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Editorial

»Zukunft braucht Erinnerung«, so das


Blick in die Wissenschaft
Motto der Ordensverleihung im Schloss
Forschungsmagazin
Bellevue am Tag des Ehrenamtes im De­
der Universität Regensburg
ISSN 0942-928-X zember des vergangenen Jahres. »Es gibt
Heft 39 kein Ende des Erinnerns!« mahnt Bundes­
28. Jahrgang präsident Frank-Walter Steinmeier. »Ge­
Herausgeber
rade wenn es um das Leid und das Unrecht
Prof. Dr. Udo Hebel geht, das von Deutschen begangen wurde,
Präsident der Universität Regensburg gerade wenn es um die Verantwortung
Redaktionsleitung
geht, die daraus erwächst, darf es keinen
Prof. Dr. rer. nat. Ralf Wagner Schlussstrich und auch keine Wende zu
einem neuen Nationalismus geben. Diese
Redaktionsbeirat
Erinnerung, von der ich spreche, ist weder
Prof. Dr. jur. Christoph Althammer
Prof. Dr. rer. nat. Bernd Ammann Schande noch Schwäche. Im Gegenteil: Sie
Prof. Dr. rer. nat. Ferdinand Evers macht uns stärker, sie stärkt unsere Sensibi­
Prof. Dr. rer. nat. Mark W. Greenlee lität für die Demokratie und die Würde des

© UR/Editorial Office
Prof. Dr. theol. Andreas Merkt Menschen!« In seiner Rede wünscht sich
Prof. Dr. phil. Omar W. Nasim der Bundespräsident auch, »dass wir mehr
Prof. Dr. rer. nat. Klaus Richter Aufmerksamkeit, mehr Herzblut und auch
Prof. Dr. rer. pol. Daniel Rösch
mehr finanzielle Mittel den Orten und Pro­
Prof. Dr. med. Ernst Tamm
tagonisten unserer Demokratiegeschichte
Prof. Dr. paed. Oliver Tepner
Prof. Dr. phil. Isabella von Treskow widmen.« 70.  Jahrestag der Befreiung des Konzen­
Die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg mar­ trationslagers nach Flossenbürg zurückge­
Editorial Office
kiert einen der bedeutendsten Erinnerungs­ kehrt ist. Eindrucksvoll erzählt er über das
Dr. phil. Tanja Wagensohn
orte der NS-Geschichte in Deutschland. unerträgliche Nebeneinander absoluter
Universität Regensburg Auf der Grundlage zahlreicher gemeinsam Grausamkeit und der Schönheit der Natur,
93040 Regensburg durchgeführter Forschungs- und Lehrpro­ die Rettung durch Kunst, die Ambiguität
Telefon (09 41) 9 43-23 00
jekte erweiterten und institutionalisierten des Granits und wie es kam, dass er zu
Telefax (09 41) 9 43-33 10
die Universität Regensburg und die KZ- Hause ein Stück Flossenbürger Granit auf­
Verlag Gedenkstätte Flossenbürg am 9.  August bewahrt.
Universitätsverlag Regensburg GmbH
ihre besondere Zusammenarbeit. Dem Ergänzend wie immer auch in dieser
Leibnizstraße 13, 93055 Regensburg
entsprechend widmet der Blick in die Wis- Ausgabe spannende Arbeiten aus anderen
Telefon (09 41) 7 87 85-0
Telefax (09 41) 7 87 85-16 senschaft in dieser Ausgabe dem Thema Fakultäten, darunter passend zum aktuel­
info@univerlag-regensburg.de »Erinnerungsort Flossenbürg« ein beson­ len Zeitgeschehen eine Rede von Professor
www.univerlag-regensburg.de deres Augenmerk: Volker Depkat »Wider die Vereinfacher
Geschäftsführer: Dr. Albrecht Weiland Professor Udo Hebel, Präsident der Uni­ und Vereindeutiger« und »die Macht und
Abonnementservice versität Regensburg, blickt in seiner Rede Ohnmacht der Geisteswissenschaften in
Oliver Hundsrucker »Neue Dimensionen der Erinnerungsarbeit« der Gegenwart«. Er spricht über nationale
o.hundsrucker@univerlag-regensburg.de anlässlich des Festaktes zur Unterzeich­ Homogenitätsfiktionen und illusionsge­
Anzeigenleitung nung des Kooperationsvertrages auf die leitete Politik, die Marginalisierung von
Larissa Nevecny Historie, die Idee und den Anspruch dieser NS-Verbrechen sowie die Verrohung der
MME-Marquardt in Europa einmaligen Kooperation zurück. öffentlichen Diskussion und ermuntert die
info@mme-marquardt.de Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen Absolventen der Geisteswissenschaften als
Herstellung berichten weiter über die 250-jährige His­ Ambiguitäts- und Komplexitätsexperten
Universitätsverlag Regensburg GmbH torie des Granit-Steinbruchs, in dem Häft­ danach zu streben, die menschliche Exis­
info@univerlag-regensburg.de linge des KZ Flossenbürg in den Jahren von tenz in ihrer Kontextualität begreifen zu
Einzelpreis € 7,00 1938 bis 1945 unter unmenschlichen Be­ wollen.
dingungen zu Tode kamen, über die trans­ Aus aktuellem Anlass ebenfalls in dieser
Jahresabonnement
bei zwei Ausgaben pro Jahr nationale Erinnerungsforschung und die Ausgabe ein Interview mit unserem gerade
€ 10,00 / ermäßigt € 9,00 Frage nach den Erinnerungen von Über­ ausgezeichneten Leibniz-Preisträger und
für Schüler, Studierende und Akademiker/ lebenden, betroffenen Familien, Tätern, Physiker Professor Rupert Huber. Unter
innen im Vorbereitungsdienst (inkl. 7 % Mitläufern und Zusehern, über den Ein­ anderem erläutert er die Bedeutung seiner
MwSt) zzgl. Versandkostenpauschale € fluss von Psychotraumata auf das Erinnern prämierten Forschung für unser tägliches
1,64 je Ausgabe. Bestellung beim Verlag. sowie über die Verarbeitung und Wertung Leben und pointiert, was gute Lehre an der
Für Mitglieder des Vereins der Ehemaligen
von NS-Verbrechen in Film und Literatur. Hochschule auszeichnet.
Studierenden der Universität Regens-
Besonders lesenswert ist das Gespräch In diesem Sinne wünsche ich Ihnen
burg e.V. und des Vereins der Freunde der
Universität Regensburg e.V. ist der Bezug mit einem Überlebenden, dem 1928 ge­ eine anregende und ertragreiche Lektüre.
des Forschungsmagazins im Mitglieds­ borenen und heute in Paris lebenden Bild­
beitrag enthalten. hauer Shelomo Selinger, der am 26.  Ap­ Prof. Dr. Ralf Wagner
ril 2015 anlässlich des Gedenkakts zum Redaktionsleitung

Blick in die Wissenschaft 39    1


Inhalt

Inhalt
Neue Dimension der Erinnerungsarbeit 3
Udo Hebel

»was bleibt?« 7
Birgit M. Bauridl

Literatur und strukturelle Dissoziation 14


Isabella von Treskow

Nacht und Nebel trotz allem 21


Bernhard Dotzler

Gedeih und auch Verderb 26


Ursula Regener

INTERVIEW
Die zwei Seiten des Granits: Der Bildhauer Shelomo Selinger 32
Jonas Hock

SPOTLIGHT
Wissenstransfer: Digitalisierung 38
Thomas Schmidt, Christian Wolff

REDE
Wider die Vereinfacher und Vereindeutiger 41
Volker Depkat

Analytische Philosophie trifft Theologie 46


Thomas Schärtl-Trendel

SPOTLIGHT
Wie alt werden Pflanzen? Warum sterben sie? 50
Peter Poschlod, Sergey Rosbakh

INTERVIEW
Neue Quantenwelt: Leibniz-Preisträger Rupert Huber  53
Oliver Tepner

SPOTLIGHT
»Big Data« auch im Wald 56
Lisa Hülsmann

Matelotage, manioc und maron58


Ingrid Neumann-Holzschuh, Evelyn Wiesinger

2    Blick in die Wissenschaft 39


Macht und Ohnmacht der Geisteswissenschaften

Rede

Wider die Vereinfacher


und ­Vereindeutiger
Von der Macht und Ohnmacht
der Geisteswissenschaften in der Gegenwart
Volker Depkat

Wohin man derzeit auch blickt, die Ver-


einfacher in Politik, Wirtschaft und an-
derswo, die eine immer komplexer wer-
dende Welt mit immer weniger Worten
erklären, scheinen das Sagen zu haben.
Überall gibt es Abschottungsbemühun-
gen und politische Alleingänge. Gleich-
zeitig verroht die öffentliche Diskussion
immer weiter. In einer solchen Welt ha-
ben Geisteswissenschaftler*innen eine
besondere Verantwortung. Darum be-
müht, die Welt in ihrer komplexen Un-
eindeutigkeit zu reflektieren, erforschen
Geisteswissenschaftler*innen die Sinn-
stiftungsmechanismen von Texten im
weitesten Sinne. Sie haben Präzision im

Foto © UR/Martin Bockelmann


Umgang mit Wörtern und Sprache ge-
lernt und sind sensibel für die Begriffe,
mit denen Wirklichkeit beschrieben und
Handlungssituationen definiert werden.
Vor allem aber sind sie Komplexitäts-
und Ambiguitätsexpert*innen, die die
menschliche Existenz in ihrer ganzen, 1  Professor Dr. Volker Depkat, Dekan der Fakultät für Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften,
oft widersprüchlichen Kontextualität bei seiner Festrede.
begreifen wollen. Das Beharren auf
der Uneindeutigkeit der Welt und des
menschlichen Lebens in ihr ist eminent senschaften in der spezifischen Form ihrer haben und dass wir das bestandene Exa­
politisch, weil nur autoritäre Weltsich- Erkenntnis. men mit aller Würde und Festlichkeit, die
ten in Eindeutigkeitsversprechen und die akademische Tradition so im Repertoire
Homogenitätsfiktionen ankern. »Liebe Absolventinnen und Absolventen, hat, begehen. Denn es gibt bei einer Ex­
ich freue mich sehr, Sie hier heute Abend amensfeier ja auch viel zu feiern. Es geht
Das erklärte der Dekan der Fakultät für zur Absolventenfeier der Fakultät für nicht nur darum, den erfolgreichen Ab­
Sprach-, Literatur- und Kulturwissen­ Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaf­ schluss des Studiums mit den Seinen fest­
schaften, Professor Dr. Volker Depkat, in ten begrüßen und Ihnen die herzlichsten lich zu begehen und sich zu seinem Erfolg
seiner Festrede auf der Absolventenfeier Glückwünsche der Fakultät zum bestande­ beglückwünschen zu lassen. Es geht ja
am 22. Juni 2018. In ihr reflektierte er ak­ nen Examen übermitteln zu dürfen, sei es vielmehr auch darum, das Ende eines tief
tuelle nationale wie internationale gesell­ Bachelor, sei es Master, sei es Lehramt, sei prägenden Lebensabschnitts und den Be­
schaftliche Strömungen aus Perspektive es die Promotion. ginn eines neuen zeremoniell zu begleiten.
der Geisteswissenschaften und sah die Schön, dass wir die akademische Tra­ Keine Angst, ich sage jetzt nichts über
politische Verantwortung der Geisteswis­ dition der Absolventenfeier wiederbelebt den Ernst des Lebens, der nun bald be­

Blick in die Wissenschaft 39    41


Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften

ginnt, denn Sie haben ja alle hoffentlich Aufklärung vor allem durch die Gewaltex­ Grenze auseinanderreißen und Kleinkinder
schon Ihr Studium ernst genommen, und zesse und Zivilisationsbrüche des 20. Jahr­ von ihren Eltern trennen lässt, der die Wer­
das Leben ist, wie sie alle längst wissen, hunderts ordentlich in Verruf gekommen, tegemeinschaft des Westens zerstört, der
immer so ernst oder unernst wie es eben haben doch insbesondere die Philosophen Autokraten wie Vladimir Putin bewundert
ist und wie man es nimmt.« Max Horkheimer und Theodor Adorno un­ und sich einem blutrünstigen Diktator wie
ter dem Blickwinkel der Dialektik der Auf- Nordkoreas Kim Jong-un auf den Schoß
Studium als Fortsetzung der Persön- klärung das zerstörerische Potential von setzt, während er für die Länder Europas,
lichkeitsbildung mit akademischen Rationalität und Säkularität herausgearbei­ die langjährigen Verbündeten der USA in
Mitteln tet und gezeigt, dass eine moralisch nicht einer auf demokratische und liberale Werte
»Was ich allerdings schon sagen möchte, gebundene, rein utilitaristische Vernunft gegründeten Gemeinschaft, nur Spott und
ist, dass ich hoffe, dass Sie Ihr Studium auch dazu genutzt werden kann, mög­ Hohn übrig hat.
nicht nur als fachwissenschaftliche Aus­ lichst effizient zu töten und möglichst viele Separatismen, Abschottungen, Allein­
bildung, sondern auch als Phase der Per­ Zerstörungen anzurichten. gänge wohin man auch blickt  – und das
sönlichkeitsbildung erlebt haben. Natürlich Das ist natürlich ein gewichtiges Argu­ Ganze geht einher mit einer kaum für
haben Sie in den vergangenen Jahren viel ment, und dahinter können und dürfen möglich gehaltenen Verrohung der öffent­
Fachwissenschaftliches gelernt. Sie alle wir auch nicht mit einer idealistischen Ver­ lichen Diskussion, die die Grenzen des An­
haben für Seminare und Vorlesungen Bü­ klärung der Aufklärung des 18.  Jahrhun­ standes, der Höflichkeit und des Respekts
cher und Aufsätze gelesen und gedanklich derts zurückfallen. Dennoch glaube ich, wieder und wieder übertritt und sie immer
durchdrungen, haben Referate erarbeitet, dass es in einer Zeit, in der populistische weiter nach hinten verschiebt. Als Vater
Hausarbeiten geschrieben und sind da­ Schreihälse Homogenitätsfiktionen wie das eines inzwischen sechzehnjährigen Sohnes
durch in Ihrem Fach geschult worden. Sie Volk oder die Nation dazu nutzen, eine il­ frage ich mich inzwischen schon, wie man
haben ungeheuer viel Fakten und Fach­ lusionsgeleitete Politik zu rechtfertigen, ihn davon überzeugt, dass Ehrlichkeit, Höf­
wissen vermittelt bekommen und sich mit in einer Zeit, in der lebensmüde religiöse lichkeit, Anstand und Respekt die Grund­
den Grundlagen, Theorien, Methoden und Fanatiker meinen, sich im Namen von wel­ lagen des Umgangs miteinander sind und
dem Handwerkszeug ihres Faches vertraut chem Gott auch immer in die Luft spren­ bleiben müssen.
gemacht. Sie sind also in den letzten Jahren gen und möglichst viele Leute mit sich in Angesichts der gegenwärtigen Ent-
zu Fachwissenschaftler*innen geworden, den Tod reißen zu müssen, in einer Zeit, in wicklungen kann man als Geisteswissen-
sind nun Germanist*innen, Anglist*innen, der selbst die verquastesten Weltsichten im schaftler*in schon verzweifeln. Man fühlt
Romanist*innen, Slavist*innen, Verglei­ Internet frei und vielfach unwidersprochen sich hilflos angesichts der scheinbaren
chende Kulturwissenschaftler*innen, zirkulieren können, und in einer Zeit, in der Übermacht der Vereinfacher in Politik,
Medienwissenschaftler*innen – und was sogar demokratisch verfasste Staaten unter Wirtschaft und anderswo, die eine immer
man sonst noch alles schönes bei uns wer­ der Formel alternative Fakten anfangen zu komplexer werdende Welt mit immer we­
den kann. lügen – in einer solchen Zeit ist es meiner niger Worten erklären, die Alternativlosig-
Gleichwohl hoffe ich, ich sage es noch Meinung nach höchste Zeit, dass wir uns keiten ausmachen, wohin sie auch blicken,
einmal, dass Sie Ihr Studium nicht nur als auf die Aufklärung als Grundlage eines die krude Sündenbockpolitik betreiben
fachwissenschaftliche Ausbildung, son­ wissenschaftlichen Weltbildes und eines und die Krisen herbeireden, wo tatsächlich
dern auch als Persönlichkeitsbildung erlebt geregelten Verfahrens zur Feststellung von keine sind, dafür aber die Probleme, die wir
haben. Wissenschaft ist nämlich nicht nur Tatsachen und Prüfung von Wirklichkeits­ tatsächlich haben, nicht wirklich angehen.
Fachdisziplin, Wissenschaft ist auch eine behauptungen wieder besinnen. Geisteswissenschaftler*innen, die die
Weltsicht, eine Haltung zur Welt, die die Ich will gerne gestehen, dass die Ent­ Komplexität der Welt in ihrer Komplexi­
eigene Persönlichkeit tief prägt. Universität wicklungen der Gegenwart mich an diesem tät und Uneindeutigkeit zu reflektieren
ist eben immer noch die Fortsetzung der Bildungsprojekt der Aufklärung zweifeln bemüht sind, bereiten jegliche Versuche,
Persönlichkeitsbildung mit akademischen lassen. Wir führen weiterhin eine aufge­ eben diese Komplexität und Mehrdeutig­
Mitteln, bei der es in erster Linie darum regte und zerstörerische Debatte über keit der Welt auf unzulässige Weise zu re­
geht, selbst denkende Persönlichkeiten Migration und Migranten, obwohl ge­ duzieren, regelrecht körperliches Unwohl­
auszubilden, die den Mut haben, sich ih­ genwärtig kaum noch Flüchtlinge zu uns sein. Wir stehen kopfschüttelnd daneben
res Verstandes zu gebrauchen, die die Gel­ kommen, obwohl die Wirtschaft brummt und fühlen uns zugleich macht- und hilflos.
tungsansprüche und den Wahrheitsgehalt und obwohl die systematisch geschürte Ist unser Projekt also gescheitert? Sind
von Aussagen aller Art kritisch zu prüfen Angst vor Verbrechen in keinem Verhält­ wir alle der Illusion erlegen, durch geistes­
in der Lage sind und die sich selbst eine nis zur Entwicklung der Kriminalitätsrate wissenschaftliche Bildung könnte die Welt
Meinung bilden können.« steht. Laut polizeilicher Kriminalitätsstatistik ein bisschen besser werden? Immunisiert
ist die Zahl der registrierten Straftaten im ein geisteswissenschaftliches Studium also
Das Bildungsprojekt der Aufklärung in Jahr 2017 um 9,6 Prozent gegenüber dem nicht gegen populistische Verirrungen und
der heutigen Zeit Vorjahr zurückgegangen, nachdem sie seit postfaktische Verwirrungen, wie wir sie ge­
»Dies, die Emanzipation des Einzelnen 2014 eher moderat angestiegen war. Wir rade erleben?«
durch Bildung und Schulung des kritischen haben Bundestagsabgeordnete, die die Zeit
Verstandes, ist im Kern das alte Projekt des Nationalsozialismus als »Vogelschiss« in Macht und Ohnmacht der Geistes­
der Aufklärung, das im 18.  Jahrhundert der deutschen Geschichte bezeichnen. Wir wissenschaften
die intellektuellen Grundlagen unserer haben einen U.S.-Präsidenten der Familien »Dass die Welt eine bessere wäre, wenn
modernen Welt gelegt hat. Zwar ist die illegaler Einwanderer in die USA an der wir nur alle Geisteswissenschaftler*innen

42    Blick in die Wissenschaft 39


Macht und Ohnmacht der Geisteswissenschaften

Foto © Lorenz Kienzle Photographie, Berlin


2  Die Sinnstiftungsmechanismen von Texten erkennen, Präzision mit Wörtern und Sprache erlernen, die Begriffe, mit denen Wirklichkeit beschrieben
wird, kritisch prüfen – das sind zentrale Kompetenzen der Geisteswissenschaftler.

wären, das kann und wird sicherlich keiner ob sie im Gedanken der Gleichheit oder in und zu erkennen, wie diese Texte Wirk­
ernsthaft behaupten. Die Welt besser zu dem der Unterschiedlichkeit gründen, ob lichkeit darstellen. Sie haben in diesem Zu­
machen  – das wäre von den Geisteswis­ sie die Mitbestimmung der Vielen ermög­ sammenhang auch zu erkennen gelernt,
senschaften auch zu viel verlangt, denn die lichen oder eher autoritäre Hierarchien na­ welche Perspektiven auf Wirklichkeit durch
Normen und Grundwerte, nach denen wir helegen, ob sie eher inklusiv oder exklusiv einen bestimmten Text organisiert werden,
leben sollen, lassen sich wissenschaftlich sind. Man kann das immer weiter machen. welche Aspekte der Wirklichkeit dadurch
nicht begründen. Geisteswissenschaften Um die kritische Prüfung der politi­ in den Blick kommen und für welche As­
können uns nicht sagen, wie wir leben und schen, sozialen, wirtschaftlichen und kul­ pekte diese bestimmte Perspektive blind
was wir tun sollen. Diese Erkenntnis muss turellen Implikationen von Grundwerten, ist. Gleichzeitig haben Sie zu fragen ge­
am Anfang jeder Reflexion über Macht und die Weltbilder generieren – darum geht es lernt, wer Interesse daran hatte, Wirklich­
Ohnmacht der Geisteswissenschaften ste­ in den Geisteswissenschaften. Sie können keit so und nicht anders zu repräsentieren.
hen. uns deshalb zwar nicht sagen, wie wir le­ Dieses Beharren auf der Perspektivität allen
Aus der Unfähigkeit, Normen und ben sollen; sie können uns aber vor Augen Wissens und der Relativität von Wirklich­
Grundwerte begründen zu können, resul­ führen, was das für ein Leben ist, das wir keitsrepräsentationen ist ein zentraler Bei­
tiert dann aber auch die Stärke der Geis­ leben, wenn wir uns bestimmte Grund­ trag, den Geisteswissenschaftler*innen in
teswissenschaften. Was sie nämlich tun werte und Weltbilder zu eigen machen, die gesellschaftlichen Debatten einspeisen
können  – und auch leisten sollten  –  ist, und dann können wir uns alle fragen, ob können und müssen.
Weltbilder auf die Grundwerte zurückzu­ wir so leben wollen. Gerade deshalb hoffe Sie haben auch Präzision im Umgang
führen, die sie hervorgebracht haben. Hat ich, dass sie Ihr Studium nicht nur als Aus­ mit Sprache und Wörtern gelernt. Sie wis­
man diese Grundwerte hinter den Weltbil­ bildung erfahren haben, sondern auch als sen am Ende Ihres Studiums um die sprach­
dern erst einmal freigelegt, kann man die Einüben einer geisteswissenschaftlichen liche Verfasstheit von Wirklichkeit, haben
Grundwerte selbst und ihre politischen und Lebensform, einer Haltung zur Welt.« ein gesteigertes Bewusstsein für Bedeu­
sozialen Implikationen und Folgen einer tungsnuancen von Aussagen und Wörtern,
kritischen Prüfung unterziehen. Man kann Was Geisteswissenschaftler*innen haben ein Gefühl dafür, ob eine bestimmte
fragen, ob ein bestimmtes Weltbild und können Form der Rede offen oder geschlossen,
dessen Grundwerte soziale Vielfalt erlau­ »Unsere Gesellschaft braucht Sie und ihre friedvoll oder gewaltsam, demokratisch
ben oder eher Homogenität erzwingen, ob Kompetenzen. Sie haben alle gelernt, oder autoritär ist.
sie eher flexibel und offen für Wandel oder Texte im weitesten Sinne – also neben Ge­ Es war der Romanist Victor Klemperer,
starr sind, ob sie eher Gewalt provozieren schriebenem wie Romane, Gedichte oder der als Opfer der nationalsozialistischen
oder dazu angetan sind, Frieden zu stiften, Sachtexte auch Bilder und Filme – zu lesen Judenverfolgung in höchst feinsinniger Art

Blick in die Wissenschaft 39    43


Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften

erkannte, dass bereits die Sprache der Na­


tionalsozialisten totalitär und gewaltsam
war, und er hat die Gewaltexzesse des
Nationalsozialismus bereits aus der Lingua
Tertii Imperii herausgelesen. Hoffentlich
haben auch Sie gelernt, dass Gewalt immer
mit der Sprache anfängt.
Angesichts der unglaublichen Verro­
hung und Vulgarisierung, die der politische
Diskurs durch Rechtspopulisten, Nationa­
listen und andere Ideologen gegenwärtig
überall in der Welt gegenwärtig erfährt, ist
die erhöhte Sensibilität für die Bedeutung
und sozial-politischen Implikationen von
Wörtern und sprachlichen Strukturen mo­
mentan eine gesellschaftspolitisch höchst
relevante Kompetenz, die Sie alle einbrin­
gen können.
Damit zusammen hängt Ihre ausge­
prägte Sensibilität für die Begriffe, mit de­
nen wir Wirklichkeit beschreiben. Geistes­
wissenschaftliche Arbeit ist immer Arbeit
am Begriff, also eine möglichst präzise und
kontextgenaue Definition und konzeptio­
nelle Fassung von Wörtern, die Situationen
und Verläufe auf den Begriff bringen. Wer
»Wir sind das Volk« ruft, möge also bitte
genau sagen, wer dieses Volk eigentlich sen sozialer Kommunikation darüber ver­ Dieser Vielschichtigkeit auf die Spur
sei, wer dazu gehört und wer nicht, wer ständigen, was wirklich ist und was nicht, zu kommen, sie beschreibend zu re­
darüber bestimmt, wer dazu gehört und was sie für wirklich halten wollen und was konstruieren und sie verstehend zu in­
wer nicht, und wer das Recht hat, dies nicht, wer sie sind und wer sie sein wol­ terpretieren  – das ist die Aufgabe der
zu definieren und warum. Wer jemanden len, wer zu ihrer Gruppe gehört und wer Geisteswissenschaftler*innen. Ihre Arbeit
als Populisten charakterisiert, möge bitte nicht. Das zu wissen, immunisiert einen kommt deshalb auch niemals so richtig zu
sagen, was Populismus eigentlich sei, und gegen Authentizitäts-, Originalitäts- und einem Abschluss; ihr forschendes Verste­
wer vom den Muslimen, den Flüchtlingen Ursprünglichkeitsbehauptungen jeglicher hen von Texten, Bildern und Artefakten ist
oder den Terroristen redet, möge ebenfalls Art, weil jeder Geisteswissenschaftlerin, ein niemals abgeschlossener, potentiell ins
bitte präzisieren, wie er das definiert und jedem Geisteswissenschaftler klar ist, dass Endlose gehender Prozess.
welche Individuen und Gruppen damit ge­ es sich hierbei allenfalls um Authentizitäts­ Das ist auch deshalb so, weil die Welt
meint sein sollen. fiktionen und Ursprünglichkeitsillusionen an sich und das menschliche Leben in ihr
Dieses Ringen um Begriffe ist nun kein handelt.« mehrdeutig, ja uneindeutig, und ambig
Selbstzweck, kein akademisches Glasper­ sind. Sie alle, meine lieben Absolvent*innen,
lenspiel, sondern es trägt entscheidend Komplexitäts- und wissen aus zahllosen Lehrveranstaltungen,
dazu bei, die Situation zu definieren, in der Ambiguitätsexpert*innen dass man einen Text – oder auch ein Bild
wir handeln und die Probleme zu benen­ »Vor allem aber sind Sie als Geisteswissen­ oder einen Film  – so oder so verstehen
nen, die es zu lösen gilt. Angesichts der schaftler*innen Experten für Komplexität kann, dass es oft gar nicht so einfach ist
gegenwärtig so weitgestreuten wie diffu­ und Ambiguität. In den Geisteswissen­ festzustellen, was die Aussage eines Textes
sen Unsicherheit und der Desorientierung schaften geht es um die Vielschichtigkeit eigentlich ist. Sie haben auch gelernt, dass
gegenüber der Zukunft ist es meines Erach­ menschlicher Existenz, um die conditio kulturelle Artefakte aller Art in vergange­
tens wichtiger denn je, die Situation, in der humana in ihrer ganzen oft widersprüch­ nen Zeiten anders gelesen und verstanden
wir handeln, und die Probleme, die wir zu lichen Kontextualität. Geisteswissenschaf­ worden sind, als heute. Neben Komplexi­
lösen haben, auf den richtigen Begriff zu ten reflektieren Texte, visuelle Artefakte, tät ist deshalb Ambiguität oder Mehrdeu­
bringen – und auch dazu können Sie alle materielle Objekte und Tatsachen des tigkeit ein Schlüsselbegriff geisteswissen­
wichtige Beiträge leisten. menschlichen Lebens in Abhängigkeit von schaftlicher Forschung. Auch das ist ein
Eine weitere wichtige Kompetenz kön­ ihren zeitlichen, räumlichen, gesellschaftli­ Grund dafür, warum geisteswissenschaft­
nen Sie als Geisteswissenschaftler*innen in chen, politischen, ökonomischen, religiö­ liches Arbeiten eigentlich nie so richtig zu
die Gesellschaft einbringen: Ihr Wissen um sen, ästhetischen und medialen Kontexten. einem Abschluss kommt.
das Geworden sein, die Konstruiertheit und Monokausale Erklärungen sind uns fremd. Die Welt der Geisteswissenschaften ist
die Wandelbarkeit von Vorstellungswelten Es geht uns stets um Gemengelagen und nicht schwarz-weiß; sie ist grau. Grau, aber
und Wissenssystemen. Es sind halt immer multiple Kausalitäten hinter kulturellen nicht trist, schillert sie doch in allen Varia­
die Menschen selbst, die sich in Prozes­ Phänomenen und menschlichem Handeln. tionen der Farbe Grau, und das ist aufre­

44    Blick in die Wissenschaft 39


Macht und Ohnmacht der Geisteswissenschaften

gend, wenn nicht gar erregend, doch will das dann aber auch, dass das Beharren auf Geisteswissenschaftler*innen fortan ha­
ich von der Erotik der Fifty Shades of Grey Komplexität und Ambiguität, dass also die ben  –  und da wollte ich Ihnen zum Ab­
hier nicht weiter reden. Freude an der Farbe Grau, Ausdruck einer schluss Ihres Studiums nur noch einmal
Das geisteswissenschaftliche Behar­ zutiefst demokratischen Haltung zur Welt zeigen, wo der Hammer hängt.«
ren auf Komplexität und Uneindeutigkeit sind. Dies kann durch eine geisteswissen­
ist in einer Welt, die klare Resultate und schaftliche Intellektualität, die ihre eige­
eindeutige Antworten haben will, schwer nen Prämissen ernst nimmt, nur gestützt Literatur
zu vermitteln. Und dennoch: Wir sollten werden, und auch deshalb sollten Sie alle
stur bleiben, und auf der Eigenart geistes­ als Geisteswissenschaftler*innen durch die Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik
wissenschaftlicher Erkenntnis bestehen. Welt gehen.« der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frank­
furt am Main: S. Fischer Verlag, 1988.
In Zeiten wie diesen ist das Beharren der
Geisteswissenschaften auf Komplexität Sich die Welt auch anders vorstellen Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt.
Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt.
und Ambiguität nämlich eminent politisch. können
Ditzingen: Reclam, 2018.
Die Welt, in der wir leben, ist an sich »Am wichtigsten aber scheint mir zu sein,
Victor Klemperer: Lingua Tertii Imperii. Notizbuch
komplex und mehrdeutig. Daran können dass Geisteswissenschaftler*innen in der
eines Philologen. 25. durchgesehene Auflage.
wir nichts ändern, das ist unhintergehbar. Lage sind, sich die Welt auch anders vor­
Stuttgart: Reclam, 2015.
Mir scheint es aber so, dass Komplexität zustellen als sie ist. Dieses Sich-die-Welt-
von vielen nicht länger als zivilisatorischer auch-Anders-Vorstellen-Können ist die
Fortschritt und damit als etwas Positives geisteswissenschaftliche Kompetenz mit
gesehen wird. Im Gegenteil, eine wach­ der größten gesellschaftspolitischen Reich­
sende Zahl von Menschen ist offenbar weite, denn momentan deuten wir die
Prof. Dr. Volker Depkat, geboren 1965
zunehmend weniger bereit, Ambiguität Welt, in der wir leben, zu sehr in Kategorien in El Paso, Texas, USA. Studium der Fä­
und Mehrdeutigkeit als unhintergehbare des Unausweichlichen, des Notwendigen, cher Geschichte, Englisch und Deutsch an
Grundtatsache modernen Lebens zu ak­ der Alternativlosigkeit, des Sachzwangs den Universitäten Bonn, Eugene (Oregon,
zeptieren. und der ökonomischen Rationalität, die USA) und Göttingen. Promotion 1996 in
Und da sind wir nun in der Politik, ge­ uns scheinbar keine andere Wahl lässt als Göttingen mit einer Arbeit zu Amerikabil­
nauer bei den autoritären, rechtspopulis­ die, die wir gerade getroffen haben. Was dern in politischen Diskursen. Deutsche
tischen und antidemokratischen Kräften, aber, wenn der Sachzwang nur unter den Zeitschriften, 1789–1830 (Stuttgart: Klett
Cotta, 1998). Habilitation im Fach Neu­
die sich gegenwärtig überall in der Welt Bedingungen eines bestimmten Denkens
ere und Neueste Geschichte 2003 an der
eines starken Zulaufs erfreuen. Vieles von ein Sachzwang ist, der ganz plötzlich ver­
Universität Greifswald mit einer Studie zu
dem, was aus dieser Ecke kommt, hat mit schwindet, wenn man nur einmal anders Lebenswenden und Zeitenwenden. Deut-
Eindeutigkeitsversprechen, Homogenitäts­ zu denken anfängt? sche Politiker und die Erfahrungen des
sehnsüchten und der Verneinung von just So, das alles war jetzt vielleicht etwas 20. Jahrhunderts (München: Oldenbourg,
der Komplexität und Ambiguität unseres zu schwer für diesen festlichen Anlass, bei 2007). Seit 2005 Professor für Amerika­
modernen Lebens zu tun, hinter die es dem es ja in erster Linie darum gehen soll, nistik an der Universität Regensburg. Seit
kein Zurück geben kann. Nur autoritäre Party zu machen und Sie gebührend zu fei­ 2015 Dekan der Fakultät für Sprach-, Lite­
ratur- und Kulturwissenschaften.
Weltsichten ankern in Eindeutigkeit, nur ern. Und Sie sollen es heute Abend ja auch
autoritäre Regime reduzieren Diversität krachen lassen – und dafür wünsche ich
Forschungsschwerpunkte: Geschichte
und dies zur Not auch mit Gewalt, nur au­ Ihnen jetzt schon viel Spaß. der USA in kontinentaler Perspektive von
toritäre Ordnungen ankern in Homogeni­ Allerdings ändert das nichts an der der Kolonialzeit bis zur Gegenwart, Ge­
tätsfiktionen. Der Philosoph Thomas Bauer Tatsache, dass wir, die Lehrenden der schichte der europäisch-amerikanischen
hat in seinem wunderbaren Büchlein Die Fakultät für Sprach-, Literatur- und Kul­ Beziehungen von der Frühen Neuzeit bis
Vereindeutigung der Welt sehr luzide he­ turwissenschaften, Sie heute zwar aus in die Gegenwart, Biographie- und Au­
rausgearbeitet, dass Fundamentalismus dem Studium entlassen können, nicht tobiographieforschung, Visuelle Kulturen
und Totalitarismus ambiguitätsverneinende aber aus Ihrer politischen und sozialen des Politischen, Föderalismusforschung.

Ideologien sind. Im Umkehrschluss heißt Verantwortung, die Sie als nun amtliche

Blick in die Wissenschaft 39    45

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