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Hermann Schmitz im Gespräch: „Gefühle sind keine Privatsache“ - Philosophie Magazin 05.10.

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Er ist der große Solitär unter Deutschlands Philosophen. Lange kaum


beachtet, begründete Hermann Schmitz die „Neue Phänomenologie“,
die heute immer mehr Forscher inspiriert. Ein Gespräch über blinde
Flecken, die Macht des Leibes und unbändigen Willen.

Das Gespräch führten Inna Barinberg und Simone Miller


Bild oben (https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Hermann_Schmitz_Foto_2.jpg): © CC-by-SA 4.0

(https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en) Dr. Alexander Risse

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Hermann Schmitz im Gespräch: „Gefühle sind keine Privatsache“ - Philosophie Magazin 05.10.19, 08)51

„Kommen Sie rein, meine lieben Freunde.“ Wache Augen blitzen aus
dem freundlichen Gesicht eines inzwischen gebrechlichen Mannes
und weisen den Weg ins Wohnzimmer. Zwischen unzähligen
Büchern, Caspar David Friedrichs Gemälden „Mittag“ und
„Nachmittag“, einem Plattenspieler und dem schweren Mobiliar der
1960er-Jahre blättert sich das Leben eines genügsamen, aber
unbeirrbaren Einzelgängers auf. Seit über 50 Jahren lebt Hermann
Schmitz hier im einzigen efeuüberwachsenen Haus einer
gutbürgerlichen Wohnstraße in Kiel. Den Blick von seinem
Schreibtisch in den Himmel gerichtet, mit seinen Gedanken all dem
auf der Spur, was sich durch das reine Denken gerade nicht
kontrollieren lässt: Gefühle, Regungen, Leiber, Atmosphären. Gegen
den Theorie-Mainstream hat der heute 88-jährige Schmitz als
Professor am philosophischen Seminar Kiel ein eigenes,
zehnbändiges „System der Philosophie“ entwickelt – immer geleitet
von dem Drang, mit seiner Neuen Phänomenologie all jenen
Erfahrungen zur Sprache zu verhelfen, für die uns allzu oft die
richtigen Worte fehlen.

Herr Schmitz, beginnen wir im Jahr 1948 –


Deutschland liegt in Trümmern, auch
moralisch. Sie sind damals 20 Jahre alt und
nehmen in Bonn Ihr Philosophiestudium
auf. Warum haben Sie sich gerade für die
Philosophie entschieden?

Ich muss wohl auf meinen Deutschlehrer in


der Prima, der gleichzeitig außerplanmäßiger
Professor an der Universität war, einen so
Bild
philosophischen Eindruck gemacht haben,
(https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Hermann_Schmitz_Foto.jpg):
dass er der Überzeugung war, ich sollte
© CC-by-SA 4.0
Philosophie studieren – was im Jahre 1948
(https://creativecommons.org/licenses/by-
nicht ganz leicht war. Er wendete sich also
sa/4.0/deed.en) Dr. Alexander
an seinen philosophischen Kollegen, den
Risse

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Herrmann Herrn Professor Erich Rothacker, und


empfahl mich ihm, damit ich, statt in den
Schmitz in Bauschutt, sofort in das philosophische
sechs Daten: Seminar gehen konnte – in irgendeiner
g untergeordneten Funktion. Und da ich mich
1928: Geburt in mit Herrn Rothacker von Anfang an ganz gut
Leipzig vertrug, obwohl ich ein sehr provokativer
Mensch war und nicht der geschickteste im
1949–1953: Studium Umgang, so hat sich das ganz von selbst
der Philosophie an eingespielt. Also, es war kein eigentliches
der Rheinischen philosophisches Erweckungserlebnis dabei.
Friedrich-Wilhelms-
Universität Bonn Sie haben Kindheitsjahre im
Nationalsozialismus erlebt, Ihr
1955: Dissertation Philosophiestudium !el in
 die unmittelbare
über „Goethes Nachkriegszeit – hat diese historische
Altersdenken in Umgebung Ihr eigenes philosophisches
Begri! und Symbol“ Anliegen geprägt?

1958: Assistent am Das ist ohne Zweifel in sehr starkem Maße


Philosophischen der Fall und zwar in politischer Beziehung.
Seminar der Ich war während des Krieges lange krank,
Christian-Albrechts- sodass ich einigermaßen zurückgezogen
Universität zu Kiel lebte und nicht sehr viel mit
nationalsozialistischen Organisationen und
1971: Berufung zum
Militär zu tun hatte. Ich habe also die ganze
Professor an der
emotionale Eruption im Nationalsozialismus
Universität Kiel
– die Begeisterung der Massen, den
Führerkult – aus einer gewissen Distanz
2006: Einrichtung
erlebt und mitverfolgt, wie diese politischen
der Hermann-
A!ekte von wenigen Leuten dirigiert werden
Schmitz-
konnten. Das hat sehr starken Eindruck auf
Stiftungsprofessur
mich gemacht.
für
phänomenologische
Welche Lehren haben Sie damals
Forschung an der
daraus gezogen?
Universität Rostock

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Für mich hat sich diese Erfahrung in der


Erkenntnis niedergeschlagen, dass die
vorherrschende Selbstdeutung der
Menschen während des Nationalsozialismus
einer schwerwiegenden Verzerrung unterlag.
Emotionen wurden immer als harmlose
Seelenzustände der Einzelnen verstanden.
Verdeckt blieb dadurch, dass es tatsächlich
Ausbrüche kollektiver Ergri!enheit gab.
Diese kollektiven Gefühle wollen aber gar
nicht zu unserer klassischen Au!assung von
einer in sich abgeschlossenen Seele passen,
in der sich irgendwelche Erregungen und
Gefühle abspielen. Gefühle sind keine
Privatsache, sondern sie können Menschen
wirklich überschwemmen. Hier sehen wir
also, wie eine verharmlosende Fehldeutung
in der Realität üble Folgen haben kann. Diese
Lektion hat meine philosophische Arbeit von
Anfang an geleitet.

Mit diesem Fokus auf das subjektive


Erleben und einer starken Kritik an
unserem klassisch abendländischen
Verständnis von Körper und Seele dürften
Sie aber zu dieser Zeit an deutschen
Philosophie-Instituten nicht gerade o"ene
Türen eingerannt haben, oder?

Nein, die Philosophie, vor allem in


Deutschland, war in diesen Jahren ganz
unfruchtbar geworden. Die Gesellschaft
insgesamt erlebte eine emotionale
Erstarrung. In der Zeit bis etwa zur
Studentenrevolution 1968 dominierte in der
deutschen Politik Konrad Adenauer und in
der Philosophie Hans-Georg Gadamer. Das

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waren ungefähr dieselben Richtungen. Beide


stehen in ihrem Feld für den Versuch, die
Katastrophe zu verdecken durch eine
museale Kultur, die stark an die
abendländische Tradition anknüpfte. In den
letzten Jahrzehnten hat sich die
akademische Philosophie aber sehr
verändert, die analytische Philosophie hat
stark an Ein"uss gewonnen. Doch auch ihr
fehlen die richtigen Begri#ichkeiten. Wenn
sie über Körper und Seele nachdenkt, tut sie
das vor allem mit den Mitteln der Logik.
Unter dem Deckmantel größtmöglicher
Exaktheit verfängt sie sich deshalb in einem
sterilen Dialog über Kleinigkeiten.

Worin genau sehen Sie also das große


Missverständnis des abendländischen
Körper-Geist-Dualismus?

Er lässt keinen Raum für die unwillkürlichen


Lebenserfahrungen. In unserem Alltag sind
wir ständig den Eindrücken unserer
Umgebung ausgeliefert – die Atmosphäre der
Landschaft wirkt auf uns, die Stimmung am
Abendessentisch, die Freude eines Freundes,
unsere eigene Müdigkeit, ein Kitzeln in der
Nase. Das sind Erfahrungen, die wir nicht
selbst hervorrufen, sie widerfahren uns
vielmehr, sie nehmen aber bedeutenden
Ein"uss auf uns. Die philosophische
Tradition seit Demokrit, die Philosophie des
Christentums und des Mittelalters, aber auch
die von den Naturwissenschaften inspirierte
Moderne überdeckt diese mannigfaltigen
unwillkürlichen Erfahrungen durch den
Körper-Geist-Dualismus beziehungsweise

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das „Innenweltdogma“, wie ich es nenne. Die


Seele stellt man sich dann vor wie einen
privaten, von der Welt abgeschlossenen
Container, wobei unklar ist, in welchem
Verhältnis er zu einer scheinbar bloß
materiellen Außenwelt stehen soll. Die
neueste Blüte dieses Ansatzes ist der
Materialismus, also der Versuch, die Seele
durch das Gehirn zu ersetzen. Diese
Perspektive zeichnet ein falsches Bild davon,
wie wir Menschen in der Welt sind.

Die menschliche Seele ist


" kein von der Welt
abgeschlossener Container
Diesem prominenten Menschenbild haben
Sie Ihren eigenen Ansatz entgegenstellt: die
Neue Phänomenologie. Mit ihm wollen Sie
zurück zu den Dingen – wie geht das?

Ich habe beim subjektiven Erleben angesetzt,


also mit der alten Vorstellung gebrochen,
dass alles Weltgeschehen aus objektiven oder
neutralen Tatsachen bestehe, die man
beschreiben kann, wenn man nur genügend
über sie weiß und der Sprache mächtig ist.
Diese objektiven Tatsachen sind etwas ganz
anderes als das eigene a!ektive
Betro!ensein. Lassen Sie mich das an einem
Beispiel verdeutlichen: „Ich heiße Hermann
Schmitz“ – das ist eine Tatsache, die nicht an
mich als Sprecher gebunden ist. Sie könnten
diese Tatsache genauso ausdrücken, indem
Sie sagen: „Da sitzt ein Mensch mit Namen

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Hermann Schmitz.“ Wenn ich aber sage „Ich


bin traurig“, kann nur ich das sagen. Denn es
bin eben ich, der hier unvertretbar berührt
ist. Das ist das Besondere am a!ektiven
Betro!ensein – es geht einem etwas so nahe,
dass man nicht umhinkommt, sich selbst zu
spüren, wie kein anderer einen spüren kann.

Wird das an gewissen Erfahrungen


besonders deutlich?

Ja, es gibt da die schöne Geschichte von


einem Dichter, der einem Besucher
anvertraut, jemanden aus dem Fenster
stürzen zu wollen. Er möchte den Menschen
in der Todesangst ergründen, um darüber
noch besser schreiben zu können. Das hört
sich der Besucher zuerst mit behaglichem
Grauen an, bis er allmählich an den immer
eingehenderen Beschreibungen des
ausersehenen Opfers merkt, dass er selbst
derjenige ist, der hinausgestürzt werden soll.
In diesem Augenblick o!enbart sich ihm
etwas von ganz anderer Bedeutsamkeit,
möchte ich sagen. Es ist die Tatsache, dass er
es ist, der gemeint ist.

In einem beeindruckenden Korpus von


Schriften haben Sie, ausgehend vom
subjektiven Erleben, ein eigenes „System
der Philosophie“ gescha"en und eine ganz
eigene Terminologie entwickelt. Diese
Eigenständigkeit traut sich heutzutage
kaum noch ein Denker zu. „Zu den Sachen
selbst“ wollte aber schon Edmund Husserl
Anfang des 20. Jahrhunderts – was genau
ist also neu an der Neuen Phänomenologie?

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Husserl hat die Phänomenologie zwar


gegründet, aber sie zugleich auch blockiert,
ihr Anliegen durch eine viel zu hoch
angesetzte Abstraktionsbasis entfremdet.
Auch sein Denken siedelt das Erleben
letztlich in einer privaten Innenwelt an. Sein
transzendentaler Idealismus ist zwar eine
verzweifelte Rebellion gegen diesen
Abschluss des Erlebens von der Welt, aber er
muss scheitern. Ich habe mir jedoch die
Subtilität und Sorgfalt von Husserl stets zum
Vorbild genommen. Die Neue
Phänomenologie wiederum fragt: Was muss
ich gelten lassen? Ein Phänomen ist ein
Sachverhalt, dem jemand zu einer gegebenen
Zeit trotz tunlichster Variation nicht im Ernst
den Glauben entziehen kann, dass es sich
um eine Tatsache handelt. Das Gespräch mit
anderen führt anschließend zur
Horizonterweiterung und zu begri#icher
Schärfung. Auf diese Weise übt sich die Neue
Phänomenologie in begreifender Sensibilität,
fahndet nach unwillkürlichen
Lebenserfahrungen. Sie ist also durchaus
eine empirische Wissenschaft, ihr
Anwendungsgebiet die verdeckte
Wirklichkeit.

Die Neue Phänomenologie rückt den „Leib“


in ihr Zentrum. Warum ist der Leib für Sie
ein Schlüsselbegri" und wie unterscheidet
er sich vom Körper?

Der Leib ist der Ausgangs- und Bezugspunkt


unserer gesamten Wahrnehmung, unseres
Erlebens und Fühlens. Deshalb ist er auch
der Schlüssel für die Neue Phänomenologie.

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Wenn ich vom Leib spreche, dann meine ich


nicht den menschlichen Körper, den wir
betasten und über unsere fünf Sinne
wahrnehmen können, sondern all die
Regungen, die wir in dessen Gegend spüren.
Beispielsweise Hunger, Lust, Angst oder
Frische.

So umspannt der Leib, wie Sie ihn


verstehen, weit mehr als nur den eigenen
Körper?

Ja, der Leib überschreitet die Grenzen des


biologischen Körpers. Das Behagen in der
warmen Badewanne zum Beispiel endet
nicht mit der Haut, sondern verschwimmt
ins Wasser. Der gespürte Leib ist also völlig
anders ausgedehnt als der "eischliche
Körper. Man kann das Verhältnis von Körper
und Leib mit dem Verhältnis von Gesang und
Sängerin vergleichen. Ihr Gesang lässt sich
in seiner Entstehung auf ihren
Sprechapparat, also den Körper
zurückführen, aber anders als dieser dehnt
er sich unteilbar, "ächen- und randlos aus.
Leiber können miteinander kommunizieren,
also gegenseitig aufeinander einwirken und
reagieren. Die Vögel eines Schwarms zum
Beispiel können ohne merkliche
Reaktionszeit die tollsten Manöver
miteinander unternehmen. Wichtig dafür ist
unter anderem der Blick. Wir können vom
Blick genauso getro!en werden wie von
einer Stimme. Blicke können wie Speere
sein, die tiefer in den Leib eindringen, als
eine Berührung je in den Körper.

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Ausgewählte Werke von Hermann


Schmitz
System der Philosophie
(Bouvier, 1964–1980)

Im seinem zehnbändigen Opus Magnum entwickelt


Schmitz in aller Ausführlichkeit die Denkschule der
Neuen Phänomenologie. Ausgehend von der
unmittelbaren Alltagserfahrung des Subjekts werden die
verschiedenen Erscheinungsbereiche, seien sie leiblicher
oder emotionaler Natur, als Aspekte eines synästhetischen
Erfahrungszusammenhangs beschrieben.

Die Liebe (Bouvier, 2007)

Schmitz wendete seine Methode im Laufe seiner


philosophischen Karriere auf die unterschiedlichsten
konkreten Lebensbereiche an. Mit der präzisen Semantik
der Neuen Phänomenologie wird in diesem Werk das
komplexe Gefühl der Liebe als ein
a!ektives und zugleich atmosphärisches Betro!ensein
analysiert.

Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie (Karl


Alber, 2009)

In Anbetracht des äußerst umfangreichen Gesamtwerks


ist eine Einführung hilfreich, um einen Überblick über die
grundlegenden Begri!e des phänomenologischen
Systems von Schmitz zu gewinnen. Gleichzeitig wird in
diesem Buch die ethische Perspektive einer Philosophie
der unwillkürlichen Lebenserfahrung aufgezeigt.

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Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz


(Karl Alber, 2016)

In seinem jüngsten Werk zieht Schmitz die Bilanz der


jahrzehntelangen Auseinander- setzung mit der
menschlichen Erfahrungswelt. Das Buch orientiert sich in
seinem Au$au an den vier tragenden Säulen der Neuen
Phänomenologie – Subjektivität, Mannigfaltigkeit, Welt
sowie Leib und Gefühl.

Nicht nur Blicke können uns tre"en, auch


Gefühlen sprechen Sie eine eigene Macht
zu. Sie haben einmal gesagt: „Gefühle sind
nicht subjektiver als Landstraßen, nur
weniger !xierbar“ – was meinen Sie damit?

Gefühle sind Atmosphären, das heißt, auch


sie sind ähnlich wie der Schall und das
Wetter randlos ergossen. Denken Sie an die
Schwere der Trauer auf einer Beerdigung
oder an die erhebende Freude auf einem
Fest, an die dicke Luft einer Kon"iktsituation
oder die gespannte Erwartung vor einer
wichtigen Verkündung. Gefühle sind
Halbdinge – sie kommen und gehen, ohne
dass es Sinn machen würde zu fragen, wo sie
in der Zwischenzeit geblieben wären. Und als
Atmosphären sind sie potenziell für alle
anwesenden Menschen spürbar.

Gibt es auch kollektive Gefühle?

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Ja, nehmen wir wieder den


Nationalsozialismus als Beispiel. Die Leute
waren wütend und beschämt über das, was
ihnen im Ausgang des Ersten Weltkriegs
angetan worden war. Gleichzeitig waren sie
aber auch stolz auf die nationalsozialistische
Bewegung. Es ist ein ganzer Komplex an
Gefühlen, den man genauer analysieren
müsste. Jedenfalls kommen sie auf und
schlagen wie Funken über, sodass viele
Leute auf einmal in diesen Gefühlen
zusammengeschlossen sind, kollektiv fühlen.
Und diese Gefühle, sonst wären sie nicht
echt, haben eine hypnotisierende Kraft –
echter Zorn zum Beispiel erfüllt einen, man
muss seinem Impuls erst einmal nachgeben,
bevor man Stellung zu ihm beziehen kann,
sich von ihm emanzipieren kann. Es kommt
noch dazu, dass manche Gefühle auch
Autorität haben, die Empörung zum Beispiel.
Wenn man sich also über die fürchterliche
Missachtung von Menschen empört, dann
geht dieses Gefühl mit den Gedanken einher:
„Da kann man doch nicht einfach zusehen,
da muss man doch etwas tun!“ Das heißt, die
Empörung hat eine normative Kraft, der man
den Gehorsam nur schwer verweigern kann.
Sie gibt einem Handlungsimpulse.

Wo wir von konkreten Handlungsimpulsen


sprechen: Worin liegt denn der
lebenspraktische Nutzen der Neuen
Phänomenologie?

Ich bin kein Prophet, der ins Leben eingreift,


die Fahne hochhält und die Leute
weiterführt. Es gibt aber eine ganze Reihe

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von Wissenschaften, die eine


phänomenologische Kur verdient hätten,
zum Beispiel die Medizin und die
Psychologie. Beide Wissenschaften berufen
sich vor allem auf die vorher schon
angesprochenen „objektiven Tatsachen“. Sie
interessieren sich also meistens nur für die
physiologischen Grundlagen von
Krankheitsbildern. Verloren geht dadurch
die Aufmerksamkeit für das Erleben der
Patienten. Schmerz ist zum Beispiel nicht
gleich Schmerz. Er kann stechen, pochen,
ziehen, drücken, schwelen und noch viel
mehr. Man muss schon genau sagen, was
man meint, wenn man ein Wort wie Schmerz
gebraucht. In der klinischen Praxis herrscht
demgegenüber ein Mangel an begri#icher
Di!erenzierung und an Einfühlung in die
Situation der Patienten. Dadurch verengt sich
auch der Blick für therapeutische
Möglichkeiten. Es freut mich deshalb sehr,
dass es heute einige Wissenschaftler und
Wissenschaftlerinnen im Feld der
Psychiatrie, der Psychosomatik und
Psychotherapie gibt, die meinen Ansatz für
ihre Forschung nutzen und
weiterentwickeln.

Können Sie uns ein Beispiel für eine


konkrete Anwendung Ihres Ansatzes
geben?

Johannes Heinrich Schultz, der Er%nder des


autogenen Trainings, war einer der ersten,
die meine Terminologie adaptiert haben.
Beim autogenen Training konzentriert man
sich auf die eigenen leiblichen Regungen, um

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so einen Zustand großer Entspannung


herbeizuführen. Der Kopf fühlt sich dann
schwebend leicht an und der Leib bleiern
schwer. Das Spüren des Leibes zergliedert
sich in viele verschiedene Regungen. Das
autogene Training rückt Erfahrungen ins
Zentrum der Aufmerksamkeit, für die ich im
Schreiben über den Leib ein Vokabular
erarbeitet habe. Die Methode nutzt also
meine Sprache für ihre Zwecke.

Während Ihr Ansatz in praktischen Feldern


auf Interesse stößt, hatten Sie in der
akademischen Philosophie lange einen
schweren Stand. 1971 wurden Sie in Kiel
zum ordentlichen Professor des
Philosophischen Instituts berufen, das Sie
später leiteten. Trotzdem erhielt Ihr Ansatz
viele Jahre kaum philosophische Resonanz.
Wie sind Sie damit umgegangen?

Ich habe mich anfangs kräftig geärgert. Ich


habe aber immer weiter produziert und auch
immer weiter Interessenten gefunden. Mit
der Gründung der Gesellschaft für Neue
Phänomenologie 1993 kam es zu einer sehr
erfreulichen Schulbildung. Wissenschaftler
und Wissenschaftlerinnen unterschiedlicher
Disziplinen – von der Philosophie über die
Musikwissenschaft und die Architektur bis
hin zur Medizin und Psychologie – haben
sich über diese Plattform
zusammengeschlossen, um die
phänomenologische Arbeit voranzutreiben,
an meinen Ansatz anzuknüpfen und ihn
weiterzuentwickeln. Seitdem es ziemlich
viele Leute gibt, die mich mehr oder weniger

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verstanden und auch die Bedeutung meines


Unternehmens begri!en haben, hat mein
Ärger nachgelassen.

In den 1920er-Jahren gab es


" haufenweise politische Ideen.
Heute fehlt der neue Einfall
Zu Beginn sind Sie auf den politischen
Ausgangspunkt Ihres Scha"ens
eingegangen. Gerade erleben wir das
Erstarken rechtspopulistischer
Bewegungen und Parteien in der westlichen
Welt. Wie betrachten Sie die veränderte
politische Lage?

Die Leute sind heute ganz ungeheuer


aufgeregt. Das ist im Interesse des
Parlamentarismus. Alle können sie ihre
Meinungen in Parteiformationen
ausdrücken, aber es kommt verhältnismäßig
wenig Neues dabei heraus. Entweder sie
orientieren sich an der sozialen
Gerechtigkeit und rücken dabei gerade
immer weiter nach rechts – die AfD besinnt
sich wieder auf kulturelle Tradition. Oder sie
orientieren sich an der Auf klärung in Gestalt
des Sozialismus. Letztlich sind das alles
verschiedene Formen, Rousseaus Erbe
herauszuschreien. Wo sind die neuen
Motive? In den 1920er-Jahren gab es
haufenweise neue Motive. Heute rufen sie
alle nur, was sie schon seit 200 Jahren
gerufen haben. Es fehlt eigentlich der neue
Einfall.

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Wie blicken Sie heute, mit 88 Jahren, auf


Ihr eigenes Leben zurück?

Ich vergleiche mich gern mit einem


Menschen, der auf seinem Weg immer
geradeaus gelaufen ist. Wenn dann eine
Mauer kam, die kam öfters in meinem Leben,
dann sprang im letzten Augenblick doch
immer ein Törchen auf. Ich sehe mein Leben
also wie eine gerade Linie des
Vorwärtskommens. So geradlinig konnte
mein Weg auch deshalb nur sein, weil ich
mich nicht familiär gebunden habe. Daher
war er auch mit großen Verlusten
verbunden, denn es wäre schön gewesen,
eine Familie zu haben. Es hat sich aber
erwiesen, dass ich die Einsamkeit brauche
zum Denken. Ich muss hier sitzen und aus
dem Fenster in den freien Himmel
hinausschauen können. Jetzt, da ich alt bin
und meine Augen schwach, bin ich
sozusagen im Zwangsurlaub und ich sage
mir: Es ist jetzt so viel geschehen, wenn es
mal au&ört, ist es gar nicht so schlimm.

Herr Schmitz, was ist Ihnen an Ihrem


Vermächtnis besonders wichtig?

Ich habe in den Untergrund der


unwillkürlichen Lebenserfahrungen
hineingeleuchtet, ein begri#iches
Instrumentarium entwickelt, um sich mit
Erfahrungen zurechtzu%nden, von denen
man betro!en ist, für die einem aber die
richtigen Worte fehlen. Ich wollte immer
vernünftige Ausdrücke %nden für das, was
einem wirklich nahegeht, damit es nicht

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mehr einfach weggeredet werden kann. Ich


glaube, dass die Leute wieder emotional
empfänglicher werden könnten, als sie es
heute sind. Aber ein neues Leben kann ich
nicht entwerfen, diese Möglichkeit müssen
sie selbst ergreifen. •

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