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Festschrift für
HEINZ SCHÖCH
zum 70. Geburtstag
am 20. August 2010
herausgegeben von
De Gruyter
ISBN 978-3-89949-606-2
e-ISBN 978-3-89949-607-9
Printed in Germany
www.degruyter.com
Heinz Schöch
zum 20. August 2010
VORWORT
Heinz Schöch zum 70. Geburtstag XV
I. Kriminologie
MICHAEL W ALTER
Über Kriminologie als Kulturwissenschaft 3
PETRA WITTIG
Anmerkungen zu Hausers "Moral Minds"
aus kriminologischer Perspektive 19
HANS-JÖRG ALBRECHT
Gewaltkriminalität - Ursachen und Wirkungen 31
BRITTA BANNENBERG
So genannte "Amokläufe" aus kriminologischer Sicht 49
FRANZ STRENG
Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule
Ergebnisse einer Replikationsstudie 81
FRIEDER DüNKEL
Greifswalder Forschungen zum Alkohol im Straßenverkehr 101
WOLFGANGHEINZ
Optimierungsbedarfund Optimierungsmöglichkeiten der
Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken in Deutschland 119
VIII Inhalt
BERND-DIETER MEIER
"Hunde, die bellen, beißen nicht"
Einstellungen Studierender zu Kriminalität und Strafe 167
II. Jugendstrafrecht
MICHAEL GEBAUER
Jugendkriminalrecht - quo vadis? 185
JOHANNES KAsp AR
Jenseits von Erziehung: Generalprävention als
komplementärer Sanktionszweck des Jugendstrafrechts 209
TORSTEN VERREL
§ 45 JGG - Quo vadis?
Ergebnisse und kriminalpolitische Konsequenzen
der Evaluation nordrhein-westfälischer Diversionstage 227
BERT GÖTTING
Überlegungen zur Einführung eines Wamschussarrests
aus statistischer Sicht 245
MONIKA TRAULSEN
Das Schülerverfahren als kriminalpräventives
Angebot der Jugendhilfe
Dargestellt am Beispiel eines Schülerprojekts in Kehl 267
111. Strafvollzug
HEINZ MÜLLER-DIETZ
Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
zum Straf\rollzug 285
HEIKEJUNG
Die lästigen Weihnachtspakete 303
Inhalt IX
RUDOLFEGG
Sozialtherapie: gestern, heute und morgen 313
FRANK ARLOTH
Zur weiteren Entwicklung des Strafvollzugs 337
KARL-LUDWIG KUNZ
Zur Symbolik des Strafrechts 353
KLAUS VOLK
Bildersprache in der Strafrechtsdogmatik 369
RITA HAVERKAMP
Staatsschutzstrafrecht im Vorfeld
Probleme strafrechtlicher Prävention bei mutmaßlichen
terroristischen Einzeltätern 381
T ATJANA HÖRNLE
Der lückenhafte Schutz jugendlicher Opfer
im Sexualstrafrecht 401
KRISTIAN KÜHL
Punktuelle Ergänzungen des Persönlichkeitsschutzes
im Strafgesetzbuch 419
CHRISTOPH KNAUER
Der Arzt, die Kommunikation und das Strafrecht
- Aspekte der ärztlichen Schweigepflicht unter besonderer
Berücksichtigung von Supervision, ärztlichem Konsil
und Sachverständigentätigkeit - 439
ALBIN ESER
Rechtmäßige Tötung im Krieg:
zur Fragwürdigkeit eines Tabus 461
KLAUS KUTZER
Überlegungen zur Suizidrechtsprechung
des Bundesgerichtshofes 481
x Inhalt
ARTHUR KREUZER
Notwendigkeit der Reform des Tötungsstrafrechts
und der "AE-Leben" 495
THOMAS HILLENKAMP
Zum Mitwirkungsverweigerungsrecht beim
Schwangerschaftsabbruch 511
MANFRED MAIWALD
Die italienische Strafvorschrift gegen das Stalking
im Vergleich mit § 238 des deutschen Strafgesetzbuchs 53 1
RUDOLF RENGIER
Das Taschenmesser als gefährliches Werkzeug des Diebes 549
CARSTEN MOMSEN
Neue Akzente fur den Untreuetatbestand?
- Der Fall "Bremer Vulkan" im Lichte der Abwendung
der neueren Rechtsprechung von der "Interessentheorie" - 567
PETERKöNIG
Sind die "Trunkenheitsdelikte" reformbedürftig? 587
GUNNAR DUTTGE
Der Arzt als Unterlassungstäter 599
HEROSCHALL
Allgemein- und Sonderdelikte:
Versuch der Abgrenzung im Umweltstrafrecht 619
v. Strafrechtliche Sanktionen
DIETER RÖSSNER
Empirische Perspektiven zur Legitimation der Kriminalstrafe 637
JÖRG KINZIG
Knast fur den Diebstahl einer Milchschnitte?
Grenzen der Verhängung kurzer Freiheitsstrafen bei
Bagatelltaten wiederholt straffälliger Personen 647
Inhalt XI
HANS KUDLICH
Verschobener Reststrafenzeitpunkt und Härteausgleich
bei Unmöglichkeit nachträglicher Gesamtstrafenbildung 669
FRITZ Loos
Zur Auslegung der "rechtswidrigen Tat" in der
zweifachen Verwendung in § 63 StGB 681
HENNING RADTKE
Die Erledigungserklärung im Maßregelvollzug 695
AXEL BOETTICHER
Die Sünden der Rechtspolitik bei den Änderungen
des Rechts der Sicherungsverwahrung ohne Rücksicht
auf kriminologische Erkenntnisse 715
BERNHARD BÖHM
Ausgewählte Fragen des Maßregelrechts 755
DIETER DÖLLING
Zum Verhältnis von Strafe und Therapie 771
MANFRED MARKWARDT
Die Einrichtung einer Stiftung Opferhilfe Bayern 781
DIETER HERMANN
Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe-
ein Artefakt der Forschung? 791
VI. Strafprozessrecht
LUTZ MEYER-GOSSNER
Gefahren im strafprozessualen Denken 811
CLAUS ROXIN
Zur Beschuldigteneigenschaft im Strafprozess 823
XII Inhalt
JÖRG-MARTIN JEHLE
Entwicklungen der Untersuchungshaft aus
rechtstatsächlicher und rechtspolitischer Perspektive 839
V ASILEIOS PETROPOULOS
Das europäische "ne bis in idem" und die Aufwertung
des Opportunitätsprinzips auf Unionsebene 857
ULRICH ZIEGERT
Der Anklagesatz. Novellierung durch Rechtsprechung? 879
PETERRIESS
Die reduzierte Besetzung der großen Strafkammer
Gedanken zu einer (fast) unendlichen Geschichte 895
HELMUT SATZGER
Die Fortwirkung des Zeugnisverweigerungsrechts
bei Verfahren gegen mehrere Mitbeschuldigte nach
Verfahrenstrennung - der Anfang vom Ende? 913
REINHARD BÖTTCHER
Wie vielOpferschutz verträgt der rechtsstaatliche
Strafprozess? 929
THOMAS WEIGEND
Das Opfer als Prozesspartei?
Bemerkungen zum 2. Opferrechtsreformgesetz 2009 947
WERNER BEULKE
Schuldspruchersetzung - Berichtigung oder Benachteiligung?
Der Austausch der Straftatbestände im Urteilstenor durch das
Revisionsgericht unter Aufrechterhaltung des Strafausspruchs 963
NORBERT NEDOPIL
Freiraum fur den menschlichen Willen
Gedanken zu einem überflüssigen und unlösbaren Disput 979
Inhalt XIII
HANS-LUDWIG KRÖBER
Schuldfähigkeit bei "Komorbidität" durch mehrere
psychische Störungen 993
VII. Juristenausbildung
HEINO SCHÖBEL
Geschichte und Geschichten der juristischen
Staatsprüfungen in Bayern 1039
Autorenverzeichnis 1085
Vorwort
mit dem Fahren unter dem Einfluss von Alkohol, illegalen Drogen und
Medikamenten sowie mit den Möglichkeiten der strafrechtlichen Kontrolle
dieses Verhaltens auseinandergesetzt.
Mit einer Untersuchung zur nicht registrierten Kriminalität bei Strafge-
fangenen und in der "Normalbevölkerung", die 1976 unter dem Titel "Ist
Kriminalität normal?" veröffentlicht wurde, hat Heinz Schäch einen wichti-
gen Beitrag zur deutschen Dunkelfeldforschung geleistet. Außerdem hat
Heinz Schäch die deutsche empirische Forschung über die generalpräventi-
ven Wirkungen des Strafrechts mitbegründet. Er hat ab 1980 in Göttingen
Befragungsstudien über Sanktionseinschätzungen und Delinquenz veran-
lasst, welche die empirische Generalpräventionsforschung erheblich voran-
gebracht haben.
Ein weiteres wichtiges Forschungsfeld von Heinz Schäch ist die empiri-
sche Strafverfahrensforschung. Er hat ab 1975 in Niedersachsen Feldexpe-
rimente über neue GestaItungen der Hauptverhandlung - die Zweiteilung
der Hauptverhandlung und die Hauptverhandlung am Runden Tisch - initi-
iert. Weitere Untersuchungen zur Rechtswirklichkeit des Strafverfahrens
betrafen unter anderem die polizeiliche Ermittlungstätigkeit, die Einstellung
von Strafverfahren nach dem Opportunitätsprinzip, die Rechtswirklichkeit
und Effizienz der Strafverteidigung, die Stellung des Vorsitzenden in der
Hauptverhandlung und die Kosten des Strafverfahrens. Die Rechtswirklich-
keit der Untersuchungshaft war Gegenstand mehrerer Untersuchungen von
Heinz Schäch, in der er unter anderem die Bedeutung herausgearbeitet hat,
die der frühen Bestellung eines Verteidigers zukommt.
Nachdrücklich hat sich Heinz Schäch für die Wahrung der Interessen des
Opfers im Strafverfahren eingesetzt. In diesem Zusammenhang hat er empi-
rische Untersuchungen zu Rechtswirklichkeit der Nebenklage, zur Zeugen-
betreuung in der Justiz und zu Erfahrungen mit dem Zeugenschutzgesetz,
insbesondere zum Einsatz der Videotechnik, veranlasst und wichtige Bei-
träge zur Auslegung einschlägiger Vorschriften der Strafprozessordnung
geleistet. Ein besonderes Anliegen war Heinz Schäch die Einfügung der
Wiedergutmachung für das Opfer in das Strafverfahren. Unter anderem hat
er in München das Modellprojekt AUSGLEICH initiiert, in dem Schadens-
wiedergutmachung im Strafverfahren über eine anwaltliche Schlichtungs-
stelle geleistet wird. Er hat mehrere empirische Untersuchungen veranlasst,
in denen die Implementierung dieses Modells und seine Wirkungen einge-
hend analysiert worden sind.
Ein weiteres wichtiges Forschungsfeld von Heinz Schäch sind die straf-
rechtlichen Sanktionen. Er hat sich in zahlreichen Veröffentlichungen unter
anderem mit der Verwarnung mit Strafvorbehalt, der Geldstrafe, dem Straf-
zumessungsrecht, der Bewährungshilfe und der Führungsaufsicht, der Ent-
ziehungsanstalt und der Sicherungsverwahrung befasst. Ein besonderes
Vorwort XVII
Erklären, das Marburger ProgramlTI aus der Sicht der Kriminologie und
über den Einfluss der Kriminologie auf das Menschenbild des Strafrechts.
Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass sich das Werk von Heinz
Schäch nicht auf empirisch-kriminologische Untersuchungen beschränkt,
sondern es ihm auch um eine sachgerechte Auslegung und kriminalpoliti-
sche Weiterentwicklung des Straf- und Strafprozessrechts geht. Ein Rechts-
gebiet, mit dem sich Heinz Schöch intensiv auseinander gesetzt hat, ist das
Medizinrecht. Die Veröffentlichungen betreffen unter anderem die Sterbe-
hilfe und die Verantwortung von Ärzten und Klinikpersonal für Suizide, die
ärztliche Aufklärungspflicht, die unterlassene Hilfeleistung und die Ge-
sundheitsfürsorge im Straf- und Maßregelvollzug. Auch mit datenschutz-
rechtlichen Problemen hat sich Heinz Schäch befasst. So hat er Veröffentli-
chungen über den Datenschutz in der Sozialarbeit mit Straffälligen, die
Offenbarungspflichten von Therapeuten im Strafvollzug und im Maßregel-
vollzug und die datenschutzrechtlichen Voraussetzungen der Akteneinsicht
für kriminologische Forschungsvorhaben vorgelegt. Im Alternativkommen-
tar zur Strafprozessordnung hat er die §§ 151 bis 160,238 - 245 und 403 -
406 h StPO kommentiert.
Heinz Schöch hat sich in kriminalpolitischen Fragen nachdrücklich enga-
giert. So hat er an zahlreichen Alternativ-Entwürfen des Arbeitskreises
deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer mitge-
wirkt. Es handelt sich um die folgenden Alternativ-Entwürfe: AE Reform
der Hauptverhandlung 1985, AE Sterbehilfe 1986, AE Wiedergutmachung
2002, AE Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmefreiheit 1996,
AE Reform des Ermittlungsverfahrens 2001, AE Strafjustiz und Medien
2005, AE Sterbebegleitung 2005 und AE Leben (Reform der Tötungsdelik-
te) 2008. Außerdem hat Heinz Schöch zu zahlreichen Gesetzentwürfen als
Sachverständiger vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages
Stellung genommen. Er hat an Anhörungen des Rechtsausschusses zu fol-
genden Gesetzentwürfen teilgenommen: Opferschutzgesetz (1986), Verbre-
chensbekämpfungsgesetz, insbesondere zu § 46a StGB (1994, Rechts- und
Innenausschuss), Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen
schweren Straftaten (1997), 36. Strafrechtsänderungsgesetz - Verletzung
des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen gemäß § 201a
StGB (2003), Gesetz zur Sicherung der Unterbringung in einem psychiatri-
schen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt (2007), Gesetzentwurf
des Bundesrates zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts
(2009), Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts (2009) und
2. Opferrechtsreformgesetz (2009).
Heinz Schöch hat auch für die kriminologische Ausbildung Hervorragen-
des geleistet. Bei ihm sind zahlreiche Dissertationen entstanden und er hat
bisher fünf Wissenschaftler (Dieter Dölling, Bernd-Dieter Meier, Torsten
Vorwort XIX
MICHAEL W ALTER *
Das Thema "liegt in der Luft", nachdem der kulturelle Bezug der Human-
und Sozialwissenschaften wieder zunehmende Aufmerksamkeit findet. Der
Beitrag geht der Frage nach, inwieweit Kriminalität, Kriminalitätskontrolle
und Kriminalitätsentwicklung als Kultur-geprägte Erscheinungen zu begrei-
fen sind. Zur Klärung dessen erfolgt eine knappe kriminologisch-
theoretische Bestandsaufnahme. Daran anknüpfend wird erörtert, in wel-
chen Hinsichten eine kulturwissenschaftliche Perspektive der Kriminologie
neue und weiterführende Impulse zu geben vermag. Drei Gesichtspunkte
können herausgearbeitet werden: Die Vielfalt kultureller Zeugnisse ver-
mehrt die Quellen kriminologischer Forschung (1), Kriminalität liefert ei-
nen unverzichtbaren Stoff für die Lebensgestaltung (2) und Kriminalität
wird auf verschiedenen gesellschaftlichen Bühnen inszeniert (3).
Die folgenden Überlegungen sind Heinz Schöch in fachlicher und persön-
licher Verbundenheit gewidmet. Sein Werk befasst sich mit Grundfragen
der Kriminologie, I einer Wissenschaft, an deren Neubegründung in der
Nachkriegszeit er maßgeblich Anteil hatte. Ein auf die konkrete Rechts-
wirklichkeit bezogenes, methodisch durchdachtes und transparentes empiri-
sches Vorgehen ohne ideologische Scheuklappen kennzeichnen seine Ar-
beiten bis heute. 2 Zur Ehrung des Jubilars möchte ich deswegen einige
Gedanken beisteuern, die einerseits die kriminologische Theorie reflektie-
ren, andererseits auf die Breite und wachsende Komplexität der Praxis- und
Forschungsfelder hinweisen sollen.
* Für eine kritische Durchsicht des Manuskripts sowie für technische Hilfen danke ich Herrn
wiss. Mitarb. Michael Stroh.
I Einen gewissen Einblick vermitteln die Lösungshinweise in: Kaiser/Schäch Kriminologie,
Jugendstrafrecht, Strafvollzug, 6. Aufl. 2006, die eine Reihe von Schäch besonders intensiv
bearbeiteter Themen betreffen (etwa Verbrechens- und Straftheorien, Täterpersönlichkeit und
Schuld sowie kriminalrechtliehe Sanktionen, Strafzumessung und Kriminalprognose)~ exem-
plarisch seien ferner die zusammenfassende Studie zu "Empirischen Grundlagen der General-
prävention" in der Festschrift für Jescheck, Bd. II, 1985, S. 1081-1105 genannt sowie - aus
jüngerer Zeit - die Abhandlung zur Kriminalprognose in: H. 1. Schneider (Hrsg.), Internationa-
les Handbuch der Kriminologie, Bd. 1,2007, S. 359 f.
2 Schäch/Traulsen GA 2009, 19 f.
4 Michael Walter
3 Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 424 f.~
Köhler Strafrecht Allgemeiner Teil, 1997, S,348 f.
4 Wenn auch das "kriminalbiologische Modell" nicht den Ausgangspunkt kriminalwissen-
schaftlichen Denkens bildete, s. Kaiser MschrKrim 2006, 314 f.
5 S. etwa Roth Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, 2003,
S. 553 f.~ treffend T Walter FS F.-C. Schroeder, 2006, S. 131 f.
Über Kriminologie als Kulturwissenschaft 5
grenzte natürliche Ressource". 17 Sie ist im Laufe der Zeit sehr unterschied-
lich genutzt worden. Um sich die Veränderungen vor Augen zu führen,
denke man nur etwa an die Einschränkungen der Strafbarkeit bei der männ-
lichen Homosexualität infolge einer kriminalrechtlichen Abkehr vom mora-
lischen Konzept der "Unzucht". In die entgegengesetzte, straferweiternde
Richtung weisen die Ausdehnungen des Gewaltbegriffs und entsprechender
polizeilicher Registrierungen, insbesondere bei jungen Männern. 18 Im 18.
und 19. Jahrhundert dürfte die Frauenkriminalität zurückgegangen sein,
weil infolge eines neuen Familienverständnisses zunehmende patriarchali-
sche Kontrollen erfolgten. 19 So entstehen fortlaufend Kriminalitätssteige-
rungen und -verringerungen, die wenig mit den Delinquenten und ihrem
"Wesen" zu tun haben, vielmehr in erster Linie auf kulturelle Veränderun-
gen bei der Verbrechenswahmehmung und -kontrolle rückführbar sind.
Daneben spielen natürlich noch weitere Momente eine Rolle. Kulturell
bedingt ist beispielsweise ebenfalls die zunehmende gesellschaftliche Mobi-
lität, deren technische Seite wiederum - wie bereits erwähnt - die Tatgele-
genheiten steuert. Analoges gilt fur die Rechtsfolgen. Die Strafen reflektie-
ren keineswegs nur Gerechtigkeits- oder Vergeltungsvorstellungen -
obwohl auch die sich wandeln - ebenso spiegeln sie sozial-ökonomische
Veränderungen auf der staatlichen Kontrollseite, den jeweiligen Bedarf an
Arbeitskräften für die maschinelle Textilverarbeitung, den Galeerenbetrieb,
den Bergbau, den Ausbau des Eisenbahnnetzes, die Kolonialisierung u.s.f. 20
Was nun ergeben Garlands Studien? Er analysiert die Entwicklung vom
wohlfabrtsstaatlichen Strafen (penal welfarism) zu einem neuen ökono-
misch geprägten Management-Denken. 21 Das konzentriert sich auf Risiken,
die verringert oder beseitigt werden sollen. Sicherheitslücken werden aufge-
spürt und durch er\veiterte Eingriffstatbestände sowie vor allem durch Insti-
tutionen übergreifende Netzwerkarbeit behoben. Diese ersetzt nicht die
bisherigen Kontrollstrukturen, ergänzt sie vielmehr. Auch Verbrechens-
furcht ist Gegenstand gouvernementaler Maßnahlnen. Im Mittelpunkt ste-
hen nicht so sehr Schuld und Vergeltung, obwohl die Eigenverantwortlich-
keit der Straftäter betont wird, sondern neutrale Technologien. Bei denen
interessiert zuförderst die präventive Wirksamkeit, weniger die ethische
oder rechtliche Seite. Die öffentliche Bekanntmachung von Verurteilungen
oder andere Formen der Stigmatisierung, etwa Mitteilungen des Wohnsitzes
bestimmter Sexualdelinquenten, sind ebenso wenig ein Tabu wie eine maß-
mit letztlich kulturellen Mitteln ausgetragen wird. Kultur wird sowohl auf
Seiten derer bemüht, die mit Graffitis Straftaten begehen, als auch auf Sei-
ten derer, die solche Delikte als Verstoß gegen elementare Eigentumsrechte
betrachten. Aus der Sicht der cultural criminology leisten subkulturelle
Graffiti-Maler mit ihrer Kunst einen kulturell-politischen Beitrag zur Ver-
besserung des gesellschaftlichen Problembewusstseins, der sodann aber von
den Herrschenden als krimineller Übergriff bezeichnet und bekämpft wird.
Die Vertreter einer cultural criminology betrachten ihre Argumentation
nicht als theoretische Neuheit, betonen vielmehr -- wie erwähnt - ihre Ver-
bindungslinien zur Subkulturtheorie. Ferner verweisen sie auf den labeling
approach, der bereits zuvor die Interpretations- und Deutungsmacht der
Herrschenden herausgestellt hatte. Ergänzend könnte man auf Galtung
verweisen. Er kennt eine "cultural violence",25 welche die vermeintliche
Rechtfertigung für die Unterwerfung anderer Menschen und Völker schafft.
Ein markantes Beispiel sind rechtsextreme Auffassungen vom "Herrenmen-
schen". Die sind der Ideologie zufolge zur Dominanz und konkret etwa zur
Eroberung, Inbesitznahme und Ausbeutung von Kolonien "berufen". Im
Gegenzuge bemüht die UNO eine Kultur des Friedens. Im Kleinen wün-
schen sich Lehrer in ihrer Schule eine Konfliktkultur, die bei Schwierigkei-
ten zu Problem lösenden Gesprächen anstelle körperlicher Auseinanderset-
zungen fuhrt.
besonders stark interessiert. 35 Die erste Frage bezieht sich auf den Gewalt-
begriff. Hier zeigt sich sogleich, dass es eine von unseren Vorstellungswel-
ten unabhängige Gewalt nicht gibt. Maßgeblich ist die - kulturelle - Sensi-
bilität für Gewalt. Gegenwärtig erleben wir in vielen Beziehungen eine
Ausdehnung der Gewalt, sie wird "entdeckt".36 Bei der häuslichen Gewalt,
bei der Gewalt am Arbeitsplatz (Mobbying), bei der Gewalt in der Schule
(Bullying) bei der aufdringlichen bis bedrohlichen "Fan"-Gewalt und beim
"Psycho-Terror" (Stalking; deutsch: Nachstellung, § 238 StGB). Zeitgleich
wird die reaktive Gewalt in einem entgegengesetzten Sinne neu "entdeckt",
nämlich ihrer negativen Rahmung entkleidet, indem die Gefangnishaft bis
hin zur Sicherungsverwahrung erweiterte Anwendungsbereiche findet.
Zugleich werden finale Todesschüsse oder gar Folter als "Rettung" disku-
tiert. 3? Der Prozess der Gewalt-"Entdeckung" ist ein gesellschaftlicher. Der
Begriff wird auf neue Sachverhalte ausgedehnt, die man früher anders in-
terpretiert hatte oder - bei der reaktiven staatlichen Gewalt - mit einem
neuen Wertzeichen versehen, das es zuvor so nicht gab. Wie aber will man
die tieferen Zusammenhänge erkennen, ohne die kulturellen Hintergründe
in den Blick zu nehmen?
In einem zweiten Schritt entstehen neue Vertypungen, die die Wirklich-
keit umgestalten und umstrukturieren. Wir sehen die Realität jetzt anders.
So kannte man vor der Diskussion um das Stalking in den Vereinigten Staa-
ten und dann auch in Europa keinen derartigen Tatbestand. Doch jetzt
"gibt" es neben dem Betrüger und dem Dieb den Stalker. Die hier gemeinte
Existenz ist grundsätzlich unabhängig von den Phänomenen der Außenwelt,
die sich nicht zu verändern brauchen.
Freilich können sie sich verändern. Und in einem dritten Schritt erfolgen
selbst derartige Verhaltensänderungen. Die Vertypungen liefern wiederum -
kulturelle - Vorlagen oder Muster, wie man vorgehen kann. Sie erweitern
das Repertoire an verfügbaren Verhaltensmodellen. Eindrucksvoll sind im
Gewaltbereich vor allem die Rituale, die bei sogenannten Amokläufen oder
bei "school-shootings" Anwendung finden. Das Kult(!)-Modell scheinen
insoweit die Täter des Massakers an der Columbine HighSChool entwickelt
zu haben, deren Texte und verquere Sichtweisen inzwischen als literarisches
Werk vorliegen. 38 Gegenwärtig etabliert sich - mit kräftiger medialer Un-
terstützung - ein neuer Deliktstyp des Amoklaufs, zu dem sogar bestimmte
39 S. die Beiträge in: Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Bd. 5, Literatur- und kunsthistori-
sche Schriften, 1997.
40 Radbruch (Fn. 39), S. 35 f., 131 f.
14 Michael Walter
41 Hervorzuheben sind insoweit Studien von lvfüller-Diet= Recht und Kriminalität im litera-
rischen Widerschein, 1999, u. von Lüderssen Produktive Spiegelungen. Recht in Literatur,
Theater und Film, 2. Aufl. 2002, sowie von Schmidhäuser Verbrechen und Strafe. Ein Streif-
zug durch die Weltliteratur von Sophokles bis Dürrenmatl, 2. Aufl. 1996.
42 Zur Bedeutung von Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" für die Neutralisationstheorie
s. M ~flalter in: Walter/Kania/H.-J. Albrecht (Hrsg.), Alltagsvorstellungen von Kriminalität,
2004, S. 33 f.
Über Kriminologie als Kulturwissenschaft 15
von dem schon Unerträglichen zu sondern ist. Wie weit reichen Notwehr
und Notstand? Es finden ständig Diskurse über derartige Grenzlinien statt,
wobei die Antworten etwa zur Zulässigkeit des Abschusses eines von Terro-
risten entführten Flugzeugs, das als Waffe eingesetzt werden soll, keines-
wegs einheitlich ausfallen 43 und dadurch wiederum neue Kontroversen, aber
auch Konsensbemühungen auslösen.
Kriminalität lässt sich auf konkrete und verständliche Phänomene ein-
grenzen. Mittel gegen sie kennt anscheinend jedermann. Damit können
grundsätzlich alle mitreden. Anders als bei komplizie11en globalen Wirt-
schaftsproblemen gibt es Gute und Böse und scheinen einfache Rezepte
möglich, den Verbrechern das Handwerk zu legen. Auf sie kann man die
Aggressionen lenken, über keinen kann man sich mehr empören als über
einen gewalttätigen Sexualtäter. Mit eigenen Vorschlägen zur Verbrechens-
bekämpfung bekennen Politiker "Farbe", gewinnen sie eine spezifische
Identität. Das Thema eignet sich wie kaum ein anderes zur persönlichen und
gesellschaftlichen Positionierung. Deswegen haben es Wahlkämpfer ent-
deckt, deren Eifer dann freilich mit dem Tag der Wahl rasch wieder abflaut.
Diese wenigen Hinweise müssen genügen, die kontextuelle Verwobenheit
und zentrale Stellung von Kriminalität zu kennzeichnen. Wir brauchen
Kriminalität, gleichsam auf Schritt und Tritt. 44 Doch das wird in der krimi-
nologischen Forschung bisher kaum berücksichtigt. Sie ist noch ganz vom
Kampf gegen das Verbrechen erfüllt, den es natürlich auch geben muss, der
aber nicht das gesamte gesellschaftliche Kriminalitätsgeschehen umschreibt
und erklärt. Kriminalität ist kein grundsätzlich auslöschbares Randproblem
der Gesellschaft, Kriminalität wirkt vielmehr wesentlich an der Konstitution
unserer Gesellschaft mit.
43 S. etwa die umstr. Schrift von Depenheuer Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2. Aufl.
2007.
44 Zu Recht fragt daher Christie Wieviel Kriminalität braucht die Gesellschaft? - s. Fn. 17.
45 Kun= Die wissenschaftliche Zugänglichkeit von Kriminalität, 2008, S. 92 f.
16 Michael Walter
50 Dazu Näheres bei M Walter in: Bundesfl1inisterium der Justiz (Hrsg.), Das Jugendkrimi-
nalrecht vor neuen Herausforderungen? Jenaer Symposium, 2009, S. 239 f.
Anmerkungen zu Hausers "Moral Minds"
aus kriminologischer Perspektive
PETRA WITTIG
1 In diesem Zusammenhang ist aus jüngster Zeit die durch die neuere Hirnforschung (z.B.
Singer, Prin=, Roth) neu entfachte Debatte in der Strafrechtswissenschaft um die Willensfrei-
heit und damit um den Schuldbegriff zu nennen. Hier gilt es, Stellung zu beziehen, sei es auch
nur, indem neurobiologische Erkenntnisse für irrelevant für eine von normativen Konstruktio-
nen lebende Strafrechtswissenschaft erklärt werden (siehe nur Roxin Strafrecht Allgemeiner
Teil, Bd. 1,4. Aufl. 2006, § 19 Rn. 39 ff. m.w.N.).
2 Siehe nur Badcock Evolutionary Psychology: A Critical Introduction, 2000~ Bar-
kow/Tooby/Cosmides (Hrsg.), The Adapted Mind: Evolutionary Psychology and the Genera-
tion of Culture, 1992~ Dunbar/Barrett Oxford Handbook of Evolutionary Psychology, 2007~
Pinker Wie das Denken im Kopf entsteht (Orig. How the Mind Works 1997), 2002.
3 Hauser Moral Minds: How Nature Designed Our Universal Sense of Right and Wrong,
2006~ hierzu z. B. Blech/v. Bredow Der Spiegel 31 (2007). Speziell zur evolutionären Entwick-
lung der Moral z. B. Alexander The Biology of the Moral System, 1987~ Joyce The Evolution
of Morality, 2006~ Kat= Evolutionary Origins of Morality, 2002~ Ridley The Origins of Virtue.
Human Instincts and the Evolution of Cooperation, 1997~ de Waal Primaten und Philosophen
(Orig. Primates and Philosophers, 2006), 2008~ Wilson The Moral Sense, 1993~ Wright Dies-
seits von Gut und Böse (Orig. The Moral Animal 1994), 1996.
20 Petra Wittig
Hauser geht davon aus, dass das Modell der "Rawlsian creature" zutrifft.
Er legt damit das Bild eines Menschen zugrunde, der von Natur aus über
das spezifische Vermögen verfügt, moralisch zu urteilen. Dies bedeutet
zunächst nicht, dass den Menschen eine bestimmte Moral angeboren ist,
sondern vielmehr, "dass es kognitive Strukturen gibt, die die Bedingungen
der Möglichkeit eines differenzierten Moralsystems sind, so wie das
menschliche Sprachvermögen die Bedingung der Möglichkeit von König
Lear ist" .17
Bei dieser formalen Annahme bleibt Hauser jedoch nicht stehen: "Nature
may, however, limit what is morally possible, and suggest ways in which
humans, and possibly other animals, are motivated into action". 18 Anhand
einer Vielzahl von Fallbeispielen und Experimenten versucht er, diese mo-
ralischen Vorgaben zu beschreiben. Dabei beansprucht er auch explizit, aus
der Deskription unserer moralischen Natur präskriptive Vorgaben fur das
Recht zu entwickeln. 19
15 Grundlegend Chomsky Aspekte der Syntax-Theorie (Orig. Aspects of the Theory of Syn-
tax, 1965), S. 13 ff., aus neuerer Zeit ders. Knowledge of Language: Its Nature, Origin and
Use, 1986, S. 3.
16 Die Idee, dass das moralische Urteilsvermögen fundamental in der menschlichen Natur
verankert ist, findet sich auch bei Chomsky Language and Problems of Knowledge, 1988,
S. 152 f.
17 Mahlmann in: Gugerli u.a. (Hrsg.), Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch fur Wissen-
schaftsgeschichte, 2008, S. 107 ff.
18 Hauser (Fn. 3), S. 4.
19 Hauser (Fn. 3), S. 4. Zu einer "mentalistisch" begründeten Theorie von Moral und Recht
siehe Mahlmann (Fn. 3).
20 Hauser (Fn. 3), S. 112 ff. Diese gehen wohl auf die Philosophin Philippa Foot zurück, die
das Problem in ihrem Aufsatz "The Problem of Abortion and the Doctrine of Double Effect",
Anmerkungen zu Hausers ~,Moral Minds" 23
Oxford Review 5 (1967), 5 ff. erörtert hat. Hierzu u.a. Thomson The Monist 59 (1976), 204 ff.
Zu Hauser, der Lehre von den moralischen Doppelwirkungen und den Trolley-Fällen (auch aus
deutscher strafrechtlicher Sicht) Philipps FS Hassemer, 2010, S. 201 ff.
21 Mikhail (Fn. 13)~ Mikhail/Sorrentino/Spelke Aspects of the Theory of Moral Cognition:
Investigating Intuitive Knowledge of the Prohibition of Intentional Battery, the Rescue Prin-
ciple, the First Principle of Practical Reason, and the Principle of Double Effect, unveröf-
fentlichtes Manuskript, 2002.
24 Petra Wittig
27 Soziale Nonnen bzw. Konventionen und moralische Regeln unterscheiden sich nach Hau-
ser (Fn. 3), S. 291 ff. grundsätzlich wie folgt: Soziale Normen dienen der Koordination von
Gruppen, sie sind nur auf diese anwendbar und können verletzt werden. Moralische Regeln
dienen dem allgemeinen Wohlergehen ("welfare") und der Fairness, sie gelten universell und
sind unverletzbar.
28 Hauser (Fn. 3), S. 142 ff.
26 Petra Wittig
Soweit es um das Phänomen der Ehrenmorde geht, stellt sich die Frage
nach den Ursachen aus kriminologischer Sicht selbstverständlich nur dann,
wenn eine Rechtsordnung dieses Verhalten überhaupt als abweichend be-
trachtet, was jedoch inzwischen wohl für fast alle Länder der Welt zutrifft. 29
Eine Abweichung eines bestimmten kulturell gebilligten Verhaltens allein
von den Prinzipien der universellen moralischen Tiefengrammatik mag für
den Moralpsychologen, nicht aber für den Kriminologen von Interesse sein.
Hauser erklärt das Phänomen der Ehrenmorde damit, dass in den betrof-
fenen Kulturkreisen Frauen als Eigentum der Männer betrachtet werden, das
von diesen nach Belieben auch zerstört werden darf. Die kulturelle Norm,
die Ehrenrnorde erlaubt, unterdrücke damit bei den Männern jede Kontrolle
ihres Tötungsimpulses, während sie gleichzeitig als Kontrollmechanismus
gegenüber Frauen fungiere. 30
Eine partikuläre soziale Norm führt damit dazu, dass Ehrenrnorde als er-
laubt angesehen werden. Die universelle moralische Tiefengrammatik ver-
bietet jedoch nur unerlaubte ("unpermitted") Tötungen, so dass sie durch
die soziale Norm konkretisiert wird. Ehrenmorde gelten aufgrund des "cul-
tural climate"31 damit nicht mehr als moralisch verboten, sondern sogar als
geboten. Jedoch sieht Hauser auch die Chance, diesen Zirkel der Gewalt zu
durchbrechen, wobei er nicht nur kulturellen Gegenbewegungen, sondern
auch dem Recht eine wichtige Rolle zubilligt.32
Verbrechen aus Leidenschaft beweisen nach Hauser ebenfalls "the power
of social norms to both set the principles and the parameters of permissible
killings, and to convert them from descriptive to prescriptive principles".33
Auch sie sind auf eine Geschlechterasymmetrie zurückzuführen. Damit
wendet er sich gegen die Idee, solche Verbrechen gingen darauf zurück,
dass Emotionen die Vernunft besiegen, was sie, wenn auch nicht rechtfer-
tigt, so doch zumindest entschuldigt.
Für die Kriminalitätsforschung lässt sich aus den dargestellten Befunden
lediglich der Schluss ziehen, dass soziale Normen dazu führen können, dass
Täter ihr kriminelles Verhalten als moralisch gerechtfertigt und damit als
erlaubt ansehen. Ohne Umweg über die moralische Tiefengrammatik ließe
sich die Aussage auch dahingehend vereinfachen, dass (partikuläre) soziale
Normen dazu fuhren, dass ein an diesen orientiertes Verhalten gewählt
29 Hauser zitiert hier den ehemaligen pakistanischen Präsidenten Musharraf, der im Jahre
2000 Ehrenmorde als unislamisch und ungesetzlich verurteilte. Dennoch stieg die Zahl der
Ehrenmorde nachfolgend an (Hauser [Fn. 3], S. 144). Auch verbreitet sich dieses Verhalten
aufgrund der weltweiten Migrationsbewegungen.
30 Hauser (Fn. 3), S. 145.
31 Hauser (Fn. 3), S. 155.
32 Hauser (Fn. 3), S. 142.
33 Hauser (Fn. 3), S. 154.
Anmerkungen zu Hausers "Moral Minds" 27
den dicken Mann von der Brücke zu stoßen, um die fünf Wanderer zu ret-
ten, weil sie den Zweck eines Verhaltens, nicht aber das Verhalten selbst als
ausschlaggebend ansahen.
Für die Erklärung von Kriminalität bleibt als Fazit, dass bestimmte Hirn-
schädigungen zu abweichendem Verhalten fuhren können, sei es, dass das
moralische Urteilsvermögen beeinträchtigt ist, sei es, dass das moralisch als
richtig Erkannte nicht in die Tat umgesetzt werden kann. Damit könnte
jedoch allenfalls ein kleiner Teil der Kriminalität erklärt werden, insbeson-
dere, da nur manche Hirngeschädigte sich nicht nur sozial abweichend,
sondern auch kriminell verhalten.
zeugende und klare Erklärung, er hält jedenfalls bei Psychopathen die mora-
lische Kompetenz grundsätzlich fur gegeben.
Für unsere Fragestellung ergibt sich aus den knappen Ausführungen Hau-
sers, dass es offensichtlich Menschen gibt, die aufgrund einer Erkrankung,
trotz vorhandener kognitiver Fähigkeiten und moralischer Urteilskompe-
tenz, kriminell werden.
IX. Fazit
Eine Theorie, die die evolutionäre und damit letztlich biologisch determi-
nierte Verankerung moralischen Urteilens und entsprechenden HandeIns
behauptet, kann von den Sozial- und Rechtswissenschaften nicht ignoriert
werden. Der folgende dem Jubilar in Verbundenheit gewidmete Beitrag
versuchte anhand der Untersuchung von Hausers "Moral Minds" zu thema-
tisieren, inwieweit ein solcher Ansatz fur die Erklärung kriminellen Verhal-
tens von Bedeutung sein könnte.
Es hat sich gezeigt, dass keine grundsätzlich neuen Erkenntnisse zu er-
warten sind: Die Ausführungen zur prägenden Kraft sozialer Normen be-
schränken sich auf die Themen Ehrenmorde und Verbrechen aus Leiden-
schaft. Entsprechend der (neuro-) biologischen Ausrichtung dieser aktuellen
Forschungsrichtung und entsprechend der Annahme, dass das moralische
Vermögen auf spezialisierten Gehimsystemen beruht, wird abweichendes
und kriminelles Verhalten im Wesentlichen als Folge einer anormalen Ver-
änderung bestimmter Gehimregionen angesehen. Diese biologischen Ab-
weichungen führen dazu, dass entweder das im Gehirn verankerte angebo-
rene moralische Vermögen (das moralische Organ) oder die Fähigkeit, nach
dem moralisch als richtig Erkannten zu handeln, beeinträchtigt wird. Ob die
evolutionäre Moralpsychologie hinsichtlich der Erklärung kriminellen Ver-
haltens letztlich über diesen Erkenntnisstand hinaus kommen wird, darf
bezweifelt werden.
Gewaltkriminalität - Ursachen und Wirkungen
HANS-]ÖRG ALBRECHT
J. Einführung
Gewalt tritt in sehr unterschiedlichen Formen auf, betrifft alle Gesell-
schaften und wird seit langer Zeit in Statistiken zusammengefasst, die ver-
schiedenen Zwecken dienen. 1 So zählt der (erste) Bericht der UNESCO
über das weltweite Ausmaß und Strukturen der Gewalt für das Jahr 2000
etwa 1,6 Millionen durch Gewalt verursachte Todesfälle. Davon geht die
Hälfte auf Suizid zurück, ein knappes Drittel betrifft Tötungsdelikte und
etwa ein Fünftel resultiert aus bewaffneten Konflikten. 2 Die regionale Ver-
teilung ist ebenso eindeutig wie die Verteilung der Gewalt entlang des Al-
ters, nach dem Geschlecht und dem ökonomischen Entwicklungsstand. 3 Es
sind vor allem die armen Länder, die unter der Gewalt leiden, 4 wobei als
Ausnahme die USA hervorzuheben sind. Werden in Ländern mit hohem
Einkommen etwa 14 Todesfälle durch Gewalt pro 100.000 gezählt, so sind
es in armen Ländern 32. 5 Männer repräsentieren 80% der Opfer von vor-
sätzlichen Tötungsdelikten; ein besonders hohes Risiko tödlicher Gewalt
wird für jüngere Altersgruppen vermerkt. 6 In entwickelten Regionen lassen
sich vergleichbare Verteilungen, wenn auch auf deutlich niedrigerem
Niveau, entlang sozio-ökonomisch unterschiedlich ausgestatteten Stadttei-
len nachweisen. 7
1 Von Trotha (Hrsg.) Soziologie der Gewalt. Sonderheft 37/1997 der Kölner Zeitschrift für
Soziologie und Sozialpsychologie.
2 KruglDahlberglMercy/ZwilLozano World report on violence and health, 2002, S. 10.
3 Ministry of Social Affairs and Health of Finland Fourth annual European meeting of vio-
lence and injury prevention national focal persons ofthe Ministries ofHealth, 2009, S. 5.
4 Allerdings überschneiden sich Armut und verschiedene Aspekte politischer Entwicklung
und Verfassung, vgl. hierzu beispw. Lafree/Tseloni The ANNALS of the American Academy
of Political and Social Science 2006, 605-625.
5 Krug u. a. (Fn. 2), S. 10.
6 Vgl. hierzu auch KershawlNicholaslWalker Crime in England and Wales 2007/08. Find-
ings from the British Crime Survey and police recorded crime, 2008, S. 6.
7 NieuwbeertalMcCalllElfferslWittebrood Homicide Studies 12 (2008), 90-116.
32 Hans-Jörg Albrecht
Aus einer historischen Perspektive wird dann deutlich, dass sich jeden-
falls in den europäischen Ländern die tödliche Gewalt deutlich reduziert
hat. 8 Der Rückgang liegt vor allem vor dem Beginn des 20. Jahrhunderts.
Seitdem sind die Tötungsdelikte relativ stabil. Das Ansteigen der Tötungs-
delikte in europäischen Ländern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
beruht offensichtlich auf kurzfristigen und nicht leicht erklärbaren Entwick-
lungen. 9 In Deutschland - wie in anderen europäischen Ländern - sinkt die
Rate vollendeter Tötungsdelikte seit Mitte der 1990er Jahre wieder, und
zwar bis auf 0,9/100.000 im Jahr 2008 und damit auf den Stand der 1950er
und 1960er Jahre. 10
Mit der langfristigen Abnahme ist in Europa vor allem eine Veränderung
in der Struktur der Tötungsdelikte verbunden, die heute ganz überwiegend
als soziale Nahraumsdelikte auftreten. Täter und Opfer kennen sich und
sind häufig miteinander verwandt. Die Tötung zwischen Fremden wird
dagegen zu einer Randerscheinung. 11
111. Wie kommt Wissen über Gewalt zustande und was wissen
wir über Entwicklung und Struktur der Gewalt?
Die Gewaltforschung zeigt zwei Linien auf. Forschungen über Gewalt,
die an dichten Beschreibungen und dem Verstehen von Gewaltphänomenen
selbst interessiert sind,22 entwickeln sich neben auf quantitative Ausprägun-
gen ausgerichteten Untersuchungen, die sich - bei einer besonderen Fokus-
sierung auf die Schule - seit etwa 20 Jahren auf junge Menschen konzent-
rieren. Die kriminologische Forschung hat sich allerdings in der
Untersuchung individualisierter Gewalt fast ausschließlich auf quantitative
Methoden gestützt.
21 Vgl. dazu Art. 222 - 33-3 des französischen Strafgesetzbuchs, wo für Aufnahmen von
Gewaltdelikten und ihre Verbreitung Kriminalstrafe angedroht wird.
22 Sofsky Traktat über die Gewalt, 2005 ~ zusammenfassend v. Trotha (Fn. 1).
36 Hans-Jörg Albrecht
Zur Beobachtung der Entwicklung und der Struktur von Gewalt stehen
verschiedene Instrumente zur Verfügung. Neben den Kriminal- und Ge-
sundheitsstatistiken geben seit etwa 50 Jahren so genannte Selbstberichts-
und Opferuntersuchungen Auskunft über individuelle Gewaltkriminalität.
Sowohl die Polizeilichen Kriminalstatistiken als auch Gesundheitsstatisti-
ken, die über Todesursachen Auskunft geben, zeigen, dass die schwerste
Gewalt, insbesondere Tötungsdelikte langfristig zurückgeht und jedenfalls
in den letzten Jahrzehnten stabil bleibt. Im Kern handelt es sich dabei in
europäischen Ländern um Gewalt, die im sozialen Nahraum auftritt. Tötun-
gen zwischen Fremden werden zu einem Randphänomen.
Die Polizeiliche Kriminalstatistik bietet in Deutschland (sowie in anderen
Ländern) die einzige Datenquelle, an Hand derer die Entwicklungen be-
stimmter Gewaltdelikte langfristig beobachtet werden können. Dabei stehen
zwei Delikte im Mittelpunkt, die in der jährlichen Präsentation der Polizei-
statistiken und in der öffentlichen Diskussion besondere Aufmerksamkeit
finden. Eine starke Zunahme zeigen Körperverletzungsdelikte und der
Raub. Bei beiden Gewaltdelikten sind es Taten im öffentlichen Raum und
auf der Straße, die zunehmend registriert werden. Keine signifikanten Ver-
änderungen ergeben sich für sexuelle Gewaltdelikte. Der Sexualrnord
nimmt im Übrigen zwischen 1987 und 2008 deutlich ab. Raubdelikte stei-
gen langfristig bis Ende der 1990er Jahre. Ein besonders starkes Ansteigen
ist dann in den 1990er Jahren festzustellen. Dies geht teilweise auf jugendli-
che Straftäter zurück, die gerade im Zusammenhang mit Straßenraub häufig
auffallen. Schwere Formen des Raubs (z. B. Bankraub) verändern sich da-
gegen kaum. Der Zuwachs an polizeilich registrierten Raubdelikten wird
wohl zum größeren Teil mit der Zunahme des Straßenraubs und der Zu-
nahme von Raubstraftaten mit relativ geringen Schäden erklärt werden
können. 23
Eine langfristige und deutliche Zunahme ist auch bei Körperverletzungs-
delikten zu erkennen. Körperverletzungsdelikte gehen, anders als dies bei
Raub der Fall ist, seit Anfang des neuen Jahrtausends nicht zurück, sondern
steigen weiter an. Auch hier ist es die Gewalt im öffentlichen Raum, auf der
Straße, die besonders stark zunimmt.
Die starke Zunahme von Raub- und Körperverletzungsdelikten hat eine
Diskussion über deren Ursachen ausgelöst. Die Diskussion geht zurück auf
ein bekanntes Problem der Polizeilichen Kriminalstatistik und eine damit
zusammenhängende Unsicherheit in der Bewertung von Veränderungen in
der Zahl erfasster Straftaten. 24 Die Polizeiliche Kriminalstatistik registriert
angezeigte Straftaten. Sie ist also abhängig von der Anzeigebereitschaft der
31 Hardiman u. a. Youth and exclusion in disadvantaged urban areas: addressing the causes
of violence, 2004.
32 DIE ZEIT, 19.03.2009, Nr. 13.
33 Albrecht, H.-i. Schweizerische Zeitschrift für Kriminologie 1 (2002),5-17.
34 Poffenberger The Scientific Monthly 12 (1921), 336-339.
Gewaltkriminalität - Ursachen und Wirkungen 39
Geht man diese Kandidaten der Reihe nach durch, wird man durchaus
empirische Belege für Zusammenhänge mit Gewaltkriminalität finden. Es
ist bekannt, dass ein großer Anteil von Gewalttätern bei der Tatbegehung
alkoholisiert war. Dasselbe gilt allerdings für die Opfer von schwerer Ge-
walt. 35 Wir wissen auch, dass ein erheblicher Teil vor allem jugendlicher
Gewalttäter häufig mit gewalttätigen Computerspielen und dem Betrachten
von Gewaltfilmen beschäftigt ist. Nach einer intensiven Berichterstattung
über spektakuläre Gewalt nehmen teils entsprechende Gewalttaten zu, wie
nach den fremdenfeindlichen Anschlägen von Lichtenhagen zu beobachten
war,36 teils werden vermehrt Drohungen registriert, wie regelmäßig bei
Amokläufen festzustellen ist. Vermutet werden in diesem Zusammenhang
Nachahmungs- und Mobilisierungseffekte, die wohl darauf zurückzuführen
sind, dass eine bereits vorhandene Bereitschaft zur Gewalt gestützt und
ermutigt wird. 37 Im Übrigen ergeben sich Hinweise für andere Formen der
"Ansteckung" durch Gewalt. Forschungen zu erlebter Gewalt im Stadtteil
(die unabhängig ist von der Gewalt in intimen Beziehungen) belegen, dass
junge Menschen, die schwere Gewalt auf der Strasse erleben, mit höherer
Wahrscheinlichkeit selbst Gewaltstraftaten begehen werden. 38
Mit der Feststellung eines (empirischen) Zusammenhangs ist allerdings
noch nichts über einen Ursachenzusammenhang ausgesagt. Denn die Aus-
sagen können auch umgekehrt werden in der Feststellung, dass die meisten
Uungen) Menschen, die häufig Gewaltcomputerspiele spielen oder Gewalt-
filme betrachten, nicht gewalttätig werden. 39 Zwar belegen neuere Meta-
Analysen Zusammenhänge zwischen Aggression/Gewalt und Betrachten
(bzw. "Konsum") von Gewaltfilmen 40 sowie dem Engagement in Video-
spielen. 41 Auch sind die möglichen theoretischen Erklärungen für kurz- und
langfristige Folgen gewalttätiger Medien ausgearbeitet. 42 Doch bleibt es im
Wesentlichen bei Laborexperimenten sowie Untersuchungsansätzen, in
denen die angenommenen theoretischen Hypothesen nicht getestet werden
und der Feststellung von Korrelationen, die bislang jedenfalls nicht dazu
ausgereicht haben, amerikanische Richter von der Rechtfertigung eines
Eingriffs in den Zusatzartikel zur Verfassung durch Zugangsbeschränkun-
35 Vgl. beispw. Kerner in: Egg/Geisler (Hrsg.), Alkohol, Strafrecht und Kriminalität, 2000,
S. 11-26.
36 Lüdemann Soziale Probleme 3 (1992), 137-153.
37 Vgl. hierzu auch Surette Crime & Delinquency 48 (2002), 46-68.
38 BingenheimerlBrennan/Earls Science 308 (2005), 1323-1326.
39 Olson Academic Psychiatry 28 (2004), 144-150.
40 Paik/Comstock Commun Res 21 (1994), 516-546.
41 AndersonlBushman Psychological Science 12 (2001), 353-359~ AndersonlBushman
Science 295 (2002), 2377-2379.
42 Huesmann The Journal of Adolescent Health 41 (2007),6-13.
40 Hans-Jörg Albrecht
43 Lesenswert die Entscheidung United States Court 0/ Appeals/or the Seventh Circuit, No.
00-3643, American Amusement Machine Association et al. v. Teri Kendrick et al., in der die
Handschrift William Posners zu erkennen ist.
44 Popit= Phänomene der Macht, 1992, S. 50.
45 1mbusch Journal für Konflikt- und Gewaltforschung 7 (2005), 99-122.
46 Von Trotha (Fn. 1), S. 9-58,18.
47 SweetenlBushwaylPaternoster Criminology 47 (2009),47-92. Der starke Zusammenhang
zwischen Schulabbruch und Kriminalität \vird fast ausschließlich durch früher liegende Prob-
leme (frühe Verhaltensauffälligkeiten, lang andauernde Schulprobleme, polizeilich registriertes
kriminelles Verhalten) erklärt (S. 77).
Gewaltkriminalität - Ursachen und Wirkungen 41
48 Eurobarometer 51.0: Europeans and Violence Against Children. Report by INRA (Eur-
ope), 4. Juni 1999, S. 57: etwa drei Viertel der Befragten gehen davon aus, dass in der als Kind
erfahrenen Gewalt eine Ursache der Gewalt liege.
49 Spatz Widom Science 244 (1989), 160-166.
50 Weher Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, 2005; Blass Ho-
locaust and Genocide Studies 7 (1993), 30-50.
51 BoltonlReichlGutierres Victimology 2 (1977), 349-357.
52 Spatz WidomlMaxfield An Update on the "Cycle of Violence". Results of a longitudinal
study, 2001.
42 Hans-Jörg Albrecht
v. Zusammenfassung
Das Aufgreifen von Gewalt durch die Kriminologie ist selektiv und wohl
sehr stark bedingt durch eine soziale Sensibilisierung fur Gewalt, die trotz
einer langfristigen Abnahme von Gewalt vor allem auf die individuelle
Gewalt junger Menschen ausgerichtet ist. Sichere Gewaltursachen, die über
Wahrscheinlichkeitszusammenhänge hinausgehen, lassen sich nicht identi-
fizieren; dies ist angesichts der Vielfältigkeit von Gewaltphänomenen er-
wartungsgemäß. Gewalt konzentriert sich in bestimmten Gruppen (und
Regionen), sie ist sehr stark von sozialen Kontexten und Situationen abhän-
gig, zu denen auch das Strafrecht gehört. Phänomene vergeltender Gewalt,
von Gewaltmärkten und instrumenteller Gewalt verweisen auf die Bedeu-
tung der Akteure, die bislang in den quantitativen Analysen der Gewalt nur
ganz undeutlich zu erkennen sind. Gewalt ist schließlich immer mit (Akti-
ons-)macht verbunden. Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf Rechtfertigungs-
systerne der Gewalt. Gewalt wird vor allem dort zu einem besonderen Prob-
lem, wo schützende Faktoren in der Umgebung und in der Person fehlen.
86 Silke Studies in Conflict & Terrorism 21 (1998), 331-361 ~ Schbley Studies in Conflict &
Terrorism 23 (2000), 175-196~ Friman (Fn. 85), 207.
87 Naylor (Fn. 14),238 ff.
So genannte "Amokläufe" aus
kriminologischer Sicht
BRITTA BANNENBERG
I. Einleitung
Die empirische Erforschung von Tötungsdelikten, die Amokläufe genannt
werden, ist mit methodischen Schwierigkeiten verbunden. Der Begriff
"Amok" ist unpassend, womit sich die Frage stellt, welche Phänomene zu
untersuchen sind. Die auf malaiische Ursprünge zurückgeführte Definition
einer Tat mit tödlichen Folgen, die unvermutet, spontan, nicht geplant und
willkürlich geschieht, gefolgt von Amnesie, Erschöpfung oder Suizid, ist
nur historisch interessant. L2 Diese Merkmale treffen auf die hier interessie-
renden (versuchten und vollendeten) Tötungsdelikte nicht zu. Weder han-
delt es sich um spontane, unvermutete Taten, noch ist nach der Tat eine
Amnesie festzustellen. Fälle, die das Etikett "Amok" (meistens durch die
Medien) angehängt bekommen, sind im schulischen Bereich lange geplante
Gewalttaten mit übersteigerten Hass- und Rachephantasien, die meistens im
ebenfalls geplanten Suizid enden. Das Motiv erschließt sich nicht (in man-
chen Fällen nie), und gerade deshalb geschehen diese Taten für Außenste-
hende völlig unerwartet. Im Falle der Schulen werden Tötungsdelikte an als
sicher geglaubten Orten begangen und tragen damit zu einer erheblichen
gesellschaftlichen Verunsicherung bei. Und es gibt Nachahmungseffekte,
die die Besonderheit dieser Tötungsdelikte kennzeichnen. Täter kalkulieren
bewusst die Wirkung ihrer Tat in den Medien, auch wenn sie den Suizid
mitplanen und durchführen. Sie weichen in ihrem Risikoprofil deutlich von
Intensivgewalttätem ab und zeigen deshalb im Vorfeld keine oder nur ge-
ringfügige aggressive Verhaltensauffalligkeiten. In der Analyse fiel das
I Für die historische und kulturelle Betrachtung sind die Beiträge von Knecht Kriminalistik
1998, 681-684~ Weilbach Kriminalistik 2007, 119-127~ Adler Amok. Eine Studie, 2000 und
Adler in: Wolfersdorf/Wedler (Hrsg.), Terroristen - Suizide und Amok. 2002, S. 60-72 jeweils
m. w. N. interessant.
2 Dilling/Freyberger Taschenführer zur ICD-l 0 Klassifikation psychischer Störungen 2008,
Stichwort Amok; der Begriff wird in Lexika skizziert, entspricht aber keinem Merkmal in
psychiatrischen Diagnosesystemen.
50 Britta Bannenberg
3 Robert::: School Shootings. Über die Relevanz der Phantasie für die Begehung von Mehr-
fachtötungen durch Jugendliche, 2004, S. 19 f. unter Berufung auf amerikanische Studien. Der
präferierte Begriff wird inhaltlich nicht näher erläutert und soll zudem - widersprüchlich -
"Tötungen oder Tötungsversuche durch Jugendliche an Schulen, die mit einem direkten und
zielgerichteten Bezug zu der jeweiligen Schule begangen werden", umfassen, a.a.O. S. 21.
4 Newman/Fox/Harding/Mehta/Roth Rampage. The Social Roots of Schoal Shoatings, 2004.
So genannte "Amokläufe" aus kriminologischer Sicht 51
111. Ergebnisse
1. Charakteristika und Auffälligkeiten der Täter sowie typische
Konstellationen
Anders als der Begriff Amok mit malaiischem Ursprung vermuten lässt,
sind die in Frage stehenden Mehrfachtötungen weder spontan und unvor-
hersehbar noch in "Raserei" begangen worden, auch lag bei noch lebenden
Tätern keine Amnesie vor. Die Taten waren in der Regel lange geplant. Aus
der Einzelfallanalyse bisheriger Taten 10 fallen Parallelen bei den jungen -
9 Gaertner Ich bin voller Hass - und das liebe ich. Dokumentarischer Roman. Aus den Ori-
ginal-Dokumenten zum Attentat an der Columbine Highschool, 2009. Die Original Colum-
bine-Dokumente mit 10.937 Seiten aus den polizeilichen Ermittlungsakten des Jefferson
County Sheriffs Office sowie 946 Originalseiten aus den Hinterlassenschaften der Täter
wurden im Internet veröffentlicht. Zum Fall an der Virginia High Tech im April 2007 haben
die Familien der Opfer eine große Zahl der 14.000 Seiten Originaldokumente auf der Seite
"Collegiate Times" veröffentlicht. Langman Amok im Kopf. Warum Schüler töten, 2009, der
über Begutachtungen potenzieller Amokläufer berichtet. Ein eher auf Prävention gerichteter
Praxisbericht eines Pädagogen zum Fall Woodham (Mississippi 1997) und den Folgen wurde
2009 publiziert: Dodson If Only I Had Known, 2009.
10 Ausführlich Bannenberg (Fn. 5).
So genannte "Amokläufe" aus kriminologischer Sicht 53
zufällig den Tod. Die Jungen befassten sich lange Zeit Init den Themen
Tod, auch Suizid, hatten depressive Gedanken, aber auch Gewalt- und Ra-
chephantasien. Immer wieder ging es um Rächerfiguren (Neo aus Matrix,
The Crow, Final Fantasy, auch Jason und andere Figuren). Die in den Fil-
men auffälligen schwarzen Mäntel deuten auf Aspekte der Nachahmung
von oder Identifikation mit fiktiven Helden und Rächern, aber auch auf
andere Amokläufe (Trenchcoat-Mafia, Columbine) hin, insbesondere die
Inszenierung der Täter in selbst gedrehten Videos und mit Bildern im Inter-
net mit schwarzem martialischen Outfit und Waffen weist auf den Wunsch
nach Darstellung der eigenen Macht und Großartigkeit hin. Schließlich ist
der von Zimbardo 14 deutlich gemachte Aspekt der Maskierung zu beachten:
Unter der Maske des Helden und in der vermeintlichen Anonymität steigert
sich die Aggression und können Tötungsdelikte leichter begangen werden.
Das Thema "schwarz" spiegelt hier also die Beschäftigung der Jungen mit
Gewalt und Tod wider und zeigt die Vermischung virtueller Welten, Tö-
tungsphantasien und fortgeschrittene Phasen der Tatplanung an. Es handelt
sich nicht um Kleidung, die die Zugehörigkeit zu einer Subkultur (etwa
Gothic, Blackmetal, Satanisten) verdeutlicht. Die späteren Täter waren
Einzelgänger, die gerade keiner Jugendgruppe oder Subkultur zugeneigt
waren, sondern sich im Gegenteil einzigartig und großartig fühlten.
14 Zimbardo in: Miller (Hrsg.), The SociaI Psychology ofGood and EviI, 2004, 21-50.
So genannte "Amokläufe" aus kriminologischer Sicht 59
15 Lempp Nebenrealitäten. Jugendgewalt aus Zukunftsangst, 2009, zur Bedeutung der Ge-
waltphantasien ängstlicher Individuen.
16 Vgl. zu Selbstmordattentätern Stern Terror in the Name ofGod, 2004.
17 Allgemein SchallerlSchmidtke in: Röhrle/Caspar/Schlottke (Hrsg.), Lehrbuch der kli-
nisch-psychologischen Diagnostik, 2008, S. 495-512.
So genannte "Amokläufe" aus kriminologischer Sicht 61
18 Vgl. eine Fallschilderung bei Saimeh in: dies. (Hrsg.), Zukunftswerkstatt Maßregelvoll-
zug. 23. Eickelborner Fachtagung, 2008, S. 299-313.
62 Britta Bannenberg
meh. 22 Dieses Muster fand sich bei den Tätern recht deutlich. Sie verachte-
ten die Mitschüler, Lehrer, schließlich die Gesellschaft in arroganter, gänz-
lich überzogener Weise. Einige betonten ihre eigene Intelligenz, die es er-
mögliche, ohne Mühen die Versetzungen zu erreichen. Lehrer wurden zu
Feindbildern, da sie nicht in der Lage seien, diese Intelligenz und Beson-
derheit des Schülers zu erkennen, sondern grundsätzlich bei schlechter Be-
notung blieben. Vor Gericht waren es die Richter und Gutachter, die es
nicht wert seien, eine Aussage über die wahren Befindlichkeiten und Ein-
zelheiten des Tatablaufs zu hören, weil für sie das Urteil und die Höhe der
Strafe doch von vornherein festgestanden habe. "Was geht die das dann
überhaupt an, wie ich denke?" Im Vollzug werden die Psychotherapeuten
und Psychologen als die letzten betrachtet, denen eigene Gedanken offen-
bart würden. Sei seien ohnehin nicht in der Lage zu verstehen. Es ginge nur
darum, schnell wieder entlassen zu werden, da reiche oberflächliche Anpas-
sung aus.
Die Lebensvorstellungen, soweit sie sich rekonstruieren lassen, gehen mit
der Verweigerung des normalen Lebens einher, der Abwertung von Lebens-
entwürfen der Eltern und anderer "normaler" Menschen. Die Schule zu
bewältigen, zu arbeiten und einen strukturierten Tagesablauf zu haben,
dabei auch anerkennen zu müssen, dass andere Macht ausüben, ist geradezu
unerträglich und wird abgelehnt. 23 Statt eines spießigen Lebens nach dem
Motto "SAART" (Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod) wurde in kruder
Weise auf völlige Freiheit ohne gesellschaftliche Zwänge gepocht. 24 Diese
Freiheit ist allerdings vollkommen unrealistisch (was wohl auch in Ansät-
zen gesehen wird) und dabei werden Verletzung und Tötung anderer nicht
nur hingenommen, sondern zum eigentlichen Zweck, es der verhassten
Gesellschaft zu zeigen. Selbstbilder als "Natural Selector"25, Bewunderun-
gen der menschenfeindlichen Aussagen der Columbine-Attentäter und Äu-
ßerungen wie die folgende zeigen die destruktive Variante dieses Störungs-
bildes sehr deutlich (wörtlich): " ... Und ferner projiziere ich meinen Hass
auf die Regierung, und zu guter Letzt selbst auf die gesamte Menschheit.
Konsumgeile Mitläufer, die sich durchs Leben kaufen und nur in der Menge
stark fühlen .... ICH HASSE DIE MENSCHEN - DIE MENSCHEN SOL-
LEN STERBEN!"
I. Ausgangsüberlegungen
Der Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik zeigt, dass jugendliche
Mädchen deutlich seltener zu körperlicher Gewalt greifen als Jungen. So
wurden im Jahr 2008 in Deutschland 7.328 Mädchen als Tatverdächtige der
Gewaltkriminalität registriert gegenüber 36.246 Jungen. Pressemeldungen
erwecken allerdings den Eindruck, als ob die Gewalt unter Mädchen deut-
lich zugenommen hat und dass es zu einer Angleichung männlicher und
weiblicher Verhaltensmuster gekommen ist. "Mädchen schlagen zu" titelte
der Tagesspiegel am 7.2.2007. "Schülerinnen verabreden Schlägerei" war
im Hamburger Abendblatt vom 29.1.2009 zu lesen. Die Autoren dieser und
anderer Artikel waren sich in einem Punkt einig: Die Mädchengewalt wird
offenbar immer bedrohlicher.
Wissenschaftliche Studien vermitteln zu dieser Frage allerdings kein ein-
heitliches Bild. So konstatieren Bruns und Wittmann 1, dass es zwar einen
Anstieg weiblicher Gewaltdelinquenz gibt; ob dies aber auch zu einer Ver-
ringerung der Geschlechtsunterschiede im Gewaltverhalten führt, sei frag-
lich: "Neben Hinweisen auf stabile oder sinkende Tendenzen gibt es auch
Anzeichen für zunehmende Unterschiede" (S. 51). Für die USA berichten
Steffensmeier et al. 2 anhand von Hell- und Dunkelfelddaten, dass es weder
einen Anstieg der Mädchengewalt gegeben hat, noch dass es zu einer Annä-
herung zwischen Jungen und Mädchen im Gewaltverhalten gekommen ist.
Stattdessen konstatieren sie, dass Mädchengewalt häufiger durch Polizei
und Gerichte kriminalisiert wird und dass insgesamt die Toleranz gegenüber
der Mädchengewalt gesunken ist. Diese Entwicklungen haben zur Folge,
dass mehr Mädchengewalt ins polizeiliche Hellfeld gelangt und dass sich
damit der Geschlechterunterschied nur in den Hellfeldstatistiken verringert.
Wir möchten nachfolgend überprüfen, welche Entwicklung sich für
Deutschland zeigt, wenn entsprechende Analysen durchgeführt werden.
12,0
9,4 9,6
10,0
8,0
6,0
4,0
2,0
0,0
Gewaltdelikte Eigentumsdelikte
Auf der rechten Seite der Abbildung 1 ist dieselbe Information rur Eigen-
tumsdelikte aufgeführt. Bei beiden Delikttypen ergibt sich eine zentrale
Folgerung: Je schwerer eine Straftat ist, umso deutlicher dominieren die
Jungen die Tatverdächtigenbelastungszahlen. Bei Mord übersteigt die
TVBZ der Jungen die der Mädchen um das 9,4fache, zum Raub zeigt sich
Gewalt durch Jungen und Mädchen 71
eine 8,2fache Dominanz. Beim Totschlag liegt die TVBZ der Jungen um
das 7,1 fache über der TVBZ der Mädchen. Bei der gefährlichen/schweren
und bei der einfachen Körperverletzung reduziert sie sich die Jungendomi-
nanz auf das 4,3- bzw. 3,1 fache. Im Hinblick auf die Eigentumsdelikte fällt
die Diskrepanz zwischen schweren und leichten Delikten noch stärker aus.
Einer im Vergleich zu den Mädchen 9,6-fachen TVBZ der Jungen beim
schweren Diebstahl steht beim Ladendiebstahl ein Gleichstand der Ge-
schlechter gegenüber.
Zu ausgewählten Delikten soll anhand der Daten der Polizeilichen Krimi-
nalstatistik ferner in der nachfolgenden Tabelle 1 eine Längsschnittanalyse
präsentiert werden, bei der wir uns aus Platzgründen auf die Jahre 1993,
2000 und 2008 beschränken.
1993
..................• ••• • ••••
75 u
8 4,4 0,5 - ..
2000 84
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. , •
10·• •••••• • H
4,5 "
0,6 .
2000 33359
...............................................................................u
5191 H
1780,9 292,7 .
Auch im Hinblick auf die Längsschnittdaten zeichnet sich ein klarer Be-
fund ab. Beim schwersten Delikt, dem Mord, ist die Dominanz der Jungen
gegenüber den Mädchen im Vergleich von 1993 und 2008 geringfügig
angestiegen (von einer 8,8fachen auf eine 9,4fache TVBZ). Bei der insge-
samt registrierten Gewaltkriminalität ist sie im Verlauf der 15 Jahre um
etwa ein Drittel gesunken (von einer 7,Ofachen auf eine 4,7fache TVBZ).
Ein entsprechendes Bild zeigt sich zum schweren Diebstahl. Die 14,7fache
72 Christian Pfeiffer / Dirk Baier
Dominanz der Jungen aus dem Jahr 1993 reduziert sich auf das 9,6fache im
Jahr 2008. Bei der einfachen Körperverletzung ist der Annäherungsprozess
der Geschlechter noch ausgeprägter (vorn 5,1 fachen auf das 3, 1fache). Zum
Ladendiebstahl zeigt sich schließlich der relativ betrachtet stärkste Anglei-
chungsprozess der Mädchendelinquenz zu der der Jungen. Der 1,8fachen
TVBZ des Jahres 1993 steht 2008 gegenüber, dass die Mädchen erstmals
geringfügig dominieren (TVBZ: 1728,2 zu 1717,4).3 Ingesamt betrachtet
zeigt sich damit, dass es im Verlauf der letzten 15 Jahre bei der registrierten
Jugendgewalt durchaus einen Annäherungsprozess der Tatverdächtigenbe-
lastungsziffem gegeben hat. Entsprechendes wird auch zu den Diebstahls-
delikten erkennbar. Diese Angleichung fällt allerdings bei den leichten
Delikten jeweils erheblich stärker aus als bei den schweren Delikten und ist
beim Mord im Vergleich von 1993 zu 2008 nicht eingetreten.
Zur insgesamt registrierten Gewaltdelinquenz von Jungen und Mädchen
soll diese Längsschnittentwicklung in der nachfolgenden Abbildung 2 für
den gesamten Zeitraum von 1993 bis 2008 dargestellt werden.
Die Verlaufsformen für die beiden Geschlechter demonstrieren, dass es
sowohl bei den Jungen als auch bei den Mädchen zu einem deutlichen An-
stieg der TVBZ gekommen ist. Er fällt bei den Mädchen mit einer Zunahme
um das 2,8fache allerdings höher aus als bei den Jungen (Zunahme um das
1,9fache). Auf der anderen Seite zeigt sich, dass im Verhältnis von Jungen
und Mädchen der Abstand der Gewaltbelastung im Laufe der 15 Jahre grö-
ßer geworden ist: 1993 überstieg die TVBZ der Jungen die der Mädchen um
911, im Jahr 2008 dagegen um 1585. Der in der Abbildung relativ starke
Anstieg der polizeilich registrierten Mädchengewalt beruht also auch auf
dem sehr niedrigen Ausgangsniveau, das sich für die weiblichen Jugendli-
chen im Jahr 1993 ergeben hat.
Die bisherige Analyse der Hellfelddaten stützt die Annahme, dass die
Gewaltdelinquenz von Jungen insgesamt betrachtet eine größere Tatschwe-
re aufweist als die der Mädchen. Davon ausgehend leitet sich die Annahme
ab, dass sich zu männlichen Tatverdächtigen der Gewaltdelikte eine höhere
Anklage- und Verurteiltenquote ergeben müsste als zu weiblichen. Wir
haben daher zusätzlich eine Auswertung der Strafverfolgungsstatistik
durchgeführt. In Abbildung 3 ist dargestellt, wie die Verurteiltenzahl der
Jungen die der Mädchen im Bereich der Raubtaten bzw. Erpressungen so-
wie der gefahrlichen Körperverletzungen in den Jahren 2000 bis 2008 über-
steigt. Die Verurteiltenzahl gibt an, wie viel Personen pro 100.000 der AI-
tersgruppe wegen eines bestimmten Delikts verurteilt worden sind.
In Abbildung 3 ist erstens erkennbar, dass im Vergleich zum Verhältnis
der Tatverdächtigenbelastungszahlen die Verhältnisse bei den Verurteilten-
zahlen noch einmal stärker zuungunsten der Jungen ausfallen: Überstieg die
TVBZ der Jungen bei der gefahrlichen/schweren Körperverletzung im Jahr
2008 die der Mädchen um das 4,3 fache, findet sich bei der Verurteiltenzahl,
dass die der Jungen die der Mädchen um das 5,8fache übersteigt; gleiches
gilt für den Raub/die Erpressung. 4 Zweitens sind auch in der Strafverfol-
4 Zu beachten ist, dass die Kategorien der Kriminalstatistik und die Kategorien der Strafver-
folgungsstatistik nicht deckungsgleich sind. Der PKS-Schlüssel für die gefährlichen/schweren
Körperverletzung ist 222000 und für Raub 21 OOOO~ aus der Strafverfolgungsstatistik wurden
die nach § 224 Abs. 1 (gefährliche Körperverletzung) und nach § 249-256 sowie § 316a
(Raub/Erpressung) verurteilten Jugendlichen für die Auswertungen herangezogen.
74 Christian Pfeiffer I Dirk Baier
14,0
12,1 12,0
12,0
10,0
8,0 7,2
6,0
4,0
2,0
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007* 2008*
höher als bei den Mädchen: Bei Raubdelikten hatten 35,2 % der Jungen,
aber nur 22,3 % der Mädchen bereits eine Verurteilung erlebt, bei den ge-
fährlichen Körperverletzungen betragen die Quoten 24,2 und 13,4 %.5 Die
Jungen dominieren bei der Gruppe derjenigen, die drei und mehr frühere
Verurteilungen aufweisen, die also in kriminelle Karrieren hineingewachsen
sind (Raubdelikte 9,7 zu 5,3 %, gefährliche Körperverletzungen 5,3 zu
2,0 %). Bei den Mädchen wirkt sich offenkundig die Erfahrung, wegen
einer Gewalttat angeklagt und verurteilt zu werden, stärker als bei den Jun-
gen als eine Art "Stopp-Signal" aus. Es mangelt allerdings an wissenschaft-
lichen Untersuchungen dazu, worin ihre geringere Rückfalltendenz begrün-
det ist.
Die Auswertungen der Hellfelddaten belegen zusammengefasst erstens,
dass es in den letzten Jahren zu einer Angleichung der Belastungszahlen
von Jungen und Mädchen in verschiedenen Deliktsbereichen, d.h. auch im
Bereich der Gewaltdelikte, gekommen ist. Bei schweren Straftaten, insbe-
sondere beim Mord ist eine solche Entwicklung allerdings nicht sichtbar;
zudem hat die Entwicklung auch nur in einem Deliktsbereich, dem Laden-
diebstahl, dazu geführt, dass Jungen und Mädchen mittlerweile gleich häu-
fig als Täter polizeilich registriert werden. Bei den anderen betrachteten
Straftaten dominieren weiterhin, z. T. sehr deutlich, die männlichen Täter.
Zweitens wird die Angleichung der Tatverdächtigenbelastungszahlen nicht
im selben Ausmaß in den Verurteiltenzahlen sichtbar. Eine mögliche Erklä-
rung für die Diskrepanz könnte sein, dass heute häufiger minderschwere
Mädchengewalt zur Anzeige gelangt, die keine Verurteilung zur Folge hat.
40,0
30,0
3,6
• • • • •
2,8 2,8 2,7
O\~
C'l
2,8
.. ..
3,3 4,0
20,0
10,0
0,0
Über alle Städte hinweg ergibt sich auch fur einzelne Gewaltformen ein
Rückgang: Der Anteil an Raubtätern ist ebenso gesunken wir der Anteil an
Schülern, die Körperverletzungen begangen haben. Mehrfachgewalttäter,
d.h. Schüler, die fünf und mehr Gewalttaten begangen haben, gibt es heute
ebenfalls weniger als noch 1998 (5,9 zu 4,5 %).
Damit widersprechen die Befunde der Dunkelfeldforschung zum einen
den Entwicklungen, die auf Basis der Polizeilichen Kriminalstatistiken
berichtet wurden, die zumindest im Bereich der Körperverletzungen einen
deutlichen Anstieg der Gewaltbereitschaft ausweisen. Zum anderen zeigt
Abbildung 4 auch im Hinblick auf die Gewaltraten von Jungen und Mäd-
chen einen anderen Trend als er sich in der Polizeilichen Kriminalstatistik
ergibt: Im Dunkelfeld ist eine Angleichung der Gewaltbereitschaft der Ge-
schlechter nicht feststellbar. Das "Gender Gap" ist 2005/06 etwa genauso
groß wie 1998. Im Bereich der Raubtaten und der Mehrfachtäter nimmt der
Geschlechterunterschied sogar weiter zu, d.h. der Rückgang der Gewaltbe-
reitschaft fällt bei den Mädchen noch stärker aus als bei den Jungen.
Die überwiegend positiven Trends zur Entwicklung der selbstberichteten
Jugendgewalt finden ihre Entsprechung im Anstieg präventiv wirkender
Faktoren und im Sinken gewaltfördernder Lebensbedingungen der Jugend-
lichen. Für drei Faktoren ergeben sich nachweislich positive Trends - für
Jungen ebenso wie für Mädchen: 9 Erstens ist der Anteil an Jugendlichen
gesunken, die Gewaltopfererfahrungen machen mussten; der Kreislauf der
Gewalt wird also häufiger durchbrochen. Parallel dazu steigt zweitens der
Anteil an Jugendlichen, die innerhalb der letzten zwölf Monate in der Fami-
lie völlig gewaltfrei erzogen worden sind, d.h. die auch keine leichte Gewalt
in Form von bspw. Ohrfeigen oder Stößen erleben mussten. Drittens geht
der Anteil an Schülern zurück, die eine Hauptschule besuchen und damit
eine Schulform, die sich aufgrund der dort hohen Konzentration von famili-
är und sozial stark belasteten Jugendlichen bei multivariaten Analysen zur
Erklärung von Mehrfachgewalttäterschaft als Risikofaktor erwiesen hat. 10
Eine Erklärung dafür, warum sich Hellfeld- und Dunkelfeldstatistiken in
unterschiedlicher Weise entwickeln, kann gefunden werden, wenn wir die
Veränderungen in der Anzeigequote betrachten. In Abbildung 5 ist am Bei-
spiel der Anzeigequote bei Körperverletzungen aufgeführt, wie sich diese
über die Jahre hinweg verändert hat. ll Demnach wurden im Jahr 1998 nur
16,1 % der Körperverletzungen zur Anzeige gebracht, 2005/2006 hingegen
bereits 20,2 %, also ein Viertel mehr. Aus einem gleichbleibenden bzw.
rückläufigen Dunkelfeld gelangen also überproportional mehr Taten zur
Anzeige; im Hellfeld nimmt in der Konsequenz die Jugendkriminalität zu.
Dabei sind männliche wie weibliche Opfer heute häufiger bereit, die erlebte
Körperverletzung zur Anzeige zu bringen. Bei weiblichen Opfern steigt die
Anzeigquote von 17,9 auf 21,8 %, bei männlichen Opfern von 15,3 auf
19,3 %.
30,0
25,0
20,0
]5,0
10,0
5,0
0,0
1998 2005/06
Anzeige:
Betrachten wir die Entwicklung der Anzeigequote getrennt nach dem Ge-
schlecht des Angreifers, so erhalten wir zusätzlich eine Begründung dafür,
dass trotz weitgehender Konstanz des Geschlechterverhältnisses im Dunkel-
feld, im Hellfeld eine Annäherung der Geschlechter zu beobachten ist: Das
Risiko, nach einer Tat bei der Polizei angezeigt zu werden, ist für weibliche
Täter weit stärker angestiegen als fur männliche Täter. Vor allem dann,
wenn weibliche Opfer von weiblichen Tätern angegriffen werden, ist die
Anzeigebereitschaft mittlerweile besonders hoch. Dies spricht dafür, dass
sich die Sensibilität gegenüber der Mädchengewalt überproportional erhöht
hat, die Toleranz gegenüber der Mädchengewalt ist gesunken.
Die Dunkelfelddaten relativieren damit den in der Polizeilichen Kriminal-
statistik aufscheinenden Trend der Angleichung des Gewaltverhaltens von
Jungen und Mädchen. Gewaltbereite Mädchen werden nicht häufiger, son-
dern sichtbarer. Es bleibt abzuwarten, ob sich möglicherweise in den nächs-
ten Jahren das "Gender Gap" im Hellfeld wieder vergrößern wird. Wie
Abbildung 5 zeigt, haben männliche Gewalttäter zumindest in den vier
untersuchten Städten ein deutlich geringeres Risiko, angezeigt zu werden.
Auch in unserer deutschlandweiten Schülerbefragung 2007/2008 konnten
wir zumindest bei leichten Körperverletzungen zeigen, dass weibliche Täter
Gewalt durch Jungen und Mädchen 79
häufiger als männliche Täter angezeigt werden. 12 Wenn nun eine Entwick-
lung einsetzt, die männliche Gewalttäter vergleichbar häufig wie weibliche
Gewalttäter ins Hellfeld bringt, dann würde dies zur Folge haben, dass die
Belastungszahlen der Jungen und der Mädchen nicht weiter konvergieren,
sondern auseinander gehen.
IV. Schluss
Mittels der vorgestellten Auswertungen sollte der Frage nachgegangen
werden, ob sich die Gewaltbereitschaft jugendlicher Mädchen anders bzw.
in stärkerem Maße verändert hat als die jugendlicher Jungen. Unseres Er-
achtens gibt es hierrur keine belastbaren empirischen Belege. Stattdessen
ist, wie dies Steffensmeier et al. rur die USA konstatieren, auch in Deutsch-
land davon auszugehen, dass Mädchen nicht reihenweise gewalttätiger
werden, sondern dass sie etwas seltener als früher als Gewalttäter in Er-
scheinung treten. Dieser Rückgang wird aber überkompensiert durch einen
deutlichen Anstieg des Registrierungsrisikos weiblicher Gewalttäter. Frei-
lich ist damit nicht ausgeschlossen, dass es Städte in Deutschland gibt, in
denen ein realer Anstieg der Gewaltbereitschaft von Mädchen existiert. Die
vorhandenen Schülerbefragungsdaten decken nur vier Städte ab; eine
deutschlandweite Repräsentativbefragung rur Jugendliche wurde erstmals
2007/2008 durchgeruhrt, eine Wiederholung steht bislang noch aus. Zudem
gelten für die vorhandenen Befragungsdaten die bekannten Einschränkun-
gen: Über Heranwachsende, ebenfalls eine Personengruppe mit überdurch-
schnittlicher Gewaltbereitschaft, lassen sich bislang keine Aussagen treffen
ebenso wenig wie für hochbelastete Personengruppen, die über Schülerbe-
fragungen nicht erreicht werden können (z.B. Schulabbrecher, Intensiv-
schwänzer).
Die vorliegende, deutschlandweit repräsentative Schülerbefragung
2007/2008 haben wir aber bereits dazu genutzt, die Frage zu untersuchen,
ob es rür Mädchen und Jungen verschiedene Ursachenfaktoren des Gewalt-
verhaltens gibt. 13 Zu dieser Frage liegen weit mehr Studien vor als zur Frage
der Entwicklung der Gewaltbereitschaft. Der Großteil der Studien kommt
dabei zu dem Ergebnis, dass die gleichen Erklärungsfaktoren rür Jungen
wie Mädchen gelten. 14 Dieses Ergebnis konnten wir mit unserer Stichprobe
bestätigen, wobei wir 14 Faktoren in die Analyse einbezogen haben. Der
Kontakt mit gewalttätigen Freunden, eigene Gewaltopfererfahrungen, ge-
FRANZ STRENG
I. Einleitung
Parallel zu einer zunehmenden Besorgnis über Jugendkriminalität hat
auch die Beschäftigung mit Gewalt in der Schule an Interesse gewonnen.
Dies zunächst schon deshalb, weil aggressives Schulverhalten auch als Prä-
diktor für weitere Kriminalität gelten kann. 1 Eine stärkere Konzentration auf
das Phänomen der Schulgewalt als solche und auf den pädagogischen Um-
gang damit ist vor allem mit dem Namen Dan Olweus und der Begriffsbil-
dung des "Bullying" verbunden. 2 Freilich soll im vorliegenden Beitrag nicht
versucht werden, diese Entwicklung und die entsprechenden Studien akri-
bisch nachzuzeichnen. Das Anliegen ist ein bescheideneres. Ausgehend von
einer im Jahre 1995 durchgeführten Befragung an Schulen einer bayeri-
schen Mittelstadt soll anhand der Daten einer 2008 durchgeführten Replika-
tionsstudie untersucht werden, inwieweit sich in den einbezogenen Schulen
Änderungen der Aggressionsbelastung ergeben haben. Dabei geht es nicht
nur um zahlenmäßige Veränderungen, sondern auch darum, inwieweit sich
in den Bedingungsfaktoren von aggressivem Schülerverhalten Veränderun-
gen nachweisen lassen. Nachgegangen werden soll auch der Frage nach der
Bedeutung des Merkmals "Migranten(kind)" für die fraglichen schulischen
1 Dazu Göppinger Der Täter in seinen sozialen Bezügen, 1983, S. 63 ff; Schöch Stichwort
"Schule" in: Kaiser/KernerlSacklSchellhoss (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch,
3. Aufl. 1993, S. 457 ff; Farrington in: Hawkins (Hrsg.), Delinquency and Crime - Current
Theories, 1996, S. 68,98 ff; GöppingerlBock Kriminologie, 6. Aufl. 2008, § 13 Rn. 18 f, § 22
Rn. 8 ff (sozioscolares Syndrom); ferner SampsonlLaub Crime in the Making - Pathways and
Turning Points Through Life, 1993, S. 128 f; FarringtonlCoidlWest MschrKrim 92 (2009),
160,166 ff.
2 Vgl. Olweus Aggression in the Schools - Bullies and Whipping Boys, 1978; ders. Bully-
ing at School, 1993; ders. Gewalt in der Schule - Was Lehrer und Eltern wissen sollten - und
tun können, 2. Aufl. 1996; dazu etwa LösellBliesener Aggression und Delinquenz unter Ju-
gendlichen - Untersuchungen von kognitiven und sozialen Bedingungen, 2003, S. 25 ff; Ban-
nenberglRössnerlKempjer ZJJ 2004, 159 ff
82 Franz Streng
2. Zweite Befragung
Der Fragebogen für die Zweitbefragung war in Anlehnung an den in der
Erststudie genutzten erstellt worden, wobei auf die weitgehend wörtliche
Übernahme speziell der Fragen zur Erhebung des Themas "Gewalt" und der
hierfür als relevant hervorgetretenen Erklärungsfaktoren Wert gelegt wurde,
um Veränderungen in der Gewaltbelastung und in deren Hintergründen
messen zu können. Daneben ist das Thema "Gewalt auf dem Schulweg" neu
in die Befragung aufgenommen worden und es brachte der Untersuchungs-
leiter zusätzliche Forschungsfragen ein. 4 So umfasste das Befragungsin-
strument 107 Items.
Im März bzw. Juli (Gymnasium) 2008 wurden insgesamt 351 Schüler der
7., 9. und 11. Klassenstufe im schon für die Erstbefragung genutzten Schul-
zentrum mittels des beschriebenen Befragungsinstruments interviewt. Es
entfielen dabei 87 Befragte auf die Hauptschule, 114 auf die Realschule und
150 auf das Gymnasium. Weitere 76 Hauptschüler wurden in der auch in
der Erstbefragung schon erfassten weiteren Hauptschule interviewt, was ei-
ne Untersuchungspopulation von insgesamt 427 Schülern ergab. Eine in-
haltlich parallel dazu bereits im Jahre 2007 durchgeführte Befragung von
177 Schülern einer Gesamtschule in Thüringen bleibt für die vorliegende
Auswertung unberücksichtigt. Die Befragungen erfolgten schriftlich per
weitestgehend standardisiertem Fragebogen als Einzelbefragung im Klas-
senverband. Ebenso wie in der Erststudie wurden die Befragungen alle vom
Untersuchungsleiter persönlich und in der entsprechenden Art durchgeführt.
3 Ausführlich Pöll Gewalt in der Schule - Ergebnisse einer Befragung von Schülern und
Lehrern, Jur. Diss. Erlangen, 1998, S. 35 ff.
4 Ausführlich Hacker Gewalt in der Schule - Analyse einer Schülerbefragung, 2010,
S. 28 ff.
84 Franz Streng
111. Ergebnisse
1. Die Entwicklung aggressiven Schülerverhaltens
Ausgehend vom Zeitpunkt der Erstbefragung, nämlich 1995, weist die
Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundes eine stetig angestiegene Zahl spe-
ziell leichter Körperverletzungsdelikte aus. Anhand der Häufigkeitsziffer
(HZ) der qualifizierten Körperverletzungsdelikte lässt sich für Bayern ein
Anstieg von HZ 93 im Jahr 1995 auf HZ 136 im Jahr 2008 (HZ 140 im Jahr
2007) nachweisen und rur die vorsätzliche leichte Körperverletzung ein An-
stieg von HZ 259 auf HZ 420. 6 Auch eine Sonderauszählung für junge
Menschen durch das Bayerische Landeskriminalamt belegt den erheblichen
Anstieg der Auffälligkeit im Körperverletzungsbereich bei den 14- bis 17-
jährigen (hier nur Deutsche). So stieg die Belastung dieser Altersgruppe mit
qualifizierten Körperverletzungstaten von TVBZ 404 im Jahr 1998 auf 551
im Jahr 2008; bei leichten Körperverletzungen stieg die TVBZ von 472 so-
5 Jahr (1995/2008) x Migrant (nein/ja). r = .13, P = .000. - Zur Definition des Migranten-
Status vgl. unten in III.3.
6 Vgl. BKA (Hrsg.), Polizeiliche Kriminalstatistik 2000 - Bundesrepublik Deutschland,
S. 154 ff.; BKA (Hrsg.), Polizeiliche Kritninalstatistik 2008 - Bundesrepublik Deutschland,
S. 148 ff.
Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule 85
gar auf 759 an. 7 Speziell am Schulstandort hat sich in der Tendenz ähnlich,
wenngleich mit größeren Schwankungen, ein Anstieg bei den vorsätzlichen
Körperverletzungsdelikten ergeben, wobei auch die Anzahl der kindlichen
und jugendlichen Tatverdächtigen zunahm (Schaubild 1).8 Ganz entspre-
chend provoziert die Medienbeachtung, die die Schulgewalt gerade in den
letzten Jahren gefunden hat, die Erwartung eines hier generell angestiege-
nen Problempotentials. Man denke nur an die aufsehenerregende Berichter-
stattung über die Berliner Rütli-Schule.
Schaubild 1
u. Jugendliche
CI)
...
.~60
s:::.
U
:(0
...
"C
CI)
~
~ 400
~
N
.Q
J!
:;
LI..
20
7 Vgl. Bayerisches LKA (Hrsg.), Junge Menschen als Tatverdächtige und Opfer von Strafta-
ten - Berichtsjahr 2008, S. 23.
8 Der Leitung der örtlichen Polizeiinspektion danke ich für die freundliche Kooperation und
das Zur-Verfügung-Stellen der fraglichen Daten.
86 Franz Streng
Studie auch speziell für Gewalt in der Schule erhobenen Daten belegen,
dass kein Anstieg zu verzeichnen iSt. 14 Gleichartige Ergebnisse zur Schul-
gewalt erzielte eine 1994, 1999 und 2004 in Bayern durchgeführte Befra-
gung einer schülerrepräsentativen Stichprobe. 15 Bestätigt werden diese Be-
funde schließlich durch die rückläufige Entwicklung bezüglich der den
Unfallversicherern aus den Schulen gemeldeten Raufunfalle. 16
Da die neueren Schülerbefragungen die in der Polizeilichen Kriminalsta-
tistik dargestellte ständig steigende Gewaltdelinquenz nicht reproduzieren,
ergibt sich naheliegender Weise die Frage nach den Ursachen dieser Dis-
krepanz. Für die Entwicklung in der Polizeilichen Kriminalstatistik disku-
tiert man den Einfluss veränderten Anzeigeverhaltens, etwa infolge größerer
Sensibilität gegenüber Gewalt. Und tatsächlich haben Dunkelfeldstudien für
die letzten Jahre eine angestiegene Anzeigebereitschaft und insgesamt eine
Zurückdrängung des Dunkelfelds bei Gewaltdelikten aufgezeigt. 17 Da in Tä-
ter- und Opferbefragungen dieser potentielle Verzerrungseffekt sich nicht
oder kaum auswirkt, kann man die derart zur Prävalenzentwicklung gewon-
nenen Daten mit guten Gründen für aussagekräftiger halten als die in der
Polizeilichen Kriminalstatistik sich abzeichnende Verlaufskurve.
toren seit 1998 in den Städten Hannover, München, Stuttgart und Schwäbisch Gmünd, 2008
(KFN-Forschungsbericht Nr. 104), S. 25 ff.
14 Vgl. Baier (Fn. 13), S. 29 ff.~ vgl. ferner BM!, BM} (Hrsg.), Zweiter Periodischer Sicher-
heitsbericht, 2006, S. 391 ff. - Für eine noch andersartige Tendenz in einer Studie zur Ent-
wicklung von 1973 bis 1995 vgl. LösellBliesenerlAverbeck DVJJ-Journal 1998, 115, 118 ff.
15 Vgl. FuchslLamneklLuedtkelBaur Gewalt an Schulen. 1994 - 1999 - 2004,2. Aufl. 2009,
S. 89 ff.
16 Vgl. bei Baier (Fn. 13), S. 12.
17 Vgl. Schwind/FetchenhauerlAhlbornlWei}3 Kriminalitätsphänomene im Langzeitvergleich
am Beispiel einer Großstadt - Bochum 1975 - 1986 - 1998, 2001, S. 140 ff.~ Oberwitt-
lerlKöllisch Neue Kriminalpolitik 2004, 144, 146~ NaplavalM Walter MschrKrim 89 (2006),
338, 341 ff.~ Hein= Kriminalistik 2007, 301, 306 f.~ Baier (Fn. 13), S. 20~ Neubacher ZRP
2008, 192, 193 f.~ BaierlPfeiffer (Fn. 13),5, 11.
88 Franz Streng
oder mehrere Raufereien haben angegeben 44,8 % der Befragten, ein- oder
mehrmaliges ernsthaftes Schlagen 31,6 %, einen körperlichen Angriff gegen
Lehrer jedoch nur 2,4 %.18 Übergreifend berechnet haben 51,9 % der Be-
fragten mindestens einen dieser aggressiven Akte eingeräumt. 19
Tabelle 1
Ausführliche Darstellung der Daten bei Päll (Fn. 3), S. 146 ff.
18
Vgl. auch Streng/Päll in: Gruter/Rehbinder (Hrsg.), Gewalt in der Kleingruppe und das
19
Recht, 1997, S. 133, 140 ff.
Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule 89
Tabelle 2
20 Ausführliche Darstellung der Daten aller Befragungen (einschl. Thüringen) bei Hacker
(Fn. 4) im Tabellenanhang.
21 Anderes Ergebnis bei Lösel/Bliesener (Fn. 2), S. 74. Auch in der hier referierten Studie ist
der Zusammenhang bei bivariater Berechnung nur schwach ausgeprägt: Sportaktivitäten (keine
... viele) x Gewaltindex (eigene Taten: keine .... viele): r = .08, p = .10.
90 Franz Streng
flikten); - die Hauptschüler; - wer das Schulklima als durch Gewalt geprägt
sieht. 22
Tabelle 3
Dieser Befund bringt freilich nicht schon eine Entdramatisierung der Un-
terschiede in der Gewaltneigung zwischen Einheimischen und Migranten
mit sich. Da überproportional viele Migranten(kinder) die Hauptschule be-
suchen und nicht auf weiterführende Schulen überwechseln,35 stellt sich die
- jedenfalls anband der vorliegenden Daten - nicht beantwortbare Frage, ob
dieses Bildungsdefizit (auch) Folge der in dieser Gruppe bereits von vorne-
herein häufiger vorhandenen Verhaltensauffalligkeiten ist oder ob umge-
kehrt erst die Entmutigung durch geringe gesellschaftliche Aufstiegschan-
36 Vgl. zu Letzterem etwa SchöchlGebauer (Fn. 29), S. 57; Streng JZ 1993,109, 117 f
37 Vgl. auf der Basis anderer Ansätze dazu DeckerlBrähler Vom Rand zur Mitte - Rechts-
extreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland, 2006.
38 Vgl. statt Vieler A. Mitscherlich Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur So-
zialpsychologie, 1963, S. 144 f; Memmi Rassismus, 1992, S. 67 ff, 205 f; Streng Jura 1995,
182, 190; für weitere Nachweise vgl. bei Streng FS Rolinski, 2002, S. 487 ff.
39 Vgl. dazu etwa Kalinowsky Rechtsextremismus und Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1990
(hrsg. vom BMJ), S. 106, 202 f; HeitmeyerlMüller Fremdenfeindliche Gewalt junger Men-
schen, 1995 (hrsg. vom BMJ), S. 43 ff, 127 ff.; Kunkat in: Dünkel/Geng (Hrsg.), Rechtsextre-
mismus und Fremdenfeindlichkeit. Bestandsaufnahme und Interventionsstrategien, 1999,
S.209, 224 ff.; MarneroslSteillGalvao MschrKrim 86 (2003), 364, 367 f; DeckerlBrähler
(Fn. 37), S. 88 ff.; für weitere Nachweise vgl. bei Streng FS Rolinski, 2002, S. 487,488.
Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule 95
4o
auf eher niedrigem Niveau. Die Vergrößerung des Datenpools durch die
Zweitbefragung von 2008 lässt es erfolgversprechend erscheinen, der For-
schungsfrage noch einmal nachzugehen.
In Tabelle 4 ist die Verteilung der Antworten in der abhängigen Variable
"Einstellung zu Migranten" für beide Befragungen zusammengefasst41
nachgewiesen.
Tabelle 4
N= 695 100%
Auf dieser Grundlage ergibt sich, dass zwischen dem Erleben von Druck
durch Drohungen oder Gewaltandrohungen seitens von Mitschülern (ge-
genwärtig, früher, nie) und der geäußerten Fremdenfeindlichkeit (s. Tabel-
le 4) ein hochsignifikanter Zusammenhang in der Richtung ,Je mehr Druck
um so fremdenfeindlicher" nachweisbar ist. 42 Dieser Zusammenhang ist am
stärksten bei Realschülem,43 schwächer bei Hauptschülem 44 und nicht signi-
fikant bei Gymnasiasten45 ausgeprägt. 46
Bezüglich der zweiten Komponente der "Projektionstheorie" zur Auslän-
derfeindlichkeit bedarf es des Messens der Projektionsneigung. Dies ge-
schah in den Befragungen mittels der Stellungnahme der Befragten zu dem
Statement "Wenn etwas schief geht, haben meist die anderen Schuld"
(stimmt genau, stimmt eher nicht, stimmt überhaupt nicht). Bei bivariater
Berechnung des Zusammenhangs mit Fremdenfeindlichkeit ergibt sich ein
schwacher, wenngleich sehr signifikanter Zusammenhang der erwarteten
Richtung, dass nämlich Projektionsbereite tendenziell stärker fremdenfeind-
lichen Haltungen zuneigen. 47 Dieser Zusammenhang ist bei Haupt- und Re-
alschülern deutlich,48 bei Gymnasiasten hingegen nicht gegeben. 49
Untersucht man den Zusammenhang zwischen Projektionsneigung und
Fremdenfeindlichkeit getrennt danach, ob und in welcher Form die Befrag-
ten Druck durch Mitschüler erlebten, ergeben sich besonders aussagekräfti-
ge Befunde: Die nie unter Druck gesetzte Gruppe weist keinen Zusammen-
hang zwischen Projektionsneigung und Fremdenfeindlichkeit auf. 50 Bei den
früher bereits einmal unter Druck Gewesenen ist der fragliche Zusammen-
hang eindeutig nachweisbar 51 und bei den aktuell unter Druck Befindlichen
weist der Zusammenhang eine beachtliche Stärke auf. 52
Deutlich wird der mit Ausgrenzungserlebnissen verzahnte Effekt der Pro-
jektionsneigung auch dann, wenn man Befragte mit starker und Befragte
mit geringer oder keiner Projektionsbereitschaft insofern vergleicht, wie sie
auf Druck durch Mitschüler reagieren. Bei den gar nicht oder wenig Projek-
tionsgeneigten ist ein Druckerlebnis der benannten Art nur relativ schwach
mit Fremdenfeindlichkeit korreliert. 53 Hingegen liegt bei den eindeutig Pro-
jektionsgeneigten der Zusammenhang zwischen Druckerlebnissen und
Fremdenfeindlichkeit schon im Bereich mittlerer Stärke.54
Speziell für die Gruppe der Haupt- und Realschüler zeigt eine multiple
Regressionsberechnung, dass die Projektionsbereitschaft und das Drucker-
leben auch nebeneinander Auswirkungen auf eine fremdenfeindliche Hal-
tung aufweisen. Die entsprechende multiple Regressionsanalyse ist in Ta-
belle 5 nachgewiesen.
47 Projektionsneigung (stark ... gar nicht) x Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark): r =
-.10, p = .01.
48 Haupt- und Realschüler zusammen: r = -.15, p = .004.
49 r = -.01, P = .85.
50 Projektionsneigung (stark ... gar nicht) x Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark): r =
-.01, P = .84.
51 r = -.27, p = .002.
52 r = -.51, p = .016.
53 Druck (gegenwärtig ... nie) x Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark): r = -.14, p = .000.
54 r = -.43, p = .000.
Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in der Schule 97
Tabelle 5
Speziell und nur fur die Gruppe der Hauptschüler tritt gegenüber dem Er-
lebnis des Unterdrücktseins durch Mitschüler eine andersartige Deklassie-
rungswahrnehmung in den Vordergrund, nämlich das Nichterreichen von
familiären Erfolgsstandards. Wer aus einer Oberschichts- bzw. oberen Mit-
telschichtsfamilie stammend 55 sich in der Hauptschule wiederfindet, tendiert
überdurchschnittlich oft zu Fremdenfeindlichkeit, 56 während die Befragten
aus den beiden anderen Schulformen keinerlei derartigen Zusammenhang
zwischen Bildungsschicht und Fremdenfeindlichkeit erkennen lassen. 57
Setzt man fur die Hauptschülergruppe neben der elterlichen Bildungsschicht
als weiteren Erklärungsfaktor die Projektionsneigung in eine multiple Reg-
ressionsanalyse ein (Tabelle 6), dann zeigen sich insgesamt signifikante Zu-
sammenhänge im Sinne der Projektionstheorie zur Ausländerfeindlichkeit.
Die anhand der zusammengefassten Daten der Befragungen 1995 und
2008 errechneten, in Tabelle 6 wiedergegebenen Befunde erweisen sich bei
einer nach Befragungsjahr getrennten Auswertung jedoch als zeitgebunden.
Während die Projektionsneigung ihre Bedeutung immer in vergleichbarer
Deutlichkeit behält, erweist sich die elterliche Bildungsschicht bei den 2008
befragten Hauptschülern als nicht aussagekräftig für Fremdenfeindlich-
keit. 58
55 Der Schichtindex wurde aus den Angaben zum schulischen Ausbildungsstatus der Eltern
errechnet~ infolge fehlender Angaben ergab sich dabei ein Schwund von 11 % der Fälle. Wenn
man etwa den väterlichen Beruf als weiteren Schichtindikator hinzunimmt, ergeben sich Aus-
fälle von sogar rund 30 %. Daher wurde hier auf die direkte Berücksichtigung des Berufsstatus
der Eltern verzichtet.
56 Nur Hauptschüler: Bildungsschicht (niedrig ... hoch) x Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ...
stark): r = .14, P = .08~ vgl. schon Streng FS Rolinski, 2002, S. 487, 492 f., 494.
57 Bildungsschicht (niedrig ... hoch) x Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark): r = -.03, p =
.51.
58 Bei bivariater Berechnung anhand der befragten Hauptschüler: Bildungsschicht (niedrig
... hoch) x Fremdenfeindlichkeit (gar nicht ... stark): r = -.04, P = .73.
98 Franz Streng
Tabelle 6
Fremdenfeindlichkeit (Hauptschüler)
Tabelle 7
Fremdenfeindlichkeit (Hauptschüler 1995)
IV. Resümee
Die in vergleichbarer Weise und in denselben Schulen einer bayerischen
mittelgroßen Stadt nach 13 Jahren erneut durchgeführte Schülerbefragung
zeigt eine ganz undramatische Entwicklung auf. Es ließ sich nicht nur kein
FRIEDER DüNKEL
I. Einleitung
Einer der zahlreichen Forschungsschwerpunkte des Jubilars betrifft die
Problematik des Alkohols im Straßenverkehr. 1 Er gehörte neben Günther
Kaiser 2 zu den wenigen juristischen Kriminologen, die sich intensiv mit der
Problematik der Generalprävention wie überhaupt einem vernünftigen kri-
minalpolitischen Umgang in diesem Delinquenzbereich auf erfahrungswis-
senschaftlicher Grundlage auseinandersetzten.
Seit 1997 ergeben sich damit parallele Forschungsinteressen mit der in-
terdisziplinären Greifswalder Forschergruppe, über deren Ergebnisse nach-
folgend berichtet werden soll.
Die Greifswalder Forschergruppe entstand aus einer fakultätsübergreifen-
den Kooperation im Rahmen des von Medizinern geführten Forschungsver-
bunds "Community Medicine", der seinerzeit größten bundesdeutschen
epidemiologischen Gesundheitsstudie. Aus kriminologischer Perspektive
wurde das Teilprojekt "Alkoholkonsum und Straßenverkehrsdelinquenz"
entwickelt, eine Kooperation der Lehrstühle für Kriminologie, für Sozial-
psychologie, Arbeits- und Organisationspsychologie (Prof. Dr. Manfred
Bornewasser) und dem Institut fur Rechtsmedizin (Prof. Dr. Eberhard
Liegnitz, Dr. Klaus Philipp). Bei der Einrichtung dieses interdisziplinären
Forschungsschwerpunkts im Jahr 1997 ging es zunächst um umfassende
epidemiologische, medizinische und sozialökologische Fragestellungen zum
I Vgl. z.B. Schäch NStZ 1991, 11 ff.~ ders. Generalprävention und Fahren unter Alkohol, in:
Krüger (Hrsg.), Fahren unter Alkohol in Deutschland, 1998, S. 161 ff.~ ders. Spezial- und
generalpräventive Aspekte bei der Bekämpfung der Alkoholdelinquenz im Straßenverkehr, in:
Egg/Geisler (Hrsg.), Alkohol, Strafrecht und Kriminalität, 2000, S. 111 ff~ ders. Neue Krimi-
nalpolitik 112001, 30 ff.
2 Vgl. Kaiser, Verkehrsdelinquenz und Generalprävention, 1970.
102 Frieder Dünkel
3 Vgl. Glitsch/Bornewasser/Dünkel in: Egg/Geisler (Fn. 1), S. 127 ff; Dünkel u. a. Neue
Kriminalpalitik 2001, Heft 1,32 ff.; Dünkel in: Radi (Hrsg.), Recht und Wirkung. Greifswal-
der Beiträge zur Rechtswirkungsfarschung, 2002, S. 109 ff., 136 ff.
4 Schöch (Fn. 1) 2001, S. 29; Dünkel u. a. (Fn. 3),32 f.
5 Dünkel u. a. (Fn. 3), 32 f.
Greifswalder Forschungen zum Alkohol im Straßenverkehr 103
10 Vgl. Glitsch/Bornewasser/Dünkel (Fn. 3), S. 143~ vgl. auch Stephan in: Egg/Geissler
(Fn. 1), S. 161 ff., der auf die weitgehenden Fehlvorstellungen in der Bevölkerung hinsichtlich
konsumierter Alkoholmengen und den damit erreichten BAK-Werten verweist. Alkohol-
missbräuchler unterschätzen, normkonforme Normalbürger überschätzen in Trinksituationen
die Trinkmengen, was im einen Fall bahnend, im anderen hemmend auf die Entscheidung zur
Trunkenheitsfahrt wirkt.
11 Vgl. Aijzen in: Kuhl/Beckmann (Hrsg.), Action-coi1trol: from cognition to behavior, 1985,
S. 61 ff.~ Ajzen/Fishbein Psychological Bulletin 1977, 888 ff.~ dies. European Review ofSocial
Psychology 2000, 1 ff.
Greifswalder Forschungen zum Alkohol im Straßenverkehr 105
16 Aus dem Bereich des Jugendstrafrechts beispielsweise das Projekt "Denkzeit" für mehr-
fachauffällige (Gewalt-)Täter, vgl. hierzu Körner/Friedmann Denkzeit für delinquente Jugend-
liche, 2005. Zur Evaluation bestehender Therapie- und Rehabilitationsmaßnahmen für auffälli-
ge Kraftfahrer im internationalen Vergleich siehe Klipp/Bornewasser/Glitsch/Dünkel in:
Bundesanstalt für Straßenwesen (BAST), Mensch und Sicherheit, Heft M 196, S. 77 ff.
17 Vgl. Dünkel u. a. (Fn. 3),35 f.; Dünkel (Fn. 3), S. 140 ff.
18 Vgl. i. e. Dünkel (Fn. 3), S. 136 ff.
Greifswalder Forschungen zum Alkohol im Straßenverkehr 107
2. Treatment "Aktivierung"
3. Treatment "B+ (j
Ein entgegengesetztes Ergebnis zeigt sich für die Personen, die sich erst
nach einer persönlichen Einladung entschlossen, an der Beratung teilzu-
nehmen. 74,1% waren im präkontemplativen Stadium, 1,9% im kontempla-
tiven Stadium und nur 14,1% im präparativen Stadium. Darüber hinaus
wurde ebenfalls deutlich, dass der Prozentsatz der Teilnehmer, die nach der
Beratung eine längerfristige Maßnahme in Anspruch nehmen, umso höher
wird, je weiter die Personen laut Stadienmodell in der Änderungsbereit-
schaft vorangeschritten sind. Allerdings lässt sich ebenfalls feststellen, dass
ein ausgeprägtes Problembewusstsein weder eine notwendige noch eine
hinreichende Voraussetzung fur die Partizipation an einer dauerhaften Maß-
nahme zur Förderung der Fahreignung ist. Offensichtlich spielen extrinsi-
sche Motive gerade bei der Thematik der Trunkenheitsfahrer (i.d.R. die
schnellstmögliche Wiedererlangung der Fahrerlaubnis) eine wesentliche
Rolle bei der Teilnahme an einer rehabilitativen Maßnahme.
Durch eine Diskriminanzanalyse (N=177) wurden die Variablen identifi-
ziert, die Teilnehmer von Nicht-Teilnehmern unterscheiden. Neben der
Handlungsplanung (r=.65, p<.OOl) war das reduzierte subjektive Empfinden
situativer Barrieren (r=.65, p<.OOl) eine entscheidende Variable, die die
Vorhersage der Inanspruchnahme einer Beratung zuließ. Darüber hinaus
erwiesen sich auch die Intention (r=.58, p<.Ol), Kompetenzerwartung
(r=.49, p<.Ol), sozialer Rückhalt (r=.47, p<.05) und die Ergebniserwartung
(r=.43, p<.05) als signifikante Prädiktoren der Teilnahme. Weniger Einfluss
hatten die subjektiv erlebte Bedrohung, gemessen durch den erlebten
Schweregrad der Symptome (r=.34), und die subjektive Vulnerabilität
(r=.09). Die Ergebnisse der Diskriminanzanalyse bestätigen die Annahmen
des sozial-kognitiven Prozessmodells. 23 80,8% aller Fälle konnten richtig
klassifiziert werden.
Mithilfe eines linearen Strukturgleichungsmodells wurden die empirisch
gewonnenen Daten an die theoretisch behaupteten Variablenzusammenhän-
ge aus dem Prozessmodell gesundheitlichen Handelns 24 angepasst. Die
Modellanpassung gelang im Vergleich zur Theorie des geplanten Verhal-
tens 25 und dem Health Belief ModeFG außerordentlich gut, was mit der
guten konzeptuellen Spezifizierung der Konstrukte sowie ihrer Zusammen-
hänge und mit der Betonung volitionaler Prozesse begründet werden kann.
Im Rahmen der Modellanpassung konnten 66% der Varianz der Verhaltens-
32 Vgl. Marques/Voas (Fn. 29)~ Bjerre Primary and secondary prevention of drinking and
driving by the use of alcolock device and program: The Swedish experience. Alcohol Ignition
Interlock Devices, Vol. 11: Research, Policy, and Program Status, 2005, S. 11 ff.
33 Vgl. Saunders u. a. Development of the Alcohol Use Disorders Identification Test (AU-
DIT): WHO Collaborative Project on Early Detection of Persons with Hannful Alcohol Con-
sumption 11. Addiction 1993, 791 ff.~ Bohn/Babor/Kranzler Journal of Studies on Alcohol
1995,423 ff.
34 Vgl. MayjieldlMcLeodiHall American Journal ofPsychiatry 1974, 1121 ff.
35 Vgl. Hays/Merz/Nicholas Response burden, reliability, and validity of the CAGE, Short
MAST, and AUDIT alcohol screening measures. Behavior Research Methods Instruments
Computers, 1995, 277 ff.
36 Miller/Rollnick Motivational Interviewing: Preparing People for Change, 2. Aufl. 2002.
37 Vgl. Dünkel u. a. 2001 (Fn. 3)~ Glitsch (Fn. 13).
116 Frieder Dünkel
38 Der Bericht wurde federführend von Simone Klipp erarbeitet und von der Bundesanstalt
für Straßenwesen (BAST) veröffentlicht, vgl. Klipp/Bornewasser/Glitsch/Dünkel in: Bundes-
anstalt für Straßenwesen (BAST), Mensch und Sicherheit, Heft 196,2008, S. 77 ff.
Greifswalder Forschungen zum Alkohol im Straßenverkehr 117
WOLFGANG HEINZ
I. Vorbemerkung
Vor mehr als zehn Jahren, 1999, wurde vom Bundesministerium für Bil-
dung und Forschung (BMBF) die "Kommission zur Verbesserung der in-
formationellen Infrastruktur zwischen Wissenschaft und Statistik" (KVI)
einberufen. 1 Ein Ergebnis des 2001 veröffentlichten Gutachtens der Kom-
mission "Wege zu einer besseren informationellen Infrastruktur" war u.a.
die Einsetzung eines Gründungsausschusses für den "Rat rur Sozial- und
Wirtschaftsdaten" (RatSWD).2 Dieser Ausschuss schuf nicht nur den 2004
erstmals vom BMBF berufenen RatSWD3, sondern initiierte u.a. auch die
Einrichtung der Forschungsdatenzentren des Statistischen Bundesamtes und
der Statistischen Landesämter. 4
Im Bereich der Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken ging es dem
RatSWD vor allem darum, zunächst die Datenbestände und die Analyse-
möglichkeiten zu sichten sowie die Zugangsmöglichkeiten zu vorhandenen
Daten und den weiteren Datenbedarf zu ermitteln. Dem diente der im Okto-
ber 2006 veranstaltete Workshop "Datenprobleme in den Kriminal- und
Strafrechtspflegestatistiken" .5 In dem vom Verf. entworfenen, von den Teil-
nehmern verabschiedeten Memorandum "Optimierung der Kriminal- und
1 Vorausgegangen war im selben Jahr ein Symposium zum Thema "Kooperation zwischen
Wissenschaft und amtlicher Statistik - Praxis und Perspektiven". In dem dort verabschiedeten
Thesenpapier wurde die Einrichtung einer Kommission vorgeschlagen, die Lösungsvorschläge
für eine Verbesserung der bislang eher defizitären Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und
amtlicher Statistik erarbeiten sollte.
2 Zur Arbeit des Gründungsausschusses vgl. So/ga/Wagner Die Arbeit des Rates für Sozial-
und Wirtschaftsdaten (RatSWD) in seiner ersten Berufungsperiode (2004-2006)
<http://www.ratswd.de/download/publikationen_rat/bericht_zusammenfassung.pdf>
3 Zum RatSWD und seinen Aufgaben vgl. <http://www.ratswd.de/rat/aufgaben.php>
4 <\vww.forschungsdatenzentrunl.de>
5 <http://ratswd.de/ver/kriminaIWS.php>
120 Wolfgang Heinz
6 <http://ratswd.de/download/veranstaltungenlMemorandulll_KrinlinaIWS.pdf>
7 Ratfür So=ial- und Wirtschaftsfragen (Hrsg.), Optimierung des bestehenden kriminalstatis-
tischen Systems in Deutschland, 2009.
8 Fn. 7, S. 6.
9 Vgl. Hein= FS Tiedemann, 2008, S. 1547 ff.~ ders. in: Dessecker/Egg (Hrsg.), Kriminalsta-
tistiken im Lichte internationaler Erfahrungen, 2009, S. 17 ff.
10 Fn. 7.
11 Brings in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Leistungsdaten für die Kriminaljustiz:
die neue Wiederverurteilungsstatistik - and more, 2009, S. 25 ff.
12 Unter Kriminalstatistik wird üblicherweise die Polizeiliche Krinlinalstatistik verstanden.
Sowohl die Personenstatistiken der Strafrechtsptlege (Strafverfolgungsstatistik - StVerfStat,
Bewährungshilfestatistik - BewHiStat, Strafvollzugsstatistik - StVollzStat, Maßregelvollzugs-
statistik - MaßrVollzStat) als auch die Justizgeschäftsstatistiken (Statistik über Straf- und
Bußgeldverfahren - StP/OWi-Statistik - Justizgeschäftsstatistik, Staatsanwaltschaftsstatistik -
StA-Statistik) werden dagegen unter dem Oberbegriff Strafrechtsptlegestatistiken zusammen-
gefasst.
Optimierung der deutschen Kriminalstatistiken 121
Ab 2009 wird für die StVerfStat die Dauer der verhängten Freiheits-
strafen sowie die Höhe der verhängten Geldstrafen unklassiert gemeldet.
Erhebungseinheiten sind teils Fälle (nur PKS), teils Personen (PKS und
Personenstatistiken der Strafrechtspflege), teils Verfahren (Justizge-
schäftsstatistiken).28
Erhebungskonzepte sind teils Stichtagserhebungen (StVollzStat, Maßr-
VollzStat), teils jährliche Massen (so in den anderen Statistiken).2 9
Während in der PKS seit 1983 die sog. echte Personenzählung einge-
führt ist, wird in den Strafrechtspflegestatistiken jede Person so oft ge-
zählt, wie gegen sie Verfahren abgeschlossen werden. 30 Diese unter-
schiedlichen Zählregeln führen z.B. dazu, dass 2008 in der PKS
2.255.693 ermittelte Tatverdächtige ausgewiesen werden, in der StA-
Statistik (ebenfalls ohne Vergehen im Straßenverkehr) aber mehr als die
doppelte Zahl von Beschuldigten, nämlich 4.889.969. 31 Ebenfalls wegen
Mehrfachzählung derselben Person überhöht sind die Daten der
StVerfStat. Wie die Sonderauswertung der für die Rückfallstatistik er-
hobenen BZR-Daten ergeben hat, waren ca. 12% der Täter nlit 2 oder
mehr Entscheidungen im Berichtsjahr 1994 eingetragen. In diesem Um-
fang ist demnach mit einer Überhöhung der in der StVerfStat ausgewie-
senen Zahl der Verurteilten zu rechnen. 32
34 In Bremen wurden z.B. 2008 in der StA-Statistik 228 Personen erfasst, in der StVerfStat
dagegen O.
35 Im Schnitt aller Länder - ohne MV - wurde 2008 bei 2,50/0 aller Verurteilten verminderte
Schuldfahigkeit angenommen; in MV waren es nur 0,05%. Ein Erfassungsfehler beim Einlesen
der gemeldeten Daten liegt nicht vor.
36 "Seit Beginn der neunziger Jahre ist ein stetiger Anstieg der Jugendkriminalität - insbe-
sondere der Gewaltkriminalität - in der Bundesrepublik Deutschland zu verzeichnen" ("Ent-
wurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Bekämpfung der Jugenddelinquenz", BR-Drs.
16/1027 vom 23.03.2006, S. 1; ebenso der "Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der
Bekämpfung der Jugenddelinquenz", BR-Drs. 312/03 vom 08.05.2003, S. 1). Ähnliche Aussa-
gen finden sich auch im "Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Jugendstrafrechts und zur
Verbesserung der Beschleunigung des Jugendstrafverfahrens", BR-Drs. 238/04 vom 25.03.04,
S. 1, sowie in der "Entschließung des Bundesrates zur Bekämpfung der Jugendkriminalität",
BR-Drs. 77/08B vom 15.02.08, Anlage, S. 1.
Optimierung der deutschen Kriminalstatistiken 127
StVerfStat bedeutet dies, dass dieser Anteil durch die StGB-Delikte ver-
drängt wird. 48
Änderungen 2008
1981 2008 - 1981
Durch Einstellungen, Anklage +
Strafbefehl erledigte Verfahren 1.682.253 2.320.746 638.493 100
Einstellungen mangels hinreichenden
Tatverdachts 635.188 892.073 256.885 40,2
Die nähere Auswertung der StA-Statistik (vgl. Tabelle 2) zeigt u.a., und
zwar auch bei Kontrolle von Sachgebieten:
Zwischen den Ländern bestehen große Unterschiede im Anteil sowohl
der mangels hinreichenden Tatverdachts als auch der aus Opportunitäts-
gründen eingestellten Ermittlungsverfahren. Die Spannweite der deshalb
eingestellten Verfahren (pro 100 Anklagen/Strafbefehle reicht - bei er-
ledigten Verfahren insgesamt - von 172 (Sachsen) bis 304 (Schleswig-
Optimierung der deutschen Kriminalstatistiken 131
Legende:
Vorsätzliche Körperverletzung: Sachgebiet 21 (soweit nicht Kapitalverbrechen im
Sinne von § 74 GVG oder Verbrechen gern. § 12 StGB)
Beschuldigte: Beschuldigte, deren Verfahren erledigt worden ist durch Anklage
i.w.S., Antrag auf Erlass eines Strafbefehls, Opportunitätseinstellung i.e.S., Einstel-
lungen gern. § 170 Abs. 2 StPO
Anklage Lw.S.: Anklagen, Antrag auf Eröffnung eines Sicherungsverfahrens, An-
trag auf Durchführung eines objektiven Verfahrens, Antrag auf Entscheidung im
beschleunigten Verfahren - § 417 StPO, Antrag auf vereinfachtes Jugendverfahren -
§ 76 JGG.
Strafbefehl: Anträge auf Erlass eines Strafbefehls.
§ 170 11: Einstellungen mangels hinreichenden Tatverdachts (§ 170 Abs. 2 StPO)
oder wegen Schuldfähigkeit (§ 20 StGB).
Opp.Einst (=Opp.Einst. Le.S.): Einstellungen durch die StA gern. §§ 153, 153a,
153b StPO, § 45 JGG, §§ 31,37 BtMG.
Datenq uelle: Staatsanwaltschaftsstatistik 2008
52 Die in der StVollzStat erfolgte Erfassung der Zugänge wegen Ersatzfreiheitsstrafe wurde
ab dem Berichtsjahr 2003 eingestellt.
53 In der StA-Statistik wird zwar die Zahl der Personen nachgewiesen, die ganz oder teilwei-
se durch unentgeltliche gemeinnützige Tätigkeit die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe
abgewendet haben. Ohne Bezugsgröße - Ersatzfreiheitsstrafe - sind diese Daten aber nicht
aussagekräftig.
54 Vgl. hierzu aber Fn. 67.
55 Zu den bisherigen Konzepten und Rückfallstatistiken vgl. Hein= in: Heinz/Jehle (Fn. 48),
S. 11 ff.
Optimierung der deutschen Kriminalstatistiken 133
Informell Sanktionierte
Sanktio-
nierte insgesamt mit Auflagen ohne Auflagen
insgesamt
%von % von 0/0 von 0/0 von % von
N
(1) (1) (2) (1) (2)
(1) (2) (3) (4) (5) (6) (7)
1981 1.178.338 427.378 36,3 22,0 60,6 14,3 39,4
1985 1.247.966 522.967 41,9 21,9 52,2 20,0 47,8
1990 1.344.747 647.060 48,1 22,0 45,8 26,1 54,2
1995 1.586.442 820.544 51,7 19,5 37,6 32,2 62,4
2000 1.663.818 924.175 55,5 19,1 34,4 36,4 65,6
2005 1.812.046 1.021.854 56,4 17,9 31,8 38,5 68,2
2006 1.772.981 1.012.453 57,1 17,7 31,0 39,4 69,0
2007 2.131.337 1.222.707 57,4 17,5 30,5 39,9 69,5
2008 2.116.785 1.231.095 58,2 16,8 28,8 41,4 71,2
Legende:
Sanktionierte: Formell (nach allgemeinem oder nach Jugendstrafrecht) Verurteilte,
einschließlich Personen mit Entscheidungen gern. §§ 59,60 StGB, § 27 JGG.
Informell Sanktionierte: Personen mit Einstellungen gern. §§ ] 53, 153a, 153b
StPO, §§ 45, 47 JGG, §§ 31a, 37 BtMG.
Informell Sanktionierte mit Auflagen: Einstellungen gern. §§ 153a StPO, §§ 45
Abs. 3,47 JGG, § 37 BtMG.
Informell Sanktionierte ohne Auflagen: Einstellungen gern. §§ 153, 153b StPO,
§ 45 Abs. 1 und 2 JGG, § 31 aBtMG.
Datenquellen: Staatsanwaltschaftsstatistik 1981 .. 2008 (seit 1993 mit Gesamt-
berlin);
Justizgeschäftsstatistik in Strafsachen 1981 .. 2008 (seit 1991 mit Gesamtberlin);
Strafverfolgungsstatistik 1981 .. 2008 (seit 1995 mit Gesamtberlin).
gegeben ist, lässt sich statistisch letztlich nicht prüfen, weil die StA-Statistik
keine Angaben zur Tat- und Täterstruktur enthält. 58 Eine Auswertung von
Bundeszentralregisterdaten, die eine Differenzierung sowohl der Vorbelas-
tung als auch eine Kontrolle von Alter, Geschlecht, Nationalität und De-
liktsart ermöglichen, ergab für das Jahr 1994, dass es nur noch geringfügige
regionale Unterschiede bei Ersttätern leichter Eigentumsdelikte (§§ 242,
247, 248a StGB als einziges Delikt) mit deutscher Nationalität gab, dass
aber bei der Reaktion auf die dritte oder weitere erfasste Straffälligkeit eines
Jugendlichen die Spannweite der Diversionsentscheidungen bei 67 Prozent-
punkten lag (Hamburg: 96%; Bayern: 29%).59 Insbesondere bei wiederholt
Auffälligen sind danach die Risiken einer förmlichen Verurteilung in den
Ländern - selbst innerhalb derselben Deliktsgruppe - höchst unterschied-
lich. Ob und inwieweit auch gegenwärtig noch derart große Unterschiede
bestehen - oder sich gar vergrößert haben - lässt sich wegen fehlender Da-
ten nicht klären.
Aus den Strafrechtspflegestatistiken lässt sich zwar entnehmen, dass bei
Einstellungen unter Auflagen auch weiterhin die Geldauflage mit durch-
schnittlich 81 % dominiert. Im Unterschied zu den Geldstrafen ist aber un-
bekannt, wie hoch die Höhe der Geldauflagen ist.
60 Die Forderung nach Anhebung der Jugendhöchststrafe wird u.a. damit begründet, die
Obergrenze von derzeit 10 Jahren reiche nicht aus. Da nur die Kategorie "mehr als 5 bis unter
10 Jahren" erfasst wird, lässt sich nicht feststellen, wie häufig Jugendstrafen von genau 10
Jahren verhängt werden. Eine Auswertung von BZR-Daten zeigte aber, dass in den zehn Jahren
zwischen 1987 und 1996 bundesweit lediglich gegen 74 Verurteilte die Höchststrafe von 10
Jahren Jugendstrafe verhängt wurde, bei 8% aller wegen Mordes/Totschlags (einschließlich
Versuchs) nach JGG Verurteilten (vgl. Schub Die Höchststrafe im Jugendstrafrecht (10 Jahre)
- eine Analyse der Urteile von 1987 - 1996, 2000, S. 99, Tab. 4).
61 Wie defizitär der Stand ist, geht aus der Antwort der Bundesregierung auf die Große An-
frage "Jugendstrafrecht im 21. Jahrhundert" vom 13.2.2008 (BT-Drs. 16/8146) hervor. Zu
zahlreichen Fragen wurde - zutreffend - mitgeteilt, dass keine statistischen Daten vorliegen
bzw. der Bundesregierung keine Erkenntnisse vorliegen.
62 Auswertungen zu diesen beiden Ländern bei Hein= (Fn. 51), Schaubild 8 und 9.
63 Vgl. Heinz (Fn. 51), Schaubild 10.
Optimierung der deutschen Kriminalstatistiken 137
64 Schünemann/Hauer AnwBI 2006,439 f1'.; weitere Angaben bei Altenhain u. a. Die Praxis
der Absprachen in Wirtschaftsstrafverfahren, 2007, S. 331 ff.; lvfüller, lvI Probleme um eine
gesetzliche Regelung der Absprachen im Strafverfahren, 2008, S. 35 ff.
65 Heister-Neumann ZRP 2006, 137 ff.
66 BVerfGE 109, 133 (155 f.).
138 Wolfgang Heinz
69 Vgl. z.B. Steit= Probleme der Verlaufsstatistik - Verdeutlichung anhand einer Erhebung
zu Tötungsdelikten, Jur. Diss. 1993, S. 111, Tab. 3a.
140 Wolfgang Heinz
35 Fn. 5.
36 EysenckCrime and Personality, 1964; ders. Kriminalität und Persönlichkeit, 1977.
37 Eysenck/Gudjonsson The Causes and Cures ofCriminality, 1989.
152 Hans Joachim Schneider
fremde Gruppen. Sie befolgt Vorschriften rituell und ist extrem machtorien-
tiert. Die völlige Übereinstimmung mit den Mächtigen ist das Hauptcharak-
teristikum der autoritären Persönlichkeit. 47 Die Erziehung zur autoritären
Persönlichkeit ist von ihrer frühen Kindheit an streng und starr. Jede Oppo-
sition, Kritik und jeder Mangel an Disziplin werden unbarmherzig von den
Eltern und Lehrern unterdrückt. Den Eltern muss das Kind blind gehorchen.
Diese Art der Sozialisation bezweckt die unbedingte Unterwerfung des
Kindes unter den Willen seiner Eltern und Erzieher, ihre tiefe Bewunderung
und Verehrung durch das Kind und die Unterdrückung aller feindlichen und
aggressiven Gefühle des Kindes ihnen gegenüber. Die Aggressionen der
autoritären Persönlichkeit richten sich dann gegen die Außengruppe und
diejenigen, die den Eltern und Erziehern in ihrer Persönlichkeit nicht glei-
chen. Eine klar umrissene Dichotomie bildet sich heraus: Eltern, Erzieher
und alle, die zur autoritären Innengruppe gehören, sind gut und anständig.
Die "Außenseiter", die Fremden, die verschieden von der Innengruppe sind,
die zur Außengruppe gehören und zudem noch machtlos sind, werden als
schlecht abgelehnt und gebrandmarkt.
Welt. Sie hat sich diese Bewertung während ihrer Lebensbahn ange-
eignet.
49 Shaw The lack-Roller. A Delinquent Boys own Story (1930), Nachdruck 1966~ ders. The
Natural History of aDelinquent Career (1931), Nachdruck 1966~ ders. Brothers in Crime
(1938), Nachdruck 1966~ vgl. auch Snodgrass The lack-Roller at Seventy, 1982~ Gadd/Jejfer-
son Psychosocial Criminology, 2007, S. 124-145.
158 Hans Joachim Schneider
58 SteffensmeierlUlmer Confessions of a Dying Thief, 2005; Kat= in: Tonry (Hrsg.), Crime
and Justice, Bd. 14, 1991, S. 277-306.
59 Mischel Annual Review ofPsychology 55 (2004), 17.
60 Mischel (Fn. 59), 8, 14.
61 Vgl. im Grundsatz: AndrewslBonta (Fn. 26), S. 241.
Die kriminelle Persönlichkeit 161
befragt worden. Man hat auf diese Weise die Dynamik der kriminellen
Karriere ermittelt. Der Karriere-Kriminelle hat aus seiner kriminellen Akti-
vität materielle, kognitive und emotionale Belohnungen gezogen. Er hat
Freude am Verbrechen empfunden; er hat aus seinen kriminellen Identitäten
und Rollen Selbstbestätigung erhalten. Die empirische Studie erbrachte
folgende kriminologische Erkenntnisse: In einem Prozess der sozialen In-
teraktion werden Verbrechen gelernt. Es werden gelernt: Techniken der
Verbrechensbegehung, kriminelle Orientierungen (Motive, Rationalisierun-
gen) und kriminelle Haltungen, die die Gesetzesverletzung begünstigen.
Individuen lernen und internalisieren prokriminelle Normen, Werte, Bedeu-
tungen, Fähigkeiten und Definitionen durch Sozialisation und soziale Lern-
prozesse innerhalb prokrimineller Gruppen.
2. Kriminologische Prognoseforschung
Sie unterstützt in ihren neuesten Entwicklungen 65 das Persönlichkeits-
Prozess-Modell. Kriminogene, dynamische Persönlichkeitszüge, die krimi-
nelle Verläufe von Gedanken, Gefühlen und Verhalten über Situationen
hinweg beschreiben, sind für die Rückfall-Risiko-Einschätzung von höchs-
ter Bedeutung. Die aktuarische Rückfallprognose ist der klinischen überle-
gen. Für die Bewertung der kriminellen Bedrohung muss das Risiko-
Einschätzungs-Instrument allerdings neben statischen auch dynamische
Prädiktoren aufweisen. Dynamische Risiko-Prädiktoren sind "kriminogene
Bedürfnisse",66 die veränderbar und deshalb nicht nur für die Rückfall-
Einschätzung, sondern auch fur die Behandlungsprognose von entscheiden-
der Bedeutung sind. Dynamische Prädiktoren sind die stärksten Prädiktoren
rur die Einschätzung des Rückfalls und der Behandlungsart und -dauer.
Eine dynamische Rückfall-Risiko- und Behandlungs-Einschätzung nach
dem dynamischen Persönlichkeitsmodell berücksichtigt die persönliche
Entwicklung (Lern- und Interaktions-Erfahrung) ebenso wie die Sozialbe-
zogenheit der Persönlichkeit.
3. Verbrechens-Vorbeugungs-Forschung
Die Entwicklungsvorbeugung ist derzeit die effektivste Verbrechens-
Verhütungs-Form. 67 Sie hat ihre Grundlage in den Entwicklungs- und Le-
benslauftheorien ("Developmental and Life-Course Theorien"), die mit dem
65 Vgl. H. 1. Schneider in: ders. (Hrsg.), Internationales Handbuch der Kriminologie, Bd. 2,
2009, S. 909-946.
66 AndrewslBonta The Psychology ofCriminal Conduct, 4. Aufl. 2006, S. 48.
67 Vgl. Farrington in: H. 1. Schneider (Fn. 46), S. 183-207.
Die kriminelle Persönlichkeit 163
BERND-DIETER MEIER
I. Einleitung
Das strafrechtliche Kontrollsystem befindet sich kontinuierlich im Wan-
del. Mal werden die Strafnormen ausdifferenziert oder umgeschrieben, mal
werden Verfahrensabläufe verändert oder neue Eingriffsgrundlagen ge-
schaffen, mal werden im Sanktionssystem Neuerungen eingefuhrt. Der
kontinuierliche Wandel wird zwar gelegentlich beklagt, aber er ist unver-
meidlich, denn das Strafrecht muss sich immer wieder neu an die sich ver-
ändernden gesellschaftlichen Verhältnisse und die damit einhergehenden
neuen Herausforderungen rur den Rechtsgüterschutz anpassen. Besonders
auffällig sind die Veränderungen, die seit den 1990er Jahren im Sanktions-
system stattgefunden haben. Im Vergleich zu dem Rechtsfolgensystem, das
aus der großen Strafrechtsreform der 1960er Jahre hervorgegangen war,
werden vergeltende, ausgrenzende, das Sicherheitsbedürfnis der Allgemein-
heit betonende Sanktionen heute deutlich stärker in den Vordergrund ge-
stellt als vor 40 Jahren; auf Resozialisierung oder ausgleichende Regulie-
rung setzende Reaktionen werden eher zurückhaltend angewandt. Zurück-
zuführen ist die Akzentverschiebung auf einen Wandel in den StrafeinsteI-
lungen, der die gesamte Gesellschaft durchzieht; die Gesellschaft erwartet
heute in der Breite einen härteren ("konsequenteren") Umgang mit Straftä-
tern als in den 1960er und 70er Jahren. Mit der Neuausrichtung des Sankti-
onssystems wird dieser gesellschaftliche Wandel nachvollzogen, denn wie
der hochverehrte Jubilar auf dem Jenaer Symposium zum Jugendkriminal-
recht zutreffend bemerkt hat, "Kriminalpolitik gegen deutliche Mehrheits-
meinungen in der Bevölkerung ist in einer demokratischen Gesellschaft auf
Dauer nicht möglich."l
1 Schöch in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Das Jugendkriminalrecht vor neuen Her-
ausforderungen?, 2009, S. 19.
168 Bernd-Dieter Meier
tation mit der Berufspraxis auf die Entwicklung der Strafeinstellungen hat.
Die Studie geht von der Hypothese aus, dass die Punitivität über den Zeit-
raum von 10 Jahren hinweg einen U-kurvenförmigen Verlauf nimmt. Zu
Beginn des Studiums, so wird angenommen, ist die Punitivität vergleichs-
weise hoch. Die Studierenden beginnen das Studium mit denselben Einstel-
lungen, die sich auch in anderen Kreisen der Bevölkerung finden lassen: Sie
beurteilen die Tätigkeit der Strafjustiz kritisch ("zu lasch") und gehen davon
aus, dass mit einem härteren Durchgreifen gegen Straftäter bessere Erfolge
erzielen ließen. Im Verlauf des Studiums - so die Annahme - sinkt die
Punitivität ab, weil die Studierenden im Studium mit immer differenzierte-
ren Informationen über Kriminalität und Strafe konfrontiert werden; die
strafjustizielle Tätigkeit erscheint ihnen nicht mehr so einfach wie zu Be-
ginn des Studiums. Die Annahme der sinkenden Punitivität stützt sich auf
die Untersuchungen von Greve u. a., die gezeigt haben, dass das Punitivi-
tätsniveau in Befragungen dann signifikant geringer wird, wenn die Ant-
worten nicht intuitiv-spontan, sondern reflektiert-rational gegeben werden. 9
Sobald die Studierenden im Referendariat oder beim Berufseinstieg mit der
Praxis konfrontiert werden, wird hingegen mit einem erneuten Anstieg der
Punitivität gerechnet. Anzunehmen ist, dass sich die Probanden ab diesem
Zeitpunkt wieder an die in der breiteren Öffentlichkeit vorherrschenden
Einstellungen erinnern und sich insoweit um eine Anpassung bemühen. 10
Nicht ausgeschlossen erscheint aber auch, dass sich mit der praktischen
Erfahrung im Strafjustizsystem und der Beobachtung der Wirkungen, die
von einzelnen Strafmaßen (nicht) ausgehen, das Strafschwereempfinden
verändert; Justizpraktiker empfinden bestimmte Strafformen möglicherwei-
se als weniger schwer als dies Studierende tun und zeigen deshalb eine
größere Bereitschaft zur Verhängung härterer Sanktionen. 11
II. Methode
Leitgedanke der Studie ist die Annahme, dass die Einstellungen zu Kri-
minalität und Strafe keine statische, unveränderliche Größe sind, sondern
dem Wandel unterliegen und durch Erfahrungen, berufspraktische Notwen-
digkeiten ("Handlungszwänge") und die Einstellungen Dritter (Freunde,
Kollegen, Medien) geprägt werden. Als "Einstellungen" werden dabei die
niger LS. der sozialen Erwünschtheit; schriftlich äußern sie sich unver-
fälschter, ehrlicher und offener. I7 Diese Divergenz wirkt sich aber bei der
Umstellung auf die online-Befragung nicht aus.
Die Untersuchungsgruppe bilden diejenigen Studierenden, die im Winter-
semester 2008/9 an der Universität Hannover mit dem Jurastudium begon-
nen haben. Von den insgesamt 315 Studierenden haben sich an der ersten
Erhebung, die im Zusammenhang mit der Strafrechtsvorlesung bereits in
der ersten Veranstaltungswoche, also noch vor der ersten Konfrontation mit
strafrechtlichen Inhalten, stattgefunden hat, 202 Personen (64,1 %) beteiligt.
Die Vergleichsgruppe bilden die Studierenden, die im Wintersemester
2008/9 an der Medizinischen Hochschule Hannover mit dem Studium im
Fach Humanmedizin begonnen haben. Insgesamt handelte es sich hierbei
um 270 Studierende. Anders als an der Juristischen Fakultät konnten die
Studierenden hier nicht im Rahmen einer Vorlesung, sondern erst im An-
schluss an eine Vorlesung befragt werden, was auf die Teilnahmebereit-
schaft erheblichen Einfluss hatte. Insgesamt beteiligten sich hier an der
ersten Erhebung 46 Studierende (17,0 % des Studiengangs Humanmedizin),
bei denen es sich weit überwiegend um Erstsemester handelte (ein Student
war bereits im 3. Semester). In beiden Gruppen nahmen überproportional
viele Frauen an den Befragungen teil (Frauenanteil Jura 68,1 0/0; Medizin
71,7 %). Das Längsschnittdesign der Untersuchung ermöglicht es in späte-
ren Jahren, nicht nur die Entwicklung der Jura- und der Medizinstudieren-
den gegenüberzustellen, sondern auch innerhalb der Juristengruppe weitere
Binnendifferenzierungen vorzunehmen. So erlaubt es das Untersuchungsde-
sign etwa, die Entwicklung der StrafeinsteIlungen von Justizangehörigen
(Richtern und Staatsanwälten) mit denen von Rechtsanwälten zu kontrastie-
ren oder der Frage nachzugehen, ob es Unterschiede zwischen denjenigen
gibt, die sich für eine Karriere im strafrechtlichen Bereich entscheiden, und
denjenigen, die sich für das Zivilrecht oder das Öffentliche Recht entschei-
den oder die juristische Fachausbildung ganz aufgeben.
111. Ergebnisse
Aus der Fülle des Materials, das die erste und die im Wintersemester
2009/10 durchgeführte zweite Erhebungswelle erbracht haben, kann hier
aus Raumgründen nur auf einen kleinen Ausschnitt näher eingegangen
werden. Dabei werden hier - nicht zuletzt wegen des hohen Interesses des
Jubilars an dieser Thematik - Fragen der Strafzumessung in den Mittel-
punkt gestellt.
18 Ansatz übernommen aus der schottischen Studie "Public attitudes towards sentencing and
alternatives to imprisonment", 2002.
19 Statistisches Bundesamt, Strafverfolgung 2008, Tab. 3.1.
"Hunde, die bellen, beißen nicht" 175
sächlich verhängten Strafen als die männlichen Befragten, bei denen die
Differenz im Durchschnitt bei 40 Prozentpunkten lag.
b) Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass man die Befragten um die
Beurteilung der gegenwärtigen richterlichen Strafzumessungspraxis bittet.
In der "Hannover Längsschnittstudie" wird dabei in der Weise vorgegan-
gen, dass die Studierenden gebeten werden, die Strafzumessungspraxis auf
°
einer 7-stufigen Skala von -3 ("viel zu gering") über ("angemessen") bis
+3 ("viel zu hoch") zu bewerten. Die Befragten werden zunächst um eine
Gesamteinschätzung der Strafzumessungspraxis gebeten, im Anschluss
werden die Fragen auf einzelne Deliktsbereiche fokussiert. Bei jedem Item
besteht zusätzlich die Möglichkeit, die Kategorie "weiß nicht" anzukreuzen.
Auch bei diesem Ansatz zeigte sich eine deutliche, wenngleich delikts-
spezifisch unterschiedliche Unzufriedenheit der Studierenden. Die General-
frage nach den "Strafen im Allgemeinen" ergab einen Durchschnittswert
von -1,2. Ausgehend von dem Wert 0, bei dem die Sanktionspraxis als "an-
gemessen" eingestuft wird, macht der Wert von -1,2 deutlich, dass die rich-
terliche Strafzumessung über alle Delikte hinweg im Durchschnitt rur zu
gering gehalten wird. Die deliktsspezifische Aufschlüsselung dieser Ein-
schätzung zeigt, dass sich der Durchschnittswert bei manchen Delikten dem
Nullpunkt annähert, die Unzufriedenheit also weniger stark ausgeprägt ist.
Diese Annäherung an den Nullpunkt wurde deutlich bei den Delikten
"Diebstähle und Einbrüche" (Mittelwert -0,3), "Rauschgifthandel und Dro-
genkriminalität" (-0,6) sowie "Bestechung und Korruption" (-1,1). Umge-
kehrt wurde bei den Gewalt- und Sexualdelikten eine deutlich stärkere Un-
zufriedenheit mit der richterlichen Strafzumessungspraxis erkennbar. Eine
die Gesamteinschätzung übersteigende Entfernung vom Nullpunkt zeigte
sich bei den Delikten "Körperverletzungen" (-1,3), "Mord und Totschlag"
(-1,6) sowie "Vergewaltigung und sexuelle Nötigung" (-2,3). Zwischen der
beiden Gruppen (Jura und Medizin) bestehen keine signifikanten Unter-
schiede, wenngleich sich die Mittelwerte der Medizinstudierenden eher in
Richtung Nullpunkt nähern als die der Jurastudierenden; letztere schätzen
die Schwere der verhängten Strafen also in der Tendenz noch etwas gerin-
ger ein.
c) Fazit beider Auswertungsansätze ist, dass die Studienanfänger mit der
gegenwärtigen richterlichen Strafzumessungspraxis nicht zufrieden sind.
Sowohl was die Häufigkeit der Verhängung vollstreckter Freiheitsstrafen
als auch was die nicht an eine konkrete Sanktionsart gekoppelte Schwere
der verhängten Strafen betrifft, zeichnet die Befragung ein deutliches Bild:
Die Erstsemester wünschen sich von der Justiz ein härteres, rigideres Vor-
gehen. Dabei lassen beide Auswertungsansätze erkennen, dass die Bewer-
tung mit den angesprochenen Delikten variiert: Bei den Eigentumsdelikten
("Raubdelikte" im Ist/Soll-Vergleich, "Diebstähle und Einbrüche" bei der
176 Bernd-Dieter Meier
2. Eigene Strafmaßentscheidungen
a) Wie im Zusammenhang mit den methodischen Ausführungen bereits
gesagt wurde, wird in der "Hannover Längsschnittstudie" auch mit Vignet-
ten gearbeitet. Konkret geht es um zwei Fallschilderungen, einen Einbruch
und eine Vergewaltigung. Zur Verdeutlichung seien die Fallschilderungen
wiedergegeben. Fall 1 lautet: "Ein 19-jähriger Lehrling bricht nachts in ein
Einfamilienhaus ein und entwendet einen tragbaren DVD-Player im Wert
von 500 Euro. Bislang stand der Betroffene vor keinem Gericht. Ein Sozial-
arbeiter, der vom Gericht beauftragt wurde, empfiehlt dem Schüler, das
Diebesgut zurückzugeben. Kurz bevor der Gerichtstermin stattfindet, gibt
der Lehrling den DVD-Player zurück, leistet Schadensersatz für den Ein-
bruch und entschuldigt sich für seine Tat. "20 Fall 2 ist folgendermaßen for-
muliert: "Ein 28-jähriger lediger Elektriker vergewaltigt eine nachts an der
Bushaltestelle wartende, ihm unbekannte 17-jährige Frau. Die Hilferufe des
Opfers erstickt der Täter dadurch, dass er ihr den Hals zudrückt, bis sie
besinnungslos ist. Vor der Tat hat der Täter in einer Diskothek vergeblich
versucht, eine ehemalige Freundin zum Geschlechtsverkehr zu überreden.
Verärgert über seinen Misserfolg und mit etwa 1,4%0 Blutalkohol trifft er
dann sein Opfer an einer abgelegenen Bushaltestelle; als auch hier seine
Annäherungsversuche scheitern, kommt es zur Tat. Der Täter ist zweimal
wegen vorsätzlicher Körperverletzung vorbestraft; die Bewährungszeit der
letzten Strafe (6 Monate Freiheitsstrafe) ist einen Monat vor der Tat abge-
laufen. "21 Im ihrem Unrechts- und Schuldgehalt sind beide Fälle deutlich
unterschiedlich. Aus strafzumessungsrechtlicher Sicht werden eine Vielzahl
von Strafzumessungsfaktoren angesprochen, die bei Fall 1 eher in eine für
b) Was bedeuten diese Verteilungen für das hier diskutierte Problem der
Punitivität? Für sich genommen machen die dargestellten Verteilungen
lediglich deutlich, dass die in den Vignetten mitgeteilten Strafzumessungs-
faktoren von den Studierenden aufgegriffen und in konkrete Strafmaßent-
scheidungen umgesetzt werden. Dabei ist es durchaus interessant zu sehen,
dass sich die einzelnen Gruppen kaum voneinander unterscheiden. Zwar
lassen die Jurastudierenden in Fall 1 eine signifikant höhere Bereitschaft zur
Verhängung härterer Sanktionen erkennen; in Fall 2 imponiert jedoch die
Häufigkeit, mit der die Medizinstudierenden die lebenslange Freiheitsstrafe
verhängen wollen. Zudem überrascht in Fall 2 die signifikant geringere
Strafschwere, die die weiblichen Studierenden rur richtig halten. Über die
Punitivität der Befragten ist mit alledem jedoch noch nichts gesagt; allein
aus den Strafmaßangaben lässt sich nicht ersehen, für wie hart die Studie-
renden ihre Urteile halten. Offen ist, ob die Befragten mit ihren Urteilen das
aus ihrer Sicht angemessene Strafmaß treffen oder ob sie "nach oben" oder
"unten" abweichen und eine besondere Härte oder Milde walten lassen.
Um aus den Strafmaßentscheidungen Erkenntnisse über die Punitivität
der Befragten zu gewinnen, wird in der "Hannover Längsschnittstudie" ein
Tat-/Strafschwerevergleich durchgeführt. Grundgedanke des Ansatzes ist
es, sowohl die Schwere der in den Vignetten dargestellten Taten als auch
die Schwere der von den Befragten ausgesprochenen Strafen auf zwei mit-
einander vergleichbaren Skalen zu erfassen und die Skalierungen hierbei im
Fragebogen nicht vorzugeben, sondern - entsprechend den Empfehlungen
von Suhling, Löbmann und Greve 23 - innerhalb eines gesetzten Rahmens
von den Befragten selbst vornehmen zu lassen. Auf diese Weise ist es mög-
lich, die Schwere der von den Befragten ausgesprochenen Strafen auf die
von ihnen empfundene Schwere der Taten zu beziehen und zu ermitteln, ob
die jeweils für richtig gehaltene Strafschwere der Tatschwere entspricht
oder ob sie darüber oder darunter liegt. Entsprechend diesem Ansatz werden
die Studierenden bei beiden Vignetten einmal gefragt: "Wie schätzen Sie
die Schwere des Verhaltens des Lehrlings/Elektrikers ein? Ordnen Sie dem
Verhalten bitte eine Zahl zu (Setzen Sie zum Vergleich Mord = 100)"24, und
wenig später werden sie gefragt: "Wie hart empfinden Sie die von Ihnen
verhängte Strafe? (im Vergleich zu Lebenslang = 100)". Beide Skalen sind
im geltenden Recht fest verankert, in dem es kein schwereres Delikt als den
Mord und keine härtere Strafe als die lebenslange Freiheitsstrafe gibt.
Vor diesem Hintergrund wurde die Tatschwere von den Studierenden in
Fall 1 (Wohnungseinbruchsdiebstahl; freiwillige Schadenswiedergutma-
chung) im Durchschnitt bei 19,6 eingeordnet (s= 15,8; med= 15); die nied-
rigste Zahl betrug 1, das Maximum 100. Statistisch unterschied sich die
Gruppe der Jurastudierenden nicht von der der Medizinstudierenden. Der
Vergleich der Mittelwerte zeigt jedoch, dass die Juristen das Verhalten als
weniger schwer empfanden (m= 19,2; s= 1,0) als die Mediziner (m=21,3; s=
2,8).
Die Härte der verhängten Strafe lag im Mittel über beide Gruppen hinweg
bei 16,4 (s= 16,7). Im Minimum wurde hier 0 (Sanktionsentscheidung:
folgenlose Einstellung [n= 8] oder soziale Dienste [n= 6]) und als Höchst-
zahl 80 fur bedingte oder unbedingte Freiheitsstrafen (n= 3) vergeben. Der
Median betrug 10. Die Erstsemester der unterschiedlichen Studienrichtun-
gen gaben dabei identische subjektive Strafhärtewerte an, obwohl die Juris-
ten, wie beschrieben, "objektiv" signifikant härtere Strafen verhängten.
I I
o I 50 100
Strafhärte
I
Schwere des Verhaltens
Der Vergleich der Mittelwerte zeigt, dass die Werte rur die Schwere des
Verhaltens (m=19,6) und die Strafhärte (m=16,4) nah beieinander liegen.
Die Strafe, die bei der Mehrheit der Befragten Soziale Dienste bedeutete,
wird als geringrugig weniger schwer empfunden als es dem Verhalten des
Lehrlings entspricht.
In Fall 2 (Vergewaltigung; Vorstrafenbelastung) lag der Mittelwert der
Schwereinschätzung des Verhaltens über beide Gruppen hinweg bei 82,9
(s= 12; med= 85) mit einem Minimum von 35 und einem Maximum von
100. Wie im ersten Fall unterschied sich das Antwortverhalten der Medizi-
ner nicht von dem der Juristen; der Mittelwert der Mediziner war jedoch
leicht höher (85,6) als der der Juristen (82,3).
Die Strafhärte betrug im Mittel 62,0 (s= 28,4). Dabei nahm die niedrigste
Strafhärte den Wert 0 (Sanktionsentscheidung: Freiheitsstrafe ohne Bewäh-
rung [n=6] und lebenslänglich [n=2]) und die höchste Nennung den Wert
100 (lebenslänglich [n= 27]) an. Bei der Unterscheidung nach Gruppen ist
zu sehen, dass die Mediziner ihre verhängten Strafen härter empfinden (m=
68,8; s= 23,8) als die Juristen, wobei die Antworten bei den Jura- Erstse-
mester stärker streuen (m= 60,4; s= 29,2); die Unterschiede sind jedoch
nicht signifikant.
180 Bernd-Dieter Meier
o 50 100
Strafhärte Schwere des
Verhaltens
Der Vergleich der Mittelwerte zeigt für Fall 2, dass die Angaben für die
Schwere des Verhaltens (m= 82,9) und die Strafhärte (m= 62,2) anders als
in Fall 1 erheblich divergieren. Das Verhalten des Elektrikers wird als deut-
lich schwerer eingeschätzt als es der verhängten Strafe entspricht, wobei
diese in der großen Mehrzahl der Fälle unbedingte Freiheitsstrafe (zeitig
oder lebenslang) bedeutete. Die Divergenz der Mittelwerte überrascht inso-
fern, als den Studierenden im Fragebogen für die zeitige Freiheitsstrafe
keine Vorgaben gemacht wurden (z.B. "höchstens 180 Monate"); die Stu-
dierenden waren völlig frei und haben sich, sofern eine zeitige Freiheitsstra-
fe gewählt wurde, ohne jede Einengung für eine Durchschnittsdauer von
lediglich 72,5 Monaten (s= 2,9 Monate) entschieden.
c) Ausgangspunkt des Tat-/Strafschwerevergleichs ist die Frage nach der
Punitivität der Studierenden. Der Vergleich macht deutlich, dass die Studie-
renden mit ihren Strafmaßentscheidungen sehr moderat sind: In keinem der
beiden Beispielsfälle verhängen sie Strafen, die sie im Verhältnis zu der
empfundenen Tatschwere als unangemessen hart ansehen; in beiden Fällen
weisen die Strafmaße eher in Richtung Milde. Dies trifft vor allem im zwei-
ten Fall zu, in dem die Mittelwerte für die Tat- und die Strafschwere beson-
ders weit auseinanderfallen, obwohl sich in den Mittelwerten des zweiten
Falls auch Extremwerte widerspiegeln, bei denen die empfundene Strafhärte
mit Null kodiert wurde, während als Sanktion eine unbedingte zeitige oder
sogar lebenslängliche Freiheitsstrafe für richtig gehalten wurde. Im Übrigen
zeigt sich, dass sich die Punitivität der Jurastudierenden nicht wesentlich
von der der Medizinstudierenden unterscheidet. Feststellen lässt sich ledig-
lich, dass die Juristen in Fall 1 "objektiv" härtere Strafen verhängten als die
Mediziner, die sie aber "subjektiv" nicht als härter einstuften; dies mag als
Hinweis auf eine abweichende, weniger "feinfühlige" Wahrnehmung der
Jurastudierenden zu werten sein.
IV. Diskussion
Angesichts des knappen zur Verfügung stehenden Raums muss Vieles of-
fen bleiben. Wenn man aus den Untersuchungsergebnissen ein vorsichtiges
Fazit ziehen will, dann fällt der Blick zwangsläufig auf die erstaunliche
Divergenz, die sich zwischen den beiden hier vorgestellten Untersuchungs-
teilen zeigt: Während in dem ersten Untersuchungsteil, in dem die Studie-
"Hunde, die bellen, beißen nicht" 181
25 Applegate u.a. Crime & Delinquency 42 (1996), 517 ff.~ weitere Nachw. bei Suhling/
Löbmann/Greve (Fn. 11), 206.
182 Bernd-Dieter Meier
ten kann. Der eingangs zitierte Satz des Jubilars, dass eine Kriminalpolitik
gegen deutliche Mehrheitsmeinungen in der Bevölkerung auf Dauer nicht
möglich sei, ist nach alledem zwar unbezweifelbar richtig. Immer muss
jedoch sorgfältig geprüft werden, wie diese Mehrheitsmeinungen zustande
gekommen sind und inwieweit sie auch bei anderen Erhebungsmethoden
bestehen bleiben.
11. Jugendstrafrecht
Jugendkriminalrecht - qua vadis?
MICHAEL GEBAUER*
* Der Verfasser ist Ministerialrat im Bundesministerium der Justiz. Der Beitrag gibt aus-
schließlich seine eigene Meinung wieder.
1 Kiesow Jugendgerichtsgesetz vom 16. Februar 1923, 1923, S. X, XXVI.
2 Vgl. etwa BT-Drs. 16/1027, S. 1,7; 15/3422, S. 1, 12; 14/6539, S. 1 f, 3; BR-Drs. 459/98,
S. 1,5.
3 Kein besonderes Jugendstrafrecht, sondern in den §§ 55-57 RStGB lediglich die Festle-
gung der absoluten Strafmündigkeitsgrenze auf das Alter von 12 Jahren und der relativen
Strafmündigkeit von 12- bis 18-Jährigen, die freizusprechen sind, wenn ihnen bei der Tat die
notwendige Einsichtsfähigkeit fehlt, und bei denen sonst lediglich eine obligatorische Strafmil-
derung gilt. Vgl. dazu Kraft Tendenzen in der Entwicklung des Jugendstrafrechts seit der
Jugendgerichtsbewegung, 2004, S. 27 ff; Günzel Die geschichtliche Entwicklung des Jugend-
strafrechts und des Erziehungsgedankens, 2001, S. 23 ff
186 Michael Gebauer
strafrecht politisch durchgesetzt werden konnte? Hier lassen sich eine ganze
Reihe von Bedingungen benennen. Von grundlegender Bedeutung waren
sicher die seit Ende des 19. Jahrhunderts 7 auf den Plan getretenen neuen
Wissenschaften, insbesondere die Kriminalwissenschaften als Vorläufer der
modernen Kriminologie und die Erziehungswissenschaft. Deren herausra-
gende Vertreter, vor allem Franz von Liszt, vertraten ihre Erkenntnisse und
Reformvorstellungen mit hohem Engagement und Überzeugungskraft, von
Liszt zeitweise auch als Reichstagsabgeordneter, verstärkt durch den Zu-
sammenschluss und die Arbeit in der Internationalen Kriminalistischen
Vereinigung. 8 Die Auswertung der neu geschaffenen Kriminalstatistik und
Rückfalluntersuchungen hatten gezeigt, dass das herkömmliche strafrechtli-
che Instrumentarium einschließlich des herkömmlichen Strafvollzugs nicht
geeignet war, um auf junge Rechtsbrecher einen bessernden Einfluss auszu-
üben. Die Konsequenz konnte daher nicht sein "mehr von dem Gleichen",
sondern mündete in die Forderung nach einer jugendspezifischen Gestal-
tung des Strafverfahrens und nach Reaktionsmöglichkeiten, die den beson-
deren Bedürfnissen und den Bedingungen für eine positive Entwicklung
junger Menschen Rechnung trugen. Forderungen, die vor dem Hintergrund
schon länger bestehender Diskussionen um die Notwendigkeit einer allge-
meinen Reform des Strafrechts auf einen vorbereiteten rechtspolitischen
Raum trafen.
Mit parallelen Vorstellungen traten an die Seite der Wissenschaftler und
Juristen als wesentlicher zweiter Motor Vereinigungen der freien Jugend-
fiirsorge, die zusätzliches Gewicht durch die Verbindung in der Deutschen
Zentrale für Jugendfürsorge (zunächst unter dem Namen "Deutscher Zent-
ralverein fiir Jugendfiirsorge") erhielten. 9 Durch das motivierte Zusammen-
wirken von engagierten Einzelpersonen und Vereinigungen aus dem Be-
gestanden habe, vgl. Neumann Gustav Radbruchs Beitrag zur Strafrechtsreform, in: Gustav
Radbruch als Reichsjustizminister, 2004, S. 50.
7 Ausführlich zur geschichtlichen Entwicklung: Kraft Tendenzen in der Entwicklung des
Jugendstrafrechts seit der Jugendgerichtsbewegung, 2004; Günzel Die geschichtliche Entwick-
lung des Jugendstrafrechts und des Erziehungsgedankens, 2001.
8 Vgl. Kiesow (Fn. 1), S. X ff.
9 Vgl. Kiesow (Fn. 1), S. XV. Bemerkenswert ist das von Kiesow referierte Selbstverständ-
nis dieser Vereinigungen: "Vielerorts bildeten sich Vereinigungen, die es sich zur Aufgabe
machten, nach amerikanischem Vorbild dem Vormundschaftsrichter und dem Strafrichter, der
sich mit Jugendlichen zu befassen hatte, hilfreiche Hand zu leisten, um die Lebensverhältnisse
des Jugendlichen zu erforschen." Interessant ist im Hinblick auf heutige Diskussionen zum
Selbstverständnis der Jugendhilfe im Jugendstrafverfahren, dass z.B. auf dem 5. Dt. Jugendge-
richtstag 1920 in Jena von Seiten der Jugendgerichtshilfe beklagt wurde, dass der Begriff
"Jugendgerichtshilfe" in dem damals vorliegenden Gesetzentwurf überhaupt nicht verwandt
wurde (vgl. Sonderheft zur Geschichte der Jugendgerichtsbewegung, DVJJ-Journal 2001,
S.231).
188 Michael Gebauer
10 s. nur Heinz Jugendstrafrechtsreform durch die Praxis, in der gleichnamigen vom Bun-
desministerium der Justiz herausgegebenen Dokumentation des Konstanzer Symposiums,
Bonn 1989, S. 13 ff.
11 Vgl. Neumann (Fn. 6), S. 50.
Jugendkriminalrecht - qua vadis? 189
12 RGBl. I, S. 2000. Mit ihr wurde ab einem Alter von 16 Jahren bei entsprechender Reife
die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht möglich (was auf der Grundlage dieser va sogar
die Todesstrafe ermöglichte; äußerer Anlass für die va war ein Einzelfall, in dem das Jugend-
strafrecht nicht für ausreichend und die Todesstrafe für angezeigt gehalten wurde).
13 RGBl. I, S. 1336. Der Jugendarrest war als Besinnungssanktion mit einer gewissen
Schockwirkung für Jugendliche mit Straftaten aus dem oberen einfachen bis mittleren, nicht
aber dem schweren Bereich gedacht, die noch als beeindruckbar angesehen wurden, "nament-
lieh bei noch nicht vorbestraften Jugendlichen, bei den noch nicht Verdorbenen und den Ver-
führten", bei denen Gefängnisstrafe nicht geboten war (Ministerialdirektor Schäfer Jugendar-
rest und Strafe, in: Zur Einführung des Jugendarrests - Abgekürzter Bericht über die
Festsitzung der Akademie für Deutsches Recht am 6. November 1940 und die Jugendrichterta-
gung im Reichsjustizministerium am 7. November 1940, 1940, S. 56; vgl. ebda. Reichsminister
Gürtner, S. 33, sowie die AV des Reichsjustizministers vom 6.11.1940, Dt. Justiz S. 1243,
bericht. Dt. Justiz S.1269)
14 RJGG vom 6. November 1943, RGBl. I, S. 637, insbes.: Einführung der "Zuchtmittel"
(einschl. des Jugendarrests), der Jugendgefängnisstrafe wegen "schädlicher Neigungen" sowie
"wenn das Bedürfnis der Volksgemeinschaft nach Schutz und Sühne wegen der Größe der
Schuld" sie erforderte (gesetzliches Höchstmaß weiterhin 10 Jahre); keine Aussetzung zur
Bewährung; "Jugendschutzlager" der Polizei; Strafmündigkeit ab 12 Jahren zum Schutz des
Volkes bei schweren Verfehlungen; Anwendung des allgemeinen Strafrechts auf Jugendliche
wegen des "gesunden Volksempfindens" bei ausreichender Reifeentwicklung, auch ohne diese
zum Schutz des Volkes bei "charakterlich abartigen Schwerverbrechern"; nennenswert auch
die Einführung des vereinfachten Jugendverfahrens zur beschleunigten Aburteilung junger
Rechtsbrecher.
15 Vgl. Kümmerlein Reichsjugendgerichtsgesetz, 1944, S. 3 f.
190 Michael Gebauer
lung der Rechtspraxis nur eine untergeordnete Rolle. Sie wurden aus ver-
schiedenen Gründen als unzureichend betrachtet (neben erzieherischer Inef-
fektivität eine mangelnde Kontrollierbarkeit, zum Teil auch fehlende Kos-
tenträgerschaft). Deshalb habe die Praxis letztlich überwiegend doch auf
Gefängnisstrafen zurückgegriffen, vielfach zu als im Wesentlichen wir-
kungslos betrachteten Bewährungsstrafen oder zu kurzen Gefängnisstrafen,
bei deren geringer Dauer keine sinnvolle erzieherische Arbeit möglich war
und die für die betroffene Klientel wegen ihrer entsozialisierenden und
stigmatisierenden Wirkungen und der Kontakte zu schwerer belasteten
Mitgefangenen als eher schädlich angesehen wurden. Damit wurde maßgeb-
lich die Einführung des Jugendarrests und der anderen Zuchtmittel begrün-
det.
Man darf davon ausgehen, dass die Öffentlichkeit schon aufgrund der
Kriegsereignisse nur mäßigen Anteil an den Arbeiten zur Änderung des
Jugendgerichtsgesetzes und an deren Umsetzung nahm, zumal die eigentli-
che Gesetzgebung zu großen Teilen in der Sache nur die schon erlassenen
Verordnungen etc. nachvollzog. Es war hier auch kaum mit nennenswerter
Kritik zu rechnen. Gerade die schlimmsten ideologischen Änderungen wur-
den mit dem "Schutz des Volkes", den "Bedürfnissen der Volksgemein-
schaft" oder dem "gesunden Volksempfinden" begründet und waren wahr-
scheinlich aufgrund der verbreiteten Ideologie bei einem nicht geringen Teil
der Bevölkerung durchaus nicht unpopulär. Die eigentliche Schwierigkeit
wird daher nicht die - zu jener Zeit ohnehin nicht sehr bedeutsame - Ak-
zeptanz in der öffentlichen Meinung betroffen, sondern darin gelegen ha-
ben, die fachlichen Vorstellungen der Jugendkriminalrechtler und der Ideo-
logen in einen unter den damaligen Bedingungen für beide Seiten
vertretbaren Einklang oder Kompromiss zu bringen. 16 Denn auch die Natio-
nalsozialisten waren bestrebt, den Erziehungsgedanken und gewisse Leitge-
danken der Jugendgerichtsbewegung wenigstens formal beizubehalten und
das Jugendstrafrecht in seinem breiten Anwendungsfeld von den Strafvor-
stellungen des allgemeinen Strafrechts zu trennen. 17
16 Auch die DVJJ, deren offene Arbeit, insbesondere die Veran~taltung von Jugendge-
richtstagen, während der nationalsozialistischen Zeit gehindert war, nahm über ihren Ge-
schäftsführenden Ausschuss und Kontakte zu Referenten des Reichsjustizministeriums Ein-
fluss auf die Gesetzgebungsarbeiten (so der damalige Vorsitzende R. Sieverts auf dem
9. Jugendgerichtstag 1953 in München, DVJJ-Joumal 2001 [Fn.9], S.241). Dabei wurde
offenbar auch von ihrer Seite der Jugendarrest damals als Fortschritt gegenüber dem bisherigen
Recht betrachtet.
17 Oberster Zweck war zwar der "Schutz der Volksgemeinschaft"~ dieser sollte jedoch "bei
einem Jugendlichen am zweckmäßigsten durch seine Erziehung zu einem ordentlichen Volks-
genossen verwirklicht" werden, vgl. Kümmerlein (Fn. 15), S. 11 (zum sonstigen Wirken des
JGG-Kommentators Kümmerlein im Reichsjustizministerium aufschlussreich: Kramer Der
Beitrag der Juristen zum Massenmord an Strafgefangenen und die strafrechtliche Ahnung nach
Jugendkriminalrecht - qua vadis? 191
1945, KritJ 2010, 98 ff.). Dabei wurden freilich auch die ahndenden Zuchtmittel und das
Jugendgefängnis durchaus als Mittel der Erziehung betrachtet. Erziehungsziel war nicht die
Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfahigen Persönlichkeit (vgl.
zum heutigen Verständnis Wiesner SGB VIII, 3. Aufl. 2006, § 1 Rn. 10 ff., § 9 Rn. 7 f.~ Wink-
ler in: Bundesministerium der Justiz [Hrsg.], Das Jugendkriminalrecht vor neuen Herausforde-
rungen, 2009, S. 135 ff.~ zur Entwicklung: Pieplow in: M. Walter [Hrsg.], Beiträge zur Erzie-
hung im Jugendkriminalrecht, 1989, S. 5 ff.~ Grunewald Die De-Individualisierung des
Erziehungsgedankens im Jugendstrafrecht, 2003), sondern die Eingliederung in die nationalso-
zialistische Volksgemeinschaft. Bemerkenswert erscheint, dass trotz der punitiven Durchbre-
chung der Altersgrenzen ernsthaft auch eine Einbeziehung der 18- bis 21-Jährigen in das
Jugendstrafrecht erwogen wurde, die dann aber im Hinblick auf deren überwiegende Wehr-
machtszugehörigkeit unterblieb, vgl. Kümmerlein (Fn. 15), S. 8. Die Forderung zur Einbezie-
hung der Heranwachsenden entsprechend ihrem Reifestand war schon früher erhoben worden,
z. B. bereits vom 6. Dt. Jugendgerichtstag 1924 in Heidelberg, s. die Dokumentation in DVJJ-
Journal 2001 (Fn. 9), S. 234.
18 Vgl. DallingerlLackner JGG, 1955, Einf. Rn. 16~ Sieverts in: DVJJ-Journa12001 (Fn. 9),
S. 241 f.~ SchaffsteinlBeulke Jugendstrafrecht, 14. Aufl. 2002, S.39~ LaubenthallBaier Jugend-
strafrecht, 2006, Rn. 33.
19 Dallinger/Lackner (Fn. 18), Einf. Rn. 44 f.
20 Die DVJJ konstituierte sich erst in den Jahren 1952/1953 neu, vgl. DVJJ-Journal 2001
(Fn. 9), S. 240
21 JGG vom 4. August 1953 (BGBL I, S. 751). Als bedeutsame Neuerungen sind neben der
Heranwachsendenregelung vor allem zu nennen die Erhöhung des Mindestmaßes der Jugend-
192 Michael Gebauer
strafe auf sechs Monate, die (Wieder-)Einführung der Jugendstrafe auf Bewährung, unter
Ausgleich der Schwächen der Aussetzung auf Probe des JGG 1923, sowie der Aussetzung der
Verhängung der Jugendstrafe und die Neugestaltung der Jugendgerichtsverfassung, unter
Wiedereinbeziehung der Jugendschöffen.
22 Vgl.Dallinger/Lackner (Fn. 18), Einf. Rn. 34.
23 Vgl. auch M Walter ZJJ 2007, 402 f. sowie die Bundesregierung in Beantwortung einer
Kleinen Anfrage zur Behandlung von Heranwachsenden, BT-Drs. 15/2102, S. 2 (s. auch die
Fortsetzung in BT-Drs. 15/3850).
24 Vgl. den Überblick von Kraft (Fn. 3), S. 150 ff.
25 Vgl. Sieverts MschrKrim 1961, 223~ Schüler-Springorum MschrKrim 1964, 1~ ders.
MschrKrim 1969, 13 f.~ Pfeiffer Kriminalprävention im Jugendgerichtsverfahren, 1983, S. 50
Fn. 54~ Kraft (Fn. 3), S. 152, 190 f. Der 11. Dt. Jugendgerichtstag stand 1959 unter dem Motto:
"Die Jugendkriminalrechtspflege als Personenfrage und als Aufgabe der Zusammenarbeit".
Jugendkriminalrecht - qua vadis? 193
30 Vgl. die Rede der Abg. Nickels BT-Plenarprot. 11/216, S. 17089 f, gegenüber den loben-
den Beiträgen der Abg. Sessing, de With, Funke und des Bundesministers Engelhard, a.a.O.
S. 17085 f In ähnlicher Hinsicht kritisch wie die Grünen hatten sich aus kriminologischen und
empirischen Gründen während der Entwurfsarbeiten und des Gesetzgebungsverfahrens auch
viele Fachleute des Jugendkriminalrechts geäußert, vgl. Kraft (Fn. 3), S. 232 f, auch z.B. der
damalige Vorsitzende der DVJJ C. Pfeiffer - allerdings ausdrücklich unter dem Tenor ,ja -
aber" in seiner schriftlichen Stellungnahme zur Vorbereitung der Anhörung im Rechtsaus-
schuss des Bundestages am 16. Februar 1990, Anlage zum Stenogr. Bericht Nr. 70 des 6.
Ausschusses/ll. WP; ebda. Stellungnahme Hein= u.a.
31 Der damals noch so bezeichnete "Einstiegsarrest" neben einer zur Bewährung ausgesetz-
ten Jugendstrafe, der in dem Arbeitsentwurf 1982 und dem Referentenentwurf 1983 noch
enthalten war, übrigens mit im Wesentlichen gleichlautenden Regelungen wie die Entwürfe der
letzten Jahre zum "Warnschussarrest", fand sich aufgrund nachdrücklicher Kritik aus Wissen-
schaft und Praxis bereits nicht mehr in dem Referentenentwurf 1987 und konsequenterweise
auch nicht in dem Regierungsentwurf von 1989.
32 Vgl. die vom BMJ in der Reihe "recht" herausgegebenen Dokumentationen zum Biele-
felder Symposium von 1984 ("Neue ambulante Maßnahmen nach dem Jugendgerichtsgesetz",
4. Aufl. 1992) und zum Konstanzer Symposium von 1988 ("Jugendstrafrechtsreform durch die
Praxis", 4. Aufl. 1992).
Jugendkriminalrecht - qua vadis? 195
33 Vgl. das kurz vor dem 1. JGGÄndG verkündete Kinder- und Jugendhilfegesetz vom 16.
Juni 1990 (BGBL I, S. 1163), das im Sozialgesetzbuch VIII ein neues und modernes Jugendhil-
ferecht etablierte. Im Hinblick auf das Verhältnis von Jugendhilfe und Jugendgerichtsbarkeit
und ihre sich nicht deckenden Aufgaben und Ziele gab es allerdings auch deutliche Reibungs-
punkte, wie etwa die Gesetzgebungsgeschichte des § 12 JGG zeigt (s. dazu Ostendorj JGG,
8. Aufl. 2009, § 12 Rn. 8, § 38 Rn. 19a~ Art. 3 des 1. ÄndG zum SGB VIII vom 16.2.1993,
BGBL I, S.239).
34 Auf diesen geschichtlichen Hintergrund muss auch im Zusammenhang mit heutigen Di-
vergenzen über die Kostentragung für die Durchführung von ambulanten Maßnahmen immer
wieder hingewiesen werden. Dabei wird mitunter zur Begründung einer Kostenpflichtigkeit der
Justiz der Eindruck vermittelt, die Jugendhilfe setze hier Sanktionen des Jugendgerichts - quasi
als Vollstreckungsorgan - um. Tatsächlich handelt es sich jedoch um originäre Leistungen der
Jugendhilfe, auf die die Justiz zurückgreift, indem sie den Jugendlichen zu ihrer Inanspruch-
nahme verpflichtet, nicht aber den - eigenverantwortlich über die Leistungsvoraussetzungen
entscheidenden (vgl. § 36a SGB VIII) - Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Diese Sichtweise
ist auch von der Justizministerkonferenz wiederholt vertreten worden, vgl. Beschlüsse vom
22./23.11.1994 zu TOP 8, vom 10.-12.6.2002 zu TOP 11.7 und vom 28./29. Juni 2007 zu TOP
II.2~ s. dazu auch Trenczek in: Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 6. Aufl. 2009, § 52 Rn.
49, 55 f. sowie mit and. Auffassung Ostendorf(Fn. 33).
196 Michael Gebauer
unter Federführung des BMJ zu eigen gemacht und die Grünen waren oh-
nehin auch im strafrechtlichen Bereich reformorientiert. Unterschiedliche
Auffassungen wurden nicht zur politischen Profilierung oder für Wahl-
kämpfe genutzt; vielmehr gelang es nach den vorangegangenen Arbeiten
und Diskussionen, das Vorhaben vom Anfang bis zum Ende der 11. Legis-
laturperiode zum Abschluss zu bringen. Dabei fand schon im Vorfeld des
Regierungsentwurfs eine gründliche und eingehende Abstimmung zwischen
dem BMJ und den Landesjustizverwaltungen statt, die sich nicht auf die
Übersendung des Referentenentwurfs und die Einholung von Stellungnah-
men beschränkte, sondern auch die anstrengende, aber konstruktive Diskus-
sion unterschiedlicher Vorstellungen beinhaltete. Dementsprechend war
später auch die Stellungnahme des Bundesrates in erster Linie sachorien-
tiert, und viele seiner Änderungsvorschläge wurden in der Gegenäußerung
der Bundesregierung akzeptiert. 35 Während es so niemanden gab, der eine
Meinungsführerschaft übernommen hätte, um Medien oder Öffentlichkeit
gegen die Reform zu mobilisieren, richtete sich deren Hauptaugenmerk in
der betroffenen Zeit ohnehin vor allem auf das weltpolitische Geschehen,
den Umbruch in der ehemaligen DDR und die deutsche Wiedervereinigung;
die statistische Entwicklung der Jugendkriminalität erschien eher beruhi-
gend.
Auch wenn das 1. JGGÄndG noch nicht den "großen Wurf' bedeutete,
versprachen diese recht optimalen Bedingungen seines Zustandekommens
doch eine längerfristige kriminalpolitische Stabilität des lange Bewährten
und des neu Erreichten und ließen sie tatsächlich eine Fortführung der Re-
formarbeiten zu weiteren Regelungsgegenständen in dem begonnenen Sinne
erwarten, wie sie der Deutsche Bundestag gemeinsam mit der Verabschie-
dung des Gesetzes in einer - insoweit sogar einstimmigen - Entschließung
von der Bundesregierung verlangt hatte. 36 Es kam anders.
38 Überblicke über die Taten und auch Informationen zu den Tätern und zur juristischen
Aufarbeitung finden sich im schnellen Zugriff im Internet auf den Webseiten der Stadt Hoy-
erswerda, im Übrigen bei Wikipedia mit eigenen Artikeln zu den jeweiligen Anschlägen.
39 Nach den pogromhaften Krawallen in Rostock erhielt die Masse der ermittelten Beteilig-
ten 1993/1994 relativ geringfügige Sanktionen nach dem Jugendstrafrecht, Verfahren mit
schweren Vorwürfen kamen teilweise erst rund zehn Jahre nach dem Geschehen zur Aburtei-
lung. Wegen Mölln und Solingen wurde zwar mehrfach auch die Höchstjugendstrafe von zehn
Jahren verhängt, auch dies erschien angesichts der zu Tode gekommenen Menschen vielen
aber nicht als ausreichend. Zusätzliche Aufregung ergab sich daraus, dass wegen des Möllner
Verbrechens der jungerwachsene Mittäter eine lebenslange Freiheitsstrafe erhielt, der heran-
wachsende Haupttäter aber nur zehn Jahre Jugendstrafe.
198 Michael Gebauer
40 Der fachliche Einwand, dass die Verfolgung generalpräventiver Zwecke jedenfalls bei der
Anwendung des Jugendstrafrechts nach herrschender Meinung Getzt auch im Gesetz verankert
durch den neuen § 2 Abs. 1 JGG, vgl. ausdrücklich die Begründung des Regierungsentwurfs,
BT-Drs. 16/6239, S. 10) nicht zulässig ist, würde in der Öffentlichkeit und zum Teil auch in
der politischen Auseinandersetzung wahrscheinlich als lächerlich empfunden und eher größere
Verärgerung hervorrufen. Die verbleibende Vermittlung der Einsicht, dass aufgrund differen-
zierter empirischer Erkenntnisse generelle Abschreckungswirkungen höherer Strafen eher zu
verneinen sind, stellt gegenüber traditionell verbreiteten Überzeugungen freilich ein schwieri-
ges Unterfangen dar. Auch wenn möglicherweise - am ehesten - an eine "Abschreckungswir-
kung" im unteren Delinquenzbereich zu denken ist (vgl. aus jüngerer Zeit die Sekundäranalyse
von Dölling et al. Is Deterrence Effective? EurJCrimPolicyRes 2009, 201 tf.), dürfte es dabei
im Jugendstrafrecht nicht um "Strafe" im engeren Sinn gehen, sondern um eine konsequente
"Sanktionierung" von Fehlverhalten, die mit dem vorhandenen rechtlichen Instrumentarium
ohne weiteres möglich ist und auch in der Verpflichtung zur Inanspruchnahme von Jugendhil-
feleistungen liegen kann. Andererseits ist aufgrund der empirischen Erkenntnisse auch für den
politischen Diskurs davor zu warnen~ dass eine beharrliche Darstellung des Jugendstrafrechts
als zu mild in generalpräventiver Hinsicht gerade kontraproduktive Auswirkungen haben kann.
Denn maßgeblich für einen Abschreckungseffekt ist vornehmlich die eigene Vorstellung der
Normadressaten von der Spürbarkeit oder Härte der Sanktion (nicht die tatsächlich angedrohte
oder verhängte), die im breiten Feld wesentlich von der allgemeinen Vorstellung geprägt wird.
41 Auch deshalb dürfte das geltende Strafmündigkeitsalter, das vor allem in den 1990er Jah-
ren häufig in Frage gestellt wurde, derzeit weitgehend sicher vor ernsthaften Anfechtungen
sein. In einem - einstimmigen - Beschluss vom Juni 2006 hat sich auch die Justizministerkon-
ferenz der Länder angesichts der ausreichenden Möglichkeiten des Jugendhilfe- und Familien-
rechts zur Intervention bei Kinderdelinquenz für die Beibehaltung der Altersgrenze von 14
Jahren ausgesprochen.
Jugendkriminalrecht - qua vadis? 199
die immer wieder einzelne oder mehrere der gängigen Forderungen, teilwei-
se auch andere Änderungen und nur vereinzelt zusätzlich auch Änderungs-
vorstellungen aus der Fachwelt aufgriffen; soweit Gesetzentwürfe als Län-
derinitiativen nicht bereits im Bundesrat abgelehnt wurden oder zum Ruhen
kamen, fanden sie wie auch entsprechende Initiativen aus dem Bundestag
dort keine Mehrheit oder verfielen der Diskontinuität. 48 In Stellungnahmen
der Bundesregierung(en) wurden entsprechende Entwürfe durchgängig
abgelehnt oder für nicht unterstützungsfähig erklärt. Etwas Ruhe hinsicht-
lich der Standardforderungen trat während der Regierung der Großen Koali-
tion ein. Das Jugendstrafrecht und die besagten Forderungen waren Gegen-
stand der Koalitionsverhandlungen gewesen und man hatte sich darauf
geeinigt, im Jugendstrafrecht allein die Einführung der nachträglichen Si-
cherungsverwahrung vorzusehen. Hierauf zog sich die Bundesregierung
auch im Rahmen der Beantwortung einer Großen Anfrage von Bünd-
nis90/DIE GRüNEN mehrfach bei Fragen zum Reformbedarf und ihrer
Haltung zu bestimmten Änderungsforderungen neben dem Hinweis auf die
dem SGB VIII)~ "Verbesserung der Bekämpfung der Jugendkriminalität" BR-Drs. 634/02
(Brandenburg: auch ähnl. Vorschläge wie DVJJ-Kommission [Fn. 51], schon im BR aber
Änderungsanträge mit bekannten Verschärfungen)~ "Schutz der Bevölkerung vor schweren
Straftaten" BR-Drs. 850/02 (Bayern: neben den bekannten Regelungen zu Heranwachsenden
und 15 Jahren auch die Gleichbehandlung von Heranwachsenden mit Erwachsenen hinsichtlich
der Sicherungsverwahrung)~ 2003: "Verbesserung der Bekämpfung der Jugenddelinquenz"
BT-Drs.15/1472 (Bundesrat, urspr. Baden-Württemberg, BR-Drs. 312/03)~ 2004: "Stärkung
des Jugendstrafrechts und ... Verbesserung und Beschleunigung des Jugendstrafverfahrens"
BT-Drs. 15/3422 (Bundesrat, urspr. Sachsen/Bayern/Hessen/Niedersachsen/Thüringen, BR-
Drs. 238/04: neben den bekannten Verschärfungen mit grds. weiterführenden Reformvorschlä-
gen~ aufgrund von Vorarbeiten einer Arbeitsgruppe des Strafrechtsausschusses der Justizminis-
terkonferenz, die umfassenderen Reformbedarf konstatiert hatte)~ 2005: "Vermeidung von
Rückfalltaten gefährlicher junger Gewalttäter" BT-Drs. 15/5909 (Bundesrat, urspr. Bay-
ern/Thüringen, BR-Drs. 276/05: neben den bekannten Regelungen zu Heranwachsenden und
15 Jahren insbes. nachträgliche Sicherungsverwahrung bei schweren Straftaten und Jugendstra-
fe von mindestens fünf Jahren, bzgl. nach allg. Strafrecht abgeurteilten Heranwachsenden
Gleichstellung mit Erwachsenen)~ "Schutz vor schweren Wiederholungstaten durch Anordnung
der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung bei sogenannten Ersttätem" BR-Drs. 876/05
(Mecklenburg-Vorp.)~ 2006: "Wiedereinbringung von BR-Drs. 312/03" BT-Drs. 16/1027
(Bundesrat, BR-Drs. 44/06)~ "Erweiterung des Anwendungsbereichs der Sicherungsverwah-
rung bei gefährlichen jungen Gewalttätern" BR-Drs. 181/06 (Bayern)~ " .. StrafrechtsÄndG -
Stärkung der Sicherungsverwahrung" BT-Drs. 16/1992 (Bundesrat, urspr. Bayern, BR-Drs.
139/06).
48 Unabhängig von der Möglichkeit einer angemessenen Sachbehandlung bis zum Ende der
betroffenen Legislaturperiode bedeutete die Diskontinuität, insbesondere wenn auch eine
parlamentarische Erörterung nicht stattfand, dass - als vielleicht willkommener Nebeneffekt -
eine Konfrontation der öffentlichen Meinung mit einer möglicherweise unpopulären Ableh-
nungshaltung nicht notwendig wurde und auch nicht eine untunliche Darlegung eventueller
politischer Meinungsunterschiede - oder gar politisch untunlicher fachlicher Übereinstimmun-
gen - innerhalb der betroffenen Bundesregierung.
202 Michael Gebauer
49 Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage "Jugendstrafrecht im 21. Jahrhun-
dert" BT-Drs. 16/13142 (hier z.B. S. 4 f, 20, 83). - Politisch Kundige werden auch nicht
erwartet haben, dass die "großen Koalitionäre" angesichts seit Jahren bekanntermaßen unter-
schiedlicher Auffassungen zum Jugendstrafrecht und angesichts der von der GGO vorgesehe-
nen Abstimmungsnotwendigkeit mit den betroffenen Ressorts (hier außer BMJ, vielfach BMI
und BMFSFJ, aber auch andere Bundesministerien) zur Formulierung jeder Antwort sowie
angesichts der abschließenden Zustimmungsfahigkeit für alle Kabinettmitglieder nun ohne
konkrete legislative Notwendigkeit aufgrund der Anfrage einer Oppositionsfraktion die betrof-
fenen Punkte streitig austragen oder gar zu einer gemeinsamen großen Reformvorstellung
kommen würden. Vielmehr dürften die Verschärfungsgegner es schon als Gewinn betrachten,
dass entsprechende Änderungsabsichten in der gemeinsamen Beantwortung verneint wurden.
Vgl. im Übrigen die nicht unkritischen Besprechungen der Antwort durch B. -R. Sonnen und
andere Autoren in ZJJ 2009, S. 346 ff
50 Heinz Stellungnahme zur aktuellen Diskussion um eine Verschärfung des Jugendstraf-
rechts, ZJJ 2008, 87 ff (mit Abdruck der vollständigen Unterstützerliste).
Jugendkriminalrecht - quo vadis? 203
sätzlich rur die nächste Zeit auf mehr Fachlichkeit in der jugendkriminalpo-
litischen Diskussion hoffen.
Zwischenzeitlich sah es um die Jahrtausendwende sogar rur einige Zeit so
aus, als bestünden Aussichten rur eine weitere Reform im Sinne des
1. JGGÄndG. Die damalige Bundesministerin der Justiz hatte ihre grund-
sätzliche Sympathie rur entsprechende Überlegungen erkennen lassen, und
so setzte im Dialog mit dem BMJ und mit dessen wesentlicher finanzieller
Unterstützung Anfang 2001 die DVJJ ihre 2. Jugendstrafrechtsreform-
Kommission ein. Sie legte im August 2002 ein umfassendes Reformkonzept
vor. 51 Auch der 64. Deutsche Juristentag befasste sich im Jahr 2002 seit
Jahrzehnten erstmalig wieder eingehend mit dem Jugendstrafrecht 52 und
legte - unter Ablehnung der gängigen Verschärfungsforderungen und Aner-
kennung der grundsätzlichen Bewährung des geltenden JGG - eine Vielzahl
von Änderungsvorschlägen vor. Auch die zahlreichen Veröffentlichungen
zur Frage "Ist das deutsche Jugendstrafrecht noch zeitgemäß?"53 im Vorfeld
des Juristentags und in der Nachbereitung von dessen Thesen und den Vor-
schlägen der DVJJ-Kommission förderten - jedenfalls in der Fachwelt - ein
reformfreudiges Klima als konstruktiv verstandenes Gegengewicht zu den
überkommenen Verschärfungsdiskussionen. Im BMJ wurden auf der
Grundlage der vorliegenden Vorschläge und eigener Überlegungen erste
Eckpunkte einer Reform erarbeitet. Nach dem Wechsel der Hausleitung
nach der Bundestagswahl im Herbst 2002 traf die neue Bundesministerin
der Justiz, weil auch die Mehrheit der Berurworter eine Reform nicht rur
zwingend geboten, sondern Verbesserungen lediglich angezeigt halte, ange-
sichts der Risiken einer legislativen Öffnung des JGG die Entscheidung,
weitere grundlegende Reformarbeiten auf absehbare Zeit ruhen zu lassen.
c) Gesetzgebung
Nachdem die Fortführung der Reform nach 1990 nicht angegangen wor-
den war, beschränkte sich die seitdem erfolgte Gesetzgebung (durchweg
aufgrund von Gesetzentwürfen der Bundesregierung) auf einzelne abge-
111. Reformaussichten
Eine Reform in Fortführung des 1. JGGÄndG wurde im Deutschen Bun-
destag erstmalig wieder mit der Großen Anfrage im Jahr 2008 angemahnt. 58
Angesichts der dargelegten Entwicklungen seit 1990 fragt sich, unter wel-
chen Bedingungen ein solches Reformvorhaben ernsthafte Erfolgsaussich-
59 Wie sie auch den internationalen Standards (z.B. den Mindestgrundsätzen bzw. Richtli-
nien der Vereinten Nationen von Beijing und Riyadh und den Empfehlungen des Europarats
sowie der Kinderrechtskonvention~ s. dazu Neubacher in: BMJ [Fn. 17], S. 275 ff.) sowie den
vom Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Notwendigkeit einer gesetzlichen
Grundlage des Jugendstrafvollzugs aufgestellten Grundsätzen entsprechen würde.
60 Vgl. hier nur Schöch Neue Punitivität in der Kriminalpolitik? In: BMJ (Fn. 17), S. 13 ff.~
Waller in: BMJ (Fn. 17), S. 239 ff.
206 Michael Gebauer
61 Eher desillusionierend wirkt es, wenn die fachliche Kritik kurz in einer mutmaßlich ideo-
logischen Schublade platziert wird. 1. Gehb, damals rechtspolitischer Sprecher der CDU/CSU-
Fraktion, in einer aktuellen Stunde zur Jugendkriminalität am 16. Januar 2008: "Hier wird
dauernd von der Fachwelt gesprochen. Welche Fachwelt? Sind das die Pfeiffers, sind das die
Sonnens, ist das die alternative Richtervereinigung?" (BT-Plenarprot. 16/135, S. 14252), dies
kurz nach der Resolution (Fn. 50) mit fast 1000, zum Teil sehr namhaften Unterstützern.
62 Stattdessen wird z.B. in der Diskussion um den "Warnschussarrest" auf die "Erfahrungen
von Praktikern" verwiesen, obwohl diese sich zum einen nur auf die heutige Klientel des
Jugendarrests beziehen können (also gerade nicht auf diejenigen, bei denen wegen erheblicher
Fehlentwicklungen eine - wenn auch zur Bewährung ausgesetzte - Jugendstrafe erforderlich
ist) und sie zum anderen nur auf relativ kurzfristiger Beobachtung beruhen und die längerfristi-
ge Betrachtung durch die bundesweite Legalbewährungsstudie (Jehle/Hein=/Sutterer Legalbe-
währung nach strafrechtlichen Sanktionen, hrsg. vom BMJ, 2003) sie widerlegt.
63 Dabei müssen die Medien, wie sich im Kontext des hessischen Landtagswahlkampfs An-
fang 2008 gezeigt hat, keineswegs nur in der Rolle des "Scharfmachers" gesehen werden.
Vielmehr können sie mit in ihre Sprache übersetzten Informationen und an ihren Funktions-
weisen orientierter· Darstellung von Zielsetzungen, Wirkungen etc. auch durchaus eine kon-
struktive Rolle in der jugendkriminalpolitischen Diskussion spielen.
Jugendkriminalrecht - qua vadis? 207
64 In einer Besprechung zum neuen JGG (BlumenthaI Ot. Juristen-Zeitung 1923,274 Fn. 1)
wird sogar als "eigentlicher Schöpfer des Jugendgerichtsgesetzes" der zuletzt Ministerialrat im
Wohlfahrtsministerium gewesene Dr. Friedberg bezeichnet.
65 Im Grunde genommen müssten angesichts der Wirkungsorientierung des Jugendkriminal-
rechts ähnliche Anforderungen wie die des § 37 JGG, rnehr als Grundkenntnisse in Kriminolo-
gie und den einschlägigen Bezugswissenschaften, auch an die für das Jugendstrafrecht Zustän-
digen in den Justizministerien des Bundes und der Länder gestellt werden (zumal die Länder in
weitaus höherem Maße als früher mit eigenen Gesetzgebungsinitiativen auf dem in Bundes-
kompetenz liegenden Feld des Jugendkriminalrechts aktiv werden). Das unter dem Leitbild des
"Einheitsjuristen" und der Flexibilität verbreitete Rotationsprinzip kann sich bei der Verant-
wortlichkeit für das Jugendstrafrecht~ die weniger rechtsdogmatische als spezifische außerjuris-
tische Fachkenntnisse erfordert, als problematisch erweisen.
208 Michael Gebauer
JOHANNES KASPAR
I. Einführung
Zu dem breiten Spektrum der Rechtsgebiete, die der verehrte Jubilar mit
der ihm eigenen Tatkraft und Leidenschaft bearbeitet und prägt, zählt auch
das Jugendstrafrecht. Heinz Schäch hat sich stets für ein humanes und maß-
volles, an empirischen Erkenntnissen der Kriminologie orientiertes Straf-
recht eingesetzt. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass sein
Engagement auch dem Erhalt eines eigenständigen, vorrangig am Erzie-
hungsgedanken orientierten Jugendstrafrechts gilt. Erziehung als Leitprinzip
des Jugendstrafrechts ist allerdings umstritten. l Die strafrechtliche Abtei-
lung des 64. Deutschen Juristentags hat sich im Jahre 2002 unter dem Vor-
sitz von Heinz Schäch nach fast IOO-jähriger Zäsur wieder mit dem Jugend-
strafrecht beschäftigt und dabei im Ergebnis am Erziehungsgedanken
festgehalten. 2
Die nach wie vor andauernde, äußerst vielschichtige Kontroverse um In-
halt und Grenzen des Erziehungsgedankens soll hier nicht im Vordergrund
stehen. Der Beitrag versucht vielmehr, einen Schritt weiter zu gehen und die
anderen denkbaren Sanktionszwecke des Jugendstrafrechts auszuloten, die
im Schatten des Erziehungsgedankens stehen. Die Diskussion wird schon
länger geführt, hat aber durch die erstmalige ausdrückliche Fixierung des
"Ziels des Jugendstrafrechts" in der am 1.1.2008 in Kraft getretenen Vor-
schrift des § 2 Abs. 1 JGG n. F. neue Impulse bekommen.
Eine solche Klärung ist nicht nur von theoretischem Interesse, sondern
auch für die Anwendung des Rechts relevant. So soll der Jugendrichter
gern. § 5 Abs. 2 JGG zu Zuchtmitteln und Jugendstrafe greifen, wenn Er-
1 Zur Kritik s. nur Albrecht Gutachten D zum 64. Deutschen Juristentag, 2002, D 97 ff. Eine
völlige Abschaffung eines eigenständigen Jugendstrafrechts fordert Kusch NStZ 2006, 65 ff.
2 Beschlüsse der Strafrechtlichen Abteilung des 64. DJT (NJW 2002, 3077 ff.)~ s. auch den
Bericht von Schöch RdJB 2003, 299.
210 Johannes Kaspar
3 Vgl. nur BVerfGE 19,342,347 ff. Zu dessen Bedeutung im Jugendstrafrecht s. Rössner in:
Meier/Rössner/Schöch, Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2007, § 1 Rn. 17; § 6 Rn. 5 ff.
4 So auch - in Bezug auf das allgemeine Strafrecht - Weigend FS Hirsch, 1999, S. 927.
5 BT-Drs. 16/6293, S. 9. Vgl. Schöch Wie soll die Justiz auf Jugendkriminalität reagieren,
in: Dölling, Das Jugendkriminalrecht an der Wende zum 21. Jahrhundert, 2001, S. 128.
6 BT-Drs. 16/6293, S. 9.
Generalprävention als Sanktionszweck des Jugendstrafrechts 211
ehen Gründen rational begründen können muss, ein Rückgriff auf metaphy-
sisches Vergeltungsdenken. 7 Ein legitimierender eigenständiger Sanktions-
zweck kann Vergeltung daher (bei Jugendlichen wie Erwachsenen) nicht
sein. Gleiches gilt auch rur den Schuldausgleich, der sich insoweit nicht
vom Vergeltungszweck unterscheidet.
Letztlich bleibt daher rur eine sinnvolle Interpretation der Öffnungsklau-
sel nur Raum, wenn man in gewissem Umfang auch Aspekte der General-
prävention anerkennt. 8 Das gilt auch rur § 2 Abs. 1 S. 2 JGG, nach dem bei
der Verfolgung des Präventionsziels die Rechtsfolgen lediglich"vorrangig"
am Erziehungsgedanken auszurichten sind. § 2 Abs. 1 JGG eröffnet also
dort, wo sich die jugendstrafrechtlichen Rechtsfolgen ihrer Art und Höhe
nach nicht allein mit erzieherischen Erwägungen begründen lassen, einen
Spielraum für die Suche nach komplementären Sanktionszwecken9 ,jenseits
von Erziehung". Dass es Bedarf für solche ergänzenden Überlegungen zur
Legitimation des Jugendstrafrechts gibt, wird im Folgenden dargelegt.
7 Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2006, § 3 Rn. 8 ff.~ für das Jugendstrafrecht s.
OstendorjJugendstrafrecht, 5. Aufl. 2009, Rn. 213.
8 S. dazu unten IV. und V.
9 Vgl. Jäger GA 2003,475.
10 Rössner (Fn. 3), § 2 Rn. 7 f.
212 Johannes Kaspar
"Übelzufügung", auf das nach dem Willen des Gesetzgebers offenbar nicht
in beliebiger Weise verzichtet werden kann. 11
Hinzu kommen die Erkenntnisse über die tatsächlichen Wirkungen der
Sanktionierung, die für die Legitimation der jugendstrafrechtlichen Sankti-
onen ausschlaggebend sein müssen 12 und die zur Zurückhaltung mahnen: 13
Nicht in allen Fällen wird man eine positive erzieherische Wirkung der
jugendstrafrechtlichen Sanktionen behaupten können. Es liegt nahe, auf die
hohen Rückfallquoten jugendlicher Straftäter hinzuweisen, insbesondere auf
die Tatsache, dass gerade die eingriffsintensiven stationären Sanktionen wie
Arrest und vollstreckte Jugendstrafe mit 70 % bzw. fast 80 % die ungüns-
tigsten Rückfallquoten erzielen. 14 Aus diesem Befund zu schließen, die
mildere Sanktionierung oder gar ein völliger Sanktionsverzicht seien spezi-
alpräventiv wirksamer, ist nicht zulässig, da die betroffenen Personengrup-
pen im Vergleich zu den milder Sanktionierten deutliche Unterschiede im
Hinblick auf rückfallrelevante Merkmale aufweisen, insbesondere eine
erhöhte Vorstrafenbelastung. 15 Es gibt aber zumindest im Bereich der leich-
ten bis mittelschweren Delinquenz deutliche Anzeichen dafür, dass infor-
melle Erledigungen im Hinblick auf die Rückfalligkeit zumindest nicht
schlechter wirken als formelle Sanktionen. 16
Zugleich zeigt die Dunkelfeldforschung bekanntlich, dass der überwie-
gende Teil der Jugenddelinquenz "normal" in dem Sinne ist, dass sich ir-
gendwelche strafbaren Handlungen im leichten bis mittleren Schwerebe-
reich bei fast allen Jugendlichen nachweisen lassen. 17 Aus strafrechtlicher
Auffalligkeit darf somit nicht vorschnell auf erzieherische Mängel im Ver-
gleich zu anderen, bislang nicht in Erscheinung getretenen Jugendlichen
geschlossen werden. 18 Jugenddelinquenz ist zugleich "episodenhaft", d. h.
die Begehung von Straftaten lässt im Laufe des Erwachsenwerdens regel-
mäßig stark nach, und zwar ganz unabhängig vom (eher seltenen) Ereignis
der Entdeckung und Sanktionierung durch die Strafverfolgungsbehörden. 19
Natürlich stellt sich (auch aus der Sicht des jugendlichen Täters) nur bei
Taten, die zur Kenntnis der Strafverfolgungsbehörden gelangen, zwingend
die Frage der Sanktionierung. Bleibt eine solche aus oder fallt sie verharm-
losend gering aus und wird dem Jugendlichen auch nicht auf andere Weise
(etwa durch informelle Reaktionen aus dem persönlichen Umfeld)20 das
Unrecht der Tat vor Augen geführt, kann der erzieherisch schädliche Ein-
druck entstehen, die Tat selbst sei harmlos und eine Wiederholung unbe-
denklich. 21 Dennoch darf man die Bedeutung der strafrechtlichen Sanktion
auch nicht überschätzen. So hat die Entwicklungskriminologie bislang keine
Hinweise dafür finden können, dass gerade der strafrechtlichen Sanktion
(oder gar ihrer Höhe) eine Zäsurwirkung im Hinblick auf den Abbruch einer
zuvor eingeschlagenen kriminellen "Karriere" zukommt. 22
Alles in allem sprechen die Befunde jedenfalls gegen eine besondere er-
zieherische Wirkung der eingriffsintensiven formellen Sanktionierung von
Jugendlichen im Vergleich zu milderen Alternativen. Ginge es um erziehe-
rische Bedürfnisse im Sinne der bestmöglichen Förderung des Wohls von
jugendlichen Delinquenten, müsste vor diesem Hintergrund noch in weitaus
größerem Maß von milderen, zur "Erziehung" in diesem Sinn genauso oder
besser geeigneten Mitteln im Vergleich zur formellen (vor allem: stationä-
ren) Sanktionierung Gebrauch gemacht werden, als dies seitens der jugend-
strafrechtlichen Praxis ohnehin schon der Fall ist. Vor allem müsste noch
viel mehr und unabhängig von der Art und Schwere der jeweiligen Tat auf
die "Erziehungsbedürftigkeit" des Jugendlichen abgestellt werden - mit der
Konsequenz, dass bei Jugendlichen ohne feststellbare Erziehungsbedürfnis-
se an sich überhaupt keine Sanktionierung erfolgen dürfte.
Eine solche umfassende Bedeutung der "Erziehungsbedürftigkeit" als ent-
scheidende Weiche bei der Sanktionierung lässt sich dem JGG aber nicht
entnehmen. Dafür spricht schon, dass die Strafverfolgung ganz unabhängig
von der Erziehungsbedürftigkeit an die in § 1 Abs. 2 JGG als "Verfehlung"
bezeichnete Straftat des Jugendlichen anknüpft. 23 Sehr deutlich wird dies
auch bei der Sanktionierung von Erwachsenen, die zum Zeitpunkt der Tat
noch jugendlich oder heranwachsend waren. Da das Gesetz in § 1 Abs. 2
JGG wie auch in § 105 Abs. 1 JGG auf das Alter zum Zeitpunkt der Tat
abstellt, kann es durchaus erst viele Jahre nach der Tat zu einer Verhand-
1ung und Aburteilung vor dem Jugendgericht kommen. Da bei Erwachsenen
aber keine Erziehungsbedürftigkeit angenommen werden kann (bzw. deren
mehr Spielräume für einen möglichst schonenden Umgang mit dem jugend-
lichen Delinquenten eröffnet. 34
Das bedeutet aber nicht, dass es diese Untergrenzen nicht gäbe. Das be-
ginnt schon auf der Ebene der Diversion, wo § 45 Abs. 1 JGG für die Frage
der informellen Erledigung durch den Staatsanwalt (wie auch die für den
Richter geltende Parallelnorm des § 47 Abs. 1 Nr. 1 JGG) auf die Voraus-
setzungen des § 153 StPO verweist. Eine Einstellung darf nur erfolgen,
wenn kein "öffentliches Interesse" entgegensteht. Man wird zwar eine ge-
wisse Harmonisierung erzielen können, indem man diesen Begriff jugend-
spezifisch auslegt und von einem regelmäßig zu bejahenden öffentlichen
Interesse an der erzieherisch sinnvollsten Reaktion ausgeht;35 dennoch wird
über die Verweisung auf § 153 Abs. 1 StPO ein generalpräventiver Aspekt
in die Norm inkorporiert, der offensichtlich nicht unmittelbar auf die Erzie-
hung des Jugendlichen abzielt. 36 Geht man weiter zu den formellen Sankti-
onen, wird man sich in vielen Fällen angenehmere und für den Jugendlichen
erzieherisch positiver wirkende Maßnahmen vorstellen können - der zum
Teil in polemischer Absicht vorgetragene (hier ausdrücklich nicht so ge-
meinte) Hinweis auf die mehrwöchige Erlebnisreise mag hier genügen.
Auch unabhängig von fiskalischen Grenzen sind solche Maßnahmen ab
einer gewissen Schwere des Schuldvorwurfs vom Gesetzgeber nicht vorge-
sehen, wie es jedenfalls die Jugendstrafe gern. § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG deut-
lich macht. 37 Aber auch andere Vorschriften, wie z. B. § 13 Abs. 1 JGG, der
einen ahndenden Charakter der Zuchtmittel vorgibt, oder § 15 Abs. 1 JGG,
der einen abschließenden Katalog möglicher Auflagen enthält, sind vom
Gedanken der Sicherstellung einer gewissen "Spürbarkeit" der Sanktion
getragen, der über reine Erziehung im Sinne von Hilfe und Förderung hi-
nausgeht.
Dazu kommt, dass kraft der Verweisung in § 2 Abs. 2 JGG die strafbe-
wehrten Verhaltensnormen des allgemeinen Strafrechts ausdrücklich auch
für Jugendliche und Heranwachsende gelten. Damit ist zumindest die so
genannte Androhungsgeneralprävention als Zielsetzung des Jugendstraf-
rechts nicht von der Hand zu weisen. 38 Die in Bezug genommenen Verbots-
normen enthalten auch gegenüber Jugendlichen einen Appell, auf Straftaten
zu verzichten und zugleich die Drohung, dass bei Zuwiderhandlungen mit
einer (wenn auch in erster Linie erzieherisch ausgerichteten) Sanktion rea-
giert wird. Die Sanktionsandrohung beinhaltet stets auch die Anerkennung
47 Vgl. die Konzeption von Meyer-OdeH'ald Die Verhängung und Zumessung der Jugend-
strafe, 1993, S. 86 f; S. 180 ff
48 S. Rössner (Fn. 3), § 1 Rn. 1 ff; BVerfGE 116, 69, 85.
49 Das gilt insbesondere für den Freiheitsentzug, vgl. Brunner/Dölling (Fn. 21), § 18 Rn. 19~
BVerfGE 116,69,87.
50 Vgl. Schöch (Fn. 16), Fall 12 Rn. 16; Streng (Fn. 11), § 1 Rn. 17.
51 Vgl. Schöch Empirische Grundlagen der Generalprävention, in: FS Jescheck, 1985,
S. 1090; Dölling ZStW 1990, 1 ff Zu vergleichbaren neueren Befunden einer aktuellen Meta-
analyse s. Dölling u. a. European Journal ofCriminal Policy Research 2009,201.
52 Vgl. Bottke (Fn. 20), S. 7 m.w.N.
53 Vgl. OstendorfHRRS 2008, 162.
Generalprävention als Sanktionszweck des Jugendstrafrechts 219
54 So tendenziell aber Albrecht (Fn. 1), D 56 f.~ wie hier z. B. Bottke (Fn. 20), S. 8 ff. Das
gilt auch dann, wenn man den von Streng GA 1984, 153 Fn. 20 erhobenen Einwand der Nicht-
öffentlichkeit des Verfahrens gern. § 48 JGG berücksichtigt.
55 BT-Drs. 16/6293, S. 10.
56 BT-Drs. 16/6293, S. 10.
57 So aber die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 16/6293, S. 10.
58 Die "Öffnungsklausel" in § 2 Abs. 1 S. 1 JGG lässt sich also auf diesen Sanktionszweck
beziehen, da es hier nicht um die Verhinderung von Straftaten von Jugendlichen geht. Gleich-
zeitig erfasst sie die oben erwähnten Fälle von jugendstrafrechtlichen Sanktionen gegen er-
wachsene Täter.
59 Ähnlich bereits Bottke (Fn. 20), S. 41.
60 Auch die Untersuchung von Buckolt (Fn. 32), S. 326 erbrachte keinen klaren Zusammen-
hang von generalpräventiven Einstellungen der Richter einerseits und einem erhöhten Sank-
tionsniveau andererseits.
220 Johannes Kaspar
67 Albrecht (Fn. 1), D 112. Vgl. den Beispielsfall bei Schäch (Fn. 16), Fall 13 Rn. 24 ff.
68 Bruns (Fn. 45), 594.
69 BGH StV 1982, 121~ OLG Hamm NStZ-RR 2005, 58~ BGH NStZ 2007,522 f.
70 Das folgt schon aus den Strafvollzugsgesetzen der Länder, wo (ohne Unterscheidung
nach dem Anlass der Verhängung der Jugendstrafe) die erzieherische Einwirkung als Ziel des
Jugendstrafvollzugs genannt wird, vgl. nur Art. 121 BayStVollzG.
71 Schäch (Fn. 16), Fall 13 Rn. 28.
72 Ostendorf(Fn. 33), § 17 Rn. 11.
73 Bruns (Fn. 45), 592.
74 S. P.A. Albrecht Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2000, § 30 I.
75 Vgl. TenckhojfJR 1977,486.
76 Vgl. Streng (Fn. 11), § 12 Rn. 452 m.w.N.
222 Johannes Kaspar
ständnis der Strafe als der notwendigen Reaktion zur Wiederherstellung des
Rechtsfriedens einen zumindest im Kern empirischen Ansatzpunkt rur den
Sinn und Zweck der Strafe finden kann. Natürlich stellt sich das Problem,
inwiefern die "Demoskopie", also die empirische Ermittlung von "Reakti-
onsbedürfnissen", ausschlaggebend für die Sanktionierung sein darf. 95 Man
wird hier ohne normative Korrektur nicht auskommen, die in der Anerken-
nung der Maßfigur eines "verständigen objektiven Beobachters" liegen
könnte. Es erscheint jedoch ehrlicher, den neben der erzieherisch motivier-
ten Einwirkung auf den Jugendlichen verfolgten Strafzweck mit seinen
Problemen auf diese Weise offen zu legen und damit diskutierbar zu ma-
chen, als ganz idealistisch, damit aber auch ohne genaueren Rechtferti-
gungszwang, auf "Schuldausgleich" oder "Vergeltung" zu setzen. 96
Das von der positiven Generalprävention thematisierte "Reaktionsbedürf-
nis" der Bevölkerung dürfte sich zudem nicht ganz unabhängig von den
sonstigen denkbaren Strafzwecken entfalten. Man kann im Gegenteil ver-
muten, dass dieses Bedürfnis auch auf der Annahme der Wirksamkeit der
Bestrafung in erzieherischer wie auch in sichernder Hinsicht beruht. 97 Da
beide Sanktionszwecke wie gezeigt im Rahmen von § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG
mit spezifischen Problemen behaftet sind, liegt die Beschränkung einer rein
generalpräventiv begründeten Jugendstrafe auf besonders schwere Strafta-
ten nahe, wie dies in der neueren Rechtsprechung zu Bedeutung von § 17
Abs. 2 Alt. 2 JGG anklingt. 98 Um Rechtssicherheit zu schaffen, wäre hier
eine gesetzliche Klarstellung durch die Schaffung eines Deliktskatalogs
oder einen ausdrücklichen Ausschluss von Vergehen oder zumindest von
Fahrlässigkeitstaten 99 zu erwägen.
VI. Fazit
Entgegen der nach wie vor herrschenden Ansicht in Rechtsprechung und
Literatur spielen generalpräventive Aspekte im geltenden Jugendstrafrecht
durchaus eine Rolle. Sie durchziehen das Jugendstrafrecht wie ein Netz, das
ein bestimmtes für den Jugendlichen spürbares und nur dadurch ein auch in
generalpräventiver Hinsicht Erfolg versprechendes Minimalniveau sicher-
muss dann aber auf die Verschärfung nach dem Grundsatz "in dubio pro
libertate" 104 verzichtet werden.
Werden die im Jugendstrafrecht identifizierbaren positiv generalpräventi-
ven Aspekte im hier vorgeschlagenen Sinne nicht unabhängig von den sons-
tigen sinnvollen Zielsetzungen der Sanktion und deren tatsächlicher Errei-
chung gesehen, wird man sich nach allem auch weiterhin um eine maßvolle
Sanktionierung von Jugendlichen sowie um eine noch stärkere Einbindung
kriminologischer Erkenntnisse bemühen müssen, ganz im Sinne von Heinz
Schöch, dem dieser Beitrag in Dankbarkeit gewidmet ist.
104 Dessen Geltung im Strafrecht ist allerdings umstritten, ablehnend z. B. Wolter NStZ
1993, 5; bejahend z. B. Sternberg-Lieben Die objektiven Schranken der Einwilligung im
Strafrecht, 1997, S. 458 ff.
§ 45 JGG - Qua vadis?
Ergebnisse und kriminalpolitische Konsequenzen der
Evaluation nordrhein-westfälischer Diversionstage
TORSTEN VERREL
1 Hein= ernlittelte für 2006' einen Anteil der Einstellungen nach § 45 Abs. 1 und 2 JGG an
allen informellen und formellen Sanktionen von 53 0/0
(http://ww\v.uni-konstanz.de/rtf/kis/sanks06.htm -> Schaubild 41, aufgerufen anl 4.3.2010),
2 Einen Überblick gibt u.a. Streng Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2003, Rn. 182.
3 j\1eier Kriminologie, 3. Aufl. 2008, § 5 Rn. 50.
228 Torsten Yerrel
wie noch in den 1980er Jahren,4 sind die regionalen Unterschiede nach wie
vor so groß, dass von einer Art. 3 Abs. 1 GG genügenden Anwendungspra-
xis schwerlich die Rede sein kann. Nun wird man trefflich darüber streiten
können, ob jeweils ein "Zuviel" oder ein "Zuwenig" an Diversion zu bekla-
gen ist. Fest steht, dass § 45 JGG in seiner derzeitigen Fassung sowohl
besonders permissiven als auch besonders einstellungsfreundlichen Sankti-
onsstilen Raum gibt. Zwiespältig fällt insbesondere die Bewertung von § 45
Abs. 2 JGG aus. So kann einerseits das Innovationspotential dieser Vor-
schrift5 gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, bildet sie doch die recht-
liche Basis fur die Erprobung neuer Reaktionsformen, die dann nicht selten
Eingang in das jugendstrafrechtliehe, aber auch in das Sanktionsinstrumen-
tarium des StGB finden. § 45 Abs. 2 JGG ist damit gleichsam eine gesetzli-
che Absicherung der Schrittmacherfunktion des Jugendstrafrechts. Auf der
anderen Seite steht die Sorge vor einem gerade durch solche Diversionspro-
jekte ausgelösten qualitativen Net-widening-Effekt~ der sich sowohl in einer
Zurückdrängung folgenloser Einstellungen nach § 45 Abs. 1 JGG als auch
in einer höheren Eingriffsintensität informeller gegenüber formellen Sankti-
onen äußern kann. 6 Eng damit verbunden sind die grundsätzlichen Beden-
ken der Wissenschaft - die Praxis scheint insoweit keinerlei Schmerzemp-
finden zu haben - gegenüber der nicht systemkonformen faktischen
Sanktionskompetenz der Staatsanwaltschaft fur weite Bereiche der Jugend-
kriminalität. 7 Ist der Fall des "prügelnden Staatsanwalts", der einen jugend-
lichen Missetäter im Einverständnis aller Beteiligten und zumeist in der
elterlichen Wohnung Schläge auf das nackte Gesäß versetzte, 8 gewiss eine
extreme Ausnahme, dürfen die Erosionswirkungen nicht unterschätzt wer-
den, die von der weitgehenden Zulassung "nur" informeller Prozeduren für
die Rechtsstaatlichkeit eines Strafverfahrens ausgehen können. Denn die in
das JGG eingebundene Diversion ist und bleibt ungeachtet ihrer konkreten
Eingriffsintensität Anwendung von Strafrecht und unterliegt daher auch
dessen Begrenzungen, die im Übrigen preisgibt, wer sich die Abschaffung
des (Jugend-)Strafrechts auf die Fahnen schreibt.
Mit dieser Ambivalenz und Gemengelage der Diversion hat sich auch
mein verehrter, nunmehr 70 Jahre jung gebliebener akademischer Lehrer
Heinz Schöch vielfach auseinandergesetzt 9 und selbst innovative Diversi-
onsprojekte lO betreut. Auch dieser Teil seiner Forschungsarbeit ist durch die
ihm eigene Verbindung von kritischer wissenschaftlicher Distanz und Pra-
xisverbundenheit gekennzeichnet, die ihn insbesondere im Jugendstrafrecht
das ein oder andere rvral dazu geführt hat, "Reformen von unten'~ auch ge-
gen den Strom der Literatur positiv zu würdigen. 11 Mit der nun folgenden
Darstellung einer Evaluationsstudie, die das Kriminologische Selninar der
Universität Bonn im Auftrag des Justizministeriums Nordrhein-Westfalen
über ein neuartiges Diversionsmodell erstellt hat,12 versucht der Schüler in
diese Fußstapfen seines Lehrers zu treten, ohne sich sicher zu sein, dass die
aus der Evaluation gezogenen rechtspolitischen Schlussfolgerungen seine
Zustimmung finden.
18 Insoweit kritisch zu den hohen Diversionsraten in Hamburg und Berlin Schöch (Fn. 11),
S.129.
19 Vgl. Mertens/Murges-Kemper ZJJ 2008,356,357.
20 Kritisch aus jugendrichterlicher Sicht Riehe in: DVJJ (Hrsg.), Fördern Fordern Fallenlas-
sen,2008, S. 502,506.
21 Zur Auswahl Linke (Fn. 12), S. 77.
22 Näher dazu Linke (Fn. 12), S. 97 ff. und sogleich unten IV. 3.
§ 45 JGG - Qua vadis? 231
24 Für die retrospektiv untersuchten Fälle ging aus den MESTA-Datensätzen nicht hervor,
ob sich das eingetragene Erledigungsdatum auf die Abschlussverfügung oder die Ableistung
der angeregten erzieherischen Maßnahme bezieht~ zuverlässiger war die Auswertung der
prospektiv untersuchten Fälle, bei denen zusätzliche Dokumentationen erfolgten~ näher dazu
Linke (Fn. 12), S. 199 ff.
25 Vgl. Dielt (Fn. 13), 376.
§ 45 JGG Quo vadis? 233
(erheblich) größer ist als bei der herkömmlichen Diversion. Dies ist insbe-
sondere für die Staatsanwälte plausibel, die nicht nur Zeit fur die Vorberei-
tung und Organisation der Diversionstage benötigen, sondern auch durch
ihre Präsenz am Diversionstag in ähnlicher Weise wie beim Sitzungsdienst
abgebunden sind.
v. Konsequenzen
1. Notwendigkeit einer präzisen Zielgruppenbestimmung
Das ernüchternde Resultat der Rückfalluntersuchung sollte kein Grund
zur Häme und kriminologischen Besserwisserei gegenüber den Müttern und
Vätern der Diversionstage sein, die teilweise mit viel Engagement und
Herzblut nach einem Weg gesucht haben, vorhandene Ressourcen wir-
kungsvoller einzusetzen. Es ist aller Ehren wert und in der Tat Ausdruck
einer rationalen Kriminalpolitik, 27 dass die Diversionstage überhaupt einer
strengen wissenschaftlichen 28 Kontrolle unterzogen wurden. Der ausgeblie-
bene spezialpräventive Erfolg, der ja keineswegs vorauszusehen war, zeigt
jedoch, welche Schwierigkeiten die richtige "Platzierung" neuartiger Diver-
sionsverfahren in der Breite des von § 45 JGG erfassten Fallspektrums
bereitet. So ist ungeachtet der sogleich noch zu thematisierenden rechtlichen
Grenzen, die sich aus dem Stufenverhältnis der drei Diversionsvarianten
ergeben, zu bedenken, dass in der Mehrzahl der Fälle normaler Jugendkri-
minalität schon das herkömmliche Verfahren ausreichende Eindruckskraft
durch das "Erwischt-werden", die elterliche Reaktion, die polizeiliche Ver-
nehmung und die staatsanwaltliche Diversionsentscheidung mit ggf. weite-
ren erzieherischen Maßnahmen erzeugt bzw. diese Effekte offenbar nicht
mehr (nennenswert) durch eine persönliche Ansprache gesteigert werden
können. Das dürfte insbesondere rur solche Standorte gelten, die ohnehin
auf ein breites Angebot erzieherischer Maßnahmen durch freie Träger wie
etwa die "Brücke e.V." zurückgreifen können und wo es demzufolge auch
schon entsprechende Vemetzungen mit den am Strafverfahren beteiligten
Behörden gibt. Ist der Diversionstag demnach bei dieser Tätergruppe ein
"Zuviel" an informeller Reaktion, könnte es umgekehrt bei der kleineren
Zahl derjenigen jungen Täter, deren Taten und Lebensumstände erste Indi-
katoren rur eine kriminelle Gefahrdung sind, ein "Zuwenig" an Intervention
sein, es hier also nachhaltigerer, über die einmalige Ansprache am Diversi-
onstag hinausgehender, nicht notwendig formeller Reaktionen bedürfen.
Das A und 0 jeglicher Diversionsprojekte ist und bleibt demnach eine
sC?rgfaltige Bestimmung und Auswahl der Täter bzw. des Spektrums der
Jugendkriminalität, bei dem Handlungsbedarf gesehen wird und bei dem
man sich spezifische Wirkungen von den neuen Diversionsmaßnahmen
verspricht. Dies ist bei den Diversionstagen, deren Fallspektrum von Baga-
27 Zutreffend weisen Müller-PiepenkötterlKubink (Fn. 15), 62, darauf hin, dass Rationalität
auch "die Überprüfung der Programme" umfasst.
28 Es darf bezweifelt werden, ob zuvor durchgeführte örtliche Auswertungen von Diversi-
onstagen, die angeblich Rückfallquoten zwischen 5 % und 7 % ergeben haben - vgl. Müller-
PiepenkötterlKubink (Fn. 15), 63~ Diett (Fn. 13), 378 - den methodischen Standards von
Legalbewährungsuntersuchungen genügt haben.
§ 45 lGG - Qua vadis? 235
30 Brunner/Dölling (Fn. 7), Rn. 7a~ Hein:: DVJJ-J 1998, 245, 253.
31 Hein:: a.a.O., 255.
32 Vgl. Grote Diversion im Jugendstrafrecht, 2006, S. 63.
33 Vgl. Diemer/Schoreit/Sonnen Jugendgerichtsgesetz, 5. Aufl. 2008, § 45 Rn 31.
34 Ausweislich der Staatsanwaltsstatistik 2008, Tabelle 2.2.1, schwankt der Anteil der Ein-
stellungen nach Abs. 1 an allen Einstellungen nach § 45 JGG derzeit zwischen 19,5 % in
Bayern und 71,9 % in Berlin bzw. der von Abs. 2 zwischen 22,0 % (Bremen) und 63,4 %
(Rheinland-Pfalz).
35 Nachweise bei Hein:: (Fn. 30), 253 ff. und ZJJ 2005, 166, 174~ vgl. ferner Grote (Fn. 32),
S. 62 ff., 339 f.
36 OstendorfFS Böhm, 1999, S. 642.
§ 45 JGG -- Qua vadis? 237
55 Brunner/Dölling (Fn. 7), Rn. 26~ Streng (Fn. 2), Rn. 180~ a.A. Schöch (Fn. 8), Rn. 67.
56 Dölling(Fn. 51), S. 250.
57 Vgl. Grote (Fn. 32), S. 71 für Arbeitsstunden und Heinz (Fn. 41), 265.
58 Vgl. zum Streit über das Geständniserfordernis bei § 45 Abs. 2 JGG Schöch (Fn. 8),
Rn. 72.
59 Ähnlich Döl!ing (Fn. 51), S. 253.
242 Torsten Yerrel
Empfehlen könnte sich außerdem der ausdrückliche Hinweis, dass die Er-
probung neuer Diversionsmodelle und erzieherischer Maßnahmen den Vor-
rang der folgenlosen Einstellung nicht unterlaufen darf und daher für diese
Projekte transparente und überprütbare Auswahlkriterien benannt werden
müssen. In engem Zusammenhang damit steht die Forderung, dass die Fall-
auswahl insbesondere bei von der Staatsanwaltschaft angeregten erzieheri-
schen Maßnahmen keinesfalls der Polizei überlassen werden darf, sondern
in den Händen der Staatsanwaltschaft liegen muss. Dies bedeutet nicht, dass
die Polizei, die ja zunächst den unmittelbarsten Einblick in das Tatgesche-
hen und die Person des Tatverdächtigen hat, nicht mehr am Auswahlprozess
beteiligt sein soll und vor allem bei neuen Diversionsprojekten keine Vor-
auswahl treffen darf. Es muss jedoch sichergestellt werden, dass die Staats-
anwaltschaft ihre Verfahrensherrschaft nicht nur formal ausübt und ledig-
lich "absegnet", was seitens der Polizei vorgeschlagen wurde, sondern die
Falleignung jeweils eigenständig überprüft. 70
VI. Schluss
Die angedachten Änderungen von § 45 JGG sind weder sonderlich origi-
nell noch systemverändernd. Sie laufen im Wesentlichen auf die gesetzliche
Absicherung und Einhegung einer schon jetzt üblichen "aktiven'; staatsan-
waltlichen Einstellungspraxis und die Normierung dessen hinaus, was man
bisher in Richtlinien zu regeln glaubte oder ohnehin "good practice" einer
rechtsstaatlichen Strafverfolgung sein sollte. Der begrenzte Spielraum für
Modifizierungen des Diversionsrechts ergibt sich daraus, dass sich das
Spannungsverhältnis zwischen den unbestrittenen Vorteilen einer informel-
len Verfahrenserledigung und den gerade aus der Vorverlagerung von Sank-
tionskompetenzen in das Ermittlungsverfahren resultierenden Gefahren für
ein justizförmiges Strafverfahren nicht auflösen, sondern nur abmildern
lässt. 71 Erträglich sind diese Spannungen freilich nur dann, wenn sich
Staatsanwälte und Staatsanwältinnen stets der besonderen Verantwortung
bewusst sind,72 die ihnen mit der Zubilligung von Sanktionskompetenzen
übertragen wurde. Trotz aller Unzulänglichkeiten der derzeitigen Praxis,
deren Überprüfung nicht nur fortwährende Aufgabe der Forschung, sondern
auch des zur Beobachtung der Einstellungspraxis verpflichteten Gesetzge-
bers ist, "bleibt - aufs Ganze gesehen - die Empfehlung richtig, in konse-
70 Wie ein solches Verfahren praktisch aussehen kann, beschreiben Sabaß (Fn. 10), S. 91
und HöjJler (Fn. 10), 92 f.
71 Vgl. Streng (Fn. 2), Rn. 179.
72 Zur notwendigen Überzeugungsbildung Hein= (Fn. 41), 266.
244 Torsten Yerrel
BERT GÖTTING*
I. Einleitung
Heinz Schäch hat sich seit vielen Jahren der Weiterentwicklung des straf-
rechtlichen Sanktionensystems gewidmet. Vom Gutachten C zum
59. Deutschen Juristentag 1992 in Hannover l bis hin zu seinem Beitrag zu
dem vom Bundesministerium der Justiz veranstalteten Jenaer Symposium
zum Jugendkriminalrecht 2 ging es ihm stets um eine Fortentwicklung mit
Augenmaß und kriminalpolitischem Verantwortungsbewusstsein, gegründet
auf stabile wissenschaftliche Erkenntnisse. Ihm ist dieser Beitrag über empi-
rische Erkenntnisse zum Jugendarrest gewidmet.
Der Jugendarrest ist im Sanktionensystem des Jugendstrafrechts eine feste
Größe. Als Zuchtmittel für diejenigen Jugendlichen gedacht, die zwar eines
"scharfen Ordnungsrufes" bedürfen, bei denen aber eine länger dauernde
Gesamterziehung und damit die Verhängung einer Jugendstrafe nicht erfor-
derlich ist. Insoweit - dies machen die Normierung der Aussetzung der
Verhängung einer Jugendstrafe gern. § 27 JGG und das Mindestmaß der
Jugendstrafe von sechs Monaten deutlich - ist der Arrest klar von der Ju-
gendstrafe abgegrenzt. Es handelt sich nach dem Willen des Gesetzgebers
gerade nicht um eine quasi kurze Jugendstrafe. Auch deshalb lässt es das
Gesetz nicht zu, diese beiden freiheitsentziehenden Sanktionen miteinander
zu kombinieren.
Dieser Umstand wird in der politischen Diskussion immer wieder als
Manko empfunden. Viele Jugendliche empfanden eine zur Bewährung
ausgesetzte Freiheitsstrafe nicht als Strafe, sondern als Schwäche des Staa-
tes. Sie würden diese Sanktion nicht als angemessene Reaktion auf ihre
* Der Verfasser ist Regierungsdirektor im Bundesamt für Justiz. Der Beitrag gibt ausschließ-
lich seine eigene Meinung wieder.
1 Titel: "Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen
ohne Freiheitsentzug?"
2 Neue Punitivität in der Kriminalpolitik? in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Das Ju-
gendkriminalrecht vor neuen Herausforderungen?, 2009, S. 13 ff.
246 Bert Götting
5 Erfasst sind die Verurteilten in dieser und den folgenden Tabellen nur insoweit, wie Anga-
ben zu Vorstrafen ermittelt wurden. 2005 wurde insgesamt in 1.763 Fällen (6,7 %) und 2006 in
1.615 Fällen (6,0 %) eine mögliche Vorstrafe nicht ermittelt.
6 Strafarrest, Geldstrafe, Erziehungsmaßregeln, Auflagen, Verwarnung.
Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht 249
80%
60%
40%
20%
f111F1111=l I
I
I
I
0%
2005 2006 2005 2006
60,0 -;----------.-.--------.---.----------1
50, ° +---.------.---.---------.---.--
40,0
30,0
20,0
10,0
0,0 -t------L-,...--.-~.:..:..:...L___,.---J:.&.&oIIIL.oI~_..,_---J.ii.ii.ii.ii.iii~:::.cL-__.__-J----J-___...q
Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht 251
Damit zeigt sich nicht nur, dass bei mehr als einem Viertel bis zur Hälfte
der potenziellen Adressaten eines Wamschussarrestes dieser Schuss bereits
ungehört verhallt ist. Sondern es wird auch noch deutlich, dass bei der Ver-
hängung jugendstrafrechtlicher Sanktionen insgesamt betrachtet der gesetz-
geberische Wille abgestufter Sanktionsintensität Widerhall findet. Mit der
Intensität der verhängten Sanktion steigt sowohl der Anteil vorverurteilter
Personen als auch die Sanktionshärte früherer Verurteilungen und somit der
Prozentsatz vorangegangener freiheitsentziehender Sanktionen.
Interessant in diesem Zusammenhang ist schließlich auch die umgekehrte
Betrachtungsweise nach der Art der erneuten Sanktionierung in Abhängig-
keit von der schwersten Vorverurteilung, die sich für den Jugendarrest und
die Jugendstrafe aus den unten stehenden Tabellen 5 bis 7 ergibt. Dies er-
möglicht zwar keine Aussage über die Legalbewährung oder die Rückfall-
quote nach einer Sanktionierung, lässt aber zumindest gewisse Rückschlüs-
se darauf zu, wie gravierend ein Rückfall durch das erkennende Gericht
eingeschätzt wurde.
Wenngleich, wie erwähnt, die Daten nicht im Sinne einer Rückfallstudie
verstanden werden können, fällt doch auf, dass in Relation zu den in den
Jahren 2005 und 2006 verhängten Sanktionen der Jugendarrest mehr als drei
mal häufiger als die Jugendstrafe mit Strafaussetzung zur Bewährung als
Vorverurteilung registriert ist. Dies verdeutlicht die Gegenüberstellung in
Tabelle 4, die auch zeigt, dass dieser Unterschied auch dann bestehen bleibt,
wenn man in Rechnung stellt, dass der Jugendarrest aktuell doppelt so häu-
fig verhängt wurde wie eine zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe. Eine
Erklärung hierfür ist sicherlich in dem Umstand zu sehen, dass Jugendstra-
fen in der Regel später verhängt werden und ein gewisser Anteil der so
Verurteilten deshalb erst mit einer Freiheits- oder Geldstrafe nach allgemei-
nem Strafrecht wieder registriert wird, die im Rahmen dieser Sonderauswer-
tung als aktuelle Verurteilung nicht erfasst ist. Es darf jedoch bezweifelt
werden, dass dies die erhebliche Differenz in vollem Umfang zu erklären
vermag. In jedem Fall zeigt jedoch bereits diese Gegenüberstellung, dass
der Jugendarrest - jedenfalls bei der Verhinderung von Rückfällen - nicht
überlegen scheint.
252 Bert Götting
Jugendstrafe mit Bew. als Vorstrafe 4.318 100 4.811 100 9.129 100
Aktuelle Sanktion
Weisungen 264 6,1 308 6,4 572 6,3
Jugendarrest 401 9,3 393 8,2 794 8,7
Auflagen 467 10,8 539 11,2 1.006 11,0
Verwarnung 199 4,6 195 4,1 394 4,3
Jugendstrafe mit Bewährung 1.238 28,7 1.320 27,4 2.558 28,0
Jugendstrafe ohne Bewährung 1.480 34,3 1.707 35,5 3.187 34,9
Bei den Verurteilten, für die eine vollstreckte Jugendstrafe als schwerste
Vorsanktion eingetragen ist (Tabelle 7), ist der Anteil erneut verhängter
Jugendstrafen mit 55,6 % (2005) bzw. 58,0 % (2006) zwar deutlich gerin-
ger, jedoch liegt der Anteil erneuter zu vollstreckender Jugendstrafen mit
mehr als 40 % ebenso deutlich höher. Der Anteil der Auflagen, Weisungen
und Verwarnungen beträgt mehr als ein Viertel der erneuten Sanktionen
(2005: 27,8 %; 2006: 26,1 0/0).
Erkennbar wird an diesen Daten einmal mehr, dass die Gerichte offen-
sichtlich die vom Gesetzgeber gewollte Differenzierung zwischen dem
Jugendarrest und der Jugendstrafe nachzeichnen oder zumindest die An-
nahme der Notwendigkeit einer länger dauernden Gesamterziehung jeden-
falls eine gewisse Konsistenz aufweist.
254 Bert Götting
Jugendstrafe ohne Bew. als Vorstr. 5.994 100 5.554 100 11.548 100
Aktuelle Sanktion
Weisungen 381 6,4 341 6,1 722 6,3
Jugendarrest 498 8,3 440 7,9 938 8,1
Auflagen 886 14,8 774 13,9 1.660 14,4
Verwarnung 397 6,6 337 6,1 734 6,4
Jugendstrafe mit Bewährung 889 14,8 833 15,0 1.722 14,9
Jugendstrafe ohne Bewährung 2.442 40,7 2.387 43,0 4.829 41,8
Jugendstrafe
ohne mit Jugendarrest
Sanktionierung des Rückfalls
Bewährung Bewährung
absolut I 0/0 absolut I 0/0 absolut I 0/0
Insgesamt wurden nach einem Jugendarrest 24,8 % und nach einer zur
Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe 19,7 % zu einer unmittelbar freiheits-
entziehenden Sanktion (Jugendarrest oder Jugend-/Freiheitsstrafe ohne
Strafaussetzung) verurteilt.
Darüber hinausgehend wurden aus den Daten der Legalbewährungsstudie
die statistischen Zusammenhänge zwischen der Bezugsentscheidung, einge-
tragenen Vorsanktionen und Folgeentscheidungen ermittelt. Das bedeutet,
dass ausgewiesen wird, wie viele Personen~ die im Jahr 1994 verurteilt oder
aus einem Freiheitsentzug entlassen und rückfallig geworden sind und mit
welcher Sanktion dieser Rückfall belegt worden ist. Diese Rückfallquoten
wiederum werden danach aufgeschlüsselt, ob vor der "aktuellen" Verurtei-
lung eine frühere Sanktionierung eingetragen ist und welche das war.
Durchgefuhrt wurde diese Sonderauswertung vom Institut für Kriminalwis-
senschaften der Georg-August-Universität Göttingen im Auftrag des Bun-
256 Bert Götting
Jugendstrafe
ohne
Bewährun2
I mit
Bewährun2
Jugendarrest
Wie Tabelle 9 zeigt, ist bei einer Verurteilung zu einer Jugendstrafe mit
Strafaussetzung zur Bewährung in 33,3 % der Fälle noch keine Sanktion
eingetragen, was allerdings auch auf entsprechende Tilgungsfristen bzw.
-modalitäten (z. B. im Fall des § 27 JGG) zurückzuführen sein kann. Dem-
gegenüber verfügen 20,0 % bereits über Hafterfahrung, in 17,5 % der Fälle
durch einen Jugendarrest und in weiteren 2,5 % durch eine Jugendstrafe
ohne Bewährung.
Bei Verhängung eines Jugendarrestes weisen sogar 40,8 % der Jugendli-
chen keine Vorsanktionierung auf, während 11,4 % schon über eine Hafter-
Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht 257
fahrung verfügen, 10,9 % durch einen Jugendarrest und weitere 0,5 % durch
eine zu vollstreckende Jugendstrafe.
Insgesamt zeigt Tabelle 9, dass die Belastung mit Vorsanktionen und das
Gewicht dieser Sanktionierungen bei Verhängung von Jugendarrest gerin-
ger sind als bei einer Jugendstrafe mit und ohne Strafaussetzung zur Bewäh-
rung. Dieses erwartete Ergebnis verdeutlicht auch Diagramm 3 und es be-
stätigt die Sonderauswertung der Strafverfolgungsstatistik.
Für den möglichen Anwendungsbereich eines Warnschussarrests neben
einer Jugendstrafe mit Strafaussetzung ergibt sich aus Tabelle 9 damit, dass
bei 20,0 % der Jugendlichen, die zu einer Jugendstrafe mit Bewährung
verurteilt werden, bereits eindeutig Hafterfahrung vorliegt. Bei weiteren
8,7 0;0 ist dies nicht auszuschließen, da die schwerste eingetragene Vorsank-
tion über dem Jugendarrest liegt (2,9 % Jugendstrafe mit Bewährung und
5,8 % Geldstrafe). Eine mögliche Warnschussfunktion ließe sich damit nach
den Daten der Legalbewährungsstudie noch bei mindestens 71,3 % und
höchstens bei 80,0 % erreichen.
100%
600/0
400/0
20%
Jugendstrafe
Rückfallquote (und absolute Zahl
der Verurteilten) bei Verurteilten ... ohne
Bewährung
I
mit
Bewährung
Jugendarrest
IV. Ergebnis
Betrachtet man die Ergebnisse dieser Sonderauswertungen der Strafver-
folgungsstatistik und der Legalbewährungsstudie, zeigt sich deutlich, dass
die Warnschusswirkung eines Jugendarrestes und die präventive Wirksam-
keit einer solchen Sanktionsmöglichkeit mit den vorliegenden statistischen
Daten jedenfalls nicht zu begründen ist.
Vielmehr liegen nach einer Sanktionierung mit Jugendarrest die Rück-
fallquoten und die Sanktionsschwere fur diese Rückfälle - insbesondere der
Anteil erneuten Freiheitsentzuges - deutlich über den ausgesetzten Frei-
heitsstrafen.
Selbst wenn der Sanktionierung eine entsprechende Selektion durch das
Gericht zugrunde liegt, wird diese durch die dargestellten Zahlen jedenfalls
insgesamt in der Weise bestätigt, dass die Verhängung einer ausgesetzten
Jugendstrafe bei den Jugendlichen, gegen die sie verhängt wird, zu keinem
höheren Rückfallrisiko fuhrt als die Verhängung eines Jugendarrests. Dass
sich durch einen Warnschussarrest die Rückfallquote nach Jugendstrafen
mit Strafaussetzung zur Bewährung senken lassen könnte, ist schon auf-
grund der höheren Rückfallquote nach Arrestverhängung nicht plausibel.
Das gilt umso mehr, weil die höhere Rückfallquote auch bei vergleichbarer
Vorsanktion und sogar bei Personen ohne eingetragene Vorsanktion gege-
ben ist. Die gleichzeitige Verhängung eines Jugendarrestes neben einer zur
Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe dürfte nach den vorliegenden Er-
kenntnissen damit im Ergebnis die Rückfallquote der ausgesetzten Jugend-
strafe nicht verbessern können; eher ist mit einem Anstieg zu rechnen.
Diese Ergebnisse sprechen demnach unter spezial- und auch generalprä-
ventiven Erwägungen deutlich gegen die Verhängung eines Warnschussar-
restes.
Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht 261
Jugendstrafe
Sanktionierung des Rückfalls ohne
Bewährung
I mit
Bewährung
Jugendarrest
Fälle insgesamt
519 2.697 3.896
(absolute Zahlen) (1)
- davon mit Rückfall
350 (67,4) 1.161 (43,0) 2.207 (56,6)
(Absolut u. Anteil in 0/0) (2)
Sanktionen im Falle eines Rückfalls von von von von von von
(%-Anteil) (1) (2) (1) (2) (1) (2)
- Jugend-/Freiheitsstrafe 50,5 74,9 18,7 43,4 25,6 45,2
- darunter ohne Bewährung 32,6 48,3 8,1 18,8 11,7 20,7
- Jugendarrest 0,4 0,6 2,3 5,4 7,3 12,9
Anteil aller unmittelbar freiheitsentzie-
henden Sanktionen an den Folgeent- 32,9 48,9 10,4 24,2 19,0 33,6
scheidungen
Tabelle 12: Rückfall bei Verurteilten mit Einstellung nach JGG als
schwerster Vorsanktionierung
Jugendstrafe
Sanktionierung des Rückfalls ohne
Bewährun2
I mit
Bewährun2
Jugendarrest
Fälle insgesamt
426 1.537 2.069
(absolute Zahlen) (1)
- davon mit Rückfall
325 (76,3) 900 (58,6) 1.554 (75,1)
(Absolut u. Anteil in %) (2)
Sanktionen im Falle eines Rück- von von von von von von
falls (%-Anteil) (1) (2) (1) (2) (1) (2)
- Jugend-/Freiheitsstrafe 60,1 78,8 29,7 50,8 38,4 51,1
- darunter ohne Bewährung 43,4 56,9 13,7 23,3 17,5 23,4
- Jugendarrest 0,7 0,9 2,9 5,0 8,1 10,8
Anteil aller unmittelbar freiheitsent-
ziehenden Sanktionen an den Folge- 44,1 57,8 16,6 28,3 25,7 34,2
entscheidungen
262 Bert Götting
Jugendstrafe
Sanktionierung des Rückfalls ohne
Bewährung
I mit
Bewährung
Jugendarrest
Fälle insgesamt
540 1.535 2.180
(absolute Zahlen) (1)
- davon mit Rückfall
437 (80,9) 1.085 (70,7) 1.732 (79,4)
(Absolut u. Anteil in %) (2)
Sanktionen im Falle eines Rück- von von von von von von
falls (%-Anteil) (1) (2) (1) (2) (1) (2)
- Jugend-/Freiheitsstrafe 60,7 75,1 40,2 56,9 47,5 59,8
- darunter ohne Bewährung 41,9 51,7 19,1 27,0 19,9 25,1
- Jugendarrest 0,4 0,5 2,9 4,1 7,5 9,4
Anteil aller unmittelbar freiheitsent-
ziehenden Sanktionen an den Folge- 42,2 52~2 22,0 31,2 27,4 34,5
entscheidungen
Jugendstrafe
Sanktionierung des Rückfalls ohne
Bewährun2
I mit
Bewähru n2
Jugendarrest
Fälle insgesamt
1.044 1.415 1.041
(absolute Zahlen) (1)
- davon mit Rückfall
861 (82,5) 1.020 (72,1) 878 (84,3)
(Absolut u. Anteil in %) (2)
Sanktionen im Falle eines Rück- von von von von von von
falls (%-Anteil) (1) (2) (1) (2) (1) (2)
- Jugend-/Freiheitsstrafe 67,4 81,8 44,0 61,1 60,1 71,3
- darunter ohne Bewährung 49,3 59,8 25,2 34,9 30,7 36,4
- Jugendarrest 0,6 0,7 2,5 3,4 5,0 5,9
Anteil aller unmittelbar freiheitsent-
ziehenden Sanktionen an den Folge- 49,9 60,5 27,6 38,3 35,7 42,4
entscheidungen
Der Warnschussarrest aus statistischer Sicht 263
Jugendstrafe
Sanktionierung des Rückfalls ohne
Bewährun~
mit I
Bewährun2
Jugendarrest
Fälle insgesamt
99 472 115
(absolute Zahlen) (1)
- davon mit Rückfall
67 (67,7) 313 (66,3) 93 (80,9)
(Absolut u. Anteil in %) (2)
Sanktionen im Falle eines Rück- von von von von von von
falls (%-Anteil) (1) (2) (1) (2) (1) (2)
- lugend-IFreiheitsstrafe 56,6 83,6 40,5 61,0 61,7 76,3
- darunter ohne Bewährung 37,4 55,2 23,1 34,8 31,3 38,7
- 1ugendarrest 0,0 0,0 0,4 0,6 0,9 1, 1
Anteil aller unmittelbar freiheitsent-
ziehenden Sanktionen an den Folge- 37,4 55,2 23,5 35,5 32,2 39,8
entscheidungen
Jugendstrafe
Sanktionierung des Rückfalls ohne mit
Bewährun~ Bewährun2
I
Jugendarrest
Fälle insgesamt
118 232 199
(absolute Zahlen) (1)
- davon mit Rückfall
95 (80,5) 161 (69,4) 172 (86,4)
(Absolut u. Anteil in 0/0) (2)
Sanktionen im Falle eines Rück- von von von von von von
falls (%-Anteil) (1) (2) (1) (2) (1) (2)
- lugend-/Freiheitsstrafe 71,2 88,4 43,1 62,1 51,8 59,9
- darunter ohne Bewährung 55,9 69,5 26,3 37,9 22,1 25,6
- 1ugendarrest 0,0 0,0 2,6 3,7 5,5 6,4
Anteil aller unmittelbar freiheitsent-
ziehenden Sanktionen an den Folge- 55,9 69,5 28,9 41,6 27,6 32,0
entscheidungen
264 Bert Götting
Jugendstrafe
Sanktionierung des Rückfalls ohne
Bewährun2
I mit
Bewährun2
Jugendarrest
Fälle insgesamt
(absolute Zahlen)
221 201 45
(1)
- davon mit Rückfall
182 (82,4) 163 (81,1) 38 (84,4)
(Absolut u. Anteil in %) (2)
Sanktionen im Falle eines Rück- von von von von von von
falls (%-Anteil) (1) (2) (1) (2) (1) (2)
- 1ugend-IFreiheitsstrafe 74,7 90,7 67,2 82,8 60,0 71,1
- darunter ohne Bewährung 57,5 69,8 46,8 57,7 44,4 52,6
- 1ugendarrest 0,0 0,0 2,5 3,1 4,4 5,3
Anteil aller unmittelbar freiheitsent-
ziehenden Sanktionen an den Folge- 57,5 69,8 49,3 60,7 48,9 57,9
entscheidungen
Tabelle 18: Rückfall bei allen Verurteilten unabhängig von einer Vor-
sanktionierung (Tabellen 11 bis 17)
Jugendstrafe
Sanktionierung des Rückfalls ohne
Bewährun2
I mit
Bewährun2
Jugendarrest
90,0
80,0 +----------+---~---------+----~--+_---___t
70,0 -+-----------}-----I-
60,0 -1------------------+--------1-
50,0
40,0
30,0
20,0
10,0
0,0
JmB JA JmB JA JmB JA JmB JA JmB JA JmB JA JmB JA
MONIKA TRAULSEN
I. Einleitung
1. Schülerverfahren in der Jugendstrafrechtspflege
Auf der Strafrechtslehrertagung 1979 in Bonn wies Heinz Schöch auf die
Bedeutung der Ethik für die Strafrechtspflege hin. Als Grundlage der straf-
rechtlichen Ethik bezeichnete er "die Hoffnung auf die Entfaltung sozialer
Verantwortung bei jedem Menschen".l Diese Hoffnung besteht besonders
für junge Menschen, die noch dabei sind, in die soziale Verantwortung
hineinzuwachsen, auf diesem Weg aber mit dem Gesetz in Konflikt ge-
kommen sind. In seinem vielfältigen Bemühen, der Strafrechtspflege neue
Impulse zu geben, entwickelte Heinz Schöch fiir diese Tätergruppe zusam-
men mit Reinhard Böttcher und der Strafrechtsabteilung des Bayerischen
Staatsministeriums der Justiz die Idee, das in den USA praktizierte Modell
der Teen Courts auf deutsche Verhältnisse zu übertragen. In dem von ihm
"Kriminalpädagogisches Schülerprojekt" genannten Verfahren soll dem
jungen Täter die Gelegenheit gegeben werden, mit einem dafür ausgebilde-
ten Gremium ungefähr gleichaltriger Schüler ein ausführliches Gespräch
über seine Tat und ihre Hintergründe zu führen. In der Regel soll auch eine
Maßnahme vereinbart werden, die möglichst einen Bezug zur Tat hat. 2
Schon vor über 20 Jahren bezeichnete Heinz Schöch "eine positive soziale
Leistung des Täters mit dem Ziel des Ausgleichs der durch die Tat gestörten
Rechtsordnung" als strafrechtliche Wiedergutmachung. Als Beispiele nann-
te er eine Entschuldigung, gemeinnützige Leistungen oder Geschenke an
den Verletzten, 3 wie sie nun in den Schülerverfahren vereinbart werden.
4 Schöch/Traulsen DVJJ-Journal 2002, 54-60~ dies. (Fn. 2)~ Sabaß Schülergremien in der
Jugendstrafrechtsptlege - Ein neuer Diversionsansatz. Kriminalwissenschaftliche Schriften
Band 2, 2004~ Englmann Kriminalpädagogische Schülerprojekte in Bayern - Rechtliche Prob-
leme und spezialpräventive Wirksamkeit eines neuen Diversionsansatzes im Jugendstrafverfah-
ren, 2009. Zum Schülerprojekt in Ingolstadt siehe auch Löffelmann ZJJ 2004, 171-177.
5 Schöch/Traulsen Legalbewährung nach Schülerverfahren. Die strafrechtliche Entwicklung
von Jugendlichen, die am "Kriminalpädagogischen Schülerprojekt Aschaffenburg" teilgenom-
men haben, GA 2009, S. 19-44~ Englmann (Fn. 4)~ ders. ZJJ 2009, 216-226.
6 Hessen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt~ Englmann (Fn. 5), S. 217.
7 Siehe z.B. Block/Kolberg ZJJ 2007, 8-18~ Breymann ZJJ 2007, 4-8~ Plewig ZJJ 2008, 237-
245. Eingehend und m.w.N. Englmann (Fn. 4), S. 218-222.
8 Konzeption unter http://www.kv-kehl.drk.de.
Das Schülerverfahren in der Jugendhilfe 269
3. Fragestellung
Zunächst soll geklärt werden, unter welchen Voraussetzungen die Ju-
gendhilfe Maßnahmen rur delinquente Minderjährige durchfuhren kann und
welche Konsequenzen dies für ein Schülerverfahren in diesem Bereich hat.
Es folgt eine Analyse der bisher in Kehl durchgeführten Verfahren.
9 Laut Breymann (Fn. 7), 4, 8 gibt es weder dieses Bedürfnis noch ein Projekt, das von der
Jugendhilfe eingerichtet wurde.
lü UnverötIentlichte Stellungnahme vom 1.6.2006.
11 Goerdeler ZJJ 2006, 4, 5; ders. ZJJ 2008, 137, 140. Siehe auch Schäch Neue Punitivität
in der Jugendkriminalpolitik? In: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Das Jugendkriminal-
recht vor neuen Herausforderungen? 2009, S. 13,27.
12 Goerdeler 2006 (Fn. 11), 7~ Wiesner SGB VIII ,Kinder- und Jugendhilfe~ 3. Autl. 2006,
§ 27 Rn. 29.
270 Monika Traulsen
zungen von der Strafverfolgung absehen. Laut einer Umfrage unter Staats-
anwälten geschieht dies in Baden-Württemberg z.B. bei Ladendiebstählen
von Ersttätern, wenn der Sachwert weniger als ungefähr 30 Euro beträgt. 13
2. ~Jugendhilfe
13 Dieser Wert wurde auch im Bundesdurchschnitt ermittelt. Feigen ZJJ 2008, 349, 353,
355. Zu den Unterschieden zwischen den Bundesländern siehe Tabellen 2 und 3, S. 355.
14 Konzeption unter http://www.kv-kehl.drk.de.
15 Walter ZJJ 2008, 224, 227.
16 Dölling in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Grundfragen des Jugendkriminalrechts
und seiner Neuregelung, 1992, S. 38, 55 f.~ Dölling/Hartmann/Traulsen MschrKrim 2002, 185,
190~ Hein= in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Diversion im Jugendstrafverfahren der
Bundesrepublik Deutschland, 1993, S. 3, 51.
17 Abgedruckt in DVJJ-JoumaI1997, 5-24.
18 Allgemeine Verfahrensgrundsätze 3.2.7.
19 Im Einzelnen 2.2 Gefährdung Minderjähriger.
20 Albrecht in: Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Grundfragen des Jugendkriminalrechts
und seiner Neuregelung, 2. Aufl. 1995, S. 254, 255~ Bindel-Kögel u.a. Kinderdelinquenz
zwischen Polizei und Jugendamt, 2004, S. 31 ~ Philipp ZJJ 2009, 141 ~ Sonnen ZJJ 2009, 4, 6~
Das Schülerverfahren in der Jugendhilfe 271
3. Sonstige Reaktionen
Die Entscheidung des Gesetzgebers, für Strafunmündige und im Baga-
teIlbereich auch für Jugendliche kein Jugendstrafverfahren durchzuführen,
bedeutet andererseits nicht, wie das DRK Kehl befürchtet, dass die Taten in
kriminalpräventiver Hinsicht ganz folgenlos bleiben. Junge Straftäter be-
richten, dass die Erfahrung erwischt zu werden - bei Ladendiebstählen folgt
dem Zugriff des Ladendetektivs im Allgemeinen auch noch ein Hausverbot
.- und die Vernehmung auf der Polizeidienststelle einen starken Eindruck
bei ihnen hinterlassen haben, mindestens ebenso wie die Bestrafung durch
die Eltern, z.B. mit Hausarrest und Taschengeldentzug, und die Enttäu-
schung, die sie ihren Eltern bereitet haben. 22 Dies kommt im Besinnungs-
aufsatz einer Aschaffenburger Projektteilnehmerin deutlich. zum Ausdruck.
Sie schrieb: "Ich möchte nie mehr zur Polizei und mich durchsuchen lassen,
mir Fragen stellen lassen! Nie mehr soll meine Mutter mich mit weinenden
Augen von der Polizei abholen! Auch kein Hausarrest möchte ich mehr
bekommen wegen klauen!"
Unter solchen Umständen werden darüber hinausgehende Maßnahmen
der Jugendhilfe als überzogen, unverhältnismäßig und pädagogisch nicht
vertretbar abgelehnt. 23
4. Schülerverfahren
Nach Auffassung von Heinz Schöch wird der Sinn des kriminalpädagogi-
schen Schülerverfahrens bei "ansonsten unauffalligen Ersttätern mit ubiqui-
tärer Delinquenz" verfehlt. 24 Für ein Schülerverfahren der Jugendhilfe kann
- auch im Sinn des Jugendhilferechts - nichts Anderes gelten. Es kommt
folglich nur dann in Betracht, wenn die Legalbewährung eines jungen Tä-
ters gefahrdet erscheint. Bei delinquenten Jugendlichen wird in solchen
Fällen in der Regel ein Jugendstrafverfahren durchgeführt. Dies schließt ein
- zusätzliches - Schülerverfahren der Jugendhilfe aus. Als präventive Maß-
nahme ist es vor allem für solche Jugendliche sinnvoll, die in ihrem sonsti-
gen Sozialverhalten unangepasst sind.
Häufiger als bei Jugendlichen ist bei delinquenten Kindern eine kriminal-
pädagogische Lücke denkbar. Der Verzicht des Gesetzgebers auf ein Straf-
verfahren rur Strafunmündige kann es erforderlich machen, ihnen den Ge-
setzesverstoß und seine Folgen durch altersgerechte Erziehungsrnaßnahmen
anderer Institutionen zu verdeutlichen. In den meisten Fällen genügen darur
die Reaktionen der Polizei, der Eltern und des weiteren Umfelds. Wenn sich
aber eine ungünstige Entwicklung des Kindes abzeichnet, kann auch die
Teilnahme an einem Schülerverfahren einen Beitrag zur Erziehung leisten.
Dabei muss jedoch der Eindruck vermieden werden, dass eine Art Kinder-
strafverfahren durchgeführt wird, nicht nur im Hinblick auf die Strafun-
mündigkeit des Beschuldigten, sondern auch weil Angebote der Jugendhilfe
grundsätzlich keinen "Strafcharakter" haben. 25 Dies betrifft sowohl die
Namensgebung als auch die Ausgestaltung des Verfahrens und der Maß-
nahmen. Für das Diversionsverfahren hat Heinz Schöch bewusst den Aus-
druck "kriminalpädagogisches Schülerprojekt" gewählt, um eine Assoziati-
on zum Strafverfahren zu vermeiden. 26 Die von einzelnen Autoren und
Projekten verwendete Bezeichnung "Schülerrichter"27 ist daher für jede Art
Schülerverfahren als irreführend abzulehnen. Außerdem muss darauf geach-
tet werden, dass das Gespräch nicht an eine Vernehmung und die Maßnah-
men nicht an Sanktionen oder gar Strafen für die Tat erinnern. Ausschließli-
che Aufgabe des Schülerverfahrens ist es, einen Beitrag zur Erziehung zu
leisten.
3. Projektteilnehmer
a) Akzeptanz
Das Schülerverfahren ist grundsätzlich als ein Angebot zu verstehen, des-
sen Wahrnehmung den jungen Tätern und ihren Erziehungsberechtigten frei
steht. Bei der Konzipierung des ersten Projekts in Aschaffenburg war es
daher völlig offen, wie es in der Praxis angenommen werden würde. Es
zeigte sich, dass lediglich knapp 5 % der von der Polizei vorgeschlagenen
Jugendlichen zur Teilnahme nicht bereit waren. 30 In Ingolstadt, wo die
Staatsanwaltschaft die Beschuldigten aussucht, lehnen ebenfalls weniger als
5 % ab. 31 Die Jugendlichen, die dem Schülerverfahren zugestimmt haben,
erscheinen dann in der Regel auch zum vereinbarten Gesprächstermin. 32
Auch in Kehl kommt das Gespräch mit den Kindern und Jugendlichen, die
von der Polizei vorgeschlagen werden, meist zustande. Nur sechs von 88
verweigerten sich. Dagegen scheint die Bereitschaft geringer zu sein, wenn
der Vorschlag von der Schule oder Staatsanwaltschaft ausgeht. Von diesen
15 Beschuldigten erschienen sieben nicht zum Gespräch. Darunter ist auch
ein Junge, der zwar den ersten Gesprächstermin wahrnahm, dem zweiten
aber fern blieb.
Die hohe Teilnahmequote der polizeilich Vorgeschlagenen bedeutet nicht,
dass die Teilnahme immer ganz freiwillig war. Bei eineIn Verfahren der
Jugendhilfe besteht zwar nicht der Druck, dass die Akte im Fall des Schei-
terns an die Staatsanwaltschaft zurückgeht. 33 Es kOlnmt aber vor, dass sich
der Jugendsachbearbeiter noch einmal einschaltet, wenn der Beschuldigte
den Gesprächstermin nicht einhält. Manche Beschuldigte stimmen lediglich
auf Drängen der Eltern zu. Nach der Erfahrung der Schüler kann sich dies
ungünstig auf das Gremiumsgespräch auswirken.
b) Merkmale
Für die Evaluierung standen 90 abgeschlossene Verfahren zur Verfügung.
Sie betrafen 43 Kinder und 47 Jugendliche. Die Hälfte der Kinder (21 von
43) und ein Drittel der Jugendlichen (15 von 47) waren Jungen. Jeweils
ungefähr ein Drittel hatte einen Migrationshintergrund 34 (17 Kinder und 15
Jugendliche). Die meisten Probanden besuchten zur Tatzeit noch die Schu-
le. Bei den Kindern überwogen die Hauptschüler, bei den Jugendlichen die
höheren Schüler. 35 Dies bedeutet, dass die aus kriminologischer Sicht weni-
ger gefährdeten Mädchen .und höheren Schüler36 bei den Jugendlichen häu-
figer als bei den Kindern vertreten sind.
Die Beschuldigten waren im Zeitpunkt ihrer Delinquenz überwiegend 12
bis 15 Jahre alt. Der Schwerpunkt liegt auf den 13- und 14-Jährigen. 37
c) Delinquenz
Obwohl Heinz Schöch das Schülerverfahren rur ein breites Deliktsspekt-
rum vorgesehen hat, neigt die Polizei erfahrungsgemäß dazu, vor allem
33 Bzgl. der Diversionsverfahren siehe Schöch/Traulsen (Pn. 2), S. 396. Näher dazu Engl-
mann (Pn. 4), S. 116 ff.
34 Der Proband bzw. mindestens ein Elternteil ist Ausländer oder Aussiedler.
35 Bei den Kindern 19 Hauptschüler und 14 höhere Schüler, bei den Jugendlichen 11 Haupt-
schüler und 26 höhere Schüler.
36 Näher dazu Schöch/Traulsen (Pn. 2), S. 388 ff.; Schöch/Traulsen (Pn. 5), S. 24 f.
37 11 mal 9 bis 11 Jahre, 11 mal 12 Jahre, 211nal 13 Jahre, 28 mal 14 Jahre, 14 mal 15 Jah-
re, 5 mal 16 Jahre.
Das Schülerverfahren in der Jugendhilfe 275
d) Erziehungsbedarf
Wie bereits erwähnt, erfüllt das Schülerverfahren nur dann seinen Sinn,
wenn ein kriminalpräventiver Erziehungsbedarf besteht. 40 Bei den Kehler
Probanden ist je nach Tat oder sonstigem Verhalten ein unterschiedlicher
Erziehungsbedarf zu erkennen. Dies soll jeweils mit einem Beispiel ver-
deutlicht werden.
12 Kinder und 20 Jugendliche fielen ausschließlich, d.h. ohne weitere
Auffälligkeit, mit einem Ladendiebstahl im Wert von weniger als 30 Euro
auf. Darunter war ein 14-jähriger Gymnasiast, der in einer Imbissbude für
sich und seinen Freund zwei Kaugummis zum Preis von zusammen 2 Euro
weggenommen hatte. Sein Vater hatte ihn bereits zu einem Entschuldi-
gungsgespräch mit dem Inhaber begleitet und ihn mit Computerverbot be-
straft. Im Schülergespräch zeigte sich der Junge "aufgeschlossen und ko-
4. Schülergremium
a) Zusammensetzung
In allen Schülerverfahren bestehen die Gremien aus drei Jugendlichen, in
der Regel aus Schülern. Der Grundgedanke bei der Entwicklung des Mo-
dells war, die junge Generation in die Verantwortung für ihre· Altersgenos-
sen einzubinden, auffälligen jungen Menschen ein ausführliches Gespräch
auf Augenhöhe zu ermöglichen und sie an den Überlegungen zur Wieder-
gutmachung zu beteiligen. 41 Aus sozialpädagogischer Sicht setzt die wirk-
same Beeinflussung durch Gleichaltrige voraus, dass sie als "Peers" emp-
funden werden. 42 Die Leiter der bayerischen Projekte bemühen sich, die
Schülergruppen soweit möglich nach Geschlecht, Alter und Schultyp dem
Beschuldigten entsprechend auszuwählen. 43 Die Kehler Schüler machen
dies unter sich aus. Dennoch sind die Schüler von ihrem Freizeitverhalten
und ihrer Einstellung her oft keine "Peers" im eigentlichen Sinn. 44 Die meis-
ten Kehler Schüler besuchen die Oberstufe des Gymnasiums, sie sind über-
wiegend weiblich und sozial engagiert. Dies hat häufig zur Folge, dass sie
älter als die Beschuldigten sind, besonders wenn es sich bei diesen um straf-
unmündige Kinder handelt, und dass sie ihnen nach ihrer intellektuellen und
sozialen Kompetenz, zudem als Dreiergruppe, überlegen sind. 45
b) Gespräch
Erfahrungsgemäß beeinträchtigen solche Unterschiede die eigentlichen
Anliegen des Schülerverfahrens nicht. Die Sozialpädagogen aller untersuch-
ten Proj ekte betonen, wie vorteilhaft es sich auf die Gespräche auswirkt,
dass Gremiumsschüler und Beschuldigte einer Generation angehören. Sie
berichten, dass beide Seiten auf einer Ebene kommunizieren, dass sie in
jugendtypischer Direktheit die gleiche Sprache sprechen, dass sich in den
meisten Fällen Zugang, Akzeptanz und Vertrauen rasch einstellen. 46
Die Kehler Schüler machen sich im Anschluss an das Gespräch Gedanken
über seinen "Erfolg". Sie beurteilen ihn danach, ob sich die Beschuldigten
kooperativ verhalten und Unrechtseinsicht gezeigt haben. Überwiegend
verliefen die Gespräche in diesem Sinn effektiv. In einem Protokoll ist
einschränkend vermerkt, dass es nicht eigentlich als Erfolg zu werten ist,
wenn der Beschuldigte das Unrecht seiner Tat bereits vor dem Gespräch
eingesehen hat. Fünfmal hatten die Schüler den Eindruck, dass der Beschul-
digte uneinsichtig war, dreimal wurden sie erkennbar angelogen. Ein Junge
war frech und lachte nur, mit einem anderen konnte wegen Verhaltensauf-
falligkeiten kein konsequentes Gespräch geführt werden.
Hilfreich ist das Gespräch auch für solche junge Menschen, die sonst kei-
ne Möglichkeit zu einer Aussprache haben. Mehrmals kam es vor, dass
Kinder und Jugendliche offen von ihren häuslichen Problemen, bis hin zu
Misshandlung durch Eltern oder Stiefeltern, berichteten. Die Schüler hören
ihnen dann zu, versuchen, ihnen persönlichen Rat zu geben und nennen
ihnen Einrichtungen, bei denen sie sich Rat und Hilfe holen können.
c) Maßnahmen
Wie bei den Diversionsprojekten ist auch in Kehl die Vereinbarung von
Maßnahmen vorgesehen. Doch spielen sie hier eine geringere Rolle. Wäh-
rend die Mitglieder der bayerischen Gremien nur ausnahmsweise auf Maß-
nahmen verzichten, kommt dies in Kehl bei fast einem Viertel der Fälle vor
(21 von 90). Anders als in Bayern wird in der Regel nur eine einzige Maß-
nahme je Proband verhängt. Die Art der Maßnahmen ist weniger vielfaltig,
d) Fachliche Begleitung
In der öffentlichen Jugendhilfe ist nach § 73 SGB VIII für ehrenamtlich
tätige Personen Anleitung und Beratung vorgesehen. Als "Anleitung" wird
die zu Beginn und während der Dauer der Tätigkeit sich als notwendig
erweisende Schulung und als "Beratung" die Hilfestellung bei Problemen
47 Zu den Maßnahmen der bayerischen Projekte siehe Eng/mann (Fn. 4), S. 61 ff. (Ingol-
stadt), S. 358 ff. (Memmingen), S. 385 ff. (Ansbach), S. 401 f. (Augsburg)~ Schöch/Traulsen
(Fn. 2), S. 394-396 (Aschaffenburg, Ansbach, Ingolstadt).
48 Andere Einrichtungen sind aus Haftungsgründen nicht vorgesehen.
49 Diese Begrenzung erfolgte in Absprache mit dem Jugendgericht.
Das Schülerverfahren in der Jugendhilfe 279
HEINZ MÜLLER-DIETZ
hat er sich bis in die jüngste Zeit hinein namentlich mit aktuellen Themen
des Straf- und Maßregelvollzugs auseinandergesetzt. 4
Namentlich in seiner Darstellung der menschen- und verfassungsrechtli-
chen Grundlagen des Vollzugs rekurriert Schäch natürlich in besonderem
Maße auf die Rechtsprechung des BVerfG zum Strafvollzug. Er hat aber
auch in anderem Zusammenhang, etwa in seiner Erörterung der "Ziele und
Gestaltungsgrundsätze des Strafvollzugs", darauf zurückgegriffen. Im men-
schen- und verfassungsrechtlichen Kapitel hat er insbesondere auf die "so-
zialstaatliche Verankerung der Resozialisierung durch das BVerfG im Le-
bach-Fall"5 und die Bekräftigung dieser verfassungsrechtlichen Position
durch die" Arbeitsentgeltentscheidung "6 hingewiesen. Besonders eingehend
hat er sich mit der Rechtsprechung des BVerfG bei der Behandlung der von
der fachgerichtlichen Judikatur und der Literatur kontrovers gesehenen
Frage auseinandergesetzt, welche Schlussfolgerungen aus der Feststellung
des Gerichts zu ziehen sind, dass andere Strafzwecke als die Resozialisie-
rung bei der Entscheidung über die bedingte Entlassung zu lebenslanger
Freiheitsstrafe Verurteilter in Betracht kommen könnten. 7 Schäch hat dazu
zu Recht angemerkt, dass aus dieser Rspr. keine zwingende Verpflichtung
zur Berücksichtigung allgemeiner Strafzwecke abgeleitet werden könne. 8
Deutlich wird an der eingehenden Beschäftigung des Jubilars einmal mehr,
welche grundlegende Bedeutung der Rechtsprechung des BVerfG für die
Zielsetzungen und Ausgestaltung des Straf-, Maßregel- und Untersuchungs-
haftvollzugs zukommt. Das wird letztlich auch in Claus Roxins kürzlicher
Würdigung der "Strafe und Strafzwecke in der Rechtsprechung des Bun-
desverfassungsgerichts" deutlich. 9
4 Vgl. z.B. Schäch Psychisch kranke Gefangene im Strafvollzug, WsFPP 2008, 5-18; ders.
Ärztliche Schweigepflicht und Akteneinsichtsrecht des Patienten im Maßregelvollzug, FS
Kreuzer, 2008, S. 669-684. Beide Themen sind von großer praktischer Relevanz. Zur Proble-
matik psychisch kranker Gefangener im Strafvollzug ferner K. FoersterlM Foerster FS Wid-
maier, 2008, S. 897 ff; von Schän/eld WsFPP 2008, 35 ff; Quendler/Konrad Forum Strafvoll-
zug 2009, 33 ff
5 BVerfGE 35, 202, 235; vgl. Schäch (Fn. 3), § 5 Rn. 46.
6 BVerfGE 98, 169; vgl. Schäch (Fn. 3), § 5 Rn. 47.
7 BVerfGE 64,261,264 ff
8 Schäch (Fn. 3), § 6 Rn. 41; vgl. ferner Rn. 43-45.
9 Roxin FS Volk, 2009, S. 601 ff, der "die verfassungsrechtliche Notwendigkeit des Resozi-
alisierungsstrafvollzuges" unter Bezugnahme auf die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung
ausdrücklich hervorhebt (S. 608 ff).
Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum Strafvollzug 287
pflichtungen und empirischer Studien enthält. 15 Insgesamt kann und will die
Darstellung aber auch selbst fur den ins Auge gefassten Zeitraum natürlich
keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben.
48 Lübbe-WoljflLindemann (Fn. 43),453. Ein kritisches Bild von der Realisierung des Voll-
zugsziels in der Praxis zeichnet freilich Fricke KrimJ 2009, 220 ff.
49 BVerfGE 98,169 = NJW 2002,2023 = NStZ 2003,109 = ZfStrVo 2002,369.
50 BVerfGe 116,69.
51 Vgl. Lübbe-Wolff/Lindemann (Fn. 43),454; Müller-Dietz in: Dünkel/DrenkhahnJMorgen-
stern (Hrsg.), Humanisierung des Strafvollzugs - Konzepte und Praxismodelle, 2008, S. 11 ff.,
14,17.
52 Allgemein zur "Begründung der gesetzgeberischen Einschätzungsspielräume" auf Grund
der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung Hwang KritV 2009, 31 ff.
53 Vgl. etwa zur Wirksamkeitsforschung im Strafvollzug Obergfell-FuchslWulf Forum
Strafvollzug 2008, 231 ff.; Suhling Forum Strafvollzug 2009, 91 ff.
54 BVerfG NJW 2006,2097.
55 NJW 2006, 2097. Vgl. Pollähne StV 2007, 553 ff.; Morgenstern in: Dünkel/Drenk-
hahnJMorgenstern (Fn. 51), S. 35 ff.
Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum Strafvollzug 293
Auch im Maßregelvollzug gelten die Grundsätze, die sich aus dem verfas-
sungsrechtlich verbürgten Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG)
rur das Besuchsrecht von Angehörigen ergeben. Hier ist gleichfalls die
Bedeutung der Familienbeziehungen rur die Vermeidung schädlicher Fol-
gen des Freiheitsentzugs und die Wiedereingliederung des Maßregelvoll-
zugspatienten zu berücksichtigen. Daraus folgt, dass Einschränkungen des
Besuchsrechts von Angehörigen - wie im Strafvollzug - einer Verhältnis-
mäßigkeitskontrolle unterliegen. Dementsprechend dürfen Besuche von
Angehörigen dem BVerfG zufolge nicht ohne weiteres von therapeutischen
Erstgesprächen mit den Angehörigen abhängig genlacht werden. Eine sol-
che Maßnahme, die den Schutz von Sicherheit und Ordnung der Anstalt
bezweckt, setzt demnach konkrete Anhaltspunkte für eine bereits bestehen-
de Gefährdung voraus. 72
5. Rechtsbeschränkungen im Untersuchungshajtvollzug
Den Grundsatz, dass Rechtsbeschränkungen, namentlich Eingriffe in
Grundrechte, zum Schutz der in § 119 Abs. 3 StPO geregelten öffentlichen
Interessen im Vollzug der Untersuchungshaft nur bei Vorliegen konkreter
Anhaltspunkte für eine Gefahrenlage zulässig sind, hat das BVerfG in stän-
diger Rechtsprechung bekräftigt. Für solche Eingriffe reicht die bloße Mög-
lichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener seine Rechte missbraucht, nicht
aus. Generelle Beschränkungen - etwa in Form allgemeiner Anordnungen-
sind danach, wie bereits angedeutet, nur dann statthaft, wenn durch eine
Einzelmaßnahme eine reale Gefährdung der Schutzgüter des § 119 Abs. 3
StPO nicht hinreichend abgewehrt werden kann. An diesen Maßstäben hat
das BVerfG denn auch sowohl die Urinkontrolle eines Untersuchungsge-
fangenen 73 als auch eine allgemeine Anordnung der Durchsuchung von
Gefangenen unter Entkleidung bei Aufnahme in die Anstalt 74 gemessen.
Danach begegnet die Anordnung der Urinkontrolle eines Untersuchungs-
gefangenen beim Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für einen Betäu-
bungsmittelkonsum keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Das BVerfG
hat dabei allerdings offen gelassen, ob durch eine solche Maßnahme das aus
Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitete Verbot eines Selbstbe-
zichtigungszwangs berührt würde. Doch selbst wenn das der Fall wäre,
würde daraus nicht die Unzulässigkeit der Anordnung, sondern nur der
Verwertung der gewonnenen Probe folgen; ,~denn die Anordnung erfolgte
72 StV 2009, 148 = R&P 2008, 223 = NStZ 2008, 261 (LS).
73 NStZ 2008, 292.
74 StV 2009,253 = EuGRZ 2009, 159.
Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum Strafvollzug 297
Maßregelvollzug ganz allgemein hat. 85 Und das trifft zum anderen auf die
Dauer der Vollstreckung einer (lebens-)langen Freiheitsstrafe oder der Un-
terbringung in der Sicherungsverwahrung oder im psychiatrischen Kran-
kenhaus zu. Kann doch in solchen Fällen der Freiheitsentzug im Extremfall
bis zum Tode des Inhaftierten dauern.
Veranschaulicht worden sind jene Zusammenhänge vor allem durch Ent-
scheidungen des BVerfG, die sich mit der Ablehnung einer Strafrestausset-
zung zu befassen hatten, weil sie - jedenfalls auch - auf die fehlende Erpro-
bung des Gefangenen in Vollzugslockerungen gestützt war. Die Grundsätze,
die diese Rechtsprechung entwickelt hat, sind indessen nicht nur für die
Anfordenlngen bedeutsam, die an das vollstreckungsgerichtliche Ausset-
zungsverfahren gerichtet sind, sondern verweisen vielmehr auch auf den
inneren Zusammenhang zwischen der Gestaltung des Vollzugs und den
etwaigen Chancen des Verurteilten bedingt entlassen zu werden. Das bringt
namentlich eine neuere Entscheidung des BVerfG zum Ausdruck, die sich
mit der Problematik der Strafrestaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe
nach Verbüßung der Mindestdauer von 15 Jahren auseinanderzusetzen hat-
te. 86
Der neue Kammer-Beschluss zeichnet mit seinem subtilen Gedankengang
in exemplarischer Weise den Weg von den verfassungsrechtlichen Vorga-
ben zu den rechtspraktischen Konsequenzen für die Ausgestaltung des Aus-
setzungsverfahrens und die Auswirkungen für die Vollzugsgestaltung nach.
Zur Sprache kommt - wie schon bisher -, welche Bedeutung der Gewäh-
rung von Vollzugslockerungen in diesem Zusammenhang zukommt. "Gera-
de das Verhalten eines Gefangenen anlässlich solcher Belastungserprobun-
gen stellt einen geeigneten Indikator für die künftige Legalbewährung
dar".87 Der Beschluss zieht damit zugleich die Summe aus der einschlägigen
verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Das kann hier nun nicht mit der
gebotenen Ausführlichkeit, sondern nur stichwortartig und fragmentarisch
wiedergegeben werden.
Danach müssen vor allem auf Grund des verfassungsrechtlichen Über-
maßverbots das Aussetzungsverfahren und die dann zu treffende Entschei-
dung "das Spannungsverhältnis zwischen dem Freiheitsanspruch des Verur-
teilten und derrl Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit" "zu einem
gerechten und vertretbaren Ausgleich" gebracht werden. 88 Die entsprechen-
den Anforderungen wachsen mit der Dauer des Freiheitsentzugs. Sie haben
namentlich Bedeutung für die Prognoseentscheidung sowie für Gewinnung
85 Vgl.
namentlich Dünkel Forum Strafvollzug 2009, 192 tf.
86 NJW 2009, 1941.
87 NJW 2009, 1942~ vgl. auch BVerfGE 117,71, 108 = NJW 2007, 1933.
88 NJW 2009, 1933.
300 Heinz Müller-Dietz
und Umfang der Tatsachengrundlage, auf der die Entscheidung beruht. Das
zeigt sich vor allem im Falle der lebenslangen Freiheitsstrafe.
Gerade bei langen Haftzeiten ergibt sich "typischerweise in besonderem
Maße die Notwendigkeit, in sorgfältig gestuftem Vorgehen durch Locke-
rungen die Resozialisierungsfähigkeit des Gefangenen zu testen und ihn
schrittweise auf die Freiheit vorzubereiten". 89 Das Vollstreckungsgericht ist
deshalb im Aussetzungsverfahren von Verfassungs wegen gehalten zu
überprüfen, ob eine etwaige Versagung von Vollzugslockerungen durch die
Vollzugsbehörde auf einer zutreffenden Auslegung und Anwendung des
§ 11 Abs. 2 StVollzG sowie der dafür erforderlichen hinreichenden Tatsa-
chengrundlage beruht. Ergibt diese Prüfung, dass die Vollzugsbehörde ihrer
Verpflichtung nicht oder nicht in vollem Umfange nachgekommen ist, muss
das Gericht "unter Ausschöpfung seiner prozessualen Möglichkeiten" der
Behörde deutlich machen, "dass Vollzugslockerungen geboten sind". 90 Dies
muss in einer effektiven Weise geschehen, die dem Freiheitsgrundrecht des
Verurteilten gerecht wird, ohne dadurch freilich etwaige untragbare Krimi-
nalitätsrisiken auf die Allgemeinheit abzuwälzen. Für ein solches Verfahren
kommt dem BVerfG zufolge gegebenenfalls die Möglichkeit einer Anord-
nung der Reststrafenaussetzung nach § 454a Abs. 1 StPO in Betracht. Hat
sie doch einerseits nicht die sofortige Entlassung des Verurteilten zur Folge,
gibt aber andererseits der Vollzugsbehörde in zeitlicher Hinsicht die Gele-
genheit, ihn in Vollzugslockerungen zu erproben. 91
89 NJW 2009, 1944; vgl. auch Fn. 87. Insgesamt zur Beachtung der Menschenrechte im
Langstrafenvollzug Snackenlvan Zyl Smit NK 2009, 58 ff.; Drenkhahn NK 2009, 8 ff.; Dün-
kellDrenkhahnlDudek/Morgenstern/Zolondek Forum Strafvollzug 2009, 264 ff.
90 NJW 2009, 1941.
91 NJW 2009,1945.
Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum Strafvollzug 301
unter Rekurs auf die sog. Heck'sche Formel - an der das Gericht, von Nu-
ancierungen abgesehen, jedenfalls Papier zufolge in ständiger Rechtspre-
chung festgehalten hat - wie folgt bestimmt: 92
Danach sind Auslegung des einfachen Rechts und dessen Anwendung auf
den einzelnen Fall "allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte
und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen". "Spe-
zifisches Verfassungsrecht ist [... ] nicht schon dann verletzt, wenn eine
Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der
Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen [... ]
Allgemein wird sich sagen lassen, dass die normalen Subsumtionsvorgänge
innerhalb des einfachen Rechts solange der Nachprüfung des Bundesverfas-
sungsgerichts entzogen sind, als nicht Auslegungsfehler sichtbar werden,
die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung
eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beru-
hen und auch in ihrer materiellen Bedeutung fur den konkreten Rechtsfall
von einigem Gewicht sind."93
Nach dieser Formel ist demnach auch die verfassungsgerichtliche Kon-
trolle der vollstreckungsgerichtlichen Rechtsprechung zu beurteilen, die den
gerichtlichen Rechtsschutz nach den §§ 109 ff. StVollzG sowie die Straf-
restaussetzung nach den §§ 453 und 462a StPO zum Gegenstand haben. Es
liegt freilich auf der Hand, dass sie ihrerseits interpretationsbedürftig ist und
dementsprechend Spielräume für Umfang und Inhalt der verfassungsge-
richtlichen Kontrolle eröffnet. Einen nachgerade "klassischen" Anwen-
dungsfall dieser Art bildet die Verflechtung verfassungs-, straf- und voll-
zugsrechtlicher Entscheidungen, wie sie sich in dem vom BVerfG
dargelegten Zusammenhang zwischen der Gewährung oder Versagung von
Vollzugslockerungen und der bedingten Entlassung manifestiert.94
Das BVerfG hat indessen nicht nur eine verfassungsrechtliche lJberprü-
fung der Gerichts- und Vollzugspraxis anhand des GG vorzunehmen, son-
dern vielmehr auch die Gewährleistungen der EMRK sowie die Rechtspre-
chung des EGMR und des EuGH zu berücksichtigen. 95 Nicht zuletzt der
EGMR hat ja in letzter Zeit eine ganze Reihe von Entscheidungen getroffe-
ne, die natürlich auch für die Ausgestaltung des deutschen Straf- und Unter-
suchungshaftvollzugs bedeutsam erscheinen. Urteile dieser Provenienz
haben etwa zum Gegenstand: die Dauer und Grenzen strenger Einzelhaft für
einen internationalen Terroristen;96 die Zulässigkeit einer Trennscheibe im
Hinblick auf die durch Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierte Vertraulichkeit des
Gesprächs zwischen Rechtsanwalt und seinem inhaftierten Mandanten;97
das durch Art. 5 Abs. 4 EMRK gewährleistete Recht des Verteidigers auf
Akteneinsicht im Falle der Untersuchungshaft;98 die möglicherweise gegen
Art. 8 Abs. 1 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens)
verstoßende Verweigerung der künstlichen Befruchtung einer Ehefrau im
Falle der Verbüßung einer lebenslangen Freiheitsstrafe durch den Ehe-
mann. 99
Die Konsequenzen, die sich aus dem Verhältnis zwischen BVerfG und
den europäischen Gerichten fur Reichweite und Inhalt der verfassungsge-
richtlichen Rechtsprechung ergeben, bilden ein eigenes Thema. Sie können
hier daher wiederum nur in Form eines Merkpostens erwähnt, aber nicht
weiter vertieft werden. Auch insoweit kann nur auf einige wenige Aspekte
hingewiesen werden, die namentlich im jüngsten Diskurs über die Bezie-
hung zwischen BVerfG und EGMR virulent geworden sind. Nach Art. 46
EMRK sind die Urteile des EGMR fur die Vertragsstaaten verbindlich; sie
haben die endgültigen Entscheidungen des Gerichtshofs auszuführen. Dem
BVerfG zufolge kann die mangelnde Auseinandersetzung mit Judikaten des
EGMR gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip
verstoßen. IOO Nach wohl überwiegender Meinung gelten die Urteile des
EGMR, die auf eine Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK ergehen, im
Grundsatz lediglich inter partes; jedoch erkennt sie ihnen gleichwohl All-
gemeinverbindlichkeit ZU. 101
Wolfgang Hoffmann-Riem hat hierzu die Formel eines Kooperationsver-
hältnisses, das zwischen nationalen und europäischen Gerichten besteht
"oder doch möglichst entwickelt werden sollte", in den Diskurs einge-
führt. 102 Auch da ist also noch manches im Fluss - und daher weiter diskus-
sionsbedürftig. Diese Problematik führt indessen ebenfalls über das ver-
gleichsweise spezielle Thema der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung
zum Strafvollzug hinaus.
97 NJW 2007,3409.
98 StV 2008,475.
99 NJW 2009, 971.
100 BVerfGE 111,307 = NJW 2004,3407; NJW 2005, 1765.
101 Vgl. z.B. Czerner ArchVR 2008,345 ff., 353, 359 ff. Vgl. auch Gusy Jahrb. der Juristi-
schen Zeitgeschichte 8 (2006/2007), S. 102 ff., 124 ff.; ders. JA 2009,406 ff., 409 f.; Ress FS
Bieber, 2007, S. 231 ff.
102 Hoffmann-Riem NJW 2009, 20 ff., 21.
Die lästigen Weihnachtspakete
HEIKEJUNG
I. Einführung
Mit Heinz Schöch verbinden mich viele Jahre des gemeinsamen wissen-
schaftlichen Engagements für kriminalpolitische Veränderungen - ich den-
ke nur an unser beider Mitgliedschaft im AE-Arbeitskreis -, aus dem auch
eine enge Freundschaft erwachsen ist. Heinz Schöch ist ein "Mann des Fort-
schritts mit Augenmaß", der viele Reformen der letzten Jahre an vorderster
Front mitinitiiert und begleitet hat. Er wartet stets mit fundierten Vorschlä-
gen auf, was auch damit zu tun hat, dass er den konzeptionellen Verbund
von Strafrecht und Kriminologie wie kaum ein anderer gepflegt und weiter-
entwickelt hat.
Die Auswahl meines literarischen Geburtstagsgrußes für Heinz Schöch
bedarf der Begründung. Denn natürlich gibt es in unseren Tagen viele "gro-
ße" kriminalpolitische Fragestellungen, die für den Anlass auf den ersten
Blick irgendwie passender erscheinen als gerade die Frage der Paket-
Regelungen im Jugendstrafvollzug. Warum, wird man vielleicht sagen, hält
sich Heike Jung mit solchen Kleinigkeiten auf? Ich antworte mit Clifford
Geertz: "Small things speak to large issues". 1 Damit meine ich, dass die
restriktive Einstellung der Jugendstrafvollzugsgesetze der Länder in der
"Paket-Frage" einen bezeichnenden Blick auf die heutige Administrierung
des Resozialisierungskonzepts und auf die Bedeutung der Verwaltungs-
zwänge, von denen es erdrückt zu werden droht, eröffnet.
Ich halte Pakete für einen Teil der zwischenmenschlichen Kommunikati-
on, der auch im Zeitalter des Internets seinen Platz behalten hat. Ich selbst
bekomme gerne Pakete und Vielen in meinem Umfeld geht es nicht anders;
meine Tochter würde wohl nicht mehr mit uns reden, wenn sie zu Weih-
nachten kein Paket bekäme. Insofern habe ich anlässlich der Anhörung im
Landtag des Saarlandes zum Entwurf des Saarländischen Jugendstrafvoll-
zugsgesetzes am 23. August 2007 mit meiner Kritik am Verbot für die ju-
gendlichen Gefangenen, Pakete mit Nahrungs- und Genussmitteln empfan-
gen zu dürfen, nicht hinter dem Berg gehalten. Dass ich damit nicht
durchgedrungen bin, hat mich "gewurmt". Die Frage hat weiter in mir gear-
beitet. Verschiedene unterdessen ergangene verfassungsgerichtliche Ent-
scheidungen zum Paketempfang haben mich darin bestärkt, die Problematik
weiter zu verfolgen. Heinz Schöch wird meine Beharrlichkeit verstehen.
6 Zur Kritik daran z.B. Müller-Diet= ZRP 2005, 156; ders. ZfStrVo 2005, 38.
7 Vgl. im Überblick Streng Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2008, S. 243 ff.
8 Landtag des Saarlandes Drs. 13/1390, S. 83.
9 Landtag des Saarlandes Drs. 13/1612.
10 Landtag des Saarlandes Drs. 13/1626.
306 Heike Jung
11 Vgl. Protokolle Landtag des Saarlandes ]3. Wahlperiode, 46. Sitzung am 30./31. Oktober
2007, S. 2665.
12 BVerfG Beschluss vom 22. Januar 2008 - 2 BvR 66/08.
13 Entscheidung vom 12. Mai 2009 - Vf. 4-VII-08.
14 BVerfGE 116,69 = NJW 2006,2098.
15 BVerfG Beschluss vom 19. April 2006 - 2 BvR 818/05.
Die lästigen Weihnachtspakete 307
stalt als soziales System, 1977~ Wagner, Strafvollzug - Das absurde System, 1984.
22 Vgl. BVerfG Beschluss vom 7. November 2008 - 2 BvR 1870/07 Nr. 22. Zu dieser Prob-
v. Schlussbetrachtung
Mancher wird sagen: Der greift wirklich weit in den Raum wegen so ein
paar Paketen. Dazu stehe ich. Denn die Programmatik des Strafvollzuges
muss sich gerade auch in den kleinen Dingen bewähren. Wie gesagt: "Small
things speak to large issues".
31 Zur Sicherheitsproblematik im Strafvollzug auch Waller Festgabe für Rotthaus (Fn. 29),
S. 191.
Sozialtherapie: gestern, heute und morgen
RUDOLFEGG
jungerwachsene Hangtäter,6
schuldunfähige oder vermindert schuldfähige Täter, wenn die Unter-
bringung in einer Sozialtherapeutischen Anstalt eine günstigere Maß-
nahme zur Resozialisierung darstellt als die Behandlung in einern psy-
chiatrischen Krankenhaus.
Diese Vorschrift trat zwar nie in Kraft und wurde 1984 nach einer ent-
sprechenden Empfehlung der Justizministerkonferenz vorn Herbst 1982
wieder abgeschafft, 7 sie löste aber zahlreiche Entwicklungen und Verände-
rungen im Strafvollzug aus. Freilich galt auch hier der bekannte Satz, dass
aller Anfang schwer ist. So gab es einerseits einen großen, teils übergroßen
Optimismus bezüglich der Beeinflussung rückfallgefährdeter Straftäter
durch therapeutische Maßnahmen innerhalb des Strafvollzuges, gleichzeitig
lagen aber noch kaum empirische Belege für die Wirksamkeit konkreter
Maßnahmen vor. Als Beispiel seien hier zwei Aufsätze erwähnt, die sich
zwar nicht unmittelbar auf sozialttherapeutische Einrichtungen beziehen,
aber die genannten Schwierigkeiten dieser "Pioniertage" gut veranschauli-
chen:
In den Jahren 1971 bis 1973 untersuchten wissenschaftliche Mitarbeiter
des Psychologischen Instituts der Universität Harnburg Anwendbarkeit
und Wirkung sog. Klientenzentrierter Gespräche, 8 die mit Insassen eines
Gefängnisses über Telefon geführt wurden. 9 Im Rahmen eines mehrstufi-
gen Versuchsplans wurden dabei 62 Insassen einer Hamburger JVA in
zwei Gruppen aufgeteilt, wobei die Mitglieder der Versuchsgruppe die
Möglichkeit zu jeweils vier bis sechs halbstündigen Telefonaten mit Psy-
chologen erhielten, während die andere Gruppe lediglich an Vor- und
Nachtestungen teilnahm. Die Befragung der Probanden zeigte tatsächlich
einige positive Gesprächseffekte für die Versuchsgruppe, z.B. wurden die
Telefonate überwiegend als "hilfreich" angesehen, die Forscher unter-
suchten aber auch (ca. zwei Jahre nach Beginn der Gespräche) die Rück-
fallquote der inzwischen entlassenen Gefangenen, wobei sich - kaum
verwunderlich - kein Effekt in Richtung verminderter Rückfälligkeit
6 Straftat vor Vollendung des 27. Lebensjahres, zwei vorherige stationäre Sanktionen, Hang-
täterprognose.
7 Schöch ZRP 15 (1982),207-212, hatte sich nach dieser Konferenz, gemeinsanl mit weite-
ren Mitgliedern des Arbeitskreises deutscher und schweizerischer Strafrechtslehrer (Alternativ-
Professoren), noch einmal deutlich für den Erhalt der Sozialtherapeutischen Anstalt als Maßre-
gel der Besserung und Sicherung eingesetzt, doch blieben diese mahnenden Worte ohne Wir-
kung.
8 Tausch, R./Tausch, A. -M. Gesprächspsychotherapie, 1990.
9 Doll/Feindt/Kühne/Langer/Sternberg/Tausch, A. -M. Zeitschrift für Klinische Psychologie
3 (1974), 39-56.
Sozialtherapie: gestern, heute und morgen 315
zeigte. 10 Aus heutiger Sicht mag es erstaunen, dass man angesichts einer
derart geringfügigen Maßnahme (insgesamt zwei bis drei Stunden Tele-
fongespräche) überhaupt auf die Idee kommen konnte, einen Zusammen-
hang mit der späteren Legalbewährung zu vermuten, der später gelegent-
lich auch als Behandlungseuphorie bezeichnete Optimismus dieser frühen
Therapieversuche schien jedoch dies zumindest für möglich zu halten.
10 ,,3 der 22 entlassenen Pb der Gesprächsgruppe und 2 der 20 Pb der Kontrollgruppe waren
erneut straffällig geworden." - a.a.O., S. 48.
11 SteUer MschKrim 55 (1972),357-365.
12 SteUer (Fn. 11), 357.
13 Tausch/Tausch (Fn. 8).
14 A.a.O.
15 Selbstverständlich gab es Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre schon verschiedene
praktische Ansätze, insbesondere das tiefenpsychologische Konzept von Mauch (MschKrim 57
[1964], 108-124; Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 82 [1966],401-413; Zeitschrift für
316 RudolfEgg
Psychotherapie und medizinische Psychologie 20 [1970], 66-75), und auch bereits Diskussio-
nen über die Anwendbarkeit der noch jungen Verhaltenstherapie als Behandlungsmethode im
Strafvollzug (Schmitt MschKrim 54 [1971], 9-30), dennoch konnte damals von einem umfas-
senden sozialtherapeutischen Konzept noch keine Rede sein.
16 Dies bedeutet freilich nicht, dass der sozialtherapeutische Ansatz, also die Behandlung
von Strafgefangenen innerhalb geschlossener Einrichtungen, nicht auch kritisch betrachtet
wurde. So diskutierte Schöch in: Kury (Hrsg.), Möglichkeiten und Grenzen der Behandlung
Straffälliger in Freiheit, 1984, S. 29-54, sehr anschaulich die "Möglichkeiten und Grenzen der
Behandlung Straffälliger in Freiheit".
17 Das Inkrafttreten von § 65 StGB war ursprünglich für den 01.10.1973 vorgesehen, wurde
aber zunächst auf den 01.01.1978, dann auf den 01.01.1985 verschoben, bevor schließlich -
Ende 1984 - diese Vorschrift wieder aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wurde, ohne jemals
in Kraft gewesen zu sein (vgl. Rasch Bewährungshilfe 1985, 319-329~ Schöch et al. [Fn. 7]).
Sozialtherapie: gestern, heute und morgen 317
18 Dolde in: Göppinge/Bresser (Hrsg.), Sozialtherapie. Grenzfragen bei der Beurteilung psy-
chischer Auffäl1igkeiten im Strafrecht, 1982, S. 47-64.
19 Dünkel Legalbewährung nach sozialtherapeutischer Behandlung. Eine empirische ver-
gleichende Untersuchung anhand der Strafregisterauszüge von 1503 in den Jahren 1971 - 74
entlassenen Strafgefangenen in Berlin-Tegel, 1980.
20 Egg Sozialtherapie und Strafvol1zug. Eine empirische Vergleichsstudie zur Evaluation
sozialtherapeutischer Maßnahmen, 1979.
21 Rehn Behandlung im Strafvol1zug. Ergebnisse einer vergleichenden Untersuchung der
Rückfallquote bei entlassenen Strafgefangenen, 1979; ders. MschKrim 62 (1979), 357-365.
22 Rasch/Kühl Bewährungshilfe 1978,44-57.
318 RudolfEgg
23 Einzelheiten dazu siehe bei Leppert in: Rasch (Hrsg.), Forensische Sozialtherapie. Erfah-
rungen in Düren, 1977, S. 183-201.
24 Lösel/Köjerl/Weber Meta-Evaluation der Sozialtherapie. Qualitative und quantitative
Analysen zur Behandlungsforschung in sozialtherapeutischen Anstalten des Justizvollzuges,
1987, S. 263.
25 A.a.O.
26 Lösel in: StellerlDahlelBasque (Hrsg.), Straftäterbehandlung, 1994, S. 15-20.
27 CDATE = Correctional Drug Abuse Treatment Effectiveness. Dabei handelt es sich um
eine Fortschreibung bzw. Aktualisierung der bekannten Meta-Evaluation von Straftäterbehand-
lungsprogrammen von Lipton, Martinson & Wilks (The effectiveness of correctional treatment:
A survey of treatment evaluation studies, 1975)~ siehe dazu Lipton Journal of Offender Rehabi-
litation 22 (1995), 1-20.
28 Vgl. Egg/Pearson/Cleland/Lipton in: Rehn/WischkaiWalter (Hrsg.), Behandlung "gefähr-
licher Straftäter". Grundlagen, Konzepte, Ergebnisse, 2001, S. 321-347.
Sozialtherapie: gestern, heute und morgen 319
34 Der Rohölpreis stieg damals innerhalb weniger Tage und Wochen von ursprünglich rund
drei Dollar pro Barrel auf über fünf Dollar (entsprechend ca. 70 0/0), im Verlauf des nächsten
Jahres sogar auf mehr als 12 Dollar.
Sozialtherapie: gestern, heute und morgen 321
35 Der Gesetzgeber folgte insoweit nicht den Empfehlungen von Kaiser et al. ZRP 1982,
198-207, für eine "angereicherte" Vollzugslösung.
36 Wenn man davon absieht, dass die JVA Düren 1996 als selbständige Sozialtherapeutische
Anstalt geschlossen und durch zwei sozialtherapeutische Abteilungen in den Jutizvoll-
zugsanstalten Aachen und Euskirchen ersetzt wurde.
37 Vgl. dazu Egg (Hrsg.), Sozialtherapie in den 90er Jahren. Gegenwärtiger Stand und aktu-
elle Entwicklungen im Justizvollzug. Berichte, Materialien, Arbeitspapiere aus der Kriminolo-
gischen Zentralstelle, Heft 7, 1993~ ders. in: StellerlDahle/Basque (Fn. 26), S. 186-200~ ders.
ZStrVo 1996, 276-281.
38 BGBl. I, S. 160~ dazu Schöch NJW 1998,1257-1262.
322 RudolfEgg
Mehrzahl der zusätzlichen Plätze (über 1.000 oder rd. 57 %) steht erwar-
tungsgemäß Sexualstraftätern zur Verfügung; das Angebot für diese Täter-
gruppe ist heute mehr als fünfmal so groß wie vor der Gesetzesreform. Dies
ist einerseits erfreulich, da die vom Gesetzgeber gewünschte erhebliche
Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten für diese schwierige Täter-
gruppe offenbar erreicht wurde; bedenklich erscheint jedoch, dass diese
Erhöhung des Anteils von sozialtherapeutisch behandelten Sexualstraftätem
(57,2 % statt 23,3 % aller Insassen) zugleich einen Rückgang an Verurteil-
ten nach anderen Delikten bedeutet. So reduzierte sich zwischen 1997 und
2009 die Zahl der (oft gewaltsamen) Eigentums- und Vermögenstäter in
sozialtherapeutischen Einrichtungen von 367 auf 238, d.h. um rd. 35 0/0. 44
Bereits bei der Verabschiedung des Gesetzes geäußerte Bedenken bezüglich
einer Reduzierung der ohnehin wenigen Therapieplätze für behandlungsbe-
dürftige, rückfallgefahrdete Verurteilte mit anderen Delikten45 wurden
durch die bisherige Praxis somit leider bestätigt.
Eine gewisse Ausnahme bildet dabei Bayern. Dort gibt es für die Behand-
lung von Sexualstraftätern seit 1972 eine sozialtherapeutische Abteilung der
JVA München mit ursprünglich 12, gegenwärtig 24 Haftplätzen. Im Zuge
der Umsetzung von § 9 Abs. 1 StVollzG wurden von 1998 bis 2007 sieben
weitere Abteilungen für Sexualstraftäter mit insgesamt 144 Plätzen einge-
richtet. 46 Daraus resultiert eine erhebliche Erweiterung des Behandlungsan-
gebotes für Sexualstraftäter im bayerischen Justizvollzug (von 12 auf 168
Plätze). Für die Behandlung anderer Verurteilter stand bislang lediglich die
ebenfalls 1972 eröffnete Sozialtherapeutische Anstalt Erlangen (41 Haft-
plätze) zur Verfügung. Allerdings ist geplant, in den nächsten Jahren in
weiteren bayerischen Justizvollzugsanstalten neue sozialtherapeutische
Abteilungen für Gewaltstraftäter mit insgesamt 152 Haftplätzen zu errich-
ten. 47 Auch im Jugendstrafvollzug sollen neben den bestehenden Plätzen in
der JVA Neuburg-Herrenwörth weitere sozialtherapeutische Abteilungen
für Gewaltstraftäter (mit jeweils 16 Haftplätzen) in den Jugendanstalten
Laufen-Lebenau und Ebrach eröffnet werden. 48
Parallel zu dieser Zunahme an Haftplätzen in sozialtherapeutischen Ein-
richtungen stieg selbstverständlich auch die Zahl der verfügbaren Personal-
steIlen, wenngleich diese Entwicklung nicht ganz so deutlich ausfiel. So
wuchs die Zahl der Stellen von ursprünglich (1997) 667 auf zuletzt (2009)
1.151 Personalstellen; dies bedeutet einen Zuwachs von rd. 73 %, während
die Zahl der Haftplätze im gleichen Zeitraum wie erwähnt um 130 % an-
stieg. Da es sich bei den neuen Einrichtungen aber überwiegend um Abtei-
lungen in größeren Justizvollzugsanstalten handelt, muss dieser geringere
Anstieg im Personalbereich nicht zwingend eine schlechtere Versorgung
bedeuten, da Abteilungen üblicherweise bestimmte Dienste der großen
Anstalten mit übernehmen können (insbesondere Außenbewachung, Kon-
troll- und Versorgungsdienste), ohne dass dies zu ihrem Personalbestand
gezählt würde. Dennoch ergibt sich aus den weiteren Daten der Stichtagser-
hebung ein gewisses Defizit fur diesen Bereich.
Seit 2001 umfasst die jährliche Erhebung der KrimZ auch Fragen zu den
oben genannten Mindestanforderungen für sozialtherapeutische Einrichtun-
gen, und zwar unterteilt nach den vier Bereichen (1) Organisationsfornl, (2)
räumliche und (3) personelle Ausstattung sowie (4) Dokumentation und
Evaluation. 49 Vergleicht man diese vier Inhaltsbereiche miteinander (siehe
Tabelle 2), so sind die organisatorischen und strukturellen Mindestanforde-
rungen mit 60,3 % am deutlichsten erfullt. Als Nächstes folgen die Min-
destanforderungen für Dokumentation und Evaluation (58,7 0A» sowie die
räumlichen Mindestanforderungen (51,9 %); erst an vierter Stelle stehen die
personellen Mindestanforderungen (33,8 0/0). Dies lässt sich auch näher
aufschlüsseln: Die Relation der Stellenzahl für Fachdienste zu den verfug-
baren Haftplätzen pendelt seit Jahren um den Wert 1:7, während die Min-
deststandards diesbezüglich eine Relation von 1:5 vorsehen; dies ist nur bei
rund 10 % aller Einrichtungen der Fall. i\uch die Forderungen, dass die
beschäftigten Psycholog(inn)en eine Approbation als Psychotherapeuten
haben und dass die jeweilige Einrichtung eine Anerkennul)g als Prakti-
kumsstätte besitzt, werden bislang nur in geringem Maße realisiert (23 %
bzw. 25 %).. Dagegen stehen Mittel fur eine externe Supervision von Mitar-
beitern weit überwiegend zur Verfügung (2009: 83 %). Die Forderung, dass
für zwei bzw. drei Gefangene eine Stelle des AVD vorgesehen sein soll,
erfüllt etwa die Hälfte aller Einrichtungen (52 %, mittlere Relation: 1:2,7).
Teilweise
Kriterium Erfüllt Nicht erfüllt
erfüllt
Organisatorische
und Strukturelle
60,3 25,7 14,0
M indestanforde-
rungen
Räumliche Min-
destanforderun- 51,9 35,3 12,8
gen
Personelle Min-
destanforderun- 33,8 25,0 41,2
gen
Mindestanforde-
rungen an Do-
58,7 25,0 16,3
kumentation und
Evaluation
64 Die Projekte beziehen sich auf rund 70 % (30) aller sozialtherapeutischen Einrichtungen
aus neun Bundesländern (Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersach-
sen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt).
65 Spöhr (Fn. 62).
66 Schmucker Kann Therapie Rückfalle verhindern? Metaanalytische Befunde zur Wirk-
samkeit der Sexualstraftäterbehandlung, 2004.
67 "Odds Ratios" bilden den Unterschied zweier Maßnahmen oder Chancen durch einen
Quotienten ab. Dabei bedeutet 1, dass es keinen Unterschied in den Odds gibt, bei Werten> 1
sind die Odds der ersten Gruppe größer, bei Werten <1 die der zweiten.
330 RudolfEgg
4. Problematische Punkte
Neben diesen verschiedenen positiven Aspekten sind fur die Beurteilung
der aktuellen Lage sowie der zukünftigen Entwicklung der Sozialtherapie in
Deutschland auch einige problematische Punkte zu berücksichtigen, die sich
nachteilig auswirken oder auswirken können:
Jahren (1983) diese Höchststrafe des deutschen Strafrechts nur in rd. einem
Drittel aller Fälle verhängt wurde, betraf dies zehn Jahre später schon die
Hälfte und zuletzt (2008) rd. 78 % (109 von 140 Fällen) der Urteile. 71
Angesichts solcher Trends befindet sich ein behandlungsorientierter Straf-
vollzug, namentlich die besonders zeit-, kosten und personalintensive Sozi-
altherapie im Justizvollzug, stets in einer Art Verteidigungsposition. Der
hohe Aufwand muss immer wieder neu begründet werden, während auf die
notwendige Unterstützung von außen, etwa im Rahmen von Nachbetreuung
oder durch ehrenamtliche Helfer, kaum noch gehofft werden kann. Es ist
auch daran zu erinnern, dass der Neubeginn der Sozialtherapie (seit 1998)
keine Renaissance der Behandlungsidee der 1960er Jahre bedeutet, sondern
das Ergebnis einer kriminalpolitischen Diskussion in der Folge spektakulä-
rer Sexualmorde an Kindern darstellt. Der Mainstream der Kriminalpolitik
verlangt heute nach mehr Sicherheit und mehr Opferschutz. Zwar räumt die
verstärkte Opferorientierung in der Kriminalpolitik auch der Täterbehand-
lung eine Chance ein, aber gewissermaßen nur eine letzte Chance.
d) Föderalismusreform
Das am 01.09.2006 in Kraft getretene Förderalismusreformgesetz76 über-
trug nicht nur (wie schon bisher) die administrative, sondern auch die legis-
lative Kompetenz im Bereich des Strafvollzugs - und damit auch für die
73 Umso erfreulicher ist es, dass das neue Niedersächsische Justizvollzugsgesetz die (obliga-
torische) Verlegung in eine Sozialtherapeutische Anstalt auch für solche Gefangene vorsieht,
die "wegen eines Verbrechens gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die per-
sönliche Freiheit" etc. verurteilt worden sind (§ 104 NJVollzG)~ das Bayerische Strafvollzugs-
gesetz regelt demgegenüber die Verlegung von Gefangenen, "von denen schwerwiegende
Straftaten gegen Leib oder Leben ... " zu erwarten sind, als Soll-Vorschrift (Art. 11, Abs. 2
BayStVollzG).
74 Horstkotte in: Egg (Hrsg.), "Gefährliche Straftäter". Eine Problemgruppe der Kriminalpo-
litik? Kriminologie und Praxis Bd. 47, 2005, S. 15-25.
75 So wurde gegen einen Verurteilten nachträglich Sicherungsverwahrung genläß § 66 b
Abs. 1 StGB angewandt, bei dem erst im Rahmen seines 'Aufenthaltes in einer Sozialtherapeu-
tischen Anstalt festgestellt wurde, dass eine "gefestigte und genuine Pädophilie" vorliegt
(BGH, Urteil vom.21.12.2006~ StV 2007,238-240).
76 BGBL I, S. 2034.
Sozialtherapie: gestern, heute und morgen 333
Sozialtherapie - vom Bund auf die 16 Bundesländer. Dadurch ist nun jedes
Bundesland befugt, ein eigenes Strafvollzugsgesetz zu verabschieden, was
teilweise in Vorbereitung bzw. bereits erfolgt ist. 77 Diese Reform, die von
einer großen Mehrheit von Kriminologen und Strafvollzugsexperten abge-
lehnt 78 wurde und wird 79 , muss zwar nicht zwangsläufig zu einem von man-
chen befürchteten "Wettbewerb der Schäbigkeit"80 und zu einem drasti-
schen Rückgang an Behandlungsangeboten im Strafvollzug fuhren, sie
bedeutet aber wohl das Ende bundeseinheitlicher gesetzlicher Regelungen
der sozialtherapeutischen Straftäterbehandlung sowie der entsprechenden
Programme. Als einzigen kleinen "Vorteil" dieser Zerstückelung der Ge-
setzgebung und der Vollzugspraxis könnte man allenfalls argumentieren,
dass jetzt eine größere Notwendigkeit bezüglich eines Dialogs und Erfah-
rungsaustauschs zwischen den sozialtherapeutischen Einrichtungen aus
verschiedenen Bundesländern besteht, wenn man an einer Fortentwicklung
gemeinsamer Konzepte interessiert ist. Gleichwohl wird eine Verständigung
schon wegen der unterschiedlichen Gesetzestexte und Paragraphen er-
schwert sein.
77 Bis Ende 2009 hatten bereits die Länder Bayern, Hamburg und Niedersachsen eigene
Strafvollzugsgesetze verabschiedet.
78 Auch Schöch unterzeichnete 2005 einen Appell von Strafrechtsexperten zur Beibehaltung
der Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug beim Bund (siehe Cornel Neue Kriminalpo-
litik 2005, 2-3).
79 Zum Ganzen siehe Böhm/Jehle in: Schwind u. a. (Fn. 45), § 1 Rn. 2; Callies/Müller-Dietz
Strafvollzugsgesetz, 11. Aufl. 2008, Einl. Rn. 52 m. w. N.
80 Janisch Das Parlament, Nr. 26 (http://www.das-parlament.de/2006/26/Kulissen/001.html
- abgerufen am 5.1.2010).
334 RudolfEgg
81 Vgl. Egg (Hrsg.), Ambulante Nachsorge nach Straf- und Maßregelvollzug. Konzepte und
Erfahrungen. Kriminologie und Praxis Bd. 44,2004.
82 Egg ~1schKrim 73 (1990), 358-368~ Goderbauer ZStrVo 2005, 338-344~ ders. Bewäh-
rungshilfe 2008, 115-133~ ders. Forum Strafvollzug - ZStrVo 2008, 22-26.
83 2 BvR 1673/04~ im Internet: http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20060531_2bvr
167304.html- abgerufen am 04.01.2010.
Sozialtherapie: gestern, heute und morgen 335
FRANK ARLOTH
I. Einleitung
Die Frage, wie es mit der Entwicklung des Strafvollzugs weiter geht,
stellt sich zu allen Zeiten neu. In den 90er Jahren standen sich hier zwei
Extrempositionen gegenüber: Zum einen wurde nach dem Vorbild der USA
eine riesige Ausweitung und Ausbreitung des Strafvollzugs vorhergesagt,2
zum anderen wurde aufgrund neuartiger Überwachungsmethoden das Ende
des klassischen Strafvollzugs prophezeit. 3 Erstere Prognose leitete sich aus
dem stetigen Anwachsen der Gefangenenzahlen ab und der gesellschaftli-
chen UnHihigkeit oder Unwilligkeit, dieser Entwicklung kritisch gegenüber-
zutreten; letztere Prognose stand auf dem Fundament einer Abschaffung der
Gefängnisse und Umwandlung in alternative Sanktionsformen. 4 Eine gewis-
sermaßen vermittelnde Position nahm Scheerer 5 ein, der heide eingangs
genannten Phänomene der neuartigen Kontrollmechanismen und der Aus-
weitung des Vollzuges miteinander verknüpfte und meinte, dass die alterna-
tiven Vollzugsformen sozial integrierten Bürgern westlicher Leistungsge-
sellschaften vorbehalten bleiben, während die Expansion des Gefängnis-
und Lagerwesens einem "Vierten Stand" von Asylbewerbern, Bürgerkriegs-
und Wirtschaftflüchtlingen gelte. 2001 schien mir allenfalls die zuletzt
genannte Prognose zumindest dann nicht realitätsfern, wenn sie auf die
Rahmenbedingungen des deutschen Strafvollzugs übertragen wird. Die
These vom Vorbehalt alternativer Haftformen für besser gestellte Straftäter
ließe sich an der Diskussion um die Einsatzmöglichkeiten des elektronisch
überwachten Hausarrestes verifizieren, denn dieser wird eher rur wohlha-
bende Straftäter in Betracht kommen. Auch müsste der "Vierte Stand" wei-
ter und anders definiert werden: Hierzu zählen dann auch Straftäter aus dem
Spanien (von 50 auf 126) oder in den Niederlanden (von 32 auf 113). Aller-
dings ist das Ausgangs- und Endniveau kaum mit dem der USA zu verglei-
chen. Im Übrigen gibt es für das starke Ansteigen länderspezifische Erklä-
rungen. In Spanien trug die auslaufende "good time-Regelung" (Haft-
zeitverkürzung durch Anrechnung von Arbeit) zu der höheren Gefangenen-
rate bei. 9 Die Ursache des Anstiegs in den Niederlanden liegt zum einen in
einer geänderten Kriminalpolitik begründet - z.B. durch vermehrte Andro-
hung und Verhängung von Freiheitsstrafen 10 - zum anderen auch in der
Tatsache, dass die Niederlande zwischenzeitlich ihre Haftraumkapazität
deutlich erhöht haben und damit mehr Gefangene aufnehmen können, wäh-
rend es vorher Wartelisten gab. 11 Zwischenzeitlich wollen die Niederlande
ihre Haftplatzkapazität von 14.000 auf 12.000 Plätze wieder verringern;
Belgien hat aufgrund der dortigen Überbelegung bereits einen Vertrag über
die "Anmietung" von Haftplätzen in den Niederlanden abgeschlossen. 12
Dies verdeutlicht, dass die Statistik bisweilen nur wenig über die tatsächli-
che Situation aussagt. Ferner ist die Statistik abhängig von der Verweildau-
er, da die Zahlen nur einmal jährlich zu einem bestimmten Stichtag erhoben
werden. Wenn aber die durchschnittliche Verweildauer ,vesentlich unter
einem Jahr liegt - wie beispielsweise in Schweden, wo viele kurze Frei-
heitsstrafen vollstreckt werden -, sind wesentlich mehr Menschen inhaftiert,
als es die stichtagsbezogene Gefangenenrate ausdrückt. 13 Nicht zuletzt unter
diesem Gesichtspunkt müssen auch die besonders stabilen Gefangenenraten
in den skandinavischen Ländern gesehen werden.
Die deutsche Situation des Strafvollzugs unterscheidet sich nicht wesent-
lich von der anderer vergleichbarer westeuropäischer Staaten. Der letzte
Anstieg der Gefangenenzahlen, verbunden mit einem erheblichen Anstieg
der Untersuchungshaft, setzt in Deutschland erst 1992 ein und ist signifikant
mit der Grenzöffnung nach Osten verbunden. So wurde nach einem konti-
nuierlichen Anstieg 1984 ein vorläufiger Höchststand von 81 Gefangenen
pro 100.000 Einwohner erreicht,14 1992 betrug der Stand 70, um dann stetig
auf 98 im Jahr 2000 anzusteigen. Derzeit ist die Gefangenenrate leicht ge-
fallen auf 94 (Stand: 2007).15 Amerikanische Verhältnisse drohen uns also
in absehbarer Zeit in Deutschland und wohl auch in Westeuropa nicht.
9 Dünkel in: Koop/Kappenberg (Hrsg.), Wohin fährt der Justizvoll-Zug?, 2009, S. 32-41.
10 Dünkel (Fn. 9), S.41.
11 Arloth ZfStrVo 2002, 3.
12 Die Welt vom 13.11.2009.
13 Vgl. dazu Walter Strafvollzug, 2. Aufl. 1999, Rn. 75~ Kaiser/Kerner/Schöch (Fn. 7), § 2
Rn. 11 7, 119 ~ § 3 Rn. 67.
14 Zur Entwicklung bis 1989 vgl. Kaiser/Kerner/Schöch (Fn. 7), § 2 Rn. 121 Tabelle 3.
15 Vgl. Fn. 8.
340 Frank Arloth
Wie steht es aber mit der Ablösung des Strafvollzugs durch alternative
Haftformen oder ambulante Maßnahmen? Zu denken ist hier insbesondere
an eine Überwachung durch Electronic Monitoring ("Elektronischer Haus-
arrest" oder "Elektronische Fußfessel"). Diese Maßnahme findet sich in
europäischen Ländern mit traditionell niedrigen Gefangenenraten (z.B.
Schweden) ebenso wie in Ländern mit hohen Raten (z.B. England, Nieder-
lande).16 Einigkeit besteht darüber, dass der elektronisch überwachte Haus-
arrest nicht als weitere Hauptstrafe Eingang in das StGB tinden SOIl.17 Seit
einiger Zeit wird aber in Deutschland die Maßnahme in Hessen im Rahmen
der Vermeidung der Untersuchungshaft und der Strafaussetzung zur Bewäh-
rung eingesetzt. Geplant ist in Hessen auch der Einsatz im Rahmen der
Entlassungsfreistellung im Erwachsenen- und Jugendstrafvollzug; die recht-
liche Grundlage hierfür bietet § 16 Abs. 3 HessJStVollzG (bzw. künftig
auch § 16 Abs. 3 HessStVollzG). Der Einsatz ist insbesondere dann geplant,
wenn ansonsten eine negative Prognose durch bessere Kontrolle und
Betreuung vermieden werden kann. 18 Damit ließe sich in der Tat ein sog.
net-widening-Effekt verhindern. Allerdings sind die Voraussetzungen (z.B.
Unterkunft und Arbeit/Ausbildung müssen zur Verfügung stehen; wohl
auch grundsätzliche Eignung für vollzugsöffnende Maßnahmen) doch recht
hoch, so dass in diesen Fällen eher selten keine günstige Prognose gestellt
werden kann bzw. nur der Einsatz der Fußfessel zu einer positiven Prognose
fUhren würde. In Baden-Württemberg ist der Einsatz geplant im Rahmen
des Freigangs und der Ersatzfreiheitsstrafe. Bei letzteren dürfte die Anwen-
dung indes wieder an den hohen. Anforderungen scheitern. Damit bleibt ein
Anwendungsbereich vor allem bei vollzugsöffnenden Maßnahmen (z.B.
Außenbeschäftigung~ Freigang, offener Vollzug).19 Hier stellt sich aber das
Problem, dass eben Flucht- oder Missbrauchsgefahr nicht vorliegen darf. Es
erscheint wiederum sehr fraglich, ob eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr
gerade durch den Einsatz von Electronic Monitoring entscheidend verrin-
gert werden kann. Jedenfalls werden info1ge des doch sehr eingeschränkten
Anwendungsbereichs in diesen Ländern die Regelungen nicht zu einer
spürbaren Entlastung des Justizvollzugs und damit zu einer deutlichen Re-
duzierung der Gefangenenrate beitragen.
zug noch weiter zunehmend auf die Behandlung von schwierigen Gefange-
nen, d.h. von Gefangenen mit langen Freiheitsstrafen und von Gefangenen
mit erheblichen Persönlichkeitsstörungen einzustellen hat. Gefangene, die
ein erhebliches Gewaltpotenzial mitbringen, sind zunächst entsprechend
unterzubringen. Dies bedeutet, dass Gefangene grundsätzlich einzeln unter-
zubringen sind, weil die gemeinschaftliche Unterbringung von Gefangenen
während der Ruhezeit die Gefahr von Konflikten und Übergriffen birgt und
resozialisierungsfeindlich wirken kann. Deshalb ist der Abbau von Gemein-
schaftshaft - auch durch die Schaffung neuer Haftplätze - ein vordringli-
ches Ziel des Strafvollzugs.
Kein Ziel des Strafvollzugs kann es sein, Gefangene auf Dauer einfach
wegzusperren und so die Sicherheit der Allgemeinheit zu gewährleisten.
Alleiniges Ziel des Vollzugs kann nur die Resozialisierung der Gefangenen
sein; damit wird Rückfall verhindert und die Allgemeinheit vor weiteren
Straftaten nach der Entlassung geschützt. Dies stellt aber natürlich auch eine
Aufgabe des Strafvollzugs dar, wie sich aus der Überschrift zu § 2 StVollzG
ergibt. Daneben besteht die weitere Aufgabe, die Allgemeinheit vor weite-
ren Straftaten während des Vollzugs zu schützen. Hierbei handelt es sich
somit um negative Spezialprävention und nicht etwa um Generalpräven-
tion. 29 Es ist das Verdienst von Schöch, dies mit aller Klarheit herausgear-
beitet zu haben. 30 Hieran hat sich auch durch die Neuregelungen der Länder
nichts Wesentliches geändert. 31 Streit besteht heute lediglich darüber, wie
das Spannungsverhältnis zwischen Resozialisierung auf der einen Seite und
Sicherheit auf der anderen Seite zu lösen ist, wenn beide Aufgaben in einen
Zielkonflikt geraten. Schöch plädiert auch hier rur den Von ang des Voll- 4
gen werden soll oder ob sie weiterhin in den "normalen" Vollzug integriert
werden sollen. 39 Für die gesonderte Unterbringung spricht, dass gerade
ältere Gefangene subkulturellen Einflüssen und Gewalttätigkeiten aufgrund
ihrer natürlichen Opferrolle verstärkt ausgesetzt sind. 40 Dieses Argument ist
ernst zunehmen, gilt aber grundsätzlich auch rur viele andere Gefangene,
bei denen - aus welchen Gründen auch immer - das ViktiInisierungsrisiko
erhöht ist. Hinzu kommt, dass die Anforderungen an Betreuung, bauliche
Einrichtung und medizinische Versorgung weniger vom Alter als vielmehr
vom individuellen Gesundheitszustand des Inhaftierten abhängen. Insoweit
ist nämlich die Gruppe der älteren Gefangenen in der Tat zu inhomogen.
Schon die Definition ist nicht eindeutig zu treffen. So ist bereits fraglich, ab
wie viel Jahren überhaupt von älteren Gefangenen gesprochen werden
kann. 41 Deshalb erscheint es auch unter dem allgemeinen Gesichtspunkt des
"Abschiebens" älterer Menschen in Altenheime wichtig, hier durch die
Einbindung in den Normalvollzug einer Ausgrenzung entgegenzuwirken.
Auch nach den Empfehlungen des Europarats vom 8.4. 1998 R (98)7 über
ethische und organisatorische Aspekte der gesundheitlichen Versorgung in
Vollzugsanstalten sollen Gefangene im fortgeschrittenen Alter so unterge-
bracht werden, dass sie ein normales Leben rühren können, und sollen sie
von den allgemeinen Gefangenen nicht abgesondert werden (Abschnitt C
Nr. 50). Ferner kann es durchaus wichtig sein, allgemeine Arbeitsplätze für
Gefangene bis 65 Jahre, aber auch wenn nicht mehr der Arbeitspflicht
unterliegend - auch darüber hinaus für Gefangene über 65 Jahre vorzuhal-
ten. Dies ist aber nur in einer größeren Justizvollzugsanstalt möglich. Des-
halb greift auch nicht das Argument, eine gesonderte Unterbringung sei
aufgrund der besonderen Bedürfnisse älterer Gefangener erforderlich. 42
Denn selbstverständlich hat eine entsprechend ausgestattete Anstalt auch die
Möglichkeiten, hierrur entsprechende Behandlungs- und Betreuungsangebo-
te vorzusehen. Und sch"ließlich spricht gerade der Umstand verlnehrter Au-
ßenkontakte, insbesondere des Besuchs, zumindest in einem Flächenstaat
gegen eine allzu starke Zentralisierung der Unterbringung.
39 So etwa in Baden-Württemberg die Außenstelle Singen der JVA Konstanz oder in Hessen
die besondere Abteilung der JVA Sch\valmstadt bzw. in Sachsen in der JVA Waldheim. Siehe
auch die Länderübersicht bei Scholbach/Krüger (Fn. 37), 130-134. Zur Fachdiskussion vgl.
Forum Strafvollzug Heft 3, 2009 und KrinlPädPraxis 45, 2007. Ausführlich Legat Ältere
Menschen und Sterbenskranke im Strafvollzug, 2009, S. 70 ff.
40 LaubenthaI (Fn. 19), Rn. 71; ders. (Fn. 36), S. 509 ff.
41 Vgl. Scholbach/Krüger (Fn. 37), .130-131.
42 So aber Kaiser (Fn. 16), § 10 Rn. 103.
346 Frank Arloth
Nach Art. 81 BayStVollzG kann die j\nstalt auf Antrag der Gefangenen
nach der Entlassung vorübergehend Hilfestellung im Einzelfall gewähren,
soweit diese nicht anderweitig durchgeführt werden kann und der Erfolg der
Behandlung der Gefangenen gefährdet ist (punktuelle Fortführung der
Betreuung, insbesondere Entschärfung akuter Krisensituationen). Nach
Art. 119 BayStVollzG sollen die sozialtherapeutischen Einrichtungen nach
Entlassung der Gefangenen die im Vollzug begonnene Betreuung vorüber-
gehend fortführen, soweit diese nicht anderweitig durchgeführt werden
kann. Nach Art. 120 BayStVollzG können frühere Gefangene unter be-
stimmten Voraussetzungen vorübergehend wieder in die sozialtherapeuti-
sche Einrichtung aufgenommen werden. Für junge Gefangene sieht Art. 137
Abs.2 BayStVollzG einen so genannten "Notanker" vor. Insbesondere
können junge Gefangene unter bestimmten Umständen auch vorübergehend
über den Entlassungszeitpunkt hinaus in einer Abteilung des offenen Voll-
zugs verbleiben oder in einer solchen nach ihrer Entlassung wieder aufge-
nommen werden.
Allerdings hängt der "Erfolg" eines solchen -Übergangsmanagements we-
sentlich davon ab, dass das Gesetz in der Vollzugspraxis auch durch ent-
sprechende personelle und sachliche Ausstattung umgesetzt wird.
46 So erwies sich in Bayern der Bau einer Anstalt in Gablingen im Wege eines ppp-Projekts
als teurer.
47 Arloth (Fn. 29), § 155 Rn. 2; Calliess/Müller-Diet:: StVollzG, 11. Autl. 2008, Einl. Rn. 45
und § 155 Rn. 7; Schöch (Fn. 16), § 5 Rn. 76; LaubenthaI (Fn. 19), Rn. 44 ff.
48 Arloth (Fn. 29), § 155 Rn. 2; Calliess/Müller-Diet:: (Fn. 47), § 155 Rn. 3; Schöch
(Fn. 16), § 5 Rn. 76; LaubenthaI (Fn. 19), Rn. 45; ders. GS Blomeyer, 2004, 416-421 m.w.N.
348 Frank Arloth
nahmen (§§ 102 ff. StVollzG) Privaten übertragen werden; dies gilt aber
auch für die grundlegenden Entscheidungen über den Ablauf der Behand-
lung (§§ 5-16, 23 ff. StVollzG).49 Denn auch der Behandlungsauftrag ist
verfassungsrechtlich fundiert und legitimiert und lässt sich ohnehin nur
schwerlich von dem Bereich der Freiheitsbeschränkungen trennen. So sind
Vollzugslockerungen oder Hafturlaub als Behandlungsmaßnahmen un-
trennbar mit einer Lockerung des Freiheitsentzuges verbunden. Deshalb
können beispielsweise "private" Psychologen zwar zur Behandlung von
Gefangenen eingesetzt werden, die Entscheidung über konkrete Behand-
lungsmaßnahmen verbleibt aber bei den zuständigen Vollzugsbediensteten;
in einer etwaigen Konferenz (vgl. § 159 StVollzG) wären die Privaten allen-
falls "Gast". Verfassungsrechtliche Grenzen setzt des weiteren Art. 12 111
GG, der zwar die Pflichtarbeit zulässt, jedoch nur unter der Verantwortung,
d. h. Überwachung und Aufsicht, der Vollzugsbehörde. 50
Einfach-rechtliche Beschränkungen ergeben sich schließlich aus § 155
Abs. 1 StVollzG, wonach die Aufgaben von Vollzugsbeamten wahrge-
nommen werden und die Aufgaben nur aus besonderen Gründen auf ver-
traglich verpflichtete Personen übertragen werden dürfen, sowie aus § 156
Abs. 2 S. 2 StVollzG, wonach die Gesamtverantwortung der Anstaltsleiter
trägt. Besondere Gründe i. S. von § 155 Abs. 1 S. 2 StVollzG liegen vor,
wenn die Anstalt aus Gründen der Behandlung auf die Mitarbeit von beson-
deren Fachkräften außerhalb des Vollzugs zurückgreifen muss. 51 Private
Sicherheitskräfte, die die Gefangenen beaufsichtigen sollen, stellen aber
keine solchen besonderen Fachkräfte dar. Auch Personalengpässe bei der
Behandlung von Gefangenen können allenfalls bei einer nicht vorhersehba-
ren und kurzfristigen Notlage zur Behebung dieser vorübergehenden Notla-
ge den Einsatz Privater rechtfertigen, nicht jedoch auf Dauer. 52 Demgegen-
über erlaubt § 178 Satz 1 NJVollzG eine Aufgabenwahrnehmung durch sog.
Verwaltungshelfer. Danach ist zwar die Ausübung hoheitsrechtlicher Be-
fugnisse als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen
Dienstes zu übertragen. Eine Beauftragung im Bereich der reinen Leis-
tungsverwaltung ist nach der Formulierung jedoch ohne weitere Einschrän-
kung zulässig. Die ständige Übertragung von Vollzugsaufgaben der Be-
handlung der Gefangenen und der Gewährleistung der Sicherheit der
IV. Ausblick
Und auch 2010 gilt: Das Ende des klassischen Strafvollzugs ist nicht in
Sicht, wesentliche Änderungen durch neuartige Sanktionen oder neue Maß-
nahmen nicht zu erwarten. Allerdings ist mit einer leichten Entspannung bei
der Belegung zu rechnen. Die Gefangenenpopulation dürfte indes eher
schwieriger werden. Es bleibt daher nur übrig, am Reformkonzept, eingelei-
tet durch das StVollzG, und am Vollzugsziel der Resozialisierung festzuhal-
ten. Dazu gibt es keine sinnvolle Alternative. 61 Die bisher vorliegenden
Ländergesetze in Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg, Hessen und Nie-
dersachsen haben diesen Weg entgegen manchen Unkenrufen nicht verlas-
sen. Ohnehin gilt für den Gesetzesvollzug, dass die hierfür notwendigen
Mittel bereitgestellt werden müssen; erst unter diesen Bedingungen kann
der Erfolg des Behandlungsvollzugs im Sinne einer Erfolgskontrolle beur-
teilt werden. Aufgabe der Vollzugspolitik ist es auch, das Bewusstsein der
Bevölkerung dahingehend zu schärfen, dass die Verhinderung von Rückfall
durch eine erfolgreiche Resozialisierung der beste Schutz der Gesellschaft
vor weiteren Straftaten ist. Resozialisierung ist aber nicht zum Nulltarif zu
haben. Deshalb wird es entscheidend davon abhängen, wie viel Geld die
Gesellschaft bereit ist, in einen Behandlungsvollzug zu investieren. Daran
ist auch der Stand der Zivilisation zu messen. 62
59 Dazu Basch/Reichert ZStW 113 (2001),207,230 ff. m.w.N.; i. Erg. auch Walter (Fn. 13),
Rn. 149; krit. ferner Mühlenkamp DÖV 2008, 525-534.
60 Zu Recht krit. zu dieser Studie Rasch/Reichert (Fn. 59), 241 ff.
61 Schöch (Fn. 16), § 5 Rn. 18 aE.
62 Vgl. das Zitat in GA 2001,307-324.
IV. Materielles Strafrecht
Zur Symbolik des Strafrechts
KARL-LUDWIG KUNZ
«Ainsi, la vie sociale, sous tous ses aspects et a tous les mo-
ments de son histoire, n' est possible que gräce a un vaste
symbolisme.» 1
«Es ist eine unbefriedigende Ansicht, welche in solchen
Symbolen biose leere Erfindung zum Behuf der gerichtlichen
Form und Feierlichkeit erblickt. Im Gegentheil hat jedes der-
selben gewisz eine dunkle, heilige und historische Bedeutung;
mangelte diese, so würde der allgemeine Glaube daran und
seine herkömmliche Verständlichkeit fehlen.»2
I.
Die aktuelle Diskussion über symbolisches Strafrecht bezieht sich auf das
(spät)modeme Strafrecht3 und entwickelt in der Auseinandersetzung mit
diesem den Vorwurf einer Täuschung vermittels Symbolik im Sinne einer
"gleißnerische(n) Vorspiegelung gesetzlicher Effektivität und Instrumentali-
tät"4. Die Kritik konzentriert sich auf die heutige Strafgesetzgebung, die
ihre Anwendungsfelder beliebigen Regulierungsbedürfnissen folgend ins
Uferlose weitet und dabei die traditionelle Dignität und die begrifflich-
systematische Formstrenge des Strafrechts einbüßt. Vorgetragen wird eine
Differenz von Wirklichkeit und Schein, von manifesten und latenten Funk-
tionen der Gesetze, wobei die Kluft zwischen normativ in Anspruch ge-
nommenen und effektiv ausgeübten Wirkungen gemeint ist5 und dies mit
der Erosion des traditionellen Strafrechts in der Risikogesellschaft6 in Zu-
sammenhang gebracht wird. Während die wirkliche, objektive Potenz der
11.
Unter "Symbol" versteht man einen sinnbildhaften Bedeutungsträger,
dessen Ausdruckskraft eine über seine förmliche Gestalt hinausweisende
Bedeutung besitzt. Ein Symbol verweist stellvertretend auf etwas nicht in
ihm direkt Enthaltenes, sondern damit assoziativ Gemeintes. 12 Während in
Symbolsystemen, die der praktischen Verständigung im Alltag (etwa: Ver-
kehrszeichen) dienen, Verweisungssymbole benutzt werden, die allgemein
verständlich und eindeutig auf ein damit Bezeichnetes verweisen, verwen-
den Symbolsysteme der Religion, Kunst, Kultur und Gesellschaft vorwie-
gend Verdichtungssymbole, die eine Vielzahl von Geschehnissen unter
emotionalen Vorzeichen in einem einzigen symbolischen Ausdruck bün-
deln.
Verdichtungssymbole enthalten einen Bedeutungsüberschuss, der auf
Sinnzusammenhänge verweist, welche im kollektiven Bewusstsein
schlummern und durch den Einsatz von Symbolen aktiviert werden. Ver-
dichtungssymbole sind einer dauernden Überprüfung an der erfahrbaren
Wirklichkeit wie überhaupt einer Beeinflussung durch den Einzelnen entzo-
gen. Das Repertoire solcher "tiefgründig" verdichtender Symbolsysteme
bezeichnet man als Symbolik.
Die Symbolik gesellschaftlichen HandeIns wurde zu einem Thema der
sozialwissenschaftlichen Forschung, seitdem diese sich postpositivistisch
dem interpretativen Paradigma zuwandte und ihr Interesse an der sprach-
vermittelten Wahrnehmung und Konstruktion sozialer Wirklichkeit 13 fand.
Unter dem Einfluss von Michel Foucaults Studien über die Zusammenhän-
ge von diskursiven Praktiken, übersubjektiven Wissensordnungen und
Macht 14 wurde der soziale Gebrauch von Sprache speziell bei der Analyse
sozialer Kontrolle und Kontrollsysteme zum zentralen und unausweichli-
chen Thema der wissenschaftlichen Betrachtung. Bestimmend dafür war der
Umstand, dass soziale Kontrolle in spätmodernen Gesellschaften weitge-
hend diskursiv, also über Kommunikation und symbolische Praktiken, aus-
geübt wird. 15
Die Symbolik öffentlicher Diskurse ist durch Rituale geprägt. Rituale sind
kulturelle Handlungsformen (<<cultural perjormances») 16 unter Verwendung
von Symbolen. Sie bestehen in grundsätzlich beliebigen, jedoch institutio-
nell festgelegten, mit einer gewissen Feierlichkeit in den Alltag eingebette-
ten Handlungen, denen Symbolcharakter zuerkannt wird und die dadurch
die soziale Ordnung stützen. Ihre Aufführung bietet einer Institution Gele-
genheit, sich selbst zu präsentieren, indem das, was für sie Verbindlichkeit
hat, vergegenwärtigt wird. Die wiederholte Inszenierung eines Rituals er-
zeugt einen Zugewinn an Wertfundierung des Referenzereignisses und
unterstreicht die Stabilität und Kontinuität der inszenierenden Institution.
Über das sinnlich wahrnehmbare Geschehen hinaus erzeugen Rituale hand-
lungsorientierende Vorstellungsbilder des Guten und Gesollten. Sie überhö-
hen den soziokulturellen Alltag pathetisch, indem sie ihn mit einem Wert-
bezug auszeichnen und damit die Disposition zu entsprechend legitimierten
Anschlusshandlungen schaffen. Rituale schaffen Erinnerungsspeicher, die
bewährte Muster für künftiges Handeln enthalten, routinisiertes Verhalten
ohne Situationsanalyse stützen und Modelle fur legitimierte Normalität
bereitstellen. 17
Der Zusammenhang zwischen öffentlichen Ritualen und Machtausübung
wird bei dem zum semantischen Feld des Rituals gehörenden Begriff des
Zeremoniells deutlich. Als solches gilt eine Handlung, die als Macht- und
Herrschaftsinstrument zur Selbstrepräsentation von Instanzen eingesetzt
wird. Das Zeremoniell demonstriert nicht nur Macht, sondern zelebriert die
bestehende Ordnung in einer diese überhöhenden Feierlichkeit. 18
Mit der Analyse der symbolischen Funktion staatlicher Institutionen und
politischen HandeIns hat Murray Edelman die politologisch-sozialwis-
senschaftliche Symbolforschung begründet. 19 Eine Grunderkenntnis der
Anwendung des symbolischen Interaktionismus auf die Produktion gesell-
schaftlich bedeutsamer Entscheide lautet, dass diese zwei Realitätsebenen
aufweist: Strategische Rationalität und symbolische Mystifikation. Erstere
bestimmt die Oberflächenstruktur der manifest angegebenen "objektiven"
Handlungsziele, letztere die Tiefenstruktur der damit intendierten latenten,
subjektiv deutenden Kategorisierungen der Welt. Eine Polizeibehörde, wel-
che die Fahndung nach einer bestimmten Kategorie von Straftätern intensi-
viert, verändert damit einerseits das Tätigkeitsfeld des Fahndungsapparates
und erzeugt andererseits Vorstellungen über die Gefährlichkeit dieser Täter,
ohne dass jene zweite Funktion als explizite Zielbestimmung des Vorgehens
25 Ibid., S. 149, 153. Edelman verwendet als Beispiel eine Rede von Präsident Nixon aus
dem Jahre 1969, in welcher der Ruf nach "lawand order" wie folgt begründet wurde: "All
jenen im Lande, die sich an der Romantik einer gewaltsamen Revolution berauschen, mag die
kontinuierliche Revolution der Demokratie reizlos erscheinen."
26 Link Die Struktur des Symbols in der Sprache des Journalismus. Zum Verhältnis literari-
scher und pragmatischer Symbole, 1978~ Becker/Gerhard/Link in: Int. Archiv für Sozialge-
schichte der dt. Literatur, 1997, S. 70.
27 Link in: Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd. 1: Theorien und Metho-
den, 2006, S. 407,413.
28 Edelman (Fn. 19), S. 10.
Zur Symbolik des Strafrechts 359
111.
Jenseits der in der Strafrechtsdogmatik zum Ausdruck kommenden ratio-
nalen Oberfläche besitzt das Strafrecht eine nonrationale Tiefenstruktur, die
es mit elementaren Gefühlswelten des sozialen Lebens verbindet. Emile
Durkheim hat in seinen Forschungen zur Soziologie kollektiver Geruhle
sich mit dem Strafrecht als Indikator rur den Zustand der «conscience co1-
lective» befasst. 30 Für ihn ist Recht, und speziell Strafrecht, zugleich ele-
mentare Struktur des sozialen Lebens und Symbol der gesellschaftlichen
Solidarität. Seiner Analyse der Elementarformen des religiösen Lebens 31
entsprechend, geht es in seiner Kulturanalyse des Rechts um die Erklärung
der normativen Bindungskraft rechtlicher Akte. Das Strafrecht praktiziert
nach Durkheim einen Kult der Gemeinschaft. In ihm sind kollektive Lei-
denschaften codiert, welche, dem sakral-religiösen Ursprung der Strafe
entsprechend, dem Schutz der rur die Gesellschaft "heiligen" Dinge dienen.
Wie bei der Eucharistie geht es bei Ritualen der Strafgerechtigkeit um eine
"Kommunion" im Sinne der gemeinschaftsstiftenden Verarbeitung von
Vergangenem. Aus dieser religionssoziologischen Perspektive besteht die
Funktion der staatlich organisierten Strafe in mehr als manifester utilitaristi-
scher Prävention: Staatliche Strafe ist eine leidenschaftliche Reaktion gegen
die verbrecherische Auflehnung gegenüber der kollektiven Ordnung. Die
Strafe bewahrt und belebt in ihrer Leidenschaftlichkeit Gemeinschaftsge-
ruhle, sie dient latent der Austarierung des durch das Verbrechen gestörten
Gleichgewichts in der emotiven Beschaffenheit einer Gesellschaft. 32
Die emotive Verwurzelung des Strafrechts in der Verletzung kollektiver
Gefuhle, die im Verbrechen entfesselt werden, ist rur Durkheim kein Hin-
dernis, sondern gerade das Kennzeichen eines säkularisierten "modemen"
Strafrechts, welches kollektive Strafbedürfnisse aufgreift und einer förmlich
juristisch-dogmatischen Argumentation zu Grunde legt. Die Zivilisierung
der Strafe durch Strafrecht, ihre Bindung an förlnliche Voraussetzungen,
ihre Aushandlung unter Bedingungen der Verfahrensfairness, ihre Humani-
29 Link Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 1996.
30 Seine entsprechenden Überlegungen sind über das Werk verstreut und finden sich etwa in
Durkheim Die elementaren Formen des religiösen Lebens, 1981 ~ ders. Annee sociologique, IV
(1899-1900), S. 65 ~ ders. Über die Teilung der sozialen Arbeit, 1977 und ders. Erziehung,
Moral und Gesellschaft, 1973 ~ das Manuskript einer zentralen, 1894 in Bordeaux gehaltenen
Vorlesung ist verschollen.
31 Durkheim Regeln der soziologischen Methode, 1976.
32 Gephart Strafe und Verbrechen: die Theorie Emile Durkheitns, 1990, S. 122, 128.
360 Karl-Ludwig Kunz
IV.
Die Symbolik des Strafrechts wird typischerweise mit zusätzlichen Zuta-
ten "gewürzt", die sich aus der jeweiligen gesellschaftspolitischen Einschät-
zung des Strafrechts als Instrument zur Bewältigung sozialer Probleme
ergeben. Dies betrifft sowohl den politischen Diskurs über Strafrecht wie, in
minderem aber doch nicht zu vernachlässigendem Maße, die den politischen
Einflüssen ausgesetzte und darauf reagierende Anwendungspraxis des Straf-
rechts. Diskurse über die "richtige" Anwendung des geltenden Strafrechts
und seine "gebotene" gesetzliche Veränderung richten die Aufmerksamkeit
des Publikums auf Ereignisse, die als soziale Brennpunkte und als Schlüssel
zu deren Lösung dargestellt werden. Kriminalität und Strafrecht sind Ver-
dichtungssymbole, an denen sich ein Spektrum von Vorstellungen über die
Schlechtigkeit der Welt und die Notwendigkeit ihrer Veränderung zu etwas
Besserem festmachen lässt.
Die plakative Intensität der Symbolik des Strafrechts und der dieses ges-
taltenden Politik weist eine beträchtliche Variationsbreite auf. In der Straf-
rechtspolitik findet eine binär entgegengesetzte, ambivalent wertende Sym-
bolik ("Wir" und die "Anderen") Anwendung. Wo es um die Ebnung von
Wegen für populistische Verschärfungen des Strafrechts geht, ist eine "star-
ke" Symbolik gefragt, die Feindbilder des Kriminellen entwirft und eine
fanatische Militanz dagegen schürt. Der Strafrechtspolitik scheint im Spekt-
rum der Politikfelder eine Vorreiterfunktion zuzukommen, insofern harsche
Forderungen nach mehr Punitivität etwa gegenüber "diesen Bestien" von
Gewalttätern (deren persönliche Merkmale in kollektiven Vorurteilen fest-
gelegt sind und nicht eigens angesprochen werden müssen) als ein Früh-
warnsystem vor dem drohenden Überkochen aggressiver Emotionen und
eine Kanalisierung dieser Emotionen in rechtspolitische Forderungen ver-
standen werden können. Die ministerielle Ausformulierung und die parla-
mentarische Beratung von Gesetzentwürfen vermitteln hingegen die symbo-
lische Botschaft, mit einer von politisch-moralischen Grundüberzeugungen
getragenen Sachlichkeit mehreren Herrschaften getreulich zu dienen (dem
vermeintlichen Volkswillen, den verfassungsmäßigen Vorgaben und der
begrifflich-systematischen Stringenz) und zwischen ihnen ehrlich zu ma-
keln. Bei der Strafrechtsanwendung heben sich die mit eher grobem Gerät
des sYlnbolischen Ausdrucksvermögens bestückten Werkstätten der Straf-
verfolgung und der Hauptverhandlung von der begrifflich ziselierenden,
sich argumentativ allseitig absichernden Symbolik der Urteilsbegründung
ab. In der Urteilsbegründung findet eine abschließende ("absegnende")
legitimatorische Würdigung des Prozessgeschehens statt, bei der die ver-
schiedenen Diskursstränge vernetzt, Zusammenhänge hergestellt, Wider-
sprüche überbrückt und Plausibilitäten erzeugt werden.
Das klassische Strafrecht des ausgehenden 19. Jahrhunderts verdankte
seine expressive Symbolik der kristallinen Klarheit seiner dogmatischen
362 Karl-Ludwig Kunz
v.
Fokussiert man sich statt auf die breite Symbolik des Strafrechts insge-
samt spezifisch auf die Symbolik der staatlichen Strafe und betrachtet diese
idealtypisch, also unabhängig von ihrem jeweiligen Gebrauch, so ist die
stellung des Rechts. Strafe hat so wesensmäßig die Funktion, die damit
geahndete Tat als Negation des Rechts zu missbilligen und damit eine Ne-
gation der Negation des Rechts zu statuieren, welche den Rechtszustand
bestätigt. 49
Die Funktion der Strafe besteht, anders als Hegel vermeinte, nicht in einer
"absoluten" Zweckfreiheit, sondern in der Normverdeutlichung durch sozia-
le Orientierung. Die staatliche Strafe wendet sich mit differenzierten Bot-
schaften an die Allgemeinheit, den Täter und das Opfer. Indem die Tat als
Rechtsbruch klassifiziert und mit einem allgemein gültigen Makel versehen
wird, werden gegenüber der Allgemeinheit deren Richtigkeitsverständnisse
bekräftigt, wonach solches Verhalten verpönt ist. Dem Publikum wird damit
die Übereinstimmung der staatlichen Machtausübung mit verbreiteten Ge-
rechtigkeitsvorstellungen demonstriert. Es wird signalisiert, dass Unrecht
keine Chance hat, sich Geltung zu verschaffen, und jeder im Guten \vie im
Schlechten bekommt, was er verdient. Zudem ist die Symbolik der Strafe
bestrebt, bei der Allgemeinheit Systemvertrauen zu bestärken, indem ver-
kündet wird, dass ihre Repräsentanten Unrecht nicht hinnehmen, sondern
im Namen aller zurückweisen. Schließlich wird damit dem Publikum be-
deutet, dass das verübte Unrecht alleine dem Bestraften zuzurechnen sei
und die Gemeinschaft keine Mitverantwortung darur trage. 50 Dem Täter
wird durch die Strafe ein Tadel ausgesprochen. Indem ihm bedeutet wird, er
habe die verhängte Strafe verdient, wird ausgedrückt, dass er nicht als ein
zu konditionierendes Wesen eingestuft, sondern als Teilnehmer der sozialen
Beziehungen und zu moralischer Verantwortung befähigte Person angese-
hen werde. 51 Gegenüber dem Opfer enthält Strafe die verbindliche Erklä-
rung, dass ihm kein Unglück, sondern ein vom Täter individuell zu verant-
wortendes Unrecht geschehen sei, das rechtlich nicht geduldet werde. Diese
einzelnen Botschaften lassen die nicht direkt angesprochenen Adressaten
stets teilnehmend "mithören" und verstärken sich so gegenseitig. Indem die
Allgemeinheit etwa die Botschaften an den Täter und das Opfer vernimmt,
wird damit das Richtigkeitsverständnis und das Systemvertrauen des Publi-
kums noch mehr bekräftigt. Eine anzunehmende intersubjektiv teilbare
mitfühlende Einstellung bewirkt, dass die Allgemeinheit stellvertretend für
die verallgemeinerbaren Eigenschaften des Opfers empfindet und reagiert. 52
Die Symbolik der Strafe ist systemstützend. Durch Markierung der "Ge-
genwelt" des Illegalen wird ein sozialer Konsens beschworen, welcher sich
unmittelbar auf die Unmaßgeblichkeit des Normbruchs bezieht und damit
49 Ibid., § 99.
50 Feinberg (Fn. 45), S. 98 ff.
51 Von Hirsch/Jareborg Strafmaß und Strafgerechtigkeit. Die deutsche Strafzumessungsleh-
re und das Prinzip der Tatproportionalität, 1991, S. 11 ff.; von Hirsch Faimess~ Verbrechen und
Strafe: Strafrechtstheoretische Abhandlungen, 2005.
52 Ähnlich etwa Günther FS Lüderssen, 2002, S. 205, 216 ff.
Zur Symbolik des Strafrechts 365
VI.
Die Symbolik des Strafrechts taugt zu einer Strafrechtskritik, die sich da-
gegen richtet, dass die Strafrechtspraxis nicht dem entspricht, was das Straf-
recht normativ zu sein beansprucht und in seiner Symbolik zum Ausdruck
bringt. Diese Kritik ist auf zweierlei Weise möglich: Als strafrechtsimma-
nente konstruktive Kritik, die auf sektorielle Defizite und grundsätzlich
behebbare Mängel hinweist, und als prinzipielle Strafrechtskritik, welche
die in seiner Symbolik ausgedrückte Funktionalität des Strafrechts für eine
"gute Ordnung" bezweifelt. Kritik im erstgenannten Sinne kommt im Vor-
wurf einer vorgetäuschten Effektivität des (spät)modemen Strafrechts zum
Ausdruck, welcher sich mit der Vorstellung verbindet, dass durch instru-
mentell wirksamere Normen zumindest begrenzt Abhilfe möglich sei.
Kritik im zweiten grundsätzlichen Sinn bezieht sich auf die Kluft zwi-
schen dem symbolisch verheißenen Beitrag des Strafrechts für eine aner-
kennungswürdige "gute Ordnung" und der begrenzten oder gar fehlenden
Tauglichkeit der Instrumente des Strafrechts hierfür. Die strafrechtlichen
Gestaltungsmöglichkeiten des Sozialen sind ungewöhnlich begrenzt. An-
ders als sonstige Formen staatlicher Regulation und gesellschaftlicher Prob-
lembearbeitung betreibt das Strafrecht in retrospektiver Ausrichtung auf ein
von komplexen Handlungskontexten entkleidetes Tatgeschehen eine negati-
53 Vgl. GarlandPunishment and Modern Society: A Study in Social Theory, 1990, S. 295.
366 Karl-Ludwig Kunz
KLAUS VOLK
Was man schon immer einmal sagen wollte, sich zu schreiben aber nicht
getraut hat, darf man in einer Festschrift erst recht nicht anbringen. Solche
Regeln müssen bei Gelegenheit durch eine Ausnahme bestätigt werden.
Heinz Schäch, der Freund aus langen gemeinsamen Jahren, einer, der selbst
viele Regeln bestätigt und geschaffen hat, wird es tolerieren, dass ich zu
seinen Ehren eine Glosse schreibe.
Eine Glosse ist in der juristischen Tradition bekanntlich eine ehrenwerte
Veranstaltung. Die Glossa ordinaria fasste 1250 die Bemerkungen zum
Corpus Iuris Civilis zusammen; die Postglossatoren kommentierten den
Regelungsgehalt der Vorschriften. Ursprünglich war eine Glosse nur die
Erklärung der Bedeutung eines Wortes durch ein anderes Wort. 1 Das
kommt dem hier Intendierten nahe. Welche Bilder, Formeln, Chiffren fin-
den sich in unserer Strafrechtsdogmatik, und welche Probleme sollen sie
erläutern? Was leisten sie? Bildkräftige Ausdrücke haben mit Bildern ge-
mein, dass sie mehr sagen als tausend Worte. Aber sagen sie vielleicht auch
etwas anderes?2 "Jetzt geht's los" ist so eine bildhafte Formel, die ich ver-
wenden könnte, um zu signalisieren, dass die Vorrede hier ein Ende hat,
wenn nicht noch ein zweiter Aspekt zu erwähnen wäre. "Im modemen
Journalismus bezeichnet man als Glosse einen kurzen, pointierten Mei-
nungsbeitrag, der sich vom Kommentar ... durch seinen polemischen, satiri-
schen oder feuilletonistischen Charakter unterscheidet". 3 Und auf die Stil-
mittel der Ironie und Übertreibung möchte ich nicht verzichten. 4
Jetzt also geht es los. Die angekündigte Analyse dogmatischer "Glossen"
bildet den Hauptteil des Beitrags. Den Anfang aber macht ein (einziges)
1 Jsidor von Sevilla Etymologiarum sive originum libri XX, um 623, 1.30: "cum unius verbi
rem uno verbo manifestiamus".
2 Das Problem der Visualisierung des Rechts mächte ich hier nicht angehen, obwohl mich
seit langem interessiert, was der "iconic turn" der Gesellschaft für das Recht bedeutet~ mein
Mitarbeiter Florian Holzer schreibt seine Dissertation darüber.
3 Wikipedia, "Glosse".
4 Weitgehend verzichten mächte ich auf Fußnoten, denn, um dafür wenigstens eine schwa-
che Entschuldigung zu liefern, eine Glosse im juristischen Sinne ist ja auch nichts anderes als
eine an den Rand oder zwischen die Zeilen geschriebene Fußnote.
370 Klaus Volk
Beispiel für die Art und Weise, wie die Justiz ihre Entscheidungen für die
Öffentlichkeit glossiert.
Das ist, prinzipiell gesehen, ein legitimes Anliegen. Man muss den armen
Leuten, die nicht durch ein Jurastudium bereichert sind, möglichst einfach
klar machen, was Sache ist. Wer "draußen im Lande" versteht schon die
Abfolge der Argumente in einer schwierigen Entscheidung. Also zeichnet
man in einer "biblia pauperum" bunte Bilder. Manchmal geht das schief. 5
Bei einer Umfrage, was denn der BGH im Mannesmann-Verfahren gesagt
hat, würden die meisten (unter denen wohl auch viele Juristen wären) sich
nur daran erinnern, dass er gewettert hat, die angeklagten Mitglieder des
Aufsichtsrates seien nicht Gutsherren, sondern Gutsverwalter gewesen.
Publizistisch (und populistisch) sehr effektvoll, frei nach dem Motto: bei
feudalen Prämien 6 darf man auch feudalistische R.eminiszenzen wecken.
Aber eine AG ist eben kein Gutshof, und wenn man das Problemfeld von
Entscheidungen in der Wirtschaft mit landwirtschaftlichen Mitteln beackert,
wird einiges untergepflügt. In einer AG ist "Gutsherr" der Aktionär. "Guts-
verwalter" ist der Vorstand. Der Aufsichtsrat ist "Oberaufseher". Die Guts-
herren können ihn wählen, 7 dann aber nicht mehr mitreden. Der Aufsichts-
rat verwaltet allerdings insofern Güter als er die Bezüge des Vorstands
J
5 Im Großen und Ganzen leisten die Pressestellen der Obergerichte hier gute Arbeit.
6 Zum Problem Samson in: Gesellschaftsrechtliche Vereinigung (Hrsg.), Gesellschaftsrecht
in der Diskussion, 2004, S. 109 ff.
7 Von anderen Formen der Bestellung einmal abgesehen, § 104 AktG.
8 § 87 AktG.
Bildersprache in der Strafrechtsdogmatik 371
Die Ausgangsfrage ist, wann jemand zum Gehilfen eines anderen wird.
Die Antwort lautet: wenn er sich mit ihm solidarisiert. Damit sind wir bei
dem oben erwähnten ursprünglichen Sinn einer Glosse; ein Wort wird durch
ein anderes erklärt. Wenn man nun allerdings wissen will, was es denn
bedeutet, sich solidarisch zu verhalten, wird man wieder auf das zu erklä-
rende Wort zurückgeführt. "Solidarität (abgeleitet vom lateinischen solidus
für gediegen, echt oder fest; Adjektiv: solidarisch) bezeichnet eine ... Hal-
tung der Verbundenheit mit - und Unterstützung von - Ideen, Aktivitäten
und Zielen anderer". 13 Gehilfe ist also, wer die Aktivitäten und Ziele eines
anderen unterstützt. Das wusste man schon vorher. Die Frage war ja, wann
und unter welchen Voraussetzungen das der Fall ist. Die Erklärung ist aber
nicht nur tautologisch, sondern auch inadäquat. Solidarität äußert sich in
gegenseitiger Hilfe, und ob (im Ausgangsfall) der Bankkunde der "Kame-
rad" des Bankmitarbeiters sein will, ist nicht von Interesse. Das Kriterium
"Solidarität" führt also im Kreis herum und überdies in die Irre.
In Wahrheit entscheiden, wie stets, objektive Umstände, und ob man sie
als Indiz fur ein subjektives Kriterium (die innere Einstellung) oder Be-
griffsmerkmal behandelt, spielt, wie immer, letztlich keine Rolle. 14 Es
kommt auf das vom potentiellen Gehilfen erkannte Risiko strafbaren Ver-
haltens des anderen an. Auch dieses Kriterium ist nur scheinbar subjektiv
und individualisierend. Ab einer bestimmten Höhe dieses Risikos kann man
nicht mehr anders als den Schluss zu ziehen, "dass er sich mit seiner Hilfe-
leistung ,die Förderung eines erkennbar tatgeneigten Täters angelegen sein'
ließ".15 Die vermeintlich subjektiven Bestandteile dieser Umschreibung
werden also ebenfalls objektiv ermittelt.
Ob der andere "erkennbar tatgeneigt" war, bemisst sich nicht nach der
Einsichtsfahigkeit des Gehilfen. Erkennbar heißt für jeden erkennbar.
Das vom potentiellen Gehilfen "erkannte" Risiko wird nicht nach seinem
Erkenntnishorizont bestimmt, sondern danach, wie hoch "man" es an seiner
Stelle eingeschätzt hätte. Von einer gewissen Höhe an wird niemand mehr
mit dem Einwand gehört, er hätte es nicht als hoch eingestuft: "Schutzbe-
hauptung". Diese prozessuale Floskel umfasst zwar nicht nur den Vorsatz
("das haben Sie gewusst"), sondern auch die Leichtfertigkeit ("das sieht
doch jeder"), dient aber schlicht der Beweiswürdigung beim Vorsatz. Auf
diese Weise wird über die prozessuale Zurückweisung eines Vorbringens
als Schutzbehauptung - ein wissenschaftlich noch nicht hinreichend unter-
13 Wikipedia, "Solidarität".
14 Zur Austauschbarkeit von Begriff und Beweis, insbesondere bei subjektiven Merkmalen,
vgl. Ver! FS 50 Jahre BGH, Bd. IV, 2000, S. 739 ff.
15 Verf. a.a.O.
Bildersprache in der Strafrechtsdogmatik 373
suchtes Schlagwort der Bereich des bedingten Vorsatzes erweitert und auf
die Leichtfertigkeit ausgedehnt.
Nun könnte der Betroffene noch einwenden, dass er zwar das Risiko er-
kannt und als hoch eingestuft habe, sich aber die Förderung des anderen
nicht "angelegen sein" ließ. Daraus wird natürlich nichts. Wer sich etwas
angelegen sein lässt, das bestimmt das Gericht, nach objektiven Maßstäben.
Es handelt sich um eine schlichte Leerformel, die einen als zwingend be-
handelten Schluss von der erkannten (erkennbaren) Höhe des Risikos auf
eine innere Einstellung verbrämt, die in Wahrheit niemanden interessiert.
Fazit: Mit dem Bild von der Solidarisierung kann sich jeder solidarisieren.
Es besagt aber nichts. Sein Appell, nach Entschluss und innerer Einstellung
zu suchen, ruhrt in die Irre. Entscheidend sind objektive Umstände. Und
dass dem so ist, wird durch das Wort Solidarisierung eher verdeckt. Das
Wort gefährdet, um es in der Terminologie der Geldwäsche zu sagen, "das
Auffinden des Gegenstands". Es handelt sich um Wortwäsche. Im Grunde
müsste man die Kritik sogar noch verschärfen. Das Wort verwischt die
Grenze zur Mittäterschaft. Solidarität bedeutet, gemeinsame Sache zu ma-
chen. Für die Umschreibung der Beihilfe sollte man nicht Ausdrücke ver-
wenden, die besser auf die Mittäterschaft passen.
16 Scheinbar - denn auch in diesem Falle war es so, dass die Richter ihr Vorstellungsbild in
den Kopf des Täters projizierten.
17 BGH NStZ 1987,20.
374 Klaus Volk
11. Immunisierung
1. Tun und Unterlassen - der "Schwerpunkt der Vorwerjbarkeit"
Die Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen ist entweder evident
oder, in den Fällen mehrdeutigen Verhaltens, höchst umstritten, dann aber
auch bedeutungslos. Zu dieser vor langem geäußerten Auffassung 18 habe
ich noch immer keine Situation gefunden, die sie widerlegen würde. In den
viel diskutierten Fällen der Ambivalenz hängt die Strafbarkeit 19 von der
Unterscheidung nicht ab, weil es stets auch eine Garantenstellung gibt. Das
ist natürlich sehr pragmatisch und sehr undogmatisch gedacht. Dogmatisch
soll es nach der Rechtsprechung darauf ankommen, wo der Schwerpunkt
der Vorwerfbarkeit liegt. 20
Diese Lehre ist schwer vermittelbar. Wenn man in der Vorlesung einen
der umstrittenen Fälle darlegt und den Studenten sagt, es käme für das Prob-
lem, ob ein Begehungs- oder ein Unterlassungsdelikt vorliegt, darauf an, ob
man den Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit in einem Tun oder einem Unter-
lassen sieht, dann fragt, wie man das herausfindet, und die Antwort der
herrschenden Ansicht zitiert, sind aus den erstaunten Gesichtern gelegent-
lich Zweifel am Verstand des Dozenten herauszulesen. Wieso gibt er uns als
Antwort die Frage zurück?21 Das Erstaunen schwindet nicht, wenn man
hinzusetzt, es käme auf eine wertende Betrachtung aller Umstände an. Wer-
tung nach welchen Maßstäben? Ein letzter Rettungsversuch: der Schlüssel
könnte im Prozessrecht liegen. Der BGH möchte vielleicht die Wertung
dem Tatrichter überlassen. Aber auch das trifft es nicht, weil sich das Revi-
sionsgericht die Freiheit der Überprüfung vorbehält.
Am Ende bleibt als denkbarer "Sinn" der Schwerpunkt-Formel nur der,
dass man sich damit gegen Kritik immunisiert, weil alles offen und schwer
angreifbar bleibt. Das ist eine Strategie, die vom BGH nicht selten verfolgt
wird. Methodisch gibt es dafür zwei probate Techniken. Man verweist auf
2. Mittäterschaft
"Ein Minus bei der Tatausführung wird durch ein Plus bei der Vorberei-
tung aufgewogen". Das Faszinosum dieser Regel 22 zur "funktionellen"
Tatherrschaft - jeder kennt sie, jeder nennt sie - liegt in der unterschwelli-
gen Beschwörung der Gewissheit mathematischer Formeln. Sie funktioniert
aber nur, wenn man schon vorher weiß, dass einer Tatherrschaft hat, und sie
sagt nichts darüber, wann sie vorliegt. Auch Gehilfen leisten ja ihren "för-
derlichen" Tatbeitrag häufig nur im Vorbereitungsstadium, haben ein Minus
bei der Ausführung, aber ein deutliches Plus im Stadium der Vorberei-
tung. 23 Kriminologisch gesehen handelt es sich bei jener Regel um eine
Neutralisationstechnik. Für die Vertreter der Tatherrschaftslehre wäre es
nahezu delinquentes Verhalten, dem subjektiven Ansatz zu folgen. Da man
das beim Bandenchef, der sich die Finger nicht schmutzig macht, in der
Sache tun muss, nolens volens, geben sie ihre dogmatischen Hemmungen
zwar auf, das wiederum aber nicht zu und verbergen ihr Abdriften hinter
jener Farmel. 24 Das ist der "symbiotische Widerstreit", der in der Krimino-
logie beschrieben wird. 25 Es gibt ihn eben auch dogmatisch.
22 So oder ähnlich formuliert mittlerweile ein Klassiker, vgl. nur Wessels/Beulke Strafrecht
Allgemeiner Teil, 39. Aufl. 2009, Rn. 528. Kein Student lässt es sich entgehen, diesen Satz
anzubringen, wenn in einer Klausur irgendwie Täterschaft und Teilnahme vorkommt.
23 Der bekannte Fall: Ein korrupter Prof. verfasst Gutachten über die "Echtheit" von Gemäl-
den, die eines Tages vom Auftraggeber an irgendeinen verkauft werden. Beihilfe im Vorberei-
tungsstadium. Wenn die beiden fifty-fifty ausgemacht haben, ist der Prof. Mittäter. Mit Tat-
herrschaft hat das nichts zu tun.
24 Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, 7. Aufl. 1999, S. 690, bemerkt zu Recht: "ähnlich
vage wie die subjektive Theorie".
25 Sykes/Matza in: SackIKönig, Kriminalsoziologie, 1968, S. 360 ff.
376 Klaus Volk
J. Besonderer Teil
Wie steht es, allgemein gefragt, mit Bildern im Bereich des Besonderen
Teils? Sie sind selten. Je "besonderer" die Materie ist, desto geringer ist die
Neigung, etwas bildhaft auszudrücken. Niemand würde versuchen, die
Lösung eines Problems aus dem Bereich des Arzneimittel- oder Arbeits-
strafrechts (um nur den Buchstaben "A" aufzurufen) bildlich-plakativ zu
vermitteln. Hier sind genaue Definitionen gefragt und nicht Assoziationen.
Und wenn doch ein Bild aufgerufen wird, geschieht das in der Erwartung,
dass die Assoziationen schon die richtigen sein werden.
Ein Beispiel dafür ist die Redeweise des BGH zu der Frage, wann im Be-
reich der Untreue ein unverantwortlich hohes Risiko eingegangen wird:
wenn sich der Täter "nach Art eines Spielers" verhält. Da muss man sich
schon darauf verlassen, dass die Leute wissen, was gemeint ist. Nicht der
Spieler, der die Spieltheorie beherrscht. Das nämlich wäre jemand, der sich
gerade nicht pflichtwidrig verhält, sondern seine Entscheidung zwar unter
Ungewissheit und im Rahmen begrenzter Rationalität,28 aber auf der Basis
optimal erreichbarer Informationen nach wissenschaftlich ausgearbeiteten
Modellen trifft. 29 Am Anfang der Spieltheorie steht historisch der homo
oeconomicus 30 als der wirtschaftswissenschaftliche Bruder des juristisch
ordentlichen Kaufmanns,31 und das ist gewiss das Gegenteil dessen, was der
BGH chiffrieren wollte. Er möchte, dass man an den "Zocker" denkt, der
unrealistischen Optimismus an den Tag legt, Verluste bagatellisiert, sich
einbildet, dass Verluste durch Gewinne aufgewogen würden, Kredite auf-
28 Für deren Erforschung Herbert Simon 1978 und Daniel Kahnemann 2002 den Nobelpreis
erhielten. Insgesamt wurden für die Erforschung der Spieltheorie bisher acht Wirtschaftsnobel-
preise vergeben.
29 Der Klassiker: v. Neumann/Morgenstern Theory of Games and Economic Behavior,
1944.
30 Bernoulli, Bertrand, Cournot, 1838.
31 Beide sind, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen, im Abdanken begriffen - der
homo oeconomicus als einseitig rational und der ordentliche Kaufmann als der undeutliche
Schattenmann vergangener Zeiten.
378 Klaus Volk
2. Strafprozessrecht
Bilder helfen dabei, ein Ergebnis "an den Mann zu bringen", es nachträg-
lich plausibel und eingängig zu machen. Sie helfen wenig, wenn es darum
geht, ad hoc eine Entscheidung zu treffen. Das aber ist die im Verfahren
typische Situation: was ist der nächste Schritt, was mache ich jetzt? Als
Handlungsanweisung gibt es Bilder nicht. Sie finden sich nur dort, wo es
etwas zu verbrämen gilt. 33
Wie zum Beispiel die Ablehnung eines Beweisantrages mit der Begrün-
dung, die Beweisbehauptung sei ohne jede begründete Vermutung "aufs
Geratewohl ins Blaue hinein aufgestellt" worden, so dass es sich nur "um
einen nicht ernst gemeinten, zum Schein gestellten Beweisantrag" hande-
le. 34 Diesen Mechanismus hatten wir schon - eine aus der Sicht des An-
tragstellers zu beurteilende Frage wird nicht aus dessen Perspektive, son-
dern aus "der Sichtweise eines verständigen Antragstellers"35 beantwortet,
also objektiviert.
Was das Verbrämen betrifft, also das Umrahmen, Verzieren und Ver-
schleiern, ist im Verfahrensrecht sicherlich an der Spitze der Hitliste das
"Organ der Rechtspflege". Der Verteidiger als Organ der Rechtspflege. Es
war der germanistische Zweig der historischen Rechtsschule, der einem
Lehmklumpen Leben eingehaucht, ihn zur Person erklärt und mit Organen
und Gliedern versehen, ihn zur Uuristischen) Person erklärt hatte. Wie wird
ein Bild zum Rechtsbegriff? "Indem das Recht anordnet, dass und unter
3. Strafverfahren
Eine ganz andere Rolle spielen Bilder im Strafverfahren. Was sagt der
Richter zu Beginn der Beweisaufnahme, sich im Stillen oder laut im Saal?
"Nun wollen wir uns einmal ein Bild von der Sache machen". Ob das am
Ende ein Abbild der Wirklichkeit ist, weiß man nie ganz genau (weshalb
nicht Wissen, sondern eine entsprechende "Überzeugung" gefordert ist und
ausreichen muss). Welche "Aufnahmen" haben wir denn, die helfen kön-
nen, das Gesamtbild zu formen? Das, was Zeugen wahrgenommen (und in
ihr Gedächtnis aufgenommen) haben, die Spuren, die aufgenommen worden
sind, etc. Nun ist es jedenfalls beim Personalbeweis so, dass man zwar ver-
sucht, einzelne Punkte der Aussage auf andere Weise zu verifizieren, um
36 V Gierke Das Wesen der menschlichen Verbände. Rektoratsrede vor der Universität Ber-
lin am 15. Oktober 1902, S. 29.
37 "Das Recht schreibt dem Verbande Persönlichkeit zu. Somit muss er dem Individuum
gleich eine leiblich-geistige Lebenseinheit sein, die wollen und das Gewollte in die Tat umset-
zen kann", a.a.O. S. 15 - na also.
380 Klaus Volk
38 Diese Zusammenhänge, das "story telling" und die narrative Struktur der Wahrheit, habe
ich in FS SaIger, 1995, S. 411 etwas näher dargestellt.
39 Ich sehe davon ab, Literatur aufzuführen, die ich hier gar nicht auswerten will.
40 Vgl. auch Holzer in: Schweighofer et al. (Hrsg.), Komplexitätsgrenzen der Rechtsinfor-
matik, 2008, S. 523 ff.
Staatsschutzstrafrecht im Vorfeld
Probleme strafrechtlicher Prävention bei mutmaßlichen
terroristischen Einzeltätern
RITA HAVERKAMP
I. Einleitung
"J etzt zieht es offenbar eine Kohorte radikaler Verlierer in den Bann des
Terrors - individuell motivierte amateurhafte Möchtegernbomber, die
schwer zu bekämpfen sind, weil sie sich in westlichen Gesellschaften zu
bewegen wissen und sich oft in kürzester Zeit selbst per Internet indoktri-
nieren. Faruk Abdulmutallab, der ,Unterwäschebomber' , ist so einer
[ ••• ]." 1
1 Lau DIE ZEIT Nr. 2/2010,3. Umar Faruk Abdulmutallab wurde am 25. Dezember 2009
bei dem Versuch eines Flugzeugsattentats von einem Passagier überwältigt.
2 Re inert TIME vom 11.1.2010 unter
www.time.com/time/printout/ 0,8816, 1952315,00.html.
3 Dossier in DIE ZEIT Nr. 2/2010 über die zweite Generation Al Qaidas und den Ausbil-
dungsstützpunkt im Jemen~ H.-i. Albrecht FS Nehm, 2006, S.21 stellt zutreffend fest: "Der
moderne Terrorismus ist in eine Ära der Netzwerke übergegangen, die keine Peripherie mehr
kennen, sondern Effizienz in der Anwendung von Gewalt und Schutz vor Entdeckung aus dem
Nebeneinander einer Vielzahl selbständiger Gruppen und damit aus Redundanz bezieht. Neue-
re Beschreibungen des Terrorismus kommen allesamt zur Schlussfolgerung, dass es sich wohl
eher um Netzwerke denn um hierarchisch strukturierte Phänomene mit Zentrum und Peripherie
handelt."
382 Rita Haverkamp
(121) 2009, 131~ sowie die Übersicht zu den wesentlichen Einwänden bei Fischer StOB,
57. Aufl. 2010, § 89a, Rn. 7-9.
10 RadtkelSteinsiek (Fn. 9), 393 f.
11 RadtkelSteinsiek (Fn. 9), 394.
12 Vgl. Kutscha Bürgerrechte & Polizei/CILIP 83 Nr. 1/2006,76.
13 Schäch Kriminalpolitik in Zeiten komplexer Bedrohungen, in: Lösel (Hrsg.), Kriminolo-
gie und wissensbasierte Kriminalpolitik, 2007, S. 45-64.
14 Backes (Fn. 9), 654 f. kritisiert die Einordnung in diese Rubrik~ die fehlende Bezugnahme
auf Terrorismus in den neuen Straftatbeständen ist vor dem Hintergrund interessant, dass in der
Anwendungspraxis unterschiedliche Definitionsversuche zirkulieren (vgl. hierzu Weigend FS
Nehm, 2006, S. 155 ff., auch zur Definition des EU-Rahmenbeschlusses S. 162 ff.) und in der
Wissenschaft der Begriff des Terrorismus nach wie vor ungeklärt ist, wobei es eine unüber-
sichtliche Vielzahl an Begriffsbestimmungen gibt~ bereits in den 1970er Jahren trugen
SchmidlJongman Political Terrorism, 2. Aufl. 1988, in ihrem Standardwerk 109 Definitionen
zusammen~ außerdem ist in der Wissenschaft höchst umstritten, ob der sog. "Lone Wolf' als
Alleintäter überhaupt von dem Begriff Terrorismus erfasst wird.
15 Je mehr Zwischenschritte die Verwirklichung des angedachten Anschlags erfordert, desto
weniger zielgerichtet erscheint die Vorbereitungshandlung. Deshalb verwundert die "Untertei-
lung" in Vorbereitungshandlungen nach dem Orad der Nähe zum Versuchsbeginn nicht, d.h.
wenn bei den Tathandlungen nach der Vorbereitung vor dem unmittelbaren Ansetzen, der
"Vorbereitung der Vorbereitung" und der "Vorbereitung zur Vorbereitung einer Vorbereitung"
unterschieden wird~ vgl. GazeaslGrosse-WildelKießling (Fn.9), 598, 601 ~ NK-Paeffgen,
3. Aufl. 2010, § 89a Rn. 41 bzgl. § 89a Abs. 2 Nr. 1 StOB.
384 Rita Haverkamp
ist zu konstatieren, dass dem StGB die Strafbarkeit von potenziellen Einzel-
tätern in der Vorbereitungsphase nicht fremd ist. 16 Bei den §§ 89a, 89b und
91 StGB handelt es sich um abstrakte Gefährdungsdelikte. Die Strafwürdig-
keit ergibt sich aus der Vermutung, dass die sanktionierten Verhaltenswei-
sen fur die geschützten Rechtsgüter generell gefährlich sind, obwohl nur ein
entfernter zeitlicher und räumlicher Bezug zur Verwirklichung der schwe-
ren Gewalttat besteht. 17 Auf den Eintritt einer Gefährdung kommt es im
Einzelfall gerade nicht an, denn die angenommene Gefährlichkeit der Vor-
bereitungshandlungen stellt den Grund für die Schaffung der Straftatbestän-
de dar. 18 Obgleich in der Gesetzesbegründung der terroristische Hintergrund
und Zusammenhang der neuen Delikte betont wird,19 lässt der Gesetzestext
einen solchen Bezug vermissen und begnügt sich mit einer allgemeinen
Staatsschutzklause 1.
Über die geschützten Rechtsgüter besteht Uneinigkeit. So reicht das Mei-
nungsspektrum vom ausschließlichen Schutz der hinter §§ 211, 212, 239a,
239b StGB stehenden Individualrechtsgüter potenzieller Gewaltopfer20 über
den Schutz der Individual- und der Staatsschutzrechtsgüter21 bis hin zum
vorrangigen Schutz der Rechtsgüter der Allgemeinheit.22 Für die beiden
letzteren Ansichten spricht die Staatsschutzklausel des § 89a Abs. 1 S. 2
StGB,23 die sich auf die innere und äußere Sicherheit eines jeden Staates
(vgl. Abs. 3), den Bestand internationaler Organisationen oder auf die
Grundsätze der Verfassung bezieht. Dagegen ist einzuwenden, dass sich
hieraus ein "universeller Staatsintegritätsschutz"24 ohne Konturen und Ziel-
richtung ergibt. 25 Eine derartige Uferlosigkeit verträgt sich nicht mit der
16 S. nur §§ 80, 83, 87, 149, 202c, 234a Abs. 3, 267 Abs. 1 Alt. 1, 275, 303a Abs. 3, 303b
Abs. 5,310, 316c Abs. 4 StGB.
17 So auch Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 594 (diese beziehen sich auf die Eig-
nungsklausel bzgl. der "noch nicht begangenen späteren Gewalttat")~ Radtke/Steinsiek (Fn. 9),
387~ Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 7~ Zöller Terrorismusstrafrecht, 2009, S. 564~ während
Fischer (Fn. 9) dieser Einordnung bzgl. §§ 89b, 91 zustimmt, geht er bei § 89a Rn. 10,41 von
einem unechten Unternehmensdelikt aus; Gierhake (Fn.9), 401 f. verneint mit beachtlicher
Ber:ründung eine Legitimation als abstrakte Gefährdungsdelikte.
8 Wessels/Beulke Strafrecht Allgemeiner Teil, 39. Aufl. 2009, Rn. 29.
19 BT-Drs. 16/12428, S. 12.
20 Zöller (Fn. 17), S. 564: Leben, Freiheit und Unversehrtheit des Opfers, Freiheit des in
seiner Sorge ausgenutzten Dritten, Vermögen, Freiheit der Willensentschließung und -betäti-
gU~fBackes (Fn. 9), 654; Ga::eas/Grosse- Wilde/Kießling (Fn. 9), 594; Paeffgen (Fn. 15), § 89a
Rn. 7.
22 Fischer (Fn. 9), § 89a Rn. 5 und mittelbar der Individualrechtsgüter.
23 Ebenso §§ 89b Abs. 1 und 91 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StGB, die auf die schwere staatsgefähr-
de~2e Gewalttat in § 89a StGB verweisen.
So zu Recht Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 10.
25 Backes (Fn. 9), 654; Zöller (Fn. 17), S. 564.
Staatsschutzstrafrecht im Vorfeld 385
Zeit, Ort und Art der Ausführung gerade nicht nötig. Diese weite Pönalisie-
rung des bisher straflosen Vorfelds schwerer staatsgefährdender Gewaltta-
ten muss den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots nach Art. 103 Abs. 2
GG genügen. Deshalb enthält Abs. 2 des § 89a StGB vier abschließende
und umfassende Alternativen tatbestandsmäßiger Vorbereitungshandlun-
gen. 45 Grob skizziert handelt es sich um folgende Tathandlungen:
- Unterweisen oder sich Unterweisen lassen in der Herstellung von oder
im Umgang mit den enumerativ genannten Tatobjekten oder sonstigen
Fertigkeiten (Nr. 1),
55 Aus DWDS (Das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache des 20. Jh.) unter
http://www.dwds.de/?kompakt=l&sh=l&qu=Fertigkeit; Fischer (Fn.9), § 89a Rn. 29: ,jede
beliebige geistige, manuelle, technische oder sonstige erlern- oder trainierbare menschliche
Fähigkeit".
56 BT-Drs. 16/12428, S. 15.
57 Ebenso mit weiteren Beispielen Deckers/Heusel (Fn. 9), 171; Montag DRiZ 2008, 141;
Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 35; Zöller (Fn. 17), S. 569.
58 Ähnlich argumentierend und eine verfassungskonforme Auslegung befürwortend Zöller
(Fn. 17), S. 569.
59 Zutreffend Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 597.
60 Nach Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 597 und Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 35
"vermag auch die etwa im Rahmen von § 315b A.bs. 1 Nr. 3 herangezogene, innertatbestandli-
che Analogie' keine Abhilfe zu verschaffen".
61 So BT-Drs. 16/12428, S. 15.
Staatsschutzstrafrecht im Vorfeld 391
oder den Umgang mit den angeführten Tatmitteln bzw. Fertigkeiten. 62 Der
in den Gesetzesmaterialien verwendete Begriff des "Ausbildens" fur "Un-
terweisen" sollte daher an den Begriff des "Schulens" gern. § 87 Abs. 1
Nr. 5 StGB angelehnt werden, unter dem eine "gewisse Zeit in Anspruch
nehmende Ausbildung"63 verstanden wird. 64 Kennzeichen des Ausbildens
ist mithin ein längerer Lernprozess, der einen kommunikativen Austausch
zwischen Ausbilder und Auszubildenden impliziert - U.U. auch im Wege
eines Fernstudiums. 65
Das "Sich-Unterweisen-Lassen" ist ohne eine verfassungsrechtliche Kor-
rektur nicht tragbar,66 da der Wortlaut den Unterricht eines Ausbilders ohne
deliktische Absichten umfasst und sich derart auf alle sozialadäquaten Un-
terweisungen eines bösgläubigen Auszubildenden erstreckt.67 Pönalisiert ist
mithin das "verbotene Wissen" ohne erkennbaren Deliktsbezug. 68 Eine
verfassungsmäßig vertretbare Lösung ist auf zweierlei Wegen anhand einer
einschränkenden Auslegung erreichbar: Entweder der Auszubildende mani-
festiert seinen Vorbereitungsentschluss nach außen 69 oder, noch restriktiver,
den Ausbilder und den Auszubildenden eint das gemeinsame Interesse an
einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat i.S.d. Abs. 1. 70
62 Obwohl der Begriff "Unterweisen" in das StGB neu eingeführt wurde, handelt es sich im
Unterschied zum Tatbestandsmerkmal der sonstigen Fertigkeiten um eine verständliche Be-
grifflichkeit, die nach ihrem Wortlaut und ihrer sonstigen Verwendung im Recht einen Bezug
zum Unterrichten aufweist, vgl. Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9),597 m.w.N.
63 Fischer (Fn. 9), § 87 Rn. 9~ MK-StGB/Steinmetz, 2005, § 87 Rn. 10~ Anhaltspunkte las-
sen sich auch aus der Kommentierung von Fischer (Fn. 9) zu § 174 Rn. 7 gewinnen, auch
wenn hier natürlich kein vertragliches Ausbildungsverhältnis i.S.d. §§ 1, 6, 20 BBiG vorliegt:
"Vermittlung von [... ] Fertigkeiten und Kenntnissen und zum Erwerb der erforderlichen [... ]
Erfahrung"~ es reicht nicht "die Anleitung zu einfachen, z.B. mechanischen Verrichtungen".
64 So auch im Ergebnis Gazeas/Grosse- Wilde/Kießling (Fn. 9), 597.
65 Im Ergebnis ebenso Gazeas/Grosse- Wilde/Kießling (Fn. 9), 597 und Zöller (Fn. 17),
S. 569~ einschränkend bzgl. der Femmedien Paeffgen (Fn. 15), Rn. 36, der eine Belehrung in
Person verlangt.
66 A.A. Fischer (Fn. 9), § 89a Rn. 30.
67 Ebenso Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 597~ Paeffgen (Fn. 15), Rn. 36~ Zöller
(Fn. 17), S. 570.
68 Sieber (Fn. 9), 362~ für Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 597 stellt sich die Frage
nach der rechtsstaatlich gebotenen Straflosigkeit des "dolus antecedens" wegen des damit
verbundenen "überschießenden Anschlagsvorsatz"~ die Autoren und Paeffgen (Fn. 15), Rn. 36
weisen darauf hin, dass die US-amerikanische Parallelvorschrift ein "military-type-training"
durch eine terroristische Organisation (U.S.C. § 23390) erfordert und somit hinter der deut-
schen Regelung zurückbleibt.
69 Sieber (Fn. 9), 362~ hier sind strenge Anforderungen zu stellen, jedoch können die Atten-
täter vom 9. September 2001 angeführt werden, die nicht an Flugstunden zur Landung des
Flugzeuges interessiert waren.
70 So Paeffgen (Fn. 15), Rn. 36~ Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn.9), 597 und Zöller
(Fn. 17), S. 570 fordern ein kollusives Zusammenwirken.
392 Rita Haverkamp
wenig eingrenzend argumentieren können: Den Besitz von ein, zwei Handys oder Weckern
wird man noch als sozialadäquat bezeichnen können (von 30 auch? Für einen Handy;.Laden-
Besitzer?)".
78 Näher Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 596 und Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 42,
nach denen der Gesetzestext in Abs. 2 Nr. 1 entsprechend § 316c Abs. 4 StGB lediglich um
sonstige explosions- und brandgefährliche Stoffe hätte ergänzt werden müssen.
79 Ebenso Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 598 und Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 45.
80 _Ähnlich Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 44~ Zöller (Fn. 17), S. 571.
81 BT-Drs. 16/12428, S. 15~ vgl. Fn. 5 zum EU-Rahmenbeschluss, Übereinkommen des Eu-
roparates und des UN-Übereinkommens.
82 Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 598~ Zöller (Fn. 17), S. 573.
83 Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 598~ Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 48 kritisiert zu
Recht, dass die strafbare Beihilfe (§ 27 StGB) beim versuchten und vollendeten Delikt im
Vorfeld in täterschaftliches Handeln "umgemünzt" wird.
84 Vgl. RadtkelSteinsiek (Fn. 9), 391~ Z~ller (Fn. 17), S. 572.
394 Rita Haverkamp
Die Tathandlung des Sammelns bezieht sich auf das Einsammeln,86 Ein-
werben, Erhalten und das vorübergehende Aufbewahren von Vermögens-
werten. Dabei reicht eine einzige Spende für den Taterfolg des Sammelns
aus. 87 Mit der Begehungsweise des Entgegennehmens wird das tatsächliche
In-Empfang-Nehmen von Vermögenswerten verfolgt, um diese weiterzulei-
ten. 88 Bei dieser Tathandlung hat der Täter eine Mittlerfunktion zwischen
Spender und anschlagsgeneigtem Einzeltäter inne. 89 Für den Taterfolg
kommt es darauf an, dass der Empfänger zumindest eine Vermögenspositi-
on erhält.90 Die Alternative des Zur-Verfügung-Stellens betrifft den Spender
mit der Weggabe bzw. Übergabe nicht unerheblicher Vermögenswerte. 91
Vermögenswerte sind (un)bewegliche Sachen sowie Rechte einschließ-
lich Forderungen, sofern sie "nicht unerheblich" sind. 92 Allerdings sieht der
Gesetzgeber auch solche Vermögenswerte als nicht unerheblich an, die
isoliert betrachtet als nicht bedeutend erscheinen, jedoch im Rahmen einer
wertenden Gesamtschau fur die Vorbereitung einer schweren staatsgefähr-
denden Gewalttat relevant sind. 93 Danach können schon geringe Beträge
genügen, die beispielsweise für die Platzierung einer Autobombe anfallen. 94
Trotzdem hält diese weite Auslegung den Anforderungen des Art. 103
Abs. 2 GG stand, weil es auf die mit dem verknüpften Vermögenswert
85 Hier geht es auch um das frühe Vorfeld mit mehreren denkbaren Zwischenschritten, die
bis zur Vorbereitung (Finanzieren, Nr. 4) der Vorbereitung (Ausbilden, Nr. 1) zur Vorbereitung
(Verwahren, Nr. 3) der Vorbereitung (Herstellen, Nr. 2) reichen können; im Unterschied zum
unmittelbaren potenziellen Einzeltäter gibt der Finanzier als Vorbereitungstäter mit der Über-
gabe des Geldes das Geschehen in der Weise aus der Hand, dass dem nicht organisierten und
damit weniger berechenbaren Bedachten die gesamte Tatplanung, -vorbereitung und -ver-
wirklichung obliegt. Hieran wird deutlich, dass Vorverlagerungen der Stratbarkeit dazu führen
können, "die ganzen dogmatischen Kategorien wie Täterschaft und Teilnahme, Versuch und
Vollendung oder andere zentrale Institutionen der Zurechnungslehre gleichsam einzustamp-
fen", zutreffend Melki FS Tiedemann, 2008, S. 1493.
86 Das Ansammeln i.S.v. Sparen scheidet aus, näher hierzu Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling
(Fn. 9), 599 und Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 51; dagegen für Fischer (Fn. 9), § 89a Rn. 37
und Sieber (Fn. 9), 360 unklar.
87 Richtig konstatieren Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 599, dass eine erfolglose Bit-
te ein strafloser Versuch ist; ebenso Zöller (Fn. 17), S. 574.
88 Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 599, diese Tathandlung ist weder in der schweize-
rischen Stratbestimmung noch im UN-Übereinkommen enthalten.
89 Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 51 ist beizupflichten, dass der bloße Bote nicht erfasst ist,
der wissentlich einen Umschlag mit viel Geld auftragsgemäß dem Empfänger aushändigt.
90 Zöller (Fn. 17), S. 574.
91 Spiegelbildlich zum Spendensammler Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 51.
92 BT-Drs. 16/12428, S. 15.
93 BT-Drs. 16/12428, S. 15.
94 So ausdrücklich der Gesetzgeber BT-Drs. 16/12428, S. 15; weitere Beispiele führen Ga-
zeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 599 (drei Euro für Bahnticket) und Zöller (Fn. 17), S. 574
(fünf Euro für Munition) an.
Staatsschutzstrafrecht im Vorfeld 395
95 Anders Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 599, die einen Verstoß gegen das Analo-
gieverbot annehmen und einen Mindestbetrag des durchschnittlichen Nettoeinkommens i.H.v.
2000 Euro einfordern~ dem ist nicht zuzustimmen, weil Sprengsätze in der Herstellung preis-
wert sein können~ Paeffgens berechtigter Kntik (Fn. 15), § 89a Rn. 50 an der Sprachungenau-
igkeit des Gesetzgebers ist nicht zuzustimmen, weil sich der mögliche Wortsinn des Gesetzge-
bers erschließen lässt.
96 Ebenso Zöller (Fn. 17), S. 574.
97 So bereits Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn.9), 595 und Paeffgen (Fn. 15), § 89a
Rn. 20 ff.
98 Näher Gazeas/Grosse-Wilde/Kießling (Fn. 9), 595 und Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 25
m.w.N., die auf die parallele, wenngleich umstrittene Auslegung des Bestitnmungserfordernis-
ses in § 129a Abs. 2 verweisen~ s. hierzu Fischer (Fn. 9), § 129a Rn. 22~ dolw; eventualis aber
hier ausreichend (Fischer a.a.O., § 89a Rn. 40).
99 BT-Drs. 16/12428, S. 14~ in Anlehnung an die Eggesin-Entscheidung BGHSt 46,252.
100 So BT-Drs. 16/12428, S. 14 und BGHSt 46, 252~ aus dieser Passage leitet Zöller
(Fn. 17), S. 140 das Ausreichen von Eventualvorsatz ab; dem ist nicht zuzustimmen, weil in
der Gesetzesbegründung lediglich zum Ausdruck kommt, dass keine Absicht erforderlich ist; in
diesem Kontext weist das "Bestimmen" auf dolus directus hin, denn sonst würde dem Begriff
keine eigenständige Bedeutung zukommen~ im Ergebnis auch Paeffgen (Fn. 15), § 89a Rn. 25.
101 BT-Drs. 16/12428, S. 14.
396 Rita Haverkamp
Vorbereitungstäter stellt sich eine Tat gegen das Leben in den Fällen der
§§ 211 bzw. 212 StGB oder gegen die persönliche Freiheit in den Fällen der
§§ 239a bzw. b StGB vor. 102 Der Wortlaut der Norm und die gesetzgeberi-
sche Intention lassen somit schon dolus eventualis für die spätere Gewalttat
genügen. 103
Besondere subjektive Anforderungen finden sich auch nicht bei einer der
Tathandlungen zur Vorbereitung gern. Abs. 1 LV.m. Abs. 2, so dass erneut
Eventualvorsatz ausreicht. Der Gesetzgeber verzichtete auf eine Restriktion
der subjektiven Tatseite, obwohl der objektive Tatbestand der Tathandlun-
gen vielfach bloß neutrale, sozialadäquate und alltägliche Verhaltensweisen
kriminalisiert (z.B. Fotografieren von Sehenswürdigkeiten)104.
Dies gilt insbesondere für die Finanzierung anschlagsgeneigter Einzeltä-
ter, weil der Bezug zur Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden
Gewalttat lediglich über die Tätervorstellungen hergestellt werden kann.
Der Spender macht sich mithin bereits dann strafbar, wenn er in Kauf
nimmt, dass er einem anschlagsgeneigten Einzeltäter Geld zur Verfügung
stellt und dieser Vermögenswert für die Vorbereitung einer schweren Ge-
walttat verwendet wird, um deren staatsgefährdende Eignung er weiß. Bei
einer Spende an eine terroristische Vereinigung, die für ihre terroristischen
Aktivitäten hinlänglich bekannt ist, sind diese subjektiven Minimalanforde-
rungen nachvollziehbar, aber nicht für einen anschlagsgeneigten Einzeltäter
ohne konkrete Anschlagsplanungen. 105 In diesem frühen Vorfeld erscheint
die Realisierung eines Großanschlags mit gemeingefährlichen Mitteln und
einer Vielzahl an Opfern in weiter und vor allem ungewisser Feme, schon
allein weil unabhängig vom Spender das Tätigwerden der bedachten Ein-
zelperson nötig ist. So mag der potenzielle Einzeltäter im Laufe der Zeit den
bei Entgegennahme des Geldes verschwommenen Tatgedanken aus unter-
schiedlichen Motiven aufgeben. Aufgrund dieser Unwägbarkeiten muss
zumindest dolus directus 2. Grades 106 beim Finanzier eines mutmaßlichen
Alleintäters hinsichtlich der Vorbereitungshandlung und der schweren
staatsgefährdenden Gewalttat vorliegen. 107 Diese Begrenzung ist allerdings
IV. Schlussbetrachtung
"Heute ist Gewalt kein Privileg der Staaten mehr, sie ist individualisiert.
Ein einziger Flugpassagier mit Sprengstoff in der Unterhose kann in der
halben Welt ein Gefuhl der Bedrohung auslösen. Den Sprengstoff kann
sich jeder in der Küche zusammenmischen. Es braucht wenig um große
Angst zu verbreiten." 112
Das hierin liegende neue Gefährdungspotenzial fur unzählige unschuldige
Zivilisten wie auch für die Verfasstheit eines Staates dient als Legitimation
für die außerordentliche Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes des
GVVG. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob der anschlagsgeneigte Einzeltä-
ter tatsächlich eine Bedrohung für die westlichen Demokratien darstellt. Der
Grausamkeit und Menschenverachtung der von Al Qaida-Zellen organisier-
ten Großanschlägen wie in New York, London und Madrid zum Trotz kann
die Antwort nur Nein lauten. Solche glücklicherweise seltenen Anschläge 113
scheinen kaum geeignet, den Bestand oder die Sicherheit 114 eines Landes
ernsthaft zu beeinträchtigen 115 oder die Verfassungsgrundsätze hierzulande
zu beseitigen, außer Geltung zu setzen oder zu untergraben. 116
Noch dazu scheint die von einem potenziellen Einzeltäter ausgehende Ge-
fahr fur einen Staat überbewertet zu werden. Aus kriminologischer Perspek-
tive mindern die fehlenden gruppendynamischen Prozesse das Bedrohungs-
potenzial, gerade auch in Bezug auf die Erfolgschancen eines Anschlags. 117
Dies macht auch der Fall des gut vorbereiteten Einzeltäters Abdulmutallab
deutlich, der von Passagieren überwältigt wurde, als er die Sprengstoff-
schnur entzündet hatte. 118 Wäre er als Gruppenangehöriger von weiteren
Mitgliedern im Flugzeug begleitet worden, so hätten ihn diese bei der Ent-
zündung abschirmen können -- was zum Glück nicht der Fall war. Keines-
wegs soll derart die individuellen Anschlägen innewohnende Gefahr ver-
harmlost werden, jedoch könnten hier empirische Erkenntnisse über die
Gefährlichkeit von terroristischen Einzeltätern dazu beitragen, die neue
Bedrohung seitens anschlagswilliger islamistischer Alleintäter einzuschät-
zen, um eine rationale und besonnene Gefährdungsanalyse fur Staat und
Gesellschaft anzustellen.
Die Zweifel am Bedrohungspotenzial eines potenziellen Einzelterroristen
rufen grundsätzliche Skepsis an der Ausgestaltung der neuen Staatsschutz-
delikte hervor - verstärkt durch die konstatierten rechtsstaatlichen Defizite
in § 89a Abs. 1 und 2 StGB. Probleme bereitet die angenommene abstrakte
Gefährlichkeit 119 von sozial adäquaten bzw. neutralen Verhaltensweisen, die
an sich harmlos sind und nicht zu einer konkreten Gefährdung oder gar
Verletzung von Rechtsgütern fUhren. Die Gefährlichkeit der Tathandlung
stellt in diesen Konstellationen keinen Grund fur dIe Existenz der Strafnorm
dar. Vielmehr hängt der Eintritt der Strafbarkeiten in stärkerem Ausmaß
von der Gefährlichkeit des anschlagsgeneigten Alleintäters ab. 120 Diese
Verschiebung bedeutet bei den sozial adäquaten bzw. neutralen Verhal-
114 Nur unter Zugrundelegung eines überaus weiten Sicherheitsbegriffs, zur Kritik s.o. III 1.
115 Die Erschütterung über einen Anschlag geht mit Angst und Verunsicherung in der Be-
völkerung einher. Dabei handelt es sich um psychologisch verständliche Folgen des Erlebens
eines "dread risk" auf Mikroebene, die nicht mit der Beeinträchtigung der inneren Sicherheit
auf Makroebene gleichgestellt werden dürfen.
116 So auch Weißer (Fn. 9), 147~ TrojanowlZeh Angriff auf die Freiheit, 2009, S. 26 ff.
117 Es lassen sich natürlich furchtbare Gegenbeispiele anführen: Timothy Mc Veigh ("Okla-
homabomber") und Theodore Kaczynski ("Unabomber")~ vgl. zur Planung, Vorbereitung und
Tathergang Hamm Terrorism as Crime: From Oklahoma-City to AI-Qaeda and Beyond, 2007.
118 Meyer and Nich 0 las Los Angeles Times v. 29.12.2009 unter http://www.
latimes. com/news/nation-and-world/la-na-plane-terror29-2009dec29,0,5464914. story.
119 Mit überzeugender Argumentation lehnt Gierhake (Fn. 9), 402 das Vorliegen einer ab-
strakten Gefahrdung ab.
120 RadtkelSteinsiek (Fn. 9), 394.
Staatsschutzstrafrecht im Vorfeld 399
121 So bereits RadtkelSteinsiek (Fn. 9), 394; ähnlich DeckerslHeusel (Fn. 9), 171: "Der [da-
malige] Entwurf betritt zumindest in der Tragweite, nämlich wegen der Pönalisierung (teilwei-
se) sozial neutraler Handlungen, ohne spezifische Gefahr durch Zusammenwirken mehrerer,
neues bedenkliches Terrain".
122 Jakobs in: Eser (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der lahrtausendwende
- Rückbesinnung und Ausblick, 2000, S. 47-56; Jakobs ZStW 97 (1985), 751-785; aus dem
Kreis der ablehnenden Stimmen vgl. Paeffgen FS Amelung, 2009, S. 81-123.
123 Die Forderung nach einer dritten Spur im Polizeirecht für den Umgang mit anschlagsge-
neigten Einzeltätern könnte sich je nach Konzeption als Manifestation eines Feindstrafrechts
erweisen.
124 Sofern aus einer deskriptiv-analytischen Sicht die fortschreitende Vorverlagerung der
Strafbarkeit, die Schaffung neuer Rechtsgüter der Allgemeinheit und beständige Erweiterung
staatlicher Ermittlungsbefugnisse zu Lasten grundrechtlicher Garantien als Kennzeichen eines
bereits bestehenden Feindstrafrechts gesehen werden, ist das Etikett "Feindstrafrecht" verfehlt,
denn der Tatverdächtige ist nach wie vor keine "Unperson", ihm stehen die Bürgerrechte
weiterhin zu; ausführlich Zöller (Fn. 17), S 278 ff. m.w.N.
125 Zu betonen ist, dass das neue Staatsschutzstrafrecht kein Gesinnungsstrafrecht im eigent-
lichen Sinne darstellt, weil die Strafbarkeit an die Begehung einer in ihren Merkmalen festge-
legten Tat anknüpft ("Tatschuld") und eben nicht unmittelbar an die Gefährlichkeit des Täters,
seiner verfallenen oder verwerflichen Gesinnung mitsamt seiner gesamten Lebensführung; vgl.
Roxin (Fn. 28), § 6 Rn. 1.
126 Radtke/Steinsiek (Fn. 9),393; ähnlich Fischer (Fn. 9), § 89a Rn. 39; Weißer (Fn. 9), 149;
s. auch Heinrich ZStW 121 (2009),94-130.
127 Fischer (Fn. 9), § 89a Rn. 9.
Der lückenhafte Schutz jugendlicher Opfer
im Sexualstrafrecht
TATJANA HÖRNLE
I. Einleitung
Opferschutz ist ein Thema, das dem Jubilar am Herzen liegt, unter ande-
rem dokumentiert in seiner Tätigkeit als Vorstandsmitglied der Opferhilfe-
vereinigung WEISSER RING e.V. sowie zahlreichen Publikationen zur
Rolle des Opfers im Strafverfahren und zur Wiedergutmachung. 1 Insbeson-
dere hat er sich mit der Situation von Minderjährigen als Opfer von Sexual-
und Gewaltdelikten und deren prekärer Stellung im Strafprozess mehrfach
beschäftigt. 2 Mit diesem Aufsatz, den ich Heinz Schöch in dankbarer Erin-
nerung an Gespräche und Unterstützung während meiner Münchner Assis-
tentenzeit widme, möchte ich auf Probleme aufmerksam machen, die dem
Anliegen eines adäquaten Opferschutzes entgegenstehen - die aber nicht im
Verfahrensrecht, sondern im materiellen Strafrecht stecken.
Die These, dass Opfer von Sexualstraftaten im materiellen Strafrecht, also
durch den Bestand an Strafnormen, nicht hinreichend geschützt würden,
könnte auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen. In den letzten Jahr-
zehnten war gerade der 13. Abschnitt des StGB (Straftaten gegen die sexu-
elle Selbstbestimmung) häufig Gegenstand von Reformen. 3 So wurde bei
Delikten gegen Erwachsene die Strafbarkeit in verschiedener Hinsicht aus-
gedehnt (etwa Strafbarkeit von sexuellen Nötigungen zu Lasten des Ehe-
partners; Ergänzung der Gewalt- und Drohungsvariante in § 177 Abs. 1 Nr.
1 und 2 StGB durch das Ausnutzen einer schutzlosen Lage, § 177 Abs. 1
Nr. 3 StGB; Pönalisierung des sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung
eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses, § 174c
StGB). Augenfällig ist außerdem die Vermehrung und Verschärfung von
I S. z.B. Schöch FS Böhm, 1999, S. 663 ff.~ ders. 50 Jahre Bundesgerichtshof, 2000,
S. 309 ff. ~ ders. FS Riess, 2002, S. 507 ff.
2 Schäch Politische Studien, Sonderheft 2/97, 48. Jg., 1997, S. 95 ff.~ ders. FS Eisenmenger,
2009, S. 430 ff.
3 S. für einen Überblick über die Gesetzesänderungen seit dem Jahr 1974 LK-Härnle, 12.
Aufl. 2010, Vor § 174 Rn. 12 ff.~ MK-Ren=ikowski, 2005, Vor §§ 174 ff. Rn. 61 ff.
402 Tatjana HörnIe
Strafnormen, die dem Schutz von Kindern (Personen unter vierzehn Jahren,
§ 176 Abs. 1 StGB) dienen. Die Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs
von Kindern und von Kinderpornographie wird seit einigen Jahren sehr
ernst genommen, was mit dem gestiegenen Interesse der Öffentlichkeit und
mit geänderten Wertungen im Blick auf Kinder zu erklären ist. 4 Im Hinblick
auf solche Taten zu Lasten von Minderjährigen kann von Lücken im Gesetz
nicht mehr die Rede sein. (Vielmehr würde insoweit die Kritik in eine ande-
re Richtung weisen: Verbotsnormen wurden in den Bereich der abstrakten
Gefährdungen und Vorbereitungen ausgedehnt, s. § 176 Abs. 4 Nr. 3, Abs.
5 StGB, und überholte Vorstellungen wiederbelebt, nämlich Straferhöhun-
gen bei Wiederholungstaten, § 176a Abs. 1 StGB). Blickt man auf das aktu-
elle Schrifttum zum Sexualstrafrecht, vermittelt dieses den Eindruck einer
gewissen Ermattung. Die perfektionistischen Anstrengungen des Gesetzge-
bers, bei sexuellen Übergriffen auf Kinder jede mögliche Konstellation
streng zu bestrafen, machen Debatten um Strafbarkeitslücken überflüssig.
Auch in der Diskussion um sexuelle Nötigung/Vergewaltigung ist weitge-
hend Ruhe eingekehrt, nachdem der mit großem publizistischem Aufwand 5
betriebene Kampf um die Strafbarkeit von Taten zu Lasten von Ehegatten
mit der Streichung des früheren Tatbestandsmerkmals "außerehelich" ent-
schieden wurde.
Aber: Trotz alledem wäre es nicht überzeugend, die Regelungen im 13.
Abschnitt des StGB und die höchstrichterliche Rechtsprechung dazu als
rundum gelungen einzuordnen. Vielmehr zeigen sich bei näherem Hinsehen
sowohl in der Gesetzesfassung als auch bei der Auslegung Schwachstellen.
Unter anderem gilt dies für den hier zu erörternden Schutz Jugendlicher
(Personen im Alter zwischen vierzehn und achtzehn Jahren)6 vor sexuellem
Missbrauch. Es zeigt sich ein Ungleichgewicht, wenn man den Stellenwert,
der dem Schutz von Kindern beigemessen wird, mit der spärlichen Diskus-
sion über Grund und Grenzen von Normen zum Schutz Jugendlicher kon-
7 Mit einer erwähnenswerten Ausnahme: Zu Beginn des Jahres 2010 gab es eine ausführli-
che Presseberichterstattung über den sexuellen Missbrauch von Schülern in Internaten und
anderen Schulen. Dabei ging es allerdings nicht um die hier zu erörternden Probleme des
teilweise lückenhaften materiellen Strafrechts. Vielmehr ist aus rechtssoziologischer Sicht von
Interesse, dass Sinn und Zweck von Verjährungsvorschriften otIenbar nicht immer nachvollzo-
gen wird.
8 V. 31.5.1994, BGBL I, S. 1168.
9 Zuvor hatte der mit "Verführung" betitelte Tatbestand nur den Beischlaf mit Mädchen un-
ter sechzehn Jahren unter Strafe gestellt, homosexuelle Handlungen mit Jungen bis zum Alter
von achtzehn Jahren wurden von § 175 StGB a.F. erfasst.
10 Bruns ZRP 1991, 66 ff; Frommel KJ 1992, 80 ff; Kusch/Mössle NJW 1994, 1504 ff;
Schroeder ZRP 1992,295 ff; ders. NJ\V 1994, 1501 ff; Steinmeister KJ 1991, 197 ff; dies.
ZRP 1992, 87 ff
11 ABI. L 13 v. 22.12.2003, S. 44.
12 BGBI. I, S. 2149; dazu Hörnie NJW 2008,3521 ff
13 Außerdem wurde § 184c StGB neu eingeführt, der die Verbreitung jugendpomographi-
scher Schriften unter Strafe stellt. Hierbei handelt es sich um den problematischeren Teil des
Gesetzes (dazu Hörnie [Fn. 12],3521,3523 ff).
404 Tatjana HörnIe
unter Strafe stellt (etwa von Lehrern mit Schülern oder von Eltern mit Kin-
dern), entspricht im Wesentlichen der Fassung, die ihm durch das 4. StrRG
v. 23.11.1973 gegeben wurde.
Es gibt kaum zeitgenössische rechtswissenschaftliehe Schriften zum
sexuellen Missbrauch von Jugendlichen. 14 Was die Gerichtspraxis betrifft,
so liefert die Strafverfolgungsstatistik Indizien dafür, dass Jugendliche als
Opfer im Vergleich zu Kindern weniger wahrgenommen werden. Die Abur-
teilungsziffern sind beim sexuellen Missbrauch von Kindern mehr als
zehnmal so groß wie beim sexuellen Missbrauch von Jugendlichen. Im Jahr
2008 wurden 231 Täter nach den §§ 174,182 StGB verurteilt und 2.991
Personen nach den §§ 176, 176a StGB; 2007 betrug das Verhältnis
287:3.056. 15 De lege lata ist eine solche Divergenz jedenfalls teilweise da-
mit zu erklären, dass erstens die §§ 176, 176a StGB einer größeren Gruppe
von Minderjährigen gelten (die Schutzalterszone ist größer) und zweitens
die §§ 174, 182 StGB enger gefasst sind. Zu einer skeptischeren Beurtei-
lung könnte man aber gelangen, wenn man sich vom geltenden Recht und
der etablierten Auslegung durch die Rechtsprechung löst, und auf der fak-
tisch-phänomenologischen Ebene überlegt, wie wahrscheinlich es ist, dass
diejenigen, die sexuelle Übergriffe begehen, dabei zwischen Kindern und
Jugendlichen unterscheiden. Es gibt zwar vermutlich einen bestimmten
Prozentsatz an pädophil veranlagten Männern, die sich ausschließlich von
Kindern mit den physischen Merkmalen vor Pubertätsbeginn sexuell ange-
zogen fühlen. Aber damit sind nicht alle Fallkonstellationen erschöpft. Die
Annahme erscheint plausibel, dass nicht wenige Erwachsene aus anderen
Gründen ihre sexuellen Bedürfnisse zu Lasten von Minderjährigen erfüllen:
Es ist einfacher, eigene Wünsche ohne Rücksicht auf den Willen und die
Bedürfnisse des Gegenübers umzusetzen, wenn dieser im Vergleich zu
erwachsenen Sexualpartnern weniger widerstandsfähig und abhängiger ist.
Vorstellbar ist sogar, dass das Erleben von Macht über den l\1inderjährigen
ein wichtigerer Tatanreiz sein kann als die im engeren Sinne sexuelle Be-
friedigung. Bei solchen Motiven ist es gleichgültig, ob Minderjährige zwölf,
dreizehn, vierzehn oder fünfzehn Jahre -alt sind. Es ist deshalb zweifelhaft,
ob die niedrigen Aburteilungsziffern damit gerechtfertigt werden könnten,
dass nur sehr selten die sexuelle Selbstbestimmung von Jugendlichen miss-
achtet wird. Wahrscheinlicher ist, dass es Fälle gibt, in denen ältere und
überlegene Personen die Selbstbestünmungsrechte Jugendlicher nicht res-
pektieren, dies aber wegen mangelhafter Gesetzesfassung oder wegen einer
nicht selbstbestimmungsorientierten Rechtsprechung nicht verfolgt wird.
14 Es findet sich eine neuere Monographie: Stephan Sexueller Missbrauch von Jugendlichen,
2002.
15 Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Strafverfolgung - Fachserie 10 Reihe 3,2009.
Der lückenhafte Schutz jugendlicher Opfer inl Sexualstrafrecht 405
würde die Fähigkeiten auch von jüngeren Jugendlichen mit der Unterstel-
lung unterschätzen, dass sie dies nicht verantworten könnten.
Diese optimistischere Einschätzung der Kompetenzen von Jugendlichen
könnte wieder in eine simple These umschlagen, nämlich in die Forderung,
dass sich das Strafrecht mit sexuellen Handlungen Jugendlicher nur inso-
weit befassen sollte, als es dies auch bei Erwachsenen tut (also dann, wenn
Gewalt, Drohung oder eine andere Form des äußeren Druckes vorliegt, die
in den §§ 174a bis 174c, 177 StGB geschildert wird). Eine nüchterne Be-
trachtung des notwendigen Schutzes von Jugendlichen wird dadurch er-
schwert, dass die Forderung nach einer Ausweitung von Strafnormen in den
Verdacht einer antiquierten, antiliberalen Kriminalpolitik geraten kann.
Diese zeigte sich etwa bei der Diskussion um das Gesetz, mit dem 2008 der
Rahmenbeschluss des Rates der Europäischen Union zur Bekämpfung der
sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie 20 umge-
setzt wurde. Soweit es dabei um die Verhinderung der Prostitution Jugend-
licher ging, war das von der Europäischen Union initiierte Anliegen durch-
aus mit guten Gründen zu unterfüttern - in der Presse wurde jedoch
suggeriert, dass die freie Entfaltung Jugendlicher eingeschränkt werden
würde. 21 Dahinter stand offenbar die Vorstellung, dass Einmischung in die
Aktivitäten Jugendlicher vermieden werden sollte. Dieser Ansatz lässt je-
doch notwendige Differenzierungen vermissen. Während es richtig ist,
Jugendlichen Spielräume rur sexuelle Beziehungen zu lassen, kann nicht
gefolgert werden, dass jugendliche Selbstbestimmung in jeder Hinsicht den
Fähigkeiten gleichzusetzen ist, die Erwachsene haben (oder, was die pas-
sendere Formulierung ist: die bei volljährigen Personen unterstellt werden).
Der Status "Minderj ährigkeit" zeichnet sich gerade dadurch aus, dass von
Rechts wegen Defizite anzuerkennen sind. Es ist der Tatsache Rechnung zu
tragen, dass sich kognitive, emotionale und soziale Kompetenzen erst im
Lauf der Zeit entwickeln, ferner den biologisch und psychologisch zu be-
schreibenden Schwierigkeiten in der Pubertät und kurz danach. Eine teil-
weise zwar bereits vorhandene, aber noch fragile, unvollständige Kompe-
tenz im Umgang mit anderen bedeutet, dass bei Jugendlichen auch solche
ungünstigen Rahmenbedingungen die Selbstbestimmung beeinträchtigen
können, die bei Erwachsenen als unbeachtlich gewertet würden. Bei Ju-
gendlichen ist deshalb eine kontextsensible Analyse erforderlich. Es kommt
darauf an, wie die Beurteilungs- und Bewertungsinstrumente des Jugendli-
chen ausgebildet waren, aber auch maßgeblich darauf, ob in der konkreten
Handlungssituation äußere Faktoren (vor allem die soziale Rolle und das
20 S. Fn. 11.
21 S. Hörnte (Fn. 3), § 182 Rn. 26 f.
408 Tatjana Hörnie
der biologischen Abstammung beruht 22 (s. § 1592 BGB: Vater ist im zivil-
rechtlichen Sinne auch, wer mit der Mutter zum Zeitpunkt der Geburt ver-
heiratet war, wer die Vaterschaft anerkannt hat oder wessen Vaterschaft
gerichtlich festgestellt wurde). "Angenommen" i.S.v. § 174 Abs. 1 Nr. 3
StGB bedeutet: adoptiert. 23 Zweitens werden Großeltern, die im Familien-
verband eine wichtige Rolle spielen können, nach einhelliger, durch den
Wortlaut erzwungener Ansicht nicht erfasst: § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB ist
nur auf Eltern, nicht auf Großeltern anzuwenden. 24 Drittens nutzen in nicht
selten vorkommenden Konstellationen Freunde, Lebensgefährten oder neue
Ehepartner der Mutter ihre durch das Altersgefälle, die Unterordnung oder
Passivität der Mutter und die Stellung als "Mann im Haus" geprägte Autori-
tätsposition zu sexuellen Handlungen gegen den Willen der minderjährigen
Betroffenen aus. Gegenüber Gefährten der Mutter werden deren Kinder bis
zum Alter von dreizehn Jahren von den §§ 176, 176a StGB geschützt. Sind
Minderjährige dagegen vierzehn Jahre alt oder älter, so fällt der Strafrechts-
schutz lückenhaft aus.
Entscheidend ist de lege lata, ob der oder die Jugendliche dem Täter gern.
§ 174 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 StGB zur Erziehung anvertraut war. Erzie-
hung bedeutet, über längere Zeit rur die Überwachung der Lebensführung
zuständig zu sein und Verantwortung rur die körperliche, psychische und
moralische Entwicklung eines Minderjährigen zu übernehmen. 25 Die Recht-
sprechung misst diesem Merkmal großes Gewicht bei. Es ist zwar aner-
kannt, dass jenseits der Sorgerechtsregelungen des Familienrechts tatsächli-
che Lebensverhältnisse den Erzieherstatus begründen können. Aber bei der
Feststellung solcher Erziehungsverhältnisse werden strenge Maßstäbe ange-
legt. Die Verwandtschaft zwischen Großeltern und Enkeln sei nicht per se
damit verbunden, dass Enkel zur Erziehung anvertraut seien, und zwar auch
nicht, wenn sie gelegentlich bei den Großeltern übernachten. 26 Ebenso be-
deute nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der ge-
meinsame Haushalt eines Mannes mit der Mutter minderjähriger Kinder
nicht, dass der Stiefvater damit Mitverantwortung rur die Erziehung über-
nehrne. 27 Es soll vielmehr darauf ankommen, ob der Gefährte der Mutter
eigenständig Entscheidungen traf, die die Jugendlichen betreffen (Verbote
und Strafen verhängen, Erlaubnisse erteilen etc.).28 Ist der Täter der gern.
§ 1592 BGB zugeordnete, aber nicht leibliche Vater, wird in vielen Fällen
zwar Erziehungsverantwortung bestehen. Aber auch dies muss nicht immer
der Fall sein. Hat sich der früher z.B. mit der Mutter verheiratete, nicht
leibliche Vater nach langjährigem Zusammenleben von der Familie ge-
trennt, ohne sich danach weiter um das Kind zu kümmern, fällt er weder
unter § 174 Abs. 1 Nr. 3 noch unter § 174 Abs. 1 Nr. 1, 2 StGB.
Die Notwendigkeit, das Tatbestandsmerkmal "zur Erziehung anvertraut"
zu prüfen, fuhrt in den geschilderten Fallgruppen zu kritikwürdigen Ergeb-
nissen. Je asozialer die Verhältnisse beschaffen sind und je egoistischer der
nicht leibliche Vater, der gegenwärtige Gefährte der Mutter oder ein Groß-
elternteil agieren, umso größer wird die Freiheit zu sexuellen Übergriffen.
Ein Stiefvater, der sich immerhin bemüht hat, für das Leben der Kinder
einer neuen Partnerin ein gewisses Interesse aufzubringen und Mitverant-
wortung zu übernehmen, unterfällt den strafrechtlichen Schranken in
§ 174 StGB, ebenso der nicht leibliche Vater, der sich um das Kind küm-
mert. Wer dagegen eine solche Mitverantwortung abgelehnt hat, kann in
strafloser Weise sexuelle Handlungen an den Minderj ährigen in seinem
sozialen Nahbereich vornehmen (soweit Gewalt und Drohungen mit Gewalt
entbehrlich waren). Ähnlich absurd ist es, dass der Bundesgerichtshof einen
sexuelle Handlungen am Enkelkind vornehmenden Großvater freispricht,
weil dieser "kein herzliches Verhältnis zu den Enkelkindern entwickelt und
nie einen richtigen Bezug zu ihnen gefunden hat".29
Hinter § 174 StGB steht offensichtlich die Annahme, dass die Situatio-
nen, die das Opfer besonders hilflos machen, mit dem Verweis auf Erzie-
hungsverhältnisse (sowie Ausbildungs- und Betreuungsverhältnisse) präzise
zu erfassen wären. Dem liegt jedoch ein zu idealistisch geprägtes Bild
zugrunde. Das Näheverhältnis, das einem Erwachsenen Macht über einen
Jugendlichen verleiht, muss keineswegs durch positive Praktiken oder je-
denfalls durch pädagogische Ziele gekennzeichnet sein, wie sie mit dem
Wort "Erziehung" verbunden sind. Gerade dann, wenn Erwachsenen das
Wohlergehen des Jugendlichen gleichgültig ist, ist die Gefahr einer miss-
bräuchlichen Behandlung besonders groß. Für die Schutzbedürftigkeit des
Jugendlichen ist maßgeblich, inwieweit faktisch Macht aufgebaut werden
konnte, die auch in Problemfamilien ohne vernünftig-positive Erziehungs-
strukturen bestehen können. Bei den Großeltern wirken sich der Altersun-
terschied und ihre Stellung im Verhältnis zu den eigenen Kindern und deren
Abkömmlingen aus. Bei nicht leiblichen Vätern kann die in langen Jahren
innerhalb einer Familienhierarchie etablierte Über- und Unterordnung ge-
nauso wirken wie dies beim leiblichen Vater der Fall wäre. Bei Stiefvätern
ist die Regelmäßigkeit und Unvermeidbarkeit von I(ontakten bedeutsam,
ferner die Verbindung des Stiefvaters mit der sorgeberechtigten Mutter. Da
die soziale Realität oft nicht normativen Gleichberechtigungsidealen ent-
spricht, kann dies bedeuten, dass die betroffenen Jugendlichen es mit je-
mandem zu tun haben, gegen den sich die Mutter nicht durchsetzen kann -
oder mit jemandem, der in der Wertschätzung der Mutter höher steht als die
von ihr abhängigen Minderjährigen, so dass bei ihr die Bereitschaft fehlt,
dafür zu sorgen, dass ihre Kinder nicht missbraucht werden.
Dominanz und dadurch bewirkte Unterordnung des Kindes sind ferner
nicht die einzigen Umstände, die sexuelle Handlungen erleichtern. Vorstell-
bar ist auch, dass eine Mischung aus Naivität, Vertrauen und Zuneigung
innerhalb von Abhängigkeitsverhältnissen zu Großvätern, nicht leiblichen
Vätern und Stiefvätern sexuelle Übergriffe ermöglicht hat. Entscheidend ist,
dass die in sozialen Interaktionen zum Selbstschutz notwendigen Fähigkei-
ten bei Minderjährigen noch nicht voll entwickelt sind: die Fähigkeit, Ab-
sichten und Intentionen anderer zu erkennen und nicht Manipulationen zum
Opfer zu fallen; die Fähigkeit, eigene Bedürfnisse zu definieren und auszu-
drücken; ferner die Fähigkeit, den eigenen Willen gegen anders lautende
Aufforderungen effektiv und konsequent durchzusetzen. Die Existenz einer
Schutzlücke für Jugendliche ist auch nicht mit Verweis auf § 177 StGB
(sexuelle Nötigung, Vergewaltigung) zu verneinen. Als sexuelle Nötigung
wird vielmehr nur ein Segment der Sachverhalte erfasst, in denen jemand
dazu gebracht wird, gegen seinen Willen sexuelle Handlungen zu erdulden
oder vorzunehmen. § 177 StGB ist nur anzuwenden, wenn Gewalt ange-
wandt oder mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben gedroht wurde
(§ 177 Abs. 1 Nr. 1,2 StGB) oder das Opfer wenigstens befürchtet hat, dass
der Täter bei Verweigerung zu Gewalt greifen würde (§ 177 Abs. 1 Nr. 3
StGB).30 Jenseits dieser Konstellationen gibt es vielfältige Szenarien, in
denen ebenfalls Selbstbestimmung missachtet wurde. Dies wirft auch bei
erwachsenen Geschädigten die Frage auf, ob das geltende deutsche Recht
mit seinem nur punktuellen Schutz sexueller SelbstbestimlTIung überzeugt.
Dem soll hier nicht nachgegangen werden,31 sondern darauf verwiesen, dass
es jedenfalls gegenüber Minderjährigen besonders einfach ist, mit Aufforde-
rungen vorzugehen, die nicht von § 177 Abs. 1 StGB erfasst werden. Min-
derjährige sind in existentiellerer Weise als volljährige Personen von den
30 Die Rspr. geht davon aus, dass das Opfer Körperverletzungen oder sogar Tötungshand-
lungen befürchten müsse (BGHSt. 51, 280, 284~ BGH NJW 2003, 2250, 2251: BGH NStZ
2009, 443)~ nach meiner Auffassung genügt die Furcht vor Gewalteinwirkung im Allgemeinen,
Hörnle (Fn. 3), § 177 Rn. 97.
31 S. dazu Hörnle (Fn. 3), Vor § 174 Rn. 51 f.
412 Tatjana Härnle
der Wohnung usw.) wäre aber die Feststellung doch etwas einfacher. Aus
diesem Grund wäre es letztlich empfehlenswert, bei der Einbeziehung von
Stiefkindern in § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB eine häusliche Gemeinschaft zu
fordern, wobei eine solche aber zu bejahen wäre, wenn trotz eines noch
bestehenden anderen Wohnsitzes jedenfalls ein Lebensschwerpunkt des
Täters in der auch von dem Jugendlichen bewohnten Wohnung liegt.
34 BGHSt. 28, 365, 367 f. Auf dieses Urteil verweist auch OLG Zweibrücken NJW 1996,
330, 331. Zust. Lenckner/Perron/Eisele (Fn. 24), § 174 Rn. 14.
35 BGHSt. 28, 365, 368.
414 Tatjana Hörnie
dürfte auch dann, wenn das Verhalten eines Minderj ährigen tatsächlich als
Einladung zu sexuellen Handlungen gemeint und gewollt war, dies nur dann
zur Verneinung eines Missbrauchs führen, wenn dahinter echte Selbstbe-
stimmung stand. Das Verhalten des Jugendlichen ist unter eingehender
Würdigung möglicher Defizite und des bestehenden Abhängigkeitsverhält-
nisses zu analysieren. Auch wenn ein Minderjähriger initiativ wird, kann
dies auf einer Abhängigkeit beruhen, die durch das spezifische Verhältnis
der Personen sowie durch typische altersbedingte oder individuelle Schwä-
chen des Minderjährigen geprägt wird (z.B. ein übergroßes Bedürfnis nach
Zuwendung und Anerkennung, das zu Körperkontakten mit einem Heimer-
zieher motivieren könnte). Faktisch etwas zu wollen ist zwar eine notwen-
dige Bedingung für selbstbestimmtes Handeln, aber keine hinreichende
Bedingung. Selbstbestimmung setzt vielmehr voraus, dass hinter einem
faktischen Wollen die Kompetenz steht, die eigenen Interessen zu erkennen
und sie reflektiv zu bewerten (über ein gut entwickeltes Reflexionsvermö-
gen verfügen zwar de facto auch Erwachsene nicht immer,36 wobei bei
ihnen aber im Unterschied zu Minderjährigen selbstbestimmtes Handeln
unterstellt werden muss). Es ist vorstellbar, dass z.B. ein Mädchen, dass
sich von einem gutaussehenden Lehrer angezogen fühlte, einen hinreichend
reflektierten Umgang mit ihren eigenen sexuellen Bedürfnissen bekunden
kann und deshalb die Ausnutzung von Abhängigkeit zu verneinen wäre. Im
Übrigen aber wird oft die Kombination aus altersbedingten Defiziten (even-
tuell, wie im Fall des geistig retardierten Mädchens, verschärft durch zu-
sätzliche Handicaps) und dem Gewicht eines Abhängigkeitsverhältnisses zu
fehlender 'Selbstbestimmung geführt haben.
36 Darauf weist Fischer StGB, 56. Aufl. 2009, § 182 Rn. 13, zu Recht hin.
Der lückenhafte Schutz jugendlicher Opfer im Sexualstrafrecht 415
37 In der Strafverfolgungsstatistik bis 2008 noch § 182 Abs. 2 StGB. Die Änderung des
§ 182 StGB durch das Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses der Europäischen Union
(Fn. 12) hat den Text in Absatz 3 n.F. nicht geändert.
38 Statistisches Bundesamt (Fn. 15).
39 Fn. 24, § 182 Rn. 11.
40 NK-Frommel, 3. Autl. 2010, § 182 Rn. 11~ Lenckner/Perron/Eisele (Fn. 24), § 182 Rn.
1O~ Renzikowski (Fn. 3), § 182 Rn. 52.
41 BGH NStZ 1997, 386 f.~ BGH NStZ-RR 1997,98,99.
416 Tatjana Härnle
rungen bloßgelegt werden sollen - auch dies könnte vom Stellen eines
Strafantrags abhalten.
Eine Verbesserung des Opferschutzes ist nicht auf eine Änderung des Ge-
setzes angewiesen, sondern ist durch eine dem Schutzgut angepasste Ausle-
gung des § 182 Abs. 3 StGB zu erreichen. "Fähigkeit zur sexuellen Selbst-
bestimmung" ist kein ausschließlich personenbezogener Zustand, der durch
eine sachverständige Exploration des Opfers festzustellen wäre 42 (so wie es
etwa bei der Bestimmung des Blutdrucks oder Intelligenzquotienten der Fall
wäre). Vor allem ist nicht erforderlich, dass der betroffene Jugendliche
innerhalb seiner Altersgruppe auffällig ist. 43 Eine solche Abweichung kann
zwar vorliegen _.- es ist aber auch möglich, dass der Entwicklungsstand des
Opfers eines Missbrauchs nach § 182 Abs. 3 StGB in jeder Hinsicht dem für
sein Alter zu erwartenden Entwicklungsstand entspricht. Die "fehlende
Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung" ist relativ und interaktionsab-
hängig. 44 Strafverfolgungsbehörden und Gerichte sollten in kontextsensibler
Weise Folgendes bewerten: die soziale Rolle des Täters im Verhältnis zum
Jugendlichen (insbesondere ein durch das Ausmaß des Altersunterschiedes
und die soziale Rolle geschaffenes Iv1achtungleichgewicht) und die konkre-
ten Umstände der Interaktion, die den sexuellen Handlungen vorausging.
Nur wenn es danach plausibel erscheint, dass der Jugendliche selbstbe-
stimmt eingewilligt hat, wurde nicht seine fehlende Fähigkeit zu sexueller
Selbstbestimmung ausgenutzt. Es ist weder eine gutachterliehe Stellung-
nahme erforderlich noch müssen Jugendliche nach früheren Sexualkontak-
ten befragt werden, weil diese rür die Anwendung des § 182 Abs. 3 StGB
irrelevant sind. 45 Vielmehr .muss davon ausgegangen werden, dass Vier-
zehn- und Fünfzehnjährige meist Wissen über sexuelle Praktiken haben,
und dieses Wissen häufig nicht nur in theoretischer Weise erworben wurde.
Aufgabe eines modemen Sexualstrafrechts ist es nicht, "Unschuld" und
"Reinheit" zu schützen, sondern Jugendliche davor zu bewahren, dass ihre
noch nicht voll entwickelte Fähigkeit, eigene Interessen auch in der Interak-
tion mit psychisch und sozial Stärkeren zu erkennen und durchzusetzen,
ausgenutzt wird.
Während eine Verbesserung des Schutzes sexueller Selbstbestimmung
Jugendlicher in § 182 Abs. 3 StGB durch Auslegung zu erreichen ist, bleibt
42 So zu Recht Fischer (Fn. 36), § 182 Rn. 13~ Renzikolvski (Fn. 3), § 182 Rn. 50.
43 A.A. Lenckner/Perron/Eisele (Fn. 24), § 182 Rn. 1O~ Renzikowski (Fn. 3), § 182 Rn. 52.
44 Fischer (Fn. 36), § 182 Rn. 13.
45 Wurden Erfahrungen in typischen Jugendfreundschaften gemacht~ erlauben sie keine
Rückschlüsse für die konkret zu beurteilende Interaktion. Sollte es in der Vergangenheit bereits
Sexualkontakte mit älteren Personen gegeben haben, so können auch diese auf den Missbrauch
eines besonders leicht zu beeinflussenden Jugendlichen zurückzuführen sein. Gegen das Ab-
stellen auf frühere sexuelle Erfahrungen auch Renzikowski (Fn. 3), § 182 Rn. 52.
Der lückenhafte Schutz jugendlicher Opfer im Sexualstrafrecht 417
ein Punkt, für den zu erwägen wäre, ob der Gesetzgeber tätig werden sollte.
Dies betrifft die für Täter vorgeschriebene Altersgrenze in § 182 Abs. 3
StGB: Diese müssen älter als einundzwanzig Jahre sein. Es ist zwar über-
zeugend, dass ein Missbrauch umso wahrscheinlicher ist, je größer der
Altersunterschied zwischen den beteiligten Personen ist. Dies aus zwei
Gründen: zum einen wird es mit dem Anwachsen des Altersunterschiedes
unwahrscheinlicher, dass aus der Perspektive des Jugendlichen der andere
ein attraktiver Sexualpartner ist, zum anderen ist mit Altersunterschieden oft
auch ein soziales Gefälle und damit das Potential für Machtmissbrauch
verbunden. 46 Umgekehrt bedeutet jedoch ein eher geringer Altersunter-
schied nur ein Indiz und keineswegs einen verlässlichen Anhaltspunkt fur
eine autonome Entscheidung des Jugendlichen: Vierzehnjährige können
auch auf manipulierende oder Druck ausübende Neunzehnjährige treffen.
Wenn man in kontextsensibler Weise Rollen und Interaktionen analysiert,
wäre eine starre Altersgrenze fur Täter verzichtbar.
46 S. zu Letzterem Lenckner/Perron/Eisele (Fn. 24), § 182 Rn. 10~ Ren=ikolt'ski (Fn. 3),
§ 182 Rn. 8.
Punktuelle Ergänzungen des
Persönlichkeitsschutzes im Strafgesetzbuch
KRISTIAN KÜHL
1 Vgl. das Protokoll der 27. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags der
15. Wahlperiode (= Prot. 15/27).
420 Kristian Kühl
2 Vgl. etwa Kinzig ZRP 2006, 255; Neubacher ZStW 118, 855, 864; NeubacherlSeher 1Z
2007, 1029. - Aus forensisch-psychiatrischer Sicht DressingIMaul-Backer/Gass NStZ 2007,
253.
3 Dazu Rackow GA 2008, 552.
4 So etwa LacknerlKühl StGB, 26. Aufl. 2007, § 238 Rn. 1.
5 LacknerlKühl (Fn. 4), § 239 Rn. 1.
6 LacknerlKühl (Fn. 4), § 240 Rn. 1.
7 LacknerlKühl (Fn. 4), § 241 Rn. 1. .
S Besonders konsequent die beiden BT-Lehrbücher von MaurachlSchroederlMaiwald Straf-
recht Besonderer Teil, Teilbd. 1: Straftaten gegen Persänlichkeits- und Vermägenswerte, 9.
Aufl. 2007, Teilbd. 2: Straftaten gegen Getneinschaftswerte, 10. Aufl. 2009; zur Begründung
näher Schroeder In der Einleitung zu Teilbd. 1, Rn. 15-29.
Punktuelle Ergänzungen des Persönlichkeitsschutzes im StGB 421
diese sich an das Gesetz halten können und nicht ein neues Kapitel kreieren
müssen, das die Straftaten gegen die "Persönlichkeit" enthält (das Strafge-
setzbuch enthält ja auch keinen so überschriebenen BT-Abschnitt). Aus
wissenschaftlicher Sicht ist es allerdings zu bedauern, dass der strafrechtli-
che Persönlichkeitsschutz de lege lata und de lege ferenda nicht ausreichend
fundiert und systematisiert ist. Zumindest die Strafrechtswissenschaftler
haben insofern "mit-verschuldet", dass der Einleitungssatz für sie "stimmt".
Problematisch ist dieser Einleitungssatz aber hinsichtlich des "Kriminolo-
gen" noch deshalb, weil damit der Adressat dieser Festschrift gemeint ist.
Das ist bei etwas näherer Betrachtung eindeutig eine "Verkürzung" seines
wissenschaftlichen Arbeitsfeldes. "Gerechtfertigt" werden kann diese "Ver-
kürzung" zum Teil mit der persönlichen Wahrnehmung seiner Person. Der
Autor dieses Festschriftbeitrags nahm ihn als Kriminologen, der auch zu
einem kriminologischen Thema - der Dunkelfeldforschung - sprach, bei der
Freiburger Kriminologentagung 1975 und kurz danach bei einem "Bewer-
bungsvortrag" für einen kriminologischen Lehrstuhl in Bielefeld 1996 10
wahr. Jüngst erhielt er von ihm als Präsident einer (oder inzwischen der)
Kriminologischen Gesellschaft eine Einladung zu einer Münchener Krimi-
nologischen Tagung. Doch ändern diese persönlichen Wahrnehmungen
nichts daran, dass die Bezeichnung von Schäch als Kriminologe sein wis-
senschaftliches Werk nur unzureichend erfasst.
Noch nicht weit entfernt von der Kriminologie liegen das Jugendstraf-
recht und der Strafvollzug. Beide "Nebenfächer" des Strafrechts waren
schon seit langem in einem der früheren Wahlfächer mit der Kriminologie
"zusammengeschweißt" und finden sich auch heute noch in den neuen
Schwerpunkten als "Strafrechtspflege" oder in ähnlicher Bezeichnung. Für
beide Fächer - Jugendstrafrecht und Strafvollzug - hat der Kriminologe
Schäch in einer für RechtswissenschaftIer typischen Literaturgattung Veröf-
fentlichungen aufzuweisen: dem Lehrbuch. In 2. Auflage ist 2007 das von
Meier/Rössner/Schöch verfasste "Jugendstrafrecht" erschienen; darin hat
Schäch u.a. den § 11, der die Jugendstrafe behandelt, bearbeitet. Dabei zeigt
er sich insofern als Strafrechtler, als er den "Strafcharakter" der Jugendstra-
fe betont: sie habe eine "repressive Zielsetzung"; sie "soll dem Täter zum
Ausgleich für begangenes Unrecht ein Übel zufügen und von ihm und von
der Allgemeinheit auch so empfunden werden". 11 Als Strafrechtler könnte
man unter Berufung auf das Bundesverfassungsgericht hinzufügen, dass der
9 Vg. etwa Eiseie Strafrecht Besonderer Teil, Bd. I, 2008, § 22~ Mau-
rach/Schroeder/J'vfaiwald BT 1 (Fn. 8), § 16~ Rengier Strafrecht Besonderer Teil II, 10. Aufl.
2009, § 26a~ Wessels/Hettinger Strafrecht Besonderer Teil 1, 33. Aufl. 2009, § 8.
10 Zum damaligen Thema "zeitnah" Schöch Die Reform der Hauptverhandlung, in: Schrei-
ber (Hrsg.), Strafprozeß und Reform, 1970, S. 52 ff.
11 Schöch in: Meier/Rössner/Schöch, Jugendstrafrecht, 2. Aufl. 2007, § 12 Rn. 1,2.
422 Kristian Kühl
12 Zum Missbilligungscharakter der Strate vgl. Kühl FS Eser, 2005, S. 149 ff.
13 Lackner/Kühl (Fn. 4), § 203 Rn. 1.
14 Kaiser/Schäch Strafvollzug, 5. Autl. 2002, § 7 Rn. 227-229.
15 Schäch in: Alternativ-Kommentare zur StPO, Bd. 2, Teilbel. 2, 1993, § 238 Rn. 14-28.
16 Schäch in: Leipziger Kommentar zum StOB. Bd. 1,12. Autl. 2007, § 20 Rn. 51-73.
17 Schäch (Fn. 16), § 20 Rn. 194 ff.
18 Schäch (Fn. 16), § 20 Rn. 15 ff., 25 f.
19 Schäch (Fn. 16), § 20 Rn. 24; vgl. dazu Kühl OA 2009,69,71 f.
Punktuelle Ergänzungen des Persänlichkeitsschutzes im 5tGB 423
20 Schöch in: Leipziger Kommentar, Bd. 3, 12. Aufl. 2008, Vor § 61 Rn. 144-175~ vgl. dazu
Kühl GA 2010, 183.
21 Vorgestellt bzw. veröffentlicht in: GA 2005,553 ff. und 2008, 200 ff.
22 Lacker/Kühl (Fn. 4), Vor § 13 Rn. 3~ Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl.
2006, § 2 Rn. 97-102.
23 Baumann/Weber/Mitsch Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2003, § 3 Rn. 19.
424 Kristian Kühl
trag zu aufwendig wären und dem Autor dieses Festschriftbeitrags das me-
thodische Rüstzeug zu deren Ermittlung fehlt, wird hier ein einfaches, dafür
aber unsicheres Verfahren gewählt, in dem ein Werk herangezogen wird,
das das gesamte Persönlichkeitsrecht behandelt.
Sucht man nach einem solchen Werk, stößt man auf das von Göt-
ting/Schertz/Seitz herausgegebene "Handbuch des Persönlichkeitsrechts",
das außer seiner Vollständigkeit - laut Verlagswerbung werden "erstmals
alle Fragen des Persönlichkeitsrechts" und "sämtliche verfassungsrechtli-
chen, zivilrechtlichen und strafrechtlichen Implikationen dieses wichtigen
Rechtsguts dargestellt"24 - auch noch den Vorteil der Aktualität hat, denn es
ist 2008 erschienen. Dieses Handbuch wird übrigens im Prospekt des Ver-
lages, der es "herausgebracht" hat, überraschend und doch bezeichnender-
weise beim "Medien-, Presse- und Rundfunkrecht" platziert, also bei einer
Rechtsmaterie, die wie das Persönlichkeitsrecht eine "Querschnittsmaterie"
ist, die von allen juristischen Hauptfachern (Öffentliches Recht, Strafrecht
und Zivilrecht) "beackert" wird. So wird etwa im traditionsreichen Kom-
mentar zu den Landespressegesetzen bzw. Landesmediengesetzen - dem
"Löffler"25 - das Öffentliche Recht, insbesondere das Verfassungsrecht von
Bullinger, das Strafrecht von Kühl und das Zivilrecht u.a. von Steifen bear-
beitet. Die entsprechende Aufteilung findet sich auch im "Handbuch des
Persönlichkeitsrechts",26 in dem das öffentliche Recht, insbesondere das
Verfassungsrecht von Vesting und Ladeur, 27 das Strafrecht allein von Heu-
eherner und das Zivilrecht u.a. vom Mitherausgeber Götting bearbeitet ist.
"Überraschend" ist die Platzierung des Persönlichkeitsrechts beim Medien-
recht, weil man es dort nicht erwartet hätte; - aber wo hätte man es erwarten
sollen oder können? "Bezeichnenderweise" ist die Platzierung dort erfolgt,
weil zwischen dem Persönlichkeitsrecht und ,j ournalistischer Informations-
beschaffung", insbesondere beim "investigativen Journalismus", ein "Span-
nungsverhältnis" besteht. 28 Das hat sich auch in den Anhörungen des
Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages zu den hier im Folgenden zu
behandelnden "punktuellen Ergänzungen des Persönlichkeitsschutzes" -
den unbefugten Bildaufnahmen i.S. des § 20la StGB und der Nachstellung
getu. § 238 StGB - gezeigt, bei denen Vertreter der Medien zum Teil ve-
29 Nachweise zu den Stellungnahmen der ,,!v1edienverbände" bei Kraen= (Fn. 28), S. 124 f
zu § 201a StGB, S. 288 ff zu § 238 StGB.
30 Hoffmann-Riem (Fn. 24), nach dem das "kaum stimmen kann", wenn man die Rechtspre-
chung des Bundesverfassungsgerichts betrachte.
31 Ebenso die wohl h.M.; vgl. etwa Hilgendorf in: ArztlWeber/HeinrichiHilgendorf, Straf-
recht Besonderer Teil, 2. Aufl. 2009, § 7 Rn. 1 f; aus der Rechtsprechung vgl. BGHSt 36, 145,
148, wonach die Ehre nicht mit dem Bereich, den das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst,
identisch ist, aber zu ihm gehört.
426 Kristian Kühl
falls eine "separierte" Materie mit einem eigenen BT-Abschnitt, dem 14., an
den sich allerdings der 15. BT-Abschnitt - "Verletzung des persönlichen
Lebens- und Geheimnisbereichs" - mit dem persönlichkeitsschützenden
§ 201 a StGB - "Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch
Bildaufnahmen" - anschließt. Über diesen Abschnitt muss man schon hi-
nausgehen, wenn man - wie hier - die Nachstellung gern. § 238 StGB mit
in den strafrechtlichen Persönlichkeitsschutz einbeziehen will. Das gilt auch
für weitere persönlichkeitsschützende Strafvorschriften im Kernstrafrecht
des StGB und erst recht für solche aus dem Nebenstrafrecht. Da der Gesetz-
geber beim "Aufspüren" solcher Strafvorschriften jedenfalls systematisch
nicht hilft, muss die Strafrechtswissenschaft und Strafrechtsprechung jede
in Betracht kommende Vorschrift daraufhin überprüfen, ob sie das Rechts-
gut der Persönlichkeit schützen will; - dafür gibt es, wie oben zu § 238
StGB ausgeführt, gelegentlich Andeutungen im Gesetzestext (bei § 238
Abs. 1 StGB durch den tatbestandsmäßigen Erfolg: schwerwiegende Beein-
trächtigung der "Lebensgestaltung").
Dieses Aufspüren des jeweils geschützten Rechtsguts ist - wie die gesam-
te Bestandsaufnahme, zu der es gehört - selbst wiederum zu aufwendig, als
dass es für einen Festschriftenbeitrag sinnvoll in Angriff genommen werden
könnte. Außerdem ist es schon im Ansatz schwierig, weil es - wie auch
bereits gesagt - an einer Fundierung und Systematisierung des strafrechtli-
chen Persönlichkeitsschutzes fehlt; - ein Mangel, der erst recht nicht so
nebenbei in einem Festschriftbeitrag behoben werden kann. Beides - das
Aufspüren und die Mangelbeseitigung - muss hier aber auch nicht geleistet
werden, denn hier geht es nach der Überschrift von 11. nur darum zu zeigen,
dass der strafrechtliche Persönlichkeitsschutz ein Beispiel für den fragmen-
tarischen Charakter des Strafrechts abgibt. Dazu genügt es, sich in vorhan-
denen Arbeiten zum strafrechtlichen Persönlichkeitsschutz weiter umzuse-
hen.
Bisher hat diese "Umsicht" im strafrechtlichen Teil des "Handbuchs des
Persönlichkeitsrechts" und in der Dissertation von Peglau nur den gemein-
samen Befund ergeben, dass die "Ehrverletzungen" bzw. die "Beleidi-
gungsdelikte" den "größten Batzen" der persönlichkeitsschützenden Straf-
vorschriften ausmachen. Die Ausschau nach weiteren solchen Vorschriften
führt wiederum in beiden "Quellen" zu einem recht ähnlichen Bild. In bei-
den "Quellen" werden Strafvorschriften aus dem 15. BT-Abschnitt des
StGB genannt; bei Peglau die §§ 201, 203, 204 StGB,32 im neueren Hand-
buch von Heuchemer auch schon der relativ neue § 201a StGB. 33 Das ist
32 Peglau Der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch das Strafrecht, 1997, S.
31 ff.
33 Heuchemer in: Götting/Schertz/Seitz (Fn. 26), § 23 Rn. 1-6.
Punktuelle Ergänzungen des Persänlichkeitsschutzes im StGB 427
nicht überraschend, weil dieser Abschnitt schon durch seine Überschrift den
persönlichen Lebensbereich - bei § 201 a StGB sogar den höchstpersönli-
chen Lebensbereich - als Rechtsgut vorgibt, womit der Schutz der Persön-
lichkeit bzw. des Persönlichkeitsrechts deutlich wird. Von beiden genannt
werden auch die falsche Verdächtigung LS. des § 164 StGB 34 - mit der
Einschränkung, dass durch diese Vorschrift der Schutz des Persönlichkeits-
rechts neben dem Allgemeinheitsrechtsgut der Rechtspflege mit umfasst
seP5 - und die verbotenen Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen i.S. des
§ 353d StGB - beschränkt auf die Nr. 3 - öffentliche Mitteilung speziell
von Anklageschriften 36 -, bei der - wieder - neben dem Schutz der Rechts-
pflege der Schutz des vom Verfahren Betroffenen vor vorzeitiger Bloßstel-
lung "mitschwingt".37 In beiden "Quellen" werden auch Strafvorschriften
aus dem sog. Nebenstrafrecht - dem Strafrecht außerhalb des Strafgesetz-
buches - genannt. Bei Heuchemer die §§ 106 ff des Urhebergesetzes,38 in
denen u.a. die Vervielfältigung von Werken ohne Einwilligung des Berech-
tigten bei Strafe verboten wird (§ 106 Abs. 1 UrhG), bei Peglau neben
Strafvorschriften aus dem Bundesdatenschutzgesetz und dem Stasi-
Unterlagen-Gesetz der § 33 des Kunsturhebergesetzes,39 der die Verbreitung
von Bildnissen gegen den Willen des Betroffenen bei Strafe verbietet und
deshalb - \vie eingangs unter I. bereits gesagt - den neuen § 201 a StGB, der
schon unbefugte Bildaufnahmen erfasst, ergänzt. 40
Schon diese "Umsicht" spricht für die in der Überschrift zu 11. enthaltene
These, dass der strafrechtliche Persönlichkeitsschutz fragmentarisch ist. Das
ergibt sich zum einen daraus, dass keine Strafvorschrift gefunden werden
konnte, die das (allgemeine) Persönlichkeitsrecht umfassend schützt. Zum
anderen daraus, dass die vorhandenen Strafvorschriften zum Schutz dieses
Rechts auf bestimmte Ausschnitte dieses Rechtsgut wie Lebensgestaltung
oder persönlicher und höchstpersönlicher Lebensbereich usw. und auf be-
stimmte Angriffsweisen wie Bild- und Tonaufnahmen, Verbreiten von Bild-
nissen usw. beschränkt sind mit der Folge, dass sich zwischen diesen
"Fragmenten" Lücken ergeben. So war es bis vor kurzem bei Bildaufnah-
men, die anders als Tonaufnahmen i.S. des § 201 StGB, erst seit kurzem
durch § 201 a StGB -lückenschließend - strafrechtlich erfasst sind. Eine
Lücke besteht in diesem Bereich weiterhin fur Bildaufnahmen von Perso-
41 Aus dieser Diskussion vgl. nur Gallas ZStW 75 (1963), 16~ Ar=t Der strafrechtliche
Schutz der Intimsphäre, 1970, S. 142 ff~ Hirsch Ehre und Beleidigung, 1967, S. 217 ff.~ aus der
neueren Diskussion vgl. Rogall FS Hirsch, 1999, S. 665 ff. u. Kargl ZStW 117 (2005), 324,
327.
42 Zu diesen' Vorschriften im Zusammenhang Init einem "Indiskretionsdelikt" vgl. Maiwald
(Fn. 8)~ Teilbd. 1, § 25 Rn. 43 und § 29 Rn. 7.
43 Bedauerlich nach Maiwald (Fn. 8)~ Teilbd. 1, § 25 Rn. 44~ nach Lenckner in: Schön-
ke/Schröder, StGB-Kommentar, 27. Autl. 2006, Vor §§ 185 ff. Rn. la, wäre die unerledigt
gebliebene Schaffung eines Indiskretionstatbestands "durchaus berechtigt". - Nach Rogall
(Fn. 41), S. 669, ist von einem solchen Delikt "heutzutage kaum noch die Rede"~ Rogall selbst
ist gegen die Schaffung eines solchen Delikts~ ebenso schon Schünemann ZStW 90 (1978), 45
ff.
44 Dazu Kühl FS Tiedemann, 2008, S. 29,35-41.
45 Jüngst etwa von Heger Die Europäisierung des deutschen Umweltstrafrechts, 2009,
S. 238 ff., 242 f.~ früher schon von Gallas Beiträge zur Verbrechenslehre, 1969, S. 14 f.
46 Genauer Kühl JA 2009,321 ff.
Punktuelle Ergänzungen des Persönlichkeitsschutzes im StGB 429
etwa nicht gegen fahrlässige Abtötung. Noch geringer fällt der strafrechtli-
che Schutz für den Embryo vor der Nidation - der "Schutz des extrauterinen
vorgeburtlichen Lebens"47 -, den das Embryonenschutzgesetz gewährt, aus.
Insofern kann man von einem gestuften strafrechtlichen Schutz sprechen,48
ohne damit zu bestreiten, dass es sich in allen Stadien ab der "Befruch-
tung"49 um menschliches Leben handelt. Selbst geborenes menschliches
Leben ist durch die §§ 211 ff. StGB strafrechtlich nicht lückenlos geschützt.
Zwar gewähren die Tötungsdelikte Schutz gegen vorsätzliche (auch nur
versuchte) und fahrlässige Angriffe, aber ein allgemeines Lebensgefähr-
dungsdelikt gibt es zunächst formell (noch) nicht, obwohl die Aussetzung
gern. § 221 StGB als Einstieg in ein solches verstanden werden kann. 50
Schon bei allgemein anerkannten individuellen Rechtsgütem wie ,Eigen-
tum' oder ,Vermögen' gibt es keinen "Rund-um-Schutz" gegen alle erdenk-
lichen Verletzungen oder gar Gefährdungen. So ist das Eigentum - auch
fragmentarisch nur gegen bestimmte Angriffe geschützt; so etwa gegen
Wegnahme in Zueignungsabsicht durch § 242 StGB - "Diebstahl" - oder
gegen Beschädigung usw. durch § 303 StGB - "Sachbeschädigung" -.
Diese Bezeichnung typischer und traditioneller Deliktstypen erfolgt im
Strafgesetzbuch auch nicht etwa in einem BT-Abschnitt "Straftaten gegen
das Eigentum". Das steht der Aufnahme neuer eigentumsschützender Straf-
vorschriften wie etwa § 303 Abs. 2 StGB, der jetzt das gesellschaftliche
Phänomen ,Graffiti' als unbefugte Veränderung des "Erscheinungsbilds"
einer fremden Sache strafrechtlich als Eigentumsdelikt erfasst,51 nicht ent-
gegen. Bedenklich weit in Richtung "Rund~um-Schutz" ist der Gesetzgeber
bei der Neufassung der Unterschlagung gern. § 246 Abs. 1 StGB gegangen,
der als "Anfangtatbestand" für alle Zueignungsdelikte konzipiert wurde. 52
Auch das Vermögen ist im Strafgesetzbuch zwar vielfältig, aber nicht um-
fassend geschützt. Auch hier führt die strafrechtliche Erfassung bestimmter
Angriffsweisen zu einem fragmentarischen Schutz. Etwa gegen Täuschun-
gen durch den Betrug gern. § 263 StGB, der wie fast alle Straftaten in die-
sem Bereich - Ausnahme die Geldwäsche gern. § 261 Abs. 5 StGB, bei der
53 Zur bisherigen Rechtslage vgl. LacknerlKühl (Fn. 4), § 263 Rn. 40~ zur aktuellen Diskus-
sion vgl. WesselslHillenkamp (Fn. 51), Rn. 571.
54 Kritisch zur Weite der Gesetzesfassung vor allem des Treubruchtatbestandes Maiwald
(Fn. 42), § 45 Rn. 9 - Nachweise zur deshalb geführten kriminalpolitischen Diskussion dieser
Vorschrift bei LacknerlKühl (Fn. 4), § 266 Rn. 1.
55 Näher Kühl (Fn. 44), S. 41 ff.
56 So etwa bei BaumannlWeber/Mitsch (Fn. 23), § 3 Rn. 11 ~ Eber! Strafrecht - Allgemeiner
Teil, 3. Aufl. 2001, S. 3 ~ Heinrich Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 2. Autl. 2010, Rn. 11 ~
Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Autl. 1996, S. 52~ Kindhäuser
Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2009, § 2 Rn. 6~ Rengier Strafrecht Allgemeiner Teil,
2009, § 3 Rn. 7.
57 So etwa Roxin (Fn. 22), § 2 Rn. 97~ nur von "fragmentarisch" sprechen WesselslBeulke
Strafrecht Allgemeiner Teil, 39. Aufl. 2009, Rn. 9.
Punktuelle Ergänzungen des Persönlichkeitsschutzes im 8tGB 431
net, zu tun hat: der Strafe. Zu deren "Wesen" gehört neben ihrem Übelscha-
rakter, den sie mit vielen Sanktionen des Zivilrechts und des Öffentlichen
Rechts, aber auch mit Sanktionen des Strafrechts wie den Maßregeln der
Besserung und Sicherung, die keine Strafen sind, teilt, der Missbilligungs-
charakter - Strafe als ein "sozialethisches Unwerturteil"58 -. Der Zusam-
menhang zwischen diesen beiden "Wesen" dürfte darin zu sehen sein, dass
eine so verstandene Strafe wegen ihres besonderen "Doppelcharakters" -
Übel plus Missbilligung - nicht auf alle rechtswidrigen Verhaltensweisen
Anwendung finden darf. Dafür wäre sie ein zu scharfes Instrument. So wäre
es übertrieben, auf jeden Vertragsbruch mit einer Strafe wegen Untreue
gern. § 266 StGB zu reagieren, und ebenso übers Ziel hinausgeschossen
würde, wenn jede Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts mit
Strafe belegt würde. Ihren "Sondercharakter" und die davon ausgehenden
Wirkungen (etwa nonnstabilisierender oder abschreckender Art) bewahrt
die Strafe nur, wenn sie in ihrem Anwendungsbereich auf besonders hervor-
stechende (= fragmentarische) rechtswidrige Verhaltensweisen beschränkt
bleibt. Man könnte diese Verhaltensweisen als strafwürdiges Unrecht be-
zeichnen. Insoweit wird die Fragmentarität durch die Subsidiarität ergänzt,
und zwar unter dem Stichwort der Strafbedürftigkeit (auf beides - Straf-
würdigkeit und Strafbedürftigkeit - wird im Hinblick auf die §§ 201 a, 238
StGB abschließend unter III. noch eingegangen werden).
Ein Unterschied zwischen Fragmentarität und Subsidiarität, der über die
Qualität als "Prinzip", die nur letzterer zuerkannt wird, hinausgeht, ist die
verfassungsrechtliche Absicherung wiederum nur der Subsidiarität.59 Bei
der Fragmentarität tut man sich dabei schwer, hat aber wohl auch noch nicht
genügend darüber nachgedacht. Denkbar wäre eine Ableitung aus dem
verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip, denn dieses verbietet
einen "übermäßigen", überzogenen Einsatz staatlicher Reaktionen auf Fehl-
verhalten der Bürger. Auch das Bestimmtsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG
könnte zur Begründung der Fragmentarität insofern aktiviert werden, als nur
"sauber ausgestanzte" Strafvorschriften als "bestimmte" anerkannt werden,
während die erforderliche gesetzliche Bestimmtheit bei zu weit formulierten
Strafvorschriften fehlt. Schließlich könnte das Bundesverfassungsgericht
die verfassungsrechtliche Dignität der Fragmentarität des Strafrechts her-
ausarbeiten oder postulieren. Dies ist - soweit ersichtlich - bisher nicht
geschehen, zumindest nicht in der Deutlichkeit und Häufigkeit, mit der
dieses Gericht den Missbilligungscharakter der Strafe hervorhebt. 60
I. Die Strqflvürdigkeit
Die Strafwürdigkeit eines Verhaltens hebt dieses aus dem großen Bereich
"nur" rechtswidrigen Verhaltens heraus. Das geschieht bei §§ 201 a, 238
StGB formal, d.h. was die Mittel angeht, die die Strafwürdigkeit begründen,
ganz ähnlich, sachlich aber sind beide Straftaten gesondert zu betrachten.
63 BVerfG NJW 2008, 1137 ff. zu § 173 Abs. 2 S. 2 StGB; zur Kritik des sog. Rechts-
gutskonzepts durch das Gericht kritisch Kühl JA 2009, 833, 837 f.
64 Nachweise bei Meyer-Goßner StPO, 52. Aufl. 2009, § 171 GVG Rn. 4.
65 Schöch Prot. 15/27 (Fn. 1), S. 29; dazu auch Wolter in: Schünemann-Symposium, 2005,
S. 225,227.
434 Kristian Kühl
66 Das zeigt schon die wohl erste OLG-Entscheidung des OLG Koblenz NStZ 2009, 268 f.
mit Bespr. Bosch JA 2009, 308, der diese Probletnatik anspricht.
67 Kühl und Schöch Prot. 15/27 (Fn. 1), S. 16 und 29~ anders Kächele Der strafrechtliche
Schutz vor unbefugten Bildaufnahmen (§ 20la StGB), 2007, S. 101, der ausschließlich auf die
räumliche Begrenzung setzt.
68 VGH Mannheim NVwZ-RR 2008, 700 mit Bespr. Durner JA 2009, 748.
69 Schünemann Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2010, Vor § 201 Rn. 3 und schon in: ZStW
90 (1978) 11, 17 ff.
70 Betont auch von Heuchemer (Fn. 33), § 29 Rn. 8. - Für § 201 StGB schon Gallas
(Fn. 45), S. 205.
71 Dies pönalisiert das schweizerische Strafrecht in Art. 179 quater.
72 Arzt (Fn. 41), S. 64~ gegen Einbeziehung des Beobachtens Pollähne KritV 86 (2003),
387,410f.
73 Lackner/Kühl (Fn. 4), § 201a Rn. 9.
Punktuelle Ergänzungen des Persönlichkeitsschutzes im StGB 435
74 Zu einem negativen Ergebnis kommt Löhr Zur Notwenigkeit eines spezifischen Antistal-
king-Straftatbestandes in Deutschland, 2008, S. 372 ff.: symbolisches Strafrecht (S. 436).
75 BT-Drs. 16/575, S. 6 - Regierungsentwurf.
76 LacknerlKühl (Fn. 4), § 238 Rn. 1.
77 Kritisch dennoch Schroeder (Fn. 8), Teilbd. 1, § 16 Rn. 9: "Aufmotzung" banaler Tatbe-
standshandlungen durch "fachterminologische Sprechblasen" ..
78 Anders für Nr. 3 und 4 NeubacherlSeher JZ 2007, 1029, 1033: sog. "innertatbestandlicher
Analogie" zugänglich.
79 Zur Problematik LacknerlKühl (Fn. 4), § 238 Rn. 3~ kritisch Löhr (Fn. 74), S. 333 f.
436 Kristian Kühl
sonst nicht ausreichend typisiert sei, verstanden wird. 80 Erst Handeln gegen
den Willen des Opfers macht etwa das Aufsuchen der räumlichen Nähe zu
ihm - ein an sich sozialadäquates Verhalten - zu strafwürdigem Unrecht. 81
2. Strafbedürftigkeit
Die vom Subsidiaritätsprinzip geforderte Strafbedürftigkeit lässt das
Strafrecht als ultimo ratio erst zu, wenn andere, mildere Formen der Erledi-
gung von Fehlverhalten nicht greifen. Dabei kommen als Alternativen nicht
nur Sanktionen des Zivilrechts, des Öffentlichen Rechts und des Ordnungs-
widrigkeitenrechts in Betracht, sondern auch Selbstschutzmöglichkeiten des
Opfers. Bei den hier interessierenden Strafvorschriften der §§ 201 a, 238
StGB bietet sich vor allem das Zivilrecht als mildere Alternative an. Die vor
allem normativ problematischen Selbstschutzmöglichkeiten wie Sonnenba-
den im Kellerstudio bei § 20la StGB und Änderung der Telefonnummer bei
§ 238 StGB sollen hier ausgeklammert bleiben.
b) Zivilrechtlicher Gewaltschutz
Die zivilrechtliche Alternative zum Nachstellen LS. des § 238 StGB ist
seit kurzem das Gewaltschutzgesetz vom 11.12.2001 (BGBL I S. 3513).
Das Besondere dieser Alternative ist die flankierende Strafvorschrift des § 4
GewSchG, die einen Verstoß gegen eine bestimmte vollstreckbare Anord-
nung eines Zivilgerichts - z.B. die Untersagung, die Wohnung des Opfers
zu betreten oder sich im Umkreis der Wohnung aufzuhalten - mit Strafe
belegt. Das macht diese Alternative attraktiver als der bloße Verweis auf
den Zivilrechtsweg. Dennoch muss dieser zunächst beschritten werden, um
eine richterliche Anordnung nach § 1 GewSchG zu erstreiten. Liegt diese
dann vor, kann ihr der "Stalker" leicht dadurch entgehen, dass er dem Opfer
auf andere Weise nachstellt, als es ihm vom Gericht untersagt wurde. Des-
halb ist auch diese zivilrechtlich-strafrechtliche K.ombination kein Ersatz für
den strafrechtlichen Schutz des § 238 StGB,84 auch wenn dessen Absatz 1
nach Absatz 4 als eingeschränktes Antragsdelikt und sogar als Privatklage-
delikt ausgestaltet ist (§ 374 Abs. 1 Nr. 5 StPO).
84 Lackner/Kühl (Fn. 4), § 238 Rn. 1, mit Nachweisen zu Gegenstimmen; kritisch etwa Löhr
(Fn. 74), S. 372 ff.
Der Arzt, die Kommunikation und das Strafrecht
- Aspekte der ärztlichen Sch~eigepflicht unter
besonderer Berücksichtigung von Supervision, ärztlichem
Konsil und Sachverständigentätigkeit -
CHRISTOPH KNAUER
I. Einleitung
Das Verhältnis zwischen Medizinern und Juristen wird häufig nicht als
das beste angesehen. Andererseits: Welche Berufsgruppe ist den Rechtswis-
senschaftlern schon so wichtig, dass gleich ein ganzes Forschungsgebiet
nach ihr benannt wird - das Arztrecht oder neuerdings auch das Medizin-
strafrecht nämlich, das eine unübersehbare Zahl von literarischen Äußerun-
gen, aber auch eine Unmenge von Urteilen hervorgebracht hat. Die Gründe
für das gespannte Verhältnis zwischen zwei der ältesten akademischen
Berufsgruppen erörtern zu wollen, würde hier zu weit gehen.
Heinz Schöch hat sich stets als Brückenbauer zwischen beiden Berufs-
gruppen engagiert. Durch seine Zusammenarbeit mit Ärzten, etwa im Be-
reich der forensischen Psychiatrie, hat er das wechselseitige Verständnis
und den Respekt zwischen beiden Berufsgruppen gefördert - dies wird von
allen Seiten bestätigt. Grundlegend mit den ärztlichen Pflichten setzt Heinz
Schöch sich etwa in seinem Beitrag zur Aufklärungspflicht des Arztes und
deren Grenzen auseinander. 1
Von den zahlreichen Fragen, die sich um den Problemkreis "Arzt und
Strafrecht" ranken, soll im Folgenden die (strafrechtliche) Schweigepflicht
herausgegriffen werden, die eines der Beispiele für die problematische
1 Schäch Die Aufklärungspflicht des Arztes und ihre Grenzen, in: RoxiniSchroth, Handbuch
des Medizinstrafrechts, 3. Autl. 2007, S. 47 ff.~ dem Verf. ist es eine besondere Ehre, dass
damit der Beitrag aus der Vorauflage: Ärztlicher Heileingriff, Einwilligung und Aufklärung -
Überzogene Anforderungen an den Arzt? in: Roxin/Schroth/Knauer/Niedermair, Medizinstraf-
recht, 2. Autl. 2001, S. 11 ff. durch den verehrten Jubilar eine Fortsetzung gefunden hat. Mit
einer parallelen Thematik zum vorliegenden Beitrag beschäftigt sich Schäch Schweige- und
Offenbarungspflichten für Therapeuten im Maßregelvollzug, in: FS H.-L. Schreiber, 2003, S.
437 ff.
440 Christoph Knauer
2 Zit. nach Schlund in: Laufs/Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl. 2002,
§ 69 Rn. 1.
3 Schönke/SchröderlLenckner StGB, 27 Aufl. 2006, § 203 Rn. 35~ str. ist, ob der nicht ap-
probierte Hochstapler "Arzt" i.S.d. § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB ist, vgl. Braun in: Roxin/Schroth
(Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts, 3. Aufl. 2007, S. 278.
Der Arzt, die Kommunikation und das Strafrecht 441
2. Geheimnis
Geheimnis i.S.d. Vorschrift ist eine Tatsache, die nur einem begrenzten
Personenkreis bekannt ist und an deren Geheimhaltung der Betroffene ein
schutzwürdiges Interesse hat. 4 Bezogen auf den ärztlichen Behandlungsall-
tag wird diese Definition sehr \veit aufgefasst, so dass bspw. nicht nur
Anamnese, Diagnose und Therapie sowie familiäre, persönliche und finan-
zielleUmstände des Patienten hierunter fallen, sondern auch die Tatsache
der Behandlung selbst und der Patientenname. 5 Da Rechtsgut des § 203
StGB das Geheimhaltungsinteresse des Patienten ist, 6 besteht das Geheim-
nis in einer Verbindung zwischen der Tatsache und einer bestimmten Per-
son (des Patienten). Dabei ist es aber ausreichend, wenn die Tatsachen sich
einer Person zuordnen lassen, wenn diese also erkennbar ist. 7 Danach ist es
also zwingend, dass die Krankenschwester die telephonische Nachfrage, ob
eine bestimmte Person auf der Station sei, damit quittiert, dass sie das nicht
sagen dürfe (eine regelmäßig missachtete simple Folge der Schweige-
ptlicht 8).
Die Vorschrift fUhrt als fremdes Geheimnis auf "namentlich ein zum per-
sönlichen Lebensbereich gehörendes". Man könnte daher ,,'egen der im
ärztlichen Sprachgebrauch anzutreffenden Wendung vom "therapeutischen
Bereich" daran zweifeln, ob ein Geheimnis als ZUlU persönlichen Lebensbe-
reich gehörend gelten kann, wenn die betreffenden T'atsachen in den Be-
handlungsbereich fallen. Bei einer solchen Gegensatzbildung von "persönli-
chem" und "therapeutischem" Lebensbereich würde jedoch der juristische
Sprachgebrauch verkannt und schon der maßgebliche Wortlaut der Vo~
schrift missachtet. Dieser schützt anvertraute Geheimnisse umfassend, was
sich bereits an der lediglich exemplarischen Erwähnung des persönlichen
4 VgI. dazu im Einzelnen z.B. Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 3), § 203 Rn. 5 ff.
5 Dazu die Übersicht bei Ulsenheimer in: Laufs/Uhlenbruck (Fn. 2), § 70 Rn. 1; vgI. auch
Sommer/Tsambikakis in: Terbille (Hrsg.), MAH Medizinrecht, 2009, § 2 Rn. 112.
6 Hilgendorfin: Arzt/WeberlHeinrichlHilgendorf, Strafrecht Besonderer Teil, 2. Aufl. 2009,
§ 8 Rn. 29.
7 Bosch in: Satzger/Schmidt/Widmaier, StOB, 2009, § 203 Rn. 2.
8 Ebenso problematisch ist die Unart mancher niedergelassener Ärzte, aber auch Kliniken,
ihre Patienten in nur durch Vorhängen getrennten Kabinen zu behandeln, wobei der volle
Name und die diagnostizierte Erkrankung für jeden anderen Anwesenden hörbar sind.
442 Christoph Knauer
9 Niedermair in: Roxin/SchrothlKnauerlNiedermair (Fn. 1), S. 397~ so auch Braun (Fn. 3),
S. 281.
10 Wann diese Grenze überschritten ist, muss anhand der Umstände des Einzelfalls ermittelt
werden, vgl. Braun (Fn. 3), S. 282.
11 LK-Schünemann, 11. Aufl. (Stand: 1.8.2000, 35. Lieferung), § 203 Rn. 22.
12 Oder "Geheimhaltungswille": LK- Schünemann (Fn. 11), § 203 Rn. 24.
13 Vgl. dazu Ulsenheimer in: Laufs/Uhlenbruck (Fn. 2), § 70 Rn. 5 sowie Ulsenheimer Arzt-
strafrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2008, Rn. 365.
14 Vgl. Ulsenheimer Arzstrafrecht (Fn. 13), Rn. 364.
Der Arzt, die Kommunikation und das Strafrecht 443
nicht vor, wenn der Arzt auch hinsichtlich der Erhebungssituation wie ein
beliebiger Dritter Kenntnis erlangt,15 was aber bei Arzt-Patienten-
Gesprächen in der Regel zu verneinen sein wird.
Schweigen muss der Arzt auch über bei Hausbesuchen mitgehörte Fami-
liengespräche und Beobachtungen. Auch wenn er im Rahmen seiner Tätig-
keit etwa in einer Belegklinik oder einem Ärztehaus nur aufgrund der An-
wesenheit einer Person erkennt, dass diese dort in Behandlung ist, so muss
man diese Tatsache richtiger"veise als "Arztgeheimnis" betrachten.
Die Grenze all dessen liegt dort, wo der Arzt etwas als Privatperson er-
fährt. Wenn er etwa auf einer privaten Feier erkennt, dass der Gastgeber
offenbar an einer Gelbsucht leidet, oder er anlässlich eines Waldspazier-
gangs den Spitzenpolitiker aus der Praxis des berühmten HIV-Spezialisten
kommen sieht, muss er dies nicht für sich behalten. Auch private Gespräche
mit Freunden oder Bekannten, die in der Sprechstunde stattfinden, fallen
dementsprechend aus der Schweigepflicht heraus.
5. Unterlassen
Die Offenbarung des Geheimnisses kann auch durch Unterlassen verwirk-
licht werden. 21 Dies stellt sich vor allem hinsichtlich der Organisation in der
Klinik als problematisch dar. Der Tatbestand des § 203 StGB ist nämlich
auch dadurch verwirklicht, dass jemand durch herumliegende oder offen
(vor den einzelnen Behandlungsräumen) aushängende Patientenakten Pati-
entendaten erfährt. Damit können auch räumliche Verhältnisse dazu führen,
dass die nötige Geheimhaltung nicht gewahrt bleibt: Ist etwa die Anmel-
dung zu nah an Wartebereichen platziert oder sind die Patienten in Behand-
lungskabinen nur durch Vorhänge getrennt, so kann ein Bruch der Schwei-
gepflicht vorliegen, wenn ein anderer Patient Geheimnisse erfährt und dies
vom Klinikarzt bzw. dem Personal bedingt vorsätzlich in Kauf genommen
wurde?2 Am besten und sichersten für das Krankenhaus und den Niederge-
lassenen ist es daher, alle Behandlungsräume sowie die Anmeldung räum-
lich durch Türen getrennt unterzubringen.
6. Einwilligung
Allerdings ist der Arzt dann nicht strafbar, wenn der Patient in die Wei-
tergabe seiner Daten eingewilligt23 hat. Dies kann nicht nur ausdrücklich,
sondern auch konkludent dadurch erfolgen, dass das Verhalten des Patien-
19 Vgl. Meurer in: Szwarc (Hrsg.), Aids und Strafrecht, 1996, S. 133, 141.
20 Dazu Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 3), § 203 Rn. 28. Vgl. zum Praxisverkauf auch die
AUiführungen unten in Fn. 26.
Braun (Fn. 3), S. 290.
22 Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 3), § 203 Rn. 20.
23 Auf den Streit, ob eine Einwilligung tatbestandsausschließende oder nur rechtfertigende
Wirkung hat, braucht hier nicht näher eingegangen zu werden, vgl. dazu Roxin Strafrecht
Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. 2006, § 13 Rn. 12 ff.
Der Arzt, die Kommunikation und das Strafrecht 445
24 So auch Braun (Fn. 3), S. 293 f., der für das Vorliegen einer konkludenten Einwilligung
eine "gewisse Eindeutigkeit" fordert~ nach Quaas/Zuck Medizinrecht, 2. Aufl. 2008, § 72
Rn. 16 wird die Schweigepflicht insbesondere im Verhältnis Arzt/Krankenhausverwaltung
nicht hinreichend ernst genommen.
25 Bei schriftlichen Anfragen von Versicherungen ist zu empfehlen, im Zweifelsfall immer
das Vorliegen der Einwilligung zu überprüfen. Damit fährt der Arzt ohnehin am sichersten:
Fragt er den Patienten vor der telefonischen Konsultation eines Spezialisten, ob er "mal eben
einen Fachmann" befragen dürfe, so gilt bei Zustimmung die Einwilligung als erteilt. In allen
genannten Fällen gilt die Einwilligung natürlich nur partiell bzgl. der betreffenden Person oder
Institution als erteilt.
26 Vgl. BOHZ 115, 123~ 116, 268~ 122, 115. Insoweit Abkehr von der früheren Rspr., die
Übergabe von Patientenkartei und Behandlungsunterlagen an den Praxisnachfolger eines
Arztes liege regelmäßig im Interesse des einzelnen Patienten und entspreche seinem muttnaßli-
chen Willen (so BOH NJW 1974, 602). Die Abkehr ist auf die seit dem Volkszählungs-Urteil
eingetretene Rechtsentwicklung zurückzuführen. Insoweit ist der Schutz ärztlicher Behand-
lungsunterlagen nicht mehr ausreichend gewährleistet, wenn die Rechtfertigung ihrer Weiter-
gabe allein aus der objektiven Interessenlage der Betroffenen hergeleitet wird und die Beurtei-
lung dieser Interessenlage an die Stelle einer freien Entscheidung des Patienten tritt (so BOHZ
116, 268, 273, unter Heranziehung der Rechtsprechung des BVerfO[E 65, 1~ NJW 1991,
2411])~ in der Praxis wird inzwischen in Patientenformulare für den Fall einer Praxisnachfolge
eine Übergabeklausel eingefügt, vgl. Geilen in: Wenzel (Hrsg.), FA MedizinR, 2. Aufl. 2009,
S.424.
446 Christoph Knauer
7. Weitere Rechtfertigungsmöglichkeiten
Gerechtfertigt ist ein Bruch der ärztlichen Schweigepflicht aber auch un-
ter den Voraussetzungen des § 34 StGB (rechtfertigender Notstand), also
wenn dies zur Abwehr einer konkreten Gefahr für ein wesentlich höherran-
giges Rechtsgut erforderlich ist. Dies wird vor allem für folgende Konstella-
tionen diskutiert: erstens, wenn der Patient durch seine krankheitsbedingte
Fahrunfahigkeit eine Gefahr für Leib oder Leben der Verkehrsteilnehmer
28
darstellt ; sowie zweitens fur Fälle, in denen ein HIV-infizierter Patient
29
seinen Sexualpartner in die Gefahr der Ansteckung bringt . Das Informie-
ren des Sexualpartners durch den Arzt ist aber nur dann "angemessen" LS.d.
§ 34 StGB, wenn der Arzt zuvor alles Mögliche und Zumutbare getan hat,
um die an Aids erkrankte Person zur Aufklärung ihres Partners zu veranlas-
sen. 30 Nach richtiger Ansicht kann hier der Arzt auch bei Nichtbestehen
einer objektiven Gefahrenlage gemäß § 193 StGB analog (Wahrnehmung
berechtigter Interessen) gerechtfertigt sein, wenn er sich nicht sicher sein
31
kann, ob der Patient seinen Sexualpartner über die Erkrankung informiert.
52 OLG Schleswig NJW 1985, 1092 m. Anm. Wente NStZ 1986, 366: Fischer (Fn. 43),
§ 203 Rn. 30 b m.w.N.
53 Jakobs JR 1982, 359~ Schönke/Schröder-Lenckner (Fn. 3), § 203 Rn. 21, 71~ MK-
Cierniak (Fn. 17), § 203 Rn. 52.
54 RGSt. 61, 384~ 66, 273~ OOHSt. 3, 63; so auch noch Tröndle/Fischer StOB, 49. Aufl.
2000, § 203 Rn. 7 mit Verneinung des Anvertrauens.
454 Christoph Knauer
des § 53 StPO) folgen würde. Dies ist jedoch abzulehnen, da sich damit eine
Strafbarkeitslücke für den Fall ergeben würde, dass ein Sachverständiger
die bei der Begutachtung erfahrenen Geheimnisse des Probanden Dritten
gegenüber ausplaudert. 55
Nach der heute überwiegenden Auffassung gelten für die Frage des An-
vertrauens vielmehr die allgemeinen Regeln. 56 § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB ist
danach auf das Verhältnis zwischen dem ärztlichen Sachverständigen und
seinem Probanden uneingeschränkt anwendbar. Auch gegenüber dem staat-
lichen Auftraggeber ist der Sachverständige grundsätzlich zur Verschwie-
genheit verpflichtet. Wenn er in seinem Gutachten oder bei anderer Gele-
genheit Tatsachen offenbaren will, die ihm erst bei seiner Untersuchung
bekannt geworden sind, ist er auf einen Rechtfertigungsgrund angewiesen.
Es fällt also alles unter die Schweigepflicht, was der Arzt in dieser seiner
Eigenschaft wahrgenommen hat. Danach ist die Offenbarung von Geheim-
nissen des Untersuchten stets tatbestandsmäßig 57 , aber nicht unbefugt, so-
weit der Sachverständige durch einen "amtlichen" (gerichtlichen) Auftrag
(oder durch Einwilligung - dazu sogleich) gedeckt ist. 58 Er ist also im Um-
fang des Untersuchungsauftrags durch die Pflicht zur Gutachtenerstattung
(§ 75 StPO) gerechtfertigt. 59
Fehlt eine solche Pflicht zur Gutachtenerstattung - etwa bei Privatgutach-
ten, ist der Arzt immer auf die Einwilligung des Probanden angewiesen.
Mangels staatlichen Auftrags wird ihm nur die Einwilligung des Patienten
eine Rechtfertigung der Weitergabe von Geheimnissen ermöglichen. Auf
eine Offenbarungsbefugnis wie vor Gericht oder anderen staatlichen Stel-
len, kann sich der Arzt dann nicht stützen.
Zu beachten ist auch, dass Kenntnisse, die allein aus früheren Tätigkeiten
als Sachverständiger stammen, beispielsweise als behandelnder Arzt, nicht
offenbart werden dürfen, wozu auch Erkenntnisse aus früheren Gutachtens-
aufträgen zählen. 60
55 LK-Schünemann (Fn. 11), § 203 Rn. 125~ Fischer (Fn. 43), § 203 Rn. 40.
56 BGHSt 38, 369, 370~ BGHZ 40, 288~ Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 3), § 203 Rn. 16~
Lackner/Kühl (Fn. 34), § 203 Rn. 23~ Fischer (Fn. 43), § 203 Rn. 40~ Braun (Fn. 3), S. 289~
Sommer/Tsambikakis (Fn. 5), § 2 Rn. 112.
57 Fischer (Fn. 43), § 203 Rn. 40~ Lackner/Kühl (Fn. 34), § 203 Rn. 23~ Krauß ZStW 1997,
81, 92~ and. Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 3), § 203 Rn. 16.
58 BGHZ 40, 288~ BGHSt 38, 369~ LK-Schünemann (Fn. 11), § 203 Rn. 125~ Fischer
(Fn. 43), § 203 Rn. 40~ Lackner/Kühl (Fn. 34), § 203 Rn. 23.
59 Anders Kühne JZ 1981,647 ff., der für eine Teilung der Rolle als Berufsausübender und
als Sachverständiger spricht~ dagegen Dencker NStZ 1982, 460~ LK-Schünemann (Fn. 11),
§ 203 Rn. 125. .
60 BGHSt 38, 369, 371~ Fischer (Fn. 43), § 203 Rn. 40~ Lackner/Kühl (Fn. 34), § 203
Rn. 23.
Der Arzt, die Kommunikation und das Strafrecht 455
63 BGHSt 22, 268, 271 ~ BGH NStZ 1993, 245~ Löwe-Rosenberg/Gollwit=er StPO, 25. Aufl.
1999, § 261 Rn. 21~ Jvfeyer-Goßner (Fn. 61), § 261 Rn. 9.
64 KK-Senge (Fn. 61), Vor § 72 Rn. 4; Löwe-RosenbergiKrause (Fn. 61), Vor § 72 Rn. 11.
65 BGHSt 18, 107, 108.
66 BGH VRS 10,287; RG HRR 32,213.
67 BGHSt 9, 292~ BGH MDR 1977,108.
68 BGH NStZ 2002,532,533.
Der Arzt, die Kommunikation und das Strafrecht 457
70 BGHSt 9, 292, 293 f.~ 13, 1~ 18, 107~ 20, 164~ 22, 268, 271.
Der Arzt, die Kommunikation und das Strafrecht 459
71 BGHZ 40, 288, 294; LK-Schünemann (Fn. 11), § 203 Rn. 126.
72 Fischer (Fn. 43), § 203 Rn. 40.
73 Bosch (Fn. 7), § 203 Rn. 44 fordert daher ein Beweisverwertungsverbot.
74 Analog §§ 163a Abs. 4 S. 2, 136 Abs. 1 S. 2, 136a Abs. 5 StPO. Vgl. BGHSt 35,32,35;
LK-Schünemann (Fn. 11), § 203 Rn. 126;
75 LK-Schünemann (Fn. 11), § 203 Rn. 126 m.w.N.
76 Fischer (Fn. 43), § 203 Rn. 40.
460 Christoph Knauer
f) Zusammenfassung
Die Offenbarungsbefugnis des ärztlichen Sachverständigen ist kurz zu-
sammenzufassen: Alle Tatsachen, die der Sachverständige durch seine Un-
tersuchung ermittelt hat, unterliegen der Schweigepflicht aus § 203 StGB.
Das gilt natürlich erst recht für solche Umstände, die ihm vor seiner Bestel-
lung zum Sachverständigen oder unabhängig davon als Arzt bekannt ge-
,vorden sind.
Der Sachverständige darf (bzw. muss [§ 75 StPO]) seinem staatlichen
Auftraggeber (Staatsanwaltschaft, Gericht) nach Maßgabe der an ihn ge-
richteten zulässigen Fragen Befundtatsachen mitteilen. Diese Mitteilungs-
pflicht gibt ihm eine Offenbarungsbefugnis gern. § 203 StGB. Alle weiteren
Geheimnisse des Probanden, die nicht zu den Befundtatsachen zählen, darf
der Sachverständige jedenfalls nicht in seiner Funktion als Gutachter offen-
baren. Diese Zusatztatsachen müssen dann in anderer (zulässiger) Weise in
die Hauptverhandlung eingeführt werden. Dies geschieht, indem der Gut-
77
achter dann als "normaler" Zeuge vernommen wird.
v. Schluss
Handelt der Arzt nach ärztlich-ethischen Vernunftmaßstäben, basierend
auf einem vertrauensvollen Arzt-Patienten-Verhältnis, und verlässt er sich
in Zweifelsfällen auf ein zeitaufwendiges "Mehr" als ein routinemäßiges
"Weniger" an Gespräch mit dem Patienten, so wird er sich ohnehin kaum je
eine Strafanzeige gern. § 203 StGB einhandeln. Die Kommunikation mit
dem Patienten ist also der sicherste Weg, die Kommunikation über ihn
risikolos zu ermöglichen.
77 BGHSt 13,1; 18, 107; 20, 164.; Fischer (Fn. 43), § 203 Rn. 40; Lackner/Kühl (Fn. 34), §
203 Rn. 23; LK-Schünemann (Fn. 11), § 203 Rn. 126.
Rechtmäßige Tötung im Krieg:
zur Fragwürdigkeit eines Tabus
ALBINEsER
I. Erkenntnisinteresse
Wenn man es für einen Festschriftbeitrag als gebührend ansieht, sich mit
einer bereits von dem zu Ehrenden behandelten Thematik auseinanderzuset-
zen, so hätte es im Falle von Heinz Schöch nahe gelegen, sich aus dem
Problembereich der Tötungsdelikte mit der Neuregelung der Patientenver-
fügung zu befassen. Denn nicht nur, dass sich der verehrte Jubilar, wie
seinem reichhaltigen Schriftenverzeichnis zu entnehmen, schon seit Ende
der achtziger Jahre mehrfach mit dem Recht auf ein menschenwürdiges
Sterben (1986, 1987, 1997, 1999, 2005, 2007) und der Verantwortlichkeit
bei Suizid (1996, 2007) beschäftigt hat; auch war er bereits am Altemativ-
Entwurf eines Sterbehilfegesetzes (1986) wie auch neuerdings maßgeblich
an einem ergänzenden Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung (2005) beteiligt,
sowie nicht zuletzt mit der Leitung der dem Thema "Patientenautonomie
und Strafrecht bei der Sterbebegleitung" gewidmeten Strafrechtlichen Ab-
teilung des 66. Deutschen Juristentages von 2006 in Stuttgart betraut. Nach-
dem sich vor Kurzem nun selbst der Gesetzgeber nicht mehr den öffentli-
chen Rufen nach einer gewissen Regelung des so genannten
Patiententestaments verschließen konnte, wäre es sicherlich reizvoll gewe-
sen, die in § 1901 a BGB durch das Dritte Änderungsgesetz des Betreuungs-
rechts vom 29.07.2009 eingefügte "Patientenverfügung" im L,ichte der
Schriften von Heinz Schöch zu beleuchten und auf möglicherweise fortbe-
stehende Desiderate aufmerksam zu machen.
Wenn ich mich trotzdem für eine andere Thematik entschieden habe,
dann zum einen deshalb, weil die Problematik der Patientenautonomie in
letzter Zeit derart viel Aufmerksamkeit erfahren hat, dass ich dazu in dem
hier vorgegebenen Rahmen schwerlich wesentlich Neues hätte sagen kön-
nen. Zum anderen aber hat mich demgegenüber die publizistisch festzustel-
lende Verlegenheit aufgeschreckt, mit der teils non-chalant, vielleicht aber
eher rat- wie sprachlos auf die absichtliche, versehentliche oder lediglich
"kollaterale" Tötung von Menschen in kriegerischen Auseinandersetzungen
462 Albin Eser
1 Statt vieler vgl. Rath Darf die Bundeswehr gezielt töten?, in: die tageszeitung (taz) vom
14.12.2009, Zielcke Unschuldige Feinde im Visier, in: Süddeutsche Zeitung vom 19.02.2010. -
Auch von dem derzeit nur in Form einer Pressemitteilung zugänglichen Einstellungsbeschluss
des Generalbundesanwalts im Ermittlungsverfahren gegen Oberst Klein (8/2010 vom
19.04.2010) wird weder eine abschießende Klärung der Rechtslage noch eine öffentliche
Beruhigung zu erwarten sein: vgl. nur Kreye Niederlage im Kampf um Herzen und Köpfe, in:
Süddeutsche Zeitung vom 21.04.2010.
Rechtmäßige Tötung im Krieg: zur Fragwürdigkeit eines Tabus 463
Wenn auf diese Weise das Tabu rechtmäßiger Tötung im Krieg als des
Hinterfragens würdig bewusst gemacht wird, hoffe ich mich auch damit im
Interessenkreis des verehrten Jubilars zu bewegen, hat doch Heinz Schöch
sein Engagement fur diesen Rechtsbereich sowohl durch seine Beschäfti-
gung mit der Todesstrafe (2004) als auch erst jüngst wieder durch aktive
Mitwirkung am "Alternativ-Entwurf Leben" (2008) eindrucksvoll unter
Beweis gestellt.
11. Behandlungsstand
Wie schon zuvor angedeutet, scheint Töten im Krieg als derart selbstver-
ständlich angesehen zu werden, dass man sich für seine Rechtfertigung eine
besondere Begründung meint ersparen zu können.
Von dieser Einschätzung vermag ich mich, wie rückblickend einzuge-
stehen ist, auch selbst nicht ganz auszunehmen, glaubte ich mich doch bis-
lang mit Verweisen auf überkommenen Kriegsgebrauch begnügen zu kön-
nen, ohne diesen auf seine Legitimationskraft hin zu hinterfragen. Immerhin
mag ich aber fur mich in Anspruch nehmen, bereits bei meiner ersten Be-
fassung mit Tötung im Krieg, als ich rechtsgeschichtlich den Wandlungen
des strafrechtlichen Lebensschutzes nachging, 2 von deren offenbar selbst-
verständlichen Rechtmäßigkeit überrascht gewesen zu sein, wenn ich fest-
stellte: "Dass die Tötung des Kriegsfeindes auch ohne ausdrückliche Zulas-
sung für gerechtfertigt gehalten wurde, (sei) zwar als Folge menschlicher
Machtlüsternheit bedauerlich, aber aufgrund langer Tradition nicht verwun-
derlich". 3 An dieser zunächst allein fur die Rechtslage zur Zeit der Constitu-
tio Criminalis Carolina von 1532 getroffenen Feststellung hat sich auch in
der Folgezeit nichts Wesentliches geändert, so dass sich die gerne beschwo-
rene "Heiligkeit" des Lebens wie auch die oft recht leichthändig behauptete
"Absolutheit" seines Schutzes 4 nach wie vor durch die drei klassischen
Ausnahmen vom Tötungsverbot -- so neben der tödlichen Notwehr und der
(noch weithin praktizierten) Todesstrafe eben auch die Tötung im Krieg -
relativiert sehen muss. 5 Vielleicht ist es von daher als resignatives Abfinden
2 Eser Zwischen "Heiligkeit" und "Qualität" des Lebens, in: Gernhuber (Hrsg.), Tradition
und Fortschritt im Recht. FS gewidmet der Tübinger Juristenfakultät, 1977, S. 377-414.
3 A.a.O., S. 394.
4 Wie neuerdings namentlich auch von lngelfinger Grundlagen und Grenzbereiche des Tö-
tungsverbots, 2004, S. 7 ff. moniert.
5 Eser (Fn. 2), S. 394; zu dieser Relativität des Lebensschutzes vgl. au'ch Eser Recht und
Schutz des Lebens, in: Goerres Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 3, 7. Aufl. 1987, Sp.
858-862 (859), sowie ders. Auf der Suche nach dem mittleren Weg, in: Langer/Laschet
(Hrsg.), Unterwegs mit Visionen, 2002, S.117-139 (122 ff., 134 f.).
464 Albin Eser
mit ohnehin Unvermeidlichem erklärbar, dass ich mich bislang mit Hinwei-
sen auf völkerrechtliches Kriegsrecht und diesbezügliche Literatur zufrie-
den gegeben habe. 6
Im Vergleich dazu scheint für viele das Töten im Krieg noch viel selbst-
verständlicher zu sein, indem man es offenbar nicht einmal einer ausdrück-
lichen Rechtfertigung bedürftig hält. Wenn man sich dazu auf die Durch-
sicht des gängigen Schrifttums zu den Tötungsdelikten beschränkt -
wenngleich unter dem Vorbehalt, dabei möglicherweise etwas an versteck-
ter Stelle Stehendes oder allzu verklausuliert Ausgedrücktes übersehen zu
haben -, lässt sich die Feststellung wagen, dass sich die Tötung im Krieg
wohl überwiegend überhaupt nicht oder allenfalls beiläufig behandelt fin-
det. Das gilt nicht nur für die mit Tötungsdelikten befasste Lehr- und
Kommentarliteratur,7 sondern sogar für monografische Arbeiten. 8 Auch
steht damit die Strafrechtslehre keineswegs allein; vielmehr meinen selbst
hochrangige Grundrechtskommentare sich eine Rechtfertigung tödlicher
Kriegshandlungen ersparen zu können. 9 Ähnliche Blickverengungen sind
auch in monografischen Auseinandersetzungen mit verfassungsrechtlichen
14 Wie bei Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht, 3. Aufl. 2009, S. 262 ff. und
Werle Völkerstrafrecht, 2. Aufl. 2007, S. 201 ff., 384 ff., ähnlich wie bereits in meinem Beitrag
zu: "Defences" in Strafverfahren wegen Kriegsverbrechen, in: Schmoller (Hrsg.), FS Triffterer,
1996, S. 755-775. Hierzu ließen sich auch die bereits erwähnten Monografien von Ambos
(Fn. 11) und Nill-Theobald (Fn. 13) rechnen.
15 Wie bei lescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996,
S. 328 (mit Hinweis aufBGHSt 23, S. 103 [unten Fn. 24]~ Paeffgen Nomos Kommentar StGB,
Bd. 1,2. Aufl. 2005, Vor § 32 Rn. 206~ vgl. auch Verdross/Simma Universelles Völkerrecht,
3. Aufl. 1984, S. 907.
16 So Fischer StGB, 57. Aufl. 2010, § 34 Rn. 11 a. Vgl. auch Schult=e-Fielit= in: Dreier
(Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 2004, Art. 2 II Rn. 46 zu Lebensgefahrdung bei militärischen
Aktionen (ohne dass aber dazu Rechtfertigungsgründe erörtert würden).
17 Vgl. Maurach Deutsches Strafrecht Besonderer Teil, 1. Aufl. 1954, S. 21 ff. bzw. Mau-
rach/Schroeder/Maiwald, 10. Aufl. 2009, S. 37 ff.
181ähnke in: Leipziger Kommentar zum StGB, 11. Aufl. Bd. 5,2005, § 212 Rn. 16 f.
19 In Vertiefung der Vorauflagen Lenckner/Sternberg-Lieben in: Schönke/Schröder, StGB~
28. Aufl. (im Druck), Vor § 32 Rn. 91.
20 Cassese International Criminal Law, 2003, S. 219 ff.
21 Ipsen Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, S. 1230 f., S. 1240 ff.
Rechtmäßige Tötung im Krieg: zur Fragwürdigkeit eines Tabus 467
Kiel 22 und Dresden 23 wie auch fur die üblicherweise zitierten neueren Ent-
scheidungen des Bundesgerichtshofs zur Erschießung von Kriegsgeiseln 24 .
111. Legitimationstheorien
Sucht man nach einer Erklärung für die weit verbreitete Selbstverständ-
lichkeitseinstellung, mit der das Töten im Krieg ohne weiteres Begrün-
dungsbemühen hingenommen wird, so könnte sie, wie sich als Erstes auf-
drängt, in einem unreflektierten Festhalten an einer als menschheits-
geschichtlich nicht weiter zu hinterfragenden Gewohnheit zu finden sein. 25
Doch was schon immer so war, muss nicht deshalb richtig gewesen und
weiter hin gut sein - und dies schon deswegen nicht, weil sowohl die Gren-
zen des Krieges wie auch der sich gegenüberstehenden Kombattanten im-
mer fließender und die als "Kollateralschäden" verharmlosten Auswirkun-
gen auf unbeteiligte Zivilpersonen immer alarmierender werden. Aber
vielleicht geht es, um sich solchen drängenden Fragen nicht stellen zu müs-
sen, gerade um deren bewusstes Verdrängen? Auch gilt es ja nicht nur, eine
Rechtfertigung für das aktive Töten von Feinden zu finden, vielmehr will
auch das zu erduldende und seinerseits nicht einklagbare Getötetwerden
eigener Soldaten und Bürger erklärt sein.
Um es gleich unumwunden zuzugeben: auch ich vermag dazu hier keine
endgültigen Antworten zu geben. Zumindest aber sollte mit dem Hinterfra-
gen überkommener Positionen begonnen werden, und sei es auch nur, um
unhaltbar Gewordenes auszuscheiden und möglicherweise Weiterführendes
aufzuzeigen.
Wenn in diesem Sinne nachfolgend einige - sei es ausdrücklich vertretene
oder eher nur unterschwellig zugrunde liegende - Legitimationstheorien
zum Töten im Krieg in Frage gestellt werden sollen, so ist dabei ein häufig
übersehener Unterschied im Auge zu behalten: Aus welcher Rechtsquelle
sich Töten im Krieg legitimieren lässt (wie etwa aus völkerrechtlichem
22 OLG Kiel, SJZ 1947, Sp. 323-330, mit - entgegen seiner im Übrigen scharf ablehnenden
Kritik offenbar zustimmender Anmerkung von Arndt, S. 333-337.
23 OLG Dresden, SJZ 1947, Sp. 519-521, mit diesbezüglich ebenfalls zustimmender An-
merkung von A. Henneka Sp. 522-527.
24 BGHSt 23 (1969), 103 bzw. 49 (2005), 189, mit diesbezüglich zustimmenden Anmerkun-
gen von Gribbohm NStZ 2005, 38 f. und Bröhmer/Bröhmer NStZ 2005, 39 f.
25 Offenbar erschien, wie auch von Wo{ff Gewaltmaßnahmen der Vereinten Nationen und
die Grenzen der strafrechtlichen Rechtfertigung der beteiligten deutschen Soldaten, Neue
Zeitschrift für Wehrrecht 1996, 9-21, festgestellt, die Rechtmäßigkeit von Tötungen im Krieg
"im Ergebnis so klar, dass die dogmatische Herleitung kaum diskutiert wird" (S. 15). Im
gleichen Sinne ist auch bei Dreier zur Tötungsproblematik im Krieg von "nicht gerade über-
bordender Literatur" die Rede (Fn. 10, S. 262 Anm. 18).
468 Albin Eser
verboten sind,34 dann wäre aus dem mangelnden Verbot die Erlaubtheit der
Tötung im Kriege als solcher zu entnehmen. 35
In dieser indirekten Legitimierung eines Tötungsrechts im Krieg aus dem
Fehlen eines ausdrücklichen Tötungsverbots, wie dies meist unausgespro-
chen der traditionellen Vorstellung zugrunde liegen dürfte, scheint man sich
- über ungeschriebenen Kriegsgebrauch und die nur partiellen Verbote
bestimmter Tötungsmittel der Haager Landgerichtsordnung und deren ver-
schiedenartiger Vorläufer und Nachfolger36 hinaus - nicht zuletzt auch
durch die neueren Statuten der internationalen Strafgerichtsbarkeit gestärkt
sehen. Denn wenn beispielsweise in Art. 3 des Statuts fur den Internationa-
len Strafgerichtshof fur das ehemalige Jugoslawien von 1993 oder in Art. 8
des Rom-Statuts für den Internationalen Strafgerichtshof von 1998 weder
das Töten von Kriegsgegnern noch von mitbetroffenen Zivilisten als solches
verboten ist, sondern vorsätzliche Tötung nur bei bestimmten Verstößen
gegen Gesetze oder Gebräuche des Krieges als "Kriegsverbrechen" strafbar
ist, dann scheint es in der Tat nahe zu liegen, alle nicht ausdrücklich verbo-
tenen Tötungsmodalitäten - und somit insbesondere das Töten als solches -
im Krieg für erlaubt zu halten. 37
Doch so sehr sich solche Schlussfolgerungen aufdrängen mögen und
möglicherweise von all jenen gezogen werden, die sich für die Rechtmäßig-
keit der Tötung im Krieg schlicht auf Völkerrecht und/oder Kriegsgebrauch
berufen,38 sind sie wirklich zwingend und überzeugend? Ganz abgesehen
von der noch zu hinterfragenden Ratio einer kriegsbedingten Tötungsbe-
rechtigung, sind gegen deren Legitimierung auf indirektem Wege schon
gewisse rechtstechnische Zweifel angebracht. Gewiss: für erlaubt zu be-
trachten, was nicht verboten ist, klingt nach Freiheitlichkeit. Doch kann
34 Näher dazu Geter Kampfmittel und Kampfnlethoden in bewaffneten Konflikten und ihre
Vereinbarkeit mit dem humanitären Völkerrecht, in: Hasse u.a. (Hrsg.), Humanitäres Völker-
recht, 2001, S. 78-109.
35 Ohne sich ausdrücklich gegen Berber zu wenden, wird demgegenüber von lpsen (Fn. 21),
S. 1240 zwar festgestellt, dass die Beschränkung des kodifizierten Rechts auf Verbote nicht
bedeute, dass alle Schädigungshandlungen, die nicht verboten sind, erlaubt seien; die von ihm
angeführten Beschränkungen in der Wahl der Mittel und Methoden der Kriegsführung wie
auch die erforderliche Beachtung des Prinzips der Humanität stellen aber die offenbar als
selbstverständlich erlaubte Tötung im Krieg jedenfalls im Grundsatz nicht in Frage.
36 Näher zu dieser Entwicklung Bothe Friedenssicherung und Kriegsrecht, in: Graf Vitzthum
(Hrsg.), Völkerrecht, 4. Aufl. 2007, S. 637-725 (643 ff, 683 ff); van der Wolf/van der Wolf
Laws ofWar and International Law, 2002.
37 In diesem Sinne offenbar die Interpretation des geltenden Völkerrechts bei Kremnitzer
Präventives Töten, in: Fleck (Hrsg.), Rechtsfragen der Terrorismusbekämpfung durch Streit-
kräfte, 2004, S. 201-222 (204 f).
38 Neben den oben in Fn. 13 Genannten wären hier wohl auch anzuführen: Gössel/Dölling
(Fn. 12), lähnke (Fn. 18), Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 19), Maurach/Schroeder (Fn. 17).
Vgl. ferner unten zu Fn. 62.
Rechtmäßige Tötung im Krieg: zur Fragwürdigkeit eines Tabus 471
man sich auf diese Maxime auch dann berufen, wenn es zur Gestattung von
etwas an sich Verbotenem dienen soll? Wäre es nicht ein Trugschluss zu
meinen, durch Aufhebung eines Tötungsverbots ein Tötungsrecht einzu-
räumen, sei nichts anderes, als Freiheit gegen Beschränkungen durch Ver-
bote zu schützen? Während bei Letzterem von einer an sich unbeschränkten
Freiheit auszugehen ist, wie sie zum Töten gerade nicht gegeben ist, wird
bei Legitimierung eines kriegsbedingten Tötungsrechts aus dem Fehlen
eines ausdrücklichen Tötungsverbots verkannt, dass es schon nach allge-
meinen Rechtsgrundsätzen und zudem nach dem strafrechtlichen Tötungs-
verbot keine Tötungsfreiheit gibt, diese vielmehr von vornherein einge-
schränkt ist und etwaige Ausnahmen davon ihrerseits einer Begründung
bedürfen, die aber nicht schon allein irn Fehlen eines ausdrücklichen
kriegsbezüglichen Tötungsverbots gesehen \verden kann. Kurzum: da das
Töten von Menschen grundsätzlich verboten (und dadurch tödliche Frei-
heitsentfaltung von vornherein eingeschränkt) ist, lässt sich kriegsbedingtes
Töten nicht einfach aus dern Fehlen eines ausdrücklichen Tötungsverbots
im Kriegsrecht legitimieren. Vielmehr bedarf auch das Töten im Krieg, um
vom grundsätzlichen Tötungsverbot ausgenommen zu sein, einer materialen
Ratio, die nicht ohne weiteres aus einem rechtstechnischen Umkehrschluss
zu gewinnen ist.
Solche Vorbehalte sind auch nicht durch Verweis auf die gesetzesförmige
Pönalisierung bestimmter Tötungsmodalitäten als Kriegsverbrechen ausge-
räumt, wie dies in den zuvor erwähnten Statuten des Jugoslawien-Tribunals
und des Internationalen Strafgerichtshofs geschehen ist. Im Gegenteil: woll-
te man alles fur erlaubt halten, was nicht als "Kriegsverbrechen" für strafbar
erklärt ist, dann würde das Tötungsrecht in bewaffneten Konflikten sogar
noch eine Erweiterung erfahren. Denn nachdem nicht alles, was durch die
Haager Landkriegsordnung und die einschlägigen Genfer Konventionen
verboten ist, zugleich als Kriegsverbrechen strafbar ist,39 würde im Um-
kehrschluss jedwedes Töten im bewaffneten Konflikt erlaubt sein, solange
es nur nicht die Schwere eines Kriegsverbrechens erreicht. pamit aber wür-
de die mit der Kriminalisierung bestimmter Verletzungen des ius in beUo
beabsichtigte Verstärkung des Schutzes von Komba~tanten und Zivilperso-
nen hinsichtlich ihres Lebens gerade kontraproduktiv geschwächt: indem
das Tötungsrecht als solches erweitert würde. Ein solcher Rückschritt im
Streben nach Humanisierung des - wenn schon nicht zu vermeidenden -
Krieges kann nicht gewollt gewesen sein. Deshalb l~sst sich Töten iI? Krieg
39 Vgl. Dahm/DetbrückJWoljrum (Fn. 13), S. 1052 ff.; Werte (Fn. 14), S. 389 f.
472 Albin Eser
nicht einfach damit legitimieren, dass alles erlaubt sei, was kein Kriegs-
verbrechen darstellt. 40
Wie aber wäre dann Tötung im Krieg auf andere Weise zu legitimieren?
Wenn man sich dafür nicht einfach mit der formalen Berufung auf Völker-
recht und Kriegsgebrauch zufrieden geben will,41 zumal nlit einer solchen
weit verbreiteten Scheinlegitimierung lediglich eine mögliche Rechtsquelle
benannt, aber damit noch keine materiale Begründung dafür geliefert ist,
warum und wann grundsätzlich verbotenes Töten gleichwohl als rechtmäßig
zu akzeptieren sei, dann wird man nicht umhin können, vorzufindende Er-
klärungen zur Tötung im Krieg auf ihren expliziten Gehalt oder ihre mögli-
cherweise unausgesprochen zugrunde liegende Ratio hin zu untersuchen.
Um es gleich vorweg zu nehmen, ist freilich auch davon nur wenig Ergie-
biges zu erwarten. Immerhin 'väre aber möglicherweise Erhellendes aus der
Art von Konstruktionen zu gewinnen, mit denen man rechtmäßiges Töten
im Krieg mit dem strafrechtlichen Tötungsverbot in Einklang zu bringen
versucht. Dabei sind im Wesentlichen drei unterschiedlich weit gehende
Abstufungen erkennbar.
Eine Vereinbarkeit von grundsätzlichem Tötungsverbot und militärischer
"Lizenz zum Töten" scheint am leichtesten und weitestgehenden dadurch zu
erreichen sein, dass man tödliche Kriegshandlungen von vornherein von der
Garantie des Lebensschutzes ausgenommen sieht: wie etwa dadurch, dass
Anderes zu meinen geradezu für "absurd" erklärt wird, weil Krieg "auf die
Tötung von Menschen angelegt" sei,42 oder dass gegnerische Kombattanten
als "naturgemäß legitime ,militärische Ziele'" verstanden werden;43 denn
damit wird dem Töten im Krieg schon durch immanente Einschränkung des
Tötungsverbots der Makel der Rechtswidrigkeit genommen. Eine solche
"quasi-tatbestandliche Begrenzung des Lebensgrundrechts"44 dürfte auch
dort gemeint sein, wo tödliche Aktionen als "vom Kriegsrecht gewohnheits-
40 Im gleichen Sinne auch lpsen (Fn. 21), S. 384 unter Bezugnahnle auf die sog. Mar-
tens' sche Klausel.
41 Vgl. oben in und zu Fn. 38.
42 So besonders drastisch Matthias Hartwig (laut Markus Decker Ist es nun doch ein Krieg?,
in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 11.2.2010). Auch für lose! lsensee wäre es "absurd", jeden
Pulverschuss als "Grundrechtseingriff" gegen einen betroffenen feindlichen Soldaten zu quali-
fizieren und dafür eine grundrechtliche Güterabwägung zu erfordern (in: IsenseelKirchhof
[Hrsg.], Handbuch des StaatsRechts, Bd. 2,2. Aufl. 2000, § 115 Rn. 90). Vgl. auch die unten
Fn. 55 zitierte Bemerkung von '/febel.
43 So Oeler (Fn. 34), S. 88.
44 Wie sie Sachs in: Stern (Hrsg.), Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd.
11112, 1994, Bd. lVII, 2006, S. 151 f., aus der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zum
Verteidigungsauftrag des Art. 87a Abs. 1 S. 1 Grundgesetz meint herleiten zu können
Rechtmäßige Tötung im Krieg: zur Fragwürdigkeit eines Tabus 473
rechtlich erlaubt" befunden werden 45 , wenn sie "im Rahmen der Kriegsfüh-
rung straflos zu sein pflegen"46, wenn von (auch) "legitimierender Wir-
kung" der Kriegsregeln gesprochen wird,47 oder wenn in kriegerischen
Auseinandersetzungen das Tötungsverbot als "außer Kraft gesetzt" oder als
"aufgehoben" betrachtet48 und darin ein "rechtliches Privileg" für Kombat-
tanten gegen Strafverfolgung gesehen wird. 49
Was aber ist von derartigen Ausgrenzungen tödlicher Militäraktionen aus
dem Tötungsverbot zu halten? Genau besehen beschreiben sie lediglich eine
(suspendierende) Wirkung, ohne dass aber dafür auch schon eine Begrün-
dung geliefert würde. Auch wenn es unbestreitbar zur Gewohnheit gewor-
den war, dass "an overall licentiousne~s in the use of force in the interatio-
nal arena was taken for granted",50 muss es Gründe für eine sich daraus
ent,vickelnde "Lizenz zum 'Töten" gegeben haben. Könnte ein Souveräni-
tätsdenken dahinter stehen, das nicht nur interne rv1acht verleiht, sondern
Krieg als legitimes Mittel staatlicher Machtpolitik versteht 51 und dement-
sprechend auch grenzüberschreitende Gewaltrechte einräumt? Aber wenn
schon, soll dies auch grundlos schlicht aus eigener Machtenfaltung gesche-
hen dürfen? Oder wäre dafür nicht wenigstens ein "gerechter Glund" zu
fordern - was natürlich zu überwunden geglaubten Auseinandersetzungen
um den "gerechten Krieg" zurückführen müsste? Im Grunde ist eine solche
Rückkehr ja bereits eingeleitet: so durch das grundsätzliche Ge'A'altverbot in
Art. 2 Nr. 4 Charta der Vereinten Nationen, nach deren Art. 51 die Abwehr
eines bewaffneten Angriffs nur "zur individuellen oder kollektiven Selbst-
verteidigung" erfolgen darf (und selbst dieses "naturgegebene Recht" weite-
ren formalen Beschränkungen unterliegt),52 wie auch durch die vom huma-
nitären Völkerrecht entwickelten Tötungseinschränkungen gegenüber
45 BGHSt 49, 189 (193); im gleichen Sinne hatte bereits BGHSt 23, 103 (106) in Bezug auf
Kriegsrepressalien von (keinen) "dem Kriegsgebrauch entsprechenden - rechtmäßigen -
Kampfhandlungen" gesprochen. Vgl. aber dazu auch unten zu Fn. 61.
46 OLG Dresden SJZ 1947, Sp. 520 (521).
47 Botheo (Fn. 36), S. 686; im gleichen Sinne wohl auch Zimmermann/Geiß (Fn. 13), § 8
VStGB, Rn. 248 (S. 701).
48 Werle (Fn. 14), S. 378 bzw. SafferlinglKirsch (Fn. 13), S. 85, wobei dies offenbar aus der
zuvor festgestellten grundsätzlichen Erlaubtheit der Tötung feindlicher Kombattanten abgelei-
tet wird (vgl. aber dazu auch unten zu Fn. 61). Obgleich eine solche Begründung letztlich nicht
selbst akzeptierend, findet sich auch bei Wo(ff(Fn. 25), S. 12 unter Berufung auf Carl SchmU!
für den Kriegsfall als "Ausnahmezustand" eine Aufhebung des Straf:rechtssystems erwogen.
49 Safferling/Kirsch (Fn. 13), S. 82. Ähnlich ist im Interview von Michael Bothe ("Die Tö-
tung von Zivilisten muss hingenommen werden", in: Berliner Zeitung vom 10.02.2010) von
"Privileg der Kombattanten" die Rede.
50 Wie von Dinstein National and Collective Self-defense, in: Cherif BassiounilNanda
(Hrsg.), A Treatise on International Criminal Law, Vol. I, 1973, S. 273-286 (273) moniert.
51 Wie von Dahm/Delbrück/Wolfrum (Fn. 13), S. 818 f. beschrieben.
52 Näher dazu Bothe (Fn. 36), S. 652 ff.; Ipsen (Fn. 21), S. 1072 ff., 1086 ff.
474 Albin Eser
53 Wie insbesondere aufgrund der Haager Landkriegsordnung von 1907 und dem IV. Genfer
Abkommen mit seinen Zusatzprotokollen von 1949~ vgl. im Einzelnen Ipsen (Fn. 21), S. 1241
ff., 1251 ff.
54 Wie beispielhaft von Webe! Der Allgemeine Teil des deutschen Strafrechts, 1940, S. 33
formuliert.
55 Wetze! a.a.O., S. 34~ geradezu sarkastisch in diesem Sinne vgl. bereits FVebe!s Studien
zum System des Strafrechts, in: ZStW 58 (1939), 491-566 (527), wonach "der Gedanke, dass
das Heer im Kampf um Leben und Tod lauter strafrechtliche Tatbestände - wenn auch recht-
mäßig - verwirkliche, zu absurd, zu papieren konstruiert (sei), als dass er richtig sein könnte"
(vgl. aber dazu auch unten Fn. 59). Im gleichen Sinne für Behandlung tödlicher Kriegshand-
lungen als "sozialadäquat" Niethammer, in: 1. v. Olshausen's Kommentar zum StGB, 12. Aufl.
1942, Vorbem. 4 vor § 51, sowie selbst noch in den 50er Jahren von Weber Negative Tatbe-
standsmerkmale, in: Bockelmann u.a. (Hrsg.), FS Mezger, 1954, S. 183-192 (186, 188)~
Schaffstein Soziale Adäquanz und Tatbestandslehre, ZStW 72 (1960), 369-396 (371)~ ferner
zeitweilig auch Mayer Der Verbrechensbegriff, in: Deutsches Strafrecht 1938, S. 73-107 (97)~
vgl. aber dazu auch unten Fn. 60.
Rechtmäßige Tötung im Krieg: zur Frag\vürdigkeit eines Tabus 475
61 In diesem Sinne eines "Rechtfertigungsgrundes des Kriegsrechts" (so OLG Kiel SJZ
1947, Sp. 325 f) - mehr oder weniger explizit und ohne Anspruch auf vollständige Erfassung
- BGHSt 23, 103 (107); Arnold in: Triffterer (Fn. 6), Art. 8 Rn. 58 (S. 338 f); Cassese (Fn.
20), S. 219; GössellDölling (Fn. 12), S. 39; Hirsch Soziale Adäquanz und Unrechtslehre, ZStW
74 (1962), 87-135 (109 f.); Jähnke (Fn. 18); Lackner/Kühl (Fn. 13); Maurach/Schroeder
(Fn. 17), S. 37; Murswiek (Fn. 9), Art. 2 Rn. 172; Rönnau (Fn. 7), Vor § 32 Rn. 302; Saffer-
fing/Kirsch (Fn. 13), S. 85 (obgleich freilich einerseits von Privileg und Aufhebung des Tö-
tungsverbots sprechend [vgI. oben zu Fn. 49] bzw. andererseits auch schon den Ausschluss der
Strafbarkeit im Rahmen der objektiven Zurechnung erwägend [So 85 Anm. 61]); Schmidhäuser
(Fn. 13), S. 316 f; Schneider (Fn. 12), § 212 Rn. 53; Schwenck (Fn. 12), S. 97;
Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 19), Vor § 32 Rn. 91 (unter Hinweis auf Maurach); Wolff
(Fn.25), S. 12 f; Würtenberger (Fn. 59), S. 193-212 (196); Zöller Grausame Tötung oder
völkerrechtlich gedeckte Kriegsrepressalie?, Jura 2005, 552-561 (557).
62 Das gilt aus dem Kreis der in der vorangehenden Fn.61 Genannten - jeweils a.a.O. - für
Gössel/Dölling, Hirsc.h, Maurach-Schroeder, Murswiek, Rönnau, Schmidhäuser, Schneider,
Lenckner/Sternberg-Lieben, Würtenberger und Zöller, ferner für Lackner-Kühl, Schwenck und
Wolff, bei denen jedoch auch noch auf Amtsrechte Bezug genonlmen wird (vgI. zu Fn. 64),
sowie für Arnold und Cassese, bei denen auch noch Notstandsaspekte herangezogen werden
(vgI. zu Fn. 65).
63 Wie namentlich von Lenckner/Sternberg-Lieben (Fn. 19), Vor § 32 Rn. 91 und Rönnau
(Fn. 7), Vor § 32 Rn. 302 hervorgehoben und schon von Würtenberger (Fn. 59) zu verschiede-
nen Rechtsquellen entfaltet.
64 Neben den nur kursorischen Bezugnahmen darauf bei Jescheck/Weigend (Fn. 15), S. 391,
Lackner/Kühl (Fn. 13), Schwenck (Fn. 13), S. 97 und rVoljf (Fn. 25), der von einem "internati-
onalen Amtsrecht" spricht (S. 19), ist insbesondere hinzuweisen auf OLG Kiel SJZ 1947 Sp.
Rechtmäßige Tötung im Krieg: zur Fragwürdigkeit eines Tabus 477
weit zu kommen. Ganz abgesehen davon, dass sich damit nur tödliche
Kriegshandlungen staatlich einberufener Krieger, nicht aber von Kämpfern
in sonstigen bewaffneten Konflikten erfassen ließen, lassen sich selbst staat-
lich verliehene Tötungslizenzen nicht rein formal aus der Hoheitsgewalt
ableiten, sondern bedürfen ihrerseits einer materialen Legitimierung. Zudem
wäre fur solche Befugnisse jedenfalls insoweit eine völkerrechtliche Grund-
lage erforderlich, als sie territoriale Souveränitätsgrenzen überschreiten.
Vergleichsweise selten finden sich Notstands- oder vergleichbare Güter-
abwägungsaspekte zur Legitimierung von Tötung im Krieg herangezogen. 65
Dies ist umso erstaunlicher, als doch gerade von Erforderlichkeits- und
Verhältnismässigkeitskriterien am ehesten so"vohl eine Begründung wie
zugleich auch eine Begrenzung tödlicher Kriegshandlungen zu erwarten
wäre. Oder meint man, daraus zu befürchtenden Anforderungen bereits
durch das Verbot bestimmter kriegerischer Methoden und Mittel ausrei-
chend Rechnung getragen zu haben? Aber würde dies nicht wiederum zu
dem fragwürdigen Schluss führen, Töten schlicht für erlaubt zu halten,
soweit es nicht ausdrücklich verboten ist?
Auch auf Notwehr- oder vergleichbare Verteidigungsaspekte wird zur
Rechtfertigung tödlicher Kriegshandlungen kaum zurückgegriffen. 66 Das ist
ebenfalls verwunderlich, nachdem das völkerrechtliche Gewaltverbot doch
gerade bei Wahrnehmung des "naturgegebenen Rechts zur kollektiven und
individuellen Selbstverteidigung" überschritten werden darf. 67 Oder fürchtet
man, dass sich damit tödliche Kriegshandlungen von Kombattanten eines
Angriffsstaates nicht mehr legitimieren ließen und auch "Kollateralschä-
den" unter der Zivilbevölkerung, wie sie in alarmierendem Übermaß zu
beobachten sind, schwerer zu begründen wären?
323 (329), wonach "die Amtstätigkeit eines Vollzugsbeamten [denen auch Soldaten zugerech-
net werden] bei pflichtmäßiger Vollstreckung immer rechtmäßig (sei)"; noch deutlicher Dreier
(Fn. 10), S. 262, wonach die Tötung feindlicher Soldaten nicht als kriminelles Delikt, sondern
als "Erfüllung einer militärischen Pflicht" eingestuft wird. Wohl im gleichen Sinne US Manual
for Courts Martial (1951), para. 197 (b), wonach "homicide committed in the proper perform-
ance of a legal duty is justifiable" (zitiert nach Cassese [Fn. 20], S. 219).
65 Immerhin vergleichsweise eingehend dazu Cassese (Fn. 20), S. 219 f, ferner ansatzweise
Arnold (Fn. 13), Art. 8 Rn. 58 (S. 339), indem die Rechtfertigung nach Kriegsrecht mit den
Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der militärischen Notwendigkeit in Verbindung
gebracht wird. Gleichermaßen muss nach OLG Kiel SJZ 1947, Sp. 326 neben Beachtung der
Kriegsregeln die Tat auch "durch militärische Notwendigkeiten geboten" sein.
66 Immerhin sind dahingehende Anklänge bei Dinstein (Fn. 50), S. 274, Kremit=er (Fn. 37),
S. 204 fund Verdross/Simma (Fn. 15), S. 901 f zu finden.
67 Vgl. zu Art. 51 Charta der Vereinten Nationen oben zu Fn. 52.
478 Albin Eser
IV. Ausblick
Das mag des Fragens genug sein, um darzutun, dass aufgrund der weit-
verbreiteten Selbstverständlichkeit, mit der Töten im Krieg als rechtmäßig
hingenommen wird, wichtige Fragen unbeantwortet bleiben und daraus
auch manche Rat- und Fassungslosigkeit zu erklären ist, mit der in der Öf-
fentlichkeit auf die fatalen Folgen aktueller bewaffneter Auseinanderset-
zungen reagiert wird. Konkrete Antworten darauf sollten und konnten hier
nicht gegeben werden; denn wie hoffentlich deutlich geworden ist, geht es
mir zunächst einmal buchstäblich prinzipiell um die grundlegende und
maßgebende Kernfrage: das Töten itn Krieg als solches. Statt sich allein um
seine Eingrenzung zu bemühen, wie das gewissermaßen vom Rand her
durch Verbote geschieht, bedarf zu allererst seine Erlaubtheit einer Begrün-
dung.
Wenn man diese gewohnheitsmäßig gleichsam als "geschenkt" ansieht, so
wird das sicherlich nicht zuletzt aus der menschheitsgeschichtlichen Erfah-
rung von der schicksalhaften Unabwendbarkeit von Kriegen und damit
unvermeidlich verbundener Opfer an Menschenleben zu erklären sein. Aber
könnte die daraus als "selbstverständlich" gefolgerte Rechtmäßigkeit tödli-
cher Kriegshandlungen nicht auch zu wohlfeilem Selbstschutz gegen Straf-
verfolgung von fragwürdigen 'rötungsaktionen dienen? Solange im Krieg
alles als erlaubt gilt, was nicht verboten ist, befindet sich der Täter auf der
besseren Seite: Er braucht lediglich das Verbotensein seines Tuns zu
bestreiten, ohne seine Erlaubtheit positiv begründen zu müssen - eine be-
weislastmäßig zweifellos für ihn günstigere \'erteidigungsposition. Könnte
es also - wie vor allem um eines möglichst großen militärischen Hand-
lungsspielraums willen ~ sogar im politischen Interesse liegen, sich weniger
um die positive Begründung rechtmäßiger Tötung im Krieg zu bemühen, als
sich allenfalls Einschränkungen vorausgesetzter Rechtmäßigkeit durch
partielle Verbote abringen zu lassen?
Wenn ich diese Grundeinstellung in Frage stellen möchte, dann nicht et-
wa deshalb, weil ich so weltfremd wäre, Tötungen im Krieg generell die
Rechtmäßigkeit vorenthalten zu wollen. Ebenso, um nur ein nahe liegendes
Beispiel zu nennen, wie sich eine Privatperson gegen einen rechts\vidrigen
Angriff erforderlichenfalls mit tödlicher Folge muss verteidigen dürfen,
muss Gleiches auch für ein angegriffenes Land und für die zu seiner Vertei-
digung eingesetzten Soldaten gerechtfel1igt sein. Wohl aber müssen solche
Berechtigungen zur Tötung von Menschen begründet und in ihren Voraus-
setzungen und Grenzen umschrieben sein. Sich dafür nicht einfach negativ
mit dem Verbot bestimmter Kriegshandlungen zu begnügen, sondern er-
laubtes Töten im Krieg positiv zu bestimmen, wäre - kurz skizziert - in
dreifacher Hinsicht von besonderer Bedeutung.
Rechtmäßige Tötung im Krieg: zur Fragwürdigkeit eines Tabus 479
Würde - erstens - Krieg nicht schon als solcher zum Töten berechtigen,
dann müssten schon dem Grunde nach die Interessen bestimmt und gewich-
tet werden, für deren Verteidigung und Durchsetzung grundsätzlich
menschliches Leben geopfert werden darf: sei es auf Seiten des Gegners
oder auch hinsichtlich der den eigenen Kämpfern drohenden Lebensgefahr.
Dann würden - abgesehen von klaren Fällen aufgezwungener Verteidigung
gegen einen völkerrechtliche Gewaltverbote missachtenden Angriffskrieg -
nicht nur bewaffnete Konflikte um wirtschaftliche Interessen oder ethnische
Säuberungsaktionen fragwürdig, vielmehr würde dann vielleicht auch man-
che kriegerische Auseinandersetzung, die sich die Rettung "nationaler Eh-
re" aufs Panier geschrieben hat, als rational "grundlos" entlarvt. Gewiss
könnte dies neue Diskussionen um den "gerechten Krieg" auslösen. Dies
wird aber ohnehin unvermeidlich sein, je mehr die Anwendung militärischer
Gewalt selbstherrlicher Souveränität entzogen und in den Dienst humanitä-
rer Rechte gestellt wird.
Durch Benennung eines legitimierenden Grundes würden sich - zweitens
- auch die Voraussetzungen und Grenzen rechtmäßigen Tötens besser
bestimmen und beschreiben lassen. Ist das Recht zur Tötung fremder und
zur Opferung eigener Kombattanten nicht einfach aus der staatlichen Sou-
veränität abzuleiten, dann bedarf es anderer Rechtfertigungskonzepte, wie
besonders nahe liegend in Anlehnung an Notwehr- und Notstandsmodelle.
Auch wenn diese wie auch möglicherweise andere Rechtfertigungsmaximen
im Blick auf individuelle Konflikte ent\vickelt sein mögen, könnten darin
enthaltene Verteidigungs- und Abwägungskriterien wie auch sonstige -
positive oder negative - Legitimierungsaspekte unter Berücksichtigung der
Besonderheiten kriegerischer Auseinandersetzungen zur Bestimmung von
Voraussetzungen und Grenzen rechtmäßigen Tötens herangezogen werden.
Das gilt nicht zuletzt auch für die Tötung von unbeteiligten Zivilpersonen,
deren Rechtfertigung nach Grund und Grenzen noch einer wirklich befrie-
digenden Lösung harrt.68
Wenn positiv bestimmt, dann könnte - drittens - auch einem formalen
rechtsstaatlichen Erfordernis Rechnung getragen werden. Nimmt man ver-
fassungsrechtlich ernst, dass staatliche Eingriffe in das Grundrecht Leben
einer gesetzlichen Eingriffsgrundlage bedürfen,69 dann kann rur das Recht
zu Töten schwerlich genügen, lediglich negativ bestimmte Tötungsmodali-
68 Vgl. Oeter (Fn. 34), S. 83 ff.; SchaUer Humanitäres Völkerrecht und nichtstaatliche Ge-
waltakteure, 2007; Prantl Wie viel kostet ein toter Afghane?, in: Süddeutsche Zeitung vom
10.12.2009.
69 Zu den damit verbundenen Problemen - nicht zuletzt bei Auslandseinsätzen vgl. insbe-
sondere den Meinungsüberblick von Wiefelspüt= (Fn. 9).
480 Albin Eser
täten durch Verbot auszugrenzen: Dann bedarf das Töten als solches einer
positiven gesetzesförmigen Rechtfertigung. 70
Auch wenn in diesem Beitrag mehr Fragen gestellt als bereits Antworten
gegeben werden konnten, so hoffe ich doch, auf ein Legitimitätsproblem
aufmerksam gemacht zu haben, über das bisher mit allzu großer Selbstver-
ständlichkeit zur Tagesordnung übergegangen wird. Das ist umso bedenkli-
cher, wenn durch Ausweitung des Kriegsbegriffs auch daraus abgeleitete
"Lizenzen zum Töten" legitimiert werden sollen. Dazu kommt einem nicht
nur der - an die Stelle ordentlicher Strafverfahren tretende - "War on Ter-
ror" in den Sinn,?1 auch in Kategorien von "Feindstrafrecht" zu reden, lässt
Unheilvolles ahnen.
Eine solche Thematik ist gewiss nicht etwas, womit man einen Jubilar zu
seinem Geburtsfest beglücken könnte. Nachdem ich jedoch um das ein-
gangs geschilderte Engagement von Heinz Schöch rur den Schutz des Le-
bens weiß, darf ich hoffen, mit meinen dem gleichen Zweck dienenden
Überlegungen sein Interesse zu finden - zugleich in dankbarer Erinnerung
an freundschaftliche Begegnungen während gemeinsamer Tübinger Zeit
und auch weiterer verschiedenartiger Zusammenarbeit, wie nicht zuletzt
aufgrund seiner langjährigen Mitwirkung im Fachbeirat des Max-Planck-
Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg.
70 Grundlegend in diesem Sinne auch Yausif Die extraterritoriale Geltung der Grundrechte
bei der Ausübung deutscher Staatsgewalt im Ausland, 2007, S. 166 ff., 188, 212 ff.
71 Mit den damit verbundenen Unklarheiten und Missbrauchsmöglichkeiten eindringlich
beschrieben von Wiec:;orek Unrechtmäßige Kombattanten und humanitäres Völkerrecht, 2005,
S. 162 ff.; vgl. auch Waechter Polizeirecht und Kriegsrecht, JZ 2007, 261-268.
Überlegungen zur Suizidrechtsprechung des
Bundesgerichtshofes
KLAUS KUTZER
I. Einleitung
Meine Überlegungen werden sich nur auf den so genannten freiverant-
wortlichen Suizid beziehen, ohne dass der Frage nachgegangen werden soll,
welches die Kriterien für einen freiverantwortlichen Suizid sind. Dass es ihn
gibt, kann ernsthaft nicht bestritten werden, auch wenn den Psychiatern
Recht zu geben ist, dass in den meisten Fällen eine krankhafte oder krank-
heitswertige Motivation zugrunde liegt. In diesen Fällen braucht der Le-
bensmüde unsere Hilfe. Wer sie ihm verweigert, obwohl möglich und zu-
mutbar, muss in einem sozialen, der Humanität und Solidarität
verpflichteten Rechtsstaat äußerstenfalls mit den Mitteln des Strafrechts
dazu angehalten werden. l Anders fällt jedoch die ethische und rechtliche
Beurteilung aus, wenn der Betroffene frei von mentalen Krankheitseinflüs-
sen in einem längeren Willensbildungsprozess nach Abwägung möglicher
Alternativen beschließt, sein Leben zu beenden (sog. Bilanzsuizid). Einen
solchen stabilen Suizidwillen finden wir häufig bei alten schwerkranken
Menschen, die ohne Hoffnung auf Besserung ihres ihnen unerträglich er-
scheinenden Leidens es ablehnen, ihr irreversibles Siechtum als bloßes
Objekt fremder Pflege und unter (vermeintlichem) Verlust ihrer personalen
Würde bis zum Ende miterleben zu müssen. Sie wollen ihr Leiden mög-
lichst schmerzlos und unter ärztlichem Beistand und nicht durch brachiale
Methoden wie Erhängen oder Überfahrenwerden verkürzen. Die Selbsttö-
tungsrate liegt bei Senioren in Deutschland etwa doppelt so hoch wie beim
Rest der Bevölkerung. 2 Da mit der Alterung der Bevölkerung die Zahl sol-
cher Suizidwilliger zunehmen wird, gewinnt die Frage nach der rechtlichen
Zulässigkeit ärztlich assistierter Suizide steigende Bedeutung. Diese Sach-
lage hat die Parlamente in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg ver-
1 Dazu Schöch Die Verantwortlichkeit des Klinikpersonals aus strafrechtlicher Sicht, in:
Wolfslast/Schmidt (Hrsg.) Suizid und Suizidversuch, 2005, S. 163 ff.
2 DÄrztebl. online 14.6.2006. Die Suizidraten steigen bei Männern wie Frauen mit dem Al-
ter überproportional an~ Net= in: Wolfslast/Schmidt a.a.O., S. 81, 82.
482 Klaus Kutzer
3 Mit einer Mehrheit von 101 : 10 : 6 bei Nichtverhinderung des Suizids und einer Mehrheit
von 97 : 14 : 8 bei Unterlassen der nachträglicher Rettung~ Verhandlungen des 66. Deutschen
Juristentages Stuttgart 2006, Bd. II/2 N, S. 216 f.
4 Kutzer MDR 1985, 710 ff.
5 Dölling FS Maiwald, 2010, S. 119 ff. setzt sich u.a. überzeugend mit den in der Lit. erör-
terten Kriterien für die Freiverantwortlichkeit des Suizids auseinander.
Überlegungen zur Suizidrechtsprechung des Bundesgerichtshofes 483
26 Art. 115 Schweizerisches StOB verbietet die Suizidhilfe nur "aus selbstsüchtigen Beweg-
gründen".
27 DÄrztebl. online 28.10.2009.
28 Kudlich in: Satzger/SchmittlWidmaier (Hrsg.), StOB, 2009, § 13 Rn. 26.
Überlegungen zur Suizidrechtsprechung des Bundesgerichtshofes 489
Arzt nicht eingreifen dürfen, solange er hierzu nicht durch den entschei-
dungsfahigen Patienten legitimiert worden war. Dies folgt aus dem seit
jeher anerkannten Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Ein solcher
"Normalpatient" ist von einem Suizidpatienten zu unterscheiden, weil der
zielgerichtete tödliche Akt des Suizidenten gegen sich selbst rechtsethisch
und psychologisch etwas anderes ist als die Nichtbekämpfung einer den
Patienten beherrschenden tödlichen Krankheit.
Um einen Suizidfall handelt es sich dagegen bei der sog. Peterle-
Entscheidung29 des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofes vom 4. Juli
1984. Dort hat der Bundesgerichtshof den behandelnden Arzt zum lebens-
rettenden Eingriff auch gegenüber einem freiverantwortlich handelnden
Suizidenten verpflichtet, wenn dieser infolge von Bewusstlosigkeit die
Tatherrschaft über das Geschehen verloren hat. Anderenfalls könne er sich
wegen eines Tötungsdelikts strafbar machen. Diese Entscheidung des
3. Strafsenats, an der der Verfasser mitgewirkt hat, erscheint problema-
tisch. 30 Die gegebene Begründung überzeugt nicht, weil sie das Selbstbe-
stimmungsrecht des Suizidenten zu wenig berücksichtigt.
Dass in diesen Fällen keine allgemeine Hilfspflicht besteht, ist oben näher
begründet worden. Insbesondere geht es nicht an, die rur jedermann gelten-
de Hilfspflicht nach § 330c StGB Uetzt § 323c StGB) und folglich auch die
Interventionspflicht des Garanten 31 schon dann einsetzen zu lassen, wenn
sich ein Lebensmüder in erkannter Selbsttötungsabsicht in unmittelbare
Lebensgefahr begibt, wie es der Bundesgerichtshof3 2 annimmt, wenn sich
der Suizident in die Nähe des Teiches begibt, in dem er sich ertränken will.
Eine solche zur Nötigung des Suizidenten ruhrende Verhinderungspflicht ist
selbstverständlich, wenn der Suizident nicht freiverantwortlich, also auf-
grund einer krankhaften Willensbildung handelt;33 sie ist vertretbar, wenn
zur Tatzeit zweifelhaft ist, ob der Suizident freiverantwortlich handelt; sie
muss jedoch ausscheiden, wenn der Suizident freiverantwortlich handelt
und der anwesende Dritte von der Freiverantwortlichkeit überzeugt ist.
Diese Rechtsauffassung ist insbesondere für die Beurteilung des ärztlich
assistierten Suizids von Bedeutung, wenn der behandelnde Arzt \veiß, dass
der Schwerstkranke in Kenntnis der Irreversibilität des weiteren Krank-
29 BGHSt 32, 367. Auf einen Zettel hatte die Suizidpatientin geschrieben (a.a.O., S. 369):
"Ich will zu meinem Peterle."
30 Auch der 2. Strafsenat des BGH (NJW 1988, 1532) neigt dazu, "einem ernsthaften, frei-
verantwortlich gefassten Selbsttötungsentschluss eine stärkere rechtliche Bedeutung beizumes-
sen, als dies in dem Urteil des 3. Strafsenats (BGHSt 32, 367 ff.) geschehen ist".
31 BGHSt 32,367,375 zieht diese Folgerung nur indirekt.
32 BGHSt 13, 162, 169.
33 Vgl. Urteil des VI. ZS des BGH v. 19. Juni 2001, BGHR Zivilsachen BGB § 823 Abs. 1
Arzthaftung 139.
490 Klaus Kutzer
34 BGHSt 46,279,285; Dreier JZ 2007,317,319 tneint: Auch wenn man den Suizid nicht
emphatisch als "Privileg des Humanen" bezeichnen wolle, so stelle die Beendigung des eige-
nen Lebens als freier Willensakt keinen Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie dar, son-
dern finde in ihr eine Grundlage.
35 BGHSt 32, 367.
36 BGHSt 37,376.
Überlegungen zur Suizidrechtsprechung des Bundesgerichtshofes 491
erkennbar entgegensteht, e) wenn der Patient einwilligungsunfähig ist und aufgrund verlässli-
cher Anhaltspunkte anzunehmen ist, dass er diese Behandlung ablehnen würde (mutmaßlicher
Wille)".
42 DÄrztebl. v. 7. Mai 2004 S. B-I076; NJW 23, 2004, XXIX, XXXII f.
43 Nach Meinung des 66. Deutschen Juristentages (Fn. 3), 11/2 N 218 sollte die ausnahmslo-
se standesrechtliche Missbilligung des ärztlich assistierten Suizids einer differenzierten Beur-
teilung weichen, welche die Mitwirkung des Arztes an dem Suizid eines Patienten mit uner-
träglichem, unheilbarem und mit palliativmedizinischen Mitteln nicht ausreichend zu
Überlegungen zur Suizidrechtsprechung des Bundesgerichtshofes 493
111. Schluss
Bleiben der Bundesgerichtshof bei seiner strengen Auslegung des Straf-
rechts und die Bundesärztekammer bei ihrer strengen Auslegung des Be-
rufsrechts im Falle eines freiverantwortlichen Suizids, werden ärztliche
Gewissensentscheidungen, einen schwerstkranken Patienten nicht zum
Weiterleben zu zwingen, sondern in den frei gewählten Tod zu begleiten,
weiterhin verschleiert und ins Dunkelfeld abgedrängt werden. Damit wird
eine Überprüfung durch das Recht erschwert, wenn nicht gar unmöglich
gemacht. Aber auch außerhalb des Arzt-Patienten-Verhältnisses sollte das
Strafrecht auf einen illiberalen patemalistischen Zwang gegenüber Dritten
verzichten, die einen freiverantwortlichen Suizid respektieren wollen. Wirk-
samer als durch das Strafrecht können Suizide durch gesellschaftliche und
individuelle Hilfsangebote verhindert werden, die das Selbstbestimmungs-
recht des Lebensmüden ernst nehmen.
linderndem Leiden als eine nicht nur strafrechtlich zulässige, sondern auch ethisch vertretbare
Form der Sterbebegleitung toleriert.
Notwendigkeit der Reform des Tötungsstrafrechts
und der "AE-Leben"
ARTHUR KREUZER
I.
Kaum irgendwo sonst hat sich eine so große Kluft zwischen Kriminalwis-
senschaften einerseits, Rechtsprechung und Gesetzgebung andererseits
aufgetan wie gerade bei den schwersten Taten und der höchsten Strafe:
vorsätzliche Tötungen und lebenslange Freiheitsstrafe. Die Reform ist über-
fällig. 1 Höchstrichterliche Versuche, mit der Gesetzeslage zurecht zu kom-
men, sehen sich unvergleichlich herber Kritik ausgesetzt: Diese Rechtspre-
chung befinde sich "auf einer Rutschbahn in immer tiefere Konfusion"; man
spricht von "Zickzack-Kurs", "trostloser Misere der Interpretation" gesetz-
licher Mordmerkmale, "Dauerkrise", "Kollaps des § 211 unter der Last des
case law". 2 Zusammenfassend wird konstatiert: "Seit langem ist es ja fester
Bestandteil fast jeden wissenschaftlichen Beitrags zu §§ 211 ff. StGB
(Mord, Totschlag), die Mängel der Regelung zu beklagen, ihre Reformbe-
dürftigkeit zu betonen und zugleich den Gesetzgeber aufzufordern, endlich
tätig zu werden. "3
Jedoch ist man sich uneins über Umfang und wesentliche Inhalte einer
Reform. So wurden auf einer Fachtagung der Kriminologischen Zentralstel-
le zu Tötungsdelikten 2002 in Wiesbaden Jubilar und Verfasser nach ihren
Referaten zu strafrechtlichen und kriminologischen Aspekten der Tötungs-
kriminalität4 gefragt, wie sie sich eine Reform vorstellten. Der Ver! plädier-
1 So zuletzt Fischer StGB, 57. Aufl. 2010, Rn. 1 Vor §§ 211-216~ NK-Neumann StGB,
Bd. 2, 3. Aufl. 2010, Vor § 211 Rn. 156~ Roxin in: JahnlNack (Hrsg.), Rechtsprechung, Ge-
setzgebung, Lehre: Wer regelt das Strafrecht? 2. Karlsruher Strafrechtsdialog 2009,2010, S. 21
ff.~ Heine e! al. (Hrsg.), Alternativ-Entwurf Leben (AE-Leben), GA 2008, 193 ff. (mit Nachw.
194 f.)~ Ver! FAZ Nr. 129 v. 05.06.2008, S.8~ ders. StV 2007,598 ff.
2 Vgl. z. B. Heine Ehrengabe für Anne-Eva Brauneck, 1999, S. 315 ff.~ Ar::! in: Arzt/Weber,
Strafrecht Besonderer Teil, 2000, § 2 Rn. 17,23.
3 Mitsch Verfassungsbeschwerde v. 15.03.2007 im Verfahren gegen den "Kannibalen von
Rotenburg".
4 Egg (Hrsg.), Tötungsdelikte. Kriminologie und Praxis Bd. 36, 2002~ darin: Verf, S. 45 ff.,
Schöch, S. 71 ff.
496 Arthur Kreuzer
te für eine Lösung mit dem Grunddelikt des Totschlags, einer beispielhaft
unterlegten Qualifikation als Mord mit lebenslanger Freiheitsstrafe und
einer Privilegierung des Totschlags fur wiederum beispielhaft gekennzeich-
nete minder schwere Fälle. Heinz Schöch mahnte hingegen, die durch eine
konturierte Rechtsprechung zu einzelnen Mordmerkmalen erreichte Rechts-
sicherheit nicht aufs Spiel zu setzen, wenn man leichtfertig auf Teile der
bisherigen Regelung verzichte. In der Bandbreite dieser beiden Ansichten
hält sich auch der nachfolgende Beitrag. Im Alternativ-Entwurf Leben, an
dem der Jubilar mitgewirkt hat, findet sich in der Tat ein Teil der bisherigen
Mordmerkmale nunmehr allerdings funktional modifiziert, reduziert,
modernisiert und durch ein gemeinsames Leitprinzip konturiert - wieder.
Die Kritik des Ver! ist teils zustimmend, aber gerade hinsichtlich der vor-
geschlagenen Struktur der Tötungs-Straftatbestände skeptisch. Heinz
Schöch hat sich Jahrzehnte u. a. mit namentlich strafrechtlichen Fragen
dieser Delikte befasst, der Ver! ebenso lang vorwiegend mit kriminologi-
schen. So liegt es nahe, dass sich der Festschriftbeitrag mit ausgewählten
Aspekten dieser Thematik im Lichte des vom Jubilar mit erarbeiteten
grundlegenden Reformentwurfs auseinandersetzt. Das soll ein Zeichen
hoher Wertschätzung für den Freund und dessen Werk sein.
II.
Dem primären Anliegen des AE-Leben, der Analyse von Mängeln des
geltenden Tötungsstrafrechts und seiner Anwendung sowie dem entschie-
denen und konstruktiven Votum für eine gesetzliche Reform 5 ist grundsätz-
lich beizupflichten. 6 Das geltende Recht entspricht nicht unverzichtbaren
Forderungen nach systematischer Konsistenz, rechtsstaatlicher Vorherseh-
barkeit und Berechenbarkeit sowie Einzelfallgerechtigkeit. Daran ändert das
Bemühen der Rechtsprechung um einzelfallorientierte Anpassung nichts
grundlegend. 7 Die wichtigsten, überwiegend auch in der AE-Analyse ge-
nannten Mängel seien nach ihrer Gewichtung in der Sicht des Ver! stich-
wortartig umrissen und ergänzt:
Noch als vordergründig mag die Kritik an den §§ 211 ff. StGB angesehen
werden wegen ihrer Herkunft aus der NS-Zeit und auch sprachlich ver-
fehlten (Mord und Totschlag können offenbar nur von Männern begangen
und der höchsten Strafe, zumal dann, wenn eine gesetzliche Fehlkonstrukti-
on sie geradezu herausfordert. Sie sind unvereinbar mit der Bindung des
Richters an das Gesetz, mit dem Gebot der Bestimmtheit von Strafnormen,
mit der Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit von Strafen. Ähnlich ist es
übrigens in den USA bei dem Zwang, in einigen Staaten ansonsten die To-
desstrafe zu verhängen. Dort wird oft schon in "plea bargainings" seitens
der Staatsanwaltschaft auf ein Geständnis hingewirkt mit dem Entgegen-
kommen, auf den Antrag der Todesstrafe zu verzichten. 11 Die enorme Be-
deutung solcher mit der Gefahr einer Erosion des Rechtsdenkens einherge-
henden Umgehungsstrategien mag man an der bemerkenswert offenen und
herben Diagnose eines erfahrenen Praktikers erkennen. Nach Hartmut
Schneider wird in Schwurgerichtsverfahren "ein angeblich nicht
ausschließbarer Affekt vielfach geradezu nachgeworfen"; dort habe das
Motto "Alles Psycho!" Konjunktur; es gebe eine bedenkliche "Tendenz
einer 'Knochenerweichung' der Tötungsdelikte durch höchstrichterliche
Befugnis zum nahezu freihändigen 'Overruling' im Psycho-Bereich". Auf
der Tatbestandsseite biete die Rechtsprechung "in heiklen Einzelfällen mit-
hilfe mordmerkmalsspezifischer Psycho-Erwägungen oder gesinnungsethi-
scher Zurüstungen effektive, rechtsdogmatisch indessen weitestgehend
verfehlte Möglichkeiten zum Ausstieg aus § 211 StGB." 12 Freilich meint er
im Gegensatz zum Verf, "dass von der vordergründig Furcht einflößenden
Rechtsfolgenseite des § 211 StGB für sich betrachtet kein drängender Re-
formbedarf ausgeht", und er warnt sogar davor, mit dieser Begründung in
Reformansätzen wie dem AE-Leben "Lebenslang als gesetzliche Regel-
sanktion fur Fälle höchststrafwürdiger Tötung gleichsam unter der Hand
auszuhebeln."
Eine Gesetzesreform ist zudem angezeigt, um das verfassungsgerichtlich
ausgesprochene Verdikt über den gesetzlichen Zwang, die in § 211 StGB
vorgesehene Rechtsfolge des Lebenslang bei Vorliegen eines Mordmerk-
mals in das Urteil zu übernehmen, 13 umzusetzen. Die Korrektur über eine
Rechtsfolgenlösung durch den BGH mag zwar wenigen Einzelfällen gerecht
werden, in denen nach der konturenlosen inhaltlichen Kennzeichnung
"außergewöhnliche Umstände" vorliegen. Sie fuhrt aber in der höchstrich-
terlichen Rechtsprechung ein Schattendasein, soll ohnehin nur bei dem
Mordmerkmal der Heimtücke, nicht etwa bei dem der Habgier oder Verde-
ckungsabsicht oder gar allen Mordmerkmalen greifen können. Sie wird
offenbar zunehmend vom BGH selbst gemieden. Sie beruht überdies auf
einem verfassungsrechtlich bedenklichen richterrechtlichen Übergriff in die
Gesetzgebungskompetenz, weil der BGH damit ohne Not den nicht der
Analogie zugänglichen § 49 StGB gleichwohl als entsprechend anwendbar
erklärt. 14
Demgegenüber dürfte der traditionelle Streit über die Struktur der §§ 211
ff. StGB zwischen der Rechtsprechung einerseits, nahezu dem gesamten
Schrifttum andererseits, in der Bedeutung, die Strukturreform der Tötungs-
delikte als zwingend einzuschätzen, übergewichtet sein. Wenn man mit dem
BGH Mord als eigenständiges Delikt ansieht, droht Teilnehmern an der Tat,
bei denen entsprechende strafbarkeitsbegründende Mordmerkmale fehlen,
über §§ 28 Abs. 1, 49 Abs. 1 StGB eine Freiheitsstrafe von drei bis 15 Jah-
re. 15 Wertet man mit der Lehre Mord als Qualifikation des Totschlags, führt
dies für solche Teilnehmer über §§ 28 Abs. 2, 212 Abs. 1 StGB zu dem
Strafrahmen des Grunddelikts mit fünf bis 15 Jahren. So kann letztlich in
wohl jedem einzelnen Fall eine angemessene zeitige Strafe verhängt wer-
den. Freilich wiegt verbal der Schuldvorwurf - Mord- oder Totschlagsbetei-
ligung - ungleich schwer, und in seltenen Ausnahmefällen kann mit der
Rechtsprechung sogar eine kürzere Strafe greifen. In einem weiteren Aus-
nahmebereich könnte eine gesetzliche Abkehr von der Sicht des BGH zur
Einordnung des § 211 StGB als eigenständiges Delikt allerdings eine zeit-
geschichtlich bedeutsame praktische Konsequenz haben: bei den bislang als
Beihilfe zum Mord gewerteten und darum nach § 78 Abs. 2 StGB nicht
verjährten Beteiligungen an NS-Pogromen. 16 Der AE-Leben trägt dem
Rechnung, indem er den Tatbestandsbereich des § 211 ausweitet. 17 Würde
man dem nicht folgen, ließe sich durch eine Anpassung des § 78 StGB
Rechnung tragen indem man klärt, dass die bisher von der Nicht-
Verjährbarkeit umfassten Taten auch weiterhin nicht verjähren.
Zu einer Reform drängt insbesondere die Inkonsistenz des nach geltender
Rechtslage bestehenden Systems der Strafandrohungen in Fällen vorsätz-
lich, täterschaftlich, "vollendet" (horribile dictu, aber traditioneller straf-
rechtswissenschaftlicher Terminus) und in ungen1inderter Schuldfähigkeit
begangener Tötungen. Sozusagen quer zu strafrechtsdogmatischen Versu-
chen einer plausiblen Systematisierung der Tötungsdelikte ist hier einziges
Kriteri~m der Stufung die konkrete Strafandrohung. Das dementsprechend
siebenstufige System abgestufter Strafandrohungen ist entstanden aus einer
Interaktion gesetzgeberischer, verfassungsgerichtlicher und höchstrichterli-
14 BGH OS 30, 105 ff.~ wie hier mit vielen Nachw. Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. 2007, V~r
§ 211 Rn. 20,21.
15 Daran hält der BGH, von peripheren Modifikationen abgesehen, wohl grundsätzlich fest,
wie die sorgfaltige Rechtsprechungsanalyse von Rissing-van Saan in: Jahn/Nack (Fn. 1) S. 26
ff. zeigt.
16 Daraufweist besonders Jähnke in: Jahn/Nack (Fn. 1), S. 62 hin.
17 AE-Leben (Fn. 1), S. 267.
500 Arthur Kreuzer
cher Entscheidungen. 18 Erste und oberste Stufe ist Mord bei Feststellung
besonderer Schwere der Schuld nach §§ 211, 57a StGB mit obligatorisch
lebenslanger Freiheitsstrafe und einem zwar nicht zwingenden, aber bislang
immer strafvollstreckungsgerichtlich angeordneten, in der Länge gesetzlich
nicht limitierten "Schuldschwerezuschlag" über die Mindestverbüßungszeit
von 15 Jahren hinaus. Zweite Stufe ist das Lebenslang mit 15jähriger Min-
destverbüßung für "normalen" Mord nach § 211 StGB. Die dritte Stufe
bildet der Totschlag in besonders schwerem Fall nach § 212 Abs. 2 StGB
mit ebenfalls Lebenslang und 15jähriger Mindestverbüßung. Auf der vierten
Stufe findet sich der "normale" Totschlag nach § 212 Abs. 1 StGB mit
einem Strafrahmen von fünf bis 15 Jahren Freiheitsstrafe. Die fünfte Stufe
ist der Rechtsfolgenlösung des BGH vorbehalten für Mord bei außerge-
wöhnlichen Umständen, die zu einem Strafrahmen von· drei bis 15 Jahren
führen nach §§ 211, 49 analog StGB. Auf der sechsten Stufe ist der Tot-
schlag in minder schwerem Fall nach § 213 StGB mit einem Strafrahmen
von einem Jahr bis 10 Jahren angesiedelt. Die siebte Stufe bildet die Tötung
auf Verlangen nach § 216 StGB mit einer Strafe von sechs Monaten bis fünf
Jahren. Beispielhaft für Inkonsistenzen im System sei lediglich auf die
Rechtsfolgenlösung des BGH hingewiesen: Auf der vierten Stufe ist die
Mindeststrafe von drei Jahren vorgesehen für eine gleichwohl als Mord
einzuordnende Tötung, also zwei Jahre weniger als die Mindeststrafe für
Totschlag; demgegenüber ist die Rechtsfolge für einen Totschlag auf der
dritten Stufe schon das Lebenslang.
Weiter drängen Ungereimtheiten und ungelöste Fragen des § 57a StGB
bei der Restaussetzung von lebenslangen Strafen zu einer Reform. Stich-
wortartig seien nur folgende Probleme genannt: Zutreffend kritisiert der
AE-Leben l9 die Unbestimmtheit der Voraussetzungen, eine Schuldschwere
festzustellen; die "besondere Schwere der Schuld" mit dem BGH 20 als
"Umstände, die Gewicht haben" zu charakterisieren und dazu recht unglei-
che Beispiele zu geben, die von besonderer Verwerflichkeit der Tatausfüh-
rung oder Motive bis zu Vielfachmord reichen, bedeutet keine wirkliche
inhaltliche Konkretisierung und Erleichterung der Entscheidung des
Schwurgerichts. Die über 15 Jahre hinaus gehende, von der Strafvollstre-
ckungskammer zu bestimmende Mindestverbüßungszeit darf nicht auf einer
"nach oben offenen Richterskala" beruhen, sondern bedarf einer inhaltli-
chen und zeitlichen Limitierung im Gesetz. Das Gebotensein einer Weiter-
21 AE-Leben (Fn. 1), S. 257 ff. unter Verweis (Fn. 291) auf die Daten der Kriminologischen
Zentralstelle. Dieses jährlich erneuerte Datenmaterial lässt indes keinen Aufschluss darüber zu,
warum Gefangene länger als 15 Jahre im Strafvollzug sind; es kann mit einer noch ungünstigen
Prognose oder mit der Schuldschwere zu tun haben. Gleiches gilt für das Argument hoher
Sterberaten unter Lebenslänglichen im Vollzug; es kann sich bei den relativ niedrigen Fallzah-
len um Gefangene handeln, die - etwa durch Suizid schon bald nach der Inhaftierung - noch
vor Ablauf der Mindestverbüßungszeit sterben; auch dazu gibt das Datenmaterial keinen
Aufschluss.
22 BVerfG NJW 2004, 737 ff.; dazu z. B. Kinzig JR 2007, 165 ff.; Verf.lBartsch in: Ester-
mann (Hrsg.), Interdisziplinäre Rechtsforschung zwischen Rechtswirklichkeit, Rechtsanalyse
und Rechtsgestaltung, 2009, S. 99 ff.; Ver! in: Loccumer Protokolle 2010 (im Druck); ausführ-
lich Bartsch Sicherungsverwahrung - Recht, Vollzug, aktuelle Probleme, Diss. Universität
Gießen, 2009 (erscheint bei Nomos 2010). Die gegenwärtig schon komplizierte Lage wird
502 Arthur Kreuzer
noch labiler durch die vorliegende noch nicht rechtskräftige Kammerentscheidung des EGMR
v. 17.12.2009 (dazu Ver! in: ZEIT ONLINE v. 17.12.2009).
23 Populistische Argumente für eine Sicherungsverwahrung neben dem Lebenslang wurden
leider auch in der Justiz gelegentlich unterstützt~ vgl. z.B. LG Frankfurt v. 09.05.2006 (Nachw,
bei Ver! StV [Fn. 1],598, Fn. 2). .
24 Ansatzweise erörtert vom Ver! in: Loccumer Protokolle (Fn. 22). '
25 Ver! Ärztliche Hilfeleistungspflicht bei Unglücksfällen im Rahmen des § 330c· StGB,
1965, S. 63 ff.~ ders. NJW 1967, 278 ff.~ ders. JR 1,984,293 ff.
Notwendigkeit der Reform des Tötungsstrafrechts 503
eines Suizids seines Patienten verpflichtet sein, für ihn gegen seinen aus-
drücklich erklärten Willen lebensrettende Maßnahmen einzuleiten, und nur
Zweifel an der Möglichkeit einer Lebensrettung oder eine Konstellation der
Unzumutbarkeit können ihn vor Strafe wegen versuchter Tötung auf Ver-
langen, begangen durch Unterlassen, schützen. 26 Dabei missachtet der BGH
seine eigenen Grundsätze zur Patientenautonomie; er verkennt zugleich,
dass eine Garantenstellung entfällt, wenn der Patient den Behandlungsauf-
trag frei verantwortlich zurückzieht.27 Überhaupt drängt der Gesamtbereich
von Lebenserhaltungspflicht und Sterbehilfe angesichts veränderter medizi-
nischer Kenntnisse, technischer Entwicklungen und rechtlicher Grauzonen
zu einer gesetzlichen Anpassung. 28
Das zweite Beispiel betrifft die Entscheidungen des BGH zum Mordvor-
wurf gegen den "Kannibalen von Rotenburg".29 Die Höchststrafe wegen
Mordes wurde gerechtfertigt, obwohl der Täter in voller Übereinstimmung
mit dem Opfer handelte, von diesem bei der Tat unterstützt und zum Wei-
termachen aufgefordert wurde und jederzeit aufzuhören bereit war, wenn es
das Opfer verlangen sollte. Dass beide sozusagen in reziprok aufeinander
bezogener paraphiler Einstellung nicht rechtsverbindlich entscheiden konn-
ten, ändert nichts an der Beachtlichkeit der - schwer nachvollziehbaren
krankhaften - Willensübereinstimmung fur die Beurteilung des Unrechts-
gehalts der Tat. Schon die überdeutliche Nähe zur Tötung auf Verlangen
und verminderten Schuldfähigkeit angesichts einer beidseitig abnormen
Triebrichtung hätte eine Einordnung als Totschlag, zumindest ein Absehen
vom Lebenslang nach der Rechtsfolgenlösung ebendieses Gerichts nahege-
legt,30 worauf der BGH ebenso wenig einging wie auf viele bedeutende
Argumente einer Vorinstanz 31 und im Schrifttum 32 fur eine adäquate Ein-
ordnung als Totschlag. Schon hier sei angemerkt, dass nach dem Modell des
26 Vgl. etwa das bekannte "Myom-Urteil" BGHSt 11, 111 ff, auch BGHSt GS 10,262, zum
Selbstbestimmungsrecht des Patienten und der Beachtlichkeit seiner Operationsverweigerung
selbst in lebensbedrohlicher Lage~ dagegen BGHSt 32, 367 ff (Fall Wittig) , wo der Arzt
grundsätzlich als Garant zur Lebenserhaltung trotz entgegenstehender Erklärung der unheilba-
ren Suizidpatientin verpflichtet sein soll.
27 Ebenso etwa Kühl (Fn. 14), Rn. 15 Vor § 211 ~ Rengier Strafrecht Besonderer Teil Bd. 11,
6. Aufl. 2005, S. 54 f
28 Vgl. statt vieler: Wessels/Hettinger Strafrecht Besonderer Teil Bd. 1,33. Aufl. 2009, § 1
Rn. 30, 37.
29 BGHSt Urt. v. 22.04.2005 - 2 StR 310/04, Beschl. v. 07.02.2007 - 2 StR 518/06 (= BGH
St 50, 80 ff). Dazu Ver! StV (Fn. 1), 598 ff.
30 Ebenso vor allem Roxin (Fn. 1), S. 23, ferner alle mir bekannt gewordenen mündlichen
Einschätzungen von Kriminalwissenschaftlern und einigen erfahrenen forensischen Psychia-
tern.
31 LG Kassel Urt. v. 30.01.2004 - 2650 Js 36980/02~ dazu Ver! (Fn. 29).
32 Z.B. Ver! MschrKrim 2005, 412 ff
504 Arth ur Kreuzer
111.
Nur auswahlhaft können wichtige Aspekte des mit dem AE-Leben vorge-
stellten Modells einer Neuordnung des Tötungsstrafrechts erörtert werden.
Zustimmung und kritische Würdigungen bei manchen Details sind bereits in
der Bestandsaufnahme unter II. angeklungen.
Hauptsächlich ist die vorgeschlagene Zweistufigkeit der Einteilung von
Tötungsdelikten, die neue Architektur des Tötungsstrafrechts, diskussions-
bedürftig. An die Stelle der bisherigen drei- bis vierstufigen Einteilung tritt
eine Zweiteilung nach Mord und Totschlag mit einem gespreizten Straf-
rahmen für Mord. Das Modell folgt ausländischen Vorbildenl und Anre-
gungen vor allem von Eser 34, indenl es nur noch zwischen schwererem
Tötungsunrecht - Mord nach § 211 - und weniger schwerem - Totschlag
nach § 212 - unterscheidet. Dem Mord wird ein großer Teil dessen zuge-
ordnet, was bisher als Mord oder als einfacher oder sogar privilegierter
Totschlag erfasst wurde; so sollen "normale" Affekt- und Konflikttötungen
aus dem Bereich des bisherigen § 213 zu Mord hochgestuft werden. Der
Strafrahmen umfasst Freiheitsstrafe von mnf bis 15 Jahren oder das Lebens-
lang. Die Höchststrafe ist in § 211 Abs. 2 vorbehalten für qualifiziertes
Tötungsunrecht; dieses ist im Regelfall anzunehmen, wenn abschließend
benannte Merkmale erfüllt sind und "wenn besonders erhöhtes Unrecht
verwirklicht wird, das die Lebenssicherheit der Allgenleinheit zu bedrohen
geeignet ist" (Leitprinzip). Totschlag (Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu
zehn Jahren) liegt nur vor, ,venn die vorsätzliche Tötung auf einer der bei-
den detailliert benannten erheblichen Konflikt- oder Affektlagen oder auf
einer vergleichbaren Konfliktlage beruht.
33 Zurn Meinungsstreit Nachw. bei Neumann (Fn. 1), § 211 Rn. 12a mit Fn. 7.
34 Fn. 7.
Notwendigkeit der Reform des Tötungsstrafrechts 505
rahmens mit der Mindeststrafe von runf Jahren rur Mord selten in ver-
gleichbaren Ländern zu finden sein; in Oesterreich etwa liegt die Unter-
grenze bei zehn Jahren. 38
Die generalpräventive Argumentation für einen breiten Bereich des als
Mord Definierten passt zwar gut in die Zeit eines "punitive turn". Es trifft
zu, dass sich eine Abschaffung des Lebenslang oder eine Einengung des als
Mord Erfassten politisch schwer durchsetzen lassen, solange noch die Nei-
gung zu massenmedial unterstützter Verbrechensangst mit der Folge krimi-
nalpolitischer Aufrüstung vorzuherrschen scheint. Die stete, weitgehend
populistische Nachrüstung in dem Recht der Sicherungsverwahrung zeigt
es. Gleichwohllnüssen Wissenschaftler nüchtern urteilen und mäßigend auf
solche Entwicklungen einzuwirken bestrebt sein. Das generalpräventive
Argument für die Entwurfslösung ist vor allem aber in sich fragwürdig.
Denn wie kann eine Hochstufung weiter Teile des bisher als Totschlag
Erfassten zu Mord eine strafgesetzliche Höherschätzung des Lebensgutes
signalisieren, wenn zugleich der Strafrahmen rur Mord derart weit gestaltet
wird, dass sich damit eher der Vorwurf einer Bagatellisierung assoziieren
lässt?39 Der vom AE-Leben zu Recht gerügte "Quantensprung" von der
Rechtsfolge rur Totschlag zu der des Mordes im bisherigen Recht 40 findet
nun innerhalb des vorgeschlagenen § 211 statt, nämlich von einer zeitigen
zur lebenslangen Freiheitsstrafe. 41 "Nur" fünf Jahre Mindeststrafe sind vor-
gesehen, also eine Untergrenze des Strafrahmens, die wir auch von anderen
Straftatbeständen kennen. Derselbe Strafrahmen rur Mord im "Normalfall"
des § 211 Abs. 1 des Entwurfs droht etwa dem, der Betäubungsmittel in
nicht geringer Menge einruhrt oder mit ihnen Handel treibt (§ 30a BtMG),
oder dem, der bei einem Raub eine Waffe verwendet (§ 250 Abs. 2 StGB).
Noch markanter zeigt sich die möglicherweise generalpräventiv ungünsti-
ge Signalwirkung der Weite des Strafrahmens, wenn man sich vergegen-
wärtigt, dass die jeweils geltenden Mindestverbüßungszeiten rur eine Straf-
restaussetzung zur Bewährung bei Mord nach §§ 211 Abs. 1 und 2, 57a
Abs. 1 des Entwurfs zwischen etwa drei und 20 Jahren lägen.
Die gewaltige Bandbreite des vom vorgeschlagenen § 211 mit Mord er-
fassten Unrechts hat zu alledem noch eine fragwürdige Folge rur die Unver-
jährbarkeit von Mord. Die gesamte Palette der bislang teilweise lediglich als
Totschlag nach §§ 212, 213 StGB und vom § 211 erfassten Tötungen soll
nunmehr unverjährbar sein nach § 78 Abs. 2 StGB. 42 Das widerstreitet den
38 Vgl. die Übersicht bei Heine (Fn. 2), S. 348 Fn. 116.
39 Kritik daran auch von Hirsch in: Jahn/Nack (Fn. 1), S. 61, der eine Bildzeitungsschlagzei-
le prognostiziert: "Neue Reform des StOB - Fünf Jahre Freiheitsstrafe für Mord".
40 AB-Leben (Fn. 1), S. 208 f.
41 So auch kritisch lVeumann (Fn. 1), Rn. 156a Vor § 211.
42 AB-Leben (Fn. 1), S. 267 f.
Notwendigkeit der Reform des Tötungsstrafrechts 507
bedrohlichkeit derart, dass eine Beliebigkeit der Auswahl des Opfers durch
die Tötung indiziert wird. So würde etwa das bestimmte Menschen diskri-
minierende Motivmerkmal der Nr. 3 sonst zu übergroßer Anwendungsbreite
führen. Ohnehin erscheint ein drastisch straferhöhendes Merkmal diskrimi-
nierender Tatmotivation fragwürdig wegen meist vorherrschender Motiv-
bündel mit in ihrer Wertigkeit durchaus diskrepanten Einzelmotiven. Bei
Brandlegungen an Ausländerwohnheimen durch junge Tätergruppen bei-
spielsweise nehmen manche junge Leute unreflektiert teil, bloß um zur
Gruppe zu gehören, aus Feigheit, sich von der Gruppe zu distanzieren, mit-
unter auch, um stark zu erscheinen, oder vor allem aus Frustration gegen-
über ihrer Lage am Rande der Gesellschaft, aber meist durchaus wissend
um die Situation der Opfer als Ausländer.
Bedenken bestehen schon wegen der schwierigen Interpretation dieses
Leitprinzips, wenn darin eine verschuldete "unrechtserhöhende Gemein-
schaftsbedrohlichkeit" liegen soll.44 Es dürfte schwer zu ermitteln sein,
wann eine Tat lediglich diesem Opfer gelten sollte oder wann sie darüber
hinaus eine potenzielle Austauschbarkeit des Opfers signalisiert derart, dass
auch jeder andere Bürger zum Opfer hätte werden können.
Ein weiteres Bedenken besteht, weil einer von drei bisher in § 211 StGB
erfassten Erschwerungsgründe, eben die Gemeinschaftsgefahrlichkeit, nicht
indes die besondere Verwerflichkeit der Motivation oder die Heimlichkeit,
Hinterhältigkeit, Skrupellosigkeit, zum alleinigen Maßstab erklärt wird.
Damit wird vielleicht nicht unbedingt, wie ein Kritiker meint,45 wieder auf
die gerade als obsolet erklärte Tätertyplehre zurückgegriffen. Aber zumin-
dest überschneidet sich der Gefahrlichkeitsgesichtspunkt mit dem nämli-
chen, welcher der Maßregel der Sicherungsverwahrung zugrunde liegt.
Sicherungsverwahrung aber sollte nach Ansicht des Ver! und vieler anderer
bereits neben einer Strafe für Ersttäter schwerster Gewalttaten bei im Ur-
teilszeitpunkt festzustellender Rückfallgefahr vorbehalten werden können. 46
Dies ist auch teilweise schon nach geltendem Recht möglich, sogar über-
flüssigerweise neben lebenslanger Strafe. Dann jedoch kommt der Gefahr-
lichkeit keine besondere Funktion mehr im Tötungsstrafrecht zu.
Überdies fragt es sich, ob auf andere Leit-Kriterien für die Bestitnmung
erhöhten Tötungsunrechts ganz verzichtet werden kann. Heimtücke und
"niedrige Beweggründe" sollen gänzlich wegfallen. Damit wird der An-
wendungsbereich des Lebenslang drastisch gegenüber dem bisherigen be-
schnitten. Das Lebenslang würde, wie ein Kritiker formuliert, zur "forensi-
schen Rarität degenerieren"47. Warum, so kann man sich fragen, sollte nicht
beispielsweise der Täter mit der Höchststrafe belegt werden, der heimtü-
ckisch einen anderen Menschen tötet, weil er an diesem und eben nur die-
sem fürchterliche Rache in grausamster Form üben will, hernach aber ver-
geblich versucht, sich selbst das Leben zu nehmen. Schwerstes Unrecht
liegt vor, aber keine Gemeinschaftsgefährlichkeit.
Man sollte daher überlegen, das genannte Leitkriterium zu ergänzen oder
zu ersetzen durch dasjenige "besonderer Verwerflichkeit". Ein solches Leit-
prinzip ließe es zu, Heimtücke wieder als Mordmerkmal vorzusehen und im
Anwendungsbereich gebührend einzuschränken. Zwei alternative Ziele
würden freilich die Einheitlichkeit und Stimmigkeit des Leitprinzips im AE-
Leben stören.
Als letzter Aspekt kritischer Reflexion seien das Festhalten an der lebens-
langen Freiheitsstrafe und die Bestimmung ihrer Mindestverbüßungszeiten
im AE-Leben 48 gestreift. Zutreffend weisen die Autoren auf eine gegenwär-
tig fehlende Akzeptanz in Politik und Öffentlichkeit hin, würde man die
Abschaffung dieser Strafe vorschlagen. Mehrheitlich haben sie sich prag-
matisch für die Beibehaltung entschieden. Das wäre in einer früheren Zeit
andersartiger gesellschaftspolitischer Gestimmtheit wohl nicht möglich
ge\vesen. Die öffentliche Erklärung "Wider die lebenslange Freiheitsstrafe"
des Komitees rur Grundrechte und Demokratie von 1992 war noch von 150
Experten unterzeichnet worden,49 darunter Mitverfassern des jetzigen AE-
J..Jeben. Ver! hatte sich seinerzeit dem nicht angeschlossen, weil er eine
dann konsequente Ausweitung alternativer Sicherungen für potenziell rück-
fällige Tötungstäter im Maßregelrecht befürchtete. Diese Ausweitung ist
nun geschehen, ohne dass es zur Abschaffung des Lebenslang gekommen
wäre. Sogar neben der Höchststrafe soll Sicherungsverwahrung unsinniger-
weise angeordnet werden können. Das deutet auf eine realistische Einschät-
zung der Autoren. Aber müssen Kriminal\vissenschaftler in Diskussions-
modellen pragmatisch argumentieren? Und wird ein solcher Vorschlag nicht
um so eher angreifbar, wenn gleichzeitig zu verstehen gegeben \vird, man
wolle diese Strafe ähnlich pragmatisch durch "einen weitgehenden Verzicht
auf die Vollstreckung" verändern?50 Das bedeutet Wasser auf die Mühlen
derer, die von "Lebenslang" als einer Lüge sprechen. Es lässt Fragen nach
der Rechtsnatur des "Sicherungsüberhangs" einer aus Präventionsgründen
über die unabdingbare Mindestzeit hinaus reichenden Verbüßung ungeklärt,
THOMAS HILLENKAMP
I.
"Niemand" - so lautet § 12 Abs. 1 des Gesetzes zur Vermeidung von
Schwangerschaftskonflikten (Schwangerschaftskonfliktgesetz - SchKG)l -
"ist verpflichtet, an einem Schwangerschaftsabbruch mitzuwirken". Nach
Abs. 2 dieser Vorschrift gilt das nur dann "nicht, wenn die Mitwirkung
notwendig ist, um von der Frau eine anders nicht abwendbare Gefahr des
Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung abzuwenden". Bei die-
ser nach ihrem Wortlaut jedermann, in der Praxis aber namentlich Ärzten,
ärztlichem Hilfspersonal und - wie der Gebrauch des "unpersönlichen"
Wortes "niemand" nahe legt - auch nach weitgehend übereinstimmender
Meinung Krankenhausleitungen und -trägem ein nur rur den akuten Notfall
eingeschränktes Weigerungsrecht zubilligenden Vorschrift handelt es sich
nach Hans-Georg Koch "um eine der klarsten Bestimmungen des Reform-
werks", die "in ihrem Kern auch allgemein akzeptiert" werde. 2 Für Rein-
hard Merkel "bekräftigt" § 12 Abs. 1 SchKG sogar nur ,,(deklaratorisch)
eine Selbstverständlichkeit"; denn "eine zwangsrechtliche Pflicht", an nicht
im Sinne des § 12 Abs. 2 SchKG strikt medizinisch indizierten Schwanger-
schaftsabbrüchen mitzuwirken, wäre nach ihm "eine nach allgemeinen
Prinzipien unrechtmäßige und wohl auch verfassungswidrige Nötigung".3
11.
Fragt man als erstes nach der Vereinbarkeit des Mitwirkungsverweige-
rungsrechts der Ärzte und Krankenhäuser mit der Rolle, die ihnen der Ge-
setzgeber im Schwangerschaftskonflikt zugedacht hat, muss man die gel-
tende Rechtslage ins Auge fassen. Zwar stammt die Weigerungsrechts-
regelung aus dem 5. StrRG von 1974, das mit § 218a eine Fristenlösung
einführen wollte, 7 die mitzutragen und zu praktizieren der Ärzteschaft und
den Krankenhäusern prospektiv nicht ohne Weiteres zuzumuten sein moch-
te. Das Weigerungsrecht hatte daher (auch) eine Ventilfunktion. Deren
schon damals von den Befürwortem der Fristenlösung befürchtete Wirkung
einer (Schein)Legitimation für einen politisch motivierten Ausstieg aus der
Reform 8 muss sich mit der Berechtigung der Ventilfunktion selbst heute
aber an dem vom Gesetzgeber 19969 auf der Grundlage der Aussagen des
2. Fristenregelungsurteils des Bundesverfassungsgerichts 10 verwirklichten
Lebensschutzkonzept messen lassen. Es zeichnet sich einerseits durch die
für eine Straflosigkeit eines jeden Abbruchs zwingende Mitwirkung von
6 Neben den ohne Einbeziehung der medizinischen Grundlagen in der von Heinz Schöch
gebotenen Qualität nicht denkbaren zahlreichen Beiträgen zum Einfluss von Alkohol, Medi-
kamenten und Drogen im Straßenverkehr, seiner Kommentierung der §§ 19-21 StGB im
Leipziger Kommentar und seinen Äußerungen zu Problemen der Beteiligung von Psychologen
und Psychotherapeuten am Strafvollzug sind seine aus der Mitarbeit im Kreis der "AE-
Professoren" hervorgegangenen gewichtigen Beiträge zur ärztlichen Rolle bei Suizid und
Sterbehilfe besonders hervorzuheben. Im 2010 in 4. Auflage erschienenen, von Roxin und
Schroth herausgegebenen Handbuch des Medizinstrafrechts ist der Jubilar mit drei Arbeiten
vertreten. Namentlich im letzten über die "Gesundheitsfürsorge im Straf- und Maßregelvoll-
zug" (S. 778-810) sind unsere in bester Erinnerung gebliebenen und durch die vergangenen
gemeinsamen Göttinger Tage sehr persönlich gehaltenen Begegnungen auf einem uns verbin-
denden Interessengebiet abgebildet.
7 Art. 2 des 5. StrRG vom 18. Juni 1974 (BGBL I, S. 418) stimmt in beiden Alternativen
wörtlich mit dem heutigen § 12 SchKG überein~ § 218a lautete: "Der mit Einwilligung der
Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist nicht nach § 218
strafbar, wenn seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen verstrichen sind".
8 Befürchtet wurde angesichts des Mitwirkungsverweigerungsrechts kommunaler und kreis-
eigener Krankenhäuser das Unterlaufen des Konzepts vor allem in ländlichen Gegenden durch
die Weigerung der Krankenhausträger, in ihren Häusern Fristenabbrüche zuzulassen, s. zur
Problematik entsprechender Kreistagsbeschlüsse Grupp NJW 1977, 329 ff. ~ zur benannten
Befürchtung auch Koch (Fn. 2), S. 183.
9 Die heute geltende Regelung beruht auf dem Schwangeren- und Familienhilfeänderungs-
gesetz (SFHÄndG) vom 21. August 1995 (BGBL I, S. 1050)
10 BVerfGE 88,203.
514 Thomas Hillenkamp
Ärzten aus. Andererseits gibt es in § 13 Abs. 2 SchKG den Ländern auf, ein
"ausreichendes Angebot ambulanter und stationärer Einrichtungen zur Vor-
nahme von Schwangerschaftsabbrüchen" und damit auch durch Kranken-
häuser ll sicher zu stellen. Die Notwendigkeit der ärztlichen Mitwirkung ist
in § 218a Abs. 1 für die "beratenen", in § 218a Abs. 2 und 3 für die durch
Indikationen gerechtfertigten Schwangerschaftsabbrüche festgeschrieben.
Für Letztere ist die schriftliche Feststellung der Indikation durch einen vom
abbrechenden unterschiedenen Arzt nach § 218b Abs. 1 vorausgesetzt.
Auch für einen nach § 218a Abs. 4 nur fur die Schwangere strat10sen Ab-
bruch ist die Mitwirkung eines Arztes unabdingbar. Die Beratung nach
§ 219 erfolgt zwar nicht zwingend, kann aber durch einen Arzt erfolgen.
§ 2a SchKG hat vor allem fur Spätabbrüche besondere Beratungspflichten
für Ärzte, die der Schwangeren einen pränataldiagnostisch zutage geförder-
ten Befund mitteilen, sowie fur die Ärzte hinzugefügt, die in solchen Fällen
die Feststellung der medizinisch-sozialen Indikation treffen.
Während historisch der Arztvorbehalt (auch) mit der Zurückdrängung des
Laienaborts und des Kurpfuscher-Unwesens erklärt werden kann,12 hat das
Bundesverfassungsgericht 1992 die beiden für das heutige Recht maßgebli-
chen Zielsetzungen dahin zusammengefasst, dass die "staatliche Schutz-
pflicht" es erfordere, "dass die im Interesse der Frau notwendige Beteili-
gung des Arztes zugleich Schutz für das ungeborene Leben bewirkt". Da
der Arzt schon "durch Berufsethos und Berufsrecht" darauf festgelegt sei,
sich für die Erhaltung menschlichen Lebens, auch des ungeborenen, einzu-
setzen, müsse das Recht "den Arzt verpflichten, die ihm zukommende
Schutzaufgabe" fur das werdende Leben im Schwangerschaftskonflikt
wahrzunehmen und den Abbruch allein den Feten vorzubehalten, in denen
er ihn "für ärztlich verantwortbar" hält. Auch müsse das Recht den Arzt
anhalten, seine dem Lebensschutz dienende Aufklärungs- und Beratungs-
pflicht zu erfüllen. Auf diesem Wege werde er zu einer wichtigen "Stütze
für den Schutz des ungeborenen Lebens", auf die "ein auf Schutzwirkung
zielendes Beratungskonzept nicht verzichten" dürfe. 13
N eben diesen das ungeborene Leben betreffenden Schutz tritt das "Inte-
resse der Frau", sachkundig aufgeklärt und beraten, über das Alter der
11 Das gilt, obwohl nach BVerfGE 88, 203, 329 "der Schwangerschaftsabbruch ... nicht
mehr grundsätzlich in das Krankenhaus verwiesen", sondern auch in dafür eingerichteten
Ambulatorien möglich ist und es an sich auch Aufgabe des Staates sein soll, "für ein ausrei-
chendes Angebot an Abbruchseinrichtungen auch in der Fläche des Landes im Sinne einer
Auswahlmöglichkeit zwischen stationären und ambulanten Einrichtungen ·zu sorgen".
12 S. LK-Tröger, 11. Aufl. 2002, § 218a Rn. 13; SK-Rudolphi/Rogall, Stand 2008, § 218a
Rn. 33; s. zu dieser gesetzgeberischen Motivation auch Koch in: EserlKoch, Schwanger-
schaftsabbruch und Recht, 1. Aufl. 2003, S. 159 f.
13 BVerfGE 88,203,289-293.
Zum Mitwirkungsverweigerungsrecht beim Schwangerschaftsabbruch 515
14 S. hierzu BVerfGE 88,203,314 und auch schon BVerwGE 89, 260, 266 f.~ MK-Gropp,
2003, § 218a Rn. 22.
15 BVerfGE 88, 203, 289.
16 BVerfGE 98, 265, 297.
17 "Schonend" meint die Vermeidung denkbarer Angst- und Schmerzeriebnisse namentlich
bei Spätabbrüchen durch Fetozid, s. dazu Hillenkamp FS Amelung, 2009, S. 445~ NK-Merkel,
2. Aufl. 2005, § 218a Rn. 108 ff.
18 "mit Ausnahme des medizinisch indizierten", s. BVerfGE 88,203,314.
19 BVerfGE 88,203, 314.
516 Thomas Hillenkamp
20 BVerfGE 88,203,294.
21 BVerfGE 88,203,328.
22 BVerfGE 88,203,330.
23 BVerfGE 88, 203, 333 f.
Zum Mitwirkungsverweigerungsrecht beim Schwangerschaftsabbruch 517
24 .
BVerfGE 88, 203, 294.
25 BVerfGE 88, 203, 304 (Hervorheb. vorn Verf).
26 LK-Tröger (Fn. 12), § 218a Rn. 77.
27 MK-Gropp (Fn. 14), § 218a Rn. 98. Die Anspruchsverneinung findet sich im Zusammen-
hang mit der Kommentierung des Weigerungsrechts z. B. auch bei Ellwanger, Schwanger-
schaftskonfliktgesetz, 1997, § 12 Rn. 1; NK-Merkel (Fn. 17), § 218a Rn. 164, 166; Schön-
ke/Schröder/Eser Strafgesetzbuch, 23. Aufl. 2006, § 218a Rn. 84; SK-Rudolphi/Rogall
(Fn. 12), § 218a Rn. 69; Ulsenheimer Arztstrafrecht in der Praxis, 4. Aufl. 2008, Rn. 338.
28 S. Pfälz. OLG Zweibrücken MedR 2000, 540~ Gitter/WendUng in: Eser/Hirsch, Sterilisa-
tion und Schwangerschaftsabbruch, 1980, S. 199; Koch (Fn. 2), S. 193.
518 Thomas Hillenkamp
29 S. dazu Gropp Der straflose Schwangerschaftsabbruch, 1981, S. 176 f.~ Koch (Fn.2),
S. 186~ gegen diesen Schluss zunächst auch Grupp (Fn. 8), 332, der ihn dann allerdings ein-
schränkt.
30 S. dazu Sax JZ 1977, S. 327.
31 Der zitierte Gesetzestext entstammt § 1 Abs. 3 des DDR-"Gesetzes über die Unterbre-
chung der Schwangerschaft" vom 09.03.1972 (GB1. I Nr. 5, S. 89)~ die "Behandlungspflicht"
\vurde auch aus § 4 dieses Gesetzes hergeleitet, der "die Vorbereitung, Durchführung und
Nachbehandlung einer nach diesem Gesetz zulässigen Unterbrechung der Schwangerschaft ...
arbeits- und versicherungsrechtlich dem Erkrankungsfall" gleichstellte~ s. zur Rechtslage in der
DDR genauer Lammich in: EserlKoch (Hrsg.), Schwangerschaftsabbruch im internationalen
Vergleich, Teil 1: Europa, 1. Aufl. 1988, S. 325,358 f.
32 S. zur Entstehungsgeschichte Schönke/Schröder/Eser (Fn. 27), Vor §§ 218 ff. Rn. 2 ff.;
Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. 2007, Vor § 218 Rn. 5 ff.
33 Entgegen Cornides (Fn. 5), 2 ff. ist das auch in solcher Klarheit nicht aus dem von ihm
dort unter dem Titel "Ein Menschenrecht für Abtreibung?" besprochenen Gutachten Nr. 4 -
2005 vom 14.12.2005 des EU-Expertennetzwerks für fundamentale Rechte über die Verein-
barkeit von in Konkordaten enthaltenen Gewissensklauseln mit dem EU-Gerneinschaftsrecht
herzuleiten.
34 So Harrer DRiZ 1990, 138.
Zum Mitwirkungsverweigerungsrecht beim Schwangerschaftsabbruch 519
35 Harrer a.a..O.
36 S. zu einem solchen Szenarium Prot. der 25. Sitzung des Sonderausschusses für die Straf-
rechtsreform, S. 1484; es wird auch deshalb erwogen, weil dem Beratungskonzept "unaus-
weichlich die Zumutung an einen Teil der Ärzteschaft immanent" sei, "etwas zu tun und zu
verantworten, was das Bundesverfassungsgericht selbst als Unrecht missbilligt und deshalb
auch nicht für verantwortbar halten kann", so Lackner/Kühl (Fn. 32), Vor § 218 Rn. 14; zu
dieser Zumutung s. auch Hepp Archives of Gynecology and Obstetrics, Vol. 257 (1995),
XXVff.
37 Einschränkend insoweit Grupp NJW 1997,329 ff., der deshalb staatlichen und kommuna-
len Krankenhausträgern ein Weigerungsrecht absprechen will.
520 Thomas Hillenkamp
38 S. dazu Bericht der Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit dem reformierten
§ 218 des Strafgesetzbuches, BT-Drs. 8/3630, S. 20~ s. dazu und zur Not\vendigkeit der "prak-
tischen Zugänglichkeit des erlaubten Schwangerschaftsabbruchs" Koch (Fn. 2), S. 193 f.
39 Koch (Fn. 2), S.183~ s. hierzu genauer Grupp (Fn. 8), 329 ff.~ Maier NJW 1974, 1405~ s.
auch den 1976 in Nr. 49 auf S. 68 ff. unter der Überschrift ,,§ 218: mit sozialer Notlage ist
nichts drin" erschienenen Bericht des Spiegel, der mit der Zusammenfassung beginnt: "Ob eine
Frau ihre Schwangerschaft abbrechen kann oder abgewiesen wird, ist eine Frage des Wohnorts
geworden: In Berlin geht, was in bayerischen Landkreisen so unmöglich ist wie vor der Re-
form des Paragrafen 218. Provinzpolitiker und Kleinstadtärzte unterlaufen das Bundesgesetz.
Bonn sieht "das Gebot der Bundestreue" verletzt".
40 In der Fassung des 15. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 18. Mai 1976 (BGBL 1,
S. 1213).
Zum Mitwirkungsverweigerungsrecht beim Schwangerschaftsabbruch 521
zwingend, die die Verweigerung nur dann fur unzulässig erklärt, "wenn die
Mitwirkung notwendig ist, um von der Frau eine anders nicht abwendbare
Gefahr des Todes oder der schweren Gesundheitsschädigung abzuwenden".
Darin liegt gegenüber § 218a Abs. 2 eine zweifache Restriktion. Denn ei-
nerseits fehlt die Berücksichtigungsfähigkeit "der gegenwärtigen und der
zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren", also das "soziale" Ele-
ment dieser Indikation. Und andererseits geht es um die Gefahr nicht einer
"schwer wiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen
Gesundheitszustandes", sondern um eine demgegenüber engere, an den
Text des § 223 angelehnte Gefahr der (schweren) Gesundheitsschädigung,
zusammengefasst also um die Fälle der Abwendung unmittelbarer41 Todes-
oder schwerer körperlicher Gesundheitsschädigungsgefahr. Da Konstellati-
onen solcher genuin medizinischen Indikation heute nur noch selten vor-
kommen, weil "gravierende schwangerschaftsrelevante internistische Er-
krankungen ... in der Regel gut zu therapieren sind",42 unterfällt auch das
Gros der von der medizinisch-sozialen Indikation erfassten Abbruche, die
sich als Folge eines belastenden Befundes beim Fetus ereignet,43 dem sich
hierauf regelmäßig erstreckenden Mitwirkungsverweigerungsrecht; denn
eine unmittelbare Todes- oder körperliche Gesundheitsschädigungsgefahr
wird sich aus der Mitteilung des Befundes nur sehr selten ergeben. So wie
seinerzeit die soziale Indikation bietet heute die medizisch-soziale in ihrem
Hauptanwendungsfeld keine Gewähr, dass die sich auf sie berufende Frau
mitwirkungsbereite Ärzte oder Krankenhäuser findet.
Sicher kann man etwa mit Blick auf das Katholiken bindende Kirchen-
recht, nach dem eine "direkte, das heißt eine als Ziel oder Mittel gewollte
Abtreibung" als ein "schweres Vergehen gegen das sittliche Gesetz" gilt,
das mit der Tatstrafe der Exkommunikation geahndet wird,44 oder den
41 Auf die Einführung dieses Begriffs drängt der von der BÄK und der DGGG gemeinsam
am 14.12.2006 publizierte "Vorschlag zur Ergänzung des Schwangerschaftsabbruchsrechts aus
medizinischer Indikation, insbesondere unter Berücksichtigung der Entwicklung der Pränatal-
diagnostik", S.20, wieder abgedruckt in Anhang 2 zur "Gemeinsamen Stellungnahme der
BÄK und der DGGG für die Anhörung am 16. März 2009 zur Gesetzlichen Änderung des
Schwangerschaftskonfliktgesetzes", Deutscher Bundestag, Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend, Ausschussdrucksache 16 (13), S. 439 f.
42 S. Vorschlag (Fn.41), S. 12, 18~ als akute Indikation werden Eklampsie und Prä-
eklampsie genannt.
43 S. dazu Hillenkamp (Fn. 17), S. 425,427,434 ff.
44 Katechismus der Katholischen Kirche, 1993, S. 578~ can 1398 des Codex Juris Canonici
(CIC) lautet in deutscher Übersetzung: "Wer eine Abtreibung vornimmt, zieht sich mit erfolg-
ter Ausführung die Tatstrafe der Exkommunikation zu"~ nach can 1314 tritt die "Tatstrafe"
ohne Spruch "von selbst durch Begehen der Straftat" ein, s. Codex des canonischen Rechts,
lateinisch-deutsche Ausgabe, 5. Aufl. 2001. Zeitungsberichten (s. z.B. FAZ vom 6. März 2009,
S. 9) zufolge wird Exkommunikation (auch) beteiligter Eltern und Ärzte bei Schwanger-
522 Tholnas Hillenkamp
Standpunkt der evangelischen Kirche, nach dem zwar nicht die Entschei-
dung der Schwangeren zum Abbruch, wohl aber die Mitwirkungsverweige-
rungsentscheidung des Arztes oder ärztlichen Personals als echte "Gewis-
sensentscheidung" gilt45 wie angesichts der Vorbehalte religiös geprägter
StimInen in islamischen Ländern gegen einen Abbruch jedenfalls im fortge-
schrittenen Gestationsalter46 Bedenken erheben, ob der Staat zur Mitwir-
kung überhaupt - und wenn auch nur in den eng begrenzten Fällen des § 12
Abs.2 SchKG - "verpflichten" darf. Wenn er es aber nur fiir den benannten
Einzelfall tut, so muss er dafür trifftige, besser noch z\vingende Gründe
haben. Andernfalls sind nur "sonst" gültige Rechtfertigungsgründe diskredi-
tiert.
111.
Wer die hier aufgefiihrten Vorbehalte gegen das Mitwirkungsverweige-
rungsrecht beim Schwangerschaftsabbruch teilt oder ihnen eine gewisse
Berechtigung nicht abspricht, muss fragen, welche Folgerungen sie nahe
legen. Da sich anders als in dominant vom katholischen Glauben geprägten
Ländern 47 in Deutschland heute "nennenswerte Probleme, Ärzte und Kran-
kenhauspersonal zu finden, die beim Schwangerschaftsabbruch mitwirken
... in der Praxis nicht (mehr) ergeben",48 könnte man geneigt sein, es bei der
für die Ärzteschaft49 und 1974 auch für den Großteil der Politik50 offenbar
unverzichtbaren Weigerungsrechtsregelung zu belassen. Hierfür ließe sich
(auch) anführen, dass dann, wenn das Weigerungsrecht des Arztes nach
dem Bundesverfassungsgericht5l "in den Schutzbereich seines durch die
ärztliche Berufspflicht geprägten Persönlichkeitsrechts" fällt, der Schutz
dieser grundrechtlich abgesicherten Position nicht mehr als im Sinne des
Rechtsgüterschutzes der Schwangeren unabdingbar eingeschränkt werden
sollte. Auch könnte man eine "großzügige" Freistellung danlit zu rechtferti-
gen suchen, dass es einem liberalen Rechtsstaat, der sich in einer die Gesell-
schaft spaltenden Frage dazu entschließt, in Fällen des Schwangerschafts-
konflikts die vormals rigidere Strafandrohung in einem in seinem Umfang
umstrittenen Maße zurückzunehmen, gut anstehe, niemandem die Ver-
pflichtung aufzubürden, an der "Durchführung" dieses Programms mitzu-
wirken,52 solange nur gesichert bleibt, dass die durch Weigerung entstehen-
den "Schwächen" oder "Lücken" im implementierten System durch eine
ausreichende Zahl von Mitwirkungswilligen ohne Auswirkung bleiben.
Auch wenn solche Gründe Gewicht haben, sollte man die aufgezeigten
Vorbehalte aber nicht ohne jede Wirkung belassen. Sie wiegen als die oh-
nehin kompromisshafte und mit manchen Ungereimtheiten befrachtete
gesetzgeberische Lösung zum Schwangerschaftsabbruch zusätzlich belas-
tende Irritationen des Lebensschutzkonzepts, der "Rechte der Schwangeren"
im Konflikt und der gesetzlichen Bewertungen seiner straffrei gestellten
Lösungen schwer. Um sie abzumildern muss und kann man allerdings für
die radikalste Bereinigung der aufgezeigten Widersprüchlichkeiten, für eine
Abschaffung des Weigerungsrechts wohl nicht plädieren. Abgesehen davon,
dass sich ein Weigerungsrecht - deklarierte man es gesetzlich nicht - auf-
grund seiner verfassungsrechtlichen Verbürgung in Deutschland ohnehin in
der Rechts- und Spruchpraxis hielte, findet man europa- und weltweit den
Verzicht auf ein gesetzlich oder in der Standesethik verankertes Weige-
können diese Aussage aber entkräften. Dann entsteht die Frage des
"Zwangs" zur Erfüllung einer "an sich" doch begründeten Pflicht. 58
Wie man sie beantwortet, kann man sicher der durch die Rechtsprechung
kontrollierten praktischen Übung überlassen. Das hätte den "Vorteil", diese
vom Bundesverfassungsgericht sogenannte "Unsicherheit" und "unver-
meidbare" Schwäche im System von Beratung und Versorgung nicht im
Gesetz sichtbar zu machen, vielleicht auch, die vom "System" nicht er-
wünschte Verweigerung zu erschweren. Demgegenüber ist eine gesetzlich
nachlesbare Aussage zum Weigerungsrecht aber aus Gründen der Rechts-
klarheit, -verdeutlichung, -ehrlichkeit und der Rechtssicherheit vorzugswür-
dig. Plädiert man folglich nicht für eine Abschaffung des Weigerungsrechts
und auch nicht gegen eine gesetzliche Weigerungsklausel, kann man die
hier erhobenen Einwände nur dadurch mindern oder beseitigen, dass man
die Klausel so fasst oder auslegt, dass sie ihre das Gesamtkonzept störenden
Ausstrahlungen so weit wie möglich verliert. Ob und wie das gelingen
könnte, sei abschließend an drei dem Weigerungsrecht inhärenten Fragen
geprüft.
IV.
Als erstes fällt ins Auge, dass nach dem Text des § 12 Abs. 1 SchKG
niemand, der sich auf das Weigerungsrecht beruft, hierfür eine Begründung
schuldet. Daraus folgert die ganz h. L., dass die Erklärung "Ich/Wir mache
(n) es nicht" genüge, jede "Begründungs-" oder "Beweislast" fehle und
darüber hinaus, dass es auf den Weigerungsgrund (folglich) nicht ankomme.
Namentlich ein "Gewissensgrund" müsse es also nicht sein. Da das Gesetz
nach den Motiven nicht frage, schließe es jede Anforderung an ihre Valenz
und jede Überprüfung ihrer Anerkennungswürdigkeit aus. 59 Während hier-
58 Denkbar ist z. B., dass ein in einem Dienst- oder Arbeitsverhältnis angestellter Arzt durch
den Dienstherrn oder Arbeitgeber zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen ver-
pflichtet wird; denkbar ist auch, dass durch § 323c oder eine Garantenpflicht die Abwendung
von Gesundheits- oder Lebensgefahr durch den Arzt strafrechtlich geboten ist; s. hierzu nur
Gitter/Wendling in: Eser/Hirsch, Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch, 1980, S. 198 ff.;
Hirsch/Weißauer Rechtliche Probleme des Schwangerschaftsabbnlchs, 1977, S. 71 ff.; Kohle
NZA 1989, 161, 167 f. Wegen dieser die Rechtsgebiete übergreifenden Bedeutung ist das
Weigerungsrecht nicht - wie ursprünglich vorgesehen - im StGB, sondern zunächst in Art. 2
des 5. StrRG, später dann in § 12 SchKG geregelt worden, s. dazu j\1aier NJW 1977, 1405.
59 Der Grundkonsens findet sich z. B. bei Büchner ZfL 2008, 6; Gitter/Wendling (Fn. 58),
S. 199; Gropp (Fn. 29), S. 179; Harrer DRiZ 1990, 138; Kaup Der Schwangerschaftsabbruch
aus verfassungsrechtlicher Sicht, 1992, S. 207; Koch (Fn.53), Teil 1, S. 185; LK-Tröger
(Fn. 12), § 218a Rn. 81; Maier (Fn. 39), 407; MK-Gropp (Pn. 14), § 218a Rn. 99 f.; NK-
Merkel (Fn. 17), § 218a Rn. 167; Sax (Fn. 30), 336; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 27), § 218
526 Thomas Hillenkamp
von wenige Stimmen60 bei "offensichtlicher Willkür" oder aus dem Weige-
rungsmotiv ableitbarem "Missbrauch" eine Ausnahme machen wollen,
wollen andere, da sie hierdurch die Folge eines unzulässigen "Kontrahie-
rungszwangs" oder eine ungesetzliche "Motivzensur" berurchten, auch
diese Ausnahme nicht machen. "Wer aus jederlei Motiv ablehnen darf, darf
es" hiernach "auch aus dem schäbigsten".61
Es liegt auf der Hand, dass eine in solcher Weise beliebig ausübbare und
nach der zuletzt genannten Meinungsvariante nicht einmal durch die eigent-
lich jeder Rechtsausübung immanente Missbrauchsschranke eingeengte, mit
anderen Worten gänzlich entfesselte Mitwirkungsverweigerung weder mit
den aus dem Lebensschutzkonzept gespeisten Gründen des Arztvorbehalts
und des Sicherstellungsauftrages noch mit dem nach dem Sozialstaatsprin-
zip und dem Diskriminierungsverbot Frauen im Schwangerschaftskonflikt
geschuldeten Mindesstandard einer (fairen) Hilfe, Beratung und Versorgung
harmoniert. Die Notwendigkeit eines solchen selbst der Willkür- und Miss-
brauchsschranke enthobenen Rechts ergibt sich auch rur seinen praktischen
Kernbereich sicher nicht aus dem VOITI Bundesverfassungsgericht aufgeru-
fenen, "durch das ärztliche Berufsbild geprägten Persönlichkeitsrecht".
Ganz im Gegenteil entspräche es allein dem mit diesem korrespondierenden
ärztlichen Ethos, das Verweigerungsrecht nur aus Gewissensnot auszuüben,
die sich rur nicht wenige Ärzte nachvollziehbar aus der von ihnen empfun-
denen Unvereinbarkeit des ärztlichen Auftrags, Leben zu erhalten, mit einer
in der Tötung von Leben bestehenden ärztlichen Hilfe ergeben mag. Man
sollte folglich das Weigerungsrecht vor Willkür und Missbrauch schützen.
Das aber geschieht am wirksamsten dann, wenn man seine Ausübung an das
Vorliegen (nachprüfbarer) Gewissensgründe bindet.
Dass eine solche Verengung bereits de fege fata möglich ist, wird aller-
dings mit nur schwer überwindbaren Gründen bestritten. Sie fließen aus der
Gesetzgebungsgeschichte. 62 In ihrem Verlauf hat man die vom Regierungs-
entwurf zum 5. StrRG 63 noch vorgesehene Vorschrift des § 220b StGB, die
die Verweigerungsberechtigung an das Vorliegen von "Gewissensgründen"
Rn. 84; SK-Rudolphi/Rogall (Fn. 12), § 218a Rn. 67; Ulsenheimer (Fn. 27), Rn. 338; Pfäl-
zOLG Zweibrücken MedR 2000, 540.
60 Der Willkür- und Missbrauchsvorbehalt findet sich z. B. bei LK-Tröger (Fn. 12), § 218a
Rn. 81; MK-Gropp (Fn. 14), § 218a Rn. 100; Schönke/Schröder/Eser (Fn. 27), § 218a Rn. 84.
61 So vor allem Merkel in: Roxin/Schroth (Fn.3), S. 231; NK-Merkel (Fn. 17), § 218a,
Rn. 167; in der Sache ebenso SK-Rudolphi/Rogall (Fn. 12), § 218a Rn. 67; als ein "schäbiges"
bzw. "missbräuchliches" Vorgehen wird regelmäßig die Begründung genannt, einen Schwan-
gerschaftsabbruch nur gegen besonderes Entgelt vorzunehmen, ein Verhalten, das nach § 291
StGB zu beurteilen sei.
62 S. dazu zunächst Laujhütte/Wilkitzki JZ 1976,337; Maier (Fn. 39), 1404 ff.
63 BR-Drs. 58,72 vom 14.02.1972; zum Weigerungsrecht dort Begründung S. 37 f.; die For-
mulierung des § 222b ist identisch mit einem Gruppenantrag der SPD, s. BT-Drs. 7/443, S. 5.
Zum Mitwirkungsverweigerungsrecht beim Schwangerschaftsabbruch 527
band,64 durch Art. 2 des 5. StrRG ersetzt, der dem heutigen Text des § 12
SchKG entspricht. Dem langsamen Abschied von der Einengung auf Ge-
wissensgründe liegen unterschiedliche Erwägungen zugrunde. Während in
den Beratungen des Sonderausschusses manche glaubten, dass "niemand
imstande sei, das Gewissen wirklich zu beurteilen", es dabei auch zur "Ge-
wissensschnüffelei" kommen müsse und man deshalb schlicht sagen können
solle "Nein, ich tue es nicht",65 gab der Ministerialrat Horstkotte in Vor-
wegnahnle der späteren Aussage des Bundesverfassungsgerichts "persön-
lich" zu bedenken, "ob nicht angesichts der Besonderheit des ärztlichen
Berufs als eines freien Berufs und der besonderen ethischen Verpt1ichtun-
gen, die der Arzt eingegangen ist, ein weiter Spielraum für die Entschei-
dungsfreiheit des Kassenarztes bestehen" müsse, "der die Ablelmung von
Schwangerschaftsabbrüchen" einschließe. 66 Auch wurden Gründe vorgetra-
gen, die anerkennenswert seien, ohne die Höhe von Gewissensgründen zu
erreichen. Genannt wurden etwa der gefürchtete \1 ertrauensverlust bei einer
"Klientel, die den Schwangerschaftsabbruch aus religiösen Gründen ab-
lehnt" oder eine drohende "Depression~' bei Ärzten, die "viele Schwanger-
schaftsabbrüche durchgeführt haben und nun psychisch nicht mehr kön-
nen~'.67 Auf dem Hintergrund solcher Überlegungen wurde zwischenzeitlich
erwogen, nicht nur dem, der "Gewissensbedenken hat", sondern auch dem,
dem "die Mitwirkung aus anderen Gründen nicht zumutbar ist", das Weige-
rungsrecht einzuräumen,68 zuvor auch, "ob solche Probleme nicht unter
einen weiter gefassten Gewissenbegriff fallen. "69
Da sich 'auf diesem Hintergrund die heute geltende Fassung durchgesetzt
hat, liegt es nahe, das Verlangen nach Begründung und namentlich Gewis-
sensgründen für mit dem in der Gesetzesfassung zum Ausdruck gekomme-
nen gesetzgeberischen Willen für unvereinbar zu halten. Wer das so sieht,
kann nur nach dem Gesetzgeber rufen und auf die "Wiederaufnahme" der
Ursprungsfassung 70 drängen. In1merhin ließe sich aber auch an eine dem
Lebensschutzkonzept und seinen vom Bundesverfassungsgericht herausge-
schälten verfassungsrechtlichen Vorgaben besser entsprechende restriktive
71 Dass darunter nicht nur arztethisch, sondern auch religiös bedingte Ablehnung fällt, ver-
steht sich von selbst, s. dazu noch einmal Barth (Fn. 45).
72 Dies gilt nach der 1991 ergangenen Entscheidung des BVerwG (E 89, 260, 262) für die
heute geltende Fassung.
73 Der Einwand lautet: "Es wäre ein zu tiefer Eingriff in bestehende Rechtsverhältnisse und
auch gegenüber der hilfesuchenden Schwangeren nicht zu verantworten, wollte man jedes
Motiv für die Weigerung in die Vorschrift des § 220b einbinden ... unter den sonstigen Be-
weggründen für die Weigerung kann ... nicht mit der nonvendigen Eindeutigkeit zwischen
legitimen und nicht legitimen Motiven unterschieden werden", RegE eines 5. StrRG, BR-Drs.
58/72, Begr. S. 37.
74 S. dazu noch einmal die Wiedergabe solcher Äußerungen bei Maier (Fn. 39), 1406
75 Die Frage ist von Beginn an lebhaft diskutiert worden, s. zu ihr besonders ausführlich und
das Weigerungsrecht letztlich bejahend Gitter/Wendling (Fn. 58), S. 204 ff.~ HirschiWeißauer
(Fn. 58), S. 105 ff.~ Maier (Fn. 39), 1406 ff.~ heute bejaht z. B. von Ellwanger (Fn. 27), § 12
Rn. 2~ MK-Gropp (Fn. 14), § 218a Rn. 97~ NK-Merkel (Fn. 17), § 218a Rn. 164~ SK-
Rudolphi/Rogall (Fn. 12), § 218a Rn. 66.
76 SO Z. B. mit dem Ergebnis der Ablehnung eines Weigerungsrechts Grupp (Fn. 8), 331~
Kaup (Fn. 59), S. 210~ Zweifel auch bei LK-Tröger (Fn. 12), § 2I8a Rn. 81.
Zum Mit\virkungsverweigerungsrecht beim Sch\vangerschaftsabbruch 529
77 Aus diesem Grund wird von SK-Rudolphi/Rogall (Fn. 12), § 2I8a Rn. 65 angenommen,
das Weigerungsrecht verstehe sich in diesen Fällen von selbst~ s. auch Weber (Fn. 48)~ § 5 Rn.
57: "lediglich deklaratorische Bedeutung"."
78 BVerfGE 39,1,49.
79 SK-Rudolphi/Rogall (Fn. 12), § 218a Rn. 68.
80 LK-Tröger (Fn. 12)~ § 218a Rn. 79.
81 Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1,4. Aufl. 2006, § 22 Rn. 116.
530 Thomas Hillenkamp
kann nichts anderes gelten. Ist die Mitwirkung des Arztes nicht "notwen-
dig", weil ein anderer Arzt rechtzeitig bereit steht, den rettenden Eingriff
vorzunehmen, ist die Weigerung nach § 12 Abs.2 SchKG nicht ausge-
schlossen, nach dem hier eingeschlagenen Weg aber gleichfalls auf die
Fälle der Gewissensnot zu beschränken. Das gilt auch für die weiteren
Konstellationen eines gerechtfertigten Abbruchs. Dass der Gesetzgeber in
§ 12 Abs.2 SchKG nur den Fall der engen medizinischen Indikation be-
denkt, ist also entgegen erstem Anschein keine Herabstufung der restlichen
Indikationen und diskreditiert diese folglich nicht. 82
N ach allem empfiehlt es sich, der Weigerungsklausel den Charakter einer
Gewissensklausel zu geben. Da dies de lege lata schwierig ist, sollte der
Gesetzgeber handeln. Als Alternative ist zu bedenken, Schwangerschafts-
abbrüche auch in Deutschland allein hierfür auf ihren Antrag zugelassenen
Ärzten und Institutionen zu überlassen. Sie hätte für sich, dass sie ein Mit-
wirkungsverweigerungsrecht bei Schwangerschaftsabbrüchen erübrigen und
damit ein nur schwer lösbares Problem aus der Welt schaffen würde.
82 Die von BVerfGE 88,203,294 und wohl auch Tröndle NJW 1995,3009,3016 angedeu-
tete Erstreckung des Weigerungsausschlusses auf die Fälle einer medizinisch-sozialen Indika-
tion (ohne unmittelbare Lebens- oder Gesundheitsgefahr) hätte zwar die Gleichstellung aller
unter § 218a Abs. 2 fallenden Fälle für sich, würde aber - wenn sich die Weigerung auf Gewis-
sensnot stützt - Art. 4 GG verletzen.
Die italienische Strafvorschrift gegen das Stalking
im Vergleich mit § 238 des deutschen
Strafgesetzbuchs
MANFRED MAIWALD
3 Zum Protection from Harassment Act 1997 vgl. v. Pechstaedt Stalking. Strafbarkeit nach
englischem und deutschem Recht, 1999, insbes. S. 98 ff.; Löhr a.a.O., S. 238 ff.
4 Dazu vgl. Rackow GA 2008,555.
5 Schroeder (Fn. 1) S. 180.
Die italienische Strafvorschrift gegen das Stalking 533
6 Decreto Legge 23 febbraio 2009 n. 11, convertito in Legge 23 aprile 2009 n. 38.
7 Übersetzung durch den Verf.
8 Art. 612-bis (Atti persecutori)
Salvo che ilfatto costituisca piu grave reato, epunito con la reclusione da sei mesi a quat-
tro anni chiunque , con condotte reiterate, minaccia 0 molestia taluno in modo da cagionare
un perdurante e grave stato di ansia 0 di paura ovvero da ingenerare un fondato timore per
I'incolumita propria 0 di un prossimo congiunto 0 di persona al medesimo legata da relazione
affettiva ovvero da costringere 10 stesso ad alterare le proprie abitudini di vita.
La pena e aumentata se il fatto e commesso dal coniuge legalmente separato 0 divorziato
o da persona che sia stata legata da relazione affettiva alla persona offesa.
La pena e aumentata fino alla meta se il fatto e commesso a danno di un minore, di una
donna in stato di gravidanza 0 di una persona con disabilita di cui all'articolo 3 della legge 5
febbraio 1992, n. 104, ovvero con armi 0 da una persona travisata.
Il delitto epunito a querela della persona offesa. 11 termine per la proposizione della que-
rela e di sei mesi. Si procede tuttavia d'ufficio se ilfatto e commesso nei confronti di un minore
o di una persona con disabilita di cui all'articolo 3 della legge 5 febbraio 1992, n. 104, nonche
quando ilfatto e connesso con altro delitto per il quale si deve procedere d'ufficio.
534 Manfred Maiwald
Schon auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass diese Vorschrift sich von
§ 238 StGB dadurch unterscheidet, dass sie die Tathandlungen des Stalking
weniger detailliert aufzählt: Während § 238 StGB - sieht man einmal von
den "vergleichbaren" Handlungen ab - in vier Nummern das Nachstellen
mit dem Aufsuchen der räumlichen Nähe, dem Versuch der Kontaktauf-
nahme durch Telekommunikationsmittel usw. deskriptiv zu erfassen ver-
sucht, verwendet die italienische Regelung zur Beschreibung der Tathand-
lung die beiden plakativen Begriffe "bedrohen" und "belästigen".
Andererseits wird in der italienischen Regelung der für die Strafbarkeit
wesentliche Taterfolg nicht nur durch die Formulierung "schwerwiegende
Beeinträchtigung der Lebensgestaltung" gekennzeichnet, sondern es wird
eine Mehrheit möglicher für die Deliktsbegehung relevanter Erfolge aufge-
zählt, nämlich ein fortdauernder Zustand der Beunruhigung oder Angst oder
die begründete Furcht fur die Unversehrtheit der Person des Opfers oder für
bestimmte diesem nahe stehende Personen oder der Zwang zur Änderung
der Lebensgewohnheiten des Opfers.
In formaler Hinsicht ist festzustellen, dass die italienische Regelung eben-
so wie die deutsche Regelung Qualifikationen enthält, die freilich sachlich
von den deutschen Qualifikationen, die auf einen Todeserfolg oder den
Erfolg der Gefahr des Todes oder einer schwerwiegenden Gesundheitsbe-
schädigung abstellen, deutlich verschieden sind: Die Qualifikationen betref-
fen die persönlichen Beziehungen zwischen Täter und Opfer, eine besonde-
re Schwächeposition des Opfers und die Handlungsmodalitäten.
Jedoch ist der Todeserfolg einer Handlung des Stalking der Sache nach in
Italien ebenfalls als Qualifikation erfasst, allerdings gesetzestechnisch an
einer ganz anderen Stelle, nämlich als erschwerender Umstand bei den
Tötungsdelikten (Art. 576 c.p.). Vorweg zu erwähnen ist weiterhin, dass die
italienische Strafvorschrift gegen das Stalking von prozessualen Regelun-
gen flankiert wird, auf die noch - ebenso wie auf die Qualifikationen -
zurückzukommen sein wird.
9 "Wie wird dieser Tatbestand in Italien funktionieren? Tatsächlich wissen wir das nicht."
Und: " .... wir können darauf nur mit Vermutungen antworten": Belfiore unveröff. Manuskript
eines Vortrags in Caltanisetta am 18. 6. 2009. Für die Überlassung des Manuskripts bin ich
Herrn Kollegen Belfiore sehr zu Dank verbunden.
10 "Es ist unbestreitbar, dass die Formulierungen in diesem Tatbestand nicht das Maß an
Genauigkeit und Bestimmtheit erreichen, durch die andere Tatbestände in unserem Strafrecht
gekennzeichnet sind (wie zum Beispiel Körperverletzung, Diebstahl usw.)": Macri Diritto
penale e processo, 2009, S. 827.
11 "Die vergleichende Untersuchung hat im Übrigen zweifellos ergeben, dass der italieni-
sche Tatbestand sicherlich genauer und bestimmter ist als der britische, und, vor allem, der
deutsche Tatbestand": Macri a.a.O., S. 827.
536 Manfred Maiwald
tudini di vita" von Macri ohne weiteres damit umschrieben, dass die Tat-
handlungen in schwerwiegender Weise die Lebensqualität des Opfers beein-
trächtigen. 12 Die beiden anderen möglichen Erfolge sind rein psychischer
Natur und werden mit den Begriffen "Beunruhigung" (ansia), "Angst"
(paura) und "Furcht" (timore) umschrieben, wobei der rur die "Beunruhi-
gung" verwendete Begriff ansia sprachlich ebenfalls das Moment der Angst
mit enthält.
Die Erfolgsbeschreibungen ruhren zu der Frage, was als das in Art. 612-
bis C.p. geschützte Rechtsgut anzusehen ist. Im Hinblick auf die Beeinträch-
tigung der Lebensgestaltung in der deutschen Regelung hat der deutsche
Gesetzgeber erklärt, geschützt sei durch die Vorschrift der individuelle
Lebensbereich. 13 Die Literatur hat diese Festlegung durch die Gesetzesbe-
gründung teilweise kritisiert und sieht andere oder zusätzliche Rechtsgüter
als geschützt an und weist vor allem darauf hin, dass entsprechend den
empirischen Erscheinungsformen des sozialpsychologischen Phänomens
"Stalking" der Aspekt des Rechtsfriedens im Sinne eines Lebens ohne
Furcht nicht außer Betracht gelassen werden dürfe. 14 Würde man die Frage
des in der deutschen Regelung geschützten Rechtsguts allein aus dem vor-
ausgesetzten Erfolg - der schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebens-
gestaltung - erschließen wollen, so würde allerdings die Willensentschlie-
ßung und die Willensbetätigung als geschütztes Rechtsgut anzusehen sein.
Denn eine Beeinträchtigung der Lebensgestaltung ist, da diese als Gestal-
tung auf dem Willen des Tatopfers beruht - andernfalls würde dieses nichts
"gestalten" - nur in der Weise denkbar, dass der Wille des Tatopfers beein-
flusst wird. 15
Nach dieser letzteren Weichenstellung würde dann der deutsche Stalking-
Tatbestand des § 238 StGB dieselbe objektive Struktur aufweisen wie der
Tatbestand der Nötigung: Durch Einwirkung auf den Willen des Opfers
wird dieses dazu veranlasst, eine Handlung, Duldung oder Unterlassung
vorzunehmen, die es ohne diese Einwirkung nicht vornehmen würde. Zu
beachten ist freilich, dass die Einwirkung im deutschen Tatbestand der
Nötigung mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel
geschehen muss, dass das Drohungselement andererseits in § 238 8tGB nur
in Nr. 4 - Bedrohung mit der Verletzung von Leben usw. - enthalten ist und
dass das Gewaltelement überhaupt fehlt. Die entscheidende Frage rur das
durch § 238 StGB geschützte Rechtsgut ist aber nach alledem, ob der im
12 Macri (Fn. 10), S. 826: " .....eondotte moleste e minaeciose ehe, pur senza eagionare un
grave stato di ansia 0 paura, ineidono pesantemente sulla qualita di vita deI destinatario delle
stesse."
13 BT-Drs. 16/575, S. 6.
14 Darstellung der Meinungen z. B. bei Rackow (Fn. 4), 556 ff.; Löhr (Fn. 2), S. 297 ff.
15 Vgl. Heinberg JZ 2006, 31.
Die italienische Strafvorschrift gegen das Stalking 537
16 In subjektiver Hinsicht sei an dieser Stelle angemerkt, dass nach allgemeiner Meinung der
Täter hinsichtlich des Erfolges der schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestaltung
des Opfers vorsätzlich handeln muss (vgl. z.B. Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. 2007, § 238 Rn.
7~ Fischer StGB, 56. Aufl. 2009, § 238 Rn. 30). Belästigt also der Täter das Opfer, ohne eine
schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensweise des Opfers auch nur für möglich zu halten
und/oder in Kauf zu nehmen (der Täter will z.B. partout nicht, dass das Opfer seine Lebens-
weise ändert), so bleibt der Täter straflos.
17 Macri (Fn. 10), S. 826: " '" si auspica che al riguardo venga valoriz::ato I'uso dei verbo
'costringere', onde pervenire aa una - quanta meno parziale - oggettivazzione dei concetto
sunnom inato."
538 Manfred Maiwald
Der deutsche Gesetzgeber, der in § 238 StGB die Opferreaktion der Än-
derung der Lebensgestaltung als alleinigen, aber auch notwendigen Erfolg
des Täterhandelns vorsieht, führt auf der anderen Seite zu der Frage, warum
eigentlich bei beharrlichen und unbefugten Nachstellungshandlungen i. S.
der Nr. 1 bis 4 des § 238 StGB, die das Opfer in Furcht versetzen, die Straf-
verfolgungsbehörden, um den Täter verfolgen zu können, abwarten müssen,
bis auch wirklich das Opfer die Gestaltung seines Lebens in schwerwiegen-
der Weise geändert hat - wobei noch dazu solche schwerwiegenden Ände-
rungen von der psychischen Stabilität des jeweiligen Opfers abhängen wer-
den.
geschieht. Die meisten Menschen suchen jeden Tag die räumliche Nähe
anderer Menschen auf. Wenn der Arzt im Krankenhaus immer wieder die
räumliche Nähe der ihm anvertrauten Patienten aufsucht, wenn der Lehrer
jeden Morgen seine Schüler unterrichtet und - natürlich - dabei deren
räumliche Nähe aufsucht, wenn ein berufstätiger Ehegatte allabendlich nach
Hause zurückkehrt und die Nähe des jeweils anderen Ehegatten aufsucht, so
ist damit sicher noch kein Unrechtsindiz im Sinne des Tatbestands des Stal-
king geschaffen, für das man dann erst nach einem Rechtfertigungsgrund
suchen müsste, um ein Eingreifen des Staatsanwalts auszuschließen. Erst
wenn man in das Merkmal "beharrlich" das Handeln gegen den Willen des
anderen hineinlegt27 und auch noch das Handeln ohne "Befugnis" berück-
sichtigt,28 lässt sich im Aufsuchen der räumlichen Nähe eines anderen Men-
schen so etwas wie Unrechtsrelevanz erkennen.
Insgesamt kann man bei einem Vergleich der Tathandlungen feststellen,
dass die italienische Regelung das sozialpsychologische Phänomen, das von
der Stalking-Norm erfasst werden soll, deutlicher zum Ausdruck bringt als
die deutsche. Es geht um wiederholte Nachstellungshandlungen, die beim
Opfer zu einem Zustand der Einschüchterung führen, indem sie bei diesem
ein körperliches oder psychisches Unbehagen erzeugen und ein nachvoll-
ziehbares Gefühl der Furcht. Da der "Zwang", die Lebensgewohnheiten zu
ändern, nach dem Wortlaut der Bestimmung ebenfalls durch Drohung oder
Belästigung erzeugt sein muss, ist auch in dieser Handlungsmodalität die
Beziehung zu einer psychischen Beeinträchtigung hergestellt. Allerdings
besteht der Preis, der für diese Verdeutlichung zu zahlen ist, in der Verwen-
dung summarisch-wertender Begriffe - bedrohen und belästigen - und in
der Subjektivierung des Erfolgs - Zustand der Beunruhigung und Angst -
so dass mit dieser Verdeutlichung auch hier das strafrechtliche Bestimmt-
heitsgebot tangiert ist.
29 Zum Rechtsbehelf des riesame im italienischen Strafverfahren gern. Art. 309 c.p.p. näher
Maiwald Einführung in das italienische Strafrecht und Strafprozessrecht, 2009, S. 200 f.
30 Der GIP (giudice per fe indagini preliminari) ist dem deutschen Ermittlungsrichter ver-
gleichbar; s. Maiwald a.a.O., S. 204 f.
31 Entscheidung des Tribunale di Bari S. 1 (http//www.uilpadirigentiministeriali.com).
32 Sachverhalt in der Entscheidung des Tribunale di Bari a.a.O., S. 2 f.
544 Manfred Maiwald
Angesichts der Feststellungen, die die Bedrohung mit dem Tode herausstel-
len, dürfte aber hier die schwerwiegendere Tathandlung des Bedrohens
ohne weiteres anzunehmen sein. Demgemäß war wohl die Verwerfung des
riesame in diesem Fall des Tribunale di Bari unproblematisch
mit "Person, die mit der verletzten Person affektiv verbunden war". Damit
würden aber - so die Kritik - Begriffe verwendet, die ansonsten der italieni-
schen Gesetzgebung gänzlich unbekannt seien. Vielmehr wäre es - so wie-
derum die Kritik - wünschenswert gewesen, etwa die Formulierung" legata
da relazione sentimentale stabile zu wählen, weil so die Unbestimmtheit,
H
35 Die Regelstrafe ist Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 4 Jahren. Sie ist gern. Art. 64 C.p.
bis um ein Drittel- also 16 Monate - zu erhöhen, was im Höchstmaß die Summe von 5 Jahren
4 Monaten ergibt.
36 Vgl. etwa Lackner/Kühl (Fn. 16), § 238 Rn. 12.
546 Manfred Maiwald
IX. Schlussbemerkung
Die Erfassung des soziologischen Phänomens des Stalking durch eine ge-
setzliche Regelung des Strafrechts stellt offenbar jede Rechtsordnung vor
kaum überwindliche Schwierigkeiten, jedenfalls dann, wenn diese sich dem
Bestimmtheitsgrundsatz verpflichtet fühlt. Die italienische Regelung des
Art. 612-bis C.p. ist im Kreis der inzwischen in vielen Staaten ergangenen
strafrechtlichen Normen gegen das Stalking ein weiterer Beweis hierfür.
Bemerkenswert ist aus der Sicht des deutschen Strafrechts, dass die italie-
nische Regelung in zwei ihrer drei Erfolgsmodalitäten die Erregung von
Furcht für sich genommen als tatbestandlich relevant ausreichen lässt; aller-
dings muss die Furcht dauerhaft und schwerwiegend sein oder sich auf die
körperliche Unversehrtheit beziehen. Dass die italienische Regelung auf
eine die Analogie ermöglichende Vorschrift verzichtet, wie sie unglückseli-
gerweise in § 238 Abs. 1 Nr. 5 StGB enthalten ist, ist nur zu begrüßen.
Doch ist die Aufnahme der bloßen Belästigung in den Tatbestand als aus-
reichende Tathandlung ihrerseits wegen ihrer Weite und ihrer geringen
Eingriffsintensität Bedenken ausgesetzt.
42 Tribunale di Bari (Fn. 31), S. 4: Die "totale mancanza di autocontrollo" (das völlige Feh-
len der Selbstkontrolle beim Beschuldigten) wird ebenso betont wie die Unmöglichkeit, im
vorliegenden Fall zur weniger einschneidenden Maßnahme des Hausarrests greifen zu können.
43 Decreto legge 23 febbraio 2009 n. 11, Art. 8.
Das Taschenmesser als gefährliches Werkzeug
des Diebes
RUDOLF RENGIER
I.
Im seit dem 6. Strafrechtsreformgesetz von 1998 schwelenden Streit um
den Begriff des gefahrlichen Werkzeugs insbesondere im Sinne des § 244
Abs. 1 Nr. 1a 2. Var. StGB - und auch des § 250 Abs. 1 Nr. 1a 2. Var.
StGB - haben Praxis und Wissenschaft lange auf eine grundlegende Ent-
scheidung des BGH warten müssen. Dem Beschluss des 3. Strafsenats vom
3.6.2008 - 3 StR 246/07 1 kann ein solcher Charakter durchaus zugespro-
chen werden. Doch wer die Hoffnung gehabt hat, dem BGH werde es gelin-
gen, die Streitfrage zu klären oder eine von einer breiteren Basis akzeptierte
Position zu entwickeln, sieht sich eher enttäuscht. Jedenfalls überwiegen
eindeutig die kritischen Stimmen. 2 Fairerweise muss man hinzufügen, dass
BGHSt 52, 257 überhaupt nicht mit dem Anspruch auftritt, die Streitfrage in
einer grundlegenden Weise zu klären. Vielmehr spürt man eine gewisse
Resignation, die durchaus verständlich erscheint und damit zusammen-
hängt, dass der 3. Strafsenat keine Lösung gefunden hat, die nach einer über
zehnjährigen - eine ungewöhnliche Meinungsvielfalt hervorbringenden -
Diskussion neue Wege aufzeigt. Der BGH sieht die Ursache für Misslich-
keiten, die sich auch auf dem Boden des von ihm eingenommenen Stand-
punkts ergeben, nicht zu Unrecht beim Gesetzgeber, dem er eine "adäquate
Neufassung" des Gesetzes nahelegt. 3 Diese Offenheit macht die Entschei-
dung zwar sympathisch, doch gegenüber Kritik nicht immun. 4 Denn man
1 BGHSt 52, 257 ff mit zahlreichen Nachweisen; zur Diskussion auch Rengier Strafrecht
Besonderer Teil I, 12. Aufl. 2010, § 4 Rn. 19 ff
2 Vgl. Kasiske HRRS 2008, 378 ff; Deiters ZJS 2008, 424 ff~ lahn JuS 2008, 835 f; Krü-
ger JA 2009, 190 ff; Geppert JK 2/09 StGB § 244 Abs. 1 Nr. 1a14~ Foth NStZ 2009, 93 f;
Peglau JR 2009, 162 ff~ Landrath/Fieberg Jura 2009, 350 f~ Sättele NJW 2009, 2758 f~
Wessels/Hillenkamp Strafrecht Besonderer Teil 2, 32. Aufl. 2009, Rn. 262 f, g~ Rengier (Fn. 1),
§ 4 Rn. 42a.
3 BGHSt 52, 257, 269.
4 Vgl. auch Krüger JA 2009,192 f
550 RudolfRengier
11.
Vorangestellt seien zur Veranschaulichung ein paar Bemerkungen zu den
Taschenmessern, um die es hauptsächlich geht. Taschenmesser gibt es
selbstverständlich in verschiedenen Größen, Formen und Ausstattungen.
Für das klassische Produkt stehen die roten Taschenmesser mit Schweizer
Kreuz der Schweizer Firma Victorinox, der auch vom BGH schon die Ehre
zuteil wurde, erwähnt zu werden. 6 Ein beliebtes Standardmesser weist eine
Länge von 9 cm bei einer Klingenlänge von 7 cm auf. Es vereint 12 Funkti-
onen (insbesondere große Klinge, kleine Klinge, Korkenzieher, Dosenöff-
ner, Kapselheber, Schraubendreher), wiegt 63 g und lässt sich daher auch
als Multifunktionswerkzeug bezeichnen. Dicke und Gewicht der Messer
hängen von der Anzahl der Funktionen ab.
Nicht nur in den üblichen Internetbewertungen werden solche Taschen-
messer als ideale praktische tägliche Begleiter gelobt, die unproblematisch
in jedes Gepäck und jede Tasche passen. Wenn solche Messer auch als
"Schweizer Messer" und "Schweizer Offiziersmesser" bezeichnet werden,
so könnte zumindest die zweite Bezeichnung dem Uninformierten aus straf-
rechtlicher Sicht eine besondere Gefährlichkeit des Objekts im Sinne einer
Waffe im technischen Sinn suggerieren. Richtig ist: Die Bezeichnungen
sind geschützt, um Verwechslungen mit Imitationen zu vermeiden. Das sog.
Offiziersmesser wurde Ende des 19. Jahrhunderts als Soldatenmesser ent-
wickelt; es sollte geeignet sein, "um beim Essen zu helfen, darüber hinaus
111.
Mit Taschenmessern der geschilderten Art hat sich die Rechtsprechung
auch schon vor BGHSt 52, 257 verhältnismäßig oft zu befassen gehabt. Es
lohnt sich, einen näheren Blick auf diese Entscheidungen und ihre Diskus-
sion in der Literatur zu werfen.
1. Im Urteil des BayObLG vom 12.4.2000 11 hat der Angeklagte mehrere
Kleidungsstücke im Wert von über 1.000 DM entwendet und dabei nach
den Urteilsfeststellungen "ein kleines zusammengeklapptes normales Ta-
schenmesser ... in der Hosentasche" gehabt. Das Amtsgericht sah dieses
Messer als Gebrauchsgegenstand und nicht als gefährliches Werkzeug ge-
mäß § 244 Abs. 1 Nr. la 2. Var. StGB an. Dem widerspricht das BayObLG
und stuft das Taschenmesser als gefährliches Werkzeug ein, gibt freilich
dem Strafrichter - ohne zu sagen weshalb - noch die Aufgabe mit auf den
Weg, den (angeblichen) Widerspruch zwischen "kleinem" und "normalem"
Taschenmesser aufzuklären, so als ob man nicht etwa die 7 cm lange Klinge
eines Standard-Taschenmessers 12 als klein bezeichnen dürfe.
Erb hat gegen dieses Urteil zu Recht "gravierende" Bedenken vorgetra-
gen: 13 Wenn schon das bloße MitfUhren eines zusammengeklappten Ta-
schenmessers die Qualifizierung begründe, "werden letzten Endes Delikte,
deren Unrechts- und Schuldgehalt an der absoluten Untergrenze der Straf-
würdigkeit angesiedelt ist und bei denen die Annahme einer gesteigerten
einer Aufhebung des amtsgerichtlichen Urteils sieht sich das OLG aber
angesichts der erwähnten Entscheidung des BayObLG 24 gehindert und legt
daher die Sache dem BGH vor.
4. Im daraufhin ergangenen Beschluss des BGH vom 27.9.2002 25 gibt der
BGH die Sache an das OLG mit der Begründung zurück, dass die Vorle-
gungsfrage nicht entscheidungserheblich sei, da bisher die subjektive Seite
des Beisichführens noch nicht festgestellt worden sei. Dem Täter müsse
nachgewiesen werden, dass er das Taschenmesser bewusst gebrauchsbereit
bei sich gehabt habe. Vor diesem Hintergrund komme es nicht darauf an, ob
das Taschenmesser als gefährliches Werkzeug anzusehen sei. Der BGH
net, erhebliche Verletzungen zuzufügen. "37 Immerhin ist dem Gericht nicht
das vom BGH ins Spiel gebrachte Kriterium der bewussten Gebrauchsbe-
reitschaft entgangen (das als Vorsatzmerkmal verstanden wird). Aber:
Diesbezüglich hat der Angeklagte, wie man wohl sagen darf, Pech. Denn er
hat "in seiner entwaffnenden Ehrlichkeit" eingeräumt, dass er sich bewusst
gewesen sei, das Taschenmesser mit sich zu führen; denn zum einen sei es
sein Brotzeitmesser und zum anderen sei er in einem Klub, für dessen Mit-
glieder es Pflicht sei, das Taschenmesser immer mit sich zu fuhren.
9. In zwei Entscheidungen des KG vom 31.10.2007 und 17.4.2008 38 hatte
es das Gericht mit (Diebstahls-)Tätern zu tun, die gewohnheitsmäßig ein
Taschenmesser mit einer Klingenlänge von ca. 6 cm bei sich führten. Die
erste Entscheidung stuft das Messer recht unkritisch als objektiv gefährli-
ches Werkzeug ein. Aber das KG beanstandet die Feststellungen des Amts-
gerichts zur Frage der bewussten Gebrauchsbereitschaft. Insoweit müsse der
Täter das Bewusstsein haben, dass das Werkzeug im Falle seines Einsatzes
gegen Menschen erhebliche Verletzungen verursachen könne. 39 Die Fest-
stellung des Amtsgerichts, dass der Täter das Messer gewohnheitsmäßig bei
sich in der Hosentasche getragen habe, um es in alltäglicher Weise etwa
zum Obst- und Wurstschneiden zu nutzen, reiche nicht aus, um zu belegen,
dass ihm gerade beim Betreten des Geschäfts die Gebrauchsbereitschaft
zum Einsatz gegen Menschen bewusst gewesen und nicht in den gedankli-
chen Hintergrund getreten sei.40
Demgegenüber zeigt sich die zweite Entscheidung problembewusster und
bereitet zwar zur Frage der gefährlichen Werkzeugeigenschaft einige Recht-
sprechung und Literatur aus, lehnt es aber ab, den Werkzeugbegriff im
Sinne der erwähnten Entscheidungen des OLG Frankfurts 41 und OLG
Braunschweigs 42 mit Hilfe des subjektiven Kriteriums einer allgemeinen
Verwendungsbestimmung einzuschränken. Denn: ,,§ 244 Abs. 1 Nr. 1a
StGB bezweckt einen vorbeugenden Opferschutz durch das Verbot, latent
gefährliche Gegenstände mitzuführen".43 Das klingt fast so, als ob aus § 244
Abs. 1 Nr. la 2. Var. ein allgemeines Verbot abgeleitet werde, ein Ta-
schenmesser bei sich zu führen. So sieht also auch diese Entscheidung nur
noch die Möglichkeit, eventuell die "bewusste" Gebrauchsbereitschaft zu
verneinen. Indes: Dem Täter wird zum Verhängnis, dass er unmittelbar vor
dem Betreten des Elektromarktes (wo er diverse Objekte stahl) das Schwei-
zer Offiziersmesser, ein Multifunktionswerkzeug, als Messer (Hervorhe-
bung auch im Original) zum Schneiden von Obst benutzt habe. Darin liege
ein "grundlegender" Unterschied zur Entscheidung BGH NStZ-RR 2005,
34044 , wo der Täter das Schweizer Offiziersmesser vor der Tat nur zum
Öffnen von Bierflaschen verwendet habe. Offenbar soll nach der Ansicht
des KG der Strafrahmensprung zur 6-monatigen Mindeststrafe davon ab-
hängen, in welcher Funktion der T'äter das Multifunktionswerkzeug mehr
oder weniger unmittelbar vor der Tat benutzt hat. Anders formuliert: Wenn
der Täter vor dem Elektromarkt nicht die Klinge des Werkzeugs benutzt
hätte, um sich mit einem geschnittenen Apfel zu stärken, sondern bloß den
Flaschenöffner des Werkzeugs gebraucht hätte, um seinen Durst zu löschen,
hätte das KG die Verurteilung durch das Landgericht gemäß § 244 Abs. 1
Nr. 1a 2. Var. StGB aufgehoben, dies aber wohl wiederum nicht getan,
sofern der Täter die Flasche mit der Klinge geöffnet hätte. Kommentieren
muss man solche Differenzierungen wohl nicht. Auch bleibt in der zweiten
Entscheidung unklar, woher das KG das in der ersten Entscheidung hervor-
gehobene Bewusstsein nimmt, ein im Einsatzfalle zur Verletzung von Men-
schen geeignetes Werkzeug bei sich zu führen. Vielmehr wird dieses Be-
wusstsein schlicht aus dem bewussten Beisichführen des Messers abgeleitet.
10. Die Dimensionen, die zur Debatte stehen, verdeutlicht ein Urteil des
AG Stuttgart-Bad Cannstatt vom 6.12.2007: 45 Der Angeklagte begab sich,
nachdem er nach der Arbeit vier Flaschen Bier mit Hilfe eines stets für
diesen Zweck und zum Obst- und Gemüseschneiden bei sich geführten
Taschenmessers geöffnet und leer getrunken hatte, gegen 20.45 Uhr in ein
Kaufhaus und nahm Lebensmittel im Wert von 12,50 € an sich. Das Amts-
gericht spricht sich dafür aus, bereits die gefährliche Werkzeugeigenschaft
des Messers zu verneinen. Hilfsweise wendet es sich aber auch dem Ge-
brauchsbewusstsein zu. Insoweit sei, so meint das Gericht, dem Angeklag-
ten seine Einlassung nicht zu widerlegen, im Augenblick der Tat sei ihm
nicht aktuell bewusst gewesen, das zusammengeklappte Taschenmesser in
der Jackentasche zu tragen. Das Amtsgericht verurteilte den Angeklagten
wegen einfachen Diebstahls zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen.
11. In die Diskussion um die subjektive Komponente der bewussten Ge-
brauchsbereitschaft hat sich auch das OLG Schleswig in einer Entscheidung
vom 16.6.2003 eingeschaltet,46 in der es zwar nicht um ein Taschenmesser
geht, die aber für die Thematik von Bedeutung ist. In dem Fall stahl der
Täter einen ans Stromnetz angeschlossenen DVD-Player, nachdem er mit
44 Oben 111.6.
45 Über das - offenbar als urteilender Richter - Jooß Jura 2008, 777 ff. informativ berichtet.
46 OLG Schleswig NStZ 2004,212 ff.; zustimmend Geppert JK 9/04 StGB § 244 1Nr. la/3.
558 Rudolf Rengier
12. Im Vorlegungsfall zu BGHSt 52, 257 hat der Angeklagte drei Fla-
schen Whiskey gestohlen; dabei führte er am Gürtel ein klappbares Ta-
schenmesser mit einer längeren Klinge, mit der er vor der Kasse an den
Flaschen die Sicherungsetiketten abgeschnitten hatte. Anders als im Fall
vom 18.2.2005 52 sah das OLG Celle in dieser Konstellation offenbar keine
Möglichkeit, die bewusste Gebrauchsbereitschaft infrage zu stellen. Den
Gedanken des OLG Schleswig, dass dem Täter die potentielle "Doppelfunk-
tion" des Taschenmessers als Nötigungsmittel und dessen Gefährlichkeit im
Falle einer Konfrontation bewusst sein müsse, greift das OLG Celle (und
auch der BGH) nicht auf, sieht sich vielmehr an einer Verneinung des § 244
Abs. 1 Nr. 1a 2. Var. StGB durch die Entscheidungen des OLG Schleswig
vom 16.6.2003 53 , des BayObLG vom 12.4.2000 54 und des OLG München
vom 16.5.200655 gehindert und möchte sich den Entscheidungen des OLG
Frankfurt vom 11.1.2002 56 und des OLG Braunschweigs vom 21.2.2002 57
anschließen.
IV.
Einschließlich der Vorlegungssache des OLG Celle sind vorstehend 11
Entscheidungen dargestellt worden, in denen ein Dieb ein Taschenmesser
bei sich geführt hat und die Anwendbarkeit des § 244 Abs. 1 Nr. 1a 2. Var.
StGB zu entscheiden war. Zwei Meinungslager lassen sich bilden: 58 Ein
Teil der Rechtsprechung hält ein Taschenmesser nur dann für ein gefährli-
ches Werkzeug, wenn es der Täter subjektiv generell, d.h. vom konkreten
Lebenssachverhalt losgelöst, zur Verwendung gegen Menschen bestimmt
hat. Der andere Teil stuft das Taschenmesser als gefährliches Werkzeug ein,
betont aber immerhin - wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten - die
Notwendigkeit, auf der subjektiven Tatseite dem Kriterium der bewussten
Gebrauchsbereitschaft besondere Aufmerksamkeit zu widmen.
Fragt man, inwieweit BGHSt 52, 257 zur Klärung dieser Fälle beigetra-
gen hat, so ergibt sich - nicht ohne Irrwege, die im Beschluss angelegt sind
- die ernüchternde und für jeden, der mehr Führung durch den BGH erwar-
tet hat, enttäuschende Bilanz, dass außerhalb der Vorlegungssache vieles
offen und unverbindlich bleibt.
52 Oben III.5.
53 Oben III.II.
54 Oben III.I.
55 Oben III.8.
56 Oben III.2.
57 Oben III. 3.
58 Vgl. auch BGHSt 52, 257, 263 f.
560 Rudolf Rengier
Dem scheint freilich auf den ersten Blick der Leitsatz59 zu widersprechen,
der Taschenmesser als objektiv geflihrliche Werkzeuge einstuft. Doch
schafft schon das eingefügte "grundsätzlich" Raum für Ausnahmen. Insbe-
sondere betont der BGH, dass es sich im Vorlegungsfall bei dem Taschen-
messer um ein solches mit einer "längeren"60 bzw. "relativ langen"61 Klinge
gehandelt habe und daher allein entscheidungserheblich sei, ob derartige
"größere" Taschenmesser als gefährliche Werkzeuge anzusehen seien; es
komme also nicht darauf an, wie Taschenmesser mit "sehr kurzer" Klinge
zu behandeln seien. 62 Da Zentimeterangaben fehlen, kann das Rätselraten
losgehen. Orientiert man sich am Standardmesser,63 könnte man 7 cm als
"länger" bzw. "relativ lang" einstufen. So betrachtet mag man annehmen,
dass sich der BGH-Entscheidung für kürzere Taschenmesser keine Aussa-
gen entnehmen lassen. Daran muss die angedeutete und unklare Ausnahme
für Messer mit "sehr kurzer" Klinge nichts ändern. Jeder weiß, dass es zwi-
schen "sehr kurz" und "größer" weitere Abstufungen gibt.
Die Reichweite der Entscheidung des 3. Strafsenats beschränkt sich also
erstens auf "größere" Taschenmesser. Von noch größerer Bedeutung dürfte
eine weitere Restriktion sein, die man wegen des ungenauen Leitsatzes
zunächst leicht überliest. Denn für den BGH stellt sich nicht "die Frage, ob
eine Einschränkung des Tatbestandsmerkmals ,anderes gefährliches Werk-
zeug' in den Fällen vorzunehmen ist, in denen der Täter den in Rede ste-
henden Gegenstand ohne jede Gebrauchsabsicht in ,sozialadäquater' Weise
bei der Tatbegehung mit sich führt". 64 Der 3. Strafsenat sieht demzufolge
eine Besonderheit des Vorlegungsfalles darin, dass der Täter das Taschen-
messer während der Tatbegehung - d.h. im Stadium zwischen Versuch und
Vollendung (eventuell auch Beendigung) - gebrauchen wollte und auch vor
dem Kassenbereich zur Entfernung der Sicherungsetikerten gebraucht hat.
Daraus kann man den umgekehrten Schluss ableiten: BGHSt 52, 257 nimmt
nicht zur Eigenschaft des Taschenmessers als gefährliches Werkzeug in all
denjenigen Fällen Stellung, in denen es "schlicht", also ohne Gebrauchsab-
sicht bei der Tatbegehung, mit sich geführt wird. Dies sind die mit Abstand
häufigsten Fälle; in dem oben ausgewerteten Entscheidungsmaterial liegt
diese Konstellation in 10 von 11 Entscheidungen vor.65
59 Siehe oben I.
60 So formuliert in BGHSt 52, 257, 258.
61 So formuliert in BGHSt 52, 257, 260.
62 BGHSt 52, 257, 260 f.
63 Siehe oben 11.
64 BGHSt 52, 257, 261.
65 Siehe oben III~ mit Gebrauchsabsicht handelte der Täter nur in der Vorlegungssache.
Das Taschenmesser als gefährliches Werkzeug des Diebes 561
Man fragt sich nur, weshalb der 3. Strafsenat, nachdem er die zu weite
Fassung der Vorlegungsfrage beanstandet und auf die beiden Eingrenzun-
gen hingewiesen hat, die Rechtsfrage wie folgt präzisiert:
"Ist ein Taschenmesser grundsätzlich ein gefährliches Werkzeug im Sinne
des § 244 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) StGB, oder nur dann, wenn der Dieb es
allgemein auch fur den Einsatz gegen Menschen vorgesehen hat?"66 Die
Präzisierung müsste eigentlich lauten: "Ist ein größeres Taschenmesser,
das der Täter bei der Tatbegehung in Gebrauchsabsicht mit sich fuhrt, ein
gefährliches Werkzeug im ... " (usw.)?
Dementsprechend täuscht auch der Leitsatz eine Weite vor, die ihm nach
der Einschränkung der Vorlegungsfrage nicht zukommt. 67 So betrachtet
kann man ferner die deutliche Stellungnahme des BGH gegen all diejenigen
Stimmen, die den Begriff des gefährlichen Werkzeugs mit Hilfe von subjek-
tiven Kriterien einschränken wollen, auf in Gebrauchsabsicht mit sich ge-
fuhrte größere Taschenmesser beschränkt sehen. Von daher können die
Oberlandesgerichte Frankfurt, Braunschweig und Celle nach wie vor der
Meinung sein, dass BGHSt 52, 257 der von ihnen in den oben genannten
Entscheidungen68 befürworteten Einschränkung im Sinne einer subjektiven
allgemeinen Bestimmung auch für den Einsatz gegen Menschen nicht im
Wege steht. Dies mag man einerseits im Interesse der Einzelfallgerechtig-
keit begrüßen, andererseits vergrößert eine solche Interpretation der BGH-
Entscheidung die ohnehin schon vorhandene Rechtsunsicherheit.
v.
Alles in allem verstärken unsere Überlegungen das Lager der kritischen
Stimmen. 69 Bezüglich der auf dem Boden von BGHSt 52, 257 drohenden
Einzelfallkasuistik liefern schon die bisherigen Taschenmesser-Entschei-
dungen genügend Anschauungsmaterial. Man wird über größere, längere,
kürzere und kleinere Klingen, über Zentimeterangaben, über schärfere und
stumpfere Messer diskutieren70 und vielleicht bei einem besonders scharfen
Teppichmesser ein Segment von einem Zentimeter ausreichen lassen, an-
sonsten aber bei einer so kurzen Klinge die etwaige Ungefährlichkeit the-
matisieren, möglicherweise mit sachverständiger Hilfe. Handelt es sich um
VI.
Auf die erste Entscheidung, die BOHSt 52, 257 in gewisser Weise den
Gehorsam verweigert, hat man nicht lange warten InÜssen. Im Urteil des
OLG Stuttgart vom 5.5.2009 hebelte der Angeklagte in einem Fall mit ei-
nem 20 cm langen Schraubendreher das Fenster zu einer Gaststätte auf,
kletterte durch dieses in das Lokal und entwendete Geld aus einem aufge-
brochenen Automaten. 77 Der BGH hat mit Blick auf solche Einbruchswerk-
zeuge nicht klar Stellung bezogen, immerhin aber von schwierigen Abgren-
zungsfragen gesprochen und zugleich deutlich gemacht, er sehe keinen
Raum für ein zusätzliches subjektives Element. 78 Genau in diesem Punkt
widerspricht das OLG Stuttgart zu Recht und stuft von daher den Schrau-
bendreher entgegen dem - sich auf die aktuelle BGH-Entscheidung be-
rufenden - Amtsgericht nicht als gefährliches Werkzeug ein. 79 Der Fall des
OLG Stuttgart wird für weiteren Diskussionsstoff sorgen. Die Konfrontati-
on spitzt sich zu, wenn man in diesem Fall den Täter das Fenster nicht mit
einem Schraubendreher, sondern mit einem Standard-Taschenmesser aus-
hebeln lässt. Folgt man den Argumentationslinien von BGHSt 52, 257, so
ist der Weg zu den "schwierigen Abgrenzungsfragen" und zu einer etwai-
gen Verneinung des § 244 Abs. 1 Nr. la 2. Var. StGB eigentlich bereits
verbaut. 80
VII.
Wenden wir uns zum Abschluss dieses Beitrages - der dem geschätzten
Jubilar mit den besten Geburtstagswünschen in dem Bewusstsein gewidmet
ist, dass sich seine vielseitigen Interessen auch auf Fragen des materiellen
Strafrechts erstrecken und ihn die hier erörterte Materie zumindest als Do-
zent auch schon beschäftigt hat - noch den methodischen Argumenten zu,
auf die sich BGHSt 52, 257 stützt:
Der BGH meint erstens, der Wortlaut des § 244 Abs. 1 Nr. la StGB lasse
das Hineininterpretieren von subjektiven Elementen in den Begriff des
anderen gefährlichen Werkzeugs nicht ZU. 8I Dies überzeugt nicht. Was
gefährlich und nicht nur harmlos ist, lässt sich namentlich bei Alltagsge-
genständen - Bierflasche, Brieföffner, Nagelschere und eben auch Ta-
schenmesser - ohne eine subjektive Bestimmung kaum ermitteln. Der Be-
griff "gefährlich" hat keinen feststehenden objektiven Wortlautkern, son-
dern erlaubt es, subjektive Gefährlichkeitsaspekte einzubeziehen. 82 Weiter
verlangt das Gesetz, dass der Täter ein "gefährliches" Werkzeug "bei sich"
führen muss. Auch dieser Zusammenhang ermöglicht die Einbeziehung
subjektiver Komponenten. 83 Der Sache nach hat dies der 3. Strafsenat in
einer kurz vor BGHSt 52, 257 ergangenen Entscheidung selbst eingeräumt,
als er die Eigenschaft eines Baseballschlägers als gefährliches Werkzeug
nicht nur im Sinne des § 250 Abs. 2 Nr. 1 2. Var., sondern auch des § 250
Abs. 1 Nr. 1a 2. Var. StGB damit begründete, dass "ein Baseballschläger ...
ein Gegenstand (ist), der nach seiner objektiven Beschaffenheit geeignet ist,
einem Opfer erhebliche Körperverletzungen zuzufügen, wenn er als
Schlagwerkzeug eingesetzt wird". 84
Das systematische zweite Argument,85 nämlich der Umkehrschluss von
§ 244 Abs. 1 Nr. 1b (Verwendungsabsicht ausdrücklich geregelt) auf § 244
Abs. 1 Nr. 1a StGB (Verwendungsabsicht nicht geregelt/erforderlich) kann
ebenfalls entkräftet werden. Wenn § 244 Abs. 1 Nr. 1b StGB eine bestimm-
te Verwendungsabsicht normiert, verbietet dies nicht eine subjektivierende
Interpretation des Begriffs "gefährlich". Dass Tatbestandsmerkmale mit
subjektiven Komponenten nichts Ungewöhnliches sind, belegen Merkmale
wie die Heimtücke und Grausamkeit,86 die Täuschung 87 und die Hilfeleis-
tung 88 . Die vom 3. Strafsenat in der Tendenz befürwortete Gleichstellung
von Waffen im technischen Sinn (§ 244 Abs. 1 Nr. 1a 1. Var. StGB) mit
Taschenmessern als objektiv gefährlichen Werkzeugen (§ 244 Abs. 1 Nr. la
2. Var. StGB) führt zu einem systematischen Ungleichgewicht der beiden
Tatvarianten.
Schließlich vergleicht der BGH unter teleologischen Aspekten die latente
Gefahr, die von einem ein Taschenmesser bei sich führenden Dieb ausgeht,
mit der Gefahr, die ein eine (Messer-)Waffe im technischen Sinn mit sich
führender Täter hervorruft. 89 Indes liegt es relativ fern, mit Blick auf ein
82 Vgl. OLG Stuttgart NJW 2009, 2756, 2758~ Küper JZ 1999, 192 ff.~ Kasiske (Fn. 2),
380 f.~ Foth (Fn. 76), 94.
83 Vgl. Küper a.a.O., 192 ff.~ Hardtung StV 2004, 400, 402 f.~ Krüger NZV 2009, 194.
84 BGH NStZ 2008, 687.
85 BGHSt 52, 257, 267.
86 Krüger (Fn. 83),193 f.
87 Vgl. Rengier (Fn. 1), § 13 Rn. 5.
88 Vgl. die Diskussion zur neutralen Beihilfe: BGHSt 46, 107, 112~ Rengier (Fn. 30), § 45
Rn. 109 ff.
89 BGHSt 52, 257, 270.
Das Taschenmesser als gefahrliches Werkzeug des Diebes 565
VIII.
So viele Meinungen es auch gibt, so sollte man doch nicht übersehen,
dass sich im Wesentlichen, freilich mit zahlreichen Nuancierungen im De-
tail, nur zwei Meinungslager gegenüberstehen, von denen das eine mit Hilfe
von objektiven, das andere mit Hilfe von subjektiven Kriterien versucht, das
gefährliche Werkzeug so zu definieren, das ihm - auf einer Ebene mit den
Waffen im technischen Sinn - "Waffenersatzfunktion"92 zugesprochen
werden kann. Übereinstimmung herrscht zudem im Streben nach einer
restriktiven Interpretation. Dass trotz all dieser Tendenzen, die auch im
Einklang mit einem Teil der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung ste-
hen, der BGH die gegenteilige Richtung eingeschlagen hat, verdient Kritik.
Näher gelegen hätte es doch etwa, die selbst als "schwer verständlich"93
eingestufte unterschiedliche Auslegung des Werkzeugbegriffs in § 250 Abs.
2 Nr. 1 und § 250 Abs. 1 Nr. la StGB in Frage zu stellen und eine ein-
schränkende subjektivierende Sichtweise auch fur § 250 Abs. 1 Nr. 1a bzw.
§ 244 Abs. 1 Nr. 1a StGB anzuerkennen.
Immerhin: Ruft man sich die genau betrachtet sehr beschränkte Reichwei-
te der Entscheidung BGHSt 52,257 in Erinnerung,94 so bleibt die Hoffnung,
dass die Diskussion, so wie dies das OLG Stuttgart bereits praktiziert hat,95
innerhalb der Rechtsprechung weitergehen wird und auch den BGH zur
Einnahme restriktivereer) Positionen veranlassen könnte.
CARSTEN MOMSEN
I. Einführung
Zu Recht wird die Entscheidung des BGH in Sachen "Bremer Vulkan" als
für das Wirtschaftsstrafrecht richtungsweisend angesehen. 1 In dieser Ent-
scheidung operiert der Senat im Hinblick auf die Begründung von Vermö-
gensbetreuungspflichten u.a. mit der sog. "Interessentheorie", welche für
den Vertretungsbezug bestimmter an persönliche Merkmale geknüpfte Ver-
haltensweisen von Bedeutung ist. 2 Diese Ansicht entfaltet jedoch auch im
Hinblick auf den in der Praxis äußerst relevanten Fall der Abgrenzung von
Untreue (§ 266 StGB) und den Insolvenzdelikten (§§ 283 ff. StGB) weitrei-
chende Wirkung: 3 Verkürzt oder gefährdet ein Organ/Vertreter desjenigen,
dessen Vermögen Gegenstand des Insolvenzverfahrens ist, die Insolvenz-
masse durch eine der in § 283 Abs. 1 StGB genannten Verhaltensweisen, so
kommt die Vertreterstratbarkeit wegen Bankrotts nur bei einem Handeln
des Vertreters im Interesse des Inhabers des betroffenen Vermögens in
Betracht. Handelt der Vertreter dagegen im eigenen Interesse, kommt eine
Stratbarkeit wegen Untreue gern. § 266 StGB oder ggf. aus §§ 242, 246 in
Betracht. Bei durch kombiniertes Eigen- und Fremdinteresse motiviertem
Vertreterhandeln können dagegen nach bisheriger Ansicht des BGH Un-
treue und Bankrottstraftaten auch tateinheitlieh verwirklicht sein. 4
5 Vgl. Radtke GmbHR 2009, 875 f.~ ders. in: MK (Fn. 2), Vor § 283 Rn. 56~ § 14 Rn. 61 ff.
6 Vgl. nur die Darstellungen bei Fischer StGB, 56. Aufl. 2009, § 14 Rn. 5~ Radtke GmbHR
1998,361 ff., ders. GmbHR 2009, 875 ff.~ ders. in: MK (Fn. 2), § 14 Rn. 59 ff.~ Brandt NStZ
2010, 9 ff.~ Momsen in: v. Heintschel-Heinegg, StGB, 2010, § 14 Rn. 19 ff.~ Schönke/Schrö-
der/Lenckner/Perron StGB, 27. Autl. 2006, § 14 Rn. 26~ HK-GS/Tag, 2008, § 14 Rn. 10~ LK-
Tiedemann StGB, 11. Autl. 1992, Vor § 283 Rn. 85.
7 Zu Fragen der Haftung für unwirksame oder unterlassene Compliance-Maßnahmen vgl.
bspw. die Überlegungen McNultys, Memorandum, S. 3: "Furthermore, in United Stales v. Sun-
Diamond Growers 0/ California, 138 F.3d 961, 969-70 (D.C. Cir. 1998), aff'd on other
grounds, 526 D.S. 398 (1999), the D.C. Circuit rejected a corporation's argument that it should
not be held criminally liable for the actions of its vice-president since the vice-president's
"scheme was designed to - and did in fact - defraud [the corporation], not benefit it." Ac-
cording to the court, the fact that the vice-president deceived the corporation and used its
money to contribute illegally to a congressional campaign did not preclude a valid finding that
he acted to benefit the corporation. Part of the vice-president's job was to cultivate the corpora-
tion's relationship with the congressional candidate's brother, the Secretary of Agriculture.
Therefore, the court held, the jury was entitled to conclude that the vice-president had acted
with an intent, "however befuddled", to further the interests of his employer. See also United
Slates v. Cincotta, 689 F.2d 238, 241-42 (1 st Cir. 1982) (upholding a corporation's conviction,
notwithstanding the substantial personal benefit reaped by its miscreant agents, because the
fraudulent scheme required money to pass through the corporation's treasury and the fraudu-
lently obtained goods were resold to the corporation's customers in the corporation's name)".
Neue Akzente rur den Untreuetatbestand? 569
Fragen handelt, dass diese mit ein und derselben "Theorie" beantwortet
werden können. Richtigerweise bilden sich die Kriterien für den Vertre-
tungsbezug ("als"; "auf Grund des Auftrages") einerseits und für das Kon-
kurrenzverhältnis zwischen Untreue und Bankrott andererseits auf verschie-
denen Ebenen. 8
Nachdem sich nun etwas überraschend die Rechtsprechung der Strafsena-
te von dieser Theorie abzuwenden scheint,9 erscheint es reizvoll, die Über-
legungen des BGHs zum "Bremer Vulkan" vor dem Hintergrund der sich
abzeichnenden Rechtsprechungsänderung noch einmal nachzuvollziehen
und zu fragen, ob sich bezüglich der Abgrenzung zwischen den §§ 283 ff.
und § 266 StGB Veränderungen ergeben bzw. ob sich für vergleichbare
Konstellationen nunmehr andere Ergebnisse erwarten lassen. Es ist mit
einem Wort also zu hinterfragen, ob die Entscheidung "Bremer Vulkan"
zumindest in Bezug auf die Beurteilung des Merkmals "Verletzung einer
Vermögensbetreuungspflicht" ihren Charakter als Leitentscheidung einge-
büßt haben könnte.
Die erneute Analyse der Entscheidung ist, abgesehen von den grundsätz-
lichen Fragen, auch deshalb relevant, weil die Aufarbeitung des Komplexes
"Bremer Vulkan" vor den Strafkammern und Zivilsenaten der bremischen
Gerichte nach wie vor nicht abgeschlossen ist. 10
8 Zutreffend begründet von Ransiek Unternehmensstrafrecht, 1996, S. 91; vgl. auch MK-
Radtke (Fn. 2), § 14 Rn. 61 m.w.N.; ders. JR 2010 (im Erscheinen, Manuskript liegt dem Verf.
vor): "Theorie von bestenfalls mittlerer Reichweite"; vgl. auch Bittmann (Fn. 2), 9 f.
9 BGH NStZ 2009, 437; BGH wistra 2009,475.
10 Zum Fortgang der anhängigen Verfahren bspw. http://oberlandesgericht.bremen.de/
sixcms/media.php/13/Pressemitteilung_080630.pdf sowie www.radiobremen.de/politik/ the-
men/vulkan102.html. Lt. WK v. 30.01.2010, S. 9, wurde das Verfahren gg. Vorstandsmitglie-
der wg. Untreue am 29.01.2010 auf Antrag der StA Bremen eingestellt, da keine Verurteilung
zu erwarten sei. Es ist nicht bekannt, ob die hier analysierte Rechtsprechungsänderung Einfluss
auf die Entscheidung hatte.
570 Carsten Mamsen
Höhe von insgesamt 300 Mio. DM, an dem mehrere Banken beteiligt wa-
ren. Als Sicherheiten wurden dazu alle wesentlichen im Konzern noch vor-
handenen freien Vermögenswerte verpfandet. Dabei nahm die VWS auf
Geheiß der Konzernmutter aus dem Gesamtkredit ein Teildarlehen in Höhe
von 68 Mio. DM auf.
Trotz dieses Konsortialkredits kam es im Herbst 1995 zu einer weiteren
Verschlechterung der Liquiditätssituation der BVV. Noch im Oktober 1995
wurden von der EU-Kommission 194 Mio. DM aus dem Gesamtausgleichs-
betrag freigegeben. Der Betrag wurde auf Konten der MTW ausgezahlt und
floss darauf sofort in das Cash-Management-System ein. Zugleich nahm die
MTW auf Veranlassung der Konzernleitung einen sog. Bauzeitenkredit in
Höhe von 80 Mio. DM auf.
Ende 1995 kam es zu einer weiteren Kreditvergabe in Höhe von 384 Mio.
DM. Dennoch traten im Dezember 1995 erneute Liquiditätslücken auf,
welche sich im Januar 1996 nochmals drastisch vergrößerten. Im Februar
1996 kam es dann zum Antrag auf Eröffnung eines Vergleichsverfahrens
(heute: Insolvenzverfahren). Die Forderungen der MTW gegen die BVV
beliefen sich zu diesem Zeitpunkt auf insgesamt etwa 590 Mio. DM, die der
VWS auf etwa 260 Mio. DM.
tisch sei. Die von der Rechtsordnung eröffnete Möglichkeit der Bildung
rechtlich getrennter Vermögensmassen zur Teilnahme am Rechtsverkehr
"mit beschränkter Haftung" dürfe nicht dergestalt eigennützig missbraucht
werden, als gebe es keine rechtliche Trennung. Der alleinige Gesellschafter
solle sich nicht im Falle der Haftung auf die Vorteile der Vermögenstren-
nung berufen können, andererseits aber die Vermögenseinheit geltend ma-
chen können, wenn er der GmbH willkürlich wirtschaftliche Werte zum
eigenen Vorteil entziehe.
Dem ist im Schrifttum die sog. "eingeschränkte Gesellschaftertheorie"
entgegengetreten. Danach soll die Zustimmung der Gesellschafter nur dann
keine Wirksamkeit entfalten, wenn die Kapitalerhaltungsvorschrift des § 30
GmbHG verletzt oder eine Existenzgefahrdung der GmbH ausgelöst wird. 24
Die Grenze des § 30 GmbHG sei dabei vor allem deshalb von Bedeutung,
weil die GmbH als juristische Person über ein ihr zugeordnetes verselbstän-
digtes Vermögen verfuge, was etwa in § 13 GmbHG zum Ausdruck kom-
me. Damit sei - dem Trennungsprinzip entsprechend - das Vermögen der
juristischen Person streng von dem seiner Mitglieder zu unterscheiden.
Allerdings müsse sich die juristische Person, da sie ihre Rechte nicht selbst,
sondern nur durch ihre Organe ausüben kann, das Handeln eben dieser
Organe als eigenes Handeln zurechnen lassen. Eine solche Zurechnung soll
allerdings nur in dem Umfang möglich sein, in dem die GmbH als Rechts-
subjekt selbst über ihr Vermögen verfugen kann. Diese Grenze sei in § 30
GmbHG exakt geregelt.
Eben diese Grenze leugnen die Vertreter der sog. "strengen Gesellschaf-
tertheorie". § 266 StGB schütze allein das Vermögen der Gesellschaft,
welche wiederum durch die Gesamtheit der Gesellschafter als oberstes
Organ repräsentiert werde. Dabei sei die Zustimmung der Gesellschafter
nicht aufgrund deren alleiniger Dispositionsbefugnis beachtlich, sondern
weil sich die GmbH deren Einverständnis, auch wenn es gegen gesetzliche
Vorschriften verstoße, zurechnen lassen müsse. 25 Eine irgendwie geartete
Gläubigerschutzfunktion komme dem Untreuetatbestand nicht zu. Der Ver-
weis der Gegenansicht darauf, dass die Gesellschafter an das ihnen gehö-
rende Gesellschaftsvermögen nur über die Liquidation der Gesellschaft
herankämen und die Gesellschaft ihren Gesellschaftern gegenüber ein ei-
genständiges, anerkennenswertes Bestandsinteresse habe, sei ein rein zivil-
rechtlich formales, das äußere Verfahren betreffendes Argument. Diese
Ansicht fuhre auch nicht zu unvertretbaren Strafbarkeitslücken, wenn man
die Anwendbarkeit der §§ 283 ff. StGB entgegen der vom BGH angewand-
ten Interessenformel bei einem Handeln als Geschäftsfuhrer stets bej ahe
24 Vgl. Kohlmann FS W. Werner, 1984, S. 387 ff.~ Ulmer FS Pfeiffer, 1988, S. 853,868.
25 Vgl. Reißwistra 1989, 81, 84.
Neue Akzente rur den Untreuetatbestand? 577
und § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB eingreifen lasse. Es zeigt sich insoweit noch-
mals die enge Verzahnung beider Fragen.
scheint vom Ansatz her deshalb als problematisch, weil den Gesellschaftern
damit eben auch eine Vermögensbetreuungspflicht zukommen müsste. 33
Folgt man der Literaturansicht, derzufolge das Gesellschaftsvermögen al-
leine den Gesellschaftern zusteht, wäre eine Vermögensbetreuungspflicht
bereits mangels Fremdnützigkeit abzulehnen. 34 Sieht man die GmbH als
eigenständige juristische Person mit einem ihr (und nicht den Gesellschaf-
tern) zugeordneten Vermögen an, so würde die Vermögensbetreuungs-
pflicht zumindest nicht am Merkmal der Fremdheit scheitern. Allerdings
müsste den Gesellschaftern, selbst wenn man das Vermögen der GmbH für
diese als fremd ansehen wollte, auch eine Pflicht zukommen, für dieses
Vermögen Sorge zu tragen bzw. es zu betreuen. Der BGH führt an dieser
Stelle aus, eine Pflicht, die Gesellschaft nicht in ihrer Existenz zu gefähr-
den, treffe nicht nur den Geschäftsführer als vertretungsberechtigtes Organ,
sondern "in gleicher Weise den beherrschenden Alleingesellschafter".35
Dem wurde in der Literatur teilweise entgegengehalten, der Senat hätte
damit die Pflichtwidrigkeit des Verhaltens der Gesellschafter dargelegt,
ohne vorab zu prüfen, ob ihnen eine Vermögensbetreuungspflicht überhaupt
zukomme. 36
Sieht man sich jedoch einzelne Ausführungen an entsprechender Stelle
an, scheint es, als leite der BGH die Vermögensbetreuungspflicht der Ge-
sellschafter aus einer Garantenstellung her. So führt der Senat u.a. aus: "Der
Zweck einer Kapitalgesellschaft erschöpft sich nämlich nicht in einer blo-
ßen Vermögensanlage für die Gesellschafter. Jedenfalls wenn die Gesell-
schaft eine eigene wirtschaftliche Tätigkeit aufgenommen hat, handelt sie
unter eigener Rechtspersönlichkeit als Wirtschaftssubjekt im Geschäftsver-
kehr und wird Träger von Rechten und Pflichten. Dies lässt gleichzeitig
Schutzerfordernisse entstehen ...". An anderer Stelle heißt es: "Jedenfalls
bei der hier gegebenen Sachverhaltskonstellation kann die dem Alleinge-
sellschafter gegenüber der Gesellschaft obliegende Pflicht, ihr das zur Be-
gleichung ihrer Verbindlichkeiten erforderliche Kapital zu belassen, auch
eine Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 266 Abs. 1 StGB darstel-
len."37
33 Die neueren Überlegungen zur Compliance im gestuften Konzern führen zwar zu ver-
gleichbar ausgerichteten Ptlichtenstrukturen, allerdings steht hier, anders als bei der vorliegen-
den Problematik, die Normbefolgung im Vordergrund (vgl. ReichertlOtt ZIP 2009, 2173),
nicht die wirtschaftliche Erhaltung einzelner Untergliederungen. Die Schlussfolgerungen
lassen sich daher nicht ohne weiteres übertragen.
34 Vgl. Beckemper GmbHR 2005,592,593.
35 Vgl. BGHSt 49,147, 158.
36 Vgl. Beckemper (Fn. 34), 592, 594; MK-Dierlamm StGB, 1. Autl. 2006, § 266 Rn. 237,
der von einem "Zirkelschluss" des BGH spricht.
37 Vgl. BGHSt 49, 147, 158.
580 Carsten Momsen
38 Vgl. MK-Dierlamm (Fn. 36), § 266 Rn. 42~ LK-Hübner, 10. Aufl. 1978 ff., § 266 Rn. 32~
NK-Kindhäuser (Fn. 21), § 266 Rn. 24 ff.~ Schönke/Schröder/Lenckner/Perron (Fn. 6), § 266
Rn. 24; SK-Samson/Günther, 7. Aufl. 2003 ff., § 266 Rn. 29, der einen gewissen Spielraum für
die Stellung als Garant voraussetzt~ Wessels/Hillenkamp Strafrecht Besonderer Teil 2, 32. Aufl.
2009, Rn. 771.
Neue Akzente für den Untreuetatbestand? 581
der Lage ist, Entscheidungen zu treffen, die nicht im Sinne des zu betreuen-
den Vermögens liegen und dies für den Geschäftsherrn gerade deshalb
schwierig zu erkennen bzw. zu kontrollieren ist, weil er dem Betreuungs-
pflichtigen insoweit einen gewissen Entscheidungsspielraum überlassen hat.
Gerade hierin ist der Missbrauch des Vertrauens zu sehen, das dem Betreu-
ungspflichtigen entgegengebracht wurde und gerade dieser Entscheidungs-
spielraum wäre es, der nach den bisherigen Maßstäben der Rechtsprechung
gegen und nicht im Interesse der Gesellschaft genutzt worden sein müsste.
Dies lässt sich zwar im Verhältnis zur Konzerntochter (noch) begründen,
das Kriterium versagt aber offenkundig dann, wenn man die Konzernmut-
ter, dergegenüber die unmittelbaren Pflichten oblagen, mit in den Blick
nimmt.
Aus eben diesem Grund war gerade der Fall "Bremer Vulkan" daher auch
bislang schon geeignet, die Grenzen der sog. "Interessentheorie" deutlich
aufzuzeigen. 43 Denn das Handeln im Interesse der Konzernmutter, der ge-
genüber die unmittelbare Pflicht zur Interessenwahrung besteht, kann
durchaus die Interessen der Konzemtöchter, welchen gegenüber zumindest
eine abgeleitete entsprechende Pflicht besteht, verletzen. Dies gilt zumin-
dest dann, wenn man mit dem BGH davon ausgehen will, dass es im Kon-
zern verschiedene, U.V. kollidierende Pflichten auf den Ebenen der Kon-
zernstruktur geben kann und vor allem, dass der Gesamtvorstand sich
grundsätzlich nicht nur auf der zentralen Ebene einer Untreue strafbar ma-
chen kann. Dass der Senat hier von einer spezifischen Konstellation spricht,
dürfte lediglich verdeutlichen, dass er sich bewusst ist, nicht nur die Gren-
zen der Vermögensbetreuungspflicht des (Allein-)Gesellschafters aufs Äu-
ßerste zu strapazieren, sondern auch, dass ein morastiges Gelände paralleler,
mitunter gegenläufiger Pflichtenstellungen betreten wird, in dem die klare
dogmatische Abgrenzung und mit ihm in letzter Konsequenz auch das Be-
stimmtheitsgebot zu versinken drohen. Überdeutlich wird diese Verlegen-
heit durch die Hilfserwägung, eine Pflicht entstehe jedenfalls bei Erreichen
einer nicht näher zu konkretisierenden Schwelle der Existenzgefährdung der
Tochtergesellschaft. 44 Ist nämlich der Transfer von Vermögenswerten der
Tochter zur Mutter mit und wegen der Billigung durch die Gesellschafter
grundsätzlich kein pflichtwidriges Verhalten, so wird offenkundig, dass der
45 Dies legt jedenfalls die Sachverhaltsdarstellung in BGH wistra 2004, 341, nahe.
584 Carsten Mamsen
sensituation LS. der §§ 283 ff. StGB für den Gesamtkonzern abgewendet
werden kann. Die Annahme einer ggf. konfligierenden Vermögensbetreu-
ungspflicht hinsichtlich (der Existenzerhaltung) des Tochterunternehmens
fUhrt im gestuften Konzern nahezu automatisch in nicht mehr auflösbare
Pflichtenkollisionen und lässt sich im Sinne einer betriebswirtschaftlich
nachvollziehbaren Handlungsanweisung kaum umsetzen.
Eine Aufgabe der Interessentheorie fUhrt daher in Fällen wie dem vorlie-
genden tendenziell zu einer Ausweitung des Anwendungsbereichs der In-
solvenzdelikte und zu einer Zurückdrängung der Untreuestrafbarkeit. Ob
die damit verbundene Stärkung der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit all-
seits konvenieren wird, bleibt abzuwarten. Im Übrigen aber sollte das Er-
gebnis ganz der "Neigung" entsprechen, durch den Verzicht auf die Interes-
sentheorie "den Schutzbereich der Insolvenzdelikte zu erweitern", wie sie
der 1. Senat hat ausdrücken wollen. 50 Zudem wird die Abgrenzung nunmehr
aus dem Focus der Insolvenzdelikte betrieben. Dies zu Recht, da sich ein
eigenmächtiges und eigennütziges Verhalten von Organen bzw. Vertretern
eines zumindest faktischen Insolvenzschuldners, welche die potentielle
Insolvenzmasse schmälert, wegen der geradezu handgreiflichen Verletzung
der Vermögensinteressen der Insolvenzgläubiger vom Rechtsgut her als
Insolvenzdelikt zeigt. Auch in Fällen, wie dem vorliegend erneut betrachte-
ten, wird man richtigerweise danach fragen, ob die vorgeworfene Handlung
faktisch die Insolvenzmasse schädigt. 51 Ist dies so, liegt aber noch keine
Krisensituation LS. der §§ 283 ff. StGB vor, dann fehlt fUr das als ultima
ratio verstandene Strafrecht einstweilen der Handlungsbedarf. Gegebenen-
falls sind Maßnahmen der Wirtschaftslenkung einzusetzen, zu denen das
Strafgesetz richtigerweise nicht zählt.
PETERKöNIG
I. Ausgangslage
Während die "Gesetzgebungsmaschinerie" im Verkehrsrecht ständig und
auf hohen Touren läuft, sind das Verkehrsstrafrecht und speziell die "Trun-
kenheitsdelikte" (§315a Abs.1 Nr.1, §315c Abs.l Nr.1a, §316 StGB)
seit ihrer Konstituierung im Jahr 1964 1 von Änderungen weitgehend ver-
schont geblieben. Dies ist auch deswegen nicht selbstverständlich, weil das
gesetzgeberische Konzept zur Pönalisierung der folgenlosen "Trunkenheits-
fahrt" seinerzeit eigentlich vorläufigen Charakter trug. § 345 des E 19622
hatte insoweit vorgesehen, das Führen von Kraftfahrzeugen im Straßenver-
kehr mit einem Blutalkoholgehalt von mindestens 0,8%0 unter Strafe zu
stellen. Der Vorschlag wurde maßgebend mit der Begründung nicht aufge-
griffen, dass die Normierung einer bestimmten Promillegrenze vor Fertig-
stellung des beim Bundesgesundheitsamt in Auftrag gegebenen Gutachtens
zur Bedeutung des Alkohols im Straßenverkehr noch nicht entscheidungs-
reif sei. 3
Nach Vorlage des Gutachtens im Jahr 19664 suchte der Gesetzgeber sein
Heil dann bekanntlich aber nicht im Strafrecht, sondern im Ordnungs-
widrigkeitenrecht. 1973 wurde der ,,0,8%0-Bußgeldtatbestand" des § 24a
StVG eingefuhrt. 5 Es folgten 1998 bzw. 2001 die Absenkung des Gefahren-
grenzwerts auf 0,5%0 bei gleichzeitiger (1998) Verankerung der Atemalko-
1 Durch das Zweite Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 21.11.1964 (BGBL I,
S.921)
2 In den Regierungsentwurf eines 2. Gesetzes zur Sicherung des Straßenverkehrs (BT-Drs.
IV/651) war er - anders als in der 3. Wahlperiode des Bundestags (BT-Drs. 111/2368) - nicht
aufgenommen worden. Dazu LK-König, 12. Aufl. 2008, § 316 Entstehungsgeschichte.
3 Beschlussempfehlung und Bericht des federführenden Rechtsausschusses, BT-Drs.
IV/2161, S. 5~ s. auch BT-Drs. IV/651, S. 4 Fn. 2; S. 9 f.
4 Gutachten "Alkohol bei Verkehrsstraftaten" (1966)~ bearbeitet von Lundt und Jahn; "Er-
gänzende Stellungnahme" (1967).
5 Das Gesetz ist erst nach zähem Ringen zustande gekommen. S. dazu etwa Händel BA
1973, 353~ Helfer BA 1973, 1~ 192; Hentrich BA 1973, 177.
588 Peter König
11. Gesetzeskritik
Die Ausgestaltung der "Trunkenheitsdelikte" war von Beginn an Angrif-
fen aus dem juristischen und dem medizinisch-naturwissenschaftlichen
Schrifttum ausgesetzt, und zwar durchaus aus gegensätzlichen Richtungen.
Den von relativ wenigen Autoren 13 erhobenen Forderungen nach (weiterer)
19 BGHSt 21, 157, 160 f.~ LK-König (Fn. 2), § 316 Rn. 16 ff., 59 sowie mehrfach und mit
zahlreichen Nw.
20 Maatz BA 2002,21,25.
21 BGHSt 21, 156, 161~ Maat= a.a.O.
22 Z.B. Haffke JuS 1972, 448, 449 f.~ SchefflerlHalecker BA 2004, 422~ Arbab-Zadeh NJW
1967, 273, 274~ Nehm (Fn. 7), 1.
Sind die "Trunkenheitsdelikte" reformbedürftig? 591
23 BGHSt 30, 251, 253 ff.~ 34, 133, 134 ff.~ 37,89, 94.
24 Z.B. Gerchow BA 1976, 341 ~ Gerlach BA 1972, 239; GilglLiebhardt/SchullerlRiedel BA
1984, 235~ LutzlRahnlTaupp BA 1991,235; LockemannlPüschel BA 1997,241,248 ff.; Krü-
ger (BA 1990, 182, 193 ff.) kommt nach Auswertung einer Vielzahl experimenteller Untersu-
chungen sogar zu dem Ergebnis, dass die Fahrsicherheit bereits ab einer BAK zwischen 0,7
und 0,8%0 allgemein aufgehoben sei; hierzu LK-König (Fn. 2), § 316 Rn. 16c.
25 Nachweise bei LK-König (Fn. 2), § 316 Rn. 59.
26 BVerfG NJW 1990,3140; 1995, 125, 126.
27 Exemplarisch die Arbeit von Riemenschneider (Fn. 6), die sich für einen auf Kraftfahr-
zeuge und den Straßenverkehr beschränkten ,,1,O%o-Tatbestand" ausspricht, die Folgeprobleme
aber weitgehend ausblendet; gegen sie König NZV 2001, 169.
28 § 315a Abs. 1 Nr. 1, 1. Alt., § 315c Abs. 1 Nr. la, § 316 Abs. 1 StGB.
29 § 315a Abs. 1 Nr. 1, 2. Alt., § 315c Abs. 1 Nr. 1b StGB.
592 Peter König
30 LK-König (Fn. 2), § 315c Rn. 60, § 316 Rn. 136, 148 f, 175.
31 Schöch DAR 1996,452,455.
32 S. auch Bundesregierung in: BT-Drs. 16/2264, S. 3 zu Grenzwerten in § 24a StVG.
33 LK-König (Fn. 2), § 316 Rn. 130 ff., 144 ff., 167 ff.
34 S. auch LK-König (Fn. 2), § 316 Rn. 15d.
35 Nachweise bei LK-König (Fn. 2), § 316 Rn. 15.
36 Zuletzt LG Berlin BA 2008, 266~ zahlreiche Nw bei LK-König (Fn. 2), § 316 Rn. 96 f
Sind die "Trunkenheitsdelikte" reformbedürftig? 593
3. Andere Lösungsmöglichkeiten
Um wenigstens einen Teil der vorgenannten Friktionen zu vermeiden,
könnte man neben den unveränderten "Trunkenheitsdelikten" einen eigen-
ständigen "Promille-Tatbestand" einfuhren. 37 Dies würde allerdings syste-
matische und andere Folgeproblem nach sich ziehen. 38 Eine Alternative
wäre es, dem ansonsten beibehaltenen Fahrunsicherheits-Konzept innerhalb
einer Beweisregel eine gesetzliche Fiktion an die Seite zu stellen, wonach
ab einer bestimmten BAK zwingend von Fahrunsicherheit auszugehen ist.
Dies liegt nahe an der derzeitigen Rechtssituation, sofern die anerkannten
Beweisgrenzwerte übernommen würden. Der Gesetzgeber würde die bis-
lang durch die Rechtsprechung ausgeformten Grundsätze legalisieren und
damit der unter 11 2 referierten Kritik den Wind aus den Segeln nehmen. Ein
gewisses Vorbild hätte eine solche Regelung in § 24a Abs. 2 S. 2 StVG, der,
nach freilich nicht unumstrittener Auffassung, für das Merkmal der Wir-
kung der in § 24a Abs. 2 S. 1 StVG mit Anlage bezeichneten Rauschmittel
ebenfalls eine Beweisregel festschreibt. 39
Ein mögliches Modell ist unlängst vorgestellt worden. 40 In einem neuen
§ 315e soll bestimmt werden, dass zum sicheren Führen eines Kraftfahr-
37 Z.B. "Nach ... wird auch bestraft, wer ... "; so der Vorschlag von Maat= BA 2001,21,30;
2008, Supplement S. 31, 32.
38 LK-König (Fn. 2), § 316 Rn. 15b; Laschewski NZV 2008, 1,6.
39 Dazu König in: HentschellKönig/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl. 2009, § 24a
StVG Rn. 21; im Anschluss an Stein NZV 1999,441 und Geppert DAR 2008,125.
40 Laschewski (Fn. 38), 6 f.
594 Peter König
41 Die Problematik hat bei der zweimaligen Herabsetzung des Grenzwerts absoluter Fahr-
unsicherheit durch den BGH eine beachtliche Rolle gespielt; hierzu LK-König (Fn. 2), § 316
Rn. 64.
42 Dazu noch unten IV.
43 AG Köln NJW 1989, 121 sieht keinen Grenzwert "absoluter" Fahrunsicherheit.
Sind die "Trunkenheitsdelikte" reformbedürftig? 595
wegen eines Mofas mit Pedalkraft - in ihrer Struktur dem Radfahren gleich-
stehen. 44
Diffiziler wäre die Lage bei den sonstigen Verkehrsarten. So existiert für
den Schiffsverkehr eine Rechtsprechung, die den Grenzwert von 1, 1%0,
gestützt durch medizinisch-naturwissenschaftliche Erkenntnisse, zumindest
auf "Schiffe von Gewicht" überträgt. 45 Für den Bahnverkehr wird die Frage
in der Judikatur zumindest diskutiert. 46 Für den Luftverkehr gibt es zwar
soweit ersichtlich keine strafgerichtliche Rechtsprechung. Unter Bezug-
nahme auf Erkenntnisse der internationalen Flugmedizin wird aber die Auf-
fassung vertreten, dass absolute Flugunsicherheit bei einer Blutalkoholkon-
zentration von 0,5%0 beginne. 47 Andere betonen, dass die hohen Anforde-
rungen des Luftverkehrs eine Differenzierung zwischen absoluter und
relativer Flugunsicherheit wenig sinnvoll erscheinen ließen, und halten
deshalb "absolute" Fahrunsicherheit bei jeglichem Alkoholkonsum für
gegeben. 48 De lege lata erscheint dies schwerlich haltbar. 49 De lege ferenda
sprechen hingegen gute Gründe darur, dass fur derart höchstgefährliche
Bewegungsarten im Verkehr niedrigere Promillegrenzen gelten müssen als
rur den gewöhnlichen Kraftfahrer. Einzubeziehen sind aber auch z.B. das
Führen eines leE oder Gefahrguttransporte auf See,50 Schiene und Straße.
Auf der anderen Seite stehen Minima wie eben das Radfahren, aber auch
etwa das Führen eines Paddelboots oder eines elektrifizierten Ausflugsboots
in Trunkenheit.
Der Gesetzgeber könnte sich dieser Problematik nicht entziehen. Zu er-
warten wäre ein sehr schwieriges Gesetzgebungsverfahren, das letztlich zu
differenzierten Lösungen zwingen würde. Am Ende eines quälenden Ent-
scheidungsprozesses würde dann vielleicht genau die "verwirrende Vielfalt
von Werten" für die verschiedenen Bewegungsarten im Verkehr stehen, die
die jüngere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aus guten Gründen zu
vermeiden trachtet. 51
52 Auch hier steckt der Teufel im Übrigen im Detail~ so hätte eine auf das Kraftfahrzeugfüh-
ren im Straßenverkehr beschränkte Beweisregel den Effekt, dass beim Kraftfahrer die Atem-
probe ausreichen würde, wohingegen dem Radfahrer Blut entnommen werden müsste.
53 Eingehend LK-König(Fn. 2), § 316 Rn. 15c, 44 ff.
54 Vgl. Meyer-Goßner StPO, 52. Aufl. 2009, § 81a Rn. 25b.
55 BA 2008, 251~ auch abrufbar über ww\v.lnj.niedersachsen.de.
56 Vgl. NZV 2009,126
57 Zum CIF-Wert (Cannabis Injluence Factor) bei Cannabis und zu weiteren Klassifizie-
rungsversuchen LK-König (Fn. 2), § 316 Rn. 148a.
Sind die "Trunkenheitsdelikte" reformbedürftig? 597
v. Schieflagen
Damit ist eine Schieflage angesprochen, die das Verkehrsstraf- und -ord-
nungswidrigkeitenrecht 60 durchzieht: Das Fahrzeugführen unter illegalen
Drogen ist gegenüber dem Fahrzeugführen unter Alkohol privilegiert. Im
Bereich der §§ 315c, 316 StGB profitiert der "Drogenfahrer" vom Defizit
an Grenzwerten und von einer teils sehr restriktiven Rechtsprechung (IV).
Der vom Gesetzgeber intendierte "Nullwert" im Rahmen des § 24a Abs. 2
StVG ist durch eine Kammerentscheidung des BVerfG aufgeweicht,61
Ahndbarkeit ist danach in der Regel nur noch gegeben, wenn ein "analyti-
scher" Grenzwert erreicht wird, der nach den Festlegungen der Grenzwert-
kommission z.B. für THC bei 1 ng/ml liegt,62 Dies tritt in deutliche Span-
nungslage zu medizinisch-toxikologischen Erkenntnissen, nach denen
gerade im Bereich solch niedriger Wirkstoffkonzentrationen nicht nur ver-
einzelt deutliche Leistungsbeeinträchtigungen auftreten. 63 Hinzu kommt
eine mittlerweile schon als herrschend zu bezeichnende Rechtsprechung der
Oberlandesgerichte, derzufolge es bei (behauptetem) länger zurückliegen-
dem Drogenkonsum vor Antritt der Fahrt - anders als bei Restalkohol 64 - an
der Erkennbarkeit der Drogenwirkung und damit an Fahrlässigkeit soll
fehlen können. 65 Und der Gesetzgeber bedroht - die angesprochene, für
repressive Sanktionen zumindest abstrakte Gefahren einfordernde Kammer-
entscheidung des BVerfG vor Augen - in § 24c StVG in Bezug auf Alkohol
58 A.M. OLG Zweibrücken DAR 2003, 431 ~ weitere Nw. zu ähnlichen Entscheidungen bei
LK-König a.a.O., § 316 Rn. 164a.
59 A.M. aber BGH NZV 2008, 528 m. Bspr. König NZV 2008, 492.
60 Anders im Fahreignungsrecht, wo eine Schlechterbehandlung von Drogenkonsumenten
wegen einer im Hinblick auf die Defizite des Repressionsrechts verfolgten "Kompensations-
strategie" der Fahrerlaubnisbehörden beklagt wird. Vgl. Kreuzer NZV 1999, 353~ Schöch in:
Berghaus/Krüger, Cannabis im Straßenverkehr, 1998, S. 217.
61 BVerfG NJW 2005,349.
62 Dazu König (Fn. 39), § 24a StVG Rn. 21a, 21b.
63 Drasch/v. Meyer/Roider/Staack/Paul/Eisenmenger BA 2006, 441, 448.
64 Abw. allerdings OLG Hamm BA 2002,123; 2009, 47, 413.
65 OLG Hamm NJW 2005, 3298; OLG Saarbrücken NJW 2007, 1373; OLG Celle NZV
2009,89; hiergegen König NStZ 2009,425.
598 Peter König
eine Palette von Handlungen mit Geldbuße, denen jegliche (abstrakte) Ge-
fährlichkeit abzusprechen ist,66 lässt aber den "Drogenfahrer" außen vor. So
begeht der Fahranfänger eine Ordnungswidrigkeit, der während der Fahrt
einen Schluck eines alkoholhaltigen Getränks aufnimmt, wohingegen der
während der Fahrt einen "Haschisch-Cookie" konsumierende Fahranfänger
sanktionslos ausgeht, sofern zu diesem Zeitpunkt noch kein Wirkstoftbe-
fund vorhanden ist. 67 All dies erscheint wenig überzeugend, wobei dafür
aber nur teilweise die Gesetzeslage verantwortlich ist.
VI. Fazit
Trotz einiger Verwerfungen ist der Verfasser nach alledem geneigt, die
im Titel dieses Beitrags gestellte Frage zu verneinen. Das geltende Recht in
seiner Ausformung durch den Bundesgerichtshof ist im Wesentlichen ge-
eignet, auch neu auftretende Phänomene sachgerecht zu erfassen. Dass
- wie stets - Perfektionierungen möglich sind, bleibt davon unberührt. Bei
der Rechtsanwendung bestehen indessen Spielräume, die durch die Praxis
ausgetUllt werden sollten.
Der Verfasser meint, sich mit diesem Fazit (wenngleich nicht mit allen
der vorausgegangenen Wertungen) auf einer Linie mit dem verehrten Jubi-
lar zu befinden, was für einen Festschriftenbeitrag geradezu ideal erscheint.
Er wünscht ihm weiterhin volle Tatkraft und die Gesundheit, die er tUr seine
ungebrochenen Aktivitäten in Forschung und Lehre braucht. Angesichts der
geradezu unglaublichen Vitalität, die der Jubilar ausstrahlt, hegt er keine
Sorge, dass dieser Wunsch nicht in ErtUllung gehen könnte.
66 Die soweit ersichtlich erste veröffentlichte Entscheidung zu § 24c StVG könnte darauf
hindeuten, dass die Praxis dem Gesetzgeber nicht uneingeschränkt folgt: AG Herne BA 2009,
433 verneint, sachverständig beraten, bei einer AAK von 0,13 mg/I die "Wirkung", obwohl der
Gesetzgeber diese bereits ab 0,1 mg/I als gegeben ansieht; vgl. dazu König (Fn. 39), § 24c
StVG Rn. 11.
67 Vgl. König (Fn. 2), § 24c StVG Rn. 5.
Der Arzt als Unterlassungstäter
GUNNAR DUTTGE
I.
Das ärztliche Selbstverständnis bezeichnet die Erhaltung und Wiederher-
stellung der Gesundheit der anvertrauten Patienten als "oberstes Gebot",
dem sich mit Blick auf die "edle Überlieferung" eine jede Ärztin und ein
jeder Arzt "mit allen Kräften" zu widmen habe (GelÖbnis).l Indem sie sich
"mit Gewissenhaftigkeit und Würde" ihrer Aufgabe stellen, "das Leben zu
erhalten, die Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen, Leiden zu
lindern, Sterbenden Beistand zu leisten und an der Erhaltung der natürlichen
Lebensgrundlagen im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Gesundheit der
Menschen mitzuwirken", dienen Ärztinnen und Ärzte über die Gesundheit
der einzelnen Menschen hinaus zugleich "der Bevölkerung" im Ganzen (§ 1
Abs. 1 und 2 MBO).2 Diese im gedanklichen Ansatz schlechthin umfassen-
de PflichtensteIlung legitimiert und prägt nicht minder auch alle Anstren-
gungen im Bereich der medizinischen Forschung, insbesondere jener, die
sich der Entwicklung besserer Arzneimittel verschrieben hat (vgl. § 40
Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG: " ... voraussichtliche Bedeutung des Arzneimittels
für die Heilkunde"; Deklaration des Weltärztebundes von Helsinki 2008).3
Noch heute - oder gerade heute wieder verstärkt in kritischer Absicht ge-
genüber den aktuellen Problemlagen einer (zu?) weit reichenden Technisie-
rung, Ökonomisierung4 und Bürokratisierung der Medizin - wird die "ärzt-
liche Grundhaltung" beschrieben als eine "unvergleichliche Einmaligkeit",
in der "das notleidend-ungeschützte Antlitz des Patienten und dessen spre-
1 Die Musterberufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte hat ihrer eigenen Präam-
bel eine modernisierte Fassung des altehrwürdigen "Hippokratischen Eides" vorangestellt,
http://www.bundesaerztekammer.del.
2 Siehe Fn 1.
3 Zu den aktuellen Rechtsproblemen klinischer Arzneimittelstudien näher Duttge in:
Deutsch/Duttge/Schreiber/Spickhoffffaupitz (Hrsg.), Die Implementierung der GeP-Richtlinie
und ihre Ausstrahlungswirkungen, 2010 [im Erscheinen].
4 Zuletzt hierzu: Duttge/Dochow/Waschkewit=/Weber (Hrsg.), Recht am Krankenbett - Zur
Kommerzialisierung des Gesundheitswesens, Göttinger Schriften zum Medizinrecht, Bd. 7,
2009.
600 Gunnar Duttge
chende Augen mir als Arzt befehlen, mich ihm auszusetzen und in seinen
Dienst zu treten, ihn zu hören in Gehorsam ohne Hörigkeit", und dies alles
in Befolgung eines "kategorischen Imperativs der Solidarität".5 In der Anth-
ropologie des Paracelsus bildete bekanntlich die christliche Nächstenliebe
den Fixpunkt ärztlicher Verantwortung, gleichsam als "höchste Tugend des
Arztes".6
Bei solcher Prägung der ärztlichen Rolle im Sinne einer "institutionali-
sierten Hilfeleistungsperson"7 kann es kaum überraschen, dass die Sorge
vor einer strafrechtlichen Inanspruchnahme wegen mangelnder oder man-
gelhafter Fürsorge - sei es unter Anwendung des "Samariter-Paragraphen"
aus § 323c StGB 8 oder gar (bei Eintritt eines tatbestandsmäßigen "Erfol-
ges") gleich einem Begehungstäter (§ 13 StGB)9 - die Debatten über medi-
zinrechtliche Grenzfragen und nicht selten wohl auch die medizinische
Praxis beherrscht. So fühlen sich behandelnde Ärzte insbesondere durch die
prognostischen wie wertbezogenen ("Nutzen" versus "Schaden") Unsicher-
heiten in Situationen der letzten Lebensphase offenbar nach wie vor dazu
gedrängt, die eigene Verantwortung zur Sicherstellung einer angemessen
dosierten (und damit ggf. auch begrenzten) Therapie zu verschleiern 10 oder
auf die Patienten und ihre Angehörigen abzuwälzen 11 - sofern deren Votum
nicht wiederum mit Blick auf "Lebenserhaltung" und "Fürsorge" zur unver-
bindlichen Meinungskundgabe 12 herabgestuft werden. Der Impetus der
5 Dörner Medizin als Menschendienst statt als Marktdienstleistung, 2005, S. 9 f.; siehe zu-
letzt auch Eibach/Ewig/Zwirner, Medizin, Ökonomie und der kranke Mensch, 2009.
6 H. Fischer in: ders., Arzt und Humanismus, 1962, S. 200, unter Verweis auf Paracelsus,
Sieben Defensiones. Verantwortung über etliche Verunglimpfungen seiner Mißgönner,
1537/38.
7 Kleiber Anästh. Intensivther. Notfallmed 16 (1981), 350.
8 Geppert Jura 2005, 39, 40 unter Verweis auf Luk. 10, Verse 30 bis 37; siehe bereits Kreu-
=er NJW 1967,278,281: "Liebes-Paragraph".
9 Diese an sich höchst bedeutsame Unterscheidung spielt im Kontext ärztlichen Handeins
wegen der mit Behandlungsübernahme stets begründeten Garantenstellung hinsichtlich der
Reichweite der Strafbarkeit (anders als natürlich hinsichtlich der Strafzumessung) jedenfalls
dann keine Rolle, wenn § 323c StGB nicht als allgemeiner Auffangtatbestand jenseits des
ärztlichen Handlungsspielraums missbraucht wird. Deshalb differenziert der weitere Text nicht
dezidiert zwischen echtem und unechtem Unterlassungsdelikt und konzentrieren sich die
weiteren Überlegungen auf den Tatbestand des § 323c StGB.
10 Indem bewusst getroffene Entscheidungen zur Therapiebegrenzung "sicherheitshalber"
nicht offen gelegt, mit dem Pflegeteam nicht kommuniziert und schon gar nicht in der Kran-
kenakte vermerkt und begründet werden.
11 Indem auf "klare Anweisungen" in einer Patientenverfügung gehofft und zugleich der
"Konsens" mit den Angehörigen gesucht wird - "schon um sich juristischen Ärger zu erspa-
ren" (auch sog. "präventive Konfliktvermeidung").
12 Siehe nur die kryptische Formulierung der Empfehlungen von Bundesärztekammer und
ihrer Zentralen Ethikkommission zum Umgang mit Patientenverfügungen in der ärztlichen
Der Arzt als Unterlassungstäter 601
Praxis: "Der in einer Patientenverfügung geäußerte Wille des Patienten ist grundsätzlich
verbindlich... GleichwohL .. " (DÄBI 2007, A-891, 895).
13 Insoweit bestehen an der Zulässigkeit des Eingriffs natürlich keine Zweifel.
14 Eingehend R. Merke! in: RoxiniSchroth (Hrsg.), Handbuch des Medizinstrafrechts,
3. Aufl. 2007, S. 462 ff.
15 Interessante Bemerkung des leitenden Arztes Benjamin Carson im Falle der Trennung
von Lea und Tabea Block, bezogen auf die aussichtslos werdende Situation: "Für einen Mo-
ment habe ich mich gefragt: "Warum, um Himmels willen, machst du so etwas überhaupt?"
(Stern v. 25.11.2004).
16 So ausdrücklich Deutsch/SpickhoffMedizinrecht, 6. Aufl. 2008, Rn. 904.
17 Die Praxis verfährt offenbar nach der Devise: Je gravierender die Erkrankung, umso hö-
here Risiken dürfen auch bei der Anwendung eines noch nicht zugelassenen Wirkstoffs einge-
gangen werden. Bei einer rechtsnormativen, auf die Bedürftigkeit der Individuen abhebenden
Bewertung könnte man aber ebenso gut die gegenteilige Formel aufstellen: Je schwächer und
schutzbedürftiger der Betroffene ist, umso größerer Vorsicht bedarf es.
18 Für eine Durchbrechung des Verbots aus therapeutischen Gründen v. a. Deutsch/Spickhoff
(Fn. 16), Rn. 1322; Fischer Medizinische Versuche am Menschen, 1979, S. 68 ("teleologische
Reduktion"); Stock Der Probandenschutz bei der medizinischen Forschung am Menschen,
1998, S. 64; Wachenhausen Medizinische Versuche und klinische Prüfung an Einwilligungs-
unfähigen, 2001, S. 167.
19 Siehe zur Legitimationsgrundlage die Erwägungen bei R. Merke! in: Brudennüller u.a.
(Hrsg.), Forschung am Menschen - ethische Grenzen medizinischer Machbarkeit, 2005, S. 137
ff., sowie Magnus/R. Merke! in: Boos u.a. (Hrsg.), Nutzen und Schaden aus klinischer For-
schung am Menschen, 2008, S. 109, 118: Die "solidarische Duldungspflicht" lasse sich aus
"zwei fundamentalen rechtlichen Grundsätzen" ableiten, dem strafrechtlichen Notstand sowie
dem Hilfeleistungsgebot aus § 323c StGB.
602 Gunnar Duttge
20 Zu den damit einhergehenden Problemen, die jüngst zur Änderung des Schwanger-
schaftskonfliktgesetzes geführt haben (Gesetz v. 26.8.2009, BGBL I, S. 2990), eingehend
Woopen/Rummer MedR 2009,130 ff.
21 Bezeichnend die Irritation etwa im Beitrag von Kummer DÄBL 2007, A-3186: "In einer
merkwürdigen Verschiebung der Perspektive wird ... die Entdeckung struktureller Zufallsbe-
funde als Risiko bezeichnet und nicht als Chance, Krankheit im Frühstadium zu entdecken und
zu heilen. Wenn der diagnostizierende Arzt und nicht die Krankheit als Risiko eingeschätzt
wird, dann wird Ignoranz zu einem ethischen Prinzip erhoben."
22 Zur Bedeutung des Rechts auf Nichtwissen näher Duttge DuD 2010, 34 ff. mit weiteren
Beispielen.
23 Grundlegend H. Arendt Vita activa oder Vom tätigen Leben, 1960.
24 Eh. Schmidt Die Besuchspflicht des Arztes unter strafrechtlichen Gesichtspunkten, 1949,
S.17.
25 Harris Der Wert des Lebens, 1995 (Originaltitel: The Value of Life. An introduction to
medical ethics, 1985), S. 93 f.
Der Arzt als Unterlassungstäter 603
Berufspflicht für Ärzte statuiert sei, diese vielmehr nur im Rahmen einer
"allgemeinen Nothilfepflicht", d.h. "unter denselben Voraussetzungen wie
für jedermann",26 "unabhängig von ihrer beruflichen Qualifikation"27 zu
Adressaten der Gebotsnorm und damit handlungspflichtig werden können. 28
Eine solche nur allgemein formulierte Leitlinie hat aber offenbar nicht zu
verhindern vermocht, dass die praktische Relevanz dieses "Jedermannsde-
likts" (seiner tatbestandlichen Fassung nach) eben doch im Schwerpunkt
das ärztliche Wirken erfasst. 29 Dass hierfür nicht nur die bei Unglücksfällen
meist höhere "Sachkompetenz von Medizinalpersonen",30 sondern auch
eine im Zweifel extensive Interpretation der einzelnen Tatbestandsmerkma-
le verantwortlich sein könnte, ist schon früh konstatiert worden. 31 Dabei
drängen die jüngeren grundlegenden Untersuchungen zur Legitimität einer
- strafbewehrten Solidaritätspflicht doch gerade umgekehrt zu einer re-
striktiven Auslegung (dazu 11.). Soweit sich hieraus vorpositive Grenzlinien
ergeben oder solche gar innerhalb der geltenden Strafrechtsordnung nach-
weisbar sind, müssen diese sich auch in der Deutung der einzelnen Tatbe-
standsmerkmale manifestieren. Der Brückenschlag zu Konstellationen aus
dem ärztlichen Berufsfeld wird jedoch Defizite der bisherigen Auslegung
des § 323c StGB aufdecken (anschließend 111.) und damit nahtlos anknüp-
fen an die einschlägigen Beiträge des verehrten Jubilars. 32 Ihm gilt an dieser
Stelle mein besonderer Dank für seine vielfältig fördernde" Wegbegleitung"
insbesondere während der gemeinsamen "Münchener Zeit"; ihm seien noch
viele weitere schaffensreiche Jahre vergönnt!
11.
Zur grundlegenden Legitimationsfrage wird gerne auf die kantische Mo-
ralphilosophie Bezug genommen und - zutreffend - festgestellt, dass dort
die Sorge um das Wohl (die "Glückseligkeit") anderer von vornherein nur
als Tugend- und nicht als Rechtspflicht in Erscheinung tritt, d.h. als eine
solche, die nicht Gegenstand einer "äußeren", sondern nur einer "inneren
Gesetzgebung" sein kann. 33 Kehrseite dieser Unterteilung ist ein Rechtsbe-
griff, der sich bekanntlich auf die wechselseitige Sicherung "äußerlicher"
Freiheitssphären beschränkt,34 ausschließlich gegen schädigende Übergriffe
gerichtet (neminem laede).35 Die Gründe für eine solchermaßen strikte Be-
grenzung auf ein rechtliches Verletzungsverbot in Abgrenzung zu einem
rein "moralischen Liebesgebot" sind ebenso wie deren Überzeugungskraft
bereits von anderen eingehend beleuchtet worden. 36 Deshalb sei hier
sogleich das Ergebnis erläutert: Sämtliche Argumente - in aller Kürze:
Freiheitsschutz, (mangelnde) Verallgemeinerungsfähigkeit und (zu großer)
"Handlungsspielraum" - haben ihr Gewicht, stehen aber unter zwei zusam-
mentreffenden Bedingungen einer Verrechtlichung von Handlungspflichten
nicht kategorisch entgegen. Erstens müssen diese bei übergreifender Be-
trachtung in einer auf dem Boden rechtlicher Freiheit verfassten Rechtsge-
meinschaft (vgl. Art. 2 ff. GG) die Ausnahme bleiben; zweitens bedürfen
auch bei konkreter Betrachtung Anwendungsbereich und Ausmaß einer mit
Rechtszwang versehenen Solidaritätspflicht einer engen Begrenzung, damit
diese Inpflichtnahme hinreichend verallgemeinerungsfähig, dem Adressaten
zumutbar und durch eine "äußere Gesetzgebung" erzwingbar bleibt. Kühl
hat konkretisierend eine Reihe von Anforderungen aufgezählt, damit eine
solche "Nothilfe" als Rechtspflicht legitimiert werden könne, u.a. die radi-
kale Beschränkung auf "geringe und punktuelle Freiheitsopfer" und auf eine
"legale Pflichterfüllung" (ohne sich das fremde Bedürfnis selbst zueigen
machen zu müssen).37 Dieses leitende Gebot der restriktiven Auslegung
33 Kant Metaphysik der Sitten, 1797, in: Weischedel (Hrsg.), Werke, Bd. 7, 1983, AB 17
(S. 326) und AB 47 (S. 347).
34 Die viel zitierte Formel lautet: "Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter
denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der
Freiheit zusammen vereinigt werden kann" (Kant [Fn. 33], AB 33/34 [So 337]).
35 Neben dem "neminem laede" nennt Kant als weitere "Rechtspflichten" auch noch die
Gebote des "honeste vive" und des "suum cuique tribuere"~ doch der auf die Gesetzgebung in
einer Gesellschaft bezogene, von Kant als "lex iuridia" bezeichnete Rechtsrahmen findet sich
allein im allgemeinen Schädigungsverbot benannt, zutr. Kühl, in: Jung/Müller-Dietz/Neumann
(Hrsg.), Recht und Moral, 1991, S. 139, 170 m. Fn. 188.
36 Insbesondere: Kahlo Die Handlungsform der Unterlassung als Kriminaldelikt, 2001, vor
allem S. 281 ff.~ Kühl (a.a.O.); Seelmann Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 2007, § 3 Rn 24 ff.
37 Kühl (Fn. 35), S. 175.
Der Arzt als Unterlassungstäter 605
wird, wie Seelmann gezeigt hat, umso mehr Geltung beanspruchen und
noch um das der Subsidiarität38 ergänzt werden müssen, wenn eine strajbe-
wehrte Solidaritätspflicht wie in § 323c StGB normiert in Frage steht. 39
Dem ließe sich allerdings bei unbefangener Lesart entgegenhalten, dass
doch die Orientierung am kantischen Rechtsdenken nicht anders als etwa an
der Lehre seines (insoweit) getreuen Adepten Schopenhauer40 oder etwa
auch an so unterschiedlichen, aber fiir die hier interessierende Frage zu ganz
ähnlichen Resultaten gelangenden Denkern wie Hegel41 oder Mi1l42 keines-
wegs zwingend und im Zeitalter des "nachmetaphysischen Denkens"43 und
der hierdurch motivierten Rechtsbegründung (möglichst) ohne naturrechtli-
chen Überbau nicht einmal mehr gut begründbar sei. Ebenso könne man
auch den - dezidiert auf die Gegebenheiten in einer (post-)modernen, plura-
listischen Gesellschaft proj izierten - Habermasschen Weg für den richtigen
halten und die "benevolence" unter dem Leitgesichtspunkt des "gleichen
Respekts fur alle" als ebenbürtiges Moralprinzip, eben nur als zweite Seite
derselben Sache betrachten,44 fur dessen Geltung das Recht im Sinne einer
Art "Ausfallbürgschaft"45 bis zur Grenze der verallgemeinerbaren Erforder-
nisse 46 ebenfalls zu sorgen habe. Oder es ließe sich - etwa mit Merkel47 -
nicht minder einleuchtend Anschluss suchen an die Überlegungen Rawls,
der uns in vielem doch als moderner - aber eben gemäßigter - Kantianer
erscheint und in seiner "Theorie der Gerechtigkeit" sehr wohl auch eine
"natürliche Pflicht" des Einzelmenschen zur Hilfeleistung gegenüber einem
in Not Geratenen kennt, und zwar ganz unabhängig davon, "ob wir uns nun
dazu verpflichtet haben oder nicht" - "vorausgesetzt, es ist ohne ungebühr-
liche eigene Gefährdung und Schädigung möglich".48 Diesen Erwägungen
entgegenzuhalten, sie beachteten nicht hinreichend die kantische Unter-
scheidung zwischen Rechts- und Tugendpflichten,49 wäre zwar in der Sache
richtig, aber kein durchschlagender Einwand, weil Rawls gar nicht - inso-
weit freilich ganz unkantisch - zwischen Recht und Moral trennt. Zutref-
fend konnte deshalb bereits Kühnbach erwidern: "Der Urzustand gibt nicht
nur die Bedingung des Begriffs des Rechten an, sondern gilt für die Wahl
aller ethischen Grundsätze; die Beschreibung des Urzustands und seiner
Bedingungen folgt weder dem Begriff des Rechten noch dem des Morali-
schen".50
Obgleich Rawls die letztlich zentrale Prioritätsfrage nicht nur in ihrer
prinzipiellen Fassung, sondern auch für den Fall einer konkret-situativen
Kollision solcher "positiven" mit "negativen" Pflichten 51 erklärtermaßen
offen lässt52 und allzu vage nur von einem (generell?) größeren Gewicht der
letztgenannten spricht,53 gibt die angeführte Begründung für die grundsätz-
liche Anerkennung einer Pflicht zur gegenseitigen Hilfeleistung dennoch
einen aufschlussreichen Hinweis: Die kantische Grundlegung 54 gleichsam in
die Sozialsphäre verlängernd betont Rawls nämlich den freiheitserweitern-
den Effekt jenseits der akuten Notlage, wenn Menschen ihr Leben generell
im Vertrauen auf die Solidarität der anderen gestalten können. 55 Damit steht
der Gedanke "mitmenschlicher Solidarität" also im Dienste der Freiheit und
deren Entfaltungsbedingungen im gesamtgesellschaftlichen Rahmen, ganz
in dem Sinne, wie schon Pawlik den Geltungsgrund des § 323c StGB in der
48 Ralvls Theorie der Gerechtigkeit, 1975, Kap. 19 (S. 135 f): Natürliche Pflichten bestehen
"nicht nur gegenüber bestimmten Menschen ... , sondern gegenüber Menschen überhaupt" (als
gleiche moralische Subjekte).
49 So Morgenstern Unterlassene Hilfeleistung, Solidarität und Recht, 1997, S. 79 f
50 Kühnbach (Fo. 45), S. 66.
51 Terminologisch übernimmt Rawls (Fn. 48, S. 136) bemerkenswert die Schopenhauersche
Terminologie, siehe o. Fn. 40.
52 Explizit Rawls (Fn. 48), S. 375.
53 Rawls (Fn. 48), S. 136.
54 Vgl. Kant (Fn. 33), Tugendlehre, § 30 (A 124, S. 589 f): "Denn jeder Mensch, der sich in
Not befindet, wünscht, dass ihm von anderen Menschen geholfen werde. Wenn er aber seine
Maxime, anderen in ihrer Not nicht Beistand leisten zu wollen, laut werden ließe, ... so würde
ihm ... jedermann gleichfalls seinen Beistand versagen oder wenigstens zu versagen befugt
sein".
55 Rawls (Fn. 48), S. 374.
Der Arzt als Unterlassungstäter 607
56 Pawlik GA 1995, 360, 365 f.~ ähnlich Kühnbach (Fn. 45), S. 86.
57 Hier im allgemeinsten Sinne verstanden, bezogen auf den sonst geschuldeten Respekt ge-
genüber dem staatlichen Gewaltmonopol.
58 Also nicht etwa nur mittelbar in Form der Erhebung von Steuern.
59 Zur sozialstaatlichen Aufgabe, die unverzichtbaren "Mindestbedingungen für ein men-
schenwürdiges Dasein" zu garantieren, vgl. BVerfGE 40, 121, 133~ 44, 353, 357~ 45, 187, 228~
82, 60, 80 und 85~ 110,412, 445 f.~ vertiefend dazu Kersting Rechtsphilosophische Probleme
des Sozialstaats, 2000.
60 Zutr. betont von Kühnbach (Fn. 45), S. 95 f. ~ siehe bereits Engisch FS Gallas, 1973,
S. 173 ff.
61 Explizit T Walter ZStW 116 (2004), 555, 557~ zum notwendigen "Aufforderungscharak-
ter der Situation" aus Sicht der Sozialpsychologie weiterführend Witte Sozialpsychologie,
1989, S. 140 f.~ empirische Studien zu den relevanten Faktoren getätigter Hilfeleistung bei
Bierhoffin: Stroebe/Jonas/Hewstone (Hrsg.), Sozialpsychologie, 4. Aufl. 2003, S. 342 ff.
608 Gunnar Duttge
62 Vgl. etwa NK-Wohlers, 3. Aufl. 2010, § 323c Rn 1: z.B. das Verbot, beim Autofahren
gewisse Geschwindigkeiten ... zu überschreiten, verglichen mit dem Gebot, bei Unfallen einen
Krankenwagen zu alarmieren.
63 Es sei denn, die äußere Lebenswelt schließe Verhaltensalternativen aus (z.B. an men-
schenfeindlichen Orten).
64 Treffend aus normlogischer Sicht Röhl Allgemein Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, § 58 IV
(S.467).
65 Dazu näher Joerden Logik im Recht, 2005, S. 199 ff.
66 Natürlich unabhängig von weiteren Differenzierungen je nach rechtssystematischem Kon-
text!
67 Näher zu geschichtlichen Bezügen: G. Schiemann JuS 1989,345 ff. m.w.N.
Der Arzt als Unterlassungstäter 609
weil die schädigende Ursache nicht seiner Sphäre entstammt;68 er findet die
Gefahrenlage bereits vor und schafft sie nicht erst selbst.69 Hiermit verbin-
det sich der normative Leitgesichtspunkt der "Eigenverantwortlichkeit" als
Grundlage jedweder (straf-)rechtlichen Zurechenbarkeit: Der schädigende
Erfolg gilt primär als das Werk desjenigen, der diesen Verlauf kraft "auto-
nomer"70 Steuerung unter Nutzung eines Wirkzusammenhangs maßgeblich
"in den Händen hielt" (sog. "Tatherrschaft")71; kommt bei demselben Täter
ein Unterlassensmoment hinzu (z.B. unterbliebene Erste-Hilfe-Maßnahmen
nach Versetzen der tödlich wirkenden Schläge), so wird es entweder schon
nicht als tatbestandsmäßig oder aber konkurrenzrechtlich als subsidiär be-
trachtet. 72 Das Unterlassen gewinnt also nur dort seine strafrechtliche Rele-
vanz, wo die Tat weder einem eigenständig 73 agierenden Begehungstäter
noch dem Opfer qua eigenverantwortlicher Selbstschädigung oder
-gefährdung74 zugeschrieben werden kann.
Die Nachrangigkeit der Handlungs- gegenüber einer Unterlassungspflicht
bzw. des Gebots gegenüber einem Verbot zeigt sich aber auch in Kollisions-
fällen, die nach h.M. zur Rechtfertigung nur im Falle zweier unvereinbarer
(gleichrangiger) Handlungspflichten führt, während bei Zusammentreffen
einer Handlungs- mit einer (gleichrangigen) Unterlassungspflicht (Extrem-
beispiel: Tötung zur Rettung anderen Lebens) die letztere stets als vorrangig
angesehen wird. 75 Ein weiterer, überdeutlicher Hinweis auf dieses der gel-
68 Im Kontext der sog. "Sterbehilfe" bildet im Rahmen der - umstrittenen und häufig miss-
verstandenen - Abgrenzung zwischen (strafbarer) Tötung auf Verlangen und (u.U. erlaubter)
"passiver Sterbehilfe" die Schädigungskausalität das richtige Abgrenzungskriterium, vgl. etwa
Duttge in: Kettler/Anselm/Duttge u.a. (Hrsg.), Selbstbestimmung am Lebensende, 2006, S. 37,
65 ff.~ Schreiber NStZ 2006, 473, 475~ siehe auch Schöch NStZ 1995, 153, 154: "normative
Gleichwertigkeit" zwischen Einstellen und Nichteinleiten einer Behandlung.
69 So der Hinweis Roxins im Kontext des unechten Unterlassungsdelikts, vgl. ders. Straf-
recht Allg. Teil, Bd. 11, 2003, § 31 Rn. 182.
70 Die durch die modernen Neurowissenschaften geweckten Zweifel an der menschlichen
Willensfreiheit seien in diesem Zusammenhang dahingestellt, näher dazu die Beiträge in:
Duttge (Hrsg.), Das Ich und sein Gehirn, 2009.
71 Grdl. Roxin Täterschaft und Tatherrschaft, 1. Aufl. 1963 (8. Aufl. 2006).
72 Im Überblick dazu Roxin (Fn. 69), § 31 Rn. 84 ff. m.w.N.
73 Die Anforderungen an einen für Mittäterschaft ausreichenden Tatbeitrag sollen hier nicht
weiter interessieren.
74 Zum Abgrenzungskriterium der "Tatherrschaft" bei der Unterscheidung zwischen eigen-
verantwortlicher Selbst- und einverständlicher Fremdgefahrdung zuletzt eingehend BGH NStZ
2009, 148 ff. m. Anm. Duttge NStZ 2009, 690 ff.
75 Vgl. etwa HK-GS/Duttge, 2008, § 34 Rn. 30 f. m.w.N.~ NK-Neumann (Fn. 62), § 34 Rn.
126~ Otto Jura 2005, 470, 474~ Roxin (Fn. 38), § 16 Rn 117~ grdl. Küper Grund- und Grenzfra-
gen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht, 1979~ aus der jüngeren Vergangen-
heit etwa Scheid Grund- und Grenzfragen der Pflichtenkollision beim strafrechtlichen Unter-
lassungsdelikt, 2000~ zur "Konkurrenz" zwischen einer Garanten- (§ 13 StGB) und allgemeiner
Hilfeleistungspflicht (§ 323c StGB) näher Beulke FS Küper, 2007, S. 1 ff.
610 Gunnar Duttge
111.
Welche Folgerungen lassen sich daraus nun rur die Interpretation des
Tatbestandes aus § 323c StGB ziehen, und zwar mit Blick auf den Bereich
ärztlichen Wirkens?81 Die rechtlichen wie medizinethischen Grenzen er-
laubter ärztlicher Tätigkeit liegen bekanntlich auf der Basis eines konzepti-
82 Vgl. Laufs NJW 2000, 1757, 1760 m.w.N.~ siehe auch die Modellbildung bei E. Emanu-
eI/I. Emanuel Journal ofthe American Medical Association 267 (1992),2221 ff.: paternalisti-
sches, informatives, interpretatives und deliberatives Modell.
83 Die seit RGSt 25, 375 ff. vorherrschende Körperverletzungsdoktrin ist bekanntlich durch
den Gedanken einer Stärkung des Selbstbestimmungsrechts motiviert, sieht sich jedoch dem
Einwand einer Rechtsgutsvertauschung ausgesetzt (eigenmächtige Heilbehandlung als Körper-
verletzung geahndet) und gerät restlos in Schwierigkeiten in Fällen eines kontraindizierten,
aber vom (aufgeklärten) Patientenwillen getragenen Eingriffs wie im berühmten Zahnextrakti-
onsfall, vgl. BGH NJW 1978, 1206~ näher dazu Duttge MedR 2005, 706 ff.
84 Jetzt §§ 1901a, b BGB i.d.F. des 3. Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts v.
19.6.2009, BR-Drs. 593/09~ erste Analysen bei Höfling NJW 2009, 2849 ff.~ Lange ZEV 2009,
537 ff.~ SpickhojfFamRZ 2009, 1949 ff.~ zur vorausgegangenen Rechtsunsicherheit vgl. zum
einen BGHSt 40, 257 ff., zum anderen BOHZ 154, 205 ff.; aus der Reformdebatte siehe insbe-
sondere den Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung, abgedruckt und begründet in: Schöch/Verrel
GA 2005,553 ff.
85 Vgl. BGHZ 154,205,224 f.
86 Zur Indikation für die künstliche Ernährung vgl. etwa Schneider/Momma/Manns Der In-
ternist 2007, 1066 ff.
87 Zu den normativen Implikationen z.B. Pöltner WMW 2007, 196, 199.
88 Die schwierige Operationalisierbarkeit dieser Risiko-Nutzen-Abwägung wird neuerdings
verstärkt beleuchtet, dazu näher die Beiträge in: Boos u.a. (Fn. 19).
612 Gunnar Duttge
sein könnte (Rechtsgedanke des "ultra posse nemo obligatur"), kann hier fur
den allgemein und einzelfallunabhängig gebotenen Respekt gegenüber dem
Selbstbestimmungsrecht des Patienten gewiss nicht der richtige dogmati-
sche Ort sein. 97 Dies gilt im Übrigen auch für Konstellationen eines (ver-
suchten) Suizids, sofern man sich nur von der heute nicht mehr akzeptierba-
ren Vorstellung einer spezifischen Bemakelung des - in der pejorativen
Begrifflichkeit - "Selbstmordes"98 als generell und von vornherein verwerf-
liche ("sittenwidrige") Tat99 gelöst hat. Denn was sollte die Rechtsgemein-
schaft auf dem Boden einer freiheitlich verfassten, weltanschaulich neutra-
len Rechtsordnung dazu berechtigen, einem Menschen das Weiterleben
(unter den von ihm als unerträglich empfundenen Lebensumständen!) selbst
dann aufzuzwingen, wenn dieser aufgrund eines "freiverantwortlichen"
Willensentschlusses defmitiv nicht mehr weiterleben will?100 Nur die -
zugegeben bereits prinzipiell, in der Maßstabsfrage und nicht nur in der
konkreten Situation101 offene - Frage der "Freiverantwortlichkeit", nicht
aber die (wie auch immer begründete) Annahme eines "Sonderfalls" im
allgemeinen Bürgerrechts- oder speziellen Arzt-Patienten-Verhältnis kann
zur Rettung des Suizidenten verpflichten: 102 Denn solange die (im Regelfall
und somit ohne Kenntnis der konkret-einzelfallbezogenen Umstände immer
bestehenden) Zweifel an der hinreichenden "Freiverantwortlichkeit" eines
Selbstötungsversuchs nicht im Rahmen des Menschenmöglichen widerlegt
sind,103 kann die mit § 323c StGB strafbewehrte Rettungspflicht auch nicht
mit dem "Selbstbestimmungsrecht" der suizidwilligen Person kollidieren. 104
Um der unbedingten Beachtenspflicht gegenüber dem patientenseitigen
Selbstbestimmungsrecht mitsamt der daraus resultierenden Handlungsbe-
105 Vgl. Geppert Jura 2005, 39, 43 f; Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. 2007, § 323c Rn. 2;
Ranft JZ 1987, 913; Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 90), § 323c Rn. 7;
Seebode FS Kohlmann, 2003, S. 279,286; SK-StGB/Rudolphi, § 323c Rn. 8.
106 Zu diesem Verständnis bereits o. bei Fn. 55 f
107 Zur Notwendigkeit einer "existentiellen Betroffenheit" bereits o. bei Fn. 59; wie hier -
unter Ausklammerung bloßer Sachwerte - auch Kahlo (Fn. 36), S.334 f; Otto Grundkurs
Strafrecht. Die einzelnen Delikte, 7. Aufl. 2005, § 67 Rn. 4; siehe auch MK-Freund, § 323c
Rn. 26: "allenfalls gewichtige Gefahren für Sachen von bedeutendern Wert".
108 Dazu m.w.N. HK-GS/Duttge, § 32 Rn. 34 f
109 In diesem Sinne insbesondere auch Schäch in: RoxiniSchroth (Fn. 14), S. 109, 119 f;
weiterhin OLG München NJW 1987, 2940, 2945 m. zust. Anm. Her=berg JZ 1988, 182 ff;
HK-GS/Verrel, § 323c Rn. 9; NK-Wohlers, § 323c Rn. 10.
Der Arzt als Unterlassungstäter 615
110 Pawlik GA 1995, 360, 370 f, der aber bei Vorliegen eines "freiverantwortlichen" Sui-
zidversuchs gleichwohl schon das Tatbestandsmerkmal "Unglücksfall" in Abrede stellt (369).
111 Siehe o. bei Fn. 65.
112 Zur "regulativen" Funktion von Rechtsnormen im skizzierten Sinne treffend Philipps in:
Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegen-
wart, 6. Aufl. 1994, S. 318~ weiterhin (und vertiefend) auch ders. in: Der Handlungsspielraum,
1974, S. 15 ff~ erhellend: von der Pfordten Rechtsethik, 2001, S. 92 f
113 Siehe o. bei Fn. 82 ff
114 Zu den rechtlichen Grundlagen und Grenzen erlaubter "indirekter Sterbehilfe" näher
Duttge u.a. Preis der Freiheit, 2. Autl. 2006, S. 80 ff.~ ders. in: Kettler/Anselm/Duttge u.a.
(Fn. 68), S. 36, 52 ff
115 Nach h.M. bestimmt sich die Erforderlichkeit nach einem objektiven ex ante-Maßstab,
d.h. "nach dem Urteil, das ein verständiger Beobachter auf Grund der ihm erkennbaren ...
Umstände fällen würde", vgl. m.w.N. Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 90),
§ 323c Rn. 2, 13 ff~ a.A. MK-Freund, § 323c Rn. 76 ff
616 Gunnar Duttge
geraten soll, nur einheitlich für alle rechtlichen Schranken Geltung bean-
spruchen kann, d.h. nur gemeinsam für objektive und subjektive Vorausset-
zungen eines erlaubten ärztlichen Handeins. Hält man daran fest, dass aus
Gründen der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung 116 allein die Wahl
von Mitteln und Wegen innerhalb dieses Rahmens erlaubter Betätigung
rechtlich erwartet werden kann, so sind dem Normadressaten bei gänzli-
chem Fehlen eines rechtlichen Handlungsspielraums die Hände ebenso
gebunden wie im Falle nicht vorhandener tatsächlicher Rettungsmöglichkei-
ten. Wenn in letztgenannter Hinsicht, mit Blick auf die physisch-realen
Handlungsoptionen des Täters, ein "ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal"
wohl weithin Anerkennung findet,117 so lassen sich trotz zugegeben recht
schwachen gesetzlichen Fundaments keine methodischen oder sachlichen
Einwände gegen die nach alledem naheliegende Schlussfolgerung erkennen,
dieses Tatbestandsmerkmal um den Aspekt der "rechtlichen Unmöglich-
keit" zu erweitern. Dass dies konsequenterweise auch für die strafrechts-
dogmatische Statik des unechten Unterlassungsdelikts Folgen nach sich
ziehen sollte,118 kann hier nur noch angedeutet und nicht mehr weiter ver-
folgt werden.
IV.
Der geläufige Satz, wonach sich rür den ärztlichen Berufsstand aus
§ 323c StGB keine erweiterte Berufs- oder Sonderpflicht entnehmen las-
se, 119 bedarf abschließend noch der Ergänzung um einen wichtigen Zusatz:
Es kann sein, dass dieser Personenkreis trotz seiner in der Regel überlege-
nen Möglichkeiten zur effektiven Hilfeleistung aufgrund seiner besonderen
rechtlichen Stellung in geringerem Maße handlungspflichtig ist als ein me-
dizinischer Laie. Dies mag auf den ersten Blick überraschen, ist aber
schlichte Konsequenz des Umstandes, dass sich die erweiterten tatsächli-
chen Handlungsmöglichkeiten nicht ohne die soziale - und damit rechtlich
eingehegte - Rolle denken lassen. Es hat einige Jahrzehnte gedauert, ehe
116 Grdl. Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935, insbes. S. 42 ff. zu den verschiede-
nen Typen von Widersprüchen.
117 Vgl. HK-GS/Verrel, § 323c Rn. 9~ Schäch in: Roxin/Schroth (Fn. 14), S. 109, 120 f.~
Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben (Fn. 90), § 323c Rn. 19~ abw. LK-Spendel, StGB,
11. Autl. 2005, § 323c Rn. 91: schon ein für das Unterlassen notwendiges Begriffsmerkmal.
118 Für die Anerkennung eines Tatbestandsmerkmals der "rechtlichen Möglichkeit" in die-
sem Zusammenhang vor allem Eser Juristischer Studienkurs, Strafrecht II, 3. Aufl. 1980, Fall
28~ Gropp Strafrecht Allg. Teil, 2. Aufl. 2001, § 11 Rn. 48 f.~ a.A. jedoch die h.M.: Wegfall
der Erfolgsabwendungspflicht.
119 Siehe bereits bei Fn. 26 ff.
Der Arzt als Unterlassungstäter 617
120 Zur Entwicklung dieser Rechtsbeziehung im Wandel der Zeit näher Laufs in: Eser
(Hrsg.), Recht und Medizin, 1990, S. 387 ff.~ siehe auch Schreiber Notwendigkeit und Grenzen
rechtlicher Kontrolle der Medizin (Göttinger Universitätsreden), 1984.
121 2. Mose, Kap. 15, Vers 26 (Lutherbibel): "Ich bin der Herr, dein Arzt'.
122 Dazu näher: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des
Deutschen Bundestages, Zukunftsreport: Individualisierte Medizin und Gesundheitssystem v.
17.02.2009, BT-Drs. 16/12000~ Förstl/Neumeyer/Wolj (Hrsg.), Patientenorientierte Therapie-
prinzipien: Ist individualisierte Medizin vorstellbar?, 2006; Jütte (Hrsg.), Die Zukunft der
Individualmedizin - Autonomie des Arztes und Methodenpluralismus, 2009.
123 Etwa Heier Kein Arzt an Bord?, in: FAZ v. 14.2.2005; Gendreau/DeJohn New England
Journal of Medicine 2005, 1067 ff.; Koller Notfall + Rettungsmedizin 2006, 667 ff.~ zum
Haftungsrisiko vgl. OLG München NJW 2006, 1883 ff.
124 Schöch FS Hirsch, 1999, S. 693,694.
Allgemein- Ulld Sonderdelikte:
Versuch einer Abgrenzung im Umweltstrafrecht
HERO SCHALL
1 Nach heute h.M. gilt die verwaltungsrechtliche Wirksamkeit einer auch materiell rechts-
widrigen Genehmigung (§ 43 VwVfG) auch im Strafrecht, schließt also den Tatbestand bzw.
die Rechtswidrigkeit der Umweltverletzung aus, sofern nicht ausnahmsweise ein Fall der
rechtsmissbräuchlichen Erlangung der Genehmigung vorliegt (§ 330d Nr. 5 StGB). Siehe dazu
nur Lackner/Kühl StGB, 26. Autl. 2007, § 324 Rn. 10~ MK-StGB/Schmitz, 2006, Vor § 324
Rn. 69 ff.~ Schall FS Otto, 2007, S. 743, 756 ff.~ Schönke/Schröder/Cramer/Heine StGB,
27. Autl. 2006, Vor § 324 Rn. 15 ff. m.w.N.
2 Grundlegend dazu die Untersuchung von Rogall Die Strafbarkeit von Amtsträgern im
Umweltbereich, 1991 ~ siehe auch Hellmich Kooperation statt Konfrontation als Alternative bei
der Bekämpfung der Umweltkriminalität, 2008, S. 38 ff., 51 ff.~ Schall Zur Strafbarkeit von
Amtsträgern in Umweltbehörden - BGHSt 38,325, JuS 1993,719 ff.
3 Jedenfalls als Täter~ aber auch eine Teilnahmestrafbarkeit scheidet regelmäßig aus, da nach
h.M. (siehe Fn. 1) auch eine fehlerhafte Genehmigung für den Genehmigungsinhaber rechtfer-
tigend bzw. schon tatbestandsausschließend wirkt, so dass es an der für die Teilnahme notwen-
digen vorsätzlichen und rechtswidrigen Haupttat fehlt.
620 Hero Schall
4 Industrie und Gewerbe gelten als Hauptverursacher der Umweltschäden - siehe ausführ-
lich dazu Busch Unternehmen und Umweltstrafrecht, 1997, S. 71 ff., 106 ff. mit Auswertung
der empirischen Arbeiten; Hellmich (Fn. 2), S. 14 ff. m.w.N.; siehe auch Umweltbundesamt
(Hrsg.), Umweltdelikte, 2004, S. 17 f.
Dementsprechend sind Umweltverstöße inzwischen zu einem Hauptrisikobereich für Unter-
nehmen geworden: siehe Dannecker/Streinz in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäi-
schen und deutschen Umweltrecht, Bd. I, 2. Autl. 2003, § 8 Rn. 43; Eidam Unternehmen und
Strafe, 3. Autl. 2008, Rn. 1199, 1203 ff.; Gebhard Unternehmensangehörige und Straftaten
gegen die Umwelt, 2001, S. 7 f.; Schmidt/Salzer WiB 1996, 1,6 f.
5 So jedenfalls die überwiegende Meinung; siehe dazu unten unter VI.2.
6 Vgl. dazu nur LK-Schünemann StGB, 12. Autl. 2007, § 14 Rn. 32 ff., 56 ff.; MK-
StGBIRadtke, 2003, § 14 Rn. 48 ff., 89 ff.; Schönke/SchröderlLenckner/Perron (Fn. 1), § 14
Rn. 30 ff., 33 ff.
Allgemein- und Sonderdelikte 621
heute einhellig als Allgemeindelikte eingestuft werden. 11 Dem ist auch ohne
Weiteres zuzustimmen, da diese Straftatbestände keine spezifischen, d.h.
über die Beschreibung der Tathandlung und des Taterfolges hinausgehen-
den, Tätermerkmale enthalten. Gleiches muss dann aber auch für die Straf-
tatbestände des § 328 Abs. 2 Nr. 3 und 4 StGB gelten, die das Verursachen
einer nuklearen Explosion sowie das Verleiten dazu und die Förderung
einer solchen Handlung unter Strafe stellen. Auch sie verzichten auf eine
Anknüpfung an die Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten oder an den
Betrieb einer Anlage und damit auf eine Einschränkung des Täterkreises. 12
Größte Uneinigkeit ist demgegenüber bei der Beantwortung der Frage zu
konstatieren, welche der Umweltstraftaten als Sonderdelikte zu qualifizieren
sind und demzufolge täterschaftlich nur von dem Unternehmensinhaber
selbst bzw. den besonderen Funktionsträgern begangen werden können.
Diese Frage entzündet sich vornehmlich an dem bei allen "Betriebsdelik-
ten" vorausgesetzten (allerdings unterschiedlich umschriebenen) Erforder-
nis des Anlagenbezuges, 13 aber auch an dem bei den meisten Umweltstraf-
normen verlangten verwaltungsakzessorischen Merkmal der "Verletzung
verwaltungsrechtlicher Pflichten,,14 bzw. des "Handeins ohne die erforderli-
che Genehmigung" oder "entgegen einer vollziehbaren Untersagung (An-
ordnung)". 15 Häufig wird aus diesen Merkmalen generell die Sonderdelikts-
eigenschaft der entsprechenden Straftatbestände hergeleitet - mit der Kon-
sequenz, dass Täter eines solchen Delikts (abgesehen von der Vertreterhaf-
tung des § 14 StGB) nur der Betreiber i.S.v. Inhaber der Anlage und/oder
der persönliche Adressat der verwaltungsrechtlichen Pflicht bzw. des Ge-
nehmigungserfordernisses oder der Untersagung sein können. 16 Eine solche
pauschale Anknüpfung der Sonderdeliktseigenschaft erweist sich jedoch bei
näherer Betrachtung als nicht haltbar.
11 Siehe nur Fischer StOB, 57. Autl. 2010, Vor § 324 Rn. 6, 14~ LK-Steindorf StOB,
11. Autl. 1997, § 324 Rn. 44, § 326 Rn. 131, § 330a Rn. 12~ Schönke/Schröder/Cramer/Heine
(Fn. 1), § 324 Rn. 17, § 330a Rn. 1O~ Schönke/Schröder/Lenckner/Heine (Fn. 1), § 326 Rn. 21.
12 Ebenso mit ausführlicher Begründung Martin Sonderdelikte im Umweltstrafrecht, 2006,
S. 119 f ~ der Sache nach auch Fischer (Fn. 11), § 328 Rn. 10f ~ MK-StOB/Alt (Fn. 1), § 328
Rn. 31 ff~ NK-StGB/Ransiek, 3. Autl. 2010, § 328 Rn. 8 f, I5~ Sack Umweltschutz-Strafrecht,
5. Autl. 2005, § 328 Rn. 66a ff~ Schönke/Schröder/Cramer/Heine (Fn. 1), § 328 Rn. I3a ff
13 So in den §§ 325, 325a, 327, 328 Abs. 3 Nr. 1,329 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1,2 StOB.
14 Siehe §§ 324a, 325, 325a, 326 Abs.3, 328 Abs.3 StOB - jeweils i.V.m. § 330d
Nr. 4 StOB.
15 Siehe §§ 326 Abs. 2, 327, 328 Abs. 1~ 329 StOB.
16 Siehe Fischer (Fn. 11), Vor § 324 Rn. 14, 22~ Maurach/Schroeder/Maiwald Strafrecht,
Besonderer Teil, Teilbd. 2, 9. Autl. 2005, § 58 Rn. 24, 34~ Michalke Umweltstrafsachen,
2. Autl. 2000, Rn. 55~ MK-StOB/Schmitz (Fn. 1), Vor § 324 Rn. 93~ SK-StOB/Horn, 2001,
§ 325 Rn. 14, § 327 Rn. 9, § 329 Rn. 6.
Allgemein- und Sonderdelikte 623
ne" voraussetzen. 22 Denn bei der letztgenannten Fallgruppe ist schon vorn
Wortlaut her keine Heraushebung eines bestimmten Täterkreises zu erken-
nen, sondern lediglich das Erfordernis einer kausalen Verknüpfung des
jeweiligen Taterfolges mit dem Betrieb einer Anlage. Die Weite der Tat-
handlung (z.B. Verunreinigung der Luft, Verursachen von Lärm) wird hier
durch den Zusatz "beim Betrieb einer Anlage" räumlich-gegenständlich auf
einen bestimmten Bereich begrenzt. 23 Der Zusatz bedeutet daher nur eine
Einschränkung der Tathandlung, wie sie mit vergleichbaren Formulierungen
auch aus anderen Strafvorschriften geläufig ist, deren Anerkennung als
Allgemeindelikt außer Frage steht.24 Vorbehaltlich der Auslegung der "Ver-
letzung verwaltungsrechtlicher Pflichten" (unten VI.) handelt es sich dem-
nach bei den im Zusammenhang mit einern Anlagenbetrieb vorgenomme-
nen Umweltverletzungen der §§ 325, 325a, 328 Abs. 3 Nr. 1 StGB nicht um
Sonderdelikte, so dass die Voraussetzungen für Täterschaft und Teilnahme
hier insoweit nach den allgemeinen Kriterien der §§ 25 ff. StGB zu beurtei-
len sind und als Täter jeder Mitarbeiter des Betriebs oder auch fremde Per-
sonen, die sich der Anlage bzw. Maschine bemächtigen, in Betracht kom-
men.
22 So in §§ 325, 325a StGB und ganz ähnlich in § 328 Abs. 3 Nr. 1 StGB~ vgl. auch § 311
Abs. 3 StGB.
23 Ebenso LK-Steindorj(Fn.ll), §325 Rn. 67, §325a Rn.31~ Martin (Fn.12), S.53f.~
NK-StGB/Ransiek (Fn. 12), § 325 Rn. 9~ Rengier FS Kohlmann, 2003, S. 225, 236 f. Auch aus
den Gesetzesmaterialien lässt sich entnehmen, dass die Beschränkung auf den rechtswidrigen
Betrieb von Anlagen nicht im Hinblick auf einen besonders herausgehobenen Täterkreis,
sondern allein unter dem Aspekt der Intensität der Umweltbeeinträchtigung vorgenommen
wurde (siehe BT-Drs. 8/2382, S. 15 und 8/3633, S. 27 sowie BT-Drs. 12/192, S. 18).
24 Vgl. etwa die Beschränkung der Tathandlung auf den Verkehr bzw. Straßenverkehr in
§§ 315c, 316 StGB, auf den geschäftlichen Verkehr in § 299 Abs. 2 StGB oder auf den Zu-
sammenhang mit dem Vertrieb von Wertpapieren usw. in § 264a StGB.
25 Dafür spricht auch die gesonderte Benennung des Innehabens, des Abbauens und der we-
sentlichen Änderung einer Anlage (§ 327 Abs. 1 StGB), deren Erwähnung es nicht bedurft
hätte, wenn das Merkmal des Betreibens im weiten, faktischen Sinne zu verstehen sein sollte.
Allgemein- und Sonderdelikte 625
26 Siehe nur MK-StGB/Schmitz (Fn. 1), Vor § 324 Rn. 17; SK-StGB/Horn (Fn. 16),
Vor § 324 Rn. 9, § 327 Rn. 2.
27 Siehe dazu insbesondere Martin (Fn. 12), S. 45 ff., 49 f mit überzeugender Argumentati-
on gegen die faktische Sichtweise bzw. die Deutung der Betreiberdelikte als Organisationsde-
likt~ siehe auch Witteck Der Betreiber im Umweltstrafrecht, 2004, S. 78,80 f, 187, 196 f
28 § 3 Nr. 7 GenTG, § 3 Abs. 10 KWKG.
29 So z.B. in den §§ 52a, 53 ff BlmSchG, § 64 Abs. 2 Nr. 3,4 WHG, §§ 53 ff. KrW-/AbfG.
30 Ausführlich zum Betreiberbegriff im Umweltverwaltungsrecht Martin (Fn. 12), S. 38 ff
m.w.N.
31 Näher zu diesen verwaltungsakzessorischen Voraussetzungen als möglichen Sonderde-
liktsmerkmalen siehe unten VI. 2.
626 Hero Schall
mensträger richtet. Als taugliche Täter kommen demzufolge nur der Anla-
genbetreiber im rechtlichen Sinne und über § 14 StGB seine Vertreter in
Betracht. Der die Maschine bedienende Arbeitnehmer - und auch ein
außenstehender Dritter, der unbefugt in das Betriebsgebäude eindringt und
dort die Anlage in Betrieb setzt32 - erfüllt diese Voraussetzungen nicht.
Eine Ausdehnung des Täterkreises mit den Mitteln einer faktischen Be-
trachtungsweise mag daher kriminalpolitisch wünschenswert sein, über-
zeugt aber aus dogmatischen Gründen nicht. 33
ke/Schröder/Stree/Heine (Fn. 1), § 325 Rn. 29, § 325a Rn. 16~ Witteck (Fn. 27), S. 207 f~ der
Sache nach auch NK-StGB/Ransiek (Fn. 12), § 324a Rn. 22 f., § 325 Rn. 19 f, da er dem
Merkmal "Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten" nur im Regelfall sonderdeliktsbegrün-
dende Wirkung zuschreibt, davon aber abweichen will, wenn die verwaltungsrechtliche Pflicht
"ausnahmsweise" jedermann trifft (hier werde das Sonderdelikt wieder zum Allgemeindelikt).
36 Wird die Strafbarkeit des Umweltverstoßes dagegen auf die Verletzung einer bereits in
der Umweltstrafnorm spezifizierten Pflichtverletzung gegründet, so ist damit auch die Einord-
nung Ge nach dem Adressatenkreis eben dieser Pflicht) als Allgemein- oder Sonderdelikt
abschließend festgelegt. So handelt es sich z.B. bei der in § 328 Abs. 2 Nr. 1 und 2 StGB unter
Strafe gestellten Nichtablieferung von Kernbrennstoffen bzw. der Abgabe (oder der Vermitt-
lung der Abgabe) von Kernbrennstoffen an Unberechtigte um Allgemeindelikte, da die hier
unmittelbar in Bezug genommenen Pflichten des § 5 AtG sich an jedermann richten (siehe
dazu mit ausführlicher Begründung Martin [Fn. 12], S. 117 ff).
3? Wie beispielsweise § 6 Abs.2 S. 2 PflSchG, § 19k WHG, § 5 Abs.2 und 3 AtG, § 4
Abs. 1 AltfahrzeugV.
38 So etwa bei der Pflicht zur Einholung der für den Anlagenbetrieb notwendigen Genehmi-
gung (siehe unten VII. 2.) oder bei anderen konkreten Pflichten für den Betreiber bzw. für
einzelne Funktionsträger (z.B. für Umweltschutzbeauftragte gern. § 33 StrlSchV, § 65 WHG,
§ 54 BImSchG). Zu den konkreten Pflichten für den Betreiber gehören etwa die Pflicht zur
Bestellung und Instruktion eines Immissionsschutzbeauftragten (§§ 53, 55 BImSchG i.V.m.
5. BImSchV), die Entsorgungspflicht des Erzeugers von Abfällen gern. § 11 Abs. 1
KrW-/AbfG oder die betriebsbezogenen Pflichten in den zahlreichen Rechtsverordnungen, mit
denen die umweltschützenden Grundpflichten der §§ 5, 22 BImSchG konkretisiert werden
(z.B. die Pflicht zur Einhaltung bestimmter Immissionsgrenzwerte beim Anlagenbetrieb nach
§§ 3 ff der 13. BImSchV)~ zu weiteren Betreiberpflichten siehe die Auflistung bei Martin
(Fn. 12), S. 73 ff
39 Siehe die oben in Fn. 37 genannten Beispiele.
628 Hero Schall
tatbestand nicht den Kreis der Deliktssubj ekte, sondern nur die tatbestands-
mäßige Handlung selbst. Die die verwaltungsrechtliche J edermann-Pflicht
und damit auch die Strafbarkeit begründenden Umstände sind keine beson-
deren persönlichen Merkmale, die der Zurechnungsbrücke des § 14 StGB
bedürften. Täter des Umweltdelikts kann daher in diesen Fällen grundsätz-
lich jeder sein, der für die pflichtwidrige Beeinträchtigung des jeweiligen
Umweltgutes kausal wird. Das gilt entgegen einer im Schrifttum weit ver-
breiteten Auffassung auch für Amtsträger, denn es ist kein Grund ersicht-
lich, warum Angehörige der Umweltverwaltungsbehörden, also gerade die
sog. "Hüter unserer Umwelt", aus dem Adressatenkreis dieser für jeder-
mann geltenden Pflichten zum Schutz der Umvvelt ausgeschlossen sein
sollten. 40
40 Ebenso Fran=heimlPfohl (Fn. 21), Rn. 575~ Martin (Fn. 12), S. 125 ff.~ NK-StGB/Ransiek
(Fn. 12), § 324a Rn. 25~ Schönke/Schröder/Heine (Fn. 1), § 324a Rn. 18.
41 H.M.: Kemme Das Tatbestandsmerkmal der Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten
in den Umweltstraftatbeständen des StGB, 2007, S. 484 f.~ Martin (Fn. 12), S. 77 ff.~ MK-
StGB/Alt (Fn. 1), § 324a Rn. 52~ Rengier (Fn. 23), S. 233 ff.~ Schönke/Schröder/CramerIHeine
(Fn. 1), Vor § 324 Rn. 25, § 327 Rn. 23~ Schönke/Schröder/StreeIHeine (Fn. 1), § 325 Rn. 29;
Witteck (Fn. 27), S. 207 f.
42 Symptomatisch darur § 43 Abs. 1 S. 1 VwVfG (siehe dazu nur KopplRamsauer Verwal-
tungsverfahrensgesetz, 10. Aufl. 2008, § 41 Rn. 18~ Maurer Allgemeines Verwaltungsrecht,
17. Aufl. 2009, § 9 Rn. 65, 66). Zur in der Sache gleichen Beschränkung des Adressatenkreises
bei gerichtlichen Entscheidungen, vollziehbaren Auflagen und öffentlich-rechtlichen Verträgen
(§ 330d Nr. 4b, d, e StGB) siehe ausführlich Martin (Fn. 12), S. 81 ff.~ siehe auch Kemme
(Fn. 41), S. 484 f.~ Rengier (Fn. 23), S. 235 f.
43 Als Ermächtigungsgrundlagen kommen hier z.B. in Betracht: §§ 17 Abs. 1, 20,
24 ff. BlmSchG.
Allgemein- und Sonderdelikte 629
44 Die nur aus der innerbetrieblichen Aufgabenverteilung folgende Auswirkung des Verwal-
tungsakts reicht für ein "Betroffen-Sein" i.S.d. § 43 Abs. 1 S. 1 VwVfG nicht aus, da dafür
eine rechtliche Betroffenheit vorauszusetzen ist, zumal die Untemehmensmitarbeiter nicht
"Beteiligte" i.S.d. § 13 VwVfG sind~ siehe Ruffert in: KnackJHenneke, Verwaltungsverfah-
rensgesetz, 9. Autl. 2010, § 41 Rn. 16~ Kopp/Ramsauer (Fn. 42), § 43 Rn. 11.
45 Wie hier Martin (Fn. 12), S. 77 ff~ ebenso Kemme (Fn.41), S. 485~ Rengier (Fn. 23),
S. 233 ff; Schönke/Schröder/Stree/Heine (Fn. 1), § 325 Rn. 29~ Schönke/Schröder/Cra-
mer/Heine (Fn. 1), § 327 Rn. 23~ Winkelbauer (Fn. 9), S. 652 f; Witteck (Fn. 27), S. 208~ a.A.
Gebhard (Fn.4), S. 178 ff~ LK-Steindorf (Fn. 11), § 327 Rn. 25, § 329 Rn. 12~ NK-
StGB/Ransiek (Fn. 12), § 327 Rn. 4 ff, § 329 Rn. 18; Ransiek (Fn. 33), S. 730, 734 f.
46 Siehe dazu unten VII. 2.
47 Vgl. §§ 326 Abs. 2, 327, 328 Abs. 1,329 StGB.
48 So auch Martin (Fn. 12), S. 58; Schönke/Schröder/Cramer/Heine (Fn. 1), § 330d Rn. 10;
speziell zum gesetzlichen Genehmigungsvorbehalt ausführlich Kemme (Fn. 41), S. 298 ff.
m.w.N.
630 Hero Schall
49 Das für den illegalen "Abfallexport" gern. § 326 Abs. 2 StOB vorausgesetzte Verbrin-
gungsverbot wird in den meisten Fällen auf die für jedermann geltenden Rechtsvorschriften der
Verordnung über die Verbringung von Abfällen zurückzuführen sein (insoweit Allgemeinde-
likt) und nur in Einzelfällen auf ein durch Verwaltungsakt ausgesprochenes und daher nur
seinen Adressaten verpflichtendes Verbot.
50 So z.B. bei § 325 StOB i.V.m. § 4 Abs. 1 BlmSchG und 4. BlmSchV.
51 So insbesondere NK-StGB/Ransiek (Fn. 12), § 327 Rn. 4 ff., 15; Ransiek (Fn.33),
S. 734 f; ebenso LK-Steindorf (Fn. 11), § 327 Rn. 25, § 329 Rn. 12; Rengier (Fn.23),
S. 231 ff.; Winkelbauer (Fn. 9), S. 651 f~ dieser Auffassung nahestehend auch Kuhlen WiVerw
1991, 181,236 ff.; a.A. Martin (Fn. 12), S. 66 ff.~ Schönke/Schröder/Stree/Heine (Fn. 1), § 325
Rn. 29; Witteck (Fn. 27), S. 207 f
Allgemein- und Sonderdelikte 631
jedermann - mit der Konsequenz, dass der auf eine solche Genehmigungs-
pflicht Bezug nehmende Straftatbestand ein Allgemeindelikt darstellt. 52 Bei
den hier zumeist relevanten Pflichten zur Einholung einer Genehmigung für
den Betrieb einer Anlage 53 handelt es sich dagegen um Sonderpflichten,
denn verwaltungsrechtlich verpflichtet zur Einholung einer Genehmigung
(bzw. Planfeststellung) für kemtechnische, immissionsrechtliche, wasser-
rechtliche und abfallrechtliche Anlagen ist immer nur der Anlagenbetreiber
bzw. der Träger des Vorhabens. 54
Die daraus folgende Konsequenz der Beschränkung des Täterkreises lässt
sich auch nicht dadurch umgehen, dass man pauschal alle betriebsbezoge-
nen verwaltungsrechtlichen Pflichten mittels einer faktischen Betrach-
tungsweise auch auf die die einzelne Anlage beherrschenden Unterneh-
mensangehörigen erstreckt55 oder durch ihre Interpretation als "anlagen-
bzw. objektsbezogene Pflichten" sogar auf jedweden mit der Anlage be-
schäftigten Mitarbeiter ausweitet. 56 Denn bei allen genannten verwal-
tungsakzessorischen Merkmalen - das gilt für die Pflicht zur Einholung
einer Genehmigung ebenso wie für die Untersagungsverfügung - geht es
um "Pflichtverletzungen", womit aber schon begrifflich immer nur die
Verletzung eigener Pflichten gemeint ist, so dass ein Straftatbestand, dessen
Unrecht (u.a.) durch eine Pflichtverletzung begründet wird, schon wesens-
notwendig als Täter nur von demjenigen verwirklicht werden kann, der
selber Träger dieser Pflicht ist. 57 Gegen eine Ausweitung der verwaltungs-
52 So z.B. bei § 324a StGB LV.m. § 8 Abs. 1 WHG, bei § 326 Abs. 2 StGB i.V.m. der Ver-
ordnung über die Verbringung von Abfällen oder bei § 328 Abs. 1 Nr. 1 StGB i.V.m. § 6
Abs. 1 AtG; siehe zu diesen Beispielen auch Martin (Fn. 12), S. 63 f; LK-Steindorf (Fn. 11),
§ 328 Rn. 56 LV.m. Rn. 6 und 14; MK-StGB/Alt (Fn. 1), § 328 Rn. 54 i.V.m. Rn. 18 und 21.
53 Siehe neben § 327 StGB auch §§ 325, 325a StGB.
54 Einschlägig sind hier die Verwaltungsrechtsnormen der §§ 7, 9 AtG, § 4 BImSchG
(LV.m. § 2 Abs. 1 der 9. BImSchV), § 19a WHG a.F., §§ 31, 33 KrW-/AbfG; siehe zur Adres-
sateneigenschaft nur Haedrich AtG, 1986, § 7 Rn. 19; Jarass BImSchG, 7. Aufl. 2007, § 3
Rn. 81 ff; Zeitler in: Sieder/Zeitler/Dahme/Knopp, WHG, 2001, § 19a WHG Rn. 46, 48;
KuniglPaetowlVersteyl KrW-/AbfG, 2. Aufl. 2003, § 31 Rn. 104.
55 So Michalke (Fn. 16), Rn. 175; NK-StGB/Ransiek (Fn. 12), § 327 Rn. 4 ff, 15; Sack
(Fn. 12), § 325 Rn. 194.
56 So z.B. Gebhard (Fn.4), S. 178 ff.; LK-Steindorf (Fn. 11), § 325 Rn. 67; Ransiek
(Fn. 33), S. 734 f; einschränkend demgegenüber Rengier (Fn. 23), S. 231 ff sowie Winkelbau-
er (Fn. 9), S. 651 ff, die die anlagenbezogene Interpretation der verwaltungsrechtlichen Pflich-
ten nur insoweit gelten lassen wollen, als es sich um gesetzliche Genehmigungsvorbehalte
handelt; bei Verstößen gegen Untersagungsverfügungen, Auflagen und Anordnungen komme
dagegen nur der Adressat dieser Verwaltungsakte als Täter in Betracht.
57 Siehe zu dieser notwendigen Voraussetzung aller "Pflichtdelikte"' nur JeschecklWeigend
Lehrbuch des Strafrechts, 5. Aufl. 1996, S. 652; Kühl Strafrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl.
2008, § 20 Rn. 14; Roxin Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. 2006, § 10 Rn. 129; Wes-
selslBeulke Strafrecht, Allgemeiner Teil, 39. Aufl. 2009, Rn. 522.
632 Hero Schall
VIII. Resümee
Die hier vertretene differenzierende Lösung bleibt insofern unbefriedi-
gend, als sie eine generelle Etikettierung der einzelnen Umweltstrafnormen
als Allgemein- oder als Sonderdelikt verwehrt. Sie ist aber die zwingende
Konsequenz sowohl der verwaltungsakzessorischen Ausgestaltung des
58 Siehe dazu die Begründung zum RegE BT-Drs. 12/192, S. 17, 18, 23, 31. Eine ausführli-
che Auseinandersetzung mit der Frage der Verfassungskonformität des § 330d Nr. 4 StOB und
der an diese Rahmenregelung anknüpfenden Umweltstraftatbestände bietet die grundlegende
Arbeit von Kemme (Fn. 41)~ siehe dazu auch Martin (Fn. 12), S. 61 f; Michalke Verwaltungs-
recht im Umweltstrafrecht, 2001, S. 71 ff; MK-StOB/Schmitz (Fn. 1), § 330d Rn. 18 f~
Schönke/Schröder/Cramer/Heine (Fn. 1), § 330d Rn. 13.
59 Vgl. hierzu auch die Argumentation von Martin (Fn. 12), S. 38 f, 44 f; instruktiv zur
Systematik des § 14 StOB und der damit zusammenhängenden Kritik an der "faktischen Be-
trachtungsweise" MK-StOBIRadtke (Fn. 6), § 14 Rn. 33 ff
60 Siehe dazu auch Martin (Fn. 12), S. 69 ff, die das von den Anhängern der anlagenbezo-
genen Auslegung postulierte Stratbedürfnis (unter dem Aspekt der §§ 324 ff StOB) für den
Fall des eigenmächtig die Anlage benutzenden Dritten mit überzeugenden Argumenten ver-
neint.
Allgemein- und Sonderdelikte 633
DIETER RÖSSNER
haltens eröffnet wird. 5 In diesem Rahmen spielt sich die kontroverse Debat-
te um die Straftheorien ab.
Die zweite Ebene grundlegender Erwägungen zur Legitimation der Kri-
minalstrafe mit notwendig negativen Folgen wird meist übersprungen oder
geht in der dritten Ebene zur Sinngebung auf. Dabei soll nicht übersehen
werden, dass die neue Straftheorie der positiven oder integrativen General-
prävention Begründungs- und Sinngebungselemente der Kriminalstrafe
miteinander vereint. 6 Das tritt besonders hervor, wenn man die strafrechtli-
che Sanktion als Bestätigung gesellschaftlicher Identität begreift. 7 Denn so
wird das Strafrecht mit seinen Sozialisationsfunktionen in die gesellschaftli-
che Kontrolle eingebunden und dadurch gerechtfertigt. 8 Die empirische
Diskussion wird aber nicht durch die Annahmen der positiven Generalprä-
vention obsolet, da diese bisher nur ansatzweise empirisch erfasst wurden. 9
Weithin finden sich zur Rechtfertigung der Kriminalstrafe nach wie vor nur
strafrechtsimmanente Zirkelschlüsse, die die Notwendigkeit der Strafe in
der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung sehen.
Die Begründungen belegen das vorstehende straftheoretische Axiom
nicht, sondern rüllen es nur inhaltlich aus. 10 Mit dem Hinweis auf die staats-
politische Notwendigkeit der Strafe wird festgestellt, dass ohne strafrechtli-
ches Reaktionsmittel ein geordnetes und gedeihliches Zusammenleben in
einer menschlichen Gesellschaft auf Dauer undenkbar sei. Dies ergebe sich
aus der dem Staat obliegenden Verpflichtung, die Sicherheit seiner Mitglie-
der zu garantieren. Ohne das Mittel der Strafe würde sich die Staatsgewalt
selbst preisgeben. Die Reaktion demonstriere, dass an der übertretenen
Norm kontrafaktisch festgehalten werde und sie sei erforderlich, um eine
geordnete Kommunikation, demokratische Partizipation und sozialstaatliche
Solidarität der Gesellschaft zu gewährleisten.
Der sozialpsychologische Ansatz versteht die Strafe als natürliches Be-
dürfnis. Strafe ist danach ein angeborenes Aggressionsmuster, das ursprüng-
lich als Rache auftritt und im Strafrecht zivilisiert und begrenzt wird. Für
den privaten Triebverzicht entschädigt der Staat seine Bürger, indem er
kollektive Aggressionsabfuhr im geregelten Strafrecht zulässt. Unkontrol-
ten neue Impulse für die Einschätzung der Kriminalstrafe im System sozia-
ler Kontrolle ausgehen können. Bisher sind entsprechend neue sozial- vor
allem neurowissenschaftliche Erkenntnisse in der Debatte um Willensfrei-
heit und Schuld im Strafrecht angekommen und haben zu heftigen Ausei-
nandersetzungen über das Vorhandensein und das Ausmaß der normativen
Ansprechbarkeit des Menschen geführt. 13 Hierbei ergaben sich trotz aller
Kontroversen wichtige Präzisierungen und Klärungen des Problems, die
neue Zugänge zur Lösung ermöglichen. So geht es nun nicht mehr um glo-
bale Fragen und Antworten zu Willensfreiheit und Schuld, sondern um
Maßstäbe fur die normative Ansprechbarkeit und Selbstbestimmungsfähig-
keit im Rahmen der hirnorganischen Ausstattung und der normativen Kon-
struktion von Gesellschaft. In diesem Sinn soll hier ein entsprechender
Klärungsprozess zur Legitilnation der Kriminalstrafe zumindest angestoßen
werden.
der Menschen hin. Sie soll sich darin zeigen, dass der Mensch sich anders
als das instinktgeprägte Tier stets um die Ordnung des Zusammenlebens
bemühen muss,14 weil er diese Ordnung durch seine zu verantwortenden
Abweichungen stets selbst gefährdet. Die Differenz zwischen Ordnung und
deren Negation wird so als Urphänomen des menschlichen Lebens verstan-
den. Die Ordnung bedarf also der Abwehr ihrer Negation mit dem Mittel
der Sanktion. Aus der Fähigkeit, sich zwischen verschiedenen Verhaltens-
weisen entscheiden, zumindest zwischen verschiedenen Alternativen wäh-
len zu können, folgt die notwendige Konsequenz, das Gemeinschaftsleben
durch Verhaltensnormen zu regeln, insbesondere gemeinschaftsschädliches
Verhalten als Verhaltensalternative auszuschließen. Dieser zentrale Punkt
des Evolutionsgeschehens bei der Entwicklung zum Menschen als Lebewe-
sen mit nur schwach vorhandenen angeborenen Verhaltensmustern und
einem großen Spielraum zur Annahme umweltgeprägten Verhaltens und
damit verbundenen moralischen Handels findet sich in allen Schöpfungsge-
schichten als Grundthematik. So unterschiedlich sie sich auch im Einzelnen
darstellen, das Verbrechen und seine Sanktionierung als Auflehnung gegen
13 Exemplarisch sind jeweils die Sammelbände von Hillenkamp (Hrsg.), Neue Hirnfor-
schung - Neues Strafrecht, 2006, und Duttge (Hrsg.), Das Ich und sein Gehirn, 2009; Hirsch
ZIS 2010, 62 ff.
14 Schuh Philosophie in der veränderten Welt, 1980, S. 720 f.
Empirische Perspektiven zur Legitimation der Kriminalstrafe 641
die kosmische Ordnung der Welt sind untrennbar mit dem Auftreten des
Menschen verbunden. In der biblischen Schöpfungsgeschichte lebte der von
Gott geschaffene Mensch im Garten Eden - dem Paradies - bis Adam und
Eva mit dem gestohlenen Apfel vom verbotenen Baum der Erkenntnis essen
und danach Gut und Böse unterscheiden können. Der Diebstahl als erstes
Verbrechen der Menschen ist die Erbsünde, der bald der erste Mord folgt,
wenn Kain den Abel erschlägt und beide Taten notwendig mit Sanktionen
verknüpft sind. Im babylonischen Schöpfungslied "Enuma elisch" aus dem
2. Jahrtausend vor ehr. ist der Mensch schon bei der Entstehung kein reines
und unschuldiges Wesen, sondern ist belastet mit den Verbrechen der Göt-
ter, die Sünde und Tod in die Welt abschieben.
Der nicht Instinkt geleitete Mensch trägt die Normen also nicht in sich,
sondern muss sie im Prozess der moralischen Entwicklung mit vielen mög-
lichen Störfeldern erst lernen. 15 Der Prozess ist komplex und kennt vielfälti-
ge Wechselwirkungen. Eine "formale Konstanz" ist jedoch auch mit dem
Prozess des Normlernens verbunden, die zugleich die doppelte Bedeutung
der Sanktion im Blick auf das Endziel der "Verinnerlichung grundlegender
Verhaltensnormen" zeigt. Das Normlernen geschieht im notwendigen Zu-
sammenspiel von zwei unterschiedlichen Ebenen:
Die in der Außenwelt konstituierten sozialen Normen - das Normfun-
dament - bedürfen zunächst und ständig fortlaufend der externen so-
zialen Kontrolle zum Sichtbarwerden und zur Vergegenständlichung.
15 Oerter in: Schneewind (Hrsg.), Psychologie der Erziehung und Sozialisation, 1994,
S. 159; Gehlen Der Mensch, 13. Aufl. 1997, S. 16 ff. spricht anschaulich von der ,,2. sozialen
Geburt", s. auch die Modelle der moralischen Entwicklung bei Piaget Das moralische Urteil
beim Kinde, 1973, und Kohlberg Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, 1974.
16 GottfredsonlHirschi A General Theory of Crime, 1990.
642 Dieter Rössner
JÖRG KINZIG*
I. Einleitung
Wann ich mit dem Werk des Jubilars zum ersten Mal in Berührung ge-
kommen bin, ist mir nicht mehr genau präsent. Ich vermute aber sehr stark,
dass es in der Zeit war, in der ich mich an der Albert-Ludwigs-Universität
Freiburg in der zweiten Hälfte der 80er Jahre auf mein Erstes Juristisches
Staatsexamen und dabei insbesondere auf die Klausur in der damaligen
Wahlfachgruppe "Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug" vorzuberei-
ten hatte. Hier weiß ich sicher, dass mir dabei der von Heinz Schöch zu-
sammen mit meinem späteren Doktorvater, Günther Kaiser, herausgegebe-
ne Juristische Studienkurs l von großem Nutzen war.
Genau vor Augen habe ich auch noch, dass mir Günther Kaiser im Rah-
men meiner ersten Literaturrecherchen zur Arbeit an meiner Promotion zur
Sicherungsverwahrung2 ab dem Herbst 1992 empfahl, doch in das zum
59. Deutschen Juristentag erschienene Gutachten von Heinz Schöch mit
dem Titel "Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den straf-
rechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug?" Einblick zu nehmen. 3
Während eigener Arbeiten an der Kommentierung des Sanktionenteils im
Schönke/Schröder4 stieß ich nun vor kurzem auf das vor allem die oberlan-
desgerichtliche Rechtsprechung in den letzten Jahren verstärkt beschäfti-
gende Problem, ob und unter welchen Voraussetzungen kurze Freiheitsstra-
* Für wertvolle Vorarbeiten danke ich Frau Ref. iur. Anika Burkhardt und Frau stud. iur.
Anja Esperschidt.
1 Kaiser/Schöch Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, 3. Aufl. 1987~ zuletzt 6. Aufl.
2006.
2 Kinzig Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand, 1996.
3 Schöch Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen
ohne Freiheitsentzug?, 1992.
4 Schönke/Schröder Strafgesetzbuch, 28. Aufl. (erscheint voraussichtlich 2010).
648 Jörg Kinzig
5 Als kurze Freiheitsstrafe soll in Anlehnung an § 47 StGB eine solche unter sechs Monaten
verstanden werden~ zur terminologischen Diskussion vgl. Wittstamm ZfStrVo 1997, 3 f.
6 Schäch (Fn. 3), C 25.
7 Weitere empirische Daten zur kurzen Freiheitsstrafe, verstanden als eine solche bis zu 24
Monaten Länge, finden sich bei Sohn ZfStrVo 2004, 264 tT.
Knast für den Diebstahl einer Milchschnitte? 649
50% + - -::- - -- - --=- - - -- - - -- - -4tr.l:SV~)- -- -- - -- --- -. - -, -.. - -- - - -- - - -- - - -- _ .. -- - -.- - - .-.- - - -- - - -- - - .-- ---- -'- - - -- - - -- --1
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1976 1980 1985 1990 1995 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008
Tatsächlich hat seit Erstellung des Gutachtens der Anteil von kurzen
Freiheitsstrafen an den Verurteilungen zu Freiheitsstrafen insgesamt weiter
kontinuierlich abgenommen. Zuletzt (2008) wies nur noch ein knappes
Drittel aller Freiheitsstrafen eine Dauer bis zu sechs Monaten auf. In absolu-
ten Zahlen ausgedrückt, erhielten 45.622 von 140.279 Personen (32,5%),
denen im Jahr 2008 eine Freiheitsstrafe auferlegt wurde, eine kurze. 8 Seit
Mitte der 70er Jahre bis heute wurden und werden auch im Übrigen regel-
mäßig zwischen rund 40.000 und 50.000 Personen jährlich zu einer derarti-
gen Sanktion verurteilt, mit Spitzenwerten im Jahre 1980 (50.324) und
einem Tiefststand von 41.796 im Jahre 2006. 9 Dabei ist der Anstieg in den
Jahren 2007 (46.794) und 2008 (45.622) allein dem Umstand geschuldet,
dass seit dieser Zeit auch die neuen Bundesländer in der Strafverfolgungs-
statistik erfasst sind. 10
"mit sinkender Tendenz". 11 Schaubild 2 zeigt, dass sich dieser Trend noch
etwas fortgesetzt und seit nunmehr etwa einer Dekade stabilisiert hat.
40%
35% ~ -- ----I
30%
25% -22,1%----
23,2%
20%
19,9%
15%
10%
5%
0%
1976 1980 1985 1990 1995 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008
Nach einem Tiefststand im Jahre 1985 mit rund 20% ist der Anteil der
unbedingt angeordneten an allen kurzen Freiheitsstrafen bis zur Jahrtau-
sendwende aufrund 250/0 angestiegen. Auch im Jahre 2008 wurden von den
bereits genannten 45.622 Freiheitsstrafen unter sechs Monaten 11.468
(25,10/0) nicht zur Bewährung ausgesetzt. 12 Im Verhältnis zu den im Jahre
2008 insgesamt angeordneten, nicht zur Bewährung ausgesetzten Freiheits-
strafen, fielen immerhin 27,8% (11.468 von 41.239) in die Kategorie der
kurzen Freiheitsstrafen.
Rein faktisch werden jedoch in einem erheblich größeren Maße Freiheits-
strafen von unter sechs Monaten vollzogen. Dies kann z.B. der Fall sein bei
einem Widerruf (§ 56f StGB) einer ehedem kurzen zur Bewährung ausge-
setzten Freiheitsstrafe; darüber hinaus im Falle der Vollstreckung einer
Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43 StGB) sowie im Falle einer Strafrestaussetzung
zur Bewährung (§ 57 StGB) vor Ablauf von sechs Monaten Haftzeit. Zu-
dem führt die regelmäßig nach § 51 StGB vorzunehmende Anrechnung
vorangegangener Untersuchungshaft auf die zu vollstreckende Freiheitsstra-
fe zu einer Verkürzung der realen Zeit im Strafvollzug. 13
Dies ändert aber nichts an der Vorrangstellung der Geldstrafe. Sie lässt
sich auch daran ersehen, wenn man die Verurteilungen zu Geldstrafe im
Bereich von 3 1 bis zu 180 Tagessätzen und damit dem zu einer Freiheits-
strafe von einem bis zu sechs Monaten äquivalenten Bereich, denen zu
kurzer Freiheitsstrafe gegenüberstellt (Schaubild 3). Standen im Jahre 1976
47.053 kurzen Freiheitsstrafen 106.562 und damit (nur) etwas mehr als
doppelt so viele Geldstrafen von 31-180 Tagessätzen gegenüber, waren es
im Jahr 2008 mit 325.503 Geldstrafen bereits mehr als 7-mal so viele wie
kurze Freiheitsstrafen (45.622). 14
1976 1980 1985 1990 1995 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008
14 Quelle zu Geldstrafen: Statistisches Bundesamt (Fn. 8), Tabelle 3.3 (seit 1990)~ zuvor bis
zum Berichtsjahr 2001 Tabelle 7~ vgl. auch die Ergebnisse von Schott Gesetzliche Strafrahmen
und ihre tatrichterliche Handhabung, 2004, S. 227 für Niedersachsen und Schleswig-Holstein.
15 Quelle: Statistisches Bundesamt (Fn. 8). Das Straftatenverzeichnis für das Jahr 1976 fin-
det sich auf Seite 248 der genannten Arbeitsunterlage. Die jeweils zusanlmengefassten Strafta-
ten sind in den Vergleichsjahren weitgehend identisch geblieben.
652 Jörg Kinzig
g 33 GI 795 GI 24
0% 7% 0%
iJ 5063
01227 44%
11%
&1563
5%
111210 EJ 76
CI.1348 1%
3% 11%
EI StaaUöff.Ordnung/im Amt
EJ StaaUöff.Ordnung/imAni
E9 sex. Selbstbest.
Cl sex. Selbstbest.
o §§ 223~230
(] geg. Person (] sonst geg. Person
6 Diebst. und Untersehl. mDiebst. und Untersehl.
lIIl and. Vermögens deI. 11 and. Vermbgensdel.
El gemeingef. El gemeingef.
B Straßenverkehr EE Straßenverkehr
IIBtMG
mJ sonst.
Im sonst.
Deutlich gefallen ist im Gegensatz dazu der Anteil der kurzen unbeding-
ten Freiheitsstrafen wegen Straftaten im Straßenverkehr. Betrug dieser im
Jahr 1976 noch 36,9% (3.950 von 10.704 Verurteilungen) ging selbiger auf
zuletzt 13,1 % (1.503 von 11.468 Verurteilungen) zurück. 16
16 Zur "Strafzumessung und Verkehrsdelinquenz" vgl. auch die im Jahre 1973 erschienene
Dissertation des Jubilars, bei deren Erstellung Hein= Schöch die schnelle Entscheidung des
Gesetzgebers, die kurze Freiheitsstrafe einzuschränken, methodisch in den Griff bekommen
musste (vgl. S. 105).
Knast für den Diebstahl einer Milchschnitte? 653
Sieht man noch etwas genauer hin und richtet anband der Strafverfol-
gungsstatistik einen Blick auf die Ebene der einzelnen Delikte, für die eine
(unbedingte) kurze Freiheitsstrafe angeordnet wird, zeigt sich die überra-
gende Bedeutung des (einfachen) Diebstahls (Tabelle 1).17 So wurden im
Jahr 2008 allein 12.073 und damit 26,5% aller kurzen Freiheitsstrafen we-
gen eines einfachen Diebstahls verhängt. Auch innerhalb des Sanktio-
nenspektrums des § 242 StGB spielt die kurze Freiheitsstrafe eine bedeu-
tende Rolle, was daran zu ersehen ist, dass immerhin 12,4% der wegen
einfachen Diebstahls Verurteilten eine solche kurze Freiheitsstrafe auferlegt
bekamen. Besonders hoch fällt bei diesem Tatbestand auch die Quote derer
aus, deren kurze Freiheitsstrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt wird.
38,30/0 (4.626 von 12.073 Verurteilten) mussten sofort den Strafvollzug
antreten. Dagegen betrug im Jahre 2008 die entsprechende Quote quer über
alle Delikte, wie bereits gesehen, nur 25,1 %.
17 Dies ergab sich bereits auf der Datenbasis des Jahres 1991 bei einem Vergleich mit
Schweden~ s. dazu Schaeferdiek Die kurze Freiheitsstrafe im schwedischen und deutschen
Strafrecht, 1997, S. 156 f.
654 Jörg Kinzig
Macht man sich des Weiteren die Mühe, aus der Strafverfolgungsstatistik
2008 alle die Tatbestände zu ermitteln, die mehr als 500 zu kurzen Frei-
heitsstrafen Verurteilte oder mehr als 100 zu einer kurzen unbedingten Frei-
heitsstrafe Verurteilte zu verzeichnen haben, ergeben sich hinter dem Dieb-
stahl die in Tabelle 1 aufgelisteten Tatbestände. Abgesehen vom einfachen
Diebstahl erfolgen viele Verurteilungen zu kurzer Freiheitsstrafe wegen
Betrugs (4.350), Trunkenheit im Verkehr (4.072), Führen eines Kraftfahr-
zeugs ohne Fahrerlaubnis oder trotz Fahrverbots (3.471) sowie wegen ein-
facher Körperverletzung (2.897). Mit Ausnahme des einfachen Diebstahls
und seinem auf § 243 StGB gestützten besonders schweren Fall, sind bei
den in der Tabelle aufgeführten Delikten Verurteilungen zu kurzer Frei-
heitsstrafe mit unter 100/0 des Sanktionenspektrums eher selten, mit einer
Ausnahme: Bei einer Unterhaltspflichtverletzung nach § 170 Abs. 1 StGB
ordnen die Gerichte zu einem hohen Anteil (43,60/0) eine kurze Freiheits-
strafe an, setzen diese aber dann fast immer (98,2%) zur Bewährung aus.
Schaut man nur auf die Zahl der Verurteilten, die wegen einer kurzen
Freiheitsstrafe sofort in den Strafvollzug müssen, imponiert, dass dies we-
gen Leistungserschleichung im Jahr 2008 bei immerhin 846 Verurteilten der
Fall war. Hohe Anteile von unbedingten kurzen Freiheitsstrafen weisen
neben dem Diebstahl (38,3%) der unerlaubte Besitz von Betäubungsmitteln
(§ 29 Abs. 1 S. 1 Nr.3 BtMG) mit 35,2%, die Beleidigung (34,7%), die
Sachbeschädigung (31,5%) sowie wiederum die Leistungserschleichung mit
30,4% auf.
Zusammen machen die in der Tabelle aufgelisteten Tatbestände 38.984
der im Jahr 2008 insgesamt angeordneten 45.622 und damit 85,5% aller
kurzen Freiheitsstrafen aus. Noch höher liegt der Anteil bei den Verurtei-
lungen zu unbedingter kurzer Freiheitsstrafe. Dort repräsentieren die in der
Tabelle enthaltenen 10.328 Verurteilungen sogar einen Anteil von 90,1 %.
Beschließen wir die quantitative Übersicht über die kurze Freiheitsstrafe
mit einem Blick in die kommentie11e Rückfallstatistik. Aus ihr lässt sich
entnehmen, dass 57,8% der aus einer unbedingt angeordneten kurzen Frei-
heitsstrafe Entlassenen innerhalb des Untersuchungszeitraums von vier
Jahren (1994-1998) eine Folgeentscheidung aufwiesen. Dieser Wert liegt
damit geringfügig unter denjenigen der mit sechs bis zwölf Monaten
(61,9 % ) sowie mit ein bis zwei Jahren Freiheitsstrafe Sanktionierten
(62,9%). 43,9% wurden wieder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, darunter
29,7% zu einer unbedingten. In 13,6% der Fälle wurde eine Geldstrafe
angeordnet, 18
Monat. Die Revision des Angeklagten führte dazu, dass das OLG Stuttgart
auf die gesetzliche Mindeststrafe fur die Geldstrafe (vgl. § 40 Abs. 1 S.2
StGB) in Höhe von 5 Tagessätzen erkannte.
2. Im Anschluss an den Beschluss des OLG Stuttgart erörterte, soweit aus
der veröffentlichten Rechtsprechung ersichtlich, zuerst das OLG Karlsruhe
die Grenzen der Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe bei einem mehr-
fach vorbestraften Betäubungsmittelkonsumenten. 22 In diesem Fall wurde
der Angeklagte zunächst durch das AG wegen unerlaubten Besitzes von
Betäubungsmitteln (§ 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BtMG) zu einer Freiheitsstrafe
von zwei Monaten verurteilt. Nach den Feststellungen des Urteils hatte der
Täter 0,21 g netto Amphetamin mit einem Wirkstoffgehalt von 0,0145 g
Amphetaminbase, 3,8 g brutto Marihuana nebst 0,8 g brutto Haschisch
schlechter Qualität und damit eine derartige Quantität sogenannter weicher
Drogen besessen, dass die Grenze der von § 29 Abs. 5 BtMG erfassten
geringen Menge noch erheblich unterschritten wurde. Selbige waren zudem
ausschließlich zum Eigenverbrauch des drogenabhängigen Straftäters be-
stimmt. Die Strafkammer verwarf die Berufung des Angeklagten als unbe-
gründet. Auf seine Revision hob das OLG Karlsruhe das Urteil auf. Das
Tatunrecht wiege hier so gering, dass die Verhängung einer Freiheitsstrafe
eine unangemessen harte und damit gegen das Übermaßverbot verstoßende
Sanktion darstelle, auch wenn der Angeklagte einschlägig vorbestraft sei
und unter Bewährung gestanden habe und stehe. Erst recht gelte dies bei
Berücksichtigung der Besonderheiten in der Persönlichkeit des in seinem
Steuerungsvermögen erheblich verminderten Angeklagten.
3. Wiederum das OLG Stuttgart war es, das augenscheinlich als erstes die
Grenzen der Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe bei einer mehrfach
wegen sogenannten Schwarzfahrens Vorbestraften thematisierte. 23 Hier
hatte eine drogenabhängige Angeklagte in drei Fällen öffentliche Ver-
kehrsmittel benutzt, ohne im Besitz eines gültigen Fahrausweises zu sein.
Das Beförderungsentgelt hätte sich auf jeweils 1,65 € belaufen. In erster
Instanz verurteilte das AG die Angeklagte wegen Erschleichens von Leis-
tungen in drei Fällen zu einer - aus drei Einzelstrafen von jeweils zwei
Monaten gebildeten - Gesamtfreiheitsstrafe von drei Monaten ohne Bewäh-
rung. Ihre auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung verwarf
das LG. In seiner Argumentation stellte das Gericht zu Lasten der Ange-
klagten vor allem darauf ab, dass sie bisher 19-mal verurteilt worden und in
zahlreichen Fällen bewährungsbrüchig gewesen sei. Dennoch setzte das
aLG Stuttgart in der Revisionsinstanz die drei Einzelstrafen auf solche von
jevveils einem Monat Länge herab.
24 Es ist nur eine Entscheidung ersichtlich (OLG Karlsruhe StV 2004,477), die im Rahmen
der Diskussion über kurze Freiheitsstrafen eine Körperverletzung als Bagatelle einordnet. Dort
hatte das LG in der Vorinstanz den (wenn auch nicht einschlägig) vorbestraften Angeklagten
wegen Körperverletzung in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in zwei
Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Monaten (bei Einzelstrafen von zwei und einein-
halb Monaten) verurteilt, weil er sich in stark alkoholisiertem Zustand in zwei Fällen gegen
Anordnungen von Polizeibeamten zur Wehr gesetzt hatte. Das OLG Karlsruhe hob die Ent-
scheidung schon aus verfahrensrechtlichen Gründen auf. Darüber hinaus sah es sich zu Hin-
weisen für eine etwaige Anwendung des § 47 StGB veranlasst. Das Tatunrecht wiege so ge-
ring, dass die Verhängung einer Freiheitsstrafe eine unangemessen harte und damit gegen das
Übermaßverbot verstoßende Sanktion darstelle, auch wenn der Angeklagte vorbestraft sei und
unter Bewährung stehe. So habe eine der bei den Körperverletzungen - Prellung eines Dau-
mens - am eher unteren Bereich der Stratbarkeitsgrenze gelegen, bei der anderen, "Um-
sichschlagen bei der Festnahme", bestünden zudem erhebliche Zweifel, ob der Angeklagte den
Polizeibeamten überhaupt habe verletzen wollen. Bei beiden Taten handele es sich letztendlich
nur um Bagatelldelikte, die ihre eigentliche Ursache in einer psychischen Erkrankung des
Angeklagten haben dürften.
25 Die Frage wird nur am Rande in einer Entscheidung des OLG Oldenburg Ss 446/05 (I 2)
v. 23.1.2006 thematisiert. Dort wurde die Titulierung einer Sachbearbeiterin eines Finanzamts
als "schwachsinnig dumm" im Kontext einer Sachauseinandersetzung als nicht sehr schwer
wiegend bezeichnet und die Freiheitsstrafe von drei Monaten aufgehoben. Vgl. im Übrigen
z.B. den Fall des OLG Brandenburg OLGSt StGB § 47 Nr. 13, in dem der Täter mit Blick auf
das dunkelhäutige Kind einer hellhäutigen Mutter auf das nationalsozialistische Gedankengut
der "Rassenschande" hinwies und erklärte, dass er sich für die Fortgeltung der Rassengesetze
der Nationalsozialisten einsetzen werde.
658 Jörg Kinzig
26 Gegen die Möglichkeit der Anordnung einer Geldstrafe bei einem vielfach und auch be-
reits mehrfach einschlägig mit Gefängnisstrafen vorbestraften Angeklagten wegen Fahrens
ohne Fahrerlaubnis bereits OLG Hamm NJW 1969, 1222; vgl. auch die lapidare Argumentati-
on des OLG Koblenz VRS 1989, 424: "Die Verhängung einer unter sechs Monaten liegenden
Freiheitsstrafe hat die Strafkammer zur Einwirkung auf den Angeklagten im Hinblick darauf
für erforderlich erachtet (§ 47 StGB), daß er zum wiederholten Male in einschlägiger Weise
nachteilig in Erscheinung getreten ist und sich bisher weder die Aburteilung zu einer Geldstra-
fe noch die Verhängung von Freiheitsstrafen zu Herzen genommen hat. Diese kurze Begrün-
dung reichte schon deshalb in der vorliegenden Sache für die Bemessung der Freiheitsstrafe
von drei Monaten ausnahmsweise aus, weil der Angeklagte zuvor wegen einer einschlägigen
Tat bereits zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt worden war, deren Vollstre-
ckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist." S. zuvor bereits OLG Koblenz BA 1977, 435;
vgl. auch OLG Hamm 3 Ss 235/09 v. 24.6.2009 sowie SchäferlSanderlvan Gemmeren Praxis
der Strafzumessung, 4. Autl. 2009, Rn. 117, 120. Eher gegenläufig aber die Entscheidung des
OLG Nürnberg ZfSch 2006,288, in der die mangelhafte Begründung der Voraussetzungen des
§ 47 StGB beanstandet wurde; die Entscheidung BayObLG StV 1992, 322 betrifft einen Son-
derfall.
27 Vgl. zwar die Anwendung des § 47 StGB betonend, dennoch nicht zu einer Geldstrafe
kommend BayObLG NJW 1988,2750; vgl. auch Fischer StGB, 57. Autl. 2010, § 170 Rn. 13;
generelle Bedenken gegen den Einsatz des § 47 Abs. 1 StGB in dieser Fallgruppe bei Ssw-
StGB/Esche/bach, 2009, § 47 Rn. 5.
28 Vgl. Fischer a.a.O., § 248a Rn. 3.
Knast für den Diebstahl einer Milchschnitte? 659
2. Verfassungsgerichtliche Vorgaben
Den Rahmen für die zumeist oberlandesgerichtliche Rechtsprechung zum
hier interessierenden Bereich geben zwei Entscheidungen des Bundesver-
fassungsgerichts aus den Jahren 1979 und 1994 vor. 30 Im ersten Fall hatte
das AG Köln dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 248a
StGB mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Hintergrund war ein Strafverfah-
ren, in welchem dem Angeklagten vorgeworfen worden war, unter den
Voraussetzungen des (damals noch existierenden) strafverschärfenden
Rückfalls (§ 48 StGB a.F.)31 in einem Supermarkt Nahrungsmittel im Werte
von 4,69 DM entwendet zu haben (§§ 242, 248a StGB). Das Bundesverfas-
sungsgericht stellte dazu fest, dass es nicht gegen das verfassungsrechtliche
Prinzip schuldangemessenen Strafens verstoße, dass das Gesetz die Bege-
hung von Diebstählen geringwertiger Sachen wahlweise mit Freiheitsstrafe
bis zu fünf Jahren und mit Geldstrafe bedrohe. Zum einen ermögliche der
weite Strafrahmen eine angemessene Sanktion, zum anderen brauche auch
ein Diebstahl geringwertiger Sachen keineswegs leicht zu wiegen: etwa
dann, wenn der Täter - ohne Not oder sonstige noch verständliche Beweg-
gründe - um geringfügiger Vorteile willen einen Einbruch begehe oder die
Hilflosigkeit eines unbemittelten Opfers ausnutze (vgl. § 243 Abs. 1 S.2
Nr. 1, 6; Abs. 2 StGB). Im Hinblick auf § 47 StGB, der die Verhängung
kurzzeitiger Freiheitsstrafen nur in Ausnahmefällen gestatte, könne der
Diebstahl geringwertiger Sachen im Allgemeinen mit einer Geldstrafe ge-
ahndet werden, es sei denn, dass die Voraussetzungen des strafschärfenden
Rückfalls vorlägen. 32
Im Jahre 1994 nahm die Zweite Kammer des Zweiten Senats die Verfas-
sungsbeschwerde eines mehrfach, überwiegend einschlägig vorbestraften
29 Lediglich das OLG Brandenburg wistra 2009,404 weist im Rahmen der Aufhebung einer
eindrucksvoll fehlerhaften Verurteilung wegen fortgesetzten (!) Betruges darauf hin, dass
insbesondere wegen des Bagatellcharakters eines wesentlichen Teils der dem Angeklagten
vorgeworfenen Betrugshandlungen (es handelt sich u.a. um neun Betrugstaten mit Schadens-
summen zwischen 2,50 und 30 €) geprüft werden müsse, ob sich kurze Einzelfreiheitsstrafen
als gerechtfertigt erweisen.
30 BVerfGE 50,205 v. 17.1.1979 sowie BVerfG 2 BvR 710/94 v. 9.6.1994.
31 Zur Anwendung von § 48 StGB a.F. im Falle von Bagatellkriminalität siehe Wagner GA
1979,39 ff.
32 BVerfGE 50,205,215 f.
660 Jörg Kinzig
33 BayObLG NJW 2003, 2926: Akzeptanz einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten wegen
Diebstahls von zwei Fläschchen Nagellack im Gesamtwert von 31,26 DM bei nicht
ausschließbarer verminderter Schuldfahigkeit~ OLG Nümberg StraFo 2006, 502: Akzeptanz
einer Freiheitsstrafe von einem Monat wegen Ladendiebstahls einer Tageszeitung~ OLG 01-
denburg NdsRpfl 2008, 347: Akzeptanz einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten wegen Dieb-
stahls einer Flasche Wodka im Wert von 10,98 €.
34 OLG Düsseldorf NStZ 1986, 512: Aufhebung einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen für
den Diebstahl zweier Packungen Tabak in1 Wert von insgesamt 8,80 DM~ BayObLG NStZ
1989, 75 mit krit. Anm. Köhler JZ 1989, 697: (Zweite) Aufhebung einer Geldstrafe von 50
Tagessätzen für den Diebstahl einer Packung Kaffee im Wert von 13,99 DM~ OLG Jena
OLGSt § 47 Nr. 12: Aufhebung einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen wegen Ladendiebstahls.
Knast für den Diebstahl einer Milchschnitte? 661
des § 47 StGB beanstandet wird. 39 Auch der Zweite Strafsenat des BGH hat
im Jahre 2007 die Verhängung einer dreimonatigen Freiheitsstrafe für den
Besitz einer nicht näher festgestellten, jedenfalls sehr geringen Menge Can-
nabis in Form eines Joints unter Hinweis auf einen Verstoß gegen § 47
StGB gerügt und das Urteil aufgehoben. 40 Jedoch erfolgen auch hier Reduk-
tionen von festgesetzten Freiheitsstrafen. So hat kürzlich das OLG Olden-
burg eine Freiheitsstrafe von drei Monaten, die ein langj ährig von harten
Drogen Abhängiger wegen unerlaubten Erwerbs und Besitzes von ca. 0,5g
Heroin in zwei Päckchen mit nicht festgestelltem Wirkstoffgehalt erhalten
hatte, auf einen Monat reduziert. 41
In der Fallgruppe der Leistungserschleichung hat das OLG Stuttgart in
dem bereits eingangs erwähnten Urteil 42 die wegen dreifachen Schwarzfah-
rens in Höhe von jeweils zwei Monaten verhängten Freiheitsstrafen eben-
falls wegen eines Verstoßes gegen das Übermaßverbot auf jeweils einen
Monat reduziert. 43 Zumeist nahmen die Gerichte jedoch eine Aufhebung der
tUr Schwarzfahren festgesetzten kurzen Freiheitsstrafen vor. 44 Interessan-
terweise finden sich weder in der Fallgruppe des Besitzes geringer Mengen
von Betäubungsmitteln zum Eigenkonsum noch in der des Schwarzfahrens
Entscheidungen, die über der Mindestdauer von einem Monat liegende
39 OLG Hamburg StV 2007, 305: Aufhebung einer Freiheitsstrafe von drei Monaten wegen
unerlaubten Besitzes einer geringen Menge von Betäubungsmitteln (mehrere Steinchen mit
insgesamt 123 mg Crackgemenge) zum Eigenverbrauch~ KG StV 2008,583 m. Anm. Kreu=er:
Aufhebung einer Freiheitsstrafe von sechs Wochen wegen unerlaubten Besitzes von Marihuana
in einer Strafanstalt~ KG StRR 2007, 113: Aufhebung einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten
wegen unerlaubten Besitzes geringer Mengen von Betäubungsmitteln (Amphetamin und
Kokain) zum Eigenverbrauch~ OLG Hamm 3 Ss 323/09 v. 13.8.2008: Aufhebung von Frei-
heitsstrafen von je einem Monat bei wöchentlichem Erwerb von 2 g Marihuana zum Preis von
je 20 €.
40 BGH StV 2007,633.
41 OLG Oldenburg NdsRpfl2009, 107.
42 OLG Stuttgart NJW 2006, 1222.
43 Vgl. auch OLG Hamm 3 Ss 344/07 v. 11.10.2007: Reduktion einer Freiheitsstrafe von
fünf auf zwei Monate.
44 KG StV 2007, 35: Aufhebung von Einzelfreiheitsstrafen von jeweils einem Monat bei
einer Leistungserschleichung in fünf Fällen~ 0 LG Hamm 3 Ss 491/07 v. 10.1.2008: Aufhebung
zweier Einzelfreiheitsstrafen von je drei Monaten bei zweifachem Schwarzfahren mit einem
Schaden von insgesamt 2,40 €, allerdings unter Bejahung eines Verstoßes gegen das Übermaß-
verbot~ KG (4) 1 Ss 375/08 (249/08) v. 4.11.2008: Aufhebung zweier Einzelfreiheitsstrafen
von je zwei Monaten wegen Schwarzfahrens in zwei Fällen mit einem Schaden in Höhe von
jeweils 2,10 €~ OLG Brandenburg OLGSt StGB § 46 Nr. 24: Aufhebung von EinzeIfreiheits-
strafen von drei und vier Monaten wegen Schwarzfahrens in zwei Fällen mit einem Schaden in
Höhe von jeweils 1,20 € wegen einer rechtsfehlerhaften Erfassung der gesetzlichen Vorausset-
zungen des § 47 Abs. I StGB und der Verletzung des Gebots schuldangemessenen Strafens
(Übermaßverbot) .
Knast fur den Diebstahl einer Milchschnitte? 663
45 Systematisch anders freilich z.B. das OLG Stuttgart NJW 2002, 3188; etwas unscharf
auch Krumm NJW 2004, 328, der in seiner Analyse der Rechtsprechung meint, dass die das
Übermaßverbot betreffenden Entscheidungen an den Begriff der Unerlässlichkeit in § 47
Abs. 1 StGB anknüpften. Zu den vorangehenden Schritten der Strafzumessung vgl. van Gem-
meren JR 2007,214 in seiner Anmerkung zur Entscheidung des OLG Hamburg StV 2007,305.
46 Auch Krumm a.a.O. nimmt § 47 Abs. 1 StGB richtigerweise zum "Ausgangspunkt der
richterlichen Prüfung".
47 So der Erste Schriftliche Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BT-
Drs. V/4094, S. 6; vgl. zur historischen Entwicklung auch Kohlmann FS Triffterer, 1996,
S. 603, 606 ff.
48 Vgl. etwa Meier Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. 2009, S. 83. Die weithin gebrauchte
Formel von einer "Gesamtwürdigung" (vgl. etwa LK-Theune, § 47 Rn. 8) scheint einer genau-
en Subsumtion eher hinderlich; vgl. auch SSW-Eschelbach (Fn. 27), § 47 Rn. 10.
664 Jörg Kinzig
55 Vgl. einerseits etwa das BayObLG NStZ 1989, 75 unter Hinweis darauf, "dass die Bevöl-
kerung dies (sc. die Nichtahndung mit einer Freiheitsstrafe) als ein Zurückweichen der Rechts-
ordnung vor unbelehrbaren und unbeeinflussbaren Tätern und damit als Preisgabe der Unver-
brüchlichkeit des Rechts empfinden würde" (dagegen kritisch Köhler JZ 1989, 698)~ ebenso
OLG Nürnberg StraFo 2006, 502. Unabhängig von ihrer Richtigkeit verkennt diese Auffas-
sung, dass der Straftäter ja durchaus mit einer (im Einzelfall empfindlichen) Geldstrafe belegt
werden kann, hinter der zudem eine Ersatzfreiheitsstrafe steht (so zutreffend LG Kleve 216 Ns
12/08 v. 14.7.2008 sowie van Gemmeren JR 2007,215 f. in seiner Anmerkung zur Entschei-
dung des OLG Hamburg StV 2007, 305~ vgl. auch SSW-Eschelbach [Fn. 27], § 47 Rn. 24.).
Dagegen war das OLG Stuttgart im Milchschnitten-Fall (NJW 2002, 3188) zur Frage der
Verteidigung der Rechtsordnung sogar der Ansicht, dass bei einer vom Sachverhalt voll und
zutreffend unterrichteten Bevölkerung die Verhängung einer Freiheitsstrafe in diesem Fall auf
Unverständnis stieße~ zuvor schon OLG Schleswig NJW 1982, 116~ ähnlich auch LG Kleve
216 Ns 12/08 v. 14.7.2008 sowie Horn JR 1987,295 in seiner Anmerkung zu OLG Düsseldorf
NStZ 1986, 512.
Vgl. dagegen aber das OLG Jena OLGSt § 47 Nr. 12, das das Vertrauen der Bevölkerung in die
Unverbrüchlichkeit des Rechts als "empfindlich gestört" ansieht, "wenn die Strafjustiz diesen
Erscheinungsformen der allgemeinen Kriminalität angesichts der mittlerweile festzustellenden
hohen Zahl von Straftaten nicht mit Nachdruck und Konsequenz entgegentreten und sie es
selbst bei Wiederholungstätern bei der Ahndung mit Geldstrafen belassen würde."
56 Vgl. auch OLG Oldenburg StraFo 2008, 297.
57 BVerfGE 50, 205, 215.
58 So OLG Stuttgart NJW 2002, 3188~ ihm folgend OLG Hamm StraFo 2003, 99~ OLG
Nürnberg StraFo 2006, 502.
666 Jörg Kinzig
59 Vgl. OLG Nürnberg StraFo 2006,502: zuvor bereits OLG Schleswig NJW 1982, 116.
60 So völlig zu Recht: OLG Dresden 2 Ss 167/02 v. 2.5.2002~ OLG Stuttgart StraFo 2009,
118.
61 Vgl. auch Köhler JZ 1989,699 in seiner Antnerkung zu BayObLG NStZ 1989,75.
62 BayObLG NStZ 1989,75. In der Entscheidung BayObLG NJW 2003, 2926 genügt dem
Gericht die eine Begründung ersetzende Feststellung, dass der verfahrensgegenständliche
Diebstahl "trotz sechs vorausgegangener einschlägiger Verurteilungen, davon vier zu Freiheits-
strafen, die auch überwiegend vollstreckt wurden, und trotz laufender einschlägiger Bewäh-
rung" begangen worden sei.
63 Vgl. bereits Horn JR 1987,294 in seiner Anmerkung zu OLG DüsseldorfNStZ 1986,512
sowie Köhler JZ 1989,698 in seiner Anmerkung zu BayObLG NStZ 1989,75: siehe auch NK-
Streng, 2. Aufl. 2005, § 47 Rn. 4 sowie zutreffend SK-StGB/Horn, 7. Aufl. 2001, § 47 Rn. 14
mit der Überlegung, dass die Geldstrafe in aussichtslosen Fällen hilfsweise anwendbar ist,
sowie Meier (0. Fn. 48), S. 84.
Knast fur den Diebstahl einer Milchschnitte? 667
sen Fällen ganz allgemein die Berechtigung der Anordnung einer kurzen
Freiheitsstrafe in Frage zu stellen.
Bleibt am Ende im Wesentlichen eine, bisher ausgesparte Frage offen:
Wann ist eine Straftat als Bagatelle anzusehen? Einfachgesetzlich gilt im-
mer noch der Satz, dass das Bagatelldelikt keinen Begriff des positiven
Strafrechts darstellt. 64 Dennoch existieren jedenfalls für alle drei derzeit in
der Diskussion befindlichen Konstellationen normative Hinweise darauf,
wann eine Bagatelle vorliegt: Zum einen sollte im Regelfall der Diebstahl
geringwertiger Sachen im Sinne des § 248a StGB als Bagatelle angesehen
werden. 65 Die dort von der Rechtsprechung erarbeitete Wertgrenze gilt über
§ 265a Abs. 3 StGB nicht nur fur die Leistungserschleichung, sondern z.B.
über § 263 Abs. 4 StGB ebenfalls für den Betrug. Darüber hinaus könnte sie
auch fur die Sachbeschädigung fruchtbar gemacht werden. Im Betäubungs-
mittelbereich weist die Möglichkeit, nach § 29 Abs. 5 BtMG (vgl. auch
§ 31a BtMG) von Strafe absehen zu können, "wenn der Täter die Betäu-
bungsmittel lediglich zum Eigenverbrauch in geringer Menge anbaut, her-
stellt, einfuhrt, ausfuhrt, durchführt, erwirbt, sich in sonstiger Weise ver-
schafft oder besitzt", auf die Bagatelleigenschaft einer derartigen Straftat
hin.
Eine derart begründete weitere Einschränkung kurzer Freiheitsstrafen
könnte auch auf die Zustimmung des Jubilars stoßen.
v. Zusammenfassung
1. Der Anteil der kurzen Freiheitsstrafen an den Verurteilungen zu Frei-
heitsstrafen insgesamt ist seit dem Jahr 1990 kontinuierlich auf zuletzt ein
knappes Drittel gesunken.
2. Dennoch wurden im Jahr 2008 noch mehr als 45.000 Personen zu einer
Freiheitsstrafe unter sechs Monaten verurteilt, rund ein Viertel davon gar zu
einer unbedingten.
3. Mit Abstand bedeutsamstes Delikt bei der Anordnung einer kurzen
(unbedingten) Freiheitsstrafe ist der (Laden-)diebstahl. Recht hohe Anteile
64 So bereits der Eingangssatz von Krümpelmann in seiner aus dem Jahr 1966 stammenden
Dissertation über "Die Bagatelldelikte". Zur Diskussion um Voraussetzungen und Grenzen des
Bagatelldelikts vgl. neben der Arbeit von Krümpelmann etwa Rössner Bagatelldiebstahl und
Verbrechenskontrolle, 1976~ Kun= Das strafrechtliche Bagatellprinzip, 1984~ Nugel Ladendieb-
stahl und Bagatellprinzip, 2004 sowie Priebe Zur Kodifizierung der "Bagatellkriminalität" in
Deutschland und Europa, 2005.
65 Warum weiter einschränkend eine Kategorie "absolut geringwertiger Sachen" oder "abso-
luter Bagatellschäden" erforderlich sein sollte (so aber z.B. OLG Stuttgart NJW 2002, 3188~
OLG Hamm StraFo 2003, 99~ Fischer [Fn. 27], § 47 Rn. 6a), ist nicht einsichtig.
668 Jörg Kinzig
HANS KUDLICH
1 Vgl. aus dem umfangreichen Werk besonders prominent etwa das nlit Meier und Räßner
verfasste, 2007 in zweiter Auflage erschienene Lehrbuch zum Jugendstrafrecht und das zu-
sammen mit Kaiser besorgte Lehrbuch zum StratVollzugsrecht (zuletzt 5. Aufl. 2003).
2 Vgl. nur die Kommentierungstätigkeit des Jubilars im materiellen Recht zu §§ 19-21,61 ff.
und 323a ff. StGB im Leipziger Kommentar bzw. im Kommentar von Sat=ger/Schmitt/Wid-
maier sowie zu §§ 151 ff., 238 ff. und 403 ff. StPO im Alternativkommentar.
670 Hans Kudlich
3 Herrn Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht Sven-Thorsten Oberhof sei an dieser
Stelle für die fruchtbaren Diskussionen über dieses Problem von Herzen gedankt.
4 VgI. Schäch, Strafzumessungspraxis und Verkehrsdelinquenz, 1973.
5 VgI. nur Möglichkeiten und Grenzen einer Typisierung der Strafzumessung bei Verkehrs-
delikten mit Hilfe empirischer Methoden, in: Göppinger/Hartmann (Hrsg.), KrimGegfr. 10
(1972), S. 128 ff.; Artikel zum Thema "Strafzumessung" in: Kaiser/Sack/Schellhoss (Hrsg.),
Kleines kriminologisches Wörterbuch, 1974 (ebenso wie in der 2. Aufl. 1985 sowie in der
3. Aufl. 1991); Strafzumessung und Persönlichkeitsschutz in der Hauptverhandlung, FS Bruns,
1978, S. 754 ff.
6 Zu den verschiedenen Prinzipien der Strafzun1essung bei mehrerer Taten vgl. MK-von
Heintschel-Heinegg StGB, Bd. lVI, 2005, Vor §§ 52 ff. Rn. 13 f.
Verschobener Reststrafenzeitpunkt und Härteausgleich 671
7 Welches freilich allein sub specie Art. 3 GG auch schon problematisch sein könnte, wenn
man in der getrennten Aburteilung keinen sachlichen Grund zur Ungleichbehandlung sieht.
8 Zu diesem Postulat vgl. insb. Härnle Tatproportionale Strafzumessung, 1999, vor allem
S. 108 ff. (nebenbei: eine Dissertation, an welcher der Jubilar auch als Zweitgutachter beteiligt
war), sowie zur Einordnung in die allgemeine Strafzumessungstheorie Streng Strafrechtliche
Sanktionen, 2. Aufl. 2002, Rn. 489 ff.
9 Zu den Erklärungsansätzen für diese Privilegierung vgl. auch Deiters Strafzumessung bei
mehrfach begründeter Strafbarkeit, 1999, S. 17 ff.
10 Vgl. dazu nur Kaiser/Schäch Strafvollzug, 5. Aufl. 2002, § 5 Rn. 13.
11 Vgl. zuletzt BGH NStZ 2010, 30~ ständige Rechtsprechung, vgl. vorher etwa BGHSt 7,
180, 181~ 15,66,69; 17, 173, 174 f; BGHSt 33, 131, 132~ 32,190,193.
12 Vgl. Deiters (Fn. 9), S. 69.
13 Vgl. Deiters (Fn. 9), S. 78.
672 Hans Kudlich
chung des Bundesgerichtshofs ist die darin liegende Härte bei der Bemes-
sung der nunmehr zu verhängenden Strafe auszugleichen. 14 Denn die "Tat-
sache, dass § 55 Abs. 1 S. 1 StGB in diesen Fällen eine Gesamtstrafenbil-
dung ausdrücklich ausschließt, ändert nichts an der dem Prinzip der
nachträglichen Gesamtstrafenbildung zugrunde liegenden Forderung nach
einem Ausgleich der sich durch getrennte Aburteilung ergebenden Nachtei-
le".15
Mit Rissing-van-Saan lassen sich damit Natur und Anspruch des Härte-
ausgleichs - gerade auch in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs -
rur die Fälle der vollständigen Vorwegvollstreckung wie folgt zusammen-
fassen: "Kann keine nachträgliche Gesamtstrafe gebildet werden, weil die
früher verhängten Strafen bereits vor dem tatrichterlichen Urteilen in dem
anhängigen Verfahren erledigt waren, so darf dies dem Angeklagten nicht
zum Nachteil gereichen; die darin liegende Härte ist nach allgemeiner Mei-
nung bei der Strafzumessung auszugleichen". 16 Dabei kann bei einem Här-
teausgleich auch das gesetzliche Mindestmaß der Strafe unterschritten wer-
den. Insgesamt ist also darauf zu achten, "dass das ,Gesamtstrarubel' den
Unrechts- und Schuldgehalt der Taten nicht übersteigt". 17
14 Vgl. zuletzt BGH NStZ 2010, 30~ vorher etwa BGHSt 31, 102, 103~ 33,131,132.
15 Vgl. BGH NStZ 2010, 30.
16 Vgl. LK-Rissing-van-Saan, 12. Aufl. 2006, § 55 Rn. 32.
17 Vgl. LK-Rissing-van-Saan a.a.O., § 55 Rn. 34 f. m.w.N.
Verschobener Reststrafenzeitpunkt und Härteausgleich 673
18 Der leichteren Berechenbarkeit wegen soll davon ausgegangen werden, dass der Vollzug
der Freiheitsstrafe am 1.1.2006 beginnt.
19 Alternativ: Eine schon beschlossene Reststrafenaussetzung zur Bewährung wird aus den
gleichen Erwägungen - kurz vor oder auch kurz nach dem Beginn der Aussetzung - wieder
widerrufen.
20 Das Urteil könnte auch noch später ergehen~ falls A für das zweite Verfahren in U-Haft
bleibt, die dann auf die zweite Freiheitsstrafe angerechnet wird, ändert sich an der Gesamthaft-
zeit nichts.
674 Hans Kudlich
dann, wenn die zweite Tat der Justiz so ungelegen kommt, wie es Verdunk-
lungsbemühungen 26 aus der Untersuchungshaft heraus nun einmal tun - mit
dem Zweck des Härteausgleichs rein gar nichts zu tun,27 denn dieser hat
seine Wurzeln nicht in den verwirklichten Tatbeständen, sondern allein in
den Konkurrenzregeln der §§ 53 - 55 StGB. 28 Wenngleich die Entscheidung
rur den Regelfall die Praxis möglicherweise zementieren wird - einen in-
haltlich-materiellen Erkenntnisgewinn rur den Problemkreis "Verschobener
Reststrafenzeitpunkt und Härteausgleich" bringt sie nicht.
sich diese Zahlen auf alle Freiheitsstrafen und damit auch auf Wiederho-
lungsverbüßer oder Gefangene mit einer aus anderen Gründen schlechten
Sozialprognose beziehen, wird leicht deutlich, dass es sich keineswegs um
eine völlig unverbindliche "Expektanz", sondern für bestimmte Gefangene
um eine sehr, sehr reale Chance bei der Vollstreckung handelt. Dies gilt
umso mehr, als aufgrund der Kriterien des § 57 StGB ("Verhalten des Ver-
urteilten im Vollzug") der Verurteilte durchaus die Möglichkeit hat, am
Vorliegen dieser Voraussetzungen mitzuwirken (und erfahrungsgemäß auch
das Verhalten vieler Gefangener dadurch geprägt wird 31 ).
Hinzu kommt, dass unabhängig vom tatsächlichen Vollzug der möglichen
Reststrafenaussetzung die Hoffnung auf diese Möglichkeit - und damit
dann auch der Zeitpunkt, in dem sich diese Hoffnung realisieren könnte -
für einen rechtsstaatlichen und menschenwürdigen Vollzug von ganz erheb-
licher Bedeutung sind, wie das Bundesverfassungsgericht grundlegend in
der bekannten Entscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe ausgeführt
hat. 32 Für das "Gesamtstrafl1bel" ist die Mindestverbüßungsdauer mithin ein
zentraler Bestandteil, weshalb die Verschiebung des Zeitpunkts nach
§ 57 Abs. 1 StGB jedenfalls dann nicht zu vernachlässigen ist, wenn dieser
einen signifikanten Teil der Strafdauer betrifft.
b) Auf den ersten Blick könnte man gegen diese Überlegungen nun frei-
lich einwenden, dass eine Berücksichtigung dieses Umstandes bei Festset-
zung der Strafhöhe umgekehrt auch zu einer unangemessenen Besserstel-
lung des Verurteilten führen könnte. Denn durch § 55 StGB und auch durch
das Institut des Härteausgleichs soll verhindert werden, dass der Verurteilte
aufgrund der getrennten Aburteilung und des vollständigen Vorwegvollzugs
der ersten Freiheitsstrafe schlechter gestellt wird - er soll aber auch nicht
besser gestellt werden. Diese drohende Besserstellung könnte zum einen
damit begründet werden, dass sich das Problem apriori nur stellt, wenn die
erste Freiheitsstrafe gerade vollständig verbüßt wurde; zum anderen aber
auch damit, dass ja durchaus ungewiss ist, ob nicht auch die zweite Strafe
vollständig verbüßt werden muss.
Hinsichtlich des ersten Einwandes ist zu differenzieren: Lagen der Voll-
verbüßung Gründe in der Person des Verurteilten bei der Prognose zu
Grunde, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auch bei der zweiten
Vollstreckung von Bedeutung sein werden, dürfte nicht zu beanstanden
sein, wenn der Punkt "Reststrafenaussetzung" beim Härteausgleich (zwar
aufgeworfen, aber im Ergebnis) nicht berücksichtigt wird. Anders ist dies
freilich, wenn Grund für die Nichtentlassung zur Bewährung oder Wider-
rufsgrund gerade die Tat ist, die zur zweiten Freiheitsstrafe fuhrt. Denn der
33 Das gilt evident auch ganz allgemein im Bewährungsrecht: Zwar kann die spätere Bege-
hung einer Straftat selbstverständlich ein Grund sein, dass ein zur Bewährung ausgesetzter
Strafrest wieder verbüßt werden muss~ hingegen ist die Tatsache, dass bei einer fiktiven ersten
gemeinsamen Verurteilung nicht nur ein, sondern zwei Tatkomplexe in Rede gestanden hätten,
gewiss kein Grund, bei der Vollstreckung der (fiktiven) Gesamtfreiheitsstrafe apriori eine
bedingte Haftentlassung nicht zuzulassen.
34 Vgl. NK-Paeffgen StGB, 3. Aufl. 2010, § 57 Rn. 4.
Verschobener Reststrafenzeitpunkt und Härteausgleich 679
IV. Fazit
Aus all dem ergibt sich, dass der verschobene Reststrafenzeitpunkt - je-
denfalls im Einzelfall - bei einer konsequenten Anwendung des Gedankens
35 Vgl. dazu zusammenfassend BGH 2 StR 386/08 vom 29.10.2008, Rn. 11 ff.
36 Vgl. BGH NStZ 2000, 263.
37 Vgl. plastisch OLG Saarbrücken NStZ-RR 2007,219.
680 Hans Kudlich
FRITZ LOOS
I.
Die Anlasstat verbindet das Maßregelrecht mit dem Strafrecht i.e.S., die
Prognosetat mit dem (Verwaltungs-)Recht der öffentlichen Sicherheit. 9
Diese nur bildhafte Formulierung weist immerhin auf unterschiedliche
Funktionszusammenhänge hin, die aber genauer beschrieben werden müs-
sen. Dabei ist auch auf das Verhältnis zwischen beiden Taten einzugehen.
Damit zeichnet sich die Möglichkeit ab, dass, nachdem Engisch lO schon
darauf hingewiesen hatte, dass der Begriff des Unrechts als Voraussetzung
von Strafe einerseits, Maßregeln andererseits unterschiedlich bestimmt
werden könne und vielleicht müsse, nun auch innerhalb der Maßregelvor-
aussetzungen der Begriff der rechtswidrigen Tat rur Anlasstat und Progno-
setat jeweils unterschiedlich zu fassen sein könnte.
1. Ersetzt man den üblichen (auch hier verwendeten) Terminus Anlasstat
durch Symptomtat, 11 wird damit nicht nur die Bedeutung der tatsächlich
begangenen Tat rur die Prognose der künftigen Taten herausgestellt,12 son-
dern auch eine - freilich nicht wirklich tragfahige - gedankliche Brücke zur
symptomatischen Strafrechtslehre der Liszt-Schüler Tesar und Kollmann
7 Vgl. schon den Titel der Monographie von Dessecker Gefährlichkeit und Verhältnismä-
ßigkeit, 2004.
8 Die Darstellung im Folgenden orientiert sich an der Anordnung gegen Schuldunfähige
(§ 20 StGB), thematisiert also nicht Sonderfragen, die sich aus § 63 LV.m. § 21 StGB ergeben
können.
9 Die im Text benutzte Formel steht nicht im Widerspruch zu Achenbachs Pointierung (His-
torische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, 1974, S. 4 f.),
dass die Prognosetat im Maßregelrecht der Stratbegründungsschuld im Strafrecht Le.S. ent-
spreche. Die Erwartbarkeit künftiger rechtswidriger Taten trägt die Maßregelsanktion als
Instrument des Gesellschaftsschutzes wie die Stratbegründungsschuld die Strafe.
10 Engisch FS Kohlrausch, 1944, S. 141, 172 f.
11 Für möglicherweise irreführend, weil das notwendige Gewicht zu sehr relativierend, hält
Frisch ZStW 102 (1990), 343, 377 f. m. Fn. 154 den Terminus Anlasstat. Von Symptomtat
spricht P. Albrecht Die allgemeinen Voraussetzungen zur Anordnung freiheitsentziehender
Maßnahmen gegenüber erwachsenen Delinquenten, 1981, S. 48, 53.
12 Dazu Frisch a.a.O., 376-378 sowohl für die empirische Seite der Prognose als auch für
die daraus folgende rechtsstaatliche Legitimation. Zur letzteren auch noch im Text.
"Rechtswidrige Tat"' in § 63 5tGB 683
11.
Den Vorschlägen zur Einzelausgestaltung der beiden Begriffe "rechtswid-
rige Tat" (III 1 und 2) sollen Überlegungen zu den Auslegungsgrundsätzen,
die leitend sein könnten, vorausgeschickt werden. Natürlich steht an der
Spitze die Zweckausrichtung, auf die vorstehend schon im Vorgriff (I 1)
Bezug genommen war (1.). In der konkreten Argumentation in Rechtspre-
chung und Literatur spielt eine erhebliche Rolle das Verhältnis der straf-
rechtlichen Unterbringung zu der durch den Richter der freiwilligen Ge-
richtsbarkeit insbesondere nach den landesrechtlichen Unterbringungs-
gesetzen (§ 312 Nr. 3 FamFG; vorher § 70 Abs. 1 Nr. 3 FGG); für die
Auslegung von § 63 StGB ist das deswegen von Bedeutung, weil eine re-
striktive Auslegung dieser Bestimmung durch den Verweis auf die Schlie-
ßung der Sicherheitslücken durch außerstrafrechtliche Maßnahmen verant-
wortet werden kann (2.). Schließlich ist, wie auch schon angedeutet, zur
Prognosetat zu bedenken, ob die Prognoseinstrumente geeignet sind, be-
stimmte rechtliche Eigenschaften künftiger Taten vorauszusagen (3.).
18 Ausdrücklich anders LK-Schäch (Fn. 2), § 63 Rn. 77 und SK-Horn, § 63 Rn. 11. Vermut-
lich würde aber Schäch einem Teil der nachstehenden Erwägungen zur Prognosetat gerade
auch wegen ihrer Trivialität nicht widersprechen (s. auch oben im Text).
19 Schäch (Fn. 2, § 63 Rn. 77) stellt fest, dass außer dem LK nur SK-Horn (§ 63 Rn. 11) zur
gängigsten Streitfrage bei der Anlasstat - den krankheitsbedingten Fehlvorstellungen - bei der
Prognosetat Stellung bezieht, beide übrigens wie bei der Anlasstat (vgl. Fn. 18) mit entgegen-
gesetztem Ergebnis.
"Rechtswidrige Tat" in § 63 StGB 685
Danach ist zwar das (Vollzugs-)Ziel die Besserung in dem Sinne, dass die
Gefährlichkeit entfällt,26 soweit das möglich ist. 27 Diese Zwecksetzungen
sind jedenfalls im Kern unabhängig von rechtsethischen Legitimationsfra-
gen, gleichgültig ob man sie utilitaristisch oder deontologisch ansetzt.
Diese Ratio der Vorschrift des § 63 StGB insgesamt muss aber nicht be-
deuten, dass auch die Einzelmerkmale des Voraussetzungsinbegriffs, hier
das Merkmal der "rechtswidrigen Tat", insbesondere als Anlasstat, aus-
schließlich unter dem Gesichtspunkt der Individualprävention zur Sicherung
der Allgemeinheit bestimmt werden müssen.
Dass von der Anordnung der Einweisung in ein psychiatrisches Kranken-
haus jedenfalls faktische Normbestätigungswirkungen ausgehen, lässt sich
kaum bezweifeln,28 wie umgekehrt bei Ausbleiben jeder Sanktion wegen
Schuldunfähigkeit aufgrund des Fehlens eines Dauerdefizits, wie insbeson-
dere bei Affekttaten, regelmäßig generalpräventive Bedenken auftauchten.
Diese Effekte in einem eingeschränkten Sinn zu normativieren als Aufarbei-
tung eines durch eine rechtswidrige Tat ausgelösten Konflikts, verfällt nicht
in den Fehler, den vorrangigen individualpräventiven Charakter zu verken-
nen,29 sieht aber den generalpräventiven Nebenzweck30 zur Bestimmung des
Bereichs strafrechtlicher Maßnahmen. 31 Für die Bestimmung der eine straf-
rechtliche Reaktion auslösenden Anlasstat erscheint daher der Rückgriff auf
den generalpräventiven Nebenzweck sinnvoll.
2. Bei der Auslegung der Voraussetzungen der Anlasstat besteht die Beson-
derheit, dass sich der Befiirchtung einer Sicherheitslücke durch eine engere
Auffassung der Anlasstat mit dem Verweis auf die landesrechtlichen Unter-
bringungsmöglichkeiten (i.V.m. § 312 Nr. 3 FamFG),32 die eine Anlasstat
nicht voraussetzen, begegnen lässt. Der Joker wird unterschiedlich ver-
wandt: Die h.L. bemüht ihn zum Ausschluss der Unterbringung nach § 63
26 Vgl. § 136 S.2 StVollzG: nicht "Heilung". Vgl. SSW-Schäch (Fn. 4), § 63 Rn. 2 m.
Nachw.
27 Zu den verbleibenden Vollzugszielen § 136 S. 3 StVollzG.
28 Anders auch nicht Frisch (Fn. 11), 343, 358 m. Fn. 65, wenn er etwas spitz zwischen der
Wirkung einer durch Zweck und Mittel charakterisierten Maßregel und dem nur benutzten
Freiheitsentzug unterscheidet.
29 So aber P. Albrecht (Fn. 11), S. 25 ff., 52 ff.~ gegen ihn Müller-Dietz NStZ 1983, 145,
148 und Frisch (Fn. 11),358 m. Fn. 65.
30 So auch Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Autl. 1991, 1. Abschn. Rn. 55.
31 Das nähert sich der von Frisch scharf kritisierten Beschränkung der Relevanz der began-
genen (Anlass-)Tat auf eine nur kompetentielle Funktion (Fn. 11, 376 ff.). Die Kritik greift
aber zu kurz, weil sie die möglichen nichtstrafrechtlichen Maßnahmen nicht einbezieht (vgl.
oben I 1 a.E.).
32 Zu ergänzen sind noch die in § 312 Nr. 1, 2 FamFG bezeichneten betreuungsrechtlichen
Freiheitsentziehungen.
"Rechtswidrige Tat" in § 63 StGB 687
111.
Nach dem Vorstehenden sind die Begriffe der "rechtswidrigen Tat" für
die Anlasstat und für die Prognosetat selbständig zu bestimmen.
1. Bei der hinsichtlich der allgemeinen Zurechnungsvoraussetzungen viel
ausführlicher erörterten Anlasstat hat die Entscheidung des Bundesgerichts-
hofs im 3 1. Bande43 zu einer breiten Übereinstimmung geführt, dass bis auf
die Schuldfahigkeit sämtliche zu einer Bestrafung erforderlichen Merkmale
erfüllt sein müssen - bis auf die Entbehrlichkeit von subjektiven Unrechts-
merkmalen, wenn ihr Fehlen krankheitsbedingt ist. Darin müsste nicht un-
bedingt ein Widerspruch zu sehen sein, wenn nicht der BGH und ihm fol-
gend ein Großteil der Literatur dieses Ergebnis ausdrücklich aus dem so
interpretierten § 71 StGB herleiten, dass nur die Schuldunfahigkeit44 dem
Strafverfahren im Wege stehen darf, nicht aber andere GrÜnde. 45 Dass das
Schäch selbst daraus Konsequenzen für die in BGHSt 31, 132 behandelten Fragen ziehen
würde, bleibt offen.
41 Die Problematik wird gesehen, aber sehr knapp - wie Anlasstat - behandelt von LK-
Schäch (Fn. 2), § 63 Rn. 77 und SK-Horn (Fn. 18), § 63 Rn. 11 (mit unterschiedlichen Ergeb-
nissen wegen der Differenzen zur Anlasstat). Vgl. oben Fn. 19.
42 Vgl. Dessecker (Fn. 7), S. 223-225.
43 BGHSt 31,132,134 ff.
44 Nach § 71 StGB: oder die Verhandlungsunfähigkeit, die in unserem Zusammenhang kei-
ne Rolle spielt.
45 BOHSt 31, 132, 134~ ausdrücklich auch hinsichtlich der Begründung aus § 71 StOB.
"Rechtswidrige Tat"' in § 63 StGB 689
46 Der die h.M. ablehnende Horn argumentiert positiv, dass sämtliche Stratbarkeitsvoraus-
setzungen gegeben sein müssen (SK-Horn [Fn. 18], § 63 Rn. 3), geht aber auf die Wider-
sprüchlichkeit in der h.L. nicht ein. Anders als Horn zu den krankheitsbedingten Fehlvorstel-
lungen nunmehr SK-Sinn, § 63 Rn. 4 und mindestens in der Formulierung widersprüchlich zu
Rn. 3.
47 NK-Böllinger/Pollähne (Fn. 20), § 71 Rn. 4~ HK-GS/Rössner, § 71 Rn.!.
48 So LK-Schöch (Fn. 2), § 63 Rn. 54~ ders. in: SSW-StGB (Fn. 4), § 63 Rn. 13. Der im
Text gerügte Widerspruch besteht dann nicht~ vgl. auch die zurückhaltende Interpretation von
BGHSt 31, 132 bei LK-Schöch a.a.O., § 63 Rn. 41.
49 Vgl. Geilen JuS 1972, 73, 78.
50 Im Ergebnis so auch P. Albrecht (Fn. 11), S. 53 f m. S. 46, insbesondere für die unter b)
anzusprechenden Irrtumsfragen; SK-Horn (Fn. 18), § 63 Rn. 3 f
51 In gewisser Hinsicht das Gegenstück zu dieser Ableitung aus dem generalpräventiven
Nebenzweck (bei P. Albrecht [Fn. 11], S. 53 f, wird ebenso aus der als Hauptzweck ange-
nommenen Generalprävention argumentiert) stellt die Begründung dar, es müsse eine weiter-
gehende Stigmatisierung durch eine Strafsanktion als beim Straffähigen verhindert werden
(NK-Böllinger/Pollähne [Fn. 20], § 63 Rn. 67-69), die so Art. 3 GG konkretisiert.
690 Fritz Loos
StOB (Fn. 4), § 63 Rn. 13~ Schönke/Schröder/Stree (Fn. 56), § 63 Rn. 6. Die beiden hier ge-
nannten Autoren, welche bei krankheitsbedingten Fehlvorstellungen bei den Unrechtsmerkma-
len die Anordnung nach § 63 StGB zulassen (siehe Fn. 56), thematisieren die im Text ange-
sprochene Frage nicht.
58 Fahrlässige Taten, bei denen die objektive Sorgfaltsptlicht vorliegen muss, werden bei
Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen für die Anlasstat als ausreichend angesehen~ vgl.
LK-Schöch (Fn. 2), § 63 Rn. 50 m. Nachw.
59 LK-Schöch (Fn. 2), § 63 Rn. 49. Dass das von Schöch (a.a.O., Rn. 50) und Stree (Fn. 56,
§ 63 Rn. 7) herangezogene Argument, die Irrelevanz krankheitsbedingter Irrtümer harmoniere
mit der Beschränkung der rechtswidrigen Tat bei Fahrlässigkeitsdelikten auf die objektive
Sorgfaltswidrigkeit, etwas für sich hat, ist nicht zu bestreiten. Eine Diskussion setzte aber ein
tiefes Eindringen in die Fahrlässigkeitsdogmatik voraus. Hält man für die weitaus wichtigeren
Vorsatzdelikte die hier vertretene Lösung für richtig, müsste man gegebenenfalls eine andere
Parallelführung bei den Fahrlässigkeitsdelikten vornehmen.
60 Nur angemerkt sei hier, dass das Fehlen des Fremdheitsvorsatzes bei § 242 StOB gleich-
zeitig die Enteignungsseite der Zueignungsabsicht entfallen lässt.
61 Die Beweisschwierigkeiten räumt auch LK-Schöch (Fn. 2), § 63 Rn. 48 f., ein, hält sie
aber für überwindbar.
692 Fritz Loos
62 Vgl. BGHSt 10, 355, 356~ zu Recht weist auf die Brisanz dieser Fallkonstellation Stree
(Fn. 56), § 63 Rn. 7 hin. - Auch die sonst, gestützt auf empirische Untersuchungen, die Rück-
fallwahrscheinlichkeit bei Geisteskranken eher gering einschätzende Annelie Prapolinat
(Fn. 20, S. 80 ff., 87 ff. m. Nachweisen aus psychiatrischen Untersuchungen) räumt eine
gewisse negative Sonderstellung von - wohl meist aus Schizophrenie resultierenden - Wahn-
kranken ein.
63 Zu dieser Thematik im strikten Sinne gehört nicht die Frage, welche Tatbestandsarten als
Prognosetaten in Betracht kommen. Dessecker, der sich ausführlicher mit den Tatbestandsarten
befasst hat (Fn. 7, S. 223-225), hat (vorsätzliche) Unterlassungsdelikte in die Gefährlichkeits-
gruppe wohl zutreffend grundSätzlich einbezogen (a.a.O., S. 223) mit der Differenzierung
zwischen Erheblichkeit der Delikte und Verhältnismäßigkeit). Bei den Fahrlässigkeitsdelikten
will er eine Beschränkung auf die vorsatznahe bewusste Fahrlässigkeit vornehmen (a.a.O.,
S. 225). Dagegen sollen unbewusste Fahrlässigkeitsdelikte nicht als Prognosetat ausreichen, da
auch schon die Strafwürdigkeit zweifelhaft sei. Das ist ein für die Gefährlichkeitsprognose aber
wohl verfehlter Gesichtspunkt, auch wenn man die Fälle von Tatsachenblindheit (vgl. Jakobs
[Fn. 30], 8. Abschn. Fn. 5a) nicht unter Schuldgesichtspunkten für besonders gravierend hält:
Denn die Gefährlichkeitsprognose kann sich gerade nicht am Maß der Schuld Lw.S. orientieren
(vgl. dazu auch den Text); auch im Ergebnis ist die Ausklammerung der gerade bei Tatsachen-
blindheit auch wohl großen Gefährlichkeit von Tätern unbewusster Fahrlässigkeitsdelikte
mindestens nicht unproblematisch.
64 So auch Dessecker (Fn. 7), S. 224. Dort richtig auch zu den Fällen des § 23 Abs. 3 StGB.
65 Vgl. oben in Fn. 54 zu BGH NStZ 1991,528 f.
"Rechtswidrige Tat" in § 63 5tGB 693
66 Wobei als Alternative natürlich auch die prognostizierte "richtige" Vorstellung ausreichen
würde.
Die Erledigungserklärung im Maßregelvollzug
HENNING RADTKE
I. Einführung
Die Erledigungserklärung ist eine ausschließlich auf (stationäre) Maßre-
geln der Besserung und Sicherung anwendbare gerichtliche Entscheidung
über die Beendigung deren Vollzugs. Als Beendigungsform steht die Erle-
digungserklärung neben der aufgrund Fristablaufs (vgl. § 67d Abs. 1 i.V.m.
Abs.4 StGB) und der durch Aussetzung des weiteren Vollzugs der Maßre-
gel zur Bewährung (etwa § 67d Abs. 2 StGB).l Mit der Erledigungserklä-
rung als Entscheidung über die Beendigung des Vollzugs freiheitsentzie-
hender Maßregeln hält das Gesetz ein Rechtsinstitut vor, um dem
Verfassungsgebot2 zu entsprechen, den Maßregelvollzug zu beenden, wenn
und soweit die Voraussetzungen der entsprechenden Maßregel nicht mehr
vorliegen 3 bzw. der mit ihnen verfolgte Zweck nicht mehr erreichbar ist. 4
Die Erledigungserklärung oder eine ihr äquivalente Entscheidungsform ist
im Maßregelvollzug eine aus dem Zweck der Maßregeln, der erwarteten
erheblichen zukünftigen Gefährlichkeit von Straftätern im Interesse der
Rechtsgüter Einzelner zu begegnen, 5 resultierende Notwendigkeit. Gerade
1 Zu den verschiedenen Formen der Beendigung des Vollzugs stationärer Maßregeln der
Besserung und Sicherung ausführlicher Meier Strafrechtliche Sanktionen, 3. Aufl. 2009,
S. 327-334 sowie umfassend Bechtoldt Die Erledigungserklärung im Maßregelvollzug des § 63
StGB, 2002, S. 59-69.
2 Dazu Radtke ZStW 110 (1998), 297, 298-300 m.w.N.
3 Vgl. etwa Bechtoldt (Fn. 1), S. 49; Dessecker Straftäter und Psychiatrie, 1990, S. 123 ff~
Frisch Prognoseentscheidungen im Strafrecht, 1983, S. 155; Küchenmeister Behandlung des
nach §§ 63, 64 StGB Untergebrachten bei Erreichen des Maßregelzwecks, 1985, S. 20; Lau-
benthal FS Krause, 1990, S. 357, 359 ff; Radtke (Fn. 2), 298; ders. NStZ 2002, 580; Schrei-
berlRosenau in: Venzlaff/Foerster (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl. 2004, S. 106;
VolckartlGrünebaum Maßregelvollzug, 7. Aufl. 2009, S. 341 ff; WolfNJW 1997,779,780 f;
LK-Rissing-van SaanlPeglau, 12. Aufl. 2008, § 67d Rn. 42; MK-Veh, Bd. 2, 2005, § 67d
Rn. 26 f; siehe auch BGHSt 42,306,310.
4 BVerfGE 91, 1 (2 und 31) zu der Beendigung der Unterbringung in einer Entziehungsan-
stalt bei nicht mehr erreichbarem Therapieerfolg.
5 Grundlegend zu den Maßregeln der Besserung und Sicherung etwa Müller-Diet= Grund-
fragen des strafrechtlichen Sanktionensystems, 1979, S. 16 ff; Jung Was ist Strafe?, 2002,
696 Henning Radtke
S.33 ff; Meier (Fn. 1), S. 236 f; Streng Strafrechtliche Sanktionen, 2. Autl 2002, Rn. 281-
283; Radtke (Fn. 2),298 f jeweils m.w.N.
6 BVerfGE 91, 1,30; dazu Müller-Diet= JR 1995,353; Schalast/LeygrafNStZ 1999,485;
Stree FS Geerds, 1995, S. 581 ff
7 MK-Groß (Fn. 3), § 67e Rn. 1.
Die Erledigungserklärung im Maßregelvollzug 697
8 Näher unten II.2.b.~ zum Streitstand einführend Koller FS Venzlaff, 2006, S. 229, 257 ff.~
ders. R & P 2007, 57, 63 f.~ Rissing-van SaanlPeglau (Fn. 3), § 67d Rn. 50-53~ Veh (Fn. 3),
§ 67d Rn. 27.
9 Für § 67d Abs. 5 etwa OLG Celle NStZ-RR 1997, 240 f.~ OLG Frankfurt NStZ-RR 2003,
41 f.~ OLG Hamm NStZ 2000,168 mit krit. Anm. RadtkelBechtoldt NStZ 2001, 222 f.~ Fischer
StGB, 56. Autl. 2009, § 67d Rn. 22~ Rissing-van SaanlPeglau (Fn. 3), § 67d Rn. 39~ Veh
(Fn.3), § 67d Rn. 43~ NK-PollähneIBöllinger, 3. Autl. 2010, § 67d Rn. 43~ für § 67d Abs. 6
StGB ausdrücklich ebenso Koller R & P (Fn. 8), 57.
698 Henning Radtke
lation der Erledigung bei Verstreichen eines Zeitraums von drei Jahren nach
Rechtskraft der Maßregelanordnung, ohne dass deren Vollzug begonnen
hat, wenn und soweit es nicht trotz des Zeitablaufs noch des Maßregelvoll-
zugs bedarf. § 67d Abs. 4 S. 2 StGB ordnet qua Gesetz - also nicht durch
gerichtliche Entscheidung - die Erledigung des Vollzugs der Unterbringung
in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) nach Ablauf der Hächstfrist aus
§ 67d Abs. 1 StGB an. Im Mittelpunkt der nachfolgenden Ausführungen
soll allerdings eine noch relativ junge gesetzliche Regelung über die Erledi-
gungserklärung im Maßregelvollzug stehen, § 67d Abs. 6 StGB. Diese
Vorschrift wurde durch das Gesetz zur Einführung der nachträglichen Si-
cherungsverwahrung vom 23. Juli 2004 10 in das StGB eingefügt. Sie er-
streckt sich allein auf die Beendigung der Unterbringung in einem psychiat-
rischen Krankenhaus (§ 63 StGB) und ist damit weder auf die
Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) noch auf die Siche-
rungsverwahrung (§ 66 StGB) und ihre Modifikationen (§§ 66a und b
StGB) unmittelbar oder analog anwendbar. 11 Mit der Einfügung hat der
Gesetzgeber eine Regelungslücke schließen wollen, die in solchen Fällen
bestand, in denen sich nach dem zeitlichen Beginn des Vollzugs der Maßre-
gel gemäß § 63 StGB das Fehlen von deren Voraussetzungen ergab. 12 Vor
der Reform hatte die hächstrichterliche Rechtsprechung - soweit nicht die
Beendigung über die bewährungsweise Aussetzung erfolgte - die Erledi-
gungserklärung in solchen Konstellationen auf die analoge Anwendung von
§ 67c Abs. 2 S. 5 StGB gestützt. 13 Die methodischen Voraussetzungen der
Analogie ließen sich allerdings kaum annehmen. 14 Angesichts der Begren-
zung von § 67d Abs. 6 StGB auf den Vollzug der Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus greift die Rechtsprechung für Fälle des Weg-
falls der Voraussetzungen der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt,
etwa weil kein hinreichend konkreter Behandlungserfolg mehr besteht, für
die gebotene Beendigung des Maßregelvollzugs allerdings auch weiterhin
auf eine auf die analoge Anwendung von § 67c Abs. 2 S. 5 StGB gestützte
Erledigungserklärung ZU. 15 Die gesetzgeberische Entscheidung, mit der
Einfügung von § 67d Abs. 6 StGB die zum alten Recht betriebene richterli-
che Rechtsfortbildung für die Maßregel nach § 63 StGB in Gesetzesform
umzusetzen,16 hat zwar den methodischen Einwand gegen den Zugriff auf
eine Erledigungserklärung für den Vollzug dieser Maßregel ausgeräumt.
Die Reform hat aber nicht sämtliche sachlichen Fragen und Unklarheiten
zum Anwendungsbereich der Erledigungserklärung im Maßregelvollzug des
§ 63 StGB lösen können. 17 Die nachfolgenden Erwägungen verfolgen das
Ziel, die Reichweite der Erledigungserklärung nach § 67d Abs. 6 StGB
auch hinsichtlich der Abgrenzung zur bewährungsweisen Aussetzung des
Vollzugs der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß
§ 67d Abs. 2 StGB zu klären. Ich hoffe, damit das Interesse des Jubilars
gerade vor dem Hintergrund seines langjährigen Wirkens als Vorsitzenden
einer Strafvollstreckungskammer am Landgericht Göttingen zu finden.
Zugleich ist der Beitrag Ausdruck meines herzlichen Dankes für die stete
Förderung während meiner Göttinger Studien- und Assistentenzeit sowie
für die vorzügliche Zusammenarbeit im Altemativkreis.
terschaft des Untergebrachten in Bezug auf die Anlasstat kann nicht durch
Erledigungserklärung zur Beendigung des Vollzuges führen. Denn es geht
um Korrektur eines Fehlers des Gerichts, der mit den unter I. angedeuteten
Abhängigkeiten der Maßregelvoraussetzungen von der zukünftigen Ent-
wicklung des Untergebrachten nichts zu tun hat. Die Klärung der Frage, ob
der Untergebrachte die Anlasstat begangen hat, knüpft bei der Beantwor-
tung - ebenso wie bei dem zu Unrecht zu Strafe Verurteilten - ausschließ-
lich an einen in der Vergangenheit liegenden abgeschlossenen Vorgang an.
Jedenfalls dann, wenn der Täter in den Fällen des § 21 StGB neben der
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wegen der Anlasstat
schuldig gesprochen und zu Strafe verurteilt worden ist, kann dieses Urteil
insgesamt, wie bei materiell zu Unrecht erfolgten Schuld- und Strafaus-
spruch auch, lediglich im Rahlnen des Wiederaufnahmeverfahrens der
§§ 359 ff. StPO beseitigt werden.
erstrecken. Aus der fehlenden Anwendbarkeit von § 67d Abs. 6 StGB zieht
das Gericht den Schluss, es könne dann auch nach dem Ende des Maßregel-
vollzuges keine Führungsaufsicht nach § 67d Abs. 6 S. 2 StGB eintreten. 42
Die Diskussion um die Erstreckung der Erledigungserklärung auf die
Fehleinweisung (aus tatsächlichen Gründen) ist angesichts der jeweiligen
Berufung der Diskursteilnehmer auf dieselben Passagen der Gesetzesmate-
rialien kurios. Der vom OLG Dresden vertretenen Auffassung ist jedenfalls
zuzugestehen, dass nach den Vorstellungen des Gesetzgebers das Vorliegen
der Voraussetzungen des § 63 StGB zum Zeitpunkt des die Maßregel an-
ordnenden Urteils nicht Gegenstand der Kognitionspflicht des über die
Erledigung entscheidenden Vollstreckungsgerichts ist. 43 Die auf das aktuel-
le Vorliegen der Anordnungsvoraussetzungen begrenzte Kognitionspflicht
im Erledigungsverfahren findet in der Wendung "nicht Inehr" zudem einen
gewissen Ausdruck im Gesetz. Angesichts der Begrenzung des Entschei-
dungsgegenstandes der Vollstreckungsgerichte im Erledigungsverfahren
wäre eine ausschließlich auf anfängliches tatsächliches Fehlen der Voraus-
setzungen des § 63 StGB gestützte Erledigung rechtsfehlerhaft. Im Rahmen
des Erledigungsverfahrens darf das Vollstreckungsgericht lediglich das
Vorliegen bzw. Nichtvorliegen der Maßregelvoraussetzungen ZUlTI maßgeb-
lichen Zeitpunkt der Entscheidung über die Erledigung überprüfen und
darüber entscheiden. 44 Dürfte dieses im Rahmen von § 67d Abs. 6 StGB die
Erledigung tragend auf die Fehleinweisung stützten, wäre dies aus den be-
reits an anderer Stelle ausführlich dargelegten Gründen 45 mit der materiellen
Rechtskraft des die Maßregel nach § 63 StGB anordnenden Urteils unver-
einbar. § 67d Abs. 6 StGB bildet entgegen Berg/TiViedner46 jedenfalls keine
durch Gesetz angeordnete vollständige Durchbrechung der materiellen
42 OLG Dresden NStZ 2008, 630 sowie bereits zuvor OLG Dresden NStZ-RR 2005, 338.
43 BT-Drs. 15/2887, S. 14~ siehe auch BVerfG NJW 1995, 2405, 2406~ U. Schneider
(Fn. 22), 650, die behauptet, aus tatsächlichen Gründen könne ohnehin nur über den gegenwär-
tigen Zustand des Untergebrachten entschieden werden. Die im "Erledigungsverfahren" einge-
setzten Sachverständigen scheinen anderer Ansicht zu sein, wie sich aus den zahlreichen
veröffentlichten Entscheidungen ergibt, in denen ausdrücklich bereits das ursprüngliche Fehlen
der Anordnungsvoraussetzungen - regelmäßig das Fehlen eines dauerhaften psychischen
Defekts in1 Sinne von § 20 StGB - als Grund für die Erledigung angegeben wird~ etwa OLG
Dresden NStZ-RR 2005, 338~ OLG Frankfurt NStZ 1993, 252~ LG Magdeburg v. 30.11.2007 -
50 StVK 218/07 BeckRS 2008 03855~ vgl. auch LG Landau v. 10.5.2007 - 1 StVK 86/06
BeckRS 2007 10771 ~ vgl. auch die Ergebnisse der empirischen Untersuchung von Bechtoldt
(Fn. 1), S. 149 ff. sowie die Angaben von Müller-Jsberner/GraßI/Gliemann (Fn. 23), 320 f.
44 Insoweit zutreffend Berg/Wiedner (Fn. 12), 435~ U. Schneider (Fn. 22), 650.
45 Radtke (Fn. 2), 306-315.
46 Fn. 12, 439.
706 Henning Radtke
StGB. Diese Beschränkung entspricht nicht nur dem Wortlaut "nicht mehr
vorliegen" und der Intention des Reformgesetzgebers, 52 sondern harmoniert
auch mit der Rechtskraft des die Maßregel anordnenden Urteils. Lediglich
dessen Vollstreckungswirkung wird durch eine Erledigungserklärung wegen
des Fehlens der Maßregelvoraussetzungen im Zeitpunkt dieser Erklärung
aufgehoben. Die Erledigung kann dementsprechend rechtlich nicht auf die
Fehleinweisung als solche gestützt werden. Allerdings kommt dem Vorlie-
gen einer Fehleinweisung dennoch Bedeutung für die Erledigungserklärung
zu. Denn sowohl fur die Frage des aktuellen Vorhandenseins eines nicht nur
vorübergehenden psychischen Defekts im Sinne von §§ 20, 21 StGB als
auch für die Frage der auf einem solchen Defekt beruhenden zukünftigen
Gefährlichkeit des (bisher) Untergebrachten ist es bei der Erhebung der
Anknüpfungstatsachen für eine Erledigungserklärung bedeutsam, ob der
Untergebrachte eine Anlasstat bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 63
StGB begangen hat oder nicht. 53 Kann im Erledigungsverfahren das Fehlen
der (tatsächlichen) Bedingungen für eine Unterbringung in einem psychiat-
rischen Krankenhaus bereits für den Tat- und Anordnungszeitpunkt festge-
stellt werden, ergibt sich daraus, dass auch im aktuell, für die Erledigungs-
erklärung maßgeblichen Zeitpunkt die Vollzugsvoraussetzungen der
Maßregel gemäß § 63 StGB nicht gegeben sind. Seine Erledigungserklärung
muss das Vollstreckungsgericht aber auf Letzteres stützen; lediglich bei der
Begründung für das Fehlen der Vollzugsvoraussetzung im Entscheidungs-
zeitpunkt des Vollstreckungsgerichts darf auf die Anknüpfungstatsache
Fehleinweisung - vergröbernd formuliert - zurückgegriffen werden. Die
Erledigung ist selbst dann auszusprechen, wenn aus tatsächlichen Gründen
zu Unrecht ein relevanter Defektzustand bei der Anlasstat angenommen
worden ist, sich im Erledigungsverfahren jedoch das aktuelle Vorliegen
eines anderen Defektzustandes, der ebenfalls die zukünftige Gefährlichkeit
des Täters begründet, herausstellt. 54 Anderenfalls würde ohne rechtliche
Grundlage eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ohne
eine durch den ursprünglich angenommenen Defektzustand hervorgerufene
Anlasstat zugelassen. Auf der Grundlage der hier entwickelten Deutung der
Bedeutung von Fehleinweisungen für die Erledigungserklärung nach § 67d
Abs. 6 StGB tritt in den fraglichen Konstellationen mit der Beendigung des
Vollzuges qua Erledigung die Führungsaufsicht gemäß § 67d Abs. 6 S.2
StGB ein, wenn und soweit nicht ausnahmsweise nach § 67d Abs. 6 S. 3
StGB vorgegangen wird. Die vom OLG Dresden vertretene Auffassung, die
55 OLG Dresden NStZ 2008, 630 sowie bereits zuvor OLG Dresden NStZ-RR 2005, 338.
56 Siehe die Sachverhalte von OLG Frankfurt v. 3.6.2005 - 3 Ws 298/05, NStZ-RR 2005,
252 (lediglich LS) = R & P 2006, 151 = StV 2007, 430~ OLG Frankfurt v. 21.5.2008 - 3 Ws
344/08, NStZ-RR 2008, 324-326.
57 Nachw. wie Fn. zuvor; siehe auch LG Marburg NStZ-RR 2007,28 f.
58 Koller FS Venzlaff (Fn. 8), S. 256~ ders. R & P 2007, 61 f.~ Schalast R & P 2007, 69, 70~
Fischer (Fn. 9), § 67d Rn. 23~ Veh (Fn. 3), § 67d Rn. 30~ BöllingerlPollähne (Fn. 9), § 67d
Rn. 56~ Stree (Fn. 35), § 67d Rn. 14~ SSW-StGB/Jehle (Fn. 11), § 67d Rn. 24.
59 OLG Frankfurt NStZ-RR 2008, 324, 325 f.
Die Erledigungserklärung im Maßregelvollzug 709
68 Gewichtige Zweifel an kategorialen Unterschieden äußert H. Jung (Fn. 5), S. 35 ff; siehe
auch bereits MK-Radtke (Fn. 3), Vor §§ 38 ff Rn. 70.
69 BVerfGE 20,323,331; BVerfGE 50,205,214 f; BVerfGE 54, 100, 108; BVerfGE 96,
249; überblicksartig MK-Radtke (Fn. 3), Vor §§ 38 ff Rn. 14 f
Die Erledigungserklärung im Maßregelvollzug 711
73 Zum Diskussionstand Frisch ZStW 102 (1990), 343, 364 ff.; Meier (Fn. 1), S. 236 f.;
Streng (Fn. 5), Rn. 281-283; MK-Van Gemmeren (Fn. 3), § 61 Rn. 2; MK-Radtke (Fn. 3), Vor
§§ 38 ff. Rn. 68.
74 BVerfGE NStZ-RR 2007,29.
Die Erledigungserklärung im Maßregelvollzug 713
ren Vollzug der Strafe zu. Denn das Wiederaufnahmeverfahren steht nicht
zur Verfügung, so dass prozedural betrachtet schon gar kein Verfahren zur
Verrugung steht, in dem die fehlerhafte Subsumtion durch den Tatrichter
nach Rechtskraft des Urteils überprüft werden kann. Im Fall der allein auf
fehlerhafter Subsumtion beruhenden Maßregelanordnung verhält es sich
insoweit anders, als das Gebot der (permanenten oder wenigstens periodi-
schen) Überprüfung der Vollzugsvoraussetzungen ein prozedurales Instru-
ment selbst für die erneute Prüfung der möglichen Fehlerhaftigkeit der
Maßregel bereit hält. Das allein dürfte jedoch ohne eine eindeutige Rege-
lung des Gesetzes, die § 67d Abs. 6 StGB nicht ist, nicht ausreichen, um
eine Korrektur von Subsumtionsfehlern bei auf Strafe lautenden Urteilen
auszuschließen, sie bei Maßregeln anordnenden Urteilen aber zu gestatten.
Unter der - prozedural betrachtet eben gerade nicht gesicherten - Prämisse
des feststehenden Subsumtionsfehlers wird dem zu Strafe Verurteilten zu-
gunsten der Rechtssicherheit ein Sonderopfer auferlegt, das sich nicht von
dem des mit einer Maßregel Belegten unterscheidet. Wenn der Gesetzgeber
rur die Fehleinweisung aufgrund von Rechtsfehlern bei § 63 StGB die Be-
endigung des Vollzugs durch Erledigungserklärung nach § 67d Abs. 6 StGB
gestatten will, bedarf es dafür einer Klarstellung im Gesetz. Bevor ein sol-
cher Schritt gegangen wird, sollte der Gesetzgeber jedoch erwägen, ob es
rur den relevanten Kontext verfassungsrechtlich ausreichend tragfähige
Gründe rur eine Differenzierung zwischen den aufgrund bloßer Subsumti-
onsfehlern schuldig Gesprochenen und zu Strafe Verurteilten sowie den mit
einer Maßregel Belegten im Sinne der hier aufgeworfenen Fragen gibt.
Die Sünden der Rechtspolitik bei den Änderungen
des Rechts der Sicherungsverwahrung ohne
Rücksicht auf kriminologische Erkenntnisse
AXEL BOETTICHER
I. Einleitung
In seinem Beitrag in der Zeitschrift rur die gesamte Strafrechtswissen-
schaft (ZStW) aus 1982 1 fiel bei Heinz Schöch, damals Professor in Göttin-
gen und Vertreter der modemen Kriminologie, die kriminologische Würdi-
gung des gerade gefeierten 100. Geburtstags des Marburger Programms und
des großen Franz von Liszt eher "reserviert" aus. In dem Beitrag wandte
sich Schöch insbesondere energisch gegen Franz von Liszt scheinrationalis-
tische Einteilung in "Gelegenheitstäter" und "unverbesserlichen Gewohn-
heitsverbrecher." Er war auch nicht einverstanden mit dem wenig tragfähi-
gen Verweis auf die anthropologischen Forschungsergebnisse von
Lombroso und Ferri und stritt gegen die sozialdarwinistische Konzeption
von Liszts und dessen Wiener Lehrer Wahlberg, den Erfinder des auch heute
noch in § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB verwendeten Begriffs des "Hanges." Heinz
Schöch war damals voller Hoffnung, dass insbesondere der Typus des "un-
verbesserlichen Gewohnheitsverbrechers", wie er im Gewohnheitsverbre-
chergesetz vom 24. November 1933 erstmals gesetzlich festgeschrieben
wurde, im neuen Strafrecht nach dem Krieg nie mehr zum Gegenstand kri-
minologisch fundierter Sanktionspolitik gemacht werden würde. 1982 konn-
te Heinz Schöch vermelden, dass die Sicherungsverwahrung, die an die
Stelle der von Franz von Liszt propagierten "Strafknechtschaft auf unbe-
stimmte Zeit" getreten war, vor allem unter dem Einfluss kriminologischer
Forschungsergebnisse so stark zurückgedrängt worden war, dass sie 1980
nur 41 mal verhängt worden war. Die Zahl der Sicherungsverwahrten war
tatsächlich im Jahr 1980 auf nur noch 208 Gefangene zurückgegangen.
Heinz Schöch widersprach Franz von Liszt deshalb auch insoweit vehement,
als dieser bei Rückfalltätern "Besserung im Sinne ....der Anpassung an die
Forderungen des gesellschaftlichen Lebens" ausgeschlossen sah, "wenn der
Verbrecher das 21. Lebensjahr bei Begehung der Tat überschritten" habe. 2
Heinz Schächs Vision war damals, dass es weder möglich noch in Zukunft
zu erwarten sei, dass die kriminologische Prognoseforschung Verfahren zur
Verfügung stellen würde, die das Stigma der Unverbesserlichkeit rechtferti-
gen würden. 3 Wolfgang Naucke war da in seinem Beitrag in der ZStW zur
Kriminalpolitik des Marburger Programms pessimistischer: 4 "Nur in eini-
germaßen ruhigen Zeiten finden sich Gelegenheitstäter und Gewohnheitstä-
ter, verbesserliche und unverbesserliche Täter nebeneinander. In unruhigen,
politisch und militärisch bewegten Zeiten herrscht der Unverbesserliche
vor. In diesen Zeiten ist jeder Abweichende ein potentieller unverbesserli-
cher Täter"!
tet und nicht therapierbar eingestuft, ist er wegen des hohen Rückfallrisikos
bis an sein Lebensende zu verwahren. Frühzeitige Entlassung und Haftur-
laub sind ausgeschlossen." In Polen wurde es gerade beschlossen, in Frank-
reich heftig debattiert, dass Richter gegen Sexualstraftäter nach Verbüßung
einer Strafe die "chemische Zwangskastration" anordnen dürfen sollen.
12 BR-Drs. 876/96.
13 § 66 Abs. 3 S. 1 lautet: "Wird jemand wegen eines Verbrechens oder wegen einer Straftat
nach den §§ 174 bis 174c, 176, 179 Abs. 1 bis 3, §§ 180, 182,224,225 Abs. 1 oder 2 oder
nach § 323a, soweit die im Rausch begangene Tat ein Verbrechen oder eine der vorgenannten
rechtswidrigen Taten ist, zu zeitiger Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so
kann das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnen, wenn der Täter wegen
einer oder mehrerer solcher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon einmal zu
Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist und die in Absatz 1 Nr. 2 und 3
genannten Voraussetzungen erfüllt sind."
720 Axel Boetticher
14 Schöch NStZ 2000, 138 Anm. zu BGH Urt. vom 14.07.1999 - 3 StR 209/99 -, NJW
1999,3723.
15 BVerfGE 109, 133 = NJW 2004,739 ff.
Die Sünden der Rechtspolitik 721
16 EGMR file:///C:/DOKUME-I/AXELBE-l/LOKALE-l/Temp/view.htm.
17 https://ssl.bmj.de/enid//Pressestelle/Pressemitteilungen_58.html.
18 Pressemitteilung des EGMR Nr. 382 vom 11. Mai 2010.
722 Axel Boetticher
Solche Anstrengungen hätte man aber vor allem damit erklären müssen,
dass eine Gesellschaft nicht jeden Täter auf Dauer wegsperren kann und
eine gelungene Resozialisierung der beste Opferschutz ist.
Es war wiederum ein Einzelfall, der die Mehrheit der Abgeordneten weg-
schauen ließ. Diesmal war es der Fall Martin P., der iIn April 2004 gerade
entlassen worden war und in München einen Sexualrnord an einem Kind
beging. Obwohl die Anwendung der Sicherungsverwahrung seit 1998 schon
dreimal erleichtert worden war, wurde von Bayern aus nach dem neuen
Instrument der bundesweit geltenden nachträglichen Sicherungsverwahrung
gerufen. Dafür machte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom
10. Februar 2004 19 den Weg frei. Der Zweite Senat hatte zwar den "Auf-
trag" gegeben, zu prüfen, "ob und in inwieweit Anlass zu gesetzgeberischen
Einschreiten besteht." Eine Analyse der Lage durch den Gesetzgeber erfolg-
te nicht. Im Gegenteil. In den weiteren Urteilsgründen wurde der Gesetzge-
ber geradezu ennuntert, die nachträgliche Sicherungsverwahrung einzufüh-
ren, da diese ja "nur" eine präventive Maßregel und keine (zusätzliche)
Strafe sei. Bei der Abwägung zwischen den Interessen der Allgemeinheit
müsse das Freiheitsgrundrecht des Einzelnen "im Einzelfall" zurücktreten.
Die Rechtspolitiker nahmen ohne nähere Prüfung ein Gesetz hin, das im
Bundesjustizministerium innerhalb von nur zehn Tagen nach den Leitlinien
der Entscheidung entwickelt wurde. Später stellte sich das Gesetz in der
Praxis als ein in sich nicht stimmiges, teilweise widersprüchliches, immer
wieder neue Lücken aufreißendes Instrument heraus.
Vergeblich hatte der Kriminologe Jörg Kinzig in der Anhörung vor dem
Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages vom 5. Mai 2004 20 zum wie-
derholten Male ausgeführt, dass die vierte Ausweitung in Fonn der isolier-
ten nachträglichen Sicherungsverwahrung sich kriminalpolitisch nur dann
begründen lasse, wenn in den letzten Jahren ein Anstieg schwerer Strafta-
ten, insbesondere von die Bevölkerung besonders bewegender Sexualstraf-
taten, zu verzeichnen gewesen wäre. Dies war nicht der Fall. Die Häufig-
keitszahl, d.h. die Zahl der bekannt gewordenen Fälle auf 100.000
Einwohner, war im Jahr 1975 für alle Sexualstraftaten, fur den sexuellen
Missbrauch, fur die Vergewaltigung bzw. sexuelle Nötigung wie auch fur
den Sexualrnord (zum Teil deutlich) höher als im Jahr 2002. Es hörte ihm
aber niemand zu!
rungen. Was nützt eine Sozialtherapie, die in den Maßnahmen der Locke-
rungen nicht ausprobiert wird? Wie will man diese Männer ohne Lockerun-
gen entlassen?
Ihr eigenes Risiko versuchen die Rechtspolitiker durch die Anordnung auf
Einholung von immer mehr Prognose-Gutachten zu verringern. Dabei miss-
trauen sie eigentlich den Sachverständigen (Gerhard Schröder sprach ver-
ächtlich von den Kartellen der Gutachter). Schätzungen zufolge hat sich der
Bedarf an Prognose-Gutachten insgesamt verzehnfacht. So viele Gutachter,
die rur jedes Verfahrensstadium ein schnelles, kostengünstiges und richtiges
Gutachten erstellen, gibt es aber gar nicht. Im Gegenteil, an den Universitä-
ten werden die notwendigen Lehrstühle, die zur Aus- und Fortbildung drin-
gend benötigt werden, abgebaut, weil Prognoseforschung Sache der Justiz
ist.
Auch bei den Gutachtern ist der öffentliche Druck gewachsen. Aus der
Sicht der Rechtspolitiker und der Öffentlichkeit ist ein gutes Gutachten
jenes, das eine Entlassung des Verurteilten ablehnt. Stellt ein Gutachter eine
positive Prognose, wird der Verurteilte entlassen und begeht eine neue Tat,
rufen Rechts- und Sicherheitspolitiker sofort nach schwarzen Listen für
Gutachter und nach Ausschluss von weiteren Gutachtenaufträgen.
Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 5. Febru-
ar 2004 25 den Rechtspolitikern den Maßstab für gesetzliche Maßnahmen für
die Entlassung aus der Sicherungsverwahrung und die Anordnung der nach-
träglichen Sicherungsverwahrung auf den Weg mitgegeben: "Die Unsicher-
heiten der Prognose, die Grundlage der Unterbringung ist, haben Auswir-
kungen auf die Mindestanforderungen an Prognosegutachten und deren
Bewertung im Zusammenhang mit dem Übermaßverbot, beseitigen aber
weder die Eignung noch die Erforderlichkeit des Freiheitseingriffs. Progno-
seentscheidungen bergen stets das Risiko der Fehlprognose, sind im Recht
aber gleichwohl unumgänglich. Die Prognose ist und bleibt als Grundlage
jeder Gefahrenabwehr unverzichtbar, mag sie auch im Einzelfall unzuläng-
lich sein (Rn. 101) ... Die Qualität der Prognose hängt entscheidend von der
Breite der Prognosegrundlage ab. Die Prognose verliert an Plausibilität,
wenn sie nur einen schmalen Ausschnitt der Wirklichkeit zur Grundlage
macht" (Rn. 197). Der Zweite Senat hat auch bis in Einzelne gehende Vor-
gaben rur die Qualität forensischer Gutachten aufgestellt: "Neben dem Ge-
bot der Transparenz gilt für das psychiatrische Prognosegutachten das Ge-
bot hinreichend breiter Prognosebasis. Um dem Gericht eine Gesamt-
würdigung von Tat und Täter (vgl. § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB) zu ermöglichen,
muss das Gutachten verschiedene Hauptbereiche aus dem Lebenslängs- und
-querschnitt des Verurteilten betrachten. Zu fordern ist insbesondere eine
26 Stellungnahme zur Anhörung des Rechtsausschusses am 05.Mai 2004 zum Thenla Siche-
rungsverwahrung, S. 2 f.
27 Vgl. ausführlich Boetticher FS Widmaier, 2009, S. 871,885 f.
28 Gesetzentwurf des Landes Mecklenburg-Vorpommern vom 7. Dezember 2005 (BR-Drs.
876/05).
726 Axel Boetticher
29 Gesetzesantrag des Freistaates Sachsen vom März 2009 (unveröffentlicht, noch keine Nr.
für eine BR-Drs. vergeben).
Die Sünden der Rechtspolitik 727
durch welches das Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt oder
einer solchen Gefahr ausgesetzt worden ist, vor Ende des Vollzugs dieser
Jugendstrafe Tatsachen erkennbar, die auf eine erhebliche Gefährlichkeit
des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen, so kann das Gericht
nachträglich die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung anordnen,
wenn die Gesamtwürdigung des Verurteilten, seiner Tat oder seiner Taten
und ergänzend seiner Entwicklung während des Vollzugs der Jugendstra-
fe ergibt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut Straftaten der vor-
bezeichneten Art begehen wird."
Mit dieser Vorschrift wird endlich das ausgesprochen, was man sich im
Erwachsenenrecht bisher nicht getraut hat zu sagen, was aber eigentlich
immer gewollt war: "Warum lässt der Gesetzgeber vor Ende der Strafzeit
nicht einfach eine erneute Entscheidung zur Sicherungsverwahrung zu, bei
der die Gefährlichkeit und die notwendigen formellen Voraussetzungen
geprüft werden, sondern verlangt nach der Verurteilung "erkennbar gewor-
dene Tatsachen." "Auch unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten er-
scheint es vorzugswürdig, den Zeitpunkt von Hang und Gefährlichkeit so zu
legen, dass eine möglichst umfassende Gesamtwürdigung aller positiven
und negativen Umstände möglich ist. Das ist jedoch nicht der Urteils- son-
dern der potentielle Entlassungszeitpunkt."35
Das soll aber mit den neuesten Vorschlägen endlich erreicht werden. In
dem vom Freistaat Bayern gemeinsam mit den anderen B-Ländern (d.h. den
CDU-geführten Ländern) erarbeiteten Entwurf zur "Harmonisierung des
Rechts der Sicherungsverwahrung" von Oktober 2009 sollen die "nova" bei
den Ersttätern auch im Erwachsenenrecht überflüssig werden. 36 Es soll
damit erfüllt werden, was politisch gewollt ist: "Die Sicherungsverwahrung
muss jederzeit möglich sein."37 Die Ersttäterregelung des § 66b Abs. 2
StGB soll an die Konstruktion des § 7 Abs. 2 JGG angepasst werden und
auch § 66b Abs. 3 StGB - nach dem die Überfiihrung vom Maßregelvollzug
in die Sicherungsverwahrung möglich ist, soll zukünftig gänzlich ohne
"nova" auskommen:
§ 66b Abs. 2 StGB soll lauten:
38 Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den Beitrag von }te/teslA/ex verwiesen. In Vorbe-
reitung ist eine Untersuchung bei Prof Jürgen L. Müller von der Universität Göttingen.
732 Axel Boetticher
deo Bis zum 30. Juni 2008 waren 23 der 67 Haftentlassenen erneut rechts-
kräftig verurteilt worden, davon neun zu Geldstrafen, vier zu Freiheitsstra-
fen mit Bewährung und zehn zu Freiheitsstrafen ohne Bewährung. Auch
unter diesen zehn befanden sich sechs, die wegen eher geringfügiger Dieb-
stahls- oder Drogendelikte erneut verurteilt worden waren. Lediglich drei
Delikte waren Gewaltdelikte gegen Personen, die jene Intensität erreichten,
die Voraussetzung für den Antrag auf Anordnung der nachträglichen Siche-
rungsverwahrung waren. 39 Versuche, eine Evaluation über die Kriminologi-
sche Zentralstelle in Wiesbaden zu organisieren, haben bisher noch keinen
Erfolg gehabt. Hört jetzt endlich jemand zu, nachdem der EGMR von außen
die deutsche Regelung und die Durchführung der Sicherungserwahrung in
Frage gestellt hat?
I. Einleitung
Vor dem Hintergrund der Einruhrung des "Gesetzes über die Unterbrin-
gung besonders rückfallgefährdeter Straftäter" (StrUBG) in Baden-
Württemberg im Frühjahr 2001 hat der Jubilar betont, dass die rur eine
weitere Unterbringung nach vollständiger Strafvollstreckung verlangte
Prognose einer erheblichen gegenwärtigen Gefahr durch den Täter allein
aufgrund des Vollzugsverhaltens praktisch unmöglich sei. 1 Er nahm dies
zum Anlass, sich noch einmal generell mit der Leistungsfähigkeit, Seriosität
und Selbstbeschränkung der Kriminalprognostik auseinander zu setzen, und
kam er zu dem Ergebnis, dass in den letzten zwanzig Jahren zwar Fort-
schritte in der kriminologischen Prognoseforschung zu verzeichnen seien, 2
er bezweifelte aber, dass aus dem Vollzugsverhalten von Strafgefangenen
genügend valide Kriterien für eine "Verschlechterungsprognose" abgeleitet
werden könnten. 3 Als Alternative zu einer nachträglichen Unterbringung
sah er die Möglichkeit der Anordnung von Sicherungsverwahrung bei der
erneuten Verurteilung nach einem erheblichen Rückfall, wo er sie für gebo-
ten und rechtlich zulässig hielt. 4 Für Grenzfälle betrachtete er auch die 2002
eingeführte vorbehaltene Sicherungsverwahrung (§ 66a StGB) als vertretba-
re Zwischenlösung und kam deshalb zu dem Schluss, die isolierte nachträg-
liche Sicherungsverwahrung würde sich mangels prognostischer Fundierung
höchstwahrscheinlich als Akt der symbolischen Gesetzgebung erweisen.
Die Entwicklung seitdem gibt ihm teilweise recht, allerdings nur, weil die
2004 auf Anregung des Bundesverfassungsgerichts eingeführte nachträgli-
che Sicherungsverwahrung auf Bundesebene (§ 66b StGB) infolge der re-
erst am Ende der Haft aber endgültig über die Anordnung zu entscheiden.
Die rot-grüne Bundesregierung hatte die vorbehaltene Sicherungsverwah-
rung als Konzession an die von Bundesländern mit CDU- oder CSU-
Regierung wiederholt erhobene Forderung nach Einführung einer nachträg-
lichen Sicherungsverwahrung betrachtet. Da von dieser Regelung Gefange-
ne, die vor dem Inkrafttreten des § 66a StGB bereits verurteilt waren, nicht
erfasst werden konnten, verstummten die Forderungen nach Einführung
einer nachträglichen Sicherungsverwahrung jedoch nicht. Die Bundesländer
Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Niedersach-
sen verabschiedeten zwischen 2001 und 2003 vorsorglich eigene Straftäter-
Unterbringungsgesetze auf polizeirechtlicher Grundlage. Das Bundesverfas-
sungsgericht entschied zwar im Urteil vorn 10.2.2004,11 dass die Länder
keine Gesetzgebungskompetenz für einen solchen Eingriff in das Strafrecht
hätten, legte dem Bundesgesetzgeber aber nahe, eine gesetzliche Grundlage
für die nachträgliche Anordnung von Sicherungsverwahrung von bereits
Verurteilten zu schaffen, um deren Entlassung aus dem Justizvollzug zu
vermeiden.
Mit der Einführung von § 66b StGB durch das Gesetz zur Einführung der
nachträglichen Sicherungsverwahrung 12 wird diesem kriminalpolitischen
Anliegen seit dem 29.07.2004 Rechnung getragen, aber der gesetzgeberi-
sche Elan war damit noch nicht erloschen. Nachdem die Rechtsprechung
die neu eingeführte Vorschrift sehr restriktiv interpretiert hatte, wurden im
Frühjahr 2007 die Regelungen zur nachträglichen Sicherungsverwahrung
auf sog. Altfälle, bei denen anlässlich der Verurteilung die Anordnung von
Sicherungsverwahrung aus rechtlichen Gründen unzulässig gewesen wäre,
erstreckt. 13
Schließlich wurde im Juli 2008 durch das Gesetz zur Einführung der
nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstraf-
recht 14 trotz heftiger Kritik der Fachäffentlichkeit die nachträgliche Siche-
rungsverwahrung im Jugendstrafrecht verankert. Derzeit werden die Ver-
längerung der "Rückfallverjährungsfrist" in § 66 Abs. 4 S. 3 StGB, eine
Erleichterung der Anordnungsvoraussetzungen bei Heranwachsenden 15 und
das Schließen von "Schutzlücken im geltenden Recht, wie sie bei Strafver-
fahren in jüngster Zeit aufgetreten sind" 16 diskutiert. Am 5.11.2009 hat sich
die Herbstkonferenz der Justizministerinnen und Justizminister in diesem
Zusammenhang mit einern Gesetzentwurf zur "Harmonisierung des Rechts
11 BVerfGE 109,190.
12 BGBL I, S. 1838.
13 BGBL I, S. 513.
14 BGBL I, S. 1212.
15 Focus 9.8.2009.
16 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP vom 26.10.2009,107.
736 Thomas Feltes I Michael Alex
hof bestätigt worden sei, sei der Bundesregierung bislang nicht bekannt. Im
August 2008 21 gab der Bundesgerichtshof erstmalig einer Revision der
Staatsanwaltschaft statt, in der u.a. gerügt worden war, dass in einem Ver-
fahren gegen einen Heranwachsenden, auf den Erwachsenenstrafrecht an-
gewendet worden war, die Prüfung eines Vorbehalts der Sicherungsverwah-
rung gemäß § 106 Abs. 3 JGG unterlassen worden war. Bei dem zugrunde
liegenden Fall handelte es sich um den sog. "Foltermord" in der Justizvoll-
zugsanstalt Siegburg in Nordrhein-Westfalen im Jahre 2006, bei dem ein
Jugendstrafgefangener von den übrigen drei Zelleninsassen zu Tode gequält
worden war.
Noch restriktiver als mit der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung sind
Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht mit der nachträglichen
Sicherungsverwahrung gemäß § 66b StGB umgegangen. Zwischen Mai
2005 und Mai 2009 war der Bundesgerichtshof mit 57 Verfahren befasst,
die unterschiedliche Probleme der Anordnung der nachträglichen Siche-
rungsverwahrung betrafen. In lediglich 13 Fällen bestätigte er die nachträg-
liche Sicherungsverwahrung. 22
Dass Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht mehrheitlich die
unterinstanzlichen Entscheidungen zur nachträglichen Anordnung von Si-
cherungsverwahrung aufhoben, beruht vor allem auf drei Faktoren. Auf der
formellen Ebene legten die Obergerichte einen hohen Maßstab bezüglich
der erst nach der Verurteilung erkennbaren Tatsachen ("nova") und der
Erheblichkeit dieser neuen Tatsachen für die Beurteilung der künftigen
Gefährlichkeit des Verurteilten an. Materiellrechtlich forderten sie eine
individuelle Gefährlichkeitsprognose, aus der eine "erhöhte Wahrschein-
lichkeit für die schwere Schädigung von Personen" ableitbar sein müsse,
wobei diese erhebliche Gefahr "gegenwärtig" sein müsse. 23 Damit wurde
den Gerichten und Sachverständigen eine schwierige Aufgabe auferlegt, die
aber auch den Grenzen einer sachgerechten Kriminalprognose Rechnung
trug. Eine Voraussage für das Verhalten eines Menschen in ferner Zukunft
ist unmöglich, weil die künftig auf den Betroffenen einwirkenden Einflüsse
nicht bekannt sind. 24
Am 22.06.2009 ordnete das Landgericht Regensburg erstmals in Deutsch-
land die nachträgliche Sicherungsverwahrung gemäß § 7 JGG nach Ablauf
einer zehnjährigen Jugendstrafe an.
Die in der Fachliteratur erhobenen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit
der Sicherungsverwahrung 25 und insbesondere der nachträglichen Siche-
rungsverwahrung (Stichworte: Bestimmtheitsprinzip, Art. 103 Abs. 2 GG;
Mehrfachbestrafung, Art. 103 Abs. 3 GG; unmenschliche Behandlung, Art.
104 Abs. 1 GG; Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Art. 20 Abs. 3 GG;
Rückwirkungsverbot, Art. 103 Abs. 2 GG)26 teilte die Rechtsprechung
27
nicht . Eine die Bundesrepublik verurteilende Entscheidung des Europäi-
schen Gerichtshofs zu dem deutschen Instrument der Sicherungsverwah-
rung liegt mittlerweile vor. 28
v. Kriminologische Probleme
Unter kriminologischen Gesichtspunkten steht und fällt die ohnehin prob-
lematische präventive Unterbringung vermeintlich gefährlicher Menschen
mit der Zuverlässigkeit, mit der ihr künftiges Verhalten vorhergesagt wer-
den kann. Für das Bundesverfassungsgericht war diese Frage jedoch zweit-
rangig. Vor der Entscheidung vom 5.2.2005 zur Aufhebung der 10-
Jahresfrist bei der erstmaligen Anordnung der Sicherungsverwahrung hatte
das Bundesverfassungsgericht zwei Sachverständige aus der forensischen
Psychiatrie zur Prognosesicherheit befragt. Auf Grundlage dieser Aussagen
und unter Berücksichtigung von Literatur zur Problematik kam das Gericht
zu dem Ergebnis, dass die Unsicherheiten der Prognose Auswirkungen auf
die Mindestanforderungen an Prognosegutachten und deren Bewertung im
Zusammenhang mit dem Übermaßverbot hätten, aber weder die Eignung
noch die Erforderlichkeit des Freiheitseingriffs beseitigen könnten. "Die
Prognose ist und bleibt als Grundlage jeder Gefahrenabwehr unverzichtbar,
mag sie auch im Einzelfall unzulänglich sein." Zur Bestätigung dieses Er-
gebnisses verweist das Bundesverfassungsgericht darauf, dass sich in der
Praxis der forensischen Psychiatrie das Wissen um die Risikofaktoren in
den letzten Jahren erheblich verbessert habe, so dass über einen Teil der
Delinquenten relativ gute und zuverlässige prognostische Aussagen ge-
macht werden könnten. Auch wenn der Anteil relativ sicherer Prognosen
von den beiden Sachverständigen unterschiedlich hoch angesehen werde,
bilde die Prognose gerade für die seltenen Fälle hochgradiger Gefährlichkeit
eine taugliche Entscheidungsgrundlage. 33
In der wissenschaftlichen Literatur wird die Frage nach der Prognosesi-
cherheit wesentlich kontroverser diskutiert. Wie Untersuchungen gezeigt
haben, ist das Vertrauen in die Zuverlässigkeit von Kriminalprognosen
allenfalls gerechtfertigt im Hinblick auf die zutreffende Identifizierung von
später tatsächlich aufgefallenen Wiederholungstätern, nicht aber bezüglich
nicht erneut aufgefallener Probanden (also Nicht-Wiederholungstäter). Die
Identifizierung gefährlicher Wiederholungstäter gelingt nach wie vor nur
auf Kosten einer großen Zahl von ungefährlichen Menschen, die fälschlich
rur gefährlich gehalten werden. 34 Dafür gibt es mehrere Ursachen. Stich-
wortartig seien genannt die Problematik der sog. Basisrate bei seltenen
gefährlichen Ereignissen, die Überschätzung der Zuverlässigkeit von Prog-
noseskalen wie der "Psychopathy-Check-List (PCL)", dem "Sexual Violen-
ce Risk (SVR-20)" oder dem "Historical Clinical Risk (HCR-20)" und die
empirischen Befunde zur Rückfallhäufigkeit nach überraschender Entlas-
35 Vgl. im Einzelnen Kin=ig Die Legalbewährung gefährlicher Rückfalltäter, 2008, S. 134 ff.
sowie Feltes StV 2000, 281-286 und ders. in: Hitzler/Pfadenhauer (Hrsg.), Gegenwärtige
Zukünfte. Interpretative Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Diagnose und Prognose, 2005,
S. 144-168.
742 Thomas Feltes / Michael Alex
ersten Jahr. In der ersten Hälfte des zweiten Jahres des Rückfallzeitraumes
wurden weitere 250/0 rückfällig, danach sanken die Anteile deutlich. Das
Rückfallrisiko sank mit der Dauer des rückfallfreien Intervalls. Er kam zu
dem Schluss, dass generell eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass Ge-
walttäter, die im Rückfallintervall von vier Jahren nicht erneut straffällig
wurden, dies auch danach nicht mehr werden. Bei sexuellen Gewaltdelikten
und Tötungen vollzog sich die Entwicklung langsamer, aber auch bei sexu-
eller Gewalt fanden beinahe 80% der Rückfälle in den ersten zwei Jahren
des beobachteten Risikozeitraumes statt, im vierten Jahr noch 50/0. 47
Im Hinblick auf Entlassungen aus dem Maßregelvollzug zeigt Seifert auf,
dass gerade der Übergang zwischen kustodialer Einrichtung und ambulanter
Betreuung als besonders sensible Phase gilt, in der es überrepräsentativ
häufig zum Scheitern der Wiedereingliederung kommt. In der von ihm
vorgestellten "Essener Prognosestudie" scheiterte bei 21,60/0 der aus Maß-
regeleinrichtungen entlassenen forensischen Patienten die Wiedereingliede-
rung in die Gesellschaft. Bei 78% der Stichprobe (n = 255) geschah dies
innerhalb der ersten 2 Jahre nach der Entlassung. 48 Insbesondere die ersten
1 ~ Jahre in Freiheit hält er für besonders bedeutsam und fordert, dass zur
Berücksichtigung von Veränderungen der Lebenssituation in dieser risiko-
vollen Zeit der "soziale Empfangsraum" so gestaltet werden muss, dass er
die Möglichkeit frühzeitiger Intervention bietet, um die Gefahr eines Delikt-
rückfalls zu reduzieren. Unter den gegenwärtigen Bedingungen sieht er das
durch die Führungsaufsicht nicht gewährleistet, sondern nur durch eine
professionelle forensische Nachsorge mit "Helferrunden" und ambulanter
Nachbetreuung.
47 Harrendorfa.a.O., S. 209.
48 Seifert in: Schmidt-QuernheitnlHax-Schoppenhorst: Professionelle forensische Psychiat-
rie, 2. Aufl. 2008, S. 283-292, 287.
748 Thomas Feltes / Michael Alex
Vier Delikte sind Katalogtaten des § 66b StGB, erreichen also die dort ge-
forderte Erheblichkeit für die Integrität der Opfer. Einschränkend ist aller-
dings darauf hinzuweisen, dass erst etwa 30% der Probanden (n=21) vor
mehr als 3 Jahren aus der Haft entlassen worden sind und 6 der 12 Verurtei-
lungen zu unbedingten Freiheitsstrafen auf diese kleine Gruppe entfallen. In
den kommenden Jahren sind also noch einige weitere Rückfälle zu erwar-
ten, in Einzelfällen lassen sich den Unterlagen bereits jetzt neue Haftbefehle
und (nicht rechtskräftige) Urteile entnehmen. 52 In regelmäßigen Abständen
zwischen drei und fünf Jahren müsste deshalb der Abgleich mit dem Bun-
53 StellylThomas Kriminalität im Lebenslauf, 2005, S. 260~ Dahle (Fn. 42), S. 22 ff.~ Feltes
(Fn. 35), 286.
Kriminalpol. und kriminol. Probleme der Sicherungsverwahrung 753
neue Erkenntnis, wobei zu berücksichtigen ist, dass auch einem großen Teil
der vielfach Vorbestraften der Ausstieg aus der Delinquenz gelingt. 54
VII. Fazit
Angesichts der äußerst geringen Quote von Neueinträgen von erheblicher
Bedeutung im Bundeszentralregister ist davon auszugehen, dass die Gefähr-
lichkeit von nach vielen Jahren aus der Haft entlassenen Verurteilten durch
die beigezogenen Sachverständigen weit überschätzt wird. Das kann mit der
Profession der beauftragten Sachverständigen zusammenhängen, deren
Blick weniger auf kriminogene Faktoren als auf psycho-pathologische Per-
sönlichkeitszüge gerichtet ist; es dürfte aber vorrangig auf die trotz aller
methodischen Verbesserungen weiterhin unzureichenden Möglichkeiten
einer zuverlässigen Gefährlichkeitsprognose zurückzuführen sein. Krimi-
nalprognose bleibt ein Feld, dem wissenschaftstheoretisch und methodisch
enge Grenzen gesetzt sind. Statische Faktoren aus der Vergangenheit wer-
den von Veränderungen im Alterungsprozess überlagert, eine gute Entlas-
sungsvorbereitung kann einen sozialen Empfangsraum in einem protektiven
Umfeld aufbauen, vermeintlich protektive Faktoren können nach der Ent-
lassung durch Beziehungsabbrüche oder ähnliche Veränderungen ihre
schützende Wirkung verlieren. 55 Mit der Erarbeitung von Standards für die
Gutachtenerstellung und der Verbesserung des diagnostischen Instrumenta-
riums hat vor allem die Psychiatrie bei den Entscheidungsträgern - bis hin
zum Bundesverfassungsgericht - viel zu hohe Erwartungen an die Zuverläs-
sigkeit der abgegebenen Prognosen geweckt. Allzu vorsichtig sind die Un-
sicherheiten bezüglich der PrognosesteIlung formuliert worden, so dass es
der Politik zuletzt leicht fiel, Sicherungsverwahrung sogar für nach Jugend-
strafrecht Verurteilte einzuführen, nachdem vor gerade einmal 20 Jahren die
wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Abschaffung der unbestimmten Ju-
gendstrafe geführt hatten. Statt immer wieder darauf hinzuweisen, wie vali-
de die neuen Instrumente der Prognosebeurteilung sind, sollten Psychiatrie
und Psychologie viel deutlicher herausstellen, wie hoch die Zahl der "Fal-
schen Positiven" ist, also der Anteil der Ungefährlichen, die mit Rücksicht
auf das vermeintliche Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung unberechtigt
auf Dauer in psychiatrischen Krankenhäusern oder Justizvollzugsanstalten
eingesperrt sind. Ohne die Weigerung, sich an dem symbolischen Spiel der
Politik, "Sicherheit vor Kinderschändern" als Ausgleich für eine allgemeine
Verunsicherung zu missbrauchen, zu beteiligen, machen sich forensische
BERNHARD BÖHM*
I. Einleitung
Gemessen an der Bedeutung, die das Recht der Maßregeln rur Gesetzge-
bung, Rechtsprechung und Betroffene besitzt, fristet es in Forschung und
Lehre eher ein Schattendasein. Heinz Schöch hingegen war und bleibt die-
sem Rechtsgebiet verbunden, wie nicht zuletzt seine Kommentierung der
§§ 61 bis 64 StGB in der aktuellen (12.) Auflage des Leipziger Kommentars
belegt. Ihm ist dieser Beitrag über aktuelle Entwicklungen auf dem Gebiet
der Maßregeln der Besserung und Sicherung gewidmet, das in dem Bemü-
hen der Kriminalpolitik, zur Bekämpfung von Kriminalität den Sicherungs-
aspekt zu betonen, geradezu zwangsläufig im Mittelpunkt steht. Angesichts
der bisweilen überaus rasanten Entwicklung von Gesetzgebung und Recht-
sprechung auf diesem Feld muss sich der Beitrag dabei auf Schlaglichter
beschränken. So wird zunächst ein kurzer Blick zurück auf die Reform der
Führungsaufsicht geworfen,l anschließend der erst jüngst wieder aufgewor-
fenen Frage nach der Zulässigkeit einer Kombination aus lebenslanger Frei-
heitsstrafe und Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
nachgegangen und anhand einer Auswertung der Daten im Bundeszentral-
register die Anordnungspraxis der Gerichte dargestellt. Den Schluss bilden
einige Gedanken, die ein internationaler Vergleich nahe legt.
* Der Verfasser ist Ministerialdirigent im Bundesministerium der Justiz. Der Beitrag gibt
ausschließlich seine eigene Meinung wieder.
1 Zu der Heinz Schöch deutliche Impulse beigesteuert hat, beginnend bei der Grundsatzent-
scheidung, das Instrument der Führungsaufsicht zu reformieren und nicht etwa abzuschaffen~
die Begründung zum Regierungsentwurf (BT-Drs. 16/1993, S. 12) verweist insoweit u. a.
ausdrücklich auf seine Ausführungen in NStZ 1992, 364 ff.
756 Bernhard Böhm
2 BGBL I, S. 513 ff.; nach Einfügung des § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB während des parlamen-
tarischen Verfahrens lautete der amtliche Name "Gesetz zur Reform der Führungsaufsicht und
zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung"; vgl. BT-Drs.
16/4740, S. 4 ff.
3 Für Hessen ging Reckling, Geschäftsführer des DBH e.V., in seiner Stellungnahme als
Sachverständiger vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages etwa von einer Steige-
rungsquote von 130 % im Zeitraum 2000-2005 aus.
4 Strafrechtsausschuss der Konferenz der Justizministerinnen und Justizrninister, Neufas-
sung der Vorschriften über die Führungsaufsicht: Länderauswertung und Empfehlungen (im
Folgenden: Bericht des Strafrechtsausschusses). Unveröffentlichter Bericht, 2004, S. 3 ff.
5 Bundesministerium des InnernlBundesministerium der ]usti= (Hrsg.), 2. Periodischer Si-
cherheitsbericht, 2006, S. 634.
6 Führungsaufsicht gern. § 68f StGB.
7 Für das Jahr 2003, in dem die Arbeiten an dem Reformgesetz endgültig aufgenommen
wurden, weist die Strafverfolgungsstatistik lediglich 41 Fälle aus, für das Jahr 2008 - das
letzte, für das bei Abfassung dieses Beitrags Angaben vorlagen - 23 Fälle, vgl. jew. Statisti-
sches Bundesamt Fachserie 10, Reihe 3, Tabelle 5.5.
8 Zu letzteren vgl. die Voraussetzungen in § 67d Abs. 5 S. 1 StGB.
Ausgewählte Fragen des Maßregelrechts 757
2. Das Reformgesetz
Der Reformentwurf12 basierte auf Vorarbeiten des Strafrechtsausschusses
der Justizministerkonferenz, die ihrerseits auf einer umfassenden Praxisbe-
fragung fußten und die Reformnotwendigkeiten grundlegend neu diskutiert
sehen wollten,13 dies jedoch ausdrücklich als Vorbereitung einer Neufas-
sung, nicht als Schritt zu ihrer Abschaffung. Es galt also, die Führungsauf-
sicht unter Wahrung ihrer ursprünglichen Bestimmung zu reformieren. Sie
soll im Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit Täter mit zweifelhafter Sozi-
9 Vgl. die gesetzlichen Voraussetzungen für die Aussetzung und Unterstellung in § 67b Abs.
1 S. 1 StGB.
10 Vgl. etwa: Resolution der Landesarbeitsgemeinschaft Belvährungshilfe in Niedersachsen,
BewHi 1986, 298. Allerdings dürfte der Hinweis von Schäch NStZ 1992, 369 f zutreffen, dass
das Unbehagen an der Führungsaufsicht älter sei als ihre Existenz und dass ihm tatsächlich
eher die Ablehnung von über die Bewährungshilfe hinausgehenden Überwachungsaufgaben zu
Grunde lag als konkrete schlechte Erfahrungen.
11 So die Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft der Führungsaufsichtsstellen in Nieder-
sachsen BewHi 1987, 213 ff; vgl. auch Schäch a.a.O., 369 f, und Meier Strafrechtliche Sank-
tionen, 2001, S. 240.
12 Hierzu und im Folgenden Schneider, U. NStZ 2007, 441 ff
13 S. Fn. 4.
758 Bernhard Böhm
weisung in § 68b Abs. 2 StGB vorgesehen ist, dort jedoch nicht unter der
Strafbewehrung des § 145a StGB.
Das Gesetz institutionalisierte ferner die forensischen Ambulanzen und
damit ein qualifiziertes Nachsorgeangebot für die Straftätertherapie (vgl.
§ 68b Abs. 2 Sätze 2 und 3 sowie § 68a Abs. 7 StGB) und wollte damit ein
Zeichen für den Auf- und Ausbau von Nachsorgenetzen an die Länder ge-
ben. 24 Dass sich das Bundesgesetz hierauf beschränkte, hat teilweise Kritik
nach sich gezogen, die jedoch angesichts der eindeutigen verfassungsrecht-
lichen Kompetenzverteilung nicht durchgreifen kann. Auch innerhalb der
Länder mussten teilweise noch Fragen der Kompetenzverteilung geklärt
werden, die letztlich auf die Frage der Finanzierung hinaus laufen. Immer-
hin ist inzwischen deutlich erkennbar, dass die Länder sich der Aufgabe
stellen und an der Einrichtung bzw. dem Ausbau eines qualifizierten Nach-
sorgeangebots arbeiten. 25
Erst recht ist diese Interpretation mit dem klar zum Ausdruck gebrachten
Willen des Gesetzgebers nicht zu vereinbaren. Die geltende Fassung hat die
Vorschrift während des parlamentarischen Verfahrens erhalten; die vorste-
hend fett hervorgehobenen Worte wurden vom Rechtsausschuss eingefügt,
um die Möglichkeit einer mehrfachen Anordnung klarzustellen, wobei an
der Sechs-Monate-Frist nichts geändert werden sollte. 32 Zutreffend kann die
Vorschrift also nur so interpretiert werden, dass die Dauer aller Wiederin-
vollzugsetzungen sechs Monate nicht überschreiten darf. 33 Aus Verhältnis-
mäßigkeitsgründen mag das im Einzelfall unangemessen erscheinen,34
gleichwohl ist das Erfordernis einer Befristung auch unter dem Aspekt im
Blick zu behalten, dass das Instrument der stationären Krisenintervention
tatsächlich auf die Intervention in Krisenlagen beschränkt bleiben muss und
nicht etwa zu einer Zwangstherapie "durch die Hintertür" führen darf. 35
42 Zuletzt mit Urt. vom 21. März 2000 - 5 StR 41/00, NStZ 2000, 417. Ob diese Beschrän-
kung ungeachtet des weitgehenden Fehlens praktischer Konsequenzen - s. sogleich - tatsäch-
lich "sachlich bedenklich" war, wie in der früheren Entscheidung BGHSt 37, 160 ausgeführt
wurde, kann letztlich dahin gestellt bleiben.
43 Vgl. die übereinstimmenden Begründungen zum Regierungsentwurf, BR-Drs. 219/02,
S. 9, und zum Entwurf der seinerzeitigen Koalitionsfraktionen, BT-Drs. 14/8586, S. 5 f. Letzte-
rer wurde nach Maßgabe einiger diesen Punkt nicht berührenden Änderungen (vgl. Bericht und
Beschlussempfehlungen des Rechtsausschusses, BT-Drs. 14/9264) vom Parlament beschlos-
sen.
44 Insoweit sicherlich zutreffend verneinte deshalb Peglau NJW 2000, 2980 f. in seiner Be-
sprechung der oben (Fn. 42) zitierten BGH-Entscheidung einen :=wingenden gesetzgeberischen
Handlungsbedarf. Insgesamt dürften weder die jeweiligen Aussetzungsregelungen selbst noch
die begleitenden Regelungen über Unterstellung unter Bewährungshilfe (lebenslange Freiheits-
strafe) bzw. Eintritt der Führungsaufsicht (Sicherungsverwahrung) nennenswerte praktische
Divergenzen zeitigen, vgl. bereits Peglau a.a.O.~ Kin:=ig NJW 2002, 3204 f.~ ferner auch Fi-
scher (Fn. 33), § 67d Rn. 8.
45 Kett-Straub GA 2009, 586 ff.
764 Bernhard Böhm
eingeführt wurde. 46 Der Wortlaut dieser Vorschrift steht einer solchen Aus-
legung zunächst nicht unmittelbar entgegen,47 wohl aber der Wortlaut des in
erster Linie betroffenen § 66 StGB, der bereits für sich genommen den
Willen des Gesetzgebers eindeutig zum Ausdruck bringt.48
Diese Auffassung findet de lege lata also keine Stütze im Gesetz. Tat-
sächlich gehört die Kombination von lebenslanger Freiheitsstrafe und An-
ordnung der Sicherungsverwahrung gerade in den spektakulären Fällen der
Schwerstkriminalität, die das Verständnis der Bevölkerung von Strafrecht
und Strafjustiz nachhaltig prägen und mittelbar die Gesetzgebung beeinflus-
sen,49 heute zum eingebürgerten Instrumentarium der Gerichte. 50 Vor die-
sem Hintergrund ist die Sorge sogar verständlich, dass damit dem Eindruck
Vorschub geleistet werde, die lebenslange Freiheitsstrafe sei heute automa-
tisch zeitlich begrenzt und nur die Kombination aus lebenslanger Freiheits-
strafe und Sicherungsverwahrung gewährleiste ein "echtes Lebenslang". 51
Missverständnisse in der Öffentlichkeit über die tatsächliche Dauer des
Vollzugs einer lebenslangen Freiheitsstrafe und mediale Zuspitzungen da-
mit zusammenhängender Fragen sind ebenfalls zu beobachten, 52 auch wenn
die Diskrepanzen zwischen Rechtstatsachen und öffentlicher Wahrnehmung
("Lebenslang entspricht 15 Jahren Freiheitsstrafe") nicht ganz so gravierend
ausfallen, wie Kett-Straub offenbar annimmt: Nach der aktuellen Auswer-
tung der Kriminologischen Zentralstelle e. V. 53 lag das arithmetische Mittel
der verbüßten Haftzeit derj enigen, die im Jahr 2007 in Freiheit entlassen
46 Die Regelung war im Gesetz zur Reform der Führungsaufsicht (Fn. 2) enthalten; knappe
Darstellung des Inhalts bei Kinzig (Fn. 36), S. 64 f Übersicht über die "Altfall"-
Konstellationen bei LK-Rissing-van SaanlPeglau (Fn. 29), § 66b Rn. 125.
47 Anders jedoch der eindeutige Wille des Gesetzgebers, so zutr. LK-Rissing-van
SaanlPeglau (Fn. 29), § 66b Rn. 131.
48 Das gilt erst recht, wenn die Gesetzgebungsmaterialien herangezogen werden, vgl. Fn. 43.
49 Kett-Straub (Fn. 45), 600 f; Kinzig (Fn. 36), S. 9 ff sowie 21 ff belegt beispielsweise
eindrücklich, welche Auswirkungen spektakuläre Einzelfcille auf die Gesetzgebung des Bundes
und der Länder zur Sicherungsverwahrung hatten; ebenso bereits Schöch NJW 1998, 1257 für
das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten (usw.) vom 26. Januar 1998.
50 Entgegen der Sorge von Kinzig (Fn. 44), 3204 f, die Neuregelung könne durch erweiterte
Begutachtungspflichten die Hauptverhandlungen in den betreffenden Fällen verkomplizieren
und verlängern. Das scheint jedoch zumindest nicht in einem die Praxis ernsthaft beeinträchti-
genden Ausmaß zuzutreffen.
51 Kett-Straub (Fn. 45), 586 f im Anschluss an Kinzig (Fn. 44), 3205.
52 Siehe Kett-Straub (Fn. 45), 588 f, 600 f
53 Vgl. Dessecker Lebenslange Freiheitsstrafe und Sicherungsverwahrung - Dauer und
Gründe der Beendigung, 2009, S. 20 (Bericht der Kriminologischen Zentralstelle; im Internet
zu finden unter http://krimz.de/fileadminidateiablage/forschungitexte/LF_SV_2007.pdt).
Ausgewählte Fragen des Maßregelrechts 765
wurden, bei 17,9 Jahren, der gegen statistische Verzerrungen durch extreme
Einzelwerte weniger anfällige Median 54 bei 16,2 Jahren. 55
Es ist allerdings nicht zu erkennen, worin dann der Gewinn liegen sollte,
folgte man (der Gesetzgeber?) der Auffassung, dass Sicherungsverwahrung
nicht zugleich mit der Verurteilung, sondern nur durch nachträgliche Ent-
scheidung angeordnet werden dürfte. Dann gäbe es nach den Erfahrungen
der jüngeren Zeit gleich zwei Zeitpunkte, den der Aburteilung und den der
Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwah-
rung, zu denen diese Fragen breit thematisiert würden. Hier geht es wohlge-
merkt nicht um die Selbstverständlichkeit, dass eine mediale / öffentliche
Diskussion dieser Fragen möglich sein muss, sondern um das Anliegen,
Missverständnissen möglichst keinen Vorschub zu leisten, und gerade in
diesem Sinne wäre der Vorschlag Kett-Straubs kontraproduktiv. Da sie
außerdem nachträglich die Anordnung gern. § 66b Abs. 2 StGB zulassen
will,56 kann sie ferner kaum Verhältnismäßigkeitsaspekte oder die sachge-
rechte Berücksichtigung des "ultima ratio"-Prinzips ins Feld fuhren, denn
gegen diese Personengruppe ist die Anordnung der Unterbringung (oder
deren Vorbehalt) nach geltendern Recht nicht möglich. Schließlich greift
zumindest angesichts der herrschenden Vollzugspraxis auch die Annahme
zu kurz, dass damit zusätzliche Stigmatisierungen und Demotivierung im
Vollzug vermieden würden. 57 Tatsächlich stehen vielmehr alle Verurteilten,
die sich auch nur unter den formellen Voraussetzungen des § 66b Abs. 1
und 2 StGB im Vollzug befinden, dort unter besonderer Beobachtung. 58
54 Der Median ist derjenige Wert einer Verteilung, ober- und unterhalb dessen jeweils die
Hälfte der beobachteten Werte liegen.
55 Der von Kett-Straub für das vorangegangene Berichtsjahr (2006) angenommene Median
von ca. 19 Jahren findet in der Auswertung keine Bestätigung (vgl. Dessecker, http://krimz.de/
... /LF_SV_PKH_2006.pdf, S. 11: 17 Jahre bei den in Freiheit Entlassenen). Erst recht ist die
Formulierung missverständlich, dass 10 % der Verurteilten in diesem Jahr im Vollzug verstor-
ben seien (Kett-Straub [Fn. 45], 588 Fn. 17)~ es handelte sich vielmehr um 100/0 derjenigen,
bei denen der Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe in diesem Jahr endete (vgl. den soeben
zitierten Bericht für das Jahr 2006 von Dessecker, S. 13).
56 Kett-Straub (Fn. 45), 598 ff.
57 Kett-Straub (Fn. 45), 594, wobei dahingestellt sei, ob die Anordnung der Sicherungsver-
wahrung neben einer Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe ernstlich zusätzlich stigmati-
sierend wirken kann.
58 Zu den Auswirkungen auf den Vollzug vgl. nur Bartsch/Kreuzer StV 2009, 53 ff.~ MK-
Ullenbruch, 1. Aufl. 2005, § 66b Rn. 172 f., auch zur daraus resultierenden Zwangslage der
Anstaltsleitung.
766 Bernhard Böhm
Auch für die folgenden Jahre zeigt Tabelle 1 in der Tendenz keine bedeut-
samen Unterschiede zu den Befunden von Kinzig. Auffallig ist allerdings
das nach 2002 noch einmal angestiegene und, von einer Spitze im Jahr 2008
abgesehen, gehaltene Anordnungsniveau, das allein mit dem in den Jahren
2002 ff. eingeführten gesetzlichen Instrumentarium nicht zu erklären ist:
Die geringe Zahl von Entscheidungen nach dem 2002 eingeführten § 66a
StGB wird gelegentlich "belächelt",66 und auch die ebenfalls - in Überein-
stimmung mit der gesetzgeberischen Intention 67 - nicht sonderlich hohe
64 Es soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass die Divergenzen damit zwar zu einem
großen Teil, aber nicht vollständig erklärt werden können. Für das Jahr 2008 weist Tabelle 1
beispielsweise 119 Anordnungen aus, während die Strafverfolgungsstatistik für das gleiche
Jahr 111 Anordnungen registriert (vgl. Statistisches Bundesamt Fachserie 10, Reihe 3, Tab.
5.5). Den Gründen für die verbleibenden Divergenzen kann hier nicht im Detail nachgegangen
werden, es dürfte "im Zweifel" aber empfehlenswert sein, eher den Daten des BZR zu folgen,
die von der Justiz als Grundlage für die Vollstreckung gemeldet und herangezogen werden.
65 Die Absammlung der Daten für diese Auswertung erfolgte Ende November 2009.
66 Vgl. Ullenbruch NStZ 2008,6 m.w.N. Im Bundeszentralregister sind derzeit - s. o. - ins-
gesamt 31 Vorbehaltsentscheidungen nach § 66a StGB registriert.
67 Die Begründung zum Regierungsentwurf BT-Drs. 16/2887, S. 1 ging davon aus, "dass in
seltenen Fällen das Bedürfnis nach der Möglichkeit einer nachträglichen Anordnung der Un-
terbringung in der Sicherungsverwahrung" bestehen könne und sah "daher ungeachtet der
geringen Anzahl denkbarer Fälle Ergänzungsbedarf im Regelungssystem der Sicherungsver-
wahrung" (a.a.O., S. 10). Insoweit erschließt sich auch nicht völlig zwanglos, weshalb die
768 Bernhard Böhm
Zahl der Anordnungen nach § 66b StGB allein könnte diesen auffälligen
Anstieg nicht erklären. 68 Mit anderen Worten: Das deutlich höhere Niveau
seit 2003 kann nicht allein und wahrscheinlich nicht einmal vorwiegend auf
die seit 2002 neugeschaffenen rechtlichen Instrumente zurückgeführt wer-
den, sondern beruht auf der unmittelbaren Anordnung nach § 66 StGB (in
der seit 1998 geltenden Fassung). Insoweit ist also ein wenig zu differenzie-
ren. Die Gesetzgebung der Jahre 2002 ff. ist nicht der einzig ausschlagge-
bende Faktor fur die gestiegene Zahl der Anordnungen und der daraus mit
zeitlichem Abstand folgenden höheren Zahl der Unterbringungen gewesen.
Die Vermutung liegt nahe, dass die kriminalpolitischen Trends und Diskus-
sionen der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte auch ohne den Umweg über
die Gesetzgebung Einfluss auf die Spruchpraxis der Gerichte genommen
habe. Tatsächlich wäre die Annahme wohl eher realitätsfern, dass es sich
bei Kriminalpolitik, Gesetzgebung und Justizpraxis um drei streng zu sepa-
rierende Gebiete handeln könnte, vielmehr dürften sie in einem Kontext mit
wechselseitigen Abhängigkeiten und Einflussnahmen stehen.
3. Ausblick
Es ist absehbar, dass schon in näherer Zukunft aus verschiedenen Rich-
tungen weitere Impulse für Änderungen der Vorschriften über die Siche-
rungsverwahrung folgen werden. Der Koalitionsvertrag der Regierungsfrak-
tionen für die 17. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags sieht eine
Überarbeitung der Regelungen vor, und der Europäische Gerichtshof fur
Menschenrechte hat erst unlängst eine Entscheidung gefällt, die erhebliches
Gewicht für die Regelungen über die Sicherungsverwahrung, u. U. sogar für
das Recht der Maßregeln insgesamt erhalten kann. 69 Gerade vor dem letzt-
genannten Hintergrund lohnt ein Blick darauf, wie in anderen Rechtsord-
nungen die Sicherung gefährlicher Gewalttäter gehandhabt wird.
Im Vereinigten Königreich hat der Criminal Justice Act von 2003 die un-
bestimmte Freiheitsstrafe fur gefährliche Straftäter70 sowie für bestimmte
Sexual- und Gewaltdelikte die "erweiterte" zeitige Freiheitsstrafe ("ex-
tended sentence") eingeführt. Nach Sec. 227 (2) setzt sich diese zeitige
tatsächlich -- eben erwartungsgemäß - geringe Zahl der Anordnungen nach § 66b StGB für sich
genommen als Bestätigung für Kritik (vgl. etwa Fn. 66) an der Neuregelung gewertet wird.
68 Ullenbruch (Fn. 66), 5.
69 Entscheidung der Fünften Sektion des EGMR vom 17. Dezember 2009 in dem Individu-
albeschwerdeverfahren M .I. Deutschland (Application no. 19359/04). Die Entscheidung ist bei
Abschluss des Manuskripts noch nicht bestandskräftig; bekannt ist, dass die Bundesregierung
die Große Kammer des EGMR gegen diese Entscheidung anrufen will.
70 Sec. 225 (3) des Criminal lustice Act.
Ausgewählte Fragen des Maßregelrechts 769
71 "the appropriate custodial term" einerseits, wegen weiterer Sonderregelungen der Vor-
schrift (vgl. sec. 227 (3)) nur bedingt mit der deutschen Begrifflichkeit "schuldangemessene
Strafe" erfassbar, und "the extension period" andererseits.
72 "extension period" und "appropriate term" zusammen sind (nur) limitiert durch die ge-
setzlich vorgegebene Höchststrafe, "extension period" allein ist im Höchstmaß beschränkt auf
fünf Jahre bei bestimmten Gewalt- und acht Jahre bei bestimmten Sexualdelikten.
73 Kurze Übersicht und Hinweise auf die tatsächlichen Auswirkungen derartiger Regelungen
bei Dessecker (Fn. 53), S. 21 f.
74 Quelle: Aebi/Delgrande Council of Europe Annual Penal Statistics - SPACE I (Erhebung
2007),2009, Tabelle 8 S. 59.
75 Deutschland: Angaben für 31. März 2007.
76 Vereinigtes Königreich ohne Nordirland, Angaben zur Dauer der Freiheitsstrafe über
zehn Jahre nur summiert ,,10 Jahre und Inehr"/"lebenslang" möglich.
770 Bernhard Böhm
Bedenkt man zudem, dass Deutschland von diesen Staaten die wiederum
deutlich größte Bevölkerung aufweist, zeigt sich noch klarer das relativ
moderate deutsche Sanktionsniveau bei den lang andauernden Freiheitsent-
ziehungen, also einschließlich der Sicherungsverwahrung. Dieses moderate
Niveau wurde auch in Zeiten intensiver kriminalpolitischer Debatten um
eine möglichst umfassende Sicherung vor gefährlichen Straftätern gehalten,
die - s. o. 111. 2. - zwar ihre Auswirkungen auf die Anordnungspraxis der
Gerichte besaßen, aber die selbst vor diesem Hintergrund immer noch mo-
derate Sanktionierungspraxis 77 nicht grundlegend änderten. Daran dürfte die
Möglichkeit, der Prävention speziell gegenüber Hangtätern (i. w. S.) durch
Anordnung der Sicherungsverwahrung Rechnung tragen zu können, im
Gegensatz beispielsweise zur gesetzlichen Verankerung obligatorischer all-
gemeiner Strafzumessungsregeln für Täter bestimmter Delikte, einen be-
trächtlichen Anteil besitzen.
Möglicherweise greift diese Erkenntnis Raum auch bei denjenigen, die
die Sicherungsverwahrung skeptisch betrachten. Jedenfalls konzentrieren
sich die Kritiker, nach einer langen Phase der grundsätzlichen Kritik am
Institut der Sicherungsverwahrung, in der letzten Zeit zunehmend auf die
§§ 66a f. StGB, während der Grundgedanke der Sicherungsverwahrung
inzwischen eher "als ungeliebtes, aber notwendiges Übel akzeptiert wird". 78
Tatsächlich werden Reformbestrebungen der näheren Zukunft kaum mit
dem Ziel angelegt sein, diese Maßregel in ihrem Grundbestand etwa gänz-
lich abzuschaffen. Sie ist, wenn man so will, der Preis des deutschen Sank-
tionensystems für ein relativ moderates Niveau lang andauernder Freiheits-
entziehungen.
77 Selbst wenn alle aus Tabelle 1 ersichtlichen ca. 1.500 Anordnungen zum Vollzug der Si-
cherungsverwahrung führten, läge das Sanktionsniveau bei den lang andauernden Freiheitsent-
ziehungen im internationalen Vergleich immer noch am niedrigsten unter den großen EU-
Staaten, gemessen an der Bevölkerungsgröße sogar immer noch mit deutlichem Abstand.
78 Vgl. LK-Rissing-van SaanlPeglau (Fn. 29), § 66 Rn. 2 m.w.N.
Zum Verhältnis von Strafe und Therapie
DIETER DÖLLING
I. Einleitung
Der verehrte Jubilar hat sich in seinem umfangreichen Werk immer wie-
der dafür ausgesprochen, das Strafrecht unter Beachtung anderer legitimer
Strafzwecke in angemessenem Umfang spezialpräventiv auszugestalten. 1
Deshalb soll in dem vorliegenden Beitrag mit dem Verhältnis von Strafe
und Therapie eine Fragestellung aus dem Problembereich der Spezialprä-
vention behandelt werden. Hierbei soll es insbesondere um die Frage gehen,
inwieweit eine Kombination von Strafe und Therapie möglich und ange-
zeigt ist.
1 Vgl. u.a. Schäch Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen
Sanktionen ohne Freiheitsentzug? Gutachten C für den 59. Deutschen Juristentag, 1992.
2 Siehe zum Begriff der Strafe Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner
Teil, 5. Aufl. 1996, S. 13.
3 Zur Kriminaltherapie vgl. die Beiträge von Leygraf u. a. in: Kröber/DöllinglLeygraf/Saß
(Hrsg.), Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Bd. 3: Psychiatrische Kriminalprognose und
Kriminaltherapie, 2006, S. 193 ff.
772 Dieter Dölling
Es kann sich so verhalten, dass der Täter bestraft werden muss, eine The-
rapie zur Verhinderung weiterer Taten aber nicht angezeigt ist. Dann ist die
Strafe die einzige Reaktion auf die Straftat. Weiterhin ist es möglich, dass
wegen der Gefährlichkeit des Täters eine Therapie zur Verhinderung künf-
tiger Taten erforderlich ist, der Täter aber nicht bestraft werden darf, weil er
wegen einer psychischen Störung im Zeitpunkt der Tatbegehung schuldun-
fähig war. Dann kann die Reaktion nur in einer Therapie bestehen, gegebe-
nenfalls verbunden mit sichernden Maßnahmen. Schließlich können in
einem Fall sowohl die Voraussetzungen für eine Strafe als auch für eine
Therapie erfüllt sein. Dann stellt sich die Frage, ob Strafe und Therapie
miteinander kombiniert werden sollten.
Gegen eine Kombination von Strafe und Therapie könnte eingewendet
werden, dass die eine Reaktionsform die andere stören könnte. So könnte
die Strafe wegen des mit ihr verbundenen Tadels und der mit ihr verknüpf-
ten Einschränkungen für den Täter den Erfolg der Therapie beeinträchtigen
und könnte die Therapie den Charakter der Strafe als Übelszufügung ab-
schwächen. Andererseits ist es aber auch denkbar, dass sich Strafe und
Therapie in sinnvoller Weise ergänzen, so dass sich eine Kombination bei-
der Reaktionsformen empfehlen kann. So kann die Strafe die Therapie absi-
chern, indem sie dem Täter verdeutlicht, dass sein bisheriges kriminelles
Verhalten auf keinen Fall hingenommen werden kann und die Rechtsord-
nung von ihm eine Verhaltensänderung erwartet, und indem sie Bedingun-
gen schafft, unter denen der Täter für eine Therapie erst ansprechbar wird.
Die Therapie wiederum kann eine sinnvolle Ausgestaltung einer Strafe sein,
mit der auch eine spezialpräventive Zielsetzung verfolgt wird. Ist bei einem
Täter, gegen den eine längere Freiheitsstrafe zu verhängen ist, eine Therapie
indiziert, ist es sachgerecht, diese Therapie im Rahmen des Vollzugs der
Freiheitsstrafe durchzuführen.
Das deutsche Strafrecht enthält eine Reihe von Regelungen, die eine
Kombination von Strafe und Therapie vorsehen. Wird der Täter nach § 56
StGB zu einer Freiheitsstrafe mit Aussetzung der Vollstreckung zur Bewäh-
rung verurteilt, kann das Gericht ihm gemäß § 56c Abs. 1 StGB für die
Dauer der Bewährungszeit die Weisung erteilen, sich einer Therapie zu
unterziehen. Hierbei darf nach § 56c Abs. 3 StGB die Weisung, sich einer
Heilbehandlung, die mit einem körperlichen Eingriff verbunden ist, oder
einer Entziehungskur zu unterziehen oder in einem geeigneten Heim oder in
einer geeigneten Anstalt Aufenthalt zu nehmen, nur mit Einwilligung des
Verurteilen erteilt werden. Gemäß § 183 Abs. 3 StGB kann das Gericht bei
Verurteilung wegen einer exhibitionistischen Handlung die Vollstreckung
einer Freiheitsstrafe auch dann zur Bewährung aussetzen, wenn zu erwarten
ist, dass der Täter erst nach einer längeren Heilbehandlung keine exhibitio-
nistischen Handlungen mehr vornehmen wird. Spricht das Gericht nach
Zum Verhältnis von Strafe und Therapie 773
4 Siehe zur Verwarnung mit Strafvorbehalt Schäch FS Baumann, 1992, S. 255 ff.
774 Dieter Dölling
eine Therapie erhält, richtet sich nach dem Strafvollzugsrecht. Das Straf-
vollzugsgesetz des Bundes enthält insoweit Vorschriften über die Verlegung
in eine sozialtherapeutische Anstalt (vgl. § 7 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 4 und § 9
StVollzG). Außerdem muss der Vollzugsplan nach § 7 Abs. 2 Nr. 6
StVollzG Angaben über besondere Behandlungsmaßnahmen enthalten.
Hierunter fallen auch Einzel- und Gruppentherapien. 5 Vorschriften über die
Verlegung in eine sozialtherapeutische Anstalt und über besondere Behand-
lungsmaßnamen finden sich auch in Landesstrafvollzugsgesetzen, die nach
dem Übergang der Gesetzgebungszuständigkeit für den Strafvollzug auf die
Länder durch die Föderalismusreform von 2006 erlassen worden sind. 6
Das Fehlen der Möglichkeit, die Verhängung einer Freiheitsstrafe ohne
Bewährung mit einer Therapieanordnung zu verknüpfen, ist problematisch.
Wird eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung verhängt, wird die Rückfallge-
fahr häufig besonders hoch und die Notwendigkeit einer Therapie besonders
ausgeprägt sein. Eine Therapieweisung kann das Gericht aber nur bei einer
Freiheitsstrafe mit Bewährung und nicht bei einer Freiheitsstrafe ohne Be-
währung erteilen. Das Gericht muss als Grundlage für die Sanktionsent-
scheidung in der Hauptverhandlung auch klären, wie der Täter kriminal-
prognostisch zu beurteilen ist. Die Kriminalprognose ist nicht nur für die
Entscheidung über eine Strafaussetzung zur Bewährung von Bedeutung. Sie
spielt auch für die Festsetzung der Straflänge eine Rolle und ist immer dann
relevant, wenn Maßregeln der Besserung und Sicherung in Betracht kom-
men. 7 Ergibt sich in der Hauptverhandlung die Gefährlichkeit und Thera-
piebedürftigkeit des Täters, würde es nahe liegen, die Therapie auch im
Urteil anzuordnen. Damit würde es nicht im Ungewissen bleiben, ob die als
erforderlich erkannte Therapie auch tatsächlich durchgeführt wird. Die
Frage, ob gefährliche Straftäter eine Therapie erhalten, wäre dann nicht von
mehr oder weniger unterschiedlichen landesgesetzlichen Regelungen ab-
hängig.
Eine Therapieanordnung im Urteil hätte auch den Vorteil, dass hiermit
auch kriminell gefährdeten Tätern in der Hauptverhandlung eine Perspekti-
ve eröffnet werden könnte. Ihnen wird verdeutlich, dass eine Chance der
Wiedereingliederung besteht, wenn sie sich der Therapie unterziehen. Das
könnte die Akzeptanz des Strafurteils durch den Täter fördern und damit
günstigere Voraussetzungen für die Resozialisierung schaffen als ein allein
auf Freiheitsstrafe lautendes Urteil. Für die Schaffung der Möglichkeit einer
gerichtlichen Therapieanordnung ist es nicht erforderlich, die sozialthera-
peutische Anstalt als Maßregel der Besserung und Sicherung im StGB zu
verankern. 8 Die Therapie kann ihm Rahmen des Strafvollzugs durchgeführt
werden. 9
Einen Vorschlag für die Einführung einer Therapieanordnung als Maßre-
gel der Besserung und Sicherung hat die beim OLG Karlsruhe angesiedelte
Behandlungsinitiative Opferschutz (BIOS-BW) in ihrem am 3. März 2009
dem Bundesministerium der Justiz vorgelegten Memorandum unterbreitet.
Nach diesem Vorschlag soll folgende Vorschrift in das StGB eingefügt
werden:
,,§ 65 (a) Therapeutische Maßnahmen
1. Eine ambulante oder stationäre psychotherapeutische Maßnahme ist
anzuordnen, wenn
a. die Voraussetzungen des § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB vorliegen;
b. eine Strafe allein nicht geeignet ist, der Gefahr weiterer Straftaten des
Täters zu begegnen;
c. ein Behandlungsbedürfnis des Täters besteht oder die öffentliche Si-
cherheit dies erfordert und
d. der mit der therapeutischen Maßnahme verbundene Eingriff in die
Persönlichkeitsrechte des Täters im Hinblick auf die Wahrscheinlich-
keit und Schwere weiterer Straftaten nicht unverhältnismäßig ist.
2. Die Anordnung unterbleibt, wenn eine therapeutische Maßnahme als
von vornherein aussichtslos erscheint." 10
Für die Einführung einer solchen Therapieanordnung spricht, dass es vor
allem im Bereich der Gewalt- und Sexualdelikte erheblich rückfallgefährde-
te und therapiebedürftige Täter gibt, die durch therapeutische Maßnahmen
im Rahmen der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach
§ 63 StGB oder der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64
StGB nicht erreicht werden können, weil sie nicht schuldunfähig oder er-
8 Zur Frage der Verankerung der sozialtherapeutischen Anstalt als Maßregel der Besserung
und Sicherung im StGB vgl. Schöch u. a. ZRP 1982, 207 ff. einerseits und KaiserlDün-
keliOrtmann ZRP 1982, 198 ff. andererseits.
9 Hierbei ist wirksame Therapie nicht nur in sozialtherapeutischen Anstalten, sondern auch
in Anstalten des Regelvollzugs möglich, vgl. Müller in: PreuskerlMaelicke/Flügge (Hrsg.), Das
Gefängnis als Risiko-Unternehmen, 2010, S. 74, 76.
10 Behandlungsinitiative Opferschut= (BIOS-B W) e. V Die unzureichende Begutachtung
gefahrlicher Gewalt- und Sexualstraftäter im Strafverfahren, die Mängel bei deren Behandlung
im Vollstreckungsverfahren sowie die Folgen. Memorandum zur Änderung der Strafprozess-
ordnung und des Strafgesetzbuches, 2009, www.bios-bw.de~ siehe dazu auch BöhmlBoetticher
ZRP 2009, 134 ff. Vgl. auch die Art. 56 ff. des Schweizerischen Strafgesetzbuchs über die
Anordnung von Maßnahmen.
776 Dieter Dölling
heblich vermindert schuldfähig sind und weil auch eine Alkohol- oder Dro-
genabhängigkeit nicht vorliegt. Es handelt sich hierbei insbesondere um
Täter mit Persönlichkeitsstörungen und mit Störungen der sexuellen Präfe-
renz. 11 Für Gewalt- und Sexualtäter sind gründliche ausgearbeitete Thera-
pieprogramme entwickelt worden, die eine ins Gewicht fallende Senkung
der Rückfallquote erwarten lassen. 12 Die Therapie darf nicht isoliert erfol-
gen, sondern muss von sozialen Unterstützungsmaßnahmen begleitet sein,
die dem Täter die Wiedereingliederung in die Freiheit erleichtern. Hierzu
gehören insbesondere Maßnahmen in den Bereichen Arbeit und Ausbil-
dung, Wohnung und Finanzen und die Förderung tragfähiger Beziehungen
zu Bezugspersonen. Auf diese Weise kann manche Rückfalltat verhindert
werden. 13 Findet demgegenüber die indizierte Therapie nicht statt, besteht
die erhebliche Gefahr, dass der ohne die erforderliche Behandlung aus dem
Strafvollzug entlassene Täter weitere Straftaten begehen wird, die zu neuen
- längeren - Freiheitsstrafen und schließlich möglicherweise zur Siche-
rungsverwahrung führen. Böhm und Boetticher haben zu Recht darauf hin-
gewiesen, dass die Sicherungsverwahrung nur legitimiert werden kann,
wenn zuvor die indizierten therapeutischen Interventionen vorgenommen
worden sind. 14
Die Therapie dient dem Schutz potentieller Opfer vor weiteren Straftaten
des Täters und dem Interesse des Täters an Wiedereingliederung in die
Gesellschaft. Bei der Therapie handelt es sich nicht um eine Vergünstigung
fur die Täter, die ihnen eine unverdiente Milderung des Straflibels ver-
schafft. Die Therapie verlangt vielmehr von den Tätern die nicht einfache
Auseinandersetzung mit sich selbst, die Einsicht in eigene Schwächen und
Mängel und harte Arbeit an sich selbst zur Herbeiflihrung als notwendig
erkannten Veränderungen. Die Therapie stellt an die Täter erheblich höhere
Anforderungen als das bloße Absitzen einer Strafe im Verwahrvollzug. Bei
einer Therapieanordnung handelt es sich auch nicht um eine unangemessene
Pathologisierung des Täters. Es geht vielmehr darum, im Dialog mit dem
Täter und in Anerkennung seiner SubjektsteIlung die bei ihm vorliegenden
kriminogenen Defizite aufzuarbeiten und die erforderlichen Veränderungen
zu erreichen. Zur Wahrung der SubjektsteIlung des Täters ist es nicht erfor-
derlich, die gerichtliche Therapieanordnung grundsätzlich von der Zustim-
mung des Angeklagten abhängig zu machen, denn seine Bereitschaft zur
15 Siehe BVerfGE 35, 202, 235 f.~ 36, 174, 188~ 45,187, 238 f.~ 96, 100, 115~ 98,169,
199 ff.
16 Vgl. BVerfGE 98, 169, 201~ BVerfG NJW 2002, 2023, 2024.
17 Siehe OLG Hamm, NStZ 2009, 219. Nach dieser Entscheidung hat ein Gefangener dann,
wenn die Voraussetzungen für die Hinzuziehung eines externen Fachtherapeuten bejaht wer-
den, grundsätzlich einen Anspruch auf Übernahme der Kosten durch den Staat, soweit er diese
nicht selbst übernehmen kann und auch kein sonstiger freier Kostenträger hierfür einsteht, und
dürfen angesichts der überragenden Bedeutung des Resozialisierungsgebots jedenfalls bei
Gewaltdelikten Kostenfragen für die (weitere) Durchführung einer bewilligten externen Thera-
pie keine Rolle spielen.
778 Dieter Dölling
Der Nr. 1 des Vorschlags ist zuzustimmen. Nr. 2 ist möglicherweise et-
was weit gefasst, denn bei den dort genannten Delikten wird in nicht weni-
gen Fällen eine Therapie des Täters nicht indiziert sein. Denkbar wäre es,
die Gerichte zu verpflichten, in Verfahren wegen der in Nr. 2 des Vor-
schlags genannten Delikte die Voraussetzungen der Nr. 1 besonders sorgfäl-
18 Fn. 10.
Zum Verhältnis von Strafe und Therapie 779
19 Siehe Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK~ BVerfGE 63, 45, 69~ BGHSt 26,288,232.
20 Vgl.Dölling FS Meyer-Goßner, 2001, S. 101, 112 f.
21 Siehe BöhmlBoetticher (Fn. 10), 135 f.
780 Dieter Dölling
den. 22 Nach diesem Modell wird in einem ersten Abschnitt der Hauptver-
handlung die Tatfrage und in einem zweiten Teil die Sanktionsfrage behan-
delt,23 Hiermit soll unter anderem erreicht werden, dass über die Rechtsfol-
gen intensiver verhandelt wird. 24 Vom Jubilar veranlasste empirische
Erprobungen haben gezeigt, dass dieses Verfahrensmodell praktikabel ist.25
In der Hauptverhandlung könnte daher zunächst die Frage der Tatbegehung
geklärt und im Fall des Tatnachweises anschließend unter Beteiligung eines
Sachverständigen die Rechtsfolgenfrage einschließlich der Therapiebedürf-
tigkeit des Angeklagten erörtert werden. Hierbei kann an die 2009 einge-
führten Vorschriften über die Verständigung im Strafverfahren angeknüpft
werden. 26 Nach § 257b StPO kann das Gericht in der Hauptverhandlung den
Stand des Verfahrens mit den Verfahrensbeteiligten erörtern, soweit dies
geeignet erscheint, das Verfahren zu fördelTI. Hält das Gericht die Beweis-
aufnahme zur Tatfrage für abgeschlossen, kann es die Tatfrage mit den
Verfahrensbeteiligten erörtern. Es kann ihnen Gelegenheit zur Stellung-
nahme zur Tatfrage geben und ihnen gegebenenfalls mitteilen, die Beweis-
aufnahme habe nach seiner Ansicht ergeben, dass der Angeklagte die vor-
geworfene Tat begangen hat. Anschließend kann dann konzentriert über die
Rechtsfolgenfrage verhandelt werden. Vielleicht können diese Vorschläge
zu einer Verbesserung der spezialpräventiven Ausgestaltung des Strafrechts
beitragen und damit einem Anliegen dienen, dass der verehrte Jubilar stets
nachdrücklich vertreten hat.
22 Vgl. zur Zweiteilung der Hauptverhandlung Schöch FS Bruns, 1978, S. 457 ff.~
Schöch/Schreiber ZRP 1978, 63 ff.
23 Umstritten ist, ob die Schuldfähigkeit im ersten oder zweiten Verhandlungsabschnitt ge-
prüft werden sol1~ siehe dazu Dölling Die Zweiteilung der Hauptverhandlung - Eine Erprobung
vor Einzelrichtern und Schöffengerichten -, 1978, S. 44 f.
24 Vgl. Dölling (Fn. 23), S. 83 f.
25 Siehe Dölling (Fn. 23)~ Schunck Die Zweiteilung der Hauptverhandlung - Die Erprobung
des informellen Tatinterlokuts bei Strafkammern -, 1982.
26 Vgl. das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.7.2009,
BGBL I, S. 2353.
Die Errichtung einer Stiftung Opferhilfe Bayern
MANFRED MARKWARDT
I.
Der Sozialstaat hat zu gewährleisten, dass das Existenzminimum der Bür-
ger gesichert ist. Hingegen kann es nicht Aufgabe eines freiheitlich verfass-
ten Staatswesens sein, alle Unglücksfälle und sonstigen Schicksalsschläge
seiner Angehörigen wirtschaftlich auszugleichen. Ein so verstandener
"Wohlfahrtsstaat" würde mit seiner patemalistischen Struktur nicht in das
Bild vom frei verantwortlichen und eigeninitiativen Bürger passen.
Dennoch gibt es Bereiche, in denen dem Staat eine besondere Verantwor-
tung zur Hilfe und Fürsorge für den zu Schaden gekommenen Bürger ob-
liegt. Abgesehen von den Fällen schuldhaften Fehlverhaltens seiner Be-
diensteten - hier ist ein Eintreten des Gemeinwesens eine rechtsstaatliche
Selbstverständlichkeit - gerät hier vor allem die Rechtsfigur der Aufopfe-
rung in den Blick: wird dem einzelnen Bürger durch staatlichen Eingriff im
Interesse des Allgemeinwohls ein Sonderopfer auferlegt, trifft den Staat
eine - subsidiäre - Entschädigungspflicht. 1
Was hat dies mit der Frage nach staatlicher Hilfe für Verbrechensopfer zu
tun? Es ist klar: Opfer von Straftaten haben keinen Entschädigungsanspruch
gegen den Staat nach dem Rechtsgedanken der Aufopferung. Es geht hier
nicht um Schäden aufgrund hoheitlicher Eingriffe. Es geht um das Lebens-
risiko des Einzelnen, durch Straftaten anderer geschädigt zu werden und
den Schadensausgleichsanspruch gegenüber dem Schädiger nicht realisieren
zu können. Es gibt keine allgemeine Rechtspflicht des Staates, dem einzel-
nen Bürger dieses Risiko abzunehmen.
Dennoch: sind gewisse Ähnlichkeiten der Situation des geschädigten
Verbrechensopfers mit der Aufopferungskonstellation ganz von der Hand
zu weisen? Der Schutz von Leib und Leben der Bevölkerung gegen Beein-
trächtigungen u.a. durch Straftaten ist eine der wichtigsten Aufgaben des
11.
Im Koalitionsvertrag für die 16. Wahlperiode des Bayerischen Landtags
haben die Koalitionsparteien u.a. vereinbart, den Opferschutz weiter auszu-
bauen und dazu eine landesweite "Opferhilfe Bayern" mit einer angemesse-
nen Kapitalausstattung einzurichten, die Opfern von Straftaten unbürokra-
tisch Hilfe und Unterstützung leistet. Das Bayerische Staatsministerium der
Justiz und fiir Verbraucherschutz wurde daraufhin vom Kabinett beauftragt,
einen Entscheidungsvorschlag auszuarbeiten.
Nach den eingangs angestellten Überlegungen können die Koalitionsver-
einbarung und ihr Aufgreifen durch die Staatsregierung nur begrüßt werden.
Der Aufbau einer landesweiten Organisation zur besseren Unterstützung
von Verbrechensopfern würde der besonderen Verantwortung des Staates
fiir diesen Personenkreis gerecht werden.
2 Ständige Rspr. des Bundesverfassungsgerichts auf der Grundlage von BVerfGE 39, 1,42;
vgl. zuletzt BVerfGE 115, 118, 152; 121,317,356.
3 ABI L 261 vom 6. August 2004, S. 15-18.
4 Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie.
5 Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) in der Bekanntmachung
vom 7. Januar 1985 (BGBl. I, S. 1).
Die Einrichtung einer Stiftung Opferhilfe Bayern 783
sowie die Aufstellung von Richtlinien zur Vergabe von Zuwendungen und
Förderungen gehören.
15 Vgl. zuletzt Geschäftsbericht für das Jahr 2008 der "Landesstiftung Opferschutz" unter
www.landesstiftung-opferschutz.de.
16 Vgl. Jahresberichte der "Stiftung Opferhilfe Niedersachsen" 2002 bis 2008 nebst Jahres-
statistiken unter www.opferhilfe.niedersachsen.de.
788 Manfred Markwardt
17S.Fn.15.
18S. Fn. 16.
19 Vgl. Art. 6 Abs. 2 und 3 BayStG.
Die Einrichtung einer Stiftung Opferhilfe Bayern 789
111.
Die Bayerische Staatsregierung hat am 21. April 2009 beschlossen, dass
der Freistaat Bayern eine landesweite "Opferhilfe Bayern" einrichtet. In den
einzelnen Eckpunkten ist sie dabei dem dargestellten Entscheidungsvor-
schlag des Staatsministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz gefolgt.
Allerdings hat sich die Staatsregierung nicht auf einen Beginn des Projekts
festgelegt. Ob eine entsprechende Stiftung bereits 2010 errichtet werden
kann, blieb mit Blick auf die angespannte Ha~shaltssituation offen.
Angesichts der eingangs dargestellten Verantwortung des Staates für Op-
fer von Straftaten wäre es sehr wünschenswert, wenn ein Weg gefunden
würde, die "Stiftung Opferhilfe Bayern" bald ins Leben zu rufen. Derzeit
baut die bayerische Justiz - ebenfalls mit beträchtlichem finanziellen Ein-
satz - ein Netz von ambulanten psychotherapeutischen Nachsorgeeinrich-
tungen auf - eine eminent wichtige und unterstützenswerte Initiative. Es
wäre schön, wenn dieser Anstrengung, die den Täter im Auge hat, ein deut-
licher Einsatz für die Opferhilfe an die Seite gestellt werden könnte.
790 Manfred Markwardt
Dass der Jubilar dieses Postulat unterstreichen wird, dessen kann man
sich ziemlich sicher sein. Bekanntlich widmet er sich seit Jahren in vielen
wissenschaftlichen Beiträgen der Thematik des Opferschutzes und der Op-
ferhilfe. Sein langjähriger Einsatz an maßgeblicher Stelle im Weißen Ring
zeugt von seinem ganz persönlichen Engagement in dieser Sache. Ich bin
sicher, dass er sich mit Nachdruck fur eine nachhaltige Zusammenarbeit des
Weißen Rings mit einer "Stiftung Opferhilfe Bayern" einsetzen wird. Man
kann nur hoffen, dass er seinem Einsatz für den Opferschutz und die Opfer-
hilfe noch recht lange treu bleibt.
Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe-
ein Artefakt der Forschung?
DIETER HERMANN
I. Einleitung
Der Jubilar hat sich in zahlreichen Publikationen und Vorträgen mit dem
Thema Kriminalpolitik befasst. 1 In Zeiten neuer und komplexer Bedro-
hungsformen forderte er eine Kriminalpolitik mit Augenmaß, ein zurückhal-
tendes Strafrecht und eine sachgerechte Aufklärung gegen publizistisch
überhöhte Kriminalitätsfurcht. 2 In seiner Arbeit über die Todesstrafe aus
viktimologischer Sicht blieb er dieser Position ebenfalls treu. 3 Auch wenn
Rachegedanken der Angehörigen von ermordeten Opfern durchaus nach-
vollziehbar seien, könnten durch eine institutionalisierte und angemessene
Berücksichtigung von Opferinteressen im Strafverfahren Vergeltungs- und
Rachegelüste in einem rechtsstaatlichen Verfahren kanalisiert werden.
Letztlich liefere die Viktimologie keine Argumente für die Todesstrafe, so
Schäch.
Der vorliegende Beitrag knüpft an die Debatte um die Todesstrafe an.
Diese Diskussion ist keineswegs lediglich historischer Natur, denn im Jahr
2008 wurde in 59 Staaten und einem Territorium die Todesstrafe ange-
wandt, darunter auch in westlich orientierten Ländern wie Japan, USA und
Weißrussland. 4 Als Grundlage der Legitimation dieser Sanktionsform wird
in erster Linie die vermeintliche Abschreckungswirkung gesehen. Die theo-
retische Grundlage dazu lieferten die Arbeiten von Cesare Beccaria, Jeremy
Bentham und Johann Anselm Feuerbach. 5 In neuerer Zeit haben Gary S.
Becker und Isaac Ehrlich die generalpräventiven Abschreckungstheorien
auf die Ebene ökonomischer und ökonometrischer Modelle übertragen. 6 Es
wird postuliert, dass es das Ziel der Gesellschaft sei, das Glück der Gesell-
schaftsmitglieder zu optimieren. Deshalb müsse Kriminalität möglichst
verhindert werden, denn dies beeinträchtige die gesellschaftliche Nutzenbi-
lanz in negativer Weise. Eine Verhinderung von Kriminalität sei möglich,
wenn die Sanktionen krimineller Handlungen den möglichen Nutzen über-
steigen würden, denn der Mensch würde bei seinen Handlungsentscheidun-
gen Kosten und Nutzen der möglichen Alternativen abwägen.
Nach dieser Logik müsste die Todesstrafe eine abschreckende Wirkung
haben, denn die Kosten sind bei dieser Sanktion für den Täter oder die Täte-
rin so groß, dass die Kosten-Nutzen-Bilanz in jedem Fall negativ ausfallen
muss. Folglich müssten rational-utilitaristische Personen alle Handlungen
unterlassen, die mit der Todesstrafe bewehrt sind. Die Richtigkeit dieser
Theorie kann jedoch angezweifelt werden, denn es liegen zahlreiche empiri-
sche Untersuchungen vor, die unterschiedliche Ergebnisse erzielen. Diese
Diskrepanz ist das Thema des vorliegenden Berichts, in dem eine Metaana-
lyse über empirische Studien zur Todesstrafe vorgestellt wird, wobei die
Frage nach den Gründen für die unterschiedlichen Befunde im Mittelpunkt
steht. 7
11. Forschungsstand
Mit der Publikation "The Deterrent Effect of Capital Punishment: A
Question of Life and Death" im American Economic Review aus dem Jahr
1975 hat Isaac Ehrlich eine Diskussion zur Wirkung der Todesstrafe ausge-
5 Beccaria (1766) Über Verbrechen und Strafen. Übersetzt und herausgegeben von W. Alff,
1988~ Bentham (1823) An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. Reprint,
1996~ Feuerbach (1799) Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen
Rechts 1.
6 Becker Journal of Political Economy 76 (1968), 169-217~ Ehrlich Journal of Political
Economy 81 (1973),521-565.
7 Das Projekt wurde von der DFG gefördert. Über das Forschungsprojekt sind bisher fol-
gende Publikationen erschienen: Dölling/Entorj/Hermann/Häring/Rupp/Woll Soziale Probleme
2006, 193-209~ Dölling/Entorj/Hermann/Rupp/Woll in: Lösel/Bender/Jehle (Hrsg.), Krimino-
logie und wissensbasierte Kriminalpolitik. Entwicklungs- und Evaluationsforschung, 2007,
S. 633-648~ Dölling/Entorj/Hermann/Rupp European Journal of Criminal Policy and Research
15 (2009), 201-224; Rupp Meta Analysis of Crime and Deterrence: A Comprehensive Review
of the Literature, Dissertation 2008. http://tuprints.ulb.tu-darmstadt.dell 054/2/rupp_diss. pdf.
Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe 793
lÖSt,8 Die Daten zu der Studie stammten aus den Uniform Crime Reports
(UCR), der Kriminalstatistik des FB!. Für den Zeitraum 1933 bis 1969
konnte Ehrlich durch multiple Regressionsanalysen zeigen, dass die Mord-
und Totschlagrate pro Einwohner von verschiedenen Indikatoren der Exe-
kutionswahrscheinlichkeit abhängig ist, wobei soziodemografische Variab-
len wie beispielsweise die Arbeitslosenquote und der nicht-weiße Bevölke-
rungsanteil kontrolliert wurden. Die Effektschätzungen waren signifikant
und bestätigten die Abschreckungshypothese. Zur Kontrolle variierte Ehr-
lich den Untersuchungszeitraum und belegte damit die Stabilität des Ergeb-
nisses. Sein Fazit: "In light of these observations one cannot reject the hy-
pothesis that punishment in general, and execution in particular, exert a
unique deterrent effect on potential murderers".9 Letztlich verhindere jede
Exekution acht Morde, so Ehrlich.
William Bowers und Glenn Pierce, zwei Sozialwissenschaftier, kritisier-
ten im selben Jahr die Studie von Ehrlich. lO Sie bemängelten die Validität
der von Ehrlich verwendeten Daten und konnten zeigen, dass sich die Er-
gebnisse ändern, wenn lediglich die Zeiträume der UCR-Daten variiert
werden und die gleichen statischen Verfahren zur Anwendung kommen, die
Ehrlich verwendet hatte. Die Autoren fanden keine eindeutigen Ergebnisse
mehr, wenn als Endpunkte die Jahre 1960 bis 1964 und nicht 1969 - wie in
der Ehrlich-Studie - betrachtet wurden. Die Regressionskoeffizienten für
die Messung des Effekts der sechs Exekutionsvariablen auf die Mord- und
Totschlagsrate waren nur noch zum Teil theoriekonsistent, und für den
Zeitraum von 1960 bis 1963 widersprachen alle Effektschätzungen der
Abschreckungstheorie.
Isaac Ehrlich hat in einer weiteren Publikation die Datenbasis erweitert
und UCR-Daten mit Daten der Sterbestatistik verknüpft. 11 Dabei wurden
Staaten der USA verglichen, die sich in der Gesetzgebung zur Todesstrafe
unterschieden. Als Messzeitpunkte wählte Ehrlich hier die Jahre 1940 und
1950, da zu diesem Zeitraum die Exekutionsraten einzelner Staaten beson-
ders hoch waren. Die Analysen zum Einfluss der Exekutionsrate auf die
Tötungsrate bestätigten die Ergebnisse seiner oben beschriebenen Studie.
Brian Forst hat versucht, die Ergebnisse der Ehrlich-Studie zu replizie-
ren, und wiederholte die Analyse mit Daten der Jahre 1960 und 1970. 12
Allerdings konnten auf Grund fehlender Werte lediglich 33 Staaten der
USA berücksichtigt werden. Der Autor führte wie Ehrlich multiple Regres-
Bei der Interpretation der Ergebnisse der Metaanalyse von Yang und Les-
ter ist es hilfreich, die Argumentationslogik zu verdeutlichen. Die Forscher
kommen zu dem Ergebnis, dass ein Teil der Studien die Abschreckungs-
hypothese widerlegt, andere nicht. Daraus kann aber nicht abgeleitet wer-
den, welches Ergebnis letztlich falsch ist; es ist unklar, ob Längsschnitt-
oder Querschnittuntersuchungen zu falschen Ergebnissen führen. Zudem
sind die Unterschiede in den Korrelationen aus Längs- und Querschnittda-
ten minimal. In der oben erwähnten Literaturübersicht von Chan und Oxley
wurde für jede der berücksichtigten Studien angegeben, ob es sich um eine
Längsschnitt- oder Querschnittuntersuchung handelt. Von den dort berück-
sichtigten Längsschnittstudien bestätigen 27% und von den Querschnittstu-
dien 25% die Abschreckungshypothese. Letztlich wurde in der Metaanalyse
lediglich geprüft, ob Effektschätzungen aus Längsschnitt- bzw. Quer-
schnittuntersuchungen signifikant von null verschieden sind. Die eigentlich
relevante Frage, ob sich Effektschätzungen aus Längsschnitt- und Quer-
schnittuntersuchungen signifikant unterscheiden, wurde nicht behandelt.
Ein weiteres Problem der Arbeit von Yang und Lester ist die Art der An-
wendung der Metaanalyse. Metaanalysen werden sowohl eingesetzt, um die
Ergebnisse einzelner Studien zusammenzufassen~ als auch, um Unterschie-
de in Untersuchungsergebnissen zu erklären. Diese beiden Ziele der Meta-
analyse basieren aber auf unterschiedlichen Voraussetzungen. Yang und
Lester verwenden die Metaanalyse in erster Linie, um Ergebnisse von Stu-
dien zusammenzufassen. Dadurch wird die Genauigkeit und Zuverlässigkeit
von Schätzwerten erhöht, denn die zu Grunde liegende Fallzahl ist größer
als in jeder Einzelstudie. 15 Eine Voraussetzung der Zusammenfassung von
Untersuchungsergebnissen ist, dass alle einbezogenen Untersuchungen auf
unabhängigen Zufallsstichproben aus einer einzigen Grundgesamtheit basie-
ren. Dies ist bei Studien zur Abschreckungswirkung nicht der Fall. Hier
werden in der Regel kriminalstatistische Daten verwendet, die auf ein Zeit-
intervall begrenzt sind. lsaac Ehrlich sowie William J Bowers und Glenn L.
Pierce beispielsweise haben in ihren Studien Daten der US-amerikanischen
Kriminalstatistik für den Zeitraum von 1935 bis 1969 verwendet, also iden-
tische Stichproben. 16 Viele Studien überschneiden sich erheblich in der
berücksichtigten Datenmenge. Dies bedeutet, dass in der Metaanalyse von
Studien zur Todesstrafe häufig die Fallzahl für die zusammengefasste Sta-
tistik deutlich kleiner ist als die Summe der Fallzahlen der einzelnen Stu-
dien, und dies führt zu fehlerhaften Schätzungen von Signifikanzniveaus für
zusammengefasste Statistiken.
17 Zur Metaanalyse siehe: Fricke/Treinis Einführung in die Metaanalyse. Methoden der Psy-
chologie, Vol. 3, 1985; Rosenthai Meta-Analytic Procedures for Social Research. Revised
Edition, 1991.
Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe 797
wurde, als auch auf die abhängige Variable, die delinquentes Handeln er-
fasst. Hier wurden folgende Variablen in die Analyse einbezogen:
- Gesetzliche Androhung der Todesstrafe (nein / ja)
- Anzahl der Verurteilungen zur Todesstrafe (nein / ja)
- Anteil der Verurteilungen zur Todesstrafen an allen Verurteilungen
(nein / ja)
- Anzahl der Vollstreckungen von Todesstrafen und Exekutionsrate (nein/
ja)
- Anzahl polizeilich registrierter Taten
- Anzahl polizeilich registrierter Tatverdächtiger
- Anzahl Verurteilte
- Anzahl Inhaftierte
- Kriminalitätsbelastungsziffer
Eine weitere Größe, die das Ergebnis einer Untersuchung beeinflussen
könnte, ist die Konstruktion des statistischen Modells, das den Effektschät-
zungen zu Grunde liegt. Nahezu alle statistischen Analysen wurden multi-
variat durchgeführt, so dass die Auswahl der berücksichtigten Drittvariablen
ein wichtiger Aspekt der Modellspezifikation ist. Für die Erklärung der
Höhe der Effektschätzung wurde bedacht, welche Drittvariablen bei einer
Effektschätzung berücksichtigt wurden:
- Alter (nicht berücksichtigt / berücksichtigt)
- Geschlecht (s.o.)
- Familienstand (s.o.)
- Nationalität (s.o.)
- Schulbildung (s.o.)
- Einkommen (s.o.)
- Arbeitslosigkeit (s.o.)
- Religion (s.o.)
- Jugendliche (s.o.)
- Hautfarbe (s.o.)
- Einkommensdivergenz (s.o.)
- Armut, Wohlfahrt (s.o.)
- Urbanität (s.o.)
- BIP, GDP (s.o.)
- Bevölkerungswachstum (s.o.)
- Erwerbspersonen (s.o.).
Zudem kann die Modellspezifikation eine Rolle spielen. Die einbezoge-
nen Variablen sind:
- Anzahl der berücksichtigten Kontrollvariablen
Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe 801
zienten mit der gewichteten Methode der kleinsten Quadrate geschätzt wur-
den. Die erklärte Varianz liegt bei 24 Prozent.
Delinquenzrate führen. Aus der Sicht dieser Theorie wäre ein Modell zur
Erklärung von Delinquenz falsch spezifiziert, wenn diese Merkmale fehlen
würden. Eine solche Fehlspezifikation müsste die Schätzungen zum Ein-
fluss der Todesstrafe auf Delinquenz tangieren. In bivariaten Analysen zeigt
sich besonders deutlich, wie die Berücksichtigung von nur einer der beiden
Kontrollvariablen das Ergebnis tangiert. Der Anteil theoriekonsistenter und
signifikanter Effektschätzungen liegt bei 34%, wenn die Arbeitslosigkeit als
Kontrollvariable berücksichtigt wird; bei einer Berücksichtigung des Brut-
toinlandsprodukts liegt dieser Anteil bei 80/0. Nach der Anomietheorie
müssten beide Variablen relevant sein und die Berücksichtigung lediglich
einer Variable müsste zu verzerrten Schätzungen führen. Allerdings gibt es
von allen Effektschätzungen dieser Metaanalyse keine einzige, die beide
Merkmale als Kontrollvariablen berücksichtigt hat, so dass alle Effektschät-
zungen verzerrt sein dürften.
Nach Tabelle 2 hat auch die Modellspezifikation einen Einfluss auf das
Untersuchungsergebnis. Dies stimmt mit dem Ergebnis der Metaanalyse
von Yang und Lester überein. 22
25 Manstetten Das Menschenbild in der Ökonomie - Der homo oeconomicus und die Anth-
ropologie von Adam Smith, 2002~ Diet:= Der hon1o oeconomicus, 2005~ Dahrendorf Homo
Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen
Rolle, 16. Aufl. 2006~ Weber, M. Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der Verstehenden
Soziologie, 5. Aufl. 1980 (Studienausgabe), hrsg. von 1. Winckelmann~ Auer Das Menschen-
bild als rechtsethische Dimension der Jurisprudenz, 2005~ Böckenförde Vom Wandel des
Menschenbildes im Recht, 2001~ Dölling Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie,
2007,59-62.
Die Abschreckungswirkung der Todesstrafe 805
Erwerbspersonen -0,17 -- --
VII. Fazit
Insgesamt gesehen sprechen die Ergebnisse der Metaanalyse mit Studien
zur Todesstrafe für eine erhebliche Verzerrung der Forschungsergebnisse.
808 Dieter Hermann
Den größten Einfluss auf die Ergebnisse hat der Forschungskontext; die
Fachrichtung der Forscher und des Publikationsorgans bestimmen die (pub-
lizierten) Resultate. Auf Grund der empirischen Untersuchungen von Kri-
minologen, Soziologen oder Rechtswissenschaftlern müsste man die Hypo-
these von der Abschreckungswirkung der Todesstrafe ablehnen, während
die Untersuchungsergebnisse von Wirtschaftswissenschaftlern den umge-
kehrten Schluss nahelegen, wenn die Veröffentlichung in einer wirtschafts-
wissenschaftlichen Zeitschrift erfolgte. Durch diese Mechanismen der Wis-
senschaftsproduktion und -publikation sind fachspezifisch unterschiedliche
Wissenswelten entstanden: Während im wirtschaftswissenschaftlichen Kon-
text durch die Bestätigung der Abschreckungshypothese das Bild vom ho-
mo oeconomicus gefestigt wird, unterstützen die Untersuchungen von Kri-
minologen, Soziologen oder Rechtswissenschaftlern die in diesen
Fachrichtungen gebräuchlichen nicht-utilitaristischen Handlungstheorien.
Die durchgeführte Metaanalyse kann die Frage, welche Untersuchungser-
gebnisse zuverlässiger sind, nicht beantworten. Allerdings legen die Analy-
sen der hier vorgestellten Studie eine Hypothese nahe, die den Einfluss des
Forschungskontextes auf das Untersuchungsergebnis erklären kann. Sind
Abschreckungseffekte der Todesstrafe nur gering oder gar nicht vorhanden,
so können in Untersuchungen zufällig signifikante Ergebnisse erzielt wer-
den. Bei einem Signifikanzniveau von 5% sind 50/0 der Effektschätzungen
aus Zufallsstichproben signifikant, auch wenn in der Grundgesamtheit kein
Zusammenhang besteht. Bei den Untersuchungen zur Abschreckungswir-
kung der Todesstrafe werden zwar keine Zufallsstichproben verwendet,
aber die vorgestellten inferenzstatistischen Überlegungen können auch auf
andere Stichprobenarten übertragen werden das Auswahlverfahren für die
Untersuchungsobjekte beeinflusst das Untersuchungsergebnis. Zudem füh-
ren Modifikationen der Modellspezifikation, des Analyseverfahrens und der
Operationalisierungen zu einem veränderten Anteil signifikanter Effekt-
schätzungen. Das theoretische Vorverständnis des Forschers und Selektio-
nen durch den Publication Bias haben eine Filterwirkung, so dass die veröf-
fentlichten Ergebnisse durch fachspezifische Wissenschaftsproduktions-
und Publikationsprozesse verzerrt sind.
Nach dieser Hypothese könnte nicht von einer Abschreckungswirkungs-
wirkung der Todesstrafe ausgegangen werden. Auf jeden Fall können die
Publikationen zur Abschreckungswirkung der Todesstrafe nicht zur Legiti-
mation dieser Sanktion herangezogen werden, denn das Ergebnis von Stu-
dien ist in erster Linie vom Forschungskontext abhängig. Somit fehlt der
Todesstrafe die generalpräventive Rechtfertigung.
VI. Strafprozessrecht
Gefahren im strafprozessualen Denken
LUTZ MEYER-GOSSNER
I.
Im materiellen Strafrecht besteht bei der Auslegung des Gesetzes weniger
eine substantielle, als mehr eine individuell-konkrete Gefahrenlage: Es geht
stets um die Frage, ob ein bestimmter Sachverhalt unter eine Norm des
StGB oder eines strafrechtlichen Nebengesetzes (BtMG, WaffG usw.) zu
subsumieren ist; ist dies möglich, kommt es zur Verurteilung, scheidet dies
aus, muss freigesprochen werden. Natürlich sind hierbei die bei der Geset-
zesanwendung gebotenen Auslegungsmöglichkeiten zu beachten, nämlich
die grammatische, die systematische und die teleologische Auslegung, zu
der noch die verfassungskonforme Auslegung und die Beachtung des objek-
tivierten Willens des Gesetzgebers hinzutritt. l
Aber dass unter Anwendung dieser Auslegungsmethoden ein Ergebnis
gefunden werden muss, ist unstreitig. Es gibt im materiellen Recht nicht
irgendwelche weiteren Prinzipien, die etwa die Aufgabe der Gesetzessub-
sumtion zur Findung des Ergebnisses (Strafbarkeit oder nicht?) ablösen
könnten.
Anders sieht es im Prozessrecht aus. Hier stehen zwar die Normen der
StPO und der sonstigen prozessualen Gesetze (insbesondere GVG und
OWiG) zur Verfügung; aber immer dann, wenn ein Verfahren nicht strikt
nach diesen vorgegebenen Normen abgelaufen ist, stellt sich die Frage, was
die Folge eines Regelverstoßes ist oder sein soll. Hier ist die Phantasie des
Gesetzesanwenders gefragt; dabei droht eine große Gefahr: Der Gesetzes-
anwender kann Folgerungen "erfinden", um zu einem bestimmten Ergebnis
zu gelangen. Die prozessuale "Stimmigkeit" der Entscheidung kann da-
durch beseitigt und ein den Rechtsanwender zwar zufrieden stellendes, der
Prozessordnung aber widersprechendes - eben ein nicht "richtiges" - Er-
gebnis erzielt werden.
Diese zunächst vielleicht etwas theoretisch anmutenden Erwägungen sol-
len im Folgenden an einigen Beispielen aus der Rechtsprechung erläutert
1 Vgl. Meyer-Goßner StPO, 52. Aufl. 2009, Einl. Rn. 190 ff.
812 Lutz Meyer-Goßner
11.
1. Im ersten Fall geht es um das Problem, eine rur den Beschuldigten "gu-
te", ihn also nicht benachteiligende - oder sogar ihm einen Vorteil verschaf-
fende - Entscheidung zu finden. Hierzu soll eine Entscheidung des OLG
München 3 dienen, die sich ihrerseits allerdings an früherer Rechtsprechung
des BGH4 orientiert hat.
Der Sachverhalt: Das Amtsgericht hatte die Angeklagte durch einen Straf-
befehl wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu 60 Tagessät-
zen zu je 20 Euro verurteilt. Die Angeklagte legte hiergegen verspätet Ein-
spruch ein. Das Amtsgericht übersah die Verspätung und verurteilte die
Angeklagte nach durchgeführter Hauptverhandlung zu 40 Tagessätzen zu je
15 Euro. Auf die (Sprung-)Revision der Angeklagten hob das OLG das
Urteil auf und verwarf den Einspruch als unzulässig, allerdings mit der
Maßgabe, dass es bei der durch das Urteil verhängten (herabgesetzten)
Geldstrafe verbleibe. Zur Begründung führt der Senat aus,5 er müsse das in
§§ 331, 358 Abs. 2 StPO verankerte Verbot der Schlechterstellung beach-
ten, denn die Revision hätte sonst "tatsächlich dazu geführt, dass sie zu
einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 20 Euro verurteilt wäre, während
2 Dazu etwa LR-Lüderssen/Jahn, 26. Aufl. 2006, Einl. Abschn. M. Rn. 1a ff; Jahn in:
Jahn/Nack (Hrsg.), Strafprozessrechtspraxis und Rechtswissenschaft - getrennte Welten? 2008,
S.7.
3 NJW 2008, 1331 mit Anm. Meyer-Goßner.
4 BGHSt 18, 127.
5 Fn. 3, 1332.
Gefahren im strafprozessualen Denken 813
So hat denn der BGH sich auch bemüßigt gefühlt, in der neueren Ent-
scheidung 8 am Ende darauf hinzuweisen, "es werde auf der Hand liegen,
dem Angeklagten im Gnadenwege die gleiche Strafreduzierung zu gewäh-
ren, die in dem gegenstandslosen Senatsbeschluss ausgesprochen worden
ist". Aber liegt das wirklich "auf der Hand"? Der Angeklagte hatte sich
doch durch die Revisionsrücknahme mit dem Urteil des Landgerichts ein-
verstanden erklärt. Wieso soll er jetzt einen Vorteil daraus ziehen dürfen,
dass der BGH trotz Rechtskraft der landgerichtlichen Entscheidung die
Strafe herabgesetzt hatte? In allen anderen Fällen, in denen eine rechtsfeh-
lerhafte Entscheidung rechtskräftig geworden ist, muss der Angeklagte dies
doch auch hinnehmen. Nur wenn die Entscheidung derart fehlerhaft ist, dass
ihre Aufrechterhaltung unerträglich wäre, greift die Gnadenbehörde ein.
Davon konnte hier aber keine Rede sein.
Noch deutlicher wird dies im Ausgangsfall. Warum soll die Angeklagte
hier einen Vorteil erhalten, der ihr - weil sie die Einspruchsfrist versäumt
hatte - doch gar nicht zustand? Eh. Schmidt hat hier sehr hübsch von einer
"ergatterten Vergünstigung" gesprochen. 9 Wenn es also bei der im Strafbe-
fehl rechtskräftig verhängten Strafe bleibt, so wird der Angeklagten nur die
"ergatterte Vergünstigung" genommen, aber nicht ein Nachteil zugefügt. 10
Der menschlich verständliche Gedanke, dem Angeklagten keinen Nachteil
zufügen zu wollen, wird hier somit dahin verkehrt, ihm ungerechtfertigte
Vorteile zu sichern. Der Wunsch, ein "gutes" Ergebnis herbeizuführen, hat
das strafprozessual richtige Denken blockiert!
2. Kürzlich ist im Anschluss an eine BGH-Entscheidung auch ein heftiger
Streit darüber entbrannt, ob man sich denn mit einem "ungerechten" Ergeb-
nis abfinden dürfe. Worum geht es?
In einem Strafverfahren waren eine Heranwachsende und ein Erwachse-
ner gemeinsam angeklagt und vom Amtsgericht des gemeinschaftlichen
Raubes schuldig gesprochen worden. Beide legten gegen ihre Verurteilung
Berufung ein, die das Landgericht als unbegründet verwarf. Der erwachsene
Angeklagte legte sodann gegen das Berufungsurteil Revision ein. Das OLG
Karlsruhe ll hielt die Revision für begründet; es war der Ansicht, mögli-
cherweise liege (wegen fehlender finaler Verknüpfung) nur Diebstahl und
Nötigung vor. Es wollte das Urteil daher aufheben und die Aufhebung ge-
mäß § 357 StPO auf die Heranwachsende erstrecken. An dieser Entschei-
dung sah es sich aber durch ein Urteil des OLG Oldenburg 12 gehindert, das
8 Fn. 6.
9 Lehrkommentar zur StPO und zum OVG, Nachtragsband 1, 1967, § 411 StPO Rn. 15.
10 V gl. dazu weiter Meyer-Goßner N1W 2008, 3132.
11 Z11 2006, 74.
12 N1W 1957, 1450.
Gefahren im strafprozessualen Denken 815
3. Noch viel bedenklicher ist es aber, wenn die Rechtsprechung neue ver-
fahrensrechtliche Formen "erfindet", die in der StPO nicht vorgesehen sind.
Damit wird dann nämlich eine freie Rechtsschöpfung betrieben, wodurch
die strafprozessual vorgeschriebenen Formen aufgelöst werden. Hierfür
bietet die Entscheidung BGHSt 35, 137 ein (nicht-) schönes Beispiel:
In dem Revisionsverfahren hatte die Staatsanwaltschaft ohne erkennbaren
Grund fast fünf Jahre verstreichen lassen, bis sie die Akten dem BGH nach
§ 347 StPO vorgelegt hatte. Weil dem BGH eine abschließende Entschei-
dung der Sache aus materiell-rechtlichen Gründen nicht möglich war, wäre
eine Zurückverweisung der Sache an das Landgericht erforderlich gewesen.
Der Senat wollte das nun schon so lange anhängige Verfahren aber ab-
schließen. Er schlug der Staatsanwaltschaft die Einstellung nach § 153
Abs. 2 StPO vor; die Staatsanwaltschaft stimmte jedoch nicht zu. Zur An-
nahme eines Verfahrenshindernisses wegen überlanger Prozessdauer ver-
mochte sich der 3. Strafsenat des BGH nicht durchzuringen. 17 Was also tun?
Der BGH entschloss sich zu einem "Abbruch des Verfahrens"; das Ver-
fahren war dadurch - wie gewünscht - beendet und damit war "das passen-
de Ergebnis" gefunden! Aber um welchen Preis! Der BGH hatte eine neue
Form der Verfahrensbeendigung "erfunden". Obwohl er mit dem "Verfah-
rensabbruch" inhaltlich nichts anderes als eine Verfahrenseinstellung vor-
genommen hatte, wurde formell die Einstellung wegen eines Verfahrens-
hindernisses vermieden. Ein Gericht darf aber nicht einfach neue, ihm
passende Verfahrenserledigungsformen kreieren, nur um ein passendes
Ergebnis zu erzielen: Da das Gesetz als Voraussetzung der Verfahrensein-
stellung ein Verfahrenshindernis verlangt, dürfen sonstige Verfahrensver-
stöße nicht als ausreichend für eine Einstellung des Verfahrens angesehen
werden. Der BGH hätte daher, wenn er weder eine Einstellung des Verfah-
rens wegen eines Verfahrenshindernisses bejahen wollte noch eine Zurück-
verweisung zu neuer Verhandlung und Entscheidung nach § 354 Abs. 2
StPO für vertretbar hielt, den Angeklagten freisprechen müssen, weil die
rechtliche Möglichkeit, ihm eine Straftat in noch angemessener Zeit nach-
zuweisen, damit nicht mehr bestand; 18 der Senat durfte sich aber nicht ein-
fach ein ihm passendes Ergebnis schneidern.
4. Einem zum Verfahren "passenden" Ergebnis ähnlich ist auch das dem
Verfahren "nützliche" Ergebnis, "nützlich" nämlich insofern, als es geeignet
ist, das Verfahren schnell und vermeintlich komplikationslos zu beenden.
17 Erst im Jahre 2000 hat der 2. Strafsenat des BGH - BGHSt 46, 159 - das Vorliegen eines
Verfahrenshindernisses "in außergewöhnlichen Einzelfällen" anerkannt.
18 Vgl. ausführlicher zum Ganzen Meyer-Goßner FS Eser, 2005, S. 383 ff.; dort auch -
S. 379 ff. - zu einem weiteren Fall einer verfehlten "Rechtsschöpfung" durch den BGH.
Gefahren im strafprozessualen Denken 817
Hier bietet sich als Beispiel die Behandlung des § 329 StPO in der Recht-
sprechung an:
Nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO ist die Berufung des Angeklagten ohne Ver-
handlung zur Sache zu verwerfen, wenn der Angeklagte zu Beginn der
Hauptverhandlung ohne genügende Entschuldigung nicht erschienen ist.
Das Berufungsgericht könnte also darauf spekulieren, dass der Angeklagte
nicht zur Hauptverhandlung kommt und deswegen darauf verzichten, die
Akten - oder zumindest das erstinstanzliche Urteil - durchzuarbeiten. Das
wird ein verantwortungsbewusster Richter aber natürlich nicht tun; denn er
nimmt lieber, falls der Angeklagte nicht erscheint, die vertane Zeit für das
Aktenstudium in Kauf, als die Berufungsverhandlung unvorbereitet durch-
zuführen, falls der Angeklagte kommt. Nun passiert es aber immer wieder,
dass der Berufungsrichter beim Aktenstudium feststellt, dass eine Prozess-
voraussetzung fehlt, vornehmlich, dass die Sache schon vor Erlass des
amtsgerichtlichen Urteils verjährt war oder dass ein notwendiger Strafantrag
fehlte.
Die verfahrensmäßige Behandlung scheint schnell gefunden: Das Verfah-
ren wird außerhalb der Hauptverhandlung gemäß § 206a StPO eingestellt, 19
und damit ist die Sache bei Verjährung endgültig, bei fehlendem Strafantrag
jedenfalls zunächst erledigt. Aber ist dieses - dem Verfahren sicherlich
"nützliche" - Ergebnis richtig?
Wenn der Berufungsrichter bei Durcharbeiten von Akte und Urteil einen
materiell-rechtlichen Fehler erkennt - schlimmstenfalls, dass die abgeurteil-
te Tat gar nicht strafbar ist -, muss er trotzdem Hauptverhandlungstermin
ansetzen und die Berufung verwerfen, wenn der Angeklagte zum Termin
nicht erscheint. Hat das Amtsgericht z.B. einen Diebstahl angenommen,
obwohl nur ein strafloser furtum usus gegeben ist, kann der Fehler nur
durch ein freisprechendes Urteil in einer Berufungsverhandlung behoben
werden. Hat das Amtsgericht aber zugleich übersehen, dass rur die "Tat"
nach § 247 StGB ein Strafantrag erforderlich gewesen wäre, der nicht vor-
liegt, soll es das Verfahren ohne weiteres einstellen können? Das kann nicht
richtig sein; denn, um zu § 247 StGB zu kommen, muss das Gericht
zwangsläufig zunächst § 242 StGB prüfen. 20 Aber davon abgesehen liegt
hier ein grundsätzlicher Fehler vor:
Die Annahme, ein Verfahrenshindernis müsse stets von Amts wegen be-
achtet werden und zur Einstellung des Verfahrens ruhren,21 ist eine überhol-
te Vorstellung: So hat der BGH schon 1961 entschieden,22 dass eine zwar in
23 Meyer-Goßner (Fn. 1), § 346 Rn. 11 ~ a. M. aber immer noch Roxin/Schünemann Strafver-
fahrensrecht, 26. Aufl. 2009, § 55 Rn. 66.
24 A.a.O. S. 119.
25 Zutreffend daher die Kritik von Duttge NStZ 2001, 442.
26 Zuerst in GA 1973,366, sodann in FS RieB, 2002, S. 332 und in FS Roxin, 2001, S. 1349.
Gefahren im strafprozessualen Denken 819
In der Entscheidung BGHSt 24, 208 hatte sich der BGH auf Vorlegung
durch das Bayer. Oberste Landesgericht damit zu befassen, ob eine Revisi-
onserstreckung nach § 357 StPO auch dann zulässig sei, wenn das Revisi-
onsgericht durch Beschluss vor der Hauptverhandlung und nicht in der
Hauptverhandlung durch Urteil entscheide. Der BGH hat diese Frage - in
Übereinstimmung mit der damals schon ganz h.M. in Rechtsprechung und
Schrifttum27 - zutreffend bejaht. Ohne die Brisanz der Entscheidung zu
erkennen, hält der BGH dabei die Einstellung nach § 206a StPO für zulässig
und behandelt erst am Ende seines Beschlusses 28 auch die Einstellung nach
§ 349 IV StPO, wobei er diese lediglich zur Bekräftigung seiner zuvor ge-
troffenen Entscheidung heranzieht.
Der BGH hatte sich bei seiner Entscheidung über den Wortlaut des § 357
StPO hinweggesetzt; denn dieser knüpft die Revisionserstreckung ausdrück-
lieh an die Urteilsaufhebung an; eine Aufhebung des Urteils erfolgt bei
§ 206a StPO jedoch - unstreitig - nicht, diese macht das angefochtene Ur-
teil vielmehr nur gegenstandslos. Schlimmer ist aber, dass Rechtsprechung
und Schrifttum aus der Entscheidung die Folgerung gezogen haben, ein
Verfahren könne auch dann nach § 206a StPO eingestellt werden, wenn der
Tatrichter ein Verfahrenshindernis übersehen hatte, der Fehler also ins an-
gefochtene Urteil eingegangen war. Auch der BGH war offenbar der An-
sicht, Einstellung nach § 206a und Einstellung nach § 349 Abs. 4 stünden
gleichberechtigt nebeneinander. Daraus wurde flugs die Folgerung gezogen,
das Revisionsgericht könne sich aussuchen, nach welcher Vorschrift es
entscheiden wolle. 29 So hat der BGH auch noch 2007 entschieden 30 und ein
Verfahren "unter Aufhebung des Urteils" C!) nach § 206a StPO eingestellt.
Aber das ist falsch, wie nun auch die oberlandesgerichtliehe Rechtspre-
chung 31 und die inzwischen wohl überwiegende Ansicht im Schrifttum32
erkannt haben.
Nur weil es einfach schien, wurden die gesetzlichen Unterschiede zwi-
schen zwei Vorschriften einplaniert. Dass es doch ausgeschlossen ist, dass
die StPO dieselbe Verfahrensfrage zweimal regelt, wurde dabei geflissent-
lich übersehen. Es handelt sich hierbei nicht nur um eine theoretische Ge-
dankenarbeit ohne praktische Auswirkungen: Die Anwendung des § 357
StPO hängt davon ab, ob eine Einstellung nach § 206a wegen eines erst
nach Erlass des tatrichterlichen Urteils eingetretenen Verfahrenshindemis-
ses erfolgte oder ob dieses bereits beim tatrichterlichen Urteil vorlag, aber
übersehen wurde: Im ersten Fall erfolgt keine Urteilsaufhebung, sondern
nur die Einstellung nach § 206a StPO und folglich auch keine Revisions-
erstreckung, im zweiten Fall wird das Urteil aufgehoben und § 357 StPO ist
anwendbar. Die vermeintlich "einfache" Lösung, § 206a StPO stets anzu-
wenden, enthält also die Gefahr einer Fehlentscheidung bei § 357 StPO.
6. Eine letzte "Gefahr", die allerdings ganz anders liegt als die bisher er-
örterten Fälle, soll zuletzt noch erörtert werden: Die Rechtsprechung darf
zwar nicht die Konsequenzen aus den Augen verlieren, die eine Entschei-
dung für die Aufklärung von Straftaten haben kann. Hier kommt es aber
vor, dass die Rechtsprechung vor den Folgerungen zurückschreckt und mit
nicht überzeugenden Begründungen der Beantwortung einer Frage aus-
weicht. Der dafür wohl als besonders einschlägig zu bezeichnende Fall ist
das Problem, ob ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht nach § 136 Abs. 1
S. 2 1. Alt. StPO ein Verwertungsverbot hinsichtlich der vom Beschuldigten
ohne Belehrung gemachten Angaben zur Folge hat. Bekanntlich hat sich der
BGH jahrzehntelang - gegen die zuletzt allgemeine Ansicht im Schrifttum -
geweigert, ein solches Verwertungsverbot anzuerkennen. 33 Nur der Hartnä-
ckigkeit des OLG Celle, das die Rechtsfrage dem BGH zunächst 1983 er-
folglos 34 und dann - ein wohl einmaliger Vorgang - erneut 1991, diesmal
erfolgreich,35 vorgelegt hatte, ist es zu verdanken, dass der BGH die längst
fällige Wende vollzog. Die Angst, die Polizei dadurch in ihrer Aufklärungs-
arbeit und überhaupt die Aufklärung von Straftaten allzu sehr zu behindern,
war aber ersichtlich groß.36 So ist wohl auch das vom 5. Strafsenat in
BGHSt 38,214 kreierte Widerspruchserfordernis zu erklären.
Die Geschichte scheint sich nun zu wiederholen: Anerkennenswerterwei-
se hat der BGH am 18. 12. 2008 nach ebenfalls jahrzehntelangem Zögern
die Notwendigkeit einer "qualifizierten Belehrung" anerkannt,37 falls der
Beschuldigte ohne Belehrung über sein Recht, Angaben zur Sache zu ver-
weigern, vernommen worden war: Bei einer erneuten Vernehmung reicht es
also nicht, ihn über sein Aussageverweigerungsrecht zu belehren, vielmehr
muss er auch darüber informiert werden, dass seine früher (ohne Belehrung)
gemachten Angaben unverwertbar sind. So weit, so gut. Der BGH ist aber
auch hier davor zurückgeschreckt, beim Fehlen einer solchen "qualifizierten
Belehrung" ein Verwertungsverbot für die Angaben des Beschuldigten in
der neuen Vernehmung zu statuieren; der BGH meint vielmehr, hier sei eine
111.
Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass gerade im Strafverfahrens-
recht die Versuchung für die Gerichte groß ist, auf nicht haltbare Weise ein
gewünschtes Ergebnis zu erzielen oder ein unerwünschtes Ergebnis zu ver-
meiden. Besondere Vorsicht ist stets bei ersichtlich "ergebnisorientierten"
Entscheidungen geboten.
Ich hoffe, dass diese kleine tour d'horizon meinem Freund Heinz Schäch
etwas Freude bereitet hat. Ich wünsche ihm weiterhin beste Gesundheit und
ungebrochene Schaffenskraft.
CLAUS ROXIN
Die Frage, wann jemand zum Beschuldigten im Sinne des § 157 StPO
wird, hat in der Rechtsprechung der neueren Zeit große Bedeutung erlangt.
Hauptsächlich beruht das darauf, dass die Rechtsprechung seit 1992 1 die
unterlassene Belehrung des Beschuldigten über sein Aussageverweige-
rungsrecht nach § 136 Abs. 1 S. 2 StPO mit einem Verwertungsverbot aus-
gestattet hat. Denn nun kann das Schicksal eines Verfahrens davon abhän-
gen, ob jemand, der ohne Belehrung gegenüber den Strafverfolgungs-
behörden selbstbelastende Angaben macht, schon Beschuldigter war oder
noch nicht. Es gibt freilich auch andere Konstellationen, bei denen es auf
die Beschuldigteneigenschaft ankommt. So ist bei der richterlichen Ver-
nehmung eines Zeugen dem Beschuldigten nach § 168c Abs. 2 die Anwe-
senheit gestattet, die nur unter den engen Voraussetzungen von § 168c
Abs. 5 S. 2 unterbleiben darf. Unterbleibt die Benachrichtigung, ist die
Aussage unverwertbar. 2
Über den Beginn der Beschuldigteneigenschaft gibt es heute theoretisch
weitgehend übereinstimmende Ansichten. Aber die Grundlage dieser Über-
einstimmung erscheint mir problematisch, und auch die praktische Umset-
zung des allgemein bevorzugten Ansatzes bereitet große Probleme. 3 Es
erscheint mir deshalb sinnvoll, den Diskussionsstand noch einmal zu hinter-
fragen.
1 BGHSt 38,214.
2 Einen solchen Fall behandelt BGH NJW 2003, 3142.
3 So auch Geppert FS F.-C. Schroeder, 2006, S. 675 ff..
4 Nähere Nachweise bei SK-Rogall, 1995, Vor § 133 StPO, Rn. 9~ Geppert a.a.O., S. 677 f.
824 Claus Roxin
5 So aber immerhin noch Peters Strafprozess, 4. Aufl. 1985, S. 201: "Es kommt nur darauf
an, dass zureichende tatsächliche Anhaltspunkte beigebracht und von einem Strafverfolgungs-
organ zur Kenntnis genommen worden sind."
6 BGHSt 38, 228.
7 Rogall Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S. 27 ff. unter Verweis
auf den damaligen § 432 I AG.
8 Etwa in BGH NStZ 1997, 398~ BGHSt 51, 370.
9 NStZ 2001, 103 (Leitsatz 1).
10 lahn JuS 2007, 962 ff., 964.
11 Ich zitiere nur exemplarisch aus der neuesten Literatur: LR-Gleß, 26. Aufl. 2007, § 136
Rn. 5~ LR-Erb, 26. Aufl. 2008, § 163a Rn. 9~ Beulke Strafprozessrecht, 10. Aufl. 2008,
Rn. 112~ Roxin/Schünemann Strafverfahrensrecht, 26. Aufl. 2009, § 25 Rn. 11 ~ Geppert
(Fn. 3).
Zur Beschuldigteneigenschaft im Strafprozess 825
Person errullt. Aber in solchen Fällen bedarf es ihrer nicht, weil die Be-
schuldigteneigenschaft ohnehin amtlich statuiert wird. Und sicher setzt die
Stellung eines Beschuldigten immer voraus, dass bei den Strafverfolgungs-
behörden der Wille zur Verfolgung einer potentiellen Straftat vorliegt und
sich in Ermittlungshandlungen manifestiert. Aber die in der Praxis auftre-
tenden Problemfalle werden damit nicht gelöst. Sie liegen in den beiden
Bereichen der Abgrenzung von Zeugen- und Beschuldigtenvernehmung und
der informatorischen Fragen von der Beschuldigtenvernehmung. In diesen
Grauzonen liefert die steuerrechtliche Formel keine weiterführenden Ergeb-
nisse.
Dass die Polizei bei einer verdächtigen Person Ermittlungen anstellt, kann
rur den Befragten noch nicht ohne weiteres eine Beschuldigteneigenschaft
(und damit die Belehrungspflicht) begründen. Denn die Strafprozessord-
nung kennt auch verdächtige Zeugen, wie sich aus § 60 Nr. 2 (Vereidi-
gungsverbot bei verdächtigen Zeugen) und § 55 StPO (Aussageverweige-
rungsrecht verdächtiger Zeugen) entnehmen lässt. Der BGH 12 hat noch
unlängst betont, dass die Strafverfolgungsorgane auch gegenüber einem
Zeugen "die Verdachtslage weiter abklären" und "den Vernommenen mit
dem Tatverdacht konfrontieren" dürfen. "Hierauf zielende Vorhalte und
Fragen" seien "nicht zwingend ein hinreichender Beleg darur, dass der
Vernehmende dem Vernommenen als Beschuldigter gegenübertritt." Die
Frage, ob jemand wegen einer Straftat verfolgt wird, lässt sich in solchen
Fällen mit Hilfe der steuerrechtlichen Formel nicht beantworten. Diese
enthält nur eine Ergebnisaussage, deren Voraussetzungen auf andere Weise
ermittelt werden müssen. Entsprechendes gilt für die Frage, ob und ggf.
beim Vorliegen welcher Umstände ein am Tatort nach den Geschehnissen
Befragter zum Beschuldigten wird.
Es kann auch nicht etwa darauf ankommen, ob die Strafverfolgungsbe-
hörden beschließen, jemanden als Beschuldigten zu vernehmen. Im Sach-
verhalt der Entscheidung BGHSt 51, 367 ff., in der es um die Frage ging, ob
eine verschwundene Ehefrau und ihre Tochter ermordet worden seien, war
bei der Vernehmung des Ehemannes noch nicht einmal klar, ob überhaupt
eine Straftat vorlag. Die Ermittlungsbehörden glaubten daher, ihn nicht als
Beschuldigten vernehmen und nicht belehren zu müssen. Trotzdem hat der
BGH 13 aus der "Art und Weise" (Leitsatz) der Vernehmung ("Das Gewis-
sen plagt Sie nicht?", "Dass Sie uns eventuell sagen, wo die Leichen sind?")
den Beschuldigtenstatus des vernommenen Ehemannes hergeleitet. Ent-
scheidend ist danach nicht der innere Wille zur Beschuldigtenvernehmung,
sondern das Verhalten des Vernehmungsbeamten "nach außen". Der Ver-
17 Vgl. AE-EV 99~ dort wird auch dargelegt, dass der französische Gesetzgeber den Begriff
heute nicht mehr verwendet.
18 Weihrauch Verteidigung im Ermittlungsverfahren, 6. Aufl. 2002, S. 22.
19 Weihrauch a.a.O., S. 23.
Zur Beschuldigteneigenschaft im Strafprozess 829
können. 2o Denn wenn Anzeigen, die kein strafbares Verhalten des Ange-
zeigten erkennen lassen oder die jeder realen Grundlage entbehren, keine
Verfolgungsaktivitäten auslösen, besteht kein Grund fur einen Schutz vor
Selbstbelastung. Wenn Erb 21 immerhin auch "das bloße Einziehen von
Erkundigungen" schon zur Begründung der Beschuldigteneigenschaft aus-
reichen lassen will, so geht auch das noch zu weit. Denn wenn solche "Er-
kundigungen" darauf abzielen, die anscheinende Haltlosigkeit einer Anzei-
ge zu bestätigen oder zu klären, ob überhaupt etwas daran ist, so wird der
Angezeigte noch nicht strafrechtlich verfolgt. Dies geschieht erst dann,
wenn durch die Anzeige ein Anfangsverdacht begründet und daraufhin
gegen ihn ermittelt wird.
In allen Fällen der ausdrücklichen Inkulpation beruht die Beschuldigten-
eigenschaft darauf, dass die Behörde selbst erklärt, sie ermittele gegen einen
Verdächtigen als Beschuldigten. Es ist also ein Willensakt der Behörde, der
die Beschuldigteneigenschaft begründet. Das Schutzbedürfnis des solcher-
maßen Inkulpierten und damit die Notwendigkeit, ihn über sein Schwei-
gerecht zu belehren, ergibt sich auch beim bloßen Bestehen eines Anfangs-
verdachts daraus, dass die Ermittlungen über den Willen zur Sach-
verhaltsaufklärung hinaus auf die Überführung des Verdächtigen zielen.
Dann aber entspricht es dem Sinn des § 136 StPO, ihn vor einer aus Un-
kenntnis der Rechtslage und der Verfahrenssituation resultierenden Selbst-
belastung zu schützen und entsprechend zu belehren.
20 Zutr. LK-Erb (Fn. 11), § 163a Rn. 12, wo in Fn. 24 Vertreter der Gegenmeinung ange-
führt werden.
21 LK-Erb (Fn. 11), § 163a Rn. 12.
22 Der Ausdruck wird auch sonst verwendet. So sagt etwa Beulke (Fn. 9), Rn. 112, "dass die
Begründung der Beschuldigteneigenschaft auch konkludent zum Ausdruck kommen kann".
23 Vgl. nur zuletzt BGHSt 51, 370.
830 Claus Roxin
24 Abw. Fincke ZStW 95 (1983), 951, demzufolge es keine Zwangsmaßnahme gibt, "die
generell inkulpativ wirkt".
Zur Beschuldigteneigenschaft im Strafprozess 831
als solchen zu überführen suchten. Denn sowohl die Auffindung der Lei-
chen wie auch die gewünschten Hinweise auf deren Fundort hätten den
Ehemann sofort als Täter entlarvt. Auch der Appell an das Gewissen anstatt
bloßer Fragen nach seinem Wissen deutet auf eine Beurteilung als mutmaß-
licher Täter.
Die Antwort auf die Frage, ob die Ermittlungsbehörden den Ehemann als
Beschuldigten verfolgen wollten, fällt bei solchen Konstellationen zwiespäl-
tig aus. Sie taten es faktisch (durch ihr Verhalten), wie der BGH 25 richtig
sieht, wenn er auf die Wirkung "nach außen, ... in der Wahrnehmung des
Betroffenen", abstellt. Sie wollten den Vernommenen aber rechtlich - durch
den Verzicht auf Zwangsmittel und gestützt auf das Fehlen konkreter Be-
weisindizien - in der Zeugenrolle belassen. Ob das rur eine Inkulpation
ausreicht, kann nicht von einer Analyse des solchermaßen gespaltenen Wil-
lenselementes, sondern nur davon abhängig gemacht werden, ob ein in
dieser Weise Vernommener den Schutz des § 136 StPO braucht. Das ist
eindeutig zu bejahen.
Die Schutzbedürftigkeit ist hier eher noch größer als in den Regelfällen
der ausdrücklichen oder der konkludenten Inkulpation. Denn während dort
meist noch Beweise gesucht werden müssen, würde eine Auffindung der
Leiche oder eine wahrheitsgemäße Antwort die sofortige Überführung des
Täters zur Folge haben. Dem Täter zu verdeutlichen, dass er dabei nicht
mitzuwirken braucht, ist aber gerade der Zweck der Belehrungsvorschrift.
Man kann daher verallgemeinernd sagen, dass die ausdrückliche oder ver-
klausulierte Frage nach der Täterschaft eines Vernommenen auch bei er-
kennbar schwacher Beweislage nur unter der Voraussetzung seiner Be-
schuldigteneigenschaft und damit nach einer vollständigen Belehrung im
Sinne des § 136 StPO (einschließlich des Hinweises auf das Verteidiger-
konsultationsrecht) gestellt werden darf.
Der BGH 26 ist also von einem richtigen Judiz geleitet, wenn er "die Art
und Weise einer Vernehmung" ggf. "zur Begründung der Beschuldigtenei-
genschaft ausreichen" lässt. Wer den Eindruck gewinnen muss, er solle
durch die Vernehmung überruhrt werden, bedarf der Belehrung über sein
Schweigerecht. Ob die objektive Beweislage eine Versetzung in den Be-
schuldigtenstand nötig macht, ist darur gleichgültig. Gerade der Versuch,
bei fehlenden Beweisen einen Vernommenen dadurch zu überrumpeln, dass
man "auf den Busch klopft", muss durch § 136 StPO verhindert werden.
Allerdings sollte man die Fälle der faktischen Inkulpation auf Konstellati-
onen beschränken, bei denen verbale Äußerungen der Ermittlungsbehörden
in dem Vernommenen den Eindruck erwecken müssen, man halte ihn rur
Anders und auch im Ergebnis ablehnend äußert sich Rogal[32 zur Ver-
dachtsinkulpation: "Ob sich eine derartige ,Willkürausnahme ' zweifelsfrei
in das Prozessrecht integrieren lässt, erscheint zweifelhaft. Denn wir hätten
es dann mit einer Statuszuschreibung ohne Inkulpation und ohne Inkulpati-
onssubjekt zu tun, was letztlich auf die objektive Theorie und ihre Schwie-
rigkeiten hinauslaufen würde. Das wäre der Rechtssicherheit nicht förder-
lich."
Die Rechtssicherheit fordert aber nur, dass der Verdachtsgrad, von dem
an jemand bei gegen ihn laufenden Ermittlungen in die Beschuldigtenrolle
einrückt, hinreichend klar bestimmt wird. Der BGH arbeitet insoweit wech-
selweise mit vier Verdachtskennzeichnungen, die wohl in etwa gleichbe-
deutend sein sollen: "Konkretheit", "Ernsthaftigkeit", "Stärke" und "Ver-
dichtung" des Verdachts. So heißt es in der Entscheidung zur faktischen
Inkulpation,33 in der es auf den Verdachtsgrad gar nicht ankam, "dass die
Strafverfolgungsbehörde ... erst bei einem konkreten und ernsthaften Tat-
verdacht zur Vernehmung des Verdächtigen als Beschuldigten verpflichtet
ist", während derselbe (erste) Senat an anderer Stelle 34 sagt: "Nicht jeder
Tatverdacht begründet bereits die Beschuldigteneigenschaft mit entspre-
chender Belehrungspflicht, es kommt vielmehr auf die Stärke des Tatver-
dachts an." Der Übergang zur Beschuldigtenvernehmung sei geboten,
"wenn sich der Verdacht so verdichtet hat, dass die vernommene Person
ernstlich als Täter der untersuchten Straftat in Betracht kommt". Da alle
diese Verdachtsgrade der StPO fremd sind und infolgedessen kaum eine
wissenschaftliche Präzisierung erfahren haben, wäre es wohl besser, an den
dringenden Tatverdacht anzuknüpfen, der durch die Verwendung im Haft-
recht feste Konturen aufweist. Auch leuchtet es unmittelbar ein, dass je-
mand, der ggf. sogar verhaftet werden könnte, den Schutz der Beschuldig-
tenbelehrung braucht. Jedenfalls wäre mit einem Rückgriff auf den
eingeführten Begriff des dringenden Tatverdachts der Rechtssicherheit
Genüge getan.
Rogall meint außerdem,35 auf die Verdachtsinkulpation gänzlich verzich-
ten zu können, "weil die Strafverfolgungsorgane ihren Verfolgungswillen
zwar zurückhalten, aber doch auf diesem Willen nicht ad kaIendas graecas
sitzen bleiben können, ohne dem ganzen Geschehen Taten folgen zu lassen.
Dann aber ist Raum fur die Feststellung des erforderlichen Verfolgungswil-
lens ... nach Maßgabe des Rechtsgedankens, den § 397 Abs. 1 AO verlaut-
bart." Wenn aber die "Taten", die den Ermittlungen folgen, in einer Ankla-
geschrift bestehen, ist der Betroffene um sein Belehrungsrecht betrogen;
und wenn die Belehrung zwar vor der Anklage, aber viel zu spät erfolgt,
kann eine überrumpelnde Selbstüberflihrung des Verdächtigen schon ge-
glückt sein. Gewiss hat Rogall Recht, wenn er betont,36 es könne niemand
"automatisch" zum Beschuldigten werden. Er muss natürlich in strafrechtli-
che Ermittlungen einbezogen sein; sonst könnte ein inkulpierender Verdacht
überhaupt nicht entstehen. Aber der Wille, einen Verdächtigen als Beschul-
digten zu verfolgen, ist keineswegs unbedingt erforderlich.
Statistisch gesehen sind sicher die Fälle der ausdrücklichen und der kon-
kludenten Inkulpation die häufigsten. Da sie aber kaum Probleme bereiten,
steht in der forensischen Praxis die Verdachtsinkulpation im Vordergrund.
Es ist deshalb nicht zutreffend, wenn Rogall sagt,37 "dass die Inkulpation
ein prozessualer Gestaltungsakt ist, der allein in der Kompetenz des zustän-
digen Organs liegt". Denn auf diese Weise wird die Praxis bei den Schwie-
rigkeiten, die die Verdachtsinkulpation mit sich bringt, im Stich gelassen.
Mustert man die in den letzten 20 Jahren entschiedenen Fälle,38 so stehen
zwei verschiedene Sachverhaltstypen im Vordergrund: Auf der einen Seite
handelt es sich um Tötungsdelikte, bei denen Vermisstensachen auffallend
häufig sind,39 auf der anderen Seite geht es um Fälle strafbaren Verkehrs-
verhaltens, bei denen ein Polizist nach der Haltereigenschaft oder einem
Alkoholkonsum fragt. 40
Bei der ersten Fallgruppe lässt sich verallgemeinernd sagen, dass eine Be-
schuldigtenbelehrung noch nicht erforderlich ist, solange die Leiche noch
nicht gefunden ist. Auch wenn dies der Fall ist, genügt kriminalistische
Erfahrung noch nicht zum Übergang von der Zeugen- zur Beschuldigten-
vernehmung. Es müssen konkrete Indizien hinzutreten, die eine Täterschaft
des Vernommenen wahrscheinlich machen. 41 Das ist ein verhältnismäßig
gut handhabbarer Maßstab. Dass gleichwohl wegen faktischer Inkulpation
belehrt werden muss, wenn die Vernehmungsbeamten sich auf Grund ihrer
kriminalistischen Erfahrung hinreißen lassen, einen Vernommenen vor
Auffindung der Leiche und ohne handfeste Indizien als wahrscheinlichen
Täter zu behandeln, hat BGHSt 51, 367 grundlegend klargestellt.
Bei der zweiten Fallgruppe hat sich die Meinung durchgesetzt, dass bei
Verkehrsdelikten vor der Frage nach der Haltereigenschaft immer belehrt
werden muss. In BGHSt 38, 227 heißt es im Anschluss an das vorlegende
OLG, "dass eine Beschuldigtenvernehmung spätestens zu dem Zeitpunkt
vorlag, als R. den Angeklagten danach fragte, ob er das Unfallfahrzeug
geführt hatte". Richtigerweise war in diesem Fall mit Geppert42 schon vor
der vorhergehenden Frage, ob der Betroffene mit dem Inhaber des im Un-
fallwagen gefundenen Führerscheins identisch sei, zu belehren gewesen.
Denn angesichts der Umstände des konkreten Falles (falsche Namensanga-
be, Personenähnlichkeit mit dem Bild im Führerschein) kam schon die Fra-
ge nach der Identität einer Frage nach der Haltereigenschaft gleich. Eine
besondere Begründung für die Notwendigkeit einer Belehrung gibt der
BGH nicht. Sie liegt aber auf der Hand und wird vom AG Bayreuth43 nach-
geliefert. Die Belehrung sei zwingend, "weil auf Grund der Haltereigen-
schaft die Fahrzeugführereigenschaft naheliegt und sich daher der Beschul-
digtenkreis derart verdichtet, dass der Halter zum Zeitpunkt der Befragung
bereits als potentieller Täter in Betracht kommt."
Bei der polizeilichen Frage an einen Autofahrer nach seinem Alkoholge-
nuss sollte außer Streit stehen, dass eine Belehrung erforderlich ist, wenn
signifikante andere Auffalligkeiten (z.B. das Fahren von Schlangenlinien)
hinzutreten. Für den Fall einer verdachtsunabhängigen Verkehrs-
Alkoholkontrolle meint allerdings das BayOLG,44 dass ein festgestellter
Alkoholgeruch im Fahrzeug noch nicht ausreiche, "Fragen des Polizeibeam-
ten nach der Herkunft des Alkoholgeruchs als ,Vernehmung' des Fahrers
mit entsprechender vorheriger Belehrungspflicht zu bewerten". Zur Be-
gründung wird lediglich ausgeführt, der Alkoholgeruch im Auto könne
"durchaus auch andere Ursachen haben als eine die Grenzen des § 24a
Abs. 1 StVG überschreitende Alkoholisierung des Fahrers". Welche Gründe
das etwa sein könnten, wird nicht mitgeteilt. Geppert45 stimmt dem zu mit
der Begründung, dass der Alkoholgeruch zur Annahme einer "grenzwert-
überschreitenden Alkoholisierung" noch nicht ausreiche.
Dem ist aber zu widersprechen. 46 Wenn das BayObLG meint, der Beamte
habe nur "im Fahrzeug" und nicht etwa "in der Atemluft des Betroffenen"
Alkoholgeruch festgestellt, so ist das eine wenig plausible Unterscheidung,
weil es äußerst nahe liegt, dass der Alkoholgeruch im Auto der "Atemluft"
des Fahrers entstammt47 und weil die "Atemluft" von der "Autoluft" kaum
zu unterscheiden sein dürfte.
Geppert ist entgegenzuhalten, dass ein noch erlaubter Alkoholkonsum,
der weniger als 0,25 mg/l Alkohol in der Atemluft ausweist (§ 24a Abs. 1
StVG) schwerlich einen Alkoholgeruch im ganzen Auto verbreitet und dass
in einem solchen Fall eine Grenzwertüberschreitung jedenfalls wahrschein-
lich sein wird.
Praktisch dürfte die Frage nach der Belehrungspflicht bei der "Frage nach
Alkohol" freilich weniger bedeutsam sein als sonst. Denn der Alkoholge-
ruch wird immer zu einem Atemalkoholtest und erforderlichenfalls einer
Anordnung nach § 81 a StPO ruhren, einerlei, ob der Betroffene belehrt
worden ist oder nicht und ob er mit oder ohne Belehrung geschwiegen,
gelogen oder die Wahrheit gesagt hat.
Die Bedeutung, die der Verdachtsinkulpation in der forensischen Praxis
zukommt, zeigt sich auch darin, dass der Grad des Verdachts zur Begrün-
dung der Beschuldigteneigenschaft selbst dann herangezogen wird, wenn
auch auf den erkennbaren Verfolgungswillen der Ermittlungsbeamten abge-
stellt werden könnte. Denn wenn sich die Indizien so verdichten, dass ein
Betroffener als wahrscheinlicher Täter angesehen werden muss, wird das in
der Regel - nicht notwendig - auch in dem Verhalten des Vernehmungsbe-
amten "nach außen" sichtbar. Auf eine derartige "faktische Inkulpation"
stützt sich die Rechtsprechung aber nur dann, wenn die Verdachtslage als
solche eine Inkulpation noch nicht nach sich zieht. Auch darin zeigt sich,
dass man die Bedeutung der Verdachtsstärke rur die Begründung der Be-
schuldigteneigenschaft nicht unterschätzen oder relativieren darf. Sie ist
keine "Inkonsequenz", sondern ein Kernelement des Beschuldigtenstatus.
VII. Schluss
Es zeigt sich also, dass die Schöpfer der Strafprozessordnung recht hatten,
als sie meinten, dass es einen einheitlichen Beschuldigtenbegriff nicht ge-
ben könne. Eine Definition des "Beschuldigten", die von stets gleichen
Begriffsmerkmalen ausgeht, ist unmöglich, weil der Beschuldigtenbegriff
nach den Schutzbedürfnissen der Betroffenen bestimmt \verden muss und
diese an unterschiedliche Prozesssituationen anknüpfen. Doch lassen sich
mit den vier vorstehend geschilderten Inkulpationsformen die in der Praxis
wichtigen Sachverhalte recht gut und genau erfassen.
Während die ausdrückliche und die konkludente Inkulpation auf einem
Willensakt der Strafverfolgungsbehörde beruhen, sind die faktische Inkul-
JÖRG-MARTIN JEHLE
I. Vorbemerkung
Heinz Schöch hat sich seit Jahrzehnten immer wieder rechtstatsächlich
und rechtspolitisch mit Untersuchungshaft befasst. So leitete er im Auftrag
des Bundesjustizministeriums zusammen mit Hans-Ludwig Schreiber in
den 1980er Jahren ein bundesweit angelegtes Forschungsprojekt, welches
die Haftpraxis des Jahres 1981 untersuchte. l In den 1990er Jahren evaluierte
er das Hessische Modellprojekt mit dem Titel "Entschädigung von Anwäl-
ten für die Rechtsberatung von Untersuchungsgefangenen", welches das
Ziel der Untersuchungshaftvermeidung durch frühe Strafverteidigung ver-
folgte. 2 Hierauf konnte das Hannoveraner Projekt "Vermeidung und Ver-
kürzung von Untersuchungshaft durch frühzeitige Strafverteidigung" auf-
bauen. 3 Zuletzt hat er sich auf der Basis dieser Erfahrungen sachverständig
vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages zum Entwurf eines
Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts geäußert. 4 Das Ergeb-
nis dürfte ihn insofern befriedigt haben, als die frühzeitige Pflichtverteidi-
gung für Untersuchungshaftgefangene, die der Gesetzentwurf der Bundes-
regierung nicht vorgesehen hatte, in § 140 Abs. 1 Nr. 4 in die StPO auf-
1 S. Schäch Wird in der Bundesrepublik Deutschland zu viel verhaftet? Versuch einer Stand-
ortbeschreibung anhand nationaler und internationaler Statistiken, FS Lackner, 1987, S. 991 ff.~
Gebauer Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik Deutschland,
1987; zum im Zuges dieses Projekts durchgeführten Part zur Haftpraxis in Niedersachsen Jabel
Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in Niedersachsen, 1988.
2 Schäch Der Einfluss der Strafverteidigung auf den Verlauf der Untersuchungshaft, 1997.
3 Jehle in: Schöch/Jehle (Hrsg.), Angewandte Kriminologie zwischen Freiheit und Sicher-
heit, 2004, S. 39 ff.; JehlelBossow BewHi 2002, 73 ff.; Busse Frühe Strafverteidigung und
Untersuchungshaft, 2008; BusselHohmann in: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.), Sicher-
heit durch Strafe?, 2003, S. 157 ff.
4 Schäch Schriftliche Stellungnahme für die öffentliche Anhörung des Rechtsausschusses
des Deutschen Bundestages am 22. April 2009 zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Untersuchungshaftrechts - BT-Drs. 16111644.
840 Jörg-Martin Jehle
10 S. z.B. Schöch (Fn. 1), S. 991 ff.; Jehle Untersuchungshaft zwischen Unschuldsvermu-
tung und Wiedereingliederung, 1985; Seebode Der Vollzug der Untersuchungshaft, 1985;
Baumann Entwurf eines Untersuchungshaftvollzugsgesetzes, 1981; Arbeitskreis Strafprozess-
reform Die Untersuchungshaft. Gesetzentwurf mit Begründung, 1983; Jung/Müller-Dietz
(Hrsg.), Reform der Untersuchungshaft. Vorschläge und Materialien, 1983.
11 Ausführlich dazu Jehle Entwicklung der Untersuchungshaft bei Jugendlichen und Heran-
wachsenden vor und nach der Wiedervereinigung, 1995, S. 24 f.
12 Vgl. dazu Seebode in: v. Koop/Klappenberg (Hrsg;), Untersuchungshaft - eine vergesse-
ne Reform?, 1998, S. 14 ff.
13 BR-Drs. 249/99.
842 Jörg-Martin Jehle
ken der Zahlen bis zum Jahr 1978 schnellten diese bis 1982 wieder hoch auf
den bis dahin höchsten Nachkriegsstand (16.500 Untersuchungshäftlinge).
Die darauf folgende Abwärtsbewegung schlug Ende der 1980er Jahre wie-
derum in einen Aufwärtstrend um, der sich zunächst langsam, dann rapide
bis zu einem bis dahin nicht da gewesenen Höchststand Mitte der 1990er
Jahre steigerte (für das alte Bundesgebiet ink!. Gesamtberlin waren es
1993: 18.895; rur Gesamtdeutschland 1995: 20.959 Inhaftierte). Seither sind
die Belegungszahlen wieder enorm gesunken auf 11.178 (Gesamtdeutsch-
land) am 31.08.2009. Ob dies "auf Maßnahmen der Haftvermeidung" zu-
rückzuruhren ist, wie das Statistische Bundesamt 14 vermutet, oder eher auf
einer veränderten Anordnungspraxis infolge einer entspannteren kriminal-
politischen Lage beruht, muss offen bleiben. Für die neuen Bundesländer
gilt zu konstatieren, dass sich die Zahlen hier - gemessen an der Bevölke-
rungszahl - insgesamt auf einem deutlich niedrigeren Niveau bewegen, am
31.08.2009 waren es nur 1.197 Untersuchungshäftlinge.
In etwa parallel zur Entwicklung der Zahlen der Untersuchungsgefange-
nen geht nach der Strafverfolgungsstatistik die Zahl der Abgeurteilten, die
vor der Aburteilung in Untersuchungshaft waren, bis zum Jahr 1979 leicht
zurück, um dann bis zu einem vorläufigen Höchststand im Jahr 1982 stark
anzusteigen (42.324 Abgeurteilte, die zuvor in Untersuchungshaft waren).
Nach einem erneuten Rückgang in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre kam
es seit 1990 wieder zu einem Anstieg. Seit 1998 sind die Zahlen rückläufig.
Im Jahr 2008 waren nur noch 29.532 Abgeurteilte zuvor in Untersuchungs-
haft. 15
Diese Schwankungen der Untersuchungshaftzahlen lassen sich - wie be-
reits Schäch in seiner Untersuchung 1997 aufgezeigt hat 16 - nicht mit ge-
setzgeberischen Veränderungen erklären; auch die Strafrechtspraxis weist
im Übrigen keine derartigen Schwankungen auf. 17 Allgemein wird ange-
nommen, dass der stete Rückgang bei unveränderter Gesetzeslage zwischen
1982 und 1986 auf ein verändertes kriminalpolitisches Klima zurückzufüh-
ren war. Der Druck überfüllter Haftanstalten und die heftig geführte Dis-
kussion, ob zu viel und zu lange verhaftet werde, habe diesen Rückgang
bewirkt. 18 Für die seit 1989 steigenden Verhaftungszahlen wurde vermutet,
dass sie sich im Wesentlichen aus der Zuwanderung und verstärkten Reise-
14 So die Aussage des Statistischen Bundesamtes, in: Justiz auf einen Blick, 2008, S. 33.
15 Diese Zahlen beziehen sich nur auf das alte Bundesgebiet einschließlich Gesamtberlin.
16 Schäch (Fn. 2), S. 15 f.
17 Vgl. Jehle (Fn. 10), S. 34 ff; ders. in: ders. (Hrsg.), Individualprävention und Strafzu-
messung, 1992, S. 349 ff; Gebauer (Fn. 1), S. 49 ff.
18 Schäch Die Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik Deutsch-
land, in: Schuh (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Straf- und Maßregelvollzugs, 1987, S. 61 f;
Geiler Untersuchungshaft in Nordrhein-Westfalen, 1998, S. 54 f
Entwicklungen der Untersuchungshaft 843
1. Dringender Tatverdacht
Der dringende Tatverdacht als erste Voraussetzung dürfte in der Praxis
ganz überwiegend zu Recht angenommen, wenn auch selten eigens begrün-
det werden. Nach der Strafverfolgungsstatistik (2008) liegen gerichtliche
Freisprüche und Einstellungen bei 3 %. Nach einer bundesweiten Aktenun-
tersuchung in den 80er Jahren, die auch die statistisch nicht ausgewiesenen
Einstellungen, insbesondere auch §§ 170 Abs. 2, 153, 153a und 154 StPO,
19 Vgl. dazu H-J. Albrecht FS G. Kaiser, 1998, S. 1137 ff.; Jehle (Fn. 11).
844 Jörg-Martin Jehle
berücksichtigt hat, ergab sich allerdings eine Quote von etwa 10 % nicht
verurteilter Untersuchungsgefangener. 20
2. Haftgründe
Betrachtet man die prozentuale Verteilung der Haftgründe, ist zu beden-
ken, dass auch mehrere Verhaftungsgründe nebeneinander möglich sind und
dass deshalb das Gesamt der Haftgründe mehr als 100 % ergibt. 21 Als wich-
tigster, ganz dominierender Haftgrund mit 93,1 % ist die Flucht oder
Fluchtgefahr zu verzeichnen, gefolgt von der Wiederholungsgefahr, die nur
9,3 % ausmacht; noch seltener mit 5,9 % ist der Haftgrund der Verdunke-
lungsgefahr, d.h. die Gefahr, dass Beweismittel manipuliert oder Zeugen
beeinflusst werden (§ 112 Abs. 2 StPO). Am geringsten ist die Zahl der
Fälle, in denen Schwerstkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO) die Haft begrün-
det, mit 4,6 %. Wiederholungs- und Verdunkelungsgefahr sowie die Tat-
schwere entfalten als alleiniger Haftgrund jeweils aber nur geringe quantita-
tive Bedeutung. Ein "Zuviel" an Verhaftungen wird man ehesten im
Bereich der Fluchtgefahr vermuten dürfen.
Was die Haftbegründungen bei Fluchtgefahr angeht, fällt auf, dass neben
der bekannten Begründung mit mangelnden sozialen Bindungen häufig -
überwiegend formelhaft - eine hohe Straferwartung herangezogen wird,
zum Teil sogar als einzige Begründung. 22 Allerdings endeten die Verfahren
selbst in letzteren Fällen nur bei zwei Dritteln mit vollstreckbarer Freiheits-
strafe. 23 Diese falschen Erwartungen beruhen wohl teilweise auf einem
defizitären Erkenntnisstand der Ermittlungen zum Zeitpunkt der Haftent-
scheidung sowie auf unzureichenden Ermittlungen. Dennoch liegen zumeist
erhebliche soziale Auffälligkeiten vor. Nach einer Befragung von Untersu-
chungsgefangenen bestanden einzeln oder kumulativ bei den meisten (über
80 %) entsprechende Auffälligkeiten, wie fehlender Wohnsitz, Arbeitslo-
sigkeit oder mangelnde Einbindung in Ehe oder Familie. 24 Freilich besagt
dies noch nichts darüber, ob sich die Betroffenen tatsächlich dem Verfahren
entziehen werden. Die Anlassdelikte sind in fast drei Vierteln aller Fälle
dem Bereich der mittleren bis schweren Kriminalität zuzuordnen. Bei einem
20 Gebauer (Fn. 1), S. 149; in der Hannoveraner Studie ergab sich, dass 6 % der Verfah-
rensausgänge auf Einstellung und Freispruch lauteten, Busse (Fn. 3), S. 216.
21 Alle Zahlen aus Jehle Strafrechtspflege in Deutschland, 5. Aufl. 2009, S. 20 f.
22 Krit. dazu Volk Haftbefehle und ihre Begründungen, 1995, S. 73 ff., 126 ff. m.w.N.; zur
Fluchtgefahr bei Beschuldigten mit ausländischenl Wohnsitz: Grau NStZ 2007, 10;
Roxin/Schünemann (Fn. 9), § 30 Rn. 8.
23 Nach Gebauer (Fn. 1) ergingen 18 % der Haftbefehle in Bagatellsachen (z.B. Verstöße
gegen das Ausländergesetz oder § 265a StGB), S. 234 ff.
24 Vgl. Jehle (Fn. 10), S. 150 ff.; ders. KrimPäd 1987,33 ff.; vgl. auch Busse (Fn. 3), S. 180.
Entwicklungen der Untersuchungshaft 845
Viertel der Fälle fällt das schwerste Delikt, welches dem Beschuldigten im
Haftbefehl vorgeworfen wurde, allerdings in den Bereich der einfachen
Kriminalität; 7 % verbleiben im Bereich der Bagatelldelikte. 25 Es gibt An-
zeichen, dass in Zeiten des Rückgangs der Verhaftungen der Anteil kurzer
Haftzeiten sinkt, dass also in minder schweren Strafsachen weniger schnell
verhaftet wird. So beträgt der Anteil der Untersuchungshaft bis 1 Monat
1998 noch 34 %, im Jahr 2008 nur mehr 28 0/0.
Neben fehlerhaften Haftbegründungen könnte sich ein Zuviel von Verhaf-
tungen auch daraus ergeben, dass sich hinter dem offiziellen Haftgrund
Fluchtgefahr andere Haftgründe verbergen, die entweder schwer zu begrün-
den oder aber gesetzlich gar nicht vorgesehen, also apokryphe Haftgründe
sind. So könnte man zu der Annahme gelangen, dass "die Gründe des Haft-
richters nicht seine Motive" sind und dass die Untersuchungshaft bei Ju-
gendlichen und Heranwachsenden oft als "Krisenintervention", "Erzie-
hungsmaßnahme oder vorweggenommene Jugendstrafe" verstanden wird. 26
Nicht zu übersehen sind die Schwierigkeiten des Richters, der die Notwen-
digkeit sieht, einen Gungen) Straftäter aus seiner ungünstigen Umgebung
herauszunehmen, oder der die Aussetzung zur Bewährung nicht ohne jede
Verbüßungserfahrung verantworten will. Nur: Hierzu ist die Untersu-
chungshaft nicht da. Dennoch stehen auch in der Praxis Polizei, Staatsan-
waltschaft und Richter nicht durchweg ablehnend solchen apokryphen Er-
wägungen gegenüber, obwohl sie nach Gebauer keine dominante Rolle
spielen, während Hilger ihnen eine nicht unerhebliche Rolle zuspricht. 27
3. Verhältnismäßigkeit/Straferwartung
Die Verhältnismäßigkeit im eigentlichen Sinne betrifft die Frage, ob die
Untersuchungshaft, obgleich geeignet und erforderlich, dennoch nicht an-
geordnet werden darf, weil dies zur Bedeutung der Sache und der erwarte-
ten Sanktion außer Verhältnis stünde. Maßstab nach § 112 Abs. 1 S. 2 StPO
bildet im Wesentlichen die Rechtsfolgenerwartung. Unverhältnismäßigkeit
ist immer dann anzunehmen, wenn die Dauer der Untersuchungshaft die
Dauer der Freiheitsstrafe bzw. die Anzahl der Tagessätze einer Geldstrafe
überschreitet, was relativ selten der Fall ist. 28 Umstritten ist indes, ob grund-
sätzlich bei zu erwartender Geldstrafe oder Bewährungsstrafe die Untersu-
chungshaft unverhältnismäßig ist. Aus der obergerichtlichen Rechtspre-
chung und der Kommentarliteratur lässt sich als wohl herrschende Ausle-
gung herauslesen, dass Untersuchungshaft nur ausnahmsweise verhältnis-
mäßig ist, wenn eine Bewährungs- oder Geldstrafe zu erwarten ist. 29 Auch
wenn man in Rechnung stellt, dass zu Anfang des Verfahrens die Strafer-
wartung naturgemäß unsicher ist, wird man mit Blick auf die beträchtliche
Quote von Bewährungsstrafe (32 %) und Geldstrafe (8 %)30 nicht behaupten
können, dass dieser Ausnahmecharakter gewahrt ist. Immerhin ist positiv zu
vermerken, dass die Anteile von Geldstrafe und Bewährungsstrafe seit 1998
deutlich gesunken sind.
4. Spezifische Verhaftungsrisiken
Ganz allgemein findet unter den Beschuldigten eine große Auslese statt:
Nur weniger als 3 % der später Abgeurteilten werden im Laufe des Strafver-
fahrens verhaftet. Was die Anlassdelikte angeht, so findet sich ein delikts-
spezifisches Verhaftungsrisiko, das sich aber weitgehend mit der Schwere
der Taten erklären lässt: je schwerer die Tat, desto höher das Haftrisiko.
Eine Besonderheit bieten die Drogendelikte; dort ist das Haftrisiko deutlich
erhöht. Frauen dagegen spielen nur eine geringe Rolle, sie stellen knapp
7 % der Abgeurteilten mit Untersuchungshaft. 31
Was das Haftrisiko bestimmter Personengruppen angeht, so hat eine Son-
derauswertung ergeben, dass Heranwachsende unter den Abgeurteilten mit
Untersuchungshaft bezogen auf ihren Anteil an der Wohnbevölkerung deut-
lich überrepräsentiert sind. Jugendliche und Heranwachsende sind zusam-
mengenommen unter Untersuchungsgefangenen stärker vertreten als unter
Strafgefangenen, außerdem werden sie in geringerem Maße zu vollstreckba-
ren Jugend- bzw. Freiheitsstrafen verurteilt als Erwachsene. Insoweit könnte
es tatsächlich einen gewissen Anhaltspunkt für den behaupteten apokryphen
Haftgrund der Krisenintervention geben. 32 Als eine spezifische Klientel gilt
die Gruppe der jungen Untersuchungsgefangenen, die neben der Devianz
eine weitere starke psychische Vorbelastung aufweist. 33
Eine besonders bedeutsame Gruppe unter den Inhaftierten stellen die Aus-
länder. Eine bundesweite Statistik zur Ent,vicklung des Ausländeranteils in
Untersuchungshaft existiert bislang nicht. Jedoch zeigen einzelne Zahlen
29 Statt vieler Hilger (Fn. 27), § 112 Rn. 62~ KK-Graf StPO, 6. Autl. 2008, § 112 Rn. 50.
30 Bezogen auf Abgeurteilte mit Untersuchungshaft, Statistisches Bundesamt (Fn. 28),
Tab. 6.2.
31 Alle Zahlen aus Jehle (Fn. 21).
32 Ausführl. Jehle (Fn. 11), S. 38, 78 f.
33 C=erner Vorläufige Freiheitsentziehung bei delinquenten Jugendlichen zwischen Repres-
sion und Prävention, 2008, S. 299~ z.B. zur Problematik des ADHS-Syndroms s. Köh-
ler/Müller/Hinrichs ZJJ 2007,253, 255 f.~ Hosser/Jungmann/Zöllner ZJJ 2007, 244, 249 .
Entwicklungen der Untersuchungshaft 847
v. Haftdauer
Die Kritik, es werde zuviel verhaftet, verbindet sich zumeist mit der Be-
hauptung, es werde zu lange verhaftet. 39 Eine Unverhältnismäßigkeit der
Untersuchungshaft kann auch durch ihre unangemessene Länge begründet
sein. Bezüglich der Haftdauer operiert das deutsche Strafverfahrensrecht
seit 1965 mit der komplexen Regelung des § 121 StPO, die die allgemeinen
Grundsätze der Verhältnismäßigkeit konkretisiert. Danach ist die Dauer der
Untersuchungshaft, solange kein auf Freiheitsentziehung lautendes Urteil
ergangen ist, grundsätzlich auf sechs Monate begrenzt. Unter den Voraus-
setzungen des § 121 StPO kann die Untersuchungshaft jedoch durch das
34 Schütze DVJJ-Joumal 1993, 381~ die Hannoveraner Studie zur Untersuchungshaft ergab
für 1998-2000 eine Ausländerquote von ca. 50 %, Busse (Fn.3), S. 148.
35 Staudinger in: Umwelt Kriminalität - Recht, Bd. 6,2001, S. 15 .
36 Hessisches Ministerium der Justiz Justizvollzug in Hessen, 2006, S. 10; anders sieht es in
den neuen Bundesländern aus; in Sachsen-Anhalt lag der Ausländeranteil in der Untersu-
chungshaft bei nur etwa 13 %, http://www.sachsen-anhalt.de. Jahresstatistik, Stand 31.12.2008.
37 Ausführl. SchöchlGebauer Ausländerkriminalität, 1991.
38 In der Hannoveraner Studie machten allein die Illegalen, Geduldeten bzw. Asylbewerber
etwa zwei Drittel der ausländischen Beschuldigten aus, Busse (Fn.3), S. 150.
39 Vgl. bereits die empirische Untersuchung von Carstensen Dauer von Untersuchungshaft,
1981, S. 62.
848 Jörg-Martin Jehle
geltenden § 116 StPO läuft seit einigen Jahren in Hessen ein Modellver-
such, der die elektronische Überwachung mit einer verstärkten sozialarbei-
terischen Betreuung verknüpft. Obwohl durchaus positiv evaluiert,45 wird
diese Möglichkeit in der Praxis - wohl aufgrund von grundsätzlichen Vor-
behalten seitens der beteiligten Justiz und Sozialarbeit - nur sehr einge-
schränkt wahrgenommen.
50 Busse (Fn. 3)~ Jehle (Fn. 3), S. 39 ff.~ Hohmann-Fricke in: SchöchiJehle (Fn. 3), S. 45 ff.
852 Jörg-Martin Jehle
VIII. Untersuchungshaftvollzug
I. Gesetzliche Grundlage
Für den Vollzug der Untersuchungshaft galten Jahrzehnte lang die Vor-
schriften der StPO (§ 119) - bei jungen Menschen ergänzend § 93 JGG -,
§§23ffEGGVG und die Untersuchungshaftvollzugsordnung (UVollzO) als
Verwaltungsvorschrift. Genau genommen enthielt § 119 StPO Generalklau-
seln, die im Interesse einer einheitlichen Vollzugspraxis durch eine von den
Landesjustizverwaltungen erlassene Verwaltungsanordnung, die UVollzO,
konkretisiert wurde.
Dass der Untersuchungshaftvollzug nunmehr kodifiziert wird, geht auf
die Grundsatzentscheidung des BVerfG zum Jugendstrafvollzug 54 zurück.
In Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung hat es die blankettartigen
Vorschriften des JGG zum Jugendstrafvollzug nicht mehr für ausreichend
erachtet und eine differenzierte gesetzliche Regelung verlangt. Dieser neue
Maßstab hat implizit bedeutet, dass auch für den Untersuchungshaftvollzug
die bisherigen Vorschriften des § 119 StPO als verfassungsrechtlich nicht
ausreichend anzusehen sind. Der damit verbundene Zwang zur Kodifizie-
rung liegt infolge der nahezu zeitgleich beschlossenen Föderalismusre-
form 55 nunmehr bei den Ländern, so dass in allen Ländern 56 Gesetzge-
bungsverfahren zum Untersuchungshaftvollzug gelaufen sind. Als erstes
Bundesland hat Niedersachen im Rahmen seines Justizvollzugsgesetzes
(NJVoIlzG)57 den Untersuchungshaftvollzug gesetzlich geregelt.
Inzwischen hat der Bund mit Wirkung vom 01.01.2010 § 119 StPO neu
gefasst und § 119a StPO neu geschaffen, was vor allem für die Regelungs-
kompetenz im Hinblick auf Haftzweck und Richtervorbehalt von Belang ist.
Ersichtlich überschneiden sich die bundesgesetzlichen und die niedersächsi-
schen Regelungen, so dass sich kompetenzrechtliche Fragen ergeben. Die
vom Verfassungsgesetzgeber im Zuge der Föderalismusreform in Art. 74
Nr. 1 GG gefundene Formulierung "gerichtliches Verfahren (ohne das
Recht des Untersuchungshaftvollzugs)" ist wenig geglückt. Der Wortlaut
lässt verschiedene Deutungen zu: Zum einen könnte der Untersuchungs-
haftvollzug in toto der konkurrierenden Gesetzgebung entzogen und damit
58 Vgl. näher Winzer Der Vollzug der Untersuchungshaft nach dem Niedersächsischen Jus-
tizvollzugsgesetz, Diss. jur. Göttingen (erscheint voraussichtlich Herbst 2010).
Entwicklungen der Untersuchungshaft 855
gebracht werden. Auf der einen Seite muss die Justizvollzugsanstalt einen
ordnungsgemäß funktionierenden und sicheren Vollzug gewährleisten, auf
der anderen Seite hat sie den Vollzug so zu gestalten, dass er der Un-
schuldsvermutung und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung trägt.
Deshalb erlegt das NJVollzG 59 der Anstalt die Pflicht zur Gegensteuerung
und Angleichung an die allgemeinen Lebensverhältnisse auf, wie sie auch
in § 3 StVollzG für Strafgefangene formuliert ist. Was diese Verpflichtung
wert ist, erweist sich an den konkreten Bestimmungen in den einzelnen
Vollzugsbereichen. Wenn etwa das NJVollzG aus Praktikabilitäts- und
Kostengründen den Anspruch auf Besuch auf eine Stunde im Monat fest-
legt, so ist dies eine unzumutbare Beschränkung. Ein nicht unerheblicher
Teil der Gefangenen ist nur wenige Wochen in Untersuchungshaft, sodass
ihr Besuchsrecht weitgehend leer läuft, obwohl doch gerade in den ersten
Wochen der Kontakt mit Angehörigen besonders wichtig erscheint. Hier
zeigt sich, dass die Rechte des Untersuchungsgefangenen durch die derzeit
äußerst begrenzten Mittel personeller und sachlicher Art maßgeblich be-
stimmt werden. Verschärft tritt dieses Problem zutage, wenn das NJVollzG
neben den konkreten, gesetzlich bestimmten Eingriffsbefugnissen general-
klauselartig jegliche Störung der Anstalt als Legitimationsgrundlage nimmt,
statt zumindest - wie in § 4 Abs. 2 S. 2 StVollzG60 - eine schwerwiegenden
Störung der Ordnung zu verlangen.
Man wird also die neuen Untersuchungshaftvollzugsgesetze kritisch dar-
aufhin analysieren müssen, ob sie eine Rückführung der Beschränkungen
auf das verfahrensmäßig gebotene und institutionell erforderliche Mindest-
maß gewährleisten und zugleich eine gewisse Angleichung der Haftbedin-
gungen an die äußeren Lebensverhältnisse erlauben.
Wie Erhebungen der persönlichen und sozialen Situation Untersuchungs-
gefangener gezeigt haben,61 sind Personen betroffen, die überwiegend be-
reits vor der Haft sozial nicht (mehr) voll integriert waren, vielmehr in ver-
schiedenen Lebensbereichen mit einer Vielzahl sozialer Schwierigkeiten,
Mängellagen und Verhaltensauffalligkeiten belastet waren. Hinzu kommt
die Tatsache, dass fast die Hälfte der Verhafteten anschließend nicht in den
Strafvollzug gelangt, sondern ihre Strafe, d.h. regelmäßig die zur Bewäh-
rung ausgesetzte Freiheitsstrafe, ausschließlich in der Untersuchungshaft
verbüßen; dies gebietet, die Auswirkungen der Haft und die Entlassungssi-
tuation im Hinblick auf eine Wiedereingliederung verstärkt zu berücksichti-
gen. Es besteht also ein objektives Bedürfnis nach einer Ausgestaltung der
Untersuchungshaft, die die Haftsituation als solche erleichtert, (weitere)
59 Wie auch die entsprechenden Entwürfe der anderen Länder, s. Fn. 56.
60 Vgl. die entsprechende Formulierung im Baden-württembergischen JVollzugGB.
61 S. Jehle (Fn. 11)~ vgl. auch Busse (Fn. 3), S. 143 ff., 180.
856 Jörg-Martin Jehle
IX. Ausblick
So erfreulich der Rückgang der Haftzahlen in den letzten Jahren gewesen
ist, so wenig besteht indes Anlass, die rechtspolitischen Bemühungen um
eine Begrenzung der Untersuchungshaft einzustellen. Nach wie vor gibt es
- unter Verhältnismäßigkeitsaspekten fragwürdige - Verhaftungen bei Ba-
gatelldelikten oder in Verfahren, die nicht mit einer freiheitsentziehenden
Sanktion enden. Noch immer sind haftvermeidende Alternativen nicht hin-
reichend ausgebaut und nach wie vor ist der Anteil langer, über 6 Monate
dauernder Untersuchungshaft zu groß.
Auch der erfreuliche Umstand, dass endlich eine hinreichende gesetzliche
Grundlage für den Untersuchungshaftvollzug geschaffen worden ist, darf
nicht daran hindern, die weithin vorherrschende Vollzugswirklichkeit, die
auf eine "Einkapselung der Gefangenen in den unzulänglichsten Anstalts-
räumen"63 hinausläuft, zu kritisieren und an einer humanen, Desintegration
vermeidenden Gestaltung des Untersuchungshaftvollzugs zu arbeiten. Es ist
also an der Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen, "bei der die tatsächlichen
oder vermeintlichen Sachzwänge den liberal-rechtsstaatlichen Prinzipien
unseres Haftrechts und den verfassungsrechtlichen Geboten der Unschuld-
vermutung und der Verhältnismäßigkeit gegenüber gestellt werden". 64
V ASILEIOS PETROPOULOS
I. Einleitung
Die Reichweite der Sperrwirkung einer gerichtlichen bzw. staatsanwaltli-
chen Entscheidung im Rahmen der Diversion wird an erster Stelle als Frage
des nationalen Rechts betrachtet. So führen im deutschen Recht die §§ 153
Abs. 2, 153a StPO aufgrund der geringen Täterschuld und des fehlenden
öffentlichen Verfolgungsinteresses, welches bei § 153a StPO nach der Er-
rullung von Weisungen und Auflagen beseitigt ist, zu einem bedingten
Stratklageverbrauch. 1 Im Hinblick darauf hat der u.a. auch im Bereich der
Diversion hochangesehene Jubilar den § 153a StPO seit langem als das
"Kernstück der sog. prozessualen Lösung bei der Bekämpfung der Klein-
kriminalität" treffend bezeichnet. 2 Eine supranationale Auswirkung der
Verfahrenseinstellung im Wege der Diversion wurde erstmals in der Gözü-
toklBrügge-Entscheidung des EuGH anerkannt, welche einen europaweiten
Stratklageverbrauch aufgrund einer innerstaatlichen Diversionsmaßnahme
bejahte. Seitdem ist von einer Aufwertung des Opportunitätsprinzips in
Europa auszugehen, 3 welche hinsichtlich des gegenseitigen Vertrauens der
Mitgliedstaaten in die eigenen Rechtsordnungen als Grundvoraussetzung
fur die Schaffung eines gemeinsamen Raums rur Freiheit, Sicherheit und
1 KK-Schoreit, 6. Aufl. 2008, § 153 Rn. 62~ § 153a Rn. 41 ~ LR-Beulke, 26. Aufl. 2008,
§ 153 Rn. 88~ AK-StPOISchöch, 1988, § 153 Rn. 55.
2 AK-StPOISchöch (Fn. 1), § 153a Rn. 1.
3 EuGH 11.02.2003 C-187/01 Gözütok und C-385/01 Brügge, Zif. 33 ff.~ Satzger Europäi-
sches und Internationales Strafrecht, 3. Aufl. 2009, § 9 Rn. 59~ Ambos Internationales Recht,
2. Aufl. 2008, § 12 Rn. 48~ Hecker Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2007, § 13 Rn. 26~
Bogensberger FS Miklau, 2006, S. 91~ Stein NJW 2003, 1163 ff.~ Böse GA 2003, 757 ff.~
RadtkelBusch NStZ 2003, 282 ff.~ Wohlers FS Eisenberg, 2009, S. 818 ff.~ Vogel FS F.C.
Schroeder, 2006, S. 888 ff.
858 Vasileios Petropoulos
11. Das europäische ne his in idem nach dem SDÜ und dem
Vertrag von Lissabon
1. Gegenstand und rechtliches Substrat des europäischen
ne bis in idem
Trotz seiner Anerkennung durch sämtliche EU Mitgliedstaaten bleibt das
"ne bis in idem "-Prinzip hinsichtlich seines Gegenstandes bestimmungsbe-
dürftig. Es ist m.a.W. nicht klar, ob es sich um ein Doppelverfolgungs- oder
Doppelbestrafungsverbot handelt. Das lässt sich am Beispiel des Art. 103
Abs. 3 GG demonstrieren, dessen Wortlaut ("Verbot einer mehrfachen
Bestrafung") von der Lehre und Rechtsprechung extensiv ausgelegt wird
und dadurch auch das Doppelverfolgungsverbot erfasst. 7 Von einem Straf-
verfolgungsverbot gehen des Weiteren auch die wichtigsten völkerrechtli-
4 EuGH 11.02.2003 C-187/01 Gözütok und C-385/01 Brügge a.a.O.~ EuGH 09.03.2006 C-
436/06 van Esbroek, Zif. 30~ Bogensberger a.a.O.~ Wohlers a.a.O.~ Vogel a.a.O.
5 Schünemann FS Szwarc, 2009, S. 121~ Wohlers (Fn. 3), S. 820~ zu den Schwierigkeiten der
Begriffsbestimmung eines gemeinsamen Justizraums in Europa Hofmanski FS Szwarc, a.a.O.,
S. 671.
6 Zur Betrachtung der Sicherung des Rechtsfriedens nach Bezugnahme auf die "Bewährung
des Strafrechts" als Prozesszweck ausführlich Volk Prozeßvoraussetzungen im Strafrecht,
1978, S. 183 ff., 200 ff.~ Rieß JR 2006, 270 ff.~ dazu auch LandauNStZ 2007, 125~ Stein Zum
europäischen ne bis in idem nach Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens,
2004,S.254,317,476.
7 So angesichts der Normgeschichte F.-C. Schroeder JuS 1997, 228~ BVerfGE 65, 381~ vgl.
auch Schomburg FS Eser, 2005, S. 830 ff., 836.
Opportunitätsprinzip und europäisches "ne bis in idem'" 859
8 Vgl. dazu Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls EMRK, Art. 14 Abs. 7 des IPBR.
9 Hinsichtlich der Charta Eser in: Meyer, Komtnentar zur Charta der Grundrechte, 2. Aufl.
2006, Art. 50 Rn. 12b.~ Nehl in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte,
2006, § 58 Rn. 16~ das (nicht von allen Mitgliedern ratifizierte) EG-ne bis in idem ÜbK von
1987 hat nach dem Schengen-Acquis an Bedeutung verloren.
10 U.a. Schroeder (Fn. 7),228.
11 Hecker (Fn. 3), § 13 Rn. 2.
12 Nehl (Fn. 9), § 58 Rn. 20, 36~ Veh in: WabnitzlJanovsky, Handbuch des Wirtschafts- und
Steuerstrafrechts, 3. Aufl. 2007, Kap. 22 Rn. 93 ff.~ dazu Meyer-Goßner StPO, 52. Aufl. 2009,
§ 170 Rn. 1, 6~ Ambos (Fn. 3), § 12 Rn. 38~ Sat=ger (Fn. 3), § 9 Rn. 52.
860 Vasileios Petropoulos
13 Volk (Fn. 6), S. 200 ff.; in diesem Sinne hat die Dialektik zwischen "singulärem" und
"allgemeinem" Interesse keine Aussagekraft; dazu auch Radtke FS Seebade, 2008, S. 311
(Fn. 84).
14 Volk (Fn. 6), S. 184 ; Stein (Fn. 3), 143.
15 Schroeder (Fn. 7), 228.
16 EuGH 09.03.2006 C-436/06 van Esbroek Zif. 48; EuGH 18.07.2007 C-367/05 Kraaijen-
brik Zif. 26 ff.; dazu (mit unterschiedlicher Argumentation) Wasmeier IRPL (Val. 77), 129;
Nehl (Fn. 9), § 58 Rn. 6 ff.; BGH NJW 2008,2931 (mit Anm. Rübenstahl).
17 Eser (Fn. 9), Art. 50 Rn. 14.
18 Eser (Fn. 9), Art. 50 Rn. 16c; kritisch betreffend diese Einschränkungsmöglichkeit Gau-
weiler FS Mehle, 2009, S. 213 ff.
Opportunitätsprinzip und europäisches "ne bis in idem" 861
der Ausnahmen vom ne bis in idem gern. Art 55 SDÜ bzw. 52 GRC. Jedoch
bleibt eine spektakuläre Änderung der Reichweite des "ne bis in idem H_
19 Tiedemann FS Jung, 2007, S. 987 ff. (zwar hinsichtlich der EV, aber im Grunde genom-
men auch betreffend den EUV); Protokoll über die Anwendung der GRC auf Polen und den
VK, ABI. C306 v. 17.12.2007, S. 156.
20 Zur Reichweite des Art. 50 GRC, der an Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls der EMKR orien-
tiert ist, Nehl (Fn. 9), § 57 Rn. 11 ff., 15 ff.
21 Eser (Fn. 9), Art. 50 Rn. 13; Anagnostopoulos Ne bis in idem, europäische und transnati-
onale Aspekte, 2008, S. 173 (auf Griechisch); Klip European Criminal Law, 2009, S. 246;
Peers EU Justice and Horne Affairs Law, 2. Aufl. 2006, S. 464.
22 Schomburg NJW 2000,839; RadkelBusch EuGRZ 2000, S. 424; dies. (Fn. 3),283; Was-
meier (Fn. 16), 122 ff.
23 Bogensberger (Fn. 3), S. 91.
24 RadtkelBusch (Fn. 3), 283; Stein NJW 2003, 1162 ff.
862 Vasileios Petropoulos
25 EuGH 11.02.2003 C-187/01 Gö::ütok und Brügge Zif. 30; Wasmeier (Fn. 16), 124; Radtke
(Fn. 13), S. 304; Zeder Öst. Anwaltsblatt 2007, 454, 463.
26 Radtke/Busch (Fn. 3), 284.
27 Kühne Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2007, Rn. 657 ff.
28 EuGH 10.03.2005 C-469/03 Miraglia, Zif. 28; Wasmeier (Fn. 16), 125; Veh (Fn. 12),
Rn. 1OOb; Nehl (Fn. 9), § 58 Rn. 13.
29 EuGH 09.03.2006 C-436/06 van Esbroek Zif. 48 = JZ 2006 (mit Anm. Kühne); EuGH
18.07.2007 C-367/05 Kraaijenbrik, Zif. 28; BGH NJW 2008, 2931 (mit Anm. Rübenstahl)~
ferner Radtke NStZ 2008, 162; ders. (Fn. 13), S. 306.
30 So Hecker (Fn. 3), § 13 Rn. 57; Sat::ger (Fn. 3), § 9 Rn. 65; Ebensperger ÖJZ 1999, 183;
Lagodny NStZ 1997 266; Veh (Fn. 12), Rn. 99~ in diese Richtung auch MK-StGB/Ambos,
2003, Vor §§ 3-7 Rn. 76.
31 KK-Engelhardt, 6. Aufl. 2008, § 264 Rn. 3 (m.w.N.); Böse (Fn. 3), 758.
Opportunitätsprinzip und europäisches "ne bis in idem" 863
32 Böse (Fn. 3),757; Radtke (Fn. 13), S. 310; EuGH 09.03.2006 C-436/06 van Esbroek, Zif.
35; so auch der Schlussantrag des Generalanwalts Colomer (die Orientierung an dem Tatbeg-
riff des Erstverfolgerstaates führe "zu einer restriktiven Lösung, die mit der expansiven Kraft
der grundlegenden Garantien des Einzelnen ZUln Schutz seiner Würde unvereinbar ist").
33 RoxinlSchünemann Strafverfahrenssrecht, 26. Aufl. 2009, § 20 Rn. 5, 9; a.A. Roxin JZ
1988,260.
34 RoxinlSchünemann, a.a.O.; eine künftige Orientierung an einer rechtsgutsbezogenen Nor-
mativierung des Tatbegriffs ist aber nicht auszuschließen; Nehl (Fn. 9), § 58 Rn. 8; zu den
offenen Frage aus der EuGH-Rechtsprechung Radtke (Fn. 13), S. 312 ff.; über die hier nicht
weiter behandelte Frage der Einwirkung der EuGH-Rechtsprechung auf den nationalen Tatbeg-
riff am Beispiel der öStPO Birklbauer FS Miklau, 2006, S. 58 ff.
35 Gradinger vs. Österreich, A 328-C (1995), Rn. 55; dazu u.a. Birklbauer (Fn. 34), S. 47 ff.;
diese Rechtsprechnung ist jedoch nicht fest, vgl. Sat=ger (Fn. 3), § 10 Rn. 81.
36 EuGH 28.09.2006 C-767/04 Gasparini Zif. 34~ Zeder (Fn. 25),463.
37 EuGH 18.07.2007 C-288/05 Kret=inger, Zif. 45.
38 EuGH 11.12.2008 C-297/07 Bourquain Zif. 40 ff., 47 ff.
864 Vasileios Petropoulos
über Kompetenzkonflikte in der EU und ne bis in idem", auf dem auch der
weitere Vorschlag des Europäischen Rats für einen Rahmenbeschluss zur
Kompetenzabgrenzung in Strafsachen größtenteils beruhte. 44 Nach einer
weiteren inhaltlichen Erarbeitung45 erwuchs dieser Vorschlag am letzten
Tag vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zu einem endgültigen
Rahmenbeschluss. 46 Mit einer Fortsetzung des Versuchs zur Koordination
der Mitgliedstaaten bei Kompetenzkonflikten in Strafsachen ist hinsichtlich
des neuen Art. 82 I (2) AEUV auch künftig zu rechnen.
Die Frage nach der gerichtlichen Kompetenzabgrenzung in Strafsachen
ist grundsätzlich erst im Rahmen des nationalen Rechts als die "andere Seite
der Medaille" des ne bis in idem zu verstehen. Das ist z.B. bei föderalen
Staaten der Fall, wo die verschiedenen Kompetenzkonflikte in Strafsachen
auf der Grundlage eines föderalen Gesetzes bzw. nach Entscheidung eines
obersten Gerichts innerstaatlich gelöst werden. 47 Im Gegensatz dazu bleibt
die Verbindlichkeit einer "geeigneten" Gerichtsbarkeitsbestimmung auf
supranationaler Ebene hinsichtlich der Begrenzung der nationalen Souverä-
nität (in Form eines Gerichtsbarkeitsverzichtes) bedenklich. 48 Das lässt sich
angesichts der Kompetenz-Kompetenz des Völkerrechts zur Bestimmung
des Nichteinmischungsgrundsatzes und daher zur Verhinderung von Souve-
ränitätskonflikten zwischen den Staaten begründen. 49 Zwischen diesem
bloßen Konsenscharakter des Völkerrechts und der Verbindlichkeit des
nationalen Rechts wäre auf Unionsebene wünschenswert, von einem Kon-
sens mit verbindlichen Rechtsfolgen auszugehen. Das bedarf einer weiteren
Begründung, welche dem supranationalen Charakter des Unionsrechts
Rechnung tragen muss.
Als Gegenstand eines supranationalen Konsenses ist die Hierarchisierung
von Anknüpfungspunkten für die Anwendung einer Strafgewalt und als
Begründung dieses Konsenses die Rationalisierung dieser Hierarchisierung
zu betrachten. Diese Rationalisierung beruht auf der Abgrenzung zwischen
"den zur Durchsetzung eigener oder/und fremder staatlichen Interessen
dienenden Prinzipien" und ist deswegen parallel zum materiellen Substrat
des Doppelverfolgungsverbots als fehlendes Verfolgungsinteresse zu be-
44 KOM (2005) 696~ dazu u.a. Panayides IRPL (Vol. 77), 117.
45 Initiative der tschechischen Republik, der Republik Polen, der Republik Slowenien, der
slowakischen Republik und des Königreichs Schwedens - 08535/2009 - C7-0205/2009 -
2009/0802(CNS), v. 08.10.2009.
46 Rahmenbeschluss 2009/948/JI des Rates v. 30.11.2009.
47 Am Beispiel des (noch geltenden) kantonalen Strafverfahrens in der Schweiz vgl. Woh-
lers in: Schünemann (Fn. 42), S. 51 ff.~ Hofmanski (Fn. 5), S. 677.
48 MK-StGBIAmbos (Fn. 30), Vor §§ 3-7 Rn. 20, 25~ Panayides (Fn. 44), 114 ff.
49 MK-StGBIAmbos (Fn. 30), Vor §§ 3-7 Rn. 20~ treffend Schünemann (Fn. 5), S. 121 ~ spe-
ziell zur universalen Gerichtsbarkeit Weigend FS Eser, 2005, S. 969.
866 Vasileios Petropoulos
50 MK-StGBIAmbos (Fn. 30), Vor §§ 3-7 Rn. 72; Van der BekenlVermeulenlLagodny
(Fn. 42), 625 tf.; zur Problematik Vogel (Fn. 3), S. 890 ff.
51 Und nicht bei der Normativierung des Prozessgegenstands (so Appl GS Vogler, 2004,
S. 121; Hecker StV 2001,307); dazu Art. 5 ff. des Rahmenbeschlusses 20091948/11 des Rates
v.30.11.2009.
52 Der Rechtsfrieden ist hinsichtlich einer präskriptiv generalisierten Erwartung, welche "an
bestimmte generalisierend bewertete Vorhandlungen präsumptiv geknüpft wird", normativ zu
bestimmen, Volk (Fn. 6), S. 201; Rieß JR 2006,270 ff. (m.w.N. aufFn. 13).
53 Volk (Fn. 6), S. 201; so wird die Rechtsfriedenstheorie Schmidhäusers (FS Eb. Schmidt,
1961, S. 511 ff.) verfeinert.
54 Weitere Vorschläge Van der BekenlVermeulenlLagodny (Fn. 42), 627; Panayides
(Fn. 44), 117 ff.
Opportunitätsprinzip und europäisches "ne bis in idem" 867
55 Vgl. EuGH 28.09.2006 C-150/05 van Straaten Zif. 27~ Kühne (Fn. 27), § 3 Rn. 70 ff., 74
ff.~das steht sowohl mit dem Rahmenbeschluss 2009/948/JI des Rates v. 30.11.2009 als auch
mit dem Gedanken des Netzwerksystems in Einklang (dazu Nehl [Fn. 9], § 58 Rn. 21 ff.).
56 Zu den Problemen aus der Verfahrensdauer vor deIn EuGH Satzger Europäisierung des
Strafrechts, 2001, S. 666~ Hecker (Fn. 3), § 13 Rn. 25~ Lagodny NStZ 2006, 109.
57 Vgl. Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2009/948111 des Rates v. 30.11.2009~ zur Kri-
tik am Vorschlag des Beschlusses: u.a. Hopkins Plädoyer v. 13. 07. 2009 vor dem "House of
Comnlons"; die Stellungnahme der BRAK Nr. 12-2009 zum Vorschlag eines Rahmenbe-
schlusses zur Vermeidung der Kompetenzkonflikte in Strafsachen~ das Gutachten der Meijers
Comittee v. 25. 08. 2009~ das Gutachten der britischen Organisation lustice v. Juli 2009~ den
Vorschlag der "Law Society of England and \Vales" v. Februar 2009~ den "offenen Brief' der
ECBA vom 6. April 2009 an das EU-Parlament (sämtliche Dokumente sind im Internet mittels
der üblichen Suchmaschinen abrutbar).
58 Vgl. oben Fn. 56~ Vogel in: Schünemann (Fn. 42), S. 122~ Anagnostopoulos (Fn. 21),
S. 180 ff.~ auf eine kurze Dauer des Konsensverfahrens zielen auch die Art. 5 ff. des Rahmen-
beschlusses 2009/948/11 des Rates v. 30.11.2009.
59 Panayides (Fn. 44), 116 ff.~ Van der Beken/Vermeulen/Lagodny (Fn. 42), 627.
60 Van der Beken/Vermeulen/Lagodny (Fn. 42),625 ff.
868 Vasileios Petropoulos
65 AK-StPOISchöch (Fn. 1), §§ 153 Rn.1, 153a Rn.1~ F.-C. Schroeder FS Fezer, 2008,
S. 544 ff.~ BurgstallerlGrafl FS Miklau, 2006, S. 109 ff.
66 Corstens Het Nederlandse Strafprocesrecht, 1993, S. 53~ Wohlers FS Eisenberg, 2009,
S. 11 ff.; Kühne (Fn. 27), § 71 Rn. 1402.
67 Fourment Procedure Penale, 10. Aufl. 2009-2010, S. 139 ff.~ Kühne (Fn. 27), § 71
Rn. 1227.
68 Umfassend Kühne (Fn. 27), § 71 Rn. 1154.
69 Kühne (Fn. 27), § 71 Rn. 1282.
70 Kühne (Fn. 27), § 71 Rn. 1378.
71 Androulakis Grundbegriffe des Strafverfahrens, 3. Aufl. 2007, S. 65 ff.~ Karras Strafver-
fahrensrecht, 3. Aufl. 2007, S. 270 ff.
72 RoxinlSchünemann (Fn. 33), § 14 Rn. 2~ Jokisch Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren,
S.149.
73 Hassemer FS StA Schieswig-Hoistein, 1992, S. 539 f. ~ dazu Salas Kritik des strafprozes-
sualen Denkens, 2005, S. 63 ff.
870 Vasileios Petropoulos
Nach einer Ansicht werden die Überzeugung des Richters von der Täter-
schuld, die Methoden der Strafaufklärung im Rahmen des Verfahrens sowie
die Begründungspflicht einer Entscheidung als berücksichtigungsbedürftige
materielle Gesichtspunkte einer Strafklageverbrauchsbegründung betrach-
tet. 74 Im Hinblick darauf sei dann die materielle Rechtskraft von Verfah-
renseinstellungen gemäß § 153a StPO zu vemeinen. 75 Aber einer solchen
Bestimmung der Voraussetzungen der materiellen Rechtskraft ist nur teil-
weise beizupflichten. Der Strafklageverbrauch lässt sich erst angesichts des
strafprozessualen Telos einer Rechtsfriedenserreichung vollständig begrün-
den. 76 Das betrifft auch die Sperrwirkung von Diversionsmaßnahmen und
daher auch die Bestimmung der Voraussetzungen dieser europaweiten
Aufwertung des Opportunitätsprinzips. So kann der Begriff der "Prozess-
ökonomie" als "das Inbezugsetzen von Prozessziel und Prozessaufwand"77
auch eine europaweite Dimension haben, welche der Aufwertung des Op-
portunitätsprinzips nicht widerspricht. Das lässt sich auch am Beispiel des
Wortlauts der §§ 153, 153a StPO bestätigen, die von einem mangelnden
öffentlichen Verfolgungsinteresse ausgehen, welches sich auf das strafpro-
zessuale Telos des Rechtsfriedens beziehen muss. Die Voraussetzungen
eines europaweiten Stratklageverbrauchs und einer nationalen Verfah-
renseinstellung sind daher mit der Begründung des Opportunitätsprinzips
eng verbunden. Das lässt sich auch angesichts des deutschen Rechts bewei-
sen.
79 KK-PfeifferIHannisch, 6. Autl. 2008, Einl. Rn. 6~ Volk Grundkurs StPO, 6. Autl. 2008,
§ 12 Rn. 13~ LR-Beulke, 26. Autl. 2008, § 153 Rn. 3,23.
80 F.C. Schroeder FS Peters, 1974, S. 412~ Kühne (Fn. 27), § 18 Rn. 309~ SK-StPO/Wolter
11. Aufl. 1994, Vor § 151 Rn. 13 ff., 46 ff.; eine präzise Bestimmung der Opportunitätsfalle ist
für die "Rechtstaatlichkeit des Verfahrens" unentbehrlich, so Hassemer FS StA Schleswig-
Holstein, 1992, S. 539.
81 RoxinlSchünemann (Fn. 33), § 14 Rn. 2.
82 KK-PfeifferlHannisch (Fn. 79), Einl. Rn. 6~ Kühne (Fn. 27), § 35 Rn. 585 ff.~ Volk
(Fn. 6), S. 201, 260~ F.C. Schroeder (Fn. 80), S. 417 ff.
83 Hassemer (Fn. 80), S. 538~ darauf beruht die dogmatische Begründung der Reichweite
des Opportunitätsprinzips in den Niederlanden (Kühne [Fn. 27], § 76 Rn. 1441).
84 Volk (Fn. 6), S. 260.
85 Hassemer (Fn. 80), S. 529.
86 LR-Beulke (Fn. 79), § 153 Rn. 23.
872 Vasileios Petropoulos
Tat erfasst. 87 Die Schuld des Täters im engeren Sinne (als Bestandteil der
strafrechtlichen Verantwortlichkeit) ist des Weiteren mit hinreichendem
Verdacht und als Folge der Ermittlungen festzustellen. Der hinreichende
Verdacht muss etwas mehr als die "Wahrscheinlichkeit der Verurteilung"
sein. Fehlt dieser Verdacht, ist das Verfahren gemäß § 170 StPO einzustel-
len. 88 Auf die (Strafzumessungs-)Schuld des Täters kann sich u.a. eine
übermäßig lange Verfahrensdauer auswirken,89 welche die Rechte des Be-
schuldigten verletzt, der Verhältnismäßigkeit keine Rechnung trägt und dem
Rechtsfrieden widerspricht. In der Praxis stellen solche Verfahrensverzöge-
rungen gerade bei Strafverfahren mit einem internationalen Charakter kein
Novum dar. 9o
Der Begriff des öffentlichen Interesses an der Verfolgung lässt sich des
Weiteren "nach Maßgabe der Strafzwecke", also nach general- und spezial-
präventiven Erwägungen, bestimmen. Das zeugt wiederum vom materiell-
rechtlichen Substrat des Absehens von der Anklageerhebung, welches auch
angesichts der Betrachtung des Opportunitätsprinzips als Ausfluss des Ver-
hältnismäßigkeitsprinzips begründet wird. Der Gesetzgeber wollte die Ent-
scheidung über die Strafbarkeit "nicht subsumtionsgerecht festlegen, son-
dern dem außerhalb der Tat liegenden Ermessen von Staatsanwaltschaft und
Gericht überantworten".91 Es handelt sich m.a.W. nicht um eine bloße Aus-
nahme vom Anklageerhebungszwang, sondern um eine "Subsumtion unter
Tatbestandsmerkmale".92 Liegen die Voraussetzungen der Diversion gern.
§§ 153 ff. StPO vor, ist der Rechtsfrieden auch ohne strafrechtliche Sankti-
onierung zu erreichen. Das steht mit der normativen Bestimmung des
Rechtsfriedens, welche von einer präskriptiv generalisierten und an Vor-
handlungen präsumtiv angeknüpften Erwartung der Gemeinschaft ausgeht,
in Einklang. 93
94 Eine Übersicht in Kühne (Fn. 27), 7. Kapitel (§§ 71-76); Wohlers FS Eisenberg, 2009,
S. 811 ff.
95 Vgl. u.a. LR-Beulke, 26. Autl. 2008, § 153 Rn. 2.
96 Hassemer (Fn. 80), S. 538; ähnlich Lorenzen (Fn. 88), S. 548 ff.
97 Zum prozessualrechtlichen Charakter der Vorschrift u.a. LR-Beulke (Fn. 95), § 153 Rn. 3;
über die dogmatische Begründung der Trennung von Prozessrecht und materiellem Strafrecht
Volk (Fn. 6), S. 201 ff.
98 Über die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtsptlege im Allgemeinen Landau (Fn. 6), 127;
dabei ist in der Tat auf das Ethos der Behörden und Gerichte abzustellen (Hassemer [Fn. 80],
S. 540); zum Rechtsfriedensbegriff Volk (Fn. 6), S. 201; vgl. auch Landau a.a.O., 122.
874 Vasileios Petropoulos
sich im Grunde genommen auch durch die Rechtsprechung des EuGH bes-
tätigen. 104
Dieselbe Argumentation lässt sich auch auf einen europaweiten Strafkla-
geverbrauch anwenden, der in diesem Sinne auf der Sicherung eines euro-
päischen Rechtsfriedens beruhen muss. Dieser Begriff ist des Weiteren als
Ausfluss aus dem nationalen Rechtsfrieden der Mitgliedstaaten, welche mit
dem Sachverhalt verbunden sind, ebenfalls normativ zu verstehen. 105 Als
Ziel des nationalen Strafverfahrens mit europäischem Bezug wird m.a.W.
die Sicherung eines europäischen Rechtsfriedens betrachtet. Das ist bei den
§§ 153, 153a StPO mit Hilfe einer "europafreundlichen" Bestimmung des
Begriffs des öffentlichen Interesses durchaus möglich; dies steht des Weite-
ren mit der Betrachtung des ne bis in idem als Frage nach der richtigen
Kompetenzabgrenzung in Strafsachen 106 keinesfalls in Widerspruch. Das
(nationale) öffentliche Strafverfolgungsinteresse, welches mit dem mate-
riellrechtlichen Gehalt des Opportunitätsprinzips eng verbunden ist, wider-
spiegelt sich in der Rationalisierung der Hierarchisierung der Anknüpfungs-
punkte für die Auswahl der geeigneten Strafgewalt,107 wie es oben (unter I.
3.) gezeigt wurde.
Natürlich müssen die in Betracht kommenden Anknüpfungspunkte vom
materiellen Recht jeder nationalen Rechtsordnung unabhängig bleiben,
sonst besteht die Gefahr eines (diesmal von den Strafverfolgungsorganen
begangenen) "Forum Shoppings". Deswegen darf die innerstaatliche Mög-
lichkeit einer Diversion (und daher einer milderen Behandlung einer Straf-
tat) als Anknüpfungspunkt zur Bestimmung der geeigneten Strafgewalt
nicht in Betracht kommen. Das heißt aber nicht, dass eine Entscheidung
zugunsten einer Rechtsordnung, welche stark am Opportunitätsprinzip ori-
entiert ist, den Verfolgungsinteressen der anderen Rechtsordnungen wider-
104 Böse (Fn. 3), 750~ ders. JR 2005, 13~ Kühne JZ 2003, 306~ a.A. LR-Beulke (Fn. 95),
§ 153 Rn. 56~ Veh (Fn. 12), Rn. 101~ bei der EuGHE C-491/07 v. 22.12.2008 Turansky ging es
um die vorläufige Einstellung des Anklageerhebungsverfahrens von der Polizei, welche mit
einer Einstellung gern. § 153 Abs. 1 StPO nicht vergleichbar ist.
105 Solange die Union auf den Mitgliedstaaten beruht, vgl. u.a. Streinz Europarecht, 8. Aufl.
2008, § 2 Rn. 63~ darauf bezieht sich die materiellrechtliche Frage nach dem "genuinen"
Charakter der europäischer Rechtsgüter, BitzilekislKaiaja-GbandiISymeonidou-Kastanidou in:
Schünemann (Fn. 42), S. 223 ff.~ Spinelis in: Schünemann (Fn. 42), S. 237 ff.~ auf einen euro-
päischen Rechtsfriedensbegriff bezieht sich auch die Diskussion über die Zukunft des Europa-
rechts, Tiedemann FS Eser, 2005, S. 893 ff.
106 Lagodny FS Trechsel, 2002, S. 263~ vgl. dazu Art. 82 I (b), 82 11 2 (b) und (c), 83 und 85
I 1 (c) AEUV, wo die Beratungsrolle des Eurojust beim Verhindern und Beilegen von Kompe-
tenzkonflikten in Strafsachen besonders betont wird.
107 Ausführlich MK-StGBIAmbos (Fn. 30), Vor §§ 3-7 Rn. 25 ff., 64 ff.~ Van der Be-
kenlVermeulenlLagodny (Fn. 42), 625 ff.~ Schomburg (Fn. 7), S. 832 (der treffend von einer
"materiell-rechtlichen Vorfrage" ausgeht).
876 Vasileios Petropoulos
IV. Ausblick
Die EuGH-Rechtsprechung zur Anerkennung eines europaweiten Straf-
klageverbrauchs angesichts einer nationalrechtlichen Sperrwirkung, welche
von (ebenfalls nationalen) Diversionsmaßnahmen ausgelöst wird, führt zu
einer Aufwertung des Opportunitätsprinzips in Europa. Diese Rechtspre-
chung steht auch mit dem neuen Art. 6 EUV i.V.m. Art. 50 GRC in Ein-
klang und lässt sich hinsichtlich des materiellen Substrats des Opportuni-
tätsprinzips begründen. Auf demselben materiellen Substrat, m.a.W. auf der
108 Über eine EG-konforme Auslegung des öffentlichen Interesses Jokisch Getneinschafts-
recht und Strafverfahren, 2000, S. 158 ff. ~ im Bereich der Kartellgeldbußen angesichts des Art.
50 GRC Nehl (Fn. 9), § 58 Rn. 23~ weitere Argumente in Hecker (Fn. 3), § 13 Rn. 39 ff.
m.w.N.
109 RadtkelBusch (Fn. 3), 284.
110 Dazu u.a. Sat=ger in: Schünemann (Fn. 42), S. 146 ff.
Opportunitätsprinzip und europäisches "ne bis in idem" 877
111 AK-StPO/Schöch (Fn. 1), §§ 153 Rn. 1 ff., 153a Rn. 1 ff.; ders. Stellungnahme zum Ent-
wurf eines Gesetzes zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts, BT-Drs. 16/7957,
S.5.
Der Anklagesatz
Novellierung durch Rechtsprechung?
ULRICH ZIEGERT
I.
Der Große Strafsenat des Bundesgerichtshofes wird erneut in Stellung
gebracht,l um eine zentrale Vorschrift der StPO umzugestalten. Erst kürz-
lich hat er in seinem Beschluss vom 23.04.2007,2 durch den er die Rüge
verkümmern ließ, den gesetzlichen Rahmen richterlichen Handeins neu
bestimmt. Im Gegensatz zur Konzeption des § 274 StPO, die der Form-
strenge den Vorzug vor der materiellen Wahrheit gibt und so dem Revisi-
onsverfahren eine verlässliche Grundlage schafft, betont der Große Straf-
senat die materielle Wahrheit. 3 Er verändert die Konzeption von § 274 StPO
radikal, indem er letztlich die absolute Beweiskraft des Hauptverhandlungs-
protokolls zur Disposition von Tatrichter und Revisionsgericht stellt. In
ihrem abweichenden Votum 4 zum die Verfassungsbeschwerde gegen die
Entscheidung des Großen Strafsenates verwerfenden Beschluss des 2. Sena-
tes des Bundesverfassungsgerichts stellen die Richter Voßkuhle, Osterloh
und Di Fabio fest:
"Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs hat mit der
Einführung des Verfahrens nachträglicher Protokollberichtigung in sei-
nem Beschluss vom 23.04.2007 - GSSt 1/06 - unter Verstoß gegen Arti-
kel 20 Abs. 2 und 3 GG in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers über-
gegriffen. "
Auch wenn die Mehrheit des 2. Senates des Bundesverfassungsgerichts 5
die Auffassung vertrat, dass die Neugestaltung der Beweiskraft des Haupt-
1 Anfragebeschluss des 1. Strafsenats vom 02.09.09, 1 StR 260109. - Der Beschluss zur
Vorlage an den Großen Strafsenat (v. 24.2.2010 - 1 StR 260/09) erfolgte nach Redaktions-
schluss.
2 GSSt 1/06 - NJW 2007,2419.
3 Vgl. hierzu Zieger! FS Volk, S. 901 ff.
4 BVerfG, Beschluss v. 15.01.2009,2 BvR 2044/07, abweichendes Votum S. 1.
5 Vgl. Fn. 4 Entscheidungsgründe.
880 Ulrich Ziegert
6 Vgl. Fn. 1.
7 NJW 2008,2131.
Der Anklagesatz 881
11.
Gegenstand des Vorlagebeschlusses bildet eine Anklage der Staatsanwalt-
schaft Mannheim. Der 1. Strafsenat hat aber die Entscheidung über eine
weitere Revision zurückgestellt, in der ebenfalls die Verletzung von § 243
Abs. 2 S. 1 StPO gerügt wurde, die er offensichtlich ebenfalls für unbe-
gründet hält, jedoch auch hier nicht ohne eine Entscheidung des Großen
Strafsenates in seinem Sinne die Revision verwerfen kann. Dieser Fall soll
kurz skizziert werden, da er die Dimension der ins Auge gefassten N euge-
staltung illustriert.
11 1 StR 429/09.
12 Vgl. Fn. 7.
13 Diese überflüssigen Aperyus legen die Vermutung nahe, dass das Tabellenwerk nicht von
der Staatsanwaltschaft, sondern von Ermittlungsbeamten erstellt wurde - vgl. dazu u. IV.
884 Ulrich Ziegert
111.
Es wurde bereits angesprochen, dass § 200 Abs. 1 S 1 StPO eine Legalde-
finition des Anklagesatzes enthält. Danach bildet die Bezeichnung der Tat,
die dem Angeschuldigten zur Last gelegt wird, einen zentralen Bestandteil.
Es entspricht gefestigter Auffassung, dass sich diese Bezeichnung der Tat
auf den prozessualen Tatbegriff bezieht. 15 Zu thematisieren ist somit das
Tatgeschehen als der historische Vorgang, in dem die strafbare Handlung
gesehen wird. Dabei ist das Fehlverhalten - auch nach Zeit und Ort - so
genau zu bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs fest-
steht und dieser von anderen, ähnlichen Abläufen unterschieden werden
kann. 16
So eindeutig sich der Wortlaut von § 200 Abs. 1 S. 1 StPO darstellt, so
unbestritten ist in Rechtsprechung und Literatur der Bezug auf den prozes-
sualen Tatbegriff. Der Änderungsvorschlag des ersten Strafsenates, der in
Rechtsprechung und Literatur auch mit Sympathie aufgenommen wird,17
lässt sich hingegen mit dem Wortlaut der Norm nicht versöhnen. Würde
man den Anklagesatz wie vorgeschlagen modifizieren, so enthielte er die
einzelne Tat nicht mehr. Keine einzige Tat im prozessualen Sinn wäre mehr
Bestandteil des Anklagesatzes. Dieser würde sich vielmehr nur noch allge-
mein zu Strukturprinzipien unterschiedlicher Taten verhalten und einen
bestimmten Tatzeitraum benennen, jedoch keinen einzigen Tatzeitpunkt,
keinen Geschädigten. Der Wortlaut der Norm legt somit nahe, dass die vom
1. Strafsenat vorgeschlagene Auslegung von § 200 Abs. 1 S. 1 StPO gegen
den Vorrang des Gesetzes verstößt und in den Kompetenzbereich des Ge-
setzgebers eingreift. Zwar verbietet der Vorrang des Gesetzes dem Richter
nicht die Rechtsfortbildung. 18 Allerdings sind dieser durch die Bindung des
Richters an Gesetz und Recht Grenzen gezogen. Ihr genauer Verlauf muss
hier nicht analysiert werden. Denn der Spielraum richterlicher Rechtfortbil-
dung endet in jedem Fall bei einer Gesetzesauslegung, die in Widerspruch
zum klaren Wortlaut der Norm steht. Sie stellt stets einen Eingriff in die
Kompetenz des Gesetzgebers dar. 19
Obgleich sich der Wortlaut der Norm im vorliegenden Fall als eindeutig
darstellt, soll anhand der historischen Entwicklung von § 200 Abs. 1 S. 1
StPO LV.m. jener des § 243 Abs. 3 S. 1 StPO, der die Verlesung des An-
klagesatzes in der Hauptverhandlung zum Gegenstand hat, unter Berück-
sichtigung der Motive des Gesetzgebers die Regelungskonzeption unter-
sucht werden. So kann überprüft werden, ob sich Sinn und Zweck des
Gesetzes als kongruent mit dem Wortlaut von § 200 Abs. 1 S. 1StPO dar-
stellen. Denn nicht immer bietet der Wortlaut einer Norm die sichere Ge-
währ, den Willen des Gesetzgebers zum Ausdruck zu bringen. 2o
Die § 200 Abs. 1 S. 1 StPO entsprechende Regelung findet sich in der
Fassung der Strafprozessordnung vom 01.02.1877 in § 198 der wie folgt
lautete:
"Die Anklageschrift hat die dem Angeklagten zur Last gelegte That unter
Hervorhebung ihrer gesetzlichen Merkmale und des anzuwendenden
Strafgesetzes zu bezeichnen, sowie die Beweismittel und das Gericht, vor
welchem die Hauptverhandlung stattfinden soll, anzugeben."
1924 wurde die Norm mit dem § 200 Abs. 1 bezeichnet, blieb inhaltlich
jedoch unverändert. 21 1964 erhielt die Regelung durch das StPÄG 22 die
inhaltliche Ausgestaltung, die auch heute noch gilt, lediglich mit der gerin-
gen terminologischen Abweichung, wonach damals von den gesetzlichen
Merkmalen der strafbaren Handlung die Rede war, während es seit 197423
18 BVerfGE 111,54,81.
19 BVerfGE 118,212,243.
20 Vgl. Röhl/Röhl Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 613 ff.
21 Das Wort That wurde durch die heutige Formulierung Tat ersetzt, ROBL 1924,322.
22 BGBL 1964, S. 1067.
23 BGBL 1974, S. 469, 502 - EGStGB.
Der Anklagesatz 887
gesetzliche Merkmale der Straftat heißt. Seit 1964 enthält das Gesetz somit
die Legaldefinition des Anklagesatzes.
Die gesetzliche Regelung der Verlesung des Anklagesatzes lässt sich
nicht so knapp nachzeichnen. Denn die Strafprozessordnung von 1877 woll~
te der Staatsanwaltschaft gerade nicht die Aufgabe zuweisen, den Anklage-
vorwurf, die Tat, die den Gegenstand des Strafverfahrens umgrenzt, in die
Hauptverhandlung einzuführen.
Die Strafprozessordnung vom 01.02.1877 lässt daher in § 242 Abs. 2 auf
die Vernehmung des Anklagten über seine persönlichen Verhältnisse nicht
die Verlesung des Anklagesatzes durch die Staatsanwaltschaft folgen, son-
dern die Verlesung des Beschlusses über die Eröffnung des Hauptverfah-
rens.
Allerdings entsprechen die Anforderungen, die das Gesetz in § 205 an
diesen Beschluss stellt, jenen des späteren Anklagesatzes. § 205 lautet wie
folgt:
"In dem Beschlusse, durch welchen das Hauptverfahren eröffnet wird, ist
die dem Anklagten zur Last gelegte That unter Hervorhebung ihrer ge-
setzlichen Merkmale und des anzuwendenden Strafgesetzes sowie das
Gericht zu bezeichnen, vor welchem die Hauptverhandlung stattfinden
soll."
Erst im Anschluss an diese Verlesung erfolgt die weitere Vernehmung
des Angeklagten - zur Sache. Auch insoweit erfolgte 1924 24 lediglich eine
redaktionelle Überarbeitung. 1942 25 wird die Staatsanwaltschaft in ihre
heutige Funktion eingesetzt, die Anklage vorzutragen, soweit sie durch das
Gericht zur Hauptverhandlung zugelassen wurde.
Bereits 195026 wurde aber in § 243 Abs. 2 StPO wieder die alte Rechtsla-
ge hergestellt. Nicht der Staatsanwalt verlas die Anklage, sondern das Ge-
richt den Eröffnungsbeschluss, der wiederum die "dem Anklagten zur Last
gelegte Tat. ...zu bezeichnen" hatte. Erst 1964 normiert das StPÄG 27 die
aktuelle Rechtslage, die in § 243 Abs. 3 S. 1 StPO bis zum heutigen Tag
unverändert besteht.
Schon im Entwurf der StPO von 1874 wird in der Begründung zu § 165,
der die Anklageschrift betrifft, auf ihre doppelte Funktion verwiesen. Sie
soll als Grundlage für die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht den
Verfahrensgegenstand bezeichnen und zugleich eine Informationsfunktion
für den Angeklagten entfalten. Er soll Kenntnis erlangen, wessen er ange-
klagt ist und welche Beweise gegen ihn vorgebracht werden. Auf diese
Weise soll er in die Lage versetzt werden, seine Verteidigung zu organisie-
ren.
Der Entwurf sieht noch in § 205 Abs. 2 StPO die Mitteilung des Inhalts
der Anklageschrift durch die Staatsanwaltschaft vor - allerdings in freier
Rede, nicht in Form der Verlesung im Sinne von § 243 Abs. 3 S. 1 StPO.28
Im Abschlussbereicht der Kommission, die nach der ersten Lesung des
Entwurfs im Reichstag von diesem zur Vorberatung des Entwurfs eingesetzt
wurde, wird die Bedeutung der Anklageschrift zusammengefasst. Sie soll
dem Gericht eine Übersicht über die Vorstellungen der Staatsanwaltschaft
geben einschließlich einer Begründung in tatsächlicher und rechtlicher Hin-
sicht (Umgrenzungsfunktion). Ferner soll sie dem Angeklagten deutlich
machen, wessen er angeklagt ist und welche Tatsachen als diejenigen ange-
sehen werden, durch welche die Anklage begründet wird (Informations-
funktion).29 Bereits zu diesem Zeitpunkt wird die Anklageschrift - abwei-
chend zum Entwurf - um das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen
erweitert (Ausnahme Schöffengericht).
Im Abschlussbericht der Reichstagskommission 1876 wird nachdrücklich
der Entwurf zurückgewiesen, wonach der Inhalt der Anklageschrift vom
Staatsanwalt in die Hauptverhandlung eingefiihrt werden soll. 30 Hintergrund
dieser Regelung ist die Bestrebung der Kommission, die Trennung von
Ankläger und Richter, die sich herauszubilden beginnt, zu bestärken.
Die Staatsanwaltschaft, die Mitte des 19. Jahrhunderts nach und nach in
den deutschen Staaten eingefiihrt wurde,31 sollte in ihrer Funktion fur die
Hauptverhandlung klar vom Gericht abgegrenzt werden. Die Öffentlichkeit
wie auch der Anklagte sollten im Vertrauen auf die vollständige und unpar-
teiische Ermittlung des Sachverhalts durch das Gericht das Urteil entgegen-
nehmen. 32 In dieses Bild passt nicht eine, das Verfahren möglicherweise
prägende, Darstellung des Anklagevorwurfs durch die Staatsanwaltschaft. 33
Diese Bedenken fiihrten zur Überzeugung, dass "zur Aufklärung der Sache,
soweit sie zur gehörigen Würdigung und zum sofortigen Verständnis der
und rechtlichen Überlegungen vermittelt, auf denen der gegen ihn erhobene
Vorwurf fußt, sodass er in der Lage ist, sich zu verteidigen (Informations-
funktion). Die Auffassung des Gesetzgebers wechselte, ob es die Staatsan-
waltschaft ist oder das Gericht, die in der Hauptverhandlung durch Verle-
sung einer Urkunde diese Leistung erbringen. Unverrückbar aber war die
Überzeugung des Gesetzgebers, dass zu Beginn der Hauptverhandlung eine
Urkunde zu verlesen sei, die den historischen Vorgang umgreift, der den
Tatvorwurf bildet. Damit wird der ohnehin sehr klare Wortlaut von § 200
Abs. 1 S. 1 StPO bestätigt durch die geschichtliche Entwicklung der Norm
und die Motive des Gesetzgebers.
Danach entspricht die Regelungskonzeption des Gesetzgebers exakt dem
Wortlaut der Norm. Die Aufgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung
beschränkt sich aber darauf, die vom Gesetzgeber intendierte Regelungs-
konzeption möglichst zuverlässig zur Geltung zu bringen. 39 Richterliche
Rechtsfindung darf das gesetzgeberische Ziel nicht verzeichnen oder gar
durch eigene Vorstellungen ersetzen. 40
Ein Anklagesatz, der den Vorgaben des Anfragebeschlusses folgt, leistet
für sich - ohne Rückgriff auf das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen,
das nach § 243 Abs. 3 S. 1 StPO in der Hauptverhandlung nicht verlesen
wird - weder die Umgrenzungs- noch die Informationsfunktion. Allein aus
dem reformierten Anklagesatz lässt sich nicht entnehmen, um welche kon-
kreten Taten es sich handelt, bezogen auf welche historischen Ereignisse im
Sinne des § 264 StPO bei einem rechtskräftigen Urteil Strafklageverbrauch
eintreten würde. Der reformierte Anklagesatz würde dem Angeklagten auch
nicht die Informationen geben, die er benötigt, um sich zu verteidigen. Er
beschreibt lediglich Rahmenbedingungen eines Schuldvorwurfes auf einer
abstrakten Ebene, die in der Regel einer Beweisführung und damit auch der
Verteidigung nicht zugänglich sind.
Der Verweis auf das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen geht fehl.
Das Gesetz schreibt durch § 243 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 200 Abs. 1 StPO in
einer bis 1877 zurückreichenden Tradition vor, dass dem Angeklagten die
Angaben~ die erforderlich sind, sowohl die Umgrenzungs- wie auch die
Informationsfunktion zu leisten, nicht nur durch die Anklageschrift bekannt
zu geben, sondern ihm zu Beginn der Hauptverhandlung durch Verlesung
des Anklagesatzes oder eines ihm entsprechenden Eröffnungsbeschlusses
unmittelbar vor Augen zu ruhren sind. Ob andere Konzeptionen angesichts
der Entwicklung der Lebenssachverhalte, die Anklageschriften zu Grunde
gelegt werden, sinnvoll sind, steht nicht zur Debatte, da die Rechtsprechung
44 Vgl. etwa BGHSt 5, 225, 227~ 10, 137, 138~ BGH StV 1995,287.
45 Strafverfahrensänderungsgesetz 1979, BGBL 1978, S. 1645~ geändert durch das Strafver-
fahrenSänderungsgesetz 1984/1987, BGBL 1987, S. 475 sowie durch das Verbrechensbekämp-
fungsgesetz, BGBL 1994, S. 3185, 3191.
46 BT-Drs. 10/1313.
47 A.a.O., S. 28.
Der Anklagesatz 893
PETERRIESS
I. Einleitung
Seit dem 1. 3. 1993, also seit nunmehr 17 Jahren, dürfen die große Straf-
kammer und die große Jugendkammer abweichend von der Grundregel in
den §§ 76 Abs. 1 GVG, 33b Abs. 1 JGG, der zufolge sie in einer Besetzung
mit drei Berufsrichtem (und in der Hauptverhandlung mit zwei Schöffen)
entscheiden, nach den Absätzen 2 dieser Vorschriften unter bestimmten
Voraussetzungen als erkennende Gerichte in der Hauptverhandlung neben
den beiden Schöffen mit lediglich zwei Berufsrichtern besetzt sein,l soweit
sie nicht als Schwurgericht zuständig sind. Diese Möglichkeit der Beset-
zungsreduktion ist befristet; sie endet nach mehrfacher Verlängerung nach
der gegenwärtigen Rechtslage am 31. 12. 2011. 2 Für die erstinstanzlich
zuständigen Strafsenate der Oberlandesgerichte gilt seit dem 1. 12. 1994
nach § 122 Abs. 2 GVG eine vergleichbare Regelung als Dauerlösung. Sie
ermöglicht für die Hauptverhandlung eine Besetzungsreduktion von fiinf
auf drei Richter. Eine in sich wenig konsistente Sonderregelung, auf die
mein Beitrag nicht eingeht, enthalten die §§ 74f, 120a GVG für die Beset-
1 § 76 Abs. 2 GVG in seiner derzeit geltenden Fassung hat folgenden Wortlaut: "Bei der
Eröffnung des Hauptverfahrens beschließt die große Strafkammer, dass sie in der Hauptver-
handlung mit zwei Richtern einschließlich des Vorsitzenden und zwei Schöffen besetzt ist,
wenn nicht die Strafkammer als Schwurgericht zuständig ist oder nach dem Umfang oder der
Schwierigkeit der Sache die Mitwirkung eines dritten Richters notwendig erscheint. Ist eine
Sache vom Revisionsgericht zurückverwiesen worden, kann die nunmehr zuständige Straf-
kammer erneut nach Satz 1 über ihre Besetzung beschließen." Unverändert mit drei Berufsrich-
tern entscheiden diese Kammern stets außerhalb der Hauptverhandlung, also beispielsweise
auch über die Eröffnung des Hauptverfahrens, über Haftentscheidungen oder als Beschwerde-
instanz.
2 Die Befristung folgt aus Art. 15 Abs. 2 des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege
(RPflEntlG) v. 11.1.1993 (BGBL I, S. 50), nach dem § 76 Abs. 2 GVG und § 33b Abs. 2 JGG
mit Ablauf der dort genannten (mehrfach verlängerten) Frist außer Kraft treten. Diese Rege-
lung ist daher der Ansatzpunkt für die Fristverlängerungen.
896 Peter Rieß
zung bei der Entscheidung über die vorbehaltene und die nachträgliche
Sicherungsverwahrung. 3
Bei der letzten Verlängerung 4 hat der Gesetzgeber deutlich erkennen las-
sen, dass er mit Ablauf der gegenwärtigen Frist, also Ende 2011, eine end-
gültige Entscheidung darüber zu treffen beabsichtigt, ob auf die Besetzungs-
reduktion bei der Strafkammer und Jugendkammer verzichtet, also die bis
Ende Februar 1993 geltende Rechtslage wieder hergestellt werden soll, oder
ob - gegebenenfalls auch mit Modifikationen und hierüber hinausgehenden
Änderungen - eine Dauerregelung getroffen werden soll. Als Entschei-
dungsgrundlage hierfür hat das Bundesministerium der Justiz die große
Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes um ein Gutachten
gebeten, 5 eine zeitnahe und koordinierte statistische Erhebung bei den Län-
dern veranlasst und einen Forschungsauftrag fur eine umfangreiche Evaluie-
rung der bisherigen Erfahrungen mit der Besetzungsreduktion in Auftrag
gegeben. 6
Auch wenn Ergebnisse der zuletzt genannten rechtstatsächlichen Untersu-
chungen bei Abschluss dieses Beitrags (November 2009) noch nicht vorlie-
gen, kann fur die weiteren Überlegungen von einer Reihe von Basiswerten
zur Kennzeichnung der Häufigkeit und der Verfahrensweise bei der Beset-
zungsreduktion ausgegangen werden. 7 Es erscheint gesichert, dass - bei
einer im zeitlichen Verlauf steigenden Tendenz - die Strafkammern und
Jugendkammern mit deutlichen regionalen Unterschieden in der Mehrzahl
aller Verfahren in reduzierter Besetzung verhandeln; größenordnungsmäßig
dürfte es sich derzeit um (mindestens) zwei Drittel aller in Betracht kom-
menden Fälle mit einem geringeren Anteil der Wirtschaftsstrafkammern
(§ 74c GVG) und einem größeren bei den allgemeinen Strafkammern han-
deln. Grob geschätzt führen damit die Strafkammern und Jugendkammern,
soweit sie nicht als Schwurgerichte tätig sind, von den rund 12500 jährli-
chen Hauptverhandlungen etwa (mindestens) 8000 in einer Besetzung mit
nur zwei Berufsrichtern (und zwei Schöffen) durch. Erfahrungsberichte aus
der Praxis lassen ferner erkennen, dass sich die Präsidien der Gerichte bei
der Besetzung der Kammern auf diese Praxis namentlich dadurch einstellen,
dass in beträchtlichem Umfang den Kammern neben dem Vorsitzenden
lediglich ein Beisitzer mit voller Arbeitskraft zugewiesen wird, während der
zweite Beisitzer für mehrere Kammern eingeteilt wird, so dass eine "groß-
zügige" Besetzung mit drei Richtern sich mittelbar auf die Kapazität der
übrigen Strafkammern auswirkt. Damit lässt sich nicht ausschließen, dass
Gründe der konkreten Personaleinsparung für eine reduzierte Besetzung
eine Rolle spielen. 8
Der nachfolgende Beitrag9 beginnt (unter 11) mit einer Darstellung der
Entstehungsgeschichte der Vorschriften und ihres rechtspolitischen Um-
felds. Dem folgt (unter 111) eine knappe Übersicht über die bisherige Ver-
längerungsgesetzgebung und die dabei deutlich werdenden Tendenzen und
Absichten. Hieran anschließend (unter IV) soll unter Auswertung der
Rechtsprechung des BGH untersucht werden, wieweit diese die gesetzli-
chen Vorschriften präzisiert und konturiert hat und in welchem Umfang sie
ihre korrekte Anwendung zu kontrollieren in der Lage ist. Abschließend
(unter V) werden einige (mögliche) rechtspolitische Konsequenzen zur
Diskussion gestellt.
8 Ein Umstand, den der BGH in einer seiner ersten Entscheidungen (BGHSt 44, 328, 345)
als sachfremd (und damit objektiv willkürlich) bezeichnet hat~ s. näher bei Fn. 42.
9 Er basiert auf einem Referat, das ich für die Beratungen der Großen Strafrechtskommissi-
on des Deutschen Richterbundes zu diesem Thema erstattet habe. Der Diskussion der Kommis-
sion verdanke ich zahlreiche Anregungen.
10 Einen Vorschlag, die nur noch als Berufungsinstanz vorgesehene Strafkammer in der
Hauptverhandlung stets mit zwei Berufsrichtern (und drei Schöffen) zu besetzen, enthielt
lediglich der mit dem Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsgang in Strafsachen (Entwurf
1919) verbundene Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes aus
dem Jahre 1919 sowie die dem Reichsrat vorgelegte erste Fassung eines Gesetzes zur Neuord-
nung der Strafgerichte vom 19.6.1922, während die überarbeitete Reichstagsvorlage vom
29.5.1923 darauf verzichtete. S. dazu mit Wiedergabe der Entwürfe und der Begründungen
Schuber! in: Schubert/Regge/Rieß/Schmidt (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und Straf-
prozessrechts, I. Abt., Bd. 4, 1999, S. 41 ff., 380 ff., 533 ff.
898 Peter RieB
rur die Dauer der Beibehaltung der Kreis- und Bezirksgerichte. 11 Diese war
namentlich durch den massiven Richtermangel in den neuen Ländern un-
mittelbar nach deren Beitritt motiviert und sah vor, dass die funktionell mit
den großen Strafkammern vergleichbaren Strafsenate der Bezirksgerichte
ausnahmslos mit nur zwei Berufsrichtern (und zwei Schöffen) besetzt wa-
ren, in dieser Besetzung auch über die Berufungen gegen die Urteile der mit
den Schöffengerichten funktionell vergleichbaren Kreisgerichte entscheiden
sollten und dass außerhalb der Hauptverhandlung stets der Vorsitzende
allein entschied. Dabei war unzweifelhaft, dass diese Sonderregelung mit
dem Übergang auf den "normalen" Gerichtsaufbau in den neuen Ländern
ihr Ende finden sollte; dieser vollzog sich in allen neuen Ländern bis (spä-
testens) Dezember 1993. 12
Die Regelungen über die Besetzungsreduktion in § 76 Abs. 2 GVG und
im neuen § 33b JGG 13 sind Bestandteile eines breit angelegten, fast den
gesamten Rechtspflegebereich umfassenden Entlastungskonzepts durch das
RPlfEntlG 14 gewesen, das durch die Wiedervereinigung und den damit
verbundenen Neuaufbau der Rechtspflege im Beitrittsgebiet motiviert war.
Dieser war notwendiger Weise mit einem erheblichen (mindestens zeitwei-
ligen) Transfer an Justizpersonal in das Beitrittsgebiet und damit mit einem
(weiteren) Kapazitätsengpass verbunden. Das Gesetz beruht auf einem
Entwurf des Bundesrates, der in seinem Ansatz, wenn auch keineswegs in
allen Einzelheiten die Zustimmung des Bundestages fand. 15
11 Einigungsvertrag v. 31.8.1990 (BGBL II, S. 885), Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Ab-
schnitt III Nr. 1 Maßgabe a), Maßgabe i) und j) Abs. 1. Einzelheiten bei RießIHilger Das
Rechtspflegerecht des Einigungsvertrages (auch Nachtr. zu Löwe/Rosenberg, StPO, 24. Aufl.),
1991, Teil B Rn. 100 ff., 118 ff.
12 S. näher Materialien zur Deutschen Einheit und zum Aufbau in den neuen Bundesländern
v. 8.9. 1995, BT-Drs. 13/2280, S. 300 (Anlage 13).
13 Zunächst noch ohne die Sätze 2, s. unten bei Fn. 23.
14 Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 (BGBL 1., S. 50); Gesamt-
übersicht bei Rieß AnwBI. 1993,51.
15 Zum Ganzen näher der Gesetzentwurf des Bundesrates, BT-Drs. 12/1217 (mit Stellung-
nahme der Bundesregierung S. 63 ff.) und die Beschlussempfehlung und den Schriftlichen
Bericht des RA-BT (BT-Drs. 12/3832). Plenarberatungen: Bundesrat 1. Durchgang, 633.
Sitzung v. 7.7.1991, S. 302 ff; Bundstag, 1. Lesung Plenarprot. 12/57, S. 4778 ff.; 2./3. Lesung
Plenarprot. 12/125, S. 10751 ff.
Die reduzierte Besetzung der großen Strafkammer 899
16 S. dazu namentlich die Beiträge von BättcherlMayer NStZ 1993, 153; Meyer-Goßner
NJW 2003,498; SiegismundlWickern wistra 1993, 81, 136.
17 In seiner vom Bundestag verabschiedeten Form enthielt das Gesetz neben den hier zu be-
handelnden Regelungen lediglich zwei weitere Geltungsbefristungen für § 29 DRiG und § 105
SGB, die mit Ablauf der ursprünglichen Befristung ausgelaufen sind. Weitere Befristungen im
Entwurf des Bundesrates wurden entweder in den parlamentarischen Beratungen in Dauerrecht
umgewandelt oder betrafen Regelungen, die nicht Gesetz wurden.
18 BT-Drs. 12/1217, S. 46 ff., 50 (zu § 33b JGG).
19 Der Bericht des Rechtsausschusses (BT-Drs. 12/3832) enthält hierüber nichts; in den Ple-
nardebatten wird das Thema nicht angesprochen.
20 § 33b Abs. 1 nach Art. 6 Nr. 2 des Entwurfs (BT-Drs. 12/1217).
900 Peter Rieß
21 BT-Drs. 12/1217, S. 70, namentlich in Hinblick auf die über das Erwachsenenstrafrecht
deutlich hinausgehende Strafkompetenz des Jugendschöffengerichts und die Rechtsmittelrege-
lung in § 55 JGG.
22 Beschlussempfehlung und schriftlicher Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 12/3832,
S.45.
23 Gesetz zur Verlängerung der Besetzungsreduktion bei Strafkammern v. 19.12.2000
(BGBI. I, S. 1756); näher Fn. 30 unter (2).
24 BT-Drs. 14/3370.
25 Entwurf eines Gesetzes zu Änderungen im Gerichtsverfassungsrecht (§ 76 Abs. 2, § 122
Abs. 2 GVG, § 33b Abs. 2 JGG), BT-Drs. 14/3831. Der ebenfalls den gleichen Regelungsge-
genstand betreffende Gesetzentwurf der CDU/CSU (BT-Drs. 14/2992) beschränkt sich eigenar-
tiger Weise (wohl versehentlich) auf die Einfügung des Satzes 2 in § 33b JGG.
26 Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozessordnung und anderer Geset-
ze (Verbrechensbekämpfungsgesetz) v. 28.10.1994 (BGBI. I, S. 3186), Art. 8.
27 S. näher mit weit. Nachw. LR-Kühne, 26. Aufl. 2006, Einl. Abschn. J Rn. 147 ff.
28 In der insgesamt emotionalen und kontroversen Plenardebatte v. 20.4.1994 (Plenarprot.
12/229, S. 19867 ff.) ist dieser Punkt nicht erwähnt worden.
29 BT-Drs. 12/8588, S. 9.
Die reduzierte Besetzung der großen Strafkammer 901
§ 76 Abs. 2 GVG, geht aber nicht darauf ein, dass die dortige Regelung
bewusst befristet ist, während die Neufassung des § 122 Abs. 2 GVG Dau-
errecht werden soll.
32 Gesetz v. 22.12.1997 (BGBL I, S. 3223), s. Fn. 30 unter (1). Der schriftliche Bericht des
Rechtsausschusses (BT-Drs. 13/9252, S. 5) führt aus, dass die Notsituation der Justiz in den
neuen Ländern entgegen der seinerzeitigen Erwartung noch nicht vollends behoben sei. Es sei
ihnen zwar gelungen, binnen kurzer Frist eine funktionierende rechtsstaatliche Justiz aufzubau-
en. "Wegen der Notwendigkeit, die anstehenden Aufgaben rasch zu bewältigen, mussten
jedoch weit mehr als in anderen Bundesländern Richter und Staatsanwälte eingesetzt werden,
die noch nicht über richterliche oder staatsanwaltschaftliche Berufserfahrung verfügen. Auf
einen gewachsenen Bestand an routinierten und diensterfahrenen Richtern und Staatsanwälten
kann die Strafjustiz derzeit in den neuen Ländern noch nicht zurückgreifen."
33 Abdruck mit (etwas gekürzter) Begründung StV 2004, 228 ff. Nach der dort vorgeschla-
genen Fassung des § 76 GVG sollte die große Strafkammer grundsätzlich mit zwei Richtern
(und in der Hauptverhandlung mit zwei Schöffen) besetzt sein und in dieser Besetzung auch als
Beschlusskammer entscheiden und (wieder) für Berufungen gegen Urteile des Schöffenge-
richts zuständig sein. Für Schwurgerichtsverfahren sowie bei Umfang oder Schwierigkeit der
Sache sollte die Mitwirkung eines dritten Richters in der Hauptverhandlung zu beschließen
sein. Dieser Entwurf, der ferner deutliche Änderungen namentlich im Ermittlungsverfahren
beabsichtigte, ist bisher nicht weiterverfolgt worden.
34 Entwurf eines zweiten Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege (strafrechtlicher Be-
reich), BT-Drs. 13/4541 v. 7.5.1996 und Entwurf eines Strafprozessanpassungsgesetzes, BT-
Drs. 13/8939 v. 6.11.1997. Beide Entwürfe, die zahlreiche weitere Änderungsvorschläge
enthielten, sind im Bundestag erfolglos geblieben.
35 So etwa Entwurf eines Gesetzes zu Änderungen im Gerichtsverfassungsgesetz v.
6.7.2000, BT-Drs. 14/3831, mit der Begründung, dass sich die Vorschrift auch nach der Auf-
fassung der Bundesregierung bewährt habe, die Belastung der Strafjustiz fortdauere, die revisi-
onsrechtlichen Probleme durch die Rechtsprechung des BGH weitgehend geklärt seien und
auch die vergleichbare Regelung bei den Strafsenaten nicht befristet sei.
Die reduzielie Besetzung der großen Strafkammer 903
und er hat ausgesprochen, dass bei der Frage, ob wegen Umfangs oder
Schwierigkeit der Sache in Dreierbesetzung hätte entschieden werden müs-
sen, dem Tatrichter ein weiter Beurteilungsspielraum eingeräumt ist, der
vom Revisionsgericht nur bei objektiver Willkür beanstandet werden
kann. 41 In seiner ersten Entscheidung hierzu hat er sich im Grundsatz deut-
lich für die Dreierbesetzung ausgesprochen und ihre Vorteile betont hat. Es
heißt dort:
"Bei der Prüfung ... ist zu bedenken, dass der Gesetzgeber zu Recht da-
von ausgeht, dass sich die Besetzung einer großen Strafkammer mit drei
Berufsrichtern bewährt hat ... Der Strafkammer steht die Strafgewalt in
der gesamten Breite zu, über die das Strafrecht verfügt. Mit der Mög-
lichkeit z. B. der Anordnung der Sicherungsverwahrung oder der Unter-
bringung in einem psychiatrischen Krankenhaus sind die weitestgehen-
den Entscheidungen im Bereich des Strafrechts in ihre Zuständigkeit
gelegt. Zudem ist das Verfahren vor der Strafkammer die einzige Tatsa-
cheninstanz. Vor diesem Hintergrund kommt der Qualität der Entschei-
dungen eine große Bedeutung zu. Deren Sicherung ist durch das Kolle-
gialitätsprinzip in besonderer Weise gewährleistet. Die Mitwirkung
mehrerer Berufsrichter ermöglicht es, die Aufgaben in der Hauptver-
handlung sachgerecht zu verteilen, den Tatsachenstoff intensiver und
von mehreren Seiten zu würdigen und Rechtsfragen grundsätzlich besser
als nur unter Beteiligung von Laienrichtern zu lösen. Der Gesetzgeber
war sich deshalb der Gefahren, die sich bei einer Minderung der Mit-
gliederzahl des Kollegiums ergeben können, bewusst, glaubte aber, sie
im Hinblick auf die durch den Aufbau einer rechtsstaatlichen Justiz in
den neuen Bundesländern verursachten besonderen Lage für einen vorü-
bergehenden Zeitraum in Kauf nehmen zu können ... Dementspreche"nd
spricht vieles dafür, bei der Anordnung einer Zweierbesetzung eine ge-
wisse Zurückhaltung zu üben, wenn es zweifelhaft ist, ob Umfang oder
Schwierigkeit der Sache die Bestimmung einer Dreierbesetzung als
notwendig erscheinen lässt. Jedenfalls wäre es sachfremd und damit ob-
jektiv willkürlich, etwa aus Gründen der Personaleinsparung u. ä. eine
reduzierte Besetzung zu beschließen. Die Justizverwaltung hat deshalb
41 BGHSt 44, 328 (s. Fn. 40), auch dies seither ständige Rechtsprechung und vom BVerfG
(Besehl. v. 22.6.1999 - 2 BvR 1064/99) gebilligt. Die teilweise vom BGH offen gelassene
Frage (BGHSt 44, 328, 331; BGH v. 11.1.2005 - 3 StR 488/04 [NStZ 2005, 465 = StV 225,
204] mit bejahender Tendenz), ob auch die willkürliche Besetzung mit drei Berufsrichtern
gerügt werden kann, dürfte der BGH inzwischen, wie die hierauf eingehende Entscheidung v.
7.11.2002 - 3 StR 285/02 (StraFo 2003, 134) zeigt, bejahen; sie ist freilich angesichts der
Realitäten ohne besondere Bedeutung.
Die reduzierte Besetzung der großen Strafkammer 905
42 BGHSt 44, 328, 334 f. Ob diese skeptische Grundhaltung heute noch die Revisionsrecht-
sprechung trägt und namentlich, ob sie die Rechtspraxis bestimmt, erscheint zweifelhaft.
43 Es handelte sich um ein Verfahren mit ursprünglich acht Angeklagten, zehn Verteidigern,
19 Anklagevorwürfen und 70 Zeugen. Die Entscheidung (BGHSt 44, 335 f.) bezeichnet die
Zweierbesetzung als "rechtlich bedenklich", aber noch nicht objektiv willkürlich, u. a. auch
deshalb, weil eine feststehende Rechtsprechung noch nicht bestand und weil eine Reduktion
des Verhandlungsumfangs als möglich erschien~ s. dazu auch die auf diese Besonderheiten
hinweisenden Bemerkungen in der späteren Entscheidung des gleichen Senats v. 14.8.2003 - 3
StR 199/03 (näher unten Fn. 64).
44 So die Aufzählung in BGHSt 44, 328, 334~ ebenso BGH v. 14.8.2003 - 3 StR 199/03
(näher Fn. 64)~ v. 18.6.2009 - 3 StR 89/09 (näher Fn. 66), jeweils mit dem Hinweis, dass im
Zweifel die Dreierbesetzung vorzuziehen sei.
45 BGH v. 9.11.2004 - 1 StR 375/04 (NStZ-RR 2005,47, nur Leitsatz): "Auch ein vor der
Wirtschaftsstrafkammer zu verhandelnder Betrug ist, wenn die Täuschungshandlung offen
liegt, weder tatsächlich noch rechtlich überdurchschnittlich komplex. Der Umstand, dass
Verfahrensbeteiligte in der Hauptverhandlung umfangreiche Anträge stellen, ändert hieran
nichts."
46 BGH v. 26.11.2003 - 2 StR 291/03; BGH v. 16.12.2003 - 3 StR 438/03 (StV 2004,250 =
NStZ-RR 2004, 175). Anders - wegen der gesetzlichen Sonderregelung in § 74f Abs. 3 GVG -
bei der Entscheidung über die nachträgliche Sicherungsverwahrung, BGH v. 6.4.2006 - 1 StR
78/06 Rn. 18 (als Hinweis, da von der beschwerdeführenden StA nicht gerügt).
47 Die Gründe nehmen teilweise, ohne diese mitzuteilen, auf die Stellungnahme des GBA
Bezug, so etwa BGH v. 29.1.2009 - 3 StR 567/08 Rn. 17.
906 Peter RieB
56 Ständige Rspr., zuletzt BGH v. 5.8.2008 - 5 StR 317/08 (StV 2008, 505) Rn. 8 m. weit.
Nachw.
57 BGHSt 44,328,333 unter 1 a cc) a. E.; BGH v. 14.8.2003 - 3 StR 199/03 unter I 2 a. E.
(näher Fn. 64) m. Nachw. des (insoweit damals kontroversen) Schrifttums.
58 Dazu BGH v. 7.11.2002 - 3 StR 285/02 (StraFo 2003, 134). Die Regelung beseitigt ledig-
lich die Bindungswirkung des ursprünglichen Beschlusses. Soll die Besetzung unverändert
bleiben, bedarf es keines neuen Beschlusses.
59 So BGH v. 29.1.2009 - 3 StR 567/08 (BGHSt 53,169 = NJW 2009, 1760 = StV 2009,
400). Ein neuer Beschluss ist nur dann erforderlich, wenn die Besetzungsreduktion entfallen
soll. Anders als im Fall des § 76 Abs. 2 S. 2 GVG, wo eine Besetzungsänderung auch in einer
(erstmaligen) Besetzungsreduktion bestehen kann (und in der Regel bestehen wird), beschränkt
diese Entscheidung die Korrekturmöglichkeit auf den Übergang zur Dreierbesetzung. Dass
eine Verfahrensverbindung zum Wegfall von Umfang oder Schwierigkeit der Sache führen
kann, erscheint praktisch ausgeschlossen.
60 In den drei in BGHSt 50, 267 (= NStZ 2006, 298 m. Anm. Rieß), StV 2007, 562 und StV
2008, 505 abgedruckten Entscheidungen hat der BGH das Verfahren mangels wirksamen
Eröffnungsbeschlusses (teilweise) eingestellt, weil die nach Beginn der Hauptverhandlung
getroffene Eröffnungsentscheidung durch das (in den konkreten Fällen mit zwei Berufsrichtem
besetzte) erkennende Gericht unter Mitwirkung der Schöffen und nicht durch die Beschluss-
strafkammer getroffen wurde. Der Mangel wäre auch aufgetreten, wenn die Strafkammer in
908 Peter RieB
bei einigen wenigen weiteren Revisionen hat der BGH einen Rechtsverstoß
festgestellt, ohne dass dies zur Urteilsaufhebung fiihrte, weil er nicht gerügt
oder die Rüge präkludiert war. Dabei verhilft eine unrichtige Verneinung
des Merkmals des Umfangs oder der Schwierigkeit der Sache der Revision
äußerst selten zum Erfolg.
Drei aufhebende Entscheidungen beruhen auf Rechtsfehlern bei der Be-
schlussfassung über die Besetzungsreduktion. Zunächst hat der BGH das
Fehlen eines ausdrücklichen Beschlusses über die vom Tatrichter durchge-
fiihrte Zweierbesetzung nach einer auf § 270 Abs. 1 StPO gestützten Ver-
weisung der Sache vom Schöffengericht beanstandet. 61 Eine weitere Aufhe-
bung beruht auf einer nachträglichen (und damit unzulässigen) Anordnung
der Besetzungsreduktion nach dem Übergang des bereits eröffneten Verfah-
rens auf eine andere Strafkammer. 62 Schließlich hat er die nachträgliche
Ergänzung eines bereits erlassenen Eröffnungsbeschlusses UITI die Entschei-
dung über die Besetzungsreduktion beanstandet. 63
Lediglich in drei Entscheidungen hat der BGH bisher, also in mehr als 16
Jahren, die Revision deshalb durchgreifen lassen, weil wegen des Umfangs
und der Schwierigkeit der Sache die Besetzungsreduktion objektiv willkür-
lich gewesen sei. Im ersten Fall ging es um mehrere hundert Fälle des Anla-
gebetruges und einer voraussehbaren Hauptverhandlungsdauer von 45 Ta-
gen; es wirkte ein Ergänzungsschöffe mit. 64 Im zweiten Fall richtete sich
das Verfahren gegen mehrere Angeklagte, hatte 21 Fälle der besonders
voller Berufsrichterbesetzung verhandelt hätte. Zu Revisionserfolgen, die auch bei einer ge-
schäftsplanmäßig nur mit zwei Beisitzern besetzten Strafkammer aus der in Hinblick auf § 76
Abs. 2 bestehenden Notwendigkeit einer kammerinternen Geschäftsverteilung folgen, s. BGH
NStZ 2000, 50 (= JR 2000, 166 m. Anm. Katholnigg)~ NStZ 2004, 638 und v. 14.6.2006 -
2 StR 34/06 Rn. 6 (NJW 2006, 2645 = StV 2006~ 430).
61 BGH v. 7.6.2000 - 5 StR 193/00 (StV 2001, 145 = NStZ-RR 2001,244). Die Entschei-
dung lässt offen, ob in einem Übernahmebeschluss nach § 225a Abs. 3 StPO eine konkludente
Entscheidung über die Besetzung der Strafkammer gesehen werden könnte. In BGHSt 44, 361
(näher oben Fn. 40) war beim gleichen Fehler die Rüge präkludiert.
62 BGH v. 23.8.2005 - 1 StR 350/05 (StV 2005,654 = NStZ-RR 2006, 2i4). Die Kammer,
auf die das Verfahren übergegangen war, hatte irrtümlich einen zweiten Eröffnungsbeschluss
erlassen und mit ihm die reduzierte Besetzung beschlossen. Der BGH betrachtet diesen als
bedeutungslos. Eine analoge Anwendung von § 76 Abs. 2 S. 2 hat er ausdrücklich und mit
näherer Begründung abgelehnt.
63 BGH v. 5.8.2008 - 5 StR 317/08 (StV 2008,505).
64 BGH v. 14.8.2003 - 3 StR 199/03 (NJW 2003, 3633). Der Vorsitzende hatte bereits bei
der Terminierung darauf hingewiesen, dass mit einer Hauptverhandlung von mehreren Mona-
ten Dauer zu rechnen sei. Die Entscheidung führt aus: "Wollte man der vorliegenden Sache
den besonderen Umfang im Sinne des § 76 Abs. 2 GVG absprechen, ließe sich kaun1 noch ein
Fall denken, bei dem dieses Merkmal die Zuziehung eines dritten Berufsrichters erforderlich
tnachen würde." S. dazu auch die Anmerkungen v. Haller/lanßen NStZ 2004, 469; Husherr
StV 2003, 658~ Weber JR 2004, 171.
Die reduzierte Besetzung der großen Strafkammer 909
65 BGH v. 16.12.2003 - 3 StR 483/03 (NStZ-RR 2004, 175 = StV 2004, 250). Die Ent-
scheidung stellt klar, dass - was ebenfalls gerügt war - die Anordnung der Sicherungsverwah-
rung trotz ihrer Schwere nicht zwingend die Mitwirkung eines dritten Richters gebiete (s. dazu
auch Fn. 46); allerdings sei insoweit das Gewicht der Maßregel und der mit ihrer Feststellung
verbundene Aufwand zu berücksichtigen.
66 BGH v. 18.6.2009 - 3 StR 89/09 (StraFo 2009, 338).
67 S. Fn. 43.
910 Peter Rieß
68 S. Fn. 42.
Die reduzierte Besetzung der großen Strafkammer 911
nicht unzweifelhaft ist 69 und den Eigenwert des Kollegialprinzips und die
mit ihm verbundene Rechtstradition und Rechtskultur unbeachtet lässt. 70
Dass der Gesetzgeber so entscheidet, ist zwar wünschenswert, erscheint
aber wenig realistisch. Denn nach einer 18jährigen Geltung der Besetzungs-
reduktion und angesichts einer Praxis, die dies schon bei der geschäfts-
planmäßigen Besetzung der Strafkammern in Rechnung stellt, liefe dies auf
einen personellen Mehrbedarf hinaus, der nicht gänzlich vernachlässigt
werden kann. In einer auf längere Sicht von fiskalischen Zwängen gepräg-
ten Justizpolitik dürfte das allenfalls dann durchsetzbar sein, wenn sich der
gegenwärtige Rechtszustand sowohl in der Sache als auch in der öffentli-
chen Wahrnehmung als massiv defizitär erweisen sollte und die ausnahms-
lose Dreierbesetzung als Abhilfe zwingend not\vendig erscheinen würde.
Dafür ist gegenwärtig wenig ersichtlich.
Ist damit eher notgedrungen an der Möglichkeit festzuhalten, dass die
Strafkammer in der Hauptverhandlung mit zwei Berufsrichtern besetzt sein
kann, so empfiehlt sich dennoch nicht, die geltende Rechtslage unverändert
beizubehalten, also den Ablauf der Geltungsbefristung untätig verstreichen
zu lassen. Eine umfassende Neukonzeption ist wünschenswert; für sie sind
hier einige Denkansätze zu skizzieren. 71
Eine generelle Besetzung der Strafkammer mit nur zwei Berufsrichtern
(und zwei Schöffen) empfiehlt sich nicht. Der gegenwärtige hohe Anteil
an Verfahren, die in Zweierbesetzung entschieden werden, muss bei
einer Neuregelung nicht erhalten bleiben.
Die Voraussetzungen für die Besetzung mit drei Berufsrichtern sind
angesichts des gegenwärtigen Kontrolldefizits vom Gesetzgeber präziser
zu umschreiben; die Dreierbesetzung darf nicht als eine eher seltene
Ausnahme erscheinen. Dafür erscheint es erwägenswert, das (beizube-
haltende) Merkmal des Umfangs oder der Schwierigkeit der Sache
(mindestens regelbeispielhaft) zu konkretisieren, etwa dergestalt, dass an
die voraussichtliche Verhandlungsdauer oder den Umfang oder die Art
der zu erwartenden Beweisaufnahme angeknüpft wird.
In Hinblick darauf, dass die Unzulässigkeit der reduzierten Besetzung
bei der Schwurgerichtskammer ihren sachlichen Grund in der Uedenfalls
69 BGH v. 20.3.2008 - 1 StR 488/07 Rn. 35 (NStZ 2008, 457 Rn. 16) hat in einem obiter
dictum darauf hingewiesen, dass die wegen der Möglichkeit der Besetzungsreduktion verbrei-
tete Verringerung der geschäftsplanmäßigen Besetzung zur Folge hat, dass die sorgfältige und
zeitaufwendige Vorbereitung der Sache vor der Hauptverhandlung leidet.
70 Zum Bedeutungsverlust des Kollegialprinzips in der Entwicklung des Strafverfahrens-
rechts insgesamt s. Rieß FS Egon Müller, 2008, S. 599 ff.
71 Die nachfolgenden Überlegungen stimmen teilweise mit den Vorschlägen überein, die die
große Strafrechtskommission des deutschen Richterbundes in ihrem Gutachten für das Bundes-
justizministerium zu diesem Thema unterbreitet hat.
912 Peter Rieß
72 Zu seiner Bedeutung und die (für die Dauer seiner Existenz) maßgeblichen (unterschied-
lichen) Motive s. LR-Siolek, 25. Aufl. 1999, § 29 GVG, Rn. 4. Seine Wiedereinführung im
Jahre 1953 beruhte auf dem Bemühen, den damals überlasteten BGH zu entlasten. In der Praxis
wird von ihm äußerst selten und nur in einzelnen Gerichtsbezirken Gebrauch gemacht. Selbst
wenn ein Teil der von ihm zu verhandelnden Verfahren auf die erstinstanzliehe Strafkammer
übergehen sollte, dürfte gegenwärtig der Anteil zusätzlicher Revisionen zum BGH hinnehmbar
sein.
73 Anders (stets Zweierbesetzung) der Diskussionsentwurf aus dem Jahre 2004 (näher bei
Fn. 33). Das müsste bei Meinungsverschiedenheiten notwendig zum Stichentscheid des Vorsit-
zenden führen und degradierte damit den (einzigen) Beisitzer zum bloßen Richtergehilfen.
Die Fortwirkung des Zeugnisverweigerungsrechts
bei Verfahren gegen mehrere Mitbeschuldigte
nach Verfahrenstrennung - der Anfang vom
Ende?*
HELMUT SATZGER
Als Autor in der Festschrift für Heinz Schäch wird man vor eine denkbar
schwierige Aufgabe gestellt: Die Wahl des Themas. Der Jubilar hat sich in
so vielen Gebieten mit kenntnisreichen Vorträgen und Publikationen her-
vorgetan und einen Namen gemacht, dass es schwer fällt, sich rur einen
singulären Bereich zu entscheiden. Ich hatte das große Vergnügen, mit ihm
in vielerlei Beziehung zusammenzuarbeiten - sei es bei unserer gemeinsa-
men Tätigkeit an der Ludwig-Maximilians-Universität, im Rahmen des
Deutschen Juristentags, im Arbeitskreis der "Alternativprofessoren" (AE-
Professoren) oder bei der Konzeption des neuen SSW-Kommentars zum
Strafgesetzbuch, um nur einige Punkte zu nennen. Doch diese vielfältigen
Berührungspunkte erleichtern die Auswahl des Themas keineswegs, sie
machen die Aufgabe nur umso schwerer. Letztlich habe ich mich für ein
prozessuales Thema entschieden, einfach deshalb, weil wir unsere ersten
intensiven fachlichen Kontakte anlässlich der Vorbereitung des 65. Deut-
schen Juristentags in Bonn knüpften. Ich hatte damals die ehrenvolle Auf-
gabe übernommen, das strafrechtliche Gutachten zu einem prozessualen
Thema, den "Chancen und Risiken einer Reform des Ermittlungsverfah-
rens", zu erstellen. Bei unseren vorbereitenden Besprechungen in der straf-
rechtlichen Abteilung war der Jubilar von Anfang an ein konstruktiv-
kritischer Geist, der meine Arbeiten mit wertvollen Anregungen bereicherte,
so dass ich bereits damals von seinem Einfluss stark profitieren konnte. In
Dankbarkeit hierfür und für vieles, vieles Andere widme ich ihm den vor-
liegenden Beitrag mit den besten Wünschen für die Zukunft.
Immer wieder stellt das Zeugnisverweigerungsrecht und die notwendige
Belehrung hierüber eine praktisch bedeutsame und häufige Fehlerquelle im
Strafprozess dar, die gravierende Folgen für die Verwertbarkeit der bema-
* Meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter Michael Päsl danke ich für wertvolle Vorarbeiten
und zahlreiche konstruktive Anregungen.
914 Helmut Satzger
12 BGHSt 45,203,205.
13 Vgl. hierzu LR-StPO/Jgnor/Bertheau, Bd. 2,26. Aufl. 2006, § 52 Rn. 19 m.w.N.; kritisch
zur Unteilbarkeit des Zeugnisverweigerungsrechts Fischer JZ 1992, 570, 573.
918 Helmut Satzger
Abtrennung anzuerkennen. Dies hatte der BGR bereits 1991 damit begrün-
det, dass das Recht des Zeugen im Verfahren gegen den nichtangehörigen
Beschuldigten diesen nur als "Reflex" treffe. 26 Die eigentliche Schutzrich-
tung bestehe ja im Hinblick auf den Angehörigen. Somit sei die Gewährung
des Zeugnisverweigerungsrechts aus Sicht des Nichtangehörigen ein von
außen kommender, fremder, zufälliger Eingriff in sein Verfahren. 27 Die nur
aus Zweckmäßigkeitsgründen geschaffene Möglichkeit, gegen mehrere
Beschuldigte in einem Verfahren vorzugehen, ändere nichts daran, dass im
Hinblick auf jeden Einzelnen dessen Schuld festgestellt werden solle.
Schließlich lasse sich § 52 StPO auch kein absoluter Schutz der familiären
Interessen entnehmen. Es komme vielmehr auf die prozessuale Gestaltung
an; so habe etwa der Angehörige des Verletzten, auch wenn er über dessen
Mitschuld vernommen werden soll, kein derartiges Zeugnisverweigerungs-
recht,28
Der BGH kommt daher zu dem Schluss, dass die absolute Fortwirkung
des Zeugnisverweigerungsrechts über die Verfahrenstrennung hinaus nicht
richtig sein könne. Vielmehr sei besonders darauf zu achten, den Einfluss,
der als Reflex von dem einen auf das andere Verfahren einwirke, nicht über
das gebotene Maß auszudehnen. 29 Offengelassen wurde, ob der frühere
Grundsatz vom Fortwirken des Zeugnisverweigerungsrechts vielleicht sogar
gänzlich aufgegeben werden müsse. Auch in seiner hier im Vordergrund
stehenden Entscheidung aus dem Jahr 2009 hat der 1. Senat explizit festge-
stellt, dass er diese Frage als offen ansehe:
"Ob hieran festzuhalten ist oder ob das Zeugnisverweigerungsrecht des
Zeugen nur solange Bestand haben kann, wie das Verfa~en auch gegen
einen seiner Angehörigen geführt wird, und daher auch nur in soweit als
Rechtsreflex nichtangehörige Beschuldigte begünstigt (vgl. dazu BGHSt 38,
96, 99), braucht der Senat nicht zu entscheiden. "30
Seit 1991 hat die Rechtsprechung jedenfalls zunehmend Fallgruppen ent-
wickelt, bei denen - letztlich auf Grundlage einer Abwägung - die Zwangs-
lage des Zeugen gegen einen Angehörigen aussagen zu müssen und die
damit verbundene Gefährdung des Familienfriedens trotz vorheriger Ver-
fahrensverbindung hinter dem Interesse des Staates an effektiver Strafver-
folgung und der prozessualen Seite des Schuldprinzips zurückzutreten habe.
26 BGHSt 38~ 96, 99; s. auch jetzt BGH NJW 2009,2548 ff.
27 S. Fn. 26.
28 BGHSt 38,96,100,101; der Senat verweist ergänzend auf einen Vergleich zwischen § 55
StPO und § 384 Nr. 2 ZPO.
29 BGHSt 38,96, 99.
30 BGH NJW 2009, 2548, 2549.
Die Fortwirkung des Zeugnisverweigerungsrechts 921
spruchs bzw. der Einstellung des Verfahrens betrieben werden dürfe, § 371
StPO.
36 Es handelt sich um eine sonstige prozesserhebliche Tatsache und damit gilt das Freibe-
weisverfahren, }v!eyer-Goßner StPO, 51. Aufl. 2008, § 244 Rn. 7, 8.
924 Helmut Satzger
37 So BGH NStZ 1998, 583, 584; ebenfalls offen gelassen in der jetzigen Entscheidung des
1. Senats, BGH NJW 2009,2548,2549.
38 BGH NStZ 2009,515 ff.
39 Vgl. hierzu BGHSt 30, 197, 198.
40 So zu Recht LR-Beulke, 26. Aufl. 2006, § 154 Rn. 63; insoweit nicht überzeugend daher
Zöller (Fn. 25), 586 f.
41 So KK-Schoreit, 5. Aufl. 2008, § 154, Rn. 47.
42 So auch LR-Beulke (Fn. 40), § 154 Rn. 63~ Meyer-Goßner (Fn. 36), § 154, Rn. 22; s. auch
BGH NStZ 1986, 36.
43 So bereits BGH NStZ 1986, 36.
Die Fortwirkung des Zeugnisverweigerungsrechts 925
Der Senat betont, dass in dem von ihm zu entscheidenden Fall die Verur-
teilung wegen eines Verbrechens von vornherein nicht in Betracht kam, es
sei daher von einer das Verfahren beendenden Wirkung der Einstellung
nach § 154 Abs. 2 StPO auszugehen gewesen.
Im Wege eines obiter dictum geht der BGH auf die Verfahrensbeendi-
gung nach § 154 Abs. 1 StPO ein: Diese sei von vornherein nicht an die
Beschränkungen des § 154 Abs. 3,4 StPO gebunden, eine Wiederaufnahme
der Strafverfolgung sei daher grundsätzlich jederzeit möglich. Der 1. Senat
beruft sich jedoch zu Recht darauf, dass beim Beschuldigten ein Vertrau-
enstatbestand geschaffen werde. Es bestehe ein Bedürfnis nach einer gewis-
sen Beständigkeit. Folglich dürfe die Wiederaufnahme des durch die StA
eingestellten Verfahrens nur "bei Vorliegen eines sachlichen Grundes"
erfolgen.
- mit gutem Grund (!) - ungleich einfacher zu erfUllen als die Vorausset-
zungen eines Wiederaufnahmeverfahrens. Zweitens erscheint es wider-
sprüchlich, wenn der Senat einen Vorrang des Strafverfolgungsinteresses
dadurch begründet, dass er zunächst die Position des Beschuldigten gegen-
über den Strafverfolgungsinteressen dadurch stärkt, dass er die Fortsetzung
eines nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellten Verfahrens wegen des hierdurch
geschaffenen Vertrauens beschränkt, um sodann aber genau hieraus das
Argument zu formulieren, mit welchem dem Zeugen wegen der "Unwahr-
scheinlichkeit" der Fortsetzung des Verfahrens das Zeugnisverweige-
rungsrecht genommen und den Interessen der Strafverfolgung zum Durch-
bruch verholfen werden. 52
Schließlich war ein wichtiger Grund, um mit den Ausnahmen von der
Fortwirkung eines einmal bestehenden Zeugnisverweigerungsrechts nach
Verfahrenstrennung restriktiv umzugehen, die Verhütung von Rechtsmiss-
brauch seitens der Justiz durch geschickte Verfahrenstrennung. Auf Basis
der neuesten Rechtsprechung könnte gleichsam durch "geschickte Verfah-
renseinstellung" ein der effektiven Strafverfolgung zuwiderlaufendes Zeug-
nisverweigerungsrecht ausgeschaltet und der Auftrag des Art. 6 GG, die
Wahrung des Familienfriedens, umgangen werden. Der angehörige Mitbe-
schuldigte hätte dann nur noch den - äußerst reduzierten - Schutz des § 55
StPO, der eine Verweigerung der Aussage nur bzgl. einzelner Fragen er-
laubt und inhaltlich begrenzt ist auf Aussagen, die den Schluss auf die
Strafbarkeit des Angehörigen zulassen; der Nichtangehörige wäre gar nicht
mehr geschützt. Kann es sein, dass der Senat den auf den Familienfrieden
bezogenen Schutzzweck des § 52 StPO trotz seiner Rückendeckung durch
Art. 6 GG 53 ganz aus dem Auge verloren hat, wenn er § 55 StPO als in
derartigen Konstellationen ausreichend betrachtet?
Darüber hinaus ist aber auch der Gleichsetzung der Verfahrenseinstellung
nach § 154 Abs. 2 StPO mit einen1 rechtskräftigen Urteil oder Freispruch
entgegenzutreten. Einerseits erkennt der BGH selbst an, dass der Einstel-
lungsbeschluss nach § 154 Abs. 2 StPO nur unter Umständen in Rechtskraft
erwächst 54 und gesteht damit ein, dass er bereits verfahrensrechtlich ein
"Weniger" im Vergleich zum rechtskräftigen Urteil darstellt. Zum anderen
zeigt die letztlich doch komplexe Regelung des § 154 StPO, dass sich die
Frage nach einem Strafklageverbrauch hier nicht klar und einfach - wie im
Fall des rechtskräftigen Urteils - beurteilen lässt. Letztlich sind hier nicht
52 Unverkennbar ist hier die "Ähnlichkeit" zur vergleichbar trickreichen Taktik, mit der v.a.
der 1. Senat die Fristsetzung für Beweisanträge mit dem - eigentlich primär dem Beschuldig-
teninteresse dienenden - Beschleunigungsgebot zur rechtfertigen versucht~ s. dazu Satzger
NJW 2010, Sonderheft für Tepperwien, 56 ff.
53 Schöch u.a. (Fn. 10), S. 37.
54 BGH NStZ 2009,515,516.
928 Helmut Satzger
55 Der Verweis darauf, dass itn konkreten Fall ein Verbrechenstatbestand nicht in Betracht
kam, ist für die Entwicklung einer allgemeinen Fallgruppe wenig hilfreich.
56 Senge jurisPR-StratR 23 (2009), Anm.2.
Wie vielOpferschutz verträgt der
rechtsstaatliehe Strafprozess?
REINHARD BÖTTCHER
I.
Das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Verletzten und Zeugen im Straf-
verfahren (2. Operrechtsreformgesetz) vom 29.7.2009 1 hat den Reformpro-
zess, der mit dem Opferschutzgesetz vom 18.12.19862 begann und mit dem
Zeugenschutzgesetz vom 30.4.1998 3 und dem Opferrechtsreformgesetz vom
24.6.2004 4 fortgeführt wurde, ein gutes Stück weiter getrieben. Die Infor-
mations- und Verfahrensrechte von Verletzten wurden noch einmal ge-
stärkt, ebenso die Rechte von Zeugen; der Schutzbedürftigkeit jugendlicher
Zeugen wurde weitergehend Rechnung getragen. In unserem Zusammen-
hang sind als wichtige Neuerungen hervorzuheben:
Die Pflicht der Strafverfolgungsbehörden, den Verletzten auf die für ihn
bestehenden Hilfsmöglichkeiten hinzuweisen, wurde verstärkt und konkre-
tisiert. Ihre Pflicht, den Verletzten über seine Rechte aufzuklären, wurde
erweitert und präzisiert. Dabei ist auch die Pflicht, den Verletzten auf sein
Recht, sich dem Verfahren unter den Voraussetzungen des § 395 StPO als
Nebenkläger anzuschließen und dabei nach Maßgabe des § 397 a StPO
kostenlose Unterstützung durch einen Rechtsanwalt zu erhalten, hinzuwei-
sen, präzisiert worden.
Die genannten Verfahrensrechte selbst wurden erweitert, die Nebenklage-
befugnis in beachtlichem Umfang. Zwar gilt für die Ehrverletzungsdelikte
jetzt, dass sie nur unter den Voraussetzungen des § 395 Abs. 3 StPO, also
nur bei Vorliegen besonderer Gründe, insbesondere wegen schwerer Folgen
der Tat, zur Nebenklage berechtigen. Dafür sind der Menschenhandel
(§ 236 StGB) und die besonders schweren Fälle der Nötigung (§ 240 Abs. 4
StGB) in den Katalog des § 395 Abs. 1 StPO aufgenommen worden. Vor
allem aber, und das ist ein wichtiges Signal, wurde in § 395 Abs. 3 StPO ein
1 BGBL I, S. 2280.
2 BGBL I, S. 2496.
3 BGBL I, S. 820.
4 BGBL 1, S. 1354.
930 Reinhard Böttcher
11.
Im Rahmen seiner Beratungen zum 2. Opferrechtsreformgesetz hat der
Rechtsausschuss des Bundestags am 13. Mai 2009 eine Anhörung durchge-
führt, an der als Sachverständiger Heinz Schöch teilnahm, auch Dölling,
Mitherausgeber dieser Festschrift, und unter anderen Sachverständigen auch
der Verfasser. Die den Beratungen des Ausschusses zugrunde liegenden
Gesetzentwürfe, der Entwurf der Bundesregierung 8 und der gleich lautende
Entwurf der Koalitionsfaktionen von CDU/CSU und SPD 9 sowie der Ent-
schließungsantrag der FDP-Fraktion "Opferinteressen ernst nehmen - Op-
ferschutz stärken"lO fanden im Ganzen gesehen bei den Sachverständigen
viel Zustimmung. Dabei spielte eine Rolle, dass das Ende der Legislaturpe-
riode nahe bevorstand, geringe Verzögerungen im Ablauf hätten ausge-
reicht, die Entwürfe der Diskontinuität verfallen zu lassen. Das wollte er-
sichtlich niemand bewirken. Teilweise wurden die Abgeordneten geradezu
angefleht, das Vorhaben nicht wegen noch vorhandenem Diskussionsbedarf
zu irgendwelchen Details scheitern zu lassen sondern einen Weg zu suchen,
auf dem das Vorhaben, notfalls auch mit Abstrichen, noch verabschiedet
werden könnte. Tatsächlich ist das gelungen. In der allerletzten Sitzungs-
woche, spät in der Nacht von Donnerstag auf Freitag (2.13. Juli 2009), hat
der Bundestag das Gesetz beschlossen. Da das Parlament in der Endfassung
11 BR-Drs. 178/09.
12 Vgl. BR-Drs. 641109 (Beschluss).
13 LR-Rieß, 25. Autl. Bd. 1,1999, Einl. Abschn. I Rn. 118.
Wie vielOpferschutz verträgt der rechtsstaatliehe Strafprozess? 933
111.
Die Frage, der im Folgenden nachgegangen wird, ist: Ergeben sich aus
dem Grundgesetz, insbesondere aus dem Rechtsstaatsprinzip, Grenzen für
eine Stärkung der Opferrechte im Strafprozess und welche sind das gegebe-
nenfalls?
Es liegt auf der Hand, dass diese Frage auch nach Inkrafttreten des 2. Op-
ferrechtsreformgesetzes von großer praktischer Bedeutung ist. Abgesehen
einmal von der Möglichkeit, das 2. Opferrechtsreformgesetz verfassungsge-
richtlich anzugreifen, an die im Augenblick, soweit bekannt ist, niemand
denkt, stellt sich als erstes die Frage, ob bestimmte Neuerungen dieses Ge-
setzes, etwa der neue § 395 Abs. 3 StPO, im Hinblick auf eine verfassungs-
rechtliche Grenzwertigkeit eng auszulegen sind. Die in § 395 Abs. 3 StPO
verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe ("schwere Folgen der Tat", "zur
Wahrung der Interessen geboten") gäben dazu Gelegenheit. Verfassungs-
rechtliche Zweifel könnten dabei mit fiskalischen Rücksichten eine unheili-
ge Allianz eingehen. Und natürlich muss sich der Gesetzgeber die Frage
stellen und wird dies jetzt in der 17. Wahlperiode sicherlich tun: Ist beim
Opferschutz im Strafverfahren das Ende der Fahnenstange erreicht? Folgt
aus dem Verfassungsrecht ein Bis hierher und nicht weiter?
Auch Opferhilfsorganisationen wie der WEISSE RING, dessen Bundes-
vorsitzender der Verfasser derzeit ist, müssen sich über diese Frage klar
werden. Aus der Betreuung von Kriminalitätsopfem ergab und ergibt sich
für den WEISSEN RING immer wieder in unterschiedlichen Facetten die
Einsicht, dass die rechtliche Stellung des Verletzten im Strafverfahren trotz
der seit 1987 erreichten Verbesserungen noch viele Wünsche offen lässt.
Diese Wünsche zu sammeln, zu ordnen und gewissenhaft zu bewerten, sieht
der WEISSE RING als seine Aufgabe an, bevor er sich für solche Wünsche
in der rechtspolitischen Diskussion einsetzt. Darauf, dass diese Prüfung
stattfindet, beruht der Respekt, der ihnen entgegengebracht wird. Praktisch
wird diese Prüfung im Fachbeirat Strafrecht des WEISSEN RINGS geleis-
tet, einem Gremium von Experten unter der Leitung von Heinz Schäch. Was
seiner Prüfung standhält, ist in den sog. strafrechtspolitischen Forderungen
des WEISSEN RINGS zusammengefasst. Die Liste dieser Forderungen ist
nach Verabschiedung des 2. Opferrechtsreformgesetzes zusammenge-
schmolzen, hat aber immer noch einen beträchtlichen Umfang. Müssen wir
das Papier jetzt wegwerfen, weil das Grundgesetz einer weiteren Verbesse-
rung der OpfersteIlung entgegen steht?
Seit die Wissenschaft und dann auch die Politik die Stellung des Opfers
im Strafverfahren als Thema fur sich entdeckt haben,16 ist auch die Frage im
Blick, ob eine Stärkung der Verletztenrechte eine Schwächung der Beschul-
digtenposition zur Folge hat, und wenn ja, wie dies zu bewerten ist. In sei-
nem rur die ganze spätere Diskussion prägend gewordenen Gutachten fur
16 Vgl. Jung ZStW 93 (1981), 1181; Rieß (Fn. 14); weitere Nachweise bei LR-Kühne, 26.
Aufl. Bd. 1, 2006, Einl., Abschn. J Rn. 111.
Wie vielOpferschutz verträgt der rechtsstaatliehe Strafprozess? 935
den 55. Deutschen Juristentag im Jahre 1984 hat Rieß dazu eine Position
bezogen, die in der Folge viel Zustimmung erfahren hat und bis heute fort-
wirkt. Sie ist so präzise formuliert, dass man sie am besten wörtlich zitiert:
"Die prozessual legitimen Beschuldigteninteressen haben grundsätzlich
Vorrang vor den Interessen des Verletzten. Dies ist als allgemeines Leit-
prinzip namentlich deshalb ausdrücklich hervorzuheben, weil nicht selten
Überlegungen zur Verbesserung der Verletztenstellung bewusst oder unter-
schwellig mit der Tendenz zum Abbau von den Beschuldigten schützenden
Rechtspositionen verbunden sind. Dem ist entgegenzuhalten: Eine Stärkung
der Verletztenposition darf ebenso wie der Schutz des Verletzten im Straf-
prozess nicht durch rechtliche oder faktische Schwächung der Verteidi-
gungsbefugnisse des Beschuldigten bewirkt werden; vielmehr ist eine sol-
che Verbesserung nur im Rahmen einer ungestörten Verteidigungsposition
zu akzeptieren. Denn Ziel des Strafverfahrens ist es, dem Beschuldigten -
und nur ihm, nicht etwa dem Verletzten - im Falle einer Überführung mit
der strafrechtlichen Sanktion ein Übel aufzuerlegen. Dem Verletzten dro-
hende Nachteile sind dabei nicht intendiert, sondern allenfalls faktische
Konsequenzen, die man möglichst verhindern oder mindern muss, die man
aber nicht auf Kosten der Zentralfigur des Strafverfahrens, des Beschuldig-
ten. mindern darf. Der Beschuldigte muss sich mit den ihm vom Prozess-
recht eingeräumten und vielfach verfassungsrechtlich fundierten Befugnis-
sen verteidigen dürfen, auch wenn dies für den Verletzten nachteilig oder
belastend wirken kann. Diesem sehr rigoros wirkenden und deshalb zum
Widerspruch reizenden Leitprinzip des Vorrangs der Beschuldigteninteres-
sen wird seine Härte dadurch genommen, dass sich für viele Fallkonstellati-
onen Einzellösungen für eine praktische Konkordanz aufzeigen lassen." 17
Die These vom Vorrang der Beschuldigteninteressen hat viele Anhänger
gefunden. Man kann das, wenn man will, bis hinein in die Entwurfsbegrün-
dung des 2. Opferrechtsreformgesetzes verfolgen, wenn dort versichert
wird, die Grenzen, die sich aus der Wahrung der Verteidigungsinteressen
des Beschuldigten ergeben, seien beachtet. 18 Rieß selbst hat die These vom
Vorrang der Beschuldigtenrechte später in seiner Kommentierung für den
Löwe-Rosenberg vertreten,19 Hilger hat diese Position übernommen. 2o Bei-
de haben sich später mit Distanz zu weiteren Verstärkungen der Opferposi-
tion geäußert. 21 Dass angesehene Strafverteidiger die These vom Vorrang
28 LR-Gollwitzer, 25. Aufl. Bd. 8,2005, Art. 6 MRKJArt. 14 IPBPR Rn. 13.
29 BVerfGE 38, 105, 112~ LR-Gollwit=er (Fn. 28), Art. 6 MRKJArt. 14 IPBPR Rn. 7.
938 Reinhard Böttcher
30 BVerfGE 38, 105, 115, 116~ vgl. auch BVerfGE 70, 297, 308.
31 So auch LR-Kühne (Fn. 16), Einl., Abschn. J Rn 118: "zu rigoros".
32 So aber LR-Kühne (Fn. 31), Einl., Abschn. J Rn. 118.
33 Rieß hat mit seinem Hinweis auf den Weg der praktischen Konkordanz seine Ausgangs-
these vom grundsätzlichen Vorrang der Beschuldigteninteressen auch bereits verlassen, jeden-
falls in Frage gestellt, ist praktische Konkordanz doch gerade dann anzustreben, wenn sich ein
genereller Vorrang einer der beiden kollidierenden Grundrechtspositionen nicht feststellen
lässt~ vgl. dazu BVerfGE 83, 130, 143.
34 BVerfGE 83, 130, 143.
35 Nachweise bei LR-Gollwitzer (Fn. 28), Art. 6 MRKI Art. 14 IPBPR Rn. 8.
Wie vielOpferschutz verträgt der rechtsstaatliche Strafprozess? 939
troffen ist, dass durch die Verfassung garantiert wird, ist damit, weil auch
auf Seiten des Verletzten solche Rechtspositionen bestehen, noch nichts
entschieden. Vielmehr gilt es, im Konfliktfall mit Opferbelangen jeweils
das Ausmaß der Beeinträchtigung festzustellen, die den so gewichteten
Rechtspositionen droht. Auf dieser Grundlage kann dann erst entschieden
werden, welches Interesse in welchem Umfang zurückstehen muss.
An erster Stelle sind dabei rechtliche Beeinträchtigungen zu prüfen. Fragt
man, wo legitime Verteidigungsrechte durch die Opferschutzgesetzgebung
aufgehoben oder eingeschränkt wurden, so ergibt sich rasch, dass es dazu
nicht gekommen ist. Insbesondere hat die von den Kritikern der Opfer-
schutzgesetzgebung besonders angegriffene Ausweitung der Nebenklage
die Verteidigung in rechtlicher Hinsicht nicht beschränkt. Nach wie vor gilt,
was das Bundesverfassungsgericht in der frühen Entscheidung zur Verfas-
sungsmäßigkeit der Nebenklage 36 ausgeführt hat: Der Beschuldigte ,;yird
durch die Nebenklagebefugnis und die Zulassung der Nebenklage selbst in
seiner Verteidigung nicht gehindert. Ihm ist nicht verwehrt, sich gegen den
Vortrag des Nebenklägers zu wenden sowie durch eigene Beweisanträge
und Beweismittel das Verfahren zu beeinflussen. Entsprechendes gilt für
andere Verletztenrechte, die im Zuge der Opferschutzgesetzgebung ausge-
baut wurden: Rechtliche Beschränkungen für die Verteidigung haben sie
nicht zur Folge gehabt. Rechtliche Beschränkungen stehen auch nicht heran,
wenn der Verfasser an die lange Liste strafrechtspolitischer Forderungen
des WEISSEN RINGS denkt, von der die Rede war.
Wenn also vielfach eine Schwächung der Beschuldigtenposition durch
den erfolgten Ausbau der Opferrechte behauptet wird,37 so kann sich das auf
rechtliche Eingriffe nicht stützen. Es bleibt die Frage, ob es zu einer fakti-
schen Erschwerung der Verteidigung gekommen ist. Dabei ist zu klären,
was man unter einer faktischen Erschwerung versteht. Dass Verteidigung
weniger bequem ist, wenn der Verletzte als Nebenkläger auftritt, am Ende
mit einer engagierten und kompetenten Anwältin zur Seite, mag durchaus
sein. Dass die Befragung eines Opferzeugen einfacher ist, wenn diesen kein
anwaltlicher Beistand unterstützt, leuchtet ein. Dass eine Verteidigung zu
Lasten des Opfers als eine V e~eidigungsstrategie, die das Gesetz in gewis-
sen Grenzen zulässt, in den genannten Fällen leichter fällt und mehr Erfolg
verspricht, ist wahrscheinlich. Aber handelt es sich dabei um schutzwürdige
Belange der Verteidigung? Schöch hatte doch wohl Recht, wenn er in der
Anhörung ausführte, es gebe kein Recht des Beschuldigten, einem hilflosen,
uninformierten und verängstigten Verletzten gegenüber zu treten. Ganz zu
36 BVerfGE 26,65,71.
37 Vgl. Schünemann NStZ 1986, 193, 198; ders. ZStW 114 (2002) 1,30 ff.; Kempj(Fn. 22),
215,219; E. Müller (Fn. 23),469,471.
940 Reinhard Böttcher
IV.
Es hat sich bei unseren Überlegungen nicht ergeben, dass die Stärkung
der Verletztenrechte, insbesondere auch seiner Aktivrechte, durch die
Opferschutzgesetzgebung der zurückliegenden Jahre einschließlich des
2. Opferrechtsformgesetzes von 2009 verfassungsrechtliche Bedenken be-
gründen würde. Insbesondere hat sich kein Verstoß gegen das fair-trial-
Gebot gezeigt. Auc'h der vorsichtigen Aussage, es sei erörterungswürdig, ob
unter Fairnessgesichtspunkten eine verfassungsrechtlich bedenkliche
Schieflage entstanden sei, die Jahn in der Anhörung zum 2. Opferrechtsre-
formgesetz vor dem Rechtsausschuss des Bundestags machte, muss wider-
sprochen, werden, wenn damit angedeutet sein soll, dass eine solche Schief-
lage ernsthaft in Betracht kommt. Das ist nicht der Fall. Vielmehr darf, weil
das Fairnessgebot auch für den Verletzten gilt, erörtert werden, wo insoweit
noch Defizite bestehen, die zu beseitigen Aufgabe künftiger Reformgesetz-
gebung ist.
Es kann in diesem kleinen Beitrag zu Ehren von /feinz Schöch nicht aus-
gebreitet werden, was dazu etwa im WEISSEN RING an Reformforderun-
gen erarbeitet worden ist. Das ist auch nicht nötig, denn der Jubilar, der an
der Erarbeitung dieser Vorschläge maßgeblich beteiligt war, kennt sie bes-
tens. Es sei dem Verfasser erlaubt, nur einige wenige dieser Anliegen kurz
anzusprechen, um zu zeigen, dass das Ende der Fahnenstange für die Re-
Wie vielOpferschutz verträgt der rechtsstaatliche Strafprozess? 943
46 Vgl. Böttcher FS E. Müller, 2008, S. 87; ders. FS Volk, 2009, S. 61 ; ders. FS Stöckel,
2010, S. 161.
47 AbI. L 82/1.
48 Vgl. EGMR, EugRZ 1985,297 und dazu WeigendRW 2010,39 ff.
944 Reinhard Böttcher
v.
Heinz Schöch ist unter den angesehenen StrafrechtsIehrem einer, der sich
besonders früh und besonders nachhaltig fur Operschutz, Wiedergutma-
chung und Täter-Opfer-Ausgleich im Strafverfahren eingesetzt hat. Neben
seiner einflussreichen wissenschaftlichen Arbeit stand dabei ein vielfältiges
praktisches Engagement, unter anderem in der Opferhilfeeinrichtung
WEISSER RING. Nie hat Schöch dabei die berechtigten Verteidigungsinte-
ressen des Beschuldigten außer Betracht gelassen, hat vielmehr auch zur
Stärkung der Beschuldigtenrechte wichtige Beiträge geleistet. Er kann für
sich in Anspruch nehmen, auf das Ziel eines humaneren, die betroffenen
Menschen und ihre Belange intensiver in den Blick nehmenden Strafprozes-
ses hin gearbeitet zu haben. Ihn mit diesem Beitrag in seiner Festschrift zu
ehren, ist eine Freude.
50 Vgl. dazu Kilchling NStZ 2002, 57~ ders. Opferinteressen und Strafverfolgung, 1995,
S. 701 ff.
Das Opfer als Prozesspartei?
Bemerkungen zum 2. Opferrechtsreformgesetz 2009
THOMAS WEIGEND
Der verehrte Jubilar hat sich seit jeher mit großem Elan für die Interessen
der Opfer von Straftaten eingesetzt, und er hat durch sein wissenschaftliches
und praktisches Engagement viel für sie erreicht. Ein wichtiger Aspekt
opferfreundlicher Strafrechtspflege, nämlich die Wiedergutmachung der
Folgen der Tat, war es auch, der Heinz Schöch und mich in den 1980er
Jahren erstmals zu freundschaftlicher Kooperation in der unvergleichlichen
Atmosphäre des Kreises der "Alternativ-Professoren" zusammengeführt
hat. Aus den gemeinsamen Bemühungen ist der "Alternativ-Entwurf Wie-
dergutmachung"l entstanden, dessen wohldurchdachte Regelungen für die
Gesetzgebung anregend gewirkt haben. 2 Im Laufe der seither vergangenen
beiden Jahrzehnte sind noch einige weitere Projekte des Alternativ-Kreises
erfolgreich abgeschlossen worden, an denen ich gemeinsam mit dem Jubilar
mitwirken durfte. Ich habe ihn dabei immer als einen Menschen von klaren
Überzeugungen erlebt, der die besondere Gabe besitzt, andere durch die
Stringenz seiner Argumentation verbunden mit seinem persönlichen Char-
me von seiner Position zu überzeugen. Ich durfte bei unseren Begegnungen
viel von Heinz Schöch lernen, und er hat auch meinen Werdegang immer
mit großem Wohlwollen, gutem Rat und praktischer Unterstützung beglei-
tet. Es ist für mich deshalb eine besondere Freude, dem Jubilar als kleinen
Dank und als Zeichen der Verehrung für einen vielseitigen Gelehrten, der
die "gesamte" Strafrechtswissenschaft in allen ihren Aspekten bereichert,
ein paar Bemerkungen zu einem uns beide interessierenden Thema offerie-
ren zu dürfen.
1. Zeugenschutz
Für Zeugen wurde erstmals die Pflicht, vor Gericht zu erscheinen und
auszusagen, ausdrücklich geregelt, wobei die Formulierung des neuen § 48
Abs. 1 StPO einen Vorschlag aus dem Alternativ-Entwurf "Zeugnisverwei-
12 Siehe auch die knappe Übersicht bei Hilger GA 2009,657 sowie die kritische Würdigung
bei Barton (Fn. 7), 753.
13 So wurden die Regelungen über die von der Polizei bei der Zeugenvernehmung zu beach-
tenden Vorschriften von § 163a Abs. 5 in § 163 Abs. 3 S. 1 StPO verschoben, und die Frage
der Nebenklagebefugnis bei einer Beschränkung der Verfolgung gemäß § 154a StPO ist jetzt
nicht mehr in § 397 Abs. 2, sondern in § 395 Abs. 5 StPO geregelt.
14 So wird jetzt in § 68a Abs. 1 S. 1 StPO von Zeugen nicht mehr die Angabe von "Stand
oder Gewerbe", sondern des Berufes verlangt.
15 Ohne inhaltliche Veränderung neu gefasst wurde etwa § 138 Abs. 2 StPO.
16 Die Änderung entspricht allerdings der wohl überwiegenden Auffassung der Rechtspre-
chung schon nach der früheren Gesetzeslage~ siehe LR-Hilger StPO, 26. Aufl. 2007, § 112a
Rn. 30 mit Nachweisen.
17 Kritisch hierzu jedoch Bittmann ZRP 2009, 212, 213.
18 Zu den praktischen Vorzügen dieser Neuregelung siehe Gesetzentwurf (Fn. 4), S. 25 f.
950 Thomas Weigend
Umständen, die die Glaubwürdigkeit des Zeugen in der vorliegenden Sache betreffen, ... sind
zu stellen, soweit dies erforderlich ist."
27 "Die Sachaufklärung geht der Rücksicht auf den Zeugen vor, gleichviel wie groß die Be-
deutung des Strafverfahrens für den Angeklagten ist." So LR-IgnorlBertheau StPO, 26. Autl.
2008, § 68a Rn. 6, mit zahlreichen Nachweisen für diese Auffassung.
28 Siehe die Nachweise pro und contra bei HK-StPO/Zöller, 4. Autl. 2009, § 163 Rn. 19;
Meyer-GoßnerICierniak, StPO, 52. Autl. 2009, § 163 Rn. 16.
29 MattlDierlammlSchmidt StV 2009, 715, betrachten die neue Regelung wegen Verletzung
des - in Bezug auf den Zeugenanwalt allerdings nicht einschlägigen - Grundsatzes der Waf-
fengleichheit sogar als verfassungswidrig.
30 Sie knüpft an eine Einschränkung des Anwesenheitsrechts des Zeugenbeistands in
BVerfGE 38, 105, 120 an. Dort wird allerdings für den Ausschluss zusätzlich vorausgesetzt,
dass die Teilnahme des Rechtsanwalts "erkennbar dazu missbraucht wird, ... das Auffinden
einer materiell richtigen und gerechten Entscheidung zu beeinträchtigen".
31 Die ungehemmte Tendenz des modemen Gesetzgebers, prozessuale Zwischenentschei-
dungen - natürlich stets im Interesse der Vermeidung von Verfahrensverzögerungen (Gesetz-
entwurf [Fn. 4], S. 18) - für unanfechtbar zu erklären, bedürfte einmal der grundsätzlichen
Überprüfung. Immerhin kann gegen den Ausschluss des Verletztenbeistands durch einen
Polizeibeamten oder Staatsanwalt der Richter angerufen werden (§§ 161a Abs. 3 S. 2, 163
Abs. 3 S. 3 StPO).
952 Thomas Weigend
a) Allgemeine Verletztenrechte
Dabei halten sich die Veränderungen, die alle Verletzten von Straftaten
betreffen, in engen Grenzen. So wurden die Informationspflichten gegen-
über den Opfern von Straftaten in § 406h StPO übersichtlicher aufgelistet
und dabei auch näher spezifiziert,36 wobei bei den Angeboten der Opferhilfe
die beispielhafte Hervorhebung einer "psychosozialen Prozessbegleitung"
(§ 406h Abs. 1 Nr. 5 StPO) angesichts deren sehr begrenzter praktischer
Bedeutung verwundert. 37 Wie dem Auftrag, den Verletzten die Informatio-
nen "soweit möglich in einer für sie verständlichen Sprache" zu geben,
angesichts der unüberschaubaren Zahl der in Frage kommenden Sprachen
Rechnung getragen werden soll, ist nicht ganz zu ersehen. 38 Hinsichtlich des
Akteneinsichtsrechts des Verletztenanwalts (§ 406e Abs. 2 StPO) ist eine -
auch für den Anwalt des Nebenklägers geltende - Einschränkungsmöglich-
keit hinzugekommen: Die Akteneinsicht kann selbst noch nach Abschluss
der Ermittlungen abgelehnt werden, wenn der Untersuchungszweck in
einem anderen Strafverfahren gefährdet erscheint, wenn also etwa befürch-
tet wird, dass Informationen aus den Verfahrensakten das Aussageverhalten
35 Mit Recht hat es im Übrigen Dölling in seiner schriftlichen Stellungnahme zum RegE
anlässlich der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am
13.5.2009 (S. 4) (die Stellungnahmen sind abrutbar unter http://www.bundes-
tag. de/bundestag!ausschues-se/a06/anhoerungen/Arch iv/54_2_Opfer-rechtsreformgesetzl04_-
Stellungnahmen/index.html) als fragwürdig bezeichnet, dass durch die Neufassung von § 60
Nr. 1 StPO nunmehr auch 16- und 17Jährigen pauschal die Eidesmündigkeit abgesprochen
worden ist.
36 l\Ilaßgeblich waren insoweit sehr extensive Vorgaben in Art. 4 des Rahmenbeschlusses
des Rates 200 1/220/]I v. 15.3 .200 1 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren.
37 Kritisch insoweit auch die schriftlichen Stellungnahmen von Böttcher (S. 5) und Schöch
(S. 3) zur öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages zum
RegE am 13.5.2009 (s. Fn. 35).
38 In Art. 4 (1) des Rahmenbeschlusses über die Stellung des Opfers im Strafverfahren
(Fn. 36) ist kryptisch davon die Rede, dass die Infonnationen in "Sprachen, die allgemein
verstanden werden", erteilt werden sollen.
954 Thomas Weigend
b) Nebenklage
Im Mittelpunkt der gesetzgeberischen Bemühungen stand das Institut der
Nebenklage, das sich im Zuge der Reformdebatte der letzten Jahrzehnte als
das Mittel der Wahl zur wehrhaften Wahrnehmung der prozessualen In-
teressen des Verletzten fest etabliert hat und das auch in der Rechtswirk-
lichkeit jedenfalls in schwerwiegenden Strafverfahren eine quantitativ wie
qualitativ bedeutsame Rolle spielt,40
Das 2. OpferRRG hat zunächst den Nebenkläger hinsichtlich seiner "Zu-
ziehung" und des rechtlichen Gehörs im Verfahren ausdrücklich mit der
Staatsanwaltschaft gleichgestellt (§ 397 Abs. 1 S. 4 StPO) und das Recht
des Nebenklägers betont, sich eines Rechtsanwalts als Beistand oder als
Vertreter zu bedienen. 41 Beides sind optische Hervorhebungen, aber keine
sachlichen Neuerungen, da die Materie bisher durch Verweisung auf die
Rechtsstellung des Privatklägers im gleichen Sinne geregelt war.
Eine inhaltliche Verbesserung liegt in der Erweiterung des Katalogs der
Tatbestände, bei deren (vermutetem) Vorliegen das Gericht dem Nebenklä-
ger auf dessen Antrag einen Rechtsanwalt als Beistand bestellt; das gilt jetzt
z.B. für schwere Körperverletzung, Raub und räuberische Erpressung, so-
fern die Tat bei dem Verletzten zu schweren körperlichen oder seelischen
Schäden geführt hat oder voraussichtlich führen wird (§ 397a Abs. 1 Nr. 3
StPO). In den übrigen Fällen wird dem Nebenkläger für die Beauftragung
eines Rechtsanwalts nötigenfalls Prozesskostenhilfe gewährt, und zwar nach
39 Der Rechtsausschuss des Bundestages, auf dessen Initiative diese Regelung zurückgeht,
verweist zur Begründung auf die im Fall Weimar entstandene Konstellation, dass die im Ver-
fahren als Verletzter auftretende Person gleichzeitig selbst der angeklagten Tat verdächtig ist
(BT-Drs. 16/13671 v. 1.7.2009, S. 22). Siehe zur Problematik der "angreifenden Nebenklage"
allgemein Altenhain JZ 2001,791. Die Befürchtung von Schroth NJW 2009, 2916, 2919, durch
die Ausdehnung des Akteneinsichtsrechts des Verletztenanwalts mutiere der Zeuge zur Pro-
zesspartei und es werde so die Wahrheitsfindung beeinträchtigt, dürfte angesichts der doch
recht weitreichenden Möglichkeiten, nach § 406e Abs. 2 StPO die Akteneinsicht zu verweigern
oder zu beschränken, nicht begründet sein.
40 An 21°;6 der erstinstanzlichen Hauptverhandlungen vor dem Landgericht nahm im Jahre
2008 ein Nebenkläger teil (berechnet nach Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.3,
2008, S. 72), und nach einer empirischen Untersuchung von Barton (Wiedergabe erster Ergeb-
nisse bei Barton [Fn. 7], 753, 758) zeichnen sich Verfahren mit Nebenklage im statistischen
Durchschnitt durch längere Dauer, mehr Hauptverhandlungstage, weniger Freisprüche und
höhere Strafen aus.
41 Zu den im Einzelnen ungeklärten Fragen der Rechtsstellung des Anwalts des Nebenklä-
gers instruktiv Barton (Fn. 7), 753, 756 f.
Das Opfer als Prozesspartei? 955
jetzigem Recht auch dann, wenn die Sach- und Rechtslage keine besonde-
ren Schwierigkeiten aufweist (§ 397a Abs. 2 StPO). Da der Nebenkläger zur
Wahrnehmung seiner umfangreichen Verfahrensrechte in aller Regel auf
sachkundige Unterstützung durch einen Rechtsanwalt angewiesen ist, sind
alle diese Initiativen des Gesetzgebers zu begrüßen, da sie ökonomisch
bedingte Ungleichheiten bei der Chance von Verletzten zur aktiven Verfah-
rensbeteiligung mindern.
Im Ganzen und im Detail heftig umstritten ist nach wie vor die Frage,
welche Verletzten die hervorgehobene Position des Nebenklägers erhalten
sollen. Auch nachdem das Opferschutzgesetz von 1986 die sachlich wenig
sinnvolle Koppelung der Nebenklagebefugnis an die (potentielle) Stellung
eines Privatklägers aufgegeben und die Nebenklage damit auf eigene Füße
gestellt hatte, fehlte es an zwingenden sachlichen Kriterien rur die Abgren-
zung zwischen Verletzten erster und zweiter Klasse. Nun hat der Gesetzge-
ber einen neuen Anlauf zur Gestaltung eines Katalogs von Nebenklagede-
likten gemacht und außerdem in § 395 Abs. 3 StPO eine materielle
Öffnungsklausel (besondere Gründe, insbesondere die schweren Folgen der
Tat) aufgenommen, die das Enumerationsprinzip letztlich zugunsten einer
vom Gericht (unanfechtbar; § 396 Abs. 2 S. 2 StPO) vorzunehmenden Ein-
zelfallentscheidung aufgibt.
Was zunächst die Liste der Tatbestände betrifft, bei der die Nebenklage
des Verletzten unabhängig von der Schwere der Folgen im Einzelfall zuzu-
lassen ist (§ 395 Abs. 1, 2 StPO), so erklärt der Gesetzentwurf der damali-
gen Regierungsfraktionen die "besondere Schutzbedürftigkeit des Opfers"
zum Maßstab. 42 Besondere Schutzbedürftigkeit soll danach vorliegen, wenn
jemand "durch ein gegen höchstpersönliche Rechtsgüter gerichtetes Ag-
gressionsdelikt" verletzt worden ist. 43 Nach diesem Maßstab hätte die un-
eingeschränkte Nebenklageberechtigung konsequenterweise auf versuchte
Tötung, gefährliche und schwere Körperverletzung, Geiselnahme, erhebli-
che Sexualdelikte, Raub und verwandte Tatbestände sowie schwere Entfüh-
rungsdelikte beschränkt werden müssen. Im Laufe des Gesetzgebungsver-
fahrens machten jedoch verschiedene Interessengruppen ihre Bedenken
gegen die Streichung bisheriger Nebenklageberechtigungen geltend,44 be-
sonders massiv die Vertreter der Musikindustrie,45 die um den Verlust der
Beteiligungsmöglichkeit in Strafverfahren wegen Urheberrechtsverletzun-
gen rurchteten. Manche dieser Interventionen - die zum Teil durchaus plau-
sible Gründe ins Feld ruhren konnten - hatten Erfolg. Damit präsentiert sich
aber der Katalog der Nebenklagetatbestände in § 395 Abs. 1 StPO nunmehr
erneut als ein in sich wenig konsistentes Sammelsurium, das jedenfalls nicht
auf einen gemeinsamen Grundgedanken zurückgeführt werden kann. 46 Be-
zeichnend ist insoweit die Gesetzesbegründung, die rur die Beibehaltung
der uneingeschränkten Nebenklagebefugnis bei Verletzungen geistigen
Eigentums lediglich nicht näher spezifizierte "rechtspolitische Erwägungen"
anzuruhren vermag. 47
Neben den in § 395 Abs. 1 und 2 StPO aufgeführten "geborenen" Neben-
klägern sieht das Gesetz die Kategorie der "gekorenen" Nebenkläger vor,
die die Zulassung aufgrund einer Ermessensentscheidung des Gerichts er-
langen können. War diese Möglichkeit bisher eng begrenzt auf die Opfer
fahrlässiger Körperverletzungen, so ist sie nunmehr für alle Personen geöff-
net, die durch eine rechtswidrige Tat verletzt worden sind. Als Beispiele
("insbesondere") nennt das Gesetz die Beleidigungsdelikte, den Einbruchs-
diebstahl, Raub und Räuberische Erpressung sowie - wie bisher - die Fahr-
lässige Körperverletzung. Materielle Zugangsvoraussetzung zur Nebenklage
ist nach § 395 Abs. 3 StPO das Vorliegen von "besonderen Gründen", von
denen wiederum "insbesondere" schwere Folgen der Tat beispielhaft her-
vorgehoben werden. Die klare Umsetzung eines stringenten gesetzgeberi-
schen Konzepts sieht gewiss anders aus. Auch die Gesetzesbegründung hilft
dem Anwender nicht wesentlich weiter, wenn sie die "Gesamtsituation des
Betroffenen" als maßgebliches Entscheidungskriterium definiert und als
"besondere Gesichtspunkte" einerseits "körperliche oder seelische Schäden
mit einem gewissen Grad an Erheblichkeit", andererseits den Umstand
benennt, dass "das Opfer schwere Schuldzuweisungen abzuwehren hat".48
Dass die Öffnung der Nebenklage unter diesen Umständen selbst von einem
zurückhaltenden Kommentator wie Hans Hilger als "uferlos" kritisiert
worden ist,49 kann nicht überraschen. Man kann nur hoffen, dass die Gerich-
45 Siehe die schriftliche Äußerung von Drücke im Rahmen der öffentlichen Anhörung des
Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages zum RegE am 13.5.2009 (s. Fn. 35).
46 Barton (Fn. 7), 753, 757, konstatiert, dass die Nebenklagebefugnis für die Delikte gegen
den Wettbewerb schon im Ansatz jede Bemühung, der Nebenklage ein klares Leitbild zu
verleihen, durchkreuze.
47 Bericht des Rechtsausschusses (Fn. 39), S. 22.
48 Gesetzentwurf (Fn. 4), S. 31.
49 Hilger GA 2009,657,658. Kritik auch bei Barton (Fn. 7),753,755; Bittmann ZRP 2009,
212, 214; lahn Schriftliche Äußerung im Rahmen der öffentlichen Anhörung des Rechtsaus-
schusses des Deutschen Bundestages zum RegE am 13.5.2009 (Fn. 35), S. 27 f.
Das Opfer als Prozesspartei? 957
wort hierauf hat Peter Rieß entwickelt, und sie findet sich auch in der Be-
gründung zum Opferschutzgesetz von 1986: Der Verletzte soll sich durch
die aktive Beteiligung am Verfahren davor schützen können, dass der An-
geklagte die Verantwortung fur das deliktische Geschehen dem Verletzten
zuweist und ihn als den eigentlich Schuldigen darstellt. 52 Werm dies die
ratio der Nebenklage ist, dann dürfte sich die Zulassung der Nebenklage
jedoch nicht nach der Art und Schwere der angeklagten Straftat und schon
gar nicht nach den "schweren Folgen der Tat" richten, sondern danach, in
welchem Maße der Verletzte berurchten muss, als eigentlich Verantwortli-
cher dargestellt zu werden. Ob diese Gefahr besteht, ist eine Frage des Ein-
zelfalls, so dass die im Gesetz vorgenommene Typisierung nach angeklag-
ten Straftatbeständen bereits als solche zweifelhaft ist. Wenn man trotzdem
nach Tatbeständen unterscheiden möchte, so mag eine "Rollenvertau-
schung" durch den Angeklagten bei Tötungs-, Körperverletzungs- und
Sexualdelikten wie auch bei Beleidigungsfallen (Wahrheitsbeweis) zwar
nicht in der Regel, aber doch relativ häufig vorkommen; beim Einbruchs-
diebstahl oder beim Raub (die als Beispielsfalle für besondere Schutzbe-
dürftigkeit des Opfers in § 395 Abs. 3 StPO hervorgehoben sind) dürfte
dergleichen aber kaum zu berurchten sein. Der Tatbestandskatalog nach
dem Opferschutzgesetz von 1986 ließ sich also (mit Ausnahme der Urhe-
berrechtsverletzungen) noch mit einiger Mühe auf den Grundgedanken des
Schutzes des Opfers vor ungerechtfertigten Angriffen zurückfuhren; bei
demjenigen des 2. OpferRRG, insbesondere bei § 395 Abs. 3 StPO n.F., ist
das nicht mehr der Fall.
Es ist deshalb zu vermuten, dass der Gesetzgeber des 2. OpferRRG die
Zweckrichtung der Nebenklage stillschweigend verändert hat. Die Orientie-
rung an der Schwere der Tat, insbesondere an den "schweren Folgen" deutet
darauf hin, dass der Katalog der Nebenklagebefugnisse nicht mehr auf Ver-
teidigungs-, sondern auf Angriffsbedürfnissen des Verletzten basiert. In
diesem Zusammenhang wird in jüngerer Zeit häufig die "Genugtuung" des
Opfers als Ziel seiner Beteiligung als Nebenkläger genannt. 53 Wer schwer
52 Rieß Gutachten C zum 55. DJT 1984, Rn. 120; BT-Drs. 1015305, S. 11; siehe auch bereits
Schöch (Fn. 23), 385, 388, der die Nebenklage als "das wirkungsvollste Instrument für den
Persänlichkeitsschutz des Verletzten" bezeichnet. Eingehend und instruktiv zur Abwehrfunkti-
on der Nebenklage Altenhain JZ 2001, 791, 795 f Siehe auch die Begründung zu § 395 Abs. 3
StPO n.F. im Gesetzentwurf (Fn. 4), S. 31: Ein "besonderer Grund" liege vor, "wenn das Opfer
schwere Schuldzuweisungen abzuwehren hat".
53 Siehe etwa Barton (Fn. 7), 753, 758; Dölling FS Jung, 2007, S. 77, 84 (sowohl Abwehr
von Schuldzuweisungen als auch Verfolgung des Interesses an Unrechtsfeststellung und Ge-
nugtuung); Hol:: Justizgewähranspruch des Verbrechensopfers, 2007, S. 148 f, 152. Siehe
allgemein zur Renaissance des Genugtuungsgedankens Weigend Rechtswissenschaft 2010, 32
(speziell zum Strafverfahren 47 ff).
Das Opfer als Prozesspartei? 959
durch eine Straftat betroffen ist - so ließe sich der Grundgedanke der aktu-
ellen Gesetzgebung vielleicht formulieren -, der hat einen berechtigten
Anspruch darauf, durch seine Verfahrensbeteiligung dafür sorgen zu kön-
nen, dass "sein" Täter verurteilt und ausreichend bestraft wird. Mit dieser
Aussage lässt sich die Ausgestaltung von § 395 Abs. 3 StPO zwanglos ver-
einbaren; die "besondere Schutzbedürftigkeit" des Verletzten in diesem
Sinne ergäbe sich ohne weiteres aus seiner starken Beeinträchtigung durch
die Tat, die als proportional zu seinem Genugtuungsbedürfnis verstanden
wird.
Nun wäre es sicher nicht richtig, den Wunsch von Deliktsopfern nach
einer angemessenen Sanktionierung des Schuldigen als atavistisch zur Seite
zu schieben und für rechtlich irrelevant zu erklären. 54 Der Verletzte - jeder
Verletzte, nicht nur derjenige, dem besonders Schlimmes widerfahren ist -
kann verlangen, dass sein Schicksal nicht marginalisiert wird, sondern dass
anerkannt wird, dass ihm Unrecht zugefügt wurde. Dass diese Anerkennung
förmlich in einem staatlichen Strafurteil erfolgen muss, ist damit allerdings
noch nicht gesagt; ob dies der Fall ist, hängt von verschiedenen zusätzlichen
Voraussetzungen ab, und die Schwere der Tat spielt dabei gewiss eine Rol-
le. 55 Es wäre jedoch verfehlt, das Bedürfnis des Verletzten, durch Verurtei-
lung und Bestrafung des Täters einen Ausgleich für das eigene Leid zu
erhalten, in eine aktive prozessuale Position der (oder mancher) Opfer um-
zumünzen. Denn zum einen steht bis zum Abschluss des Verfahrens noch
gar nicht fest, ob der Verletzte Genugtuung durch die Verurteilung dieses
Angeklagten verlangen kann; zum anderen dient es einer gleichmäßigen
und rational gesteuerten Strafrechtspflege, die Einleitung, Durchführung
und Gestaltung eines Strafverfahrens nicht von den individuellen Wünschen
und Bedürfnissen einzelner Privatpersonen abhängig zu machen. 56 Deshalb
würde eine Neu-Orientierung der Nebenklagebefugnis an der Leitlinie der
jeweiligen Stärke des Genugtuungsbedürfnisses in eine falsche Richtung
führen. 57 Soweit eine solche Absicht (unausgesprochen) der Neufassung
von § 395 Abs. 3 StPO zugrunde liegt, ist dies zu bedauern; jedenfalls soll-
ten sich die Gerichte bei der Frage nach "besonderen Gründen" für eine
Zulassung der Nebenklage nicht am Maß des Sanktionierungsinteresses des
Verletzten, sondern an seinem etwa verstärkten Bedürfnis orientieren,
(Mit-)Schuldvorwürfen seitens des Angeklagten entgegenzutreten.
ProbleIne des Verletzten etwa bei der Traumabewältigung annimmt; siehe Bung (Fn. 10), 430,
432; Höynck in: Barton (Hrsg.), Verfahrensgerechtigkeit und Zeugenbeweis, 2002, S. 233,238;
Prittwitz in: Schünemann/Dubber (Hrsg.), Die Stellung des Opfers itn Strafrechtssystem, 2000,
S. 51,62 f.
58 Bung (Fn. 10), 430, 435.
59 So Schünemann (Fn. 1O)~ 484 f. Auch Barton (Fn. 7), 753 nimmt an, dass der Gesetzgeber
mit dem 2. OpferRRG "eine neue Partei im Strafverfahren geschaffen" habe.
60 Jahn Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des
Deutschen Bundestages zum RegE am 13.5.2009, S. 29 f. (Fn. 35).
61 Jahn (Fn. 60), S. 29.
Das Opfer als Prozesspartei? 961
benkläger seit eh und je gehabt, und das 2. OpferRRG hat dies durch die
Neufassung von § 397 StPO allenfalls optisch deutlicher hervortreten las-
sen. Auch rür die Einführung eines "Parteiverfahrens" vermag ich keine
Anzeichen zu erkennen. Man mag den Nebenkläger, obwohl er ja erst nach
der Anklageerhebung und damit relativ spät in das Strafverfahren eintreten
kann, aufgrund seiner weitreichenden Mitwirkungsbefugnisse in materiel-
lem Sinne als Prozesspartei verstehen; das Verfahren bleibt aber (auch und
gerade im Zeitalter der Absprachen) durch das Gericht gesteuert, und der
Nebenkläger kann allenfalls - wie bisher - durch Fragen, Anträge und unter
bestimmten Voraussetzungen durch Rechtsmittel auf das Verfahren Einfluss
nehmen. Ein Parteiprozess zwischen Angeklagtem und Verletztem müsste
ganz anders ausgestaltet sein.
Tatsächlich reiht sich das 2. OpferRRG in die lange Liste der strafrechtli-
chen und strafprozessrechtlichen Gesetzesnovellen der letzten beiden Jahr-
zehnte ein, die den Ehrgeiz zur technischen Perfektion mit manchmal wol-
kiger Sprache und einem deutlichen Mangel an theoretischer Fundierung
verbinden. Die Strafprozessordnung wird einmal mehr technokratisch auf-
gebläht, um den Wünschen der rechtspolitisch ersichtlich sehr mächtigen
Opferverbände 62 Rechnung zu tragen - woran es fehlt, ist aber nach wie vor
eine klare und theoretisch reflektierte Vorstellung des Gesetzgebers davon,
welche Position der Verletzte im Strafverfahren haben sollte.
62 Immer wieder wird in der Begründung des Gesetzentwurfs (Fn. 4 - etwa S. 10, 11, 29, 31,
32, 33, 38) hervorgehoben, dass die vorgeschlagenen Regelungen auf den Wünschen von
(anonym bleibenden) "Opferschutzverbänden" beruhten - als ob dies allein schon eine hinrei-
chende Begründung für eine Gesetzesänderung wäre.
Schuldspruchersetzung - Berichtigung oder
Benachteiligung?
Der Austausch der Straftatbestände im Urteilstenor durch
das Revisionsgericht unter Aufrechterhaltung des
Strafausspruchs *
WERNER BEULKE
I. Einleitung
* Für die Mithilfe an diesem Beitrag bedanke ich mich bei meinem wissenschaftlichen Mit-
arbeiter Dr. Benedikt Edlbauer.
1 Wimmer MDR 1948,69,72.
2 Vgl. hier nur SK-Wohlers, 47. Lieferung 2006, § 354 Rn 1 u. 28 ff.
3 Vgl. Steinmetz Sachentscheidungskompetenzen des Revisionsgerichts in Strafsachen
(§ 354 Abs. 1 StPO), 1997, S. 214 ff.
964 Werner Beulke
Ich hoffe, dass ich mit meinen Überlegungen auch auf das wohlwollende
Interesse unseres verehrten Jubilars Heinz Schöch stoße, der sich ja gerade
um die klassische tatrichterliche Domäne der Strafzumessung als ausgewie-
sener Experte so verdient gemacht hat 9 .
12 Vgl. zu dieser Praxis Meyer-Goßner (Fn. 5), S. 515, 523; SK-Wohlers (Fn. 2), § 354
Rn. 28; bestätigt durch BVerfG Beschluss vom 1.3.2000 - 2 BvR 2049/99; s. a; BVerfGE 6,
45,50 f.
13 Vgl. BVerfG NJW 2007, 2977, 2982 u. bereits Bode Die Entscheidung des Revisionsge-
richts in der Sache selbst, 1958, S. 9 ff.
14 Vgl. etwa Senge (Fn. 5)~ 310.
15 Kritisch auch Dehne-Niemann ZIS 2008,239,245; Ignor (Fn. 6), S. 297.
16 Vgl. Meyer-Goßner (Fn. 5), S. 519.
17 Berenbrink GA 2008, 632 ff.; Steinmet= (Fn. 3), S. 360 ff.; Barton (Fn. 7), S. 230 f.
18 Vgl. BT-Drs. 15/3482, S. 21 f.
19 Vgl. 'auch Gaede GA 2008,395.
20 Vgl. auch die Überlegungen zur Neuregelung bei Junker (Fn. 7), S. 151 ff.; anders Wal-
baum Schuldspruch in der Revisionsinstanz nach freisprechendem Urteil des Tatgerichts, 1994,
S. 25 ff., 37.
Schuldspruchersetzung - Berichtigung oder Benachteiligung? 967
21 Vgl. Meyer-Goßner StPO, 52. Autl. 2009, § 354 Rn. 23; KMR-Momsen, 2009, § 354
Rn 19 f; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 26. Autl. 2009, § 55 Rn. 75, a.A. zum Teil
die (ältere) Rechtsprechung: vgl. nur BGHSt 3, 73, 76; OLG Hamburg NJW 1962, 754.
22 Zu den zahlreichen Problemfällen: 19nor (Fn. 6), S. 281; PasterlSättele NStZ 2007,609,
615 f
23 Vgl. §§ 296 Abs. 2, 301 StPO.
24 Vgl. zu dieser Differenzierung Batereau Die Schuldspruchberichtigung, 1971, S. 20 ff;
KMR-Momsen (Fn. 21), § 354 Rn. 18.
25 Vgl. BGHSt 37, 5, 8 f; 21, 256, 259 f; KK-Kuckein, 6. Autl. 2008, § 358 Rn. 18; SK-
Wohlers (Fn. 2), § 354 Rn. 33.
968 Werner Beulke
26 Vertiefend KK-Kuckein (Fn. 25), § 358 Rn. 18~ vgl. auch DahslDahs Die Revision im
Strafprozess, 7. Aufl. 2008, Rn. 580.
27 Vgl. bereits Batereau (Fn. 24), S. 43 ff.~ Hanack (Fn. 10), 64~ Überblick zum Meinungs-
bild bei Walbaum (Fn. 20), S 55 ff.
28 Vgl. dazu etwa Beulke Strafprozessrecht, 11. Aufl. 2010, Rn. 513~ Volk Grundkurs StPO,
6. Aufl. 2008, § 13 Rn. 2 f.
29 BGHSt 22,275,385.
30 BGH NStZ 2006, 350.
Schuldspruchersetzung - Berichtigung oder Benachteiligung? 969
36 So auch eine verbreitete Literaturansicht: Meyer-Goßner (Fn. 21), § 354 Rn. 16; KMR-
Momsen (Fn. 21), § 354 Rn. 17.
37 Vgl. AK-Maiwald, 1996, § 354 Rn. 16 f.; Roxin/Schünemann (Fn. 21), § 55 Rn. 74.
38 Vgl. KK-Engelhardt (Fn. 25), § 265 Rn 1.
39 Vgl. EisenberglHaeseler StraFo 2005, 222.
40 Vgl. Steinmet= (Fn. 3), S. 99 ff.; Roxin/Schünemann (Fn. 21), § 55 Rn. 74~ s. aber auch
LR-Hanack (Fn. 32), § 354 Rn. 20 a.E.
41 Hanack (Fn. 10),65.
42 BGHSt 52, 58, 64 (die kursiven Hervorhebungen sind nachträglich durch den Verfasser
vorgenommen worden.)~ deutlich bereits BGHSt 37,204,206.
Schuldspruchersetzung - Berichtigung oder Benachteiligung? 971
die einen Bezug zu dem Verfahren [...] haben könnten. Die Verteidigung
braucht sich auch nicht darauf verweisen zu lassen, dass der Vorsitzende
festgestellt hat, in den Akten des Parallelverfahrens befanden sich keine
Aktenbestandteile, die schuld- oder rechtsfolgenrelevanten Inhalt hätten
[...]. Ob Informationen für die Verteidigung von Bedeutung sein können
unterliegt allein ihrer Einschätzung". Was für ein einzelnes Recht der Ver-
teidigung aber als zwingend angesehen wird, müsste erst recht gelten, wenn
nach Hinweis auf die revisionsgerichtliche Rechtsansicht die Gesamtheit
der Verfahrensrechte seitens der Verteidigung betroffen ist.
43 Vgl. etwa BGH NStZ 2005, 284~ weiterführend Junker (Fn. 7), S. 35 ff. und 127 ff.~ Bar-
ton (Fn. 7), S. 227 ff.~ Senge (Fn. 5),311; PasterlSättele (Fn. 22), 615~ krit. bereits LR-Beulke,
26. Aufl. 2008, § 154a Rn. 48 f.
44 Vgl. zur Diskussion etwa Berenbrink GA 2008, 625~ Gaede (Fn. 19), 394~ Hamm (Fn. 4),
205.
45 Vgl. Hamm (Fn. 4); zur Gegenposition Rosenthai StV 2004,686 f.
972 Werner Beulke
auf Dauer weitgehend einbüßen wird. 57 Die Trauer darüber sollte sich in
Grenzen halten. Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht die hier
relevanten Fälle der Schuldspruchersetzung dem Anwendungsbereich der
Norm sogar ganz entzogen. 58 Bei Gesamtschau dieser Entwicklungen drängt
sich auch mir die Frage auf, ob eine umfassende Verwerfung der Vorschrift
als verfassungswidrig nicht doch den letztlich schonenderen Eingriff in die
Legislativverantwortung bedeutet hätte. 59
64 Vgl. zu diesen Grundsätzen BVerfGE 54,100,115 f.; BVerfG, Beschluss vom 1.3.2000-
2 BvR 2049/99.
65 AbI. Dehne-Niemann (Fn. 15), 241 f.
66 BVerfG NJW 2007,2977,2978.
67 Vgl. nur zuletzt BGH NJW 2009,2463 (unzulässiges Abhören im Besucherraum der Un-
tersuchungshaft).
68 Grundlegend Gaede Fairness als Teilhabe - das Recht auf konkrete und wirksame Teil-
habe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK, 2007.
69 Vgl. BVerfG NJW 2007,2977,2979.
976 Werner Beulke
IV. Fazit
Die Kombination von Schuldspruchänderung und Aufrechterhaltung der
tatrichterlichen Strafzumessung ist nach geltendem Recht keine zulässige
Sachentscheidung in der Revisionsinstanz. 71 Es ist wünschenswert, dass
sich die Revisionsgerichte vornehmlich an den gesetzlichen Vorgaben der
§§ 265 StPO und 354 Abs. 2 StPO orientieren und dadurch gewährleisten,
dass sich der Angeklagte und sein Strafverteidiger auf den veränderten
Schuldspruch und die damit neu eröffnete Strafzumessungsfrage im Rah-
men einer Tatsacheninstanz einrichten und eigenverantwortlich eine neue
Verteidigungsstrategie verfolgen können.
Mit diesem Appell an die Revisionsgerichte möchte ich meinen Beitrag
zu Ehren von Heinz Schöch beschließen. Ich fühle mich dem Jubilar seit
seiner Göttinger Zeit eng verbunden, gehörte er doch zu den Professoren,
die mich habilitiert und mir den Weg in den Kreis der Strafrechtslehrer
eröffnet haben. Dafür bin ich ihm nachhaltig dankbar. In späteren Jahren
haben wir uns vielfach getroffen und zu meiner großen Freude sind aus
Kollegen Freunde geworden. Von Herzen wünsche ich ihm eine robuste
Gesundheit und große Lebensfreude für die Zukunft. Seine fachkundige
Einschätzung wird für die Diskussionen in der Strafrechtswissenschaft nach
wie vor unverzichtbar sein.
NORBERT NEDOPIL
1 Nedopil in: Eisenburg (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen. Zur Frage von Verantwortung
und Schuld, 1998, S. 43-59~ Schäch a.a.O., S. 82-101.
2 PauenlRoth Freiheit, Schuld und Verantwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie
der Willensfreiheit, 2008.
3 Reemstma Merkur 60 (2006), 193-206.
980 Norbert Nedopil
4 Boetticher in: Petermann/Greuel (Hrsg.), "Macht - Familie - Gewalt (?)". Intervention und
Prävention bei (sexueller) Gewalt im sozialen Nahraum, 2009, S. 17-47~ Nedopil FS Widmaier,
S.925-940.
5 Heinroth System der psychisch-gerichtlichen Medizin, oder theoretisch-praktische Anwei-
sung zur wissenschaftlichen Erkenntnis und gutachtlichen Darstellung der krankhaften persön-
lichen Zustände, welche vor Gericht in Betracht kommen, 1825.
Freiraum rur den menschlichen Willen 981
11 Wird auf Mme. de Stael (1766-1817) zurückgeführt, von Ferenczi (1908) in die Psycho-
analyse übernommen, von Luthe (1984) kritisch hinterfragt~ Nedopil MschKrim 71 (1989),
109-114.
12 Skinner Science and human behaviour, 1966.
13 Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 2.Aufl. 1994.
14 Thiemeyer GA 1986, S. 203.
15 Schäch Willensfreiheit und Schuld aus strafrechtlicher und kriminologischer Sicht, in:
Eisenburg (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen. Zur Frage von Verantwortung und Schuld,
1998, S. 82-101 ~ ders. Die Schuldfähigkeit, in: Kröber/Dölling/Leygraf/Saß (Hrsg.), Handbuch
der Forensischen Psychiatrie, Bd. 1,2007, S. 92 - 159.
Freiraum für den menschlichen Willen 983
Wie ein Blick in die Geschichte zeigt, ist ein solcher Rückgriff auf den
Freiheitsbegriff nicht zwingend notwendig, um die Aufgaben des Straf-
rechts und in ihm jene der Forensischen Psychiatrie sinnvoll zu errullen:
Aristoteles (Nikomachische Ethik) entwarf, ohne auf eine Willensein-
schränkung zurückzugreifen, die Idee, dass psychisch Kranke nicht bestraft
werden sollten, wenn ihre Krankheit die Grundlage ihres Rechtsverstoßes
war, wenn der Täter aufgrund eines Wahnes oder aufgrund von Desorien-
tiertheit handelte. Im römischen Recht gingen "furiosi" (die Rasenden),
"mente capti" (die Verblödeten) und "dementes" (die Toren) straffrei aus.
Bei ihnen war man der Meinung, dass sie durch ihr Schicksal bzw. durch
die Götter genug gestraft seien ("furiosum fati infelicitas excusat, satis furo-
re ipso punitur")16. Auch hier war der Wille des Täters nahezu ohne Bedeu-
tung.
Der Rechtsphilosoph Samuel Pufendorf (1632-1694) beschrieb meines
Wissens zum ersten Mal, dass die Willensfreiheit die Grundlage für die
strafrechtliche Verantwortung des Menschen ist. Nach seiner Auffassung
fuhrt die Differenz zwischen den physischen Gegebenheiten und der Norm
zu einer "actio moralis", zur Zurechnung von Schuld und Verdienst. Für die
Zurechnung (imputatio) ausschlaggebend sind sowohl ein "praelucens intel-
lectus" (vorleuchtende Einsicht) wie ein "decernens voluntas" (unterschei-
dender Wille). Aber auch diese Auffassung blieb zunächst nicht lange be-
stehen. Nach utilitaristischem Denken machte es deshalb keinen Sinn,
psychisch Kranke zu bestrafen, weil sie den Sinn der Strafe nicht erfassen
und sich darum auch nicht ändern. Der Philosoph Johann Christoph Hoff-
bauer schrieb 1808, dass nicht bestraft werden könne, wer unvermögend ist,
seinen Verstand anzuwenden, und auch jener nicht, bei dem die Strafe nicht
vor der Handlung abschrecken kann. 17 "Durch die Strafgesetze soll jeder
wissen, dass aus einer gesetzeswidrigen Handlung das oder das Übel für ihn
als eine Strafe entstehen werde, und dadurch von jener Handlung abge-
schreckt werden. Der Mensch, der einer solchen Abschreckung fähig, ist
dem Criminalisten frei, wenn er diesen Ausdruck gebraucht. Derjenige
hingegen, auf den eine solche Abschreckung nicht wirken kann, entweder
weil er nicht vermögend ist, die Strafe als eine Folge seiner Handlung zu
erkennen, wie der Blödsinnige; oder weil ihn ein unbezwinglicher Trieb zu
einer Handlung hinreißt, wie den von der Hundswut ergriffenen, hat im
Sinne des Criminalisten seine Freiheit nicht." Es geht dabei um das Erken-
nen des Sinnes einer Strafe und nicht um den freien Willen als Kausalfaktor
einer Handlung. Der Begriff der Willensfreiheit, sofern er überhaupt Ge-
wicht hatte, wurde auf den juristischen Sprachgebrauch beschränkt ("dem
Criminalisten"). Auch eine Rechtsordnung, die dem Gedankengut des
defense sociale entspringt, wie bei Franz von Liszt und ähnlich bei Emil
Kraepelin,18 nimmt keinen Bezug auf die Willensfreiheit des Täters.
Tatsächlich hat sich im deutschen Strafrecht aber das Prinzip der indivi-
duellen Schuld als Stratbegründung und Stratbegrenzung durchgesetzt. Sie
beruft sich auf eine individuelle Entscheidungskompetenz des Menschen,
aber nicht notwendigerweise auf philosophisch oder anthropologisch be-
gründete Willensfreiheit. Sollte das Schuldprinzip irgendwann als Strafzu-
messungsgrundlage entfallen, wird es eine andere Strafbegrenzungsformel
geben müssen, um der Willkür der Mächtigen Grenzen zu setzen. Es erhebt
sich somit die Frage, ob eine andere Regelung den sich jeweils ändernden
biologischen Konzepten und den juristischen Bedürfnissen eher gerecht
wird als jene, die auf dem Schuldprinzip beruht.
faktoren gehören,23 werden sie sich auch bei den Kindern finden. Kommen
Missbrauch von Drogen und Alkohol, Nikotinkonsum während der
Schwangerschaft und ein wenig solider Lebensstil der Eltern hinzu, so ist
das Neugeborene nicht nur durch seine genetische Ausstattung, sondern
auch durch toxische Einflüsse während der Schwangerschaft gefährdet. 24
Das bedauerliche Schicksal der Kinder drogenabhängiger Mütter, die un-
mittelbar nach der Geburt mit Suchtstoffen substituiert werden müssen, ist
hinreichend bekannt. Die schädigende Wirkung von Nikotin auf die Ner-
venentwicklung ist erst in den letzten Jahren in ihrer Dramatik erforscht
worden. 25 Säuglinge, die unter solchen Umständen auf die Welt kommen,
bedürfen der besonderen Fürsorge, wobei die Konstanz einer mütterlichen
Bezugsperson von ausschlaggebender Bedeutung ist. Fehlt dieser Schutz-
faktor rur das Neugeborene und setzen Eltern ihren Rauschmittelmissbrauch
fort, kümmern sie sich nicht um das Kind oder lehnen es gar ab, so ruhrt das
schon beim Kleinkind zur Verweigerung und zu aggressiven Verhaltens-
weisen. 26 Diese Verhaltensweisen von Kindern bedingen weitere Ableh-
nung durch erwachsene Bezugspersonen. 27 Auch im Kindergarten werden
sie zu Außenseitern. Sie werden zurückgewiesen und sind nicht in der Lage,
Beziehungen und Loyalität aufzubauen. Ihr störendes und abweisendes
Fehlverhalten verstärkt sich. Anschluss finden sie häufig bei Kindern, die
sich ähnlich entwickelt haben. Mit ihnen gehen sie auf Abenteuersuche,
wobei die Abenteuer oft darin bestehen, gegen Normen zu verstoßen, Re-
geln zu brechen und körperliche Kraft und Schlagbereitschaft zur Positio-
nierung in der Gruppe der Gleichaltrigen einzusetzen. 28 Genetische Disposi-
tion und Umwelt treffen nach heutigem Verständnis nicht zufällig
aufeinander, vielmehr "suchen sich" Gene die Umwelt, in der sie sich am
ehesten entfalten können. 29 Durch diese Interaktionen entsteht ein einge-
schliffenes dissoziales Verhaltensmuster, welches den genetisch bedingten
Bedürfnissen entspricht und durch die Struktur der genetisch festgelegten
Temperamentzüge begünstigt wird.
23 Cloninger in: Silk (Hrsg.), Biology of Personality Disorders, 1998, S. 63-92~ Clon-
inger/Sigvaardsson/Bohman Alcoholism 12 (1988),494-505.
24 Arseneault/Tremblay/Boulerice/Seguin/Saucier Am J Psychiatry, 157 (2000), 917-923.
25 Wessels/Winterer Nervenarzt 79 (2008), 7-16.
26 Raine/Brennan/Mednick American Journal ofPsychiatry 154 (1997), 1265-1271.
27 Ainsworth Merrill-Palmer Quarterly 10 (1964), 51-58~ Chotai/Jonasson/Hägloff/Adolfs-
son European Psychiatry 20 (2005), 251-259~ YounglChesney/SperlingerlMischlCollins Crimi-
nal Behaviour and Mental Health 19 (2009), 54-63.
28 Caspi/McClay/Mojfitt/Mill/Martin/Craig u. a. Science 297 (2002), 851-854~ SvrakiclClo-
ninger in: Sadock/Sadock (Hrsg.), Kaplan & Sadock. Comprehensive Textbook of Psychiatry,
Bd. 2, 8. Aufl. 2004, S. 2063-2104.
29 GottesmanlGould American Journal of Psychiatry 160 (2003), 636-645~ HolmeslThapar
(Fn.22).
Freiraum für den menschlichen Willen 987
Aus Sicht der biologischen Psychiatrie sind die Spuren dieser Entwick-
lung organisch verankert. Die biologisch psychiatrische Forschung versucht
die mehr oder weniger subtilen Besonderheiten der Gehirnaktivitäten bei
den jeweiligen Störungen zu erkunden. In der Psychiatrie geht es dabei um
die Entstehungsbedingungen einer Störung, in der Psychologie um das
Verständnis von Verhaltensdispositionen, nicht aber um die Bestimmbarkeit
eines konkreten Verhaltens in einer konkreten Situation. Für die Psychiatrie
geht es zudem darum, durch das genetische und neurobiologische Verständ-
nis für Verhaltens- und Krankheitsdispositionen die Behandlung psychi-
scher Störungen zu verbessern, z.B. neue Pharmaka zu entwickeln oder
vorhandene Medikamente spezifischer einsetzen zu können. Entscheidende
Durchbrüche von genetischen oder neurobiologischen individuellen Phar-
makotherapien sind in der Psychiatrie allerdings noch nicht gelungen. 3o
Wenn die Erkenntnisse der Himforschung - so bemerkenswert sie auch sein
mögen - innerhalb des humanwissenschaftlichen Faches nur sehr begrenzte
Auswirkungen haben, erstaunt es umso mehr, dass sie auf ein anderes Fach,
welches von ganz anderen theoretischen Grundlagen als der biologischen
Empirie ausgeht und zu einem ganz anderen Zweck entstanden ist, übertra-
gen werden und dort zu einem Paradigmenwechsel führen sollen. Dennoch
hat in Italien ein Gericht schon eine Strafe wegen der genetischen Beson-
derheiten 3 ! herabgesetzt. 32
v. Forensisch-psychiatrische Aufgaben
Für mich erstaunlich bleibt, dass sich die Debatte um die Willensfreiheit
am Strafrecht entzündet. Während im Bürgerlichen Gesetzbuch der Aus-
schluss des freien Willens expressis verbis genannt wird, kommt dieser
Begriff in den relevanten Gesetzen des Strafgesetzbuches nicht vor. Der
§ 20 des deutschen StGB folgt einern bewährten Prinzip, welches den
meisten Gesetzen, mit denen sich die forensische Psychiatrie
auseinandersetzen muss, zu Grunde liegt, nämlich dass dem erwachsenen
Menschen Normkonformität und die hierfür erforderlichen Fähigkeiten
normativ unterstellt werden und nicht definiert zu werden brauchen. Defi-
niert hingegen werden die Normabweichungen (bzw. die Unfähigkeiten)
und ihre Voraussetzungen. Falls eine Unfähigkeit nicht besteht, wird die
Fähigkeit angenommen. In den juristischen Lehrbüchern und in der Recht-
sprechung wird zumindest von Wahlmöglichkeiten zwischen Entscheidun-
gen oder einer Entscheidungsalternative gesprochen: "Der Täter hat sich für
das Verbrechen entschieden, obwohl er sich hätte anders entscheiden kön-
nen. ,,33 Diese Feststellung ist aber eine juristische und keine psychiatrisch-
psychologische. Sie kann auch jenseits des Streits um die Willensfreiheit
behandelt werden. 34 Zunehmend deutlicher sagt der deutsche Bundesge-
richtshof, dass die Beurteilung der Steuerungsfahigkeit nicht psychologisch
oder neurobiologisch und auch nicht philosophisch zu erfolgen hat. Im Fall
Karolina schrieb der erste Senat des BGH im Jahr 2000 in seinen Beschluss:
"Insoweit hat die Kammer jedoch verkannt, dass die Frage, ob die Steue-
rungsfahigkeit erheblich beeinträchtigt ist, eine Rechtsfrage ist .... Die
Rechtsordnung darf erwarten, dass Menschen mit den hier festgestellten
Störungen ihr Verhalten so steuern, dass es nicht zu tagelangen, grausamen,
letztlich tödlichen Misshandlungen eines kleinen Kindes konlmt, wie hier
bislang festgestellt. "35 Hier wird die Beeinträchtigung der voluntativen
Fähigkeiten des Menschen in Relation zum Ausmaß des Schadens und zur
Verwerflichkeit einer Handlung gestellt - und letztere sind wiederum reine
Wertungen, die nicht auf eine empirische und schon gar nicht auf ein hu-
manwissenschaftliche Grundlage gestellt werden können.
Forensische Psychiatrie versucht den Brückenschlag zwischen den Dis-
ziplinen, ihre Aufgabe ist unter anderem jene des Übersetzers. Sie muss
dem Richter und den Prozessbeteiligten verständlich machen, was die Fach-
sprache der Psychopathologie und die dahinter liegenden Konzepte bedeu-
ten, so dass die Adressaten sie verstehen, überprüfen und als Grundlage
eigener Handlungsschritte verwenden können. Sie nimmt jedoch keine
rechtlichen Wertungen vor und trifft keine rechtlichen Entscheidungen.
Dies beruht auf einer langen Tradition, die bereits 1901 Gustav Aschaffen-
burg folgendermaßen formulierte: "Die Aufgabe, die der psychiatrische
Sachverständige innerhalb des Strafrechts im weitesten Sinne zu erfüllen
hat, ist eine Zweifache: die häufigere ist die eines Werkzeuges der Straf-
rechtspflege." Er fügte allerdings hinzu: " .. die wichtigere ist die wissen-
schaftliche Klarlegung der Ausnahmestellung, die dem psychisch Abnor-
men gewahrt werden muß ...... Mit anderen Worten, wir haben einerseits die
bestehenden Gesetze zu erörtern, andererseits die zukünftigen vorzuberei-
ten." In dieser Tradition ist es außerhalb des Gerichtssaals demnach durch-
aus angebracht zu fragen, ob neue empirische Erkenntnisse bisherige Tradi-
tionen der Gesetze und der Rechtsprechung als fragwürdig erscheinen
lassen.
HANs-LUDWIG KRÖBER
I. Einleitung
In Band 1 des "Handbuchs der Forensischen Psychiatrie" schreibt Schöch:
"Entsprechend dem psychiatrischen Konzept der Komorbidität kann auch
eine Kumulation mehrerer (in der Regel länger anhaltender) psychischer
Störungen, die für sich allein nicht ausreichen würden, zur relevanten Be-
einträchtigung der Steuerungsfahigkeit führen (z.B. dissoziale Persönlich-
keitsstörung mit Suchterkrankung oder Affekt mit einer Neurose). Dieses
kumulative Zusammenwirken mehrerer Faktoren wird in der Praxis oft
nicht hinreichend beachtet." 1 Damit sind wir beim Thema: welcher Art ist
die Beachtung, die man dem gleichzeitigen Vorliegen mehrerer psychischer
Auffalligkeiten schenken sollte, und was kann dies fur die Schuldfahigkeit
bedeuten? Was kann es fur eine Maßregelanordnung bedeuten?
111. Kumulation
Die Probleme beginnen beim problematischen, wolkigen Begriff der "Ku-
mulation". Bewirkt das gleichzeitige Vorliegen mehrerer psychischer Stö-
rungen tatsächlich, gar stets, eine "Kumulation" psychischer Gestörtheit,
eine Vermehrung psychischer Beeinträchtigung? Beim Zusammentreffen
einer paranoiden Persönlichkeitsstörung mit einem Bluthochdruck würde
man schwerlich von einer "Kumulation" reden, vielleicht von "Multimorbi-
dität", wenn außerdem noch eine Herzinsuffizienz vorläge und ein Grauer
Star. Damit ist sogleich verdeutlicht: Krankheiten neigen keineswegs auto-
matisch dazu, sich in ihren Effekten zu addieren oder zu kumulieren. Selbst
beim Vorliegen mehrerer psychischer Störungen ist jeweils zu prüfen, wie
sich ihre Effekte ergänzen, verstärken oder wechselseitig schwächen. So
können die Gefährdungen, die sich aus einer dissozialen Persönlichkeitsstö-
rung ergeben, durch die Antriebshemmung und Niedergeschlagenheit einer
akuten Depression strikt unterbunden sein.
Es ergeben sich also folgende Fragen:
1. Was besagt der Begriff "Komorbidität" im Umfeld der Krankheitsleh-
re und welches Verhältnis besteht zwischen den Phänomenen, die hier
koinzidieren?
12 Siehe Fn. 1.
13 Nedopil Forensische Psychiatrie, 2. Autl. 2000.
14 Z. B. BGHSt 44, 338, 344 (Persönlichkeitsstörung + Alkoholsucht); 369, 375 (Psychose +
geringer Alkohol); BGH NStZ 2004, 197 (Alkoholabhängigkeit + Intelligenzminderung +
kombinierte Persönlichkeitsstörung mit dissozialen, paranoiden, schizoiden und impulsiven
Zügen).
15 Fn. 4.
Schuldfähigkeit bei "Komorbidität" 999
16 Fn. 1.
17 Z.B. BGHR § 21 StGB Ursachen, mehrere 5: Tabletten + Schwachsinn + Depression.
18 Fn. 1, S. 140.
1000 Hans-Ludwig Kröber
21 Fn. 4, 616.
22 Kröher in: Kröber/Dölling/Leygraf/Saß (Hrsg.), Handbuch der Forensischen Psychiatrie,
Bd. 4: Kriminologie und Forensische Psychiatrie, 2009, S. 321-337.
1002 Hans-Ludwig Kröber
23 Siehe Fo. 4.
24 Kröber NStZ 1996, 569-576.
Schuldfähigkeit bei "Komorbidität" 1003
welchem Umfang der zudem genossene Alkohol dazu beigetragen hat, dann
lag dieser schuldfähigkeitsmindernde Zustand halt vor. Lag er nicht vor,
dann wird die Realität nicht zu übertrumpfen sein durch den Einwand, der
Täter habe aber doch auch Alkohol getrunken (oder Drogen konsumiert). Es
hat halt nicht zum entscheidenden psychischen Resultat gereicht.
Persönlichkeitsstörung und Alkoholisierung bzw. Drogenkonsum.
Soweit die dissoziale oder antisoziale Persönlichkeitsstörung gemeint ist, ist
das Notwendige bereits gesagt; Substanzmissbrauch gehört hier bei vielen
zum Lebensstil, wesentliche additive Effekte sind im Hinblick auf die
Schuldfähigkeit nur zu erwarten, wenn eine massive Berauschung gesichert
und nicht nur, wie so oft, behauptet ist. Unhaltbar ist die Behauptung, eine
dissoziale Persönlichkeitsstörung sei "die Ursache" eines Alkoholismus; mit
dem gleichen Recht könnte man für die vielen nicht-persönlichkeits-
gestörten Alkoholiker behaupten, psychische Normalität sei bei ihnen "die
Ursache" ihrer Alkoholabhängigkeit. Psychische Krankheiten gehen kei-
neswegs zwingend aus psychischen Krankheiten hervor, und entsprechende
Kausalzuschreibungen sind zumeist hoch spekulativ. Zumindest rechtferti-
gen sie es nicht, statt der manifesten Erkrankung die vermeintlich ursächli-
che Störung zu behandeln.
In Wahrheit handelt es sich bei den Fällen der Praxis, die zu eigenartig
verqueren Argumentationen geführt haben, um wenig verhüllte Versuche,
Dissoziale mit habituellem Alkoholmissbrauch, die rur Entwöhnungsbe-
handlungen völlig unmotiviert und unerreichbar sind, mit einigen argumen-
tativen Tricks in eine unbefristete Therapie (gemäß § 63 StGB) zu zwingen,
bisweilen mit der hehren Absicht, sie so vor der Sicherungsverwahrung zu
bewahren. Es gibt jedenfalls keine etablierte Persönlichkeitsstörung, bei der
wissenschaftlich zu sichern wäre, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit
zur Alkoholabhängigkeit führt. Auch die Dissozialität ist nicht Ursache des
Trinkens, sondern das Trinken ist Teil der Dissozialität.
Wenn eine Konstellation dergestalt vorliegt, dass eine Persönlichkeitsstö-
rung an sich nicht so schwerwiegend ist und sozial so kompensiert bleibt,
dass man sie nicht als "schwere andere seelische Abartigkeit" einordnen
kann, dann ist das gelegentliche rechtswidrige Handeln unter leichterer oder
stärkerer Alkoholisierung (oder Drogen) kein Argument dafur, von einer
überdauernd verminderten Schuldfähigkeit zu sprechen; dies ist schlicht
nicht wahr. Man hat diesen Beschuldigten also zu behandeln wie einen nach
seiner Struktur voll schuldfähigen Täter - weil er genau das ist -, der ab und
zu trinkt und dann ungute Persönlichkeitsanteile manifestiert.
Schuldfahigkeit bei "Komorbidität" 1005
I. Einführung
Eine psychiatrische Begutachtung bringt für den Probanden, der häufig
zugleich Beschuldigter in einem Strafverfahren ist, stets eine besondere,
kognitiv und emotional anspruchsvolle Situation mit sich. Verstärkt wird
dies, wenn der Proband zugleich stationär oder ambulant als Patient in psy-
chiatrischen Einrichtungen ist oder war. Es kommt zu einer erheblichen
affektiven Anspannung bei dem Probanden. Ist der Proband akut psychisch
krank, kann die Begutachtungssituation fur ihn wie fur den Sachverständi-
gen besonders schwierig werden. Zudem geht es fur einen Probanden stets
(auch) darum, die zu begutachtenden Fragen, die häufig entscheidenden
Einfluss auf sein weiteres Leben haben werden, "in seinem Sinne" zu be-
antworten. 3 Dieses Ziel verfolgen Probanden, aus ihrer subjektiven Sicht
4 K. Foerster/Winckler (Fn. 1), S. 18; Saß in: KröberlDöll ing/Leygraf/S aß, Handbuch der
Forensischen Psychiatrie, Bd. 1,2007, S. 426; Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 161.
5 Zum Ablauf K. Foerster/Winckler (Fn. 1), S. 20 f.
6 K. Foerster StV 2008,217,217; zur fehlenden Vergleichbarkeit des psychiatrischen Sach-
verständigen mit Kfz- Sachverständigen Nedopil NStZ 1999, 433,435.
7 Lesting (Fn. 1), 13; Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 161; Rogall in: Systematischer Kom-
mentar StPO, 26. Lieferung 2002, § 80 Rn. 17.
8 Vgl. Beulke Strafprozeßrecht, 10. Aufl. 2008, Rn. 117 m.w.N. Die Problematik stellt sich
auch im Zusammenhang mit Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechten.
Belehrung durch den psychiatrischen Sachverständigen? 1009
9 Dippel Die Stellung des Sachverständigen im Strafprozeß, 1986, S. 149~ für den Fall des
bewussten Verschweigens der Sachverständigentätigkeit auch BGH NStZ 1997,349,350.
10 Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 162 m.w.N.
11 BGH 1Z 1969,437 m. krit. Anm. Ar=t (Fn. 3), 438~ Hanack 1Z 1971, 168, 169; Peters JR
1969,232.
1010 Klaus Foerster / Max Foerster
Eine solche Bezugnahme auf die von der Strafkammer festgestellte ord-
nungsgemäße Belehrung legt die Annahme eines Belehrungsrechts oder
einer Belehrungspflicht des Sachverständigen zumindest nahe. Später hat
der BGH jedoch wieder ohne weiteres auf seine vorgenannte ältere Äuße-
rung zurückgegriffen:
"Die Rüge geht schon deshalb ins Leere, weil ein Sachverständiger zur
Belehrung eines Beschuldigten nicht verpflichtet ist." 13
Auf dieser Linie liegt auch die Haltung des BGH zur Frage der Beleh-
rungspflicht des Sachverständigen gegenüber zu begutachtenden Zeugen,
die hier ergänzend angeruhrt werden kann. Dort heißt es zur erforderlichen
Belehrungspflicht über das Zeugnisverweigerungsrecht einer Angehörigen:
"Eine solche Einwilligung war nur wirksam, wenn die Tochter vorher
über das Recht, ihre Mitwirkung an der Glaubwürdigkeitsuntersuchung zu
verweigern, belehrt worden war (... ). Die Pflicht zur Belehrung oblag
hier der StA, die die Untersuchung angeordnet hatte." 14
In dieser Entscheidung lehnt der BGH dabei einen Verfahrensverstoß auf-
grund nicht erfolgter Belehrung der Zeugin durch den Sachverständigen
ausdrücklich ab. Der Verfahrensverstoß liege vielmehr darin, dass die
Staatsanwaltschaft als die das Gutachten anordnende Behörde die Zeugin
nicht belehrt habe. Eine bereits früher erfolgte Belehrung durch eine Richte-
rin ließ der BGH in diesem Verfahren nicht ausreichen - allerdings war die
Zeugin auch erst 10 Jahre alt. Zudem dürfe ein Sachverständiger es gegebe-
nenfalls nicht bewusst verschweigen, ein Gutachten für die Justizbehörden
zu erstellen. 15
Die juristische Literatur behandelt die Problematik der Belehrung durch
den psychiatrischen Sachverständigen im Einzelnen unterschiedlich. So
wird angenommen, der Sachverständige sei zur Belehrung nicht befugt. 16
Ebenso wird eine prozessuale Belehrungspflicht des Sachverständigen ab-
gelehnt, weil dieser nicht Adressat der Strafprozessordnung sei und ihn
17 Diemer in: Karlsruher Kommentar StPO, 6. Autl. 2008, § 136 Rn. 3; Fincke ZStW 86
(1975), 656, 657 ff.; Meyer-Goßner (Fn. 16), § 136 Rn. 2; Rogall (Fn. 1), § 136 Rn. 14 ff.;
auch Jessnitzer/Ulrich Der gerichtliche Sachverständige, 12. Autl. 2007, Rn. 439; Spöhr NZV
1993, 334, 335.
18 Jessnit=er/Ulrich a.a.O.; Spöhr a.a.O., 335.
19 Neubeck in: KMR, StPO, 43. Lieferung 2006, § 80 Rn. 3; Rogall (Fn. 1), § 136 Rn. 17;
Senge in: Karlsruher Kommentar (Fn. 17), § 80 Rn. 2.
20 GIeß in: Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Autl. 2007, § 136 Rn. 3; Lesting (Fn. 1), 13;
Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 161.
21 Ar=t (Fn. 3), 438; Beulke (Fn. 8), Rn. 201; Roxin/Schüneman Strafverfahrensrecht,
26. Autl. 2009, § 25 Rn. 12, § 27 Rn. 16; Toepel Grundstrukturen des Sachverständigenbewei-
ses im Strafprozeßrecht, 2002, S. 380 ff.
22 Lesting (Fn. 1), 14.
23 Rössner in: KröberlDölling/Leygraf/Saß (Fn. 4), S. 389.
24 GIeß (Fn. 20), § 136 Rn. 3.
1012 Klaus Foerster / Max Foerster
1. Psychiatrisch-medizinische Qualifizierung
des psychiatrischen Gesprächs
Der psychiatrische Sachverständige nimmt eine Untersuchung des Pro-
banden vor. Deren Ergebnisse bilden sodann die Grundlage für das schrift-
liche Vorgutachten sowie die abschließende Gutachtenerstattung in der
Hauptverhandlung zur Beantwortung der Beweisfragen. Es wurde insoweit
bereits ausgefiihrt, dass sich Methodik und Herangehensweise des Psychia-
ters - das psychiatrische Gespräch - nicht danach unterscheiden, ob das
psychiatrische Gespräch mit therapeutischer oder gutachterlicher Absicht
geführt wird. Bei der Begutachtung ist die Aufgabe des psychiatrischen
Sachverständigen, auf der Grundlage der Untersuchung dem Gericht ange-
sichts dessen fehlender medizinischer Sachkunde die festgestellten Befunde
im Sinne der psychiatrischen Klassifizierungen - beispielsweise hinsichtlich
der Merkmalskategorien der §§ 20, 21 StGB - zu vermitteln. 37 Damit der
psychiatrische Sachverständige dazu in der Lage ist, klärt er mittels seiner
forensisch-psychiatrischen Sachkunde in einer ärztlichen Untersuchung,
dem psychiatrischen Gespräch, die Befunde. Die Bewertung des Befundes
fällt sodann in den Aufgabenbereich des Tatrichters. 38 Allein diese Aufga-
benteilung, nach der der psychiatrische Sachverständige auch bei der Unter-
suchung zur forensischen Begutachtung untersuchender Arzt ist und bleibt,
entspricht dabei dem Selbstverständnis psychiatrischer Sachverständiger.
Diese sind Ärzte und bleiben dies auch dann, wenn sie eine forensische
Begutachtung durchführen. 39
Die Qualifizierung als Untersuchung wird zudem durch die Mindestan-
forderungen an Schuldfähigkeitsgutachten40 bestätigt. Bereits deren Wort-
wahl macht deutlich, dass es sich um eine Exploration, also Untersuchung,
handelt. Die Mindestanforderungen verlangen die "Vollständigkeit der
37 K. f'oerster/Dreßing in: Venzlaff/K. Foerster (Fn. 1), S. 48 f.~ Rössner in: KröberlDöl-
linglLeygraf/Saß (Fn. 4), S. 404~ Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 106 ff.
38 K. Foerster/Dreßing in: Venzlaff/K. Foerster (Fn. 1), S. 48 f.~ Rössner in: Kröber/Döl-
ling/Leygraf/Saß (Fn. 4), S. 404~ Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 106 ff.
39 K. Foerster (Fn. 6), 217~ Kröber in: Kröber/DöllinglLeygraf/Saß (Fn. 4), S. 6 ff. m.w.N~
Nedopil (Fn. 6) 435~ Peters (Fn. 11), 233.
40 Vgl. Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß (Fn. 36), 57, dazu auch Schöch (Fn. 2), S. 967.
Belehrung durch den psychiatrischen Sachverständigen? 1015
1. Medizinische Aspekte
Es wurde bereits ausgeführt, dass psychiatrische Sachverständige heute
darin übereinstimmen, dass ein Proband vor Beginn der gutachtlichen Un-
tersuchung informiert und aufgeklärt werden muss,52 wobei die Bezeich-
nung nicht entscheidend ist. Dadurch wird entsprechend der eigenen Erfah-
rung wie auch publizierter Standpunkte das spezielle Verhältnis zwischen
Begutachtetem und Gutachter, die Beziehung sui generis, klarer gestaltet. 53
Gerade weil in einer solchen Gesprächssituation häufig ein hohes Aus-
sprachebedürfnis der Probanden besteht,54 sollte es dem jeweiligen Proban-
den stets völlig klar sein, dass es sich beim Gutachter nicht um den Arzt
seines Vertrauens handelt, und dass für den Gutachter keine Schweigever-
pflichtung besteht. Infolgedessen wird betont, der psychiatrische Sachver-
ständige müsse die grundsätzlichen Gegebenheiten einer Begutachtung
offenlegen. So ist im Rahmen einer Belehrung klarzustellen, dass es sich bei
der Begutachtung und beim ärztlich-therapeutischen Handeln als Arzt um
zwei verschiedene Tätigkeiten handelt. Eine solche Klarstellung muss ge-
gebenenfalls wiederholt werden. Diese Überlegung beruht dabei auf folgen-
dem Hintergrund: Zumindest im Empfinden der Probanden liegt immer
wieder ein Abgleiten in Richtung therapeutischer Situation mit konsekutiver
Hilfserwartung nahe. Daher muss der Sachverständige dem Probanden
aufgrund ärztlich-ethischer Aspekte wiederholt die spezifische Situation der
Begutachtung klar machen, die mit dem Gutachtenauftrag verbunden ist.
Dies schließt insbesondere ein, dem Probanden Sinn und Fragestellung der
Untersuchung zu erläutern. Darüber hinaus ist der Beschuldigte gleichzeitig
auf seine Schweigerechte sowie die eingeschränkte Schweigepflicht des
Untersuchenden hinzuweisen. 55
Ungeachtet dessen hat es die praktische Erfahrung aus psychiatrischer
Sicht mit sich gebracht, dass der Sachverständige sich stets darüber im
Klaren sein muss, dass er grundsätzlich nicht beauftragt ist, eigene Ermitt-
lungen anzustellen. 56 Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Proband
in speziellen Explorationssituationen etwa ein Geständnis ablegen möchte
oder sogar über weitere, noch nicht bekannte Taten sprechen möchte. Dabei
ist insbesondere herauszustreichen, dass sich auch der Gutachter stets der
Beziehung sui generis bewusst sein muss. 57
Zudem erlegen ärztlich-ethische Aspekte dem Gutachter eine Beleh-
rungspflicht auf. 58 Auch an diese Elemente des Arztberufes bleibt der psy-
53 Rasch (Fn. 30), S. 22~ Saß (Fn. 4), S. 427~ vgl. auch Dippel (Fn. 9), S. 151 m.w.N.~ anders
noch BochniklGärtnerlRichtberg (Fn. 26), 77.
54 Saß (Fn. 4), S. 427~ Rasch (Fn. 30), S. 22.
55 Vgl. K. FoersterlWinckler (Fn. 1), S. 18~ Saß (Fn. 4), S. 426 f.
56 K. FoersterlWinckler (Fn. 1), S.21~ SchreiberlRosenau (Fn. 1), S. 161 f. auch zur Behand-
lung von Zusatztatsachen.
57 K. FoersterlDreßing in: Venzlaff/K. Foerster (Fn. 1), S. 57. Die Beziehung sui generis hat
im Falle des LG Oldenburg StV 1994, 646, 646 f. der Gutachter verkannt, der von einer Beleh-
rung bewußt abgesehen hat, um das "Arzt-Patienten-Verhältnis nicht zu belasten".
58 Saß (Fn. 4), S. 427.
Belehrung durch den psychiatrischen Sachverständigen? 1019
Rechte er auch gegenüber dem Gutachter hat. Ferner sollte dem psychiatri-
schen Sachverständigen auch eine korrekte Belehrung fur dessen eigene
Belehrung beigefügt werden. Dabei kann ein Hinweis aufgenommen wer-
den, jederzeit darauf zu achten, dass dem Probanden die Beziehung sui
generis gegenüber der Patient-Arzt-Beziehung bewusst ist.
Eine Information des Sachverständigen darüber, worüber zu belehren ist,
oder auch nur eine Mitteilung, dass die Strafverfolgungsorgane belehrt
haben, kommt jedoch bisher in der Praxis kaum vor. Dabei erstaunt immer
wieder, wie gering die Vorinformationen sind, die Probanden haben, bevor
der psychiatrische Sachverständige sie erstmals aufsucht. In gar nicht so
seltenen Einzelfällen geht diese Unkenntnis Beschuldigter als Probanden so
weit, dass es diesen gänzlich unklar ist, aus welchen Gründen der Sachver-
ständige sie aufsucht beziehungsweise warum eine Begutachtung erfolgt -
angesichts der Beziehung sui generis ein klares Indiz für das Erfordernis der
Belehrung durch den psychiatrischen Sachverständigen.
Diese Überlegungen werfen weiter die Frage auf, ob die Belehrung durch
den Sachverständigen schriftlich oder mündlich vorzunehmen ist. Die
schriftliche Aufklärung könnte dabei im Interesse der Dokumentation -
unter Verwendung einer von den Strafverfolgungsbehörden überlassenen
Belehrungsformel - entsprechend den Aufklärungs- und Merkblättern bei
operativen medizinischen Eingriffen vorgenommen werden. Allerdings hat
eine mündliche Belehrung den Vorteil, flexibel auf die kognitiven und emo-
tionalen Fähigkeiten und auch, der eigenen Erfahrung nach gar nicht so
seltene, Rückfragen des Probanden eingehen zu können. Ebenso ist die
wiederholte Belehrung bei einem Abgleiten in die Patient-Arzt-Beziehung
während der Untersuchung nur so möglich. 62 Ohne diese Frage hier vertief-
ter behandeln zu können, dürfte sich insoweit ein auf den jeweiligen Pro-
banden abgestimmtes Vorgehen empfehlen.
Für die Durchführung der Belehrung ist noch darauf hinzuweisen, dass
ein Proband aufgrund einer akuten psychischen Erkrankung möglicherweise
nicht in der Lage ist, in freier Willensentschließung und Willensbetätigung
zu handeln. Über die zahlenmäßige Häufigkeit solcher Situationen sind
indes keine systematischen Erhebungen bekannt. Aus der eigenen Erfah-
rung handelt es sich um Einzelfälle. Unter diagnostischen Aspekten kom-
men akut psychotische Zustände itn Rahmen einer schizophrenen oder schi-
zoaffektiven Psychose, akute manische oder schwer depressive Zustände im
Rahmen einer affektiven Erkrankung in Betracht, die zu emotionalen Ein-
schränkungen und einer Verzerrung der Realität führen können. Erhebliche
kognitive Einschränkungen können bei einer schweren Minderbegabung
62 Ebenso Eisenberg Beweisrecht der StPO, 6. Autl. 2008, Rn. 1580; ders./Kopatsch
(Fn. 13),298 f.; Lesting (Fn. 1), 14.
Belehrung durch den psychiatrischen Sachverständigen? 1021
2. Rechtliche Aspekte
Medizinisch wird eine Belehrungspflicht des psychiatrischen Sachver-
ständigen aufgrund der Beziehung sui generis zwischen psychiatrischem
Sachverständigem und Probanden bejaht. Es stellt sich die Frage, inwieweit
diese Beziehung sui generis rechtlich eine Rolle für eine Belehrungspflicht
des psychiatrischen Sachverständigen spielt. Das Schweigerecht des Be-
schuldigten auch gegenüber dem Sachverständigen sowie die Pflicht der
Strafverfolgungsorgane, zu begutachtende Personen über ihnen jeweils,
auch gegenüber dem Sachverständigen, zustehende Rechte zu belehren, soll
dabei rur die Frage der Belehrungspflicht des psychiatrischen Sachverstän-
digen qua Beziehung sui generis im Folgenden vorausgesetzt werden. 65
63 K. Foerster/Winckler (Fn. 1), S. 19. Die Pflicht des Sachverständigen, eine nicht erfolgte
Belehrung durch die Strafverfolgungsorgane nachholen zu lassen, bejaht auch BGH NStZ
1997, 349, 350~ zur Problematik ebenfalls BGH StV 1993, 563, 563 f. m.w.N.~ Rogall in:
Systematischer Kommentar StPO, 46. Lieferung 2006, § 81 c Rn. 61 ~ anders Göppinger Hand-
buch der forensischen Psychiatrie, Bd. II, 1972, S. 1564.
64 Vgl. Beulke (Fn. 8), Rn. 113, 118 m.w.N.~ Fincke (Fn. 17), 671.
65 Vgl. BGHSt 13,394, 398 f.~ BGH StV 1993,563 Geweils zu Angehörigen)~ Arzt (Fn. 3),
438; Dippel (Fn. 9), S. 149~ Eisenberg/Kopatsch (Fn. 13), 298; Fincke (Fn. 17), 664 ff.; GIeß
(Fn. 20), § 136 Rn. 3; Heinitz (Fn. 31), S. 700 f.~ Lesting (Fn. 1), 14; Rieß JA 1980,293,296;
Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 161; Toepel (Fn. 21), S. 378 ff. m.w.N; ablehnend Lesch
1022 Klaus Foerster ;' Max Foerster
(Fn. 16), § 136 Rn. 34. Fragen in Zusammenhang mit der Anordnung der Begutachtung wer-
den hier nicht vertieft, dazu Meyer-Goßner (Fn. 16), § 81a Rn. 6 ff
66 Ebenso Eisenberg (Fn. 62), Rn. 1580.
67 Vgl. Meyer-Goßner (Fn. 16), § 136 Rn. 1.
68 Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 161 ~ insoweit stimmt auch Fincke (Fn. 17), 667 überein,
will die Belehrungspflicht jedoch gleichwohl auf den Auftraggeber beschränken.
69 Eisenberg/Kopatsch (Fn. 13), 298~ Gieß (Fn. 20), § 136 Rn. 3; Lesting (Fn. 1), 13 f;
Schmidt-Recla (Fn. 13),801; Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 161; insoweit auch Fincke (Fn. 17),
657 f; zur Rollen- und Funktionsklarheit Rössner in: Kröber/Dölling/Leygraf/Saß (Fn. 4),
S.404.
70 Arzt (Fn. 3), 438~ Beulke (Fn. 8), Rn. 201; Lesting (Fn. 1), 14; Roxin/Schünemann
(Fn. 21), § 25 Rn. 12, § 27 Rn. 16; Schmidt-Recla (Fn. 13), 801; Toepel (Fn. 21), S. 380 ff;
ablehnend BGH JZ 1969,437.
71 Nedopil (Fn. 6),435.
72 Lesting (Fn. 1), 13; Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 161.
Belehrung durch den psychiatrischen Sachverständigen? 1023
cher Zwecke - die Vergleichbarkeit fur die Analogie. Unterstützt wird dies
dadurch, dass auch der Sachverständige nicht zu Mitteln nach § 136a StPO
greifen darf. 73
Letztlich folgt die Belehrungspflicht jedoch bereits aus der Beziehung sui
generis. Die Besonderheiten der psychiatrischen Begutachtung gegenüber
sonstigen Sachverständigengutachten sowie die vorgeschilderten medizini-
schen Aspekte begründen dessen Belehrungspflicht unmittelbar. Strukturell
ist dies ohne weiteres möglich. Eine Konstellation sui generis, die trotz
ihrer Besonderheiten jedenfalls hinsichtlich der Erhebung von Befundtatsa-
chen keine eigenständige Regelung in der Strafprozessordnung gefunden
hat, kann auch Pflichten sui generis, hier eine originäre Belehrungspflicht,
nach sich ziehen, so die Interaktion zwischen Gutachter und Beschuldigtem
in der Beziehung sui generis.
Dies gilt ebenso für den Umstand, dass die Begutachtung durch den psy-
chiatrischen Sachverständigen regelmäßig nur unter Mitwirkung des Pro-
banden möglich ist. Die Beziehung sui generis kann insoweit nur durch den
Gutachter selbst hinreichend aufgelöst werden. 74 Demgegenüber hat bei-
spielsweise eine Bremsspur, die es zu vermessen gilt, schon strukturell kein
Belehrungsbedürfnis.
Eine Belehrung beugt auch der Gefahr vor, dass ein Beschuldigter davon
ausgeht, er sei gegenüber dem psychiatrischen Sachverständigen - anders
als gegenüber den Strafverfolgungsorganen - zur Mitwirkung verpflichtet,75
zumal die Strafverfolgungsorgane bisher regelmäßig nur in allgemeiner
Form über das Schweigerecht belehren und nicht darauf hinweisen, dass
dieses auch gegenüber dem Sachverständigen besteht. Dies deckt sich so-
dann damit, dass der Sachverständige seine Tätigkeit für die lustizbehörden
nicht bewusst verschweigen darf.76
73 Vgl. dazu BGHSt 11, 211, 212~ BGH 1Z 1969, 437~ Hanack (Fn. 11), 169~ Ro-
xin/Schünemann (Fn. 21), § 25 Rn. 12, 17~ ablehnend Fincke (Fn. 17), 658 ff. Zur Frage, ob
sich das Verbot der in § 136a StPO aufgeführten Maßnahmen für den Sachverständigen aus
§ 136a StPO, einer Analogie dazu oder dem Persänlichkeitsrecht ergibt, Peters (Fn. 11), 234.
74 Vgl. Lesting (Fn. 1), 14. Entsprechend wird eine Belehrung durch den Sachverständigen
verlangt, wenn dies zur Wahrung der Schweige- bzw. Zeugnisverweigerungsrechte erforderlich
erscheint, Eisenberg (Fn. 62), Rn. 1580.
75 Arzt (Fn. 3), 438 f.~ Dörig (Fn. 12), 144~ Eisenberg/Kopatsch (Fn. 13), 298~ Kühne JZ
1981, 647, 650~ Lesting (Fn. 1), 13~ Peters (Fn. 11), 233~ TondorfPsychologische und psychi-
atrische Sachverständige im Strafverfahren, 2. Autl. 2005, Rn. 284~ Schmidt-Recla (Fn. 13),
801. Abgelehnt wird dabei insbesondere der Schluss, dass Beschuldigte, die darüber belehrt
seien, vor dem Richter schweigen zu dürfen, wüßten, auch vor dem Sachverständigen schwei-
gen zu dürfen.
76 BGH NStZ 1997, 349, 350.
1024 Klaus Foerster / Max Foerster
77 Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 162~ insoweit kritisch auch Fincke (Fn. 17),668 ff.
78 Kogge 1R 1950, 203, 204~ Kühne (Fn. 75), 650~ Lesting (Fn. 1), 13~ Peters (Fn. 11),233.
79 BVerfGE 52, 131, 169 f.~ anders Fincke (Fn. 17), 663: Eine berufsethische oder rechtliche
Belehrungspflicht sei "nicht prozessual".
80 BGH 1Z 1969, 437~ Diemer (Fn. 17), § 136 Rn. 3 ~ Fincke (Fn. 17), 657~ Lesch (Fn. 16),
§ 136 Rn. 34~ Göppinger (Fn. 63), S. 1564~ Meyer-Goßner (Fn. 16), § 136 Rn. 2~ Rogall
(Fn. 1), § 136 Rn. 15 f. m.w.N.~ Senge (Fn. 17), § 80 Rn. 2~ Spöhr (Fn. 17)~ 335.
81 Lesting (Fn. 1), 13~ Schreiber/Rosenau (Fn. 1), S. 161.
Belehrung durch den psychiatrischen Sachverständigen? 1025
82 BGHSt 35, 32, 35~ dies erkennen auch Neubeck (Fn. 19), § 80 Rn. 3~ Rogall (Fn. 1), § 136
Rn. 17 und Senge (Fn. 17), § 80 Rn. 2 an.
83 BGHSt 35, 32, 35.
84 Vgl. BGH StV 1993, 563 zu Angehörigen.
85 Die Möglichkeit, die Belehrung durch den Auftraggeber durch eine Belehrung des Sach-
verständigen zu ersetzen, bejahen Peters (Fn. 11), 233 und Dörig (Fn. 12), 144~ Fincke
(Fn. 17), 671 und Rogall (Fn. 1), § 136 Rn. 17 lehnen sie dagegen ab. Letzterer lehnt die
Ersetzbarkeit zwar ab, sieht im Ergebnis die Belehrung durch den Sachverständigen jedoch als
ausreichend zur Wahrung der Rechte Beschuldigter an. Auf den Einzellfall will Gleß (Fn. 20),
§ 136 Rn. 3 abstellen.
86 Vgl. dazu Lesting (Fn. 1), 14 f.
87 Bspw. eine qualifizierte Belehrung, vgl. dazu Beulke (Fn. 8), Rn. 119, 142. Die Übermitt-
lung der Belehrung an den Sachverständigen kann die Bedenken bei Toepel (Fn. 21), S. 382 f.
gegen eine Belehrung durch den Sachverständigen entkräften.
88 Vgl. zur Dokumentationspflicht Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß (Fn. 36), 59.
1026 Klaus Foerster / Max Foerster
v. Fazit
Die Beziehung zwischen forensischem Psychiater als Sachverständigem
und Proband ist unter psychiatrischen wie juristischen Aspekten Beziehung
sui generis. Aus dieser folgt, dass Strafverfolgungsorgane und psychiatri-
sche Sachverständige Beschuldigte vor Beginn der Untersuchung zur Be-
gutachtung über ihre Rechte auch gegenüber dem psychiatrischen Sachver-
ständigen belehren müssen. Die forensische Psychiatrie ist sich darüber
heutzutage einig. Wenn der Proband aus der Beziehung sui generis in eine
Patient-Arzt-Beziehung mit in diesem Zusammenhang situativ verfehlter
Hilfserwartung abgleitet, muss die Belehrung qua Beziehung sui generis
gegebenenfalls (mehrfach) wiederholt werden.
Die Feinpräparation von Kehlkopf und Luftröhre
und ihre Bedeutung bei der
Strangulationsdiagnose
I. Einleitung
Tod durch Ersticken gehört zu den häufigen Todesursachen bei nichtna-
türlicher und zu den eher seltenen Todesursachen bei natürlicher Todesart.
Bei der Systematik der Erstickungsarten ist sich die Rechtsmedizin uneins,
ob es aus kriminalistischer Sicht sinnvoller ist, zwischen äußerem und inne-
rem Ersticken oder zwischen globalem und lokalem Ersticken und dabei
wieder zwischen asphyktischem und hypoxischem Ersticken zu unterschei-
den. Für den medizinischen Laien mag dies bedeutungslos erscheinen; er
versteht unter Ersticken im Regelfall einen Tod durch Sauerstoffmangel.
Umso größer ist dann oft das Erstaunen in den Medien und der Öffentlich-
keit, dass ein Erstickungstod bei der Leichenschau nicht erkannt wurde,
speziell wenn ein Tötungsdelikt Ursache des Erstickens war.
Für den Rechtsmediziner ist das Nichterkennen eines Erstickungstodes
bei der Leichenschau dagegen leider eine häufige Erfahrung. In der rechts-
medizinischen Ausbildung der Studenten ist man deswegen besonders be-
müht, so genannten Erstickungszeichen wie Zyanose (Blausucht) und pete-
chiale (punktförmige) Blutungen der Haut und Schleimhäute des Gesichtes
zu vermitteln. Da solche Veränderungen aber weder obligatorisch noch
spezifisch sind, bedarf es immer einer Sektion, um Erstickungstodesfälle
mit einiger Sicherheit nachweisen zu können. Aber selbst die Sektionsbe-
funde sind bisweilen nicht so eindeutig, dass ein 'fod durch Ersticken ohne
jeden vernünftigen Zweifel konstatiert werden könnte, denn auch die Be-
funde im Körperinneren sind nicht obligat und spezifisch. Deswegen
schrieb Berthold Mueller l in seinem Handbuchartikel zum Thema äußerer
und innerer Erstickungszeichen: "Diese Befunde sind aber nicht konstant
und auch nicht rur sich allein spezifisch. Sie reichen zur Diagnose, die einen
Mitmenschen oft erheblich belastet, allein nicht aus, weisen nur auf das
Vorliegen einer Erstickung hin. Man muss zusätzlich die Erstickungsursa-
che feststellen; sie kann sich aus dem Sektionsbefund und auch aus den
näheren Umständen des Todes im Zusammenhang mit den Ermittlungen
ergeben. Gelingt es nicht, eine Erstickungsursache nachzuweisen, so wird
man sehen, ob zusätzliche Befunde anatomischer, histologischer oder bio-
chemischer Natur die Diagnose stützen, sofern solche Untersuchungen
zunächst noch nicht durchgeführt worden sind."
Besondere Bedeutung gewinnen diese Aspekte bei Fällen von Strangula-
tion, also dem Ersticken durch Kompression des Halses von außen. Unter
dem Oberbegriff der Strangulation werden das Erhängen, das Erdrosseln
und das Erwürgen subsumiert, wobei bei den beiden ersteren Formen die
Kompression mittels eines Fremdwerkzeuges, beim Erwürgen mittels einer
oder beider Hände oder dem Arm erfolgt. Der Unterschied zwischen Erhän-
gen und Erdrosseln ist dann so definiert, dass bei ersterem die Kompression
passiv, nämlich durch das Körpergewicht bzw. Teile desselben erfolgt,
während das Erdrosseln ein aktives Komprimieren des Strangulationswerk-
zeuges durch eigene oder fremde Hand beinhaltet.
Es besteht in der der Literatur Einigkeit darüber, dass Selbsterwürgen
nicht möglich ist, abgesehen von einem publizierten Einzelfall bei Vorlie-
gen einer Psychose. Da aber Erhängen und Erdrosseln jeweils von eigener
wie von fremder Hand erfolgen können, bedarf es subtiler Untersuchungs-
rnethoden, um zusätzlich zur Diagnose einer Strangulation auch die Unter-
scheidung treffen zu können, ob diese von eigener oder fremder Hand er-
folgte. Neben der Beurteilung der Auffindesituation und den bereits
eingangs zitierten Befunden einer Zyanose, petechialer Blutungen in den
Häuten und Schleimhäuten des Gesichtes, weiteren petechialen Blutungen
unter der Kopfschwarte und in der Galea aponeurotika und den Schläfen-
muskeln gehören dazu relativ unspezifische Befunde wie flüssiges Leichen-
blut, akute Erweiterung der rechten Herzkammer, Blutarmut der Milz bei
Blutfülle der Leber und Blutungen unter den serösen Überzügen der Organe
des Brustkorbes, speziell unter der Pleura viszeralis und unter dem Epikard,
die von Tardieu schon im 19. Jahrhundert als sog. Erstickungsblutungen
beschrieben wurden. Auch die im Wesentlichen erst in den 70er und 80er
Jahren des letzten Jahrhunderts beschriebenen, auffälligen Blutungen in der
Zungenmuskulatur, bisweilen als "Zungenapoplex" bezeichnet, sind hier
aufzufiihren. Besondere Bedeutung haben aber alle Befunde in der Halsre-
gion, die auf eine dortige komprimierende Gewalteinwirkung gegen den
Hals direkt rückschließen lassen, wie Verletzungen der Oberhaut und Le-
derhaut und der Subcutis, des Platysmas und der Halsmuskulatur, welch
letztere sich am häufigsten in Form von Einblutungen manifestieren.
Schließlich sind direkte traumatische Schäden der Skelettteile im Bereich
Die Feinpräparation von Kehlkopf und Luftröhre 1029
der mittleren Luftwege, d.h. des Zungenbeins, des Kehlkopfes und der Luft-
röhre oftmals von entscheidender Bedeutung, da speziell Weichteileinblu-
tungen in der Halsregion auch nichttraumatischer Ursache sein können.
11. Präparationstechnik
Maxeiner 2 hat in seinem Beitrag zum Handbuch "Gerichtliche Medizin"
von BrinkmannlMadea bereits 2004 über 34 Seiten über Untersuchungs-
techniken des Kehlkopfes referiert und anhand von 337 Literaturstellen auf
deren Bedeutung für die forensische Begutachtung hinge\\'iesen. Dabei hat
er ab 1983 eigene Präparationstechniken entwickelt, die dazu dienen, mit
subtilen Methoden anatomisch schwer erkennbare Befunde darzustellen. Da
diese Präparationstechniken allerdings eine Fixierung oder zumindest Teil-
fixierung dieses Areals in Formaldehydlösung voraussetzen und dann eine
relativ zeitaufwendige mikroanatomische Präparation verlangen, wurde bei
Kongressdiskussionen argumentiert~ dass eine solche Art des Vorgehens
den kriminalistischen Anforderungen einer Sofortdiagnose im Rahmen
einer Autopsie nicht entspräche und ohnehin keine wesentliche Verbesse-
rung der Beurteilung beinhalte. Traumatische Schädigungen an Zungenbein,
Kehlkopf und Trachea seien ohnehin durch makroskopische Beurteilung mit
dem bloßen Auge oder durch Lupenvergrößerung sowie durch Tastbefund
zu diagnostizieren. Auch am Münchner Institut für Rechtsmedizin wurde so
über viele Jahre die Beurteilung ohne Feinpräparation, unmittelbar im Zu-
sammenhang mit der makroskopischen Beurteilung im Rahmen der Sektion,
vorgenommen.
Russische Autoren 3 hatten in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhun-
derts ebenfalls über spezielle Präparationstechniken berichtet. Mit der Auf-
nahme der Tätigkeit des Coautors Evgenij Gazov am Institut für Rechtsme-
dizin in München wurde die Präparationstechnik nach Mishin am hiesigen
Institut eingeführt. Verändert wurde lediglich, dass für die Fixierung der
Präparate anstatt 1 %igem 2 %iges Formalin verwendet wird. Das präpara-
tive Vorgehen gestaltet sich folgendermaßen:
Nach der vorsichtigen Entnahme der gesamten Kehlkopfregion ein-
schließlich des Anfangsteils der Luftröhre werden die Präparate in 2 %iger
Formaldehydlösung über Nacht fixiert. Dies gewährleistet - neben der Kon-
servierung eine Verfestigung der Weichteile, was dann eine bessere Prä-
paration des Gewebes erlaubt. Postmortale Blutungen, auf die auch Maxei-
2 Maxeiner in: BrinkmanniMadea (Hrsg.), Handbuch Gerichtliche Medizin, 2004, S. 720 ff.
3 Khokhlov Forensic Sci. Int. 88 (1997), 129 - 133; Mishin in: Unterlagen des 3. Allgemei-
nen Russischen Kongresses der Gerichtsmediziner, Teil 11, 1992, S. 320 - 323.
1030 Wolfgang Eisenmenger / Evgenij Gazov
4 Da es drucktechnisch nicht möglich ist, die Abbildungen zu zeigen, sei auf die Internetsei-
te http://rechtsmedizin. med.uni-muenchen.de/service/downloads/20 100503_festschrift. pdf ver-
wiesen, auf der alle hier erwähnten Abbildungen zu finden sind.
5 Siehe Fn. 4.
6 Wintterer Kehlkopfverletzungen tödlich verunglückter Kraftfahrzeuginsassen. Eine Pilot-
studie. Medizinische Inauguraldissertation, 2004.
Die Feinpräparation von Kehlkopf und Luftröhre 1031
7 Siehe Fn. 4.
1032 Wolfgang Eisenmenger / Evgenij Gazov
Dokumentation
Am Institut rur Rechtsmedizin wurde ein Dokumentationsblatt entwickelt,
welches die präparierten Skelettanteile in verschiedenen Sichtebenen, näm-
lich von frontal, seitlich, von der Innenseite und, im Hinblick auf die spe-
zielle Forln des Ringknorpels in gekippter Stellung wiedergibt (Abbildung
6)9. Diese Dokumentation entspricht dem von Mishin lO vorgestellten Vor-
schlag. Farblich werden dabei alte Verletzungen von frischen Verletzungen
getrennt, frische Einblutungen markiert, die Verknöcherungszone am Kehl-
kopf abgegrenzt und zwischen Kompression und Dehnung unterschieden.
Letztere Unterscheidung lässt sich durch die Erweiterung bzw. Verengung
eines Bruchspalts bzw. eines Risses durch wechselnde Druckbelastung
beurteilen. Damit ergibt sich auch ein deutlicher Hinweis auf die Richtung
der einwirkenden Gewalt, was insbesondere bei Tötungsdelikten wesentli-
che Rückschlüsse auf die Position von Täter und Opfer zulässt.
111. Ergebnisse
Aus dem Sektionsgut der letzten fünf Jahre wurden je 60 Fälle von suici-
dalenl Erhängen und von Tötungen durch Erwürgen, Erdrosseln und Ein-
wirken stumpfer und scharfer Gewalt gesammelt und verglichen, welche
Verletzungen im Rahmen der autoptischen Beurteilung und welche durch
die Feinpräparation ermittelt wurden. Dabei war in der Gruppe der Tötun-
gen nur in 43 % der Fälle vor der Sektion eine Einwirkung stumpfer Gewalt
bekannt, während in 57 % andere Ursachen wie tödliche Stichverletzungen
vorlagen.
1. Erhängen
Zungenbein
Hinsichtlich des Zungenbeins ist bekannt, dass es beim Erhängen weniger
verletzungsgefahrdet ist als bei Fällen von Erwürgen und Erdrosseln.
8 Siehe Fn. 4.
9 Siehe Fn. 4.
10 Fn. 3.
Die Feinpräparation von Kehlkopf und Luftröhre 1033
Kehlkopf
Am Kehlkopfskelett selbst war die Diskrepanz zwischen grobsichtig fest-
gestellten und feinpräparatorisch nachgewiesenen Verletzungen nicht weni-
ger beunruhigend: Es wurden 33 Verletzungen am Kehlkopf beschrieben,
im Rahmen der Feinpräparation wurden dann zusätzlich 25 Brüche bzw.
Rissbrüche aufgefunden.
11 Siehe Fn. 4.
1034 Wolfgang Eisenmenger / Evgenij Gazov
dass nur etwa die Hälfte der vorhandenen Verletzungen autoptisch erkannt
worden war (Abbildung 8)12.
Kehlkopf
Im Rahmen der Obduktion wurden 39 Einzelverletzungen am Kehlkopf
erfasst und beschrieben. Bei der Ergänzungsuntersuchung unter dem Ste-
reomikroskop wurden 31 weitere Verletzungen erkannt.
IV. Diskussion
Eines der wichtigsten Ziele der modemen Medizin ist die Qualitätssiche-
rung. Sowohl die Orientierung der klinischen Behandlung an den Kriterien
von "evidence based medicine" wie auch die Etablierung von Richtlinien
und Leitlinien waren und sind wichtige Meilensteine auf dem Weg zu die-
sem Ziel. Ebenso gehören dazu alle Maßnahmen im Rahmen von Akkredi-
tierung und Zertifizierung.
Auch in den klinisch-theoretischen Fächern wie Mikrobiologie, Virologie,
Pathologie und auch Rechtsmedizin sind entsprechende Maßnahlnen der
Qualitätssicherung eingeführt und etabliert. So existiert für die gerichtliche
Leichenöffnung ein Leitfaden der Akkreditierungsgesellschaft DACH
GmbH ("Spezieller Leitfaden für die gerichtliche Leichenöffnung") 13 • Einer
12 Siehe Fn. 4.
13 www.dach.gmbh.de/DACH/DOK/VA/0900-5800.pdf
Die Feinpräparation von Kehlkopf und Luftröhre 1035
der Untertitel des Leitfadens beschäftigt sich hierbei mit der "Sektionstech-
nik bei Halstraurnen". Ebenso sind in den letzten Jahren Handbücher zur
Sektionstechnik von mehreren Autoren wie z.B. Rutty,l4, Saternus 15 oder
Sheaff und Hopster 16 erschienen. Schließlich entwickelte die Deutsche Ge-
sellschaft fur Rechtsmedizin eine Leitlinie rur die rechtsmedizinische Lei-
chenöffnung, worin unter Federruhrung von Frau Prof. Dr. A. Klein in An-
lehnung an die "Recommendation Nr. R(99)3 on the harmonisation of
medico-Iegal autopsy rules (adopted by the council of Europe committee of
ministers on 4th of february 1999)" die gängige Standardtechnik rur die
gerichtliche Leichenöffnung beschrieben wird. Diese Leitlinie hat die
höchste Entwicklungsstufe 83. 17
In allen diesen Darstellungen und Empfehlungen wird der Tatsache
Rechnung getragen, dass der Halsregion des Menschen bei der gerichtlichen
Leichenöffnung besonderes Augenmerk gewidmet werden muss, weil, wie
eingangs dargelegt, bei Fällen gewaltsamen Erstickens, speziell bei allen
Formen der Strangulation, dem Nachweis stattgehabter Gewalt gegen die
Halsregion oft entscheidende Bedeutung rur den Nachweis des Erstickens
zukommt.
Insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die am Institut rur
Rechtsmedizin in Münster durchgefuhrte Multicenterstudie zur Dunkelziffer
nicht erkannter Tötungsdelikte in Deutschland 1997 zum Ergebnis kam,
dass mindestens 1200 und maximal 2400 Fälle nicht entdeckter Tötungsde-
likte in Deutschland zu erwarten sind, kommt dem Nachweis aller Formen
der Strangulation besondere Bedeutung zu. Die rechtsmedizinischen Erfah-
rungen der letzten Jahrzehnte haben nämlich gezeigt, dass auch und gerade
bei Tötungsdelikten durch Strangulation sowohl bei der äußeren als auch
bei der inneren Leichenschau subtile Befunde übersehen oder falsch gedeu-
tet werden können. So wurde z.B. am Münchner Institut rur Rechtsmedizin
ein Fall bearbeitet, bei dem ein Serientäter sieben Frauen durch Strangulati-
on getötet hatte, wobei dies nur in vier Fällen bei der Leichenschau erkannt
wurde, während in drei Fällen natürlicher Tod attestiert wurde. In drei ande-
ren Fällen waren Opfer von Tötungsdelikten durch den jeweiligen Täter
aufgehängt worden, um einen Suicid vorzutäuschen, was allerdings durch
die Sektion aufgedeckt werden konnte. Solche praktischen Erfahrungen
belegen immer wieder die Notwendigkeit gerichtlicher Sektionen, aber auch
die Notwendigkeit der Einhaltung von Kunstregeln, Standards und Leitli-
nien.
18 Fn. 3.
19 Leth Am. 1. Forensie Med. Pathol. 30 (2009), 219-222.
VIII. Juristenausbildung
Geschichte und Geschichten
der juristischen Staatsprüfungen in Bayern
HEINO SCHÖBEL
3 Wendt Die Bayerische Konkursprüfung der Montgelas-Zeit, 1984, S. 32; ausführlich Weis
Montgelas, Erster Band, 2. Auflage 1988, S. 49.
4 Wendt a.a.O., S. 20.
5 Coing Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Rechtsgeschichte
Bd. II, 1976, S. 27ff.
6 Coing Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Rechtsgeschichte
Bd. I, 1973, S. 75ff. - Die Examina waren Voraussetzung für die Lehrerlaubnis und damit eine
Art Lehrprobe mit vorgeschalteter Wissensprüfung (Tentamen) und anschließender Diskussi-
on.
Geschichte(n) der juristischen Staatsprüfungen in Bayern 1041
15 Ab 1802.
16 VO vom 20.9.1809, RegBI. 1809, Sp. 1737.
17 I VO vom 21.3.1812, RegBI., Sp. 541.
18 Die "Konkursprüfung" wird 1880 in "Zweite Prüfung" umbenannt. Der Begriff "Staats-
prüfung" wurde durch VO vom 18.10.1910 (GVBI., S. 1003) eingeführt~ ab 1934 findet sich
die Bezeichnung "Große Staatsprüfung" (RGB!. I, S. 727) und ab dem Jahr 1952 "Zweite
Juristische Staatsprüfung" (luVAPO vom 12.3.1952, GVBI., S. 103). Die 1830 eingeführte
studienabschließende Prüfung wird zunächst "theoretische Prüfung", ab 1880 "Universitätsab-
schlussprüfung", in der JAO vom 22.7.1934 (RGBL I, S. 727) erstmals "Erste Juristische
Staatsprüfung" genannt~ ab 2007 heißt sie "Erste juristische Prüfung". Der Begriff "Erste
Juristische Staatsprüfung" bleibt in Bayern für die staatliche Pflichtfachprüfung erhalten. Zur
Geschichte der juristischen Staatsprüfungen in Bayern siehe auch Weber BayVBI. 1987, 168.
Geschichte(n) der juristischen Staatsprüfungen in Bayern 1043
19 RegBI. 1812, Sp 541. 1817 wird die zentrale Prüfungskommission aufgelöst, weil sie mit
der Korrektur aller in Bayern abgehaltenen juristischen Staatsprüfungen überfordert ist. Nun-
mehr gibt es eine zentrale Fragestellung, aber eine distriktweise, ab 1858 auch wieder eine
zentrale Korrektur.
20 Die Verfassung von 1808 garantierte allen gesellschaftlichen Gruppen das gleiche Recht
auf Positionen im Staatsdienst, sofern sie die geforderte Qualifikation erfüllten.
21 Zur (angeblichen) Vorbildfunktion des chinesischen Prüfungswesens für die bayerischen
Concoursprüfungen siehe Wendt (Fn. 3), S. 242.
22 va vom 6.3. 1830.
23 Drei schriftliche Aufgaben, die von den Juristischen Fakultäten der drei Landesuniversitä-
ten vorgeschlagen und von den Staatsministerien des Inneren für Kirchen- und Schulangele-
genheiten, der Justiz und des Innern bestimmt werden (Übersetzung und Erläuterung einer
Stelle aus dem corpus juris civilis, je ein kurzer Rechtsfall aus dem Gebiet des bürgerlichen
Rechts einschließlich Handels- und Wechsel- sowie Zivilprozessrecht und aus dem Gebiet des
Straf- und Strafprozessrechts).
1044 Heino Schöbel
"Es war die gerechteste und vernünftigste Prüfung, die man sich denken
konnte: Man hatte ausschließlich, und zwar in Klausur, schriftliche Arbei-
ten zu liefern, die rür alle Prüflinge des Königreiches die Gleichen waren.
Man durfte sich Bücher mitbringen, so viel man wollte und so viele Platz
fanden .... Man hatte neun Arbeiten aus der Justiz und neun aus der Ver-
waltung einschließlich Volkswirtschaft und Finanzwissenschaft zu ma-
chen, darunter je einen praktischen Fall, rür den man neun Stunden Zeit
hatte und der doppelt zählte; für die anderen Aufgaben hatte man je vier
Stunden Zeit... Die Aufsichtsbeamten waren teils nachsichtig teils streng,
aber etwaige Unterhaltungen zwischen den Kandidaten, die natürlich ver-
boten waren, hatten auch sehr wenig Wert; selbst das gemeinsame Mit-
tagessen bei den großen praktischen Fällen, bei dem Schweigegebot
herrschte, wenn auch nicht immer beachtet wurde, konnte dem Unkundi-
gen nicht viel Vorteile bringen ... "
Auch Kühlmann 31 lobt den bayrischen "Staatskonkurs", den er 1896 glän-
zend bestanden hat 32 :
"Ich glaube, der bayrische Staatskonkurs war wohl eine der besterdachten
Prüfungen, die mir vorgekommen sind. Ungefähr acht Tage lang wurden
täglich in zirka vier Stunden vormittags und vier Stunden nachmittags
schriftliche Aufgaben gelöst. An den zwei Tagen der großen praktischen
Fälle arbeitete man je acht Stunden ohne Unterbrechung. 33 Auf Leistung
des Gedächtnisses wurde gar kein Wert gelegt. Da bei fortgesetzter An-
strengung Essen und Trinken Leib und Seele zusammenhält, barg ich im
Bauche meines Bücherkastens einige (!) Flaschen leichten aber guten
Bordeaux sowie eine umfangreiche Hasenpastete und machte es mir zur
Regel, bei jedem Stundenschlag einen Schluck Wein und ein Stück Paste-
te mir einzuverleiben. Öfters, besonders bei den achtstündigen prakti-
schen Fällen sammelten sich beim Stundenschlag allerlei Freunde um
mich, die beim Essen und Trinken mithielten. "34
31 Richard von Kühlmann, 3.5.1873 - 16.2.1948. Kühlmann kann als Dichterjurist angese-
hen werden (neben fachlichen Schriften auch Romane "Der Kettenträger", "Saturnische Sen-
dung", "Immaculata"); er studierte Rechtswissenschaften in Leipzig, Berlin und München und
trat nach der Promotion in den diplomatischen Dienst ein. Siehe auch Busch BayVBl. 2004,
584.
32 Mit einem sog. "Bruch-Einser", der nach Ludwig Thoma einen "Freibrief für jede Dumm-
heit im rechtsrheinischen Bayern" bedeutete (Thoma Der Münchner im Himmel, 1966, S. 108).
33 Nach § 67 Bek. vom 14.7.1893, JMBl., S. 150, war die Bearbeitungszeit allerdings neun
Stunden.
34 Von Kühlmann Erinnerungen, 1948, S.115~ Busch (Fn. 31), 585.
1046 Heino Schäbel
35 va vom 12.7.1893, GVBl., S. 257~ §§ 32, 34, 35, 67, 68, Bek. vom 14.7.1893, 1MBl.
1893,S. 150.
36 1946 waren lediglich drei fünfstündige Klausuren vorgeschrieben~ nach denl Zweiten
Weltkrieg wurde die Zahl der Klausuren zunächst 1952 auf zwölf fünfstündige und zwei
achtstündige Klausuren reduziert. Die achtstündige Doppelaufgabe wurde (erst) 1969 abge-
schafft und der schriftliche Teil der Prüfung auf zwölf fünfstündige, 1993 auf elf fünfstündige
Klausuren beschränkt. Auf die Notprüfungen während und nach den Weltkriegen soll hier
ebenso wie auf die 1899 eingeführte und 1910 wieder abgeschaffte Zwischenprüfung nicht
eingegangen werden.
37 1812 bestand die Prüfung aus 40 Fragen und zwei "Probrelationen". 1830 wurden die 40
Fragen durch insgesamt 18 "Probeaufgaben" mit einer Bearbeitungszeit von je vier Stunden
ersetzt. Zusätzlich wurden zwei "Probrelationen" als "praktische Fälle" mit einer Bearbei-
tungszeit von je acht Stunden gestellt, § 35 va vom 6.3.1830, RegBl., S. 591 ~ Ministerialent-
schließung des Ministeriums des Innern vom 1.5.1830, Döllinger (Fn. 25), S. 27.
38 Schultz Zeitschrift für Rechtspflege in Bayern 1910, 65.
39 Bek. vom 20. 6.1842, Döllinger (Fn. 25), Bd. 12., S. 13~ Bek. vom 9.12.1851.
Geschichte(n) der juristischen Staatsprüfungen in Bayern 1047
das nötige Dienstpersonal zur Verfiigung steht. Zur Verhütung von Unter-
schleifen ist hierbei mit aller Strenge darauf zu achten, dass ein unmittel-
barer Verkehr der Kandidaten mit dem Dienstpersonal ausgeschlossen
bleibt und dass die Bestellung der Bücher unter der Kontrolle des die auf-
sichtführenden Beamten erfolgt. ... Die auf diese Weise erholten Bücher
dürfen dem Kandidaten nur nach vorgängiger sachgemäßer Kontrolle aus-
gehändigt werden. "40
ausgeschlossen". Noch 1963 waren acht Textausgaben, alle Gesetze, Verordnungen und Be-
kanntmachungen sowie immerhin 28 Kommentare zugelassen.
44 Gareis (Fn. 42); siehe auch Müller (Fn. 42) und Schult= (Fn. 38), 65. Kritisiert wurden
auch damals Umfang und Schwierigkeitsgrad der Aufgaben. Dem wurde entgegnet, dass die
juristische Praxis an die Leistungsfähigkeit der Beteiligten die größten Anforderungen in
physischer und psychischer Hinsicht stellen würde und dass deshalb auch im Staatskonkurs
Außergewöhnliches verlangt werden müsse (Schultz, a.a.a.).
45 RegBl. 1830, Sp 581.
46 Ab 1893 auch schriftlich. Nach § 20 Bek. vom 14. Juli 1893, JMBl., S.137 besteht die
Vorprüfung aus drei Aufgaben, die von den Juristischen Fakultäten der drei Landesuniversitä-
ten vorgeschlagen und von den Staatsministerium des Inneren für Kirchen- und Schulangele-
genheiten im Benehmen, der Justiz und des Innern bestimmt werden.
47 va vom 6.3. 1830, RegBl., Sp 581; Kollmann (Fn. 10), S. 459.
Geschichte(n) der juristischen Staatsprüfungen in Bayern 1049
48 § 3 va.
49 18.3.1813 -13.12.1863. Jura-Studium in Heidelberg und München 1836-1839.
50 Hebbel in: Fricke/KellerlPörnbacher (Hrsg.), Werke, 4. Bd., 1994, S. 71.
1050 Reino Schöbel
zu wählen".51 Dass diese Regel nicht immer beachtet worden ist, zeigen die
Erinnerungen des ehemaligen Oberreichsanwalts und Honorarprofessors
Ludwig Ebermayer52 an den mündlichen Teil einer "Universitätsabschluss-
prüfung" des Jahres 1928:
"Ein Professor stellt eine Frage, die der Kandidat nicht beantworten kann;
er schweigt, der Prüfende, der die Uhr vor sich liegen hat, desgleichen.
Nach fünf Minuten lässt sich der Professor vernehmen: "Herr Kandidat,
Sie haben noch zehn Minuten." Dasselbe geschieht nach Ablauf von wei-
teren fünf Minuten und als auch diese vergangen sind, erhebt sich der
Professor: "Ich danke, Herr Kandidat."
Auch bei der Ersten Juristischen Staatsprüfung darf ein kleiner Blick in
das 20. Jahrhundert und den schriftlichen Teil des Examens nicht fehlen.
Dass auch bei den fünfstündigen Klausuren der Ersten Juristischen Staats-
prüfung - jedenfalls in Bayern 53 - die Verpflegungsfrage für die Kandidaten
von Bedeutung war, zeigt die amüsante Schilderung einer Prüfung durch
Rosendorfer:
"Wie Stegweibel das erste Examen, das Referendarexamen geschafft hat-
te, war allen unverständlich, denn schon damals gehörte Stegweibel ... als
aktives Mitglied der "IG Biere, Schnäpse, Räusche" an, bezeichnete sich
im Übrigen selbst als "Kampftrinker" und trat zum Examen sicher mit
mangelhafter Vorbereitung, dafür jedoch mit, sage und schreibe, einer
Kiste Bier an, die er unter seinen Schreibtisch im großen Examenssaal des
Oberlandesgerichts stellte und während der fünfstündigen Klausur aus-
trank. Und das an jedem der sechs Examenstage. Keiner der Kommilito-
nen hätte auch nur einen Pfifferling auf Stegweibels Examensergebnis
gewettet, doch das Wunder geschah: Er bestand, wenngleich knapp".54
59 Muther Die Reform des juristischen Unterrichts (Antrittsvorlesung in Jena 1873), S. 22,
zitiert nach Martin Juristische Repetitorien und staatliches Ausbildungsmonopol in der Bun-
desrepublik Deutschland, 1993, S. 144, Fn. 221.
60 Wolff(Fn. 7), S.180, Fn. 78.
61 Entschließungen vom 9.12.1851 (Döllinger [Fn. 25], S. 14) und vom 14.6.1854 (RegBI.,
S. 385 bis 388).
62 Zimmermann Kabinettstücke, 1991, S. 258.
63 Im Jahr 1951; damals waren fünf Aufsichtsarbeiten zu fertigen, die mündliche Prüfung
bestand aus einem vorbereiteten Aktenvortrag und einem Prüfungsgespräch.
Geschichte(n) der juristischen Staatsprüfungen in Bayern 1053
" ... Dort gab es einen Saal, groß genug, um die ... Kandidaten an Einzel-
tischen so weit auseinander zu platzieren, dass sie nicht abschreiben
konnten. Wenigstens glaubten dass die Prüfer. Jedoch hörte ich, über eine
Strafrechtsklausur gebeugt, plötzlich hinter mir die vertraute Stimme des
Kandidaten Grasmüller Andreas 64 , dringlich flüsternd in Richtung des ein
Stück links von ihm platzierten Kandidaten Vogel, Hans-Jochen 65 : "Sie,
Herr Kollege, bittschön, können S'mir net einen Zettel umiwerfen? I hock
scho zweieinhalb Stunden da und hab' no gar nix!" Worauf der Kandidat
Vogel, Hans-Jochen, herb erwiderte: "Hätten S' was gelernt, Herr Kom-
militone, dann bräuchten S' jetzt nicht zu fragen." Die hier obwaltende
Not wurde im Wege der Geschäftsführung ohne Auftrag übernommen:
"Anderi," zischte ich nach hinten, "sei still, ich werf dir meinen Lösungs-
ansatz rüber." Und so geschah's. Am Ende hatte ich eine Drei, der Kandi-
dat Vogel eine Eins, und der Anderl hatte eine Vier."
Übrigens weisen die Akten aus, dass zwei Prüfungsteilnehmer wegen Un-
terschleifs von der Prüfung ausgeschlossen werden mussten. Es waren nicht
die Kandidaten Zimmermann und Grasmüller. "Auf Unterschleif! das war
zu wagen!"
schweigende Prüfer und während der Prüfung Bier und Rotwein trinkende
Kandidaten dürfen nicht den Blick auf modem anmutende Prüfungsregeln
verstellen, die schon vor 100 Jahren galten und heute noch bei Korrektur
und Bewertung schriftlicher Aufgaben der Ersten und der Zweiten Juristi-
schen Staatsprüfung in Bayern Berücksichtigung finden: "Bei der Zensur
soll nicht zu großes Gewicht darauf gelegt werden, ob die Art der Lösung
durch den Kandidaten mit der vom Zensor als richtig angenommenen Lö-
sung übereinstimmt, sondern hauptsächlich darauf gesehen werden, ob der
Kandidat bei der Bearbeitung der Aufgabe allgemeines juristisches Ver-
ständnis' genügende theoretische Kenntnisse und eine gewisse Gewandtheit
in der Darstellung seiner Gedanken gezeigt hat".67 Und: "Jeder Zensor hat
zunächst, um eine bestimmte Grundlage für die Beurteilung der Bearbeitun-
gen zu erlangen, selbst die Aufgabe kurz schriftlich zu bearbeiten. Sind
mehrere Mitglieder zur Zensur der Bearbeitungen einer Aufgabe bestimmt,
so haben sie zur Vermeidung von Ungleichmäßigkeiten in der Zensur vor
deren Beginn gemeinschaftlich festzusetzen, was als Fehler angerechnet
werden muß und was nicht als Fehler angerechnet werden darf."68
Geschichten: Vorschriften legen Grundsätze, Struktur und Organisation
von Prüfungen fest. Vorschriften müssen mit Leben erfüllt werden. Die hier
berichteten Geschichten haben vor allem anekdotischen Wert und stellen
natürlich nicht die ganze Prüfungswirklichkeit dar. Sie können aber einen
kleinen Eindruck vom Denken und Handeln der Prüfer und der Geprüften in
den damaligen Examina vermitteln und andeuten, wie sich Prüfungsvor-
schriften auswirken können.
108. Bericht des Vorsitzenden über die strafrechtliche Abteilung des 62.
Deutschen Juristentages zum Thema Zeugenschutz. In: Verhandlun-
gen des 62. Deutschen Juristentages Bremen 1998, Bd. 11/1 Sit-
zungsberichte (Referate und Beschlüsse), hrsg. vom Deutscher Juris-
tentag. München 1998, P 9-12.
109. Täter-Opfer-Ausgleich im Jugendrecht. RdJB 1999, S. 278-290.
110. Zur Offenbarungspflicht der Therapeuten im Justizvollzug gemäß
§ 182 11 StVollzG. ZfStrVo 48(1999), S. 259-266.
111. Individualprognose und präventive Konsequenzen. In: Kriminalität,
Prävention und Kontrolle. Neue Kriminologische Schriftenreihe Bd.
104, hrsg. von D. Rössner/J.-M. Jehle. Heidelberg 1999, S. 223-241.
112. Juristische Aspekte der Behandlungsbegrenzung im Rahmen der
Sterbebegleitung. In: Der Kassenarzt, Deutsches Ärztemagazin,
Nr.27/28, 1999, S. 36-39.
113 . Verzicht auf Sanktionsnormen im Straßenverkehrsrecht - ein Beitrag
zur Effektivität von Verhaltensnormen? In: Wirkungsforschung zum
Recht I, Wirkungen und Erfolgsbedingungen von Gesetzen, hrsg.
von H. Hof/G. Lübbe-Wolff. Baden-Baden 1999, S. 235-244.
114. Offene Fragen zur Begrenzung lebensverlängernder Maßnahmen. In:
Festschrift für H. 1. Hirsch. Berlin, New York 1999, S. 693-712.
115. Opferanwalt auf Staatskosten. Entstehungsgeschichte und Reichwei-
te der §§ 397a. 406g StPO nach dem Zeugenschutzgesetz vom 30.
April 1998. In: Festschrift für A. Böhm. Berlin, New York 1999,
S.663-682.
116. Sterbebegleitung und Sterbehilfe aus juristischer Sicht. In: Ausblicke
7, 1999/2000, S.74-80.
1068 Verzeichnis der Schriften von Heinz Schöch
129. Der Einfluss der Kriminologie auf das Menschenbild des Strafrechts.
In: Bausteine zu einer Verhaltenstheorie des Rechts, hrsg. von F.
Haft/H. Hof/S. Wesche. Baden-Baden 2001, S. 413-419.
130. Mitarbeit am Alternativ-Entwurf Reform des Ermittlungsverfahrens
(AE-EV). Entwurf eines Arbeitskreises deutscher, österreichischer
und schweizerischer Strafrechtslehrer (Arbeitskreis AE). München
2001.
131. Scientology ante portas? Ein Beitrag zur Auslegung der §§ 53-55
StVollzG und zur Beurteilung einer pseudoreligiösen Organisation.
In: Festschrift rur H. Müller-Dietz. München 2001, S. 803-820.
132. Rechtliche Aspekte zur Bußgeld- und Strafbewehrung der Teilnahme
am Straßenverkehr unter dem Einfluss von Benzodiazepinen. In:
Bundesanstalt rur Straßenwesen (Hrsg.), Verkehrssicherheit nach
Einnahme psychotroper Substanzen. Berichte der Bundesanstalt rur
Straßenwesen, Mensch und Sicherheit, Heft M 127. Bremerhaven
2001, S. 73-77.
133. Strafrechtliche Aspekte der Tötungskriminalität. In: Tötungsdelikte
mediale Wahrnehmung, kriminologische Erkenntnisse, juristische
Aufarbeitung, hrsg. von R. Egg, Kriminologie und Praxis Bd. 36.
Wiesbaden 2002, S. 71-90.
134. Kriminalpädagogisches Schülerprojekt Aschaffenburg (gemeinsam
mit M. Traulsen). DVJJ-Jornal 2002, S. 54-60.
135. Opferschutz - Prüfstein rur alle strafprozessualen Reformüberlegun-
gen? In: Festschrift rur P. Rieß. Berlin, New York 2002, S. 507-524.
136. Fahrtüchtigkeit und Fahreignung bei Methadon-Substitution. In:
Festschrift für K. Rolinski. Baden-Baden 2002, S. 147-154.
137. Die Reform des Ermittlungsverfahrens nach den Vorstellungen des
Alternativ-Entwurfs (AE-EV). In: Gedächtnisschrift rur E. Schlüch-
ter. Köln u. a. 2002, S. 29-42.
138. Bericht des Vorsitzenden über die strafrechtliche Abteilung des 64.
Deutschen Juristentages zum Thema "Ist das deutsche Jugendstraf-
recht noch zeitgemäß"? In: Deutscher Juristentag (Hrsg.), Verhand-
lungen des 64. Deutschen Juristentages Leipzig 2002, Bd. 11/1 Sit-
zungsberichte (Referate und Beschlüsse). München 2002, R 10-12.
139. Ist das deutsche Jugendstrafrecht noch zeitgemäß? RdJB 2003,
S.289-308.
140. Bewährungshilfe und humane Strafrechtspflege. BewHi 2003,
S.211-225.
1070 Verzeichnis der Schriften von Heinz Schöch
I. Habilitanden
11. Doktoranden