen wohl teilweise auf einem
defizitären Erkenntnisstand der Ermittlungen zum Zeitpunkt der Haftent-
scheidung sowie auf unzureichenden Ermittlungen. Dennoch liegen zumeist
erhebliche soziale Auffälligkeiten vor. Nach einer Befragung von Untersu-
chungsgefangenen bestanden einzeln oder kumulativ bei den meisten (über
80 %) entsprechende Auffälligkeiten, wie fehlender Wohnsitz, Arbeitslo-
sigkeit oder mangelnde Einbindung in Ehe oder Familie. 24 Freilich besagt
dies noch nichts darüber, ob sich die Betroffenen tatsächlich dem Verfahren
entziehen werden. Die Anlassdelikte sind in fast drei Vierteln aller Fälle
dem Bereich der mittleren bis schweren Kriminalität zuzuordnen. Bei einem

20 Gebauer (Fn. 1), S. 149; in der Hannoveraner Studie ergab sich, dass 6 % der Verfah-
rensausgänge auf Einstellung und Freispruch lauteten, Busse (Fn. 3), S. 216.
21 Alle Zahlen aus Jehle Strafrechtspflege in Deutschland, 5. Aufl. 2009, S. 20 f.
22 Krit. dazu Volk Haftbefehle und ihre Begründungen, 1995, S. 73 ff., 126 ff. m.w.N.; zur
Fluchtgefahr bei Beschuldigten mit ausländischenl Wohnsitz: Grau NStZ 2007, 10;
Roxin/Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 8.
23 Nach Gebauer (Fn. 1) ergingen 18 % der Haftbefehle in Bagatellsachen (z.B. Verstöße
gegen das Ausländergesetz oder § 265a StGB), S. 234 ff.
24 Vgl. Jehle (Fn. 10), S. 150 ff.; ders. KrimPäd 1987,33 ff.; vgl. auch Busse (Fn. 3), S. 180.
Entwicklungen der Untersuchungshaft 845

Viertel der Fälle fällt das schwerste Delikt, welches dem Beschuldigten im
Haftbefehl vorgeworfen wurde, allerdings in den Bereich der einfachen
Kriminalität; 7 % verbleiben im Bereich der Bagatelldelikte. 25 Es gibt An-
zeichen, dass in Zeiten des Rückgangs der Verhaftungen der Anteil kurzer
Haftzeiten sinkt, dass also in minder schweren Strafsachen weniger schnell
verhaftet wird. So beträgt der Anteil der Untersuchungshaft bis 1 Monat
1998 noch 34 %, im Jahr 2008 nur mehr 28 0/0.
Neben fehlerhaften Haftbegründungen könnte sich ein Zuviel von Verhaf-
tungen auch daraus ergeben, dass sich hinter dem offiziellen Haftgrund
Fluchtgefahr andere Haftgründe verbergen, die entweder schwer zu begrün-
den oder aber gesetzlich gar nicht vorgesehen, also apokryphe Haftgründe
sind. So könnte man zu der Annahme gelangen, dass "die Gründe des Haft-
richters nicht seine Motive" sind und dass die Untersuchungshaft bei Ju-
gendlichen und Heranwachsenden oft als "Krisenintervention", "Erzie-
hungsmaßnahme oder vorweggenommene Jugendstrafe" verstanden wird. 26
Nicht zu übersehen sind die Schwierigkeiten des Richters, der die Notwen-
digkeit sieht, einen Gungen) Straftäter aus seiner ungünstigen Umgebung
herauszunehmen, oder der die Aussetzung zur Bewährung nicht ohne jede
Verbüßungserfahrung verantworten will. Nur: Hierzu ist die Untersu-
chungshaft nicht da. Dennoch stehen auch in der Praxis Polizei, Staatsan-
waltschaft und Richter nicht durchweg ablehnend solchen apokryphen Er-
wägungen gegenüber, obwohl sie nach Gebauer keine dominante Rolle
spielen, während Hilger ihnen eine nicht unerhebliche Rolle zuspricht. 27

3. Verhältnismäßigkeit/Straferwartung
Die Verhältnismäßigkeit im eigentlichen Sinne betrifft die Frage, ob die
Untersuchungshaft, obgleich geeignet und erforderlich, dennoch nicht an-
geordnet werden darf, weil dies zur Bedeutung der Sache und der erwarte-
ten Sanktion außer Verhältnis stünde. Maßstab nach § 112 Abs. 1 S. 2 StPO
bildet im Wesentlichen die Rechtsfolgenerwartung. Unverhältnismäßigkeit
ist immer dann anzunehmen, wenn die Dauer der Untersuchungshaft die
Dauer der Freiheitsstrafe bzw. die Anzahl der Tagessätze einer Geldstrafe
überschreitet, was relativ selten der Fall ist. 28 Umstritten ist indes, ob grund-
sätzlich bei zu erwartender Geldstrafe oder Bewährungsstrafe die Untersu-
chungshaft unverhältnismäßig ist. Aus der obergerichtlichen Rechtspre-

25 Busse (Fn. 3), S. 180.


26 So schon Schub DVJJ-JoumaII981, 399 ff.
27 Gebauer (Fn. 1), S. 333 ff.~ LR-Hilger StPO, Bd. 4,26. Aufl. 2007, § 112 Rn. 54.
28 In 2008: 2.259 von 29.532 Fällen, Statistisches Bundesamt, Strafverfolgungsstatistik
2008, Fachserie 10 Reihe 3, Tab. 6.1.
846 Jörg-Martin Jehle

chung und der Kommentarliteratur lässt sich als wohl herrschende Ausle-
gung herauslesen, dass Untersuchungshaft nur ausnahmsweise verhältnis-
mäßig ist, wenn eine Bewährungs- oder Geldstrafe zu erwarten ist. 29 Auch
wenn man in Rechnung stellt, dass zu Anfang des Verfahrens die Strafer-
wartung naturgemäß unsicher ist, wird man mit Blick auf die beträchtliche
Quote von Bewährungsstrafe (32 %) und Geldstrafe (8 %)30 nicht behaupten
können, dass dieser Ausnahmecharakter gewahrt ist. Immerhin ist positiv zu
vermerken, dass die Anteile von Geldstrafe und Bewährungsstrafe seit 1998
deutlich gesunken sind.

4. Spezifische Verhaftungsrisiken
Ganz allgemein findet unter den Beschuldigten eine große Auslese statt:
Nur weniger als 3 % der später Abgeurteilten werden im Laufe des Strafver-
fahrens verhaftet. Was die Anlassdelikte angeht, so findet sich ein delikts-
spezifisches Verhaftungsrisiko, das sich aber weitgehend mit der Schwere
der Taten erklären lässt: je schwerer die Tat, desto höher das Haftrisiko.
Eine Besonderheit bieten die Drogendelikte; dort ist das Haftrisiko deutlich
erhöht. Frauen dagegen spielen nur eine geringe Rolle, sie stellen knapp
7 % der Abgeurteilten mit Untersuchungshaft. 31
Was das Haftrisiko bestimmter Personengruppen angeht, so hat eine Son-
derauswertung ergeben, dass Heranwachsende unter den Abgeurteilten mit
Untersuchungshaft bezogen auf ihren Anteil an der Wohnbevölkerung deut-
lich überrepräsentiert sind. Jugendliche und Heranwachsende sind zusam-
mengenommen unter Untersuchungsgefangenen stärker vertreten als unter
Strafgefangenen, außerdem werden sie in geringerem Maße zu vollstreckba-
ren Jugend- bzw. Freiheitsstrafen verurteilt als Erwachsene. Insoweit könnte
es tatsächlich einen gewissen Anhaltspunkt für den behaupteten apokryphen
Haftgrund der Krisenintervention geben. 32 Als eine spezifische Klientel gilt
die Gruppe der jungen Untersuchungsgefangenen, die neben der Devianz
eine weitere starke psychische Vorbelastung aufweist. 33
Eine besonders bedeutsame Gruppe unter den Inhaftierten stellen die Aus-
länder. Eine bundesweite Statistik zur Ent,vicklung des Ausländeranteils in
Untersuchungshaft existiert bislang nicht. Jedoch zeigen einzelne Zahlen

29 Statt vieler Hilger (Fn. 27), § 112 Rn. 62~ KK-Graf StPO, 6. Autl. 2008, § 112 Rn. 50.
30 Bezogen auf Abgeurteilte mit Untersuchungshaft, Statistisches Bundesamt (Fn. 28),
Tab. 6.2.
31 Alle Zahlen aus Jehle (Fn. 21).
32 Ausführl. Jehle (Fn. 11), S. 38, 78 f.
33 C=erner Vorläufige Freiheitsentziehung bei delinquenten Jugendlichen zwischen Repres-
sion und Prävention, 2008, S. 299~ z.B. zur Problematik des ADHS-Syndroms s. Köh-
ler/Müller/Hinrichs ZJJ 2007,253, 255 f.~ Hosser/Jungmann/Zöllner ZJJ 2007, 244, 249 .
Entwicklungen der Untersuchungshaft 847

aus den verschiedenen Bundesländern eine deutliche Tendenz. Beispiels-


weise ist der Ausländeranteil in den Untersuchungshaftabteilungen der
niedersächsischen Justizvollzugsanstalten von 27 % im Jahr 1989 auf 68 %
im Jahr 1992 gestiegen. 34 Auch die Zahlen aus Hessen rangieren 1994 auf
diesem Niveau,35 am 31.03.2006 betrug der Anteil ausländischer Untersu-
chungsgefangener in Hessen noch immer 62 %.36 Fragt man nach den Grün-
den für dieses große Wachstum, ist zunächst an eine zunehmende "Auslän-
derkriminalität"37 zu denken. Seit 1998 verzeichnet die Polizeiliche
Kriminalstatistik allerdings einen Abwärtstrend bei den Zahlen nichtdeut-
scher Tatverdächtiger (2008: 471.067). Dasselbe gilt auch fur die Abgeur-
teilten nach der Strafverfolgungsstatistik; auch hier sind die Anteile von
Ausländern zwischen 1998 und 2008 (von 30 % auf 21 %) deutlich gesun-
ken. Dies könnte auch eine Folge davon sein, dass Migranten der zweiten
Generation zunehmend eingebürgert worden sind. Als Erklärung fur den
hohen Ausländeranteil bietet sich daher eher an, dass der Haftgrund der
Fluchtgefahr auf die Gruppe von Ausländern "passt", die in der Untersu-
chungshaft dominieren, nämlich männliche Illegale, Asylbewerber, Gedul-
dete und solche mit einem kurzen befristeten Aufenthalt. 38

v. Haftdauer
Die Kritik, es werde zuviel verhaftet, verbindet sich zumeist mit der Be-
hauptung, es werde zu lange verhaftet. 39 Eine Unverhältnismäßigkeit der
Untersuchungshaft kann auch durch ihre unangemessene Länge begründet
sein. Bezüglich der Haftdauer operiert das deutsche Strafverfahrensrecht
seit 1965 mit der komplexen Regelung des § 121 StPO, die die allgemeinen
Grundsätze der Verhältnismäßigkeit konkretisiert. Danach ist die Dauer der
Untersuchungshaft, solange kein auf Freiheitsentziehung lautendes Urteil
ergangen ist, grundsätzlich auf sechs Monate begrenzt. Unter den Voraus-
setzungen des § 121 StPO kann die Untersuchungshaft jedoch durch das

34 Schütze DVJJ-Joumal 1993, 381~ die Hannoveraner Studie zur Untersuchungshaft ergab
für 1998-2000 eine Ausländerquote von ca. 50 %, Busse (Fn.3), S. 148.
35 Staudinger in: Umwelt Kriminalität - Recht, Bd. 6,2001, S. 15 .
36 Hessisches Ministerium der Justiz Justizvollzug in Hessen, 2006, S. 10; anders sieht es in
den neuen Bundesländern aus; in Sachsen-Anhalt lag der Ausländeranteil in der Untersu-
chungshaft bei nur etwa 13 %, http://www.sachsen-anhalt.de. Jahresstatistik, Stand 31.12.2008.
37 Ausführl. SchöchlGebauer Ausländerkriminalität, 1991.
38 In der Hannoveraner Studie machten allein die Illegalen, Geduldeten bzw. Asylbewerber
etwa zwei Drittel der ausländischen Beschuldigten aus, Busse (Fn.3), S. 150.
39 Vgl. bereits die empirische Untersuchung von Carstensen Dauer von Untersuchungshaft,
1981, S. 62.
848 Jörg-Martin Jehle

Oberlandesgericht auch über sechs Monate hinaus aufrechterhalten werden.


Dieses Modell der Haftprüfung wird als wenig effektiv kritisiert. 40
Daten zur Untersuchungshaftdauer können der Strafverfolgungsstatistik
entnommen werden. Diese sind allerdings recht grob und für die Kriterien
des § 121 StPO zu ungenau, da weder Angaben dazu gemacht werden, in
welchem Verfahrensstadium die Untersuchungshaft angeordnet wurde,
noch wie lange mögliche Unterbrechungen der Untersuchungshaft (z.B. zur
anderweitigen Strafverbüßung) dauerten. Vor allem aber teilt die Strafver-
folgungsstatistik die Haftdauer in relativ grobe Gruppen (Dauer bis 1 Mo-
nat, 1-3 Monate, 3-6 Monate, 6-12 Monate und darüber) auf, eine exakte
Verteilung der Haftdauer lässt sich anhand dieser Daten nicht errechnen.
Betrachtet man anhand dieser groben Kategorien die Entwicklung der
Dauer der Untersuchungshaft der letzen 30 Jahre, wird klar, dass der Anteil
kurzer Haftzeiten (bis zu 3 Monate Haft), der bis Anfang der 1980er Jahre
fast zwei Drittel aller Haftzeiten ausmachte, deutlich auf 56 % im Jahr 1994
gesunken war. Nachdem er um die Jahrtausendwende noch einmal anstieg,
macht er 2008 nur noch die Hälfte aller Untersuchungshaftfalle aus. Dem
entsprechend haben die Anteile mittlerer (3-6 Monate) und längerer (über 6
Monate) Haftzeiten zugenommen. Der Rückgang sowohl der Verhaftungen
als auch der Inhaftierten liegt also vornehmlich im Bereich der kurzen Haft-
dauer; es wird bei leichteren Straftaten nicht mehr so schnell verhaftet.
Gleichwohl muss das seit langem bestehende hohe Niveau langer Haftzeiten
(2008: 7.063, das sind 24 % aller Abgeurteilten mit Untersuchungshaft),
Anlass dazu geben, über ein effektiveres Instrument der Haftkontrolle nach-
zudenken. 41

VI. Haftvermeidung und -verkürzung


Das geltende Recht kennt keine echte ambulante Alternative zur Untersu-
chungshaft, vielmehr setzt die Haftverschonung nach § 116 StPO zunächst
die Anordnung der Untersuchungshaft voraus. Soweit der Zweck der Unter-
suchungshaft es zulässt, kann oder muss der Vollzug des Haftbefehls dann
durch weniger einschneidende Maßnahmen ersetzt werden.
Darüber hinaus wurde im JGG ein eigenständiges Instrument ambulanter
Sicherung, das Vorrang vor der Untersuchungshaft hat, geschaffen. Nach

40 Vgl. Jehle/Hoch (Hrsg.), Oberlandesgerichtliche Kontrolle langer Untersuchungshaft,


1998; dazu auch das Wiesbadener Forschungsprojekt, das sich mit der Praxis der Haftkontrolle
durch die Gerichte und ihren Auswirkungen beschäftigt; Dessecker in: Lösel/BenderlJehle
(Hrsg.), Kriminologie und wissensbasierte Kriminalpolitik, 2007, S. 269 ff.; Kintzi DRiZ 2004,
348 ff.
41 S. Jehle/Hoch (Fn. 40); Dessecker (Fn. 40).
Entwicklungen der Untersuchungshaft 849

§ 72 Abs. 1 S. 1 JGG darf Untersuchungshaft nur dann verhängt werden,


wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung
oder durch andere Maßnahmen, insbesondere die einstweilige Unterbrin-
gung in einem Heim der Jugendgerichtshilfe, erreicht werden kann. Zusätz-
lich werden bei Jugendlichen unter 16 Jahren fur die Annahme von Flucht-
gefahr konkrete Fluchtindizien gefordert. Ferner ist nach § 72a JGG die
Jugendgerichtshilfe heranzuziehen und zwar soll ihr bereits der Erlass des
Haftbefehls mitgeteilt werden; jedenfalls ist sie unverzüglich von der Voll-
streckung des Haftbefehls zu unterrichten und berichtet beschleunigt über
das Ergebnis ihrer Nachforschungen. Die Rechtswirklichkeit sieht, trotz
dieser eindeutigen Gesetzeslage, jedoch prekär aus. Beispielsweise spielte
nach einer Untersuchung von Kowalzyck für nur etwa die Hälfte der in
Mecklenburg-Vorpommern fur Haftbefehle gegenüber Jugendlichen und
Heranwachsenden zuständigen Richter die Möglichkeit einer haftvermei-
denden Unterbringung eine Rolle. 42
Auch im Erwachsenenstrafrecht gilt - einer alten Forderung von Schöch 43
entsprechend - Haftvermeidung bzw. Haftverkürzung als Aufgabe der Ge-
richtshilfe. Da hier aber keine grundsätzliche Pflicht zur Beteiligung der
Gerichtshilfe besteht, bleibt es der jeweiligen Staatsanwaltschaft bzw. dem
Haftrichter überlassen, die Gerichtshilfe einzuschalten. Erschwerend kommt
die geringe personelle Kapazität hinzu, die ein flächendeckendes Tätigwer-
den der Gerichtshilfe in allen Haftfällen nicht zulässt.
Eine echte ambulante Alternative könnte in Zukunft der Einsatz der sog.
elektronischen Fuß/essel (in einigen europäischen Nachbarländern seit
langem zur Routine gehörend) bieten. Diese würde jederzeit die Standortbe-
stimmung des Beschuldigten sichern und könnte die Untersuchungshaft
wegen Fluchtgefahr teilweise ersetzen. So forderte auch der Deutsche An-
waltverein, die Auflagen des § 116 StPO, unter denen der Vollzug der Un-
tersuchungshaft ausgesetzt werden kann, ausdrücklich um die Möglichkeit
elektronischer Überwachung zu erweitern. 44 Bereits auf der Grundlage des

42 Kowalzyck DVJJ-Joumal 2002, 300, 305~ ders. Untersuchungshaft, Untersuchungshaft-


vermeidung und geschlossene Unterbringung bei Jugendlichen und Heranwachsenden in
Mecklenburg-Vorpommem, 2008~ weitere Studien vgl. Will DVJJ-Journal 1999,49, 51, lan-
desweite Evaluation in Thüringen; Staudinger (Fn. 35), S. 97 f.~ Volk Haftbefehle und ihre
Begründungen: Gesetzliche Anforderungen und praktische Umsetzung, 1995~ Weinknecht Die
Situation der Untersuchungshaft und der Unterbringung an Jugendlichen und Heranwachsen-
den: untersucht anhand von Strafakten der Jahrgänge 1980-1984 aus dem Landgerichtsbezirk
Kiel, 1988.
43 Schöch Die Gerichtshilfe aus kriminologischer und verfahrensrechtlicher Sicht, FS Lefe-
renz, 1983, S. 127 ff.
44 Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins durch den Strafrechtsausschuss zum Refe-
rentenentwurf für ein "Gesetz zur Überarbeitung des Untersuchungshaftrechts", S. 5: sehr krit.
zum bisherigen Umgang mit dieser Möglichkeit durch den Gesetzgeber: Dünkel StV 1994,
850 Jörg-Martin Jehle

geltenden § 116 StPO läuft seit einigen Jahren in Hessen ein Modellver-
such, der die elektronische Überwachung mit einer verstärkten sozialarbei-
terischen Betreuung verknüpft. Obwohl durchaus positiv evaluiert,45 wird
diese Möglichkeit in der Praxis - wohl aufgrund von grundsätzlichen Vor-
behalten seitens der beteiligten Justiz und Sozialarbeit - nur sehr einge-
schränkt wahrgenommen.

VII. Insbesondere: Notwendige Verteidigung


Die frühzeitige Beiordnung von Verteidigern bei Untersuchungshaft war
eine seit Jahrzehnten von Strafverteidigern erhobene Forderung. 46 Auch der
BGH hat schon 2001 hervorgehoben, dass die Staatsanwaltschaft, wenn sie
einen Haftbefehl wegen eines Verbrechens beantragt, auch die Stellung
eines Beiordnungsantrages zu erwägen habe. 47
Mit der Untersuchungshaftnovelle 2009 wurde der § 140 Abs. 1 Nr. 4
StPO neu gefasst. Damit ist nach langjährigen Reformforderungen zum
01.01.2010 - für den Fall von Untersuchungshaft (§§ 112, 112a StPO) oder
einstweiliger Unterbringung (§ 126a sowie § 275a Abs. 5 StPO) - die Ver-
teidigung vom ersten Tag der Vollstreckung an fur notwendig erklärt wor-
den. 48 Bisher war nach der StPO die Beiordnung eines Pflichtverteidigers
erst nach Ablauf von drei Monaten in Untersuchungshaft zwingend erfor-
derlich. Praktisch bedeutet das nun, dass die Beiordnung zusammen mit der
Verkündung des Haftbefehls durch das zuständige Amtsgericht zu erfolgen
hat, wobei der Untersuchungshäftling das Recht besitzt, einen Verteidiger
seiner Wahl beigeordnet zu bekommen. Mit der Neuregelung wird sicherge-
stellt, dass der Inhaftierte vom Beginn seiner Inhaftierung an wirksam seine
Rechte wahrnehmen kann.
Dass eine frühe Strafverteidigung haftverkürzende Effekte haben kann,
indizierte schon die wissenschaftliche Evaluationsstudie von Schöch zum
Hessischen Modellprojekt "Entschädigung von Anwälten fur die Rechtsbe-
ratung von Untersuchungsgefangenen"49 und konnte durch das von der

610; Münchhalffen/Gat~veiler Das Recht der Untersuchungshaft, 2009, Rn. 7 f; Ro-


xin/Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn 3.
45 H.-J. Albrecht in: Schäch/Jehle (Fn. 3), S. 109 ff m.w.N.
46 Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins durch den Strafrechtsausschuss zum Refe-
rentenentwurf für ein "Gesetz zur Überarbeitung des Untersuchungshaftrechts", Nr. 61/2008,
S.6.
47 BGHSt 47, 172 ff
48 Vgl. dazu Schöch (Fn. 4).
49 Schöch (Fn. 2).
Entwicklungen der Untersuchungshaft 851

Abteilung Kriminologie der Juristischen Fakultät Göttingen wissenschaft-


lich begleitete Modellproj ekt in der JVA Hannover nachgewiesen werden. 50
Anliegen des Hannoveraner Projekts war es, durch frühe Strafverteidi-
gung Haftvermeidung und -verkürzung zu bewirken und zugleich rechts-
staatliche Defizite zu beseitigen. Ausgangspunkt war, dass man in den ers-
ten drei Haftmonaten, insbesondere im ersten Haftrnonat, ein Defizit an
Strafverteidigung vermuten kann. Damit verband sich für das Praxisexperi-
ment die Erwartung, dass die Haftzeiten verkürzt werden können bzw. dass
Untersuchungshaft verstärkt vermieden werden kann, wenn auch der nicht
durch einen Wahl- oder Pflichtverteidiger vertretene Beschuldigte bereits zu
einem frühen Zeitpunkt einen Strafverteidiger erhält. Daher wurde während
des Praxisexperiments jedem unverteidigten Untersuchungsgefangenen in
der Justizvollzugsanstalt Hannover ein Strafverteidiger zu Verfügung ge-
stellt. Über die reine Haftverkürzung hinaus wurden weitere positive Aus-
wirkungen erwartet: eine Verfahrensverkürzung durch ein verbessertes
Zusammenwirken der Beteiligten, verfahrensökonomische Aspekte durch
verstärkte Kooperation des Beschuldigten, eine Verringerung der psychi-
schen Belastung des Inhaftierten und damit einhergehend eine Verbesserung
des Anstaltsklimas sowie nicht zuletzt ein rechtsstaatlicher Gewinn.
Um den optimalen Ansatzpunkt fur die frühe Strafverteidigung herauszu-
finden, wurden drei verschiedene Projektvarianten gewählt: In der ersten
Variante wurde nach einem Monat ein Verteidiger zur Verfügung gestellt,
in der zweiten erfolgte die Strafverteidigung mit Haftantritt. In der dritten
Variante, die nur am Amtsgericht Hannover durchgeführt wurde, erhielt der
Beschuldigte das Angebot früher Strafverteidigung bereits unmittelbar vor
der Vorführungsverhandlung.
Die zentrale Frage für die wissenschaftliche Begleitforschung war, wie
sich die Effekte der Projektverteidigung messen lassen. Da aus praktischen
und ethischen Gründen ein klassisches Experiment ausschied, war ein Bin-
nenvergleich zwischen Projektteilnehmern und Nichtprojektteilnehmern
und zwischen den einzelnen Varianten 1, 2, und 3 vorzunehmen und dar-
über hinaus ein Vorher-Nachher-Vergleich anzustellen. Die wichtigste Da-
tenquelle für die Begleitforschung stellten die Strafverfahrensakten dar; nur
dort finden sich Angaben zu Verlauf und Abschluss des Verfahrens und v.a.
zum Ob und Wie der Strafverteidigung. Um die Untersuchung für alle Be-
teiligten in einem zu bewältigenden Rahmen zu halten, wurden nicht alle
Strafakten der Inhaftierten untersucht, sondern eine Totalerhebung aller
Projektfalle angestrebt; von den übrigen Gruppen sollte jeweils eine Zu-
fallsstichprobe gezogen werden, d.h. jeder Dritte der Inhaftierten. Die Eva-
luation blieb auf männliche erwachsene Untersuchungsgefangene i.S.v.

50 Busse (Fn. 3)~ Jehle (Fn. 3), S. 39 ff.~ Hohmann-Fricke in: SchöchiJehle (Fn. 3), S. 45 ff.
852 Jörg-Martin Jehle

§§ 112, 112a StPO beschränkt. Insgesamt wurden fast 900 einschlägige


Akten ausgewertet. Darüber hinaus wurden Bundeszentralregisterauszüge
angefordert, die Probanden sowie vor und nach dem Proj ekt die beteiligten
Berufsgruppen, sprich: Haftrichter, Staatsanwälte, Strafverteidiger und
Bedienstete der Vollzugsanstalt, befragt.
Es zeigte sich, dass in der ersten Projektvariante nur noch ein kleiner Teil
der Inhaftierten von dem Projektangebot auf Strafverteidigung erreicht
werden konnte. Offenbar kommt nach einem Monat das Angebot auf Ver-
teidigung zu spät. Anders sieht es aus, wenn das Angebot unmittelbar nach
Haftantritt unterbreitet wird. In Variante 2 ist es gelungen, rascher und für
einen größeren Teil der Inhaftierten eine Verteidigung zu gewährleisten:
bereits nach 14 Tagen sind nur noch wenige unverteidigt. Die dritte Varian-
te, die bereits bei der Vorführung vor dem Haftrichter ansetzt, hatte mit
beträchtlichen praktischen Schwierigkeiten zu kämpfen, sie war aber inso-
fern ein Erfolg, als sich der Anteil der von Beginn der Haft an Verteidigten
noch einmal erhöht hat.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Nach zweiwöchiger Haft ist noch je-
der dritte Untersuchungsgefangene unverteidigt. Bei einem Angebot auf
Strafverteidigung von Anfang an ist dies nur noch jeder Zehnte. Dies ist
eine klare Verbesserung der Verteidigungssituation. Damit geht auch eine
nachweisbare Verkürzung der Haft- und Verfahrensdauer einher. Frühzeiti-
ge Verteidigung ist also ein erfolgreiches Mittel der Haftverkürzung. Es
stellte sich heraus, dass sich die durchschnittliche Dauer der Untersu-
chungshaft um mindestens 14 Tage und die Dauer des gesamten Strafver-
fahrens sogar um mindestens 22 Tage verkürzt, wenn der Gefangene von
Anfang an verteidigt ist. Eine haftvermeidende Wirkung der frühen Vertei-
digung konnte indes mit der verwendeten Erhebungsmethode nicht nachge-
wiesen werden. 51 Überdies scheint es sich zu rechnen, wenn man die Kosten
für die Strafverteidigung und die ersparten Haftkosten gegenüberstellt. 52
Insbesondere wird die Verkürzung durch verschiedene Aktivitäten der
Verteidiger gefördert, z.B. durch besser vorbereitete Haftprüfungstermine,
Kontaktaufnahme zum sozialen Umfeld oder zu Therapieeinrichtungen,
durch Hinwirken auf frühzeitige Geständnisse statt sinnlosem Leugnen oder
auf Wiedergutmachungsbemühungen sowie durch verfahrensfördernde
Gespräche mit der Staatsanwaltschaft oder dem zuständigen Richter, oft in
Verbindung mit anderen verfahrensbeschleunigenden Absprachen, die einen
frühen Termin für die Hauptverhandlung oder eine Erledigung durch Straf-
befehl ermöglichen. 53

51 Ausführt. Busse (Fn. 3), S. 272, 317 f., 320.


52 Rechenbeispiele Schöch (Fn. 4), S. 5; Busse (Fn. 3), S. 326.
53 Schöch (Fn. 4), S. 5.
Entwicklungen der Untersuchungshaft 853

VIII. Untersuchungshaftvollzug
I. Gesetzliche Grundlage
Für den Vollzug der Untersuchungshaft galten Jahrzehnte lang die Vor-
schriften der StPO (§ 119) - bei jungen Menschen ergänzend § 93 JGG -,
§§23ffEGGVG und die Untersuchungshaftvollzugsordnung (UVollzO) als
Verwaltungsvorschrift. Genau genommen enthielt § 119 StPO Generalklau-
seln, die im Interesse einer einheitlichen Vollzugspraxis durch eine von den
Landesjustizverwaltungen erlassene Verwaltungsanordnung, die UVollzO,
konkretisiert wurde.
Dass der Untersuchungshaftvollzug nunmehr kodifiziert wird, geht auf
die Grundsatzentscheidung des BVerfG zum Jugendstrafvollzug 54 zurück.
In Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung hat es die blankettartigen
Vorschriften des JGG zum Jugendstrafvollzug nicht mehr für ausreichend
erachtet und eine differenzierte gesetzliche Regelung verlangt. Dieser neue
Maßstab hat implizit bedeutet, dass auch für den Untersuchungshaftvollzug
die bisherigen Vorschriften des § 119 StPO als verfassungsrechtlich nicht
ausreichend anzusehen sind. Der damit verbundene Zwang zur Kodifizie-
rung liegt infolge der nahezu zeitgleich beschlossenen Föderalismusre-
form 55 nunmehr bei den Ländern, so dass in allen Ländern 56 Gesetzge-
bungsverfahren zum Untersuchungshaftvollzug gelaufen sind. Als erstes
Bundesland hat Niedersachen im Rahmen seines Justizvollzugsgesetzes
(NJVoIlzG)57 den Untersuchungshaftvollzug gesetzlich geregelt.
Inzwischen hat der Bund mit Wirkung vom 01.01.2010 § 119 StPO neu
gefasst und § 119a StPO neu geschaffen, was vor allem für die Regelungs-
kompetenz im Hinblick auf Haftzweck und Richtervorbehalt von Belang ist.
Ersichtlich überschneiden sich die bundesgesetzlichen und die niedersächsi-
schen Regelungen, so dass sich kompetenzrechtliche Fragen ergeben. Die
vom Verfassungsgesetzgeber im Zuge der Föderalismusreform in Art. 74
Nr. 1 GG gefundene Formulierung "gerichtliches Verfahren (ohne das
Recht des Untersuchungshaftvollzugs)" ist wenig geglückt. Der Wortlaut
lässt verschiedene Deutungen zu: Zum einen könnte der Untersuchungs-
haftvollzug in toto der konkurrierenden Gesetzgebung entzogen und damit

54 BVerfG NJW 2006,2093.


55 BGB!. I 2006, S. 2034.
56 Entwurf eines Gesetzbuchs über den Justizvollzug in Baden-Württemberg (JVollzGB), s.
wwwjum. baden-wuerttemberg.de/servlet/PB/show/1240750/Gesetzentwurf/JVollzGB. pdf~
Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Vollzugs der Untersuchungshaft und zur Verbesse-
rung der Sicherheit in Justizvollzugsanstalten in Nordrhein-Westfalen (GVUVS NRW), Drs.
14/863~ Entwurf eines Thüringer Gesetzes über den Vollzug der Untersuchungshaft (ThürU-
VollzG), Drs. 4/4803.
57 Nds. GVBI. 2007, 720 i.V.m. dem Änderungsgesetz v. 20.02.2009, GVBI. 2009, S. 32.
854 Jörg-Martin Jehle

ausschließlich landesrechtlicher Regelung zugänglich sein, wie es die Auf-


fassung des niedersächsischen Gesetzgebers war. Auf der anderen Seite
könnte man den Standpunkt vertreten, die landesrechtliche Kompetenz sei
auf die reinen vollzuglichen Aspekte, namentlich Sicherheit und Ordnung
der Anstalt, begrenzt und umfasse verfahrensrechtliche Aspekte und ge-
richtlichen Rechtsschutz nicht, was der Auffassung des Bundesgesetzgebers
entspricht. Bei der Interpretation muss beachtet werden, dass das gerichtli-
che Verfahren hier eine doppelte Bedeutung besitzt. Einmal dient der Haft-
vollzug als Durchführung der Untersuchungshaft in Verfolgung des Haft-
zwecks mit der Ausnahme der Wiederholungsgefahr der Verfahrens-
sicherung und gehört deshalb zum gerichtlichen Verfahren. Andererseits
gehören richterliche Kontrolle von Vollzugsentscheidungen und gerichtli-
che Anordnungen im Vollzug unbestritten ebenfalls zum gerichtlichen Ver-
fahren LS.v. Art. 74 GG. Dies erweist sich gerade auch in der Föderalismus-
reform unter anderem daran, dass §§ 109 ff. StVollzG vom Landes-
gesetzgeber - da bundesrechtliche Materie - gerade nicht geregelt wurde.
Deshalb regelt der Bundesgesetzgeber zu Recht selbst den Rechtsschutz
(§ 119a StPO) und bestimmt die Maßnahmen zur Abwehr von Flucht-,
Verdunkelungs- und Wiederholungsgefahr, die dem Richter zugewiesen
sind (§ 119 StPO). Infolgedessen muss Niedersachsen entweder sein Gesetz
entsprechend novellieren oder das Bundesverfassungsgericht zur Klärung
der kompetenzrechtlichen Fragen anrufen. Denn während nach dem nieder-
sächsischen Justizvollzugsgesetz58 der Anstaltsleiter nicht nur zur Aufrecht-
erhaltung von Sicherheit und Ordnung, sondern auch zur Verhinderung von
Fluchtgefahr einschränkende Anordnungen treffen kann, sind in § 119 StPO
Einschränkungen aufgrund der Haftgründe, und zwar des jeweils konkret
vorliegenden Haftgrunds der Flucht- oder Verdunkelungsgefahr, vom Rich-
ter zu treffen; der Anstaltsleiter kann hiernach also seine Anordnung nur auf
die nicht verfahrensbezogenen, rein vollzuglichen Aspekte der Sicherheit
und Ordnung der Anstalt stützen.

2. Vollzugsgestaltung und Bedürfnisse der Inhaftierten


Während die verfahrensrechtlich begründeten Einschränkungen in
§§ 119, 119a StPO bundesgesetzlich geregelt werden, sind die Gestaltung
des Vollzugs und die sich hieraus ergebenden Einschränkungen für die
Inhaftierten unstreitig Sache landesrechtlicher Regelung. Bei der gesetzli-
chen Ausformung und der praktischen Durchführung des Untersuchungs-
haftvollzugs müssen widerstreitende Gestaltungsprinzipien zum Ausgleich

58 Vgl. näher Winzer Der Vollzug der Untersuchungshaft nach dem Niedersächsischen Jus-
tizvollzugsgesetz, Diss. jur. Göttingen (erscheint voraussichtlich Herbst 2010).
Entwicklungen der Untersuchungshaft 855

gebracht werden. Auf der einen Seite muss die Justizvollzugsanstalt einen
ordnungsgemäß funktionierenden und sicheren Vollzug gewährleisten, auf
der anderen Seite hat sie den Vollzug so zu gestalten, dass er der Un-
schuldsvermutung und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung trägt.
Deshalb erlegt das NJVollzG 59 der Anstalt die Pflicht zur Gegensteuerung
und Angleichung an die allgemeinen Lebensverhältnisse auf, wie sie auch
in § 3 StVollzG für Strafgefangene formuliert ist. Was diese Verpflichtung
wert ist, erweist sich an den konkreten Bestimmungen in den einzelnen
Vollzugsbereichen. Wenn etwa das NJVollzG aus Praktikabilitäts- und
Kostengründen den Anspruch auf Besuch auf eine Stunde im Monat fest-
legt, so ist dies eine unzumutbare Beschränkung. Ein nicht unerheblicher
Teil der Gefangenen ist nur wenige Wochen in Untersuchungshaft, sodass
ihr Besuchsrecht weitgehend leer läuft, obwohl doch gerade in den ersten
Wochen der Kontakt mit Angehörigen besonders wichtig erscheint. Hier
zeigt sich, dass die Rechte des Untersuchungsgefangenen durch die derzeit
äußerst begrenzten Mittel personeller und sachlicher Art maßgeblich be-
stimmt werden. Verschärft tritt dieses Problem zutage, wenn das NJVollzG
neben den konkreten, gesetzlich bestimmten Eingriffsbefugnissen general-
klauselartig jegliche Störung der Anstalt als Legitimationsgrundlage nimmt,
statt zumindest - wie in § 4 Abs. 2 S. 2 StVollzG60 - eine schwerwiegenden
Störung der Ordnung zu verlangen.
Man wird also die neuen Untersuchungshaftvollzugsgesetze kritisch dar-
aufhin analysieren müssen, ob sie eine Rückführung der Beschränkungen
auf das verfahrensmäßig gebotene und institutionell erforderliche Mindest-
maß gewährleisten und zugleich eine gewisse Angleichung der Haftbedin-
gungen an die äußeren Lebensverhältnisse erlauben.
Wie Erhebungen der persönlichen und sozialen Situation Untersuchungs-
gefangener gezeigt haben,61 sind Personen betroffen, die überwiegend be-
reits vor der Haft sozial nicht (mehr) voll integriert waren, vielmehr in ver-
schiedenen Lebensbereichen mit einer Vielzahl sozialer Schwierigkeiten,
Mängellagen und Verhaltensauffalligkeiten belastet waren. Hinzu kommt
die Tatsache, dass fast die Hälfte der Verhafteten anschließend nicht in den
Strafvollzug gelangt, sondern ihre Strafe, d.h. regelmäßig die zur Bewäh-
rung ausgesetzte Freiheitsstrafe, ausschließlich in der Untersuchungshaft
verbüßen; dies gebietet, die Auswirkungen der Haft und die Entlassungssi-
tuation im Hinblick auf eine Wiedereingliederung verstärkt zu berücksichti-
gen. Es besteht also ein objektives Bedürfnis nach einer Ausgestaltung der
Untersuchungshaft, die die Haftsituation als solche erleichtert, (weitere)

59 Wie auch die entsprechenden Entwürfe der anderen Länder, s. Fn. 56.
60 Vgl. die entsprechende Formulierung im Baden-württembergischen JVollzugGB.
61 S. Jehle (Fn. 11)~ vgl. auch Busse (Fn. 3), S. 143 ff., 180.
856 Jörg-Martin Jehle

Entsozialisierung vermeidet und die Wiedereingliederung fördert. Gemeint


sind hiermit insbesondere eine soziale Hilfe, welche sich der Regelung der
äußeren, meist untergeordneten Lebensverhältnisse der Inhaftierten an-
nimmt, und Angebote an Arbeit und sinnvoller Beschäftigung und bei län-
ger Inhaftierten auch Betreuungsangebote und soziale Trainingskurse.62
Auch hier wird man die gesetzlichen Bestimmungen und die darauf beru-
hende Haftpraxis sorgsam daraufhin untersuchen müssen, inwieweit die
Vollzugsgestaltung diesen Bedürfnissen entspricht und die Vollzugsanstal-
ten ihrer aus dem Sozialstaatsprinzip und dem Angleichungsgrundsatz abzu-
leitenden Verpflichtung, die durch die Inhaftierung entstandenen Belastun-
gen der Untersuchungsgefangenen zu kompensieren, Rechnung tragen.

IX. Ausblick
So erfreulich der Rückgang der Haftzahlen in den letzten Jahren gewesen
ist, so wenig besteht indes Anlass, die rechtspolitischen Bemühungen um
eine Begrenzung der Untersuchungshaft einzustellen. Nach wie vor gibt es
- unter Verhältnismäßigkeitsaspekten fragwürdige - Verhaftungen bei Ba-
gatelldelikten oder in Verfahren, die nicht mit einer freiheitsentziehenden
Sanktion enden. Noch immer sind haftvermeidende Alternativen nicht hin-
reichend ausgebaut und nach wie vor ist der Anteil langer, über 6 Monate
dauernder Untersuchungshaft zu groß.
Auch der erfreuliche Umstand, dass endlich eine hinreichende gesetzliche
Grundlage für den Untersuchungshaftvollzug geschaffen worden ist, darf
nicht daran hindern, die weithin vorherrschende Vollzugswirklichkeit, die
auf eine "Einkapselung der Gefangenen in den unzulänglichsten Anstalts-
räumen"63 hinausläuft, zu kritisieren und an einer humanen, Desintegration
vermeidenden Gestaltung des Untersuchungshaftvollzugs zu arbeiten. Es ist
also an der Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen, "bei der die tatsächlichen
oder vermeintlichen Sachzwänge den liberal-rechtsstaatlichen Prinzipien
unseres Haftrechts und den verfassungsrechtlichen Geboten der Unschuld-
vermutung und der Verhältnismäßigkeit gegenüber gestellt werden". 64

62 Jehle (Fn. 11), S. 271.


63 Roxin/Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 30.
64 Schäch (Fn. 2), S. 14.
Das europäische "ne bis in idem" und die
Aufwertung des Opportunitätsprinzips auf
Unionsebene

V ASILEIOS PETROPOULOS

I. Einleitung
Die Reichweite der Sperrwirkung einer gerichtlichen bzw. staatsanwaltli-
chen Entscheidung im Rahmen der Diversion wird an erster Stelle als Frage
des nationalen Rechts betrachtet. So führen im deutschen Recht die §§ 153
Abs. 2, 153a StPO aufgrund der geringen Täterschuld und des fehlenden
öffentlichen Verfolgungsinteresses, welches bei § 153a StPO nach der Er-
rullung von Weisungen und Auflagen beseitigt ist, zu einem bedingten
Stratklageverbrauch. 1 Im Hinblick darauf hat der u.a. auch im Bereich der
Diversion hochangesehene Jubilar den § 153a StPO seit langem als das
"Kernstück der sog. prozessualen Lösung bei der Bekämpfung der Klein-
kriminalität" treffend bezeichnet. 2 Eine supranationale Auswirkung der
Verfahrenseinstellung im Wege der Diversion wurde erstmals in der Gözü-
toklBrügge-Entscheidung des EuGH anerkannt, welche einen europaweiten
Stratklageverbrauch aufgrund einer innerstaatlichen Diversionsmaßnahme
bejahte. Seitdem ist von einer Aufwertung des Opportunitätsprinzips in
Europa auszugehen, 3 welche hinsichtlich des gegenseitigen Vertrauens der
Mitgliedstaaten in die eigenen Rechtsordnungen als Grundvoraussetzung
fur die Schaffung eines gemeinsamen Raums rur Freiheit, Sicherheit und

1 KK-Schoreit, 6. Aufl. 2008, § 153 Rn. 62~ § 153a Rn. 41 ~ LR-Beulke, 26. Aufl. 2008,
§ 153 Rn. 88~ AK-StPOISchöch, 1988, § 153 Rn. 55.
2 AK-StPOISchöch (Fn. 1), § 153a Rn. 1.
3 EuGH 11.02.2003 C-187/01 Gözütok und C-385/01 Brügge, Zif. 33 ff.~ Satzger Europäi-
sches und Internationales Strafrecht, 3. Aufl. 2009, § 9 Rn. 59~ Ambos Internationales Recht,
2. Aufl. 2008, § 12 Rn. 48~ Hecker Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2007, § 13 Rn. 26~
Bogensberger FS Miklau, 2006, S. 91~ Stein NJW 2003, 1163 ff.~ Böse GA 2003, 757 ff.~
RadtkelBusch NStZ 2003, 282 ff.~ Wohlers FS Eisenberg, 2009, S. 818 ff.~ Vogel FS F.C.
Schroeder, 2006, S. 888 ff.
858 Vasileios Petropoulos

Recht begründet wird. 4 Die Deklaration einer solchen Zielerreichung ist an


sich nicht zu beanstanden; aber eine in foro Angleichung von nationalen
Rechtsordnungen bedarf einer dogmatisch stabileren Begründung als den
bloßen Appell an die Verwirklichung der europäischen Integration, insbe-
sondere wenn die strafrechtliche Tradition der Mitgliedstaaten davon betrof-
fen ist. 5 Im Hinblick darauf wird im Rahmen der vorliegenden Untersu-
chung die Reichweite des europäischen "ne bis in idem "-Prinzips nach der
EuGH-Rechtsprechung zum Art. 54 SDÜ und nach dem Inkrafttreten des
Vertrags von Lissabon behandelt. Dazu wird auch die Betrachtung des "ne
bis in idem "-Prinzips als Frage der Kompetenzabgrenzung in Strafsachen
nach dem Motto "eine Strafgewalt pro Tat" untersucht. Die Aufwertung des
Opportunitätsprinzips in Europa wird schließlich angesichts des gemeinsa-
men Nenners von Strafklageverbrauch und Verfahrenseinstellung im Wege
der Diversion begründet; als solcher könnte ein europäischer Rechtsfrie-
densbegriff als strafprozessuales Haupttelos in Betracht kommen. 6

11. Das europäische ne his in idem nach dem SDÜ und dem
Vertrag von Lissabon
1. Gegenstand und rechtliches Substrat des europäischen
ne bis in idem
Trotz seiner Anerkennung durch sämtliche EU Mitgliedstaaten bleibt das
"ne bis in idem "-Prinzip hinsichtlich seines Gegenstandes bestimmungsbe-
dürftig. Es ist m.a.W. nicht klar, ob es sich um ein Doppelverfolgungs- oder
Doppelbestrafungsverbot handelt. Das lässt sich am Beispiel des Art. 103
Abs. 3 GG demonstrieren, dessen Wortlaut ("Verbot einer mehrfachen
Bestrafung") von der Lehre und Rechtsprechung extensiv ausgelegt wird
und dadurch auch das Doppelverfolgungsverbot erfasst. 7 Von einem Straf-
verfolgungsverbot gehen des Weiteren auch die wichtigsten völkerrechtli-

4 EuGH 11.02.2003 C-187/01 Gözütok und C-385/01 Brügge a.a.O.~ EuGH 09.03.2006 C-
436/06 van Esbroek, Zif. 30~ Bogensberger a.a.O.~ Wohlers a.a.O.~ Vogel a.a.O.
5 Schünemann FS Szwarc, 2009, S. 121~ Wohlers (Fn. 3), S. 820~ zu den Schwierigkeiten der
Begriffsbestimmung eines gemeinsamen Justizraums in Europa Hofmanski FS Szwarc, a.a.O.,
S. 671.
6 Zur Betrachtung der Sicherung des Rechtsfriedens nach Bezugnahme auf die "Bewährung
des Strafrechts" als Prozesszweck ausführlich Volk Prozeßvoraussetzungen im Strafrecht,
1978, S. 183 ff., 200 ff.~ Rieß JR 2006, 270 ff.~ dazu auch LandauNStZ 2007, 125~ Stein Zum
europäischen ne bis in idem nach Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens,
2004,S.254,317,476.
7 So angesichts der Normgeschichte F.-C. Schroeder JuS 1997, 228~ BVerfGE 65, 381~ vgl.
auch Schomburg FS Eser, 2005, S. 830 ff., 836.
Opportunitätsprinzip und europäisches "ne bis in idem'" 859

chen Übereinkommen aus, welche zwar kein transnationales ne bis in idem


begründen, aber immerhin die Existenz des Prinzips auf nationaler Ebene
sicherstellen. 8 Dasselbe lässt sich auch betreffend das Regelsubstrat des
europäischen ne bis in idem, nämlich Art. 54-58 ff. SDÜ und Art. 50 GRC
(LV.m. dem neuen Art. 6 EUV 9), feststellen. Art. 54 SDÜ lautet: "Wer
durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch
eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden,
vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits voll-
streckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteils-
staats nicht mehr vollstreckt werden kann". Art 50 GRC lautet: "Niemand
darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem
Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem
Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden".
Die Abgrenzung zwischen Doppelverfolgungs- und Doppelbestrafungs-
verbot ist sowohl für die dogmatische Begründung als auch für die prakti-
sche Anwendung des Prinzips von großer Bedeutung. Dogmatisch betrach-
tet ist eine zweite Verfolgung wegen derselben Tat als Verletzung der
Rechtssicherheit anzusehen und eine zweite Bestrafung als Verstoß gegen
das Verhältnismäßigkeits- und das Gerechtigkeitsprinzip zu verstehen. 10
Auf praktischer Ebene übt diese Differenzierung auf die Bestimmung des
Adressaten des "ne bis in idem u-Prinzips einen großen Einfluss aus. Geht
man von einem Doppelverfolgungsverbot aus, kommen neben den Gerich-
ten auch die Staatsanwaltschaft und die Verfolgungsbehörde als unmittelba-
re Adressaten des Prinzips in Betracht. In diesem Fall ist das Verfahren
aufgrund einer rechtskräftigen Aburteilung derselben Tat auch auf europäi-
scher Ebene nicht nur nach den §§ 206a, 260 StPO,11 sondern auch nach
§ 170 StPO einzustellen. 12 Es obliegt also der Staatsanwaltschaft in solchen
Fällen, der Rechtsprechung des EuGH Rechnung zu tragen.
Ein Vorrang des Doppelverfolgungs- gegenüber dem Doppelbestrafungs-
verbot könnte zwar den Eindruck erwecken, dass die Sicherung des Rechts-
friedens als prozessuales Telos von einem Vorrang der Rechtssicherheit
gegenüber der Gerechtigkeit ausgehe. Aber eine Betrachtung von "Rechts-

8 Vgl. dazu Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls EMRK, Art. 14 Abs. 7 des IPBR.
9 Hinsichtlich der Charta Eser in: Meyer, Komtnentar zur Charta der Grundrechte, 2. Aufl.
2006, Art. 50 Rn. 12b.~ Nehl in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte,
2006, § 58 Rn. 16~ das (nicht von allen Mitgliedern ratifizierte) EG-ne bis in idem ÜbK von
1987 hat nach dem Schengen-Acquis an Bedeutung verloren.
10 U.a. Schroeder (Fn. 7),228.
11 Hecker (Fn. 3), § 13 Rn. 2.
12 Nehl (Fn. 9), § 58 Rn. 20, 36~ Veh in: WabnitzlJanovsky, Handbuch des Wirtschafts- und
Steuerstrafrechts, 3. Aufl. 2007, Kap. 22 Rn. 93 ff.~ dazu Meyer-Goßner StPO, 52. Aufl. 2009,
§ 170 Rn. 1, 6~ Ambos (Fn. 3), § 12 Rn. 38~ Sat=ger (Fn. 3), § 9 Rn. 52.
860 Vasileios Petropoulos

sicherheit" und "Gerechtigkeit" als Gegensatzpaar steht mit der Rechtsfrie-


denssicherung wenig in Einklang. Rechtssicherheit setzt Gerechtigkeit vor-
aus und Gerechtigkeit muss auch dem Recht des Beschuldigten Rechnung
tragen, nach Aburteilung seiner Tat "in Ruhe" gelassen zu werden. 13 Die
Sicherung des "Rechtsfriedens" erfordert m.a. W. die Berücksichtigung
beider Aspekte der Rechtssicherheit, sowohl des individuellen Aspekts, der
sich auf den Schutz des Angeklagten bezieht, als auch des kollektiven, der
das gesellschaftliche Verlangen nach Ordnung befriedigt. 14 Eine "gespalte-
ne" materiell- und prozessualrechtliche Natur des ne bis in idem 15 zeugt nur
von der Existenz eines materiellen Substrats des Prinzips. Das ist für die
Bestimmung des gemeinsamen Nenners von Strafklageverbrauch und Op-
portunitätsprinzip (welches ebenfalls eine materielle Dimension hat, wie
später gezeigt wird) von großer Bedeutung.
Die Bestimmung der Reichweite des europäischen ne bis in idem muss
nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auch dem abweichenden
Wortlaut zwischen Art. 54 SDÜ und Art. 50 GRC Rechnung tragen. So geht
Art. 50 GRC von einer "Straftat" aus und gibt daher Anlass rur eine norma-
tive Bestimmung des Prozessgegenstandes; im Gegensatz dazu verbietet
Art. 54 SDÜ die strafrechtliche Verfolgung derselben "Tat" und bleibt da-
her an einem faktischen prozessualen Tatbegriff orientiert. 16 Des Weiteren
verzichtet der Art. 50 GRC auf das Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ
und betrachtet die rechtskräftige Verurteilung bzw. den rechtskräftigen
Freispruch als ausreichende Voraussetzung einer Anwendung des Prin-
ZipS.17 Dazu bleibt auch nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon
offen, ob die Ausnahmen von Art. 54 SDÜ, wie diese in Art. 55 SDÜ und in
den darauf beruhenden staatlichen Erklärungen beschrieben werden, als
Schranken des Art. 50 GRC gern. Art. 52 GRC betrachtet werden dürfen. 18
Die Bestimmung der Reichweite des europäischen ne bis in idem übt daher
einen Einfluss auf die "Qualität" der Aufwertung des Opportunitätsprinzips
auf europäischer Ebene aus. So kann z.B. eine normative Bestimmung des
prozessualen Tatbegriffs den Weg zu einer Beschränkung der Sperrwirkung
von Diversionsmaßnahmen ebnen. Dasselbe gilt auch fur die Bestimmung

13 Volk (Fn. 6), S. 200 ff.; in diesem Sinne hat die Dialektik zwischen "singulärem" und
"allgemeinem" Interesse keine Aussagekraft; dazu auch Radtke FS Seebade, 2008, S. 311
(Fn. 84).
14 Volk (Fn. 6), S. 184 ; Stein (Fn. 3), 143.
15 Schroeder (Fn. 7), 228.
16 EuGH 09.03.2006 C-436/06 van Esbroek Zif. 48; EuGH 18.07.2007 C-367/05 Kraaijen-
brik Zif. 26 ff.; dazu (mit unterschiedlicher Argumentation) Wasmeier IRPL (Val. 77), 129;
Nehl (Fn. 9), § 58 Rn. 6 ff.; BGH NJW 2008,2931 (mit Anm. Rübenstahl).
17 Eser (Fn. 9), Art. 50 Rn. 14.
18 Eser (Fn. 9), Art. 50 Rn. 16c; kritisch betreffend diese Einschränkungsmöglichkeit Gau-
weiler FS Mehle, 2009, S. 213 ff.
Opportunitätsprinzip und europäisches "ne bis in idem" 861

der Ausnahmen vom ne bis in idem gern. Art 55 SDÜ bzw. 52 GRC. Jedoch
bleibt eine spektakuläre Änderung der Reichweite des "ne bis in idem H_

Prinzips als Folge des Vertrags von Lissabon höchst unwahrscheinlich.


Erstens, weil Art. 50 GRC einen geringeren Anwendungsbereich als Art. 54
SDÜ hat, da er sich auf die Delikte des Art. 83 AEUV beschränkt und dar-
über hinaus nicht für Polen und das Vereinigte Königsreich gilt. 19 Zweitens,
weil die Anerkennung der Verbindlichkeit der GRC durch den Vertrag von
Lissabon auf die Sicherstellung eines Mindestschutzniveaus von Grund-
rechten zielt, welche hinsichtlich einer Ersetzung der Art. 54 ff. SDÜ durch
Art. 50 GRC keinesfalls erzeugt wird. 20 Selbst wenn man künftig auf das
Vollstreckungselement des Art. 54 SDÜ im Hinblick auf den Art. 50 GRC
verzichtet, bleibt die Befassung mit der bisherigen Rechtsprechung des
EuGH zum Art. 54 SDÜ unentbehrlich. Auch künftig ist davon auszugehen,
dass der Art. 50 GRC im Lichte des Art. 54 SDÜ interpretiert wird. 21 Das
hat auch für die Bestimmung einer europaweiten Sperrwirkung als Folge
von Diversionsmaßnahmen große Bedeutung.

2. Die Reichweite des europäischen ne bis in idem nach der


Rechtsprechung des EuGH zu Art. 54 SDÜ
Die Einbeziehung des Übereinkommens von Schengen in das Unions-
recht durch den Vertrag von Amsterdam erlaubte dem EuGH, den Schenge-
ner Vertrag gern. Art. 31, 35 EUV a.F. auszulegen. 22 Dadurch wurde auch
die Doppelnatur des Vertrags als völkerrechtliches Übereinkommen und als
europäischer "Acquis" bestätigt. Seitdem hat der EuGH mehrmals demonst-
riert, dass der Vertrag von Amsterdam zu einer Inhaltsänderung des Schen-
gener Übereinkommens geführt hat, sodass auch die Art. 54 ff. SDÜ unter
Berücksichtigung der Unionsziele ausgelegt werden müssen. 23 Dabei konnte
der EuGH seine Rolle als "Motor der Integration" u.a. auch im Rahmen
seiner Rechtsprechung zum europäischen ne bis in idem beweisen. 24

19 Tiedemann FS Jung, 2007, S. 987 ff. (zwar hinsichtlich der EV, aber im Grunde genom-
men auch betreffend den EUV); Protokoll über die Anwendung der GRC auf Polen und den
VK, ABI. C306 v. 17.12.2007, S. 156.
20 Zur Reichweite des Art. 50 GRC, der an Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls der EMKR orien-
tiert ist, Nehl (Fn. 9), § 57 Rn. 11 ff., 15 ff.
21 Eser (Fn. 9), Art. 50 Rn. 13; Anagnostopoulos Ne bis in idem, europäische und transnati-
onale Aspekte, 2008, S. 173 (auf Griechisch); Klip European Criminal Law, 2009, S. 246;
Peers EU Justice and Horne Affairs Law, 2. Aufl. 2006, S. 464.
22 Schomburg NJW 2000,839; RadkelBusch EuGRZ 2000, S. 424; dies. (Fn. 3),283; Was-
meier (Fn. 16), 122 ff.
23 Bogensberger (Fn. 3), S. 91.
24 RadtkelBusch (Fn. 3), 283; Stein NJW 2003, 1162 ff.
862 Vasileios Petropoulos

Auslegungsbedürftig sind im Rahmen des Art. 54 SDÜ insbesondere das


Merkmal der rechtskräftigen Aburteilung ("ne bis"), der prozessuale Tat-
begriff ("idem") und das Vollstreckungselement. So stellt die Form einer
gerichtlichen Entscheidung im Erstverfolgerstaat seit der GözütoklBrügge-
Entscheidung keine Voraussetzung für die Bej ahung einer "rechtskräftigen
Aburteilung" gemäß Art. 54 SDÜ mehr dar. 25 Darunter fallen auch Diversi-
onsmaßnahmen, welche auf nationaler Ebene eine Sperrwirkung auslösen.
Daher geht der EuGH bei der Bestimmung des "ne bis" in Art. 54 SDÜ von
einer formellen Rechtskraft aus. Das wurde zwar bis zu einem Punkt kri-
tisch betrachtet, solange das ne bis in idenl als "die materielle Rechtskraft"
im Allgemeinen verstanden wird. 26 Aber der EuGH-Rechtsprechung ist
insofern beizupflichten, als die formelle Rechtskraft vor der materiellen (als
ihre Voraussetzung) festgestellt werden muss. 27 Jedoch findet auch diese
Orientierung an der formellen Rechtskraft im Erfordernis der sachlichen
Befassung mit dem Fall beim Erstverfolgerstaat ihre Grenze. Das hat auch
der EuGH in einer weiteren Entscheidung bestätigt. 28
Das weitere Merkmal "derselben Tat" wurde vom EuGH als Tatkomplex
ausgelegt, welcher nach zeitlicher und räumlicher Hinsicht einen Sachver-
halt darstellt. 29 So ging das Gericht von einer einheitlichen Bestimmung des
"idem"-Merkmals auf europäischer Ebene aus, welche vom prozessualen
Tatbegriff des Erstverfolgerstaates unabhängig ist 30 und im Grunde ge-
nommen dem faktischen prozessualen Tatbegriff der deutschen Rechtspre-
chung entspricht. 31 Sowohl im Hinblick auf die einheitliche Betrachtung des
Prozessgegenstandes auf europäischer Ebene als auch hinsichtlich der Ori-
entierung an diesem faktischen prozessualen Tatbegriff ist der EuGH-
Rechtsprechung beizupflichten. Ein Ausgehen vom prozessualen Tatbegriff
des Erstverfolgerstaates würde den Anwendungsbereich des Art. 54 SOÜ
von einer nationalen Bestimmung des Prozessgegenstands abhängig machen

25 EuGH 11.02.2003 C-187/01 Gö::ütok und Brügge Zif. 30; Wasmeier (Fn. 16), 124; Radtke
(Fn. 13), S. 304; Zeder Öst. Anwaltsblatt 2007, 454, 463.
26 Radtke/Busch (Fn. 3), 284.
27 Kühne Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2007, Rn. 657 ff.
28 EuGH 10.03.2005 C-469/03 Miraglia, Zif. 28; Wasmeier (Fn. 16), 125; Veh (Fn. 12),
Rn. 1OOb; Nehl (Fn. 9), § 58 Rn. 13.
29 EuGH 09.03.2006 C-436/06 van Esbroek Zif. 48 = JZ 2006 (mit Anm. Kühne); EuGH
18.07.2007 C-367/05 Kraaijenbrik, Zif. 28; BGH NJW 2008, 2931 (mit Anm. Rübenstahl)~
ferner Radtke NStZ 2008, 162; ders. (Fn. 13), S. 306.
30 So Hecker (Fn. 3), § 13 Rn. 57; Sat::ger (Fn. 3), § 9 Rn. 65; Ebensperger ÖJZ 1999, 183;
Lagodny NStZ 1997 266; Veh (Fn. 12), Rn. 99~ in diese Richtung auch MK-StGB/Ambos,
2003, Vor §§ 3-7 Rn. 76.
31 KK-Engelhardt, 6. Aufl. 2008, § 264 Rn. 3 (m.w.N.); Böse (Fn. 3), 758.
Opportunitätsprinzip und europäisches "ne bis in idem" 863

und den Weg zur Umgehung des Doppelverfolgungsverbots ebnen. 32 Und


eine normative Betrachtung des prozessualen Tatbegriffs könnte dem
Zweitverfolgerstaat ermöglichen, die Reichweite der Anwendung des Art.
54 SDÜ einschränkend zu bestimmen. In Wirklichkeit verschlingen sich in
jedem strafprozessualen Tatbegriff Faktizität und Normativität, solange
jeder Tatbegriff als Prozessgegenstand im Strafverfahren systemimmanent
bleibt und nach prozessrechtlichen Prämissen interpretiert wird. 33 Daher ist
auch auf europäischer Ebene davon auszugehen, dass "ein historischer
Sachverhalt in sozialen Sinneinheiten von aufeinander bezogenen Hand-
lungssequenzen stattfindet", welche beim Ermittlungsverfahren "umgangs-
sprachlich rekonstruiert werden". 34 Dieser "täterfreundliche", faktische
Tatbegriff wird schließlich auch vom EGMR bei der Auslegung des Art. 4
des 7. Zusatzprotokolls der EMRK berücksichtigt. 35
Von weiterer Bedeutung für die Reichweite der Sperrwirkung von Diver-
sionsmaßnahmen ist die EuGH-Rechtsprechung zur Anwendung des Art. 54
SDÜ nur auf die Personen, welche am Verfahren beim Erstverfolgerstaat
teilgenommen haben, und nicht auf ihre Mittäter. 36 Darüber hinaus greift
Art. 54 SDÜ auch während der Probezeit einer bedingten Vollstreckung ein
bzw. auch dann, wenn die Vollstreckung der Strafe im Erstverfolgerstaat
zur Bewährung ausgesetzt wird. Dagegen reicht die bloße Verhängung einer
Untersuchungshaft für die Bejahung des Vollstreckungselements des
Art. 54 SDÜ nicht aus, solange die Vollstreckung eine Urteilsexistenz vor-
aussetzt. 37 Schließlich findet Art. 54 SDÜ auch dann Anwendung, wenn die
Entscheidung des Erstverfolgerstaates "nach dem Recht des Urteilsstaats
wegen im Recht dieses Staates bestehender verfahrensrechtlicher Besonder-
heiten nie unmittelbar vollstreckt werden konnte". 38 Dasselbe gilt auch im

32 Böse (Fn. 3),757; Radtke (Fn. 13), S. 310; EuGH 09.03.2006 C-436/06 van Esbroek, Zif.
35; so auch der Schlussantrag des Generalanwalts Colomer (die Orientierung an dem Tatbeg-
riff des Erstverfolgerstaates führe "zu einer restriktiven Lösung, die mit der expansiven Kraft
der grundlegenden Garantien des Einzelnen ZUln Schutz seiner Würde unvereinbar ist").
33 RoxinlSchünemann Strafverfahrenssrecht, 26. Aufl. 2009, § 20 Rn. 5, 9; a.A. Roxin JZ
1988,260.
34 RoxinlSchünemann, a.a.O.; eine künftige Orientierung an einer rechtsgutsbezogenen Nor-
mativierung des Tatbegriffs ist aber nicht auszuschließen; Nehl (Fn. 9), § 58 Rn. 8; zu den
offenen Frage aus der EuGH-Rechtsprechung Radtke (Fn. 13), S. 312 ff.; über die hier nicht
weiter behandelte Frage der Einwirkung der EuGH-Rechtsprechung auf den nationalen Tatbeg-
riff am Beispiel der öStPO Birklbauer FS Miklau, 2006, S. 58 ff.
35 Gradinger vs. Österreich, A 328-C (1995), Rn. 55; dazu u.a. Birklbauer (Fn. 34), S. 47 ff.;
diese Rechtsprechnung ist jedoch nicht fest, vgl. Sat=ger (Fn. 3), § 10 Rn. 81.
36 EuGH 28.09.2006 C-767/04 Gasparini Zif. 34~ Zeder (Fn. 25),463.
37 EuGH 18.07.2007 C-288/05 Kret=inger, Zif. 45.
38 EuGH 11.12.2008 C-297/07 Bourquain Zif. 40 ff., 47 ff.
864 Vasileios Petropoulos

Fall einer Verjährung des Sachverhalts 39 bzw. eines Freispruchs aufgrund


von fehlenden Beweisen im Erstverfolgerstaat.40
Aus dem oben Erwähnten ergibt sich, dass die Reichweite des europäi-
schen ne bis in idem größtenteils von der EuGH-Rechtsprechung zum
Art. 54 SDÜ bestimmt wird. Im Hinblick darauf lässt sich auch die "Quali-
tät" der Aufwertung des Opportunitätsprinzips in Europa bemessen. Wird
das "ne bis in idem tl-Prinzip "großzügig" auf Strafsachverhalte angewendet
wie in der EuGH-Rechtsprechung, ist die Anerkennung einer europaweiten
Geltung der nationalen Sperrwirkung von Diversionsmaßnahmen auch in
der Praxis als Aufwertung des Opportunitätsprinzips zu betrachten. Daher
ist die Betrachtung des "ne bis in idem tl-Prinzips als Frage nach der Be-
stimmung der geeigneten Strafgewalt für die gegenwärtige Untersuchung
von großer Bedeutung; die Verschiebung des ne bis in idem auf diese Vor-
ebene einer gerichtlichen Kompetenzabgrenzung in Strafsachen kann näm-
lich auf die Reichweite des Prinzips einwirken.

3. Das europäische ne bis in idem als Problem der


geeigneten Strafgewaltbestimmung?
Der logische Zusammenhang zwischen Rechtshängigkeit, Prozessgegen-
stand und Rechtskraft, welcher im Rahmen des nationalen Strafverfahrens
offensichtlich ist,41 rührte zur Betrachtung des europäischen ne bis in idem
als Frage der zwischenstaatlichen gerichtlichen Kompetenzabgrenzung in
Strafsachen nach dem Motto "eine Strafgewalt pro Tat".42 Das wurde erst-
mals durch die griechische Initiative zur Schaffung eines Rahmenbeschlus-
ses für die "Auslegung des Problems des ne bis in idem" offiziell betont und
auch durch verschiedene wissenschaftliche Gutachtenerstellungen und Pro-
jekte bestätigt. 43 Im Hinblick darauf erließ die Kommission ein "Grünbuch

39 EuGH 28.09.2006 C-467/04 Gasparini Zif. 22.


40 EuGH 28.09.2006 C-150/05 van Straaten, Zif. 60, 61~ Nehl (Fn. 9), § 58 Rn. 14 ff.
41 Kühne (Fn. 27), Rn. 639 ff.~ HK-StPO/Lemke, 4. Aufl. 2009, Einl. Rn. 27~ dazu Schom-
burg (Fn. 7), S. 832 ff.
42 Vgl. Art. 2 des Alternativentwurfs einer Regelung transnationaler Strafverfahren in der
Europäischen Union, in: Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für die europäische Straf-
rechtspflege, 2006, S. 5 ff.~ Lagodny Empfiehlt es sich eine europäische Gerichtskompetenz für
Strafgewaltskonflikte vorzusehen?, BMJ-Gutachten 2001, S. 99~ ders. FS Trechsel, 2002,
S. 263 ff~ Van der Beken/Vermeulen/Lagodny NStZ 2002, 624 ff.~ Vogel (Fn. 3), S. 891 ff.~
Ambos (Fn. 12), § 12 Rn. 54 ff.~ so auch Biehler u.a. Freiburg proposal on concurrentjuridicti-
ons and the prohibition of multiple prosecutions in the EU, 2003~ umfassend im Tagungsbe-
richt Steins ZStW 115 (2003), 983 ff.~ Schomburg (Fn. 7), S. 843~ im Bereich des Kartellrechts
Nehl (Fn. 9), § 58 Rn. 25.
43 Alternativentwurf-Schünemann a.a.O.~ Freiburg proposal a.a.O.~ Lagodny BJM-Gutach-
ten a.a.O.
Opportunitätsprinzip und europäisches "ne bis in idem" 865

über Kompetenzkonflikte in der EU und ne bis in idem", auf dem auch der
weitere Vorschlag des Europäischen Rats für einen Rahmenbeschluss zur
Kompetenzabgrenzung in Strafsachen größtenteils beruhte. 44 Nach einer
weiteren inhaltlichen Erarbeitung45 erwuchs dieser Vorschlag am letzten
Tag vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zu einem endgültigen
Rahmenbeschluss. 46 Mit einer Fortsetzung des Versuchs zur Koordination
der Mitgliedstaaten bei Kompetenzkonflikten in Strafsachen ist hinsichtlich
des neuen Art. 82 I (2) AEUV auch künftig zu rechnen.
Die Frage nach der gerichtlichen Kompetenzabgrenzung in Strafsachen
ist grundsätzlich erst im Rahmen des nationalen Rechts als die "andere Seite
der Medaille" des ne bis in idem zu verstehen. Das ist z.B. bei föderalen
Staaten der Fall, wo die verschiedenen Kompetenzkonflikte in Strafsachen
auf der Grundlage eines föderalen Gesetzes bzw. nach Entscheidung eines
obersten Gerichts innerstaatlich gelöst werden. 47 Im Gegensatz dazu bleibt
die Verbindlichkeit einer "geeigneten" Gerichtsbarkeitsbestimmung auf
supranationaler Ebene hinsichtlich der Begrenzung der nationalen Souverä-
nität (in Form eines Gerichtsbarkeitsverzichtes) bedenklich. 48 Das lässt sich
angesichts der Kompetenz-Kompetenz des Völkerrechts zur Bestimmung
des Nichteinmischungsgrundsatzes und daher zur Verhinderung von Souve-
ränitätskonflikten zwischen den Staaten begründen. 49 Zwischen diesem
bloßen Konsenscharakter des Völkerrechts und der Verbindlichkeit des
nationalen Rechts wäre auf Unionsebene wünschenswert, von einem Kon-
sens mit verbindlichen Rechtsfolgen auszugehen. Das bedarf einer weiteren
Begründung, welche dem supranationalen Charakter des Unionsrechts
Rechnung tragen muss.
Als Gegenstand eines supranationalen Konsenses ist die Hierarchisierung
von Anknüpfungspunkten für die Anwendung einer Strafgewalt und als
Begründung dieses Konsenses die Rationalisierung dieser Hierarchisierung
zu betrachten. Diese Rationalisierung beruht auf der Abgrenzung zwischen
"den zur Durchsetzung eigener oder/und fremder staatlichen Interessen
dienenden Prinzipien" und ist deswegen parallel zum materiellen Substrat
des Doppelverfolgungsverbots als fehlendes Verfolgungsinteresse zu be-

44 KOM (2005) 696~ dazu u.a. Panayides IRPL (Vol. 77), 117.
45 Initiative der tschechischen Republik, der Republik Polen, der Republik Slowenien, der
slowakischen Republik und des Königreichs Schwedens - 08535/2009 - C7-0205/2009 -
2009/0802(CNS), v. 08.10.2009.
46 Rahmenbeschluss 2009/948/JI des Rates v. 30.11.2009.
47 Am Beispiel des (noch geltenden) kantonalen Strafverfahrens in der Schweiz vgl. Woh-
lers in: Schünemann (Fn. 42), S. 51 ff.~ Hofmanski (Fn. 5), S. 677.
48 MK-StGBIAmbos (Fn. 30), Vor §§ 3-7 Rn. 20, 25~ Panayides (Fn. 44), 114 ff.
49 MK-StGBIAmbos (Fn. 30), Vor §§ 3-7 Rn. 20~ treffend Schünemann (Fn. 5), S. 121 ~ spe-
ziell zur universalen Gerichtsbarkeit Weigend FS Eser, 2005, S. 969.
866 Vasileios Petropoulos

trachten. 50 So muss ein supranationales Konsensverfahren von einer eben-


falls supranationalen Bestimmung der Verfolgungsinteressen der Staaten
ausgehen. Dabei kann die zwischenstaatliche Kommunikation von Verfol-
gungsbehörden den Charakter einer "vorbildlichen bilateralen Verständi-
gung" aufweisen. 51 Diese Bestimmung deckt sich zwar mit derjenigen des
nationalen Verfolgungsinteresses nicht (und gerade deswegen gibt es auch
die Kompetenzkonflikte); sie sorgt aber für die Schaffung eines (zwar aus
dem Völkerrecht stammenden, aber in diesem Sinne auch national-
verfassungsrechtlich akzeptierten) Minimums an Rechtsfrieden 52 auf inner-
staatlicher Ebene. Die Tatsache, dass eine bestimmte Strafgewalt nach völ-
kerrechtlichen Gesichtspunkten gegenüber den anderen einen Vorrang hat
und in diesem Sinne eine "gerechte, sichere, rasche, schonende (etc.)" Art
und Weise darstellt, "einen Konflikt beizulegen",53 schafft auch bei diesen
Rechtsordnungen ein Minimum an Rechtsfrieden, welche als weniger ge-
eignet betrachtet werden, ihre Strafgewalt auszuüben.
Im Hinblick darauf kann zwar die Verbindlichkeit der Folgen eines Kon-
senses über die Auswahl der geeigneten Strafgewalt auf den (künftigen)
Gesetzen zur Einführung des Rahmenbeschlusses 2009/948/JI in die natio-
nalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, auf einem künftigen Normer-
lass nach Art. 82 I (b) AEUV bzw. auf einer extensiven Auslegung des
heutigen Art. 55 IV SDÜ beruhen. Aber ihre dogmatische Begründung
erfolgt erst im Hinblick auf die Sicherung des Rechtsfriedens auch in diesen
Staaten, welche auf die Strafgewaltanwendung verzichten. Ein innerstaatli-
cher Rechtsfrieden als Folge eines supranationalen Konsenses ist entweder
durch die Gleichstellung des supranational erzeugten Rechtsfriedens mit
dem nationalen oder durch die Einführung der Folgen des supranationalen
Konsensverfahrens in die nationale Rechtsordnung mit Hilfe eines nationa-
len Verfahrens sicherzustellen.54 In einem gemeinsamen Raum der Freiheit,
Sicherheit und des Rechts sprechen die meisten Argumente für die erste
Lösung. Dadurch lassen sich des Weiteren sowohl der Versuch einer An-
gleichung der Verfahrensordnungen der Mitgliedstaaten im Bereich Auslie-

50 MK-StGBIAmbos (Fn. 30), Vor §§ 3-7 Rn. 72; Van der BekenlVermeulenlLagodny
(Fn. 42), 625 tf.; zur Problematik Vogel (Fn. 3), S. 890 ff.
51 Und nicht bei der Normativierung des Prozessgegenstands (so Appl GS Vogler, 2004,
S. 121; Hecker StV 2001,307); dazu Art. 5 ff. des Rahmenbeschlusses 20091948/11 des Rates
v.30.11.2009.
52 Der Rechtsfrieden ist hinsichtlich einer präskriptiv generalisierten Erwartung, welche "an
bestimmte generalisierend bewertete Vorhandlungen präsumptiv geknüpft wird", normativ zu
bestimmen, Volk (Fn. 6), S. 201; Rieß JR 2006,270 ff. (m.w.N. aufFn. 13).
53 Volk (Fn. 6), S. 201; so wird die Rechtsfriedenstheorie Schmidhäusers (FS Eb. Schmidt,
1961, S. 511 ff.) verfeinert.
54 Weitere Vorschläge Van der BekenlVermeulenlLagodny (Fn. 42), 627; Panayides
(Fn. 44), 117 ff.
Opportunitätsprinzip und europäisches "ne bis in idem" 867

ferung, Rechtshilfe und Vollstreckungshilfe als auch die grenzüberschrei-


tende Funktion des Schengener Informationssystems (SIS) begründen. 55
Auf der anderen Seite wäre das Erfordernis einer Verfahrensschaffung zur
Einführung der Konsensfolgen ins nationale Recht zeitaufwändig. 56 In die-
sem Sinne kann sich ein europäischer von einem völkerrechtlichen Konsens
zur Bestimmung der "geeigneten" Strafgewalt unter Rücksicht auf die Ver-
bindlichkeit seiner Folgen unterscheiden.
Sowohl die nationalen Gesetze zur Einführung des Rahmenbeschlusses
2009/948/11 v. 30.11.2009 in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten als
auch jeder künftige Normerlass gemäß Art. 82 I (b) AUEV haben des Wei-
teren der Kritik am Vorschlag des Rahmenbeschlusses Rechnung zu tragen.
Der Schutz der Rechte des Beschuldigten während des Konsensverfahrens
muss durch die klare Bestimmung des gesetzlichen Richters, die Schaffung
von Rechtsbehelfen und die Setzung von bestimmten Fristen in den mitwir-
kenden Staaten sichergestellt werden. 57 An den berechtigten Einwänden der
Praxis gegen die eventuell lange Dauer eines solchen Konsensverfahrens 58
darf nicht nur die heutige (für die Rechte des Beschuldigten in der Tat prob-
lematische) Verfahrensdauer vor dem EuGH als "alternatives Übel" entge-
gengesetzt werden. Zur Verkürzung der Verfahrensdauer und zu einer euro-
paweiten Berücksichtigung der Rechtshängigkeit könnte z.B. die Schaffung
eines europäischen Verfolgungs- bzw. Strafverfahrensregisters beitragen,
das die Koordination zwischen den verschiedenen Verfolgungsbehörden
wesentlich erleichtern würde. 59
Eine "geeignete" Strafgewalt lässt sich als Typusbegriff nach einer ,je-
desto" Argumentationslogik mit Hilfe von Indizien (d.h. Anknüpfungspunk-
ten) im Konsensverfahren ermitteln. 60 Das Erreichen eines Konsenses ist

55 Vgl. EuGH 28.09.2006 C-150/05 van Straaten Zif. 27~ Kühne (Fn. 27), § 3 Rn. 70 ff., 74
ff.~das steht sowohl mit dem Rahmenbeschluss 2009/948/JI des Rates v. 30.11.2009 als auch
mit dem Gedanken des Netzwerksystems in Einklang (dazu Nehl [Fn. 9], § 58 Rn. 21 ff.).
56 Zu den Problemen aus der Verfahrensdauer vor deIn EuGH Satzger Europäisierung des
Strafrechts, 2001, S. 666~ Hecker (Fn. 3), § 13 Rn. 25~ Lagodny NStZ 2006, 109.
57 Vgl. Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2009/948111 des Rates v. 30.11.2009~ zur Kri-
tik am Vorschlag des Beschlusses: u.a. Hopkins Plädoyer v. 13. 07. 2009 vor dem "House of
Comnlons"; die Stellungnahme der BRAK Nr. 12-2009 zum Vorschlag eines Rahmenbe-
schlusses zur Vermeidung der Kompetenzkonflikte in Strafsachen~ das Gutachten der Meijers
Comittee v. 25. 08. 2009~ das Gutachten der britischen Organisation lustice v. Juli 2009~ den
Vorschlag der "Law Society of England and \Vales" v. Februar 2009~ den "offenen Brief' der
ECBA vom 6. April 2009 an das EU-Parlament (sämtliche Dokumente sind im Internet mittels
der üblichen Suchmaschinen abrutbar).
58 Vgl. oben Fn. 56~ Vogel in: Schünemann (Fn. 42), S. 122~ Anagnostopoulos (Fn. 21),
S. 180 ff.~ auf eine kurze Dauer des Konsensverfahrens zielen auch die Art. 5 ff. des Rahmen-
beschlusses 2009/948/11 des Rates v. 30.11.2009.
59 Panayides (Fn. 44), 116 ff.~ Van der Beken/Vermeulen/Lagodny (Fn. 42), 627.
60 Van der Beken/Vermeulen/Lagodny (Fn. 42),625 ff.
868 Vasileios Petropoulos

daher als Rationalisierung der Hierarchisierung der Anknüpfungspunkte zu


verstehen, welche filr eine bestimmte Strafgewalt sprechen. 61 Darin dürfte
die innerstaatliche Anwendung und Reichweite des Opportunitätsprinzips
im Grunde genommen nicht berücksichtigt werden. 62 Die Berücksichtigung
der Reichweite von nationalen Diversionsmaßnahmen beim (supranationa-
len) Auswahlverfabren der geeigneten Strafgewalt könnte sonst zu einem
Forum Shopping (diesmal seitens der Verfolgungsorgane) filbren. 63 Bei der
Kompetenzabgrenzung in Strafsachen gibt es daher keinen Raum filr die
Aufwertung des Opportunitätsprinzips. In diesem Sinne kann die "ne bis in
idem"-Problematik durch eine Verschiebung auf die Vorebene der Kompe-
tenzabgrenzung nur teilweise gelöst werden. Es muss dazu sichergestellt
werden, dass das in Betracht kommende "geeignete" Gericht dem suprana-
tionalen Charakter des Sachverhalts Rechnung trägt.

111. Nationaler Strafldageverbrauch nach Verfahrenseinstellung


und Auswirkung auf das europäische ne bis in idem
Nach der obigen Befassung mit der Reichweite des europäischen ne bis in
idem zur Bestimmung des Grads der Aufwertung des Opportunitätsprinzips
in Europa wird im Folgenden versucht, diese Aufwertung dogmatisch zu
begründen. Dabei ist die Auslösung eines europaweiten Strafklage-
verbrauchs als Folge von nationalen Diversionsmaßnahmen im Hinblick auf
den Prozesszweck der Rechtsfriedenssicherstellung zu betrachten. 64

1. Das Nebeneinander von Opportunitäts- und Legalitätsprinzip


in Europa
Die Existenz und Reichweite eines staatsanwaltlichen bzw. gerichtlichen
Ermessensspielraums hinsichtlich eines Absehens von der Anklageerhebung
und daher hinsichtlich der Durchbrechung des Legalitätsprinzips hängt im
Grunde genommen von jeder nationalen rechtlichen Tradition ab. So gehen
z.B. die deutsche und österreichische StPO bei Verbrechen von einer Ver-
folgungspflicht aus und erlauben nur bei minder- bzw. mittelschweren Ver-

61 Solche Kriterien werden in Art. 11 des Rahmenbeschlusses 2009/948111 des Rates


v. 30.11.2009 nicht erwähnt. Zu den Kriterien MüKo-StGBIAmbos (Fn. 30), Vor §§ 3-7
Rn. 25 ff., 64 ff.; Van der BekenlVermeulenlLagodny (Fn. 42), 625 ff.
62 Und wenn überhaupt, dann nur mittelbar in1 Rahmen des völkerrechtlichen Optimie-
rungsgebots - dazu MK-StGBIAmbos (Fn. 30), Vor §§ 3-7 Rn. 22, 72.
63 Van der BekenlVermeulenlLagodny (Fn. 42), 626.
64 Dazu Volk (Fn. 6), S. 183 ff., 200 ff.
Opportunitätsprinzip und europäisches "ne bis in idem" 869

gehen die Einstellung des Verfahrens aus Opportunitätsgründen. 65 Dagegen


kann die Staatsanwaltschaft in Belgien und in den Niederlanden auch
Verbrechen aus Opportunitätsgründen einstellen. 66 Dasselbe gilt auch in
Frankreich, wo die Staatsanwälte die Entscheidung treffen, entweder weiter
zu ermitteln oder das Verfahren nach Erteilung von Auflagen einzustellen.
Als Durchbrechung des Legalitätsprinzips ist des Weiteren auch die gericht-
liche Herunterdefinierung einer Straftat zu betrachten. 67 Das Opportunitäts-
prinzip wird auch in der angelsächsischen rechtlichen Tradition praktiziert,
insbesondere wenn man darunter auch die Absprachen versteht. Eine diver-
sionelle Geldbußeerteilung, welche zum Strafklageverbrauch ruhrt, steht
nicht nur der Staatsanwaltschaft, sondern auch den Polizeibehörden zur
Verrugung. 68
Strenger am Legalitätsprinzip sind u.a. die italienische 69 , die spanische 70
und die griechische 71 Strafprozessordnung orientiert, welche in der Ankla-
ge- und Verfolgungspflicht die "andere Seite der Medaille" des Gleich-
heitsgrundsatzes sehen. 72 Jenseits dieser materiellrechtlichen Begründung
bleibt das Absehen vom Opportunitätsprinzip des Öfteren auch mit prakti-
schen Schwierigkeiten verbunden. Mangelnde Organisationsstruktur hin-
sichtlich einer ordnungsgemäßen Auflagenerfullung und ein latentes Miss-
trauen am "Ethos" der Strafverfolgungsorgane als Folge eines defizitären
Überwachungsmechanismus 73 stellen praktische Hindernisse fur die breite
Einfuhrung des Opportunitätsprinzips ins nationale Recht dar. So bleibt der
sperrwirkungsauslösende Charakter einer diversionellen Verfahrenseinstel-
lung auf Unionsebene insbesondere rur diese Rechtsordnungen, welche sich
vornehmlich am Legalitätsprinzip orientieren, begründungsbedürftig, und
zwar nicht nur hinsichtlich eines vage ausgestalteten "Vertrauens" zwischen
den Mitgliedstaaten, sondern auch nach materiellrechtlichen Gesichtspunk-
ten.

65 AK-StPOISchöch (Fn. 1), §§ 153 Rn.1, 153a Rn.1~ F.-C. Schroeder FS Fezer, 2008,
S. 544 ff.~ BurgstallerlGrafl FS Miklau, 2006, S. 109 ff.
66 Corstens Het Nederlandse Strafprocesrecht, 1993, S. 53~ Wohlers FS Eisenberg, 2009,
S. 11 ff.; Kühne (Fn. 27), § 71 Rn. 1402.
67 Fourment Procedure Penale, 10. Aufl. 2009-2010, S. 139 ff.~ Kühne (Fn. 27), § 71
Rn. 1227.
68 Umfassend Kühne (Fn. 27), § 71 Rn. 1154.
69 Kühne (Fn. 27), § 71 Rn. 1282.
70 Kühne (Fn. 27), § 71 Rn. 1378.
71 Androulakis Grundbegriffe des Strafverfahrens, 3. Aufl. 2007, S. 65 ff.~ Karras Strafver-
fahrensrecht, 3. Aufl. 2007, S. 270 ff.
72 RoxinlSchünemann (Fn. 33), § 14 Rn. 2~ Jokisch Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren,

S.149.
73 Hassemer FS StA Schieswig-Hoistein, 1992, S. 539 f. ~ dazu Salas Kritik des strafprozes-
sualen Denkens, 2005, S. 63 ff.
870 Vasileios Petropoulos

Nach einer Ansicht werden die Überzeugung des Richters von der Täter-
schuld, die Methoden der Strafaufklärung im Rahmen des Verfahrens sowie
die Begründungspflicht einer Entscheidung als berücksichtigungsbedürftige
materielle Gesichtspunkte einer Strafklageverbrauchsbegründung betrach-
tet. 74 Im Hinblick darauf sei dann die materielle Rechtskraft von Verfah-
renseinstellungen gemäß § 153a StPO zu vemeinen. 75 Aber einer solchen
Bestimmung der Voraussetzungen der materiellen Rechtskraft ist nur teil-
weise beizupflichten. Der Strafklageverbrauch lässt sich erst angesichts des
strafprozessualen Telos einer Rechtsfriedenserreichung vollständig begrün-
den. 76 Das betrifft auch die Sperrwirkung von Diversionsmaßnahmen und
daher auch die Bestimmung der Voraussetzungen dieser europaweiten
Aufwertung des Opportunitätsprinzips. So kann der Begriff der "Prozess-
ökonomie" als "das Inbezugsetzen von Prozessziel und Prozessaufwand"77
auch eine europaweite Dimension haben, welche der Aufwertung des Op-
portunitätsprinzips nicht widerspricht. Das lässt sich auch am Beispiel des
Wortlauts der §§ 153, 153a StPO bestätigen, die von einem mangelnden
öffentlichen Verfolgungsinteresse ausgehen, welches sich auf das strafpro-
zessuale Telos des Rechtsfriedens beziehen muss. Die Voraussetzungen
eines europaweiten Stratklageverbrauchs und einer nationalen Verfah-
renseinstellung sind daher mit der Begründung des Opportunitätsprinzips
eng verbunden. Das lässt sich auch angesichts des deutschen Rechts bewei-
sen.

2. Opportunitätsprinzip und Prozesszweck


Die Reichweite des Opportunitätsprinzips wird im deutschen Recht im
Grunde genommen in den §§ 153 ff. StPO geregelt. Ob darunter auch die
Absprachen gern. des neuen § 257c StPO fallen, solange auch "sonstige
verfahrensbezogene Maßnahmen im zugrunde liegenden Erkenntnisverfah-
ren" als Gegenstand der Verständigung betrachtet werden,78 mag jenseits
der gegenwärtigen Untersuchung, welche sich auf die §§ 153, 153a StPO
beschränkt, verbleiben. Die Dominanz der §§ 153 ff. StPO im Bereich der
kleinen und mittleren Kriminalität ist als mildere Reaktion auf ein milderes

74 RadtkelBusch (Fn. 3), 287~ Wohlers (Fn. 3), S. 818 ff.


75 RadtkelBusch (Fn. 3), 287, hinsichtlich der gerichtlichen Kognitionspflicht Radtke
(Fn. 13), S. 314 ff.~ weitere Ansichten in Ambos (Fn. 3), § 12 Rn. 46.
76 Volk (Fn. 6), S. 83 ff., 183 ff., 200 ff.
77 Volk (Fn. 6), S. 260.
78 Meyer-Goßner StPO, 52. Aufl. 2009, § 257c Rn. 13 (Ergänzungsheft)~ zum Regelgehalt
der Absprachen in anderen Rechtsordnungen u.a. Kühne (Fn. 27), § 47 Rn. 747 ff.~ betreffend
den Strafklageverbrauch Schomburg (Fn. 7), S. 831 ~ Zur Problematik eines darauf beruhenden
Strafklageverbrauchs Schünemann (Fn. 5), S. 121.
Opportunitätsprinzip und europäisches "ne bis in idem" 871

"Übel" und daher als Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu betrach-


ten. 79 In diesem Sinne lässt sich das Opportunitätsprinzip angesichts der
Bestimmung der Voraussetzungen seiner Anwendung als Ergänzung und
nicht als Gegensatz zum Legalitätsprinzip verstehen. Es ist nicht zwischen
Zweckmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit, sondern zwischen gesetzlicher Be-
stimmtheit und Unbestimmtheit zu unterscheiden. 80
Das zeugt bereits vom materiellrechtlichen Substrat des Opportunitäts-
prinzips. Solange die Pflicht der Staatsanwaltschaft, Anklage zu erheben,
auf dem Bestimmtheits- und Gleichheitsgrundsatz (und daher auf dem
Rechtsstaatsprinzip) beruht, gerade weil die Voraussetzungen strafrechtli-
cher Ahndung nur vom Gesetzgeber und nicht von der Staatsanwaltschaft
bestimmt werden dürfen,81 bedarf auch die Durchbrechung dieses Anklage-
zwangs einer materiellrechtlichen Begründung. So ist das Opportunitäts-
prinzip nicht als staatsanwaltliches Wahlrecht "zwischen Verfolgung und
Nichtverfolgung", sondern als Rechtsanwendung, m.a.W. als Subsumtion
eines Sachverhalts unter die vom Gesetzgeber bestimmten Voraussetzungen
einer sanktionsfreien Sicherstellung des Rechtsfriedens, zu verstehen. 82 Im
Hinblick darauf wird das Legalitätsprinzip den absoluten und das Opportu-
nitätsprinz den relativen Straftheorien - vereinfacht formuliert - zugeord-
net. 83 Und aus diesem Grund widerspricht die verfahrensökonomische Be-
gründung des Opportunitätsprinzips der materiellen Gerechtigkeit nicht. Die
Prozessökonomie ist keine "technische Maxime", welche den Zielen des
materiellen Strafrechts keine Rechnung trägt. 84 Ganz im Gegenteil werden
die Normen des materiellen Strafrechts auch im Rahmen des Prozessrechts
nach "materiellrechtlicher Legalität" verwirklicht. 85 Das lässt sich auch
hinsichtlich der zentralen Merkmale der §§ 153, 153a StPO (der Schuld des
Täters und des öffentlichen Interesses) bestätigen. 86
Als "Schuld des Täters" ist die Strafzumessungsschuld anzusehen, welche
u.a. die Art der Tatausführung bzw. die verschuldeten Auswirkungen der

79 KK-PfeifferIHannisch, 6. Autl. 2008, Einl. Rn. 6~ Volk Grundkurs StPO, 6. Autl. 2008,
§ 12 Rn. 13~ LR-Beulke, 26. Autl. 2008, § 153 Rn. 3,23.
80 F.C. Schroeder FS Peters, 1974, S. 412~ Kühne (Fn. 27), § 18 Rn. 309~ SK-StPO/Wolter
11. Aufl. 1994, Vor § 151 Rn. 13 ff., 46 ff.; eine präzise Bestimmung der Opportunitätsfalle ist
für die "Rechtstaatlichkeit des Verfahrens" unentbehrlich, so Hassemer FS StA Schleswig-
Holstein, 1992, S. 539.
81 RoxinlSchünemann (Fn. 33), § 14 Rn. 2.
82 KK-PfeifferlHannisch (Fn. 79), Einl. Rn. 6~ Kühne (Fn. 27), § 35 Rn. 585 ff.~ Volk
(Fn. 6), S. 201, 260~ F.C. Schroeder (Fn. 80), S. 417 ff.
83 Hassemer (Fn. 80), S. 538~ darauf beruht die dogmatische Begründung der Reichweite
des Opportunitätsprinzips in den Niederlanden (Kühne [Fn. 27], § 76 Rn. 1441).
84 Volk (Fn. 6), S. 260.
85 Hassemer (Fn. 80), S. 529.
86 LR-Beulke (Fn. 79), § 153 Rn. 23.
872 Vasileios Petropoulos

Tat erfasst. 87 Die Schuld des Täters im engeren Sinne (als Bestandteil der
strafrechtlichen Verantwortlichkeit) ist des Weiteren mit hinreichendem
Verdacht und als Folge der Ermittlungen festzustellen. Der hinreichende
Verdacht muss etwas mehr als die "Wahrscheinlichkeit der Verurteilung"
sein. Fehlt dieser Verdacht, ist das Verfahren gemäß § 170 StPO einzustel-
len. 88 Auf die (Strafzumessungs-)Schuld des Täters kann sich u.a. eine
übermäßig lange Verfahrensdauer auswirken,89 welche die Rechte des Be-
schuldigten verletzt, der Verhältnismäßigkeit keine Rechnung trägt und dem
Rechtsfrieden widerspricht. In der Praxis stellen solche Verfahrensverzöge-
rungen gerade bei Strafverfahren mit einem internationalen Charakter kein
Novum dar. 9o
Der Begriff des öffentlichen Interesses an der Verfolgung lässt sich des
Weiteren "nach Maßgabe der Strafzwecke", also nach general- und spezial-
präventiven Erwägungen, bestimmen. Das zeugt wiederum vom materiell-
rechtlichen Substrat des Absehens von der Anklageerhebung, welches auch
angesichts der Betrachtung des Opportunitätsprinzips als Ausfluss des Ver-
hältnismäßigkeitsprinzips begründet wird. Der Gesetzgeber wollte die Ent-
scheidung über die Strafbarkeit "nicht subsumtionsgerecht festlegen, son-
dern dem außerhalb der Tat liegenden Ermessen von Staatsanwaltschaft und
Gericht überantworten".91 Es handelt sich m.a.W. nicht um eine bloße Aus-
nahme vom Anklageerhebungszwang, sondern um eine "Subsumtion unter
Tatbestandsmerkmale".92 Liegen die Voraussetzungen der Diversion gern.
§§ 153 ff. StPO vor, ist der Rechtsfrieden auch ohne strafrechtliche Sankti-
onierung zu erreichen. Das steht mit der normativen Bestimmung des
Rechtsfriedens, welche von einer präskriptiv generalisierten und an Vor-
handlungen präsumtiv angeknüpften Erwartung der Gemeinschaft ausgeht,
in Einklang. 93

87 AK-StPO/Schöch (Fn. 1), § 153 Rn. 15 ff.


88 Kühne (Fn. 27), § 35 Rn. 586; Lorenzen FS StA Schieswig-Hoistein (Fn. 73), S. 556.
89 BGH NStZ 1990,94; AnwK-StPO/Walther, 2. Aufl. 2010, § 153 Rn. 7.
90 Dazu vgl. Lagodny NStZ 2006,109; Cramer Wistra 1999,292.
91 Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. 2006, § 23 Rn. 59
92 Schroeder (Fn. 80), S. 425.
93 Ausführlich Volk (Fn. 6), S. 201; Bandemer NStZ 1988,300; vgl. auch Landau (Fn. 6),
122; angesichts dieser normativen Bestimmung des Rechtsfriedens lassen sich verschiedene
Einwände gegen die Anwendung der Diversion auf konkrete Fälle (insb. des Wirtschaftsstraf-
rechts, vgl. Götz NJW 2007, 421; Roxin/Schünemann [Fn. 33], § 3 Rn. 23) entkräften. Diese
beziehen sich auf das "Ethos" der Verfolgungsbehörde (Hassemer [Fn. 80], S. 540) und daher
auf die praktische Durchführung der Diversion; zur Bedeutung der Abgrenzung zwischen
Theorie und Praxis des Strafverfahrens u.a. Salas (Fn. 73), S. 63 ff.
Opportunitätsprinzip und europäisches "ne bis in idem" 873

Die Begründung des Opportunitätsprinzips in den anderen europäischen


Staaten erfolgt mit ähnlicher Argumentation. 94 Abweichungen in der
Reichweite und Anwendung von Diversionsmodellen zwischen den ver-
schiedenen Rechtsordnungen sind Folge einer unterschiedlichen nationalen
Kriminalpolitik.95 Diese beruht zwar überwiegend auf dem materiellen
Strafrecht, sie muss aber auch weiteren Faktoren bezüglich der praktischen
Durchftihrung der Diversion Rechnung tragen (z.B. der Schaffung einer
Organisationsstruktur zur Erftillung bzw. zur Kontrolle von Auflagen und
Weisungen). Deswegen wird zwar die materiellrechtliche Dimension des
Opportunitätsprinzips (insb. in §§ 153, 153a StPO) treffend hervorgehoben,
ohne aber den prozessualen Aspekt des Prinzips zu verneinen. Die Betrach-
tung eines Absehens von der Anklageerhebung als "mittelbare Entkrimina-
lisierung", welche sich "systemwidrig" im Strafverfahrensrecht befindet,96
verkennt die Abgrenzung zwischen der Existenz einer staatlichen Reaktion
und der Durchführung dieser Reaktion in der Praxis. 97 Ob der Rechtsfrieden
als (normativ bestimmbare) "präskriptiv generalisierte Erwartung" ange-
sichts des Verhältnismäßigkeitsprinzips durch andere Mittel als die Strafe
sichergestellt werden kann, hängt nicht nur vom straftatbezogenen Ausmaß
der gesellschaftlichen Erschütterung, sondern auch von der praktischen
Funktionstüchtigkeit eines diversionellen Reaktionsmittels ab. 98
Das schließt natürlich die Existenz eines materiellrechtlichen Substrats
der Diversion (als Ausfluss aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip) keines-
falls aus, was wiederum auf europäischer Ebene gerade für diese Staaten,
welche dem Legalitätsprinzip überwiegend folgen, von großer Bedeutung
ist. Das Opportunitätsprinzip stellt für sie keine "exotische" strafprozessuale
Regel dar, welche mit der eigenen Rechtsordnung nicht in Einklang steht,
sondern es ist als kriminalpolitische Entscheidung eines anderen Staates zu
betrachten, mit "geeigneteren" Mitteln das erwünschte strafprozessuale Ziel
zu erreichen. Deswegen kann das Opportunitätsprinzip auch von ihnen
hinsichtlich seines materiellen Substrats als Ausfluss des Verhältnismäßig-
keitsprinzips mit geringem Misstrauen und hinsichtlich seiner praktischen
Anwendung mit großem Interesse betrachtet werden.

94 Eine Übersicht in Kühne (Fn. 27), 7. Kapitel (§§ 71-76); Wohlers FS Eisenberg, 2009,
S. 811 ff.
95 Vgl. u.a. LR-Beulke, 26. Autl. 2008, § 153 Rn. 2.
96 Hassemer (Fn. 80), S. 538; ähnlich Lorenzen (Fn. 88), S. 548 ff.
97 Zum prozessualrechtlichen Charakter der Vorschrift u.a. LR-Beulke (Fn. 95), § 153 Rn. 3;
über die dogmatische Begründung der Trennung von Prozessrecht und materiellem Strafrecht
Volk (Fn. 6), S. 201 ff.
98 Über die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtsptlege im Allgemeinen Landau (Fn. 6), 127;
dabei ist in der Tat auf das Ethos der Behörden und Gerichte abzustellen (Hassemer [Fn. 80],
S. 540); zum Rechtsfriedensbegriff Volk (Fn. 6), S. 201; vgl. auch Landau a.a.O., 122.
874 Vasileios Petropoulos

3. Opportunitätsprinzip und öffentliches Interesse


beim europäischen ne bis in idem
Das bereits festgestellte materielle Substrat einer Verfahrenseinstellung
gemäß §§ 153, 153a StPO, welches als Ausfluss aus dem Verhältnismäßig-
keitsprinzip verstanden wird und im Begriff des öffentlichen Verfolgungsin-
teresses seinen Hauptausdruck findet, ist rur die Begründung der europawei-
ten Sperrwirkung von diversionellen Verfahrenseinstellungen von erheb-
licher Bedeutung. Denn auch die Begründung der materiellen Sperrwirkung
liegt in einem bereits sichergestellten Rechtsfrieden, in welchem sowohl die
Interessen des Täters, nach seiner Aburteilung "in Ruhe" gelassen zu wer-
den, als auch die Voraussetzungen einer kollektiven Rechtssicherheit be-
rücksichtigt werden. 99 In diesem Sinne ist auch das Kriterium des "krassen
Widerspruchs" zur materiellen Gerechtigkeit, welches vom Wiederaufnah-
merecht nicht unabhängig betrachtet werden darf, als Voraussetzung der
Durchbrechung des ne bis in idem zu verstehen. 100 Betrachtet man den
Rechtsfrieden als Telos des Strafprozesses, braucht man nicht vom Gegen-
satzpaar "Rechtssicherheit"l"materielle Gerechtigkeit" auszugehen. Beide
Prinzipien tragen zur Sicherung des Rechtsfriedens bei und sind daher pa-
rallel zu betrachten.
Im Hinblick darauf lassen sich sowohl die gesetzliche Regelung in § 153a
Abs. 1 S. 4 StPO als auch die Rechtsprechung zum § 153 Abs. 2 StPO,101
welche von einer Teilrechtskraft ausgehen, angesichts des "Grades" an
sichergestelltem Rechtsfrieden durchaus begründen. Wenig ersichtlich ist
dagegen, warum die Einstellung gern. § 153 Abs. 1 StPO dieselbe Teil-
rechtskraft nicht auslösen darf. 102 Ein Argument e contrario aus dem § 153a
StPO überzeugt nicht, solange die Erteilung von Weisungen und Auflagen
Folge der unterschiedlichen Bemessung der Schuld des Täters und des öf-
fentlichen Interesses in §§ 153, 153a StPO ist und keinesfalls als Ursache
der Teilsperrwirkung des § 153a StPO betrachtet werden darf. 103 Das lässt

99 Volk (Fn. 6), S. 184~ Stein (Fn. 6), S. 142 ff.


100 Hinsichtlich des Wiederaufnahmerechts Schäch Stellungnahme zum Entwurf eines Ge-
setzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts, BT-Drs. 16/7957, S. 5~ Volk
(Fn. 6), S. 87.
101 BGH NJW 1963, 549~ NJW 2004, 375~ zum Streitstand bezüglich der Reichweite der
Sperrwirkung LR-Beulke (Fn. 95), § 153 Rn. 88.
102 So die h.M. LR-Beulke (Fn. 95), § 153 Rn. 56 (m.w.N. aufFn. 56)~ a.A. Radtke Die Sys-
tematik des Strafklageverbrauchs bei verfahrenserledigenden Entscheidungen im Strafrecht,
1994, S. 385 ~ ders. NStZ 1999, 483 ff.
103 Die Tatsache, dass aufgrund der geringen Schuld und des mangelnden ötfentlichen Inte-
resses eine Weisungs- bzw. Auflagenerteilung in § 153 StPO nicht erforderlich ist, darf nicht
gegen den Beschuldigten gewendet werden, Volk Grundkurs StPO, 6. Aufl. 2008, Rn. 21.
Opportunitätsprinzip und europäisches "ne bis in idem" 875

sich im Grunde genommen auch durch die Rechtsprechung des EuGH bes-
tätigen. 104
Dieselbe Argumentation lässt sich auch auf einen europaweiten Strafkla-
geverbrauch anwenden, der in diesem Sinne auf der Sicherung eines euro-
päischen Rechtsfriedens beruhen muss. Dieser Begriff ist des Weiteren als
Ausfluss aus dem nationalen Rechtsfrieden der Mitgliedstaaten, welche mit
dem Sachverhalt verbunden sind, ebenfalls normativ zu verstehen. 105 Als
Ziel des nationalen Strafverfahrens mit europäischem Bezug wird m.a.W.
die Sicherung eines europäischen Rechtsfriedens betrachtet. Das ist bei den
§§ 153, 153a StPO mit Hilfe einer "europafreundlichen" Bestimmung des
Begriffs des öffentlichen Interesses durchaus möglich; dies steht des Weite-
ren mit der Betrachtung des ne bis in idem als Frage nach der richtigen
Kompetenzabgrenzung in Strafsachen 106 keinesfalls in Widerspruch. Das
(nationale) öffentliche Strafverfolgungsinteresse, welches mit dem mate-
riellrechtlichen Gehalt des Opportunitätsprinzips eng verbunden ist, wider-
spiegelt sich in der Rationalisierung der Hierarchisierung der Anknüpfungs-
punkte für die Auswahl der geeigneten Strafgewalt,107 wie es oben (unter I.
3.) gezeigt wurde.
Natürlich müssen die in Betracht kommenden Anknüpfungspunkte vom
materiellen Recht jeder nationalen Rechtsordnung unabhängig bleiben,
sonst besteht die Gefahr eines (diesmal von den Strafverfolgungsorganen
begangenen) "Forum Shoppings". Deswegen darf die innerstaatliche Mög-
lichkeit einer Diversion (und daher einer milderen Behandlung einer Straf-
tat) als Anknüpfungspunkt zur Bestimmung der geeigneten Strafgewalt
nicht in Betracht kommen. Das heißt aber nicht, dass eine Entscheidung
zugunsten einer Rechtsordnung, welche stark am Opportunitätsprinzip ori-
entiert ist, den Verfolgungsinteressen der anderen Rechtsordnungen wider-

104 Böse (Fn. 3), 750~ ders. JR 2005, 13~ Kühne JZ 2003, 306~ a.A. LR-Beulke (Fn. 95),
§ 153 Rn. 56~ Veh (Fn. 12), Rn. 101~ bei der EuGHE C-491/07 v. 22.12.2008 Turansky ging es
um die vorläufige Einstellung des Anklageerhebungsverfahrens von der Polizei, welche mit
einer Einstellung gern. § 153 Abs. 1 StPO nicht vergleichbar ist.
105 Solange die Union auf den Mitgliedstaaten beruht, vgl. u.a. Streinz Europarecht, 8. Aufl.
2008, § 2 Rn. 63~ darauf bezieht sich die materiellrechtliche Frage nach dem "genuinen"
Charakter der europäischer Rechtsgüter, BitzilekislKaiaja-GbandiISymeonidou-Kastanidou in:
Schünemann (Fn. 42), S. 223 ff.~ Spinelis in: Schünemann (Fn. 42), S. 237 ff.~ auf einen euro-
päischen Rechtsfriedensbegriff bezieht sich auch die Diskussion über die Zukunft des Europa-
rechts, Tiedemann FS Eser, 2005, S. 893 ff.
106 Lagodny FS Trechsel, 2002, S. 263~ vgl. dazu Art. 82 I (b), 82 11 2 (b) und (c), 83 und 85
I 1 (c) AEUV, wo die Beratungsrolle des Eurojust beim Verhindern und Beilegen von Kompe-
tenzkonflikten in Strafsachen besonders betont wird.
107 Ausführlich MK-StGBIAmbos (Fn. 30), Vor §§ 3-7 Rn. 25 ff., 64 ff.~ Van der Be-
kenlVermeulenlLagodny (Fn. 42), 625 ff.~ Schomburg (Fn. 7), S. 832 (der treffend von einer
"materiell-rechtlichen Vorfrage" ausgeht).
876 Vasileios Petropoulos

sprechen muss. Ganz im Gegenteil setzt die europaweite Akzeptanz des


Opportunitätsprinzips (in der FOIW der europaweiten Sperrwirkung von
nationalen Diversionsmaßnahmen) die Sicherung eines supranationalen
Rechtsfriedens voraus.
Beim deutschen Recht könnte das hinsichtlich des Begriffs des öffentli-
chen Interesses gern. §§ 153, 153a StPO erfolgen. 108 So könnte die Ausle-
gung des "öffentlichen Interesses" neben den Voraussetzungen der formel-
len auch den Erfordernissen der materiellen Rechtskraft Rechnung
tragen; 109 denn auch im Rahmen einer Verfahrenseinstellung können mate-
rielle Gesichtspunkte berücksichtigt werden, die sich auf den supranationa-
len Charakter des Falls beziehen. Die Reichweite dieser Berücksichtigung
hängt des Weiteren von den Diversionsmöglichkeiten, welche der Staats-
anwaltschaft bzw. dem Gericht nach den Voraussetzungen des nationalen
Rechts zur Verfügung stehen, ab. So können z.B. im Rahmen des deutschen
Rechts hinsichtlich des nicht abschließenden Weisungs- bzw. Auflagekata-
logs in § 153a StPO Weisungen oder Auflagen erteilt werden, welche dem
Auslandselement des Sachverhalts Rechnung tragen. In Betracht käme etwa
ein Täter-Opfer-Ausgleich mit dem ausländischen Opfer oder die Zahlung
eines Teils der Geldbuße an eine ausländische Einrichtung (z.B. an ein
Krankenhaus) oder die Arbeit in einer ausländischen Einrichtung im Inland
(z.B. in einer Botschaft) usw. Wichtig ist, dass die staatliche Reaktion von
einer Berücksichtigung des Verfolgungsinteresses des anderen Staates zeugt
und in diesem Sinne einen grenzüberschreitenden Rechtsfrieden schafft.
Dieser kann auch angesichts des Ermessensspielraums bei der Vollstre-
ckung der Strafe auf europäischer Ebene erreicht werden. 110

IV. Ausblick
Die EuGH-Rechtsprechung zur Anerkennung eines europaweiten Straf-
klageverbrauchs angesichts einer nationalrechtlichen Sperrwirkung, welche
von (ebenfalls nationalen) Diversionsmaßnahmen ausgelöst wird, führt zu
einer Aufwertung des Opportunitätsprinzips in Europa. Diese Rechtspre-
chung steht auch mit dem neuen Art. 6 EUV i.V.m. Art. 50 GRC in Ein-
klang und lässt sich hinsichtlich des materiellen Substrats des Opportuni-
tätsprinzips begründen. Auf demselben materiellen Substrat, m.a.W. auf der

108 Über eine EG-konforme Auslegung des öffentlichen Interesses Jokisch Getneinschafts-
recht und Strafverfahren, 2000, S. 158 ff. ~ im Bereich der Kartellgeldbußen angesichts des Art.
50 GRC Nehl (Fn. 9), § 58 Rn. 23~ weitere Argumente in Hecker (Fn. 3), § 13 Rn. 39 ff.
m.w.N.
109 RadtkelBusch (Fn. 3), 284.
110 Dazu u.a. Sat=ger in: Schünemann (Fn. 42), S. 146 ff.
Opportunitätsprinzip und europäisches "ne bis in idem" 877

"Bewährung des Strafrechts" als Voraussetzung einer normativen Bestim-


mung des Rechtsfriedens, beruht auch die dogmatische Begründung der
Reichweite des Strafklageverbrauchs. Eine europaweite Aufwertung dieses
nationalen Strafklageverbrauchs, der als Folge von Diversionsmaßnahmen
entsteht, ist daher angesichts der Sicherstellung eines europäischen Rechts-
friedens, welcher als Ziel eines nationalen Diversionsverfahrens mit supra-
national europäischem Charakter betrachtet wird, durchaus möglich und zu
begrüßen. Vorliegende Begründung der Aufwertung des Opportunitätsprin-
zips in Europa steht auch mit der Ansicht des Jubilars betreffend die mate-
riellrechtliche Entkriminalisierungsfunktion der Diversion und den mate-
riellrechtlichen Bezug der Wiederaufnahmeregeln bei Fällen einer krassen
Beeinträchtigung der materiellen Gerechtigkeit in Einklang. 111 Es ist rur
mich eine besondere Freude und Ehre, dem Jubilar, meinelTI akademischen
Lehrer Professor Heinz Schöch, vorliegende Untersuchung zu widmen und
ihm an dieser Stelle von Herzen "ci<; E111TrOAAU" zu wünschen!

111 AK-StPO/Schöch (Fn. 1), §§ 153 Rn. 1 ff., 153a Rn. 1 ff.; ders. Stellungnahme zum Ent-
wurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts, BT-Drs. 16/7957,
S.5.
Der Anklagesatz
Novellierung durch Rechtsprechung?

ULRICH ZIEGERT

I.
Der Große Strafsenat des Bundesgerichtshofes wird erneut in Stellung
gebracht,l um eine zentrale Vorschrift der StPO umzugestalten. Erst kürz-
lich hat er in seinem Beschluss vom 23.04.2007,2 durch den er die Rüge
verkümmern ließ, den gesetzlichen Rahmen richterlichen Handeins neu
bestimmt. Im Gegensatz zur Konzeption des § 274 StPO, die der Form-
strenge den Vorzug vor der materiellen Wahrheit gibt und so dem Revisi-
onsverfahren eine verlässliche Grundlage schafft, betont der Große Straf-
senat die materielle Wahrheit. 3 Er verändert die Konzeption von § 274 StPO
radikal, indem er letztlich die absolute Beweiskraft des Hauptverhandlungs-
protokolls zur Disposition von Tatrichter und Revisionsgericht stellt. In
ihrem abweichenden Votum 4 zum die Verfassungsbeschwerde gegen die
Entscheidung des Großen Strafsenates verwerfenden Beschluss des 2. Sena-
tes des Bundesverfassungsgerichts stellen die Richter Voßkuhle, Osterloh
und Di Fabio fest:
"Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs hat mit der
Einführung des Verfahrens nachträglicher Protokollberichtigung in sei-
nem Beschluss vom 23.04.2007 - GSSt 1/06 - unter Verstoß gegen Arti-
kel 20 Abs. 2 und 3 GG in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers über-
gegriffen. "
Auch wenn die Mehrheit des 2. Senates des Bundesverfassungsgerichts 5
die Auffassung vertrat, dass die Neugestaltung der Beweiskraft des Haupt-

1 Anfragebeschluss des 1. Strafsenats vom 02.09.09, 1 StR 260109. - Der Beschluss zur
Vorlage an den Großen Strafsenat (v. 24.2.2010 - 1 StR 260/09) erfolgte nach Redaktions-
schluss.
2 GSSt 1/06 - NJW 2007,2419.
3 Vgl. hierzu Zieger! FS Volk, S. 901 ff.
4 BVerfG, Beschluss v. 15.01.2009,2 BvR 2044/07, abweichendes Votum S. 1.
5 Vgl. Fn. 4 Entscheidungsgründe.
880 Ulrich Ziegert

verhandlungsprotokolls die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher


Rechtsfindung nicht verletzt, zeigen doch die beachtlichen Argumente des
abweichenden Votums, dass sich der Große Strafsenat mit seiner Entschei-
dung zur Rügeverkümmerung zumindest im Grenzbereich richterlicher
Rechtsfindung bewegt.
Eine ähnliche Rolle wird ihm nun durch den Vorlagebeschluss des 1.
Strafsenates zur Neugestaltung des Anklagesatzes angedient. Aus der Sicht
des anfragenden Senates soll § 200 Abs. 1 S. 1 StPO umgestaltet werden
wie folgt: 6
"Liegen einem Angeklagten zahlreiche Vermögensdelikte zur Last, die
einem einheitlichen modus operandi folgen, genügt der konkrete Ankla-
gesatz den Anforderungen des § 200 Abs. 1 S. 1 StPO und des § 243 Abs.
3 S. 1 StPO, wenn dort - neben der Schilderung der gleichartigen Tataus-
führung, die die Merkmale des jeweiligen Straftatbestandes erfüllt, die
Tatorte, die Gesamtzahl der Taten, der Tatzeitraum und der Gesamtscha-
den bezeichnet werden und im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen
der Anklage oder einer Anlage zur Anklage die Einzelheiten der Taten, d.
h. die konkreten Tatzeitpunkte, die Tatopfer und die jeweiligen Einzel-
schäden detailliert beschrieben sind."
Diese Rechtsauffassung wurde bereits in einer früheren Entscheidung des
Senats als obiter dictum 7 geäußert. Der Anfragebeschluss argumentiert, die
Verlesung derartig stark komprimierter Zusammenfassungen werde der
Funktion der Verlesung des Anklagesatzes in der Hauptverhandlung eher
gerecht als ein stunden-, möglicherweise tagelanges Vorlesen zahlloser
Datensätze. Denn die Verlesung eines - aufgrund der Zahl der angeklagten
Taten - sehr umfangreichen Anklagesatzes bewirke allenfalls eine akusti-
sche Wahrnehmung, verfehle aber die Aufnahme oder gar intellektuelle
Verarbeitung durch die Zuhörer.
Die ratio legis von § 243 Abs. 3 S. 1 StPO gebiete geradezu, den Ankla-
gesatz so zu fassen, wie der Senat dies vorschlägt, da er nur so für die Ver-
fahrensbeteiligten sowie die Öffentlichkeit verständlich und "erfassbar" ist.
Die Reduzierung von Informationen erhöhe den Informationsgehalt.
Der Senat stellt in seiner Argumentation die Funktion des Anklagesatzes
in den Vordergrund, die ihm im Rahmen seiner Verlesung zu Beginn der
Hauptverhandlung gemäß § 243 Abs. 3 S. 1 StPO zukommt. Man wird sein
Anliegen, die Strafprozessordnung in einem zentralen Bereich zu modifizie-
ren, aber nicht missverstehen, wenn man annimmt, dass es auch darum geht,

6 Vgl. Fn. 1.
7 NJW 2008,2131.
Der Anklagesatz 881

die Justiz von jenen stunden-, möglicherweise tagelangen "monotonen"


Verlesungen von Datensätzen zu entlasten.
Dem Projekt des 1. Strafsenates steht eine Entscheidung des 2. Strafsena-
tes vom 28.04.2006 8 entgegen. Der 2. Strafsenat hatte über eine Anklage-
schrift, die 104 Fälle des bandenmäßigen gewerbsmäßigen Betrugs zur
Entscheidung des Gerichts stellte, zu befinden, deren Anklagesatz nur all-
gemeine zusammenfassende Darstellungen im Sinne des Anfragebeschlus-
ses enthielt, nicht jedoch die konkreten Tatsachen zu den einzelnen Taten.
Der 2. Strafsenat hielt in dieser Entscheidung daran fest, dass es auch bei
einer Serie von Straftaten erforderlich sei, im Anklagesatz die dem Ange-
klagten im Einzelnen vorgeworfenen Tathandlungen nach Tatzeit, Tatort,
Tatausführung und anderen individualisierenden Merkmalen zu beschrei-
ben. Der Senat führte aus:
"So genügt es grundsätzlich nicht, den Tatzeitraum nach Beginn und En-
de einzugrenzen, die in allen Fällen gleichartige Begehungsweise allge-
mein zu schildern und dabei den betrügerisch herbeigeruhrten Gesamt-
schaden zu beziffern."
An dieser Rechtsauffassung hält der 2. Senat in seiner Antwort auf die
Anfrage in einem Beschluss vom 25.11.2009 fest. 9 Allerdings ergab die
Erörterung im Senat kein einheitliches Meinungsbild. Auch im 2. Strafsenat
finden sich Anhänger der Rechtsansicht des 1. Strafsenates.
Dagegen wendet sich die mehrheitlich im Senat vertretene Ansicht: An
der Verpflichtung, eine hinreichende Konkretisierung aller von der Anklage
umfassten Einzeltaten in den Anklagesatz aufzunehmen, sei festzuhalten,
um die Identität des von der Anklage umfassten geschichtlichen Vorgangs
unzweifelhaft zu bestimmen. Soweit der Bundesgerichtshof bei Serientaten
gemäß § 176 StGB die Anforderungen an die Konkretisierung im Anklage-
satz zurückgenommen habe, gelte dies für Vermögensdelikte, die der 1.
Strafsenat im Auge hat, nicht, da rur jene Deliktsgruppe Ausnahmen erfor-
derlich seien, die tatsächlichen Schwierigkeiten Rechnung tragen müssten.
Dieser Grundsatz sei auf Fälle der Wirtschaftskriminalität nicht übertragbar,
da es dort möglich sei, die erforderlichen Feststellungen zu treffen.
Von zwingenden Formvorschriften der StPO könne nicht "nach Maßgabe
des praktischen Bedürfnisses im Einzelfall" abgewichen werden. Überdies
erwiesen sich die Rechtsbegriffe, die nach Auffassung des 1. Strafsenates
eine Modifizierung des Anklagesatzes erlauben würden - zahlreiche Ver-
mögensdelikte, einheitlicher modus operandi - als unscharf, würden der
Auslegung bedürfen und in der Folge zu Rechtsstreitigkeiten führen.

8 NStZ 2006, 649.


9 2 ARs 455/09.
882 Ulrich Ziegert

Gegen einen Verzicht auf Darstellung von Einzelfällen im Anklagesatz


spreche auch die Fehleranfälligkeit von Tabellenwerken. Wichtige Rechts-
fragen, wie etwa die Abgrenzung von Versuch und Vollendung, Fallüber-
schneidungen sowie Konkurrenzfragen, würden zur Gänze aus deIn Ankla-
gesatz entfernt. Den vom anfragenden Senat geäußerten Bedenken
hinsichtlich der Aufmerksamkeit und Aufnahmefähigkeit der Verfahrensbe-
teiligten könnte durch Überlassung von Abdrucken des Anklagesatzes an
alle Verfahrensbeteiligten entgegengewirkt werden.
Schließlich vertritt ein weiterer Teil des 2. Strafsenates die Auffassung,
dass zwar am traditionellen Anklagesatz festgehalten werden solle, dieser
jedoch bei bestimmten Fallgruppen gemäß § 249 Abs. 2 StPO in die Haupt-
verhandlung eingeführt werden könne.
Es verwundert, dass ein Argument weder im Vorlagebeschluss des 1.
Strafsenates noch in der Antwort des 2. Senates begegnet: der Vorrang des
Gesetzes. § 200 Abs. 1 S. 1 StPO definiert den Anklagesatz mit großer
Präzision. Danach hat die Anklageschrift den Angeschuldigten die Tat, die
ihm zur Last gelegt wird, sowie Zeit und Ort ihrer Begehung zu bezeichnen.
Die Rede ist nicht von einer zusammenfassenden Darstellung vieler Taten,
ebenso wenig von Gruppen, die nach Tatort oder Tatzeit differenzieren.
Vielmehr ist jede Tat mit Zeit und Ort zu bezeichnen. Auch verwundert der
Hinweis des 2. Strafsenates auf § 249 Abs. 2 StPO, ohne dass der Vorrang
des Gesetzes auch nur angesprochen wird. Das Selbstleseverfahren wurde
nicht durch die Rechtsprechung entwickelt, es ist vom Gesetzgeber nach
entsprechender Abwägung - auch mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz - im-
plementiert worden. Es gilt ausdrücklich allein für den Urkundenbeweis.
Dass es sich bei der Verlesung des Anklagesatzes um einen völlig anderen
prozessualen Vorgang handelt, bedarf keiner Erläuterung. 10

11.
Gegenstand des Vorlagebeschlusses bildet eine Anklage der Staatsanwalt-
schaft Mannheim. Der 1. Strafsenat hat aber die Entscheidung über eine
weitere Revision zurückgestellt, in der ebenfalls die Verletzung von § 243
Abs. 2 S. 1 StPO gerügt wurde, die er offensichtlich ebenfalls für unbe-
gründet hält, jedoch auch hier nicht ohne eine Entscheidung des Großen
Strafsenates in seinem Sinne die Revision verwerfen kann. Dieser Fall soll
kurz skizziert werden, da er die Dimension der ins Auge gefassten N euge-
staltung illustriert.

10 Anders LG Mühlhausen, NStZ 2007, 358.


Der Anklagesatz 883

Dem Revisionsverfahren 11 liegt eine Anklage der Staatsanwaltschaft


Traunstein zugrunde, die die Überlegungen des 1. Strafsenates aus dem
obiter dictum 12 mit einer analogen Anwendung des Selbstleseverfahrens
nach § 249 Abs. 2 StPO kombiniert. Auch einer derartigen Vorgehensweise
möchte der 1. Strafsenat offensichtlich den Weg ebnen.
Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Traunstein wirft den Ange-
schuldigten vor, als Mitglieder einer europaweit agierenden Tätergruppie-
rung in Zusammenarbeit mit weiteren unbekannten Personen gewerbsmäßig
Überweisungsbetrugshandlungen begangen zu haben. Von den Bandenmit-
gliedern seien Bankdaten später Geschädigter ausgespäht und diese Daten
ge- oder verfälschten Überweisungsträgern zu Grunde gelegt worden, mit
deren Hilfe Geldbeträge in unterschiedlicher Höhe auf mit gefälschten Per-
sonaldokumenten eröffnete Konten überwiesen worden seien. Diese Vorge-
hensweise wird im Anklagesatz sehr allgemein geschildert. Sodann werden
die Funktionen der drei Angeschuldigten abstrakt, dass heißt losgelöst von
den einzelnen Fällen beschrieben. In einem ersten Komplex der Anklage-
schrift werden die einzelnen Fälle zusammenfassend dargestellt. Dabei wird
zwischen "tatsächlichem Vermögensschaden", Gefährdungsschaden und
Versuch unterschieden. Die letztgenannte Variante wird wie folgt typisiert:
"In 48 Fällen in Höhe eines Betrages von insgesamt € 4.385.460,30 blie-
ben die Betrugstaten im Versuchsstadium stecken, da bereits die Banken
der Geschädigten die Überweisungen nicht ausführten oder die unter ge-
fälschten Alias-Personalien eröffneten Konten rechtzeitig entdeckt und
geschlossen werden konnten."
Auch im zweiten Teil der Anklageschrift wird die Vorgehensweise zu-
nächst allgemein geschildert, sodann werden die Fälle gruppenweise zu-
sammenfassend dargestellt, schließlich folgt - dem klassischen Anklagesatz
entsprechend - ein Tabellenwerk von fünfeinhalb Seiten, das die einzelnen
Fälle nach Tatzeit und -ort, Geschädigten, Betrag auf den Überweisungsträ-
gern, gebuchten Beträgen mit bzw. ohne tatsächlichem Schaden, weiteren
konkretisierenden Bemerkungen zur Straftat sowie unnötigen Angaben wie
zuständige Staatsanwaltschaft und sachbearbeitende Polizeidienststelle
beschreibt. 13
In der Hauptverhandlung verfugte der Vorsitzende nach den Feststellun-
gen zur Person der Angeklagten, dass hinsichtlich der Seiten 5 bis 10 der
Anklageschrift, die das Tabellenwerk betreffen, das Bestandteil des Ankla-

11 1 StR 429/09.
12 Vgl. Fn. 7.
13 Diese überflüssigen Aperyus legen die Vermutung nahe, dass das Tabellenwerk nicht von
der Staatsanwaltschaft, sondern von Ermittlungsbeamten erstellt wurde - vgl. dazu u. IV.
884 Ulrich Ziegert

gesatzes ist, das Selbstleseverfahren angeordnet wird. Daraufhin verlas der


Vertreter der Staatsanwaltschaft den zusammenfassenden Anklagesatz im
Sinne des Anfragebeschlusses des 1. Strafsenates zum ersten Teil der An-
klageschrift sowie den zusammenfassenden Teil des zweiten Komplexes bis
zum Beginn des Tabellenwerkes, welches Gegenstand des Selbstleseverfah-
rens war.
Im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen findet sich zum ersten Tat-
komplex ein Tabellenwerk, das 16 Seiten umfasst.
Dieser Fall entspricht den Eingangsvoraussetzungen des Anfragebe-
schlusses, da es sich um eine Mehrzahl von Vermögensdelikten handelt, die
einem einheitlichen modus operandi folgen. Das Tabellenwerk, in dem die
einzelnen Fälle aufgeführt werden und das hier zum Teil im Anklagesatz
angesiedelt ist, zum Teil im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen, um-
fasst 22 Seiten. Vor unüberwindbare Schwierigkeiten stellt dessen Verle-
sung in der Hauptverhandlung kein Gericht. Die Verlesung würde auch
nicht zu einer nennenswerten Verzögerung des Verfahrens fuhren.
Beachtlich erscheint weiterhin, dass zwei Methoden der "Arbeitserleich-
terung" kombiniert werden. Im ersten Tatkomplex wird die Schilderung der
konkreten Einzelfälle, den Grundzügen des Anfragebeschlusses entspre-
chend, in das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen verlagert, im zweiten
Tatkomplex bleibt sie Teil des Anklagesatzes, wird aber gleichwohl nicht in
der Hauptverhandlung gemäß § 243 Abs. 2 S. 1 StPO verlesen, sondern in
analoger Anwendung von § 249 Abs. 2 StPO dem Selbstleseverfahren un-
terworfen.
Bemerkenswert ist weiterhin, dass der 1. Strafsenat über diese Revision
erst entscheiden will, wenn der Große Strafsenat über die Zukunft des An-
klagesatzes befunden hat. Mithin wäre bei einer Entscheidung im Sinne der
Anfrage jedenfalls aus Sicht des 1. Strafsenates auch dieses Verfahren mit
den §§ 200 Abs. 1 S. 1,243 Abs. 3 S. 1 StPO in Einklang zu bringen.
Das Prozedere des 1. Strafsenates zeigt ebenso wie die Überlegungen des
2. Strafsenates in Beantwortung des Anfragebeschlusses, die einer entspre-
chenden Anwendung von § 249 Abs. 2 StPO gelten, dass die prozessuale
Behandlung des Anklagesatzes in einer sehr allgemeinen Weise zur Dispo-
sition steht.
Die justizielle Novellierung des Anklagesatzes führt dabei keineswegs,
wie die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Traunstein verdeutlicht, dazu,
dass der konkrete Anklagesatz für die Verfahrensbeteiligten sowie fur die
Öffentlichkeit besonders gut verständlich und erfassbar ist. Eher entsteht der
Eindruck eines Torsos. Die Unvollständigkeit der Darstellung erschließt
sich dem Zuhörer ohne weiteres. Im Übrigen kann eine Anklage, die eine
Vielzahl von ähnlich gelagerten Fällen thematisiert, deren Auflistung, wie
dies häufig geschieht, einen allgemeinen Teil im Sinne der im Anfangsbe-
Der Anklagesatz 885

schluss erörterten Strukturen voranstellen, der Verständlichkeit und Erfas-


sen eines komplexen Sachverhaltes erleichtert. Das auf diese Weise Erreich-
te geht durch den anschließenden Vortrag der Einzelfalle nicht verloren.
Das Traunsteiner Beispiel zeigt schließlich, dass der reduzierte Anklage-
satz nicht einmal mehr die Aufgabe erfüllen kann, die Grenze der Strafbar-
keit zu bestimmen. Im Tatkomplex 1. ist von 76 Fällen des Betruges die
Rede bei einem potentiellen Schaden von € 4.385.460,30, darunter aber
lediglich 28 vollendete Delikte mit einem tatsächlichen Schaden von
€ 160.652,43. Von der Tatvollendung werden die übrigen 48 Fälle dadurch
abgegrenzt, dass die Banken der Geschädigten keine Überweisungen ausge-
führt hätten oder die unter Alias-Personalien eröffneten Konten rechzeitig
entdeckt und geschlossen werden konnten. Ein Versuch würde jedoch vor-
aussetzen, dass die Angeschuldigten zur Tatbestandsverwirklichung unmit-
telbar ansetzten. Dies ergibt sich aus der zusammenfassenden Darstellung in
keiner Weise. Damit wird aber die Abgrenzung zwischen strafbarem Ver-
halten und straflosem Vorbereitungsstadium verfehlt. 14

111.
Es wurde bereits angesprochen, dass § 200 Abs. 1 S 1 StPO eine Legalde-
finition des Anklagesatzes enthält. Danach bildet die Bezeichnung der Tat,
die dem Angeschuldigten zur Last gelegt wird, einen zentralen Bestandteil.
Es entspricht gefestigter Auffassung, dass sich diese Bezeichnung der Tat
auf den prozessualen Tatbegriff bezieht. 15 Zu thematisieren ist somit das
Tatgeschehen als der historische Vorgang, in dem die strafbare Handlung
gesehen wird. Dabei ist das Fehlverhalten - auch nach Zeit und Ort - so
genau zu bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs fest-
steht und dieser von anderen, ähnlichen Abläufen unterschieden werden
kann. 16
So eindeutig sich der Wortlaut von § 200 Abs. 1 S. 1 StPO darstellt, so
unbestritten ist in Rechtsprechung und Literatur der Bezug auf den prozes-
sualen Tatbegriff. Der Änderungsvorschlag des ersten Strafsenates, der in
Rechtsprechung und Literatur auch mit Sympathie aufgenommen wird,17
lässt sich hingegen mit dem Wortlaut der Norm nicht versöhnen. Würde
man den Anklagesatz wie vorgeschlagen modifizieren, so enthielte er die

14 Ähnlich der 2. Strafsenat (Fn. 9) zur Abgrenzung Versuch/Vollendung, Rn. 10.


15 KK-Schneider, 6. Aufl. 2008, § 200 Rn. 3~ LR-Stuckenberg, 26. Aufl. 2008, § 200 Rn. 14~
Meyer-Goßner StPO, 52. Aufl. 2009, § 200 Rn. 7.
16 KK-Schneider (Fn. 15), § 200 Rn. 3.
17 Vgl. Fn. 9 sowie LR-Becker, 26. Aufl. 2010, § 243 Rn. 41 m. Nachw.~ anders AK-
StPO/Schöch, 1993, § 243 Rn. 23 ff.
886 Ulrich Ziegert

einzelne Tat nicht mehr. Keine einzige Tat im prozessualen Sinn wäre mehr
Bestandteil des Anklagesatzes. Dieser würde sich vielmehr nur noch allge-
mein zu Strukturprinzipien unterschiedlicher Taten verhalten und einen
bestimmten Tatzeitraum benennen, jedoch keinen einzigen Tatzeitpunkt,
keinen Geschädigten. Der Wortlaut der Norm legt somit nahe, dass die vom
1. Strafsenat vorgeschlagene Auslegung von § 200 Abs. 1 S. 1 StPO gegen
den Vorrang des Gesetzes verstößt und in den Kompetenzbereich des Ge-
setzgebers eingreift. Zwar verbietet der Vorrang des Gesetzes dem Richter
nicht die Rechtsfortbildung. 18 Allerdings sind dieser durch die Bindung des
Richters an Gesetz und Recht Grenzen gezogen. Ihr genauer Verlauf muss
hier nicht analysiert werden. Denn der Spielraum richterlicher Rechtfortbil-
dung endet in jedem Fall bei einer Gesetzesauslegung, die in Widerspruch
zum klaren Wortlaut der Norm steht. Sie stellt stets einen Eingriff in die
Kompetenz des Gesetzgebers dar. 19
Obgleich sich der Wortlaut der Norm im vorliegenden Fall als eindeutig
darstellt, soll anhand der historischen Entwicklung von § 200 Abs. 1 S. 1
StPO LV.m. jener des § 243 Abs. 3 S. 1 StPO, der die Verlesung des An-
klagesatzes in der Hauptverhandlung zum Gegenstand hat, unter Berück-
sichtigung der Motive des Gesetzgebers die Regelungskonzeption unter-
sucht werden. So kann überprüft werden, ob sich Sinn und Zweck des
Gesetzes als kongruent mit dem Wortlaut von § 200 Abs. 1 S. 1StPO dar-
stellen. Denn nicht immer bietet der Wortlaut einer Norm die sichere Ge-
währ, den Willen des Gesetzgebers zum Ausdruck zu bringen. 2o
Die § 200 Abs. 1 S. 1 StPO entsprechende Regelung findet sich in der
Fassung der Strafprozessordnung vom 01.02.1877 in § 198 der wie folgt
lautete:

"Die Anklageschrift hat die dem Angeklagten zur Last gelegte That unter
Hervorhebung ihrer gesetzlichen Merkmale und des anzuwendenden
Strafgesetzes zu bezeichnen, sowie die Beweismittel und das Gericht, vor
welchem die Hauptverhandlung stattfinden soll, anzugeben."
1924 wurde die Norm mit dem § 200 Abs. 1 bezeichnet, blieb inhaltlich
jedoch unverändert. 21 1964 erhielt die Regelung durch das StPÄG 22 die
inhaltliche Ausgestaltung, die auch heute noch gilt, lediglich mit der gerin-
gen terminologischen Abweichung, wonach damals von den gesetzlichen
Merkmalen der strafbaren Handlung die Rede war, während es seit 197423

18 BVerfGE 111,54,81.
19 BVerfGE 118,212,243.
20 Vgl. Röhl/Röhl Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 613 ff.
21 Das Wort That wurde durch die heutige Formulierung Tat ersetzt, ROBL 1924,322.
22 BGBL 1964, S. 1067.
23 BGBL 1974, S. 469, 502 - EGStGB.
Der Anklagesatz 887

gesetzliche Merkmale der Straftat heißt. Seit 1964 enthält das Gesetz somit
die Legaldefinition des Anklagesatzes.
Die gesetzliche Regelung der Verlesung des Anklagesatzes lässt sich
nicht so knapp nachzeichnen. Denn die Strafprozessordnung von 1877 woll~
te der Staatsanwaltschaft gerade nicht die Aufgabe zuweisen, den Anklage-
vorwurf, die Tat, die den Gegenstand des Strafverfahrens umgrenzt, in die
Hauptverhandlung einzuführen.
Die Strafprozessordnung vom 01.02.1877 lässt daher in § 242 Abs. 2 auf
die Vernehmung des Anklagten über seine persönlichen Verhältnisse nicht
die Verlesung des Anklagesatzes durch die Staatsanwaltschaft folgen, son-
dern die Verlesung des Beschlusses über die Eröffnung des Hauptverfah-
rens.
Allerdings entsprechen die Anforderungen, die das Gesetz in § 205 an
diesen Beschluss stellt, jenen des späteren Anklagesatzes. § 205 lautet wie
folgt:
"In dem Beschlusse, durch welchen das Hauptverfahren eröffnet wird, ist
die dem Anklagten zur Last gelegte That unter Hervorhebung ihrer ge-
setzlichen Merkmale und des anzuwendenden Strafgesetzes sowie das
Gericht zu bezeichnen, vor welchem die Hauptverhandlung stattfinden
soll."
Erst im Anschluss an diese Verlesung erfolgt die weitere Vernehmung
des Angeklagten - zur Sache. Auch insoweit erfolgte 1924 24 lediglich eine
redaktionelle Überarbeitung. 1942 25 wird die Staatsanwaltschaft in ihre
heutige Funktion eingesetzt, die Anklage vorzutragen, soweit sie durch das
Gericht zur Hauptverhandlung zugelassen wurde.
Bereits 195026 wurde aber in § 243 Abs. 2 StPO wieder die alte Rechtsla-
ge hergestellt. Nicht der Staatsanwalt verlas die Anklage, sondern das Ge-
richt den Eröffnungsbeschluss, der wiederum die "dem Anklagten zur Last
gelegte Tat. ...zu bezeichnen" hatte. Erst 1964 normiert das StPÄG 27 die
aktuelle Rechtslage, die in § 243 Abs. 3 S. 1 StPO bis zum heutigen Tag
unverändert besteht.
Schon im Entwurf der StPO von 1874 wird in der Begründung zu § 165,
der die Anklageschrift betrifft, auf ihre doppelte Funktion verwiesen. Sie
soll als Grundlage für die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht den
Verfahrensgegenstand bezeichnen und zugleich eine Informationsfunktion
für den Angeklagten entfalten. Er soll Kenntnis erlangen, wessen er ange-

24 RGBL 1924, S. 322.


25 RGBL 1942, S. 512.
26 BGBL 1950, S. 455, 629.
27 Vgl. Fn. 22.
888 Ulrich Ziegert

klagt ist und welche Beweise gegen ihn vorgebracht werden. Auf diese
Weise soll er in die Lage versetzt werden, seine Verteidigung zu organisie-
ren.
Der Entwurf sieht noch in § 205 Abs. 2 StPO die Mitteilung des Inhalts
der Anklageschrift durch die Staatsanwaltschaft vor - allerdings in freier
Rede, nicht in Form der Verlesung im Sinne von § 243 Abs. 3 S. 1 StPO.28
Im Abschlussbereicht der Kommission, die nach der ersten Lesung des
Entwurfs im Reichstag von diesem zur Vorberatung des Entwurfs eingesetzt
wurde, wird die Bedeutung der Anklageschrift zusammengefasst. Sie soll
dem Gericht eine Übersicht über die Vorstellungen der Staatsanwaltschaft
geben einschließlich einer Begründung in tatsächlicher und rechtlicher Hin-
sicht (Umgrenzungsfunktion). Ferner soll sie dem Angeklagten deutlich
machen, wessen er angeklagt ist und welche Tatsachen als diejenigen ange-
sehen werden, durch welche die Anklage begründet wird (Informations-
funktion).29 Bereits zu diesem Zeitpunkt wird die Anklageschrift - abwei-
chend zum Entwurf - um das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen
erweitert (Ausnahme Schöffengericht).
Im Abschlussbericht der Reichstagskommission 1876 wird nachdrücklich
der Entwurf zurückgewiesen, wonach der Inhalt der Anklageschrift vom
Staatsanwalt in die Hauptverhandlung eingefiihrt werden soll. 30 Hintergrund
dieser Regelung ist die Bestrebung der Kommission, die Trennung von
Ankläger und Richter, die sich herauszubilden beginnt, zu bestärken.
Die Staatsanwaltschaft, die Mitte des 19. Jahrhunderts nach und nach in
den deutschen Staaten eingefiihrt wurde,31 sollte in ihrer Funktion fur die
Hauptverhandlung klar vom Gericht abgegrenzt werden. Die Öffentlichkeit
wie auch der Anklagte sollten im Vertrauen auf die vollständige und unpar-
teiische Ermittlung des Sachverhalts durch das Gericht das Urteil entgegen-
nehmen. 32 In dieses Bild passt nicht eine, das Verfahren möglicherweise
prägende, Darstellung des Anklagevorwurfs durch die Staatsanwaltschaft. 33
Diese Bedenken fiihrten zur Überzeugung, dass "zur Aufklärung der Sache,
soweit sie zur gehörigen Würdigung und zum sofortigen Verständnis der

28 Hahn/Megdan (Hrsg.), Die gesamten Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, Bd. 3/1,


Materialien zur Strafprozessordnung Abteilung 1, 1983, Neudruck der Ausgabe 1885, hrgs.
von Stegemann, Eduard und Band 3/2 Materialien zur Strafprozessordnung Abteilung 2, 1983,
Neudruck der Ausgabe 1886, hrgs. von Stegmann, Eduard, Seite 191.
29 Hahn (Fn. 28), S. 1577 f.
30 Hahn (Fn. 28), S. 1581.
31 Vorm baum Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 2009, S. 94.
32 Hahn (Fn. 28), S. 1535.
33 Hahn (Fn. 28), S. 1533, 1581 f.~ Protokolle der Beratungen, S. 842.
Der Anklagesatz 889

einzelnen Akte der Beweisaufnahme förderlich und zweckmäßig erscheint


[00 .]", die Verlesung des Verweisungsbeschlusses genügen würde. 34
Die Kommission siedelte daher in ihren Beratungen Umgrenzungs- wie
auch Informationsfunktion im Verweisungsbeschluss des Gerichtes an, der
die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat unter Hervorhebung ihrer gesetz-
lichen Merkmale und des anzuwendenden Strafgesetzes enthalten müsse. 35
Dieser war in der Hauptverhandlung vollständig zu verlesen
Die Nähe des Eröffnungsbeschlusses zum Anklagesatz wird in der Recht-
sprechung des Reichsgerichtes deutlich. 36 Danach unterscheidet sich der in
der Hauptverhandlung nach der Feststellung der persönlichen Verhältnisse
des Angeklagten zu verlesende Eröffnungsbeschluss von der Anklageschrift
nur dadurch, dass in ihm die Beweismittel und das wesentliche Ergebnis der
Ermittlungen nicht aufzunehmen sind. In Ansehung der Bezeichnung der
Tat stelle das Gesetz an ihn aber die gleichen Anforderungen wie an die
Anklageschrift.
Die Neuregelung des § 200 Abs. 1 StPO durch das StPÄG 1964 sieht in
Anlehnung an einen Entwurf der Strafverfahrensordnung 1939 eine deutli-
che Trennung zwischen dem Teil der Anklageschrift, die mit Anklagesatz
bezeichnet und von der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung zu
verlesen ist (§ 243 Abs. 3 StPO n.F.), und dem Rest der Anklageschrift vor.
Die Verlesung des Anklagesatzes tritt nun an die Stelle der Verlesung des
Eröffnungsbeschlusses. Damit soll die richtige Verteilung der Rollen im
Strafverfahren zur Geltung gebracht werden. 37 Die gerichtlich zugelassene
Anklage soll in dem gesamten Strafverfahren die Abgrenzungsfunktion im
Hinblick auf den Sachverhalt, der den Verfahrensgegenstand bildet, über-
nehmen. 38
Zwischen 1877 und 1964 wechselte mehrfach das Bild des Gesetzgebers
von der Rolle der Staatsanwaltschaft, wurde die Frage unterschiedlich be-
antwortet, wer zu Beginn der Hauptverhandlung den Verfahrensgegenstand
umreißt und den Angeklagten über den Tatvorwurf informiert, um ihn in die
Lage zu versetzen, sich verteidigen zu können.
Unverändert vertrat der Gesetzgeber aber von 1877 bis 1964 und - man-
gels neuer Regelungen - bis zum heutigen Tag die Auffassung, dass zu
Beginn der Hauptverhandlung eine Urkunde zu verlesen sei, aus der sich die
Tat im prozessualen Sinn ergibt, die dem Anklagten zur Last liegt, die somit
die Umgrenzungsfunktion leistet und die dem Angeklagten die Tatsachen

34 Hahn (Fn. 28), S. 1581 f.


35 Hahn (Fn. 28), S. 842 f.
36 Urteil v. 8.3.1881, RGStE 3, 406.
37 BT-Drs. 3/2037, S. 18,39.
38 A.a.O., S. 18.
890 Ulrich Ziegert

und rechtlichen Überlegungen vermittelt, auf denen der gegen ihn erhobene
Vorwurf fußt, sodass er in der Lage ist, sich zu verteidigen (Informations-
funktion). Die Auffassung des Gesetzgebers wechselte, ob es die Staatsan-
waltschaft ist oder das Gericht, die in der Hauptverhandlung durch Verle-
sung einer Urkunde diese Leistung erbringen. Unverrückbar aber war die
Überzeugung des Gesetzgebers, dass zu Beginn der Hauptverhandlung eine
Urkunde zu verlesen sei, die den historischen Vorgang umgreift, der den
Tatvorwurf bildet. Damit wird der ohnehin sehr klare Wortlaut von § 200
Abs. 1 S. 1 StPO bestätigt durch die geschichtliche Entwicklung der Norm
und die Motive des Gesetzgebers.
Danach entspricht die Regelungskonzeption des Gesetzgebers exakt dem
Wortlaut der Norm. Die Aufgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung
beschränkt sich aber darauf, die vom Gesetzgeber intendierte Regelungs-
konzeption möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen. 39 Richterliche
Rechtsfindung darf das gesetzgeberische Ziel nicht verzeichnen oder gar
durch eigene Vorstellungen ersetzen. 40
Ein Anklagesatz, der den Vorgaben des Anfragebeschlusses folgt, leistet
für sich - ohne Rückgriff auf das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen,
das nach § 243 Abs. 3 S. 1 StPO in der Hauptverhandlung nicht verlesen
wird - weder die Umgrenzungs- noch die Informationsfunktion. Allein aus
dem reformierten Anklagesatz lässt sich nicht entnehmen, um welche kon-
kreten Taten es sich handelt, bezogen auf welche historischen Ereignisse im
Sinne des § 264 StPO bei einem rechtskräftigen Urteil Strafklageverbrauch
eintreten würde. Der reformierte Anklagesatz würde dem Angeklagten auch
nicht die Informationen geben, die er benötigt, um sich zu verteidigen. Er
beschreibt lediglich Rahmenbedingungen eines Schuldvorwurfes auf einer
abstrakten Ebene, die in der Regel einer Beweisführung und damit auch der
Verteidigung nicht zugänglich sind.
Der Verweis auf das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen geht fehl.
Das Gesetz schreibt durch § 243 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 200 Abs. 1 StPO in
einer bis 1877 zurückreichenden Tradition vor, dass dem Angeklagten die
Angaben~ die erforderlich sind, sowohl die Umgrenzungs- wie auch die
Informationsfunktion zu leisten, nicht nur durch die Anklageschrift bekannt
zu geben, sondern ihm zu Beginn der Hauptverhandlung durch Verlesung
des Anklagesatzes oder eines ihm entsprechenden Eröffnungsbeschlusses
unmittelbar vor Augen zu ruhren sind. Ob andere Konzeptionen angesichts
der Entwicklung der Lebenssachverhalte, die Anklageschriften zu Grunde
gelegt werden, sinnvoll sind, steht nicht zur Debatte, da die Rechtsprechung

39 BVerfGE 96, 376, 394 f.


40 BVerfGE 78, 20, 24~ vgl. Fo. 4, S. 2 f.
Der Anklagesatz 891

hierüber nicht zu befinden hat. Die Konzeption der Strafprozessordnung ist


eindeutig.
Der reformierte Anklagesatz würde Schöffen wie Öffentlichkeit Steine
statt Brot geben. Den Schöffen, die über jede einzelne Tat zu entscheiden
haben, blieben eben jene Einzeltaten unbekannt, wenn nur der reduzierte
Anklagesatz verlesen würde und sich die Einzeltaten lediglich in einer An-
lage zur Anklageschrift oder im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen
finden würden, unzugänglich für die ehrenamtlichen Richter. Die Öffent-
lichkeit könnte ihre Kontrollfunktion nur noch eingeschränkt wahrnehmen,
da sie die vorgeworfenen Taten lediglich in einer allgemeinen, abstrakten
Form, zusammengefasst nach Strukturmerkmalen, erkennen könnte. So
wäre die Öffentlichkeit nicht mehr in der Lage, die Liste der Geschädigten
mit den Namen der Schöffen oder Berufsrichter abzugleichen, um zu über-
prüfen, ob nicht zwischen diesen und den Geschädigten ein Verwandt-
schaftsverhältnis besteht.
An diesem Ergebnis ändert die Rechtsprechung nichts, die in Teilberei-
chen die Anforderungen an den Anklagesatz zurücknimmt. Dabei versucht
die Rechtsprechung in einem umgrenzten Bereich tatsächlichen Schwierig-
keiten bei der Anklageerhebung Rechnung zu tragen. Wenn bei Serienstraf-
taten des sexuellen Missbrauchs wegen der Gleichartigkeit der Tatbegehung
und der eingeschränkten Gedächtnisleistung kindlicher Zeugen die Tatkon-
kretisierung nicht vollständig geleistet werden kann, soll das Gesamtge-
schehen durch die Bestimmung des Tatzeitraums, die Angabe der Zahl der
Einzeltaten, die Mitteilung des Tatopfers, die Grundzüge der Art und Weise
der Tatbegehung in der Anklageschrift geschildert werden, um unerträgli-
che Lücken in der Strafverfolgung zu vermeiden. 41
Der 2. Strafsenat hat zutreffend angemerkt, dass diese tatsächlichen
Schwierigkeiten, die Anlass darur waren, geringere Anforderungen an den
Anklagesatz zu stellen, die Verfahren der Wirtschaftskriminalität, die Ge-
genstand des Anfragebeschlusses sind, nicht charakterisieren. 42 Gerade der
1. Strafsenat hatte vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass der Angeklagte
durch diese Abfassung des Anklagesatzes in eine schwierige Situation gerät,
die auch den Grundsatz des rechtlichen Gehörs tangiert. 43 Eine Ausweitung
dieser Prinzipien auf Fallkonstellationen, die nicht durch die oben beschrie-
benen tatsächlichen Schwierigkeiten geprägt sind, scheint daher nicht ver-
tretbar.
Die Rechtsprechung lässt dort, wo handwerkliche Fehler bei der Abfas-
sung des Anklagesatzes unterlaufen, den Rückgriff auf das wesentliche

41 Vgl. BGHSt 40,44,46.


42 Vgl. Fn. 9.
43 BGHSt. 44, 153, 156.
892 lTlrich Ziegert

Ergebnis der Ermittlungen zu, um im Revisionsverfahren zu begründen,


dass die Anklage insgesamt sowohl der Umgrenzungs- wie auch der Infor-
mationsfunktion genügt. 44 Auch aus diesen Grundsätzen, die Reparaturar-
beiten im Einzelfall ermöglichen sollen, lässt sich kein Sachargument für
das Anliegen des Anfragebeschlusses ableiten, das grundsätzlicher Art ist.
Das Selbstleseverfahren, § 249 Abs. 2 StPO, das den Öffentlichkeits-
grundsatz ebenso berührt wie die Konzeption des Anfragebeschlusses, wur-
de nicht durch die Rechtsprechung entwickelt, sondern durch den Gesetzge-
ber ausgestaltet. 45 Eine Übertragung dieses Verfahrens auf einen völlig
anderen Bereich - Verlesung des Anklagesatzes - muss somit ebenfalls dem
Gesetzgeber vorbehalten bleiben. In den Motiven zum Strafverfahrensände-
rungsgesetz 1979 46 findet sich eine Abwägung zwischen dem gesetzgeberi-
schen Ziel und dem Öffentlichkeitsgrundsatz. Danach sei eine mögliche
Einschränkung der Transparenz der Hauptverhandlung zugunsten der pro-
zessökonomischen Vorteile für das Hauptverfahren hinzunehmen. Bei die-
sen Überlegungen des Gesetzgebers ist zu berücksichtigen, dass in der ur-
sprünglichen Fassung des Gesetzes der wesentliche Inhalt der im
Selbstleseverfahren eingeführten Beweismittel mitgeteilt werden sollte. 47
Die Einschränkungen des Öffentlichkeitsgrundsatzes, die durch die Umset-
zung des dem Anfragebeschlusses zugrunde liegenden Konzepts wie auch
durch eine Übertragung des Selbstleseverfahrens auf die Verlesung des
Anklagesatzes erfolgen würden, müsste der Gesetzgeber gleichfalls gegen
die mit dem Reformprojekt angestrebten Ziele abwägen. Bei alledem han-
delt es sich nicht um richterliche Rechtsfortbildung, sondern um Gesetzge-
bung.
Die Probleme, die den 1. Strafsenat zu seiner Initiative bewogen haben,
resultieren aus der Praxis der Ennittlungsbehörden, umfangreiche Datensät-
ze in Exceltabellen zusammen zu fassen. Diese werden von den Staatsan-
waltschaften in Anklageschriften kopiert. Ohne die elektronische Datenver-
arbeitung hätten derartige Mengen an Informationen (Fällen) niemals
Eingang in eine Anklageschrift gefunden. Der 1. Strafsenat versucht nun,
einen Weg für eine einfache Handhabung derartiger Datenmengen in der
Anklageschrift zu finden. Allerdings enden die Probleme, die durch Excel-
tabellen entstehen, die gelegentlic.hmehr als einen Leitzordner ausfüllen,
nicht mit der Frage, in welcher Fassung der Anklagesatz verlesen werden
soll. Die StPO sieht zumindest noch die Möglichkeit vor, dass eine Anklage

44 Vgl. etwa BGHSt 5, 225, 227~ 10, 137, 138~ BGH StV 1995,287.
45 Strafverfahrensänderungsgesetz 1979, BGBL 1978, S. 1645~ geändert durch das Strafver-
fahrenSänderungsgesetz 1984/1987, BGBL 1987, S. 475 sowie durch das Verbrechensbekämp-
fungsgesetz, BGBL 1994, S. 3185, 3191.
46 BT-Drs. 10/1313.
47 A.a.O., S. 28.
Der Anklagesatz 893

in einem traditionell kontradiktorisch geführten Verfahren verhandelt und


nicht durch einen Deal erledigt wird. Wie kann aber eine derartige Daten-
menge verhandelt werden? Auch hier soll ein konkreter Fall die Problema-
tik illustrieren. 48
Das Landgericht München 11 hatte zum Vorwurf des Anlagebetruges über
eine Anklageschrift mit einem Anklagesatz zu verhandeln, der ein Tabel-
lenwerk von 839 Seiten mit 22.371 Positionen umfasste. Jede einzelne Posi-
tion enthielt den Namen des Anlegers, seine Adresse, Datum der Anlage,
Art der Anlage, einbezahlte Summe, Datum von Rückzahlungen, Betrag
von Rückzahlungen sowie den Differenzbetrag als Schaden.
Um eine Position zu verlesen, benötigt man 15 Sekunden, sodass mehr als
93 Stunden erforderlich wären, das Tabellenwerk dieses Anklagesatzes
vorzutragen. Ein Blick in das Hauptverhandlungsprotokoll ergab jedoch,
dass die Staatsanwaltschaft tatsächlich 8 Stunden und 42 Minuten benötigt
hat. Die Diskrepanz wird, wie der in der Hauptverhandlung tätige Verteidi-
ger berichtete, nicht durch rekordverdächtige Leseleistungen erklärlich,
sondern durch das bewusste Überblättern ganzer Bündel von Seiten des
Tabellenwerkes, sodass weniger als 10 Prozent der eigentlich benötigten
Zeit tatsächlich aufgewendet wurde.
Dieses Beispiel wird hier nicht erläutert, um die Kreativität von Staatsan-
waltschaft und Gericht - eine solche Vorgehensweise kann naturgemäß nur
in Abstimmung erfolgen - zu illustrieren, mit derartigen Anklagesätzen
umzugehen,49 sondern um die Aussichtslosigkeit deutlich zu machen, ein
solches Ungetüm von Anklageschrift in einem klassischen Strafprozess
ordnungsgemäß zu verhandeln.
Im vorliegenden Fall wurde keine Vereinbarung getroffen, die Angeklag-
ten haben vielmehr den Tatvorwurfbestritten. Die Hauptverhandlung dauer-
te annähernd 1 Jahr. In dieser Zeit konnte aber nur ein Bruchteil der ange-
klagten Fälle aufgeklärt werden. Daher regte das Gericht an, von den 22.371
Fällen 22.203 gemäß § 154 Abs. 2 StPO aus dem Verfahren auszuscheiden.
Es verblieben 168 Verträge der Geldanlage. Dies entspricht 7,5 Promille des
Verfahrensstoffes, bedeutet andererseits, dass 99,25 Prozent des Anklage-

48 BGH, Beschluss vom 18. August 2009, 1 StR 222/09.


49 Die revisionsrechtiche Problematik wurde durch einen Doppelpass zwischen dem Ober-
landesgericht München und dem Bundesgerichtshof elegant gelöst. Das Oberlandesgericht
München, das über die Beschwerde gegen die Ablehnung der Protokoll ierung zu befinden
hatte, entschied, das Protokoll, in dem allgemein festgehalten war, dass der Anklagesatz verle-
sen wurde, sei auch bei einer auszugsweisen Verlesung des Tabellenwerkes nicht falsch, da
sich die wesentliche Förmlichkeit im Sinne des § 274 StPO nicht auf das Tabellenwerk bezie-
he. Demgegenüber judizierte der Bundesgerichtshof, dass die auszugsweise Verlesung des
Tabellenwerkes nicht bewiesen sei, denn aufgrund der uneingeschränkten Protokollierung der
Verlesung des Anklagesatzes stehe fest, dass diese in vollem Umfang erfolgt sei.
894 Ulrich Ziegert

gegenstandes gemäß § 154 Abs. 2 StPO aus dem Verfahren ausgeschieden


wurden.
Legt man die Erfahrungen aus dem 1. Jahr des Prozesses zugrunde, in
dem von 22.371 Positionen 168 \Terträge aufgeklärt und einer Verurteilung
zugeführt werden konnten, so hätten bei konsequenter Verhandlung des
gesamten Anklagegegenstandes alle Verfahrensbeteiligten vor Abschluss
des Prozesses die Pensionsgrenze erreicht.
Eine Staatsanwaltschaft, die derartige Fallzahlen zur Entscheidung eines
Gerichts stellt, spekuliert auf einen Deal, verbunden mit dem Geständnis der
Angeklagten. Jedermann muss klar sein, dass sich mehr als 22.000 Fälle
nicht in einem streitigen Verfahren verhandeln lassen. Nachdem die Ange-
klagten im vorliegenden Fall auf die Durchführung des traditionellen Straf-
verfahrens bestanden, musste der Großteil der Tatvorwürfe nach § 154
Abs. 2 StPO eingestellt werden, da andernfalls ein Abschluss des Verfah-
rens durch Urteil nicht hätte erreicht werden können.
Dies zeigt, dass das eigentliche Problem nicht bei der Verlesung des An-
klagesatzes liegt, sondern in der Bestimmung eines realistischen Verfah-
rensgegenstandes. Hätte die Staatsanwaltschaft das Verfahren vor Anklage-
erhebung bereits auf ein Maß zurückgeruhrt, das im Strafverfahren auch
bewältigt werden kann, so hätte dieser Anklagesatz in einer Stunde verlesen
werden können, rur das Tabellenwerk wäre dann gerade 40 Minuten erfor-
derlich gewesen. Ein nennenswerter Verlust von Sanktionsmöglichkeiten
war mit der Verfahrensbeschränkung offensichtlich nicht verbunden.
Der nicht vorbestrafte Hauptangeklagte wurde mit einer Freiheitsstrafe
von 6 Jahren und 9 Monaten bedacht.
Die Klage über eine zeitaufwändige Verlesung von Anklagesätzen be-
zeichnet somit ein Scheinproblem. Die eigentliche Frage stellt sich nach der
Bestimmung eines vernünftigen Verfahrensgegenstandes. Nicht jede Excel-
tabelle, die die Polizei erarbeitet, muss in eine Anklageschrift aufgenommen
werden, in der Hoffnung, dass das Gericht sie seinerseits in das Urteil ko-
pieren kann, nachdem der Angeklagte sie abgenickt hat. Vielmehr sollte
bereits der Verfahrensgegenstand von der Staatsanwaltschaft so eingegrenzt
werden, dass er auch in einer Hauptverhandlung alten Stils beWältigt wer-
den kann. Die Verlesung des Anklagesatzes stellt dann kein Problem dar.
Die reduzierte Besetzung der großen Strafkammer
Gedanken zu einer (fast) unendlichen Geschichte

PETERRIESS

I. Einleitung
Seit dem 1. 3. 1993, also seit nunmehr 17 Jahren, dürfen die große Straf-
kammer und die große Jugendkammer abweichend von der Grundregel in
den §§ 76 Abs. 1 GVG, 33b Abs. 1 JGG, der zufolge sie in einer Besetzung
mit drei Berufsrichtem (und in der Hauptverhandlung mit zwei Schöffen)
entscheiden, nach den Absätzen 2 dieser Vorschriften unter bestimmten
Voraussetzungen als erkennende Gerichte in der Hauptverhandlung neben
den beiden Schöffen mit lediglich zwei Berufsrichtern besetzt sein,l soweit
sie nicht als Schwurgericht zuständig sind. Diese Möglichkeit der Beset-
zungsreduktion ist befristet; sie endet nach mehrfacher Verlängerung nach
der gegenwärtigen Rechtslage am 31. 12. 2011. 2 Für die erstinstanzlich
zuständigen Strafsenate der Oberlandesgerichte gilt seit dem 1. 12. 1994
nach § 122 Abs. 2 GVG eine vergleichbare Regelung als Dauerlösung. Sie
ermöglicht für die Hauptverhandlung eine Besetzungsreduktion von fiinf
auf drei Richter. Eine in sich wenig konsistente Sonderregelung, auf die
mein Beitrag nicht eingeht, enthalten die §§ 74f, 120a GVG für die Beset-

1 § 76 Abs. 2 GVG in seiner derzeit geltenden Fassung hat folgenden Wortlaut: "Bei der
Eröffnung des Hauptverfahrens beschließt die große Strafkammer, dass sie in der Hauptver-
handlung mit zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen besetzt ist,
wenn nicht die Strafkammer als Schwurgericht zuständig ist oder nach dem Umfang oder der
Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines dritten Richters notwendig erscheint. Ist eine
Sache vom Revisionsgericht zurückverwiesen worden, kann die nunmehr zuständige Straf-
kammer erneut nach Satz 1 über ihre Besetzung beschließen." Unverändert mit drei Berufsrich-
tern entscheiden diese Kammern stets außerhalb der Hauptverhandlung, also beispielsweise
auch über die Eröffnung des Hauptverfahrens, über Haftentscheidungen oder als Beschwerde-
instanz.
2 Die Befristung folgt aus Art. 15 Abs. 2 des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege
(RPflEntlG) v. 11.1.1993 (BGBL I, S. 50), nach dem § 76 Abs. 2 GVG und § 33b Abs. 2 JGG
mit Ablauf der dort genannten (mehrfach verlängerten) Frist außer Kraft treten. Diese Rege-
lung ist daher der Ansatzpunkt für die Fristverlängerungen.
896 Peter Rieß

zung bei der Entscheidung über die vorbehaltene und die nachträgliche
Sicherungsverwahrung. 3
Bei der letzten Verlängerung 4 hat der Gesetzgeber deutlich erkennen las-
sen, dass er mit Ablauf der gegenwärtigen Frist, also Ende 2011, eine end-
gültige Entscheidung darüber zu treffen beabsichtigt, ob auf die Besetzungs-
reduktion bei der Strafkammer und Jugendkammer verzichtet, also die bis
Ende Februar 1993 geltende Rechtslage wieder hergestellt werden soll, oder
ob - gegebenenfalls auch mit Modifikationen und hierüber hinausgehenden
Änderungen - eine Dauerregelung getroffen werden soll. Als Entschei-
dungsgrundlage hierfür hat das Bundesministerium der Justiz die große
Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes um ein Gutachten
gebeten, 5 eine zeitnahe und koordinierte statistische Erhebung bei den Län-
dern veranlasst und einen Forschungsauftrag fur eine umfangreiche Evaluie-
rung der bisherigen Erfahrungen mit der Besetzungsreduktion in Auftrag
gegeben. 6
Auch wenn Ergebnisse der zuletzt genannten rechtstatsächlichen Untersu-
chungen bei Abschluss dieses Beitrags (November 2009) noch nicht vorlie-
gen, kann fur die weiteren Überlegungen von einer Reihe von Basiswerten
zur Kennzeichnung der Häufigkeit und der Verfahrensweise bei der Beset-
zungsreduktion ausgegangen werden. 7 Es erscheint gesichert, dass - bei
einer im zeitlichen Verlauf steigenden Tendenz - die Strafkammern und
Jugendkammern mit deutlichen regionalen Unterschieden in der Mehrzahl
aller Verfahren in reduzierter Besetzung verhandeln; größenordnungsmäßig
dürfte es sich derzeit um (mindestens) zwei Drittel aller in Betracht kom-
menden Fälle mit einem geringeren Anteil der Wirtschaftsstrafkammern
(§ 74c GVG) und einem größeren bei den allgemeinen Strafkammern han-
deln. Grob geschätzt führen damit die Strafkammern und Jugendkammern,
soweit sie nicht als Schwurgerichte tätig sind, von den rund 12500 jährli-
chen Hauptverhandlungen etwa (mindestens) 8000 in einer Besetzung mit
nur zwei Berufsrichtern (und zwei Schöffen) durch. Erfahrungsberichte aus
der Praxis lassen ferner erkennen, dass sich die Präsidien der Gerichte bei

3 Art. 3 des Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung v. 23.7.2004


(BGBL I, S. 1950); zur Begründung s. Regierungsentwurf, BT-Drs. 15/2887, S. 17 f.
4 Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege v. 7.12.2008 (BGBL I,
S. 2348); s. näher bei Fn. 30 unter (6).
5 Die Beratungen der Kommission, an denen ich als Gast teilgenommen habe, sind abge-
schlossen, die endgültige Fassung des schriftlichen Gutachtens lag bei Abschluss des Beitrags
noch nicht vor.
6 Zu den Einzelheiten s. die Ausschreibung, Bundesanzeiger v. 23. Januar 2009, Nr. 12,
S. 325. Die Untersuchung wird unter der Leitung der Professoren Dölling (Universität Heidel-
berg) und Felles (Universität Bochum) durchgeführt.
7 S. etwa die (teilweise nicht mehr ganz aktuellen) Angaben in BT-Drs. 14/2777, 14/3370
und 16/10570.
Die reduzierte Besetzung der großen Strafkammer 897

der Besetzung der Kammern auf diese Praxis namentlich dadurch einstellen,
dass in beträchtlichem Umfang den Kammern neben dem Vorsitzenden
lediglich ein Beisitzer mit voller Arbeitskraft zugewiesen wird, während der
zweite Beisitzer für mehrere Kammern eingeteilt wird, so dass eine "groß-
zügige" Besetzung mit drei Richtern sich mittelbar auf die Kapazität der
übrigen Strafkammern auswirkt. Damit lässt sich nicht ausschließen, dass
Gründe der konkreten Personaleinsparung für eine reduzierte Besetzung
eine Rolle spielen. 8
Der nachfolgende Beitrag9 beginnt (unter 11) mit einer Darstellung der
Entstehungsgeschichte der Vorschriften und ihres rechtspolitischen Um-
felds. Dem folgt (unter 111) eine knappe Übersicht über die bisherige Ver-
längerungsgesetzgebung und die dabei deutlich werdenden Tendenzen und
Absichten. Hieran anschließend (unter IV) soll unter Auswertung der
Rechtsprechung des BGH untersucht werden, wieweit diese die gesetzli-
chen Vorschriften präzisiert und konturiert hat und in welchem Umfang sie
ihre korrekte Anwendung zu kontrollieren in der Lage ist. Abschließend
(unter V) werden einige (mögliche) rechtspolitische Konsequenzen zur
Diskussion gestellt.

11. Zur Entstehungsgeschichte


Für die Besetzungsreduktion gibt es in der 130jährigen Entwicklungsge-
schichte der deutschen StPO kein Beispiel; auch in den verschiedenen Re-
formentwürfen kommt sie kaum vor. 10 Ihr gedankliches Vorbild war eine
zeitlich begrenzte Sondervorschrift des Einigungsvertrags in den Maßgaben
zum GVG anlässlich von dessen Überleitung auf die neu gebildeten Länder

8 Ein Umstand, den der BGH in einer seiner ersten Entscheidungen (BGHSt 44, 328, 345)
als sachfremd (und damit objektiv willkürlich) bezeichnet hat~ s. näher bei Fn. 42.
9 Er basiert auf einem Referat, das ich für die Beratungen der Großen Strafrechtskommissi-
on des Deutschen Richterbundes zu diesem Thema erstattet habe. Der Diskussion der Kommis-
sion verdanke ich zahlreiche Anregungen.
10 Einen Vorschlag, die nur noch als Berufungsinstanz vorgesehene Strafkammer in der
Hauptverhandlung stets mit zwei Berufsrichtern (und drei Schöffen) zu besetzen, enthielt
lediglich der mit dem Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsgang in Strafsachen (Entwurf
1919) verbundene Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes aus
dem Jahre 1919 sowie die dem Reichsrat vorgelegte erste Fassung eines Gesetzes zur Neuord-
nung der Strafgerichte vom 19.6.1922, während die überarbeitete Reichstagsvorlage vom
29.5.1923 darauf verzichtete. S. dazu mit Wiedergabe der Entwürfe und der Begründungen
Schuber! in: Schubert/Regge/Rieß/Schmidt (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und Straf-
prozessrechts, I. Abt., Bd. 4, 1999, S. 41 ff., 380 ff., 533 ff.
898 Peter RieB

rur die Dauer der Beibehaltung der Kreis- und Bezirksgerichte. 11 Diese war
namentlich durch den massiven Richtermangel in den neuen Ländern un-
mittelbar nach deren Beitritt motiviert und sah vor, dass die funktionell mit
den großen Strafkammern vergleichbaren Strafsenate der Bezirksgerichte
ausnahmslos mit nur zwei Berufsrichtern (und zwei Schöffen) besetzt wa-
ren, in dieser Besetzung auch über die Berufungen gegen die Urteile der mit
den Schöffengerichten funktionell vergleichbaren Kreisgerichte entscheiden
sollten und dass außerhalb der Hauptverhandlung stets der Vorsitzende
allein entschied. Dabei war unzweifelhaft, dass diese Sonderregelung mit
dem Übergang auf den "normalen" Gerichtsaufbau in den neuen Ländern
ihr Ende finden sollte; dieser vollzog sich in allen neuen Ländern bis (spä-
testens) Dezember 1993. 12
Die Regelungen über die Besetzungsreduktion in § 76 Abs. 2 GVG und
im neuen § 33b JGG 13 sind Bestandteile eines breit angelegten, fast den
gesamten Rechtspflegebereich umfassenden Entlastungskonzepts durch das
RPlfEntlG 14 gewesen, das durch die Wiedervereinigung und den damit
verbundenen Neuaufbau der Rechtspflege im Beitrittsgebiet motiviert war.
Dieser war notwendiger Weise mit einem erheblichen (mindestens zeitwei-
ligen) Transfer an Justizpersonal in das Beitrittsgebiet und damit mit einem
(weiteren) Kapazitätsengpass verbunden. Das Gesetz beruht auf einem
Entwurf des Bundesrates, der in seinem Ansatz, wenn auch keineswegs in
allen Einzelheiten die Zustimmung des Bundestages fand. 15

11 Einigungsvertrag v. 31.8.1990 (BGBL II, S. 885), Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Ab-
schnitt III Nr. 1 Maßgabe a), Maßgabe i) und j) Abs. 1. Einzelheiten bei RießIHilger Das
Rechtspflegerecht des Einigungsvertrages (auch Nachtr. zu Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl.),
1991, Teil B Rn. 100 ff., 118 ff.
12 S. näher Materialien zur Deutschen Einheit und zum Aufbau in den neuen Bundesländern
v. 8.9. 1995, BT-Drs. 13/2280, S. 300 (Anlage 13).
13 Zunächst noch ohne die Sätze 2, s. unten bei Fn. 23.
14 Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 (BGBL 1., S. 50); Gesamt-
übersicht bei Rieß AnwBI. 1993,51.
15 Zum Ganzen näher der Gesetzentwurf des Bundesrates, BT-Drs. 12/1217 (mit Stellung-
nahme der Bundesregierung S. 63 ff.) und die Beschlussempfehlung und den Schriftlichen
Bericht des RA-BT (BT-Drs. 12/3832). Plenarberatungen: Bundesrat 1. Durchgang, 633.
Sitzung v. 7.7.1991, S. 302 ff; Bundstag, 1. Lesung Plenarprot. 12/57, S. 4778 ff.; 2./3. Lesung
Plenarprot. 12/125, S. 10751 ff.
Die reduzierte Besetzung der großen Strafkammer 899

Im strafverfahrensrechtlichen Bereich 16 wurden als Dauerlösung 17 na-


mentlich die Annahmeberufung eingeruhrt, der Anwendungsbereich des
Strafbefehlsverfahrens und die Einstellungsmöglichkeiten nach den §§ 153,
153a StPO erweitert und das Beweisantragsrecht bei Auslandszeugen redu-
ziert. Die Zuständigkeit des Schöffengerichts wurde erweitert, die des Straf-
richters neu geordnet, die Zuständigkeit der kleinen Strafkammer auch für
Berufungen gegen Urteile des Schöffengerichts begründet und rur Berufun-
gen gegen Urteile des Jugendrichters die kleine Jugendkammer geschaffen
(§ 33b Abs. 1 JGG).
Die Einführung der Besetzungsreduktion für die Strafkammer und die
Große Jugendkammer ist in der Begründung des Entwurfs des Bundesrates
ausführlich, sorgfältig und zurückhaltend begründet worden. 18 Sie spricht
sich eindeutig gegen eine Besetzung mit nur einem Berufsrichter aus und
lässt eine deutliche Präferenz rur die Dreierbesetzung erkennen, die nur aus
übergeordneten Gründen und übergangsweise für einen Teil der Sachen
reduziert werden soll. Dazu heißt es:
"Im Hinblick auf den besonderen Anlass des Entwurfs schlägt der Ent-
wurf ... rur eine vorübergehende Zeit vor, rur die erstinstanzlichen Ver-
fahren vor dem Landgericht grundsätzlich die Besetzung mit zwei Be-
rufsrichtern vorzusehen ... Der Entwurf sieht die Gefahren, die rur die
Qualität der Entscheidungen damit verbunden sein können, glaubt aber,
sie in Hinblick auf die besondere Lage für eine vorübergehende Zeit in
Kauf nehmen zu können."
Die damit erreichbare Personaleinsparung bewertet der Entwurf mit etwa
10% eher zurückhaltend. Im weiteren Gesetzgebungsverfahren waren die
Vorschläge, soweit sie die Besetzungsreduktion betrafen, nicht umstritten. 19
Der Bundesratsentwurf hatte entsprechend dem Vorschlag zu § 76 Abs. 1
GVG vorgeschlagen, der von ihm ebenfalls erstmals vorgesehenen kleinen
Jugendkammer die Berufungszuständigkeit für die Urteile auch des Jugend-
schöffengerichts zuzuweisen. 20 Dem widersprach bei Zustimmung im Übri-

16 S. dazu namentlich die Beiträge von BättcherlMayer NStZ 1993, 153; Meyer-Goßner
NJW 2003,498; SiegismundlWickern wistra 1993, 81, 136.
17 In seiner vom Bundestag verabschiedeten Form enthielt das Gesetz neben den hier zu be-
handelnden Regelungen lediglich zwei weitere Geltungsbefristungen für § 29 DRiG und § 105
SGB, die mit Ablauf der ursprünglichen Befristung ausgelaufen sind. Weitere Befristungen im
Entwurf des Bundesrates wurden entweder in den parlamentarischen Beratungen in Dauerrecht
umgewandelt oder betrafen Regelungen, die nicht Gesetz wurden.
18 BT-Drs. 12/1217, S. 46 ff., 50 (zu § 33b JGG).
19 Der Bericht des Rechtsausschusses (BT-Drs. 12/3832) enthält hierüber nichts; in den Ple-
nardebatten wird das Thema nicht angesprochen.
20 § 33b Abs. 1 nach Art. 6 Nr. 2 des Entwurfs (BT-Drs. 12/1217).
900 Peter Rieß

gen, soweit es um das Jugendschöffengericht ging, die Bundesregierung in


ihrer Stellungnahme;21 der Bundestag schloss sich dieser Auffassung an. 22
§ 76 Abs. 2 S. 2 GVG und § 33b Abs. 2 S. 2 JGG, durch die eine Beset-
zungsänderung nach Zurückverweisung ermöglicht wird, wurden Ende
2000 im Zusammenhang mit der zweiten Verlängerung der Befristung 23
ebenso wie die gleichartige Ergänzung des seit Ende 1994 geltenden § 122
Abs. 2 GVG eingeführt. Der Vorschlag war sowohl im Gesetzentwurf der
(damaligen) Koalitionsfraktionen 24 als auch in dem des Bundesrates 25 ent-
halten; in den Beratungen des Rechtsausschusses des Bundestages bestand
über ihn Einigkeit. Die Begründungen beschränken sich in der Allgemeinen
Begründung und der Einzelbegründung auf Folgendes:
"Die Unabänderlichkeit der Besetzungsentscheidung ... entfällt bei der
Zurückverweisung einer Sache durch das Revisionsgericht. In diesen
Fällen soll eine neue Entscheidung über die Besetzung ermöglicht wer-
den.... "
Die Möglichkeit der Besetzungsreduktion bei den erstinstanzlichen Straf-
senaten des Oberlandesgerichts in § 122 Abs. 2 GVG wurde am 1. 12. 1994
durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz26 geschaffen, in dem mehrere
Gesetzentwürfe von verschiedenen Seiten zusammengefasst wurden und
das erst nach langwierigen Beratungen und der Einschaltung des Vermitt-
lungsausschusses zustande kam. 27 In keinem dieser Entwürfe war die Beset-
zungsreduktion gemäß § 122 Abs. 2 GVG enthalten. Sie ist aufgrund der
Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses in den parlamentarischen
Beratungen eingefügt worden. 28 Die knappe und kaum substantiierte Be-
gründung im Schriftlichen Bericht des Rechtsausschusses 29 verweist auf

21 BT-Drs. 12/1217, S. 70, namentlich in Hinblick auf die über das Erwachsenenstrafrecht
deutlich hinausgehende Strafkompetenz des Jugendschöffengerichts und die Rechtsmittelrege-
lung in § 55 JGG.
22 Beschlussempfehlung und schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 12/3832,
S.45.
23 Gesetz zur Verlängerung der Besetzungsreduktion bei Strafkammern v. 19.12.2000
(BGBI. I, S. 1756); näher Fn. 30 unter (2).
24 BT-Drs. 14/3370.
25 Entwurf eines Gesetzes zu Änderungen im Gerichtsverfassungsrecht (§ 76 Abs. 2, § 122
Abs. 2 GVG, § 33b Abs. 2 JGG), BT-Drs. 14/3831. Der ebenfalls den gleichen Regelungsge-
genstand betreffende Gesetzentwurf der CDU/CSU (BT-Drs. 14/2992) beschränkt sich eigenar-
tiger Weise (wohl versehentlich) auf die Einfügung des Satzes 2 in § 33b JGG.
26 Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozessordnung und anderer Geset-
ze (Verbrechensbekämpfungsgesetz) v. 28.10.1994 (BGBI. I, S. 3186), Art. 8.
27 S. näher mit weit. Nachw. LR-Kühne, 26. Aufl. 2006, Einl. Abschn. J Rn. 147 ff.
28 In der insgesamt emotionalen und kontroversen Plenardebatte v. 20.4.1994 (Plenarprot.
12/229, S. 19867 ff.) ist dieser Punkt nicht erwähnt worden.
29 BT-Drs. 12/8588, S. 9.
Die reduzierte Besetzung der großen Strafkammer 901

§ 76 Abs. 2 GVG, geht aber nicht darauf ein, dass die dortige Regelung
bewusst befristet ist, während die Neufassung des § 122 Abs. 2 GVG Dau-
errecht werden soll.

111. Zur Entwicklung der Verlängerungsgesetzgebung


Nach der ursprünglichen gesetzgeberischen Entscheidung, die mit dem
Vorschlag des Bundesratsentwurfs übereinstimmte, wäre die auf fünf Jahre
befristete Regelung am 28. 2. 1998, also vor 12 Jahren, ausgelaufen. Nach
dem Ende der zuletzt beschlossenen Verlängerung Ende 2011 wird sie
knapp 19 Jahre gegolten haben. Selbst wenn auch im Strafverfahrensrecht
zeitlich befristete Regelungen keine ganz seltenen Ausnahmen mehr darstel-
len, ist eine derartige Länge ungewöhnlich. Sie beruht auf insgesamt sechs
Verlängerungsgesetzen 30 mit einer meist zweijährigen Verlängerung, die
ganz überwiegend jeweils kurz vor Fristablauf verabschiedet wurden, nicht
selten erst während der parlamentarischen Beratungen an andere Gesetzes-
vorhaben "angehängt" worden sind und regelmäßig rechtspolitisch nicht
besonders umstritten waren. 31 Lediglich in der ersten, auf drei Jahre befris-
teten Verlängerung bis Ende 2000 wird in der Begründung ausdrücklich auf
den Fortbestand des Ursprungsanlasses, nämlich den vorübergehenden

30 Im Einzelnen unter Hinweis auf die insoweit wesentlichen Gesetzgebungsmaterialien: (1)


Gesetz zur weiteren Verlängerung strafrechtlicher Verjährungsfristen und zur Änderung des
Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege (3. Verjährungsgesetz - 3. VerjG) v. 22.12.1997
(BGBL I, S. 3223), Art. 3, Aufnahme erst in den Beratungen des Rechtsausschusses, BT-Drs.
13/9252; (2) Gesetz zur Verlängerung der Besetzungsreduktion bei Strafkammern v.
19.12.2000 (BGBL I, S. 1756), Entwurf der (damaligen) Koalitionsfraktionen, BT-Drs.
14/3370, Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 14/4542; (3) Gesetz zur Änderung des
Rechts der Vertretung durch Rechtsanwälte vor den Oberlandesgerichten (OLG-
Vertretungsänderungsgesetz - OLGVertrÄndG) v. 23.7.2002 (BGBL I, S. 2850), Art. 24,
Aufnahme erst durch den Rechtsausschuss, BT-Drs. 14/9226, S. 42; (4) Erstes Gesetz zur
Modemisierung der Justiz (1. Justizmodernisierungsgesetz) v. 24.8.2004 (BGBL I, S. 2198),
Art. 12g Abs. 20, als Befristungsverlängerung durch Beschluss des Rechtsausschusses BT-Drs.
15/3482 S. 26 gegenüber Vorschlägen durch den Bundesrat zur Umwandlung in Dauerrecht,
BT-Drs. 15/999 u. 15/1437; (5) Zweites Gesetz zur Modernisierung der Justiz (2. Justizmoder-
nisierungsgesetz) v. 22.12.2006 (BGBL I, S. 3416), Art. 5, Regierungsentwurf BT-Drs.
16/3038 S. 32, Bericht Rechtsausschuss, BT-Drs. 16/3426; (6) Gesetz zur Änderung des Ge-
setzes zur Entlastung der Rechtspflege v. 7.12.2008 (BGBL I, S. 2348), Fraktionsentwurf BT-
Drs. 16/10570, Bericht Rechtsausschuss 16/1 0893 mit Hinweis auf die "Letztmaligkeit" der
Verlängerung und die Notwendigkeit einer umfassenden Evaluierung.
31 Dies zeigt sich auch darin, dass sie in den das Gesetzgebungsverfahren jeweils abschlie-
ßenden Plenardebatten des Bundestages, soweit solche überhaupt stattfanden, keine Erwäh-
nung gefunden haben.
902 Peter Rieß

Personalbedarf anlässlich der Wiedervereinigung abgestellt. 32 In allen wei-


teren Gesetzen wird dies kaum noch erwähnt. Ebenso wenig wird in den
jeweiligen Gesetzgebungsverfahren die Rückkehr zur Ursprungsfassung,
also zur ausnahmslosen Dreierbesetzung der Stratkammern thematisiert.
Für die Aufrechterhaltung der Besetzungsreduktion dominieren zwei Be-
gründungsstränge. Es wird einmal auf den allgemeinen Entlastungseffekt,
verbunden mit der Praxisbewährung abgestellt. Die Beibehaltung der zeitli-
chen Befristung wird ferner mit der Absicht umfassenderer strafprozessua-
ler Reformen motiviert, denen nicht vorgegriffen werden soll. Dabei ver-
weist das Verlängerungsgesetz von 2004 auf eine von den damaligen
Koalitionsfraktionen beabsichtigte Reform des Strafverfahrens, für die ein
Diskussionsentwurf vorlag, der u. a. eine Neufassung der Stratkammerbe-
setzung beinhaltete;33 das Verlängerungsgesetz von 2006 verwies auf die
möglichen Ergebnisse einer Arbeitsgruppe zur Großen Justizreform, die
bisher nicht entwickelt worden sind. Dieser zweite Begründungsansatz dient
zugleich als Argument gegen die Umwandlung in eine Dauerlösung, die
namentlich der Bundesrat - unbeschadet der Tatsache, dass die Befristung
auf dem von ihm eingebrachten Entwurf beruht - bereits seit 1996 34 und
seither mit steigender Intensität35 verfolgt hat.

32 Gesetz v. 22.12.1997 (BGBL I, S. 3223), s. Fn. 30 unter (1). Der schriftliche Bericht des
Rechtsausschusses (BT-Drs. 13/9252, S. 5) führt aus, dass die Notsituation der Justiz in den
neuen Ländern entgegen der seinerzeitigen Erwartung noch nicht vollends behoben sei. Es sei
ihnen zwar gelungen, binnen kurzer Frist eine funktionierende rechtsstaatliche Justiz aufzubau-
en. "Wegen der Notwendigkeit, die anstehenden Aufgaben rasch zu bewältigen, mussten
jedoch weit mehr als in anderen Bundesländern Richter und Staatsanwälte eingesetzt werden,
die noch nicht über richterliche oder staatsanwaltschaftliche Berufserfahrung verfügen. Auf
einen gewachsenen Bestand an routinierten und diensterfahrenen Richtern und Staatsanwälten
kann die Strafjustiz derzeit in den neuen Ländern noch nicht zurückgreifen."
33 Abdruck mit (etwas gekürzter) Begründung StV 2004, 228 ff. Nach der dort vorgeschla-
genen Fassung des § 76 GVG sollte die große Strafkammer grundsätzlich mit zwei Richtern
(und in der Hauptverhandlung mit zwei Schöffen) besetzt sein und in dieser Besetzung auch als
Beschlusskammer entscheiden und (wieder) für Berufungen gegen Urteile des Schöffenge-
richts zuständig sein. Für Schwurgerichtsverfahren sowie bei Umfang oder Schwierigkeit der
Sache sollte die Mitwirkung eines dritten Richters in der Hauptverhandlung zu beschließen
sein. Dieser Entwurf, der ferner deutliche Änderungen namentlich im Ermittlungsverfahren
beabsichtigte, ist bisher nicht weiterverfolgt worden.
34 Entwurf eines zweiten Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege (strafrechtlicher Be-
reich), BT-Drs. 13/4541 v. 7.5.1996 und Entwurf eines Strafprozessanpassungsgesetzes, BT-
Drs. 13/8939 v. 6.11.1997. Beide Entwürfe, die zahlreiche weitere Änderungsvorschläge
enthielten, sind im Bundestag erfolglos geblieben.
35 So etwa Entwurf eines Gesetzes zu Änderungen im Gerichtsverfassungsgesetz v.
6.7.2000, BT-Drs. 14/3831, mit der Begründung, dass sich die Vorschrift auch nach der Auf-
fassung der Bundesregierung bewährt habe, die Belastung der Strafjustiz fortdauere, die revisi-
onsrechtlichen Probleme durch die Rechtsprechung des BGH weitgehend geklärt seien und
auch die vergleichbare Regelung bei den Strafsenaten nicht befristet sei.
Die reduzielie Besetzung der großen Strafkammer 903

IV. Zur Entwicklung der Rechtsprechung


Die Behandlung der Besetzungsreduktion nach § 76 Abs. 2 GVG im
Schrifttum war - möglicherweise mit bedingt durch die zeitliche Befristung
- wenig kontrovers. Interpretiert und gewürdigt worden ist die Vorschrift
neben ihrer Erörterung in der Konlmentarliteratur anfanglich in einigen
ausführlicheren Aufsätzen zu den strafprozessualen Teilen des RptlEntG;
hinzu kommen einige Beiträge zu Einzelfragen 36 und mehrere Anmerkun-
gen zu Entscheidungen des BGH. Dieser hat seit dem Inkrafttreten der Re-
gelung insgesamt in etwa 25 Entscheidungen Gelegenheit gehabt, sich in
den Gründen mit der Besetzungsreduktion auseinanderzusetzen, die Rege-
lung des Gesetzes näher zu präzisieren (dazu näher unter 1) und ihre An-
wendung rechtlich zu kontrollieren (dazu näher unter 2).37
Auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts hat die Besetzungsre-
duktion viermal gestanden; es hat sie - ausnahmslos durch Kammerent-
scheidungen - in ihrer durch die Rechtsprechung entwickelten konkreten
Ausprägung verfassungsrechtlich nicht beanstandet. 38

1. Bestimmung des Anwendungsbereichs


Der Anwendungsbereich der Regelungen und das dabei zu beachtende
Verfahren sind - auch soweit das Gesetz zu Zweifeln Anlass gab - durch
die Rechtsprechung weitgehend geklärt. Einige (mehr dogmatische) noch
offene Fragen dürften ohne besondere praktische Bedeutung sein.
Der BGH hat durch zwei frühe, für die amtliche Sammlung bestimmte
Grundsatzentscheidungen vor allem in I-linblick auf die revisionsrechtliche
Überprüfung zwei wichtige Weichenstellungen vorgenommen. 39 Er hat
klargestellt, dass bei der Rüge einer fehlerhaften Anwendung der Beset-
zungsreduktion" die Vorschriften über die Rügepräklusion anwendbar sind,40

36 Vollständige Übersicht bei SK-StPO/Degener, 2009, § 76 GVG, Schrifttum.


37 Ausgewertet ist in erster Linie die Entscheidungssammlung BGH-Nack, wo die hier
nachgewiesenen Entscheidungen abru tb ar sind. Nicht feststellbar und damit nicht berücksich-
tigt sind die begründungslosen Beschlussentscheidungen nach § 349 Abs. 2 StPO, in denen ein
Verstoß gerügt war, sowie derjenigen Entscheidungen, in denen diese Rüge in den Gründen
unbehandelt blieb.
38 BVerfG v. 22.6.1999 - 2 BvR 1064/99~ v. 3.5.2004 - 2 BvR 1825/02 (NJW 2004, 3482 =
StV 2205, 1); v. 5.4.2005 - 2 BvR 227/05; v. 16.10.2007 - 2 BvR 1712/07.
39 BGHSt 44, 328; 44, 361; s. näher Fn. 40, 41.
40 BGH v. 11.2.1999 - 4 StR 657/98 (BGHSt 44, 361 = NJW 1999, 1725), wo dies in ent-
scheidungserheblicher Form den Erfolg der Revision verhinderte, tnit ausführlicher Begrün-
dung als unmittelbare Anwendung; BGH v. 23.12.1998 - 3 StR 343/98 (BGHSt 44, 328 =
NStZ 1999, 367 m. Anm. Rieß = JR 1994, 394 m. Anm. Katholnigg) als entsprechende An-
wendung sowie wortgleich und den gleichen Sachverhalt betreffend die Parallelentscheidung
3 StR 344/98 (NStZ-RR 1999,212). Seither ständige Rechtsprechung.
904 Peter Rieß

und er hat ausgesprochen, dass bei der Frage, ob wegen Umfangs oder
Schwierigkeit der Sache in Dreierbesetzung hätte entschieden werden müs-
sen, dem Tatrichter ein weiter Beurteilungsspielraum eingeräumt ist, der
vom Revisionsgericht nur bei objektiver Willkür beanstandet werden
kann. 41 In seiner ersten Entscheidung hierzu hat er sich im Grundsatz deut-
lich für die Dreierbesetzung ausgesprochen und ihre Vorteile betont hat. Es
heißt dort:
"Bei der Prüfung ... ist zu bedenken, dass der Gesetzgeber zu Recht da-
von ausgeht, dass sich die Besetzung einer großen Strafkammer mit drei
Berufsrichtern bewährt hat ... Der Strafkammer steht die Strafgewalt in
der gesamten Breite zu, über die das Strafrecht verfügt. Mit der Mög-
lichkeit z. B. der Anordnung der Sicherungsverwahrung oder der Unter-
bringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sind die weitestgehen-
den Entscheidungen im Bereich des Strafrechts in ihre Zuständigkeit
gelegt. Zudem ist das Verfahren vor der Strafkammer die einzige Tatsa-
cheninstanz. Vor diesem Hintergrund kommt der Qualität der Entschei-
dungen eine große Bedeutung zu. Deren Sicherung ist durch das Kolle-
gialitätsprinzip in besonderer Weise gewährleistet. Die Mitwirkung
mehrerer Berufsrichter ermöglicht es, die Aufgaben in der Hauptver-
handlung sachgerecht zu verteilen, den Tatsachenstoff intensiver und
von mehreren Seiten zu würdigen und Rechtsfragen grundsätzlich besser
als nur unter Beteiligung von Laienrichtern zu lösen. Der Gesetzgeber
war sich deshalb der Gefahren, die sich bei einer Minderung der Mit-
gliederzahl des Kollegiums ergeben können, bewusst, glaubte aber, sie
im Hinblick auf die durch den Aufbau einer rechtsstaatlichen Justiz in
den neuen Bundesländern verursachten besonderen Lage für einen vorü-
bergehenden Zeitraum in Kauf nehmen zu können ... Dementspreche"nd
spricht vieles dafür, bei der Anordnung einer Zweierbesetzung eine ge-
wisse Zurückhaltung zu üben, wenn es zweifelhaft ist, ob Umfang oder
Schwierigkeit der Sache die Bestimmung einer Dreierbesetzung als
notwendig erscheinen lässt. Jedenfalls wäre es sachfremd und damit ob-
jektiv willkürlich, etwa aus Gründen der Personaleinsparung u. ä. eine
reduzierte Besetzung zu beschließen. Die Justizverwaltung hat deshalb

41 BGHSt 44, 328 (s. Fn. 40), auch dies seither ständige Rechtsprechung und vom BVerfG
(Besehl. v. 22.6.1999 - 2 BvR 1064/99) gebilligt. Die teilweise vom BGH offen gelassene
Frage (BGHSt 44, 328, 331; BGH v. 11.1.2005 - 3 StR 488/04 [NStZ 2005, 465 = StV 225,
204] mit bejahender Tendenz), ob auch die willkürliche Besetzung mit drei Berufsrichtern
gerügt werden kann, dürfte der BGH inzwischen, wie die hierauf eingehende Entscheidung v.
7.11.2002 - 3 StR 285/02 (StraFo 2003, 134) zeigt, bejahen; sie ist freilich angesichts der
Realitäten ohne besondere Bedeutung.
Die reduzierte Besetzung der großen Strafkammer 905

sicherzustellen, dass umfangreiche oder schwierige Verfahren mit drei


Berufsrichtem durchgeführt werden können."42
In der konkreten Umsetzung dieser Maßstäbe ist der BGH allerdings in
dieser ersten Entscheidung, die die Revision verwarf, bemerkenswert groß-
zügig verfahren.43
Der Umfang oder die Schwierigkeit der Sache als Beurteilungsmaßstab
für die Notwendigkeit der Mitwirkung eines dritten Berufsrichters in der
Hauptverhandlung soll sich nach den Umständen des Einzelfalles richten.
Für den Umfang werden quantitative Maßstäbe genannt wie Zahl der Ange-
klagten und Verteidiger, Zahl der Delikte, Zahl der Zeugen und anderer
Beweismittel, Notwendigkeit von Sachverständigen, Umfang der Akten und
(voraussichtliche) Dauer der Hauptverhandlung. Als überdurchschnittliche
Schwierigkeit wird hingewiesen auf Beweisschwierigkeiten, die Notwen-
digkeit von umfangreichen Sachverständigengutachten oder rechtliche oder
tatsächliche Kompliziertheit, etwa in Wirtschaftsstrafsachen,44 bei denen
dies allerdings nicht in jedem Fall so sein muss. 45 Dass Sicherungsverwah-
rung in Betracht kommt, soll für sich allein kein Grund sein, von der Beset-
zungsreduktion abzusehen, kann sich aber auf den Umfang der Sache aus-
wirken. 46 Klare und allgemeine Aussagen dazu, wann eine reduzierte
Besetzung unbedenklich ist, lassen sich aus der Rechtsprechung des BGH
nicht entnehmen. 47 Eine solche wird jedenfalls nicht allein dadurch in Frage

42 BGHSt 44, 328, 334 f. Ob diese skeptische Grundhaltung heute noch die Revisionsrecht-
sprechung trägt und namentlich, ob sie die Rechtspraxis bestimmt, erscheint zweifelhaft.
43 Es handelte sich um ein Verfahren mit ursprünglich acht Angeklagten, zehn Verteidigern,
19 Anklagevorwürfen und 70 Zeugen. Die Entscheidung (BGHSt 44, 335 f.) bezeichnet die
Zweierbesetzung als "rechtlich bedenklich", aber noch nicht objektiv willkürlich, u. a. auch
deshalb, weil eine feststehende Rechtsprechung noch nicht bestand und weil eine Reduktion
des Verhandlungsumfangs als möglich erschien~ s. dazu auch die auf diese Besonderheiten
hinweisenden Bemerkungen in der späteren Entscheidung des gleichen Senats v. 14.8.2003 - 3
StR 199/03 (näher unten Fn. 64).
44 So die Aufzählung in BGHSt 44, 328, 334~ ebenso BGH v. 14.8.2003 - 3 StR 199/03
(näher Fn. 64)~ v. 18.6.2009 - 3 StR 89/09 (näher Fn. 66), jeweils mit dem Hinweis, dass im
Zweifel die Dreierbesetzung vorzuziehen sei.
45 BGH v. 9.11.2004 - 1 StR 375/04 (NStZ-RR 2005,47, nur Leitsatz): "Auch ein vor der
Wirtschaftsstrafkammer zu verhandelnder Betrug ist, wenn die Täuschungshandlung offen
liegt, weder tatsächlich noch rechtlich überdurchschnittlich komplex. Der Umstand, dass
Verfahrensbeteiligte in der Hauptverhandlung umfangreiche Anträge stellen, ändert hieran
nichts."
46 BGH v. 26.11.2003 - 2 StR 291/03; BGH v. 16.12.2003 - 3 StR 438/03 (StV 2004,250 =
NStZ-RR 2004, 175). Anders - wegen der gesetzlichen Sonderregelung in § 74f Abs. 3 GVG -
bei der Entscheidung über die nachträgliche Sicherungsverwahrung, BGH v. 6.4.2006 - 1 StR
78/06 Rn. 18 (als Hinweis, da von der beschwerdeführenden StA nicht gerügt).
47 Die Gründe nehmen teilweise, ohne diese mitzuteilen, auf die Stellungnahme des GBA
Bezug, so etwa BGH v. 29.1.2009 - 3 StR 567/08 Rn. 17.
906 Peter RieB

gestellt, dass rur die Hauptverhandlung umfangreiche Anträge angekündigt


werden oder diese einen längeren Zeitraum beansprucht als vom Gericht
beabsichtigt. 48 In einer vom BGH nach § 349 Abs. 2 StPO behandelten
Besetzungsreduktion beruhte die Verwerfung der Rüge darauf, dass trotz
des Aktenumfangs und zahlreicher Zeugenvernehmungen die Beweisauf-
nahme vorhersehbar nicht übermäßig kompliziert war und teilweise der
Tatnachweis durch gesicherte DNA-Spuren geruhrt wurde. 49 In einem unl-
gekehrten Fall, in dem mit der Revision beanstandet wurde, dass nach einer
Zurückverweisung keine Besetzungsreduktion beschlossen wurde, hat der
BGH, der auf die sachliche Berechtigung der Rüge eingegangen ist, die
Beibehaltung der Besetzung mit drei Berufsrichtern als sachgerecht be-
zeichnet, weil die Verteidigung zahlreiche, auf umfangreiche Beweisauf-
nahmen drängende Anträge angekündigt hatte. 50
Was den Anwendungsbereich der Besetzungsreduktion angeht, so hat der
BGH frühzeitig entschieden, dass bei Berufungen gegen Urteile des Jugend-
schöffengerichts die große Jugendkammer in reduzierter Besetzung verhan-
deln darf.51 Er hat auch klargestellt, dass dies auch dann möglich ist, wenn
ein Verfahren aufgrund einer Verweisung nach § 270 StPO oder einer
Übernahme nach § 225a StPO vom Amtsgericht an die Strafkammer ge-
langt.52
Ob als normative Regel von der Besetzung mit drei oder zwei Richtern
auszugehen sei, ist bereits in den beiden ersten Grundsatzentscheidungen
unterschiedlich gesehen 53 und auch seither in mehreren Entscheidungen
offen gelassen worden,54 dürfte aber ohne praktische Bedeutung sein. Denn
geklärt ist, dass Voraussetzung fur die reduzierte Besetzung ein (grundsätz-
lich) bei der Eröffnung 55 zu fassender Beschluss ist, bei dessen Fehlen auch

48 BGH v. 8.12.2004 - 3 StR 422/04 (StraFo 2005, 162).


49 BGH v. 20.6.2007 - 2 StR 181/07~ die Stellungnahme des GBA ergibt sich aus der Ent-
scheidung des BVerfG v. 16.10.2007 -2 BvR 1712/07.
50 BGH v. 7.11.2002 - 3 StR 285/02 (StraFo 2003, 134). "Der Umstand, dass sie [die Straf-
kammer] diese Anträge später - zu Recht - zurückgewiesen hat, vermag daran nichts zu än-
dern, zumal es der Verteidigung mit diesen Anträgen gelungen ist, die Hauptverhandlung auf
eine Dauer von zwei Monaten auszudehnen."
51 BGH v. 23.4.1996 - 4 StR 142/96 (NStZ-RR 1997, 22)~ ebenso BayObLG NStZ 1998,
102~ OLG DüsseldorfStV 2001,166 m. Anm. Rzepka.
52 BGHSt 44, 361, 362 unter I 1 a~ BGH v. 7.6.2000 - 5 StR 193/00 (näher Fn. 61).
53 Für die Dreierbesetzung BGHSt 44, 328, 331 ~ für die Zweierbesetzung BGHSt 44, 361,
362.
54 So etwa BGH v. 7.6.2000 - 5 StR 193/00; BGB v. 20.4.1999 - 5 StR 114/99 und BGH v.
11.11.2003 - 4 StR 359/03.
55 In Fällen ohne Eröffnungsbeschluss durch die Strafkammer ist die Entscheidung (spätes-
tens) bei der Terminierung zu treffen~ so für Berufungsverfahren (§ 33b JGG) BGHSt 44, 361,
362~ für die Eröffnung durch das Beschwerdegericht (§ 210 StPO) BGH v. 26.3.2009 - StB
20/08, Rn. 55 (insoweit in BGHSt 53, 238 und NStZ 2009, 640 nicht abgedruckt).
Die reduzierte Besetzung der großen Strafkammer 907

dann mit drei Richtern zu verhandeln ist, wenn er versehentlich unterblie-


ben ist. 56 Die nachträgliche Änderung der Besetzung bei bloßer Verände-
rung der Sachlage ist unzulässig; anerkannt sind hiervon nach dem gegen-
wärtigen Stand der Rechtsprechung lediglich drei Ausnahmen: (1) wenn
aufgrund eines Besetzungseinwandes nach § 222b StPO festgestellt werden
muss, dass der Beschluss nach der zum Zeitpunkt seiner Fassung (also re-
gelmäßig bei der Eröffnung) bestehenden Sach- und Rechtslage fehlerhaft
war,57 (2) kraft ausdrücklicher gesetzlicher Regelung (§ 76 Abs. 2 Satz 2
GVG), wenn die Sache vom Revisionsgericht zurückverwiesen war 58 oder
(3) wenn durch eine Verbindung erstinstanzlicher Verfahren sich Schwie-
rigkeit oder Umfang der Sache so erhöhen, dass die Besetzungsreduktion
als nicht mehr sachgerecht erscheint.59

2. Erfolgreiche Revisionen als Indizfür die Kontrolldichte


Der rechtsfehlerhafte Umgang mit § 76 Abs. 2 GVG stellt nach § 338 Nr.
1 StPO einen absoluten Revisionsgrund dar, der bei formgerechter Rüge zur
Urteilsaufhebung zwingt. Häufigkeit und Charakter der hiernach erfolgrei-
chen Revisionen geben deshalb Aufschluss einmal über die hierbei vor-
kommenden Rechtsfehler, was man als einen (beschränkten) Hinweis auf
die "Praxistauglichkeit" der Vorschrift verstehen kann, aber auch über die
Kontrollintensität, mit der der BGH hier tätig wird.
Im gesamten Zeitraum der bisherigen Geltung der Besetzungsreduktion
sind lediglich sechs Revisionen aus diesem Grunde erfolgreich gewesen;60

56 Ständige Rspr., zuletzt BGH v. 5.8.2008 - 5 StR 317/08 (StV 2008, 505) Rn. 8 m. weit.
Nachw.
57 BGHSt 44,328,333 unter 1 a cc) a. E.; BGH v. 14.8.2003 - 3 StR 199/03 unter I 2 a. E.
(näher Fn. 64) m. Nachw. des (insoweit damals kontroversen) Schrifttums.
58 Dazu BGH v. 7.11.2002 - 3 StR 285/02 (StraFo 2003, 134). Die Regelung beseitigt ledig-
lich die Bindungswirkung des ursprünglichen Beschlusses. Soll die Besetzung unverändert
bleiben, bedarf es keines neuen Beschlusses.
59 So BGH v. 29.1.2009 - 3 StR 567/08 (BGHSt 53,169 = NJW 2009, 1760 = StV 2009,
400). Ein neuer Beschluss ist nur dann erforderlich, wenn die Besetzungsreduktion entfallen
soll. Anders als im Fall des § 76 Abs. 2 S. 2 GVG, wo eine Besetzungsänderung auch in einer
(erstmaligen) Besetzungsreduktion bestehen kann (und in der Regel bestehen wird), beschränkt
diese Entscheidung die Korrekturmöglichkeit auf den Übergang zur Dreierbesetzung. Dass
eine Verfahrensverbindung zum Wegfall von Umfang oder Schwierigkeit der Sache führen
kann, erscheint praktisch ausgeschlossen.
60 In den drei in BGHSt 50, 267 (= NStZ 2006, 298 m. Anm. Rieß), StV 2007, 562 und StV
2008, 505 abgedruckten Entscheidungen hat der BGH das Verfahren mangels wirksamen
Eröffnungsbeschlusses (teilweise) eingestellt, weil die nach Beginn der Hauptverhandlung
getroffene Eröffnungsentscheidung durch das (in den konkreten Fällen mit zwei Berufsrichtem
besetzte) erkennende Gericht unter Mitwirkung der Schöffen und nicht durch die Beschluss-
strafkammer getroffen wurde. Der Mangel wäre auch aufgetreten, wenn die Strafkammer in
908 Peter RieB

bei einigen wenigen weiteren Revisionen hat der BGH einen Rechtsverstoß
festgestellt, ohne dass dies zur Urteilsaufhebung fiihrte, weil er nicht gerügt
oder die Rüge präkludiert war. Dabei verhilft eine unrichtige Verneinung
des Merkmals des Umfangs oder der Schwierigkeit der Sache der Revision
äußerst selten zum Erfolg.
Drei aufhebende Entscheidungen beruhen auf Rechtsfehlern bei der Be-
schlussfassung über die Besetzungsreduktion. Zunächst hat der BGH das
Fehlen eines ausdrücklichen Beschlusses über die vom Tatrichter durchge-
fiihrte Zweierbesetzung nach einer auf § 270 Abs. 1 StPO gestützten Ver-
weisung der Sache vom Schöffengericht beanstandet. 61 Eine weitere Aufhe-
bung beruht auf einer nachträglichen (und damit unzulässigen) Anordnung
der Besetzungsreduktion nach dem Übergang des bereits eröffneten Verfah-
rens auf eine andere Strafkammer. 62 Schließlich hat er die nachträgliche
Ergänzung eines bereits erlassenen Eröffnungsbeschlusses UITI die Entschei-
dung über die Besetzungsreduktion beanstandet. 63
Lediglich in drei Entscheidungen hat der BGH bisher, also in mehr als 16
Jahren, die Revision deshalb durchgreifen lassen, weil wegen des Umfangs
und der Schwierigkeit der Sache die Besetzungsreduktion objektiv willkür-
lich gewesen sei. Im ersten Fall ging es um mehrere hundert Fälle des Anla-
gebetruges und einer voraussehbaren Hauptverhandlungsdauer von 45 Ta-
gen; es wirkte ein Ergänzungsschöffe mit. 64 Im zweiten Fall richtete sich
das Verfahren gegen mehrere Angeklagte, hatte 21 Fälle der besonders

voller Berufsrichterbesetzung verhandelt hätte. Zu Revisionserfolgen, die auch bei einer ge-
schäftsplanmäßig nur mit zwei Beisitzern besetzten Strafkammer aus der in Hinblick auf § 76
Abs. 2 bestehenden Notwendigkeit einer kammerinternen Geschäftsverteilung folgen, s. BGH
NStZ 2000, 50 (= JR 2000, 166 m. Anm. Katholnigg)~ NStZ 2004, 638 und v. 14.6.2006 -
2 StR 34/06 Rn. 6 (NJW 2006, 2645 = StV 2006~ 430).
61 BGH v. 7.6.2000 - 5 StR 193/00 (StV 2001, 145 = NStZ-RR 2001,244). Die Entschei-
dung lässt offen, ob in einem Übernahmebeschluss nach § 225a Abs. 3 StPO eine konkludente
Entscheidung über die Besetzung der Strafkammer gesehen werden könnte. In BGHSt 44, 361
(näher oben Fn. 40) war beim gleichen Fehler die Rüge präkludiert.
62 BGH v. 23.8.2005 - 1 StR 350/05 (StV 2005,654 = NStZ-RR 2006, 2i4). Die Kammer,
auf die das Verfahren übergegangen war, hatte irrtümlich einen zweiten Eröffnungsbeschluss
erlassen und mit ihm die reduzierte Besetzung beschlossen. Der BGH betrachtet diesen als
bedeutungslos. Eine analoge Anwendung von § 76 Abs. 2 S. 2 hat er ausdrücklich und mit
näherer Begründung abgelehnt.
63 BGH v. 5.8.2008 - 5 StR 317/08 (StV 2008,505).
64 BGH v. 14.8.2003 - 3 StR 199/03 (NJW 2003, 3633). Der Vorsitzende hatte bereits bei
der Terminierung darauf hingewiesen, dass mit einer Hauptverhandlung von mehreren Mona-
ten Dauer zu rechnen sei. Die Entscheidung führt aus: "Wollte man der vorliegenden Sache
den besonderen Umfang im Sinne des § 76 Abs. 2 GVG absprechen, ließe sich kaun1 noch ein
Fall denken, bei dem dieses Merkmal die Zuziehung eines dritten Berufsrichters erforderlich
tnachen würde." S. dazu auch die Anmerkungen v. Haller/lanßen NStZ 2004, 469; Husherr
StV 2003, 658~ Weber JR 2004, 171.
Die reduzierte Besetzung der großen Strafkammer 909

schweren Erpressung zum Gegenstand, in der Anklage waren 113 Zeugen


und mehrere Sachverständige benannt und es waren zunächst 19 Hauptver-
handlungstage vorgesehen, nach deren Ablauf die Hauptverhandlung noch
weitere sieben Monate dauerte. Heraus kam neben der Sicherungsverwah-
rung eine Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Jahren. 65 Beim dritten Fall ging es
um ein umfangreiches BtMG-Verfahren mit 5 Angeklagten und sechs Ver-
teidigern, zahlreichen Zeugen und der Notwendigkeit der Einruhrung zahl-
reicher Protokolle über Telefonüberwachungen, bei dem absehbar war, dass
10 Hauptverhandlungstage erforderlich waren und das schließlich 88
Hauptverhandlungstage erforderte. 66 Dass dies keine Fälle waren, die eine
Zweierbesetzung rechtfertigen konnten, ist evident. Was dagegen auffällt
und nach einer Erklärung verlangt, ist der Umstand, dass allein bei ihnen als
Rechtsfehler zur Aufhebung ruhrte, dass sich der Tatrichter in unvertretba-
rer und nicht mehr hinzunehmender Weise vertan haben soll.
Größenordnungsmäßig haben bei einer groben Schätzung seit dem In-
krafttreten der Regelung mindestens 80.000 Hauptverhandlungen in redu-
zierter Besetzung stattgefunden, von denen (bei einer Anfechtungsquote
von etwa 250/0) mindestens 20.000 revisionsrechtlicher Überprüfung unter-
legen haben. Es erscheint sehr unwahrscheinlich, dass von diesen drei be-
sonders krassen Fällen abgesehen das für die Rechtsanwendung zentrale
materielle Merkmal rur die reduzierte Besetzung - auch bei Annahme eines
weiten tatrichterlichen Beurteilungsspielraums - stets rechtsfehlerfrei bejaht
worden ist. Die revisionsrechtliche Kontrolldichte der Handhabung des § 76
Abs. 2 GVG ist nach allem äußerst gering. Ein wirksames Instrumentarium
gegen eine extensive und vorn Gesetz nicht intendierte, wenn nicht miss-
bräuchliche Handhabung durch die tatrichterliche Praxis stellt sie nicht dar.
Hierfür sind verschiedene Gründe in Betracht zu ziehen, die hier nicht
näher beurteilt werden können. Klare und begrenzende Konturen dafür,
wann eine Sache umfangreich oder schwierig ist, sind wenig entwickelt
worden. Die Interpretation der Regelung als ein nur auf (objektive) Willkür
überprüfbarer tatrichterlicher Beurteilungsspielraum wirkt anwendungser-
leichternd; dass der BGH in seiner ersten Grundsatzentscheidung einen sehr
großzügigen Maßstab angelegt hat,67 mag die weitere Rechtsprechung be-
einflusst haben, und schließlich ist ohne eine genauere empirische Untersu-
chung zweifelhaft, wie weit in der Praxis dem Revisionsgericht der Zugriff

65 BGH v. 16.12.2003 - 3 StR 483/03 (NStZ-RR 2004, 175 = StV 2004, 250). Die Ent-
scheidung stellt klar, dass - was ebenfalls gerügt war - die Anordnung der Sicherungsverwah-
rung trotz ihrer Schwere nicht zwingend die Mitwirkung eines dritten Richters gebiete (s. dazu
auch Fn. 46); allerdings sei insoweit das Gewicht der Maßregel und der mit ihrer Feststellung
verbundene Aufwand zu berücksichtigen.
66 BGH v. 18.6.2009 - 3 StR 89/09 (StraFo 2009, 338).
67 S. Fn. 43.
910 Peter Rieß

auf den Rechtsfehler überhaupt ermöglicht wird. Denn die Anwendbarkeit


der Rügepräklusion auf diesen Sachverhalt verlangt von der Verteidigung,
die lJnzulässigkeit der reduzierten Besetzung zu Beginn der Hauptverhand-
lung zu beanstanden, und von der Verteidigungsstrategie her mag es Erfolg
versprechender erscheinen, auf eine höhere Fehleranfalligkeit bei einer
Zweierbesetzung zu setzen statt auf eine Dreierbesetzung hinzuwirken.

v. Bewertung und Ausblick


Die Entwicklung der Besetzungsreduktion und ihrer praktischen Handha-
bung zeigt in eindrucksvoller Weise, \"ie sich eine vom Gesetzgeber auf~
grund eines konkreten Anlasses und zu dessen Be,vältigung getroffene und
zeitlich begrenzte legislatorische Maßnahme von ihrem Anlass löst, ver-
selbständigt und in die Gesamtregelung integriert wird, wenn sie dazu bei-
tragen kann, die Bedürfnisse der Justizverwaltung an einer kostengünstigen
Rechtsgewährung zu befriedigen und dem äußeren Anschein nach klaglos
zu funktionieren scheint. Die Verlängerung der Geltungsdauer löst in dieser
Situation kaum noch eine grundsätzlich orientierte rechtspolitische Debatte
aus, sondern nimmt, zumal sie regelmäßig unter Zeitdruck erfolgt, einen
mehr oder minder rituellen Charakter an. Nachbesserungen durch den Ge-
setzgeber und eine höchstrichterliche Rechtsprechung, die die gesetzliche
Vorschrift in ihren formalen Voraussetzungen präzisiert und die materiellen
Maßstäbe großzügig beurteilt, befördern den Eindruck, es mit einer sachge-
rechten Vorschrift zu tun zu haben. Dabei gerät außer Acht, dass die inhalt-
lichen Voraussetzungen nicht sonderlich konkret bestimmt sind und eine
vom Gesetzgeber nicht intendierte exzessive Anwendung befördern können
und wohl auch befördert haben.
Es ist daher zu begrüßen, dass nach der letztmaligen Verlängerung vor
einer Entscheidung über die Zukunft der Regelung eine gründlichere Befas-
sung mit der Problematik unter Einbeziehung auch empirischer Erkenntnis-
se vorgenomrnen werden soll. Für diese rechtspolitische Diskussion sollen
abschließend einige Anregungen gegeben ,verden.
Die Wiederherstellung des vor 1993 bestehenden Rechtszustandes, also
die ausnahmslose Dreierbesetzung der Strafkammer, kann sich auf sachli-
che Gründe von erheblichem Gewicht stützen; die vom BGH in seiner ers-
ten Grundsatzentscheidung angeführten Argumente hierflir68 sind unverän-
dert gültig. Hinzufügen lässt sich, dass die Verringerung der Besetzung der
großen Strafkamlner nach dem Maßstab der bloßen "Effektivität" in sich

68 S. Fn. 42.
Die reduzierte Besetzung der großen Strafkammer 911

nicht unzweifelhaft ist 69 und den Eigenwert des Kollegialprinzips und die
mit ihm verbundene Rechtstradition und Rechtskultur unbeachtet lässt. 70
Dass der Gesetzgeber so entscheidet, ist zwar wünschenswert, erscheint
aber wenig realistisch. Denn nach einer 18jährigen Geltung der Besetzungs-
reduktion und angesichts einer Praxis, die dies schon bei der geschäfts-
planmäßigen Besetzung der Strafkammern in Rechnung stellt, liefe dies auf
einen personellen Mehrbedarf hinaus, der nicht gänzlich vernachlässigt
werden kann. In einer auf längere Sicht von fiskalischen Zwängen gepräg-
ten Justizpolitik dürfte das allenfalls dann durchsetzbar sein, wenn sich der
gegenwärtige Rechtszustand sowohl in der Sache als auch in der öffentli-
chen Wahrnehmung als massiv defizitär erweisen sollte und die ausnahms-
lose Dreierbesetzung als Abhilfe zwingend not\vendig erscheinen würde.
Dafür ist gegenwärtig wenig ersichtlich.
Ist damit eher notgedrungen an der Möglichkeit festzuhalten, dass die
Strafkammer in der Hauptverhandlung mit zwei Berufsrichtern besetzt sein
kann, so empfiehlt sich dennoch nicht, die geltende Rechtslage unverändert
beizubehalten, also den Ablauf der Geltungsbefristung untätig verstreichen
zu lassen. Eine umfassende Neukonzeption ist wünschenswert; für sie sind
hier einige Denkansätze zu skizzieren. 71
Eine generelle Besetzung der Strafkammer mit nur zwei Berufsrichtern
(und zwei Schöffen) empfiehlt sich nicht. Der gegenwärtige hohe Anteil
an Verfahren, die in Zweierbesetzung entschieden werden, muss bei
einer Neuregelung nicht erhalten bleiben.
Die Voraussetzungen für die Besetzung mit drei Berufsrichtern sind
angesichts des gegenwärtigen Kontrolldefizits vom Gesetzgeber präziser
zu umschreiben; die Dreierbesetzung darf nicht als eine eher seltene
Ausnahme erscheinen. Dafür erscheint es erwägenswert, das (beizube-
haltende) Merkmal des Umfangs oder der Schwierigkeit der Sache
(mindestens regelbeispielhaft) zu konkretisieren, etwa dergestalt, dass an
die voraussichtliche Verhandlungsdauer oder den Umfang oder die Art
der zu erwartenden Beweisaufnahme angeknüpft wird.
In Hinblick darauf, dass die Unzulässigkeit der reduzierten Besetzung
bei der Schwurgerichtskammer ihren sachlichen Grund in der Uedenfalls

69 BGH v. 20.3.2008 - 1 StR 488/07 Rn. 35 (NStZ 2008, 457 Rn. 16) hat in einem obiter
dictum darauf hingewiesen, dass die wegen der Möglichkeit der Besetzungsreduktion verbrei-
tete Verringerung der geschäftsplanmäßigen Besetzung zur Folge hat, dass die sorgfältige und
zeitaufwendige Vorbereitung der Sache vor der Hauptverhandlung leidet.
70 Zum Bedeutungsverlust des Kollegialprinzips in der Entwicklung des Strafverfahrens-
rechts insgesamt s. Rieß FS Egon Müller, 2008, S. 599 ff.
71 Die nachfolgenden Überlegungen stimmen teilweise mit den Vorschlägen überein, die die
große Strafrechtskommission des deutschen Richterbundes in ihrem Gutachten für das Bundes-
justizministerium zu diesem Thema unterbreitet hat.
912 Peter Rieß

praktisch) allein bei dieser in Betracht kommenden lebenslangen Frei-


heitsstrafe finden dürfte, erscheint es erwägenswert, unabhängig hiervon
die Dreierbesetzung auch bei vergleichbaren Sanktionen, etwa der Si-
cherungsverwahrung zwingend vorzuschreiben und zu prüfen, ob dies
auch für andere voraussichtlich besonders hoher Sanktionen in Betracht
kommt.
Eine vorsichtige Lockerung der Bindung an die bei der Eröffnung zu
treffende Besetzungsentscheidung erscheint prüfenswert. Zu prüfen sein
könnte auch, ob das Erfordernis der Rügepräklusion (§ 338 Nr. 1 i. V.
mit § 222a StPO) rur diese Frage aufgegeben oder gelockert werden
kann.
Die ebenfalls als Entlastungsmaßnahme durch das RPflEntlG eingeführ-
te Zuständigkeit der kleinen Strafkammer als Berufungsstrafkammer ge-
gen Urteile des Schöffengerichts ist \vieder abzuschaffen. Die künftige
Besetzung der großen Berufungsstratkammer kann sich nach den glei-
chen Grundsätzen richten wie die der erstinstanzlichen Strafkammer.
Das erweiterte Schöffengericht (§ 29 Abs. 2 GVG) sollte entfallen. 72
Für die Beschlussstrafkammer ist die Dreierbesetzung beizubehalten. 73

72 Zu seiner Bedeutung und die (für die Dauer seiner Existenz) maßgeblichen (unterschied-
lichen) Motive s. LR-Siolek, 25. Aufl. 1999, § 29 GVG, Rn. 4. Seine Wiedereinführung im
Jahre 1953 beruhte auf dem Bemühen, den damals überlasteten BGH zu entlasten. In der Praxis
wird von ihm äußerst selten und nur in einzelnen Gerichtsbezirken Gebrauch gemacht. Selbst
wenn ein Teil der von ihm zu verhandelnden Verfahren auf die erstinstanzliehe Strafkammer
übergehen sollte, dürfte gegenwärtig der Anteil zusätzlicher Revisionen zum BGH hinnehmbar
sein.
73 Anders (stets Zweierbesetzung) der Diskussionsentwurf aus dem Jahre 2004 (näher bei
Fn. 33). Das müsste bei Meinungsverschiedenheiten notwendig zum Stichentscheid des Vorsit-
zenden führen und degradierte damit den (einzigen) Beisitzer zum bloßen Richtergehilfen.
Die Fortwirkung des Zeugnisverweigerungsrechts
bei Verfahren gegen mehrere Mitbeschuldigte
nach Verfahrenstrennung - der Anfang vom
Ende?*

HELMUT SATZGER

Als Autor in der Festschrift für Heinz Schäch wird man vor eine denkbar
schwierige Aufgabe gestellt: Die Wahl des Themas. Der Jubilar hat sich in
so vielen Gebieten mit kenntnisreichen Vorträgen und Publikationen her-
vorgetan und einen Namen gemacht, dass es schwer fällt, sich rur einen
singulären Bereich zu entscheiden. Ich hatte das große Vergnügen, mit ihm
in vielerlei Beziehung zusammenzuarbeiten - sei es bei unserer gemeinsa-
men Tätigkeit an der Ludwig-Maximilians-Universität, im Rahmen des
Deutschen Juristentags, im Arbeitskreis der "Alternativprofessoren" (AE-
Professoren) oder bei der Konzeption des neuen SSW-Kommentars zum
Strafgesetzbuch, um nur einige Punkte zu nennen. Doch diese vielfältigen
Berührungspunkte erleichtern die Auswahl des Themas keineswegs, sie
machen die Aufgabe nur umso schwerer. Letztlich habe ich mich für ein
prozessuales Thema entschieden, einfach deshalb, weil wir unsere ersten
intensiven fachlichen Kontakte anlässlich der Vorbereitung des 65. Deut-
schen Juristentags in Bonn knüpften. Ich hatte damals die ehrenvolle Auf-
gabe übernommen, das strafrechtliche Gutachten zu einem prozessualen
Thema, den "Chancen und Risiken einer Reform des Ermittlungsverfah-
rens", zu erstellen. Bei unseren vorbereitenden Besprechungen in der straf-
rechtlichen Abteilung war der Jubilar von Anfang an ein konstruktiv-
kritischer Geist, der meine Arbeiten mit wertvollen Anregungen bereicherte,
so dass ich bereits damals von seinem Einfluss stark profitieren konnte. In
Dankbarkeit hierfür und für vieles, vieles Andere widme ich ihm den vor-
liegenden Beitrag mit den besten Wünschen für die Zukunft.
Immer wieder stellt das Zeugnisverweigerungsrecht und die notwendige
Belehrung hierüber eine praktisch bedeutsame und häufige Fehlerquelle im
Strafprozess dar, die gravierende Folgen für die Verwertbarkeit der bema-

* Meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Michael Päsl danke ich für wertvolle Vorarbeiten
und zahlreiche konstruktive Anregungen.
914 Helmut Satzger

kelten Zeugenaussagen nach sich zieht. Besonders knifflig wird dieser


Themenbereich jedoch, wenn ein Zeuge im Verfahren gegen mehrere Mit-
beschuldigte aussagt, der Grund für das Zeugnisverweigerungsrecht aber
nicht gegenüber allen Mitbeschuldigten gleichermaßen besteht. Wenn dann
auch noch durch Verfahrensabtrennung bzw. teilweise Verfahrenserledi-
gung einzelne Mitbeschuldigte aus dem Verfahren ausscheiden, entstehen
höchst komplizierte Fallgestaltungen, die die Rechtsprechung immer wieder
beschäftigt haben. Erst jüngst sah sich der 1. Senat des BGH (BGH 1 StR
745/08)1 zu einer Entscheidung mit einem weit über die entscheidungsrele-
vante Sachverhaltskonstellation hinausreichenden obiter dictum veranlasst.
Dieser Beschluss, der der Anlass dafür ist, im Folgenden die bisherige
Rechtsprechung nachzuzeichnen und kritisch zu beleuchten, könnte weg-
weisend rur die zukünftige Entwicklung sein.

I. BGH 1 StR 745/08 - eine Wende in der bisherigen


Rechtsprechung
Der Entscheidung des BGH lag ein in prozessualer Hinsicht komplexer
Sachverhalt zugrunde, der der Anschaulichkeit wegen stark vereinfacht und
auf seinen hier relevanten Kern reduziert wiedergegeben werden soll: Ge-
gen A und Zwar am 22.5.2006 Anklage wegen Umsatzsteuerhinterziehung
erhoben und das Hauptverfahren Ende Juli desselben Jahres vor dem Land-
gericht Augsburg eröffnet worden. Da Z bereits am ersten Hauptverhand-
lungstag ein Geständnis ankündigte, wurde das Verfahren gegen A abge-
trennt und ausgesetzt. In dem Verfahren gegen Z kam es zunächst zu einer
TeileinsteIlung durch Gerichtsbeschluss nach § 154 Abs. 2 StPO, anschlie-
ßend verurteilte das Gericht den Z mit Urteil vom 23.10.2009 wegen Um-
satzsteuerhinterziehung in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe in
Höhe von vier Jahren. Das Urteil wurde rechtskräftig. Die Hauptverhand-
lung gegen A wurde daraufhin fortgesetzt und K, der Sohn des Z, als Zeuge
vernommen, ohne über ein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt worden zu
sein.
Im vorliegenden Fall hat der 1. Senat die unterbliebene Belehrung des K
nicht beanstandet (und deshalb eine Verwertung der Aussage des K fur
möglich gehalten). Seiner Einschätzung nach war dessen Zeugnisverweige-
rungsrecht erloschen, weil das Strafverfahren gegen Z bereits beendet war -
zum Teil durch rechtskräftiges Urteil, im Übrigen durch gerichtliche Ein-
stellung nach § 154 Abs. 2 StPO. 2

1 BGH NStZ 2009,515 ff.


2 BGH NStZ 2009,515.
Die Fortwirkung des Zeugnisverweigerungsrechts 915

Zwei Probleme sind in dieser Sachverhaltskonstellation angesprochen:


Erstens ist zu klären, ob und inwieweit in Verfahren gegen mehrere Mitbe-
schuldigte das Zeugnisverweigerungsrecht des Zeugen, der nur Angehöriger
eines Mitbeschuldigten ist, auch gegenüber dem/den weiteren nichtangehö-
rigen Mitbeschuldigten Wirkungen zeitigt. Falls dem so ist, stellt sich zwei-
tens die Folgefrage, in welchen Konstellationen dieses Zeugnisverweige-
rungsrecht auch nach Abtrennung des Verfahrens gegen den angehörigen
Mitbeschuldigten in dem Verfahren gegen den/die nichtangehörigen Mitbe-
schuldigten fortbesteht.
Ausgangspunkt fur die Behandlung dieser Probleme ist dabei die Be-
leuchtung der Hintergründe und des Zwecks des Zeugnisverweigerungs-
rechts des Angehörigen, worauf zunächst kurz eingegangen werden soll.

11. Das Zeugnisverweigerungsrecht des Angehörigen


(§ 52 Abs. 1 StPO)
1. Gesetzgeberischer Hintergrund und Bedeutung des
Zeugnisvenveigerungsrechts des Angehörigen
Der Zeuge muss vor Gericht (oder vor der Staatsanwaltschaft) wahrheits-
gemäß aussagen. Von der Aussagepflicht des Zeugen besteht nur dann eine
Ausnahme, wenn sich der Zeuge auf ein Auskunfts- oder ein Zeugnisver-
weigerungsrecht berufen kann. Während ein Auskunftsverweigerungsrecht
nach § 55 StPO nur einzelne Themen von der ansonsten bestehenden Pflicht
zur Aussage ausnimmt, gibt ein Zeugnisverweigerungsrecht dem Zeugen
die Möglichkeit, sein Zeugnis zur Sache insgesamt zu verweigern. 3 Dies
liegt an der unterschiedlichen Zielrichtung der beiden Vorschriften. § 55
StPO greift immer dann ein, wenn dem Aussagenden oder einem seiner
Angehörigen die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung droht, den Schutz des
Beschuldigten bezweckt diese Vorschrift nicht4 bzw. allenfalls am Rande 5 .
Anders die Zeugnisverweigerungsrechte, dort steht der Schutz des Be-
schuldigten eindeutig im Vordergrund. Ein· Angehöriger des Beschuldigten
würde sich bei uneingeschränkter Aussagepflicht häufig der Zwangslage
ausgesetzt sehen, seinen Angehörigen entweder belasten oder aber die Un-
wahrheit sagen zu müssen. Das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52
Abs. 1 StPO dient daher zunächst der Lösung des - auch nur potentiellen --

3 Kindhäuser Strafprozessrecht, 2006, § 21 Rn. 38.


4 BGH NJW 1993, 2326.
5 Teilweise wird der Schutzzweck des § 55 StPO aber zum Schutz des Angeklagten vor ei-
ner kontliktfreien, wahrheitsgemäßen Aussage des Zeugen gesehen, vgl. Roxin/Schünemann
StratVerfahrensrecht, 26. Autl. 2009, § 24 Rn. 48.
916 Helmut Satzger

Gewissenskonflikts, dem der gegen den Verwandten Aussagende ausgesetzt


ist und der damit verbundenen Versuchung zur Verletzung seiner Pflicht zur
wahren Aussage. 6 § 52 StPO lässt das öffentliche Interesse an einer umfas-
senden Wahrheitsermittlung und letztlich einer möglichst effektiven Straf-
verfolgung insoweit hinter das persönliche Interesse des Zeugen, nicht ge-
gen den Angehörigen aussagen zu müssen, zurücktreten. An der Wahrung
dieser persönlichen Interessen des angehörigen Zeugen besteht - auch nach
Ansicht der Rspr. - ein Allgemeininteresse. 7 Daran anknüpfend, jedoch
über den bloßen Gewissenskonflikt hinausgehend, dient § 52 StPO aber
noch einem weiteren wichtigen und im Interesse der Allgemeinheit zu res-
pektierenden Zweck: dem Schutz des "Familienfriedens" als solchem. 8
Diese auf den familiären Beziehungen beruhende Schutzrichtung des § 52
StPO ist - angesichts des Art. 6 GG - von verfassungsrechtlicher Bedeu-
tung; es kommt darin eine grundlegende Wertentscheidung zum Ausdruck,
die bei der Anwendung des einfachen Rechts jedenfalls zu berücksichtigen
ist. 9 Die grundgesetzliche und menschenrechtliche Anerkennung eines un-
antastbaren Bereichs privater Lebensgestaltung gebieten es, die familiäre
Bindung vor deIn Zugriff durch Gerichte zu schützen. 10
Die gesetzgeberischen und verfassungsrechtlichen Hintergründe sind da-
bei unabhängig von der tatsächlichen familiären Situation und den Empfin-
dungen des Zeugen zu beachten. So setzt das Zeugnisverweigerungsrecht
nur das Bestehen einer objektiven Konfliktlage voraus, es kommt nicht
darauf an, ob der Zeuge den Widerstreit empfindet und ob er sich durch ihn
zur Weigerung veranlasst sieht. 11 Desgleichen ist nicht entscheidend, ob die
Familie tatsächlich "friedlich" und in Eintracht zusammenlebt. Es handelt
sich also um gesetzgeberische Typisierungen. Eine tatsächliche Überprü-
fung des Vorliegens eines hinreichenden Konflikts bzw. eines "intakten"
Familienfriedens wäre ohnehin praktisch zumeist nur schwer möglich.
§ 52 Abs. 1 StPO gewährt allerdings nur das Recht, das Zeugnis zu ver-
weigern. Der Angehörige kann sich - wegen einer im konkreten Fall nicht
als solcher empfundenen Konfliktlage oder weil er den Konflikt explizit in
Kauf nimmt - rür eine Aussage entscheiden. Um im Wissen um die Ver-
weigerungsmöglichkeit wirklich freiwillig entscheiden zu können, wird in

6 RGSt 12, 143, 145.


7 GSSt BGHSt 12, 235, 239.
8 So schon RGSt 1, 207, 208 oder GSSt NJ\V 1958, 557, 558.; s.auch Beulke StPO, 10. Aufl.
2008, Rn. 192.
9 Dahs/Langkeit StV 1992,492,495.
10 Schöch u.a. Alternativ-Entwurf Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmefreiheit
(AE-ZVR), 1996, S. 37; der Entwurf sieht sogar eine Ausweitung des § 52 StPO auf die enge
Lebensgemeinschaft vor.
11 KK-StPO/Senge, 6.Aufl. 2008, § 52 Rn. 1.
Die Fortwirkung des Zeugnisverweigerungsrechts 917

§ 52 Abs. 3 StPO die Belehrungspflicht festgeschrieben, deren Verletzung


wegen ihrer eminenten Bedeutung und weil sie dem Schutz des Beschuldig-
ten dient oder - anders formuliert - dessen "Rechtskreis" unmittelbar be-
rührt, grundsätzlich zur Unverwertbarkeit der Zeugenaussage fuhren muss.
Die - ohnehin verfehlte - Widerspruchslösung gilt hier, auch nach Ansicht
der Rechtsprechung, nicht. 12

2. Die" Unteilbarkeit" des Zeugnisverweigerungsrechts


Soll ein Zeuge in einem Strafverfahren aussagen, das sich gegen mehrere
Beschuldigte richtet, und besteht ein Angehörigenverhältnis des Zeugen nur
zu einem der Mitbeschuldigten, so folgt aus § 52 Abs. 1 StPO zunächst nur,
dass im Verhältnis zum angehörigen Beschuldigten jedenfalls ein Zeugnis-
verweigerungsrecht besteht. Andererseits wäre nicht einzusehen, warum ein
Zeugnisverweigerungsrecht gewährt werden sollte, wenn der Zeuge nur zu
einem Sachverhalt aussagen soll, mit dem der angehörige Mitbeschuldigte
nichts zu tun hat. Hier greift § 52 Abs. 1 StPO also nicht. Was ist aber mit
Aussagen zu Sachverhalten, die sowohl den nichtangehörigen als auch den
angehörigen Mitbeschuldigten betreffen?
Selbst wenn man nun die Wirkung der Aussage je nach Mitbeschuldigtem
getrennt beurteilen würde und eine Verwertung der Aussage nur im Ver-
hältnis zum nichtangehörigen Beschuldigten zulassen wollte, so würde dies
an der Konfliktlage des Zeugen nichts ändern. Er müsste ja Fakten offenle-
gen, die sein Verhältnis zum angehörigen Beschuldigten tatsächlich - unab-
hängig von der Verwertbarkeit - belasten und den Familienfrieden nachhal-
tig stören könnten. Auch besteht die Möglichkeit, dass die Aussage
Ermittlungsansätze bietet, die letztlich doch - in verwertbarer Form - zum
Nachteil des angehörigen Beschuldigten gereichen. Dementsprechend ist zu
Recht weitgehend anerkannt, dass in einern gegen mehrere geführten Straf-
verfahren eine Zeugenaussage bezüglich eines Sachverhalts, der alle Mitbe-
schuldigten betrifft, nur einheitlich erbracht werden kann. 13 Solange der
Sachverhalt, zu dem der Zeuge aussagen soll, auch dessen Angehörigen
betrifft, muss die Passage "mit dem Beschuldigten ... verwandt" i.S.v. § 52
Abs. 1 Nr. 3 StPO als "mit zumindest einem der Beschuldigten verwandt"
gelesen werden. Zeugnisverweigerungsberechtigt sind daher Zeugen gegen-
über allen Mitbeschuldigten, solange nur ein Angehörigenverhältnis zu

12 BGHSt 45,203,205.
13 Vgl. hierzu LR-StPO/Jgnor/Bertheau, Bd. 2,26. Aufl. 2006, § 52 Rn. 19 m.w.N.; kritisch
zur Unteilbarkeit des Zeugnisverweigerungsrechts Fischer JZ 1992, 570, 573.
918 Helmut Satzger

irgendeinern der Beschuldigten besteht und über einen den angehörigen


Mitbeschuldigten auch betreffenden Sachverhalt ausgesagt werden soll.14
Übertragen auf unseren einleitenden Fall bedeutet dies: K ist als Sohn des
Z mit diesem gemäß § 1589 Abs. 1 S. 1 BGB in gerader Linie verwandt.
Solange die Verfahren gegen A und Z verbunden waren, stand K ein gegen-
über beiden Mitbeschuldigten einheitlich wirkendes Zeugnisverweigerungs-
recht nach § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO zu.

3. Die Fortwirkung des § 52 StPO nach Verjahrensabtrennung


Solange die Verfahren verbunden sind, ist das Zeugnisver\veigerungs-
recht also unteilbar. Was passiert nun aber, wenn die Verfahren abgetrennt
werden, wenn also der Angehörige des Zeugen - im Fall: Z - aus dem Ver-
fahren ausscheidet? Kann sich der Zeuge - im Fall: K - dann immer noch
auf ein Zeugnisverweigerungsrecht berufen, obwohl der verbliebene Be-
schuldigte - im Fall: A _. gar nicht mit ihm verwandt ist?
Ursprünglich genügte es nach der Rechtsprechung, dass zwischen den
Verfahren gegen mehrere Beschuldigte eine "prozessuale Gemeinsamkeit"
bestand, um dem Angehörigen des einen Mitbeschuldigten auf Dauer - also
auch nach Trennung der Verfahren - ein Zeugnisverweigerungsrecht auch
im Verfahren gegen den anderen Mitbeschuldigten zu geben. 15 Mit ,~prozes­
sualer Gemeinsamkeit" ist dabei gemeint, dass der Angehörige des Zeugen
und der Mitbeschuldigte, zu dessen Gunsten das Zeugnisverweigerungs-
recht wirken soll, in Bezug auf das gleiche historische Ereignis nach pro-
zessrechtlicher Betrachtungsweise förmlich Mitbeschuldigte gewesen
sind. 16 Auf Grundlage des herrschenden formalen Beschuldigtenbegriffs ist
der entscheidende Akt, der eine Mitbeschuldigteneigenschaft in diesem
Sinne begründet, eine ausdrückliche oder konkludente Entscheidung der
Staatsanwaltschaft. 17
Diese Betrachtung hat gegenüber einer nlateriellen Bestimmung des Be-
schuldigtenbegriffs 18 - der wegen der §§ 55, 60 StPO ohnehin nicht vol-
lends überzeugen kann 19 - den Vorteil der höheren Rechtsklarheit auf seiner
Seite: Der Richter kann relativ einfach entscheiden, ob denl Zeugen ein
Recht nach § 52 StPO zusteht. Es bedarf keines zeitraubenden Studiums der
Ermittlungsakten mit dem Ziel, einen Verdacht bzgl. der Beteiligung an der

14 SK-StPO/Rogall, § 52 Rn. 45.


15 BGHSt 7, 194; KK-StPO/Senge (Fn. 11), § 52 Rn. 6.
16 BGH NStZ 1985,419.
17 Eingehend zunl Begriff des Beschuldigten in § 52 Abs.l StPO Fischer 1Z 1992, 570 ff.
18 Allgemein zum materiellen Beschuldigtenbegriff etwa Prittwit= Der Mitbeschuldigte im
Strafprozess, 1984, S. 139 ff.
19 S. nur Beulke (Fn. 8), Rn. 185.
Die Fortwirkung des Zeugnisverweigerungsrechts 919

Tat zu begründen. Er kann vielmehr sofort entscheiden, ob zu irgendeinem


Zeitpunkt eine prozessuale Gemeinsamkeit zwischen mehreren Ermitt-
lungsverfahren bestanden hat. 20
Seit "den altfränkischen Tagen des Reichsgerichts"21 galt dieser Grund-
satz ohne Einschränkung. 22 Der BGH hatte dies in der Vergangenheit für
den Fall der Abtrennung des Verfahrens gegen den Angehörigen sowie für
die Verfahrenseinstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO und § 205 StPO aus-
drücklich entschieden.
Für diese klare Regel lassen sich auch gute Gründe anführen: Vor allem
der Zweck des § 52 Abs. 1 StPO, den Familienfrieden zu wahren, ist ein
Umstand, der unabhängig davon eingreift, ob der Zeuge im Verfahren ge-
gen den Angehörigen oder einen anderen Beschuldigten aussagt. 23 Desglei-
chen ist die Gefahr, dass der Zeuge mit Rücksicht auf die Reputation und
Interessen des Angehörigen falsch aussagt, auch im Verfahren gegen den
Nichtangehörigen nicht auszuschließen. 24 Auch ein praktischer Aspekt ist
zu nennen: die Vorbeugung vor Missbrauch durch die Justiz. Denn würde
man das Bestehen des Zeugnisverweigerungsrechts allein an die Verbin-
dung der Verfahren koppeln, könnte sich ein Gericht verlockt sehen, sich
durch Verfahrensabtrennung Zeugenaussagen zu schaffen, die ihm sonst
möglicherweise verwehrt blieben. 25

111. Erlöschen des Zeugnisverweigerungsrechts nach


bisheriger Rechtsprechung
Abweichend von diesem lange anerkannten Grundsatz begann der BGH
Anfang der 90er Jahre jedoch damit, Fallgruppen zu bilden, bei denen aus-
nahmsweise doch ein nachträgliches Erlöschen eines bestehenden Zeugnis-
verweigerungsrechts bei abgetrennten Verfahren gegen nichtangehörige
Mitbeschuldigte angenommen werden sollte. Dahinter steht eine gegenüber
der früheren Rechtsprechung korrigierte Bewertung der Interessen des Zeu-
gen und des hinter § 52 Abs. 1 StPO stehenden Zwecks. Demnach sei ein
uneingeschränkter Vorrang des Zeugnisverweigerungsrechts vor den An-
forderungen an eine effektive Strafverfolgung nur während der Verbindung
der Verfahren, nicht aber im Verfahren gegen den Nichtangehörigen nach

20 BGH NStZ 1987,286,287.


21 Otto NStZ 1991, 220~ RGSt 1, 207, 208 für den Fall der Ehefrau eines bereits rechtskräf-
tig verurteilten Beschuldigten.
22 So zuletzt BGH NJW 1987,1033 m.w.N.
23 So z.B. BGHSt 11,213,216.
24 Vgl. Beulke (Fn. 8), Rn. 192.
25 Zöller ZJS 2009, 582, 586.
920 Helmut Satzger

Abtrennung anzuerkennen. Dies hatte der BGR bereits 1991 damit begrün-
det, dass das Recht des Zeugen im Verfahren gegen den nichtangehörigen
Beschuldigten diesen nur als "Reflex" treffe. 26 Die eigentliche Schutzrich-
tung bestehe ja im Hinblick auf den Angehörigen. Somit sei die Gewährung
des Zeugnisverweigerungsrechts aus Sicht des Nichtangehörigen ein von
außen kommender, fremder, zufälliger Eingriff in sein Verfahren. 27 Die nur
aus Zweckmäßigkeitsgründen geschaffene Möglichkeit, gegen mehrere
Beschuldigte in einem Verfahren vorzugehen, ändere nichts daran, dass im
Hinblick auf jeden Einzelnen dessen Schuld festgestellt werden solle.
Schließlich lasse sich § 52 StPO auch kein absoluter Schutz der familiären
Interessen entnehmen. Es komme vielmehr auf die prozessuale Gestaltung
an; so habe etwa der Angehörige des Verletzten, auch wenn er über dessen
Mitschuld vernommen werden soll, kein derartiges Zeugnisverweigerungs-
recht,28
Der BGH kommt daher zu dem Schluss, dass die absolute Fortwirkung
des Zeugnisverweigerungsrechts über die Verfahrenstrennung hinaus nicht
richtig sein könne. Vielmehr sei besonders darauf zu achten, den Einfluss,
der als Reflex von dem einen auf das andere Verfahren einwirke, nicht über
das gebotene Maß auszudehnen. 29 Offengelassen wurde, ob der frühere
Grundsatz vom Fortwirken des Zeugnisverweigerungsrechts vielleicht sogar
gänzlich aufgegeben werden müsse. Auch in seiner hier im Vordergrund
stehenden Entscheidung aus dem Jahr 2009 hat der 1. Senat explizit festge-
stellt, dass er diese Frage als offen ansehe:
"Ob hieran festzuhalten ist oder ob das Zeugnisverweigerungsrecht des
Zeugen nur solange Bestand haben kann, wie das Verfa~en auch gegen
einen seiner Angehörigen geführt wird, und daher auch nur in soweit als
Rechtsreflex nichtangehörige Beschuldigte begünstigt (vgl. dazu BGHSt 38,
96, 99), braucht der Senat nicht zu entscheiden. "30
Seit 1991 hat die Rechtsprechung jedenfalls zunehmend Fallgruppen ent-
wickelt, bei denen - letztlich auf Grundlage einer Abwägung - die Zwangs-
lage des Zeugen gegen einen Angehörigen aussagen zu müssen und die
damit verbundene Gefährdung des Familienfriedens trotz vorheriger Ver-
fahrensverbindung hinter dem Interesse des Staates an effektiver Strafver-
folgung und der prozessualen Seite des Schuldprinzips zurückzutreten habe.

26 BGHSt 38~ 96, 99; s. auch jetzt BGH NJW 2009,2548 ff.
27 S. Fn. 26.
28 BGHSt 38,96,100,101; der Senat verweist ergänzend auf einen Vergleich zwischen § 55
StPO und § 384 Nr. 2 ZPO.
29 BGHSt 38,96, 99.
30 BGH NJW 2009, 2548, 2549.
Die Fortwirkung des Zeugnisverweigerungsrechts 921

1. Rechtskräftige Verurteilung des angehörigen Mitbeschuldigten -


BGH 1 StR 334/90
Den Anfang machte das bereits mehrfach zitierte Urteil des 1. Senats vom
29.10.1991. 31 Hier ging es um die Konstellation, dass als Zeuge gegen den
Angeklagten ein Angehöriger eines früheren Mitbeschuldigten vernommen
wurde, welcher aber zum Zeitpunkt der Zeugenaussage in dem vom Verfah-
ren gegen den Angeklagten abgetrennten Verfahren bereits rechtskräftig
verurteilt worden war. Im Wege der Revision machte der Angeklagte gel-
tend, dass der Zeuge - wie es bis zu diesem Zeitpunkt auch ständige Recht-
sprechung war - über ein fortwirkendes Zeugnisverweigerungsrecht nach
§ 52 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 S. 1 StPO hätte belehrt werden müssen, was nicht
geschehen war.
Der 1. Senat wich mit dieser Entscheidung ausdrücklich von der bisheri-
gen ständigen Rechtsprechung ab. Dabei berief er sich auf die oben ange-
führten Gründe, die jedenfalls gegen eine absolute Fortgeltung des Zeugnis-
verweigerungsrechts nach Verfahrensabtrennung sprächen. Sofern nun der
angehörige frühere Mitbeschuldigte rechtskräftig verurteilt sei, sei das über
ihn zwischen seinen Angehörigen und dem jetzigen Beschuldigten geknüpf-
te Band so schwach geworden, dass es den empfindlichen Eingriff, den die
Zeugnisverweigerung in das Verfahren des noch anhängigen Beschuldigten
bedeute, nicht mehr rechtfertige. Eine Berücksichtigung der Aussage des
verwandten Zeugen könne allenfalls im Rahmen der Wiederaufnahme des
Verfahrens oder im Zuge eines Gnadenverfahrens Relevanz erlangen. Auf-
grund ihres Ausnahmecharakters habe dieser Aspekt aber lediglich ein ge-
ringes Gewicht; ohnehin bestünde in diesen Fällen in der Regel ein Verwer-
tungsverbot. 32

2. Tod des angehörigen Mitbeschuldigten - BGH 4 StR 638/91


Der 4. Senat erkannte - in Fortführung dieser Rechtsprechung - am
13.2.1992 mit BGH 4 StR 638/91 33 eine weitere Ausnahme an: Den Tod des
Angehörigen, der Mitbeschuldigter war.
Der 4. Senat griff den Gedankengang des 1. Senats auf und betonte, dass
die Verbindung zwischen dem jetzigen Angeklagten und dem Zeugen im
Fall des Todes des mit ihm verwandten Mitbeschuldigten erst recht nicht
mehr bestünde, zumal die - theoretische - Möglichkeit eines Wiederauf-
nahmeverfahrens zuungunsten des toten Mitbeschuldigten nicht gegeben sei
und zu seinen Gunsten die Wiederaufnahme nur mit dem Ziel des Frei-

31 BGHSt 38, 96 ff.


32 BGHSt 38, 96, 101.
33 BGH NJW 1992, 1118.
922 Helmut Satzger

spruchs bzw. der Einstellung des Verfahrens betrieben werden dürfe, § 371
StPO.

3. Rechtskräftiger Freispruch des angehörigen Mitbeschuldigten -


BGH 1 StR 921/92
Komplettiert wurden die bisherigen Fallgruppen am 4.5.1993 dann wie-
derum durch den 1. Senat mit seiner Entscheidung BGH 1 StR 921/92 34 .
Danach könne auch der rechtskräftig Freigesprochene nicht mehr als Be-
schuldigter im Sinne von § 52 StPO gesehen werden. Es seien keine Gründe
gegeben, diesen Fall trotz der Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfah-
rens nach § 362 StPO anders zu behandeln als den der rechtskräftigen Ver-
urteilung des vormals Mitbeschuldigten.

IV. So weit, so gut?


Diese "Salamitaktik" der bisherigen Rechtsprechung ist allerdings nicht
auf allseitige Zustimmung gestoßen. So sind nach Einschätzung von Beulke
die bisherigen Lösungen nicht durchweg sachgerecht, weil jedenfalls Kons-
tellationen denkbar seien, in denen das Interesse am Schutz des innerfamili-
ären Friedens anschließend noch so ausgeprägt sei, dass es das Interesse an
eine Aussage des Zeugen zum Zwecke der umfassenden Wahrheitsermitt-
lung überwiege. 35 Meines Erachtens zu Recht wird hervorgehoben, dass
man der Konfliktlage - und damit auch der Regelungsintention des § 52
StPO - nicht gerecht wird, wenn Inan allein formal die Prozesssituation in
den Blick nimmt. Es kann und darf nicht alleine um prozessuale Nachteile
gehen, die dem Zeugen bzw. dem Beschuldigten durch die Zeugenaussage
erwachsen. Der ethische Vorwurf, dem der angehörige Beschuldigte zu-
nächst jedenfalls ausgesetzt war, besteht unabhängig von der noch vorhan-
denen oder infolge rechtskräftiger Veru11eilung oder Tod weitgehend ausge-
schlossenen Möglichkeit weit~rer Strafverfolgung gegen den angehörigen
(früheren) Mitbeschuldigten. Dementsprechend ist - durch den prozessualen
Abschluss - auch die Gefahr einer Falschaussage des verwandten Zeugen
nicht vollends gebannt. Auch die Frage, ob Zwietracht in der Familie von
Mitbeschuldigtem und Zeugen gesät und der Familienfriede weiter gestört
wird, lässt sich nicht allein durch das formale Argument vom Tisch wi-
schen, dass das Verfahren gegen den angehörigen Beschuldigten rechtskräf-
tig abgeschlossen oder dieser verstorben sei. Es geht auch um die (ggf.

34 BGH NJW 1993, 2326.


35 Beulke (Fn. 8), § 10 Rn. 192.
Die Fortwirkung des Zeugnisverweigerungsrechts 923

postmortale) Ehre, um Zusammenhänge jenseits des rein Rechtlichen. Ge-


rade hier greift auch - wie zu Recht betont wird - der verfassungsrechtliche
Nexus: Der Schutz der Familie, wie er durch Art. 6 GG gewährleistet wer-
den soll, verwirklicht sich hier in der entsprechend weiten Auslegung des
§ 52 StPO. Dass in anderen Prozessordnungen bzw. in anderen prozessualen
Situationen dieser Familienschutz nur in einem geringeren Ausmaß aktiviert
werden kann, liegt an der einfachgesetzlichen Grundlage. Wo jedoch die
Möglichkeit besteht, den grundgesetzlichen Schutz der Familie zu realisie-
ren, wie bei § 52 StPO, steht einer entsprechenden verfassungskonformen
Auslegung nichts im Wege.
Dies heißt nun nicht, dass die von der Rechtsprechung herausgebildeten
Fallgruppen von vornherein abzulehnen wären. Sie stellen jedoch allein auf
mit der Aussage verbundene prozessuale Nachteile ab und sind daher eben
nur ein Teil der Wahrheit. In vielen Fällen wird dann, wenn das Strafverfah-
ren gegen den Angehörigen rechtskräftig abgeschlossen oder dieser verstor-
ben ist, auch der Konflikt für die Aussageperson - gerade auch im Hinblick
auf den Familienfrieden - beendet sein. Dann besteht sicherlich kein Grund
mr die Anerkennung eines Zeugnisverweigerungsrechts. Voraussetzung
hierfür ist aber stets die zusätzliche Prüfung, ob -- neben der formal-
prozessualen Beendigung des Verfahrens gegen den Angehörigen -- auch
die Existenz einer potentiellen Konfliktlage verneint werden kann. Dies ist
eine Frage, die das Gericht im Wege des Freibeweises zu klären hat. 36
Auch wenn hier in der Praxis wohl inl Ergebnis relativ häufig eine zu-
mindest potentielle Konfliktlage zu bejahen sein wird, so sind hierdurch die
Interessen der Strafverfolgung doch nicht über Gebühr belastet. Denn dem
Zeugen wird ja nur ein Recht auf Zeugnisverweigerung zugebilligt, das er
keinesfalls ausüben muss. Der Anreiz, eine .A.ussage zu verweigern, wird bei
schwächerer Konfliktlage des Zeugen aber faktisch ohnehin abnehmen, so
dass das Problem letztlich nicht überbewertet werden darf.

v. Die neue Fallgruppe: Einstellung aus Opportunitätsgründen -


BGH 1 StR 745/08
In Anbetracht der hier geäußerten Kritik am bisherigen Weg der R_echt-
sprechung ist es kaum verwunderlich, dass das Hinzufügen weiterer Fall-
gruppen wenig Beifall finden kann. Allerdings waren die bisherigen Fall-
konstellationen immerhin klar handhabbar, weil sie sich an prozessual
eindeutigen und leicht feststellbaren Voraussetzungen - Rechtskraft der

36 Es handelt sich um eine sonstige prozesserhebliche Tatsache und damit gilt das Freibe-
weisverfahren, }v!eyer-Goßner StPO, 51. Aufl. 2008, § 244 Rn. 7, 8.
924 Helmut Satzger

Entscheidung gegen den angehörigen Mitbeschuldigten oder dessen Tod -


orientierten.
Nun aber wagt sich der 1. Senat mit seiner jüngsten Entscheidung vom
30.4.2009 auf weitaus unsichereres Terrain vor, indem er auch Einstellun-
gen aus Opportunitätsgründen in den Katalog der Erlöschensgründe mit
aufnehmen will. Noch im Jahr 1997 hatte der BGH ausdrücklich offen ge-
lassen, ob Einstellungsentscheidungen nach § 153a StPO eine solche Wir-
kung zeitigen könnten. 37
Nunmehr entschied der 1. Senat,38 dass auch eine Verfahrenseinstellung
gemäß § 154 StPO bei rechtskräftiger Verurteilung des Mitbeschuldigten
diesen Fallgruppen hinzuzufügen sei, ohne dass es darauf ankomme, ob die
Einstellung - wie im Fall - durch das Gericht gemäß § 154 Abs. 2 StPO
oder - und hierbei handelt es sich um ein obiter dictum - durch die Staats-
anwaltschaft nach § 154 Abs. 1 StPO vorgenommen wurde.
Der Senat verweist darauf, dass der gerichtliche Einstellungsbeschlusses
nach § 154 Abs. 2 StPO unter gewissen Voraussetzungen sogar Rechts-
kraft erlange. 39 Man könne aufgrund der Beschränkungen von § 154 Abs. 3
und 4 StPO sogar von einem beschränkten Strafklageverbrauch sprechen.
Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Absätze 3 und 4 für die hier in-
teressierende Konstellation, dass sich - durch die Zeugenaussage - eine
möglicherweise veränderte Bewertung der eingestellten Tat ergibt, keine
unmittelbare Bedeutung erlangen. Die dort geregelte Begrenzung der Wie-
deraufnahme betrifft nur den Fall, dass die der Einstellung zugrunde liegen-
de Prognose auf der Seite der Bezugstat eine Erschütterung erfahrt. 40 Wel-
che Kriterien für die hier infrage stehende Konstellation maßgeblich sind,
ist nicht abschließend geklärt. Werden teilweise nur "schwerwiegende"41
Gründe verlangt, so fordert der BGH insoweit überzeugend,42 dass sich die
Tat nachträglich als Verbrechen darstellen müsse.43 Wegen des verfassungs-
rechtlich gebotenen Vertrauensschutzes (vgl. Art 20 Abs. 3 GG) komme ein
erneutes Aufgreifen des gerichtlich eingestellten Verfahrens durch die
Staatsanwaltschaft nur bei einem deutlich erhöhten Schuldgehalt in Be-
tracht.

37 So BGH NStZ 1998, 583, 584; ebenfalls offen gelassen in der jetzigen Entscheidung des
1. Senats, BGH NJW 2009,2548,2549.
38 BGH NStZ 2009,515 ff.
39 Vgl. hierzu BGHSt 30, 197, 198.
40 So zu Recht LR-Beulke, 26. Aufl. 2006, § 154 Rn. 63; insoweit nicht überzeugend daher
Zöller (Fn. 25), 586 f.
41 So KK-Schoreit, 5. Aufl. 2008, § 154, Rn. 47.
42 So auch LR-Beulke (Fn. 40), § 154 Rn. 63~ Meyer-Goßner (Fn. 36), § 154, Rn. 22; s. auch
BGH NStZ 1986, 36.
43 So bereits BGH NStZ 1986, 36.
Die Fortwirkung des Zeugnisverweigerungsrechts 925

Der Senat betont, dass in dem von ihm zu entscheidenden Fall die Verur-
teilung wegen eines Verbrechens von vornherein nicht in Betracht kam, es
sei daher von einer das Verfahren beendenden Wirkung der Einstellung
nach § 154 Abs. 2 StPO auszugehen gewesen.
Im Wege eines obiter dictum geht der BGH auf die Verfahrensbeendi-
gung nach § 154 Abs. 1 StPO ein: Diese sei von vornherein nicht an die
Beschränkungen des § 154 Abs. 3,4 StPO gebunden, eine Wiederaufnahme
der Strafverfolgung sei daher grundsätzlich jederzeit möglich. Der 1. Senat
beruft sich jedoch zu Recht darauf, dass beim Beschuldigten ein Vertrau-
enstatbestand geschaffen werde. Es bestehe ein Bedürfnis nach einer gewis-
sen Beständigkeit. Folglich dürfe die Wiederaufnahme des durch die StA
eingestellten Verfahrens nur "bei Vorliegen eines sachlichen Grundes"
erfolgen.

VI. Argumentation und Kritik


Losgelöst von der allgemeinen Kritik an der bisherigen einschränkenden
Tendenz der Rechtsprechung ist der 1. Senat mit der hiesigen Entscheidung
wohl selbst unter Zugrundelegung der bisherigen Linie des BGH "über das
Ziel hinausgeschossen".44 Seinem Ausgangspunkt folgend und in dem
Bestreben die absolute Fortgeltung des Zeugnisverweigerungsrechts über
die Verfahrenstrennung hinaus durch eine Abwägung zu ersetzen, entschei-
det sich der BGH auch im Hinblick auf bloße Einstellungsentscheidungen
nach § 154 StPO dafür, der effektiven Strafverfolgung Vorrang einzuräu-
men, zumal in diesen Fällen .dem Familienfrieden dadurch hinreichend
Schutz zukomme, dass dem Zeugen jedenfalls nach § 55 StPO bzgl. einzel-
ner Fragen ein Aussageverweigerungsrecht zustehe. Nichts Neues bringt
dabei die bereits früher gebrachte Begründung, dass das familiäre Verhält-
nis zwischen Zeugen und Angehörigen in Konstellationen wie dieser ohne-
hin nicht direkt betroffen sei und das Fortbestehen des Zeugnisverweige-
rungsrechts für den nichtangehörigen Beschuldigten letztlich nur einen
zufälligen, von außen kommenden Eingriff in sein Verfahren darstelle. 45 Im
Hinblick auf die früher stets in den Vordergrund gerückte prozessuale Be-
endigung des Verfahrens gegen den angehörigen Beschuldigten ver\veist
der Senat auf die nur "sehr eingeschränkten Möglichkeiten der Wiederauf-
nahme" des nach § 154 StPO eingestellten Verfahrens. Anders als bei einer
Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO - hierfür hatte der BGH das Fortbeste-

44 Vgl. bereits JK-Satzger 1/1 0, StPO § 52 1/4.


45 BGH NStZ 2009,515,516.
926 Helmut Satzger

hen des Zeugnisverweigerungsrechts in der Vergangenheit46 ausdrücklich


bejaht - komme man hier regelmäßig zu einer Verfahrensbeendigung.
Bereits dieses letzte Argument zeigt aber, wo der Senat die bisherige Li-
nie der Rechtsprechung verlässt: Es wird nicht mehr darauf abgestellt, ob
prozessual begründbare Nachteile für den früheren Mitbeschuldigten, zu
dem ein Angehörigenverhältnis besteht, so gut wie ausgeschlossen sind.
Vielmehr wird diese doch recht klare Bezugsgröße durch eine "schwer
nachprüfbare Prognose der Unwahrscheinlichkeit der Wiederaufnahme des
Verfahrens" ersetzt. 47 Für die bisherige Rechtsprechung ließ sich wenigs-
tens anführen, dass sie Rechtssicherheit anstrebte und eine Grundlage zu
schaffen bestrebt war, um den Zeugen erkennen zu lassen, dass den angehö-
rigen Beschuldigten im Regelfall keine prozessualen Nachteile treffen
konnten. Die bisherigen Fallgruppen orientierten sich ja in erster Linie am
Institut der formellen Rechtskraft. Abgesehen von der Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand nach Versäumung einer Rechtsmittelfrist, vom Institut
des Wiederaufnahmeverfahrens, §§ 359 ff. StPO als wichtigstes, jedoch nur
in Ausnahmefällen gegebenes Instrument, sowie der Aufhebung beispiels-
weise durch Verfassungsbeschwerde kann die formelle Rechtskraft nicht
durchbrochen werden48 und damit dem früheren angehörigen Mitbeschul-
digten aus belastenden Zeugenaussagen in einem abgetrennten Verfahren
keine - zumindest keine prozessualen - Nachteile erwachsen. Dies gilt
natürlich umso mehr für die Fallgruppe des Todes des Beschuldigten, dieser
stellt ein naturgemäß nicht behebbares Verfahrenshindemis dar, in dem
nicht einmal mehr die theoretische Möglichkeit von prozessualen Nachtei-
len aufgrund einer belastenden Aussage in einem abgetrennten Verfahren
besteht. 49
Entgegen der Einschätzung des BGH fehlt es der neu gebildeten Fall-
gruppe an der Vergleichbarkeit mit den bisherigen Ausnahmen. Dies wird
besonders bei dem gewagten obiter dicum zu § 154 Abs. 1 StPO deutlich:
Die Verfahrensbeendigung durch die Staatsanwaltschaft als "Herrin des
Vorverfahrens"50 nach § 154 Abs. 1 StPO, die anerkanntermaßen keine
Rechtskraftwirkung und keinen Strafklageverbrauch entfaltet, kann einem
rechtskräftigen Urteil gegen den früheren Mitbeschuldigten oder dessen Tod
definitiv nicht gleichgesetzt werden. 51 Die Argumentation über den Ver-
trauenstatbestand greift aus zweierlei Gründen nicht: Erstens ist der Nach-
weis eines "sachlichen Grundes" um dem Vertrauensschutz genüge zu tun

46 BGH NJW 1980,67; StV 1988,89 f.; 1998,245.


47 So richtig Zöller (Fn. 25), 586.
48 Meyer-Gossner (Fn. 36), Ein!. Rn. 165.
49 Zöller (Fn. 25), 582, 586.
50 Schöch u.a. GS E. Schlüchter, 2002, S. 29, 31.
51 S. bereits Satzger (Fn. 44): "Hier werden Äpfel mit Birnen verglichen."
Die Fortwirkung des Zeugnisverweigerungsrechts 927

- mit gutem Grund (!) - ungleich einfacher zu erfUllen als die Vorausset-
zungen eines Wiederaufnahmeverfahrens. Zweitens erscheint es wider-
sprüchlich, wenn der Senat einen Vorrang des Strafverfolgungsinteresses
dadurch begründet, dass er zunächst die Position des Beschuldigten gegen-
über den Strafverfolgungsinteressen dadurch stärkt, dass er die Fortsetzung
eines nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellten Verfahrens wegen des hierdurch
geschaffenen Vertrauens beschränkt, um sodann aber genau hieraus das
Argument zu formulieren, mit welchem dem Zeugen wegen der "Unwahr-
scheinlichkeit" der Fortsetzung des Verfahrens das Zeugnisverweige-
rungsrecht genommen und den Interessen der Strafverfolgung zum Durch-
bruch verholfen werden. 52
Schließlich war ein wichtiger Grund, um mit den Ausnahmen von der
Fortwirkung eines einmal bestehenden Zeugnisverweigerungsrechts nach
Verfahrenstrennung restriktiv umzugehen, die Verhütung von Rechtsmiss-
brauch seitens der Justiz durch geschickte Verfahrenstrennung. Auf Basis
der neuesten Rechtsprechung könnte gleichsam durch "geschickte Verfah-
renseinstellung" ein der effektiven Strafverfolgung zuwiderlaufendes Zeug-
nisverweigerungsrecht ausgeschaltet und der Auftrag des Art. 6 GG, die
Wahrung des Familienfriedens, umgangen werden. Der angehörige Mitbe-
schuldigte hätte dann nur noch den - äußerst reduzierten - Schutz des § 55
StPO, der eine Verweigerung der Aussage nur bzgl. einzelner Fragen er-
laubt und inhaltlich begrenzt ist auf Aussagen, die den Schluss auf die
Strafbarkeit des Angehörigen zulassen; der Nichtangehörige wäre gar nicht
mehr geschützt. Kann es sein, dass der Senat den auf den Familienfrieden
bezogenen Schutzzweck des § 52 StPO trotz seiner Rückendeckung durch
Art. 6 GG 53 ganz aus dem Auge verloren hat, wenn er § 55 StPO als in
derartigen Konstellationen ausreichend betrachtet?
Darüber hinaus ist aber auch der Gleichsetzung der Verfahrenseinstellung
nach § 154 Abs. 2 StPO mit einen1 rechtskräftigen Urteil oder Freispruch
entgegenzutreten. Einerseits erkennt der BGH selbst an, dass der Einstel-
lungsbeschluss nach § 154 Abs. 2 StPO nur unter Umständen in Rechtskraft
erwächst 54 und gesteht damit ein, dass er bereits verfahrensrechtlich ein
"Weniger" im Vergleich zum rechtskräftigen Urteil darstellt. Zum anderen
zeigt die letztlich doch komplexe Regelung des § 154 StPO, dass sich die
Frage nach einem Strafklageverbrauch hier nicht klar und einfach - wie im
Fall des rechtskräftigen Urteils - beurteilen lässt. Letztlich sind hier nicht

52 Unverkennbar ist hier die "Ähnlichkeit" zur vergleichbar trickreichen Taktik, mit der v.a.
der 1. Senat die Fristsetzung für Beweisanträge mit dem - eigentlich primär dem Beschuldig-
teninteresse dienenden - Beschleunigungsgebot zur rechtfertigen versucht~ s. dazu Satzger
NJW 2010, Sonderheft für Tepperwien, 56 ff.
53 Schöch u.a. (Fn. 10), S. 37.
54 BGH NStZ 2009,515,516.
928 Helmut Satzger

zuletzt verfassungsrechtliche Wertungen und Prognosen erforderlich, die es


insbesondere auch nahezu unmöglich erscheinen lassen, dem Zeugen, der
sich wegen seines Angehörigenverhältnisses zum früheren Mitbeschuldig-
ten auf ein Zeugnisverweigerungsrecht berufen möchte, zu verdeutlichen,
dass er mit seiner Aussage keine prozessualen Nachteile bewirken kann. 55
Versteht er dies aber nicht oder verbleiben Zweifel, ist weder die "Zwangs-
lage" des angehörigen Zeugen noch die Gefahr einer Falschaussage besei-
tigt, ganz zu schweigen von den nicht-prozessualen Nachteilen für die fami-
liären Beziehungen. Diese adäquat zu berücksichtigen, hat der BGH
allerdings bereits mit Beginn seiner Fallgruppenbildung bedauerlicherweise
vernachlässigt und so den Dingen seinen Lauf gelassen. Die Fallgruppen
sind damit aufgeweicht, mit denl beliebten Argument des Interesses der
Strafverfolgung wird das Zeugnisverweigerungsrecht des Angehörigen auf
der Linie dieser neuesten Entscheidung - nicht zuletzt im Hinblick auf Ein-
stellungen nach §§ 153, 153a StP0 56 - zukünftig weiter beschnitten werden.
Fortsetzung folgt!

55 Der Verweis darauf, dass itn konkreten Fall ein Verbrechenstatbestand nicht in Betracht
kam, ist für die Entwicklung einer allgemeinen Fallgruppe wenig hilfreich.
56 Senge jurisPR-StratR 23 (2009), Anm.2.
Wie vielOpferschutz verträgt der
rechtsstaatliehe Strafprozess?

REINHARD BÖTTCHER

I.
Das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Straf-
verfahren (2. Operrechtsreformgesetz) vom 29.7.2009 1 hat den Reformpro-
zess, der mit dem Opferschutzgesetz vom 18.12.19862 begann und mit dem
Zeugenschutzgesetz vom 30.4.1998 3 und dem Opferrechtsreformgesetz vom
24.6.2004 4 fortgeführt wurde, ein gutes Stück weiter getrieben. Die Infor-
mations- und Verfahrensrechte von Verletzten wurden noch einmal ge-
stärkt, ebenso die Rechte von Zeugen; der Schutzbedürftigkeit jugendlicher
Zeugen wurde weitergehend Rechnung getragen. In unserem Zusammen-
hang sind als wichtige Neuerungen hervorzuheben:
Die Pflicht der Strafverfolgungsbehörden, den Verletzten auf die für ihn
bestehenden Hilfsmöglichkeiten hinzuweisen, wurde verstärkt und konkre-
tisiert. Ihre Pflicht, den Verletzten über seine Rechte aufzuklären, wurde
erweitert und präzisiert. Dabei ist auch die Pflicht, den Verletzten auf sein
Recht, sich dem Verfahren unter den Voraussetzungen des § 395 StPO als
Nebenkläger anzuschließen und dabei nach Maßgabe des § 397 a StPO
kostenlose Unterstützung durch einen Rechtsanwalt zu erhalten, hinzuwei-
sen, präzisiert worden.
Die genannten Verfahrensrechte selbst wurden erweitert, die Nebenklage-
befugnis in beachtlichem Umfang. Zwar gilt für die Ehrverletzungsdelikte
jetzt, dass sie nur unter den Voraussetzungen des § 395 Abs. 3 StPO, also
nur bei Vorliegen besonderer Gründe, insbesondere wegen schwerer Folgen
der Tat, zur Nebenklage berechtigen. Dafür sind der Menschenhandel
(§ 236 StGB) und die besonders schweren Fälle der Nötigung (§ 240 Abs. 4
StGB) in den Katalog des § 395 Abs. 1 StPO aufgenommen worden. Vor
allem aber, und das ist ein wichtiges Signal, wurde in § 395 Abs. 3 StPO ein

1 BGBL I, S. 2280.
2 BGBL I, S. 2496.
3 BGBL I, S. 820.
4 BGBL 1, S. 1354.
930 Reinhard Böttcher

offener Auffangtatbestand geschaffen, der es ermöglicht, die Nebenklage


auch in sonstigen Fällen mit schweren Tatfolgen zuzulassen, insbesondere
in den beispielhaft genannten Fällen des Wohnungseinbruchsdiebstahls und
der Raubdelikte. Das öffnet die Tür zu einer Praxis, die offen ist für das
Anliegen, dass alle Verletzten, die wegen ihrer besonderen Belastung durch
die Straftat und das Strafverfahren die Schutzposition der Nebenklage benö-
tigen, diese auch erhalten sollen. Die Entwurfsbegründung 5 stellt heraus,
dass bei Anwendung des § 395 Abs. 3 StPO auf die Gesamtsituation des
Betroffenen abzustellen ist.
Ebenfalls weiter gefasst wurde die Regelung in § 397a Abs. 1 StPO über
die Bestellung eines anwaltlichen Beistands auf Staatskosten für den Ne-
benkläger. Eine ganze Reihe von Straftatbeständen fand in den Regelungen
des § 397 a Abs. 1 Nr. 3 und 4 StPO erstmals Berücksichtigung. Für den
Fall, dass es zu schweren körperlichen oder seelischen Schäden gekommen
ist, gilt dies für die Verbrechen der schweren Körperverletzung (§ 226
StGB), des Menschenraubs und der Verschleppung (§§ 234, 234 a StGB),
der besonders schweren Fälle der Kindesentführung (§ 235 Abs. 4 StGB),
der besonders schweren Fälle des Stalking (§ 238 Abs. 3 StGB), der Frei-
heitsberaubung im besonders schweren Fall (§ 239 Abs. 3 StGB), des er-
presserischen Menschenraubs und der Geiselnahme (§§ 239 a, 239 b StGB),
des Raubs und der räuberischen Erpressung in den Fällen der §§ 249, 250,
252, 255, 316 a StGB. In dem Fall, dass der Verletzte bei AntragsteIlung
noch keine 18 Jahre alt ist oder seine Interessen sonst nicht ausreichend
wahrnehmen kann, begründen folgende Straftaten den Anspruch auf Bei-
ordnung eines Rechtsanwalts: Sexualstraftaten nach §§ 174 bis 182, Ausset-
zung (§ 221 StGB), Misshandlung von Schutzbefohlenen (§ 225 StGB),
schwere Körperverletzung (§ 226 StGB), Straftaten gegen die persönliche
Freiheit nach den §§ 232 bis 235 StGB, Stalking in den Fällen des § 238
Abs. 2 und 3 StGB, erpresserischer Menschenraub und Geiselnahme
(§§ 239a, 239 b StGB), Nötigung im besonders schweren Fall (§ 240 Abs. 4
StGB) sowie Raubdelikte nach den §§ 249,250,252,255 und 316 a StGB.
Auch wenn sich erst zeigen muss, wie großzügig oder engherzig die Praxis
mit den unbestimmten Rechtsbegriffen dieser Regelung umgeht, eröffnet
die Neufassung jedenfalls die Möglichkeit zu einer deutlich vermehrten
Bestellung von anwaltlichen Beiständen für nebenklageberechtigte Opfer
von Straftaten. Die Neufassung greift auch für die anwaltliche Unterstüt-
zung eines nebenklageberechtigten Verletzten, der sich dem Verfahren noch
nicht angeschlossen hat, § 406 f Abs. 3 StPO.
Die Befugnisse des Nebenklägers sind im Großen und Ganzen unverän-
dert geblieben. Neu ist die KlarsteIlung, dass der zur Akte legitimierte Ne-

5 BT-Drs. 16/12098, S. 50.


Wie vielOpferschutz verträgt der rechtsstaatliche Strafprozess? 93 1

benklägervertreter vom Termin zur Hauptverhandlung zu benachrichtigen


ist, §397 Abs. 2 Satz 2 StPO. Neu ist die Regelung über die Akteneinsicht
des nebenklageberechtigten Verletzten in § 406 e Abs. 2 S. 3 StPO, wonach
die Akteneinsicht ab Abschluss der Ermittlungen wegen befürchteter Ver-
fahrensverzögerung nicht mehr versagt werden kann. Die übrigen Versa-
gungsgründe des § 406 Abs. 2 StPO bleiben unberührt; dem weitergehen-
den Vorschlag der Gesetzentwürfe, dem nebenklageberechtigten Verletzten
wie dem Beschuldigten ab Abschluss der Ermittlungen ein unbeschränktes
Akteneinsichtsrecht zu gewähren, ist der Bundestag nach Einwendungen
des Bundesrats 6 nicht gefolgt 7 . Neu ist auch, dass der Verletzte nach Ab-
schluss der Ermittlungen gegen eine die Akteneinsicht versagende Ent-
scheidung eine Beschwerdemöglichkeit hat, § 406 e Abs. 4 StPO.

11.
Im Rahmen seiner Beratungen zum 2. Opferrechtsreformgesetz hat der
Rechtsausschuss des Bundestags am 13. Mai 2009 eine Anhörung durchge-
führt, an der als Sachverständiger Heinz Schöch teilnahm, auch Dölling,
Mitherausgeber dieser Festschrift, und unter anderen Sachverständigen auch
der Verfasser. Die den Beratungen des Ausschusses zugrunde liegenden
Gesetzentwürfe, der Entwurf der Bundesregierung 8 und der gleich lautende
Entwurf der Koalitionsfaktionen von CDU/CSU und SPD 9 sowie der Ent-
schließungsantrag der FDP-Fraktion "Opferinteressen ernst nehmen - Op-
ferschutz stärken"lO fanden im Ganzen gesehen bei den Sachverständigen
viel Zustimmung. Dabei spielte eine Rolle, dass das Ende der Legislaturpe-
riode nahe bevorstand, geringe Verzögerungen im Ablauf hätten ausge-
reicht, die Entwürfe der Diskontinuität verfallen zu lassen. Das wollte er-
sichtlich niemand bewirken. Teilweise wurden die Abgeordneten geradezu
angefleht, das Vorhaben nicht wegen noch vorhandenem Diskussionsbedarf
zu irgendwelchen Details scheitern zu lassen sondern einen Weg zu suchen,
auf dem das Vorhaben, notfalls auch mit Abstrichen, noch verabschiedet
werden könnte. Tatsächlich ist das gelungen. In der allerletzten Sitzungs-
woche, spät in der Nacht von Donnerstag auf Freitag (2.13. Juli 2009), hat
der Bundestag das Gesetz beschlossen. Da das Parlament in der Endfassung

6 BR-Drs. 178/09 (Beschluss), S. 15.


7 Dazu Schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses BT-Drs. 16/13671, S. 11.
8 BT-Drs. 16/12812.
9 BT-Drs. 16/12098.
10 BT-Drs. 16/7004.
932 Reinhard Böttcher

einige Änderungsvorschläge des Bundesrats 11 berücksichtigt hatte, verzich-


tete dieser auf eine Anrufung des Vermittlungsausschusses 12.
Obwohl also in der Anhörung von allen Seiten viel Zustimmung artiku-
liert wurde, wurde auch eine grundsätzliche Differenz in der Beurteilung
des Vorhabens deutlich. Weil Heinz Schöch dabei wortführend Position
bezog, soll diese Differenz in diesem kleinen Beitrag zu seinen Ehren noch
einmal aufgegriffen und ein wenig fortgesponnen werden. Es geht um Fol-
gendes:
In seiner schriftlichen, überaus sorgfältig ausgearbeiteten Stellungnahme
für den Rechtsausschuss hatte der Sachverständig M Jahn die Frage aufge-
worfen, ob die Stärkung der Verletztenrechte in den Entwürfen nicht zu
einer kritikwürdigen Schlechterstellung und Benachteiligung des Beschul-
digten führe. Er hat diese Frage dahin vertieft, ob die Entwürfe den verfas-
sungsrechtlichen Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren ver-
letzen. Er ist zu dem Ergebnis gekommen, dass durch die Entwürfe die
Machtbalance im Strafprozess zwar nicht bereits in verfassungsrechtlich
angreifbarer Weise verschoben wird. Indes erscheine angesichts der Viel-
zahl der Einzelregelungen erörterungswürdig, ob bei der seit 1986 verfolg-
ten Stärkung der Position des Verletzten bei gleichzeitigem Ausbleiben
nachhaltigen Ausbaus der Beschuldigtenrechte eine unter Faimessgesichts-
punkten verfassungsrechtlich bedenkliche Schieflage zu besorgen ist. Vor
diesem Hintergrund sprach Jahn sich insbesondere gegen die Erweiterung
der Nebenklagebefugnis aus und forderte im Übrigen das Parlament auf,
endlich die notwendige Verteidigung auszuweiten. Der Sachverständige
Pollähne kam zu dem Ergebnis, dass die Entwürfe mit der Stärkung der
Opferrechte eine Schwächung der Beschuldigtenrechte bewirken. Er lehnte
die Ausweitung der Nebenklagebefugnis ebenfalls ab. Die Entwürfe setzten,
so sein Vorwurf, liberale Errungenschaften der Aufklärung für den Straf-
prozess auf Spiel. Schöch trat dem entgegen. Keiner der Vorschläge in den
Entwürfen ändere etwas daran, dass der Beschuldigte sich mit den ihm vom
Prozessrecht eingeräumten Befugnissen verteidigen darf, selbst wenn dies
für den Verletzten belastend ist. Zu Recht habe Rieß13 geschrieben: "Rein
faktische Veränderungen der früheren Situation, die teilweise durch eine
unzureichende Berücksichtigung der Verletzteninteressen gekennzeichnet
war, sind in gewissem Umfang hinzunehmen". Es gebe kein Recht des
Beschuldigten, einem hilflosen, uninformierten oder verängstigten Verletz-
ten gegenüber zu treten, der seine Interessen nicht in angemessener Form
artikulieren kann. Die Nebenklage sei als Abwehr- und Schutzinstrument

11 BR-Drs. 178/09.
12 Vgl. BR-Drs. 641109 (Beschluss).
13 LR-Rieß, 25. Autl. Bd. 1,1999, Einl. Abschn. I Rn. 118.
Wie vielOpferschutz verträgt der rechtsstaatliehe Strafprozess? 933

für Opfer schwerer Gewalttaten sowie für missbrauchte Kinder unverzicht-


bar. Die bisherigen Erfahrungen mit dem verbesserten Opfer- und Zeugen-
schutz im Strafverfahren hätten gezeigt, dass es der strafprozessualen Praxis
gelingt, die schon von Rieß14 angemahnte "praktische Konkordanz" im
Spannungsverhältnis zwischen den Interessen des Beschuldigten und des
Verletzten herzustellen.
In der parlamentarischen Beratung des 2. Opferrechtsreformgesetzes ge-
wann die von Jahn und Pollähne geäußerte Kritik keinen Einfluss. Das
Gesetz wurde im Bundestag mit breiter Mehrheit beschlossen, neben den
Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD stimmte auch die FDP-
Fraktion zu. In Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, 15
der der Abstimmung im Bundestag zugrunde lag, fand die These von der
rechtsstaatlichen Fragwürdigkeit keine Erwähnung. Vielmehr wurde ohne
Distanzierung berichtet, dass die Gesetzentwürfe der Koalitionsfraktionen
und der Bundesregierung mit der vorgeschlagenen Erweiterung der Opfer-
und Zeugenrechte im Strafverfahren der verfassungsrechtlichen Verpflich-
tung des Staates nachkommen wollen, sich schützend vor die Opfer von
Straftaten zu stellen. Im gleichen Sinn hatten Bundesregierung und Koaliti-
onsfraktionen im Vorblatt zu ihren Gesetzentwürfen herausgestellt, die
verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes verpflichte die staatlichen
Organe nicht nur zur Aufklärung von Straftaten und zur Feststellung von
Schuld oder Unschuld der Beschuldigten in fairen und rechtsstaatlichen
Verfahren, sondern auch, sich schützend vor die Opfer von Straftaten zu
stellen und deren Belange zu achten. Das gelte insbesondere, wenn Kinder
und Jugendliche Opfer von Straftaten werden. Gleiches gelte fur besonders
schutzwürdige erwachsene Opfer, etwa solche, die durch eine Sexualstraftat
oder ein schweres Gewaltverbrechen verletzt werden. Der von den beiden
Sachverständigen unter Bezugnahme auf rechtsstaatliche Grundsätze geäu-
ßerten Kritik steht also die Auffassung des Gesetzgebers gegenüber, das 2.
Opferrechtsreformgesetz entspreche einem Verfassungsauftrag. In dieser
Auffassung konnte er sich durch die gutachtliche Äußerung von Schöch bei
der Sachverständigenanhörung bestätigt fühlen.

111.
Die Frage, der im Folgenden nachgegangen wird, ist: Ergeben sich aus
dem Grundgesetz, insbesondere aus dem Rechtsstaatsprinzip, Grenzen für

14 Rieß Die Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren. Gutachten C zum 55 Deut-


schen Juristentag, 1984, C 54.
15 BT-Drs. 16/13671.
934 Reinhard Böttcher

eine Stärkung der Opferrechte im Strafprozess und welche sind das gegebe-
nenfalls?
Es liegt auf der Hand, dass diese Frage auch nach Inkrafttreten des 2. Op-
ferrechtsreformgesetzes von großer praktischer Bedeutung ist. Abgesehen
einmal von der Möglichkeit, das 2. Opferrechtsreformgesetz verfassungsge-
richtlich anzugreifen, an die im Augenblick, soweit bekannt ist, niemand
denkt, stellt sich als erstes die Frage, ob bestimmte Neuerungen dieses Ge-
setzes, etwa der neue § 395 Abs. 3 StPO, im Hinblick auf eine verfassungs-
rechtliche Grenzwertigkeit eng auszulegen sind. Die in § 395 Abs. 3 StPO
verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe ("schwere Folgen der Tat", "zur
Wahrung der Interessen geboten") gäben dazu Gelegenheit. Verfassungs-
rechtliche Zweifel könnten dabei mit fiskalischen Rücksichten eine unheili-
ge Allianz eingehen. Und natürlich muss sich der Gesetzgeber die Frage
stellen und wird dies jetzt in der 17. Wahlperiode sicherlich tun: Ist beim
Opferschutz im Strafverfahren das Ende der Fahnenstange erreicht? Folgt
aus dem Verfassungsrecht ein Bis hierher und nicht weiter?
Auch Opferhilfsorganisationen wie der WEISSE RING, dessen Bundes-
vorsitzender der Verfasser derzeit ist, müssen sich über diese Frage klar
werden. Aus der Betreuung von Kriminalitätsopfem ergab und ergibt sich
für den WEISSEN RING immer wieder in unterschiedlichen Facetten die
Einsicht, dass die rechtliche Stellung des Verletzten im Strafverfahren trotz
der seit 1987 erreichten Verbesserungen noch viele Wünsche offen lässt.
Diese Wünsche zu sammeln, zu ordnen und gewissenhaft zu bewerten, sieht
der WEISSE RING als seine Aufgabe an, bevor er sich für solche Wünsche
in der rechtspolitischen Diskussion einsetzt. Darauf, dass diese Prüfung
stattfindet, beruht der Respekt, der ihnen entgegengebracht wird. Praktisch
wird diese Prüfung im Fachbeirat Strafrecht des WEISSEN RINGS geleis-
tet, einem Gremium von Experten unter der Leitung von Heinz Schäch. Was
seiner Prüfung standhält, ist in den sog. strafrechtspolitischen Forderungen
des WEISSEN RINGS zusammengefasst. Die Liste dieser Forderungen ist
nach Verabschiedung des 2. Opferrechtsreformgesetzes zusammenge-
schmolzen, hat aber immer noch einen beträchtlichen Umfang. Müssen wir
das Papier jetzt wegwerfen, weil das Grundgesetz einer weiteren Verbesse-
rung der OpfersteIlung entgegen steht?
Seit die Wissenschaft und dann auch die Politik die Stellung des Opfers
im Strafverfahren als Thema fur sich entdeckt haben,16 ist auch die Frage im
Blick, ob eine Stärkung der Verletztenrechte eine Schwächung der Beschul-
digtenposition zur Folge hat, und wenn ja, wie dies zu bewerten ist. In sei-
nem rur die ganze spätere Diskussion prägend gewordenen Gutachten fur

16 Vgl. Jung ZStW 93 (1981), 1181; Rieß (Fn. 14); weitere Nachweise bei LR-Kühne, 26.
Aufl. Bd. 1, 2006, Einl., Abschn. J Rn. 111.
Wie vielOpferschutz verträgt der rechtsstaatliehe Strafprozess? 935

den 55. Deutschen Juristentag im Jahre 1984 hat Rieß dazu eine Position
bezogen, die in der Folge viel Zustimmung erfahren hat und bis heute fort-
wirkt. Sie ist so präzise formuliert, dass man sie am besten wörtlich zitiert:
"Die prozessual legitimen Beschuldigteninteressen haben grundsätzlich
Vorrang vor den Interessen des Verletzten. Dies ist als allgemeines Leit-
prinzip namentlich deshalb ausdrücklich hervorzuheben, weil nicht selten
Überlegungen zur Verbesserung der Verletztenstellung bewusst oder unter-
schwellig mit der Tendenz zum Abbau von den Beschuldigten schützenden
Rechtspositionen verbunden sind. Dem ist entgegenzuhalten: Eine Stärkung
der Verletztenposition darf ebenso wie der Schutz des Verletzten im Straf-
prozess nicht durch rechtliche oder faktische Schwächung der Verteidi-
gungsbefugnisse des Beschuldigten bewirkt werden; vielmehr ist eine sol-
che Verbesserung nur im Rahmen einer ungestörten Verteidigungsposition
zu akzeptieren. Denn Ziel des Strafverfahrens ist es, dem Beschuldigten -
und nur ihm, nicht etwa dem Verletzten - im Falle einer Überführung mit
der strafrechtlichen Sanktion ein Übel aufzuerlegen. Dem Verletzten dro-
hende Nachteile sind dabei nicht intendiert, sondern allenfalls faktische
Konsequenzen, die man möglichst verhindern oder mindern muss, die man
aber nicht auf Kosten der Zentralfigur des Strafverfahrens, des Beschuldig-
ten. mindern darf. Der Beschuldigte muss sich mit den ihm vom Prozess-
recht eingeräumten und vielfach verfassungsrechtlich fundierten Befugnis-
sen verteidigen dürfen, auch wenn dies für den Verletzten nachteilig oder
belastend wirken kann. Diesem sehr rigoros wirkenden und deshalb zum
Widerspruch reizenden Leitprinzip des Vorrangs der Beschuldigteninteres-
sen wird seine Härte dadurch genommen, dass sich für viele Fallkonstellati-
onen Einzellösungen für eine praktische Konkordanz aufzeigen lassen." 17
Die These vom Vorrang der Beschuldigteninteressen hat viele Anhänger
gefunden. Man kann das, wenn man will, bis hinein in die Entwurfsbegrün-
dung des 2. Opferrechtsreformgesetzes verfolgen, wenn dort versichert
wird, die Grenzen, die sich aus der Wahrung der Verteidigungsinteressen
des Beschuldigten ergeben, seien beachtet. 18 Rieß selbst hat die These vom
Vorrang der Beschuldigtenrechte später in seiner Kommentierung für den
Löwe-Rosenberg vertreten,19 Hilger hat diese Position übernommen. 2o Bei-
de haben sich später mit Distanz zu weiteren Verstärkungen der Opferposi-
tion geäußert. 21 Dass angesehene Strafverteidiger die These vom Vorrang

17 Rieß (Fn. 14), C 54 Rn. 71.


18 BT-Drs. 16/12098, S. 12.
19 LR-Rieß (Fn. 13), Ein!., Abschn. I Rn. 118.
20 LR-Hilger, 25. Aufl. Bd. 6, 2001, Vorbem. 5. Buch Rn. 4~ Vor § 406 d StPO Rn. 10;
§ 406 e StPO Rn. 3.
21 Hilger GA 2004,478,486; Rieß StraFo 2006, 4,7; ders. ZIS 2009,466,476.
936 Reinhard Böttcher

der Verteidigungsinteressen aufgegriffen haben,22 kann nicht verwundern,


so wie es nahe liegend und legitim ist, dass Strafverteidiger hellhörig und
kritisch sind, wenn eine auch nur faktische Beeinträchtigung von Verteidi-
gungsinteressen im Raum steht.23
Es geht vorliegend nicht um die Frage, ob eine Stärkung der Beschuldig-
tensteIlung im Strafverfahren oder ein Ausbau der Verletztenposition mehr
Sympathie, mehr Unterstützung verdient. Das ist eine rechtspolitische Fra-
ge, bei der man in Ehren unterschiedlicher Meinung sein kann und je nach
Interessen und beruflichem Hintergrund sein wird. In diesem Bereich
rechtspolitischer Präferenzen bleibt man, wenn man die Frage stellt, ob die
"Balance" zwischen Reformgesetzen zugunsten der Verteidigungsinteressen
und solchen zugunsten der Opferinteressen gewahrt ist, ob hier "Ausgewo-
genheit" festzustellen ist,24 was im Schwerpunkt auch das Thema von Jahn
bei der Sachverständigenanhörung war. Vorliegend soll es darum gehen, ob
sich aus dem Grundgesetz Grenzen und Vorgaben für eine Verstärkung der
Opferposition ergeben, die möglicherweise erreicht oder gar schon über-
schritten sind. Es geht um die verfassungsrechtliche Frage.
Es ist nützlich, sich in Erinnerung zu rufen, was Rieß dazu in seinem fol-
genreichen Juristentagsgutachten selbst ausgeführt hat: Er hebt als Aus-
gangspunkt mit Recht die Fundamentalnorm des Art 1 Abs. 1 GG hervor,
dass alle staatliche Gewalt die Menschenwürde zu achten und zu schützen
hat, nicht nur die Menschenwürde des Beschuldigten sondern auch die des
Verletzten im Blick haben muss. Daraus folge, dass der Verletzte nicht als
bloßes Objekt staatlicher Fürsorge behandelt sondern dass seine Autonomie
respektiert und ihr im möglichst großen Umfang Raum gegeben wird. 25 Bei
Erörterung des Rechtsstaatsgebots 26 stellt Rieß zu Recht heraus, dass dieses
ambivalente Gestaltungsprinzipien in sich vereinigt. 27 Dem fair-trial-Gebot
schreibt er (lediglich) den Beschuldigten schützende Wirkung zu und meint,
dass es deshalb einer Verstärkung der Verletztenposition auf Kosten des
Beschuldigten entgegenstehen könne. Das Verständnis des Strafverfahrens
als einer öffentlichen Aufgabe lasse die Bedeutung der Rechtsschutzgaran-
tie des Art. 19 Abs. 4 GG für die Stellung des Verletzten zurücktreten, re-
gelmäßig werde er nicht in seinen Rechten verletzt, wenn der staatliche
Sanktionsanspruch nicht oder aus seiner Sicht nicht ausreichend energisch
verfolgt werde. Positive Aspekte ergeben sich nach Rieß rür den Verletzten
aus der Verpflichtung zur Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Straf-

22 Vgl. KempjStV 1987,215,219.


23 Vgl. Schlothauer StV 1987,256; E. Müller DRiZ 1987,469.
24 Vgl. Hilger (Fn. 21),478,486; Rieß (Fn. 21),4,7.
25 Rieß (Fn. 14), C 48 Rn. 62.
26 Rieß (Fn. 25), Rn. 63.
27 Vgl. BVerfGE 57,250,273 ff.
Wie vielOpferschutz verträgt der rechtsstaatliehe Strafprozess? 937

rechtspflege als Inhalt des Rechtsstaatsprinzips. Sie könne es erfordern,


auch das Genugtuungsinteresse des Verletzten mit zu berücksichtigen. Auch
sei die friedenssichernde und normstabilisierende Wirkung der Strafrechts-
pflege möglicherweise davon abhängig, dass der Verletzte als eigenständi-
ger Verfahrensbeteiligter mit eigenen Rechten anerkannt wird. Rieß meint,
auch das Sozialstaatsgebot lasse sich für die Rechtsstellung des Verletzten
nutzbar machen, nämlich zur Begründung von Kompensationen wegen
verfahrensbedingter Benachteiligungen, die im Interesse rechtsstattlich
gebotener Verteidigungspositionen hingenommen werden müssten, Kom-
pensationen in Gestalt von Informations- und Teilhaberechten sowie Wie-
dergutmachungschancen.
Das ist eine breit angelegte Betrachtung mit vorsichtigen Wertungen, die
sich wohltuend von manchen schrillen Tönen unterscheidet, die später zu
hören waren. Sie lässt den Gedanken, das 2. Opferrechtsreformgesetz könn-
te mit seiner moderaten Ausweitung der Verletztenbefugnisse auch nur in
die Nähe verfassungsrechtlicher Bedenken gekommen sein, als fern liegend
erscheinen.
Der Verfasser stimmt den Überlegungen von Rieß in Vielem zu. Nicht
richtig erscheint ihm freilich, und das ist ein zentraler Punkt, dass das fair-
trial-Gebot bei Rieß auf den Schutz des Beschuldigten verengt wird. Zwar
bezweckt das fair-trial-Gebot in seiner Ausprägung durch Art. 6 Abs. 1 S. 1
MRK, wahrscheinlich historisch bedingt, im Strafverfahren wohl nur den
Schutz des Angeklagten. 28 Für das Fairnessgebot unseres nationalen Verfas-
sungsrechts, das vom Bundesverfassungsgericht aus dem Schutz der Men-
schenwürde, den Freiheitsrechten, der Rechtsschutzgarantie des Art. 19
Abs. 4 GG und dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet wurde, gilt dies nicht. Es
gilt für alle Beteiligten des Verfahrens, auch für den Verletzten, für Zeugen
und Sachverständige. 29 In der Entscheidung zur Zulässigkeit des Zeugenbei-
stands hat das Bundesverfassungsgericht zum Recht auf ein faires Verfah-
ren gesagt, es erschöpfe sich nicht in der Selbstbeschränkung staatlicher
Mittel gegenüber den beschränkten Möglichkeiten des Einzelnen, die sich in
der Verpflichtung niederschlägt, dass staatliche Organe korrekt und fair zu
verfahren haben. Als unverzichtbares Element der Rechtsstaatlichkeit ge-
währleiste es den Betroffenen, prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit
der erforderlichen Sachkunde selbständig wahrzunehmen und Übergriffe
der im vorstehenden Sinn rechtsstaatlieh begrenzten Rechtsausübung staat-
licher Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu
können. Der Grundsatz des fairen Verfahrens diene nicht nur dem Schutz
des Beschuldigten sondern auch dem der anderen Beteiligten. Einem fairen

28 LR-Gollwitzer, 25. Aufl. Bd. 8,2005, Art. 6 MRKJArt. 14 IPBPR Rn. 13.
29 BVerfGE 38, 105, 112~ LR-Gollwit=er (Fn. 28), Art. 6 MRKJArt. 14 IPBPR Rn. 7.
938 Reinhard Böttcher

Verfahren sei die Forderung nach verfahrensmäßiger Selbstständigkeit des


in ein justizförmiges Verfahren hineingezogenen Bürgers bei der Wahr-
nehmung ihm eingeräumter Rechte und Möglichkeiten gegenüber anderen
Verfahrensbeteiligten immanent. Gleichzeitig hat das Bundesverfassungsge-
richt auf Schranken hingewiesen, die sich daraus ergeben, dass als Gebot
der Rechtsstaatlichkeit eine funktionstüchtige Strafrechtspflege aufrecht zu
erhalten ist und als deren unabweisbares Bedürfnis das Interesse an einer
möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung im Strafprozess anerkannt
ist.30
Versteht man das Fairnessgebot in dieser Weise, so lässt sich ein grund-
sätzlicher Vorrang der Beschuldigteninteressen vor den Opferbelangen
nicht darauf stützen. Im Gegenteil spricht ein so verstandenes Fairnessgebot
entschieden gegen einen solchen Vorrang und für ein Verständnis, bei ei-
nem Konflikt der Verteidigungs- und der Opferinteressen jeweils abzuwä-
gen und dabei die berührten Interessen in ihrer Bedeutung für die Beteilig-
ten und für ein faires, an Wahrheit und Gerechtigkeit ausgerichtetes
Verfahren zu gewichten. Einen generellen Vorrang fur die Beschuldigtenin-
teressen gibt es nicht,31 auch keinen generell höheren Stellenwert. 32 Viel-
mehr sind Lösungen zu suchen, die, insoweit besteht wieder Übereinstim-
mung mit Rieß,33 im Wege der praktischen Konkordanz beiden
Interessenlagen möglichst gerecht werden, beide, um mit dem Bundesver-
fassungsgericht zu sprechen, mit dem Ziel der Optimierung zu einem ange-
messenen Ausgleich bringen. 34
Es steht außer Frage, dass der Beschuldigte das Recht hat, sich wirksam
zu verteidigen. Das garantiert ihm nicht nur Art. 6 MRK. Das ergibt sich
aus der Achtung der Menschenwürde, aus den Grundrechten und aus dem
Rechtsstaatsprinzip und ist insbesondere Inhalt des Rechts auf ein faires
Verfahren, wie das Bundesverfassungsgericht in vielen Entscheidungen
festgestellt hat. 35 Das Recht auf effektive Verteidigung findet Ausdruck in
vielen Einzelrechten, die Gesetz und Rechtsprechung dem Beschuldigten
gewähren. Es ist vorliegend nicht zu erörtern, welche dieser Einzelrechte
verfassungsrechtlich fundiert sind. Auch wenn ein Beschuldigtenrecht be-

30 BVerfGE 38, 105, 115, 116~ vgl. auch BVerfGE 70, 297, 308.
31 So auch LR-Kühne (Fn. 16), Einl., Abschn. J Rn 118: "zu rigoros".
32 So aber LR-Kühne (Fn. 31), Einl., Abschn. J Rn. 118.
33 Rieß hat mit seinem Hinweis auf den Weg der praktischen Konkordanz seine Ausgangs-
these vom grundsätzlichen Vorrang der Beschuldigteninteressen auch bereits verlassen, jeden-
falls in Frage gestellt, ist praktische Konkordanz doch gerade dann anzustreben, wenn sich ein
genereller Vorrang einer der beiden kollidierenden Grundrechtspositionen nicht feststellen
lässt~ vgl. dazu BVerfGE 83, 130, 143.
34 BVerfGE 83, 130, 143.
35 Nachweise bei LR-Gollwitzer (Fn. 28), Art. 6 MRKI Art. 14 IPBPR Rn. 8.
Wie vielOpferschutz verträgt der rechtsstaatliche Strafprozess? 939

troffen ist, dass durch die Verfassung garantiert wird, ist damit, weil auch
auf Seiten des Verletzten solche Rechtspositionen bestehen, noch nichts
entschieden. Vielmehr gilt es, im Konfliktfall mit Opferbelangen jeweils
das Ausmaß der Beeinträchtigung festzustellen, die den so gewichteten
Rechtspositionen droht. Auf dieser Grundlage kann dann erst entschieden
werden, welches Interesse in welchem Umfang zurückstehen muss.
An erster Stelle sind dabei rechtliche Beeinträchtigungen zu prüfen. Fragt
man, wo legitime Verteidigungsrechte durch die Opferschutzgesetzgebung
aufgehoben oder eingeschränkt wurden, so ergibt sich rasch, dass es dazu
nicht gekommen ist. Insbesondere hat die von den Kritikern der Opfer-
schutzgesetzgebung besonders angegriffene Ausweitung der Nebenklage
die Verteidigung in rechtlicher Hinsicht nicht beschränkt. Nach wie vor gilt,
was das Bundesverfassungsgericht in der frühen Entscheidung zur Verfas-
sungsmäßigkeit der Nebenklage 36 ausgeführt hat: Der Beschuldigte ,;yird
durch die Nebenklagebefugnis und die Zulassung der Nebenklage selbst in
seiner Verteidigung nicht gehindert. Ihm ist nicht verwehrt, sich gegen den
Vortrag des Nebenklägers zu wenden sowie durch eigene Beweisanträge
und Beweismittel das Verfahren zu beeinflussen. Entsprechendes gilt für
andere Verletztenrechte, die im Zuge der Opferschutzgesetzgebung ausge-
baut wurden: Rechtliche Beschränkungen für die Verteidigung haben sie
nicht zur Folge gehabt. Rechtliche Beschränkungen stehen auch nicht heran,
wenn der Verfasser an die lange Liste strafrechtspolitischer Forderungen
des WEISSEN RINGS denkt, von der die Rede war.
Wenn also vielfach eine Schwächung der Beschuldigtenposition durch
den erfolgten Ausbau der Opferrechte behauptet wird,37 so kann sich das auf
rechtliche Eingriffe nicht stützen. Es bleibt die Frage, ob es zu einer fakti-
schen Erschwerung der Verteidigung gekommen ist. Dabei ist zu klären,
was man unter einer faktischen Erschwerung versteht. Dass Verteidigung
weniger bequem ist, wenn der Verletzte als Nebenkläger auftritt, am Ende
mit einer engagierten und kompetenten Anwältin zur Seite, mag durchaus
sein. Dass die Befragung eines Opferzeugen einfacher ist, wenn diesen kein
anwaltlicher Beistand unterstützt, leuchtet ein. Dass eine Verteidigung zu
Lasten des Opfers als eine V e~eidigungsstrategie, die das Gesetz in gewis-
sen Grenzen zulässt, in den genannten Fällen leichter fällt und mehr Erfolg
verspricht, ist wahrscheinlich. Aber handelt es sich dabei um schutzwürdige
Belange der Verteidigung? Schöch hatte doch wohl Recht, wenn er in der
Anhörung ausführte, es gebe kein Recht des Beschuldigten, einem hilflosen,
uninformierten und verängstigten Verletzten gegenüber zu treten. Ganz zu

36 BVerfGE 26,65,71.
37 Vgl. Schünemann NStZ 1986, 193, 198; ders. ZStW 114 (2002) 1,30 ff.; Kempj(Fn. 22),
215,219; E. Müller (Fn. 23),469,471.
940 Reinhard Böttcher

schweigen davon, dass es nicht dem Fairnessgebot des Grundgesetzes ent-


spricht, den Verletzten in einer solchermaßen hilflosen Lage zu lassen. Wer
mit Blick auf Erschwerungen dieser Art, auf bloße Unbequemlichkeit und
Mehraufwand für die Verteidigung, das Fairnessgebot in Gefahr sieht, wird
dem hohen Rang dieser verfassungsrechtlichen Gewährleistung nicht ge-
recht und lässt unberücksichtigt, dass auch der Verletzte das Recht auf ein
faires Verfahren hat.
Es sind freilich Konstellationen denkbar, in denen die Wahrnehmung von
Verletztenrechten faktische Auswirkungen auf die Verteidigungsmöglich-
keiten des Beschuldigten haben, die unter Fairnessgesichtspunkten ernst zu
nehmen sind. Ein Beispiel war der Fall des unverteidigten Beschuldigten,
der einem Nebenkläger mit anwaltlichem Beistand gegenübersteht. Durch
Ergänzung des § 140 Abs. 2 S. 2 StPO hat der Gesetzgeber für diesen Fall
eine sachgerechte Lösung ermöglicht. Zu Recht hat er dabei bei den Be-
schuldigtenrechten angesetzt und nicht die Opferrechte beschnitten. Auch
ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Beschuldigte in legitimen Ver-
teidigungsinteressen beeinträchtigt werden könnte, wenn der Verletzte ein
unbeschränktes Akteneinsichtsrecht hätte. Das ist aber nicht der Fall, auch
nach der Neufassung durch das 2. Opferrechtsreformgesetz nicht. Das Ge-
setz ermöglicht es vielmehr, schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten
Rechnung zu tragen. 38 Es geht dabei zu Lasten des Verletzten sehr weit.
Deshalb erstrebten die Entwürfe des 2. Opferrechtsreformgesetzes für den
Verletzten eine Öffnung ab dem Abschluss der Ermittlungen. 39
Hilger hat seine kritische Würdigung des Opferrechtsreformgesetzes von
2004 40 weniger auf eine Beeinträchtigung der Verteidigungsmöglichkeiten
als auf Erschwerungen im Verfahrensgang und Gefahren für die Wahrheits-
findung gestützt. Für Schünemann ist die von ihm gesehene Gefährdung der
Wahrheitsfindung ein wesentlicher Kritikpunkt an der Opferschutzgesetz-
gebung. 41 Die Wahrheitsfindung ist ein zentrales Gebot eines rechtsstaatli-
chen Strafverfahrens. 42 Das hat das Bundesverfassungsgericht im Zusam-
menhang mit dem aus dem Schutz der Menschenwürde abgeleiteten
Schuldprinzip ausgesprochen, wenn es ausführt: "Als zentrales Anliegen
des Strafprozesses erweist sich daher die Ermittlung des wahren Sachver-
halts, ohne den das materielle Schuldprinzip nicht verwirklicht werden
kann: "43 Das folgert das Bundesverfassungsgericht aber auch aus dem

38 Zweifelnd Roxin Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. 1998, § 63 Rn. 14; a. A. u. a. Schlothauer


(Fn. 23), 356.
39 BT-Drs. 16/12098, S. 56.
40 Hilger (Fn. 21),478,486.
41 Schünemann ZStW 114 (2002),1, 30 ff.
42 Dazu LR-Kühne (Fn. 31), Einl., Abschn. H Rn. 23 ff.
43 BVerfGE 57, 250, 273 ff.
Wie vielOpferschutz verträgt der rechtsstaatliche Strafprozess? 941

Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, der die Aufrechterhaltung einer funkti-


onstüchtigen Rechtspflege gebiete; zu den unabweisbaren Bedürfnissen
einer wirksamen Strafverfolgung und Verbrechensbekämpfung gehöre das
öffentliche Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung
im Strafprozess. 44
Dass die Stärkung der Verletztenrechte durch die Opferschutzgesetzge-
bung der vergangenen Jahre der Wahrheitsfindung im Strafprozess rechtli-
che Hindernisse bereitet hätte, wird man nicht behaupten können. Eine
Beschränkung des Gerichts bei der Feststellung der Wahrheit hat nicht
stattgefunden, die Befugnisse der Verteidigung, auf Gang und Inhalt der
Beweisaufnahme Einfluss zu nehmen, wurden nicht angetastet. Also läuft
es, wenn Gefahren fUr die Wahrheitsfindung gesehen werden, auch insoweit
auf die Frage hinaus, ob die Erweiterung der Verletztenrechte faktisch zu
einer Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung geführt hat.
Hier denkt man an den vermeintlich Verletzten, an den, der als Anzeige-
erstatter und Zeuge eine falsche Anschuldigung erhebt. Falsche Beschuldi-
gungen gibt es und selbstverständlich muss es möglich sein, sie aufzude-
cken und den Beschuldigten vor einer ungerechten Verurteilung zu
bewahren. Allerdings ist der Umstand, dass es falsche Anschuldigungen
gibt, falsche Anzeigen, falsche Zeugenaussagen, kein Phänomen, das der
Opferschutzgesetzgebung geschuldet ist. Es eignet sich deshalb auch nicht
zur Diskreditierung der Opferschutzbewegung, so wie umgekehrt niemand
gegen das Beweisantragsrecht des Angeklagten mit dem Argument antreten
sollte, es diene häufig dazu, den wahren Sachverhalt zu vernebeln, die
Wahrheitsfindung zu erschweren, und schließlich stünden falsche Anschul-
digungen unter Strafe, ein Leugnen begangener Straftaten nicht. Gewiss
kann niemand ausschließen, dass die Ausweitung der Nebenklagebefugnis
durch das 2. Opferrechtsreformgesetz zur Folge hat, dass auch die Fälle
etwas zunehmen, in denen ein vermeintlich Verletzter die Möglichkeiten
der Nebenklage nutzt, sein falsches Vorbringen im Prozess vorzutragen.
Auch kann man nicht ausschließen, dass die Fälle etwas häufiger sein wer-
den, in denen ein (real) Verletzter von den Befugnissen des Nebenklägers
einen problematischen Gebrauch macht, etwa in dem Sinn, dass ein aggres-
sives Verhandlungsklima geschürt wird, das es dem Gericht erschwert, das
Verfahren in fairer Weise zu fuhren und in angemessener Zeit abzuschlie-
ßen. Das sind Denkmöglichkeiten. In der Vergangenheit haben sich, wie
Schöch45 festgestellt hat, derart bedenkliche Fälle im Zusammenhang mit
der Opferschutzgesetzgebung nicht ergeben.

44 BVerfGE 38,105,115/ 116.


45 AK-Schöch, Bd. 3, 1996, Vor § 406 d StPO Rn. 20.
942 Reinhard Böttcher

Unterstellt, es kommt zu solchen Fällen, so würden sie gewiss eine Beein-


trächtigung verfassungsrechtlich geschützter Positionen des Beschuldigten,
aber auch der Rechtsgemeinschaft beinhalten, denen im konkreten Fall
keine rechtfertigenden Opferbelange gegenüber stünden. Trotzdem eignet
sich der Hinweis auf solche Fälle nicht als Argument gegen eine Auswei-
tung von Opferrechten. Vom Missbrauch her kann nicht argumentiert wer-
den, wie es ja auch unzulässig wäre, unter Berufung auf gelegentlich vor-
kommenden Missbrauch von Verteidigungsrechten deren Abschaffung zu
fordern. Die für den Verletzten in der Reformgesetzgebung seit 1986 ge-
schaffenen Rechtspositionen dienen dazu, realen Schutz- und Handlungsbe-
dürfnissen der Opfer von Straftaten, die in der Achtung der Menschenrech-
te, in den Grundrechten, im Rechtsstaatsprinzip und insbesondere auch im
fair-trial-Gebot ihre verfassungsrechtliche Anerkennung finden, Rechnung
zu tragen. Dafür werden sie in aller Regel auch genutzt. Vereinzelte Miss-
brauchsfalle rechtfertigen es nicht, den Reformprozess rückgängig zu ma-
chen. Sie rechtfertigen es auch nicht, den Prozess, der den verfassungsrecht-
lich geschützten Belangen der Opfer von Straftaten zur weiteren
Anerkennung verhelfen will, zum Stillstand zu bringen.

IV.
Es hat sich bei unseren Überlegungen nicht ergeben, dass die Stärkung
der Verletztenrechte, insbesondere auch seiner Aktivrechte, durch die
Opferschutzgesetzgebung der zurückliegenden Jahre einschließlich des
2. Opferrechtsformgesetzes von 2009 verfassungsrechtliche Bedenken be-
gründen würde. Insbesondere hat sich kein Verstoß gegen das fair-trial-
Gebot gezeigt. Auc'h der vorsichtigen Aussage, es sei erörterungswürdig, ob
unter Fairnessgesichtspunkten eine verfassungsrechtlich bedenkliche
Schieflage entstanden sei, die Jahn in der Anhörung zum 2. Opferrechtsre-
formgesetz vor dem Rechtsausschuss des Bundestags machte, muss wider-
sprochen, werden, wenn damit angedeutet sein soll, dass eine solche Schief-
lage ernsthaft in Betracht kommt. Das ist nicht der Fall. Vielmehr darf, weil
das Fairnessgebot auch für den Verletzten gilt, erörtert werden, wo insoweit
noch Defizite bestehen, die zu beseitigen Aufgabe künftiger Reformgesetz-
gebung ist.
Es kann in diesem kleinen Beitrag zu Ehren von /feinz Schöch nicht aus-
gebreitet werden, was dazu etwa im WEISSEN RING an Reformforderun-
gen erarbeitet worden ist. Das ist auch nicht nötig, denn der Jubilar, der an
der Erarbeitung dieser Vorschläge maßgeblich beteiligt war, kennt sie bes-
tens. Es sei dem Verfasser erlaubt, nur einige wenige dieser Anliegen kurz
anzusprechen, um zu zeigen, dass das Ende der Fahnenstange für die Re-
Wie vielOpferschutz verträgt der rechtsstaatliche Strafprozess? 943

formgesetzgebung noch nicht erreicht ist. Die Anliegen haben grundsätzli-


che Bedeutung, stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Frage, was
künftig die Position des Verletzten im deutschen Strafprozess sein soll. Es
muss mit einer ganz knappen Skizze sein Bewenden haben; der Verfasser
hat sich an anderer Stelle ausführlicher dazu geäußert. 46
Verfahrenseinstellungen nach § 153 a StPO sind zu einer massenhaft
praktizierten Erledigungsform im Vergehensbereich geworden. Ob die
Schwere der Schuld einer solchen Sachbehandlung entgegensteht und ob
die dem Beschuldigten auferlegten Auflagen und Weisungen geeignet sind,
das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen, entscheiden
Gericht und Staatsanwaltschaft, ohne dass der Verletzte beteiligt wird. An-
zuhören ist er nach § 33 Abs. 3 StPO nur, wenn nach § 153 a Abs. 2 StPO
verfahren wird und er sich als Nebenkläger angeschlossen hat, in allen an-
deren Fällen nicht. Seiner Zustimmung bedarf es in keinem Fall. Das Kla-
geerzwingungsverfahren ist ihm verschlossen, § 172 Abs. 2 S. 3 StPO. Mit
dieser Rechtslage kann der Verletzte in vielen Fällen gut leben. Bei den
Massendelikten des täglichen Lebens hat der Verletzte vielfach kein Inte-
resse an dem Strafverfahren gegen den Täter. Es gibt aber auch anders gela-
gerte Fälle, in denen der Verletzte durch das in Frage stehende Vergehen
erheblich betroffen ist und deshalb ein starkes Interesse an dem Verfahren
und dessen Ausgang hat. Ehrverletzungsdelikte, Körperverletzungsdelikte,
Sexualdelikte aus dem Vergehensbereich sind Beispiele. Der im Regelfall
völlige Ausschluss des Verletzten ist Ausdruck eines überholten Straf-
rechtsverständnisses, in dem der Verletzte keinen Platz hatte. Ob die Rege-
lung mit dem Fairnessgebot des Grundgesetzes vereinbar ist, erscheint
durchaus erörterungswürdig. Sie dürfte den Zielvorgaben des EU-
Rahmenbeschlusses über die Stellung des Opfers im Strafverfahren vom
15. 3.2001 47 widersprechen. Es erscheint notwendig, die Debatte zu § 153a
StPO unter Opferschutzgesichtspunkten wieder aufzunehmen. Ein denkba-
res Lösungsmodell wäre es, für die Einstellung die Zustimmung des neben-
klageberechtigten Verletzten zu verlangen. Zu allermindest müsste für den
nebenklageberechtigten Verletzten ein Anhörungsrecht begründet werden.
Noch schlechter steht es mit den berechtigten Belangen des Verletzten in
den Fällen des § 154 StPO, weil hier auch Verbrechen in den Anwendungs-
bereich einbezogen sind, bei denen ein verfassungsrechtlicher Anspruch des
Verletzten auf Strafverfolgung und angemessene Sanktionierung entgegen
h. M. durchaus in Betracht kommt. 48 Es ist vorgekommen, dass eine Ver-

46 Vgl. Böttcher FS E. Müller, 2008, S. 87; ders. FS Volk, 2009, S. 61 ; ders. FS Stöckel,
2010, S. 161.
47 AbI. L 82/1.
48 Vgl. EGMR, EugRZ 1985,297 und dazu WeigendRW 2010,39 ff.
944 Reinhard Böttcher

gewaltigung nach § 154 StPO aus dem Verfahren ausgeschieden wurde,


weil der Beschuldigte wegen einer Anzahl anderer Straftaten schon eine
mehrjährige Freiheitsstrafe zu erwarten hatte. Für den Verletzten ist es be-
sonders schmerzlich, wenn er zur Kenntnis nehmen muss, dass die gegen
ihn begangene Straftat, die möglicherweise seine Lebenssituation grundle-
gend und dauerhaft zum Negativen verändert hat, für die Justiz "nicht be-
trächtlich ins Gewicht fällt". Auch hier besteht Korrekturbedarf.
Kann man den Regelungen in § 153 a StPO und § 154 StPO zugute hal-
ten, dass sie aus einer Zeit stammen, in der die Entdeckung des Opfers rur
das Strafverfahren erst bevorstand, so gilt dies nicht für das kürzlich verab-
schiedete Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren. 49 Man
hat im Gesetzgebungsverfahren dementsprechend auch darüber diskutiert,
welche Rechtstellung für den Verletzten im Verfahren der Verständigung
vorgesehen werden soll. Das beschlossene Gesetz sieht rur den Nebenkläger
ein Anhörungsrecht vor, das sich aus allgemeinen Grundsätzen ergibt, mehr
nicht. Dass es für das Opfer etwa einer Vergewaltigung oder einer schweren
Körperverletzung außerordentlich frustrierend sein kann, wenn sich Gericht,
Staatsanwaltschaft und Verteidigung/Angeklagter bezüglich der Tat, deren
Opfer es ist, auf ein schlankes Geständnis mit nachfolgend milder Strafe
einigen oder, noch schlimmer, die das Opfer betreffende Tat nach § 154
Abs.2 StPO im Wege der Verständigung aus dem Verfahren ausgeschieden
wird, findet in dem Gesetz keine Berücksichtigung. Nachdem das Gesetz
eben erst in Kraft getreten ist, wird man seine Anwendung in der Praxis eine
Zeitlang beobachten müssen, bevor die Wiederaufnahme der Reformdebatte
aussichtsreich ist. Diese Zeit sollte genutzt werden, die Opferinteressen bei
Absprachen empirisch zu untersuchen, damit die Diskussion eine verlässli-
che Basis hat. Ein entsprechendes Forschungsvorhaben der Kriminologi-
schen Zentralstelle in Wiesbaden, das vom WEISSEN RING gefördert
wird, läuft.
Es wird nicht leicht sein, in den drei genannten Fällen zu angemessenen
Lösungen zu kommen. Zwar steht eine Gefährdung der Wahrheitsfindung
dabei nicht im Raum. Der Feststellung der Wahrheit im Strafprozess dient
es eher, wenn gewisse Bremsen eingezogen werden beim Gebrauchmachen
von §§ 153a, 154 StPO und bei der Verständigung über das Urteil. Auch
dürften verfassungsrechtlich geschützte Beschuldigteninteressen nicht be-
troffen sein. Das Interesse von Beschuldigten an einer weitherzigen Einstel-
lungspraxis ist keines, das durch die Verfassung geschützt ist, der Gesetz-
geber ist frei, im Interesse des Opferschutzes Eingrenzungen vorzunehmen.
Das Problem wird darin stecken, dass solche Eingrenzungen mit einer
Mehrbelastung der Justiz verbunden sein werden, was unter dem Gesichts-

49 Gesetz vom 29.7.2009, BGBL I, S. 2353.


Wie vielOpferschutz verträgt der rechtsstaatliehe Strafprozess? 945

punkt der funktionstüchtigen Strafrechtspflege von verfassungsrechtlicher


Relevanz ist. Darum, wie die Mehrbelastung möglichst gering gehalten und
gleichwohl der Würde und Selbstbestimmung der Verletzten besser Rech-
nung getragen werden kann, wird es vor allem gehen. Es werden sich Lö-
sungen finden lassen. Auch insoweit wird sich ergeben:
Der rechtsstaatliche Strafprozess verträgt noch deutlich mehr Opfer-
schutz, als er in den zurückliegenden Jahren in sich aufgenommen hat. Er
kann dabei an Humanität gewinnen. 50

v.
Heinz Schöch ist unter den angesehenen StrafrechtsIehrem einer, der sich
besonders früh und besonders nachhaltig fur Operschutz, Wiedergutma-
chung und Täter-Opfer-Ausgleich im Strafverfahren eingesetzt hat. Neben
seiner einflussreichen wissenschaftlichen Arbeit stand dabei ein vielfältiges
praktisches Engagement, unter anderem in der Opferhilfeeinrichtung
WEISSER RING. Nie hat Schöch dabei die berechtigten Verteidigungsinte-
ressen des Beschuldigten außer Betracht gelassen, hat vielmehr auch zur
Stärkung der Beschuldigtenrechte wichtige Beiträge geleistet. Er kann für
sich in Anspruch nehmen, auf das Ziel eines humaneren, die betroffenen
Menschen und ihre Belange intensiver in den Blick nehmenden Strafprozes-
ses hin gearbeitet zu haben. Ihn mit diesem Beitrag in seiner Festschrift zu
ehren, ist eine Freude.

50 Vgl. dazu Kilchling NStZ 2002, 57~ ders. Opferinteressen und Strafverfolgung, 1995,
S. 701 ff.
Das Opfer als Prozesspartei?
Bemerkungen zum 2. Opferrechtsreformgesetz 2009

THOMAS WEIGEND

Der verehrte Jubilar hat sich seit jeher mit großem Elan für die Interessen
der Opfer von Straftaten eingesetzt, und er hat durch sein wissenschaftliches
und praktisches Engagement viel für sie erreicht. Ein wichtiger Aspekt
opferfreundlicher Strafrechtspflege, nämlich die Wiedergutmachung der
Folgen der Tat, war es auch, der Heinz Schöch und mich in den 1980er
Jahren erstmals zu freundschaftlicher Kooperation in der unvergleichlichen
Atmosphäre des Kreises der "Alternativ-Professoren" zusammengeführt
hat. Aus den gemeinsamen Bemühungen ist der "Alternativ-Entwurf Wie-
dergutmachung"l entstanden, dessen wohldurchdachte Regelungen für die
Gesetzgebung anregend gewirkt haben. 2 Im Laufe der seither vergangenen
beiden Jahrzehnte sind noch einige weitere Projekte des Alternativ-Kreises
erfolgreich abgeschlossen worden, an denen ich gemeinsam mit dem Jubilar
mitwirken durfte. Ich habe ihn dabei immer als einen Menschen von klaren
Überzeugungen erlebt, der die besondere Gabe besitzt, andere durch die
Stringenz seiner Argumentation verbunden mit seinem persönlichen Char-
me von seiner Position zu überzeugen. Ich durfte bei unseren Begegnungen
viel von Heinz Schöch lernen, und er hat auch meinen Werdegang immer
mit großem Wohlwollen, gutem Rat und praktischer Unterstützung beglei-
tet. Es ist für mich deshalb eine besondere Freude, dem Jubilar als kleinen
Dank und als Zeichen der Verehrung für einen vielseitigen Gelehrten, der
die "gesamte" Strafrechtswissenschaft in allen ihren Aspekten bereichert,
ein paar Bemerkungen zu einem uns beide interessierenden Thema offerie-
ren zu dürfen.

1 Baumann u.a. Altemativ-EntwurfWiedergutmachung (AE-WGM), 1992.


2 So findet sich etwa der Inhalt der §§ 3-5 AE-WGM (Fn. 1, S. 49 ff.) über "Wiedergutma-
chung statt Strafe" im heutigen § 46a StGB wieder.
948 Thomas Weigend

I. Die Regelungsgegenstände des Gesetzes


Mit dem "Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im
Strafverfahren", das als "2. Opferrechtsreformgesetz"3 am 1. Oktober 2009
in Kraft getreten ist, verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, "die bestehenden
Rechte der Opfer und Zeugen von Straftaten sachgerecht zu erweitern sowie
ihren bereits bestehenden Rechten zu einer konsequenten Durchsetzung zu
verhelfen".4 Die Reform greift - in der Formulierung der Entwurfsbegrün-
dung - "Strömungen und Diskussionsstände auf, die auf internationaler
Ebene zum Schutz von Opfern und Zeugen geführt werden";5 aber "die im
System des Strafverfahrens grundsätzlich angelegte Rollenverteilung bleibt
dabei unberührt". 6
Die letztgenannte Behauptung ist allerdings von einigen Kommentatoren
der umfangreichen Gesetzesnovelle heftig bestritten worden. Das 2. Opfer-
rechtsreformgesetz (OpferRRG) wird als der (nur vorläufige?)7 Schluss-
punkt einer Entwicklung angesehen, die mit dem Opferschutzgesetz von
1986 begann und die den Verletzten "zu einer dem Beschuldigten nahezu
gleichrangigen Zentralfigur des deutschen Strafprozesses"s gemacht habe.
Bernd Schünemann, der schon im Opferschutzgesetz von 1986 eine "pro-
zessuale Apotheose des Vergeltungsbedürfnisses des Verletzten" gesehen
hatte,9 attestiert dem Gesetzgeber nunmehr, er habe das Augenmaß verloren
und "kumulativ zum Offizialprozess zwischen Staat und Angeklagtem einen
vom Verletzten betriebenen Parteiprozess attachiert".lO Im 'fon zurückhal-
tender, aber in der Sache nicht wesentlich anders erblickt Peter Rieß im 2.
OpferRRG "Ansätze für eine ,Reprivatisierung' des Strafverfahrens ... , bei
dem geistesgeschichtliche Wurzeln deutlich werden, die vor der Entstehung
des Inquisitionsprozesses liegen."ll
Bevor ich auf die damit aufgeworfene Frage nach dem vermeintlich pro-
zessrevolutionären Charakter des 2. OpferR_RG zurückkomme, sollen die

3 Die Zählung schließt an das "Opferrechtsreformgesetz" vom 1.9.2004 an.


4 Die unbeholfene Formulierung stammt aus dem Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD, BT-Drs. 16112098 v. 3.3.2009, S. 1.
5 Gesetzentwurf (Fn. 4), S. 10.
6 Gesetzentwurf (Fn. 4), S. 9.
7 Nach Barton JA 2009, 753, 757 werden von Opferverbänden bereits neue Forderungen zur
Verbesserung der Rechtsstellung des Opfers im Verfahren erhoben, wie etwa die Einräumung
eines Veto-Rechts gegenüber Verfahrenseinstellungen der Staatsanwaltschaft.
S So Wenske NStZ 2008,434,437.
9 Schünemann NStZ 1986, 193, 196.
10 Schünemann ZIS 2009, 484, 492. Ähnlich Bung StV 2009, 430, 433, der von einer "mas-
siven Umgewichtung der Verfahrens interessen zu Lasten der Beschuldigtenseite" spricht.
11 Rieß ZIS 2009, 466, 477.
Das Opfer als Prozesspartei? 949

wichtigsten Neuregelungen des umfangreichen und inhaltlich heterogenen


Gesetzes kurz rekapituliert werden. 12
Zunächst hat der Gesetzgeber die Gelegenheit zu einigen ohnehin anste-
henden Aufräumarbeiten in der Strafprozessordnung genutzt. Dazu gehören
systematische Verschiebungen einzelner Regelungen innerhalb der StPO,13
Modernisierungen der Ausdrucksweise 14 und allgemeine sprachliche Ver-
besserungen. 15 Außerdem wurden einige nicht unerhebliche Änderungen
der Rechtslage in Bereichen vorgenommen, die mit Opfer- und Zeugen-
schutz nichts zu tun haben. Dazu gehört etwa die nicht unproblematische
Ausdehnung der Anlasstaten rur Vorbeugehaft nach § 112a StPO auf Taten,
die Gegenstand anderer, auch rechtskräftig abgeschlossener Verfahren sind
oder waren (§ 112a Abs. 1 S. 2 StPO n.F.),16 oder die - positiv zu bewer-
tende - Aufhebung der Regel, dass der Vorsitzende bei der Bestellung eines
Verteidigers möglichst einen Rechtsanwalt auswählen sollte, der im örtli-
chen Gerichtsbezirk niedergelassen ist (so § 142 Abs. 1 S. 1 StPO a.F.).17
Sinnvoll ist auch die durch die Novelle vorgenommene Konzentration der
richterlichen Zuständigkeit im Ermittlungsverfahren auf das Amtsgericht
des Sitzes der Staatsanwaltschaft, die die Ermittlungen leitet (§ 162 Abs. 1
S. 1 StPO n.F.).18
Das wesentliche Anliegen des Gesetzgebers war jedoch die (weitere)
Verbesserung der Rechtsstellung von Opfern und Zeugen, und hierauf be-
zieht sich auch die große Mehrzahl der neuen Regelungen.

1. Zeugenschutz
Für Zeugen wurde erstmals die Pflicht, vor Gericht zu erscheinen und
auszusagen, ausdrücklich geregelt, wobei die Formulierung des neuen § 48
Abs. 1 StPO einen Vorschlag aus dem Alternativ-Entwurf "Zeugnisverwei-

12 Siehe auch die knappe Übersicht bei Hilger GA 2009,657 sowie die kritische Würdigung
bei Barton (Fn. 7), 753.
13 So wurden die Regelungen über die von der Polizei bei der Zeugenvernehmung zu beach-
tenden Vorschriften von § 163a Abs. 5 in § 163 Abs. 3 S. 1 StPO verschoben, und die Frage
der Nebenklagebefugnis bei einer Beschränkung der Verfolgung gemäß § 154a StPO ist jetzt
nicht mehr in § 397 Abs. 2, sondern in § 395 Abs. 5 StPO geregelt.
14 So wird jetzt in § 68a Abs. 1 S. 1 StPO von Zeugen nicht mehr die Angabe von "Stand
oder Gewerbe", sondern des Berufes verlangt.
15 Ohne inhaltliche Veränderung neu gefasst wurde etwa § 138 Abs. 2 StPO.
16 Die Änderung entspricht allerdings der wohl überwiegenden Auffassung der Rechtspre-
chung schon nach der früheren Gesetzeslage~ siehe LR-Hilger StPO, 26. Aufl. 2007, § 112a
Rn. 30 mit Nachweisen.
17 Kritisch hierzu jedoch Bittmann ZRP 2009, 212, 213.
18 Zu den praktischen Vorzügen dieser Neuregelung siehe Gesetzentwurf (Fn. 4), S. 25 f.
950 Thomas Weigend

gerungsrechte und Beschlagnahmefreiheit"19 übernimmt, an dem der Jubilar


maßgeblich beteiligt war. Verbesserungen für die Position des Zeugen sind
vor allem in dreierlei Hinsicht vorgesehen: Es kann unter erleichterten Vor-
aussetzungen auf die Angabe der Privatadresse eines Zeugen verzichtet
werden (§ 68 Abs. 2 StPO),20 die Beiordnung eines Rechtsanwalts ist bei
Schutzbedürftigkeit des Zeugen nunmehr, unabhängig vom Gegenstand der
Vernehmung und von der Stellung eines Antrags, zwingend vorgeschrieben
(§ 68b Abs. 2 StPO);21 und das Recht jedes Zeugen auf die Zulassung eines
von ihm mitgebrachten anwaltlichen Beistands, das bisher, gestützt auf die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts,22 in der StPO nur still-
schweigend vorausgesetzt wurde, ist jetzt explizit anerkannt (§ 68bAbs. 1
StPO) - so wie dies Heinz Schäch bereits 1984 gefordert hatte. 23
Allerdings verbinden sich mit den an sich zeugenfreundlichen Verände-
rungen auch einige Wermutstropfen. Hinsichtlich der Angaben, die ein
Zeuge machen muss, ist zwar jetzt die Nennung des Wohnortes schon dann
entbehrlich, wenn zu besorgen ist, dass dadurch (irgendwelche) Rechtsgüter
des Zeugen oder einer anderen Person gefährdet werden oder dass auf den
Zeugen oder eine andere Person 24 in unlauterer Weise eingewirkt wird (§ 68
Abs. 2 S. 1 StPO).25 Auf der anderen Seite hat der Gesetzgeber durch die
Neuformulierung von § 68a Abs. 2 S. 1 StP026 aber verdeutlicht, dass er

19 Baumann u.a. Alternativ-Entwurf Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmefrei-


heit (AE-ZVR), 1996, § 48, mit Begründung S. 34 f.
20 Außerdem wird in den Fällen, in denen der Zeuge seine Adresse nicht nennen muss, die
entsprechende Angabe auch aus den Verfahrensakten entfernt (§ 68 Abs. 4 S. 3, 4 StPO). Eine
ähnliche Regelung (Einrichtung eines von den Verfahrensakten getrennten "Datenschutzbei-
hefts" mit den persönlichen Angaben von Zeugen) hatte - auf Anregung von Heinz Schäch-
schon der Alternativ-Entwurf Reform des Ermittlungsverfahrens (AE-EV) (herausgegeben von
Bannenberg u.a.), 2001, S. 46, vorgesehen.
21 Allerdings sind gleichzeitig die ohnehin schon zahlreichen Bedingungen für die Beiord-
nung eines Zeugenanwalts weiter um das Vorliegen "besonderer Umstände" verschärft wor-
den.
22 Grundlegend BVerfGE 38, 105.
23 Schäch "NStZ 1984, 385, 388, 389.
24 Man wird diese Regelung bezüglich der "anderen Personen" wohl teleologisch in dem
Sinne einzuschränken haben, dass die befürchtete "Einwirkung" in einer Verbindung mit der
Zeugenaussage stehen soll.
25 Nicht zu Unrecht ist die Frage gestellt worden, weshalb die Wohnadresse eines Zeugen
überhaupt (regelmäßig) zum Gegenstand der Beweisaufnahme gemacht werden muss, da sie
weder zu seiner sicheren Identifizierung notwendig ist noch - wie selbst im Gesetzentwurf
(Fn.4, S. 13) eingeräumt wird - etwas über die Glaubhaftigkeit seiner Aussage besagt; Bitt-
mann ZRP 2009,212 f.
26 Die Regelung ist von § 68 Abs. 3 StPO a.F. in § 68a Abs. 2 S. 1 StPO verschoben worden
und akzentuiert noch etwas stärker als zuvor die Pflicht des Gerichts zum Stellen von nicht
unmittelbar tatrelevanten "Generalfragen" zur Ermittlung der Glaubwürdigkeit: "Fragen nach
Das Opfer als Prozesspartei? 951

nicht bereit ist, irgendwelche Abstriche von der unbeschränkten Aussage-


pflicht des Zeugen auf Fragen zu machen, die zur Überprüfung von dessen
Glaubwürdigkeit dienen sollen. Dem Gedanken, dass etwa Fragen über das
eigene Sexualverhalten des Zeugen generell nicht gestellt werden sollten,
wird damit implizit eine Absage erteilt; es bleibt insoweit bei dem von den
Gerichten häufig zugunsten des Sachaufklärungsinteresses ausgelegten
Maßstab der "Unerlässlichkeit" von Fragen, die den persönlichen Lebensbe-
reich betreffen (§ 68a Abs. 1 StPO).27
Was den anwaltlichen Verletztenbeistand betrifft, so ist zunächst hervor-
zuheben, dass er grundsätzlich bei jeder Vemehmung seines Mandanten,
nach § 163 Abs. 3 S. 1 StPO auch bei der Polizei, anwesend sein darf (§ 68b
Abs. 1 S. 2 StPO). Damit wird die Verweigerung eines Anwesenheitsrechts
des Verteidigers bei der polizeilichen Vernehmung des Beschuldigten durch
die in der Praxis dominierende Auffassung 28 immer mehr zur kaum noch
vertretbaren Anomalie. 29 Das Anwesenheitsrecht des Zeugenbeistands hat
der Gesetzgeber allerdings eingeschränkt, und zwar für den Fall, "dass seine
Anwesenheit die geordnete Beweiserhebung nicht nur unwesentlich beein-
trächtigen würde" (§ 68b Abs. 1 S. 3 StPO). Diese überaus vage Formepo -
deren Auslegung im Übrigen der unanfechtbaren Entscheidung des Ver-
nehmenden überlassen bleibt (§ 68b Abs. 3 S. 1 StPO)31 - wird durch drei
Regelbeispiele (§ 68b Abs. 1 S. 4 StPO) etwas griffiger gemacht, die frei-
lich ihrerseits einige Fragen offen lassen. Das gilt insbesondere für den sehr
dunkel formulierten Ausschlussgrund, dass "das Aussageverhalten des
Zeugen dadurch beeinflusst wird, dass der Beistand nicht nur den Interessen

Umständen, die die Glaubwürdigkeit des Zeugen in der vorliegenden Sache betreffen, ... sind
zu stellen, soweit dies erforderlich ist."
27 "Die Sachaufklärung geht der Rücksicht auf den Zeugen vor, gleichviel wie groß die Be-
deutung des Strafverfahrens für den Angeklagten ist." So LR-IgnorlBertheau StPO, 26. Autl.
2008, § 68a Rn. 6, mit zahlreichen Nachweisen für diese Auffassung.
28 Siehe die Nachweise pro und contra bei HK-StPO/Zöller, 4. Autl. 2009, § 163 Rn. 19;
Meyer-GoßnerICierniak, StPO, 52. Autl. 2009, § 163 Rn. 16.
29 MattlDierlammlSchmidt StV 2009, 715, betrachten die neue Regelung wegen Verletzung
des - in Bezug auf den Zeugenanwalt allerdings nicht einschlägigen - Grundsatzes der Waf-
fengleichheit sogar als verfassungswidrig.
30 Sie knüpft an eine Einschränkung des Anwesenheitsrechts des Zeugenbeistands in
BVerfGE 38, 105, 120 an. Dort wird allerdings für den Ausschluss zusätzlich vorausgesetzt,
dass die Teilnahme des Rechtsanwalts "erkennbar dazu missbraucht wird, ... das Auffinden
einer materiell richtigen und gerechten Entscheidung zu beeinträchtigen".
31 Die ungehemmte Tendenz des modemen Gesetzgebers, prozessuale Zwischenentschei-
dungen - natürlich stets im Interesse der Vermeidung von Verfahrensverzögerungen (Gesetz-
entwurf [Fn. 4], S. 18) - für unanfechtbar zu erklären, bedürfte einmal der grundsätzlichen
Überprüfung. Immerhin kann gegen den Ausschluss des Verletztenbeistands durch einen
Polizeibeamten oder Staatsanwalt der Richter angerufen werden (§§ 161a Abs. 3 S. 2, 163
Abs. 3 S. 3 StPO).
952 Thomas Weigend

des Zeugen verpflichtet erscheint" (§ 68b Abs. 1 S. 4 Nr. 2 StPO). Nicht


nur, dass schon der Anschein einer anderweitigen "Verpflichtung" zum
Ausschluss des Rechtsanwalts genügen soll; bereits die Annahme, dass er
noch andere Interessen als diejenigen des Zeugen verfolgen mag, macht den
Beistand suspekt, obwohl es doch eher die Ausnahme ist, dass jemand aus-
schließlich die Interessen einer einzigen Person im Auge hat, und obwohl
das Bestehen weiterer Interessen ja noch zu keinem (der Beistandsfunktion
unzuträglichen) Interessenkonflikt fuhren muss. 32
Schließlich ist für den gesamten Bereich des Zeugenschutzes immer dort,
wo das geringe Alter den Anlass zu Sondervorschriften gegeben hat - z.B.
beim Absehen von Vereidigung (§ 60 Nr. 1 StPO), bei der Befragung allein
durch den Vorsitzenden (§ 241a StPO), bei der Verwendung von Bild-Ton-
Aufnahmen statt der persönlichen Vernehmung (255a Abs. 2 StPO) und
beim Öffentlichkeitsausschluss während der Vernehmung (§ 172 Nr. 4
GVG) -, die Altersgrenze von 16 auf 18 Jahre angehoben worden. Begrün-
det wurde dies ziemlich unspezifisch damit, dass sich Personen zwischen 16
und 18 Jahren "noch in ihrer Entwicklung" befänden und daher besonders
vor "Belastungen" geschützt werden müssten. 33 Offenbar steht hinter dieser
Ausdehnung der Maßnahmen zum Schutz junger Zeugen der Wunsch,
einem Trend zur Extension des "Kinder"schutzes bis zum 18. Geburtstag in
verschiedenen völkerrechtlichen Instrumenten zu entsprechen. Freilich wird
dabei übersehen, dass der Regelungskontext der Zeugenstellung im Straf-
verfahren ein anderer ist als etwa der Schutz vor Menschenhandel und
sexueller Ausbeutung, auf den sich zwei als maßgeblich in Bezug genom-
mene Rahmenbeschlüsse der EU beziehen. 34 Immerhin werden durch die
Ausdehnung der speziellen Zeugenschutzvorschriften bedeutsame Prozess-
grundsätze (Öffentlichkeit der Hauptverhandlung, Fragerecht des Angeklag-
ten' Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme) berührt, die nicht ohne weiteres

32 Mit Recht kritisch Matt/Dierlamm/Schmidt (Fn. 29), 715, 717.


33 Gesetzentwurf (Fn. 4), S. 10.
34 Gesetzentwurf (Fn. 4), S. 41, mit Hinweis auf Rahmenbeschlüsse des Rates 2004/68111 v.
22.12.2003 und 2002/629/JI v. 19.7.2002. Das gleichfalls (a.a.O.) in Bezug genommene UN-
Übereinkommen über die Rechte des Kindes v. 20.11.1989 (BGBL 1992 II, S. 122), das in Art.
1 "Kinder" als Menschen definiert, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, enthält
zwar in Art. 40 einen umfangreichen Katalog über die Rechte von Kindern, die einer Straftat
beschuldigt oder angeklagt worden sind, verhält sich jedoch nicht zu deren Rechtsstellung als
Zeugen. Ganz neben der Sache liegt im Übrigen die Erwägung des Gesetzgebers, die Anhe-
bung des Schutzalters für Zeugen sei notwendig, um ein angebliches "Ungleichgewicht"
zwischen der Behandlung jugendlicher Beschuldigter - nach dem JGG - und jugendlicher
Opfer zu beseitigen; so Gesetzentwurf (Fn. 4), S. 41; zutr. Schünemann (Fn. 10), 484, 492, Fn.
48.
Das Opfer als Prozesspartei? 953

aufgrund pauschaler Erwägungen zum Schutz junger Menschen vor "Belas-


tungen" preisgegeben werden sollten. 35

2. Rechte des Verletzten


Ein zweiter Schwerpunkt des 2. OpferRRG liegt - wie schon sein Kurzti-
tel deutlich macht - beim Ausbau des Schutzes des Verletzten.

a) Allgemeine Verletztenrechte
Dabei halten sich die Veränderungen, die alle Verletzten von Straftaten
betreffen, in engen Grenzen. So wurden die Informationspflichten gegen-
über den Opfern von Straftaten in § 406h StPO übersichtlicher aufgelistet
und dabei auch näher spezifiziert,36 wobei bei den Angeboten der Opferhilfe
die beispielhafte Hervorhebung einer "psychosozialen Prozessbegleitung"
(§ 406h Abs. 1 Nr. 5 StPO) angesichts deren sehr begrenzter praktischer
Bedeutung verwundert. 37 Wie dem Auftrag, den Verletzten die Informatio-
nen "soweit möglich in einer für sie verständlichen Sprache" zu geben,
angesichts der unüberschaubaren Zahl der in Frage kommenden Sprachen
Rechnung getragen werden soll, ist nicht ganz zu ersehen. 38 Hinsichtlich des
Akteneinsichtsrechts des Verletztenanwalts (§ 406e Abs. 2 StPO) ist eine -
auch für den Anwalt des Nebenklägers geltende - Einschränkungsmöglich-
keit hinzugekommen: Die Akteneinsicht kann selbst noch nach Abschluss
der Ermittlungen abgelehnt werden, wenn der Untersuchungszweck in
einem anderen Strafverfahren gefährdet erscheint, wenn also etwa befürch-
tet wird, dass Informationen aus den Verfahrensakten das Aussageverhalten

35 Mit Recht hat es im Übrigen Dölling in seiner schriftlichen Stellungnahme zum RegE
anlässlich der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am
13.5.2009 (S. 4) (die Stellungnahmen sind abrutbar unter http://www.bundes-
tag. de/bundestag!ausschues-se/a06/anhoerungen/Arch iv/54_2_Opfer-rechtsreformgesetzl04_-
Stellungnahmen/index.html) als fragwürdig bezeichnet, dass durch die Neufassung von § 60
Nr. 1 StPO nunmehr auch 16- und 17Jährigen pauschal die Eidesmündigkeit abgesprochen
worden ist.
36 l\Ilaßgeblich waren insoweit sehr extensive Vorgaben in Art. 4 des Rahmenbeschlusses
des Rates 200 1/220/]I v. 15.3 .200 1 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren.
37 Kritisch insoweit auch die schriftlichen Stellungnahmen von Böttcher (S. 5) und Schöch
(S. 3) zur öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages zum
RegE am 13.5.2009 (s. Fn. 35).
38 In Art. 4 (1) des Rahmenbeschlusses über die Stellung des Opfers im Strafverfahren
(Fn. 36) ist kryptisch davon die Rede, dass die Infonnationen in "Sprachen, die allgemein
verstanden werden", erteilt werden sollen.
954 Thomas Weigend

des Verletzten in einem anderen Strafverfahren unzulässig beeinflussen


könnten. 39

b) Nebenklage
Im Mittelpunkt der gesetzgeberischen Bemühungen stand das Institut der
Nebenklage, das sich im Zuge der Reformdebatte der letzten Jahrzehnte als
das Mittel der Wahl zur wehrhaften Wahrnehmung der prozessualen In-
teressen des Verletzten fest etabliert hat und das auch in der Rechtswirk-
lichkeit jedenfalls in schwerwiegenden Strafverfahren eine quantitativ wie
qualitativ bedeutsame Rolle spielt,40
Das 2. OpferRRG hat zunächst den Nebenkläger hinsichtlich seiner "Zu-
ziehung" und des rechtlichen Gehörs im Verfahren ausdrücklich mit der
Staatsanwaltschaft gleichgestellt (§ 397 Abs. 1 S. 4 StPO) und das Recht
des Nebenklägers betont, sich eines Rechtsanwalts als Beistand oder als
Vertreter zu bedienen. 41 Beides sind optische Hervorhebungen, aber keine
sachlichen Neuerungen, da die Materie bisher durch Verweisung auf die
Rechtsstellung des Privatklägers im gleichen Sinne geregelt war.
Eine inhaltliche Verbesserung liegt in der Erweiterung des Katalogs der
Tatbestände, bei deren (vermutetem) Vorliegen das Gericht dem Nebenklä-
ger auf dessen Antrag einen Rechtsanwalt als Beistand bestellt; das gilt jetzt
z.B. für schwere Körperverletzung, Raub und räuberische Erpressung, so-
fern die Tat bei dem Verletzten zu schweren körperlichen oder seelischen
Schäden geführt hat oder voraussichtlich führen wird (§ 397a Abs. 1 Nr. 3
StPO). In den übrigen Fällen wird dem Nebenkläger für die Beauftragung
eines Rechtsanwalts nötigenfalls Prozesskostenhilfe gewährt, und zwar nach

39 Der Rechtsausschuss des Bundestages, auf dessen Initiative diese Regelung zurückgeht,
verweist zur Begründung auf die im Fall Weimar entstandene Konstellation, dass die im Ver-
fahren als Verletzter auftretende Person gleichzeitig selbst der angeklagten Tat verdächtig ist
(BT-Drs. 16/13671 v. 1.7.2009, S. 22). Siehe zur Problematik der "angreifenden Nebenklage"
allgemein Altenhain JZ 2001,791. Die Befürchtung von Schroth NJW 2009, 2916, 2919, durch
die Ausdehnung des Akteneinsichtsrechts des Verletztenanwalts mutiere der Zeuge zur Pro-
zesspartei und es werde so die Wahrheitsfindung beeinträchtigt, dürfte angesichts der doch
recht weitreichenden Möglichkeiten, nach § 406e Abs. 2 StPO die Akteneinsicht zu verweigern
oder zu beschränken, nicht begründet sein.
40 An 21°;6 der erstinstanzlichen Hauptverhandlungen vor dem Landgericht nahm im Jahre
2008 ein Nebenkläger teil (berechnet nach Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3,
2008, S. 72), und nach einer empirischen Untersuchung von Barton (Wiedergabe erster Ergeb-
nisse bei Barton [Fn. 7], 753, 758) zeichnen sich Verfahren mit Nebenklage im statistischen
Durchschnitt durch längere Dauer, mehr Hauptverhandlungstage, weniger Freisprüche und
höhere Strafen aus.
41 Zu den im Einzelnen ungeklärten Fragen der Rechtsstellung des Anwalts des Nebenklä-
gers instruktiv Barton (Fn. 7), 753, 756 f.
Das Opfer als Prozesspartei? 955

jetzigem Recht auch dann, wenn die Sach- und Rechtslage keine besonde-
ren Schwierigkeiten aufweist (§ 397a Abs. 2 StPO). Da der Nebenkläger zur
Wahrnehmung seiner umfangreichen Verfahrensrechte in aller Regel auf
sachkundige Unterstützung durch einen Rechtsanwalt angewiesen ist, sind
alle diese Initiativen des Gesetzgebers zu begrüßen, da sie ökonomisch
bedingte Ungleichheiten bei der Chance von Verletzten zur aktiven Verfah-
rensbeteiligung mindern.
Im Ganzen und im Detail heftig umstritten ist nach wie vor die Frage,
welche Verletzten die hervorgehobene Position des Nebenklägers erhalten
sollen. Auch nachdem das Opferschutzgesetz von 1986 die sachlich wenig
sinnvolle Koppelung der Nebenklagebefugnis an die (potentielle) Stellung
eines Privatklägers aufgegeben und die Nebenklage damit auf eigene Füße
gestellt hatte, fehlte es an zwingenden sachlichen Kriterien rur die Abgren-
zung zwischen Verletzten erster und zweiter Klasse. Nun hat der Gesetzge-
ber einen neuen Anlauf zur Gestaltung eines Katalogs von Nebenklagede-
likten gemacht und außerdem in § 395 Abs. 3 StPO eine materielle
Öffnungsklausel (besondere Gründe, insbesondere die schweren Folgen der
Tat) aufgenommen, die das Enumerationsprinzip letztlich zugunsten einer
vom Gericht (unanfechtbar; § 396 Abs. 2 S. 2 StPO) vorzunehmenden Ein-
zelfallentscheidung aufgibt.
Was zunächst die Liste der Tatbestände betrifft, bei der die Nebenklage
des Verletzten unabhängig von der Schwere der Folgen im Einzelfall zuzu-
lassen ist (§ 395 Abs. 1, 2 StPO), so erklärt der Gesetzentwurf der damali-
gen Regierungsfraktionen die "besondere Schutzbedürftigkeit des Opfers"
zum Maßstab. 42 Besondere Schutzbedürftigkeit soll danach vorliegen, wenn
jemand "durch ein gegen höchstpersönliche Rechtsgüter gerichtetes Ag-
gressionsdelikt" verletzt worden ist. 43 Nach diesem Maßstab hätte die un-
eingeschränkte Nebenklageberechtigung konsequenterweise auf versuchte
Tötung, gefährliche und schwere Körperverletzung, Geiselnahme, erhebli-
che Sexualdelikte, Raub und verwandte Tatbestände sowie schwere Entfüh-
rungsdelikte beschränkt werden müssen. Im Laufe des Gesetzgebungsver-
fahrens machten jedoch verschiedene Interessengruppen ihre Bedenken
gegen die Streichung bisheriger Nebenklageberechtigungen geltend,44 be-

42 Gesetzentwurf (Fn. 4), S. 29.


43 Gesetzentwurf (Fn. 4), S. 9.
44 Siehe etwa die schriftlichen Äußerungen inl Rahmen der öffentlichen Anhörung des
Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages zum RegE am 13.5.2009 (Fn. 35) von Bättcher
(S. 2 f.), Dälling (S. 1 f.) und Schäch (S. 2) (gegen Streichung von Beleidigung und einfacher
Körperverletzung, aber für Aufnahme von Raub, räuberischer Erpressung, Wohnungsein-
bruchsdiebstahl und räuberischem Angriff auf Kraftfahrer in den Katalog der obligatorischen
Nebenklagedelikte)~ ferner Celebi ZRP 2009, 110, 111 (gegen Streichung von Beleidigung und
Körperverletzung).
956 Thomas Weigend

sonders massiv die Vertreter der Musikindustrie,45 die um den Verlust der
Beteiligungsmöglichkeit in Strafverfahren wegen Urheberrechtsverletzun-
gen rurchteten. Manche dieser Interventionen - die zum Teil durchaus plau-
sible Gründe ins Feld ruhren konnten - hatten Erfolg. Damit präsentiert sich
aber der Katalog der Nebenklagetatbestände in § 395 Abs. 1 StPO nunmehr
erneut als ein in sich wenig konsistentes Sammelsurium, das jedenfalls nicht
auf einen gemeinsamen Grundgedanken zurückgeführt werden kann. 46 Be-
zeichnend ist insoweit die Gesetzesbegründung, die rur die Beibehaltung
der uneingeschränkten Nebenklagebefugnis bei Verletzungen geistigen
Eigentums lediglich nicht näher spezifizierte "rechtspolitische Erwägungen"
anzuruhren vermag. 47
Neben den in § 395 Abs. 1 und 2 StPO aufgeführten "geborenen" Neben-
klägern sieht das Gesetz die Kategorie der "gekorenen" Nebenkläger vor,
die die Zulassung aufgrund einer Ermessensentscheidung des Gerichts er-
langen können. War diese Möglichkeit bisher eng begrenzt auf die Opfer
fahrlässiger Körperverletzungen, so ist sie nunmehr für alle Personen geöff-
net, die durch eine rechtswidrige Tat verletzt worden sind. Als Beispiele
("insbesondere") nennt das Gesetz die Beleidigungsdelikte, den Einbruchs-
diebstahl, Raub und Räuberische Erpressung sowie - wie bisher - die Fahr-
lässige Körperverletzung. Materielle Zugangsvoraussetzung zur Nebenklage
ist nach § 395 Abs. 3 StPO das Vorliegen von "besonderen Gründen", von
denen wiederum "insbesondere" schwere Folgen der Tat beispielhaft her-
vorgehoben werden. Die klare Umsetzung eines stringenten gesetzgeberi-
schen Konzepts sieht gewiss anders aus. Auch die Gesetzesbegründung hilft
dem Anwender nicht wesentlich weiter, wenn sie die "Gesamtsituation des
Betroffenen" als maßgebliches Entscheidungskriterium definiert und als
"besondere Gesichtspunkte" einerseits "körperliche oder seelische Schäden
mit einem gewissen Grad an Erheblichkeit", andererseits den Umstand
benennt, dass "das Opfer schwere Schuldzuweisungen abzuwehren hat".48
Dass die Öffnung der Nebenklage unter diesen Umständen selbst von einem
zurückhaltenden Kommentator wie Hans Hilger als "uferlos" kritisiert
worden ist,49 kann nicht überraschen. Man kann nur hoffen, dass die Gerich-

45 Siehe die schriftliche Äußerung von Drücke im Rahmen der öffentlichen Anhörung des
Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages zum RegE am 13.5.2009 (s. Fn. 35).
46 Barton (Fn. 7), 753, 757, konstatiert, dass die Nebenklagebefugnis für die Delikte gegen
den Wettbewerb schon im Ansatz jede Bemühung, der Nebenklage ein klares Leitbild zu
verleihen, durchkreuze.
47 Bericht des Rechtsausschusses (Fn. 39), S. 22.
48 Gesetzentwurf (Fn. 4), S. 31.
49 Hilger GA 2009,657,658. Kritik auch bei Barton (Fn. 7),753,755; Bittmann ZRP 2009,
212, 214; lahn Schriftliche Äußerung im Rahmen der öffentlichen Anhörung des Rechtsaus-
schusses des Deutschen Bundestages zum RegE am 13.5.2009 (Fn. 35), S. 27 f.
Das Opfer als Prozesspartei? 957

te - nicht zuletzt im eigenen Interesse - durch einen maßvollen Umgang mit


der Möglichkeit der Zulassung von Nebenklägern nach § 395 Abs. 3 StPO
eine Überfrachtung der Strafprozesse zu verhindern wissen.

c) Zum Zweck der Nebenklage


Das konkrete Problem der Auslegung und Anwendung von § 395 Abs. 3
StPO führt zu einer tieferliegenden Frage, die bis heute noch nicht befriedi-
gend geklärt ist: die Frage nach dem Sinn und Zweck des Instituts der Ne-
benklage. Der neueren Gesetzgebung liegt ersichtlich die Vorstellung
zugrunde, dass die Möglichkeit zur aktiven Teilnahme am Strafverfahren
(nur) denjenigen Verletzten zugute kommen soll, die "besonders schutzbe-
dürftig" sind, und diese Schutzbedürftigkeit wird einerseits mit der Art der
erlittenen Straftat (Aggressionsdelikte gegen die Person),50 andererseits mit
den "schweren Folgen der Tat" (§ 395 Abs. 3 StPO) verküpft. Lassen wir
den Umstand beiseite, dass der Gesetzgeber dieses Konzept nicht konsistent
umgesetzt hat (siehe die Einbeziehung der Urheberrechtsverletzungen in
§ 395 Abs. 1 Nr. 6 StPO), und nehmen wir überdies an, dass "schwere Fol-
gen der Tat" bei erheblichen Delikten gegen die Person typischerweise
vorliegen, so dass diese "schweren Folgen" letztlich der gemeinsame Nen-
ner für die Einräumung der Nebenklagebefugnis sein mögen - dann stellen
sich immer noch verschiedene Fragen: Erstens, inwiefern folgt aus den
schweren Folgen der Tat für den Körper und die Psyche des Opfers dessen
besondere "Schutzbedürftigkeit" im Strafprozess gegen den mutmaßlichen
Täter? Zweitens, wogegen oder vor wem muss der Verletzte eigentlich
geschützt werden? Und drittens, inwiefern kann gerade das Institut der
Nebenklage diesen Schutz schaffen?
Wenn man als richtig unterstellt, dass das Institut der Nebenklage seine
Legitimation in einer Schutzfunktion findet,51 dann liegt der Schlüssel zu
ihrem Verständnis in der zweiten der oben gestellten Fragen, nämlich: wo-
gegen dem Verletzten Schutz gewährt werden soll. Die "klassische" Ant-

50 Siehe Gesetzentwurf (Fn. 4), S. 9, 29.


51 Eine historische Betrachtung liefert für diese Annahme keine Unterstützung. In der
RStPO von 1877 war die Möglichkeit, sich der öffentlichen Klage anzuschließen, nur für zwei
Fälle vorgesehen: zum einen wenn der Verletzte erfolgreich ein Klageerzwingungsverfahren
durchgeführt hatte (so heute noch § 395 Abs. 2 Nr. 2 StPO); zum anderen in dem Fall, dass die
Staatsanwaltschaft ein von einem Privatkläger angestrengtes Strafverfahren übernahm (§ 377
Abs. 2 StPO). Im letzteren Fall sollte dem Privatkläger nicht "der Stuhl vor die Tür gesetzt"
werden, sondern er sollte sich weiterhin aktiv am Verfahren beteiligen dürfen. Einen "Schutz"
des Verletzten sollte die Nebenklage also allenfalls gegenüber der Staatsanwaltschaft bewir-
ken, von der man befürchtete, dass sie das Verfahren zu nachlässig betreiben würde. Dieser
Grundgedanke ist bei den vielen "Reformen" der Nebenklage fast ganz verloren gegangen.
958 Thomas Weigend

wort hierauf hat Peter Rieß entwickelt, und sie findet sich auch in der Be-
gründung zum Opferschutzgesetz von 1986: Der Verletzte soll sich durch
die aktive Beteiligung am Verfahren davor schützen können, dass der An-
geklagte die Verantwortung fur das deliktische Geschehen dem Verletzten
zuweist und ihn als den eigentlich Schuldigen darstellt. 52 Werm dies die
ratio der Nebenklage ist, dann dürfte sich die Zulassung der Nebenklage
jedoch nicht nach der Art und Schwere der angeklagten Straftat und schon
gar nicht nach den "schweren Folgen der Tat" richten, sondern danach, in
welchem Maße der Verletzte berurchten muss, als eigentlich Verantwortli-
cher dargestellt zu werden. Ob diese Gefahr besteht, ist eine Frage des Ein-
zelfalls, so dass die im Gesetz vorgenommene Typisierung nach angeklag-
ten Straftatbeständen bereits als solche zweifelhaft ist. Wenn man trotzdem
nach Tatbeständen unterscheiden möchte, so mag eine "Rollenvertau-
schung" durch den Angeklagten bei Tötungs-, Körperverletzungs- und
Sexualdelikten wie auch bei Beleidigungsfallen (Wahrheitsbeweis) zwar
nicht in der Regel, aber doch relativ häufig vorkommen; beim Einbruchs-
diebstahl oder beim Raub (die als Beispielsfalle für besondere Schutzbe-
dürftigkeit des Opfers in § 395 Abs. 3 StPO hervorgehoben sind) dürfte
dergleichen aber kaum zu berurchten sein. Der Tatbestandskatalog nach
dem Opferschutzgesetz von 1986 ließ sich also (mit Ausnahme der Urhe-
berrechtsverletzungen) noch mit einiger Mühe auf den Grundgedanken des
Schutzes des Opfers vor ungerechtfertigten Angriffen zurückfuhren; bei
demjenigen des 2. OpferRRG, insbesondere bei § 395 Abs. 3 StPO n.F., ist
das nicht mehr der Fall.
Es ist deshalb zu vermuten, dass der Gesetzgeber des 2. OpferRRG die
Zweckrichtung der Nebenklage stillschweigend verändert hat. Die Orientie-
rung an der Schwere der Tat, insbesondere an den "schweren Folgen" deutet
darauf hin, dass der Katalog der Nebenklagebefugnisse nicht mehr auf Ver-
teidigungs-, sondern auf Angriffsbedürfnissen des Verletzten basiert. In
diesem Zusammenhang wird in jüngerer Zeit häufig die "Genugtuung" des
Opfers als Ziel seiner Beteiligung als Nebenkläger genannt. 53 Wer schwer

52 Rieß Gutachten C zum 55. DJT 1984, Rn. 120; BT-Drs. 1015305, S. 11; siehe auch bereits
Schöch (Fn. 23), 385, 388, der die Nebenklage als "das wirkungsvollste Instrument für den
Persänlichkeitsschutz des Verletzten" bezeichnet. Eingehend und instruktiv zur Abwehrfunkti-
on der Nebenklage Altenhain JZ 2001, 791, 795 f Siehe auch die Begründung zu § 395 Abs. 3
StPO n.F. im Gesetzentwurf (Fn. 4), S. 31: Ein "besonderer Grund" liege vor, "wenn das Opfer
schwere Schuldzuweisungen abzuwehren hat".
53 Siehe etwa Barton (Fn. 7), 753, 758; Dölling FS Jung, 2007, S. 77, 84 (sowohl Abwehr
von Schuldzuweisungen als auch Verfolgung des Interesses an Unrechtsfeststellung und Ge-
nugtuung); Hol:: Justizgewähranspruch des Verbrechensopfers, 2007, S. 148 f, 152. Siehe
allgemein zur Renaissance des Genugtuungsgedankens Weigend Rechtswissenschaft 2010, 32
(speziell zum Strafverfahren 47 ff).
Das Opfer als Prozesspartei? 959

durch eine Straftat betroffen ist - so ließe sich der Grundgedanke der aktu-
ellen Gesetzgebung vielleicht formulieren -, der hat einen berechtigten
Anspruch darauf, durch seine Verfahrensbeteiligung dafür sorgen zu kön-
nen, dass "sein" Täter verurteilt und ausreichend bestraft wird. Mit dieser
Aussage lässt sich die Ausgestaltung von § 395 Abs. 3 StPO zwanglos ver-
einbaren; die "besondere Schutzbedürftigkeit" des Verletzten in diesem
Sinne ergäbe sich ohne weiteres aus seiner starken Beeinträchtigung durch
die Tat, die als proportional zu seinem Genugtuungsbedürfnis verstanden
wird.
Nun wäre es sicher nicht richtig, den Wunsch von Deliktsopfern nach
einer angemessenen Sanktionierung des Schuldigen als atavistisch zur Seite
zu schieben und für rechtlich irrelevant zu erklären. 54 Der Verletzte - jeder
Verletzte, nicht nur derjenige, dem besonders Schlimmes widerfahren ist -
kann verlangen, dass sein Schicksal nicht marginalisiert wird, sondern dass
anerkannt wird, dass ihm Unrecht zugefügt wurde. Dass diese Anerkennung
förmlich in einem staatlichen Strafurteil erfolgen muss, ist damit allerdings
noch nicht gesagt; ob dies der Fall ist, hängt von verschiedenen zusätzlichen
Voraussetzungen ab, und die Schwere der Tat spielt dabei gewiss eine Rol-
le. 55 Es wäre jedoch verfehlt, das Bedürfnis des Verletzten, durch Verurtei-
lung und Bestrafung des Täters einen Ausgleich für das eigene Leid zu
erhalten, in eine aktive prozessuale Position der (oder mancher) Opfer um-
zumünzen. Denn zum einen steht bis zum Abschluss des Verfahrens noch
gar nicht fest, ob der Verletzte Genugtuung durch die Verurteilung dieses
Angeklagten verlangen kann; zum anderen dient es einer gleichmäßigen
und rational gesteuerten Strafrechtspflege, die Einleitung, Durchführung
und Gestaltung eines Strafverfahrens nicht von den individuellen Wünschen
und Bedürfnissen einzelner Privatpersonen abhängig zu machen. 56 Deshalb
würde eine Neu-Orientierung der Nebenklagebefugnis an der Leitlinie der
jeweiligen Stärke des Genugtuungsbedürfnisses in eine falsche Richtung
führen. 57 Soweit eine solche Absicht (unausgesprochen) der Neufassung

54 Zutr. Hassemer/Reemtsma Verbrechensopfer, Gesetz und Gerechtigkeit, 2002, S. 122 f;


scharf ablehnend dagegen Schünemann (Fn. 9), 193, 197 (Genugtuungsbedürfnis sei nichts
anderes als ein Rache-Instinkt).
55 Eine Erklärung der Minimalanspruche des Verletzten aufgrund des allgemeinen Persön-
lichkeitsrechts findet sich bei Weigend (Fn. 53), S. 44 ff Siehe auch die eingehende Diskussion
bei Hörnte 1Z 2006, 950, 955 f
56 Siehe Bung (Fn. 10), 430, 437: "Das Entscheidende ist, daß der Träger des Strafverfol-
gungsanspruchs aus Gründen einer intrinsischen Zivilität, Rationalität und Fairness des Verfah-
rens nicht der Verletzte selbst sein kann." In der Sache übereinstimmend Eckstein FS F.-C.
Schroeder, 2006, S. 777, 796.
57 Es ist im Übrigen zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die (für den Staat ver-
gleichsweise kostengünstige) Gewährung von Verfahrensrechten für den Verletzten nicht als
Ersatz dafür dienen kann und sollte, dass sich der Staat effektiv der tatsächlich vordringlichen
960 Thomas Weigend

von § 395 Abs. 3 StPO zugrunde liegt, ist dies zu bedauern; jedenfalls soll-
ten sich die Gerichte bei der Frage nach "besonderen Gründen" für eine
Zulassung der Nebenklage nicht am Maß des Sanktionierungsinteresses des
Verletzten, sondern an seinem etwa verstärkten Bedürfnis orientieren,
(Mit-)Schuldvorwürfen seitens des Angeklagten entgegenzutreten.

11. Ein Paradigmawechsel?


Nach diesem Schnelldurchgang durch die wesentlichen Neuregelungen,
die das 2. OpferRRG gebracht hat, können wir uns abschließend erneut der
Frage zuwenden, ob dieses Gesetz tatsächlich, wie Jochen Bung formuliert
hat, zu einer "Entfesselung der Nebenklage" gefuhrt hat, die einen "Para-
digmenwechsel im Strafverfahren" markiere, 58 oder ob es die "Aufpropfung
eines vom Verletzten geführten Parteiverfahrens auf den staatlichen Straf-
prozess"59 gebracht hat. Matthias Jahn sieht sogar "die Errungenschaft der
Aufklärung in Form eines genuin staatlichen Strafanspruchs bedroht" und
das Ziel einer "rationalen Konfliktverarbeitung" im Strafverfahren er-
schwert, wenn nicht vereitelt. 60
Hält man sich die zwar zahlreichen, aber doch im einzelnen wie auch in
der Summe eher bescheidenen Veränderungen, die das 2. OpferRRG ent-
hält, vor Augen, so vermag man eine Grundlage fur solche Kassandra-Rufe
nicht recht zu erkennen. Richtig ist, dass die Möglichkeit, sich dem Verfah-
ren als Nebenkläger anzuschließen, durch die Neufassung von § 395 Abs. 3
StPO von einer einigermaßen bunt zusammengewürfelten Gruppe von Ver-
letzten potentiell auf alle individuellen Opfer von Straftaten ausgedehnt
worden ist und dass die wahrscheinlich hinter dieser Änderung stehende
Motivation - wie oben dargelegt - auf einem zweifelhaften Verständnis von
der ratio der Nebenklage beruht. Das ist aber noch keine strafprozessuale
Revolution. Wenn darauf hingewiesen wird, dass der Verletzte als Neben-
kläger "aus eigenem Recht gleichwertig neben den Staat als Ankläger"
trete,61 dann hat das geringen Neuigkeitswert - diese Stellung hat der Ne-

ProbleIne des Verletzten etwa bei der Traumabewältigung annimmt; siehe Bung (Fn. 10), 430,
432; Höynck in: Barton (Hrsg.), Verfahrensgerechtigkeit und Zeugenbeweis, 2002, S. 233,238;
Prittwitz in: Schünemann/Dubber (Hrsg.), Die Stellung des Opfers itn Strafrechtssystem, 2000,
S. 51,62 f.
58 Bung (Fn. 10), 430, 435.
59 So Schünemann (Fn. 1O)~ 484 f. Auch Barton (Fn. 7), 753 nimmt an, dass der Gesetzgeber
mit dem 2. OpferRRG "eine neue Partei im Strafverfahren geschaffen" habe.
60 Jahn Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des
Deutschen Bundestages zum RegE am 13.5.2009, S. 29 f. (Fn. 35).
61 Jahn (Fn. 60), S. 29.
Das Opfer als Prozesspartei? 961

benkläger seit eh und je gehabt, und das 2. OpferRRG hat dies durch die
Neufassung von § 397 StPO allenfalls optisch deutlicher hervortreten las-
sen. Auch rür die Einführung eines "Parteiverfahrens" vermag ich keine
Anzeichen zu erkennen. Man mag den Nebenkläger, obwohl er ja erst nach
der Anklageerhebung und damit relativ spät in das Strafverfahren eintreten
kann, aufgrund seiner weitreichenden Mitwirkungsbefugnisse in materiel-
lem Sinne als Prozesspartei verstehen; das Verfahren bleibt aber (auch und
gerade im Zeitalter der Absprachen) durch das Gericht gesteuert, und der
Nebenkläger kann allenfalls - wie bisher - durch Fragen, Anträge und unter
bestimmten Voraussetzungen durch Rechtsmittel auf das Verfahren Einfluss
nehmen. Ein Parteiprozess zwischen Angeklagtem und Verletztem müsste
ganz anders ausgestaltet sein.
Tatsächlich reiht sich das 2. OpferRRG in die lange Liste der strafrechtli-
chen und strafprozessrechtlichen Gesetzesnovellen der letzten beiden Jahr-
zehnte ein, die den Ehrgeiz zur technischen Perfektion mit manchmal wol-
kiger Sprache und einem deutlichen Mangel an theoretischer Fundierung
verbinden. Die Strafprozessordnung wird einmal mehr technokratisch auf-
gebläht, um den Wünschen der rechtspolitisch ersichtlich sehr mächtigen
Opferverbände 62 Rechnung zu tragen - woran es fehlt, ist aber nach wie vor
eine klare und theoretisch reflektierte Vorstellung des Gesetzgebers davon,
welche Position der Verletzte im Strafverfahren haben sollte.

62 Immer wieder wird in der Begründung des Gesetzentwurfs (Fn. 4 - etwa S. 10, 11, 29, 31,
32, 33, 38) hervorgehoben, dass die vorgeschlagenen Regelungen auf den Wünschen von
(anonym bleibenden) "Opferschutzverbänden" beruhten - als ob dies allein schon eine hinrei-
chende Begründung für eine Gesetzesänderung wäre.
Schuldspruchersetzung - Berichtigung oder
Benachteiligung?
Der Austausch der Straftatbestände im Urteilstenor durch
das Revisionsgericht unter Aufrechterhaltung des
Strafausspruchs *

WERNER BEULKE

I. Einleitung

"Der Strafausspruch verfällt der Aufhebung, soweit der Schuldspruch


aufgehoben ist, und zwar schon aus dem formalen Grunde, dass ein Ur-
teilstenor ohne Schuldspruch ein Unding ist. Innerlich begründet ist die
Aufhebung des Strafausspruchs dadurch, dass er von einem Rechtsfehler
des Verfahrens oder des Schuldspruchs berührt ist".
Wer die Spruchpraxis unserer deutschen Revisionsgerichte in Strafsachen
in den letzten Jahren verfolgt hat, dürfte diese Worte des früheren Senats-
präsidenten und Richters beim Obersten Gerichtshof der Britischen Zone,
August Wimmer, als Relikte einer längst versunkenen Zeit empfinden. 1 Dies
liegt sicherlich nicht nur daran, dass sich im Bereich der Sachentschei-
dungskompetenzen des Revisionsgerichts seit den Gründungsjahren der
Bundesrepublik Vieles verändert hat. Zum einen hält man es heute allge-
mein für zulässig, wenn der Schuldspruch durch das Revisionsgericht "be-
richtigt" wird. 2 Gesetzliche Grundlage und mögliche Grenzen dieser Befug-
nis sind aber nach wie vor klärungsbedürftig. Zum anderen hat sich die
Strafzumessung mittlerweile von einer eher tatsachengebundenen in eine
rechtlich durchdrungene - und zugleich durch die Revisionsinstanz in Teil-
bereichen überprüfbare - Materie gewandelt. 3 Die Kompetenz zur Strafzu-

* Für die Mithilfe an diesem Beitrag bedanke ich mich bei meinem wissenschaftlichen Mit-
arbeiter Dr. Benedikt Edlbauer.
1 Wimmer MDR 1948,69,72.
2 Vgl. hier nur SK-Wohlers, 47. Lieferung 2006, § 354 Rn 1 u. 28 ff.
3 Vgl. Steinmetz Sachentscheidungskompetenzen des Revisionsgerichts in Strafsachen
(§ 354 Abs. 1 StPO), 1997, S. 214 ff.
964 Werner Beulke

messung obliegt inzwischen also nicht mehr ausschließlich dem Tatrichter,


der dies bis vor wenigen Jahrzehnten noch als Kernbereich seiner Zustän-
digkeit, ja als seine "Domäne"4, ansehen durfte. Auf der Suche nach den
Triebfedern dieser Entwicklung stößt man unter anderem auch auf die im
Schrifttum überwiegend kritisch aufgenommene Erweiterung des § 354
StPO um die Absätze la und Ib durch das Justizmodernisierungsgesetz im
Jahr 2004. Die zwischenzeitlich getroffenen revisionsgerichtlichen Ent-
scheidungen spiegeln insgesamt die unverkennbare Tendenz wider, unter
dem Mantra der Prozessökonomie und anstelle der nach wie vor zumindest
als Regelungskern anerkannten Zurückverweisung an das Tatgericht nach
§ 354 Abs. 2 StPO unmittelbar "durchzuentscheiden".5 Andererseits waren
die Verfassungsrichter mit der fraglichen Rechtsmaterie mittlerweile schon
so häufig befasst, dass sich ein regelrechtes Spannungsdreieck zwischen
Bundesgerichtshof, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber aufgebaut
hat, aus dessen Existenz sich die geltende Rechtslage erst erklärt.
Das Anliegen dieses Beitrags ist es, den so viel gepriesenen Vorzug einer
raschen Verfahrenserledigung in der Revisionsinstanz aus Sicht des Revisi-
onsführers kritisch zu beleuchten. Ihm steht nämlich unzweifelhaft ein
Recht auf sachgemäße Strafverteidigung sowie auf eine gerechte, tatsäch-
lich dem Einzelfall angemessene Strafzumessung zu. Um den vorgegebenen
Rahmen dabei nicht zu überschreiten, soll in erster Linie ein bestimmter
Ausschnitt der Problematik untersucht werden, nämlich inwiefern eine
Ersetzung des Straftatbestands im Schuldspruch durch die Revisionsinstanz
(dazu 11.) unter Beibehaltung der Rechtsfolgenentscheidung (dazu 111.) mit
einfachem und höherrangigem Recht vereinbar ist. Diese Entscheidungsva-
riante wird hier und im Folgenden kurz als Schuldspruchersetzung bezeich-
net. 6 Sie bietet schon deshalb einen geeigneten Untersuchungsgegenstand,
weil sie aufgrund ihrer statistischen Häufigkeit als typischer Fall einer eige-
nen Sachentscheidung des Revisionsgerichts gilt. 7 Zugleich sind die Folgen
dieser Entscheidungsvariante für den Angeklagten einschneidend: Obwohl
er mit seinen materiellrechtlichen Einwänden durchdringt, erreicht er doch
keine mildere Strafe. 8

4 VgI. auch Hamm StV 2008,205.


5 Diese Formulierung ist allgemein gebräuchlich - vgI. etwa Berenbrink GA 2008, 626~ Sen-
ge StraFo 2006, 309~ abI. aber Meyer-Goßner GS Schlüchter, 2002, S. 515, 516.
6 Im Folgenden wird vereinfachend auf den Fall einer einzigen verwirklichten Strafnorm
abgestellt, die in der Revisionsinstanz ausgewechselt wird~ zu den anderen Fällen vgI. etwa
19nor FS Dahs, 2005, S. 287 ff.~ Steinmet= (Fn. 3), S. 118 ff.
7 VgI. die Fallstudien von Barton Die Revisionsrechtsprechung des BGH in Strafsachen,
1999, S. 224 ff. und Junker Die Ausdehnung der eigenen Sachentscheidung in der strafrechtli-
chen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, 2001, S. 14 f. u. 34 ff.
8 VgI. Barton (Fn. 7), S. 230~ 19nor (Fn. 6), S. 287 ("enttäuschendste" Variante).
Schuldspruchersetzung - Berichtigung oder Benachteiligung? 965

Ich hoffe, dass ich mit meinen Überlegungen auch auf das wohlwollende
Interesse unseres verehrten Jubilars Heinz Schöch stoße, der sich ja gerade
um die klassische tatrichterliche Domäne der Strafzumessung als ausgewie-
sener Experte so verdient gemacht hat 9 .

11. Die Kompetenz zur Schuldspruchänderung


1. § 354 Abs. 1 StPO als Rechtsgrundlage
Den richtigen Ausgangspunkt für eine Suche nach Grund und Grenzen
revisionsgerichtlicher Entscheidungsbefugnis bildet sicherlich die Systema-
tik der § 354 Abs. 1 und 2 StPO. Aus deren Zusammenspiel ergibt sich
zunächst, dass eine Sache prinzipiell ("in anderen Fällen") nach Aufhebung
des angegriffenen Urteils zur Neuverhandlung an die unteren Instanzen
zurückverwiesen werden muss. lO Eine ausdrückliche Ausnahme sieht das
Gesetz im ersten Normabsatz fur den Fall vor, dass ohne Änderung der
tatsächlichen Feststellung nur auf Freisprechung, Einstellung oder eine
absolut bestimmte Strafe zu erkennen ist. Über den Wortlaut dieser Passage
hinaus erweitert die Rechtsprechung den Normanwendungsbereich aber
auch auf Fälle, in denen eine direkte Veränderung des Schuldspruchs in
Betracht kommt, da die festgestellten Tatsachen nach wie vor zutreffend
erscheinen, während die Sachrüge aufgrund der im Urteil enthaltenen mate-
riellrechtlichen Fehler durchgreift. 11 Diese Gestaltungsmacht misst sich das
Revisionsgericht auch in der Unterfallgruppe der gänzlichen Schuldspruch-
ersetzung zu. Hier ist allein die fehlerhafte Subsumtion der nach wie vor
gültigen Tatsachenfeststellungen unter eine bestimmte Strafnorm zu be-
mängeln, die jedenfalls dazu führen muss, dass das Urteil keinen Bestand
haben kann. Zugleich sieht das Revisionsgericht allerdings einen anderen
Tatbestand des Strafgesetzbuchs vor dem Hintergrund des Urteilssachver-
halts als erfüllt an. Man denke beispielsweise an den Fall, dass der Ange-
klagte Waren aus dem Kaufhaus an der Kasse vorbeigeschmuggelt hat und
in der Vorinstanz wegen Betrugs verurteilt wurde, wohingegen das Revisi-
onsgericht die Tat als Diebstahl bewertet.
Grundsätzlich bejaht der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung
die Sachentscheidungskompetenz des Revisionsgerichts also auch in diesen
Fällen - von möglichen Einschränkungen, insbesondere wegen § 265 StPO,
wird noch zu reden sein - und stützt sich dabei auf eine Analogie zu § 354

9 Vgl. schon Schäch Strafzumessungspraxis und Verkehrsdelinquenz, 1973.


10 Kritisch bereits F. Geerds JZ 1968, 390~ Hanack StV 1993, 64 f.
11 Vgl. beispielsweise BGH NJW 1997, 138, 140~ Frisch StV 2006, 431 m. w. N.
966 Werner Beulke

Abs. 1 StPO. 12 Für diese Rechtsansicht lässt sich zweifelsohne anführen,


dass das materiell-strafrechtliche Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG
im Verfahrensrecht nicht in gleicher Strenge eingreift. 13 Überdies verweisen
die Berurworter dieser Kompetenzzuweisung gern auf die Verfahrensöko-
nomie und den Beschleunigungsgrundsatz. 14 Gleichwohl entbindet weder
das Entfallen der strafrechtsspezifischen Bestimmtheitsanforderungen von
einer Prüfung der allgemeinen Analogievoraussetzungen noch das Interesse
an einer zügigen Verfahrensdurchführung von der Einhaltung rechtsstaatli-
cher Vorgaben. 15 Diese Fragen sind selbst dann notwendigerweise vorab zu
berücksichtigen, wenn man im Ergebnis eine echte Rechtspflicht des Revi-
sionsgerichts zur eigenen Sachentscheidung anerkennt. 16 Nicht zu Unrecht
äußert eine verbreitete Ansicht im Schrifttum jedoch bereits Zweifel am
Bestehen einer planwidrigen Regelungslücke. 17 Die schon angesprochene
Neufassung der Vorschrift durch das Justizmodemisierungsgesetz 2004 hat
einen überaus differenzierten Regelungskomplex geschaffen, der eine eige-
ne Entscheidung des Revisionsgerichts zum Rechtsfolgenausspruch "behut-
sam" vereinfachen sollte. 18 Obwohl eine Fixierung der schon bisher im
Wege der richterlichen Rechtsfortbildung praktizierten erweiternden Ausle-
gung des § 354 Abs. 1 StPO nahe lag, ist eine Änderung in diesem Punkt
letztlich unterblieben. 19 Es erscheint deshalb allenfalls noch als Übergangs-
lösung hinnehmbar, wenn man über die Hürde einer in diesem Punkt be-
wusst fragmentarisch gebliebenen Gesetzesfassung großzügig unter Hin-
weis auf die Bedürfnisse der Praxis hinweggeht. Eine Präzisierung des
§ 354 Abs. 1 StPO durch die Legislative wäre im Interesse der Rechtsklar-
heit weiterhin sehr wünschenswert. 2o

12 Vgl. zu dieser Praxis Meyer-Goßner (Fn. 5), S. 515, 523; SK-Wohlers (Fn. 2), § 354
Rn. 28; bestätigt durch BVerfG Beschluss vom 1.3.2000 - 2 BvR 2049/99; s. a; BVerfGE 6,
45,50 f.
13 Vgl. BVerfG NJW 2007, 2977, 2982 u. bereits Bode Die Entscheidung des Revisionsge-
richts in der Sache selbst, 1958, S. 9 ff.
14 Vgl. etwa Senge (Fn. 5)~ 310.
15 Kritisch auch Dehne-Niemann ZIS 2008,239,245; Ignor (Fn. 6), S. 297.
16 Vgl. Meyer-Goßner (Fn. 5), S. 519.
17 Berenbrink GA 2008, 632 ff.; Steinmet= (Fn. 3), S. 360 ff.; Barton (Fn. 7), S. 230 f.
18 Vgl. BT-Drs. 15/3482, S. 21 f.
19 Vgl. 'auch Gaede GA 2008,395.
20 Vgl. auch die Überlegungen zur Neuregelung bei Junker (Fn. 7), S. 151 ff.; anders Wal-
baum Schuldspruch in der Revisionsinstanz nach freisprechendem Urteil des Tatgerichts, 1994,
S. 25 ff., 37.
Schuldspruchersetzung - Berichtigung oder Benachteiligung? 967

2. Grenzen der Schuldspruchänderung


Bejaht man im Grundsatz die Kompetenz zu einer solchen, häufig etwas
euphemistisch als Schuldspruchberichtigung bezeichneten, eigenen Sach-
entscheidung, stellt sich die Frage nach deren weiteren Voraussetzungen. Es
entspricht einer weit verbreiteten Literaturmeinung, dass sie zumindest in
bestimmten Konstellationen, zum Beispiel bei Verurteilung durch das Revi-
sionsgericht nach einem Freispruch in der Tatsacheninstanz,21 doch ausge-
schlossen bleiben soll.22 In diesem Beitrag soll das Augenmerk aber vor-
nehmlich auf die bisher noch nicht abschließend geklärte Frage gerichtet
werden, inwieweit die Interessen des Angeklagten von der "Durchentschei-
dung" des Revisionsgerichts beeinträchtigt und ob seine Verteidigungsmög-
lichkeiten dadurch reduziert werden.

a) Qualitative und quantitative Schuldspruchersetzung


Als Richtschnur für die Zulässigkeit einer Schuldspruchersetzung bietet
sich zunächst das Verbot der reformatio in peius gemäß § 358 Abs. 2 StPO
an. Es gilt als gesetzliche Kompetenzbeschränkung in den Fällen, in denen
die Revision nicht (auch) zuungunsten des Angeklagten erfolgreich ange-
strengt wird. 23 An der Platzierung quantitativ schwerer wiegender Delikte -
zum Beispiel Raub statt Diebstahl - oder qualitativ andersartiger Straftatbe-
stände - zum Beispiel Totschlag statt Vergewaltigung - im Schuldspruch
sieht sich die Rechtsprechung durch dieses Prinzip aber nicht gehindert. 24
Sie reduziert das Verschlechterungsverbot nämlich strikt auf den Rechtsfol-
genausspruch, da es dem Angeklagten immerhin freistehe, sein Rechtsmittel
zu beschränken und dadurch eine Verschärfung des Schuldspruchs auszu-
schließen. 25 Dies leuchtet jedenfalls ein, wenn das Revisionsgericht die
tenorierte Strafnorm durch eine wesensmäßig andere ersetzt. Allerdings
wirkt diese Sichtweise etwas formalistisch, wenn das neue Delikt sich vor
allem durch einen deutlich höheren Strafrahmen unterscheidet. Auch der
Bundesgerichtshof versucht die damit verbundene Diskrepanz zu kaschie-
ren, indem er bei nicht nur geringfügigen Verschiebungen des Strafrahmens

21 Vgl. Meyer-Goßner StPO, 52. Autl. 2009, § 354 Rn. 23; KMR-Momsen, 2009, § 354
Rn 19 f; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 26. Autl. 2009, § 55 Rn. 75, a.A. zum Teil
die (ältere) Rechtsprechung: vgl. nur BGHSt 3, 73, 76; OLG Hamburg NJW 1962, 754.
22 Zu den zahlreichen Problemfällen: 19nor (Fn. 6), S. 281; PasterlSättele NStZ 2007,609,
615 f
23 Vgl. §§ 296 Abs. 2, 301 StPO.
24 Vgl. zu dieser Differenzierung Batereau Die Schuldspruchberichtigung, 1971, S. 20 ff;
KMR-Momsen (Fn. 21), § 354 Rn. 18.
25 Vgl. BGHSt 37, 5, 8 f; 21, 256, 259 f; KK-Kuckein, 6. Autl. 2008, § 358 Rn. 18; SK-
Wohlers (Fn. 2), § 354 Rn. 33.
968 Werner Beulke

infolge der Auswechslung des Straftatbestands zumeist von einer Rechts-


folgenentscheidung ganz absieht und zurückverweist. 26
Eine vereinheitlichende Auslegung des materiellen Strafrechts unter der
Ägide der Revisionsgerichte kann jedenfalls bei nicht nur zugunsten des
Angeklagten eingelegten Revisionen zu Härtefällen fuhren, die sich in ei-
nem deutlich schwerwiegenderen Schuldspruch nach Rechtsmittelgebrauch
ausdrücken. Umso mehr ist aber darauf zu achten, dass die Verteidigungs-
möglichkeiten des Angeklagten gegen den neu aufgeworfenen Straftatbe-
stand, der immerhin erst auf der letzten Stufe des Instanzenzugs in das Ver-
fahren einbezogen wurde, gewahrt bleiben. Diese Problematik gewinnt fur
die Zulässigkeit der Schuldspruchänderung in der Revisionsinstanz ent-
scheidende Bedeutung. 27 Insbesondere bei komplexen Sachverhalten, etwa
in Wirtschaftsstrafsachen, begründet eine Schuldspruchauswechslung in der
Revisionsinstanz die Notwendigkeit einer gravierenden Umstrukturierung
der Verteidigung. Würde ihr eine solche Reaktionsmöglichkeit entzogen,
müsste sich der Gewinn an Verfahrensökonomie für den Rechtsstaat jeden-
falls als Pyrrhussieg erweisen.

b) Prozessuale Tat und Hinweispflicht


Ein bekanntes, jedoch nicht zu unterschätzendes Risiko rur eine fachge-
rechte Strafverteidigung birgt die Unschärfe des prozessualen Tatbegriffs
nach § 264 StPO. Denn die durch Eröffnungsbeschluss zugelassene Ankla-
ge bildet grundsätzlich jene nicht randscharf definierbare Tatsachengrund-
lage, auf der das Tatgericht ebenso wie das Revisionsgericht seine sachlich-
rechtlichen Subsumtionsschlüsse zieht.28 Der Tatbegriff markiert damit
zugleich die äußere Grenze des Sachverhalts, auf dessen Grundlage ein
Schuldspruch zunächst ansetzen und im weiteren Verfahren auch ausge-
tauscht werden kann. Wo diese Grenze um das "konkrete Vorkommnis"29
bzw. den einheitlichen historischen Vorgang 30 , der das gesamte Täterverhal-
ten umspannt, im Einzelfall genau verläuft, soll hier allerdings nicht vertieft
werden. Das Gesetz sieht nämlich in Reaktion auf diese Problematik selbst
ein wirksames Gegengewicht vor, dass die Position der Verteidigung trotz
etwaiger Unschärfen des prozessualen Tatbegriffs und der damit verbunde-

26 Vertiefend KK-Kuckein (Fn. 25), § 358 Rn. 18~ vgl. auch DahslDahs Die Revision im
Strafprozess, 7. Aufl. 2008, Rn. 580.
27 Vgl. bereits Batereau (Fn. 24), S. 43 ff.~ Hanack (Fn. 10), 64~ Überblick zum Meinungs-
bild bei Walbaum (Fn. 20), S 55 ff.
28 Vgl. dazu etwa Beulke Strafprozessrecht, 11. Aufl. 2010, Rn. 513~ Volk Grundkurs StPO,
6. Aufl. 2008, § 13 Rn. 2 f.
29 BGHSt 22,275,385.
30 BGH NStZ 2006, 350.
Schuldspruchersetzung - Berichtigung oder Benachteiligung? 969

nen Ungewissheit über die Rechtsansicht des Gerichts wieder austarieren


soll. § 265 StPO beinhaltet eine Hinweispflicht speziell für die Fälle, in
denen das Tatgericht noch innerhalb des angeklagten Lebenssachverhalts zu
anderen rechtlichen Bewertungen gelangt. Die Vorschrift ermöglicht der
Verteidigung die notwendige Neuausrichtung in Bezug auf die aktuelle
Einschätzung des Gerichts zur Strafbarkeit des Angeklagten (vgl. auch
Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK)31. Doch damit nicht genug: Die Unterrichtungs-
pflicht erstreckt sich auch auf die Verteidigung in tatsächlicher Hinsicht. So
soll es dem Angeklagten mit Rücksicht auf die umfassende gerichtliche
Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO insbesondere möglich sein, sich
zur veränderten Rechtslage erneut einzulassen und weitere Beweise anzutre-
ten. 32 Der Strafprozessordnung gelingt es in § 265 StPO, die gerichtliche
Fürsorge- und Sachaufklärungspflicht33 ebenso wie das Recht auf sachge-
rechte Strafverteidigung zu konkretisieren und damit den Angeklagten wir-
kungsvoll vor allzu überraschenden Vorwürfen aus dem jenseits der Ankla-
ge liegenden Halbdunkel des prozessualen Tatbegriffs zu schützen.

c) Auswirkung des § 265 StPO auf die Revisionsinstanz


Dieser Schutzzweck gilt in der Revisionsinstanz unvermindert fort, wo
§ 265 StPO gleichermaßen anzuwenden ist. Allerdings kann das Revisions-
gericht nicht einfach selbst den nötigen Hinweis erteilen, wenn seiner An-
sicht nach der Schuldspruch des aufzuhebenden Urteils ersetzt werden
muss. Die tatsächliche und rechtliche Neuausrichtung der Verteidigung
ermöglicht der Hinweis schließlich nur im Rahmen einer Tatsacheninstanz.
Deshalb muss das Revisionsgericht den Rechtsstreit zur Erteilung des Hin-
weises eigentlich zurückverweisen. 34
Diese unliebsame Schlussfolgerung will die Rechtsprechung aber häufig
nicht ziehen. 35 Der Hintergrund ihrer Zurückhaltung dürfte sein, dass man
dies als allzu umständlich empfindet. Um die Klippe des § 265 StPO zu
umschiffen, deklariert der Bundesgerichtshof eine Zurückverweisung in die
Tatsacheninstanz zur Hinweiserteilung in aller Regel als überflüssig, da es
ausgeschlossen erscheine, dass der Angeklagte sich anders oder erfolgrei-
cher verteidigen würde, wenn er vom Tatrichter gemäß § 265 StPO belehrt

31 Vgl. KK-Meyer-Ladewig (Fn. 25), Art. 6 EMRK Rn. 90.


32 Vgl. LR-Hanack, 25. Aufl. 1998, § 354 Rn. 20~ SarstedtlHamm Die Revision in Strafsa-
chen, 6. Aufl. 1998, Rn. 1049 ff.
33 Vgl. etwa Pfeif/er StPO, 5. Aufl. 2005, § 265 Rn. 1.
34 Vgl. SK-Wohlers (Fn. 2), § 354 Rn. 32.
35 Vgl. etwa BGH NJW 2009, 863, 866~ BGH NJW 2006,1822,1824.
970 Werner Beulke

würde. Dies könne das Revisionsgericht im Übrigen selbst (!) beurteilen. 36


Diese Haltung haben Teile des Schrifttums zu Recht stark kritisiert, zumal
sie die Schlüsselfunktion des § 265 StPO durch eine gespaltene Anwendung
in Tatsachen- und Revisionsinstanz erheblich schwächt. 37 Während der
Tatrichter bei Missachtung der Hinweispflicht eine Verfahrensrüge befürch-
ten muss, bahnt sich das Revisionsgericht unter eigener Bewertung der
Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten gesetzlich nicht vorgesehene
Wege für seine Entscheidungsfindung. Dadurch wird das Recht auf sach-
gemäße Strafverteidigung, eine Ausprägung des fairen Verfahrens, gleich in
doppelter Hinsicht verkürzt. 38 Zum einen verliert § 265 StPO in der Revisi-
onsinstanz seine bereits dargestellte kompensatorische Wirkung für dieses
Recht, die ihm das Gesetz in der Grauzone zwischen zugelassener Anklage
und Nachtragsanklage gemäß § 266 StPO zuweist. Zum anderen setzt das
Gericht seine Beurteilung der Verteidigungschancen an die Stelle der maß-
geblichen Sichtweise des Angeklagten. 39 Soweit man diesen Eingriff abmil-
dern will, indem man dem Revisionsgericht zusätzlich die Befugnis ein-
räumt, sich durch einen Hinweis auf seine Rechtsansicht nach § 265 StPO
analog Klarheit über die weiteren Verteidigungsoptionen zu verschaffen, ist
dies abzulehnen. 4o Auch diese Hilfskonstruktion schafft kein echtes Äquiva-
lent fur die unterbliebene Zurückverweisung; sie ändert nichts daran, dass
der Verteidigung die Möglichkeit zu einer von den Einschätzungen des
Gerichts unabhängigen Reaktion auf den neuen Vorwurf verwehrt wird.
Damit wäre die subkutane Umwandlung des Revisionsverfahrens in eine
"verkürzte Berufungsinstanz"41 tatsächlich ein gutes Stück weiter fortge-
schritten.
Eine Bewertung der Verteidigungsmöglichkeiten durch das Revisionsge-
richt steht im offenen Widerspruch zu einer eigenverantwortlich geleiteten
Strafverteidigung, die der organschaftlichen Rolle des Strafverteidigers im
System der Rechtspflege entspricht. Der Bundesgerichtshof hat dies selbst
im Zusammenhang mit dem Akteneinsichtsrecht der Verteidigung deutlich
zum Ausdruck gebracht: 42 "Dem Fairnessgrundsatz würde es widerspre-
chen, der Verteidigung die Kenntnis von Aktenbestandteilen zu verweigern,

36 So auch eine verbreitete Literaturansicht: Meyer-Goßner (Fn. 21), § 354 Rn. 16; KMR-
Momsen (Fn. 21), § 354 Rn. 17.
37 Vgl. AK-Maiwald, 1996, § 354 Rn. 16 f.; Roxin/Schünemann (Fn. 21), § 55 Rn. 74.
38 Vgl. KK-Engelhardt (Fn. 25), § 265 Rn 1.
39 Vgl. EisenberglHaeseler StraFo 2005, 222.
40 Vgl. Steinmet= (Fn. 3), S. 99 ff.; Roxin/Schünemann (Fn. 21), § 55 Rn. 74~ s. aber auch
LR-Hanack (Fn. 32), § 354 Rn. 20 a.E.
41 Hanack (Fn. 10),65.
42 BGHSt 52, 58, 64 (die kursiven Hervorhebungen sind nachträglich durch den Verfasser
vorgenommen worden.)~ deutlich bereits BGHSt 37,204,206.
Schuldspruchersetzung - Berichtigung oder Benachteiligung? 971

die einen Bezug zu dem Verfahren [...] haben könnten. Die Verteidigung
braucht sich auch nicht darauf verweisen zu lassen, dass der Vorsitzende
festgestellt hat, in den Akten des Parallelverfahrens befanden sich keine
Aktenbestandteile, die schuld- oder rechtsfolgenrelevanten Inhalt hätten
[...]. Ob Informationen für die Verteidigung von Bedeutung sein können
unterliegt allein ihrer Einschätzung". Was für ein einzelnes Recht der Ver-
teidigung aber als zwingend angesehen wird, müsste erst recht gelten, wenn
nach Hinweis auf die revisionsgerichtliche Rechtsansicht die Gesamtheit
der Verfahrensrechte seitens der Verteidigung betroffen ist.

111. Aufrechterhalten des Strafausspruchs trotz


Schuldspruchänderung
Auf der zweiten Ebene des Urteilstenors verschärft sich die Problematik
der Schuldspruchersetzung noch erheblich. Ergänzt das Revisionsgericht
seinen neu gefassten Schuldspruch dort um eine eigene Entscheidung über
den Rechtsfolgenausspruch, erhält es in vielen Fällen den erstinstanzlichen
Strafausspruch trotzdem aufrecht. 43 Die Frage nach Grund und Grenzen
dieser weitreichenden revisionsgerichtlichen Kompetenz gewinnt auch
angesichts der aktuellen Diskussionen um § 354 Abs. 1a StPO n.F. zuneh-
mend an Brisanz. 44

1. Die Strajzumessungskompetenz des Revisionsgerichts


a) Tatrichterliche Domäne und verfassungsrechtliche Komponente
Stein des Anstoßes ist in diesem Zusammenhang, dass eine Rechtsfolgen-
entscheidung, insbesondere hinsichtlich der Strafzumessung, nach allge-
meiner Auffassung - wie bereits oben hervorgehoben - zu den ureigensten
Domänen des Tatrichters zählt. 45 Gilt sie auch nicht mehr als reine Tatsa-
chenfrage, so kann sie doch umgekehrt niemals zu schlichter Rechtsanwen-
dung werden. Dies zeigt schon die Zurückhaltung, mit welcher die Recht-
sprechung eine fehlerhafte Strafzumessung in das Prüfungsprogramm der
Sachrüge integriert: Allein wenn die gefundene Rechtsfolge sich von der
Bestimmung, Schuldstrafe zu sein, gelöst hat, soll demnach eine Korrektur

43 Vgl. etwa BGH NStZ 2005, 284~ weiterführend Junker (Fn. 7), S. 35 ff. und 127 ff.~ Bar-
ton (Fn. 7), S. 227 ff.~ Senge (Fn. 5),311; PasterlSättele (Fn. 22), 615~ krit. bereits LR-Beulke,
26. Aufl. 2008, § 154a Rn. 48 f.
44 Vgl. zur Diskussion etwa Berenbrink GA 2008, 625~ Gaede (Fn. 19), 394~ Hamm (Fn. 4),
205.
45 Vgl. Hamm (Fn. 4); zur Gegenposition Rosenthai StV 2004,686 f.
972 Werner Beulke

durch die Revision in Betracht kommen. 46 Wenn das Revisionsgericht die-


sen Kembereich aber durch eine eigene Entscheidung vollends betritt - und
sei es auch flankiert von Reformanstrengungen des Gesetzgebers - liegt die
Gefahr einer Verletzung von Verfassungsgrundsätzen, namentlich des ge-
setzlichen Richters und des rechtlichen Gehörs, nicht allzu fern. Deshalb
verwundert es nicht, dass das Bundesverfassungsgericht auf diesen Prob-
lemkreis, wie bereits eingangs angedeutet, maßgeblichen Einfluss genom-
men hat.

b) Zur Kompetenzgrundlage: Von der Beruhenskonstruktion zu


§ 354 Abs. la StPO
Indessen beließ der Bundesgerichtshof den Rechtsfolgentenor der Vorin-
stanz häufig mit dem Argument unverändert, es sei ausgeschlossen, dass der
Tatrichter angesichts des jetzigen Schuldspruchs eine andere, fur den Ange-
klagten günstigere Rechtsfolge verhängt hätte. Die Fortgeltung des Straf-
ausspruchs sei schon deshalb zwingend, weil dieser auf dem fehlerhaften
Schuldspruch nicht im Sinne von § 337 StPO beruhe. 47
Zu Recht hat unter anderem der stellvertretende Vorsitzende des 2. Straf-
senats am Bundesgerichtshof, Thomas Fischer, diese Beruhenslösung als
"Quasi-Strafzumessung" kritisiert. 48 Wenn man ihren Gedanken weiter-
fuhrt, müsste man nämlich annehmen, die Strafzumessung hinge gar nicht
entscheidend vom Schuldspruch ab, obwohl dieser erst den jeweiligen Straf-
rahmen eröffnet. 49 Darüber hinaus stünde eine solche Auffassung im ekla-
tanten Widerspruch zu § 46 Abs. 3 StGB. Das Doppelverwertungsverbot
soll ja gerade die in den Tatbestandsmerkmalen enthaltenen Unrechtswer-
tungen, welche den Gesetzgeber erst zur Festlegung des Strafrahmens be-
wogen haben, der Einzelfallabwägung des Tatrichters entziehen. 50 Der
Straftatbestand definiert insofern negativ die Abwägungsgrundlage im Ein-
zelfall. Die Beruhensfrage darf nicht über eine solche Konstruktion bestim-
mungswidrig zur Angemessenheitsprüfung durch das Revisionsgericht
ausgeweitet werden. Sie würde sich andernfalls von ihrer eigentlichen Ziel-

46 Vgl. zusammenfassend etwa OLO Brandenburg Beschluss vom 26.2.2009 - 1 Ss 10/09.


47 Vgl. etwa BOH NJW 1990,1921,1923 u. die w. N. bei Frisch (Fn. 11), 431, 432~ zust.
Meyer-Goßner (Fn. 21), § 354 Rn. 27~ krit. u.a. Hamm (Fn. 4), 206~ Steinmetz (Fn. 3), S. 195
ff. ~ Gaede (Fn. 19), 395.
48 Fischer StOB, 56. Autl. 2009, § 46 Rn. 151 ~ hinsichtlich der Begründung krit. SK-
Wohlers (Fn. 2), § 354 Rn. 37.
49 Vgl. SK-Wohlers (Fn. 2), § 354 Rn. 39.
50 Schänke/Schräder/Stree StOB, 27. Aufl. 2006, § 46 Rn. 45.
Schuldspruchersetzung - Berichtigung oder Benachteiligung? 973

setzung, den Kausalzusammenhang zwischen gerügtem Rechtsverstoß und


Urteil zu prüfen, entfernen. 51
Als alternative Rechtsgrundlage zur Aufrechterhaltung der Rechtsfolgen
bei Schuldspruchersetzung bleibt somit nur der Rückgriff auf § 354 Abs. 1a
StPO. Nach dieser Norm darf das Revisionsgericht bei einer "Gesetzesver-
letzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen" den vorgefundenen Strafaus-
spruch fortbestehen lassen, soweit er angemessen ist, oder ihn andernfalls
auf ein angemessenes Maß herabsetzen. In dieser Angemessenheitsprüfung
liegt zweifelsohne eine eigene, strafzumessungsgleiche Wertung. 52 Die
Vorschrift wurde bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im
Jahr 2007 vorn Bundesgerichtshof aber auch über ihren Wortlaut hinaus
extensiv dahingehend interpretiert, dass sie selbst eine Schuldspruchände-
rung kombiniert mit einer Beibehaltung der Rechtsfolgenentscheidung zu-
ließe. 53 Zu Recht meldeten jedoch weite Teile des Schrifttums Bedenken an,
denn die Einwände gegen eine analoge Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO
wirken bei § 354 Abs. la StPO fort und gewinnen sogar noch zusätzlich an
Bedeutung. 54 Auch insofern erscheint es schon methodisch nicht überzeu-
gend, einen Analogieschluss über den vorsichtigen Reformwillen des Ge-
setzgebers und den eindeutig einschränkenden Wortlaut ("nur") hinweg für
zulässig zu erklären. Das Bundesverfassungsgericht hat in Reaktion auf
diese berechtigte Kritik eine verfassungskonforme Auslegung der Vor-
schrift eingefordert, mit der eine Umgestaltung des Revisionsverfahrens für
den verbleibenden Anwendungsbereich verbunden ist. 55 Im Ergebnis lässt
die Grundsatzentscheidung eine Angemessenheitsprüfung hinsichtlich des
Strafausspruchs nach § 354 Abs. la StPO nur noch zu, wenn das Revisions-
gericht den Angeklagten konkret auf sein bevorstehendes Vorgehen nach
dieser Norm hinweist und ein zutreffend ermittelter, vollständiger und aktu-
eller Strafzumessungssachverhalt vorliegt. Falls Letzteres nicht ohne weite-
res aufgeklärt werden kann, soll das Revisionsgericht ein Anhörungsverfah-
ren nach den Grundsätzen des Freibeweises anstrengen müssen. 56 Eine
solche Verfahrensweise muss den Revisionsgerichten aber verständlicher-
weise als Fremdkörper in einer reinen Rechtsprüfungsinstanz erscheinen. Es
ist daher zu erwarten, dass § 354 Abs. 1a StPO seine praktische Bedeutung

51 AbI. auch PasterlSättele (Fn. 22), 615.


52 VgI. Jahn/Kudlich NStZ 2006, 341~ SK-Wohlers (Fn. 2), § 354 Rn. 37 f.
53 Vgl. BGH NStZ 2005, 284.
54 Langrock StraFo 2005, 226~ Eisenberg/Haeseler (Fn. 39), 221, 222~ a.A. Senge (Fn. 5),
309.
55 Allerdings stützt das Bundesverfassungsgericht diese verfassungskonforme Auslegung
auf eine andere Begründung~ s. dazu unten.
56 Zusammenfassend Hamm (Fn. 4), 205, 207.
974 Werner Beulke

auf Dauer weitgehend einbüßen wird. 57 Die Trauer darüber sollte sich in
Grenzen halten. Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht die hier
relevanten Fälle der Schuldspruchersetzung dem Anwendungsbereich der
Norm sogar ganz entzogen. 58 Bei Gesamtschau dieser Entwicklungen drängt
sich auch mir die Frage auf, ob eine umfassende Verwerfung der Vorschrift
als verfassungswidrig nicht doch den letztlich schonenderen Eingriff in die
Legislativverantwortung bedeutet hätte. 59

2. Die Grenzen der ~~trafzumessungskompetenz


Ob\vohl die zu untersuchende Schuldspruchersetzung auf dem Boden des
geltenden Rechts nach zutreffender Ansicht unzulässig ist, gibt die Diskus-
sion um § 354 Abs. la StPO wichtige Anstöße für eine zukünftige gesetzli-
che Regelung zu dieser Entscheidungsform des Revisionsgerichts, zumal
nach wie vor ein entsprechendes praktisches Bedürfnis a11ikuliert wird. 60
Ihre Zulässigkeit hängt freilich auch künftig von der Einhaltung der verfas-
sungsrechtlichen Vorgaben sowie von einer Harmonisierung mit strafpro-
zessualen Leitprinzipien ab. Mögliche Problemfelder können hier nur kurz
aufgezeigt werden. 61

a) Das Recht auf den gesetzlichen Richter


Nahe liegend ist die Kollision einer solchen Kompetenzzuweisung mit
dem Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 S.2 GG. 62
Das Bundesverfassungsgericht versteht diesen Grundsatz allerdings relativ
eng. Er verkörpert demnach einerseits eine besondere Ausprägung des all-
gemeinen Bestimmtheitsgrundsatzes und steht andererseits dem allgemei-
nen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG nahe; der Gewährleistungs-
gehalt des Justizgrundrechts richtet sich an alle drei staatlichen Gewalten. 63
Eine Entscheidung des Revisionsgerichts, das an die tatsächlichen Feststel-
lungen des Tatgerichts gebunden ist, kann damit grundsätzlich eine Verlet-
zung des gesetzlichen Richters darstellen, wenn es gleichzeitig eine Zu-
tückverweisung unterlässt, obwohl diese nach dem Stand des Verfahrens
geboten wäre. Dazu müsste der Spruchkörper in der Revisionsinstanz die

57 Vgl. Meyer-Goßner (Fn. 21), § 354 Rn. 28a.


58 BVerfG NJW 2007,2977,2982.
59 Vgl. Hamm (Fn. 4),205,208.
60 Vgl. etwa Senge (Fn. 5), 309 f.
61 Vgl. weiterführend die umfassenden Abhandlungen von Barton (Fn. 7), Steinmetz (Fn. 3)
und Junker (Fn. 7).
62 Vgl. Paster/Sättele (Fn. 22), 609~ vertiefend Dehne-Niemann (Fn. 15),239.
63 Vgl. BVerfGE 6, 45, 50 f.~ Maunz/Dürig GG, 55. Aufl. 2009, Art. 101 Rn. 14.
Schuldspruchersetzung - Berichtigung oder Benachteiligung? 975

Grenzen seiner Entscheidungszuständigkeit willkürlich verkennen. Diese


hohe Hürde erreicht ein Revisionsrichterspruch jedoch erst dann, wenn er
bei verständiger Würdigung nicht mehr nachvollziehbar oder offensichtlich
unhaltbar erscheint.64
Ferner muss auch der Gesetzgeber den gesetzlichen Richter durch mög-
lichst eindeutige vorherige Zuweisung mittels einer allgemeinen Norm
bestimmen. Das Bundesverfassungsgericht hat zum Beispiel akzeptiert, dass
die Legislative die gerichtliche Zuständigkeit in bestimmten Fällen der
Exekutive überlässt, wenn hochrangige Interessen dies rechtfertigen (vgl.
etwa § 24 Abs. 1 Nr.2 GVG).65 Obwohl Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG auch
durch eine künftige Regelung zur Schuldspruchersetzung tangiert sein
könnte, steht diese Verfassungsnorm einer solchen Reform keineswegs
absolut entgegen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Ent-
scheidung zu § 354 Abs. 1a StPO trotz einer verbreiteten Gegenansicht im
Schrifttum keine Verletzung des gesetzlichen Richters angenommen. 66

b) Erneut: Recht auf faires Verfahren und Strafverteidigung


Vielmehr stützt sich die Begründung der Entscheidung auf einen Prozess-
grundsatz, der, so könnte man überspitzt formulieren, in der Strafgerichts-
barkeit allgemein Hochkonjunktur hat. 67 Der Grundsatz des fairen Strafver-
fahrens ist freilich nicht nur in Art. 6 EMRK, sondern auch verfas-
sungsrechtlich durch Art. 2 Abs. 1,20 Abs. 3 GG verbürgt. 68 Nach Auffas-
sung des Bundesverfassungsgerichts ist er verletzt, sofern das Revisionsge-
richt unter Berufung auf § 354 Abs. 1a StPO selbst ohne tragfähige Tatsa-
chengrundlage eine Strafzumessungsentscheidung trifft. 69 Der Hauptgrund
für diese Bedenken dürfte darin liegen, dass andernfalls die Verteidigungs-
möglichkeiten des Angeklagten hinsichtlich der bisher noch nicht zutreffend
festgestellten Strafzumessungstatsachen erheblich herabgesetzt würden.
Schon der sachverwandte Grundsatz des rechtlichen Gehörs erfordert inso-
fern zumindest eine Gelegenheit zur Stellungnahme durch den Angeklagten
im Verfahren, was die Verfassungsrichter ja letztlich zur Einführung des

64 Vgl. zu diesen Grundsätzen BVerfGE 54,100,115 f.; BVerfG, Beschluss vom 1.3.2000-
2 BvR 2049/99.
65 AbI. Dehne-Niemann (Fn. 15), 241 f.
66 BVerfG NJW 2007,2977,2978.
67 Vgl. nur zuletzt BGH NJW 2009,2463 (unzulässiges Abhören im Besucherraum der Un-
tersuchungshaft).
68 Grundlegend Gaede Fairness als Teilhabe - das Recht auf konkrete und wirksame Teil-
habe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK, 2007.
69 Vgl. BVerfG NJW 2007,2977,2979.
976 Werner Beulke

freibeweislichen Anhörungsverfahrens bewogen hat. 70. Damit setzen sich


hier aber die schon gegen die Schuldspruchberichtigung als solche vorge-
brachten Bedenken gegen eine eigene Sachentscheidung des Revisionsge-
richts fort: Das mit der Änderung des Schuldspruchs unter Beibehaltung der
Rechtsfolgen verbundene Verteidigungsdefizit kann im Rahmen der Revisi-
onsinstanz selbst durch Hilfskonstruktionen wie das Anhörungsverfahren
oder den oben dargestellten rechtlichen Hinweis nach § 265 StPO analog
nicht mehr sinnvoll ausgeglichen werden, indem man etwa bruchstückhafte
Anleihen an die Verfahrenselemente der Tatsacheninstanz nimmt. Andern-
falls müsste auch der Verantwortungsbereich der Verteidigung zum Teil
durch gerichtliche Wertungen überlagert werden. Allen Erwägungen, insbe-
sondere zugunsten der Prozesswirtschaftlichkeit, zum Trotz müsste auch
eine Gesetzesreform in diesen Konstellationen beim Regelfall des § 354
Abs. 2 StPO bleiben und eine Zurückverweisung des Rechtsstreits an die
Tatsacheninstanz vorsehen.

IV. Fazit
Die Kombination von Schuldspruchänderung und Aufrechterhaltung der
tatrichterlichen Strafzumessung ist nach geltendem Recht keine zulässige
Sachentscheidung in der Revisionsinstanz. 71 Es ist wünschenswert, dass
sich die Revisionsgerichte vornehmlich an den gesetzlichen Vorgaben der
§§ 265 StPO und 354 Abs. 2 StPO orientieren und dadurch gewährleisten,
dass sich der Angeklagte und sein Strafverteidiger auf den veränderten
Schuldspruch und die damit neu eröffnete Strafzumessungsfrage im Rah-
men einer Tatsacheninstanz einrichten und eigenverantwortlich eine neue
Verteidigungsstrategie verfolgen können.
Mit diesem Appell an die Revisionsgerichte möchte ich meinen Beitrag
zu Ehren von Heinz Schöch beschließen. Ich fühle mich dem Jubilar seit
seiner Göttinger Zeit eng verbunden, gehörte er doch zu den Professoren,
die mich habilitiert und mir den Weg in den Kreis der Strafrechtslehrer
eröffnet haben. Dafür bin ich ihm nachhaltig dankbar. In späteren Jahren
haben wir uns vielfach getroffen und zu meiner großen Freude sind aus
Kollegen Freunde geworden. Von Herzen wünsche ich ihm eine robuste
Gesundheit und große Lebensfreude für die Zukunft. Seine fachkundige
Einschätzung wird für die Diskussionen in der Strafrechtswissenschaft nach
wie vor unverzichtbar sein.

70 Zum Problem des rechtlichen Gehörs Franke GA 2006, 264.


71 Zutreffend deshalb BVerfG StV 2008, 169 f. u. BGH StV 2008, 176.
VII. Forensische Psychiatrie und Rechtsmedizin
Freiraum für den menschlichen Willen
Gedanken zu einem überflüssigen und unlösbaren Disput

NORBERT NEDOPIL

I. Eine persönliche Einleitung


Der Begriff des "freien" Willens hat im Diskurs zwischen Juristen und
Psychiatern seit Generationen einen festen Platz und hat auch in meiner
persönlichen Zusammenarbeit mit Professor Heinz Schöch immer wieder
eine Rolle gespielt. Wenngleich wir beide uns von unserer jeweiligen Her-
kunft her mehr für empirische Daten interessiert haben, war doch einer
unserer ersten gemeinsamen Auftritte dem Thema der Willensfreiheit ge-
widmet. 1 Dieses Thema ist in den gemeinsamen Vorlesungen, die wir seit
1996 durchgeführt haben, immer wieder einmal in den Vordergrund getre-
ten und hat durch die aktuelle Debatte um die Auswirkung neurobiologi-
scher Erkenntnisse erneut an Dynamik gewonnen. Nicht, dass wir funda-
mentale Meinungsunterschiede zu überbrücken hatten, eher schon, dass wir
gemeinsam die Gefahr sahen, die sich durch eine allzu pointierte Forderung
nach einer Abschaffung des auf der Schuld des Täters basierenden Straf-
rechts unter der Vorannahme einer fehlenden Willensfreiheit fur den Men-
schen durch Strat]ustiz und forensische Psychiatrie ergeben könnte. 2 Sollte
sich die nicht ganz unzutreffende Anschauung von Reemstma3 nicht durch-
setzen, dass es sich bei der Debatte um die Willensfreiheit um ein Schein-
problem handelt, könnten die Forderungen nach Abschaffung unseres gel-
tenden Strafrechts eine mehr oder weniger reflektierte Gegenströmung bei
den Juristen zur Folge haben, die sich auf ihre normative Definitionshoheit
zurückziehen und humanwissenschaftliche Erkenntnisse nur begrenzt zur

1 Nedopil in: Eisenburg (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen. Zur Frage von Verantwortung
und Schuld, 1998, S. 43-59~ Schäch a.a.O., S. 82-101.
2 PauenlRoth Freiheit, Schuld und Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie
der Willensfreiheit, 2008.
3 Reemstma Merkur 60 (2006), 193-206.
980 Norbert Nedopil

Kenntnis nehmen. Ansätze hierfür sind nicht zu übersehen. 4 Es fragt sich,


ob eines von beiden, Abschaffung des schuldbezogenen Strafrechts oder
Rückzug auf normative Vorgaben, den betroffenen Menschen, Tätern wie
Opfern, der Gesellschaft oder lediglich den Protagonisten der jeweiligen
Position einen Vorteil verschaffen würde.

11. Versuch einer historischen Betrachtung mit einem


laienhaften Ausflug in das Strafrecht
Die Debatte um die Willensfreiheit, um Determinismus oder Indetermi-
nismus und die damit verbundenen Vorherrschaftsansprüche bezüglich des
besseren, sinnvolleren, besser empirisch fundierten oder gerechteren Um-
gangs mit jenen Menschen, die Rechte und Regeln der Gesellschaft miss-
achten oder verletzen, ist alt, und ebenso alt ist die Frage, ob die jeweiligen
neuen psychologischen, psychoanalytischen oder biologischen Erkenntnisse
dieser Debatte tatsächlich neue Dimensionen hinzufügen können. Bereits in
den Lehrbüchern des 19. Jahrhunderts spielte der Determinismus-
Indeterminismus-Streit nicht nur für die Forensische Psychiatrie, sondern
für die Psychiatrie allgemein eine gewisse Rolle. So vertraten die sog. Psy-
chiker, wie Heinroth, zu Beginn des 19. Jahrhunderts eher indeterministi-
sche Standpunkte, während die sog. Somatiker, wie Friedreich, eher deter-
ministische Sichtweisen einnahmen. Heinroth schrieb 1825: "Der Mensch
hat es sich jederzeit selbst zuzuschreiben, wenn er melancholisch, verrückt,
wahnsinnig usw. wird: denn er hat das köstlichste Gut seines Lebens, die
Freiheit, im Widerspruche gegen das Gesetz derselben, dessen er sich gar
wohl bewußt ist, nicht bewahrt. "5 Demgegenüber drückte Friedreich seine
deterministische Anschauung folgendermaßen aus: "So wollen wir denn
hoffen, daß die neue Zeit eine alte, sich oft nur in geistlosen Formen bewe-
gende Juristerei zu Grabe getragen und dafür das Dogma geschaffen hat,
daß Gesetzgebung und Rechtspflege ohne Anthropologie und Psychologie
nur zu elender Barbarei führen. .... Möchten Inquirenten und erkennende
Richter sich immer bemühen den ganzen Menschen, welcher als Angeklag-
ter vor ihnen steht, möglichst kennen lernen: es ist eine schöne und reichlich

4 Boetticher in: Petermann/Greuel (Hrsg.), "Macht - Familie - Gewalt (?)". Intervention und
Prävention bei (sexueller) Gewalt im sozialen Nahraum, 2009, S. 17-47~ Nedopil FS Widmaier,
S.925-940.
5 Heinroth System der psychisch-gerichtlichen Medizin, oder theoretisch-praktische Anwei-
sung zur wissenschaftlichen Erkenntnis und gutachtlichen Darstellung der krankhaften persön-
lichen Zustände, welche vor Gericht in Betracht kommen, 1825.
Freiraum rur den menschlichen Willen 981

lohnende Aufgabe, nachzuweisen, daß der Verbrecher nur ein Unglückli-


cher sei. ,,6
Der Disput wurde nicht wirklich geklärt. Der Einfluss der Medizin und
der Psychologie auf die Rechtsfindung blieb weiterhin gering, wenngleich
gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Auseinandersetzungen zwischen Juris-
ten und Psychiatern heftiger wurden. Karikierend schrieb der Psychiater und
spätere Psychiatriepatient Oscar Panizza in seinem Buch psichopathia cri-
minalis: 7 "Das Prinzip der Humanität, welches bei unseren heutigen, auf
allen Gebieten aufgeregten Zeiten, besonders auch im Gerichtssaal immer
wieder auf die Spitze gestellt wird, muss einer Krankheitsfonn die höchste
Beachtung zuwenden, die, wenn richtig erkant und angewandt, eine grosse
Zahl von dem Gefängnis und Zuchthaus verfallener Individuen in die milde-
ren Räume und freundlichen Badewannen der Irrenhäuser hinüberführt ...
Ein mässig grosses Irrenhaus zwischen Nekar und Rhein, etwa von der
Grösse der Pfalz und auf eben diesem Boden ... errichtet, hätte ... unserem
Vaterlande viel Leids erspart." Weniger ironisch nahm der Jurist Birkmeier
1910 zu dieser Frage Stellung: "so aber haben Juristentag und IKV 8 durch
ihre Beschlüsse alles auf diesem Gebiet in die Hände der Mediziner gelegt",
deren "Dichten und Trachten" dahin gehen werde, den Kreis der vermindert
Zurechnungsfähigen zu erweitern, um sie letztlich ihrer GrundeinsteIlung
gemäß jeder Bestrafung zu entziehen, womit die letzte Stunde des Straf-
rechts geschlagen hätte. Die Psychiater, die Feinde des Strafrechts, würden
also durch besondere Bestimmungen über verminderte Zurechnungsfähig-
keit eine Bresche finden, "durch welche sie in die belagerte Festung ein-
dringen und sie zerstören können" .9
Stellt man solchen Aussagen aus den vergangenen Jahrhunderten der Te-
nor des Buches "Tatort Gehirn"lO, also von heutigen Berurwortern der Ab-
schaffung des Schuldstrafrechts, gegenüber, so ist der Unterschied nicht
allzu groß. Auf dem Klappentext dieses Buches steht: "In Labors und Ge-
richtssälen bahnt sich eine Revolution an. Mit modernster Technik sind
Neurowissenschaftler dem Ursprung der Kriminalität auf der Spur. Sie
fragen: Gibt es den »Fingerabdruck« eines Verbrechens im Gehirn? Von
der Antwort auf diese Frage hängt viel ab - neue Möglichkeiten in der

6 Friedreich System der gerichtlichen Psychologie, 1842.


7 Panizza Psichopatia criminalis. Anleitung um die vom Gericht für notwendig erkanten
Geisteskrankheiten psichjatrisch zu eruieren und wissenschaftlich festzustellen. Für Ärzte,
Laien, Juristen Vormünder, Verwaltungsbeamte, Minister, etc., 1898. Zitiert aus Müller Der
Pazjent als Psychiater, 1999.
8 Internationale Kriminalistische Vereinigung, gegr. 1888 v. Franz v. Liszt, Adolphe Prins
u.a.
9 Haffke Recht und Psychiatrie 9 (1991), 94-108.
10 MarkowitschlSiefer Tatort Gehirn, 2007.
982 Norbert Nedopil

Verbrechensprävention oder der Terroristenfahndung etwa, nicht zuletzt aber


auch unser Verständnis von Schuldfahigkeit und Strafe. Mit vielen spannen-
den Fallbeispielen führt dieses Buch an die Front der neurowissenschaftlichen
Verbrechensforschung und zeigt die faszinierende dunkle Seite des Gehirns."
Die historische Frage nach Determinismus oder Indeterminismus tauchte
in der forensischen Psychiatrie immer wieder auf, sobald neue Erkenntnisse
der Humanwissenschaft das bisherige Wissen erweiterten und es für man-
che Laien auch erschütterten. Dies war in Zusammenhang mit den psycho-
analytischen Einflüssen so, die im forensisch-psychiatrischen Kontext dann
zu dem kritischen Satz führten: "Tout comprendre, c'est tout pardonner", 11
aber auch mit den Erkenntnissen des Behaviorismus von Skinner l2 , der den
Menschen als dressiertes Tier erscheinen ließ. Forensische Psychiater in der
Mitte des vorigen Jahrhunderts hatten sich darauf geeinigt, dass die Frage
nach Determinismus oder Indeterminismus (strafrechtlich relevanten)
menschlichen HandeIns nicht gelöst werden kann. Sie bleibt somit eine
Aporie, d. h. ein unlösbares Problem, weil jede Lösung Widersprüche ent-
hält und es lediglich mehrere zwar plausible, aber nicht widerspruchsfreie
Lösungsvorschläge gibt.
Weder die klinische Psychiatrie noch die phänomenologisch anthropolo-
gische Willenspsychologie, welche sich bemühte, diejenigen Phänomene
herauszustellen, die den Mensch vom Tier abheben, waren in der Lage,
Freiheit zu beweisen oder zu widerlegen oder den Begriff der Freiheit auf
eine empirische Ebene zu transponieren. Die Frage, ob es den Begriff des
"freien Willens" in diesem philosophischen Sinn im Strafrecht überhaupt
braucht, bleibt ebenfalls offen, da auch die Strafrechtslehre offenbar unter-
schiedliche Konzepte hierfür entwickelte: Während Roxin 13 eher eine rein
normative Konzeption entwickelte, fügte Schöch diesem Konzept das sub-
jektive Freiheitsbewusstsein des Handelnden 14 als notwendige Qualität für
den strafrechtlichen Freiheitsbegriff hinzu und sieht in der Kombination von
normativer Zuschreibung und subjektivem Bewusstsein die wesentliche
Grundlage des Freiheitsbegriffs im Strafrecht 15 •

11 Wird auf Mme. de Stael (1766-1817) zurückgeführt, von Ferenczi (1908) in die Psycho-
analyse übernommen, von Luthe (1984) kritisch hinterfragt~ Nedopil MschKrim 71 (1989),
109-114.
12 Skinner Science and human behaviour, 1966.
13 Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 2.Aufl. 1994.
14 Thiemeyer GA 1986, S. 203.
15 Schäch Willensfreiheit und Schuld aus strafrechtlicher und kriminologischer Sicht, in:
Eisenburg (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen. Zur Frage von Verantwortung und Schuld,
1998, S. 82-101 ~ ders. Die Schuldfähigkeit, in: Kröber/Dölling/Leygraf/Saß (Hrsg.), Handbuch
der Forensischen Psychiatrie, Bd. 1,2007, S. 92 - 159.
Freiraum für den menschlichen Willen 983

Wie ein Blick in die Geschichte zeigt, ist ein solcher Rückgriff auf den
Freiheitsbegriff nicht zwingend notwendig, um die Aufgaben des Straf-
rechts und in ihm jene der Forensischen Psychiatrie sinnvoll zu errullen:
Aristoteles (Nikomachische Ethik) entwarf, ohne auf eine Willensein-
schränkung zurückzugreifen, die Idee, dass psychisch Kranke nicht bestraft
werden sollten, wenn ihre Krankheit die Grundlage ihres Rechtsverstoßes
war, wenn der Täter aufgrund eines Wahnes oder aufgrund von Desorien-
tiertheit handelte. Im römischen Recht gingen "furiosi" (die Rasenden),
"mente capti" (die Verblödeten) und "dementes" (die Toren) straffrei aus.
Bei ihnen war man der Meinung, dass sie durch ihr Schicksal bzw. durch
die Götter genug gestraft seien ("furiosum fati infelicitas excusat, satis furo-
re ipso punitur")16. Auch hier war der Wille des Täters nahezu ohne Bedeu-
tung.
Der Rechtsphilosoph Samuel Pufendorf (1632-1694) beschrieb meines
Wissens zum ersten Mal, dass die Willensfreiheit die Grundlage für die
strafrechtliche Verantwortung des Menschen ist. Nach seiner Auffassung
fuhrt die Differenz zwischen den physischen Gegebenheiten und der Norm
zu einer "actio moralis", zur Zurechnung von Schuld und Verdienst. Für die
Zurechnung (imputatio) ausschlaggebend sind sowohl ein "praelucens intel-
lectus" (vorleuchtende Einsicht) wie ein "decernens voluntas" (unterschei-
dender Wille). Aber auch diese Auffassung blieb zunächst nicht lange be-
stehen. Nach utilitaristischem Denken machte es deshalb keinen Sinn,
psychisch Kranke zu bestrafen, weil sie den Sinn der Strafe nicht erfassen
und sich darum auch nicht ändern. Der Philosoph Johann Christoph Hoff-
bauer schrieb 1808, dass nicht bestraft werden könne, wer unvermögend ist,
seinen Verstand anzuwenden, und auch jener nicht, bei dem die Strafe nicht
vor der Handlung abschrecken kann. 17 "Durch die Strafgesetze soll jeder
wissen, dass aus einer gesetzeswidrigen Handlung das oder das Übel für ihn
als eine Strafe entstehen werde, und dadurch von jener Handlung abge-
schreckt werden. Der Mensch, der einer solchen Abschreckung fähig, ist
dem Criminalisten frei, wenn er diesen Ausdruck gebraucht. Derjenige
hingegen, auf den eine solche Abschreckung nicht wirken kann, entweder
weil er nicht vermögend ist, die Strafe als eine Folge seiner Handlung zu
erkennen, wie der Blödsinnige; oder weil ihn ein unbezwinglicher Trieb zu
einer Handlung hinreißt, wie den von der Hundswut ergriffenen, hat im
Sinne des Criminalisten seine Freiheit nicht." Es geht dabei um das Erken-

16 Lenckner in: Göppinger/Witter (Hrsg.), Handbuch der Forensischen Psychiatrie, 1972,


S.3-286.
17 Hoffbauer Die Psychologie in ihren Hauptanwendungen auf die Rechtspflege nach den
allgern. Gesichtspunkten der Gesetzgebung, oder die sog. gerichtliche Arzneiwissenschaft nach
ihrem psychologischen Teile, 1808.
984 Norbert Nedopil

nen des Sinnes einer Strafe und nicht um den freien Willen als Kausalfaktor
einer Handlung. Der Begriff der Willensfreiheit, sofern er überhaupt Ge-
wicht hatte, wurde auf den juristischen Sprachgebrauch beschränkt ("dem
Criminalisten"). Auch eine Rechtsordnung, die dem Gedankengut des
defense sociale entspringt, wie bei Franz von Liszt und ähnlich bei Emil
Kraepelin,18 nimmt keinen Bezug auf die Willensfreiheit des Täters.
Tatsächlich hat sich im deutschen Strafrecht aber das Prinzip der indivi-
duellen Schuld als Stratbegründung und Stratbegrenzung durchgesetzt. Sie
beruft sich auf eine individuelle Entscheidungskompetenz des Menschen,
aber nicht notwendigerweise auf philosophisch oder anthropologisch be-
gründete Willensfreiheit. Sollte das Schuldprinzip irgendwann als Strafzu-
messungsgrundlage entfallen, wird es eine andere Strafbegrenzungsformel
geben müssen, um der Willkür der Mächtigen Grenzen zu setzen. Es erhebt
sich somit die Frage, ob eine andere Regelung den sich jeweils ändernden
biologischen Konzepten und den juristischen Bedürfnissen eher gerecht
wird als jene, die auf dem Schuldprinzip beruht.

111. Biologische und andere naturwissenschaftliche


Überlegungen
Die Biologie hat ihre Regeln, die nahezu naturwissenschaftlich streng und
somit determinierend sind. Dennoch ist die Biologie einer Vielzahl von
unwägbaren Zufällen unterworfen, unvorhersehbaren Rekombinationen von
DNA, unvorhersehbaren Verbindungen von Zellen. Ohne diese Zufälle
wäre Entwicklung und Evolution gar nicht möglich, und das Potential der
Natur wäre längst ausgeschöpft. Der Grundsatz der Biologie vom Zufall
innerhalb vorgegebener Grenzen lässt eine Vielzahl von Möglichkeiten
nicht nur denkbar erscheinen, sondern auch rückblickend nachzeichnen. Im
physikalischen Sinn ist dieser Zufall dann auch Freiheit. Er ist nicht deter-
miniert.
Betrachtet man das Ganze physikalisch, so ist der Ausschlag eines Pen-
dels determiniert. Er ist sogar das Symbol für berechenbare Determiniertheit
- allerdings nur, wenn es ein Gelenk hat. Hat das Pendel mehrere Glieder
und nur drei Gelenke, ist weder der Ausschlag noch die Dauer des Pendel-
schlags berechenbar. Ein solch mehrgliedriges Pendel wird dann als Chaos-
pendel bezeichnet. Sein Ausschlag ist innerhalb der Grenzen der Stangen-
länge dem Zufall überlassen und somit frei.

18 Kraepelin Die Abschaffung des Strafmaßes, 1880; Schmidt-ReclalSteinberg Nervenarzt


79 (2008), 295-304.
Freiraum für den menschlichen Willen 985

IV. Krankheits- und Verhaltensmodell der


biologischen Psychiatrie
In den letzten 30 Jahren hat die biologische Psychiatrie enorm an Gewicht
gewonnen und ist heute wohl die vorherrschende psychiatrische Denk- und
Forschungsrichtung. Sie geht davon aus, dass den krankhaften Emotionen,
Kognitionen und Verhaltensweisen pathologische Veränderungen der Ge-
hirnfunktionen zugrunde liegen, und unterstellt, dass sie eine biologische
Grundlage haben. Die Erkenntnismöglichkeiten der Psychiatrie haben durch
neue Untersuchungsmethoden, insbesondere durch eine hoch auflösende
Bildgebung des Gehirns, mit der nicht nur anatomische Strukturen sondern
auch Funktionen des Gehirns einer Analyse unterzogen werden können,
riesige Fortschritte erzielt, Fortschritte, die man sich vor 30 Jahren noch
nicht einmal vorstellen konnte. Allerdings glaubte man vor 30 Jahren, dass
es noch etwa 10 Jahre dauern würde, bis die Ursachen der wichtigsten psy-
chischen Krankheiten gefunden sein würden. 19 Heute muss jedoch einge-
räumt werden, dass es selbst bei so weit verbreiteten Krankheiten wie der
Schizophrenie noch nicht gelungen ist, ein nachprüfbares ätiologisches
Konzept zu erstellen. 20 Wenn es schon nicht gelingt, eine neurobiologische
Grundlage für ein Krankheitskonzept zu belegen, wie viel weniger wahr-
scheinlich ist es dann, eine neurobiologische Grundlage fur ein philosophi-
sches oder juristisches Konstrukt zu entwickeln, sofern dies überhaupt
denklogisch möglich ist, weil dazu die Dichotomie im Sinn von Hume oder
der naturalistische Fehlschluss im Sinn von Moore überwunden werden
müssten. 21
Das heutige psychiatrische Krankheits- und auch Verhaltensmodell ist ein
biopsychosoziales. Damit ist weitaus mehr gemeint als dass biologische,
psychologische und soziale Faktoren zusammenspielen, um Verhaltensdis-
positionen zu prägen. Vielmehr lassen sich spezifische Interaktionen, Vul-
nerabilitäten und Entwicklungslinien aufgrund dieses Modells allgemein
und nachvollziehbar beschreiben und zumindest retrospektiv auch analysie-
ren. Ich will dies am Beispiel einer dissozialen Entwicklung versuchen:
Die genetische Forschung hat gezeigt, dass sich Paare mit ähnlichen bio-
logischen Anlagen suchen. 22 Wenn Impulsivität, Wagemut und fehlende
Angst vor negativen Konsequenzen zu diesen vererbbaren Temperaments-

19 Huber Psychiatrie, 1974.


20 TostlMeyer-LindenberglRuj/Demirakca/GrimmJHenn u. a. Radiologie 45 (2005), 113-
123.
21 Nedopil in: Stompe u. a. (Hrsg.), Der freie Wille und die Schuldfahigkeit, 2010 (im
Druck).
22 FisherlAronlBrown Philos Trans R Soc Lond B Biol Sci 361 (2006), 2173-2186;
HolmeslThapar in: Bailey/Dolan (Hrsg.), Adolescent Forensic Psychiatry, 2004, S. 87-95.
986 Norbert Nedopil

faktoren gehören,23 werden sie sich auch bei den Kindern finden. Kommen
Missbrauch von Drogen und Alkohol, Nikotinkonsum während der
Schwangerschaft und ein wenig solider Lebensstil der Eltern hinzu, so ist
das Neugeborene nicht nur durch seine genetische Ausstattung, sondern
auch durch toxische Einflüsse während der Schwangerschaft gefährdet. 24
Das bedauerliche Schicksal der Kinder drogenabhängiger Mütter, die un-
mittelbar nach der Geburt mit Suchtstoffen substituiert werden müssen, ist
hinreichend bekannt. Die schädigende Wirkung von Nikotin auf die Ner-
venentwicklung ist erst in den letzten Jahren in ihrer Dramatik erforscht
worden. 25 Säuglinge, die unter solchen Umständen auf die Welt kommen,
bedürfen der besonderen Fürsorge, wobei die Konstanz einer mütterlichen
Bezugsperson von ausschlaggebender Bedeutung ist. Fehlt dieser Schutz-
faktor rur das Neugeborene und setzen Eltern ihren Rauschmittelmissbrauch
fort, kümmern sie sich nicht um das Kind oder lehnen es gar ab, so ruhrt das
schon beim Kleinkind zur Verweigerung und zu aggressiven Verhaltens-
weisen. 26 Diese Verhaltensweisen von Kindern bedingen weitere Ableh-
nung durch erwachsene Bezugspersonen. 27 Auch im Kindergarten werden
sie zu Außenseitern. Sie werden zurückgewiesen und sind nicht in der Lage,
Beziehungen und Loyalität aufzubauen. Ihr störendes und abweisendes
Fehlverhalten verstärkt sich. Anschluss finden sie häufig bei Kindern, die
sich ähnlich entwickelt haben. Mit ihnen gehen sie auf Abenteuersuche,
wobei die Abenteuer oft darin bestehen, gegen Normen zu verstoßen, Re-
geln zu brechen und körperliche Kraft und Schlagbereitschaft zur Positio-
nierung in der Gruppe der Gleichaltrigen einzusetzen. 28 Genetische Disposi-
tion und Umwelt treffen nach heutigem Verständnis nicht zufällig
aufeinander, vielmehr "suchen sich" Gene die Umwelt, in der sie sich am
ehesten entfalten können. 29 Durch diese Interaktionen entsteht ein einge-
schliffenes dissoziales Verhaltensmuster, welches den genetisch bedingten
Bedürfnissen entspricht und durch die Struktur der genetisch festgelegten
Temperamentzüge begünstigt wird.

23 Cloninger in: Silk (Hrsg.), Biology of Personality Disorders, 1998, S. 63-92~ Clon-
inger/Sigvaardsson/Bohman Alcoholism 12 (1988),494-505.
24 Arseneault/Tremblay/Boulerice/Seguin/Saucier Am J Psychiatry, 157 (2000), 917-923.
25 Wessels/Winterer Nervenarzt 79 (2008), 7-16.
26 Raine/Brennan/Mednick American Journal ofPsychiatry 154 (1997), 1265-1271.
27 Ainsworth Merrill-Palmer Quarterly 10 (1964), 51-58~ Chotai/Jonasson/Hägloff/Adolfs-
son European Psychiatry 20 (2005), 251-259~ YounglChesney/SperlingerlMischlCollins Crimi-
nal Behaviour and Mental Health 19 (2009), 54-63.
28 Caspi/McClay/Mojfitt/Mill/Martin/Craig u. a. Science 297 (2002), 851-854~ SvrakiclClo-
ninger in: Sadock/Sadock (Hrsg.), Kaplan & Sadock. Comprehensive Textbook of Psychiatry,
Bd. 2, 8. Aufl. 2004, S. 2063-2104.
29 GottesmanlGould American Journal of Psychiatry 160 (2003), 636-645~ HolmeslThapar
(Fn.22).
Freiraum für den menschlichen Willen 987

Aus Sicht der biologischen Psychiatrie sind die Spuren dieser Entwick-
lung organisch verankert. Die biologisch psychiatrische Forschung versucht
die mehr oder weniger subtilen Besonderheiten der Gehirnaktivitäten bei
den jeweiligen Störungen zu erkunden. In der Psychiatrie geht es dabei um
die Entstehungsbedingungen einer Störung, in der Psychologie um das
Verständnis von Verhaltensdispositionen, nicht aber um die Bestimmbarkeit
eines konkreten Verhaltens in einer konkreten Situation. Für die Psychiatrie
geht es zudem darum, durch das genetische und neurobiologische Verständ-
nis für Verhaltens- und Krankheitsdispositionen die Behandlung psychi-
scher Störungen zu verbessern, z.B. neue Pharmaka zu entwickeln oder
vorhandene Medikamente spezifischer einsetzen zu können. Entscheidende
Durchbrüche von genetischen oder neurobiologischen individuellen Phar-
makotherapien sind in der Psychiatrie allerdings noch nicht gelungen. 3o
Wenn die Erkenntnisse der Himforschung - so bemerkenswert sie auch sein
mögen - innerhalb des humanwissenschaftlichen Faches nur sehr begrenzte
Auswirkungen haben, erstaunt es umso mehr, dass sie auf ein anderes Fach,
welches von ganz anderen theoretischen Grundlagen als der biologischen
Empirie ausgeht und zu einem ganz anderen Zweck entstanden ist, übertra-
gen werden und dort zu einem Paradigmenwechsel führen sollen. Dennoch
hat in Italien ein Gericht schon eine Strafe wegen der genetischen Beson-
derheiten 3 ! herabgesetzt. 32

v. Forensisch-psychiatrische Aufgaben
Für mich erstaunlich bleibt, dass sich die Debatte um die Willensfreiheit
am Strafrecht entzündet. Während im Bürgerlichen Gesetzbuch der Aus-
schluss des freien Willens expressis verbis genannt wird, kommt dieser
Begriff in den relevanten Gesetzen des Strafgesetzbuches nicht vor. Der
§ 20 des deutschen StGB folgt einern bewährten Prinzip, welches den
meisten Gesetzen, mit denen sich die forensische Psychiatrie
auseinandersetzen muss, zu Grunde liegt, nämlich dass dem erwachsenen
Menschen Normkonformität und die hierfür erforderlichen Fähigkeiten
normativ unterstellt werden und nicht definiert zu werden brauchen. Defi-
niert hingegen werden die Normabweichungen (bzw. die Unfähigkeiten)
und ihre Voraussetzungen. Falls eine Unfähigkeit nicht besteht, wird die
Fähigkeit angenommen. In den juristischen Lehrbüchern und in der Recht-
sprechung wird zumindest von Wahlmöglichkeiten zwischen Entscheidun-

30 Bondy/Zill Nervenheilkunde 23 (2004), 104-111.


31 Insb. einer genetisch bedingten verminderten Aktivität der Monoaminooxidase (MAOA).
32 Feresin Nature News, 2009.
988 Norbert Nedopil

gen oder einer Entscheidungsalternative gesprochen: "Der Täter hat sich für
das Verbrechen entschieden, obwohl er sich hätte anders entscheiden kön-
nen. ,,33 Diese Feststellung ist aber eine juristische und keine psychiatrisch-
psychologische. Sie kann auch jenseits des Streits um die Willensfreiheit
behandelt werden. 34 Zunehmend deutlicher sagt der deutsche Bundesge-
richtshof, dass die Beurteilung der Steuerungsfahigkeit nicht psychologisch
oder neurobiologisch und auch nicht philosophisch zu erfolgen hat. Im Fall
Karolina schrieb der erste Senat des BGH im Jahr 2000 in seinen Beschluss:
"Insoweit hat die Kammer jedoch verkannt, dass die Frage, ob die Steue-
rungsfahigkeit erheblich beeinträchtigt ist, eine Rechtsfrage ist .... Die
Rechtsordnung darf erwarten, dass Menschen mit den hier festgestellten
Störungen ihr Verhalten so steuern, dass es nicht zu tagelangen, grausamen,
letztlich tödlichen Misshandlungen eines kleinen Kindes konlmt, wie hier
bislang festgestellt. "35 Hier wird die Beeinträchtigung der voluntativen
Fähigkeiten des Menschen in Relation zum Ausmaß des Schadens und zur
Verwerflichkeit einer Handlung gestellt - und letztere sind wiederum reine
Wertungen, die nicht auf eine empirische und schon gar nicht auf ein hu-
manwissenschaftliche Grundlage gestellt werden können.
Forensische Psychiatrie versucht den Brückenschlag zwischen den Dis-
ziplinen, ihre Aufgabe ist unter anderem jene des Übersetzers. Sie muss
dem Richter und den Prozessbeteiligten verständlich machen, was die Fach-
sprache der Psychopathologie und die dahinter liegenden Konzepte bedeu-
ten, so dass die Adressaten sie verstehen, überprüfen und als Grundlage
eigener Handlungsschritte verwenden können. Sie nimmt jedoch keine
rechtlichen Wertungen vor und trifft keine rechtlichen Entscheidungen.
Dies beruht auf einer langen Tradition, die bereits 1901 Gustav Aschaffen-
burg folgendermaßen formulierte: "Die Aufgabe, die der psychiatrische
Sachverständige innerhalb des Strafrechts im weitesten Sinne zu erfüllen
hat, ist eine Zweifache: die häufigere ist die eines Werkzeuges der Straf-
rechtspflege." Er fügte allerdings hinzu: " .. die wichtigere ist die wissen-
schaftliche Klarlegung der Ausnahmestellung, die dem psychisch Abnor-
men gewahrt werden muß ...... Mit anderen Worten, wir haben einerseits die
bestehenden Gesetze zu erörtern, andererseits die zukünftigen vorzuberei-
ten." In dieser Tradition ist es außerhalb des Gerichtssaals demnach durch-
aus angebracht zu fragen, ob neue empirische Erkenntnisse bisherige Tradi-
tionen der Gesetze und der Rechtsprechung als fragwürdig erscheinen
lassen.

33 Schreiber in: Venzlaff (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, 1986~ Schreiber/Rosenau in:


Venzlaff/Foerster (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, 5. Aufl. 2009, S. 78-152.
34 Roxin (Fn. 13)~ Schäch (Fn. 15), S. 82-101.
35 Boetticher (Fn. 4), S. 17-47.
Freiraum für den menschlichen Willen 989

Der forensische Psychiater muss - ebenso wie das Gericht - im Einzelfall


entscheiden. Das heißt nicht, dass er Forschungsergebnisse vernachlässigen
dürfte. Im Gegenteil: Empirische Erkenntnisse dürfen nicht außer Acht
gelassen werden. Die Entwicklung der vergangenen 20 Jahre haben gezeigt,
dass die systematische Anwendung empirischer Erkenntnisse zu einer we-
sentlichen Verbesserung der Arbeit der forensischen Psychiatrie geführt hat,
insbes. im Bereich der Behandlung, der Prognose und des Risikomanage-
ments 36 - weniger im Bereich der Schuldfahigkeitsbeurteilung. Der Sach-
verständige muss aber immer prüfen, ob die Erfahrungssätze, die aus den
wissenschaftlichen Daten abzuleiten sind, auf den Einzelfall zutreffen.
Gerade hier aber lautet die zentrale Frage der gegenwärtigen Debatte um
die Auswirkungen neurobiologischer Erkenntnisse auf forensisch-psychia-
trische Schlussfolgerungen, gerichtliche Entscheidungen und Prinzipien des
Strafrechts: Wie müssen biologisch empirische Erkenntnisse beschaffen
sein, um sie in einem Gerichtsverfahren anwenden zu können oder gar mit
ihnen einen Paradigmenwechsel bei den Beurteilungsprinzipien der foren-
sisch-psychiatrischen Fragestellung zu begründen?
Müller 37 hat angefangen, die hierrur erforderlichen Fragen zu stellen. Et-
was modifiziert und ergänzt lauten sie:
Korrelieren die Befunde mit spezifischen Verhaltensdaten?
- Sind die Befunde replizierbar?
- Sind die Befunde für das Individuum aussagekräftig?
- Sind die Befunde im Längsschnitt stabil?
- Sind die Befunde durch Interventionen veränderbar?
- Korrelieren die veränderten Befunde
- mit veränderten Verhaltensdaten?
- mit klinischen Veränderungen?

VI. Empirische psychologisch-psychiatrische Konzepte


zur Handlungssteuerung
Was sagt uns die empirische Forschung über die Entscheidungsmöglich-
keiten eines Menschen und über seine Fähigkeiten, diese Entscheidungs-
möglichkeiten wahrzunehmen?

36 Hodgins International Journal of Forensie Mental Health 1 (2002), 7-23~ Taylor/Chil-


vers/Doyle/Gumpert/Harney/Nedopil International Journal of Forensie Mental Health 8 (2009),
2-8.
37 Müller Nervenarzt 80 (2009), 241-251.
990 Norbert Nedopil

Nach dem Dreiphasenmodell der Handlung von Roth 38 tauchen Wünsche


und Pläne aus den subkortikalen Strukturen, insbesondere den Amygdala,
dem Hippokampus und dem mesolimbischen System auf und werden in den
präfrontalen und orbitofrontalen Kortex proj iziert. Hier werden sie bewusst,
und es kommt zu rationalem und emotionalem Abwägen dieser Wünsche
und Pläne. Neurofunktional wird dies durch Kreisprozesse zwischen Groß-
hirnrinde und subkortikalen Strukturen bewirkt, wobei das limbische Sys-
tem, die Basalganglien und der Hippokampus auf der subkortikalen Ebene
involviert sind. Wenn die Aktivierung obsiegt, folgt daraus die Ausführung
der Handlung, die vom prämotorischen, supplementär motorischen und
primär motorischen Kortex gesteuert wird. Anschließend folgt die Bewer-
tung der Handlung, bei der wiederum kortikale und subkortikale Strukturen,
z.B. das dopaminerge Belohnungssystem, beteiligt sind. Roth stellt damit
das deutliche Übergewicht subkortikaler und damit unbewusster Mecha-
nismen, die zu einer Handlung führen, heraus.
Folgt man allerdings dem Modell der intentionalen Handlungskontrolle,39
so sind menschliche Handlungen weitaus komplexer, als es dem Modell von
Roth entspricht. Wenn man eine Fremdsprache erlernen oder ein Musikin-
strument beherrschen will, wenn man in einer Sportart Überdurchschnittli-
ches leisten will, bedarf es einer viel umfassenderen Handlungsplanung und
-kontrolle. Bei der Analyse eines solchen Handlungsentwurfs und dessen
Umsetzung muss man sich fragen: Welche Schritte muss der Handelnde
durchlaufen? Welche bewussten Entscheidungen muss er immer wieder
treffen? Welche gegenläufigen Wünsche muss er immer wieder hintanstel-
len? Der Handelnde braucht also die Fähigkeit zur Antizipation, die Fähig-
keit zur Sprache und zur Selbstinstruktion, und er bedarf der Selbstkontrolle
zur Unterdrückung habitueller Verhaltensweisen und emotionaler Impulse,
die ihn von seinem Ziel abbringen würden. Das Gleiche gilt auch bei der
Planung eines Verbrechens, z.B. eines Bankraubs.
Jeder langfristigen Intention stehen immer wieder konkurrierende Hand-
lungstendenzen entgegen, vor denen sich derjenige, der sein Ziel verfolgt,
schützen muss. Dieser Schutz vor gegenläufigen Impulsen und Wünschen
erfordert eine bewusste Kontrolle der Umwelt, eine Fokussierung der Auf-
merksamkeit, eine Kontrolle der Emotionen und Impulse und der Motivati-
onen. Janzarik40 zeigt deutlich auf, wie notwendig es ist, gegenläufige Ten-
denzen und Strebungen bewusst zu "desaktualisieren", um einen
Handlungsplan zu realisieren. Klinisch ist die Notwendigkeit solcher Kon-
trollen und Desaktualisierungen erkennbar, wenn man dysexekutive Syn-

38 Roth Persönlichkeit -Entscheidung - Verhalten, 2007.


39 Goschke in: v. Müsseler/Prinz (Hrsg.), Allgemeine Psychologie, 2005, S. 271-335.
40 JanzarikNervenarzt 71 (2000), 181-187.
Freiraum fur den menschlichen Willen 991

drome untersucht, bei denen diese Kontrollfunktionen erheblich beeinträch-


tigt sind und nicht mehr bewusst eingesetzt werden können. 41

VII. Persönliche Schlussbetrachtung


Bei einer solchen Betrachtung wird auch deutlich, dass von einem
Wunsch oder einer Absicht bis zu der Durchruhrung einer Handlung we-
sentlich mehr Schritte erforderlich sind, als sie durch heutige neurowissen-
schaftliche Methoden verlässlich erfasst werden können. Diese Vielzahl der
Schritte und Regulationsmechanismen sind durch eine unermessliche und
unvorstellbare Zahl neuronaler Verbindungen und Aktivitäten reguliert. Es
geht nicht nur um 14 Milliarden Nervenzellen, von denen wiederum jede
durch etwa 100 Synapsen mit anderen Nervenzellen verbunden sind, was
möglicherweise noch einer Berechnung zugänglich gemacht werden könnte,
es geht bei jeder Synapse auch noch um eine Vielzahl von Rezeptoren, die
variable Empfindlichkeiten haben, wodurch sich eine auch nur ungefähre
Berechnung der Möglichkeiten, die ein Impuls nehmen kann, kaum je be-
werkstelligen lassen dürfte. Wenn es aber schon bei einem dreigliedrigen
Chaospendel nicht gelingt, die Pendelausschläge zu berechnen, wie viel
weniger kann dies in einem so komplexen Gebilde wie dem Gehirn gelin-
gen?
Vor diesem Hintergrund ist mein persönlicher Standpunkt, dass es trotz
aller anerkennenswerter und wichtiger Fortschritte der Neurowissenschaften
in Anbetracht der Komplexität des Zentralnervensystems, des Unwissens
über diese komplexen Zusammenhänge und der Unsicherheit über denkbare
Entscheidungsmöglichkeiten keinen Beweis rur oder gegen den freien Wil-
len gibt; es gibt aber genügend Raum für die Willensfreiheit. Einer der
fiihrenden Wissenschaftler der Computerprogrammierung, der Mathemati-
ker Joseph Weizen baum hat es - nahezu wie ein Vermächtnis - immer wie-
derholt, dass der Mensch um Mensch zu sein, von anderen Menschen als
Mensch behandelt werden muss. 42 In Analogie dazu meine ich, dass Freiheit
des Willens auch dadurch gewährt wird, dass sie dem Menschen von ande-
ren Menschen zugebilligt wird.

41 Goldenberg Neuropsychologie: Grundlagen, Klinik, Rehabilitation, 4. Aufl. 2007.


42 Weizenbaum/Wendt Wo sind die Inseln der Vernunft im Cyberstrom? Auswege aus der
programmierten Gesellschaft, 2006.
Schuldfähigkeit bei "Komorbidität" durch mehrere
psychische Störungen

HANs-LUDWIG KRÖBER

I. Einleitung
In Band 1 des "Handbuchs der Forensischen Psychiatrie" schreibt Schöch:
"Entsprechend dem psychiatrischen Konzept der Komorbidität kann auch
eine Kumulation mehrerer (in der Regel länger anhaltender) psychischer
Störungen, die für sich allein nicht ausreichen würden, zur relevanten Be-
einträchtigung der Steuerungsfahigkeit führen (z.B. dissoziale Persönlich-
keitsstörung mit Suchterkrankung oder Affekt mit einer Neurose). Dieses
kumulative Zusammenwirken mehrerer Faktoren wird in der Praxis oft
nicht hinreichend beachtet." 1 Damit sind wir beim Thema: welcher Art ist
die Beachtung, die man dem gleichzeitigen Vorliegen mehrerer psychischer
Auffalligkeiten schenken sollte, und was kann dies fur die Schuldfahigkeit
bedeuten? Was kann es fur eine Maßregelanordnung bedeuten?

11. Zum Grundkonzept der "Komorbidität"


"Komorbidität" ist nun zunächst nichts anderes als das Zusammentreffen
mehrerer Erkrankungen, z.B. von schwerer Depression und Herzinsuffi-
zienz. Es gibt auch das Zusammentreffen mehrerer psychischer Störungen,
so spricht man zum Beispiel beim Zusammentreffen einer Schizophrenie
mit einer Drogenabhängigkeit von Komorbidität. Dieses Zusammentreffen
wird registriert, wenn jede der erwähnten Störungen so ausgeprägt ist, dass
sie fur die Behandlung bedeutsam sein könnte. Da inzwischen die Bezah-
lung durch die Krankenkassen auch von der Anzahl der Diagnosen abhängt,
ist die Stellung mehrerer Diagnosen in der somatischen Medizin (Koronare
Herzkrankheit plus Bluthochdruck plus Hyperlipidäme plus leichter Diabe-
tes) wie auch in der Psychiatrie (z.B. Herzangstsyndrom plus akute Anpas-

1 Schöch Die Schuldfähigkeit, in: Kröber/Dölling/Leygraf/Saß (Hrsg.), Handbuch der Fo-


rensischen Psychiatrie, Bd. 1: Strafrechtliche Grundlagen der Forensischen Psychiatrie, 2007,
S.92-159.
994 Hans-Ludwig Kröber

sungsstörung plus Benzodiazepinmissbrauch) inzwischen der Regelfall.


Schon frühzeitig wurde auch in der Analyse forensischer Gutachten festge-
stellt, 2 dass oft mehrere Diagnosen gestellt werden. In der Regel ist aller-
dings eine Diagnose die führende und bestimmt letztlich die Behandlungs-
strategie bzw. die Beurteilung der Schuldfahigkeit und der Angemessenheit
bestimmter Rechtsfolgen. Nur im Ausnahmefall handelt es sich um ein
Zusammentreffen von Störungen, die sämtlich je einzeln keine Behandlung
rechtfertigen würden.
Die eingangs von Schöch 3 skizzierte Konstellation des Zusammentreffens
mehrerer subrelevanter Störungen, die sämtlich je einzeln nicht zur Beein-
trächtigung der Steuerungsfahigkeit führen würden, ist also in der Medizin
und eigentlich auch in der forensischen Psychiatrie ein - fragwürdiger -
Sonderfall, der eine saubere konzeptuelle Abklärung sinnvoll macht. Im-
merhin hatte Streng4 in seinem grundlegenden, knappen Beitrag geschrie-
ben, es gehe zwar um eine Gesamtwürdigung des Störungsbildes angesichts
des Zusammenwirkens der Einflussfaktoren. "Dabei kann es aber nicht
darum gehen, bei Vorliegen mehrerer Störungen (..) etwa eine Rechnung
nach dem Motto ,ein halb erfülltes plus ein halb erfülltes Eingangsmerkmal
gibt ein ganz erfülltes Eingangsmerkmal ' aufzumachen. Für die letztlich
entscheidende schwereorientierte Gesamtbetrachtung5 kommt es nicht auf
die Anzahl der Defekte und/oder deren Zuordnung zu verschiedenen Ein-
gangsmerkmalen an, sondern auf den Grad der Beeinträchtigung der schuld-
relevanten psychischen Funktionen des Täters bei Tatbegehung". Das Vor-
liegen mehrerer psychiatrischer Diagnosen sage nicht notwendig etwas über
eine besondere Schwere der Störung aus. Es müsse (mindestens) ein psychi-
scher Defekt vorliegen, der einem der Eingangsmerkmale der §§ 20, 21
StGB zuzuordnen sei; die komorbide Störung könne man dann für die Ge-
wichtung des bedeutsamsten Defekts nutzbar machen. 6 Fischer 7 hält sich
bedeckt und verweist bei "Zusammentreffen mehrerer Störungen" auf
Strent. Die Rechtsprechung stellt nachvollziehbar nicht auf die Störungen
selbst, sondern ihr akutes Resultat in der Tatsituation ab. 9

2 Verrel Schuldfahigkeitsbegutachtung und Strafzumessung bei Tötungsdelikten, 1995.


3 Siehe Fn. I.
4 Streng StV 2004, 6 I4-620.
5 LK-Jähnke, 11. Aufl. 1993, § 20 Rn. 74.
6 Streng (Fn. 4), 615.
7 Fischer StGB, 56. Aufl. 2009, § 63 Rn. 7.
8 Siehe Fn. 4, 614.
9 So BGH 21.09.2004 - 3 StR 333/04.
Schuldfahigkeit bei "Komorbidität" 995

111. Kumulation
Die Probleme beginnen beim problematischen, wolkigen Begriff der "Ku-
mulation". Bewirkt das gleichzeitige Vorliegen mehrerer psychischer Stö-
rungen tatsächlich, gar stets, eine "Kumulation" psychischer Gestörtheit,
eine Vermehrung psychischer Beeinträchtigung? Beim Zusammentreffen
einer paranoiden Persönlichkeitsstörung mit einem Bluthochdruck würde
man schwerlich von einer "Kumulation" reden, vielleicht von "Multimorbi-
dität", wenn außerdem noch eine Herzinsuffizienz vorläge und ein Grauer
Star. Damit ist sogleich verdeutlicht: Krankheiten neigen keineswegs auto-
matisch dazu, sich in ihren Effekten zu addieren oder zu kumulieren. Selbst
beim Vorliegen mehrerer psychischer Störungen ist jeweils zu prüfen, wie
sich ihre Effekte ergänzen, verstärken oder wechselseitig schwächen. So
können die Gefährdungen, die sich aus einer dissozialen Persönlichkeitsstö-
rung ergeben, durch die Antriebshemmung und Niedergeschlagenheit einer
akuten Depression strikt unterbunden sein.
Es ergeben sich also folgende Fragen:
1. Was besagt der Begriff "Komorbidität" im Umfeld der Krankheitsleh-
re und welches Verhältnis besteht zwischen den Phänomenen, die hier
koinzidieren?

2. In welchen Situationen des Strafrechtsalltags, also bei welchen Tätern


und Taten sind wir mit diesem Problem konfrontiert?

3. Welche Maßstäbe zur Beurteilung der Schuldfähigkeit sowie der An-


gemessenheit von spezifischen Rechtsfolgen gibt es in diesen Fällen?

IV. Das Konzept "Komorbidität" und psychiatrische


Krankheitslehre
Die modemen psychiatrischen Klassifikationssysteme wie DSM (Di-
agnostic and Statistical Manual of Mental Disorders)lO oder der psychiatri-
sche Teil der ICD (International Classification of Diseases)11 tragen der
Tatsache Rechnung, dass bei einer bestimmten Person oftmals Störungen in
mehreren Funktionsbereichen und mit unterschiedlicher Verursachung

10 Saß/Wittchen/Zaudig/Houben (Hrsg.), Diagnostische Kriterien des Diagnostischen und


Statistischen Manuals Psychischer Störungen DSM-IV-IR, 2003.
11 Dilling/Mombour/Schmidt Internationale Klassifikation psychischer Störungen - ICD-IO
Kapitel V (F) Klinisch-diagnostische Leitlinien, 1991.
996 Hans-Ludwig Kröber

vorliegen, die bisweilen auch verschiedener therapeutischer Maßnahmen


bedürfen. Insofern ist es sachgerecht, alle vorhandenen Störungen aufzulis-
ten. Soweit die verschiedenen gestörten Funktionen Ausdruck eines Krank-
heitszusammenhanges sind, werden sie diagnostisch entsprechend gefasst;
wenn aber differente Krankheitseinheiten vorliegen sowie weitere Störun-
gen, die üblicherweise nicht als Krankheit bezeichnet werden (wie z.B.
Persönlichkeitsstörungen), so werden auch diese diagnostisch erfasst. Es
wird also nicht der Versuch gemacht, stets alles als eine einzige, einheitli-
che Krankheit mit nur einer einzigen Diagnose zu belegen. Auch im psychi-
schen Bereich können mehrere Störungen vorliegen.
Allerdings ist das Komorbiditätskonzept in der Psychiatrie nicht ganz un-
problematisch: es gibt diagnostisch abgegrenzte Krankheitsbilder, die rela-
tiv symptomreich sind und die ganze Person erfassen - wie die Schizophre-
nie. Es ist unzulässig, Teilbereiche dieser Erkrankung mit einer eigenen
Diagnose zu belegen und beispielsweise von einer Komorbidität von para-
noider Schizophrenie und einem Syndrom akustischer Halluzinationen zu
sprechen - beides gehört vielmehr zusammen und ist Ausdruck ein und
derselben Störung. Relevant wird dies, wenn es im Rahmen der Schizo-
phrenie zu einer residualen Persönlichkeitsveränderung gekommen ist; hier
wird man lege artis von einer Schizophrenie mit residualer Persönlichkeits-
veränderung sprechen, nicht aber von einer Komorbidität von Schizophre-
nie und Persönlichkeitsstörung. Es gilt hier sozusagen die Anwendung der
Ockham' schen Regel auf die Diagnostik: alles, was bereits aus der vorherr-
schenden Krankheit erklärt werden kann und ihr zugehört, wird nicht mit
einer gesonderten Diagnose belegt. Gerade Berufsanfanger und diagnostisch
lebenslang unsichere Menschen neigen jedoch dazu, ein einheitliches Stö-
rungsbild zu parzellieren, ja ein und denselben Sachverhalt mit mehreren
Diagnosen zu belegen und mit einem bunten Strauß von Diagnosen aufzu-
warten. Das ist juristischerseits oft schwer zu erkennen; wo aber nur wenige
Funktionsstörungen konkret beschrieben werden, zugleich zahlreiche Diag-
nosen gestellt werden, sollte man sich skeptisch annähern.
Diagnostik ist noch nicht automatisch Schweregradbestimmung. Insbe-
sondere ergibt sich der Schweregrad einer Erkrankung - der mit ihr verbun-
dene psychosoziale Leistungsverlust, ihre Prognose, ihre Behandelbarkeit -
nicht selbstverständlich aus der Anzahl der Symptome. Eine Schizophrene,
die Stimmen hört, ist deswegen nicht kränker als eine Schizophrene, die
keine Stimmen hört. Ein Schizophrener, der prämorbid eine dissoziale Per-
sönlichkeitsstörung hatte, ist in der akuten Phase deswegen nicht kränker als
der prämorbid schüchterne, unauffällige Schizophrene. Das wichtigste psy-
chiatrische Krankheitsbild kann so dominierend sein, dass die komorbiden
Störungen demgegenüber ganz bedeutungslos sind, so bei einer Demenz,
die mit den nunmehrigen extremen Funktionseinbußen die Beeinträchtigun-
Schuldfahigkeit bei "Komorbidität" 997

gen durch akuten Substanzmissbrauch belanglos macht. Für die strafrechtli-


che Beurteilung gilt: vielleicht nur ganz wenige Symptome oder nur ein
einziges Symptom innerhalb des vorhandenen buntscheckigen Störungsbil-
des mag für Tat und Steuerungsfähigkeit bedeutsam sein - psychotische
Angst und Erregung für die impulsive Körperverletzung oder demenzbe-
dingte Desorientierheit für die Brandstiftung. Es mag aber sein, dass andere
Aspekte der Symptomatik ungleich wichtiger sind für kriminalprognosti-
sche Aussagen, also für die Frage der therapeutischen Beeinflussbarkeit des
Krankheitsbildes und für die Rückfallgefahr.
So ist beispielsweise der Cannabiskonsum vieler straffällig werdender
Schizophrener für die Frage der Schuldfähigkeit meist belanglos. Der Can-
nabiskonsum wird weithin und nicht zu Unrecht als ein insuffizienter, ris-
kanter Selbstbehandlungsversuch der Kranken gesehen, die sich unter Can-
nabis kurzdauemd ruhiger, weniger angespannt fühlen, allerdings dann auch
noch weniger versuchen, den sozialen Anforderungen des wirklichen Le-
bens nachzukommen. Die jeweiligen Straftaten, Eigentumsdelikte infolge
Verwahrlosung und Obdachlosigkeit, Körperverletzungsdelikte infolge
psychotischer Angst und Erregung, werden aber zumeist nicht unter akuter
Cannabiseinwirkung begangen (das Geld dafür ist schon vorher ausgegan-
gen). Selbst wenn ein Kranker vor einer psychotisch motivierten Tat Can-
nabis konsumiert hätte, kann man einen relevanten Beitrag des Cannabis
ausschließen - das wäre, als wenn man ein Streichholz in einen brennenden
Ofen wirft. Für die (ohnehin aufgehobene oder zumindest verminderte)
Schuldfähigkeit ist der Cannabismissbrauch des Schizophrenen also ohne
Belang; zugleich ist er aber kriminalprognostisch ein ausgesprochen wichti-
ger Indikator für eine erhöhte Rückfallneigung.
Die so genannte multiaxiale Diagnostik fragt also zunächst nach Störun-
gen auf der Achse I; hier sind die klassischen psychiatrischen Krankheits-
bilder versammelt (hirnorganische, schizophrene, affektive Störungen), aber
auch eine Vielzahl umschriebener Störungen (wie z.B. Angststörungen).
Auf der Achse 11 können zusätzlich Persönlichkeitsstörungen festgehalten
werden - bei denen immer als diagnostisches Ausschlusskriterium vermerkt
ist, dass sie nicht durch eine der klassischen psychiatrischen Erkrankungen
verursacht sein dürfen. Auf Achse 111 wird kodiert, wenn zusätzlich körper-
liche Erkrankungen und Beeinträchtigungen vorliegen; damit endet dann
der diagnostische Bereich.
Wenn auf den Achsen I, 11 und 111 mehrere Diagnosen gestellt werden,
liegt Komorbidität vor, also z.B. Alzheimer-Demenz (Achse I) und Blut-
hochdruck (Achse 111) oder Bipolare Störung und Alkohol-Abhängigkeit
(beides Achse I) oder Panikstörung (Achse I) und schizoide Persönlich-
keitsstörung (Achse 11). Komorbidität liegt definitionsgemäß auch vor,
wenn die hinzutretende Störung vorübergehend und eher kurzdauernd ist,
998 Hans-Ludwig Kröber

sei es die Pneumonie des Alzheimer-Patienten oder der Alkoholrausch des


Persönlichkeitsgestörten. Man muss sich aber stets bewusst bleiben, dass
das, was hier jeweils "Morbus" genannt wird, von durchaus unterschiedli-
cher Wucht und Struktur ist.
Komorbidität lässt sich schwerlich ins Juristische übertragen; sie liegt je-
denfalls nicht erst dann vor, wenn mehrere der in § 20 StGB genannten
Rechtsbegriffe erfüllt werden, also beispielsweise sowohl eine akute (pas-
sagere) krankhafte seelische Störung durch Alkoholrausch vorliegt als auch
eine schwere andere seelische Abartigkeit infolge einer schweren schizoi-
den Persönlichkeitsstörung. Sie liegt auch dann vor, wenn innerhalb der
gleichen Kategorie - z.B. krankhafte seelische Störung - zwei eigenständi-
ge Störungsbilder vorgelegen haben, also z.B. der akute Alkoholrausch
eines manisch Erkrankten.

v. Begutachtungssituationen von "Komorbidität"


Im "Handbuch der Forensischen Psychiatrie" stellte Schäch 12 unter Beru-
fung auf Nedopil 13 die Frage, "wie das gleichzeitige Auftreten von mehreren
Störungen zu behandeln ist, insbesondere wenn nur die Kumulation zu
§§ 20,21 StGB fUhrt. Relevant wird das Problem bei den Voraussetzungen
und Rechtsfolgen der §§ 20, 21 StGB und des § 323a StGB sowie bei den
Maßregeln gemäß §§ 63, 64 StGB." Die praktische Bedeutung des Prob-
lems sei relativ groß. In der forensisch-psychiatrischen Literatur werde vor
allem auf das häufige Zusammentreffen von Alkoholmissbrauch und Alko-
holabhängigkeit mit anderen psychischen Störungen, insbesondere mit der
dissozialen Persönlichkeitsstörung hingewiesen. Das Problem werde in
mehreren höchstrichterlichen Entscheidungen der letzten Jahre behandelt. 14
Streng 15 hatte vor allem auf die Kombination von überdauernder krank-
hafter seelischer Störung oder von tiefgreifender Bewusstseinsstörung oder
von Persönlichkeitsstörung mit Alkoholisierung oder Drogenrausch hinge-
wiesen, zudem auf die Kombinationswirkung von Alkoholintoxikation und

12 Siehe Fn. 1.
13 Nedopil Forensische Psychiatrie, 2. Autl. 2000.
14 Z. B. BGHSt 44, 338, 344 (Persönlichkeitsstörung + Alkoholsucht); 369, 375 (Psychose +
geringer Alkohol); BGH NStZ 2004, 197 (Alkoholabhängigkeit + Intelligenzminderung +
kombinierte Persönlichkeitsstörung mit dissozialen, paranoiden, schizoiden und impulsiven
Zügen).
15 Fn. 4.
Schuldfähigkeit bei "Komorbidität" 999

Drogenwirkungen (dazu unten). Schäch I6 benannte weitere, in der Recht-


sprechung erörterte Kombinationen. 17
Die Lösung des Komorbiditätsproblems in der Rechtsprechung, so
Schäch,18 sehe so aus: "Die Rechtsprechung neigt bei §§ 20, 21 StGB dazu,
sich auf ein Eingangsmerkmal festzulegen (BGHSt 34, 59, 62) und weitere
nur zur Intensivierung heranzuziehen (StV 1989, 14; StV 2003, 73; StV
1990, 544)." Diese juristische Lösung des Problems leuchtet auch dem
psychiatrischen Sachverständigen unmittelbar ein; es gibt in aller Regel eine
führende, das Zustandsbild dominierende psychische Erkrankung, und es
gibt weitere Störungen, die die Auswirkungen der dominanten Störung
modifizieren oder ergänzen. Entscheidend ist zunächst die Wirkmacht der
hauptsächlichen Störung, und höchst problematisch ist die Addition von
Störungen und sonstigen Einflussfaktoren, die sämtlich nicht die Intensität
haben, dass sie allein überhaupt einer der Eingangsvoraussetzungen der
§§ 20, 21 StGB zuzuordnen wären: also z.B. geringe Intelligenz (IQ=84),
geringe Alkoholisierung (BAK 0,8 %0), dissoziale Persönlichkeit und akute
Verärgerung. Es gab das Gerücht, es habe vor Jahrzehnten die "Münchner
Stapelmethode" gegeben, mit der man mehrere solche subliminale Befunde
aufeinander stapelte, um so die Hürde des § 21 StGB zu überwinden ("wenn
nur Kumulation zu § 21 StGB führt" könnte sich darauf beziehen).
Solches Stapeln minderwüchsiger Schuldminderungsgründe zu atembe-
raubender Höhe gab es aber nicht nur in München, sondern auch in Berlin:
Herr M. hatte 1980 einen versuchten Mord an einem Geschäfts-
Konkurrenten begangen, dem er aus nächster Nähe 5 Kugeln in den Körper
schoss; der Mann überlebte wie durch ein Wunder. M. wurde zu 5 Y'2 Jahren
verurteilt und nach 2 Y'2 Jahren aus der Haft entlassen. 1988 überfiel er mit
seinem 21jährigen Sohn ein Juweliergeschäft und streckte mit einem Ge-
nickschuss die Verkäuferin zu Boden, die gleichwohl überlebte. Das Land-
gericht Berlin verurteilte ihn 1990 zu 15 Jahren Haft (1 Kap Js 1043/88);
denn seine Schuldfahigkeit sei vermindert gewesen. Das Urteil stellte fest,
der Sachverständige habe eine psychische Erkrankung verneint. Dann wört-
lich: "Zur Tatzeit befand sich M. aber in einem psychischen Spannungszu-
stand. Er war übermüdet, das lange Warten auf den geeigneten Augenblick
zum Überfall wirkte zermürbend, die als wahr unterstellte Einnahme des
Aufputschmittels ,Captagon' destabilisierend. Nach richtiger Beurteilung
des Sachverständigen kann zwar die Aufhebung der Einsichts- und Steue-
rungsfahigkeit mit Sicherheit ausgeschlossen werden, nicht jedoch die
rechtserhebliche Verminderung der Steuerungsfahigkeit" (Urteil S. 25).

16 Fn. 1.
17 Z.B. BGHR § 21 StGB Ursachen, mehrere 5: Tabletten + Schwachsinn + Depression.
18 Fn. 1, S. 140.
1000 Hans-Ludwig Kröber

Aber auch die Kombination von Diabetes, Bluthochdruck und "nervlicher


Belastung" 19 leuchtet natürlich nicht als krankheitswertige psychische Stö-
rung ein, die im Sinne des "psychopathologischen Referenzsystems"20 einer
akuten Psychose oder dem mittelschweren Rausch vergleichbar wäre; weder
Diabetes noch Bluthochdruck beeinflussen direkt die Schuldfähigkeit. Al-
lenfalls Folgekrankheiten wie Hirngefäßveränderungen, die dann wiederum
zu cerebralen Durchblutungsstörungen geführt haben müssten, die dann
wiederum relevante psychische Beeinträchtigungen nach sich gezogen ha-
ben müssten, können an verminderte Schuldfähigkeit heranführen - man
muss diese BGH-Entscheidung also wohlwollend als entsprechenden Be-
weisermittlungsauftrag auffassen. Jedenfalls ist "nervliche Belastung" keine
der in §§ 20, 21 StGB privilegierten Störungen und schwerlich vergleichbar
mit einem IQ unter 70, einem Rausch mit über 2 %0 BAK oder einer akuten
Psychose. "Nervliche Belastung" ist so etwas wie das zermürbende Warten
auf die morgendliche Öffnung des Juweliergeschäftes, das man überfallen
möchte.

VI. "Komorbidität" im Hinblick auf die Schuldfähigkeit


Zunächst ist also zu prüfen, ob die einzelnen genannten Einflussfaktoren
überhaupt relevante Störungsbilder sind, die psychiatrisches Gewicht
haben. Nicht alles, was in IeD oder DSM gelistet ist, kann dazu gezählt
werden. Es findet sich dort z.B. auch der weit verbreitete Nikotin-Abusus,
der, würde man ihn jeweils diagnostisch anführen, fast alle Probanden zu
"komorbiden" Personen machen würde. Es finden sich Schlafstörungen,
leichte Somatisierungsstörungen, Hypochondrie und andere Beschwerden,
die jedenfalls für die Eingangsvoraussetzungen der §§ 20, 21 StGB nicht
von Belang sind.
Sodann ist zu prüfen, ob - in Bezug auf das vorgeworfene Delikt - über-
haupt eine Bedeutsamkeit, und wenn ja, eine additive Wirkung vorliegt.
Wenn beide Störungen, die aufeinander treffen, weit von der Erheblich-
keitsschwelle entfernt sind, dann wird sie auch nicht gemeinsam überschrit-
ten (1 Minderbegabung + 2 Grappa = ? Antwort: voll schuldfähig). Zumin-
dest eine der beiden (oder mehrere Störungen) muss direkt an der
Erheblichkeitsschwelle stehen, um durch einen schwachen komorbiden
Einfluss hinübergedrückt zu werden. Man braucht hier aber nicht mathema-
tisch zu spekulieren, sondern sollte psychologisch argumentieren im Hin-
blick auf das Tatgeschehen und die darin sichtbaren Stärken und Schwächen

19 4 StR 473/02, NStZ 2003, 363.


20 Saß Forensia 1985, 35-43.
Schuldfahigkeit bei "Komorbidität" 1001

des Beschuldigten. Der Mann mit paranoider Persönlichkeitsstörung, der


aber normalerweise trotz seines steten Grolls eher defensiv und gehemmt
ist, mag durch eine akute, knapp mittelgradige Berauschung soweit gelo-
ckert sein, dass er nun seinen aggressiven Wünschen zur vermeintlich be-
rechtigten Gegenwehr nachgibt. Führend ist und bleibt die paranoide Per-
sönlichkeitsstörung, und es ist zu prüfen, ob er nun Methoden gefunden hat,
sie in gefährliches Handeln zu transformieren oder ob es sich um einen
einmaligen Ausrutscher handeln wird.
Keine relevante Addition ergibt sich jedoch, wenn der Mann mit disso-
zialer Persönlichkeitsstörung, zu der schon nach den diagnostischen Krite-
rien der habituelle Alkohol- oder Drogenmissbrauch gehört, nun in leicht
alkoholisierter Verfassung (so dass der Rausch selbst keineswegs für den
Nachweis erheblicher psychischer Beeinträchtigung genügt) einen Raub
begeht. Hier hat der Alkohol nichts beseitigt, was mental vorher vorhanden
gewesen wäre, er hat keine Hemmungen gemindert, er hat die Steuerung
nicht beeinflusst. Die normenbezogene Strukturlosigkeit des Dissozialen
wird durch die normenzersetzende Wirkung des Alkohols gar nicht mehr
erreicht. Die Alkoholwirkung geht normenbezogen ins Leere, allenfalls
kann der Alkohol die Tatausfuhrung durch motorische Defizite und verlän-
gerte Reaktionszeiten beeinträchtigen. In diesem Sinne äußert sich auch
Streng. 21
Es kann in machen Fällen durchaus eine Verminderung der Kriminali-
tätsrisiken durch Komorbidität eintreten. 22 Wir haben einen Betrüger ken-
nen gelernt, bei dem die Kombination von histrionischer Persönlichkeitsstö-
rung (welche die Betrugsneigung und -qualität förderte, die Schuldfähigkeit
aber nicht beeinträchtigte) und Alkoholabhängigkeit eine sozusagen krimi-
noprotektive Komorbidität schuf: solange der Proband dank der zuvor an-
geordneten Maßregel gemäß § 64 StGB alkoholabstinent blieb, blühte
(schon von der Maßregelklinik aus) sein Betrugsgeschäft. In dem Maße, wie
er nach Entlassung in Freiheit wieder der Trunksucht verfiel, musste er
Termine mit möglichen Betrugsopfern absagen, das Geschäft seinem Kom-
pagnon überlassen und insgesamt seine kriminelle Aktivität herunterfahren.
Für viele kriminelle Aktionen bedarf es einer erheblichen psychischen und
körperlichen Leistungsfähigkeit; alle Krankheiten tendieren dazu, diese
Leistungsfähigkeit zu mindern. Wenn man gleich mehrere Krankheiten hat,
könnte dies dazu fuhren, dass einem der Entschluss, eine Straftat zu bege-
hen, besonders schwer fällt. Deswegen haben wir beispielsweise weit unter-
durchschnittlich häufig Straftaten von akut depressiven Menschen; wenn

21 Fn. 4, 616.
22 Kröher in: Kröber/Dölling/Leygraf/Saß (Hrsg.), Handbuch der Forensischen Psychiatrie,
Bd. 4: Kriminologie und Forensische Psychiatrie, 2009, S. 321-337.
1002 Hans-Ludwig Kröber

wir gleichwohl auf depressive Beschuldigte treffen, ist deren Depression


zumeist Reaktion auf das Strafverfahren und die Inhaftierung sowie die
damit verbundenen sozialen Folgen.
Entscheidend ist also immer wieder die Prüfung anhand des Tatgesche-
hens: welche psychische und neurologische Leistungsfähigkeit setzt es
voraus, wie viel Umsicht und Situationskontrolle, wie viel Selbstdisziplin
und wie viel Flexibilität. Daran kann man in vielen Fällen ermessen, ob
überhaupt eine psychische Beeinträchtigung vorgelegen hat und wie inten-
siv diese war. Dann ist es nicht mehr sehr wichtig, ob diese Beeinträchti-
gung aus einer, zwei oder drei vorliegenden Störungen resultierte.

VII. Die Fallkonstellationen von Streng


Nach Streng (2004) kommen einige Kombinationen in der Praxis häufig
vor, sie sollen nachfolgend kurz aus psychiatrischem Blickwinkel diskutiert
werden.
Alkoholintoxikation und Drogenwirkungen: Hier handelt es sich nicht
um Komorbidität, sondern um einen einzigen, einheitlichen Rausch infolge
additiver Wirkungen der Substanzen, die sich allerdings gegenseitig nicht
unbedingt verstärken müssen. Dies ist z.B. nicht der Fall, wenn gleichzeitig
"Upper" und "Downer" genommen, gleichzeitig Bremse und Gaspedal
gedrückt werden. Aber auch die Kombination von beruhigenden und mü-
demachenden Substanzen mit antriebssteigernden Drogen (z.B. viel Alko-
hol und viel Kaffee) führt meist zu unangenehmen Unruhezuständen, nicht
notwendig aber zum Verlust der adäquaten Situationsübersicht und Anpas-
sungsfähigkeit.
Im Übrigen ist auch der von Streng'-3 diskutierte Vollrausch stets allein
durch die psychische Symptomatik eines Vollrausches zu charakterisieren,
egal welche Zusatzfaktoren eine Rolle gespielt haben mögen; wenn keine
Vollrauschsymptomatik24 vorliegt, ist es auch kein Vollrausch - egal wel-
che sonstigen Faktoren vorhanden waren.
Dauerhafte krankhafte seelische Störung und Alkoholisierung bzw.
Drogenkonsum. Genannt wird der Himdefekt nach Hirntrauma, der fur
sich kompensiert bleibt, aber eine massiv erhöhte Alkoholempfindlichkeit
zur Folge hat (wie dies klinisch wohlbekannt ist) und unter Alkoholisierung
zu Schuldunfähigkeit oder verminderter Schuldfähigkeit fuhrt. Aus psychi-
atrischer Sicht ist hier der entscheidende Faktor die Alkoholisierung, die
eben auf einen besonders alkoholempfindlichen Mann trifft; es gibt keinen

23 Siehe Fo. 4.
24 Kröber NStZ 1996, 569-576.
Schuldfähigkeit bei "Komorbidität" 1003

prinzipiellen Unterschied in den psychischen Auswirkungen beim Vergleich


z.B. mit alkoholungeübten Jugendlichen. Ohnehin entscheidet sich die
Schuldfahigkeit des Berauschten bei Psychiatern nie nach der BAK, son-
dern anhand des vorliegenden Rausches. Also Ja: durchaus verminderte
Schuldfahigkeit oder Vollrausch - aber keinesfalls eine Maßregel nach § 63
StGB wegen Himschädigung.
Genau andersherum verhält es sich häufig bei psychotisch Kranken, die
zudem im konkreten Fall alkoholisiert gewesen sein mögen: hier ist die
Selbstbehandlung ihrer inneren Unruhe und Freudlosigkeit mit Alkohol
(oder Drogen) Teil der alles überformenden schweren Haupterkrankung; es
kann dies den Ausprägungsgrad der Schuldfahigkeitsminderung beeinflus-
sen, als Maßregel infrage kommt allein der § 63 8tGB, sofern weitere
gleichartige Zustände und Taten zu erwarten sind.
Dies gilt insbesondere fur die sog. "drogeninduzierten Psychosen"; hier-
bei handelt es sich nicht selten um eine Beschönigungsdiagnose fur eine
erste schizophrene Krankheitsphase, zumal viele dieser Kranken zuvor
Drogen konsumiert haben, die das Auftreten der Krankheit in der Tat beför-
dern können. Die Krankheit endet aber keineswegs mit dem Erreichen von
Drogenabstinenz, sondern persistiert eigengesetzlich. Auch hier ist es ein
grober Fehler, die vermeintliche Ursache (Cannabiskonsum) in einer Ent-
ziehungsanstalt zu behandeln statt die inzwischen eingetretene manifeste
schwere psychotische Erkrankung in einer psychiatrischen Klinik (bzw. im
Maßregelvollzug gern. § 63 8tGB).
Tiefgreifende Bewusstseinsstörung und Alkoholisierung: Ein schwie-
riges Thema, weil ein normalpsychologischer Zustand, der durch heftige
Gefuhle geprägt ist, hier als solcher nicht bestritten werden muss, aber in
aller Regel von erwachsenen Menschen gleichwohl kontrolliert werden
kann. Heftiger Kummer oder heftige Wut fuhren eben bekanntlich nicht
regelhaft zur Fremdaggression, und auch Alkoholkonsum fuhrt - bedenkt
man die Abermillionen täglichen Alkoholkonsumenten - nur in seltenen
Fällen zum Ausleben von Aggression. Wie soll man nun mit dem wütenden
verlassenen Ex-Ehemann verfahren, der zudem mäßig Alkohol getrunken
hat? Seine souveräne Beherrschung der Tatsituation unter der Berücksichti-
gung der Kriterien von Saß25 lässt die Annahme einer tiefgreifenden Be-
wusstseinsstörung nicht zu. Aber er hat zudem eine rückgerechnete Blutal-
koholkonzentration von 1,2 %0. Haben wir hier eine Komorbidität zwischen
normalpsychologischer Affekterregung (die ja eigentlich ganz ausdrücklich
kein "morbus" sein soll) und Alkoholisierung? Die Auflösung ist überra-
schend einfach: wenn die Symptomatik einer tiefgreifenden Bewusstseins-
störung im Sinne der Saß-Kriterien vorgelegen hat, mag es egal sein, in

25 Saß in: ders. (Hrsg.), Affektdelikte, 1993, S. 214-231.


1004 Hans-Ludwig Kröber

welchem Umfang der zudem genossene Alkohol dazu beigetragen hat, dann
lag dieser schuldfähigkeitsmindernde Zustand halt vor. Lag er nicht vor,
dann wird die Realität nicht zu übertrumpfen sein durch den Einwand, der
Täter habe aber doch auch Alkohol getrunken (oder Drogen konsumiert). Es
hat halt nicht zum entscheidenden psychischen Resultat gereicht.
Persönlichkeitsstörung und Alkoholisierung bzw. Drogenkonsum.
Soweit die dissoziale oder antisoziale Persönlichkeitsstörung gemeint ist, ist
das Notwendige bereits gesagt; Substanzmissbrauch gehört hier bei vielen
zum Lebensstil, wesentliche additive Effekte sind im Hinblick auf die
Schuldfähigkeit nur zu erwarten, wenn eine massive Berauschung gesichert
und nicht nur, wie so oft, behauptet ist. Unhaltbar ist die Behauptung, eine
dissoziale Persönlichkeitsstörung sei "die Ursache" eines Alkoholismus; mit
dem gleichen Recht könnte man für die vielen nicht-persönlichkeits-
gestörten Alkoholiker behaupten, psychische Normalität sei bei ihnen "die
Ursache" ihrer Alkoholabhängigkeit. Psychische Krankheiten gehen kei-
neswegs zwingend aus psychischen Krankheiten hervor, und entsprechende
Kausalzuschreibungen sind zumeist hoch spekulativ. Zumindest rechtferti-
gen sie es nicht, statt der manifesten Erkrankung die vermeintlich ursächli-
che Störung zu behandeln.
In Wahrheit handelt es sich bei den Fällen der Praxis, die zu eigenartig
verqueren Argumentationen geführt haben, um wenig verhüllte Versuche,
Dissoziale mit habituellem Alkoholmissbrauch, die rur Entwöhnungsbe-
handlungen völlig unmotiviert und unerreichbar sind, mit einigen argumen-
tativen Tricks in eine unbefristete Therapie (gemäß § 63 StGB) zu zwingen,
bisweilen mit der hehren Absicht, sie so vor der Sicherungsverwahrung zu
bewahren. Es gibt jedenfalls keine etablierte Persönlichkeitsstörung, bei der
wissenschaftlich zu sichern wäre, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit
zur Alkoholabhängigkeit führt. Auch die Dissozialität ist nicht Ursache des
Trinkens, sondern das Trinken ist Teil der Dissozialität.
Wenn eine Konstellation dergestalt vorliegt, dass eine Persönlichkeitsstö-
rung an sich nicht so schwerwiegend ist und sozial so kompensiert bleibt,
dass man sie nicht als "schwere andere seelische Abartigkeit" einordnen
kann, dann ist das gelegentliche rechtswidrige Handeln unter leichterer oder
stärkerer Alkoholisierung (oder Drogen) kein Argument dafur, von einer
überdauernd verminderten Schuldfähigkeit zu sprechen; dies ist schlicht
nicht wahr. Man hat diesen Beschuldigten also zu behandeln wie einen nach
seiner Struktur voll schuldfähigen Täter - weil er genau das ist -, der ab und
zu trinkt und dann ungute Persönlichkeitsanteile manifestiert.
Schuldfahigkeit bei "Komorbidität" 1005

VIII. "Komorbidität" im Hinblick auf Maßregeln


der Besserung und Sicherung
Schauen wir uns einen Fall an, wie er bisweilen passiert, obwohl er nach
psychiatrischer Überzeugung keinesfalls passieren sollte: Herr A. hat eine
Persönlichkeitsstörung, die ihn aber in nüchterner Verfassung nicht zu
Straftaten disponiert, er ist beispielsweise schizoid konfiguriert, kühl, intro-
vertiert, einzelgängerisch. Er ist sozial deutlich behindert, weil er keine
Freunde hat, keine Partnerin, und arbeitslos vor sich hin lebt. Man kann
mithin aus seiner überdauernden Verfassung nicht ableiten, dass sie ihn zu
erheblichen künftigen Straftaten disponiert. Er hat aber nun angesichts des
Todes der Mutter einen massiven Rausch gehabt, in dessen Verlauf er gegen
drei andere Gäste und einen Kellner des von ihm regelmäßig zum Abendes-
sen besuchten Wirtshauses massiv tätlich wurde. Nun nimmt das Unglück
seinen Lauf: Man hat ihm eine verminderte Schuldfahigkeit konzediert; die
Schrulligkeit des Gutachters wollte es so, dass er stärker beeindruckt war
von der Schizoidie des Beschuldigten als vom akuten Rausch, dass er also
die Schizoidie als das "eigentliche" Problem ansah, dem durch den Rausch
nur zum Durchbruch verholfen worden sei. Da der Proband wegen seiner
schizoiden Persönlichkeitsstörung auch künftig Erleichterung im Trinken
suchen könne, wonach er dann wieder gewalttätig werden könnte, sei ein
überdauernder Zustand im Sinne des § 63 StGB gegeben; die Einweisung in
die Psychiatrie werde empfohlen.
Psychiatrisch gesprochen ist das ein metaphysisches Durcheinander mit
reifizierten, für kompakt, eigenständig und abgrenzbar gehaltenen Stö-
rungsbildern. Nicht irgendeine Persönlichkeitsstörung hat sich in der Tat
von A. manifestiert, sondern seine Trauer, Wut und Verzweiflung an die-
sem Abend. Dass er das erstmals ausgetobt hat, lag an der enthemmenden
Wirkung des Alkohols. Da er nicht einmal eine psychische Abhängigkeit
von Alkohol hat, reicht es weder für eine Maßregel nach § 63 noch für eine
nach § 64 StGB.
Noch schlimmer wird es bei Herrn B., einem altgedienten, seit Strafreife
vielfach vorbestraften Dissozialen, dem auch mehrfach schon die dissoziale
Persönlichkeitsstörung attestiert wurde und der ihr immanente habituelle
Alkoholmissbrauch im Rahmen eines strukturlosen, von Arbeit ungetrübten
Tages- und Nachtablaufs. Er hat sich letzten Freitag Nachts an einschlägi-
gem Ort mit einem Kumpel eine Messerstecherei geliefert und diesen
schwer verletzt; zwei Tage später wurde er festgenommen und machte bei
der Polizei gemäß anwaltlichem Rat Trinkmengenangaben, die ihn in den
Bereich des sog. sicheren 21 befördern sollten. Zumal jetzt alternativ Siche-
rungsverwahrung drohte, entschied man sich bei Gericht für die vermeint-
lich humanere Lösung: die habituelle Neigung zur akuten Berauschung, in
1006 Hans-Ludwig Kröber

der er dann gefährlich sei, verleihe der vorhandenen dissozialen Persönlich-


keitsstörung ihren eigentlichen Schweregrad, so dass sie als "schwere ande-
re seelische Abartigkeit" die Maßregel nach § 63 StGB tragen könne.
Die dissoziale Persönlichkeitsstörung, die allein nicht ausreicht, um von
"schwerer seelischer Abartigkeit" zu sprechen, wird hier also veredelt zum
Mutterschiff rezidivierender Rauschzustände, die punktuelle Komorbidität
zur habituell überdauernden Komorbidität, und das Ziel psychiatrischer
Maßregelvollzug ist erreicht.
Auch dies kann der auf Grundlage wissenschaftlicher Methodik denkende
und urteilende Psychiater nur mit massivem Widerwillen zur Kenntnis
nehmen. In Wahrheit wird nichts anderes gemacht, als dass Verhaltensmus-
ter, die der unbeeinträchtigten Steuerungsfähigkeit des Probanden unterlie-
gen, nämlich seine Lebensgestaltung, sein Trinkverhalten, seine Muster
aggressiver Durchsetzung, mit der - psychiatrisch völlig haltlosen - Zu-
schreibung psychischer Pathologie überzogen werden. Weil man weiß, dass
diese Menschen nicht therapiemotiviert sind und eine 64er Maßregel bes-
tenfalls absitzen oder zur Flucht gebrauchen, möchte man sie dann in den
63er Maßregelvollzug verbringen und baut solche kunstvollen Konstruktio-
nen. Tatsächlich geht es zumeist um Leute, die seit Jahrzehnten die Alko-
holwirkungen kennen, bei denen mit Kumpeln zu trinken ganz selbstver-
ständlich zum Leben gehört, und ebenso die gewaltsame Ausein-
andersetzung. Das ganze ist keine "schwere andere seelische Abartigkeit",
sondern ein seit Jahrhunderten wohlbekannter abweichender Lebensstil.
Dissozialität aufzuwerten durch die "Komorbidität" mit Alkohol- oder Dro-
genrausch ist psychiatrisch nicht gerechtfertigt, weil der additive Effekt
vernachlässigt werden kann. Allenfalls der sichere Nachweis des erstmali-
gen Konsums stark antriebssteigernder Drogen mag hier etwas Besonderes
sein und zu einer verminderten Schuldfähigkeit führen; auch dies trägt aber
keine Maßregel gemäß § 64 StGB und schon gar nicht gemäß § 63 StGB.
Zusammenfassend: Entscheidend ist die fachkundige Bewertung des
psychischen Zustandes zum Zeitpunkt der Tat. Ist dieser in einer der vier
Kategorien zu fassen und in seinem Schweregrad den Eingangsvorausset-
zungen der §§ 20, 21 StGB äquivalent, muss nicht der jeweilige Anteil der
Eintlussfaktoren genau gewichtet werden, sondern kann sich zügig eine
Beurteilung von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit anschließen. Bei den
Rechtsfolgen hüte man sich vor rabulistischen Regressen auf vermeintlich
primäre Ursachen, die es zu behandeln gelte; man behandelt sinnvollerweise
das Störungsbild, das zum Tatzeitpunkt vorlag und die Tatbegehung förder-
te - wenn dies denn erforderlich sein sollte.
Belehrung durch den psychiatrischen
Sachverständigen?

KLAUS FOERSTER / MAX FOERSTER

Ob und gegebenenfalls wie, wann oder in welcher Form der psychiatri-


sche Sachverständige Beschuldigte und Zeugen über Schweige- bezie-
hungsweise Zeugnisverweigerungsrechte belehren muss, darf oder soll oder
aber nicht darf, wird lebhaft diskutiert. 1 Die Frage stellt sich insbesondere
dann, wenn der psychiatrische Sachverständige Beschuldigte oder Zeugen
exploriert. An dieser Schnittstelle von Psychiatrie und Recht überlagern sich
medizinische und juristische Gesichtspunkte. Heinz Schäch hat dieser
Schnittstelle stets eindrucksvoll mit großer Schaffenskraft sein Augenmerk
gewidmet. 2 Die Autoren hoffen, mit ihrem interdisziplinären Beitrag das
Interesse des Jubilars zu wecken.

I. Einführung
Eine psychiatrische Begutachtung bringt für den Probanden, der häufig
zugleich Beschuldigter in einem Strafverfahren ist, stets eine besondere,
kognitiv und emotional anspruchsvolle Situation mit sich. Verstärkt wird
dies, wenn der Proband zugleich stationär oder ambulant als Patient in psy-
chiatrischen Einrichtungen ist oder war. Es kommt zu einer erheblichen
affektiven Anspannung bei dem Probanden. Ist der Proband akut psychisch
krank, kann die Begutachtungssituation fur ihn wie fur den Sachverständi-
gen besonders schwierig werden. Zudem geht es fur einen Probanden stets
(auch) darum, die zu begutachtenden Fragen, die häufig entscheidenden
Einfluss auf sein weiteres Leben haben werden, "in seinem Sinne" zu be-
antworten. 3 Dieses Ziel verfolgen Probanden, aus ihrer subjektiven Sicht

1 Vgl. bspw. K. Foerster/Winckler in: VenzlafflK. Foerster, Psychiatrische Begutachtung,


5. Aufl. 2009, S. 18~ Lesting R & P 10 (1992), 11 m.w.N.~ Rogall in: Systematischer Kommen-
tar StPO, 41. Lieferung 2004, § 136 Rn. 14 ff.~ Schreiber/Rosenau in: Venzlaff/
K. Foerster a.a.O., S. 160 f. m.w.N.
2 Kürzlich bspw. Schöch Mindestanforderungen für Schuldfähigkeits- und Prognosegutach-
ten, FS Widmaier, 2008, S. 967.
3 Vgl. Arzt JZ 1969, 438, 439~ Lesting (Fn. 1), 13.
1008 Klaus Foerster / Max Foerster

nachvollziehbar, naturgemäß auch bei einer Begutachtung, die die tatsächli-


chen Grundlagen für die anschließende rechtliche Subsumtion des Gerichts
legt. Daher müssen sich Proband wie Sachverständiger stets darüber klar
sein, dass die forensisch-psychiatrische Untersuchung zur Vorbereitung
eines Gutachtens eine gänzlich andere Situation ist als die psychiatrische
Exploration, die in der ausschließlichen Patient-Arzt-Beziehung mit dem
Ziel der Behandlung in Praxis oder Klinik stattfindet. 4 Dies ist deshalb he-
rauszustreichen, da der Kern der Untersuchung, also die Herangehensweise
des Psychiaters, strukturell und methodisch dieselbe ist: Es findet ein psy-
chiatrisches Gespräch zur Untersuchung statt. 5 Dieses selbst unterscheidet
sich nicht danach, ob der Psychiater als behandelnder Arzt mit dem Ziel
Behandlung oder als Sachverständiger mit dem Ziel Begutachtung unter-
sucht. Innerhalb eines solchen psychiatrischen Gesprächs entsteht dabei
stets auch eine Interaktion. Die Interaktion zwischen Proband und Psychia-
ter wird dabei gegenüber der Patient-Arzt-Beziehung als Beziehung sui
generis verstanden. 6
Affektive Anspannung für Probanden und Beziehung sui generis entste-
hen bei jeder psychiatrischen Begutachtung, unabhängig davon, in welcher
Gerichts- bzw. Teilgerichtsbarkeit und mit welcher Fragestellung ein Gut-
achten im Einzelfall erstellt wird. Die nachfolgenden Überlegungen kon-
zentrieren sich indes auf die Begutachtung zur Schuldfahigkeit in Strafver-
fahren - den Kernbereich forensisch-psychiatrischer Tätigkeit im Strafrecht
neben der Prognosebegutachtung.
Für den Strafprozess bedarf die psychiatrische Begutachtung zur Frage
der Schuldfähigkeit einer doppelten Abgrenzung: Es ist hier nicht damit
getan die psychiatrische Begutachtung, wie vorbeschrieben, von der ärztli-
chen Untersuchung zu unterscheiden, die mit einer ausschließlich diagnosti-
schen und therapeutischen Zielsetzung erfolgt. Vielmehr ist weiter zur Ver-
nehmung durch Polizei, Staatsanwaltschaft oder Gericht abzugrenzen. 7
Letzteres ist dabei insbesondere vor dem Hintergrund zu sehen, dass Aussa-
gen Beschuldigter in Vernehmungen ohne Belehrung grundsätzlich nicht
verwertbar sind. 8 Angeführt wird auch, eine Exploration ohne Belehrung
durch Strafverfolgungsorgane oder Sachverständigen würde einem Antrag

4 K. Foerster/Winckler (Fn. 1), S. 18; Saß in: KröberlDöll ing/Leygraf/S aß, Handbuch der
Forensischen Psychiatrie, Bd. 1,2007, S. 426; Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 161.
5 Zum Ablauf K. Foerster/Winckler (Fn. 1), S. 20 f.
6 K. Foerster StV 2008,217,217; zur fehlenden Vergleichbarkeit des psychiatrischen Sach-
verständigen mit Kfz- Sachverständigen Nedopil NStZ 1999, 433,435.
7 Lesting (Fn. 1), 13; Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 161; Rogall in: Systematischer Kom-
mentar StPO, 26. Lieferung 2002, § 80 Rn. 17.
8 Vgl. Beulke Strafprozeßrecht, 10. Aufl. 2008, Rn. 117 m.w.N. Die Problematik stellt sich
auch im Zusammenhang mit Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechten.
Belehrung durch den psychiatrischen Sachverständigen? 1009

auf Ablehnung des Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit


den Boden bereiten. 9 Hinzuweisen ist rur die Fragestellung weiter auf die
Unterscheidung zwischen Befund- und Zusatztatsachen sowie den Umstand,
dass letztere ohnehin mittels Zeugenvernehmung des Sachverständigen
unter Beachtung von Aussage- und Zeugnisverweigerungsrechten in den
Prozess eingeführt werden müssen. 1O Der vorliegende Beitrag konzentriert
sich dabei auf die Frage der Belehrung vor der Erhebung von Befundtatsa-
chen. Hinsichtlich der Erhebung von Zusatztatsachen sei hier lediglich
darauf hingewiesen, dass Gutachtenaufträge verschiedentlich mit der aus-
drücklichen Aufforderung ergehen, Zusatztatsachen zu erheben~ beispiels-
weise eine Motivationsanalyse hinsichtlich bisher erfolgter Einlassungen
eines Beschuldigten.
Für eine Belehrungspflicht des psychiatrischen Sachverständigen ist zu
klären, warum eine Belehrung durch psychiatrische Sachverständige bei
Begutachtung Beschuldigter erfolgen sollte. Auch die weiteren zu klärenden
Aspekte sind "W-Fragen": Wer informiert, belehrt oder klärt wen wann in
welcher Form auf?

11. Die Belehrung durch den psychiatrischen Sachverständigen


in Rechtsprechung und Literatur
In einer älteren Entscheidung hat der BGH zur Belehrungspflicht des
Sachverständigen entschieden:
"Die Belehrung eines Beschuldigten darüber, daß er sich zu der gegen ihn
erhobenen Beschuldigung nicht zu äußern und zur Sache nicht auszusa-
gen brauche, ist nur fur die Vernehmung des Beschuldigten durch den
Richter, den Staatsanwalt und Beamte des Polizeidienstes vorgeschrieben
(§ 136 Abs. 1 Satz 2, § 163a Abs. 4 Satz 2 StPO)."1l
Später ist der BGH davon jedoch tendenziell abgerückt:
"Die Strafkammer verweist zutreffend darauf, daß der Sachverständige
den Angeklagten zu Beginn der Untersuchung ordnungsgemäß belehrt
hat, er müsse zur Sache keine Angaben machen, weil der Sachverständige

9 Dippel Die Stellung des Sachverständigen im Strafprozeß, 1986, S. 149~ für den Fall des
bewussten Verschweigens der Sachverständigentätigkeit auch BGH NStZ 1997,349,350.
10 Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 162 m.w.N.
11 BGH 1Z 1969,437 m. krit. Anm. Ar=t (Fn. 3), 438~ Hanack 1Z 1971, 168, 169; Peters JR
1969,232.
1010 Klaus Foerster / Max Foerster

gehalten sei, das, was er vom Angeklagten höre, im Gutachten zu ver-


wenden."12

Eine solche Bezugnahme auf die von der Strafkammer festgestellte ord-
nungsgemäße Belehrung legt die Annahme eines Belehrungsrechts oder
einer Belehrungspflicht des Sachverständigen zumindest nahe. Später hat
der BGH jedoch wieder ohne weiteres auf seine vorgenannte ältere Äuße-
rung zurückgegriffen:
"Die Rüge geht schon deshalb ins Leere, weil ein Sachverständiger zur
Belehrung eines Beschuldigten nicht verpflichtet ist." 13
Auf dieser Linie liegt auch die Haltung des BGH zur Frage der Beleh-
rungspflicht des Sachverständigen gegenüber zu begutachtenden Zeugen,
die hier ergänzend angeruhrt werden kann. Dort heißt es zur erforderlichen
Belehrungspflicht über das Zeugnisverweigerungsrecht einer Angehörigen:
"Eine solche Einwilligung war nur wirksam, wenn die Tochter vorher
über das Recht, ihre Mitwirkung an der Glaubwürdigkeitsuntersuchung zu
verweigern, belehrt worden war (... ). Die Pflicht zur Belehrung oblag
hier der StA, die die Untersuchung angeordnet hatte." 14
In dieser Entscheidung lehnt der BGH dabei einen Verfahrensverstoß auf-
grund nicht erfolgter Belehrung der Zeugin durch den Sachverständigen
ausdrücklich ab. Der Verfahrensverstoß liege vielmehr darin, dass die
Staatsanwaltschaft als die das Gutachten anordnende Behörde die Zeugin
nicht belehrt habe. Eine bereits früher erfolgte Belehrung durch eine Richte-
rin ließ der BGH in diesem Verfahren nicht ausreichen - allerdings war die
Zeugin auch erst 10 Jahre alt. Zudem dürfe ein Sachverständiger es gegebe-
nenfalls nicht bewusst verschweigen, ein Gutachten für die Justizbehörden
zu erstellen. 15
Die juristische Literatur behandelt die Problematik der Belehrung durch
den psychiatrischen Sachverständigen im Einzelnen unterschiedlich. So
wird angenommen, der Sachverständige sei zur Belehrung nicht befugt. 16
Ebenso wird eine prozessuale Belehrungspflicht des Sachverständigen ab-
gelehnt, weil dieser nicht Adressat der Strafprozessordnung sei und ihn

12 BGHSt 35,32,35 m. Anm. Dörig NStZ 1988, 143.


13 BGH StV 1995, 564, 565 m. krit. Anm. Eisenberg/Kopatsch NStZ 1997, 297; Schmidt-
Recla NJW 1998, 800.
14 BGH StV 1993,563; vgl. auch BGHSt 13,394,398 f.; BGHSt 36, 217; BGH NJW 1996,
206.
15 BGH NStZ 1997,349,350.
16 Lesch in: KMR, StPO, 21. Lieferung 1999, § 136 Rn. 34; Meyer-Goßner StPO, 52. Aufl.
2009, § 81 c Rn. 24, für zu begutachtende Zeugen. Für die Erhebung von Zusatztatsachen durch
den Sachverständigen erwägt er dagegen eine Belehrungspflicht, § 136 Rn. 2.
Belehrung durch den psychiatrischen Sachverständigen? 1011

deshalb Belehrungspflichten nicht treffen würden. 17 Diese Position wird


sodann jedoch zum Teil umgehend wieder eingeschränkt. Der Sachverstän-
dige dürfe "den Beschuldigten nicht kategorisch auffordern, sich zu der ihm
zur Last gelegten Tat zu äußern" und habe ferner eine Erkundigungspflicht,
ob einer Belehrung durch den Auftraggeber erfolgt und vom Beschuldigten
verstanden sei. 18 Trotz fehlender Belehrungspflicht des Sachverständigen
wird diesem aber die Befugnis dazu zugestanden und eine Belehrung allein
durch den Sachverständigen als ausreichend zur Wahrung der Rechte des
Beschuldigten angesehen. 19
Nach anderer Ansicht ist die vorgeschilderte Abgrenzung zur Wahrung
der prozessualen Rechte Beschuldigter zu formalistisch. Sie reiche daher
nicht als Grundlage aus, eine Belehrungspflicht des psychiatrischen Sach-
verständigen abzulehnen, weil jedenfalls der psychiatrische Sachverständige
auch Fragen stellen müsse, die die Tat betreffen. 20 An anderer Stelle wird
die Pflicht des Sachverständigen, darüber zu belehren, dass der Beschuldig-
te nicht zur aktiven Teilnahme verpflichtet sei, als Belehrungspflicht analog
§ 136 StPO angenommen, weil das, was für Strafverfolgungsorgane gelte,
auch rür deren Gehilfen gelten müsse. 21 Auch wird die Belehrungspflicht als
Gebot eines fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens gesehen. 22 Das psychiatri-
sche Gespräch wird als "vernehmungsähnliche" Situation beschrieben und
psychiatrischen Sachverständigen empfohlen, auf jeden Fall eine Belehrung
vorzunehmen, um spätere Probleme bei der gerichtlichen Verwertung zu
vermeiden. 23 Jedenfalls in "irgendeiner Form" sei zu belehren. 24 Wie, wann,
wer und von wem in welcher Form zu belehren ist, wird dem psychiatri-
schen Sachverständigen, der Arzt und nicht Jurist ist, dabei allerdings nicht
erläutert. Interdisziplinär wird verlangt, zu informieren über Auftraggeber
und Fragestellung des Gutachtens sowie die Rolle des Sachverständigen im
konkreten Verfahren, vorgesehene Schritte der geplanten Exploration und

17 Diemer in: Karlsruher Kommentar StPO, 6. Autl. 2008, § 136 Rn. 3; Fincke ZStW 86
(1975), 656, 657 ff.; Meyer-Goßner (Fn. 16), § 136 Rn. 2; Rogall (Fn. 1), § 136 Rn. 14 ff.;
auch Jessnitzer/Ulrich Der gerichtliche Sachverständige, 12. Autl. 2007, Rn. 439; Spöhr NZV
1993, 334, 335.
18 Jessnit=er/Ulrich a.a.O.; Spöhr a.a.O., 335.
19 Neubeck in: KMR, StPO, 43. Lieferung 2006, § 80 Rn. 3; Rogall (Fn. 1), § 136 Rn. 17;
Senge in: Karlsruher Kommentar (Fn. 17), § 80 Rn. 2.
20 GIeß in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Autl. 2007, § 136 Rn. 3; Lesting (Fn. 1), 13;
Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 161.
21 Ar=t (Fn. 3), 438; Beulke (Fn. 8), Rn. 201; Roxin/Schüneman Strafverfahrensrecht,
26. Autl. 2009, § 25 Rn. 12, § 27 Rn. 16; Toepel Grundstrukturen des Sachverständigenbewei-
ses im Strafprozeßrecht, 2002, S. 380 ff.
22 Lesting (Fn. 1), 14.
23 Rössner in: KröberlDölling/Leygraf/Saß (Fn. 4), S. 389.
24 GIeß (Fn. 20), § 136 Rn. 3.
1012 Klaus Foerster / Max Foerster

Untersuchung, mögliche Konsequenzen im Rahmen des Gutachtenauftra-


ges, die freie Entscheidung des Probanden, Angaben zu machen, die nicht
bestehende Vertraulichkeit der Informationsweitergabe sowie die Möglich-
keit der Hinzuziehung eines Anwalts zur Beratung über die Mitwirkung vor
Entscheidung zur Mitarbeit. 25
Die psychiatrische Literatur geht demgegenüber heutzutage 26 weithin von
einer Informationspflicht des psychiatrischen Sachverständigen gegenüber
dem Probanden vor Durchführung des psychiatrischen Gesprächs aus. Da-
für scheint sie allenfalls teilweise an das juristische Meinungsbild anzu-
knüpfen.
Von psychiatrischer Seite werden die Begriffe Information, Belehrung
oder auch Aufklärung verwandt, ohne damit unmittelbar an die Terminolo-
gie der Strafprozessordnung anzuknüpfen. Insoweit wird angenommen, der
Proband müsse über den gutachterlichen Auftrag und die Beweisfragen
informiert werden. Ihm müsse die Stellung des Arztes als von den Strafver-
folgungsorganen beauftragten Gutachters klar sein. Ferner sei zu erläutern,
dass das psychiatrische Gutachten eine Entscheidungshilfe rur den Auftrag-
geber darstelle, aber die anstehende Rechtsentscheidung nicht treffe. Der
Proband müsse über sein Schweigerecht informiert werden, sowie darüber,
dass der Gutachter der ärztlichen Schweigepflicht nicht umfassend unter-
liegt. 27
In weitgehender Übereinstimmung damit werden folgende Punkte für
eine Aufklärung des Probanden vor Durchführung einer psychiatrischen
Untersuchung aufgenommen: die Rolle des Gutachters, der Verfahrensgang
der Begutachtung, die abstrakten Konsequenzen der Begutachtung, das
Fehlen der Schweigepflicht des Gutachters, Mitwirkungspflicht und Ver-
weigerungsrecht bei der Begutachtung sowie die Grenzen gutachtlicher
Kompetenz. 28
Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf divergierende Auffassungen in der
juristischen Literatur wird angenonlmen, aus ärztlich-ethischer Sicht sei es
unabdingbar, einer zu begutachtenden Person Sinn und Fragestellung der
Untersuchung zu erläutern und auf Schweigerechte des Betroffenen sowie
die eingeschränkte Schweigepflicht des Untersuchers hinzuweisen. 29
Soweit eine Belehrungspflicht des psychiatrischen Sachverständigen da-
gegen verneint wird, wird dies als "Mangel unseres Strafverfahrensrechts"

25 SchneiderlFrister/Ol=en Begutachtung psychischer Störungen, 2006, S. 6.


26 Noch gegen eine Belehrungspflicht des psychiatrischen Sachverständigen Bochnikl
GärtnerlRichtberg MedR 1988,73,77; gegen diese Ehlers MschrKrim 1989,79,81 f.
27 K. FoersterlWinckler (Fn. 1), S. 18; K. FoersterlDreßing in: Venzlaff/K. Foerster (Fn. 1),
S.46.
28 Nedopil Forensische Psychiatrie, 3. Aufl. 2007, S. 337; ders. (Fn. 6),437.
29 Saß (Fn. 4), S. 427.
Belehrung durch den psychiatrischen Sachverständigen? 1013

aufgefasst. Eine vorangehende Belehrung sei geeignet, das zwischen Gut-


achter und Begutachteten bestehende Verhältnis klarer zu gestalten und
entspreche den Prinzipien fairer Prozessführung. 30 Trotz fehlender Beleh-
rungspflicht habe der Gutachter deshalb vor der Untersuchung festzustellen,
ob der Proband sich über seine Rechte im Klaren sei. 31 Auch diese Feststel-
lung dient offenkundig dazu, einem Probanden, sollte er nicht über hinrei-
chende Kenntnis verfügen, diese im Ergebnis doch zu verschaffen.
Abgelehnt wird aus psychiatrischer Sicht eine Beratungspflicht des psy-
chiatrischen Sachverständigen gegenüber dem Probanden. Beratung wird
als Aufgabe des Rechtsanwaltes gesehen, obwohl die World Psychiatric
Association (WPA) fordert, dass begutachtende Psychiater die Untersuchten
über den Zweck der Untersuchung, die Verwendung des Befundes und die
möglichen Auswirkungen des Gutachtens informieren und beraten. 32 Ge-
stützt wird dies darauf, dass der Gutachter die Auswirkungen des individu-
ellen Gutachtens nicht vorhersehen könne. 33
Im Ergebnis stimmen psychiatrische Sachverständige darin überein, dass
ein Proband vor Beginn der gutachtlichen Untersuchung eines Gerichtsgut-
achtens informiert und aufgeklärt werden muss. 34 Aus psychiatrischer Sicht
ist es dabei letztlich gleichgültig, wie diese Information benannt wird: Auf-
klärung, Belehrung, Information. 35
Die terminologische Unbestimmtheit findet sich dabei auch in den Emp-
fehlungen für Mindestanforderungen fur Schuldfahigkeitsgutachten einer
interdisziplinären Arbeitsgruppe aus Juristen, forensischen Psychiatern und
Psychologen sowie Sexualmedizinem wieder, die zu den formellen Min-
destanforderungen die "Dokumentation der Aufklärung" zählt. 36 Bereits
diese Terminologie indiziert dabei weiteren Diskussionsbedarf der hier ge-
schilderten Problematik der Belehrung vor Erhebung von Befundtatschen in
der Beziehung sui generis, zumal die Frage angesichts abweichender
Schwerpunktsetzung von der Arbeitsgruppe nicht im Detail behandelt wer-
den konnte.

30 Rasch Forensische Psychiatrie, 2. Aufl. 1999, S. 22.


31 Rasch a. a. 0., S. 23~ ohne Begründung ablehnend Heinitz FS Engisch, 1969, S. 693, 701.
32 Nedopil (Fn. 28), S. 337.
33 Nedopil (Fn. 28), S. 337.
34 K. Foerster/Winckler (Fn. 1), S.18~ Haddenbrock NJW 1981, 1302~ Nedopil (Fn. 28),
S. 337; Rasch (Fn. 30), S. 22 f.; Saß (Fn. 4), S. 427.
35 Entsprechend führt Dippel (Fn. 9), S. 147 für die Tätigkeit des psychiatrischen Sachver-
ständigen "anhören", "befragen", "ausforschen" oder "vernehmen" an, jedoch, aus ärztlicher
Sicht bezeichnend, nicht: untersuchen.
36 BoetticherlNedopillBosinskilSaß NStZ 2005, 57, 59; entsprechend in den Mindestanfor-
derungen an Prognosegutachten BoetticherlKröberlMüller-Isberner/BöhmlMüller-MetzlWolj
NStZ 2006,537,541.
1014 Klaus Foerster / Max Foerster

111. Qualifizierung des psychiatrischen Gesprächs


Angesichts dieser Ausgangslage ist das psychiatrische Gespräch, das der
psychiatrische Sachverständige zur Begutachtung von Probanden, Beschul-
digten oder Zeugen mit diesen führt, psychiatrisch-medizinisch sowie juris-
tisch einzuordnen.

1. Psychiatrisch-medizinische Qualifizierung
des psychiatrischen Gesprächs
Der psychiatrische Sachverständige nimmt eine Untersuchung des Pro-
banden vor. Deren Ergebnisse bilden sodann die Grundlage für das schrift-
liche Vorgutachten sowie die abschließende Gutachtenerstattung in der
Hauptverhandlung zur Beantwortung der Beweisfragen. Es wurde insoweit
bereits ausgefiihrt, dass sich Methodik und Herangehensweise des Psychia-
ters - das psychiatrische Gespräch - nicht danach unterscheiden, ob das
psychiatrische Gespräch mit therapeutischer oder gutachterlicher Absicht
geführt wird. Bei der Begutachtung ist die Aufgabe des psychiatrischen
Sachverständigen, auf der Grundlage der Untersuchung dem Gericht ange-
sichts dessen fehlender medizinischer Sachkunde die festgestellten Befunde
im Sinne der psychiatrischen Klassifizierungen - beispielsweise hinsichtlich
der Merkmalskategorien der §§ 20, 21 StGB - zu vermitteln. 37 Damit der
psychiatrische Sachverständige dazu in der Lage ist, klärt er mittels seiner
forensisch-psychiatrischen Sachkunde in einer ärztlichen Untersuchung,
dem psychiatrischen Gespräch, die Befunde. Die Bewertung des Befundes
fällt sodann in den Aufgabenbereich des Tatrichters. 38 Allein diese Aufga-
benteilung, nach der der psychiatrische Sachverständige auch bei der Unter-
suchung zur forensischen Begutachtung untersuchender Arzt ist und bleibt,
entspricht dabei dem Selbstverständnis psychiatrischer Sachverständiger.
Diese sind Ärzte und bleiben dies auch dann, wenn sie eine forensische
Begutachtung durchführen. 39
Die Qualifizierung als Untersuchung wird zudem durch die Mindestan-
forderungen an Schuldfähigkeitsgutachten40 bestätigt. Bereits deren Wort-
wahl macht deutlich, dass es sich um eine Exploration, also Untersuchung,
handelt. Die Mindestanforderungen verlangen die "Vollständigkeit der

37 K. f'oerster/Dreßing in: Venzlaff/K. Foerster (Fn. 1), S. 48 f.~ Rössner in: KröberlDöl-
linglLeygraf/Saß (Fn. 4), S. 404~ Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 106 ff.
38 K. Foerster/Dreßing in: Venzlaff/K. Foerster (Fn. 1), S. 48 f.~ Rössner in: Kröber/Döl-
ling/Leygraf/Saß (Fn. 4), S. 404~ Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 106 ff.
39 K. Foerster (Fn. 6), 217~ Kröber in: Kröber/DöllinglLeygraf/Saß (Fn. 4), S. 6 ff. m.w.N~
Nedopil (Fn. 6) 435~ Peters (Fn. 11), 233.
40 Vgl. Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß (Fn. 36), 57, dazu auch Schöch (Fn. 2), S. 967.
Belehrung durch den psychiatrischen Sachverständigen? 1015

Exploration", die "Benennung der Untersuchungsmethoden", "Diagnosen


unter Bezug des zugrunde liegenden Diagnosesystems (i.d.R. ICD-10 oder
DM-IV-TR)", die "Darlegung der differentialdiagnostischen Überlegun-
gen", die "Darstellung der Funktionsbeeinträchtigungen, die im Allgemei-
nen durch die diagnostizierte Störung bedingt werden, soweit diese für die
Gutachtensfrage relevant werden könnten", die "Überprüfung, ob und in
welchem Ausmaß diese Funktionsbeeinträchtigungen bei dem Untersuchten
bei Begehung der Tat vorlagen", die "korrekte Zuordnung der psychiatri-
schen Diagnose zu den gesetzlichen Eingangsmerkmalen", die "Transparen-
te Darstellung der Bewertung des Schweregrades der Störung", die "Tatre-
levante Funktionsbeeinträchtigung unter Differenzierung zwischen
Einsichts- und Steuerungsfähigkeiten" sowie die "Darstellung von alternati-
ven Beurteilungsmöglichkeiten".41
Zusammengefasst hat der psychiatrische Sachverständige den Probanden
auf eine psychische Krankheit oder Störung zu untersuchen und die Straf-
verfolgungsorgane bei Bestehen einer solchen Krankheit zu informieren
über deren Bezeichnung sowie über Befunde hinsichtlich der Merkmalska-
tegorien der §§ 20, 21 StGB und ob gegebenenfalls - aus psychiatrischer
Sicht - Folgerungen zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit, also Einsichts-
und Steuerungsfähigkeit, zu ziehen sind. Hier ist die emotionale Situation
des Beschuldigten bei der Tat zu beurteilen, wobei sich eine Betrachtung
unabhängig von diagnostischen Überlegungen verbietet. In diesem Zusam-
menhang hat der psychiatrische Sachverständige stets auch die Aufgabe, die
Entwicklung des Beschuldigten hin zu einer Tat nachzuzeichnen und die
Tat in den Lebenslängsschnitt des Täters einzuordnen.

2. Qualifizierung des psychiatrischen Gesprächs nach der


Strafprozessordnung
Es wird vertreten, ein Unterschied zwischen Exploration und Verneh-
mung bestehe nicht; § 80 StPO finde auf die psychiatrische Exploration als
Vernehmung Anwendung. 42 Konträr dazu wird angeführt, der Sachverstän-
dige sei, wie sich aus § 80 StPO ergebe, kein Vernehmungsorgan im Sinne
der Strafprozessordnung sondern Beweismittel. Belehrungspflichtige Ver-
nehmungsorgane seien nur Richter, Staatsanwälte oder auch Beamte des
Polizeidienstes (§§ 136, 163a Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 1,2 StPO).43 Nicht jede

41 Vgl. Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß (Fn. 36), 59.


42 Krause in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2008, § 80 Rn. 8. Auch LG Oldenburg StV
1994, 646 sieht in der Untersuchung eine Vernehmung. Der Sachverständige sei dazu befugt
und deshalb zur Belehrung verpflichtet.
43 Rogall (Fn. 1), § 136 Rn. 14 f.; vgl. auch Barton StV 2003, 537, 538.
1016 Klaus Foerster / Max Foerster

Interaktion zwischen Sachverständigem und Beschuldigtem sei als Ver-


nehmung oder als deren Surrogat zu betrachten. 44 Der Sachverständige
dürfe zum Zwecke der Exploration Gespräche fuhren, aber keine Verneh-
mungen durchfUhren. 45 Als weiterer Gesichtspunkt wird angefUhrt, dass die
Exploration keine Vernehmung sei, die die Tatfrage in dem Sinne betrifft,
dass sie der Aufklärung der Tat dient. 46
Der Zweck einer Vernehmung wird von § 136 Abs. 2 StPO vorgegeben:
"Die Vernehmung soll dem Beschuldigten Gelegenheit geben, die gegen
ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Guns-
ten sprechenden Tatsachen geltend zu machen."
Demgegenüber dient die psychiatrische Begutachtung dazu, den Proban-
den zu untersuchen, damit der Richter die festgestellten Befunde anschlie-
ßend subsumieren kann, beispielsweise unter die Merkmalskategorien der
§§ 20, 21 8tGB. Die Begutachtung dient dabei gerade der Vermittlung
solcher Befunde, die zu ihrer Erhebung der besonderen forensisch-
psychiatrischen Sachkunde des Psychiaters als Arzt bedürfen. Dies unter-
scheidet sie vom Zweck einer Vernehmung, dem Beschuldigten Gelegen-
heit zu geben, zu seinen Gunsten sprechende Tatsachen vorzutragen. Der
psychiatrische Sachverständige untersucht, ob der Proband krank ist, oder
ob der Proband dies lediglich behauptet. Dazu tritt der Gutachter mittels des
psychiatrischen Gesprächs, der Untersuchungsmethode des psychiatrischen
Sachverständigen zur Erhebung von entsprechenden Befunden, mit dem zu
Begutachtenden in eine Interaktion. Eben insoweit unterscheidet sich die
Begutachtung des Probanden auch von Fragen, die ein sonstiger Sachver-
ständiger an Beschuldigte oder Zeugen richtet. 47 Diese dienen der Aufklä-
rung der Tat durch Befragung. Das psychiatrische Gespräch ist dagegen
Untersuchung. 48 Bezugspunkt der Exploration ist deshalb das Gutachten
und nicht das Urteil, so dass § 80 StPO die Exploration nicht erfasst. 49 Die
Tatsache, dass Inhalt der forensisch-psychiatrischen Exploration wie auch
einer Vernehmung ein Gespräch ist, macht die Untersuchung nicht zur Ver-
nehmung.
Dies deckt sich damit, dass psychiatrische Sachverständige nicht nach
außen hin in amtlicher Eigenschaft agieren, sondern selbst Beweismittel im

44 Rogall (Fn. 7), § 80 Rn. 17 ff.


45 Beulke (Fn. 8), Rn. 200.
46 Sehre iber/Rosenau (Fn. 1), S. 161.
47 Vgl. auch Nedopil (Fn. 6),435
48 Barton (Fn. 43), 538; K. Foerster/Winckler (Fn. 1), S.21~ Lesting (Fn. 1),13; vgl. inso-
weit auch Fineke (Fn. 17), 657.
49 Ebenso Rogall (Fn. 7), § 80 Rn. 17.
Belehrung durch den psychiatrischen Sachverständigen? 1017

Sinne der Strafprozessordnung sind.50 Die amtliche Eigenschaft fehlt ihnen


dabei gerade in Übereinstimmung mit den unterschiedlichen Aufgaben von
Sachverständigen und Strafverfolgungsbehörden. Die Vermittlung von
(medizinischer) Sachkunde ist nämlich gerade keine Tätigkeit der Strafver-
folgungsbehörden - wie sich letztlich auch bereits daraus ergibt, dass diese,
wäre es anders, der Einschaltung eines Sachverständigen nicht bedürften.
Damit geht es einher, dass § 80 StPO für den psychiatrischen Sachver-
ständigen teleologisch und strukturell nicht passt. 51 Verstünde man Be-
schuldigte, die zum (vermeintlichen) Tatzeitpunkt oder auch (nur) im Rah-
men der Begutachtung beispielsweise an einem akut psychotischen Zustand
im Rahmen einer schizophrenen Psychose leiden, als "Auskunftsperson"
über diesen Zustand, wird man weder Krankheit noch Beschuldigten ge-
recht. Angesichts der Verzerrung der Realität, zu der ein psychopathologi-
scher Zustand führen kann, wird der Proband in vielen Fällen eben gerade
nicht Auskunft über konkrete Tatsachen oder seinen Gesundheitszustand
geben (können). Um dies festzustellen, bedarf es vielmehr des psychiatri-
schen Gesprächs, in der Sache "klassische" klinische Anamnese, also Un-
tersuchung, des Probanden. So kann der psychiatrische Sachverständige
aufgrund seiner Sachkunde untersuchen, ob eine psychische Krankheit
gegeben ist beziehungsweise zum Tatzeitpunkt gegeben war. Die Bezugs-
punkte zur Tat machen die Untersuchung dabei aber nicht zu einer Verneh-
mung.

IV. Belehrungspflicht qua Beziehung sui generis


Ausgehend davon, dass die Begutachtung eine Beziehung sui generis ge-
genüber der Patient-Arzt-Beziehung darstellt sowie als Untersuchung ein-
zuordnen ist, sind medizinische und rechtliche Gesichtspunkte für eine
Belehrung auch durch den psychiatrischen Sachverständigen zu wägen.

1. Medizinische Aspekte
Es wurde bereits ausgeführt, dass psychiatrische Sachverständige heute
darin übereinstimmen, dass ein Proband vor Beginn der gutachtlichen Un-
tersuchung informiert und aufgeklärt werden muss,52 wobei die Bezeich-

50 BGH JZ 1969, 437~ SchreiberlRosenau (Fn. 1), S. 161.


51 Im Ergebnis auch Fincke (Fn. 17), 674.
52 Vgl. K. Foerster/Winckler (Fn. 1), S. 18~ K. FoersterlDreßing in: VenzlaffiK. Foerster
(Fn. 1), S. 46~ Haddenbrock (Fn. 34), 1302~ Nedopil (Fn. 28), S. 337~ Rasch (Fn. 30), S. 22 f.~
Saß (Fn. 4), S. 427.
1018 Klaus Foerster / Max Foerster

nung nicht entscheidend ist. Dadurch wird entsprechend der eigenen Erfah-
rung wie auch publizierter Standpunkte das spezielle Verhältnis zwischen
Begutachtetem und Gutachter, die Beziehung sui generis, klarer gestaltet. 53
Gerade weil in einer solchen Gesprächssituation häufig ein hohes Aus-
sprachebedürfnis der Probanden besteht,54 sollte es dem jeweiligen Proban-
den stets völlig klar sein, dass es sich beim Gutachter nicht um den Arzt
seines Vertrauens handelt, und dass für den Gutachter keine Schweigever-
pflichtung besteht. Infolgedessen wird betont, der psychiatrische Sachver-
ständige müsse die grundsätzlichen Gegebenheiten einer Begutachtung
offenlegen. So ist im Rahmen einer Belehrung klarzustellen, dass es sich bei
der Begutachtung und beim ärztlich-therapeutischen Handeln als Arzt um
zwei verschiedene Tätigkeiten handelt. Eine solche Klarstellung muss ge-
gebenenfalls wiederholt werden. Diese Überlegung beruht dabei auf folgen-
dem Hintergrund: Zumindest im Empfinden der Probanden liegt immer
wieder ein Abgleiten in Richtung therapeutischer Situation mit konsekutiver
Hilfserwartung nahe. Daher muss der Sachverständige dem Probanden
aufgrund ärztlich-ethischer Aspekte wiederholt die spezifische Situation der
Begutachtung klar machen, die mit dem Gutachtenauftrag verbunden ist.
Dies schließt insbesondere ein, dem Probanden Sinn und Fragestellung der
Untersuchung zu erläutern. Darüber hinaus ist der Beschuldigte gleichzeitig
auf seine Schweigerechte sowie die eingeschränkte Schweigepflicht des
Untersuchenden hinzuweisen. 55
Ungeachtet dessen hat es die praktische Erfahrung aus psychiatrischer
Sicht mit sich gebracht, dass der Sachverständige sich stets darüber im
Klaren sein muss, dass er grundsätzlich nicht beauftragt ist, eigene Ermitt-
lungen anzustellen. 56 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Proband
in speziellen Explorationssituationen etwa ein Geständnis ablegen möchte
oder sogar über weitere, noch nicht bekannte Taten sprechen möchte. Dabei
ist insbesondere herauszustreichen, dass sich auch der Gutachter stets der
Beziehung sui generis bewusst sein muss. 57
Zudem erlegen ärztlich-ethische Aspekte dem Gutachter eine Beleh-
rungspflicht auf. 58 Auch an diese Elemente des Arztberufes bleibt der psy-

53 Rasch (Fn. 30), S. 22~ Saß (Fn. 4), S. 427~ vgl. auch Dippel (Fn. 9), S. 151 m.w.N.~ anders
noch BochniklGärtnerlRichtberg (Fn. 26), 77.
54 Saß (Fn. 4), S. 427~ Rasch (Fn. 30), S. 22.
55 Vgl. K. FoersterlWinckler (Fn. 1), S. 18~ Saß (Fn. 4), S. 426 f.
56 K. FoersterlWinckler (Fn. 1), S.21~ SchreiberlRosenau (Fn. 1), S. 161 f. auch zur Behand-
lung von Zusatztatsachen.
57 K. FoersterlDreßing in: Venzlaff/K. Foerster (Fn. 1), S. 57. Die Beziehung sui generis hat
im Falle des LG Oldenburg StV 1994, 646, 646 f. der Gutachter verkannt, der von einer Beleh-
rung bewußt abgesehen hat, um das "Arzt-Patienten-Verhältnis nicht zu belasten".
58 Saß (Fn. 4), S. 427.
Belehrung durch den psychiatrischen Sachverständigen? 1019

chiatrische Sachverständige, wie bereits ausgeführt wurde, gebunden wird


er doch gerade aufgrund seiner medizinischen Fähigkeiten zum Gutachter
bestellt. Diese Bindung des Arztes lässt sich dabei auch an den ärztlichen
Standespflichten festmachen. So fordert beispielsweise § 1 Abs. 1 der Bun-
desärzteordnung in Verbindung mit dem § 2 der Berufsordnung der Landes-
ärztekammer Baden-Württemberg, dass Ärztinnen und Ärzte ihren Beruf
nach ihrem Gewissen, den Geboten der ärztlichen Ethik und der Mensch-
lichkeit ausüben sowie keine Grundsätze anerkennen und keine Vorschrif-
ten oder Anweisungen beachten, die mit ihrer Aufgabe nicht vereinbar sind
oder deren Befolgung sie nicht verantworten können. Insbesondere ist der
Beruf gewissenhaft auszuüben und dem in Zusammenhang mit dem Beruf
entgegengebrachten Vertrauen zu entsprechen. Dabei zählt die forensische
Begutachtung nach zutreffender Auffassung zur ärztlichen Berufsausübung
des Psychiaters. 59 Schließlich konlmt es gerade auf die ärztlichen Fähigkei-
ten des Psychiaters an. Sollte man anderer Auffassung sein, so erstreckt
jedenfalls § 3 der Berufsordnung der Landesärztekammer Baden-
Württemberg die Beachtung der ethischen Grundsätze des ärztlichen Beru-
fes auch auf die Ausübung einer anderen Tätigkeit.
Hinsichtlich des Ablaufs einer Belehrung wurde aus psychiatrischer Sicht
angeregt, nicht den Gutachter mit der Information beziehungsweise Beleh-
rung zu betrauen, sondern eine entsprechende Klausel "in den Beschluß
aufzunehmen, durch den die Begutachtung angeordnet wird".60 Zutreffender
Kern dieser Überlegung ist: Grund rur die Bestellung eines psychiatrischen
Sachverständigen ist dessen besondere forensisch-psychiatrische Sachkunde
als Arzt. Als solcher verfügt der Psychiater aber regelmäßig nicht über juris-
tische Kenntnisse, Belehrungen oder Vernehmungen durchzuführen, auch
wenn eine langjährige praktische Tätigkeit hier umfangreiche Erfahrung mit
sich bringt. Insbesondere wenn und soweit im Einzelfall eine Belehrung
über das bloße Schweigerecht als Beschuldigter als nicht ausreichend einge-
stuft wird,61 verfügt der psychiatrische Sachverständige regelmäßig nicht
über das entsprechende rechtliche Wissen, auch wenn die ärztliche Ethik
eine allgemeine Belehrung erfordert. Insoweit ist die Belehrung eines Be-
schuldigten hinsichtlich ihres Inhaltes Element juristischer, nicht aber medi-
zinischer Sachkunde, auch wenn sie unter ärztlich-ethischen Aspekten
(ebenfalls) geboten ist. Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, dass die
Strafverfolgungsorgane in Beschluss und/oder Verrugung deutlich machen,
dass der Proband von ihnen darauf hinge\\'iesen worden ist, dass und welche

59 Kröber in: KröberlDölling/Leygraf/Saß (Fn. 4), S. 7; Nedopil (Fn. 6), 436.


60 Rasch (Fn. 30), S. 22 f.
61 Bspw. zum Erfordernis einer qualifizierten Belehrung Beulke (Fn. 8), Rn. 119, 142
m.w.N. auch zur Rechtsprechung.
1020 Klaus Foerster / Max Foerster

Rechte er auch gegenüber dem Gutachter hat. Ferner sollte dem psychiatri-
schen Sachverständigen auch eine korrekte Belehrung fur dessen eigene
Belehrung beigefügt werden. Dabei kann ein Hinweis aufgenommen wer-
den, jederzeit darauf zu achten, dass dem Probanden die Beziehung sui
generis gegenüber der Patient-Arzt-Beziehung bewusst ist.
Eine Information des Sachverständigen darüber, worüber zu belehren ist,
oder auch nur eine Mitteilung, dass die Strafverfolgungsorgane belehrt
haben, kommt jedoch bisher in der Praxis kaum vor. Dabei erstaunt immer
wieder, wie gering die Vorinformationen sind, die Probanden haben, bevor
der psychiatrische Sachverständige sie erstmals aufsucht. In gar nicht so
seltenen Einzelfällen geht diese Unkenntnis Beschuldigter als Probanden so
weit, dass es diesen gänzlich unklar ist, aus welchen Gründen der Sachver-
ständige sie aufsucht beziehungsweise warum eine Begutachtung erfolgt -
angesichts der Beziehung sui generis ein klares Indiz für das Erfordernis der
Belehrung durch den psychiatrischen Sachverständigen.
Diese Überlegungen werfen weiter die Frage auf, ob die Belehrung durch
den Sachverständigen schriftlich oder mündlich vorzunehmen ist. Die
schriftliche Aufklärung könnte dabei im Interesse der Dokumentation -
unter Verwendung einer von den Strafverfolgungsbehörden überlassenen
Belehrungsformel - entsprechend den Aufklärungs- und Merkblättern bei
operativen medizinischen Eingriffen vorgenommen werden. Allerdings hat
eine mündliche Belehrung den Vorteil, flexibel auf die kognitiven und emo-
tionalen Fähigkeiten und auch, der eigenen Erfahrung nach gar nicht so
seltene, Rückfragen des Probanden eingehen zu können. Ebenso ist die
wiederholte Belehrung bei einem Abgleiten in die Patient-Arzt-Beziehung
während der Untersuchung nur so möglich. 62 Ohne diese Frage hier vertief-
ter behandeln zu können, dürfte sich insoweit ein auf den jeweiligen Pro-
banden abgestimmtes Vorgehen empfehlen.
Für die Durchführung der Belehrung ist noch darauf hinzuweisen, dass
ein Proband aufgrund einer akuten psychischen Erkrankung möglicherweise
nicht in der Lage ist, in freier Willensentschließung und Willensbetätigung
zu handeln. Über die zahlenmäßige Häufigkeit solcher Situationen sind
indes keine systematischen Erhebungen bekannt. Aus der eigenen Erfah-
rung handelt es sich um Einzelfälle. Unter diagnostischen Aspekten kom-
men akut psychotische Zustände itn Rahmen einer schizophrenen oder schi-
zoaffektiven Psychose, akute manische oder schwer depressive Zustände im
Rahmen einer affektiven Erkrankung in Betracht, die zu emotionalen Ein-
schränkungen und einer Verzerrung der Realität führen können. Erhebliche
kognitive Einschränkungen können bei einer schweren Minderbegabung

62 Ebenso Eisenberg Beweisrecht der StPO, 6. Autl. 2008, Rn. 1580; ders./Kopatsch
(Fn. 13),298 f.; Lesting (Fn. 1), 14.
Belehrung durch den psychiatrischen Sachverständigen? 1021

oder bei einem mittelgradigen bis schwer ausgeprägten demenziellen Syn-


drom vorliegen. Sieht sich der Gutachter einem entsprechend erkrankten
Probanden gegenüber, sollte der Sachverständige vor Durchführung bezie-
hungsweise Fortsetzung der Untersuchung unbedingt Rücksprache mit
Auftraggeber und gegebenenfalls Rechtsvertreter des Probanden nehmen. 63
Hinzuweisen ist darüber hinaus darauf, dass der Sachverständige auch
darauf vorbereitet sein sollte, dass sich Dritte, insbesondere Angehörige des
Probanden, an ihn wenden und diesen dabei häufig die vorbeschriebene
Beziehung sui generis zwischen Gutachter und Proband nicht klar ist. In
solchen Fällen versuchen Angehörige den Kontakt zum Gutachter herzustel-
len, damit der Sachverständige als Arzt dem zu begutachtenden Angehöri-
gen helfen könne, und übersehen insoweit die jedenfalls für die Feststellung
von Befundtatsachen bestehende Beziehung sui generis. Ohne diesen As-
pekt hier vertiefen zu können, wird man zwar eine gegebenenfalls erfolgen-
de erste Äußerung als Spontanäußerung 64 einstufen können, jedoch dann,
wie für den Beschuldigten dargelegt, aus der Beziehung sui generis folgern
müssen, dass der Gutachter, sobald er erkennt, dass die Beziehung sui gene-
ris verkannt wird, eine Belehrung, zumindest jedoch Aufklärung, über die
Beziehung sui generis vorzunehmen hat.

2. Rechtliche Aspekte
Medizinisch wird eine Belehrungspflicht des psychiatrischen Sachver-
ständigen aufgrund der Beziehung sui generis zwischen psychiatrischem
Sachverständigem und Probanden bejaht. Es stellt sich die Frage, inwieweit
diese Beziehung sui generis rechtlich eine Rolle für eine Belehrungspflicht
des psychiatrischen Sachverständigen spielt. Das Schweigerecht des Be-
schuldigten auch gegenüber dem Sachverständigen sowie die Pflicht der
Strafverfolgungsorgane, zu begutachtende Personen über ihnen jeweils,
auch gegenüber dem Sachverständigen, zustehende Rechte zu belehren, soll
dabei rur die Frage der Belehrungspflicht des psychiatrischen Sachverstän-
digen qua Beziehung sui generis im Folgenden vorausgesetzt werden. 65

63 K. Foerster/Winckler (Fn. 1), S. 19. Die Pflicht des Sachverständigen, eine nicht erfolgte
Belehrung durch die Strafverfolgungsorgane nachholen zu lassen, bejaht auch BGH NStZ
1997, 349, 350~ zur Problematik ebenfalls BGH StV 1993, 563, 563 f. m.w.N.~ Rogall in:
Systematischer Kommentar StPO, 46. Lieferung 2006, § 81 c Rn. 61 ~ anders Göppinger Hand-
buch der forensischen Psychiatrie, Bd. II, 1972, S. 1564.
64 Vgl. Beulke (Fn. 8), Rn. 113, 118 m.w.N.~ Fincke (Fn. 17), 671.
65 Vgl. BGHSt 13,394, 398 f.~ BGH StV 1993,563 Geweils zu Angehörigen)~ Arzt (Fn. 3),
438; Dippel (Fn. 9), S. 149~ Eisenberg/Kopatsch (Fn. 13), 298; Fincke (Fn. 17), 664 ff.; GIeß
(Fn. 20), § 136 Rn. 3; Heinitz (Fn. 31), S. 700 f.~ Lesting (Fn. 1), 14; Rieß JA 1980,293,296;
Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 161; Toepel (Fn. 21), S. 378 ff. m.w.N; ablehnend Lesch
1022 Klaus Foerster ;' Max Foerster

Vorzugswürdig ist es, dass der psychiatrische Sachverständige bei Auf-


tragserteilung über diese Belehrung informiert wird. Dies schließt eine
kumulative Belehrungspflicht des Sachverständigen jedoch nicht aus. 66 Die
Strafprozessordnung kennt die Doppelbelehrung, auch der Richter muss
trotz vorangegangener Belehrung durch Staatsanwaltschaft oder Polizei
belehren. 67
Wenn in der Literatur eine Belehrungspflicht des psychiatrischen Sach-
verständigen darauf gestützt wird, dass für die Exploration notwendigerwei-
se auch Umstände der Tat selbst und die Tatzusammenhänge von wesentli-
cher Bedeutung sind,68 zielt dies auf die Berücksichtigung der Beziehung
sui generis unter rechtlichen Aspekten ab. Bestärkt wird dies durch die
Einschätzung, dass eine Belehrung durch den psychiatrischen Sachverstän-
digen unter Umständen (mehrfach) wiederholt werden müsse. Dazu komme
es, wenn der Proband in die Patient-Arzt-Beziehung abgleitet und auch
gegenüber dem Sachverständigen die Hilfser\vartungen zeigt, die in Patient-
Arzt-Beziehungen verbreitet und legitim, in der Begutachtungssituation
aber situativ verfehlt sind. 69 Aus der praktischen Erfahrung sei darauf hin-
gewiesen, dass ein solches Abgleiten (aufgrund der Identität von Untersu-
chung zwecks psychiatrischer Therapie und psychiatrischer Begutachtung
naheliegend) tatsächlich vorkommt. Auch die Annahme einer Belehrungs-
pflicht des psychiatrischen Sachverständigen in Analogie zur Belehrungs-
pflicht der Strafverfolgungsorgane aus § 136 StPO,70 findet ihre Rechtferti-
gung in der Beziehung sui generis, die selbst in der Strafprozessordnung
trotz ihrer praktischen Bedeutung und Sonderstellung keine Regelung ge-
funden hat, obwohl beispielsweise Kfz-Sachverständige und psychiatrische
Sachverständige nicht mit den gleichen ethischen Maßstäben zu messen
sind. 71 Die wesentliche Bedeutung der Umstände der Tat und der Tatzu-
sammenhänge rür die Exploration 72 begründet dabei - trotz unterschiedli-

(Fn. 16), § 136 Rn. 34. Fragen in Zusammenhang mit der Anordnung der Begutachtung wer-
den hier nicht vertieft, dazu Meyer-Goßner (Fn. 16), § 81a Rn. 6 ff
66 Ebenso Eisenberg (Fn. 62), Rn. 1580.
67 Vgl. Meyer-Goßner (Fn. 16), § 136 Rn. 1.
68 Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 161 ~ insoweit stimmt auch Fincke (Fn. 17), 667 überein,
will die Belehrungspflicht jedoch gleichwohl auf den Auftraggeber beschränken.
69 Eisenberg/Kopatsch (Fn. 13), 298~ Gieß (Fn. 20), § 136 Rn. 3; Lesting (Fn. 1), 13 f;
Schmidt-Recla (Fn. 13),801; Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 161; insoweit auch Fincke (Fn. 17),
657 f; zur Rollen- und Funktionsklarheit Rössner in: Kröber/Dölling/Leygraf/Saß (Fn. 4),
S.404.
70 Arzt (Fn. 3), 438~ Beulke (Fn. 8), Rn. 201; Lesting (Fn. 1), 14; Roxin/Schünemann
(Fn. 21), § 25 Rn. 12, § 27 Rn. 16; Schmidt-Recla (Fn. 13), 801; Toepel (Fn. 21), S. 380 ff;
ablehnend BGH JZ 1969,437.
71 Nedopil (Fn. 6),435.
72 Lesting (Fn. 1), 13; Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 161.
Belehrung durch den psychiatrischen Sachverständigen? 1023

cher Zwecke - die Vergleichbarkeit fur die Analogie. Unterstützt wird dies
dadurch, dass auch der Sachverständige nicht zu Mitteln nach § 136a StPO
greifen darf. 73
Letztlich folgt die Belehrungspflicht jedoch bereits aus der Beziehung sui
generis. Die Besonderheiten der psychiatrischen Begutachtung gegenüber
sonstigen Sachverständigengutachten sowie die vorgeschilderten medizini-
schen Aspekte begründen dessen Belehrungspflicht unmittelbar. Strukturell
ist dies ohne weiteres möglich. Eine Konstellation sui generis, die trotz
ihrer Besonderheiten jedenfalls hinsichtlich der Erhebung von Befundtatsa-
chen keine eigenständige Regelung in der Strafprozessordnung gefunden
hat, kann auch Pflichten sui generis, hier eine originäre Belehrungspflicht,
nach sich ziehen, so die Interaktion zwischen Gutachter und Beschuldigtem
in der Beziehung sui generis.
Dies gilt ebenso für den Umstand, dass die Begutachtung durch den psy-
chiatrischen Sachverständigen regelmäßig nur unter Mitwirkung des Pro-
banden möglich ist. Die Beziehung sui generis kann insoweit nur durch den
Gutachter selbst hinreichend aufgelöst werden. 74 Demgegenüber hat bei-
spielsweise eine Bremsspur, die es zu vermessen gilt, schon strukturell kein
Belehrungsbedürfnis.
Eine Belehrung beugt auch der Gefahr vor, dass ein Beschuldigter davon
ausgeht, er sei gegenüber dem psychiatrischen Sachverständigen - anders
als gegenüber den Strafverfolgungsorganen - zur Mitwirkung verpflichtet,75
zumal die Strafverfolgungsorgane bisher regelmäßig nur in allgemeiner
Form über das Schweigerecht belehren und nicht darauf hinweisen, dass
dieses auch gegenüber dem Sachverständigen besteht. Dies deckt sich so-
dann damit, dass der Sachverständige seine Tätigkeit für die lustizbehörden
nicht bewusst verschweigen darf.76

73 Vgl. dazu BGHSt 11, 211, 212~ BGH 1Z 1969, 437~ Hanack (Fn. 11), 169~ Ro-
xin/Schünemann (Fn. 21), § 25 Rn. 12, 17~ ablehnend Fincke (Fn. 17), 658 ff. Zur Frage, ob
sich das Verbot der in § 136a StPO aufgeführten Maßnahmen für den Sachverständigen aus
§ 136a StPO, einer Analogie dazu oder dem Persänlichkeitsrecht ergibt, Peters (Fn. 11), 234.
74 Vgl. Lesting (Fn. 1), 14. Entsprechend wird eine Belehrung durch den Sachverständigen
verlangt, wenn dies zur Wahrung der Schweige- bzw. Zeugnisverweigerungsrechte erforderlich
erscheint, Eisenberg (Fn. 62), Rn. 1580.
75 Arzt (Fn. 3), 438 f.~ Dörig (Fn. 12), 144~ Eisenberg/Kopatsch (Fn. 13), 298~ Kühne JZ
1981, 647, 650~ Lesting (Fn. 1), 13~ Peters (Fn. 11), 233~ TondorfPsychologische und psychi-
atrische Sachverständige im Strafverfahren, 2. Autl. 2005, Rn. 284~ Schmidt-Recla (Fn. 13),
801. Abgelehnt wird dabei insbesondere der Schluss, dass Beschuldigte, die darüber belehrt
seien, vor dem Richter schweigen zu dürfen, wüßten, auch vor dem Sachverständigen schwei-
gen zu dürfen.
76 BGH NStZ 1997, 349, 350.
1024 Klaus Foerster / Max Foerster

Auch die bei der psychiatrischen Begutachtung bestehende Unschärfe der


Unterscheidung zwischen Befund- und Zusatztatsachen77 spricht für die
Belehrungspflicht. Zu deren Begründung auf das allgemeine Vertrauen
abzustellen, das einem Arzt infolge seines Standes entgegengebracht wird,78
geht ebenfalls unmittelbar auf die Beziehung sui generis zurück.
Zur Bedeutung der Standesethik hat das BVerfG allgemeingültig ausge-
führt, dass diese nicht isoliert neben dem Recht stehe. Was nämlich die
Standesethik vom Arzt fordere, übernehme das Recht weithin zugleich als
rechtliche Pflicht. Weit mehr als in den sozialen Beziehungen des Men-
schen fließe, so das BVerfG, inl ärztlichen Berufsbereich das Ethische Init
dem Rechtlichen zusammen. 79 Dies zugrundegelegt erfordert die tatsächlich
bestehende Beziehung sui generis zwischen psychiatrischem Sachverstän-
digen und Probanden auch rechtlich eine Belehrung durch den psychiatri-
schen Sachverständigen - und zwar gerade aufgrund der medizinischen
Argumente, die die Beziehung zwischen Arzt und Proband zu einer Bezie-
hung sui generis machen. Normativ lässt sich dies zudem beispielsweise an
§ 1 Abs. 1 Bundesärzteordnung, §§ 2, 3 der Berufsordnung der Landesärz-
tekammer Baden-Württemberg festmachen, wozu bereits ausgeführt wurde.
Soweit eine Belehrungspflicht des psychiatrischen Sachverständigen ab-
gelehnt wird, weil dieser Beweismittel und nicht Vernehmungsorgan mit
Vernehmungsrechten sei und ihm die Prozessrolle als Beweismittel ohne
Dispositionsbefugnis und ohne Vernehmungsbefugnis zugewiesen sei,80
geht dies über die Beziehung sui generis hinweg. Dabei folgt diese gerade
aus der Interaktion zwischen psychiatrischem Sachverständigen und Pro-
banden bei der Untersuchung mit Bezug zur Tat, die eine Begutachtung erst
möglich macht. Auch eine Prozessrolle darf nicht unabhängig von der tat-
sächlich geforderten und stattfindenden Tätigkeit in der Beziehung sui ge-
neris gesehen werden. Insoweit wird dieser Position zu Recht ein zu starker
Formalismus entgegengehalten. 81 Zudem sind (rechtliche) Nachteile einer
Belehrung, die - wie ausgeführt - von psychiatrischen Sachverständigen
auch aus fachlichen Gesichtspunkten befürwortet wird, nicht ersichtlich.
Insbesondere enthält die Strafprozessordnung kein Belehrungsverbot für
psychiatrische Sachverständige. Davon scheint auch der BGH im bereits

77 Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 162~ insoweit kritisch auch Fincke (Fn. 17),668 ff.
78 Kogge 1R 1950, 203, 204~ Kühne (Fn. 75), 650~ Lesting (Fn. 1), 13~ Peters (Fn. 11),233.
79 BVerfGE 52, 131, 169 f.~ anders Fincke (Fn. 17), 663: Eine berufsethische oder rechtliche
Belehrungspflicht sei "nicht prozessual".
80 BGH 1Z 1969, 437~ Diemer (Fn. 17), § 136 Rn. 3 ~ Fincke (Fn. 17), 657~ Lesch (Fn. 16),
§ 136 Rn. 34~ Göppinger (Fn. 63), S. 1564~ Meyer-Goßner (Fn. 16), § 136 Rn. 2~ Rogall
(Fn. 1), § 136 Rn. 15 f. m.w.N.~ Senge (Fn. 17), § 80 Rn. 2~ Spöhr (Fn. 17)~ 335.
81 Lesting (Fn. 1), 13~ Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 161.
Belehrung durch den psychiatrischen Sachverständigen? 1025

angeführten Fall auszugehen. 82 Danach reicht sogar eine Belehrung durch


den Sachverständigen aus, wenn die Strafverfolgungsorgane nicht belehrt
haben. Sonst wäre das Geständnis des Beschuldigten gegenüber dem Sach-
verständigen dort ebenfalls nicht verwertbar gewesen. Nach dem dortigen,
vor der Polizei abgegebenen, unverwertbaren Geständnis war vor dem Ge-
ständnis gegenüber dem Sachverständigen eine Belehrung offenbar allein
durch den Sachverständigen erfolgt. 83
Angesichts dessen stellt sich die Frage, die an dieser Stelle nicht weiter
vertieft werden kann, ob Strafverfolgungsorgane die ihnen obliegende Be-
lehrung 84 auf den Sachverständigen delegieren dürfen oder ob dies lediglich
im Ergebnis gegebenenfalls folgenlos ist,85 wenn der Sachverständige seiner
Belehrungspflicht nachkommt. Offengelassen werden müssen an dieser
Stelle auch die Folgen eines möglichen Unterlassens der Belehrung durch
den Sachverständigen. 86 Beziehung sui generis sowie Effektivität der Beleh-
rungspflicht sprechen jedoch rur die Unverwertbarkeit einer Begutachtung
ohne Belehrung.
Für die Umsetzung der Belehrungspflicht empfiehlt es sich, den psychiat-
rischen Sachverständigen bei Auftragserteilung neben der Information über
die Belehrung durch die Strafverfolgungsorgane auch auf dessen eigene,
originäre Belehrungspflicht hinzuweisen. Dabei sollte dem psychiatrischen
Sachverständigen als im Regelfall Nicht-Juristen eine Belehrung übermittelt
werden, die im jeweiligen Einzelfall 87 inhaltlich den Anforderungen genügt,
so dass dieser die (schriftliche oder mündliche) Umsetzung dokumentieren
kann 88 und der Proband tatsächlich die erforderliche Kenntnis seiner Rechte
in der Beziehung sui generis hat. Bisher enthalten die insoweit bekannten
Verrugungen oder auch Beschlüsse der Strafverfolgungsorgane indes weder
einen Hinweis darauf, ob eine Belehrung durch die Strafverfolgungsorgane
überhaupt erfolgt ist noch einen solchen, ob der Proband belehrt wurde,

82 BGHSt 35, 32, 35~ dies erkennen auch Neubeck (Fn. 19), § 80 Rn. 3~ Rogall (Fn. 1), § 136
Rn. 17 und Senge (Fn. 17), § 80 Rn. 2 an.
83 BGHSt 35, 32, 35.
84 Vgl. BGH StV 1993, 563 zu Angehörigen.
85 Die Möglichkeit, die Belehrung durch den Auftraggeber durch eine Belehrung des Sach-
verständigen zu ersetzen, bejahen Peters (Fn. 11), 233 und Dörig (Fn. 12), 144~ Fincke
(Fn. 17), 671 und Rogall (Fn. 1), § 136 Rn. 17 lehnen sie dagegen ab. Letzterer lehnt die
Ersetzbarkeit zwar ab, sieht im Ergebnis die Belehrung durch den Sachverständigen jedoch als
ausreichend zur Wahrung der Rechte Beschuldigter an. Auf den Einzellfall will Gleß (Fn. 20),
§ 136 Rn. 3 abstellen.
86 Vgl. dazu Lesting (Fn. 1), 14 f.
87 Bspw. eine qualifizierte Belehrung, vgl. dazu Beulke (Fn. 8), Rn. 119, 142. Die Übermitt-
lung der Belehrung an den Sachverständigen kann die Bedenken bei Toepel (Fn. 21), S. 382 f.
gegen eine Belehrung durch den Sachverständigen entkräften.
88 Vgl. zur Dokumentationspflicht Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß (Fn. 36), 59.
1026 Klaus Foerster / Max Foerster

dass die jeweils einschlägigen Rechte auch gegenüber dem psychiatrischen


Sachverständigen bestehen. Gleiches gilt in der Frage, ob beziehungsweise
worüber der Sachverständige gegebenenfalls belehren soll. Zudem erwe-
cken Anschreiben an Beschuldigte, in denen diese darüber informiert wer-
den, dass sie zur Frage der Schuldfähigkeit begutachtet werden sollen, ver-
schiedentlich unter ausschließlichem Hinweis auf mögliche Maßnahmen
nach § 81 a StPO eher den Eindruck, der Proband sei auch zur Mitwirkung
an der Begutachtung verpflichtet. Der Beziehung sui generis zwischen
Proband und ärztlichem Gutachter wird dieses Vorgehen nicht gerecht.

v. Fazit
Die Beziehung zwischen forensischem Psychiater als Sachverständigem
und Proband ist unter psychiatrischen wie juristischen Aspekten Beziehung
sui generis. Aus dieser folgt, dass Strafverfolgungsorgane und psychiatri-
sche Sachverständige Beschuldigte vor Beginn der Untersuchung zur Be-
gutachtung über ihre Rechte auch gegenüber dem psychiatrischen Sachver-
ständigen belehren müssen. Die forensische Psychiatrie ist sich darüber
heutzutage einig. Wenn der Proband aus der Beziehung sui generis in eine
Patient-Arzt-Beziehung mit in diesem Zusammenhang situativ verfehlter
Hilfserwartung abgleitet, muss die Belehrung qua Beziehung sui generis
gegebenenfalls (mehrfach) wiederholt werden.
Die Feinpräparation von Kehlkopf und Luftröhre
und ihre Bedeutung bei der
Strangulationsdiagnose

WOLFGANG EISENMENGER / EVGENIJ GAZO\'

I. Einleitung
Tod durch Ersticken gehört zu den häufigen Todesursachen bei nichtna-
türlicher und zu den eher seltenen Todesursachen bei natürlicher Todesart.
Bei der Systematik der Erstickungsarten ist sich die Rechtsmedizin uneins,
ob es aus kriminalistischer Sicht sinnvoller ist, zwischen äußerem und inne-
rem Ersticken oder zwischen globalem und lokalem Ersticken und dabei
wieder zwischen asphyktischem und hypoxischem Ersticken zu unterschei-
den. Für den medizinischen Laien mag dies bedeutungslos erscheinen; er
versteht unter Ersticken im Regelfall einen Tod durch Sauerstoffmangel.
Umso größer ist dann oft das Erstaunen in den Medien und der Öffentlich-
keit, dass ein Erstickungstod bei der Leichenschau nicht erkannt wurde,
speziell wenn ein Tötungsdelikt Ursache des Erstickens war.
Für den Rechtsmediziner ist das Nichterkennen eines Erstickungstodes
bei der Leichenschau dagegen leider eine häufige Erfahrung. In der rechts-
medizinischen Ausbildung der Studenten ist man deswegen besonders be-
müht, so genannten Erstickungszeichen wie Zyanose (Blausucht) und pete-
chiale (punktförmige) Blutungen der Haut und Schleimhäute des Gesichtes
zu vermitteln. Da solche Veränderungen aber weder obligatorisch noch
spezifisch sind, bedarf es immer einer Sektion, um Erstickungstodesfälle
mit einiger Sicherheit nachweisen zu können. Aber selbst die Sektionsbe-
funde sind bisweilen nicht so eindeutig, dass ein 'fod durch Ersticken ohne
jeden vernünftigen Zweifel konstatiert werden könnte, denn auch die Be-
funde im Körperinneren sind nicht obligat und spezifisch. Deswegen
schrieb Berthold Mueller l in seinem Handbuchartikel zum Thema äußerer
und innerer Erstickungszeichen: "Diese Befunde sind aber nicht konstant
und auch nicht rur sich allein spezifisch. Sie reichen zur Diagnose, die einen

1 Mueller Tod und Gesundheitsbeschädigung durch von außen kommende Einwirkungen:


Erstickung. In: Gerichtliche Iv1edizin, 2. Aufl. 1975, S. 439 ff.
1028 Wolfgang Eisenmenger / Evgenij Gazov

Mitmenschen oft erheblich belastet, allein nicht aus, weisen nur auf das
Vorliegen einer Erstickung hin. Man muss zusätzlich die Erstickungsursa-
che feststellen; sie kann sich aus dem Sektionsbefund und auch aus den
näheren Umständen des Todes im Zusammenhang mit den Ermittlungen
ergeben. Gelingt es nicht, eine Erstickungsursache nachzuweisen, so wird
man sehen, ob zusätzliche Befunde anatomischer, histologischer oder bio-
chemischer Natur die Diagnose stützen, sofern solche Untersuchungen
zunächst noch nicht durchgeführt worden sind."
Besondere Bedeutung gewinnen diese Aspekte bei Fällen von Strangula-
tion, also dem Ersticken durch Kompression des Halses von außen. Unter
dem Oberbegriff der Strangulation werden das Erhängen, das Erdrosseln
und das Erwürgen subsumiert, wobei bei den beiden ersteren Formen die
Kompression mittels eines Fremdwerkzeuges, beim Erwürgen mittels einer
oder beider Hände oder dem Arm erfolgt. Der Unterschied zwischen Erhän-
gen und Erdrosseln ist dann so definiert, dass bei ersterem die Kompression
passiv, nämlich durch das Körpergewicht bzw. Teile desselben erfolgt,
während das Erdrosseln ein aktives Komprimieren des Strangulationswerk-
zeuges durch eigene oder fremde Hand beinhaltet.
Es besteht in der der Literatur Einigkeit darüber, dass Selbsterwürgen
nicht möglich ist, abgesehen von einem publizierten Einzelfall bei Vorlie-
gen einer Psychose. Da aber Erhängen und Erdrosseln jeweils von eigener
wie von fremder Hand erfolgen können, bedarf es subtiler Untersuchungs-
rnethoden, um zusätzlich zur Diagnose einer Strangulation auch die Unter-
scheidung treffen zu können, ob diese von eigener oder fremder Hand er-
folgte. Neben der Beurteilung der Auffindesituation und den bereits
eingangs zitierten Befunden einer Zyanose, petechialer Blutungen in den
Häuten und Schleimhäuten des Gesichtes, weiteren petechialen Blutungen
unter der Kopfschwarte und in der Galea aponeurotika und den Schläfen-
muskeln gehören dazu relativ unspezifische Befunde wie flüssiges Leichen-
blut, akute Erweiterung der rechten Herzkammer, Blutarmut der Milz bei
Blutfülle der Leber und Blutungen unter den serösen Überzügen der Organe
des Brustkorbes, speziell unter der Pleura viszeralis und unter dem Epikard,
die von Tardieu schon im 19. Jahrhundert als sog. Erstickungsblutungen
beschrieben wurden. Auch die im Wesentlichen erst in den 70er und 80er
Jahren des letzten Jahrhunderts beschriebenen, auffälligen Blutungen in der
Zungenmuskulatur, bisweilen als "Zungenapoplex" bezeichnet, sind hier
aufzufiihren. Besondere Bedeutung haben aber alle Befunde in der Halsre-
gion, die auf eine dortige komprimierende Gewalteinwirkung gegen den
Hals direkt rückschließen lassen, wie Verletzungen der Oberhaut und Le-
derhaut und der Subcutis, des Platysmas und der Halsmuskulatur, welch
letztere sich am häufigsten in Form von Einblutungen manifestieren.
Schließlich sind direkte traumatische Schäden der Skelettteile im Bereich
Die Feinpräparation von Kehlkopf und Luftröhre 1029

der mittleren Luftwege, d.h. des Zungenbeins, des Kehlkopfes und der Luft-
röhre oftmals von entscheidender Bedeutung, da speziell Weichteileinblu-
tungen in der Halsregion auch nichttraumatischer Ursache sein können.

11. Präparationstechnik
Maxeiner 2 hat in seinem Beitrag zum Handbuch "Gerichtliche Medizin"
von BrinkmannlMadea bereits 2004 über 34 Seiten über Untersuchungs-
techniken des Kehlkopfes referiert und anhand von 337 Literaturstellen auf
deren Bedeutung für die forensische Begutachtung hinge\\'iesen. Dabei hat
er ab 1983 eigene Präparationstechniken entwickelt, die dazu dienen, mit
subtilen Methoden anatomisch schwer erkennbare Befunde darzustellen. Da
diese Präparationstechniken allerdings eine Fixierung oder zumindest Teil-
fixierung dieses Areals in Formaldehydlösung voraussetzen und dann eine
relativ zeitaufwendige mikroanatomische Präparation verlangen, wurde bei
Kongressdiskussionen argumentiert~ dass eine solche Art des Vorgehens
den kriminalistischen Anforderungen einer Sofortdiagnose im Rahmen
einer Autopsie nicht entspräche und ohnehin keine wesentliche Verbesse-
rung der Beurteilung beinhalte. Traumatische Schädigungen an Zungenbein,
Kehlkopf und Trachea seien ohnehin durch makroskopische Beurteilung mit
dem bloßen Auge oder durch Lupenvergrößerung sowie durch Tastbefund
zu diagnostizieren. Auch am Münchner Institut für Rechtsmedizin wurde so
über viele Jahre die Beurteilung ohne Feinpräparation, unmittelbar im Zu-
sammenhang mit der makroskopischen Beurteilung im Rahmen der Sektion,
vorgenommen.
Russische Autoren 3 hatten in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhun-
derts ebenfalls über spezielle Präparationstechniken berichtet. Mit der Auf-
nahme der Tätigkeit des Coautors Evgenij Gazov am Institut für Rechtsme-
dizin in München wurde die Präparationstechnik nach Mishin am hiesigen
Institut eingeführt. Verändert wurde lediglich, dass für die Fixierung der
Präparate anstatt 1 %igem 2 %iges Formalin verwendet wird. Das präpara-
tive Vorgehen gestaltet sich folgendermaßen:
Nach der vorsichtigen Entnahme der gesamten Kehlkopfregion ein-
schließlich des Anfangsteils der Luftröhre werden die Präparate in 2 %iger
Formaldehydlösung über Nacht fixiert. Dies gewährleistet - neben der Kon-
servierung eine Verfestigung der Weichteile, was dann eine bessere Prä-
paration des Gewebes erlaubt. Postmortale Blutungen, auf die auch Maxei-

2 Maxeiner in: BrinkmanniMadea (Hrsg.), Handbuch Gerichtliche Medizin, 2004, S. 720 ff.
3 Khokhlov Forensic Sci. Int. 88 (1997), 129 - 133; Mishin in: Unterlagen des 3. Allgemei-
nen Russischen Kongresses der Gerichtsmediziner, Teil 11, 1992, S. 320 - 323.
1030 Wolfgang Eisenmenger / Evgenij Gazov

ner in seinem bereits zitierten Handbuchartikel hingewiesen hat, werden


außerdem so vermieden.
Vor Beginn der Feinpräparation wird das Groß des umgebenden Weich-
teilgewebes mit einer Schere vom Kehlkopfskelett abgetrennt.
Für die Feinpräparation werden Instrumente und Arbeitsgeräte benötigt,
wie sie in Abbildungen 1 und 2 4 gezeigt werden: feststehende Skalpelle mit
besonders scharfer Spitze, sog. spitze Scheren zur Feinpräparation und
anatomische Pinzetten. Ferner wird ein Set von Holzstäben unterschiedli-
chen Durchmessers zum Fixieren des Schildknorpels und Trachealskelettes
bei der Präparation benötigt und schließlich als Unterlage ein Holzblock.
Der Gesamtkomplex von Zungenbein und Kehlkopf nebst anhängendem
Anfangsteil der Trachea wird dann auf einen der Holzstäbe adäquaten Kali-
bers behutsam aufgesteckt und mit einer Schnurumschlingung vorsichtig am
Stab fixiert (Abbildung 3)5. Sodann erfolgt, unter Lupenvergrößerung, die
schrittweise Feinpräparation der einzelnen anatomischen Partien.

Präparation des Hyoids (Zungenbeines)


Das Hyoid wird mittels einer Schere vom Schildkknorpel getrennt. Begon-
nen wird mit der Präparation auf der Vorderseite des Zungenbeinkörpers
zwischen den beiden kleinen Hörnern des Zungenbeins. Die Schnittführung
erfolgt zunächst längs des Zungenbeinkörpers, wobei das Gewebe unter
Zuhilfenahme des Skalpells unter schiebenden und drehenden Bewegungen
zu beiden Seiten hin abgetragen wird,6 sodann wird das Zungenbein gedreht
und es erfolgt eine Präparation des Weichteilgewebes durch schiebenden
Druck zur Mitte des Zungenbeinkörpers hin, von wo aus es dann leicht
abgelöst werden kann. Dann wird das Gewebe um die großen Hörner des
Zungenbeins in Längsrichtung dieser Hörner mit einem Schnitt durchtrennt
und die beiden Hälften mit ebenfalls schiebenden und drehenden Bewegun-
gen jeweils zur Seite abpräpariert. Diese Präparation bedarf äußerster Vor-
sicht, damit die Enden der großen Zungenbeinhörner nicht traumatisiert
oder gar abgetrennt werden.

4 Da es drucktechnisch nicht möglich ist, die Abbildungen zu zeigen, sei auf die Internetsei-
te http://rechtsmedizin. med.uni-muenchen.de/service/downloads/20 100503_festschrift. pdf ver-
wiesen, auf der alle hier erwähnten Abbildungen zu finden sind.
5 Siehe Fn. 4.
6 Wintterer Kehlkopfverletzungen tödlich verunglückter Kraftfahrzeuginsassen. Eine Pilot-
studie. Medizinische Inauguraldissertation, 2004.
Die Feinpräparation von Kehlkopf und Luftröhre 1031

Präparation des Schildknorpels


Der Komplex aus Schild-, Ring- und Trachealknorpel wird schrittweise
folgendermaßen präpariert: Als erstes wird mit Hilfe des Skalpells das
Weichteilgewebe mit schiebenden Bewegungen in Richtung oberer und
unterer Schildknorpelhörner entfernt. Hierbei ist darauf zu achten, dass kein
Druck auf die oberen Schildknorpelhörner ausgeübt wird. Im Bereich der
beiden Schildknorpelplatten sollte im Allgemeinen kein Schnitt mit dem
Skalpell erfolgen, um den Knorpel nicht zu verletzen, sondern es wird nach
großzügiger Entfernung des Muskelgewebes an den Schildknorpelplatten an
der hinteren Kante der Platten mit der Skalpellspitze das Perichondrium
stückweise unter Drehbewegungen mit der Skalpellspitze vom Knorpelge-
webe abgehoben. Nunmehr wird mit Hilfe von Skalpell und Schere der
Schildknorpel vorsichtig vom dahinter gelegenen Ringknorpel abgetrennt.
Nach Abtrennen des Kehldeckels mit der Schere und Entfernung des Mus-
kelgewebes auf der Innenseite des Schildknorpels wird das Gewebe, das die
Schildknorpelplatten bedeckt, von beiden Seiten her unter schiebendem
Druck zur Mitte hin präpariert und kann dort dann als Ganzes abgelöst
werden. Die Präparation der oberen Hörner, die den verletzungsempfind-
lichsten Teil des Schildknorpels darstellen, erfolgt zum Schluss. Auch hier
wird ein Längsschnitt auf der Innenseite der oberen Hörner mit der Skal-
pellspitze vorgenommen und das Gewebe leicht zu den Seiten hin entfernt.

Präparation des Ringknorpels


Auch der Ringknorpel darf, wie der Schildknorpel, wegen seiner leicht
verletzlichen Oberfläche nicht durch Schnittfl1hrung freigelegt werden. Man
löst vorsichtig das Perichondrium von einer zentral gelegenen Stelle des
Ringknorpels mit der Spitze des Skalpells stückweise durch kippende Be-
wegung, bis der Knorpel freiliegt. Damit erfolgt auch automatisch die Ent-
fernung der aufsitzenden Stellknorpel. Gleichermaßen wird die Rückseite
des Ringknorpels behandelt. Sodann wird der Ringknorpel behutsam mit
einer Schere von der Luftröhre abgelöst. Das im Inneren des Ringknorpels
vorhandene Weichteilgewebe lässt sich leicht mit Hilfe einer Schere und
einer Sonde herauslösen. Die freipräparierten Kehlkopfknorpel werden zum
Schluss unter dem Stereomikroskop mittels des Skalpells noch von letzten
Geweberesten befreit. Auch die an den Ringknorpel angrenzenden Tra-
chealknorpel werden in gleicher Weise behandelt. Das Endergebnis zeigt
Abbildung 4. 7

7 Siehe Fn. 4.
1032 Wolfgang Eisenmenger / Evgenij Gazov

Es hat sich als vorteilhaft erwiesen, zur Darstellung haarfeiner Risslinien


dünnflüssige Farblösungen wie Tinte auf das Gewebe aufzugeben und die
so behandelten Skelettteile grobsichtig und unter dem Stereomikroskop zu
befunden (Abbildung 5)8.

Dokumentation
Am Institut rur Rechtsmedizin wurde ein Dokumentationsblatt entwickelt,
welches die präparierten Skelettanteile in verschiedenen Sichtebenen, näm-
lich von frontal, seitlich, von der Innenseite und, im Hinblick auf die spe-
zielle Forln des Ringknorpels in gekippter Stellung wiedergibt (Abbildung
6)9. Diese Dokumentation entspricht dem von Mishin lO vorgestellten Vor-
schlag. Farblich werden dabei alte Verletzungen von frischen Verletzungen
getrennt, frische Einblutungen markiert, die Verknöcherungszone am Kehl-
kopf abgegrenzt und zwischen Kompression und Dehnung unterschieden.
Letztere Unterscheidung lässt sich durch die Erweiterung bzw. Verengung
eines Bruchspalts bzw. eines Risses durch wechselnde Druckbelastung
beurteilen. Damit ergibt sich auch ein deutlicher Hinweis auf die Richtung
der einwirkenden Gewalt, was insbesondere bei Tötungsdelikten wesentli-
che Rückschlüsse auf die Position von Täter und Opfer zulässt.

111. Ergebnisse
Aus dem Sektionsgut der letzten fünf Jahre wurden je 60 Fälle von suici-
dalenl Erhängen und von Tötungen durch Erwürgen, Erdrosseln und Ein-
wirken stumpfer und scharfer Gewalt gesammelt und verglichen, welche
Verletzungen im Rahmen der autoptischen Beurteilung und welche durch
die Feinpräparation ermittelt wurden. Dabei war in der Gruppe der Tötun-
gen nur in 43 % der Fälle vor der Sektion eine Einwirkung stumpfer Gewalt
bekannt, während in 57 % andere Ursachen wie tödliche Stichverletzungen
vorlagen.

1. Erhängen
Zungenbein
Hinsichtlich des Zungenbeins ist bekannt, dass es beim Erhängen weniger
verletzungsgefahrdet ist als bei Fällen von Erwürgen und Erdrosseln.

8 Siehe Fn. 4.
9 Siehe Fn. 4.
10 Fn. 3.
Die Feinpräparation von Kehlkopf und Luftröhre 1033

Gleichwohl war in den 60 ausgewählten Fällen der Unterschied nicht be-


sonders evident. Bei der Obduktion nach Erhängen wurden in 19 Fällen
Verletzungen der Zungenbeinhörner festgestellt, durch zusätzlich Feinprä-
paration konnten dann weitere 20 Verletzungen nachgewiesen werden. Das
bedeutet, dass also praktisch die Hälfte aller Verletzungen bei der grobsich-
tigen und tastenden Untersuchung im Rahmen der Obduktion nicht erkannt
worden waren.

Kehlkopf
Am Kehlkopfskelett selbst war die Diskrepanz zwischen grobsichtig fest-
gestellten und feinpräparatorisch nachgewiesenen Verletzungen nicht weni-
ger beunruhigend: Es wurden 33 Verletzungen am Kehlkopf beschrieben,
im Rahmen der Feinpräparation wurden dann zusätzlich 25 Brüche bzw.
Rissbrüche aufgefunden.

Ringknorpel und Trachealknorpel


Besonders hervorzuheben sind die Ergänzungsbefunde am Ringknorpel
und den oberen Trachealknorpeln: Hier hatten die Obduzenten bei den Er-
hängungsfallen grobsichtig überhaupt keine Verletzungen registriert. Bei
der zusätzlichen Nachuntersuchung fand sich dann in 8 Fällen eine Verlet-
zung des Ringknorpels und in einem Fall eine Verletzung oberer Tra-
chealknorpel. Abbildung 7 11 zeigt schematisch die bei der Obduktion und
durch die Zusatzuntersuchungen festgestellten Verletzungen. Die Zahlenan-
gaben erfassen hierbei nicht die Zahl der Fälle, sondern die Zahl der Verlet-
zungen, also auch Mehrfachverletzungen.
Bezogen auf die Gesamtzahl der Fälle von Erhängen waren in 35 von 60
Fällen, entsprechend 58 %, zusätzliche Verletzungen stereomikroskopisch
nachzuweisen, wobei insbesondere die Verletzungen am Ringknorpel und
an den Trachealknorpeln der makroskopischen Beurteilung vollständig
entgangen waren.

2. Tötungsdelikte durch Strangulation, stumpfe und scharfe Gewalt


Zungenbein
Bei der Sektion waren 23 Verletzungen grobsichtig und durch Tastbefund
erfasst und beschrieben worden. Durch stereomikroskopische Nachuntersu-
chung fanden sich dann weitere 21 zusätzliche Verletzungen. Das bedeutet,

11 Siehe Fn. 4.
1034 Wolfgang Eisenmenger / Evgenij Gazov

dass nur etwa die Hälfte der vorhandenen Verletzungen autoptisch erkannt
worden war (Abbildung 8)12.

Kehlkopf
Im Rahmen der Obduktion wurden 39 Einzelverletzungen am Kehlkopf
erfasst und beschrieben. Bei der Ergänzungsuntersuchung unter dem Ste-
reomikroskop wurden 31 weitere Verletzungen erkannt.

Ringknorpel und Trachealknorpel


Ebenso wie bei Erhängen hatten die Obduzenten in keinem der Fälle der
untersuchten Tötungsdelikte Verletzungen an Ring- und Trachealknorpel
erkannt. Die Feinpräparation führte dann zur Entdeckung von 44 Verletzun-
gen am Ringknorpel und sechs Verletzungen an Trachealknorpeln. Dies ist
ein beeindruckendes Ergebnis.
Bezogen auf die Gesamtzahl der Fälle waren bei der Sektion in 45 Fällen
entsprechend 75 % Verletzungen im Kehlkopfbereich festgestellt worden.
Bei der stereomikroskopischen Untersuchung wurden, zusätzlich zu den
bereits autoptisch nachgewiesenen Verletzungen, in 44 Fällen zusätzlich ein
bis vier Verletzungen registriert, und nur in einem Fall konnten keine weite-
ren Verletzungen an Zungenbein und Kehlkopf nachgewiesen werden.
Ring- und Trachealknorpelverletzungen waren der Beobachtung mit dem
bloßen Auge vollständig entgangen.

IV. Diskussion
Eines der wichtigsten Ziele der modemen Medizin ist die Qualitätssiche-
rung. Sowohl die Orientierung der klinischen Behandlung an den Kriterien
von "evidence based medicine" wie auch die Etablierung von Richtlinien
und Leitlinien waren und sind wichtige Meilensteine auf dem Weg zu die-
sem Ziel. Ebenso gehören dazu alle Maßnahmen im Rahmen von Akkredi-
tierung und Zertifizierung.
Auch in den klinisch-theoretischen Fächern wie Mikrobiologie, Virologie,
Pathologie und auch Rechtsmedizin sind entsprechende Maßnahlnen der
Qualitätssicherung eingeführt und etabliert. So existiert für die gerichtliche
Leichenöffnung ein Leitfaden der Akkreditierungsgesellschaft DACH
GmbH ("Spezieller Leitfaden für die gerichtliche Leichenöffnung") 13 • Einer

12 Siehe Fn. 4.
13 www.dach.gmbh.de/DACH/DOK/VA/0900-5800.pdf
Die Feinpräparation von Kehlkopf und Luftröhre 1035

der Untertitel des Leitfadens beschäftigt sich hierbei mit der "Sektionstech-
nik bei Halstraurnen". Ebenso sind in den letzten Jahren Handbücher zur
Sektionstechnik von mehreren Autoren wie z.B. Rutty,l4, Saternus 15 oder
Sheaff und Hopster 16 erschienen. Schließlich entwickelte die Deutsche Ge-
sellschaft fur Rechtsmedizin eine Leitlinie rur die rechtsmedizinische Lei-
chenöffnung, worin unter Federruhrung von Frau Prof. Dr. A. Klein in An-
lehnung an die "Recommendation Nr. R(99)3 on the harmonisation of
medico-Iegal autopsy rules (adopted by the council of Europe committee of
ministers on 4th of february 1999)" die gängige Standardtechnik rur die
gerichtliche Leichenöffnung beschrieben wird. Diese Leitlinie hat die
höchste Entwicklungsstufe 83. 17
In allen diesen Darstellungen und Empfehlungen wird der Tatsache
Rechnung getragen, dass der Halsregion des Menschen bei der gerichtlichen
Leichenöffnung besonderes Augenmerk gewidmet werden muss, weil, wie
eingangs dargelegt, bei Fällen gewaltsamen Erstickens, speziell bei allen
Formen der Strangulation, dem Nachweis stattgehabter Gewalt gegen die
Halsregion oft entscheidende Bedeutung rur den Nachweis des Erstickens
zukommt.
Insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die am Institut rur
Rechtsmedizin in Münster durchgefuhrte Multicenterstudie zur Dunkelziffer
nicht erkannter Tötungsdelikte in Deutschland 1997 zum Ergebnis kam,
dass mindestens 1200 und maximal 2400 Fälle nicht entdeckter Tötungsde-
likte in Deutschland zu erwarten sind, kommt dem Nachweis aller Formen
der Strangulation besondere Bedeutung zu. Die rechtsmedizinischen Erfah-
rungen der letzten Jahrzehnte haben nämlich gezeigt, dass auch und gerade
bei Tötungsdelikten durch Strangulation sowohl bei der äußeren als auch
bei der inneren Leichenschau subtile Befunde übersehen oder falsch gedeu-
tet werden können. So wurde z.B. am Münchner Institut rur Rechtsmedizin
ein Fall bearbeitet, bei dem ein Serientäter sieben Frauen durch Strangulati-
on getötet hatte, wobei dies nur in vier Fällen bei der Leichenschau erkannt
wurde, während in drei Fällen natürlicher Tod attestiert wurde. In drei ande-
ren Fällen waren Opfer von Tötungsdelikten durch den jeweiligen Täter
aufgehängt worden, um einen Suicid vorzutäuschen, was allerdings durch
die Sektion aufgedeckt werden konnte. Solche praktischen Erfahrungen
belegen immer wieder die Notwendigkeit gerichtlicher Sektionen, aber auch
die Notwendigkeit der Einhaltung von Kunstregeln, Standards und Leitli-
nien.

14 Rutty Essentials of Autopsy Practice, 2006.


15 Saternus/Madea Gerichtliche Obduktion. Research in Legal Medicine, Vol. 36,2007.
16 Sheaff/Hopster Post Mürtem Technique Handbook, 2005.
17 www.uni-duesseldorf.de/AWMF/111054-001.htm
1036 Wolfgang Eisenmenger / Evgenij Gazov

In der rechtsmedizinischen Literatur ist in den letzten 25 Jahren - im We-


sentlichen auf Arbeiten von Maxeiner fußend viel fur die Qualitätsverbes-
serung der Sektionen bei Verdacht einer Gewalteinwirkung gegen den Hals
im Sinne einer Strangulation getan worden. Beispielhaft sei auf die Leitlinie
der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin "Die rechtsmedizinische
Leichenöffnung" hingewiesen, wo klar ausgesprochen wird, dass "die gän-
gige Sektionstechnik des Kehlkopfes nicht geeignet ist, solche Befunde (bei
Todesfallen durch Halskompression) darzustellen". Gleichwohl haben wir
am Münchner Institut über viele Jahre geglaubt, dass die schichtweise Prä-
paration der Halseingeweide in so genannte Blutleere mit unbewaffuetem
Auge und unter Lupenvergrößerung sowie mittels Tastbefund ausreiche, um
Verletzungen an Zungenbein, Kehlkopf einschließlich Ringknorpel und
Luftröhrenknorpeln mit ausreichender Sicherheit darstellen zu können. Erst
mit der Einführung einer Sektionstechnik, wie sie in Russland von
Mishin 18 erarbeitet wurde, haben wir einen direkten Vergleich zwischen
spezieller Präparation der Kehlkopfregion und grobsichtiger Beurteilung
ziehen können. Die vorgestellten Befunde sind beeindruckend und belegen,
in wie vielen Fällen wichtige Befunde ohne spezielle Präparation nicht
erkannt worden sind. Zwar haben in den konkret verglichenen Münchner
Fällen die Sektionsdiagnosen nicht geändert werden müssen, weil diese im
Rahmen der Bewertung der Gesamtbefunde richtig gestellt worden waren.
Hinsichtlich des Ausmaßes der Gewalt, der Richtung der Gewalt und den
daraus möglichen Schlussfolgerungen haben sich aber durchaus ergänzende
Feststellungen ergeben.
Es verbleibt also kein vernünftiger Zweifel, dass die vorgeschlagenen
speziellen Präparationstechniken am Kehlkopf und den benachbarten Area-
len als Standard zu etablieren sind. Interessanterweise hat Maxeiner, trotz
seiner sehr umfanglichen wissenschaftlichen Bearbeitung dieses Themas,
nicht auf Schädigungen der Luftröhrenknorpel hingewiesen. Dies ist als
Ergänzung zu seinen Arbeiten aus unseren Untersuchungen noch anzumer-
ken und hervorzuheben.
Ob in der Zukunft die Anwendung bildgebender Verfahren, wie sie z.B.
unter dem Begriff der "Virtopsy" gegenwärtig in der wissenschaftlichen
Diskussion sind, zu einer weiteren Verbesserung der Befunderhebung fuh-
ren wird, wird die Zukunft zeigen. Die jüngst von Leth 19 mitgeteilte Fest-
stellung, dass bei der Gegenüberstellung von 250 CT-Untersuchungen von
Leichen, die danach seziert wurden, bei 48 % der Fälle wichtige Autopsie-
befunde im CT-Scanning nicht festgestellt wurden, lässt eher an solchen
Hoffnungen zweifeln.

18 Fn. 3.
19 Leth Am. 1. Forensie Med. Pathol. 30 (2009), 219-222.
VIII. Juristenausbildung
Geschichte und Geschichten
der juristischen Staatsprüfungen in Bayern

HEINO SCHÖBEL

I. "Die letzte Bastion"


"Die Letzte Bastion", so betitelte "Der Spiegel" einen Bericht über die
Umstellung des Studiums auf eine Bachelor/Master-Struktur nach der Bo-
logna-Erklärung; die "letzte Bastion", das ist laut "Der Spiegel" das Jura-
Studium mit Abschluss Staatsexamen. l Und: "Jura-Fakultäten sind traditi-
onsfest und reformimmun. ... Seit Ewigkeiten zimmern Fakultäten, Kul-
tusminister und Anwaltschaften an der Reform des Jura-Examens herum.
Doch im Grunde herrscht seit Mitte des 19. Jahrhunderts das gleiche Sche-
ma: Man erwirbt während des Studiums ein paar Scheine, der große Ham-
mer kommt zum Schluss - das Blockexamen." Der nachfolgende Beitrag
soll nicht auf Sinn und Unsinn der immer wieder erhobenen Forderung, die
juristischen Staatsexamina abzuschaffen, 2 sondern auf den Hinweis des
"Spiegels" auf das 19. Jahrhundert und die damaligen juristischen Staats-
prüfungen in Bayern eingehen; dabei soll der Versuch unternommen wer-
den, die Geschichte der juristischen Staatsprüfungen in Bayern zu skizzie-
ren, und mittels der - allerdings spärlichen - Zeugnisse in Erinnerungen
oder literarischen Werken von Schriftstellern und bekannten Juristen einige
wenige - sicher auch anekdotisch gefärbte - Schlaglichter auf die damali-
gen Prüfungen zu werfen.

1 Der Spiegel, Heft 33/2008, 11.8.2008~ eingehend zur Bologna-Erklärung Kon-


zen/Schliemann FS Adomeit, 2008, S. 343~ Schöbel BayVBI. 2007, 97 m.w.N. Nach dem
dritten Bericht der Bundesregierung zur Umsetzung der Bologna-Erklärung (BT-Drs.
16/12552) machen Bachelor- und Masterstudiengänge derzeit 75 % des gesamten Studienan-
gebots aus.
2 Abschaffung Erste Juristische Staatsprüfung beispielsweise Groß/eId JZ 1986, 357~ Kötz
ZEuP 1996, 565~ JZ 2006, 397~ Kübler/Hassemer Verhandlungen des Deutschen Juristentages
München 1990, Bd. I E, S. 13/38 ff~ Abschaffung Zweite Juristische Staatsprüfung Jeep ZRP
2007, 131 ~ "Hamburger Modell" www.reform-der-juristenausbildung.de~Abschaffung beider
Staatsprüfungen GoU ZRP 2007, 190.
1040 Heino Schäbel

11. Der Weg zum "Staatskonkurs"


Vorauszuschicken ist: Beim "Weg zum Staatskonkurs" geht es nicht um
die kritische Betrachtung deutscher Finanzpolitik, sondern um die bayeri-
sche Zweite Juristische Staatsprüfung, die früher, um ihren Wettbewerbs-
charakter zu dokumentieren, "Concoursprüfung" oder - landläufig -
"Staatskonkurs" genannt worden ist.
Die Geschichte der bayerischen juristischen Staatsprüfungen beginnt im
ausgehenden 18. Jahrhundert. Die bayerische Verwaltung ist damals, 1786,
vom französischen Gesandten in München Graf Montezan wie folgt be-
schrieben worden:
"Alle Staatsstellen sind an Individuen ausgeliefert, die - im besten Fall -
Nullen sind und die Verwaltung in eine mitleiderregende Anarchie stür-
zen. Man entfernt brüsk den niedrigsten Staatsdiener, der auch nur die lei-
seste Initiative zeigt, ja man tut mehr, man schwärzt ihn an und verfolgt
ihn. Man wünscht, nur Ausschuß zu haben, und ist darin durchaus erfolg-
reich."3
Kein Wunder: Im damaligen Bayern - und nicht nur in Bayern - herrsch-
ten Patronage, Nepotismus und Korruption; Amtsstellen und Richterstellen
wurden verkauft und vererbt - beispielsweise waren in der Kurpfalz alle
Ämter bereits im voraus auf ein oder zwei Generationen vergeben. 4 Der
Nachweis von juristischen Kenntnissen für Positionen im Hofrat, in der
Verwaltung und bei Gerichten war regelmäßig überflüssig. Die Universi-
tätsprüfungen gaben - nicht nur in Bayern, sondern überall im Deutschen
Reich 5 - keine Auskunft über die juristischen Kenntnisse und Fähigkeiten
der Kandidaten; es genügte, wenn man selbst gewählte Thesen aufstellte
und diese gegenüber dem Prüfungskollegium verteidigte. 6
Goldene Zeiten, möchte man meinen - jedenfalls aus Sicht der angehen-
den Juristen. Diese Form des Examens hatte aber auch für die Hochschul-
lehrer Vorteile. Sie mussten nicht zahllose umfangreiche Klausuren korri-
gieren. Außerdem waren kulinarische Genüsse zu erwarten: So wird von
einer Prüfung an der juristischen Fakultät in Ingolstadt berichtet, dass die
Kandidaten den vier oder fünf prüfenden Professoren zunächst am Vortag

3 Wendt Die Bayerische Konkursprüfung der Montgelas-Zeit, 1984, S. 32; ausführlich Weis
Montgelas, Erster Band, 2. Auflage 1988, S. 49.
4 Wendt a.a.O., S. 20.
5 Coing Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Rechtsgeschichte
Bd. II, 1976, S. 27ff.
6 Coing Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Rechtsgeschichte
Bd. I, 1973, S. 75ff. - Die Examina waren Voraussetzung für die Lehrerlaubnis und damit eine
Art Lehrprobe mit vorgeschalteter Wissensprüfung (Tentamen) und anschließender Diskussi-
on.
Geschichte(n) der juristischen Staatsprüfungen in Bayern 1041

21 Pfund Konfekt zukommen ließen; zur Prüfung selbst verzehrten diese


nochmals ein Pfund. Hinzu kamen mehrere Liter Wein. 7 Dies dürfte - zu-
mindest auf Prüferseite - zu einer wenig "trockenen", möglicherweise sogar
eher gelösten Atmosphäre beigetragen haben. Anders kann nicht erklärt
werden, dass die Professoren durch die Fakultäts-Statuten streng angemahnt
werden mussten, während der Prüfung keinerlei Streitgespräche untereinan-
der zu ruhren, nicht zu schwatzen und keinerlei Späße zu treiben. g Nach der
öffentlichen Verkündung der Examensergebnisse gab es rur die Professoren
- und jetzt auch für die Kandidaten - eine "Erfrischung": 70 Maß Wein und
- verständlich - 17 zerbrochene Gläser weist eine Rechnung rur die drei
Geprüften aus. 9
Weil man der universitären Ausbildung und Prüfung, wohl zu Recht,
misstraute, übernahm Bayern als eines der ersten deutschen Territorien im
ausgehenden 16. Jahrhundert aus der Rekrutierungspraxis des Reichskam-
mergerichts die Proberelation, 10 eine Art Hausarbeit, in der die Bewerber
einen Rechtsfall zu bearbeiten und einen Entscheidungsvorschlag zu formu-
lieren hatten. 1623 wird zusätzlich eine lnündliche Prüfung für die Bewer-
ber um Posten im Hofrat und den Regierungen eingeführt.
Eine wettbewerbsbezogene Auswahlpraxis konnte und sollte allerdings
nicht etabliert werden. Mit Proberelation und Examen stellte man lediglich
fest, ob die juristischen Kenntnisse des Bewerbers ausreichend waren, um
als Rat in einer Regierung oder im Hofrat zu arbeiten. 11 Nach kurzer Zeit
erwies sich allerdings, dass auch den Proberelationen keine Aussagekraft
zukam: Einheitliche AufgabensteIlung und einheitliche Bewertungsmaßstä-
be existierten nicht; genehme Bewerber wurden bei der Aktenvergabe und
bei der Bearbeitung und Beurteilung begünstigt; Kandidaten ließen sich ihre
Hausarbeiten von anderen Juristen schreiben. 12 1797 wird auf die Proberela-
tion verzichtet. 13
Doch schon 1801 wird die Prüfung wieder schriftlich abgelegt und ab
1803 werden regelmäßig Prüfungen abgehalten, unabhängig von dem Vor-
handensein neu zu besetzender Stellen; 14 der nunmehr bestehende Wettbe-

7 Wo(ffGeschichte der Ingolstädter luristenfakultät 1472-1625, 1973, S. 81.


g Wo(ff(Fn. 7), S. 83.
9 Wo(ff(Fn. 7), S. 84.
10 In Bayern ab ca. 1600; Kollmann FS Laforet, 1952, S. 456, Fn. 58; RosenthaI Geschichte
des Gerichtswesens und der Verwaltungsorganisation Baierns Bd. 11, 1968, S.462; Wendt
(Fn. 3), S. 13.
11 Wendt (Fn. 3), S. 189.
12 Heydenreuther Landesherrlicher Hofrat, 1981, S. 62, Anm. 73; S. 317, 333 zitiert nach
Wendt (Fn. 3), S. 188, Fn. 198 (S. 396).
13 Wendt (Fn. 3), S. 190.
14 Abschnitt VIII der va vom 15.8.1803, RegBI., Sp. 65; Kollmann (Fn. 10),457, Fn. 67.
1042 Heino Schöbel

werbscharakter wird durch die Bezeichnung "Concours" zum Ausdruck


gebracht. 15 1809 werden die Prüfungsvorschriften in einer Verordnung
zusammengefasst, um eine systematisierte Wettbewerbsprüfung zu gewähr-
leisten. 16 Die Bestimmungen werden allerdings von den einzelnen Prü-
fungsbehörden unterschiedlich gehandhabt.

111. "Die Concoursprüfungen der zum Staatsdienste


adspirierenden Rechtscandidaten"
1812 wird eine zentrale Prüfungskommission eingerichtet. In der Präam-
bel der Verordnung heißt es:
"Aus den bisher vorgelegten Prüfungsresultaten hat sich gezeigt, daß in
der Anwendung der gegebenen Vorschriften nicht allenthalben ein glei-
ches Verfahren eingehalten, und daß hierdurch sowohl, als auch durch
den sehr verschiedenartigen Gehalt der von Unseren General-Kreis-
commissariaten und Appellationsgerichten gewählten Fragestücke und
Ausarbeitungen, die Einheit des Maßstabes in der Beurtheilung und Wür-
digung der Geprüften gefährdet worden ist."
Mit Ziffer I der Verordnung wird deshalb "in Unserer Haupt- und Resi-
denzstadt an dem Sitze Unserer geheimen Ministerien eine eigene Central-
Prüfungscommission" gegründet, "welche die concurrierenden Rechtscan-
didaten vorzulegenden Fragen und Aufgaben zu entwerfen, die Ausarbei-
tungen der Geprüften zu censiren, und hiernach die Classifikation vorzu-
nehmen hat."17
Durch die "Verordnung vom 21. März 1812, die Concoursprüfungen der
zum Staatsdienste adspirierenden Rechtscandidaten betreffend" 18 wurden
die Grundsätze festgeschrieben, die die korrekte Durchführung einer leis-
tungsbezogenen Wettbewerbsprüfung sichern:

15 Ab 1802.
16 VO vom 20.9.1809, RegBI. 1809, Sp. 1737.
17 I VO vom 21.3.1812, RegBI., Sp. 541.
18 Die "Konkursprüfung" wird 1880 in "Zweite Prüfung" umbenannt. Der Begriff "Staats-
prüfung" wurde durch VO vom 18.10.1910 (GVBI., S. 1003) eingeführt~ ab 1934 findet sich
die Bezeichnung "Große Staatsprüfung" (RGB!. I, S. 727) und ab dem Jahr 1952 "Zweite
Juristische Staatsprüfung" (luVAPO vom 12.3.1952, GVBI., S. 103). Die 1830 eingeführte
studienabschließende Prüfung wird zunächst "theoretische Prüfung", ab 1880 "Universitätsab-
schlussprüfung", in der JAO vom 22.7.1934 (RGBL I, S. 727) erstmals "Erste Juristische
Staatsprüfung" genannt~ ab 2007 heißt sie "Erste juristische Prüfung". Der Begriff "Erste
Juristische Staatsprüfung" bleibt in Bayern für die staatliche Pflichtfachprüfung erhalten. Zur
Geschichte der juristischen Staatsprüfungen in Bayern siehe auch Weber BayVBI. 1987, 168.
Geschichte(n) der juristischen Staatsprüfungen in Bayern 1043

Zentrale, regelmäßige Durchführung mit landeseinheitlicher Aufga-


benstellung und Korrektur 19 sowie
detaillierte Regelung der Zulassungsvoraussetzung und der Prüfungs-
gegenstände und
eine den Wettbewerb unter den Kandidaten verdeutlichende Rangliste
("Classificationstabelle", "Platznummernverzeichnis").
Auf häusliche Arbeiten wurde verzichtet; 1812 ist also nicht nur das Ge-
burtsjahr der heutigen bayerischen Zweiten Juristischen Staatsprüfung, mit
der Leistung und Befahigung der künftigen Juristen in einem geordneten,
aussagekräftigen Prüfungsverfahren festgestellt werden,20 sondern auch die
des Klausurexamens, das seit 1791 in Bayern bekannt war: Im Fürstbistum
Würzburg-Bamberg hatten die Prüfungsteilnehmer innerhalb von vier Stun-
den einen praktischen Fall "in Klausur" zu lösen 21 - sie wurden vom Kam-
merdiener einfach eingeschlossen, um jegliche Einflussnahme von außen zu
verhindern.

IV. "Die gerechteste und vernünftigste Prüfung"


Die heutige Prüfungsstruktur mit einer das Studium abschließenden ersten
und einer am Ende des Vorbereitungsdienst abzulegenden zweiten Staats-
prüfung bildete sich in Bayern bereits im Jahre 1830 heraus. Allerdings
wurde die 1830 neu eingefiihrte "theoretische Prüfung", die Vorläuferin
unserer Ersten Juristischen Staatsprüfung, jahrzehntelang lediglich münd-
lich abgehalten. 22 Erst 1893 wurde zusätzlich eine, dem eigentlichen, dem
mündlichen Examen, vorgelagerte "schriftliche Vorprüfung" eingefuhrt,23
ab 1899 schließlich kann man, wie "Der Spiegel", von einer das Jura-

19 RegBI. 1812, Sp 541. 1817 wird die zentrale Prüfungskommission aufgelöst, weil sie mit
der Korrektur aller in Bayern abgehaltenen juristischen Staatsprüfungen überfordert ist. Nun-
mehr gibt es eine zentrale Fragestellung, aber eine distriktweise, ab 1858 auch wieder eine
zentrale Korrektur.
20 Die Verfassung von 1808 garantierte allen gesellschaftlichen Gruppen das gleiche Recht
auf Positionen im Staatsdienst, sofern sie die geforderte Qualifikation erfüllten.
21 Zur (angeblichen) Vorbildfunktion des chinesischen Prüfungswesens für die bayerischen
Concoursprüfungen siehe Wendt (Fn. 3), S. 242.
22 va vom 6.3. 1830.
23 Drei schriftliche Aufgaben, die von den Juristischen Fakultäten der drei Landesuniversitä-
ten vorgeschlagen und von den Staatsministerien des Inneren für Kirchen- und Schulangele-
genheiten, der Justiz und des Innern bestimmt werden (Übersetzung und Erläuterung einer
Stelle aus dem corpus juris civilis, je ein kurzer Rechtsfall aus dem Gebiet des bürgerlichen
Rechts einschließlich Handels- und Wechsel- sowie Zivilprozessrecht und aus dem Gebiet des
Straf- und Strafprozessrechts).
1044 Heino Schöbel

Studium abschließenden Blockprüfung sprechen, die aus vier fünfstündigen


Klausuren bestand. 24
Während die heutige Erste Juristische Staatsprüfung in Bayern bis Ende
des 19. Jahrhunderts im Schwerpunkt als mündliches Examen ausgestaltet
war, wurde die bayerische Zweite Juristische Staatsprüfung von Anbeginn
als reines Klausurexamen angelegt; dem mündlichen Prüfungsteil, der ab
1826 in die "Concoursprüfung" Eingang fand,25 kam ein Jahrhundert lang
nur sehr geringe Bedeutung zu: Ab 1830 wurde ein mündlicher Vortrag
verlangt,26 der 1893 ersatzlos abgeschafft, 1910 wieder eingeführt und 1912
nur für die Kandidaten vorgesehen wurde, die im schriftlichen Teil knapp
gescheitert waren. 27 1933 wird auch auf diese teilnehmerbeschränkte münd-
liche Prüfung verzichtet; 1934 werden reichsrechtlich ein Prüfungsgespräch
sowie ein vorbereiteter Aktenvortrag vorgesehen; das Prüfungsgespräch
wurde 1952 in die Zweite Juristische Staatsprüfung übernommen. 28
Ihre Grundstruktur hatte die Zweite Juristische Staatsprüfung in Bayern
also bereits 1812 gefunden und bis heute bewahrt: Ein am Wettbewerbs-
prinzip orientiertes, breit angelegtes, anspruchsvolles Klausurexamen mit
zentraler Aufgabenstellung und Korrektur; die Geringschätzung der münd-
lichen Prüfung ist Vergangenheit, die - aus bayerischer Sicht - Überbeto-
nung der mündlichen Prüfung mit einem Anteil von bis zu 40% am Ge-
samtergebnis in den Prüfungsordnungen einiger Länder ist vermieden
worden. Max Friedlaender 29 berichtet über die zweite Staatsprüfung, die er
1898 abgelegt hat. 30

24 § 40 Bek. vom 6.7.1899, 1MBI., S. 194.


25 Nicht im RegBI. veröffentlichte Weisung vom 6.5.1826. Die mündliche hatte der schrift-
lichen Prüfung voranzugehen. Von jedem Kandidaten waren insgesamt 16 Fragen zu beantwor-
ten, je eine Frage in jedem Hauptfach in lateinischer Sprache. (Döllinger Sammlung der im
Gebiete der inneren Staatsverwaltung des Königreichs Bayern bestehenden Verordnungen
Bd. 17, 1838, S. 63 ff.~ siehe auch Kollmann [Fn. 10], S. 458, Fn. 74). Ab 1830 wurde die
mündliche Prüfung im Anschluss an den schriftlichen Teil durchgeführt.
26 Über den im schriftlichen Teil bearbeiteten zivilrechtlichen praktischen Fall §§ 28, 33 va
vom 6.3. 1830, RegBI., Sp. 581. Die Note im mündlichen Teil hatte nur für die Klassifikation
der Kandidaten im Fall gleicher Gesamtnotensumme Bedeutung.
27 §§ 39, 52 Abs. 2 va vom 1. 8. 1912~ siehe auch Ecker! Zeitschrift für Rechtspflege in
Bayern 1912, 345.
28 § 48 va vom 17.7.1933, GVBI., S.193.
29 Max Friedlaender, geb. am 28.06.1873 in Bromberg, gest. am 28.05.1956 in Twicken-
harn bei London, jüdischer Rechtsanwalt in München~ er konnte 1938 über die Schweiz nach
England fliehen. Friedlaender konlmentierte die Rechtsanwaltsordnung und die Rechtsan-
waltsgebührenordnung und war Autor von zahlreichen Aufsätzen zum Anwalts-, Gebühren-
und Zivilprozessrecht.
30 Friedlaender Lebenserinnerungen, http://www.brak.de/seiten/pdf/friedlaender.pdf. S. 37.
Geschichte(n) der juristischen Staatsprüfungen in Bayern 1045

"Es war die gerechteste und vernünftigste Prüfung, die man sich denken
konnte: Man hatte ausschließlich, und zwar in Klausur, schriftliche Arbei-
ten zu liefern, die rür alle Prüflinge des Königreiches die Gleichen waren.
Man durfte sich Bücher mitbringen, so viel man wollte und so viele Platz
fanden .... Man hatte neun Arbeiten aus der Justiz und neun aus der Ver-
waltung einschließlich Volkswirtschaft und Finanzwissenschaft zu ma-
chen, darunter je einen praktischen Fall, rür den man neun Stunden Zeit
hatte und der doppelt zählte; für die anderen Aufgaben hatte man je vier
Stunden Zeit... Die Aufsichtsbeamten waren teils nachsichtig teils streng,
aber etwaige Unterhaltungen zwischen den Kandidaten, die natürlich ver-
boten waren, hatten auch sehr wenig Wert; selbst das gemeinsame Mit-
tagessen bei den großen praktischen Fällen, bei dem Schweigegebot
herrschte, wenn auch nicht immer beachtet wurde, konnte dem Unkundi-
gen nicht viel Vorteile bringen ... "
Auch Kühlmann 31 lobt den bayrischen "Staatskonkurs", den er 1896 glän-
zend bestanden hat 32 :
"Ich glaube, der bayrische Staatskonkurs war wohl eine der besterdachten
Prüfungen, die mir vorgekommen sind. Ungefähr acht Tage lang wurden
täglich in zirka vier Stunden vormittags und vier Stunden nachmittags
schriftliche Aufgaben gelöst. An den zwei Tagen der großen praktischen
Fälle arbeitete man je acht Stunden ohne Unterbrechung. 33 Auf Leistung
des Gedächtnisses wurde gar kein Wert gelegt. Da bei fortgesetzter An-
strengung Essen und Trinken Leib und Seele zusammenhält, barg ich im
Bauche meines Bücherkastens einige (!) Flaschen leichten aber guten
Bordeaux sowie eine umfangreiche Hasenpastete und machte es mir zur
Regel, bei jedem Stundenschlag einen Schluck Wein und ein Stück Paste-
te mir einzuverleiben. Öfters, besonders bei den achtstündigen prakti-
schen Fällen sammelten sich beim Stundenschlag allerlei Freunde um
mich, die beim Essen und Trinken mithielten. "34

31 Richard von Kühlmann, 3.5.1873 - 16.2.1948. Kühlmann kann als Dichterjurist angese-
hen werden (neben fachlichen Schriften auch Romane "Der Kettenträger", "Saturnische Sen-
dung", "Immaculata"); er studierte Rechtswissenschaften in Leipzig, Berlin und München und
trat nach der Promotion in den diplomatischen Dienst ein. Siehe auch Busch BayVBl. 2004,
584.
32 Mit einem sog. "Bruch-Einser", der nach Ludwig Thoma einen "Freibrief für jede Dumm-
heit im rechtsrheinischen Bayern" bedeutete (Thoma Der Münchner im Himmel, 1966, S. 108).
33 Nach § 67 Bek. vom 14.7.1893, JMBl., S. 150, war die Bearbeitungszeit allerdings neun
Stunden.
34 Von Kühlmann Erinnerungen, 1948, S.115~ Busch (Fn. 31), 585.
1046 Heino Schäbel

Die gerechteste und vernünftigste Prüfung? An acht Tagen waren von 8


bis 12 Uhr und von 15 bis19 Uhr je zwei vierstündige Aufgaben 35 und an
zwei weiteren Tagen zusätzlich zwei neunstündige praktische Fälle jeweils
von 8 Uhr bis 17 Uhr zu bewältigen,36 insgesamt also 18 Klausuren - aus
heutiger Sicht, um mit dem "Spiegel" zu sprechen, ein "Hammer".37
Prüfungsstoff war im Wesentlichen das geltende Recht. Wohl wegen der
Uferlosigkeit des Prüfungsstoffes - im bayerischen Staatskonkurs müsse
auch eine Frage aus dem chinesischen Staatsrecht entschieden und begrün-
det werden, wurde süffisant behauptet und 1909 wurde den Kandidaten
beispielsweise zugemutet, in vier Stunden die Gemeindebesteuerung der
fünf größten Bundesstaaten darzulegen 38 - war den Kandidaten erlaubt, alle
erdenklichen Hilfsmittel zu benutzen. Die zahllosen Bücher durften aber
nicht auf dem Arbeitstisch der Kandidaten aufgestellt werden, weil das die
Aufsicht der königlichen Prüfungs-Kommissäre erschwert hätte; sie muss-
ten vielmehr, "um dem möglichen Missbrauche des Einbringens von uner-
laubten Hilfsquellen zu begegnen",39 nach Einsicht jeweils in das Reposito-
rium zurückgestellt werden:
"Die den Kandidaten gestatteten Hilfsmittel sind für jeden Kandidaten in
einem besonderen Bücherregale oder Schranke unterzubringen. Soweit
solche nicht schon hinreichend im Prüfungslokale vorhanden sind, haben
die Kandidaten für ein Regal, einen Schrank oder auch einen Koffer
selbst zu sorgen Schränke, Regale und dergleichen müssen so aufge-
stellt sein, dass die Führung der Aufsicht zur Verhütung eines unzulässi-
gen Verkehres der Kandidaten untereinander möglichst wenig behindert
wird. Gegen die Herbeischaffung von gedruckten Hilfsmitteln während
der Prüfungszeit besteht keine Erinnerung, insoweit es ohne erhebliche
Störung geschehen kann und der Kandidat Vorsorge getroffen hat, dass

35 va vom 12.7.1893, GVBl., S. 257~ §§ 32, 34, 35, 67, 68, Bek. vom 14.7.1893, 1MBl.
1893,S. 150.
36 1946 waren lediglich drei fünfstündige Klausuren vorgeschrieben~ nach denl Zweiten
Weltkrieg wurde die Zahl der Klausuren zunächst 1952 auf zwölf fünfstündige und zwei
achtstündige Klausuren reduziert. Die achtstündige Doppelaufgabe wurde (erst) 1969 abge-
schafft und der schriftliche Teil der Prüfung auf zwölf fünfstündige, 1993 auf elf fünfstündige
Klausuren beschränkt. Auf die Notprüfungen während und nach den Weltkriegen soll hier
ebenso wie auf die 1899 eingeführte und 1910 wieder abgeschaffte Zwischenprüfung nicht
eingegangen werden.
37 1812 bestand die Prüfung aus 40 Fragen und zwei "Probrelationen". 1830 wurden die 40
Fragen durch insgesamt 18 "Probeaufgaben" mit einer Bearbeitungszeit von je vier Stunden
ersetzt. Zusätzlich wurden zwei "Probrelationen" als "praktische Fälle" mit einer Bearbei-
tungszeit von je acht Stunden gestellt, § 35 va vom 6.3.1830, RegBl., S. 591 ~ Ministerialent-
schließung des Ministeriums des Innern vom 1.5.1830, Döllinger (Fn. 25), S. 27.
38 Schultz Zeitschrift für Rechtspflege in Bayern 1910, 65.
39 Bek. vom 20. 6.1842, Döllinger (Fn. 25), Bd. 12., S. 13~ Bek. vom 9.12.1851.
Geschichte(n) der juristischen Staatsprüfungen in Bayern 1047

das nötige Dienstpersonal zur Verfiigung steht. Zur Verhütung von Unter-
schleifen ist hierbei mit aller Strenge darauf zu achten, dass ein unmittel-
barer Verkehr der Kandidaten mit dem Dienstpersonal ausgeschlossen
bleibt und dass die Bestellung der Bücher unter der Kontrolle des die auf-
sichtführenden Beamten erfolgt. ... Die auf diese Weise erholten Bücher
dürfen dem Kandidaten nur nach vorgängiger sachgemäßer Kontrolle aus-
gehändigt werden. "40

Es muss ein reges Treiben im Prüfungssaal geherrscht haben: Gemeinsam


schmausende Kandidaten, Prüflinge, die Hilfsmittel aus den Schränken an
ihre Tische holten und nach Gebrauch wieder zurückstellten, Dienstboten,
die beauftragt wurden und Hilfsmittel in den Prüfungssaal brachten, kon-
trollierende Aufsichtfiihrende. 41
Die Regelung, die das Mitbringen einer ungeheueren Menge von Büchern
als Hilfsmittel ermöglichte,42 hat sich trotz gelegentlicher Kritik im Prinzip
bis 1972 gehalten: 43

40 § 72 Abs. 1 Bek. vom 14.7.1893, JMBI., S. 150.


41 Leider ist mir keine zeitgenössische Beschreibung der mit Schränken und Koffern ausge-
statteten Prüfungslokale bekannt.
42 Um zu versuchen, einen Eindruck von der Größenordnung zu vermitteln: §§ 120 ff Bek.
vom 25.0ktober 1910, GVBI., S. 791 beschränkten die zulässigen Hilfsmittel auf: In der ersten
Abteilung je eine Textausgabe, eine mit Anmerkungen versehene Handausgabe und einen
Kommentar zu 19 abschließend aufgeführten Gesetzen, in der zweiten Abteilung je eine Text-
ausgabe, eine mit Anmerkungen versehene Handausgabe und einen Kommentar zu jedem
Gesetz und zu jeder Verordnung Bayerns und des Reiches, systematische Handbücher der
inneren Verwaltung, je ein systematisches Werk über Völkerrecht, bayerisches Staatsrecht und
bayerisches Schulrecht, ferner zwei Lehrbücher oder systematische Werke allgemeinen Inhalts
über Volks- und Staatsfinanzwirtschaft und endlich Lehrbücher des Kirchenrechts sowie
Werke über einzelne Gebiete des Kirchenrechts. Diese "Beschränkung" wurde sehr begrüßt (so
z.B. durch Gareis, DJZ 1910, 1432, der allerdings irrig annimmt, Kommentare seien nicht
mehr zugelassen), auch weil dadurch "ein Gleichmaß in den äußeren Mitteln zur Lösung der
Aufgaben hergestellt wird" und erwartet wurde, dass "die Aufgaben künftig entlegenen Gebie-
ten nicht entnommen werden können" (Müller Zeitschrift fur Rechtspflege in Bayern 1910,
415).
43 § 3 Bek. vom 19.7.1923 und §§ 92 ff. Bek. vom 1.4.1925, GVBI., S.110 mit einer beein-
druckenden Aufzählung dessen, was an Hilfsmitteln Ge eine Textausgabe und je eine Hand-
ausgabe zu über 50 Gesetzen, zuzüglich zahllose Kommentare) nunmehr nicht mehr zugelassen
ist: "Der Gebrauch aller weiteren Hilfsmittel ist verboten, insbesondere dürfen das Reichsge-
setzblatt, das Gesetz- und Verordnungsblatt, die Ministerialamtsblätter, sonstige Kommentare,
Lehrbücher, systematische Werke, Handbücher, Handwörterbücher, Lexikographien, Hand-
und Sonderschriften, Sammlungen von Entscheidungen, Lexika, Wörterbücher, Nachschlage-
bücher, Reichs- und Landtagsdrucksachen, Zeitschriften und Zeitungen, Ausschnitte aus
solchen, Abdrucke und Abschriften von Entscheidungen, Kollegienhefte, handschriftliche
Aufzeichnungen aller Art usw. und weitere Gesetzessammlungen nicht verwendet werden.
Ausgaben, welche die Gesetze und Verordnungen in der Hauptsache nur durch Wiedergabe der
Rechtsprechung erläutern, sind als Sammlungen von Entscheidungen anzusehen und deshalb
1048 Heino Schäbel

"Jeder Prüfungskandidat brachte zur Staatsprüfung Kisten voll Bücher


mit, die jeder in einem eigens dazu beschafften Schranke aufstellte, Bü-
cher, die er vorher meist nie gesehen und auch bei der Prüfung nicht sah,
aber er schleppte sie mit in der Angst, es könnte eine Aufgabe aus dem
entlegensten Rechtsgebiete gestellt werden, für das in den Büchern dann
Rat gefunden werden sollte; Bibliotheken wurden geplündert für die Tage
der Prüfung, Zeit und Mühe in Menge vergeudet durch den riesigen Bü-
cherwust."44

v. "Die privilegierte Hetzjagd"


Von der Zweiten zur Ersten Juristischen Staatsprüfung: Die nachmalige
Erste Juristische Staatsprüfung wurde als "theoretische Prüfung" durch
Königliche Verordnung vom 6. März 1830 eingeführt. 45 Die in der Traditi-
on universitärer Examina ausschließlich mündliche Prüfung46 wurde von
den Universitäten alljährlich am Schluss des Sommersemesters durch Pro-
fessoren unter Leitung eines höheren Staatsbeamten abgehalten,47 sie fand
öffentlich am Ort der Universitäten, also in Erlangen, München und Würz-
burg, in einem "geeigneten Lokal" statt.
Täglich wurden vier Kandidaten jeweils zwei Stunden ununterbrochen
geprüft. Die Prüfungskommission bestand aus Professoren, die von den
Staatsministerien der Justiz, des Inneren und der Finanzen gemeinschaftlich
bestimmt wurden; den Vorsitz hatte ein vom König "aus der Classe der
höheren Staatsbeamten" zu ernennenden "Commissär" inne, der die Geeig-
netheit der Befragung und die "Gleichheitlichkeit" der Prüfung zu überwa-
chen und darauf zu achten hatte, dass die Examina nicht "in ein bloßes Ab-
fragen und Nachrecitieren der Hefte verwandelt werden, ohne dem Staate
eine Gewißheit darüber zu gewähren, ob der Examinant den Stoff als sol-

ausgeschlossen". Noch 1963 waren acht Textausgaben, alle Gesetze, Verordnungen und Be-
kanntmachungen sowie immerhin 28 Kommentare zugelassen.
44 Gareis (Fn. 42); siehe auch Müller (Fn. 42) und Schult= (Fn. 38), 65. Kritisiert wurden
auch damals Umfang und Schwierigkeitsgrad der Aufgaben. Dem wurde entgegnet, dass die
juristische Praxis an die Leistungsfähigkeit der Beteiligten die größten Anforderungen in
physischer und psychischer Hinsicht stellen würde und dass deshalb auch im Staatskonkurs
Außergewöhnliches verlangt werden müsse (Schultz, a.a.a.).
45 RegBl. 1830, Sp 581.
46 Ab 1893 auch schriftlich. Nach § 20 Bek. vom 14. Juli 1893, JMBl., S.137 besteht die
Vorprüfung aus drei Aufgaben, die von den Juristischen Fakultäten der drei Landesuniversitä-
ten vorgeschlagen und von den Staatsministerium des Inneren für Kirchen- und Schulangele-
genheiten im Benehmen, der Justiz und des Innern bestimmt werden.
47 va vom 6.3. 1830, RegBl., Sp 581; Kollmann (Fn. 10), S. 459.
Geschichte(n) der juristischen Staatsprüfungen in Bayern 1049

chen, abgesehen von denl Auswendiglernen, auch wirklich begriffen und in


sich verarbeitet habe." 48
Friedrich Hebbel49 schildert im Jahre 1836 in seinem Tagebuch eine der-
artige "theoretische Prüfung":
"Heute nachmittag hab ich zum erstenmal einer privilegierten Hetzjagd,
wo in der Regel alles, nur der Verstand nicht, aufgejagd wird, beige-
wohnt, nämlich einem juristischen Examen. Das Vorzimmer: ein mürri-
scher Pedell, in einem alten Buch lesend, und eine Flasche mit Wasser,
aus welcher, auf eine Minute heraustretend, ein Professor trank. Examina-
tionszimmer: ein großer, runder Tisch, belegt mit grüner Decke; auf dem
Ehrenplatz der Direktor des Ober-Appellationsgerichts in Uniform, mit
seiner neben ihm liegenden goldenen Uhr spielend; um ihn herum die vier
Examinatoren, darunter zwei Männer, ein Knabe mit einem Gesicht, wie
aus spanischem Wind, leer und flegelhaft, aber süß angelaufen, und ein
junger Mensch, der sein neues Zeug an hat, und sich über seinen eignen
Glanz verwundert. Rings im Kreis saßen Zuschauer, die sich nach Belie-
ben einfinden konnten, lauter Studenten, auf deren Gesichtern es zu lesen
stand, ob sie noch Yi oder % oder gar ein ganzes Jahr bis zum eignen Ex-
amen vor sich hatten. Candidatus Quäst: (aufgestülpte Nase, brandrotes
Haar, kleine Augen, heiseres Organ) saß dem Direktor gegenüber und
macht mit dem linken Daumen dieselben Bewegungen, die der Seiltänzer
mit dem Seil mit der Balancierstange zu machen pflegt. Durch das Pfand-
recht steuerte er glücklich hindurch, kaum einmal, als er die Sachen gar
zu oft natürlich fand, zurechtgewiesen; im Hypotheken-Recht mußte er
(dem jungen Menschen in braunem Rock) schon Rechenschaft darüber
geben, in wie viele Rubriken man Schuld- und Pfand-Protokolle einzutei-
len pflege ("lassen Sie mich erst ausreden", dabei ein gravitätischer
Blick), im Kirchen-Recht aber sollte er sogar sagen, wie der Kardinal ge-
heißen, der mit Baiem im Auftrag des Papsts das letzte Konkordat abge-
schlossen, und erfuhr dabei, daß Herr von Hans bairischer Bevollmächtig-
ter gewesen sei. "50
Eine Anleitung fur die Prüfer aus dem Jahre 1893 sollte auch heute noch
beachtet werden: "Die Fragestellung an den Kandidaten soll klar und leicht
verständlich sein. Ergibt sich, dass ein Kandidat auf einem durch die Frage-
stellung berührten Gebiete offensichtliche Unkenntnis zeigt, so ist das ge-
wählte Thema zu verlassen und ein anderer Gegenstand zur Fragestellung

48 § 3 va.
49 18.3.1813 -13.12.1863. Jura-Studium in Heidelberg und München 1836-1839.
50 Hebbel in: Fricke/KellerlPörnbacher (Hrsg.), Werke, 4. Bd., 1994, S. 71.
1050 Reino Schöbel

zu wählen".51 Dass diese Regel nicht immer beachtet worden ist, zeigen die
Erinnerungen des ehemaligen Oberreichsanwalts und Honorarprofessors
Ludwig Ebermayer52 an den mündlichen Teil einer "Universitätsabschluss-
prüfung" des Jahres 1928:
"Ein Professor stellt eine Frage, die der Kandidat nicht beantworten kann;
er schweigt, der Prüfende, der die Uhr vor sich liegen hat, desgleichen.
Nach fünf Minuten lässt sich der Professor vernehmen: "Herr Kandidat,
Sie haben noch zehn Minuten." Dasselbe geschieht nach Ablauf von wei-
teren fünf Minuten und als auch diese vergangen sind, erhebt sich der
Professor: "Ich danke, Herr Kandidat."
Auch bei der Ersten Juristischen Staatsprüfung darf ein kleiner Blick in
das 20. Jahrhundert und den schriftlichen Teil des Examens nicht fehlen.
Dass auch bei den fünfstündigen Klausuren der Ersten Juristischen Staats-
prüfung - jedenfalls in Bayern 53 - die Verpflegungsfrage für die Kandidaten
von Bedeutung war, zeigt die amüsante Schilderung einer Prüfung durch
Rosendorfer:
"Wie Stegweibel das erste Examen, das Referendarexamen geschafft hat-
te, war allen unverständlich, denn schon damals gehörte Stegweibel ... als
aktives Mitglied der "IG Biere, Schnäpse, Räusche" an, bezeichnete sich
im Übrigen selbst als "Kampftrinker" und trat zum Examen sicher mit
mangelhafter Vorbereitung, dafür jedoch mit, sage und schreibe, einer
Kiste Bier an, die er unter seinen Schreibtisch im großen Examenssaal des
Oberlandesgerichts stellte und während der fünfstündigen Klausur aus-
trank. Und das an jedem der sechs Examenstage. Keiner der Kommilito-
nen hätte auch nur einen Pfifferling auf Stegweibels Examensergebnis
gewettet, doch das Wunder geschah: Er bestand, wenngleich knapp".54

51 Bek. vom 14.7.1893, JMBl., S. 137.


52 Ebermayer Fünfzig Jahre Dienst am Recht, 1930, S. 213 f. In seiner eigenen Referendar-
prüfung 1879 lautete die erste Frage: "Wie alt ist die Königin von England" (S. 19)!
53 Der bayerische Geschichtsschreiber des 16. Jahrhunderts Johannes Turmair, genannt
Aventinus, hat den typischen Bayern u.a. auch so beschrieben: "Trinkt ser, macht viI Kinder,
schreit, singt, tanzt, kart spilt", in: G. Leidinger (Hrsg.), Johannes Aventinus. Bairische Chro-
nik, 1975, S. 10 f.
54 Rosendorfer Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts, 2004, S. 32. Stegweibel muss die
Erste Juristische Staatsprüfung vor 1966 abgelegt haben, denn ab 1966 hätte er acht Klausuren
schreiben müssen.
Geschichte(n) der juristischen Staatsprüfungen in Bayern 1051

VI. "AufUnterschleifl das war zu wagen."55


Versuche der Kandidaten, die Erfolgschancen durch Nutzung unzulässi-
ger Hilfen günstig zu beeinflussen, sind Prüfungen, Klausuren und Hausar-
beiten zumal, immanent - die Neigung zu unberechtigter Vorteilsverschaf-
fung ist zeitlos. 56 Der für Nichtbayern fremd anmutende Begriff
"Unterschleif" bezeichnet einen "Täuschungsversuch" in einer Prüfung,
also die Benutzung einer unerlaubten Hilfe, beispielsweise das Abschreiben
von einer anderen Person oder von einem "Spickzettel". Bayern war immer
ein "Klausurland" und hat sich, im Gegensatz zu Preußen, stets gegen die
Hausarbeit entschieden. Die Klausuren, so war man überzeugt, erlaubten
das sicherste Urteil über Sachverständnis und Studienfleiß sowie eine weite
Fächerung der kontrollierten Disziplinen. Zudem sah man in ihnen eine
bessere Möglichkeit, die Selbständigkeit der Anfertigung zu gewährleisten.
Dass auch Klausurexamina gegen Unterschleif, auch durch die Verwen-
dung fremder Hilfe, nie völlig gefeit waren (und sind), war man sich, wie
zahlreiche ministeriale Weisungen bezeugen, durchaus bewusst: Bereits
1809 wird "den Kommissären die genaueste specielle Aufsicht auf alle
mögliche Unterschleife zur Pflicht gemacht"57. Die Aufsichtführenden wer-
den immer wieder angewiesen, "mit größter Strenge darüber zu wachen,
dass jeder Verkehr der Kandidaten untereinander sowie mit Dritten vom
Momente der Übergabe der Aufgaben an die Kandidaten bis zur Abliefe-
rung der Arbeiten ausgeschlossen bleibt.,,58 Das von Kühlmann geschilderte
Schmausen und die Erinnerungen von Friedlaender deuten allerdings dar-
aufhin, dass die Aufsicht eher großzügig gehandhabt wurde.
"Clausurarbeiten halte ich bei den durch alle Vor- und Aufsicht nicht aus-
zurottenden, erfahrungsmäßig immer und immer wieder auf neuersonnen
Wegen ausgeführten Unterschleifen für schädlich. Es ist eine glaubhafte
Tradition, dass früher für die strenge Clausur des Bayerischen zweiten
Examens besondere Röcke käuflich waren mit einem erprobten System
von Taschen zur Bergung der verbotenen Compendia. In einer grossen
Hauptstadt aber soll es üblich gewesen sein, dass der Gerichtsbote, wel-

55 "AI-Hafi: Überschuß? - Sagt selber, ob


Ihr mich nicht hättet spießen, wenigstens
Mich drosseln lassen, wenn auf Überschuß
Ich von Euch wär' ergriffen worden. Ja,
AufUnterschleif! das war zu wagen."
Lessing in: Stapf (Hrsg.), Werke, Bd. I, 1965, S. 862. "Unterschleif' kann hier wohl mit "Un-
terschlagung" gleichgesetzt werden.
56 Niehues Schul- und Prüfungsrecht Bd. 2,4. Aufl. 2004, S. 205, Rn. 453.
57 va vom 20.9.1809, RegBI., Sp. 1742.
58 § 73 Abs. 1 Bek. vom 14.7.1893, 1MBI., S. 150.
1052 Heino Schöbel

eher den in Klausur Befindlichen Wasser brachte, die Aufgaben unver-


merkt in die Rocktasche geschoben erhielt. Zufällig, aber merkwürdiger-
weise regelmässig, begab sich dann der Biedere zu dem berühmten Repe-
tenten Sempronius, von dem er nach einiger Zeit aus irgend welcher
Ursache in das Clausurzimmer zurückkehrte. Man sagt, daß auf dem Zet-
tel in seiner Tasche unterdessen die Fragen in Antworten sich verwandelt
hätten, vielleicht in Wirkung der wunderthätigen Nähe des Repetenten". 59
Von einem Wunder wird bereits in der Frühzeit juristischer Prüfungen in
Bayern berichtet: Nach einer alten Sage sei die Mutter Gottes einem lieder-
lichen Ingolstädter Studenten zu Hilfe gekommen und habe ihm einen Zettel
mit allen Examensfragen zugesteckt60 - kein Unterschleif, sondern ein
Wunder.
Amtliche Erlasse deuten darauf hin, dass der "Unterschleif" in den baye-
rischen Klausurexamina nicht ganz unbekannt war: So wird in Ministerial-
entschließungen der Jahre 1851 und 1854 festgestellt, dass wiederholt Kan-
didaten unzulässig zusammengearbeitet, fremde Arbeiten und nicht
gestattete Lehrbücher benützt und sogar Bearbeitungen des praktischen
Falles aus dem Zivilrecht eingeschleppt hätten. Die Prüfungskommissäre
wurden angewiesen, "die Prüfungsräume einschließlich der Gänge von aller
Kommunikation vollständig, notfalls durch Versiegelung, abzusperren".
Besprechungen unter den Kandidaten seien in keiner Weise zu gestatten und
es sei darauf zu achten, dass auf den Arbeitstischen niemals mehrere Bände
aufgelegt werden. Da die Benützung unerlaubter Hilfsmittel und fremder
Arbeiten Zeugnis von der eigenen unzureichenden Befähigung gebe, seien
auf solche Art zustande gekommene Elaborate unnachsichtlich mit der IV
Note (= ungenügend) zu würdigen. 61
Dass es wie im 19. auch im 20. Jahrhundert nie völlig gelungen ist (und
sicher auch im 21. und allen weiteren Jahrhunderten nie völlig gelingen
wird), den Informationsaustausch von Prüfungskandidaten zu unterbinden,
zeigen die Erinnerungen des ehemaligen Bundesinnenministers Zimmer-
mann; er berichtet in seinen Memoiren 62 von seiner Zweiten Juristischen
Staatsprüfung: 63

59 Muther Die Reform des juristischen Unterrichts (Antrittsvorlesung in Jena 1873), S. 22,
zitiert nach Martin Juristische Repetitorien und staatliches Ausbildungsmonopol in der Bun-
desrepublik Deutschland, 1993, S. 144, Fn. 221.
60 Wolff(Fn. 7), S.180, Fn. 78.
61 Entschließungen vom 9.12.1851 (Döllinger [Fn. 25], S. 14) und vom 14.6.1854 (RegBI.,
S. 385 bis 388).
62 Zimmermann Kabinettstücke, 1991, S. 258.
63 Im Jahr 1951; damals waren fünf Aufsichtsarbeiten zu fertigen, die mündliche Prüfung
bestand aus einem vorbereiteten Aktenvortrag und einem Prüfungsgespräch.
Geschichte(n) der juristischen Staatsprüfungen in Bayern 1053

" ... Dort gab es einen Saal, groß genug, um die ... Kandidaten an Einzel-
tischen so weit auseinander zu platzieren, dass sie nicht abschreiben
konnten. Wenigstens glaubten dass die Prüfer. Jedoch hörte ich, über eine
Strafrechtsklausur gebeugt, plötzlich hinter mir die vertraute Stimme des
Kandidaten Grasmüller Andreas 64 , dringlich flüsternd in Richtung des ein
Stück links von ihm platzierten Kandidaten Vogel, Hans-Jochen 65 : "Sie,
Herr Kollege, bittschön, können S'mir net einen Zettel umiwerfen? I hock
scho zweieinhalb Stunden da und hab' no gar nix!" Worauf der Kandidat
Vogel, Hans-Jochen, herb erwiderte: "Hätten S' was gelernt, Herr Kom-
militone, dann bräuchten S' jetzt nicht zu fragen." Die hier obwaltende
Not wurde im Wege der Geschäftsführung ohne Auftrag übernommen:
"Anderi," zischte ich nach hinten, "sei still, ich werf dir meinen Lösungs-
ansatz rüber." Und so geschah's. Am Ende hatte ich eine Drei, der Kandi-
dat Vogel eine Eins, und der Anderl hatte eine Vier."
Übrigens weisen die Akten aus, dass zwei Prüfungsteilnehmer wegen Un-
terschleifs von der Prüfung ausgeschlossen werden mussten. Es waren nicht
die Kandidaten Zimmermann und Grasmüller. "Auf Unterschleif! das war
zu wagen!"

VII. Geschichte und Geschichten


Die Geschichte zeigt, dass sich die Grundsätze und Grundstrukturen der
bayerischen juristischen Staatsexamina bewährt haben. Damals wie heute
werden ihnen gesteigerte Objektivität und Aussagekraft zugebilligt; sie
garantieren Leistungsnachweise gleicher Qualität und Aussagekraft. 66 Ab-
sonderlichkeiten bayerischer juristischer Staatsprüfungen im letzten und
vorletzten Jahrhundert wie neunstündige Klausuren, Schränke voller Hilfs-
mittel, mündliche Prüfungen ohne Einfluss auf das Gesamtergebnis,

64 Später ein bekannter Anwalt, Schriftsteller und Tierschützer.


65 Nachmaliger Oberbürgermeister von München, Bundesjustizminister und Parteivorsit-
zender der SPD.
66 Das Justizprüfungsamt ist als externe Instanz ein standardsicherndes Element der Stabili-
tät für das juristische Studium. Die studienabschließende Blockprüfung ist von zentraler Be-
deutung für die Qualität der deutschen Juristen: Der gesamte Pflichtfachstoff wird am Ende des
Studiums so abgeprüft, wie er in der juristischen Praxis gebraucht wird, als Einheit, also in der
komplexen Vernetzung der verschiedenen Problemebenen und Rechtsgebiete. Einer staatlichen
Eingangsprüfung fehlt der notwendige Bezug zum rechtswissenschaftlichen Studium~ die
Vorbereitung auf die Prüfung würde die Gesamtausbildungsdauer verlängern und durch private
Repetitorien erfolgen. Die Gefahr bestünde, dass die universitäre Lehre sich von vergleichba-
ren und gleichwertigen inhaltlichen und qualitativen Anforderungen, die bislang durch die
Erste Juristische Staatsprüfung mit bestimmt werden, abkoppeln würde.
1054 Heino Schöbe}

schweigende Prüfer und während der Prüfung Bier und Rotwein trinkende
Kandidaten dürfen nicht den Blick auf modem anmutende Prüfungsregeln
verstellen, die schon vor 100 Jahren galten und heute noch bei Korrektur
und Bewertung schriftlicher Aufgaben der Ersten und der Zweiten Juristi-
schen Staatsprüfung in Bayern Berücksichtigung finden: "Bei der Zensur
soll nicht zu großes Gewicht darauf gelegt werden, ob die Art der Lösung
durch den Kandidaten mit der vom Zensor als richtig angenommenen Lö-
sung übereinstimmt, sondern hauptsächlich darauf gesehen werden, ob der
Kandidat bei der Bearbeitung der Aufgabe allgemeines juristisches Ver-
ständnis' genügende theoretische Kenntnisse und eine gewisse Gewandtheit
in der Darstellung seiner Gedanken gezeigt hat".67 Und: "Jeder Zensor hat
zunächst, um eine bestimmte Grundlage für die Beurteilung der Bearbeitun-
gen zu erlangen, selbst die Aufgabe kurz schriftlich zu bearbeiten. Sind
mehrere Mitglieder zur Zensur der Bearbeitungen einer Aufgabe bestimmt,
so haben sie zur Vermeidung von Ungleichmäßigkeiten in der Zensur vor
deren Beginn gemeinschaftlich festzusetzen, was als Fehler angerechnet
werden muß und was nicht als Fehler angerechnet werden darf."68
Geschichten: Vorschriften legen Grundsätze, Struktur und Organisation
von Prüfungen fest. Vorschriften müssen mit Leben erfüllt werden. Die hier
berichteten Geschichten haben vor allem anekdotischen Wert und stellen
natürlich nicht die ganze Prüfungswirklichkeit dar. Sie können aber einen
kleinen Eindruck vom Denken und Handeln der Prüfer und der Geprüften in
den damaligen Examina vermitteln und andeuten, wie sich Prüfungsvor-
schriften auswirken können.

VIII. Zum Schluss


Heinz Schäch ist nicht nur ein herausragender Hochschullehrer mit ein-
drucksvoller Ausstrahlungskraft, er war auch jahrzehntelang ein besonders
engagierter Prüfer in der Ersten Juristischen Staatsprüfung in Bayern und
Niedersachsen; aus Überzeugung und mit Überzeugungskraft hat er sich rur
den Erhalt der juristischen Staatsprüfungen eingesetzt - für all dies muss
man ihm dankbar sein. Für die Juristenausbildung war er, wie ihm ein von
ihm geprüfter Student in einem Prüfungsprotokoll bestätigt, "echt ein
Glücksfall".

67 § 49 Abs. 2 Bek. vom 25.10.1910, GVBI., S.791.


68 § 48 Bek. vom 25.10.1910, GVBI., S.791.
Verzeichnis der Schriften von Heinz Schäch

I. Monographien, Lehrbücher, Kommentare, Sammelwerke

1. Strafzumessungspraxis und Verkehrsdelinquenz. Kriminologische


Aspekte der Strafzumessung am Beispiel einer empirischen Untersu-
chung zur Trunkenheit im Verkehr. Stuttgart 1973 (239 S.).
2. Strafvollzug (gemeinsam mit G. Kaiser/H.-J. Kerner/H.-H. Eidt).
1. Aufl. Heidelberg 1974.
3. Strafvollzug (gemeinsam mit G. Kaiser/H.-J. Kerner). 2. Aufl. Hei-
delberg 1977.
4. Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug. Juristischer Studien-
kurs (gemeinsam mit G. Kaiser). 1. Aufl. München 1979.
5. Strafvollzug (gemeinsam mit G. Kaiser/H.-J. Kerner). 3. Aufl. Hei-
delberg 1982.
6. Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug. Juristischer Studien-
kurs (gemeinsam mit G. Kaiser). 2. Aufl. München 1982.
7. Wiedergutmachung und Strafrecht (Hrsg.). Neue Kriminologische
Studien. Bd. 4. München 1987 (166 S.).
8. Gibt es ein Recht auf einen würdigen Tod? (Hrsg.). Hofgeismarer
Protokolle 231. 1987 (119 S.).
9. Untersuchungshaft im Übergang (Hrsg.). Hofgeismarer Protokolle
243.1987 (133 S.).
10. Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug. Juristischer Studien-
kurs (gemeinsam mit G. Kaiser). 3. Aufl. München 1987.
11. Strafe: Tor zur Versöhnung? (Hrsg.). Hofgeismarer Protokolle 244.
1988 (192 S.).
12. Ausländerkriminalität in der Bundesrepublik Deutschland (gemein-
sam mit M. Gebauer). Baden-Baden 1991 (71 S.).
13. Strafvollzug UTB 706 (gemeinsam mit G. Kaiser/H.-J. Kerner).
4. Aufl. Heidelberg 1991.
1056 Verzeichnis der Schriften von Heinz Schäch

14. Strafvollzug (gemeinsam mit G. Kaiser/H.-J. Kerner). 4. Aufl. Hei-


delberg 1992.
15. Kommentierung zu §§ 151 bis160 StPO, §§ 238 bis 245 StPO und
§§ 403 bis 406h StPO, in: Kommentar zur Strafprozessordnung,
Reihe Alternativkommentare, Hrsg. R. Wassermann. Neuwied u.a.
1987 ff.; Bd. 2, Teilbd. 1, §§ 151-160 StPO, 1992, S. 646-784; Bd. 2,
Teilbd. 2, §§ 238-245 StPO, 1993, S. 145-237; Bd. 3, §§ 403-406h
StPO, S. 523-557, und wissenschaftliche Koordination. 1996.
16. Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtli-
chen Sanktionen ohne Freiheitsentzug? Gutachten C rur den
59. Deutschen Juristentag. München 1992 (138 S.).
17. Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug. Juristischer Studien-
kurs (gemeinsam mit G. Kaiser). 4. Aufl. München 1994.
18. Medikamente im Straßenverkehr. Auftreten, Risiken, Konsequenzen.
(Hrsg. gemeinsam mit H.-P. Krüger/R. Kohnen). Stuttgart 1995
(236 S.).
19. Suizid zwischen Medizin und Recht (Hrsg. gemeinsam mit H. Pohl-
meierlU. Venzlaff). Stuttgart 1996 (154 S.).
20. Der Einfluss der Strafverteidigung auf den Verlauf der Untersu-
chungshaft. Baden-Baden 1997 (121 S.)
21. Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug. Juristischer Studien-
kurs (gemeinsam mit G. Kaiser). 5. Aufl. München 2001 (275 S.).
22. Strafvollzug, Lehr- und Handbuch (gemeinsam mit G. Kaiser),
5. Aufl. Heidelberg 2002 (563 S.).
23. Gesundheitliche und rechtliche Risiken bei Scientology (Hrsg. ge-
meinsam mit H. Küfner/N. Nedopil). Lengerich, Berlin u.a. 2002
(674 S.).
24. Jugendstrafrecht, Grundriss (gemeinsam mit B.-D. Meier/D. Röss-
ner). München 2003 (378 S.).
25. Strafvollzug UTB 706 (gemeinsam mit G. Kaiser). 5. Aufl. Heidel-
berg 2003 (391 S.).
26. Angewandte Kriminologie zwischen Freiheit und Sicherheit (Hrsg.
gemeinsam mit J.-M. Jehle). Neue Kriminologische Schriftenreihe
der Neuen Kriminologischen Gesellschaft e. v., Bd. 109. Mönchen-
gladbach 2004 (634 S.).
27. Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug. Juristischer Studien-
kurs (gemeinsam mit G. Kaiser). 6. Aufl. München 2006 (275 S.).
Verzeichnis der Schriften von Heinz Schäch 1057

28. Jugendstrafrecht, Grundriss (gemeinsam mit B.-O. Meier/O. Röss-


ner). 2. Aufl. München 2007 (386 S.).
29. Kommentierung zu §§ 19 bis 21 StGB. In: Leipziger Kommentar,
12. Aufl., hrsg. von H. W. LaufbütteiR. Rissing-van Saan/K. Tiede-
mann. Erster Band. Berlin 2007, S. 1250-1371.
30. Recht gestalten - dem Recht dienen. Festschrift rur Reinhard Bött-
cher zum 70. Geburtstag (Hrsg. gemeinsam mit O. Dölling/R. Hel-
gerthlP. König). Berlin 2007 (718 S.).
31. Kommentierung Vor § 61 und §§ 61 bis 64, 67 StGB. In: Leipziger
Kommentar. 12. Aufl., hrsg. von H. W. LaufhütteiR. Rissing-van
Saan/K. Tiedemann. Dritter Band 2008, S. 215-402, 574-611.
32. Strafverteidigung, Revision und die gesamten Strafrechtswissen-
schaften. Festschrift rur Guntel' Widmaier zum 70. Geburtstag (Hrsg.
gemeinsam mit H. Satzger/G. SchäferlA. Ignor/C. Knauer). Köln
2008 (1006 S.).
33. Kommentierung der §§ 19 bis 21,61 bis 64, 323a bis 323c StGB. In:
StGB - Strafgesetzbuch Kommentar, hrsg. von H. Satzger/B.
Schmitt/G. Widmaier. Köln 2009, S. 160-185, 547 bis 573, 2118-
2132.
34. Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug. Juristischer Studien-
kurs (gemeinsam mit G. Kaiser). 7. Aufl. München 2010 (295 S.).

JJ. Aufsätze in Fachzeitschriften, Beiträge zu Sammelwerken,


Entscheidungsrezensionen

1. Verkehrsdelinquenz und allgemeine Kriminalität. Ein empirischer


Beitrag zum Problem der Fahrereignung bei Vorbestraften. NJW
1971, S. 1857-1863.
2. Möglichkeiten und Grenzen einer Typisierung der Strafzumes-
sung bei Verkehrsdelikten mit Hilfe empirischer Methoden. In:
KrimGegfr. 10 (1972), hrsg. von H. GÖppinger/R. Hartmann,
S. 128-137.
3. Verkehrseignung sozial auffalligel' Personen. In: Psihopatske
Licnosti; Isdanje Psihijatrijske Bolnice Vrapce, Svezak V; hrsg.
von R. Tlrcin u.a. Zagreb 1972, S. 303-309.
4. Artikel über "Schule", "Strafzumessung", "Typologie", "Ver-
kehrsdelikte". In: Kleines Kriminologisches Wörterbuch, hrsg.
1058 Verzeichnis der Schriften von Heinz Schäch

von G. Kaiser/F. Sack/Ho Schellhoss. Freiburg, Basel 1974


(15 S.).
5. Prognose, Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung; Methoden.
Dunkelfeld. In: Fälle zum Wahlfach Kriminologie, Jugendstraf-
recht, Strafvollzug, JuS-Schriftenreihe Nr. 31, Klausur Nr. 2 und
Nr. 4., hrsg. von H. Jung. München 1975, S. 73-90,104-120.
6. Grundlage und Wirkungen der Strafe. Zum Realitätsgehalt des
§ 46 Abs. 1 StGB. In: Festschrift für F. Schaffstein. Göttingen
1975, S. 255-273.
7. Ist Kriminalität normal? Probleme und Ergebnisse der Dunkel-
feldforschung. In: KrimGegfr. 12 (1976), hrsg. von H. Göppin-
ger/Go Kaiser, S. 211-228.
8. Strafzumessung und Persönlichkeitsschutz in der Hauptverhand-
lung. Erfahrungen aus einer Erprobung des informellen Tatinter-
lokuts. In: Festschrift für H.-J. Bruns. Köln u.a. 1978, S. 457-474.
9. Ist die Zweiteilung der Hauptverhandlung praktikabel? (gemein-
sam mit H.-L. Schreiber). ZRP 1978, S. 63-67.
10. Anmerkung zum Beschluss des BayObLG V. 30.9.1975 - RReg. 2
St. 171/75 (betr. Verwarnung mit Strafvorbehalt und Fahrverbot),
JR 1978, 74 f.
11. Die Reform der Hauptverhandlung. In: Strafprozeß und Reform,
hrsg. von H.-L. Schreiber. Neuwied 1979, S. 52-81.
12. Jugendgerichtsverhandlung am "Runden Tisch"? In: Festschrift
für H. Stutte. Köln u.a. 1979, S. 279-292.
13. Kriminologie und Sanktionsgesetzgebung. ZStW 92 (1980), 143-
184.
14. Recherehes recentes sur le fonctionnement des tribunaux. Bulle-
tin de Criminologie 6 (1980), S.83-95.
15 . Verstehen, Erklären, Bestrafen? In: Rechtswissenschaft und
Rechtsentwicklung. Ringvorlesung von Professoren der Juristi-
schen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen, in deren
Auftrag hrsg. von U. Ummenga. Göttingen 1980, S. 305-321.
16. Kriminologie in der Juristenausbildung - Anspruch und Wirklich-
keit. In: Systematik des Lehrfaches Kriminologie. Seminar vom
8. - 12.12.1980, hrsg. von der Polizeiführungsakademie Hiltrup.
Münster 1981, S. 2-11.
Verzeichnis der Schriften von Heinz Schöch 1059

17. Dialogischer Verhandlungsstil - Erwartungen und Erfahrungen.


In: Die Jugendgerichtsverhandlung am Runden Tisch. Kriminolo-
gische Studien, Bd. 38, hrsg. von H.-L. Schreiber/Ho Schöch/D.
Bönitz. Göttingen 1981, S. 19-43.
18. N euere Entwicklungen in der Strafverfahrensforschung.
SchwZStrW 98 (1981), S. 293-316.
19. Anmerkung zum Beschluss des OLG Schleswig V. 16.1.1980 - 1
Ws 544/79 - (betr. Widerruf der Strafaussetzung), JR 1981, 164-
166.
20. Rettet die sozialtherapeutische Anstalt als Maßregel der Besse-
rung und Sicherung! (gemeinsam mit 17 Mitgliedern des Arbeits-
kreises deutscher und schweizerischer Strafrechtslehrer). ZRP
1982, S. 207-212.
21. Das Marburger Programm aus der Sicht der modemen Kriminologie.
ZStW 94 (1982), S. 864-887.
22. Experimente in Strafverfahren und ihre Auswirkungen auf strafrecht-
liche Sanktionen. In: Deutsche Forschungen zur Kriminalitätsentste-
hung und Kriminalitätskontrolle, hrsg. von H.-J. Kerner/H. Kury/K.
Sessar. Interdisziplinäre Beiträge zur kriminologischen Forschung.
Bd. 6, 2. Teilbd. Köln u.a. 1983, S. 1083-1108.
23. Die Gerichtshilfe aus kriminologischer und verfahrensrechtlicher
Sicht. In: Festschrift für H. Leferenz. Heidelberg 1983, S. 127-144.
24. Die Beurteilung von Schweregraden schuldmindernder oder
schuldausschließender Persönlichkeitsstörungen aus juristischer
Sicht. MschrKrim 66 (1983), S. 333-343.
25. Anmerkung zum Urteil des OLG Celle v. 1.4.1982 - 2 Ss 41/82 -
(betr. Tagessatzhöhe bei fiktivem Einkommen), NStZ 1983, 316 f.
26. Kriminalprävention durch Generalprävention. In: Jugendgerichtsver-
fahren und Kriminalprävention. Schriftenreihe der Deutschen Verei-
nigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen, Neue Folge
Heft 13. München 1984, S. 273-280.
27. Möglichkeiten und Grenzen der Behandlung Straffälliger in Freiheit.
In: Ambulante Maßnahmen im Spannungsfeld zwischen Hilfe und
Kontrolle. Interdisziplinäre Beiträge zur kriminologischen For-
schung, Bd. 7, hrsg. von H. Kury. Köln u.a. 1984, S. 29-54.
28. Die Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren. NStZ 1984,
S.385-391.
l060 Verzeichnis der Schriften von Heinz Schöch

29. Strafverfolgung und Strafzumessung bei der Steuerhinterziehung. In:


Politische Kriminalität und Wirtschaftskriminalität, hrsg. von der
Schweizerischen Arbeitsgruppe für Kriminologie. CH-Diessenhofen
1984, S. 227-241.
30. Artikel über "Klassifikation und Typologie", "Schule", "Strafzumes-
sung", "Verkehrsdelinquenz". In: Kleines Kriminologisches Wörter-
buch, hrsg. von G. Kaiser/H.-J. Kerner/F. Sack/Ho Schellhoss.
2. Aufl. Heidelberg 1985 (16 S.).
31. Empirische Grundlagen der Generalprävention. In: Festschrift für
H.-H. Jescheck. Berlin 1985, 2. Halbbd., S. 1081-1105.
32. Mitarbeit am Alternativ-Entwurf. Novelle zur Strafprozessordnung.
Reform der Hauptverhandlung. Hrsg. von einem Arbeitskreis deut-
scher und schweizerischer Strafrechtslehrer (Arbeitskreis AE). Tü-
bingen 1985.
33. Mitarbeit am Alternativ-Entwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe
(AE-Sterbehilfe), Entwurf eines Arbeitskreises von Professoren des
Strafrechts und der Medizin sowie ihrer Mitarbeiter. Stuttgart, New
York 1986.
34. Menschenwürdiges Sterben und Strafrecht. ZRP 1986, S. 236-239.
35. Die gesellschaftliche Organisation der deutschsprachigen Krimino-
logie. Rückblick und Ausblick. In: Gedächtnisschrift für H. Kauf-
mann. Berlin, New York 1986, S. 355-372.
36. Sozialarbeit mit Straffälligen im Spannungsfeld zwischen Auskunfts-
und Schweigepflicht und dem Recht auf informationelle Selbstbe-
stimmung. In: Zwänge und Chancen in der Justiz. Schriftenreihe der
Deutschen Bewährungshilfe e.V. Bad Godesberg 1986, S. 351-375.
37. Wird in der Bundesrepublik Deutschland zu viel verhaftet? Versuch
einer Standortbestimmung anhand nationaler und internationaler Sta-
tistiken. In: Festschrift für K. Lackner. Berlin, New York 1987, S.
991-1008.
38. Täter-Opfer-Ausgleich im Jugendstrafrecht. In: Wiedergutmachung
und Strafrecht. Neue Kriminologische Studien, Bd. 4, hrsg. von H.
Schöch. München 1987, S. 143-158.
39. Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik
Deutschland. In: Aktuelle Probleme des Straf- und Maßnahmevoll-
zugs, hrsg. von der Schweizerischen Arbeitsgruppe für Kriminolo-
gie. CH-Grüsch/GR, 1987, S. 61-81.
Verzeichnis der Schriften von Heinz Schöch 1061

40. Neues Strafrecht und Struktur der Hauptverhandlung. - Kooperative


Verfahren und kontradiktorischer Prozeß. In: Gesamtreform des
Strafverfahrens, hrsg. von H.-L. Schreiber/Re Wassermann. Neuwied
1987,S.99-111.
41. Artikel "Kriminologie". In: "Staatslexikon", hrsg. von der Görres-
Gesellschaft, 7. Aufl., Bd. 3, Freiburg, Basel, Wien 1987, Sp. 731-
734.
42. Das Recht der Untersuchungshaft und seine Anwendung in der Pra-
xis. KrimPäd. 15 (1987), Heft 23/24, S. 9-13.
43. Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik
Deutschland. Chengchi Law Review. Taipei/Taiwan, Volume 36
(1987), S. 201-209.
44. Jugenddelinquenz in der Bundesrepublik Deutschland. In: Drittes
deutsch-polnisches Kolloquium über Strafrecht und Kriminologie
vom 6.-10.10.1986 in Mogilany/Krakau, hrsg. von A. Eser/G. Kai-
ser. Baden-Baden 1988, S. 443-463.
45. Göttinger Generalpräventionsforschung. In: Kriminologische For-
schung in den 80er Jahren. Projektberichte aus der Bundesrepublik
Deutschland, hrsg. von G. Kaiser/H. Kury/H.-J. Albrecht. Freiburg
1988,227-246.
46. Strafrecht zwischen Freien und Gleichen im demokratischen Rechts-
staat. In: Festschrift für W. Maihofer. Frankfurt a.M. 1988, 461-479.
47. General Prevention or Rehabilitation in Juvenile Delinquency. In:
Proceedings of the Fifth Asian-Pacific Conference an Juvenile De-
linquency, December 6-12, 1987, Taipei, Republic of China, pub-
lished by the Cultural and Social Centre for the Asian and Pacific
Region. Seoul 1988, S. 202-210.
48. Prognose, Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung; Methoden.
Dunkelfeld. In: Fälle zum Wahlfach Kriminologie, Jugendstrafrecht,
Strafvollzug, hrsg. von H. Jung. JuS-Schriftenreihe Nr. 31, S. 129-
149.
49. Staatliches Restitutionsverfahren und außerjustizielle Konfliktrege-
lung. In: Alternativen zur Strafjustiz und die Garantie individueller
Rechte der Betroffenen, hrsg. von H. Jung. Bonn-Bad Godesberg
1989, S. 125-135.
1062 Verzeichnis der Schriften von Heinz Schöch

50. Perspektiven der Kriminologie aus strafrechtswissenschaftlicher


Sicht. Reaktion auf Straftaten, Kriminalprävention, Viktimologie. In:
Zukunftsperspektiven der Kriminologie in der Bundesrepublik
Deutschland. Materialien zu einem DFG-Colloquium, hrsg. von 1. 1.
Savelsberg. Stuttgart 1989, S. 179-183.
51. Zwei Kurzbeiträge zur Strafzumessungsforschung. In: Strafzumes-
sung. Empirische Forschung und Strafrechtsdogmatik im Dialog,
hrsg. von C. Pfeiffer/V. Oswald. Stuttgart 1989. S. 132-134, 311-
314.
52. Effektivität der Sanktionspraxis bei Alkoholdelikten im Verkehr in
der Bundesrepublik Deutschland. In: Verkehrsdelinquenz, Reihe
Kriminologie, Bd. 7, hrsg. von der Schweizerischen Arbeitsgruppe
für Kriminologie. CH-Grüsch/GR, 1989, S. 115-133.
53. Artikel "Kriminalität". In: Evangelisches Kirchenlexikon (EKL). Bd.
2,3. Aufl. Göttingen 1989, 1485-1487.
54. Datenschutzrechtliche Voraussetzungen der Akteneinsicht für krimi-
nologische Forschungsvorhaben. In: Datensammlungen und Akten in
der Strafrechtspflege, hrsg. von J.-M. Jehle. Wiesbaden 1989,
S.299-319.
55. Vorläufige Ergebnisse der Diskussion zu einem Alternativ-Entwurf
Wiedergutmachung (AEWGM) im Arbeitskreis deutscher, österrei-
chiseher und schweizerischer Strafrechtslehrer. In: Neue Wege der
Wiedergutmachung im Strafrecht, hrsg. von A. Eser/G. Kaiser/K.
Madlener. Freiburg 1990, S. 73-82.
56. Zur Wirksamkeit der Generalprävention. In: Der Sachverständige im
Strafrecht, Kriminalitätsverhütung, hrsg. von C. Frank/G. Harrer, Fo-
rensia-Jahrbuch, Bd. 1, 1990, S. 95111.
57. Staatshaftung für Schäden durch Gefangene bei Vollzugslockerun-
gen? In: Risiko-Verteilung zwischen Bürger und Staat. 1. Mainzer
Opferforum, hrsg. vom Weissen Ring. Mainz 1990, S. 30-42.
58. Kriminologische und sanktionsrechtliche Aspekte der Alkoholdelin-
quenz im Verkehr. NStZ 1991, 11-17.
59. Victim-Offender-Reconciliation in Germany. In: Victims and Crimi-
nal Justice, hrsg. von G. Kaiser/H. Kury/H.-J. Albrecht. Criminolo-
gical Research Reports, Vol. 51,1991,457-475.
Verzeichnis der Schriften von Heinz Schöch 1063

60. Problemschwerpunkte des strafprozessualen Vorverfahrens. In:


Fünftes deutsch-sowjetisches Kolloquium über Strafrecht und Kri-
minologie, hrsg. von A. Eser/G. Kaiser. Baden-Baden 1992, S. 97-
110.
61. Wie erfolgreich ist das Strafrecht? Wirkungen freiheitsentziehender
und ambulanter Sanktionen. In: Individualprävention und Strafzu-
messung, hrsg. von J.-M. Jehle. Wiesbaden 1992, S. 243 282.
62. Schlusswort und Diskussionsbeiträge. In: Gesellschaftliche Umwäl-
zung. Das erste deutsch-deutsche kriminologische Kolloquium, hrsg.
von H. Kury, Kriminologische Forschungsberichte 54. Freiburg
1992, S. 331-334,505 f., 585-587,597-601.
63. Mitarbeit am Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung (AE-WGM).
Entwurf eines Arbeitskreises deutscher, österreichischer und schwei-
zerischer Strafrechtslehrer. München 1992.
64. Verwarnung statt Strafe. Zum Aufblühen der Verwarnung mit Straf-
vorbehalt nach § 59 StGB. In: Festschrift für J. Baumann. Bielefeld
1992, S. 255-268.
65. Bewährungshilfe und Führungsaufsicht in der Strafrechtspflege.
NStZ 1992, S. 364-372.
66. Rechtsstaatliche und kriminologische Grundlagen der strafrechtli-
chen Sanktionen in der Bundesrepublik Deutschland. In: Von totali-
tärem zu rechtsstaatlichem Strafrecht, hrsg. von A. Eser/G. KaiserlE.
Weigend. Baden-Baden 1992, S. 361-388.
67. Artikel "Klassifikation und Typologie", "Schule", "Strafzumes-
sung", "Verkehrsdelinquenz". In: Kleines Kriminologisches Wörter-
buch, hrsg. v. G. Kaiser/H.-J. Kerner/F. Sack/Ho Schellhoss, 3. Aufl.
Heidelberg 1993 (17 S.).
68. Wege der Entkriminalisierung und ihre Bedeutung für das Verkehrs-
strafrecht. In: Möglichkeiten und Grenzen der Entkriminalisierung,
Symposium am 3./4.12.1992 in Triberg, Tagungsbericht, hrsg. vom
Justizministerium Baden-Württemberg 1993, S.27-56.
69. Absenkung der Promillegrenze. Ein zweifelhafter Beitrag zur Ver-
kehrssicherheit (gemeinsam mit H.-P. Krüger). DAR 1993, S. 334-
343.
70. Entkriminalisierung, Entpönalisierung, Reduktionismus - Quantita-
tive Prinzipien in der Kriminalpolitik. In: Festschrift für H. Schüler-
Springorum. Köln u.a. 1993, S. 245-256.
1064 Verzeichnis der Schriften von Heinz Schöch

71. Generalprävention aus kriminologischer Sicht. In: Was können wir


in der strafjustiziellen Praxis von den Erkenntnissen in den Sozial-
wissenschaften umsetzen? Hrsg. vom Generalstaatsanwalt des Lan-
des Schieswig-Hoistein. Bad Segeberg 1994, S. 75-83.
72. Maßregelvollzug. In: Psychiatrische Begutachtung, hrsg. von U.
Venzlaff/K. Foerster, 2. Aufl. Stuttgart u.a. 1994, S. 445-481.
73. Stellungnahme zum Entwurf eines Verbrechensbekämpfungsgeset-
zes (BT-Drucksache 12/6853). In: Protokoll Nr. 120 der 120. Sitzung
des Rechtsausschusses und der 93. Sitzung des Innenausschusses,
1994, S. 187-190, S. 422-424.
74. Juristische Stellungnahme zur Sterbehilfe bei amyotropher Lateral-
sklerose (gemeinsam mit M. Müller). Zeitschrift für medizinische
Ethik 40 (1994), S. 321-326.
75. Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen. NStZ 1995, S. 153-157.
76. Rechtliche Grundlagen der Psychotherapie im Straf- und Maßregel-
vollzug. In: Psychotherapie mit Straffälligen, hrsg. von K. M. Bei-
er/Go Hinrichs. Stuttgart, Jena, New York 1995, S. 90-98.
77. Rauschmitteläquivalenz von Alkohol und Medikamenten im Stra-
ßenverkehr? In: Medikamente im Straßenverkehr, hrsg. von H.-P.
Krüger/R. Kohnen/H. Schöch. Stuttgart, Jena, New York 1995, S.
201-215.
78. Straf- und verwaltungsrechtliche Aspekte des Fahrens unter Dro-
geneinfluß. In: Drogen und Verkehrssicherheit, Berichte der Bun-
desanstalt für Straßenwesen, Heft M 41. Bergisch Gladbach 1995,
S.59-64.
79. Die Entdeckung der Verbrechensfurcht und die Erkundung der Vor-
stellungen und Erwartungen der Geschädigten als Forschungsge-
genstand. In: Das Jugendkriminalrecht als Erfüllungsgehilfe gesell-
schaftlicher Erwartungen? 3. Kölner Symposium über Jugend-
kriminalrecht, hrsg. vom Bundesministerium der Justiz. Bonn,
Mönchengladbach 1995, S. 68-82.
80. Wiedergutmachung und Entschädigung im Strafverfahren - ein Weg
zur besseren Durchsetzung von Opferinteressen. In: 6. Mainzer Op-
ferforum 1994, hrsg. vom Weissen Ring, Mainzer Schriften zur Si-
tuation von Kriminalitätsopfern, Bd. 12, 1. Aufl. Mainz 1995,
S. 13-29.
Verzeichnis der Schriften von Heinz Schöch 1065

81. Der Beitrag der Führungsaufsicht zur Vermeidung des Widerrufs


einer zur Bewährung ausgesetzten Unterbringung. In: Die strafrecht-
lichen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Rechtliche, empi-
rische und praktische Aspekte, hrsg. von A. Dessecker/R. Egg. Kri-
minologie und Praxis Bd. 16. Wiesbaden 1995, S. 183-186.
82. Die Strafbarkeit des Umgangs mit Drogen als präventives Mittel. In:
Politische Studien 1995, Heft 344, S. 60-71.
83. Diversion in der Bundesrepublik Deutschland. In: Perspektiven der
Diversion in Österreich. Schriftenreihe des Bundesministeriums für
Justiz, Bd. 70. Wien 1995, S. 103-122.
84. Strafrechtliche Verantwortlichkeit von Ärzten bei Suizidhandlungen.
In: Suizid zwischen Medizin und Recht, hrsg. von H. Pohlmeier/H.
Schöch/U. Venzlaff. Stuttgart, Jena, New York 1996, S. 81-94.
85. Verdachtlose Atemalkoholkontrolle und Grenzwertdiskussion. DAR
1996, S. 44-49.
86. Alkohol, Drogen und Arzneimittel auf unseren Straßen. In: Einsich-
ten, Forschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München,
1996/1, S. 39-43.
87. Der Richter und sein Sachverständiger (gemeinsam mit T. Verrel).
In: Forschung, Mitteilungen der DFG 1/1996, S. 22 f.
88. Mitarbeit am Alternativ-Entwurf Zeugnisverweigerungsrechte und
Beschlagnahmefreiheit (AE-ZVR). Entwurf eines Arbeitskreises
deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer
(Arbeitskreis AE). München 1996.
89. Kriminologische Differenzierung bei der Zweierbande - zugleich
eine Besprechung des Urteils des BGH vom 17.10.1995 (1 StR
462/95). NStZ 1996, S. 166-170.
90. Die Rechtswirklichkeit und präventive Effizienz strafrechtlicher
Sanktionen. In: Kriminalprävention und Strafjustiz, hrsg. v. J.-M.
Jehle. Wiesbaden 1996, S. 291-326.
91. Artikel "Strafe". In: Evangelisches Kirchenlexikon (EKL). Bd. 4, 3.
Aufl. Göttingen 1996, S. 502-506.
92. Artikel "Strafvollzug". In: Evangelisches Kirchenlexikon (EKL). Bd.
4,3. Aufl. Göttingen 1996, S. 513-516.
1066 Verzeichnis der Schriften von Heinz Schöch

93. Wiedergutmachung und Opferhilfe. In: Wiedergutmachung für Kri-


minalitätsopfer - Erfahrungen und Perspektiven. 10. Mainzer Opfer-
forum, hrsg. vom Weissen Ring, Mainzer Schriften zur Situation von
Kriminalitätsopfern, Bd. 21. Mainz 1996, S. 13-29.
94. Medikamente im Straßenverkehr. DAR 1996, S. 452-460.
95. Die erste Entscheidung des BGH zur sog. indirekten Sterbehilfe.
NStZ 1997, S. 409-412.
96. Kurze Untersuchungshaft durch frühe Strafverteidigung? - Frankfur-
ter Projekt "Entschädigung von Anwälten für die Rechtsberatung
von Untersuchungsgefangenen" vom 1. 10. 1991 bis 30.9.1994. StV
1997, S. 323-327.
97. Strafprozessuale Möglichkeiten zum Schutz kindlicher Opferzeugen
bei Sexualdelikten. Politische Studien 1997, Sonderheft 2, S. 95-105.
98. Elterntötung. In: Gewalt in der Kleingruppe und das Recht, Fest-
schrift für M. Usteri, hrsg. von M. Gruter/M. Rehbinder. Bem 1997,
S.119-131.
99. Präventive Verkehrskontrollmaßnahmen bei Alkohol- und Drogen-
fahrten und ihre Bedeutung für das Straf- und Bußgeldverfahren.
Blutalkohol 34 (1997), S. 169-179.
100. Das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefähr-
lichen Straftaten vom 26.01.1998. NJW 1998, S. 1257-1262.
101. Neue Entwicklungen bei der Anordnung der Untersuchungshaft. In:
Untersuchungshaft - eine vergessene Reform? Hrsg. von G. Koop/B.
Kappenberg, Kriminalpädagogische Praxis Bd. 12. Lingen 1998, S.
43-67.
102. Rechtsextremistische Gewalttaten junger Menschen in der Bundes-
republik Deutschland. In: Crime and Punishment. Essays in Honor of
S.-T. Lin. Taipei/Taiwan 1998, S. 691-726.
103. Willensfreiheit und Schuld aus strafrechtlicher und kriminologischer
Sicht. In: Die Freiheit des Menschen. Zur Frage von Verantwortung
und Schuld, hrsg. von J. Eisenburg. Regensburg 1998, S. 82-101.
104. Haftdauer, Haftkontrolle und frühe Strafverteidigung. In: Oberlan-
desgerichtliche Kontrolle langer Untersuchungshaft, hrsg. von J.-M.
Jehle/P. Hoch. Kriminologie und Praxis Bd. 23. Wiesbaden 1998,
S.27-50.
Verzeichnis der Schriften von Heinz Schöch 1067

105. Straf-, verwaltungs- und zivilrechtliche Aspekte des Fahrens unter


Cannabiseinfluss. In: Cannabis im Straßenverkehr, hrsg. von G.
Berghaus/H.-P. Krüger. Stuttgart u.a.1998, S. 217-228.
106. Generalprävention und Fahren unter Alkohol. In: Fahren unter Alko-
hol in Deutschland, hrsg. von H.-P. Krüger. Stuttgart u.a. 1998,
S. 161-185.

107. Kriminologische Grenzen der Entlassungsprognose. In: Internationa-


le Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, Festschrift für G.
Kaiser zum 70. Geburtstag, hrsg. von H.-J. Albrecht u.a. 1998,
S. 1239-1256.

108. Bericht des Vorsitzenden über die strafrechtliche Abteilung des 62.
Deutschen Juristentages zum Thema Zeugenschutz. In: Verhandlun-
gen des 62. Deutschen Juristentages Bremen 1998, Bd. 11/1 Sit-
zungsberichte (Referate und Beschlüsse), hrsg. vom Deutscher Juris-
tentag. München 1998, P 9-12.
109. Täter-Opfer-Ausgleich im Jugendrecht. RdJB 1999, S. 278-290.
110. Zur Offenbarungspflicht der Therapeuten im Justizvollzug gemäß
§ 182 11 StVollzG. ZfStrVo 48(1999), S. 259-266.
111. Individualprognose und präventive Konsequenzen. In: Kriminalität,
Prävention und Kontrolle. Neue Kriminologische Schriftenreihe Bd.
104, hrsg. von D. Rössner/J.-M. Jehle. Heidelberg 1999, S. 223-241.
112. Juristische Aspekte der Behandlungsbegrenzung im Rahmen der
Sterbebegleitung. In: Der Kassenarzt, Deutsches Ärztemagazin,
Nr.27/28, 1999, S. 36-39.
113 . Verzicht auf Sanktionsnormen im Straßenverkehrsrecht - ein Beitrag
zur Effektivität von Verhaltensnormen? In: Wirkungsforschung zum
Recht I, Wirkungen und Erfolgsbedingungen von Gesetzen, hrsg.
von H. Hof/G. Lübbe-Wolff. Baden-Baden 1999, S. 235-244.
114. Offene Fragen zur Begrenzung lebensverlängernder Maßnahmen. In:
Festschrift für H. 1. Hirsch. Berlin, New York 1999, S. 693-712.
115. Opferanwalt auf Staatskosten. Entstehungsgeschichte und Reichwei-
te der §§ 397a. 406g StPO nach dem Zeugenschutzgesetz vom 30.
April 1998. In: Festschrift für A. Böhm. Berlin, New York 1999,
S.663-682.
116. Sterbebegleitung und Sterbehilfe aus juristischer Sicht. In: Ausblicke
7, 1999/2000, S.74-80.
1068 Verzeichnis der Schriften von Heinz Schöch

117. Täter-Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung gemäß


§ 46a StGB. In: 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wis-
senschaft. München 2000, S. 309-338.
118. Juristische Aspekte des Maßregelvollzugs. In: Psychiatrische Begut-
achtung, hrsg. von U. Venzlaff/K.Foerster, 3. Aufl. München, Jena,
2000, S. 325-348.
119. Spezial- und generalpräventive Aspekte bei der Bekämpfung der
Alkoholdelinquenz im Straßenverkehr. In: Alkohol, Strafrecht und
Kriminalität, hrsg. von R. Egg/C. Geisler. Kriminologie und Praxis,
Bd. 30. Wiesbaden 2000, S. 111-125.
120. Kriminologische Aspekte der Drogenfahrt. In: Drogen im Straßen-
verkehr, hrsg. von H.-P. Krüger. Freiburg i. Br. 2000, S. 129-135.
121. Wiedergutmachung im deutschen Strafrecht. In: Das internatonale
Symposium für die Strafrechtswissenschaft, hrsg. von der Korean
Association of Victimology mit Unterstützung der Japanese Associa-
tion ofVicimology. Seou12000, S. 39-53.
122. Anmerkung zum Urteil des Bundesgerichtshofs v. 9.6.1999 - 3 StR
89/99 (betr. Sicherungsverwahrung). JR 2000, S. 209-210.
123. Anmerkung zum Urteil des Bundesgerichtshofs vom 14.7.1999 - 3
StR 209/99 (betr. formelle Voraussetzungen der Sicherungsverwah-
rung). NStZ 2000, S. 138-140.
124. Wie soll die Justiz auf Jugendkriminalität reagieren? In: Das Jugend-
strafrecht an der Wende zum 21. Jahrhundert. Symposium zum 80.
Geburtstag von Dr. Rudolf Bmnner, hrsg. von D. Dölling. Berlin,
New-York, 2001, S. 125-139.
125. Alkohol im Straßenverkehr. Neue Kriminalpolitik 2001, Heft 1,
S.28-31.
126. Wege und Irrwege der Wiedergutmachung im Strafrecht. Festschrift
für C. Roxin. Berlin, New York 2001, S. 1045-1065.
127. Erfahrungen mit der Videovernehmung nach dem Zeugenschutzge-
setz. In: Festschrift für L. Meyer-Goßner. München 2001, S. 365-
384.
128. Was bewirken gerichtliche Entscheidungen? In: Wirkungsforschung
zum Recht 111, Folgen von Gerichtsentscheidungen, hrsg. von H.
Hof/M. Schulte. Baden-Baden 2001, S. 117-121.
Verzeichnis der Schriften von Heinz Schöch 1069

129. Der Einfluss der Kriminologie auf das Menschenbild des Strafrechts.
In: Bausteine zu einer Verhaltenstheorie des Rechts, hrsg. von F.
Haft/H. Hof/S. Wesche. Baden-Baden 2001, S. 413-419.
130. Mitarbeit am Alternativ-Entwurf Reform des Ermittlungsverfahrens
(AE-EV). Entwurf eines Arbeitskreises deutscher, österreichischer
und schweizerischer Strafrechtslehrer (Arbeitskreis AE). München
2001.
131. Scientology ante portas? Ein Beitrag zur Auslegung der §§ 53-55
StVollzG und zur Beurteilung einer pseudoreligiösen Organisation.
In: Festschrift rur H. Müller-Dietz. München 2001, S. 803-820.
132. Rechtliche Aspekte zur Bußgeld- und Strafbewehrung der Teilnahme
am Straßenverkehr unter dem Einfluss von Benzodiazepinen. In:
Bundesanstalt rur Straßenwesen (Hrsg.), Verkehrssicherheit nach
Einnahme psychotroper Substanzen. Berichte der Bundesanstalt rur
Straßenwesen, Mensch und Sicherheit, Heft M 127. Bremerhaven
2001, S. 73-77.
133. Strafrechtliche Aspekte der Tötungskriminalität. In: Tötungsdelikte
mediale Wahrnehmung, kriminologische Erkenntnisse, juristische
Aufarbeitung, hrsg. von R. Egg, Kriminologie und Praxis Bd. 36.
Wiesbaden 2002, S. 71-90.
134. Kriminalpädagogisches Schülerprojekt Aschaffenburg (gemeinsam
mit M. Traulsen). DVJJ-Jornal 2002, S. 54-60.
135. Opferschutz - Prüfstein rur alle strafprozessualen Reformüberlegun-
gen? In: Festschrift rur P. Rieß. Berlin, New York 2002, S. 507-524.
136. Fahrtüchtigkeit und Fahreignung bei Methadon-Substitution. In:
Festschrift für K. Rolinski. Baden-Baden 2002, S. 147-154.
137. Die Reform des Ermittlungsverfahrens nach den Vorstellungen des
Alternativ-Entwurfs (AE-EV). In: Gedächtnisschrift rur E. Schlüch-
ter. Köln u. a. 2002, S. 29-42.
138. Bericht des Vorsitzenden über die strafrechtliche Abteilung des 64.
Deutschen Juristentages zum Thema "Ist das deutsche Jugendstraf-
recht noch zeitgemäß"? In: Deutscher Juristentag (Hrsg.), Verhand-
lungen des 64. Deutschen Juristentages Leipzig 2002, Bd. 11/1 Sit-
zungsberichte (Referate und Beschlüsse). München 2002, R 10-12.
139. Ist das deutsche Jugendstrafrecht noch zeitgemäß? RdJB 2003,
S.289-308.
140. Bewährungshilfe und humane Strafrechtspflege. BewHi 2003,
S.211-225.
1070 Verzeichnis der Schriften von Heinz Schöch

141. Schweige- und Offenbarungspflichten für Therapeuten im Maßre-


gelvollzug. In: Festschrift fur H.-L. Schreiber. Heidelberg 2003,
S.437-447.
142. Das Opfer im Strafprozess. In: Opfer von Straftaten, hrsg. von R.
Egg/E. Minthe. Wiesbaden 2003, S. 19-36.
143. Kriminalprognose. In: Kriminologie zwischen Grundlagenwissen-
schaften und Praxis, hrsg. von V. Dittmann/J.-M. Jehle. Mönchen-
gladbach 2003, S. 407-420.
144. Delinquenz und Gewalttätigkeit bei Schizophrenen (gemeinsam mit
M. Soyka/V. Morhart-Klute). Nervenheilkunde 23 (2004), S. 165-
170.
145. Begrüßungsrede des Präsidenten der NKG. In: Angewandte Krimi-
nologie zwischen Freiheit und Sicherheit, hrsg. von H. Schöch/J.-M.
Jehle. Neue Kriminologische Schriftenreihe der Neuen Kriminologi-
schen Gesellschaft e. v., Bd. 109. Mönchengladbach 2004, VII-XII.
146. Schadenswiedergutmachung und anwaltliehe Schlichtungsstellen.
Das Münchener Modellprojekt. In: Angewandte Kriminologie zwi-
schen Freiheit und Sicherheit, hrsg. von H. Schöch/J.-M. Jehle. Neue
Kriminologische Schriftenreihe der Neuen Kriminologischen Gesell-
schaft e. v., Bd. 109. Mönchengladbach 2004, S. 71-75.
147. Laudatio für Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Claus Roxin zur Verleihung der
Beccaria Medaille in Gold: In: Angewandte Kriminologie zwischen
Freiheit und Sicherheit, hrsg. von H. Schöch/J.-M. Jehle. Neue Kri-
minologische Schriftenreihe der Neuen Kriminologischen Gesell-
schaft e. v., Bd. 109. Mönchengladbach 2004, S. 613-615.
148. Das neu gestaltete Jura-Studium an der LMU München. JuS-
Magazin 2/2004, S. 7-10.
149. Juristische Aspekte des Maßregelvollzugs. In: Psychiatrische Begut-
achtung, hrsg. von K. Foerster, 4. Aufl. München 2004, S. 385-416.
150. Delinquency and criminal offenses in former schizophrenie inpa-
tients 7-12 years following discharge (gemeinsam mit M. Soyka).Eur
Arch Psychiatry Clin Neurosei (2005) 254: S. 289-294.
151. Schutz von Verletzten: In Alternativ-Entwurf Strafjustiz und Medien
(AE-StuM). Entwurf eines Arbeitskreises deutscher, österreichischer
und schweizerischer Strafrechtslehrer (Arbeitskreis AE). München
2005, S. 79-88.
Verzeichnis der Schriften von Heinz Schäch 1071

152. Mindestanforderungen rur Schuldfahigkeitsgutachten (gemeinsam


mit A. BoetticherlN. Nedopil/H. Bosinski/H. Sass u. a.). NStZ 2005,
S. 57-62.
153. Die jugendliche Abzieher-Bande. Wahlfachklausur - Kriminologie,
Jugendstrafrecht, Strafvollzug. JuS 2005, S. 348-353.
154. Anmerkung zum Urteil des Bundesgerichtshofs vom 25. 11. 2004 -
5 StR 411/04 (betr. Unterbringung in einer Entziehungsanstalt bei
Spielsucht). JR 2005, S. 296-297.
155. Schlussbemerkung. In: Intramurale Medizin - Gesundheitsftirsorge
zwischen Heilauftrag und Strafvollzug, hrsg. von T. Hillenkamp/B.
Tag. Berlin, Heidelberg, New York 2005, S. 273-277.
156. Juristische Aspekte atemalkoholsensitiver Zündsperren. Blutalkohol
42 (2005) (Supplement I), S. 20-24.
157. Probleme der Fahrsicherheit und Fahreignung bei Substitutionspati-
enten. Blutalkohol 42 (2005), S. 354-366.
158. Die Verantwortlichkeit des Klinikpersonals aus strafrechtlicher
Sicht. In: Suizid und Suizidversuch. Ethische und rechtliche Heraus-
forderung im klinischen Alltag, hrsg. von G. Wolfslast/K. W.
Schmidt. München 2005, S. 163-180.
159. Problematische Mutter-Kind-Beziehung und verminderte Schuldfa-
higkeit eines jugendlichen Mörders. Examensklausur. JURA 2005,
S. 883-887.
160. Zum Verhältnis von Psychiatrie und Strafrecht aus juristischer Sicht.
Der Nervenarzt 2005, S. 1382-1388.
161. Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung (AE-StB, mit T. Verrel). GA
2005, S. 553-586.
162. Kommunale Kriminalprävention - ein Beitrag zur Reduzierung der
Kriminalität? Journal of Law and Politics, Kyushu University, 72
(2005), S. 143-161.
163. Rechtsprobleme der Sterbehilfe. Journal ofLaw and Politics, Kyushu
University, 72 (2005), S. 163-181.
164. Die rechtliche Stellung des Psychologen im Strafvollzug nach dem
Psychotherapeutengesetz, Heilpraktikergesetz und Strafvollzugsge-
setz (gemeinsam mit K. Höffler). Recht und Psychiatrie 24 (2006),
S.3-13.
165. Abschied von der Strafmilderung bei alkoholbedingter Dekulpation?
GA 2006, S. 371-375.
1072 Verzeichnis der Schriften von Heinz Schöch

166. Folie a deux et Suicide a deux in forensischetn Kontext (gemeinsam


mit S. Stübner/J. WeberIN. Nedopil). MschrKrim 89 (2006), S. 34-
39.
167. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt im Lichte der neueren
Rechtsprechung. Suchtmedizin in Forschung und Praxis 8 (2006),
S. 157-168.
168. Mindestanforderungen für Prognosegutachten (gemeinsam mit A.
Boetticher/H.-L. Kröber u. a.). NStZ 2006, S. 537-544.
169. Strafrechtliche Haftung von Ärzten beim Lockerungsmissbrauch in
psychiatrischen Krankenhäusern. In: Forensische Psychiatrie -- Ent-
wicklung und Perspektiven. Festschrift für U. Venzlaff. Lengerich,
Berlin u. a. 2006, S. 317-345.
170. Bericht des Vorsitzenden über die strafrechtliche Abteilung des 66.
Deutschen Juristentages zum Thema "Patientenautonomie und Straf-
recht bei der Sterbebegleitung". In: Deutscher Juristentag (Hrsg.),
Verhandlungen des 66. Deutschen Juristentages Stuttgart 2006, Bd.
11/1 Sitzungsberichte (Referate und Beschlüsse). München 2006.
171. Die Schuldfahigkeit. In: Handbuch der Forensischen Psychiatrie.
Hrsg. von H.-L. Kröber/D. DöllinglN. Leygraf/H. Sass, BD. 1. Hei-
delberg 2007, S. 92-159.
172. Kriminalprognose. In: Internationales Handbuch für Kriminologie,
Bd. 1, hrsg. von H. J. Schneider. 2007, S. 359-393.
173. Clinical correlates of later violence and criminal offences in schizo-
phrenia (gemeinsam mit M. Soyka/C. GranziR. Bottlender/P. Dir-
schedi). Schizophrenia Research 84 (August 2007), S. 89-98.
174. Die Todesstrafe aus viktimologischer Sicht. In: Festschrift für H.
Jung. Baden-Baden 2007, S. 865-874.
175. Kriminologie. In: Rechtswissenschaft und Rechtsliteratur im 20.
Jahrhundert. Mit Beiträgen zur Entwicklung des Verlages C. H.
Beck, hrsg. von D. Willoweit. München 2007, S. 821-834.
176. Kriminalpädagogische Schülerprojekte in Bayern. In: Festschrift für
R. Böttcher (gemeinsam mit M. Traulsen). Berlin 2007, S. 379-401.
177. Die Aufklärungspflicht des Arztes und ihre Grenzen. In: Handbuch
des Medizinstrafrechts, 3. Aufl., hrsg. von C.Roxin/U. Schroth.
Stuttgart, München u. a. 2007, S. 47-70.
Verzeichnis der Schriften von Heinz Schöch 1073

178. Unterlassene Hilfeleistung. In: Handbuch des Medizinstrafrechts,


3. Aufl., hrsg. von C. RoxinlU. Schroth. Stuttgart, München u. a.
2007, S. 109-126.
179. Gesundheitsfürsorge im Straf- und Maßregelvollzug. In: Handbuch
des Medizinstrafrechts, 3. Aufl., hrsg. von C. RoxinlU. Schroth.
Stuttgart, München u. a. 2007, S. 581-612.
180. Recht der Sterbehilfe in der BRD. Der Gynäkologe 40 (12-2007),
S.954-959.
181. In Inemoriam Günther Kaiser. MschrKrim 91 (2008), S. 1-5.
182. Opfer- und Zeugenschutz im Jugendstrafverfahren nach dem 2. Jus-
tizmodemisierungsgesetz. In: Kinder und Jugendliche als Opfer von
Sexual- und Gewaltdelikten. Dokumentation des 18. Mainzer Opfer-
forums, hrsg. vom Weissen Ring. Baden-Baden 2008, S. 141-148.
183. Psychisch kranke Gefangene im Strafvollzug. In: Forensische Psy-
chiatrie und Psychotherapie 15 (2008), S. 5-18.
184. Ärztliche Schweigepflicht und Akteneinsichtsrecht des Patienten im
Maßregelvollzug. In: Festschrift für A. Kreuzer. Gießen 2008,
S.669-684.
185. Mindestanforderungen für Schuldfähigkeits- und Prognosegutachten.
In: Festschrift für G. Widmaier. Köln 2008, S. 967-986.
186. Legalbewährung nach Schülerverfahren. Die strafrechtliche Ent-
wicklung von Jugendlichen, die am "Kriminalpädagogischen Schü-
lerprojekt Aschaffenburg" teilgenommen haben (gemeinsam mit M.
Traulsen). GA 2009, S. 19-44.
187. Bemerkungen zur Reform der stationären psychiatrischen Maßregeln
durch das Unterbringungsgesetz vom 16.7.2007. In: Festschrift für
K. Volk. München 2009, S. 703-717.
188. Straßenverkehrsdelinquenz. In: Handbuch der Forensischen Psychi-
atrie, hrsg. von H.-L. Kröber/D. DöllinglN. Leygraf/H. Sass, BD. 4.
Heidelberg 2009, S. 578-598.
189. Straßenverkehrsrecht. In: Handbuch der Forensischen Psychiatrie,
hrsg. von H.-L. Kröber/D. DöllinglN' Leygraf/H. Sass, BD. 5. Hei-
delberg 2009, S. 179-181.
190. Neue Punitivität in der Jugendkriminalpolitik? In: Das Jugendkrimi-
nalrecht vor neuen Herausforderungen? Jenaer Symposium. Eine
Dokumentation des Bundesministeriums der Justiz. Mönchenglad-
bach 2009, S. 13-27.
1074 Verzeichnis der Schriften von Heinz Schäch

191. Kinder als Opfer von Gewalt- und Sexualdelikten - kriminologische


und strafprozessuale Aspekte. In: Festschrift für W. Eisenmenger.
München 2009, S. 430-444.
192. Die Aufklärungspflicht des Arztes und ihre Grenzen. In: Roxin, C.,
Schroth, U. (Hrsg.) Handbuch des Medizinstrafrechts, 4. Aufl. Stutt-
gart, München u. a. 2010, 51-74.
193. Unterlassene Hilfeleistung. In: Handbuch des Medizinstrafrechts,
4. Aufl., hrsg. von C. RoxinJU. Schroth. Stuttgart, München u. a.
2010, S. 161-178.
194. Gesundheitsfürsorge im Straf- und Maßregelvollzug. In: Handbuch
des Medizinstrafrechts, 4. Aufl., hrsg. von C. RoxinlU. Schroth.
Stuttgart, München u. a. 2010, S. 777-809.
195. Lebensstationen Günther Kaisers. In: Kriminalitätskontrolle, Straf-
vollzug und Menschenrechte, hrsg. von H.-J. Albrecht1M. Kilch-
linglU. Sieber. Berlin 2010.
196. Kriminologische, strafrechtliche und kriminalpolitische Aspekte von
Alkohol-Interlocks in Deutschland. BA 2010 (Supplement I).
197. Strafart und Strathöhe, In: Grundfragen des Strafzumessungsrechts,
hrsg. von K. Asada/M. Okaue. Kyoto/Japan, 2010.
198. Die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention in
Deutschland am Beispiel des Rückwirkungsverbotes gemäß Art. 7
EMRK. In: Das Strafrecht in der globalen Risikogesellschaft, hrsg.
von F. Yenisey. Istanbul 2010.
199. Verhandlungs-, Vemehmungs- und Haftfahigkeit: In: Handbuch der
Forensischen Psychiatrie, hrsg. von H.-L. Kröber/D. Dölling/N.
Leygraf/H. Sass, BD. 2. Heidelberg 2010.
Verzeichnis der von Heinz Schöch betreuten
Habilitanden und Doktoranden

I. Habilitanden

1. Dölling, Dieter: Polizeiliche Ermittlungstätigkeit und Lega-


litätsprinzip - Eine empirische und juristi-
sche Analyse des Ermittlungsverfahrens un-
ter besonderer Berücksichtigung von
Aspekten der Aufklärungs- und Verurtei-
lungswahrscheinlichkeit.
Göttingen 1984
2. Meier, Bemd-Dieter: Die Kostenlast des Verurteilten.
Göttingen 1990
3. Verrel, Torsten: Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfah-
ren Ein Beitrag zur Konturierung eines
überdehnten Verfahrensgrundsatzes.
München 2000
4. Götting, Bert: Schadenswiedergutmachung im Strafverfah-
ren - Ergebnisse eines Modellprojekts zur
anwaltlichen Schlichtung.
München 2003
5. Petropoulos, Vasileios: Die strafrechtliche Bewertung der Affekttat
- Auf dem Weg zu einer strafrechtsdogma-
tischen Begründung der Affektlogik.
München 2010
6. Haverkamp, Rita: Frauenvollzug in Deutschland. - Eine empi-
rische Untersuchung vor deIn Hintergrund
der europäischen Strafvollzugsgrundsätze.
München 2010
7. Kaspar, Johannes: Verhältnismäßigkeitsprinzip und Grund-
rechtsschutz im Präventionsstrafrecht.
München 2011
1076 Verzeichnis der Habilitanden und Doktoranden

11. Doktoranden

1. Korth, Jürgen: Vertrauensvollzug - Ein neues Strafvoll-


zugskonzept. Theoretisch hergeleitet und in
einer Untersuchung der offenen Strafanstalt
Saxerriet (Schweiz) veranschaulicht.
Göttingen 1975
2. Soblik, Keike: Vergleich eines schwedischen Vorschlags
zum Gesetz über den Anstaltsstrafvollzug
mit dem deutschen Entwurf eines Strafvoll-
zugsgesetzes unter besonderer Berücksich-
tigung des schwedischen Strafvollzugs.
Göttingen 1976
3. Albrecht, Peter-Alexis: Zur sozialen Situation entlassener "Lebens-
länglicher". Ein Vergleich von sozialen Po-
sitionen vor, während und nach der Haft.
Göttingen 1977
4. Dölling, Dieter: Die Zweiteilung der Hauptverhandlung -
Eine Erprobung vor Einzelrichtern und
Schöffengerichten -.
Göttingen 1978
5. Ahrens, Wilfried: Die Einstellung in der Hauptverhandlung
gern. §§ 153 Abs. 2, 153 a Abs. 2 StPO.
Göttingen 1978
6. Janssen, Dietrich: Heranwachsende im Jugendstrafverfahren -
Ein empirischer Beitrag zur gegenwärtigen
Praxis und zu Reformvorschlägen.
Göttingen 1980
7. Xanke, Peter: Die Beurteilung der Heranwachsenden
gemäß § 105 Abs. 1 JGG in der gerichtli-
chen Praxis.
Göttingen 1980
8. Diepenbruck, Karl-Heinz: Rechtsmittel im Strafvollzug.
Göttingen 1981
Verzeichnis der Habilitanden und Doktoranden 1077

9. Hartung, Barbara: Spezialpräventive Effektivitätsmessung -


Vergleichende Darstellung und Analyse der
Untersuchungen von 1945 - 1979 in der
Bundesrepublik Deutschland.
Göttingen 1981
10. Hertwig, Volker: Die Einstellung des Verfahrens wegen Ge-
ringfugigkeit - Eine empirische Analyse der
Handhabung der §§ 153, 153a StPO in der
staatsanwaltschaftlichen und gerichtlichen
Praxis.
Göttingen 1981
11. Momberg, Rolf: Der Einfluss der Jugendgerichtshilfe auf die
Entscheidung des Jugendrichters.
Göttingen 1981
12. Schunck, Bemd: Die Zweiteilung der Hauptverhandlung -
Die Erprobung des informellen Tatinterlo-
kuts bei Strafkammern -.
Göttingen 1981
13. Weißmann, Ulrich: Die Stellung des Vorsitzenden in der
Hauptverhandlung.
Göttingen 1981
14. Hüsing, Diethild: Die Rechtswirklichkeit der Nebenklage -
Eine rechtstatsächliche Untersuchung an
569 nebenklagefähigen Strafverfahren.
Göttingen 1982
15. Smolka, Peter: Der Freigang im Erwachsenenstrafvollzug -
Eine strafvollzugskundliche und empirische
Untersuchung.
Göttingen 1982
16. Meier, Bemd-Dieter: Die Bestrafung von Rückfalltätern in der
Bundesrepublik Deutschland und in den
USA - Eine rechtstatsächliche und rechts-
vergleichende Untersuchung zu § 48 StGB.
Göttingen 1983
17. Moos, Ruth: Das Geständnis im Strafverfahren und in
der Strafzumessung.
Göttingen 1983
1078 Verzeichnis der Habilitanden und Doktoranden

18. Engstler, Horst: Die heilerzieherische Behandlung gemäß §


10 Absatz 2 Jugendgerichtsgesetz.
Göttingen 1985
19. Wemer, Karin: Die Rechtsstellung des Verletzten im Straf-
verfahren bei staatsanwaltlichen Verfah-
renseinstellungen aus Opportunitätsgrün-
den.
Göttingen 1986
20. Gebauer, Michael: Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungs-
haft in der Bundesrepublik Deutschland.
Göttingen 1987
21. Knoche, Christian: Besuchsverkehr im Strafvollzug.
Göttingen 1987
22. Jabel, Hans-Peter: Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungs-
haft in Niedersachsen.
Göttingen 1988
23. Wenderoth, Dieter: Die Steuerhinterziehung durch Steuerumge-
hung im Lichte des Art. 103 Abs. 2 GG.
Göttingen 1989
24. Hoppenworth, Elke: Strafzumessung beim Raub - Eine empiri-
sche Untersuchung der Rechtsfolgenzu-
messung bei Verurteilungen wegen Raubes
nach allgemeinem Strafrecht und nach Ju-
gendstrafrecht.
Göttingen 1990
25. Vogtherr, Thomas H.: Rechtswirklichkeit und Effizienz der Straf-
verteidigung.
Göttingen 1990
26. Staiger-Allroggen, Peony: Auswirkungen des Opferschutzgesetzes auf
die Stellung des Verletzten im Strafverfah-
ren.
Göttingen 1992
27. Bannenberg, Britta: Wiedergutmachung in der Strafrechtspraxis
- Eine empirisch-kriminologische Untersu-
chung von Täter-Opfer-Ausgleichsprojekten
in der Bundesrepublik Deutschland.
Göttingen 1993
Verzeichnis der Habilitanden und Doktoranden 1079

28. Böhm, Bernhard: Hauptverhandlung und Legalbewährung. -


Eine rechtstatsächliche Untersuchung zur
Legalbewährung nach Verfahrensexperi-
menten.
Göttingen 1993
29. Verrel, Torsten: Schuldfahigkeitsbegutachtung und Strafzu-
messung bei Tötungsdelikten.
Göttingen 1993
30. Berghof, Heinz-Hermann: Therapie und Strafe im Betäubungsmittel-
recht - Recht und Wirklichkeit der Behand-
lung Drogenabhängiger unter besonderer
Berücksichtigung der §§ 35 ff. BtMG -.
München 1994
31. Garbe, Jürgen: Strafzumessung und Hauptverhandlung -
Die Strafzumessungspraxis niedersächsi-
scher Strafgerichte und ihre Beeinflussung
durch Verfahrensexperimente zum Tatinter-
lokut.
Göttingen 1996
32. Götting, Bert: Die Praxis der Strafzumessung - Eine empi-
rische Untersuchung anhand der Strafver-
folgungsstatistik für die Jahre 1987 - 1991.
Göttingen 1996
33. Hartmann, Annegret: Umfang und Grenzen ärztlicher Zwangsbe-
handlung im psychiatrischen Maßregelvoll-
zug.
Göttingen 1996
34. von Harling, Anja: Der Missbrauch von Vollzugslockerungen
zu Straftaten - Eine empirische Untersu-
chung zur Bewährung der Lockerungspraxis
am Beispiel Niedersachsens in den Jahren
1990 und 1991
Göttingen 1996
1080 Verzeichnis der Habilitanden und Doktoranden

35. Mentzel, Thomas: Rechtsextremistische Gewaltdaten von


Jugendlichen und Heranwachsenden in den
neuen Bundesländern - Eine empirische
Untersuchung von Erscheinungsformen und
Ursachen am Beispiel des Bundeslandes
Sachsen-Anhalt.
Göttingen 1996
36. Sabrotzky, Melanie: Die außergerichtliche Erledigung von Straf-
sachen durch die gemeindlichen Schieds-
steIlen in den neuen Bundesländern und
durch den Conciliateur in Frankreich.
Göttingen 1996
37. Rieger, Gregor: Die mutmaßliche Einwilligung in den Be-
handlungsabbruch.
München 1997
38. Scheel, Jens: Die Rechtswirklichkeit der Verwarnung mit
Strafvorbehalt (§§ 59 - 59c StGB).
Göttingen 1997
39. Stegherr, Susanne: Rechtsgleichheit und Rechtswirklichkeit bei
der Strafverfolgung von Drogenkonsumen-
ten - Die Anwendung von § 31a BtMG im
Kontext anderer Einstellungsvorschriften.
München 1997
40. Voigtel, Stephan: Zum Freibeweis bei der Strafvollstre-
ckungskammer - Eine Untersuchung zu
ausgewählten Fragen des Bevveisrechts im
gerichtlichen Verfahren in Strafvollstre-
ckungs- und Strafvollzugssachen.
Göttingen 1997
41. Jofer, Robert: Strafverfolgung im Internet. Phänomenolo-
gie und Bekämpfung kriminellen Verhaltens
in internationalen Computernetzen.
München 1998
Verzeichnis der Habilitanden und Doktoranden 1081

42. Rose, Fran1<: Der Auslandszeuge im Beweisrecht des


deutschen Strafprozesses - Rechtliche und
empirische Aspekte unter besonderer Be-
rücksichtigung der Änderungen durch das
Rechtspflegeentlastungsgesetz 1993.
München 1998
43. Grützediek, Elke: Intensivtäterinnen beim Diebstahl.
München 2000
44. Kaczynski, Oliver Nicolas: Zeugenbetreuung in der Justiz - Zu den
Möglichkeiten und Auswirkungen justiziel-
ler Zeugenbetreuungsstellen.
München 2000
45. Mettke, Melanie: Drogen im Straßenverkehr - Rechtliche
Möglichkeiten der Prävention und Repres-
sion unter Berücksichtigung empirischer
Forschungsergebnisse.
München 2000
46. Wemer, Raik: Scientology im Spiegel des Rechts - Struk-
turen einer subkulturellen Ordnung zwi-
schen Konformität und Konflikt mit den
staatlichen Normen.
München 2001
47. Vogel, Henrik: Erfahrungen mit dem Zeugenschutzgesetz.
München 2002
48. JeckeI, Ingo: Schadenswiedergutmachung über anwaltli-
che Schlichtungsstellen - Schlichtungsab-
lauf und Auswirkungen auf das Strafverfah-
ren.
München 2003
49. Fasoula, Evdoxia: Rückfall nach Diversionsentscheidungen im
Jugendstrafrecht und im allgemeinen Straf-
recht.
München 2004
1082 Verzeichnis der Habilitanden und Doktoranden

50. Kaspar, Johannes: Wiedergutmachung, Mediation und anwalt-


liehe Schlichtung im Strafrecht - Rechtliche
Grundlagen und Ergebnisse eines Modell-
projekts zur anwaltlichen Schlichtung.
München 2004
51. Petropoulos, Vasileios: Die Berücksichtigung des Opferverhaltens
beim Betrug.
München 2004
52. Sabaß, Verena: Schülergremien in der Jugendstrafrechts-
pflege - ein neuer Diversionsansatz. Das
,kriminalpädagogische Schülerprojekt A-
schaffenburg' und die US-amerikanischen
Teen Courts.
München 2004
53. Ries, Melanie: Jugendstrafrechtliehe Sanktionen in der
Bundesrepublik Deutschland, Österreich,
Schweiz und den USA - Eine rechtsverglei-
chende Analyse.
München 2004
54. Köberlein, Carolin: Schadenswiedergutmachung und Legalbe-
währung.
München 2005
55. Douklias, Sotirios: Der börsenorientierte Anlegerschutz und
seine strafrechtliche Absicherung.
München 2007
56. Pankiewicz, Karen: Absprachen im Jugendstrafrecht.
München 2007
57. Spiess, Kerstin: Das Adhäsionsverfahren in der Rechtswirk-
lichkeit.
München 2007
58. Höffler, Katrin: Graffiti-Prävention durch Wiedergutma-
chung - Implementation und Evaluation ei-
nes Münchner Modellprojektes.
München 2008
Verzeichnis der Habilitanden und Doktoranden 1083

59. Yamanaka, Yuri: Maßnahmen gegenüber psychisch kranken


Straftätern Ein Vergleich zwischen
Deutschland und Japan.
München 2008
60. Englmann, Robert: Kriminalpädagogische Schülerprojekte in
Bayern - Rechtliche Probleme und spezial-
präventive Wirksamkeit eines neuen Diver-
sionsansatzes im Jugendstrafverfahren.
München 2009
Autorenverzeichnis

ALBRECHT, HANS-JÖRG, Prof. Dr. Dr. h.c., Direktor des Max-Planck-


Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg
ALEX, MICHAEL, Dr., Dipl.-Psychologe, Ass. iur., Universität Bochum
ARLOTH, FRANK, Dr., Ministerialdirigent im Bayerischen Staatsministerium
der Justiz und fur Verbraucherschutz, Honorarprofessor an der Universi-
tät Augsburg
BAIER, DIRK, Dipl.-Soziologe, Kriminologisches Forschungsinstitut Nieder-
sachsen
BANNENBERG, BRITTA, Prof. Dr., Universität Gießen
BEULKE, WERNER, Prof. Dr., Universität Passau
BÖHM, BERNHARD, Dr., Ministerialdirigent im Bundesministerium der Jus-
tiz
BÖTTCHER, REINHARD, Dr., Präsident des Oberlandesgerichts Bamberg
a. D., Honorarprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität Mün-
chen
BOETTICHER, AXEL, Dr., Richter am Bundesgerichtshof a. D.
DÖLLING, DIETER, Prof. Dr., Universität Heidelberg
DüNKEL, FRIEDER, Prof. Dr., Universität Greifswald
DUTTGE, GUNNAR, Prof. Dr., Universität Göttingen
EGG, RUDOLF, Prof. Dr., Universität Erlangen-Nürnberg, Direktor der Kri-
minologischen Zentralstelle e. V., Wiesbaden
EISENMENGER, WOLFGANG, Prof. em. Dr. med., Ludwig-Maximilians-
Universität München
ESER, ALBIN, Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult., Direktor em. des Max-Planck-
Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg
FELTES, THOMAS, Prof. Dr., Universität Bochum
FOERSTER, KLAUS, Prof. Dr. med., Universität Tübingen
FOERSTER, MAX, Dr., LL.M. eur., Rechtsanwalt in München
GAZOV, EVGENIJ, Dr. med., Privatdozent an der Ludwig-Maximilians-
Universität München
GEBAUER, MICHAEL, Dr., Ministerialrat im Bundesministerium der Justiz
GÖTTING, BERT, Dr., Regierungsdirektor im Bundesamt fur Justiz, Privat-
dozent an der Ludwig-Maximilians-Universität München
HAVERKAMP, RITA, Dr., Referentin am Max-Planck-Institut für ausländi-
sches und internationales Strafrecht in Freiburg
HEINZ, WOLFGANG, Prof. em. Dr., Universität Konstanz
1086 Autorenverzeichnis

HERMANN, DIETER, Prof. Dr. phi!., Universität Heidelberg


HILLENKAMP, THOMAS, Prof. Dr. Dr. h.c., Universität Heidelberg
HÖRNLE, TATJANA, Prof. Dr., M.A. (Rutgers University), Humboldt-
Universität zu Berlin
JEHLE, JÖRG-MARTIN, Prof. Dr., Universität Göttingen
JUNG, HEIKE, Prof. em. Dr. Dr. h.c., Universität des Saarlandes
KASPAR, JOHANNES, Dr., Wiss. Mitarbeiter, Ludwig-Maximilians-Univer-
sität München
KINZIG, JÖRG, Prof. Dr., Universität Tübingen
KNAUER, CHRISTOPH, Dr., Rechtsanwalt in München, Lehrbeauftragter an
der Ludwig-Maximilians-Universität München
KÖNIG, PETER, Dr., Richter am Bundesgerichtshof, Honorarprofessor an der
Ludwig-Maximilians-Universität München
KREUZER, ARTHUR, Prof. em. Dr., Universität Gießen
KRÖBER, HANS-LuDWIG, Prof. Dr. med., Charite-Universitätsmedizin Ber-
lin
KUDLICH, HANS, Prof. Dr., Universität Erlangen-Nümberg
KÜHL, KRISTIAN, Prof. Dr. Dr., Universität Tübingen
KUNZ, KARL-LuDWIG, Prof. Dr., Universität Bem
KUTZER, KLAUS, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a.D.
Loos, FRITZ, Prof. em. Dr., Universität Göttingen
MAIWALD, MANFRED, Prof. em. Dr., Universität Göttingen
MARKWARDT, MANFRED, Dr., Ministerialdirigent im Bayerischen Staatsmi-
nisterium der Justiz und fur Verbraucherschutz a.D., Honorarprofessor
an der Technischen Universität München
MEIER, BERND-DIETER, Prof. Dr., Universität Hannover
MEYER-GOSSNER, LUTZ, Dr., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
a.D., Honorarprofessor an der Universität Marburg
MOMSEN, CARSTEN, Prof. Dr., Universität Hannover
MÜLLER-DIETZ, HEINZ, Prof. em. Dr. Dr. h.c., Universität des Saarlandes
NEDOPIL, NORBERT, Prof. Dr. med., Ludwig-Maximilians-Universität Mün-
chen
PETROPOULOS, VASILEIOS, Dr., Privatdozent an der Ludwig-Maximilians-
Universität München
PFEIFFER, CHRISTIAN, Prof. Dr., Direktor des Kriminologischen For-
schungsinstituts Niedersachsen
RADTKE, HENNING, Prof. Dr., Universität Hannover, Richter am Oberlan-
desgericht Celle
RENGIER, RUDOLF, Prof. Dr., Universität Konstanz
RIESS, PETER, Dr., Ministerialdirektor im Bundesministerium der Justiz
a.D., Honorarprofessor an der Universität Göttingen
RÖSSNER, DIETER, Prof. Dr., Universität Marburg
Autorenverzeichnis 1087

ROXIN, CLAUS, Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult., Ludwig-Maximilians-


Universität München
SATZGER, HELMUT, Prof. Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München
SCHALL, HERO, Prof. Dr., Universität Osnabrück
SCHNEIDER, HANS JOACHIM, Prof. em. Dr. Dr. h.c., Dipl.-Psychologe, Uni-
versität Münster
SCHÖBEL, HEINO, Dr. h.c., Ministerialdirigent im Bayerischen Staatsminis-
terium der Justiz und fur Verbraucherschutz, Leiter des Landesjustizprü-
fungsamtes
STRENG, FRANZ, Prof. Dr. Dr. h.c., Universität Erlangen-Nümberg
TRAULSEN, MONIKA, Dr., Kriminologin
VERREL, TORSTEN, Prof. Dr., Universität Bonn
VOLK, KLAUS, Prof. Dr. Dr. h.c., Ludwig-Maximilians-Universität Mün-
chen
WALTER, MICHAEL, Prof. em. Dr., Universität zu Köln
WEIGEND, THOMAS, Prof. Dr., Universität zu Köln
WITTIG, PETRA, Prof. Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München
ZIEGERT, ULRICH, Dr., Dipl.-Psychologe, Rechtsanwalt in München, Hono-
rarprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München

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